Editorial - Hard Times

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Editorial - Hard Times
Sherlock Holmes is Back
Editorial
Kindheit – das ist, wie jeder weiß, die
Lebensphase zwischen Geburt und
Pubertät. Doch so simpel und einleuchtend, wie die Aussage scheint,
ist der Sachverhalt nicht; das Bild verschwimmt bei näherer Betrachtung.
Zum einen hat sich diese Phase in den
letzten Jahrzehnten noch oben hin verkürzt. Die Pubertät tritt früher ein, und
vor allem Mädchen versuchen, durch
Nachahmung von Kleidung, Make-Up
und Gebaren der erwachsenen jungen
Frauen möglichst früh zu erscheinen
wie diese. Zum anderen haben sich
die Einstellungen zur Kindheit über
die Jahrhunderte in Europa verändert
(ganz abgesehen von den Verhältnissen
in anderen Kulturen). Das gleiche gilt
übrigens für Mutterschaft und Vaterrolle – sie alle sind (abgesehen von den
biologischen Aspekten) kulturelle Konstrukte.
Bis ins 18. Jahrhundert galten Kinder als unvollkommene, kleine Erwachsene, denen man allerhand abverlangen konnte, z.B. sie selbstverständlich
zu Arbeiten heranziehen. Außerdem
meinte man, sie streng unter Kontrolle
halten und bei Fehlern streng bestrafen zu müssen, da sie von Natur aus als
von der Erbsünde beherrscht galten.
Erst durch die aufklärerische Philosophie von Locke und Rousseau änderte
sich das Bild. Kinder galten bei Locke
als tabula rasa, offen für verschiedenste Einflüsse, unfertige Wesen, die mit
Liebe und Freundschaft zu verantwortlichen Mitgliedern der Gesellschaft
erzogen werden sollten. Rousseau sah
Kinder sogar als von Natur aus gut
an, argumentierte aber, man müsse sie
vor schlechten Einflüssen bewahren.
Bis heute gilt diese positive Sicht auf
die Kleinen (was nicht heißt, dass alle
Kinder auch dementsprechend behandelt werden). Schon sehr früh begann
man, ausgehend von biologistischen
Determinationsvorstellungen, Jungen
und Mädchen verschieden zu erziehen.
Erst seit ca. 100 Jahren haben vor allem
Feministinnen in mühseligem Einsatz
erreicht, dass beiden Geschlechtern
grundsätzlich die gleichen Bildungschancen eingeräumt werden.
Doch das Konzept Kindheit hat sich
nicht nur historisch verändert, sondern
ist auch in den einzelnen europäischen
Kulturen unterschiedlich ausgeprägt
worden. Darum geht es im vorliegenden Band von Hard Times. Nachdem
die Jugendphase, insbesondere die Jugendkultur Großbritanniens schon
mehrfach Gegenstand kulturwissenschaftlicher Erforschung (auch in Hard
Times) gewesen ist, wollten wir den
Blick auf die Besonderheiten lenken,
die Kindheit in Großbritannien als die
prägende Basis, aus der Jugend hervorgeht, von Kindheitsgeschichte und -erfahrungen z.B. in Deutschland unterscheidet. Da der Platz begrenzt ist, sind
wir nicht weiter historisch zurückgegangen als bis ins 19. Jahrhundert. Wir
haben uns bemüht, sowohl sozial- und
kulturgeschichtliche Fakten als auch
Repräsentationen zu beleuchten. Was
die sachlich-informative Seite angeht,
gibt es einen Artikel von Anna Maria
Stuby zur klassenspezifischen Kindheit
im viktorianischen Großbritannien,
d.h. zur Ausbeutung der Arbeiterkinder
und der brutalen Zucht der künftigen
Elite, die beide seltsam mit verklärenden Kindheitsbildern in der Literatur
kontrastieren. Zwei ganz spezielle Rettungsaktionen im Zweiten Weltkrieg
werden
charakterisiert:
Annegret
Schrick berichtet über die Evakuierung
der Kinder aus den Industriestädten
aufs Land, die zu Kulturschocks, aber
auch zu bereichernden Erlebnissen
führte, Christoph Houswitschka über
die Rettung jüdischer Kinder vom
Kontinent durch die weltweit einmaligen Kindertransporte. Eine umfassende
kritische Beurteilung der derzeitigen
(unbefriedigenden) Schulsituation liefern Patrick Ainley und Martin Allen.
Ingrid von Rosenberg schildert, ausgehend von dem Aufsehen erregenden
Buch Living Dolls (2010) von Natasha
Walter, wie die Gefahren der Hypersexualisierung, die in der britischen Gesellschaft besonders krass ausgebildet
scheint, die Sexualität der Jugendlichen
negativ zu beeinflussen droht. Die Situ-
ation schwarzer Kinder wird illustriert
durch Fotografien von Dennis Morris,
der in den 60er und 70er Jahren bereits
als Junge seine Umgebung dokumentierte, sowie durch einen Ausschnitt
aus Bernardine Evaristos stark autobiographischem Versroman Lara (11997,
erweiterte Fassung 2009). Gerd Stratmann stellt die gefeierte TV-Serie Seven
UP (Episoden von 1964 bis heute alle
sieben Jahre aufgenommen) vor, die in
eindrucksvoller Weise dokumentiert,
wie weit die Klassenherkunft das Lebensschicksal von zehn Jungen und vier
Mädchen bestimmt hat.
Kinder- und Jugendbücher sind – neben Shakespeare und Jane Austen – ein
Exportschlager der englischen Literatur.
Das wurde kürzlich noch einmal stolz
hervorgehoben bei der Eröffnungsfeier
zur Olympiade 2012 in London, als
etliche der weltweit bekannten Figuren
als wesentliche Vertreter der britischen
Kultur auftraten. In Aufsätzen zu Peter Pan (Rainer Emig), Alice in Wonderland (Gerd Stratmann), Winnie the
Pooh (Rita Gerlach), den Segelabenteuern sportlicher Mädchen von Arthure
Ransome (Gesa Stedman) und zum
jüngsten Liebling Harry Potter (von
Ines Detmers) werden die Werke und
das Geheimnis ihres Erfolgs analysiert.
Jean Webb untersucht Beispiele aus der
gegenwärtigen Jugendliteratur, die sich
mit der nationalen Geschichte und Legenden (insbesondere King Arthur) beschäftigen, um Lehren aus der Vergangenheit anzubieten. Schließlich zeigt
Emer O’Sullivan sehr anschaulich, wie
man Kinderliteratur und insbesondere Bilderbücher im fremdsprachlichen
Unterricht für Kinder, Jugendliche und
Erwachsene ebenso effektvoll wie vergnüglich einsetzen kann.
Ingrid von Rosenberg und
Gerd Stratmann
From left to right: wristband “Brainy is the new sexy” (Sherlock episode A Scandal in Belgravia), fan shirt “Keep Calm and call Sherlock”,
button “Get out. I need to go into my mind palace” (Sherlock episode The Hounds of Baskerville)
filmed and acted first part were the second series’ remakes of The Hounds of
Baskerville and a modern take on The
Final Problem in The Reichenbach Fall –
again, a cliffhanger to a third series (the
production of which has meanwhile
been confirmed). Originally intended
by Conan Doyle to enable him to concentrate on highbrow literature by killing off his lucrative character, this picturesque episode (meanwhile an icon in
itself ) is used in both the cinema and
TV versions. The BBC deaths of Moriarty and Holmes are so intelligently
narrated, technically skilled and powerfully acted that one is left baffled with
awe and helpless as to how on earth any
one of them can be credibly reanimated.
Luckily (or sadly), the very end shows a
surviving Sherlock, which reduces the
puzzle to the question of How?
How Sherlock’s survival might have
been constructed is, therefore, hotly
debated in the abundance of blogs and
fan websites that have sprung up. The
discussions of plots and actors do not
only prove that Holmesians (‘Sherlockians’ in the US) are “a group that makes
Trekkies look tame by comparison” but
document the popularity of the BBC’s
Sherlock. Its Facebook group “Fans of
Sherlock” has over 300.000 ‘likes’ and
thousands of followers regularly posting
comments, drawings and – particularly
‘nerdy’ – speculations about Gatiss and
Moffat’s clues to the third series (rat,
wedding, bow). There is a fan-driven
non-official ‘merchandising machine’
Hard Times – Nr. 93 (Frühjahr 2013)
of Sherlock memorabilia, e.g. on Etsy,
with pictures or quotations from the
TV series that have meanwhile acquired
the status of proverbs (cf. wristband,
button). Just how unproblematically
Britons amalgamate past and future in
their re-constructions of national icons
shows the T-shirt merging the quintessentially English phrase “Keep calm and
carry on” in its London Blitz propaganda poster form with the 21st-century
reinvention of the Great Detective (cf.
fan shirt). Accordingly, the commercial
exploitation has also started: after the
DVDs, soundtracks and calendars came
the very appropriate Cluedo board
game, “the official guide” Sherlock: The
Casebook published by BBC Books and
a scrapbook re-examining each case
through Watson’s blog, Lestrade’s police
reports, newspaper clippings and other
pseudo-realistic evidence.
No small part in this popularity has
been played by the actors embodying
the updated sleuth and his side-kick,
and in particular the critically acclaimed
performance by Benedict Cumberbatch
(born 1976) who was previously only
known from TV or minor roles (the Ian
McEwan adaptation Atonement made
Gatiss and Moffat select him for Sherlock without auditions). He has become
nearly omnipresent: His most recent
role was Christopher Tietjens in the
Ford Madox Ford adaptation Parade’s
End. The BBC launched its live coverage of the Olympic Games opening
ceremony with Cumberbatch as nar-
rator in a short featurette celebrating
past and present London, “the beating
heart of the nation.” Because of his flexible and ambiguous acting he was cast
as a ‘baddie’ for Star Trek Into Darkness
(2013), the second tv series prequel by
J. J. Adams, and discovered as “perfect
Bond villain material” for the Daniel
Craig adventure due to be released in
2014 (Bond 24).
But, to come to a conclusion, it is
‘the whole package’ that makes the BBC
Sherlock a valuable contribution to both
pop and high culture. This becomes
clear, especially, in comparison with the
other recent TV update, screened by
CBS since September 2012. The crime
series Elementary is set in today’s New
York and has British actor Jonny Lee
Miller (Trainspotting) play former drug
addict and Scotland Yard advisor Holmes being supervised by ex-surgeon Dr.
Joan Watson (American actress Lucy
Liu, Charlie’s Angels) and helping out
NYPD. Unfortunately, this promising
set-up (even though Mycroft is missing, an absent father figure introduced
and – so far – the mysterious Irene
Adler only referred to in passing) is not
executed nearly as ambitiously as Sherlock. The cases are relatively generic, the
twists and solutions not un-foreseeable
and the acting as well as narrative not
more than average. Just another crime
series, nothing Holmes-specific.
How different from the BBC’s tackling of topical discussions and problems, introducing the latest storytell97
Impressum
ISSN 0171-1695
HARD TIMES
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Stratmann (Berlin)
Redaktion:
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* Gesa Stedman * Gerd Stratmann
* Jörg Strehmann * Merle Tönnies
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Redaktionsadresse:
HARD TIMES
Prof. Dr. Gesa Stedman
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Großbritannien-Zentrum
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Euro einschließlich Porto und Versand. Das Abonnement ist auch als
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HARD TIMES
Sylvena Zöllner
Großbritannien-Zentrum
Mohrenstraße 60
10117 Berlin
Danksagung
Wir bedanken uns herzlich
bei Sandra van Lente für das
Layout.
Inhalt / Contents
Patrick Ainley and Martin Allen
Hard Times for Education in England
2
Ingrid von Rosenberg
A New Sexism Threatens Gender Equality and Sexual Liberation 8
Ingrid von Rosenberg
Dennis Morris: Growing Up Black (in the 60s and 70s)
11
Bernardine Evaristo
Life of a Mixed-Race Schoolgirl in the 1970s
14
Gerd Stratmann
The Documentary Series Seven Up on Children and Class
17
Annegret Schrick
Evacuees of the Second World War
20
Christoph Houswitschka
Save the Children: the Kindertransport
24
Anna Maria Stuby
Harte Zeiten: Kindheit im frühviktorianischen England
29
Gerd Stratmann
Alice – the Victorian Dream-Girl
34
Rainer Emig
The Great Peter Pan Deception
38
Rita Gerlach-March
The Cult of Pooh: A Bear of Very Little Brain But Great Popularity
41
Gesa Stedman
Arthur Ransome’s Swallows and Amazons45
Ines Detmers
Harry Potter und die Pubertät – das Geheimnis des Erfolgs?
49
Jean Webb
History and National Identity in Contemporary Fiction for Children 54
Emer O’Sullivan and Dietmar Rösler
For Young Readers and Adults Alike? Children’s Books in TEFL
59
Frauke Hofmeister
With or Without EU64
Jürgen Enkemann
Thatcherism – Reflections After the Death of the Former Prime Minister 68
Jürgen Enkemann
Margaret Thatcher and Hard Times73
Logie Barrow
One fly on Methuselah. Eric Hobsbawm Obituary
78
Jürgen Enkemann
Britische Filme auf der Berlinale und die Situation des British Cinema
83
Peter Bennett
Nothing New Under the Sun?
87
Gesa Stedman
News from the Literary Field in the UK
90
Rita Gerlach-March
The Game, Once More, is Afoot. The Return of Sherlock Holmes 93