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XI. RUNDBRIEF AUS MÉXICO ‐ NOVEMBER 2007 Waisendkind Chucho in Puebla. Fünf neue Welpen in meinem Zuhause. Buenas Noches meine Lieben: Wie geht es Euch in allen warmen und kalten, hellen und dunklen Zipfeln der Welt? Es sind wieder zwei Monate seit dem letzten Rundbrief vergangen und die Zeit ist mit schnellen Schritten in viele Richtungen geflossen. TABASCO UND CHIAPAS In México gibt es zur Zeit viele traurige Gesichter, zerbrochene Häuser, Existenzen und ein unangenehmer Kälteeinbruch friert die Hoffnung in kleinen Momenten ein. Die Überschwemmungen und Erdrutsche in Tabasco und Chiapas bewegen das ganze Land. Jeden Tag kommen zwischen 1200 und 1500 mexikanische Migranten aus dem Südosten in DF an, suchen Unterschlupf bei Verwandten, ein Dach über dem Kopf, etwas Essen, ein bisschen Arbeit und betteln auf den Straßen. Die Rufe schallen jeden Tag durch die Medien und die Regierungen verschiedener Staaten Méxicos schicken teilweise Hilfe in die großen Orte, die kleinen bleiben von der Außenwelt abgeschnitten und verschwinden noch mehr in der Vergessenheit als vorher. Humanitäre Hilfe aus dem südlichen Ausland wird aus undurchschaubaren Gründen von der mexikanischen Regierung blockiert. Die Ereignisse der letzten Wochen sind tragisch und vor allem deshalb, weil sie vorhersehbar waren, seit Jahren. Ein Grund für den Ausbruch der Flüsse sind die nicht ausgelasteten Stromwerke in Chiapas, welche mit Stauseen funktionieren. Diese Stauseen werden wiederum von großen Flüssen ernährt. Aufgrund starker Regenfälle und einer dreistündigen Turbinen‐Auslastung ‐ statt 12 oder 15 Stunden – waren die Stauseen kurz vor dem Überlaufen. Wasser wurde abgepumpt und in die Flüsse geleitet und gewann auf dem Weg von den hohen Bergen ins flache, feucht‐tropische Tabasco eine gefährliche Macht und Geschwindigkeit. Warum laufen die einheimischen Stromwerke so kurze Zeit? Amerikanische 1
XI. RUNDBRIEF AUS MÉXICO ‐ NOVEMBER 2007 Elektrizitätswerke, die ihren Strom thermoelektrisch betreiben, verkaufen ihren Strom billiger an die chiapanekische Regierung, und daher lassen die einheimischen Regierungsbeamte ihre Stromwerke lieber fast stilllegen. All dies verursacht eine Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes. Warum nicht vorgebeugt wurde? Vielleicht, weil in Chiapas und Tabasco ein hoher Bevölkerungsanteil der untersten Armutschicht angehört, deren Worte in diesem Land auf taube Ohren stoßen. Verschüttete Menschen, Seuchengefahr, totes Vieh, welches für viele die einzige Lebensgrundlage war, weggeschwommene Häuser und vieles mehr sind die traurige Realität in diesen Tagen und die Regierung übernimmt ihre Verantwortung wie immer nur bruchstückhaft. Die, die Hilfe in den Süden schicken oder selbst hinfahren, sind oft die, die auch nur wenig haben, vielleicht, weil sie wissen, wie es sich anfühlt, mit einem „Nichts“ den nächsten Morgen zu erwarten. BORDO XOCHIACA UND FAE Kann FAE etwas tun? Beim Erdbeben in Perú haben wir mehrere große Kleidersäcke und Materialien für Babys und Kleinkinder an die Botschaft geschickt. Dieses Mal sieht es in FAE schwieriger aus. Seit mehreren Wochen gibt es einen wesentlich stärkeren Andrang auf der Müllhalde. Die Kälte, die schlechte Bezahlung der Arbeit und neue Familien aus dem Südosten, die auf der Müllhalde Zuflucht suchen, lassen die Mittwochsgruppe wachsen und um mehr Nahrung bitten. Messe auf der Müllhalde am „Día de los Muertos“. Auf einem symbolischen Grab mit den typischen Cempaxuchitl‐Blumen werden für jeden Verstorbenen Kerzen angzündet. Am letzten Mittwoch kam ein indigener Vater mit seinen beiden kleinen Töchtern zur Mittwochsmesse und eine der Kleinen schlotterte vor Kälte in ausgebeulten, viel zu großen Schuhen und einem zerknitterten fleckigen Minirock. Inés ‐ die uns immer treu auf der Müllhalde bei der Essensbeutelverteilung hilft ‐ und ich haben das kleine zottelige Kind ins Auto von Roberto gesetzt, ihr eine meiner Schlafanzughosen, die ich an dem Tag verschenken wollte, über den Rock gezogen, in die Strümpfe gestopft, fünfmal 2
XI. RUNDBRIEF AUS MÉXICO ‐ NOVEMBER 2007 umgekrempelt und mit meinem Haargummi am Hosenbund zusammengebunden, damit die Hose nicht herunterrutscht. Und den rechten Schuh an den rechten Fuß und den linken an den linken gesetzt. Flink ist die kleine Namenlose dann mit einer Schokolade und einem Hemd, das ich noch hatte, zu ihrem Vater gerannt. Die FAE‐Arztpraxis ist vor allem an den Wochenenden besuchter denn je. Nicht wenige Migranten suchen Zuflucht in den einfachen Kolonien wie Tlatel‐
Xochitenco. Und unsere Kindergärten sind bis zum letzten Platz ausgelastet, viele arme Familien haben uns seit September aufgesucht, viele Kinder wollen vor der Zukunft auf der Straße oder Kriminalität bewahrt werden. Und dennoch schleicht die Gewalt immer wieder in die Fundación hinein und macht auf sich aufmerksam. Fälle von Missbrauch können mit den neuen Puppen, die ihre Geschlechtsteile vorweisen, in der Spieltherapie aufgedeckt werden. Ein FAE‐Kind, deren Vater schwer drogenabhängig ist, wird zu Hause mit Nadeln gequält und als wir mithilfe einer Angehörigen der Familie eine anonyme Anzeige beim hiesigen Jugendamt machen, kommen die Eltern drohend und entrüstet in die Fundación. Das seien Privatangelegenheiten. Zum Glück bieten wir für einen großen Teil des Tages einen Schutzraum für diese Kinder. Vier Psychologen (zwei Männer und zwei Frauen) sind jeden Tag am Arbeiten mit den Kindern, Eltern und dem Personal in allen drei Kindergärten. Was gab es Schönes in all diesem Schlamm, der manchmal klebrig an der Seele hängenbleibt? Am Tag der Toten, dem zweiten Dezember, wurde nicht nur auf der Müllhalde ein Altar gebaut, sondern jedes der 200 Kinder in der Guardería Tlatel brachte seinen eigenen kleinen Altar mit. Jede Familie gedenkt in diesem Miniaturkunstwerk ihrer Verstorbenen und macht die mexikanische Kultur in all ihren Facetten lebendig. Ein Meer von Farben, Früchten, kleinen Särgen und Fotos singt von Kreativität auch in den ärmsten Schichten des Volkes und gibt Licht. 3
XI. RUNDBRIEF AUS MÉXICO ‐ NOVEMBER 2007 Día de los Muertos: Altäre der Kinder in Tlatel. EIN GANZ ANDERER BESUCH IN PUEBLA Auf der ersten Seite meines Rundbriefes blitzen die Augen von Chucho, er ist 9 Jahre alt und hat mit mir Biologiehausaufgaben gemacht, solange, bis seine „tía“ (Tante) ihn in die Dusche geschickt hat. „Alle Duschen sind besetzt, tía, da kann man nichts machen.“ Er blieb zehn Minuten länger in meiner Nähe, mit Fragen und einem Lächeln und verbleibenden Schulaufgaben. „Chucho, ab in die Dusche.“ Taube Ohren. „Chucho, keine neuen Kleider, kein Seifengeruch, kein gegeltes Haar?“ Noch taubere Ohren. „Chucho, Berni geht nicht weg, während du duscht, wir passen auf sie auf.“ Und weg ist Chucho, die Treppe hinauf, die Kleider auf dem Boden, andere aus dem Schrank und mit dem Handtuch in die Dusche. Sieben Minuten später taucht er mit nassem Haar stolz wieder vor mir auf. Dann sehe ich ihn wieder zwei Minuten nicht und kurze Zeit später streckt er mir stolz seine gegelte Haarpracht entgegen. „Foto bitte!“ Chucho hat in diesem Haus elf Geschwister, eine „tía“ Tag und Nacht, tagsüber eine Köchin, und dann den Padre Rosalío, der als Chauffeur, Baumeister, Organisator für Ausflüge in die Berge, ins Schwimmbad, in den Zirkus oder ein Fußballspiel dient und als Papa natürlich. Dann begleiten von vier bis sechs Uhr nachmittags zwei Lehrerinnen die zwölf Kleinen und einige der Größeren bei ihren Schulaufgaben. Ansonsten teilt Chucho sein Zimmer mit sechs anderen. Die Küche, das Bad, den Hof zum Fahradfahren, und den Fernsehraum teilt er mit allen. Er ist glücklich in seinem Zuhause, einem von 4
XI. RUNDBRIEF AUS MÉXICO ‐ NOVEMBER 2007 drei „Hogares Calasanz“ in Puebla. Woher kommen die insgesamt 30 Kinder, die sich je nach Alter auf die drei Häuser verteilen? Es sind Kinder von der Straße, Waisen, vom Jugendamt vermittelt, Kinder von Prostituierten, Straffälligen, Migranten oder Indígenas. Jede Geschichte ist eine Tragödie, die sich im Blick der Kinder, in ihrem Verhalten, oder im Körper widerspiegelt. Padre Rosalío ist „Escolapio“, und seine Kongregation widmet sich vor allem der Erziehung von Kindern und Jugendlichen. Seit über zehn Jahren besteht das Projekt der „Hogares“ (Zuhause). Das anspruchsvolle und aufwendige Modell hat Erfolg. Ziel ist es, den Kindern ein Zuhause und vor allem Bildungschancen wie Ausdrucksmöglichkeiten zu bieten, ihnen eine Alternative zum Leben auf der Straße zu geben, Sicherheit, eine Arbeitsgrundlage, Geborgenheit und ein anderes Konzept von Gemeinschaft. Die meisten Kinder kommen in den „Hogar“ wenn sie zwischen 7 und 11 Jahre sind. Und sie bleiben normalerweise bis sie achtzehn Jahre als sind. Das Projekt unterstützt die jungen Männer jedoch auch länger, wenn sie nicht mehr im „Hogar“ wohnen. Wichtig ist Kontinuität, und wenn Alejandro seine Miete trotz Arbeit einmal nicht bezahlen kann, dann hilft ihm das Projekt, und wenn Pedro wegen guter Noten in Spanien studieren darf und ein halbes Stipendium bekommt, dann unterstützt das Projekt auch diesen Weg. Grundidee ist eine jahrelange und integrale Begleitung der dreißig Jungs und eine gute Schulbildung. Die „tías“ sind Psychologinnen und jede Woche gibt es Fallbesprechungen innerhalb des Personals. Auch die Jungs haben jede Woche ihre Versammlung, sie haben Putzpläne, Freizeit, Sport, einen Pool, den sie am Rande der Stadt selbst gebaut haben, nachdem eine alte Dame dem Padre das Grundstück vermacht hatte und sie helfen sich untereinander. All dies wächst jeden Tag mühsam, mit viel Geduld, manchmal auf Umwegen und vor allem mit viel Liebe. Von 150 Kindern, die in den letzten zehn Jahren durch die „Hogares“ gelaufen sind, sind 50 unabhängig, haben Arbeit, Familie und eine Zukunft, 100 haben abgebrochen, sind zu ihren Eltern oder auf die Straße zurückgekehrt und haben keinen Kontakt mehr zum „Hogar“. Manche probieren ihr Leben auf der Straße und kommen dann wieder zurück. Die Tür der „Hogares“ steht offen, niemand wird gezwungen dort zu leben. Diese Freiheit gibt den Kleinen wie Großen Sicherheit und Vertrauen. 5
XI. RUNDBRIEF AUS MÉXICO ‐ NOVEMBER 2007 Mit den Kindern im Walmart, wo sie den Weihnachtsbaum anzünden. Und Padre Rosalío mit einem der Hogares‐Jungs. Ich habe eineinhalb Tage in dieser so anderen Welt verbracht, Dank einer Bitte von Kindermissionswerk, diesem Projekt einen Besuch abzustatten, um zu schauen, wie es ihnen dort geht. Wie FAE wird auch „Hogares“ großzügig vom Kindermissionswerk unterstützt. Die Kinder in „Hogares“ sind wie viele Knirpse in FAE zunächst verlorene Kinder, die sich selbst nicht achten, sich verletzen und keine Zugang zu ihren Gefühlen finden können. Mit viel Liebe, Zeit, Aufmerksamkeit, Vertrauen, Integration und Präsenz von Seiten der BetreuerInnen gelingt es einigen, sich ein „Ich“ aufzubauen und der Welt mit Zutrauen entgegenzusehen. Hogares ist eine zarte Pflanze, ein zukunftsweisendes Beispiel und ein durchdachtes Konzept, um Straßenkinder wieder in das sogenannte „normale“ Leben zu integrieren. Ein Drittel der Kinder von „Hogares“, die nicht wieder auf der Straße landen sondern studieren und arbeiten, ist für diese Art von Arbeit ein hoher Prozentsatz. Sichtbar wird dies an den gewachsenen Bäumen, die jeder Junge neben das Schwimmbad gepflanzt hat. Wurzeln in der Erde. MAMÁ IN MÉXICO Conny und ich an den Pyramiden und am Fuß des Vulkans Iztaccihuatl (5286m) mit Pantufla. 6
XI. RUNDBRIEF AUS MÉXICO ‐ NOVEMBER 2007 Ende September kam meine Mutter zu Besuch. Nach zwei Jahren in México und zwei Jahren in Deutschland haben wir jede eine andere Realität erlebt und haben für drei Wochen die meine geteilt. Das Land ist groß, vielfältig und bittet um Zeit und so mussten wir uns für einige Orte entscheiden und andere warten auf den nächsten Besuch. Wir haben in Guanajuato für eine Woche bei einer befreundeten mexikanischen Familie auf einem Gut in der Nähe von Dolores gewohnt. Martín hat uns seine Gegend gezeigt, Aquädukte, Landschaft, Kakteen, Minen, Haciendas (riesiger spanischer Gutshof zur Zeit der spanischen Eroberung und Besetzung) etc. Wir haben kleine Töpferstädtchen besucht und die Ruhe auf dem Land mit Schafen, Hunden, Grillen, Kühen und großen Maisfeldern genossen. In DF waren wir in Museen und in verschiedenen Vierteln und natürlich bei der Guadalupe. Außerdem hat Conny einen Eindruck von den historischen Stätten bekommen, in Teotihuacán bei der Mond‐ und Sonnenpyramide und in Tula bei den steinernen Atlanten‐Kriegern. Danke für Deinen Besuch. VERSCHIEDENES Anfang November kam Sabine in die Fundación. Sie kommt als deutsche Voluntärin und bleibt vorraussichtlich für ein Jahr hier in México. Sabine ist Theaterpädagogin und möchte im Bereich Ausdruck ‐ Stimme, Körperarbeit, Skulpturen ‐ mit den Kindern wie auch mit dem Personal der Fundación arbeiten. Wir sind neugierig und hoffen, dass sie sich hier wohlfühlen wird. Willkommen! Letzte Woche kam der Film „Fraude“ (Wahlbetrug) von Luis Mandoki in die Kinos. Er erzählt vom Wahlbetrug der Präsidentschaftswahlen 2006 in México. Es ist ein Wunder, dass der Film überhaupt ausgestrahlt wird, in vielen Kinos bekommt er keinen Zugang, in den Radios werden die Spots gekürzt oder verändert und in DF fordern die Menschen nach Gerechtigkeit. Der Bürgermeister von DF Marcelo Ebrard gehört derselben Partei an wie der um den Sieg betrogene Lopez Obrador (PRD) und so haben wir in DF etwas mehr Möglichkeit den Film in voller Länge und ohne plötzliche „Stromausfälle“ zu sehen. Lara, meine Terrierhündin, hat letzte Woche wieder fünf Welpen bekommen. Sie wachsen jeden Tag wie die Weltmeister und sind alle gesund. Ich wünsche Euch allen eine gute Woche, hoffe, dass es nicht zu kalt bei Euch ist und danke Euch von Herzen für Eure so wichtige Unterstützung in allen Formen! Eure Bernadette Theresa Kalz, November 2007 7