Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins - Zentral

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Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins - Zentral
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43\ 14
MITTEILUNGEN
DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS
G E G R Ü N D E T 1865
Jahrgänge 8 4 - 8 7
Schriftleitung:
Günter Wollschlaeger
Dr. Christiane Knop
Bearbeitet von Ruth Koepke
BERLIN 1988-1991
Inhaltsverzeichnis
I. Aufsätze
Alberts, Ernst
Straßenbeleuchtung im Gespräch
Bannasch, Karl-Heinz
Martin Stritte — Spandauer Bezirksbürgermeister und erster Vorsitzender
der Berliner Liberalen nach 1945
Mit der Brotkarte zur Wahl
Die Reformation 1539 in der Mark Brandenburg
Banz, Hans Jörg
Berlin als Standort des zentralen Trägers der Rentenversicherung der Angestellten
Eldal, Jens Christian
Die Eindrücke des norwegischen Architekten H. D. F. Linstow
Habermann, Paul
Ein Augenzeugenbericht über den Einzug der Kronprinzessin
Elisabeth in Berlin im November 1823
Jochens, Birgit, und May, Herbert
Abreissen? Verändern? Bewahren?
Halle, Anna Sabine
Eine besondere Lilienthal-Ehrung
Hüfler, Brigitte
Der Deutsche Verein für Kunstwissenschaft e. V, gegr. 1908
17
53
142
224
138
111
452
38
358
390
Kaiser, Dolf
Graubünder Zuckerbäcker, Cafetiers und Brauer in Berlin
vor dem Ersten Weltkrieg
Kapp, Maria
Preußischer Eisenkunstguß
410
Kirchner, Christhard
Der Berliner Orgelbauer Peter Migendt (1703-1767)
295
Knop, Christiane
Der Friedenssender wurde nicht gebaut
Konrad, Hans
Geschichte und Bedeutung der Flensburger Löwen
Lowenthal, Ernst G.
Im Rückblick: Das „Gesamtarchiv der deutschen Juden" in Berlin
In Berlin geblieben bis zum bitteren Ende
Ein vergessener Berliner: Julius L. Seligsohn
Ein jüdischer Fotograf in Berlin 1933-1938
Lebensgeschichte als Zeitgeschichte an den Berliner
Juristen Walter Breslauer 1890-1981
Professor Ernest Hamburger wäre unlängst 100 Jahre alt geworden
252
85
238
148
278
311
348
366
368
III
Momper, V/alter
Grußwort
Glienicker Nachträge — Paralipomena II
Im memoriam Professor Dr. Johannes Siewers (1880—1969)
Kurt Wolfgang Schöning
Die Minervastatue des holländischen Bildhauers Bartholomäus Eggers
Ein römischer Paradehelm aus der Ägyptischen Sammlung
des Freiherrn Menü von Minutoli im Antikenmuseum
Notz, Werner
Richard Wagner in Berlin (1)
Oxfort, Hermann
Berlin: Geschichte einer Stadt
Festansprache zur Jubiläumsveranstaltung
Sommer, Klaus
Christoph Carl Pfeuffer
Schmiede, H. Achmed
Vor 190 Jahren . . . Tod des türkischen Botschafters Ali Aziz Efendi
Schuchard, Christiane
Quellen zur Geschichte der Frauenbewegung im LandesArchiv Berlin: Das Helene Länge-Archiv
Schütze, Karl-Robert
Heinrich Seidel: Das neue Empfangsgebäude der BerlinAnhaltischen Eisenbahn in Berlin
Stöcker, Friedrich Wilhelm
Mut und Anmut. Nachdenken über Luise von Preußen
325
16
331
438
25
74
395
294
332
8
102
194
58
415
Strehlow, Harro
Ein Brief Ernst Bauerhorsts an Alfred E. Brehm
A. E. Brehms Beziehungen zu Berliner Naturwissenschaftlern
vor der Gründung des Berliner Aquariums Unter den Linden
359
Stürzbecher, Manfred
25 Jahre Krankenpflegeschule des Krankenhauses
der Berliner Vollzugsanstalten
Bruno Harms 1890-1967
77
327
Wetzet, Jürgen
Der Flensburger Löwe in Heckeshorn
150 Jahre Berlin-Potsdamer Eisenbahn
107
130
Wimmer, Clemens Alexander
Aus dem Leben Peter Joseph Lennes
Wollschlaeger, Günter
Die ehemalige Templer-Comturei Lietzen
IV
2
210
382
II. Kleine Beiträge, Berichte
IV. Hinweise und Informationen
Zur Erforschung und Propagierung der
Kleine Mitteilungen:
Heimatgeschichte in Ost-Berlin
62 64, 88, 151, 203
Freizeitdenkmalpflege in Ost-Berlin
gesucht
88 1 .iteraturhinwei.se:
Märkisches Heimatmuseum mit weiteren
7, 171, 227, 277, 365, 424, 455
Außenstellen
88
Nachrufe:
25 000 Mitglieder der Gesellschaft
63
für Heimatgeschichte
88 Hans Schiller
63
Stiftung Historische Friedhöfe
88 Peter Lorenz
83
Restaurierung des Roten Rathauses . . . . 118 Ernst Alberts
225 Jahre Königlich Preußische
Irmtraut Köhler
371
Porzellan-Manufaktur
118 Roland Schröter
371
Forschungsförderungsprogramm „BerlinForschung"
151 Nachrichten aus Mitgliederkreis:
Urteile über Berlin und die Berliner . . . . 177 31, 63, 64, 61, 89,119,150,179, 228, 281,
Neuer Glockenstuhl auf dem
313, 406, 425, 458
Roten Rathaus
178
Historische Mühle in Sanssouci ersteht
Neue Mitglieder:
neu
203 35, 71, 99, 127, 159, 191, 207, 237, 263, 291,
Ausbau des Märkischen Museums
203 319, 355, 379, 435, 463
375 Jahre Haude & Spener
228
Noch einmal die Reformation 1539 in der
Eingegangene Bücher:
Mark Brandenburg
259 35, 99,193, 261, 318, 407
Urteile über Berlin und die Berliner . . . . 260
Gedenken an Friedrich Wilhelm IV. . . . . 370 Veranstaltungen:
Um die Erhaltung der Spandauer
36, 72, 100, 128, 160, 192, 203, 236, 264,
Lutherkirche
372 292, 320, 356, 380, 408, 436, 464
Neuguß der Quadriga vom
Brandenburger Tor empfohlen . . . .372, 401
Gründung einer Theodor Fontane
V. Buchbesprechungen
Gesellschaft
400
Gedenkstunde anläßlich des
100. Todestages Helmut v. Moltkes
456 Als wäre es nie gewesen
290
Das Testament der Anna Louisa Karsch . 456 (Schultze-Berndt)
Berlin-Stadtatlas mit Spirale
(Schultze-Berndt)
229
Berlin und seine Wirtschaft
232
Berlin-Paket in der Edition Photothek
(Schultze-Berndt)
404
III. Exkursionen
Berlin-Kochbuch, das neue
(Schultze-Berndt)
263
Trier
29, 65 Berliner Straßen und Plätze (Schuchard) 123
Detmold
64, 96, 151 Berlin aus der Luft (Schultze-Berndt) . . . 126
Ulm
178, 282 Berliner Sitten (Schultze-Berndt)
97
Paderborn
313, 399 Blisse u. a.: Otto und Gustav Lilienthal
(Wollschlaeger)
402
Böhmische Dorf in Berlin, das (Knop) . . 432
Born, Rolf: Ephraim oder Tradition als
Bindung (Knop)
349
150 Jahre Bote & Bock
(Schultze-Berndt)
184
Brandes, Georg: Berlin als deutsche
Reichshauptstadt (Knop)
283
V
Brozat, Dieter: Der Berliner Dom und
seine Hohenzollerngruft (Knop)
187
Bürger, Bauer, Edelmann (Schuchard) . . 122
Cöpenicker Dampfboot
(Schultze-Berndt)
290
Demps, Laurenz:
Der Gensd'armen-Markt (Knop)
96
Deutsche Postgeschichte (Schuchard) . . . 352
Emre, Gültekin: 300 Jahre Türken an der
Spree (Schwarz)
34
Endlich/Wurlitzer: Skulpturen und
Denkmäler in Berlin
(Schultze-Berndt)
426
Euro-Stadtplan (Schultze-Berndt)
402
Fischer, Fabian S.: Preußens Krieg und
Frieden (Knop)
Frank, Bernhard u. a.: Colleg Francais
(Doege)
Friedrich, Ruth A.: Schauplatz Berlin
(Köhler)
1933 Fünfzig Jahre danach —
Das Ermächtigungsgesetz (Knop)
Geschichte der Berliner Verwaltungsbezirke (May)
Geschichtslandschaft Berlin
(Doege/Neumann)
Geschichtslandschaft Berlin. Wedding
(Knop)
Griechenland u. Troja (Knop)
Großer Stadtplan Berlins
(Schultze-Berndt)
Gruß aus Berlin (Schuchard)
Habermann, Paul u. Gisela: Fürstin von
Liegnitz (Köhler)
Habermann, Paul und Gisela:
Friedrich Wilhelm III. (Wollschlaeger) . . .
Haffner, Sebastian: Der Teufelspakt
(Knop)
Hauptsache wir sind alle jesund
(Schultze-Berndt)
Heimatverein Zehlendorf (Köhler)
Hertz, Deborah: Die jüdischen Salons im
alten Berlin (Knop)
Hesse/Schrader: Menschen in Berlin
(Schultze-Berndt)
Hoffman-Axthelm, Walter: Dissertation
(Schultze-Berndt)
Hoffmann-Axthelm, Dieter/Scarpa,
Ludovica: Berliner Mauern und
Durchbrüche (Schachinger)
VI
373
373
67
126
154
314
431
460
289
122
183
Holmsten, Georg: Berlin in alten und
neuen Reisebeschreibungen (Knop) . . . .
Klewitz, Marion: Lehrerin im Dritten
Reich (Knop)
Knobloch, Heinz: Berliner Grabsteine
(Lowenthal)
Konert, Jürgen: Theodor Brugsch,
Internist und Politiker (Knop)
Kossatz, Hans: Ein Preuße erinnert sich
(Schultze-Berndt)
Krawutschke, Günther: Hauptstadt östlich
Friedrichstraße (Schultze-Berndt)
Kroll, Frank-Lothar:
Friedrich Wilhelm IV. (Knop)
Krüger, Rolf-Herbert: Das EphraimPalais in Berlin (Knop)
Lowenthal-Hensel u. a.: MendelssohnStudien (Wetzel)
Mangoldt, Renate von: Berlin literarisch
(Schultze-Berndt)
Mayer, Ulrich: Die Anfänge der Zionsgemeinde in Berlin (Knop)
Merian: Topographia Electoratus et Brandenburgici Ducatus Pomeraniae
(Engel)
Mey, Richard: Mein Dorf in Berlin
(Schultze-Berndt)
Meyer/Schulze: Von Liebe sprach damals
keiner (Knop)
Müller, Adrian von, u. a.: Ausgrabungen
und Funde aus dem Burgwall in Berlin
Spandau (Knop)
275 Jahre Nicolaische Verlagsbuchhandlung (Schuchard)
317
70
67
230
316
404
433
351
427
228
404
206
283
157
157
288
O Charlottenburg, du frauenfreundlichste
unter den Städten (Schuchard)
353
403
374
282
60
462
261
460
92
Preußen, seine Wirkung auf die
deutsche Geschichte (Knop)
487
Preußens Adoptivkinder: die Hugenotten
(Knop)
120
Projekt: Spurensicherung (Schuchard) . . . 282
Reuth, Ralf Georg: Goebbels (Knop) . . .
Richnow, Hans Joachim: Erinnerungen an
Preußen (Knop)
Riechert, Ursula: Von St. Nicolai zum
Reichstag (Knop)
Reuther, Hans: Die große Zerstörung
Berlins (Knop)
Stadtbilder (Knop)
429
98
153
94
94
Rollka, Bodo, u. a.: Das Berliner Schloß
(Knop)
Rollka, Bodo, u. a.: Berliner Laubenpieper (Knop)
Rothe, Wolfgang: Der Pflastertreter
(SchB)
125
179
66
Sackgassen (Schuchard)
152
Sagave, Pierre Paul: Berlin und
Frankreich 1685-1871 (Knop)
32
Sandvoß, Hans Rainer: Widerstand in
Spandau 1933-45 (Knop)
375
Siedler, Wolf Jobst: Wanderungen
zwischen Oder und Nirgendwo
(Knop)
152
Spiess, Volker: Gauner, Künstler, Original
(Knop)
377
Schacht, Jürgen: Metropole Berlin
(Engel)
206
Schäfer, Hans Dieter: Berlin im
Zweiten Weltkrieg (Schultze-Berndt) . . . 125
Schloß Britz (Köhler)
155
Schmidt, Erich: Maria Haupt geb.
Lüdicke (Knop)
316
Schönknecht, Eberhard: Vom Dorfkrug
zum Prälaten (Schultze-Berndt)
91
Schütte, Dieter: Was darf die Rezension . 189
Schütze, Karl-Robert: Von den
Befreiungskriegen bis zum Ende der
Wehrmacht (May)
158
Schultz, Helga, u. a.: Die Roggenpreise
und die Kriege des großen Königs
(Schultze-Berndt)
204
Schulz, Günther: Die ältesten Stadtpläne
Berlins (Wetzel)
123
Stahn, Günther: Das Nikolaiviertel am
Marx-Engels-Forum (Knop)
188
Stationen der Moderne (Engel)
262
Struckmann, Joh. Caspar: Staatsdiener als
Zeitungsmacher (Knop)
92
Velder, Christian: 300 Jahre
Französisches Gymnasium in Berlin
(Knop)
Verkehr in Berlin (Knop)
Vogel, Werner: Berlin und seine Wappen
(Schuchard)
Voss, Karl: Und alles ist zuviel aufgeladen
(Schuchard)
181
155
187
185
Wagner u. a.: Das Neue Berlin (Engel) . . 207
Wefeld, Hans J.: Ingenieure in Berlin
(Schultze-Berndt)
205
Werkstattbesuche bei Künstlern in BerlinWedding (Schultze-Berndt)
229
Wilde, Alexander: Das Märkische Viertel
(Knop)
Wille, Klaus-D.: Die Glocken von Berlin
(Knop)
Woche, Klaus Rainer: Vom Wecken bis
zum Zapfenstreich (Grave)
Wollschlaeger, Günter: Chronik
Tempelhof I (Knop)
Wollschlaeger, Günter: Chronik
Tempelhof II (Knop)
Ziechmann: Panorama der
Fridericianischen Zeit (Knop)
315
289
31
33
120
376
Namensregister
Abd al Latief-Pascha Abd Allah . . . . 3, 5
Abeken
331
Adolf Friedrich IV.
416
Aertsen, Pieter
335
Ahlimb, Joachim Wilhelm v.
306
Albrecht v. Mainz
224, 225
Albertz, Heinrich
325
Albrecht, Pr
305
Alexander I., Ks
168
Alexander I., Zar
419
Alexander VI., Papst
224
Alkuin
30
v. Altenstein
5
Althoff, Friedrich
391
Alvensleben, Graf v.
105
Amalarius
30
Amalia Prinzessin von Preußen
304
dAnastasi, Giovanni
74
dAngers
331
Anna Pr. v. Pr
443
Anna Amalia
166
Antinoe
74
Apel, Theodor
396
Arndt, Ernst Moritz
422
Amtin, F. v.
342
Armin, Achim v.
422
Armin, Ferdinand v.
444
Ascan, Carl
266
Augusta Prinzessin von Sachsen-Weimar
13
Augustenburg, Friedrich v.
108
Aziz, Ali Efendi
102
Bach, Johann Sebastian
Bachmann
Baicke, Catharina Elisabeth
Baicke, Friedrich
Barowsky, Ella
Batmeier,
Bartoschek, Gerd
Bausch
299
44, 442
296
296
459
116
170
15
VII
Bauerhorst, Thilo
4
Bauerhorst, Ernst
2, 4, 5, 360
Belitz, Conrad v.
389
Behr, Julius
323
Berg v.
419
Bergelt, Wolf
306
Berges, Heinrich
440
Berliner, Cora
Berliner, Manfred
278
Bernhard, Andreas
445
Bernoth, v.
323
Besser, Ursula
31, 459
Beuth
112
Billharz, Theodor
363
Bismarck, Otto v.
108, 239
Bissen, Hermann Wilhelm 108, 238, 242, 280
Bittenfeld, Herwarth v.
111
Bloch, Peter
50, 170
Block
428
Blücher, Gebhard Leberecht v. . . . . 115, 420
Blunck
338
Blume
306
Blumenbach, Joh. Friedr
12
Bode, Wilhelm v.
336, 390
Boeckh, August
75, 443
Börsch-Supan, Helmut
340
Börsch-Supan, Eva
276
Boesch, von de
203
Böttcher, Christian Gottlieb
306
Bötticher, Karl
332
Böttiger, Carl August
166
Bolle, Carl
360
Bora, Katharina v.
225
Borgia, Cäsar
224
Borgia, Lucrezia
224
Brandt, H. F.
9, 14
Brandt, Bernhardine
210
Brandt, Petrus Josephus
210
Brandt, Willy
294, 295 322
Braun, Alfred
85, 87
Braun, Otto
369
Brehm, Reinhold
5, 6
Brehm, Alfred Edmund
2, 4, 5, 359
Breslauer, Bernhard
366
Breslauer, Walter
366
Brockhaus, Albert
397
Borcksch
164
Brodnitz, Friedrich S
279
Buchda
360
Buchholz, Carl August
301
Buchholz, Johann Simon
302
Buchwald, Werner
83
Bülow, Hans v.
395, 398
Bülow, Bernhard
115
Bülow, Frederik
238
VIII
Büttner
Bunsen, Christian Carl
Bussemer, Herrad-Ulrike
Buvry, Leopold
41
331
196
360
Callensee, Matthias
295, 296
Camuccini, Vincenzo
166
Canova, Antonia
344, 423
Cantian
112, 216, 331
Carl Alexander Großherzog
14
Callimachi
102
Carl Prinz von Preußen
163, 164, 332, 338, 344, 370, 438
Carus, Carl Gustav
76
Casanova
364
Caspari, Ernestine
48
Christian X
245, 246, 280
Charlotte Prinzessin
417
Christian IX
108
Christoph
106
Clairvaux, Bernhard v.
342
Clausen, H. N
241
Clausewitz, Karl v.
420
Clemens V.
384
Clodt
331
Collmann
457
Colomier, Louis Napoleone
110
Conrad, Walter
330
Conrad Wilhelm . . 110,136,137,241,247
Conti, Anna
329
Conti, Leonardo
329
Corinth, Louis
336
Crelle
130
Cuntzius, Heinrich Andreas
295, 299
Czerny, Adalbert
327
Daege, Eberhard
Darge, Hans-Jürgen
David, Werner
Dedel, C. H
Dehio, Ludwig
Delbrück, Joh. Friedr
Delanoir, Hr
Demmler, Georg
Deutsch, D
Devaranne, Simeon Pierre
Devrient, Therese
Dieffenbach, Joh. Friedrich
Diepgen, Eberhard
Dietrich, Friedrich Wilhelm
Diez, Friedrich v.
Diterich, F. W.
Doli, Johann Veit
Dölljun
Dorn
332
387
305
397
340
370
442
272
365
413
220
443
322
301
104, 105
397
8
9
115
Dressel
Dorow, Wilhelm
Drigalski, Wilhelm v.
Dronke, Ernst
Dümmler, Ferdinand
Dunkel, Joachim
39
442
330
452
76
171
Ebbinghaus
336
Eckart
85
Eggers, Bartholomäus
23, 27
Ehrenberg, Christian Gotthilf
439
Eisenberg
105
Eisenhower
241
Elisabeth Prinzessin von Bayern 13, 370, 452
Ende, Lex
145
Engler, Adolf
327
Erzberger
139
Esad Bey
106
Evans
196
Friedrich Wilhelm III. . . . 9, 10, 75, 103,
105,130, 136, 162, 214, 268, 417, 438, 452
Friedrich Wilhelm IV. . . . 8, 111, 14, 16,
25, 44, 216, 218, 219, 267, 169, 272, 340,
370, 418, 438, 452
Friedrich Wilhelm Kronprinz . . . . 113, 267
Friedrich Wilhelm Landgraf von
Hessen-Kassel
443
Fritsch, K. E. 0
276
Fritzsche, Gottfried
295
Fuchs
114
Fürstenstein, Grf.
442
Furtwängler, Adolf
333, 334
Gabriel, Sigismund
327
Gaebert
363
Garbsch, Jochen
74
Gaudy, Friedrich Wilhelm v.
370
Gause
44
Facius, Angelika
9, 16 Gebhardt
362
Favrau & Falkmann
456 Geiss, Philipp Conrad Moritz . . . . 116, 413
Fechner, Max
143 Geiss, Johann Conrad
116, 413
Feilner
112, 114 Genschorek
4
420
Ferstel
268 Gentz, Friedrich
Fichte, Johann Gottlieb
422 Georg Pr
417
Fintelmann, Ferdinand
25 Georg Victor Fürst zu Waldeck-Pyrmont
14
Fintelmann, Karl
215 Gerber, Ernst Ludwig
295
Fischer, Dieter
389 Gerhard, Eduard
166
Fischer, Emil
327 Gerlach, Philipp
39
Fischer, Fr
297, 302 Gerstäcker, Friedrich
361
Fischer, K
9, 12 Gestel
9
Fidicin
323 Gier
268
Fock, Gustav
306 Gierke, Anna v.
197
Fontane, Theodor
294, 331, 389, 423 Gilli, (Gilly) David
331, 418
Franz, Ks
268 Gloßmann, Wilhelm
80, 82, 84
Franz II
416 Glücksburg, Christian v.
108
Frederik VII
246 Gneisenau, Neidhardt v.
420
Frenzel, Herbert A
117 Goedeking
14
Freyberg
331 Görtzke, Joachim Ernst v.
389
Frick
112 Goethe, Johann Wolfgang v. . . . 16, 418, 423
Friedrich 1
397 Goldschmidt, Adolph
334, 391
Friederike, Prinzessin von Hessen . 415, 417 Got, Bertrand de
384
Friedrich Herzog von
Gripp, E. J. W.
104
Sachsen-Hildburghausen
417 Graef, Botho
334
299
Friedrich II., Kurf.
38 Graun, Johann Gottlieb
Greven-Achoff
196
Friedrich II
13, 25, 113, 216, 226,
302, 305, 446 Groeben, Albrecht Wilhelm v. d
444
360
Friedrich VII
107, 108 Größler
112, 116, 117
Friedrich Carl
HO, 111, 136, 162 Gropius, Carl
117
Friedrich Franz II
272 Grosch, Christian Heinrich
33, 27
Friedrich Karl
247, 343 Grotjahn, Alfred
9, 13
Friedrich Wilhelm
168 Grube, H
305
Friedrich Leopold
165, 342, 442 Grüber, Heinrich
170
Friedrich Wilhelm 1
303, 304, 397, 452 Grzimek, Waldemar
337
Friedrich Wilhelm II. . 103, 105, 305, 417 456 Guthmann, Johannes
IX
Habenicht
78
Haemmerlein
360
Hagedorn, Lorenz
82
Hahn von Basedow
268
Hamburger, Ernst
368
Hammerschmidt, Karl
362
Handmann
218
Hardenberg, Carl August v.
386, 389, 416, 418, 421
Harms, Bruno
327
Hartig
214
Hartwig, Paul
335
Haseloff, Arthur
334
Hausberg, Fritz
56
Hayne, Gottlieb
304
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich
75
Heim, Ernst Ludwig
422
Heins, Johann Martin
168
Held
9
Hell, H.
9
Hempel, Johanna Amalie
338, 456
Hemprich, Friedrich Wilhelm
440
Henslmann
268
Hentzschel, Johann Christian
303
Herbst
456
Herder, Johann Gottfried
417
Hesse
266
Hesse, L. F.
412
Heuglin, Theodor
2, 36, 263
Hiersekorn, Johann Christian
457
Hilsinger, Wilhelm
79, 80
Hiltl
331
Hirsch, Otto
278
Hirz
266
Hitler, Adolf
278
Hofer,
78
Hofmann, A
9
Hohenlohe
370
Hohlfeldt,
456
Hollenbach, I. C
9
Hollenbach, Albert
307
Hossauer, Johann Georg
164, 440
Hübner, Erich
327
Hufeland, Christoph Wilhelm
422
Humboldt, Alexander v. . . 15, 331, 333, 443
Humboldt, Wilhelm v.
421, 423
Humann, Jules
443
Hummel
266
Husen, Jan-Hinnerk
82
Hussein Aga
3
Ingersleben, Carl Ludwig Heinr. v.
Israel, Wilfried B
Jabrowski, v.
Jacobson, Amram
215
312
244
149
Jacobson, Jacob
Jacobson, Moses
Jacobsthal, Paul
Jagow, Kurt
Jahn, Franz
Jancke, Carl Friedrich
Jagow, Mathias v.
Jessen, Hans B
Joachim I. Nestor
Joachim II. Hektor
Johann Prinz von Sachsen
Johann Moritz v. Nassau-Siegen
Juckacz, Marie
Julier, Jürgen
Jung, Heinz
Jürgensen
148
148
338
340
340
218, 219
226
342
224
226
370
26
278
440
280
44
Kaeber, Ernst
331
Kaiser, Jakob
144
Karl Prinz von Mecklenburg-Strelitz . . . . 415
Karl Prinz von Preußen
266, 267, 341
Karl 1
225
Karoline v. Baden
452
Karsch, Anna Louisa
456
Karsch, Heinrich Wilhelm
456
Katzwinkel, Bernhard
388
Kaunitz Graf von
102
Kauffmann, Johann Friedrich
306
Kehrer
456
Kekule, Friedrich v.
440
Kienscher, Albert
306
Kirchner, W.
9
Kirsten, Manfred
84
Kleinert, Salomon
303
Kleist, Ulrike v.
421
Kleist, Heinrich v.
421
Klencke, Caroline Louise v.
456
Klencke, Christiane Wilhelmine
456
Klenze
268
Klinger
336
Klös, Heinz Georg
5, 359, 425
Klünner, Hans-Werner
111
Knoblauch, Eduard
266
Koch, Waldemar
54
König, Friedrich
9
Körner, Theodor
422
Koetschau, Karl
391
Kohte, Julius
41
Kollwitz, Karl
336
Kollwitz, Käthe
336, 337
Konrad, Hans
284
Konstantin
29
Koppen
273
Koschny,
219
Kosciuszko, Tadeusz
396
Kowalski, Ludwig Peter
47
Kratzenberg, Johann Carl Wilhelms . . . . 413
Krausnick
323
Kretschmer, Robert
361
Kreutzberger, Max
Kroger
39, 44
Krüger, Franz
331, 442
Kügelgen, Gerhard v.
332
Kügelgen, Wilhelm v.
331, 332
Kühne, Günther
50
Külz, Wilhelm
54, 55, 144
Kühnel, Calcant
305
Küsel, Carl David
307
Küsel, Jakob Friedrich
307
Kugler, Franz
16
Kullrich
12
Kunkel,
51
Kunzendorf, Paul
137
Kurth, Willy
392
Kutz, Hans-Günnther
84
Lachtmann, J. L
9
Lademann
335
Landsberg, Kurt
331
Lange, Helene
197
Lange
216
Langeheinecke, Jochen
38
Lansdowne, Henry Petty Fitzmaurice
Marquis v.
344
Laube, Heinrich
396
Ledebur, Carl Freiherr v. . . . . 295, 323, 331
Ledebur, Leopold v.
168
Lehmann, August Ferdinand
413
Lehmann, Orla
328
Lehr, Henriette
48
Leibniz
44
Lenne, Anna Margaretha
210
Lenne, Augustin
210, 220
Lenne, Clemens
213, 215, 221
Lenne, Cunibert
210
Lenne, Gertrud
210
Lenne, Heinrich
211
Lenne, Johann Heinrich
210, 215
Lenne, Johann Joseph
210
Lenne, Maximilian Hubert
210
Lenne, Peter Joseph
114, 210, 268
Lenne, Peter Joseph Johann Maria
210
Lenne, Philipp Joseph
212
Leo X
224
Leonardo da Vinci
412
Levetzow, Jakob Andreas
75, 76
Lepsius
331
Lichtenstein
5, 6, 365
Lilienthal, Otto
358
Linstow, Hans Detlev Franz
111
List, Friedrich
130
Löwenthal, Richard
322
Loos, Gottfried Bernhard
8
Loos, Daniel
8, 9, 15
Loos, Friedrich
15
Lorenz-Epstad, H
9
Lottum, v.
9
Louis Charles de Bourbon, Comte d'Eu . 168
Louis Ferdinand Pr. v. Pr
419
Ludwig XTV.
218
Lübke-Haag
274
Lucchesini, Cäcilie
444
Lucchesini, Charlotte v
442
Lucchesini, Franz Marquis v.
438, 442
Lucchesini, Girolamo Marquis v. . . 442, 446
Lüders, Marie-Elisabeth
278
Ludwig II
395
Luise Königin
von Preußen
39, 103, 370, 415
Louise Henriette
25
Ludwig Prinz von Preußen
417
Lützow, Adolf Frh. v
422
Luther, Martin
224
Lutsch
42
Lylamg
294
Maltzahn, Frh. v.
214, 216
Mannfeld, B
170
March, Otto
39, 43, 44
Marggraff, Sabine Tugendreich
9
Margherita
331
Marie Luise
212
Maritz, Jean
168
Martens, Carl v.
443
Martin
364
Martstak
4, 6
Marx, Ernst
295, 297
Maximilian I. v. Bayern
452
Maximilian Franz Kurfürst von Köln 210, 211
Mayer, Edmund
80
Melmed
104
Meitzner, Reinhard
82
Melanchthon
226, 227
Mendelssohn, Joseph
443
Menü v. Minutoli, Johann Heinrich
Carl Frh
74, 440
Menzel, Euvre v.
336
Meyerbeer, Giocomo
332, 443
Meves, Albert Anton
413
Meyer, Erich
392
Meyer, Gustav
219
Michels (Micheli), F.
342
Mieg, Caroline v
268, 269
Migendt, Peter
295
Minutoli, Alexander v.
331
XI
Minutoli, Julius v.
Moehsen, Joh. Carl Wilh
Moellendorf, v.
Moltke, Helmuth v.
Momper, Walther
Mortgaart, Achilles
Mosch, Johann Georg
Motte-Fouque, de la
Müller, Carl Christian
Müller, Johann Conrad
Müller, Joh. Friedr. Gottlieb
Munk, Marie
331
331
15
144, 331
325
26
214, 215
332
438
301
413
197
Nagler, v.
Napoleon
Nathusius
Natzner,
Nebelong, J. H
Neindorf, Johannes de
Nemitz, Kurt
Neumann, Franz
Nicolai, Christoph Friedrich
Niebuhr, Barthold Georg
Nietner, Eduard
Nietner, Theodor
Nilolaus 1
Nostre, Andre, Le
Novalis (Friedr. v. Hardenberg)
Nurhan Atasoy
12
211, 419
112
438
117
289
278
139
305
331
215, 216
215
418
218
422
104
Ohff, Heinz
Olfers, Ignaz Maria v.
Otto III
Otto Christoph Frh. v.
Otto-Peters, Louise
222
331, 443
30
198
Pallat, Ludwig
338
Pappritz, Anna
197
Passalaqua
331
Patow, v.
16
Paul, Jean
418, 422
Pentz v.
3, 5, 6
Peschke, Walter
343
Pesne, Antoine
332
Pfeuffer, Heinrich
8
Persius, Ludwig 221, 266, 269, 271, 340, 438
Peschken, Goerd
170
Peters
364
Pfeuffer, Christoph Carl
8
Philipp der Schöne
384
Pieck, Wilhelm
143
Piedowski, Paul
330
Plessen, Marie-Louise
170
Podewils
103, 105
Poelzig, Hans
343
XII
Pohl
Popitz
Posch, Leonhard
Pottgitter, Anna Catharina
Quellinus, Artus d. Ä
241
342
412
210
26
Rabnow, Johannes
Rachel
Raffael
Rameisberg
Raoul-Rochette, Chelard
Raoul-Rochette, Desire
Raschdorff
Rauch, Doris
Rauch, Christian Daniel
328, 330
332
412
364
443
443
270
444
167, 331,
423, 440, 444
Rave, Paul Ortwin
50
Ravene
273
Reclam
364
Redeker, Franz
329
Redslob, Edwin
340
Reiz, Mathilde Elise
364
Rellstab
332
Resni, Ahmed Effendi
102
Reuter, Ernst
393
Riedel v.
213
Riemann,
40, 43, 44
Ringstedt, H. V.
241
Robert, Carl
335, 336
Robert, J. C
130
Rodewaldt, Gerhard
335, 342
Röder, Johann Michael
302
Röttscher
270
Roon, Albrecht Graf
331
Rothkirch, Malve Gräfin . . . . 162, 170, 332
Rubens, Heinrich
327
Rückert, Friedrich
422
Rumpf.
170
Sachse, Louise
Said Pascha
Sakowski, Helmut
Sauerbruch, Ferdinand
Sauer, Wilhelm
Savoia, Umberto di
Sckell
Sebbers
Seebass, Alfred Richard
Seeliger, Herbert
Segall, Jacob
Seidel
Seiler, Michael
Seligsohn, Arnold
Seligsohn, Julius L
442
3
268
329
301, 305
331
218
331
413
367
149
323
445
311
311
Selim III
104
Semper
272
Serverus, Alexander
74
Sello, Hermann
218, 220
Sievers, Arl Georg
332
Sievers, Gerhart
338
Sievers, Herma
335, 343
Sievers, Johannes
171, 331, 338, 442
Sievers, Wilhelm
332
Silbermann, Gottfried
295
Simon, Eduard
392
Simon, Ernst
348
Simeon
30
Skalnitzky, Helmut
268
Sklarek
54
Slevogt, Max
337
Sobernheim, Georg
327
Sömmering, Samuel Th
13
Soller, August
269
Sonnenfeld, Lern
348
Sonnenfeld, Herbert
348
Sophie Charlotte Königin
25
Sparr, Otto Christoph Freih. v.
27
Sperlich, Martin
170
Spiker
332
Süssmilch, Johann Peter
297
Suhr, Otto
145
Schmidt-Otto, Friedrich
391
Schmidt-Waldherr, Hiltraut
391
Schmiede, H. Achmed
104
Schneider, B
359
Schneider, Louis
168, 332, 438
Schnitger, Arp
300, 303
Schönhauser
103
Schöning, Charlotte
440
Schöning, Kurd Wolfgang v.
438
Schöning, Rose
440
Schöpp-Schilling, Hanna
Scholtze, Gottlieb . . 295, 299, 302, 306, 308
Schreiter, Gerhard
47
Schröteler, Bernhard
84
Schuke, Hans-Joachim
305, 308
Schuke, Alexander
305, 308
Schultz
84
Schultze-Naumburg, Paul
40
Schulz
76
Schulze, Claus-Peter
295
Schulze, Franz Eilhardt
327
Schulze, Johann Gottlieb . . . . 214, 216, 218
Schulze, Karoline
214, 217
Schwanebeck, Joachim v.
226
Schurig, Matthias
299
Schwabe
397
Schwennicke, Carl-Hubert
56, 143
Schadow, Albert
271
Schadow, Johann Gottfried
417, 423
Schadow, Wilhelm
442
Schaffgotsch, Emanuel v.
444
Schaffgotsch, Leopold Gf. v.
444
Scharnhorst, Gerhard v.
115, 420
Schäfer, Dietrich
334
Schellig, F. W I. v.
14
Scheper, Hinnerk
39, 46, 340
Schenkendorf, Max v.
422
Scherer,
295
Scherl, August
392
Schiffer, Herma
Schill, Ferdinand v.
422
Schiller, Friedrich v.
418
Schinkel, Karl Friedrich . . . . 39, 44, 47,
106, 112, 266, 270, 332, 338, 343, 370, 412
Schirmer
331
Schievelbein
274
Schlabrendorf, Ernst Wilhelm v.
440
Schiaden, Frh. v.
421
Schlawe
359
Schlegel, Wilhelm
427
Schlieben, Maximilian v.
386
Schlieffen
438
Schlüter, Andreas
25
Schmidt, Erhardt
80
Stauch, Lieselotte
Steffen, Wilhelm
Steffeck,
Stein, Karl Frh. v.
Stephan, Heinrich v.
Stephani
Stephenson, Robert
Stierle, G
Stillfried, Grf. v.
Stoehr,
Strassmann, Ferdinand
Stresemann, Gustav
54,
Stölzl, Christoph
Strack, Johann-Heinrich . . . . 266, 268,
Stradonitz, Reinhard Kekule von
Strehlow, H
Stritte, Martin
Stüler, Friedrich August 39, 42, 44, 114,
393
307
331
419
398
51
132
9
12
196
330
139
224
270
334
359
53
266
Täubler, Eugen
Taglioni, Philipp
Tauber, Johannes
Terite
Tetzel, Johann
Teusch, Christine
Thaer
Thering, Lukas
148
332
85
331
224
278
220
291
XIII
Thiele, v.
Thorvaldsen, Beitel
Thouin, Gabriel
Tieck, Friedrich
Tieck, Ludwig
Tietze, Andreas
Thurneysser, Leonhard
Tishdorf
Toelken, Ernst Heinrich
Toller, Ernst
Treitschke
Trützschler, Friedric C. A. v.
14
115, 423
212
331
422
104
331
331, 443
86
214
12
Varnhagen v. Ense, Karl August . . 164, 443
Velsen, Dorothee v.
198
Venuti, Domenico
166
Venuti, Lodovico
166
Venuti, Niccolo Marcello
166
Vescovali, Luigi
166
Visconti, E. G
166
Voigt, Carl
9, 12
Voigt, Christian Friedrich
301, 306
Volckmar, Andreas
300
Vollgold F. W. L
412
Voltaire
220
Voß, Friederike
217
Voß, Joachim Heinrich
217
Voss, Karl
456
Voß, Sophie Marie Gräfin von
102
Waagen, Gustav Friedrich
Waetzoldt, Stephan
Wagner, Cosima
Wagner, Joachim
Wagner, Minna
Wagner, Richard
Waldhauer, Oskar
Warburg, M. M
Wasser, Michael
Wasserfuhr, Hermann
Weber, August
Wedekind, Frank
Weilbach, Philip
Weiss
75, 331
393
395, 398
295, 297
395
395
334
312
296
330
330
334
240
444
Weizsäcker, Richard v.
Wendland
Welcker, Gottlieb
Weyhe, Joseph Clemens
Weyhe, Maximilian Friedrich
Weyl
Wichmann, Hermann
Wiedeburg, Johann Gottlieb
Wieland, Christoph Martin
Wilhelm I. . 12, 110, 168, 240, 338, 398,
XIV
322
163
166
210
211
328
219
305
418
423
Wilhelm Prinz von Preußen
Wilhelm II. Kaiser
Wilhelm II. Landesbischof
Wielhorski,
Winkler, Friedrich
Winterstein
Winzienroth Hn. v.
Wirth, Irmgard
Wittig, August
Wölfflin, Heinrich
Wohlberedt, Willi
Wolff, Christian Michael
Wolff, Peter Friedrich
Wolzogen, Ernst v.
Wrangel, Ferd. v.
Wrede, Adolf v.
Wulff, Oskar
Wylich, Karl Friedrich Heinrich Graf
116, 163
392, 423
44
443
393
391
215
50
25
334
446
299
457
334
108, 239
: 363
334
von 11
Yorck v. Wartenburg, Hans
421
Zedlitz v.
Zimmermann, Heinrich
Zinn, Wilhelm
239
392
327
A1015FX
MITTEILUNGEN
DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS
GEGRÜNDET 1865
84. Jahrgang
Heft 1
Ein Porträt Alfred Edmund Brehms etwa um 1857.
Leipziger Illustrirte Zeitung 28 (1857), 185
Januar 1988
Ein Brief Ernst Bauerhorsts an Alfred Edmund Brehm
Von H a r r o Strehlow
In den Brehm-Biographien (z.B. Krause 1890; Genschorek 1984) spielt Alfred Edmund Brehms
erster Aufenthalt in Afrika (1847-1852) eine bedeutende Rolle, trägt er doch zum Verständnis
Brehms späterer Entwicklung bei und ist er durch Briefe und vor allem durch Brehms
„Reiseskizzen" (1855) und seine Tagebücher (Kleinschmidt 1951) ausreichend dokumentiert.
Im auffälligen Gegensatz dazu fällt Brehms Studienzeit bis zum Beginn seiner Spanienreise
1856 in den Biographien sehr kurz aus. Ob dieser Zeitraum für weniger spektakulär angesehen
wird oder aus Materialmangel bisher nicht näher untersucht wurde, soll hier nicht diskutiert
werden. Aus den bisherigen Veröffentlichungen über die Brehm-Familie (s. Baege 1980; Baege
& Haemmerlein 1981) entsteht der Eindruck, Brehm habe zwar in dieser Zeit Aufsätze und seine
Reiseskizzen geschrieben und auch verschiedene Vorträge gehalten, aber ansonsten keinen
Kontakt zu in Afrika lebenden oder aus Afrika zurückgekehrten Personen gehabt.
Dieser Eindruck ist falsch, wie sich durch einen Brief Ernst Bauerhorsts an Alfred Edmund
Brehm vom 7. März 1856 belegen läßt, der sich im Besitz des Handschriftenarchivs der
Staatsbibliothek der Stiftung Preußischer Kulturbesitz befindet. Da sich weder im Handschriftenzentralregister für die BRD und West-Berlin noch in der DDR (Haemmerlein 1984) Briefe
Brehms an Bauerhorst nachweisen lassen, ist dieses Schriftstück wohl der erste Hinweis auf eine
Korrespondenz. Der in Handschrift vierseitige Brief ist Teil einer Korrespondenz und enthält
viele Hinweise auf Freunde Brehms in Afrika. Einige wichtige Punkte, die im Brief auch einen
größeren Raum einnehmen, sollen hier ausführlicher diskutiert werden.
*
Alexandrien den 7. Maerz 1856
Mein lieber Alfred!
Deinen lieben Brief vom 19. Februar dJ. erhielt ich am 3. Maerz. Also 15 Tage später und beeile
ich mich Dir darauf zu antworten daß ich volkornen mit Dir ausgesöhnt bin, und daß ich Dir,
was Du auch irfier gegen mich begangen hast, verziehen habe; hoffentlich habe ich so ganz in
Deinem Sine gehandelt und bin ich somit ganz Deiner wehmüthigen Bitte zu Deiner Zufriedenheit nachgekomen. Also alter Freund, setze Dir keine blaue Gedanken in den Kopf,
sondern halte Dich vielmehr fest überzeugt, daß Ernst Bauerhorst Dir nicht mehr grollt; muß
aber noch hinzufügen, daß ich Heuglin's nach Egypten zurückgekehrte Diener nicht gesehen
habe, noch viel weniger Grüße von Dir durch sie erhalten. - Gleichzeitig beeile ich mich Dir
anzuzeigen, daß ich seit 8 Tagen mit einem jungen hübschen Mädchen, Joanne Diacono,
verlobt bin. Ich hoffe Dir durch diese Anzeige Deine mir in Deinem Brief gehaltene Epistel
beantwortet zu haben. Recht hast Du! aber jch habe auch Recht. - Es ist nicht gut, daß der
Mensch allein sei; und so will ich mir den auch eine Lebensgefährtin zulegen, coute qu'il coute!
Was nun meine Doctor Geschichte anbelangt, so bin ich allen Ernstes über Dein mir gegebenes
Thema hergefallen, glaube aber kaum, daß ich damit zu Ende körnen werde; es ist verflucht
schwer, und dabei sehr viel zu thun. - Was nun aber Deinen Bruder, den Doctor, anbelangt, so
bin ich sehr erfreut, daß er nach Egypten körnt, nur muß er vorher tüchtig französisch studiren,
2
damit er mit der Sprache durchkomt. - Ich bin selbst Mitglied der Intendance Sanitaire für
Egypten und kafi ihm daher mit meinem Einfluß sehr behilflich sein, und vielleicht gelingt es,
ihm zu einer Anstellung beim Militair behilflich zu sein. Seine Diplome aber bringt er mit, und
das weitere wird sich finden. - Wo mein Einfluß nicht ausreicht, wird der Alte1 eingespannt, der
es um so lieber thun wird, sobald sich Dein Bruder unter Preußischen Schutz stellt. Latif2 soll
ihm auch dabei behilflich sein.
Deinen Hussein Aga3 habe ich bei meiner letzten Anwesenheit in Kairo aufgesucht und
gesprochen. - Er war außer sich vor Freude als er mich sah, noch mehr aber, als ich ihm von Dir
sprach. - Er machte 1000 Fragen, die ich ihm alle, so gut es ging, beantwortete; ich hatte keinen
Dragoman mit. Unter anderem fragte er mich, ob Du durch Heuglin2 die beiden *** und den
gestickten Tobacksbeutel erhalten habest, welchen er Dir durch ihn übersandt. - Da ich davon
nichts wußte, so versprach ich ihm, bei Dir anzufragen und ihm dann Deine Antwort
mitzutheilen. Er läßt Dich 10.000.000 mal grüßen und umarmt Dich im Geiste als einen der
bravesten Kerle, die er je kenen gelernt hat. Ich habe ihm von Deinem Buche erzählt und, wie
Du seiner darin gedenkst und so seinen biederen Charakter und Namen der ganzen Welt
mitgetheilt hast. - Es standen ihm Thränen vor Freude und Rührung in den Augen. - Der Aga
hatte wieder von Said Pascha sein Regiment irregulärer Kavalerie erhalten, ist aber bald darauf
wieder abgesetzt worden, da er einen Soldaten hat züchtigen lassen, was Said im Anfange seiner
Regierung streng verboten hatte. - Hussein lebt jetzt zurückgezogen in Cairo für alle seine
Freunde aber imer der alte liebenswürdige Krieger. - Für den Augenblick läßt sich nichts für
ihn thun; vielleicht gelingt es mir später, ihn wieder zu Gnaden zu bringen. Dein Buch4 habe ich selbst noch nicht gelesen, da ich es erst nach Cairo zum Einbinden
geschickt, und dort von einigen Preuß. Offizieren, die sehr neugierig sind, gelesen wird. - Ich
kene es daher nur bruchstückweise, hauptsächlich den Theil, der mich persönlich angeht. Sobald ich das Ganze werde gelesen haben, werde ich nicht ermangeln, Dir eine Recension in
der A Zeitung5 zu schreiben. Hoffentlich wird man den Artikel aufnehmen. - Für den mir
übersandten Cosmos sage ich Dir meinen herzlichsten Dank, doch kann ich für den Augenblick von Deinem freundlichen Anerbieten, mir alle Bücher, die ich brauchen oder wünschen
sollte, aus Europa mitzubringen, keinen Gebrauch machen, da ich in der Hoffnung lebe, in
höchsten 2 Monaten mit meiner jungen Frau nach Europa zu reisen. - Um Urlaub bin ich
bereits eingekomen der Baron v. Pentz hat ihn warm befürwortet, und so hoffe ich auf
Gewährung meiner Bitte. - Diese Reise ist mir um so Wünschenswerther, als meine Mutter, die
sehr leidend ist, mit meiner Schwester und Nichte in diesem Monate Petersburg verläßt, um
über Berlin, Wien, Triest nach Venedig zu gehen, und lebhaft wünscht, mich in Triest oder
Venedig zu sehen und zu sprechen. - Ich würde natürlich diesen Urlaub benutzen und nach
Berlin gehen, und hoffe dann Dich in Leipzig oder Dresden persönlich anzutreffen. Ich hoffe,
Du wirst mir diese Freude nicht versagen, zumal wen ich Dich dringend darum bitte, wen
anders Du nicht schon früher nach Egypten komen solltest, was mir allerdings lieber wäre. Auf
Heuglin rechne nicht, auf diesen Menschen ist durchaus kein Verlaß. Wie ich höre, will der
zoologische Garten in Berlin 2 Wärter nach Egypten schicken, die mit Heuglin nach dem Sudan
gehen, um Viecher herunter zu holen und nach Berlin zu bringen. Köntest Du nicht vielleicht
von diesem Umstände Gewinn ziehen? Es wäre doch besser, Du gingest nach dem Sudan in
Begleitung Heuglins und besorgtest das Gewünschte, als 2 unwissende Menschen, und köntest
Du gleichzeitig für Dich die Reise in anderer Beziehung ausbeuten. - Gefällt Dir die Idee, so sei
sogleich dahinterher. - Daß man in Berlin willens ist, obige Idee auszuführen, schreibt mir der
*** Wort nicht lesbar
3
erste Thierwärter aus dem zoologischen Garten Martstak, welcher schon zweimal in Egypten
war, um die von uns angekauften Thiere abzuholen; er theilte mir gleichzeitig mit, daß meine
gute schöne Pachita an zerrissener Gebärmutter gestorben ist und drei tote Junge zur Welt
gebracht hat. Ein großer Verlust für den Garten, der nun wahrscheinlich sobald als möglich
ersetzt werden soll. - Auch der alte Check ist bereits eines sanften Todes verblichen, nur Pipel
lebt noch zur Freude und Angst des ganzen Affengeschlechts im Garten; er soll schrecklich
beißen und ganz besonders die Schwachen gegen die Stärkeren vertheidigen; Du siehst, daß er
aus einer würdigen Schule hervorgegangen und seinem Meister keine Schande macht; die
beiden Königskraniche sind auch schon gestorben, desgleichen meine hübsche Ziege, aber die
Jungen leben noch. Tischendorf ist vor wenigen Tagen mit einem Oesterreichischen Gelehrten als Ausstopfer nach
dem See Mensaleh gegangen, dem er gleichzeitig den Dolmetscher und Diener macht; er erhält
monatlich 15 franzs. rs. und freie Kost und Reise. - das beste, was er bis jetzt hat finden könen;
aus dem Kerl wird auch nie etwas Gescheidtes werden; sein Mädchen hat er in der Heimath
verbubanzt, ihr einen Jungen angedreht, und dan davon gelaufen; der Junge ist todt und das
Mädchen will nichts mehr von ihm wissen; er scheint sich nicht viel daraus zu machen, dum ist
er irner noch; wo soll er's auch her haben, ich kafi ihn nicht mal als Diener gebrauchen, da er
stets auf der Jagd liegen will. - Naturforscher ist er mit Leib u. Seele, nur versteht er nichts
davon, ebensowenig wie ich vom Chinesischen.
Bei Kaisers bin ich zwar noch nicht offiziel zu Gevatter eingeladen, aber habe schon davon
munkeln hören. Indeß ohne *** Einladung und ohne Vergütung der Reisekosten mit einem
kaiserlichen Geschenk verbunden erweise ich dem Kerl die Ehre meiner persönlichen Gegenwart nicht. Ich hoffe, Du denkst ebenso, wo nicht, so hätte ich mich in Dir sehr getäuscht. Nun glaube ich Deinen Brief in allen Theilen genau beantwortet zu haben, ja sogar noch mehr
hinzugefügt zu haben, so daß Du, wenn Du einigermaßen genügsam bist, zufrieden sein kanst.
- Solltest Du Dich entschließen, mit Deinem Bruder nach Egypten zu komen, so soll Euch Euer
Aufenthalt hier nicht viel kosten. - Auf der Terasse habe ich noch ein schönes Zimer, welches ich
Euch sofort einräume und ä la turque möblire. Auch in Cairo läßt sich für ein billiges
Unterkonten sorgen. Ich glaube, es ließe sich auch für Dich ein Unterkomen bei der Eisenbahn
oder woanders ausfindig machen. Lebe wohl! Viele Grüße an Deine liebe Familie, Vater, Mutter, Brüder, Schwester von Deinem
treuen
Bauerhorst
*
1. Ernst Bauerhorst
Brehm lernt Ernst Bauerhorst (Nicht Thilo B., wie Genschorek 1984 irrtümlich angibt) am 20.
März 1851 in der Nähe Khartums kennen und schließt schnell Freundschaft mit ihm. In den
Reiseskizzen wird Bauerhorst als Kaufmann aus Petersburg vorgestellt. Mit ihm wohnt Brehm
in Khartum zusammen und stellt eine gemeinsame Menagerie zusammen. Vor allem
ermöglichte es Bauerhorst Brehm, mit ihm zusammen nach Kairo zurückzukehren, wo er
wieder die Wohnung mit ihm teilt.
Aus dem Brief ist zu entnehmen, daß Mutter und Schwester Bauerhorsts noch 1856 in
Petersburg wohnten. Ob die angekündigte Reise stattfand und ob ein Treffen zwischen Brehm
und Bauerhorst zustande kam, ist bisher noch unklar. Auch die bevorstehende Hochzeit mit
Joanne Diacono wird in dem Brief angekündigt.
4
Bauerhorst treibt wohl noch Handel, zumindest handelt er noch mit Tieren. Außerdem scheint
er einigen Einfluß in Ägypten zu haben und alle wichtigen Leute zu kennen. Er ist Mitglied der
„Intendance Sanitaire". Mit dem Berliner Zoologischen Garten unterhält er briefliche Kontakte und kennt zumindest den Tierpfleger Martstak persönlich (S. 4).
2. Reinhold Brehm
Interessant sind die Ausführungen über eine mögliche Tätigkeit Reinhold Brehms in Ägypten.
Reinhold Brehm (9. November 1830 bis 20. März 1891) beendet 1855 sein Medizin-Studium.
Offensichtlich bemühte er sich um eine Anstellung und erkundigt sich wohl auch über seinen
Bruder Alfred in Ägypten bei Ernst Bauerhorst. Bauerhorst kann ihm keine konkrete Zusage
machen, bietet aber seine Unterstützung und seine weitreichenden Beziehungen an. Warum
Reinhold Brehm auf dieses Angebot nicht eingeht, sondern mit seinem Bruder Alfred eine
Expedition nach Spanien antritt, wo er sich 1858 in Murcia und dann in Madrid als Arzt
niederläßt (Huschke 1969), bleibt noch unklar. Noch 1890 lebt Reinhold Brehm als Arzt in
Madrid (Krause 1890). Er stirbt am 20. März 1891 in Spanien.
3. Bachida
Über Bachida (im Brief Pachita) schreibt Brehm in seinen Reiseskizzen ausführlich. Auch im
Tierleben und in der Gartenlaube (Brehm 1860) wird Bachidas Leben ausführlich geschildert.
Diese Löwin gehörte nicht Brehm, sondern Ernst Bauerhorst. Allerdings hatte Bauerhorst sie
auf Brehms Bitte hin von Latief-Pascha, dem Generalgouverneur in Karthum, erhalten. In
seiner von Geldmangel und Enttäuschung über die meisten Europäer Khartums bestimmten
letzten Zeit in Khartum verbrachte er viel Zeit mit der Löwin. Bei der Rückkehr nach
Deutschland war Bachida eines der Tiere, die Brehm betreut. Erst in Wien trennte er sich von
ihr. Bachida kam zusammen mit einem jungen Löwen in den Zoologischen Garten von Berlin.
Bauerhorst berichtet nun, daß Bachida nach der Totgeburt von drei Jungtieren an einem
Gebärmutterriß starb, also nicht an Tbc, wie Schla we (1969) nach alten Presseberichten angibt.
Damit erfolgte die erste Löwengeburt in Berlin schon 1855, wenn sie auch als Totgeburt kein
voller Erfolg war. Weitere Geburten bei den Löwen konnte der Zoologische Garten zu Berlin
erst 1870/71 melden. Auch verschiedene andere Tiere, die Brehm noch aus Afrika kannte und
die in den Berliner Zoologischen Garten gekommen waren, sind erwähnt. Die meisten sind
allerdings in den drei Jahren schon gestorben.
4. Die Beziehungen Alfred Edmund Brehms zum Zoologischen Garten zu Berlin
und die Einladung zu einer weiteren Ägyptenreise
Bei seiner Rückkehr 1852 aus Afrika bringt Brehm nicht nur die Balgsammlung und die von
ihm und Bauerhorst gehaltenen Tiere nach Europa, sondern darüber hinaus eine weitere
Sammlung lebender Tiere, die der preußische Konsul in Alexandria, von Pentz, dem
Zoologischen Garten zu Berlin vermittelte (Klös 1969).
Während Klös (1969) vermutet, daß Lichtenstein selbst als erster Direktor des Zoologischen
Gartens die Tiere abgeholt hat, spricht Brehm (1865) nur von einem Tierwärter. Aus einem
5
Brief von Lichtenstein an von Heuglin vom 24. November 1855 geht hervor, daß die
Darstellung Brehms richtig ist. Dieser Tierwärter, den Brehm nicht namentlich erwähnt, ist der
auch im Brief Bauerhorsts genannte Martstak. Über ihn schreibt Lichtenstein: „Leider ist der
arme Mann noch immer krank und sein Zustand nicht ohne Gefahr. Da er die Reise nun schon
zweimal gemacht, und früher schon die erste Sendung des Herrn von Pentz von Triest abgeholt
hat und dabei ein besonders zuverlässiger und verständiger Mensch ist, so ist seine Stelle durch
einen anderen seines Standes nicht zu ersetzen." Für den Fall, daß Martstak nicht genese, wolle
Lichtenstein dennoch versuchen, „irgend ein anderes Subject" zu finden.
In einem weiteren Brief Lichtensteins an von Heuglin vom 5. Februar 1856 berichtet der
Zoodirektor, daß er jetzt im Stande sei, einige Wärter nach Khartum abzusenden, die dort
möglichst viele Tiere sammeln und kaufen sollten. Diese Reise werde nicht vom Zoologischen
Garten zu Berlin finanziert, sondern von einem Verein von Kaufleuten.
Die beiden Reisen des Tierpflegers Martstak nach Afrika waren wohl der 1854 durchgeführte
Transport zweier Kamele, die an Stelle der von Graf Schlieffen angekündigten Giraffen
abgeholt wurden. Bei der zweiten Reise handelt es sich um einen Transport mit Tieren von
Heuglins, des Ali Paschas und weiterer angekaufter Tiere, die Ende Juli 1855 in Berlin eintrafen
(Klös 1969). Auch über diesen zweiten Transport existiert ein Brief von Heuglins an den
„Minister für geistliche Angelegenheiten", in dem er dem König „einige wilde Thiere und
Hausthier-Racen" anbietet, darunter einen männlichen Löwen, einen Gepard, eine Gazelle,
einige Hyänen. Diesen Brief schrieb von Heuglin am 18. März 1855 in Kairo, am 24. Juli 1855
traf dann der Transport in Berlin ein. Von Heuglin selbst kehrte 1855 nach Wien zurück und
überbrachte dem Museum und auch dem Schönbrunner Tiergarten eine reichhaltige
Sammlung von Tieren. 1856 trat er eine weitere Reise nach Afrika an. Es scheint, als ob Brehm
deswegen mit von Heuglin Kontakt gehabt hat, zumindest läßt sich die Bemerkung
Bauerhorsts so interpretieren, Brehm solle nicht auf Heuglin bauen. Ob Brehm mit dem
Berliner Zoologischen Garten Kontakt aufgenommen hat, konnte bisher noch nicht nachgewiesen werden. Dagegen hat er offensichtlich gute Kontakte zu von Heuglin gepflegt, wie aus
dem Vorwort zu einem der Bücher von Heuglins hervorgeht (Brehm 1868).
Warum die beiden Brehm-Brüder nicht auf Bauerhorsts Angebot eingegangen sind, kostengünstig in Afrika zu leben, kann bisher nicht geklärt werden. Ob das Interesse C. L. Brehms an
spanischen Vögeln dabei bestimmend war, nachdem die erste Reise A. E. Brehms schon eine
reiche Ausbeute afrikanischer Vögel gebracht hatte oder ob die Vorbereitungen zu der
Spanien-Reise, besonders der Verkauf von „Aktien" auf die Reisebeute, schon zu weit gediehen
waren, um noch rückgängig gemacht werden zu können, kann erst nach dem Auffinden
weiterer Briefe geklärt werden.
Zusammenfassung
Ein Brief von Ernst Bauerhorst vom 7. März 1856 ist der erste Hinweis auf eine umfangreiche
Korrespondenz A. E. Brehms mit in Afrika lebenden Personen. Der Brief aus der Zeit zwischen
der Beendigung der Studien von Reinhold Brehm und A. E. Brehm und ihrer Spanienreise wirft
die Frage auf, warum die Brüder das Angebot eines weiteren Afrika-Aufenthaltes nicht
angenommen haben, ohne sie klären zu können. Die im Brief angesprochene Expedition des
Berliner Zoologischen Gartens nach Afrika wird unter Hinzuziehung anderer Briefe genauer
untersucht.
6
Alle Briefe sind im Besitz des Handschriftenarchivs der Staatsbibliothek der Stiftung
Preußischer Kulturbesitz
Literatur
Baege, L., 1980: Verzeichnis der Schriften über die Naturforscherfamilie Brehm. Bl. NaumannMus. 3, 1-24.
Baege, L.; Haemmerlein, H.-D, 1981: Verzeichnis der Schriften über die Naturforscherfamilie Brehm und
die Brehm-Erbpflege. Bl. Naumann-Mus. 4, 1-12.
Brehm, A. E., 1855: Reise-Skizzen aus Nord-Ost-Afrika. Jena. F. Mauke.
Brehm, A. E., 1860: Meine Löwin. Gartenlaube 1860, 200-203.
Brehm, A. E., 1868: Vorwort. In: Heuglin, T. von: Reise nach Abessinien, den Gala-Ländern, Ost-Sudan
und Chartum in den Jahren 1861 und 1862. Jena. H. Costenoble.
Genschorek, W., 1984: Fremde Länder - Wilde Tiere. Das Leben des „Tiervaters" Brehm. VEB F. A.
Brockhaus Verlag. Leipzig.
Haemmerlein, H.-D., 1984: Brehm-Erbpflege in der Deutschen Demokratischen Republik. Abh. Ber.
Nat. kd. Mus. Mauritianum Altenburg 1,171-202.
Huschke, W., 1969: Der Naturforscher Alfred Brehm. Genealogisches Jahrbuch 9, 43-55.
Kleinschmidt, O., 1951: Aus A. E. Brehms Tagebüchern. Akademische Verlagsgesellschaft Gees & Portig
K.-G. Leipzig, A. Ziemsen Verlag Wittenberg/Lutherstadt.
Klös, H.-G., 1969: Von der Menagerie zum Tierparadies. Haude und Spener. Berlin.
Krause, E., 1890: Alfred Edmund Brehm. Lebensbeschreibung. In: Pechuel-Loesche: Brehms Tierleben,
3. Aufl., 1. Band, XVII-XLIV. Leipzig und Wien. Bibliographisches Institut.
Schlawe, L., 1869: Die für die Zeit vom 1. August 1844 bis 31. Mai 1888 nachweisbaren Thiere im
zoologischen Garten zu Berlin. Berlin. Selbstverlag.
Anmerkungen
1 Der „Alte" ist wohl der preußische Generalkonsul von Pentz, den schon Brehm in den Reiseskizzen
erwähnt. Schon 1852 beauftragt von Pentz Brehm mit dem Transport von Tieren nach Triest.
2 Abd al Latief-Pascha Abd Allah mußte 1852 Khartum verlassen und lebte wohl seitdem in Kairo. Eine
genauere Kennzeichnung s. Brehms Reisen im Sudan 1847 bis 1852. Horst Erdmann Verlag Tübingen
und Basel. Anmerkungen, S. 394-395.
3 Hussein Aga oder Hussein Arha, wie er in den Reiseskizzen genannt wird. Von ihm hatte Brehm
2000 Piaster geliehen. Eine genaue Beschreibung findet sich im XIV. Kapitel der Reiseskizzen, wo auch
schon das Geschenk erwähnt wird, nach dem Bauerhorst fragt.
4 Reiseskizzen aus Nord-Ost-Afrika. Jena F. Maulke.
5 Evtl. Augsburger Zeitung. Ob diese Besprechung erschienen ist, konnte noch nicht geklärt werden.
6 Theodor von Heuglins. Anmerkung wie bei 2, S. 389-395.
7 In den Jahren vor 1860 begann in Ägypten der Eisenbahnbau (Linie Alexandria-Luxor). Welche
Bedeutung das für Brehm in Bauerhorsts Vorstellung haben konnte, ist nicht klar.
Anschrift des Verfassers:
Dr. Harro Strehlow, Meierottostraße 5,1000 Berlin 15
7
Christoph Carl Pfeuffer,
Königlicher Hof-Medailleur in Berlin
Von Klaus Sommer, Krefeld*
Christoph Carl Pfeuffer trat in die deutsche Münz- und Medaillengeschichte ein, als die
unruhige napoleonische Zeit vorüber war. In Preußen herrschte zu Pfeuffers Lebzeiten Frieden.
So konnte er auch seine Arbeit Menschen und Werken des Friedens widmen. Außer in einer
Suite auf den russisch-türkischen Krieg und zwei Medaillen auf den Unabhängigkeitskampf
Belgiens hat Pfeuffer weder einen Feldherren noch eine Schlacht mit seinem Medaillenwerk
verherrlicht.
Die Beschäftigung mit friedlichen Themen entsprach auch seinem Charakter und seinen
persönlichen Lebensumständen. Pfeuffer lebte still und zurückgezogen. Er besuchte weder eine
Kunstschule, noch schickte ihn jemand auf eine Studienreise. Kein Orden zierte seine Brust.
Krankheit und viel familiäres Leid drückten ihn nieder. Seine beruflichen Ambitionen
vermochte er nicht durchzusetzen und erst spät, nicht zuletzt durch das Wohlwollen des die
Kunst allenthalben fördernden Königs Friedrich Wilhelm IV., stellte sich öffentliche
Anerkennung ein.
Der stille Künstler hinterließ uns ein umfangreiches Werk von vielen Münzen, mehr als
140 Medaillen und anderen Reliefarbeiten. In ihnen spiegelt sich seine Zeit wider, aber auch die
eigene Persönlichkeit. Ruhig und friedlich liegen seine Arbeiten vor uns. Sie beweisen Geschmack und handwerkliche Vollkommenheit.
Pfeuffer gehört unbestritten zu den bedeutenden deutschen Medailleuren des 19. Jahrhunderts,
und da er es war, der den preußischen und anderen deutschen Münzen in der Mitte des vorigen
Jahrhunderts ihr Gesicht gab, glauben wir genug Gründe zu haben, sein Leben und Werk dem
Freund der Münzen und Medaillen nahezubringen.
Abgesehen von wenigen knappen Bemerkungen, hat die numismatische Literatur Pfeuffer
bisher übersehen.
Die wichtigste Quelle für meine Arbeit sind die im Zentralen Staatsarchiv zu Merseburg (DDR)
verwahrten Personalakten der Kgl. Preuß. General-Münz-Direktion und die Akten des
Kgl. Civil-Kabinetts.
Viele Damen und Herren in Münzkabinetten, Archiven, Museen, Bibliotheken und Münzhandlungen haben mir bei meiner Forschung geholfen. Ihnen allen sage ich meinen herzlichen
Dank!
Christoph Carl Pfeuffer wurde am 29. Oktober 1801 als Sohn des Tischlermeisters Johann
Heinrich Pfeuffer in Suhl in Thüringen geboren. Die Ausbildung zum Medailleur, wozu auch
Porträtzeichnen, Modellieren und die Bildhauerkunst gehörten, empfing er vom KurfürstlichSächsischen Hofgraveur Johann Veit Doli (1750-1835) in Suhl, einem Künstler, der 20 Jahre
lang für den preußischen Hof-Medailleur Daniel Loos viele Medaillenstempel lieferte. Sicherlich hat auch Pfeuffer an so manch einer Loos-Medaille mitgearbeitet! Nachdem die Berliner
Medaillen-Münze von Gottfried Bernhard Loos gegründet worden war, zog Pfeuffer 1820 nach
Berlin und arbeitete dann 20 Jahre lang für diese berühmte Prägeanstalt. Sie hatte ihre
Betriebsstätte anfangs in der Ober-Wasserstraße 11 und ab 1829 in der Neuen Friedrichstraße 56. Loos war mit dem jungen Künstler zufrieden, „er hat viele schöne Arbeiten schon
* Nachdruck mit Genehmigung des Autors aus dem Organ des Verbandes der Deutschen Münzvereine,
„Numismatisches Nachrichten Blatt", Nr. 6/1984
8
geliefert und gewinnt täglich", schreibt er 1828. Zu dieser Zeit war Pfeuffer bereits Chef
d'atelier.
Ein glückliches Familienleben war Pfeuffer nicht beschieden. 1831 heiratete er die 21jährige
Jungfer Sabine Tugendreich Marggraff. Im Jahr daraufwar die junge Frau bereits tot. Sie starb
nach der Geburt einer Tochter am Kindbettfieber. Dieses Mädchen heiratete später und hatte
zwei Söhne. Die junge Mutter und ihr Mann starben auch früh, so daß sich Pfeuffer um seine
beiden Enkelkinder kümmern mußte. Pfeuffers Gesundheitszustand war schlecht. Er litt an
einem Brust- oder Lungenleiden. Zum Zeitpunkt seiner Eheschließung wohnte er in Berlin in
der Rosenthaler Straße 42, später zog er in die Poststraße 16, und in den letzten Lebensjahren
hatte er seine Wohnung im alten Münzgebäude am Werderschen Markt 8.
War es in früheren Zeiten einem kleinen, erlauchten Kreis von Begüterten vorbehalten, ihr
hochgeschätztes Bildnis oder ihre ruhmreichen Taten in unvergängliches Metall einprägen zu
lassen und so Unsterblichkeit zu erlangen, so verschaffte der Wohlstand, der sich mit dem
heraufkommenden Industriezeitalter ausbreitete, auch dem kultivierten Bürger die Möglichkeit, auf gleiche Weise für seinen Ruhm zu sorgen. In Deutschland war es zuerst Daniel Loos,
der diesem Bedürfnis Rechnung trug und in seinem Atelier Medaillen, beinah schon fabrikmäßig, herstellte und auf moderne Weise vertrieb.
Die Berliner Medaillen-Münze entwickelte sich danach unter der Leitung ihres Dirigenten
G. Loos zu einem weltweit bekannten und angesehenen Unternehmen. Neben Pfeuffer arbeiteten in dieser Anstalt Medailleure von gutem Ruf oder machten dort ihre Lehre: G. Stierle,
J. L. Jachtmann, A. Hofmann, Friedrich König, Doli jun., I. C. Hollenbach, Carl Voigt,
H. Gube, W. Kirchner, Hell, H. Lorenz-Epstad und Angelika Facius.
Zu jener Zeit konnten in Preußen Medailleure ihre Arbeiten nur in zwei Anstalten prägen
lassen, entweder in der Kgl. Münze oder in der privaten Berliner Medaillen-Münze von
G. Loos.
Von Jahr zu Jahr nahm das Medaillengeschäft an Umfang zu Von 1822 bis 1828 stellte die
Loossche Firma ca. 80 000 Medaillen her. Pfeuffer sah die Geschäftsmöglichkeiten, die dieser
expandierende Markt bot, und plante daher 1837, sich selbständig zu machen und gemeinsam
mit dem Werkführer der Berliner Medaillen-Münze, einem Mechaniker Gestel, eine weitere
Medaillen-Prägeanstalt zu gründen. Er bat deshalb König Friedrich Wilhelm III. in einem
Schreiben um Genehmigung dazu und gleichzeitig auch, ihm das Prädikat als Hof-Medailleur
zu verleihen. Dieser Titel, so führte der Künstler aus, würde der künftigen Kundschaft
Vertrauen einflößen und somit seinem Geschäft förderlich sein. Der König gab das Gesuch zur
Stellungnahme an die zuständigen Staatsminister von Altenstein und von Lottum weiter, die
ihrerseits ein Gutachten bei der Akademie der Künste einholten. Die Enttäuschung für Pfeuffer
war groß: Seine Bitte wurde rundweg abgelehnt. „Es besteht die Gefahr," heißt es in der
Begründung, „daß ein Medailleur im Besitze einer Prägemaschine auch unbefugt Geld prägen
könnte."
Warum aber hatte man dann Loos die Genehmigung zum Medaillenprägen erteilt? Bei ihm
war das etwas anderes, erfahren wir aus den Akten. Loos schnitt die Stempel ja nicht selbst,
sondern ließ sie von seinen Mitarbeitern anfertigen. Außerdem war er hauptamtlich GeneralMünz-Wardein und vereidigter Beamter, der das volle Vertrauen der Regierung genoß. Auch
des Titels eines Hof-Medailleurs wurde Pfeuffer noch nicht für würdig befunden. Das
Ministerium war der Meinung, daß dieser Titel als Auszeichnung für künstlerisches Talent und
Verdienst angesehen werden müsse. Pfeuffers Arbeiten ließen aber noch manches zu wünschen
übrig, auch hätte er keine akademischen Studien gemacht, und schließlich besäßen solch
tüchtige Medailleure wie Brandt, Held und Fischer das Prädikat „Hof-Medailleur" auch nicht.
9
Abschließend wiesen die beiden Minister in einem Schreiben an den König - auf solch hoher
Ebene wurde dieser Fall behandelt - daraufhin, daß es im Interesse der Kunden liegen müßte,
wenn die Medaillen, die sie kauften, einer staatlichen Kontrolle hinsichtlich der Metallegierung
unterworfen wären, was bei den in der Kgl. Münze hergestellten Stücken der Fall wäre. Der
Kunst entstünde mit der Ablehnung kein Nachteil, heißt es weiter. Das Prägen von Medaillen in
der Kgl. Münze sei zudem billig, und anerkannte Medailleure nutzten diesen Vorteil.
Loos wird mit der Entscheidung der Regierung zufrieden gewesen sein. Er brauchte keine
Konkurrenz zu fürchten. Vermutlich werden Pfeuffers Pläne das Verhältnis der beiden Männer
zueinander getrübt haben. Es fällt auf, daß Pfeuffer, sobald er aus der Berliner MedaillenMünze ausgeschieden war, seine Medaillen nicht mehr dort prägen ließ, auch dann nicht, als
Loos 1843 gestorben war. Da Pfeuffers Stellung bei Loos schwierig geworden war, hoffte er,
trotz der Enttäuschung, die ihm die Regierung bereitet hatte, auf eine Anstellung bei der
Kgl. Münze. Zwei Ereignisse kamen seinen Wünschen entgegen. Am 17. September 1839 starb
Ludwig Held, der zweite Medailleur an der Münze, und am 7. Juni 1840 bestieg Friedrich
Wilhelm IV. den preußischen Thron.
Pfeuffer bewarb sich in einem Schreiben an den Staatsminister Graf von Lottum um die frei
gewordene Stelle. In dem jetzt von Schadow und Tölken verfaßten Gutachten der Akademie
der Künste wird Pfeuffer gelobt: Er sei sicher, scharf, sehr genau, von unendlicher Sorgfalt und
unermüdlichem Fleiß und, obwohl bisher unter sehr nachteiligen Verhältnissen arbeitend, ein
sehr geschickter und zuverlässiger Medailleur. Darauf hin erhielt Pfeuffer am 9. September
1840 bei einem Jahresgehalt von 400 Talern die erbetene Position. K. Fischer, der sich auch
beworben hatte, wurde abgelehnt. Pfeuffer wurde in „Eid und Pflicht" genommen und erhielt
eine Dienst-Instruktion. Die wichtigsten Punkte daraus wollen wir anführen: Abgesehen
davon, daß die General-Münz-Direktion von ihrem neuen Medailleur erwartete, daß er seine
amtlichen Gravurarbeiten sorgfältig, ohne Aufschub und unter Hintansetzung aller privaten
Arbeiten ausführt, soll er folgende Vorschriften beachten: Für Privatarbeiten soll er sein
eigenes Werkzeug benutzen, die Zahlen- und Schriftpunzen der Kgl. Münze darf er keinesfalls
ohne Zustimmung für private Arbeiten und auch nicht für Aufträge fremder Regierungen
verwenden; alle von ihm angefertigten Gegenstände müssen gekennzeichnet und datiert
werden - eine glückliche Vorschrift, die es uns möglich macht, bestimmte Münzen und
Medaillen mit Sicherheit Pfeuffer zuzuweisen. Will Pfeuffer Privatarbeiten oder Aufträge
fremder Regierungen in der Kgl. Münze ausführen, so muß er zuvor um Genehmigung
nachsuchen, wogegen es ihm unbenommen bleibt, an anderer Stelle solche Arbeiten nach
Belieben vorzunehmen. An den fertiggestellten und genehmigten Originalstempeln darf
Pfeuffer später ohne Genehmigung nichts mehr verändern. Er soll sich auch mit dem Ein- und
Absenken sowie dem Polieren der Stempel vertraut machen, so daß er notfalls diese Arbeiten
mit Hilfe der Münzarbeiter selbst besorgen kann. Schließlich soll Pfeuffer seine Wohnung in
der Nähe der Münze nehmen und im Fall eines Feueralarms nötige Hilfe leisten.
Pfeuffers Arbeitsräume befanden sich in der Kgl. Münze im Gentzschen Bau auf dem Werderschen Markt. Gerade erst hatte man auf dem Hof ein Dampfmaschinenhaus errichtet. Bis
dahin arbeitete die Münze mit Wasserkraft. Ob in der Kgl. Münze damals schon mit der
Reduktionsmaschine gearbeitet wurde, konnte nicht geklärt werden. Bekannt war sie jedenfalls
schon. Es liegen auch Medaillenentwürfe vor, die von einem großen Modell reduziert worden
waren. Bei der Münzherstellung hat man sich zu Pfeuffers Zeiten wahrscheinlich noch nicht der
Reliefkopiermaschine, wie diese technische Neuerung auch genannt wurde, bedient.
Das mit Hilfe von Daniel Loos um 1806 in Preußen eingeführte Einsenkverfahren war jetzt die
selbstverständliche angewandte Münztechnik. Der Stempelschneider schnitt einen positiven
10
Stempel (Patrize), der, eingesenkt in einen präparierten Stahlpfropfen, den negativen,
eigentlichen Prägestempel (Matrize) hervorbrachte. War die Matrize verbraucht, konnte mit
Hilfe der Patrize ein neuer, völlig identischer Prägestempel hergestellt werden.
Chef der General-Münz-Direktion war 1840 Christian Friedrich Goedeking, General-Wardein
der schon mehrmals erwähnte Gottfried Bernhard Loos. Dem Hauptmünz-Comptoir, zu dem
der eigentliche Prägebetrieb gehörte, standen Sigmund Wagner als 1. und Friedrich Ludwig
Klipfei als 2. Münzmeister vor. Die Münze beschäftigte nach dem Tod Helds außer Pfeuffer
noch zwei Medailleure, Henri Francois Brandt als 1. Medailleur und Johann Andreas
Hofmann.
Die Kgl. Münze unterstand dem Departement des Staatsschatzes und der Münzen, an dessen
Spitze der Staatsminister Karl Friedrich Heinrich Graf von Wylich und Lottum stand.
Schon vor seiner Anstellung hatte Pfeuffer Kontakt zur Kgl. Münze und wurde gelegentlich
auch zu Münzarbeiten gegen Honorar herangezogen. So legte er beispielsweise 1834 Entwürfe
zu einem neuen Taler vor, die allerdings nicht verwendet wurden. Auch zwei Privatmedaillen
prägte er vor 1840 in der Kgl. Münze.
Jetzt, 1840, wartete viel Arbeit auf den neuen Medailleur. Nach der Thronbesteigung Friedrich
Wilhelms IV. mußten nach und nach viele Münzen gegen neue mit dem Kopf des neuen Königs
ausgetauscht werden. Zunächst aber hatten die Huldigungs-Medaillen für die am 15. Oktober
1840 festgesetzte Huldigung in Berlin Vorrang. (Die Medaillen für die Königsberger Huldigung
am 10. September 1840 konnten ohnehin nur nachträglich ausgegeben werden.) Den Stempel
11
für die Kopfseite schnitt K. Fischer, den für die Rückseite Pfeuffer. Der Stempel für die
Rückseite wurde noch einige Male benutzt: einmal für die Königsberger Huldigung und später
für die beiden Medaillen zur Krönung Wilhelms I., 1861: die eine mit dem Doppelporträt des
Königspaares (von Pfeuffer) und die andere nur mit dem Kopf Wilhelms I. (von Kullrich). Bei
der letztgenannten überarbeitete Kullrich den alten Reversstempel von Pfeuffer.
Kein anderer preußischer König hat sich so liebevoll für die Gestaltung seiner Münzen
eingesetzt wie der kunstverständige Friedrich Wilhelm IV. Häufig ließ er sich die Entwürfe
vorlegen und änderte sie auch gelegentlich eigenhändig ab. An der bildnerischen Gestaltung der
Rückseite des 2-Vereins-Talers von 1859 z. B. haben mehrere Personen mitgewirkt. Aus den
ersten Entwürfen wählte der König einen aus, ließ ihn aber noch einmal abändern. Der
Oberzeremonienmeister und Vorstand des Heroldsamtes, Graf von Stillfried, legte deshalb
einen entsprechenden neuen Entwurf vor. Dieser zeigte den Adler, mit einer Ordenskette
behangen, auf seiner Brust den Namenszug FR und daneben zwei Wappenschildchen, acht
weitere außerhalb der Kette. Auch diese Vorlage fand noch nicht die volle Billigung des Königs.
Auf seine Anregungen hin, die sich auch auf die Gestaltung von Details, wie z.B. die Größe der
Wappenschildchen, erstreckten, lieferte Pfeuffer nun einen Entwurf, dem der König endlich
zustimmte.
Inzwischen erkrankte der Monarch, und so genehmigte der Prinzregent (Wilhelm I.) diesen
Entwurf, nach dem schließlich Pfeuffer die Stempel anfertigte.
Einige Jahre zuvor hatte Friedrich Wilhelm IV. die falsche Form der preußischen Krone auf
den Münzen beanstandet und hatte deshalb die Originalkrone aus dem Tresor holen und vor
die Medailleure setzen lassen. So entstand das getreue Abbild der Krone auf den Münzen
ab 1842.
Pfeuffer hat während seiner 20jährigen Amtszeit an der Kgl. Münze eine große Anzahl von
Münzstempeln geschnitten: für Preußen, Hamburg, Hessen-Kassel, Hohenzollern, LippeDetmold, Mecklenburg-Schwerin, Reuß-Obergreiz, Reuß-Schleiz, Sachsen-Meiningen,
Sachsen-Weimar, Schwarzburg-Sondershausen sowie für Waldeck und Pyrmont. Die
Schwierigkeit, Münzen bestimmten Medailleuren zuzuordnen, wird bei Pfeuffer durch den
glücklichen Umstand gemindert, daß die General-Münz-Direktion wenige Monate vor
Pfeuffers Tod eine Aufstellung aller von diesem Künstler angefertigten Stempel vornahm.
Pfeuffers Gesuch, seine Münzen signieren zu dürfen, wurde abgelehnt. Nur auf den Münzen für
Hessen-Kassel und einigen für Lippe-Detmold finden wir sein Signum.
Zu den Arbeiten Pfeuffers „ex officio" gehören auch Gewichtssteine für die Kgl. NormalEichungs-Commission. Solche Steine für 2,1 und '/2 Friedrichsdor sind aktenkundig. Ebenso
fertigte er auch für diese und andere Münzen die Matrizen für die Randverzierungen an.
Seinen Ruhm indessen verdankt Pfeuffer dem mehr als 140 Arbeiten zählenden Medaillen werk.
Ob er schon in Suhl mit selbständigen Arbeiten in Erscheinung getreten ist, bleibt fraglich.
Pfeuffer trat 1821 mit einer Medaille auf den thüringischen Staatsmann Friedrich C. A. von
Trützschler aus Altenburg, in guter Loosscher Manier ausgeführt, an die Öffentlichkeit. Etwa
zur gleichen Zeit entstand in Zusammenarbeit mit C. Voigt eine Suite auf berühmte deutsche
Musiker. Diese und weitere etwa 80 Medaillen entstanden in der Berliner Medaillen-Münze und
tragen neben dem Medailleurs-Signum auch die Chiffre der Loosschen Prägeanstalt, meist
G. LOOS DIR. Die Medaillen auf den General-Postmeister von Nagler, 1837, und auf das
300jährige Jubiläum der Reformation in Brandenburg, 1839, wurden jedoch in der Kgl. Münze
geprägt.
Welches sind die Themen in seiner ersten Schaffensperiode bis 1840? Jubiläen aller Art, z. B.
auf Joh. Friedr. Blumenbach, den Begründer der Anthropologie, 1826; Samuel Th.
12
Auszeichnung der Berliner Schützengilde, 1847, von C. Pfeuffer. 36 mm,
Mbg. 4239.
:-• 1
Neujahrsplakette in Eisenguß für das Jahr 1831.
Entwurf von C. Pfeuffer,
65,4 x 89 mm. Dargestellt
sind Produkte der kgl.
Eisengießerei: Kandelaber
zur Gasbeleuchtung auf
dem Berliner Schloßplatz;
Trophäe für die Kaserne in
Minden; Opferschale vor
dem Kollegiengebäude in
Schwerin; eine Wendeltreppe, eine Chausseewalze, ein Altarleuchter
und ein Basrelief von
Fr. Tieck nach Corregio.
Sömmering, 1828. Die Rückseite der Medaille zeigt das menschliche Gehirn. Ferner Ereignisse
aus dem preußischen Königshaus und anderen Fürstenhäusern, z. B. die Hochzeit des
Kronprinzen mit Elisabeth von Bayern, 1823; die Hochzeit Friedrich Wilhelms (Kaiser
Wilhelms I.) mit Augusta, Prinzessin von Sachsen-Weimar, 1829; 100. Jahrestag des
Regierungsantritts Friedrichs des Großen, mit der Darstellung des Reiterdenkmals von Rauch,
Unter den Linden, 1840.
Pfeuffer gedenkt in einer Suite, die in Zusammenarbeit mit H. Gube entstand, der Begebenheiten des russisch-türkischen Krieges von 1828/1829 und der 300. Wiederkehr des Tages der
Reformation sowie des Auftretens der Cholera in Deutschland. Für wissenschaftliche Kongresse lieferte er die Gedenk- und für Vereine aller Art Prämienmedaillen.
In staatlichem Auftrag schnitt Pfeuffer die Stempel für eine neue preußische Rettungsmedaille.
Schließlich gehören zum seinem CEuvre auch einige Gelegenheitsmedaillen, meist religiösen
Inhalts.
Seit 1837 hatte sich die Einstellung der preußischen Regierung zu Pfeuffer völlig gewandelt. Das
Zeugnis der Akademie, das zu seiner Anstellung 1840 geführt hatte, war, wie wir gesehen
hatten, glänzend. Vielleicht hatte auch der neue König Anteil an dieser veränderten Wertschätzung, die ihren sinnfälligen Ausdruck in der Verleihung des ersehnten Prädikats eines
13
Hof-Medailleurs im Oktober 1842 fand. 1845, nach dem Tod von H. F. Brandt, rückte Pfeuffer
am 3. Juni 1845 in die frei gewordene Stelle des 1. Münzmedailleurs auf. Wieder wurde zuvor ein
Zeugnis der Akademie der Künste eingeholt, das jetzt vorzüglich ausfiel und Pfeuffer als
„vollkommen für die Position qualifiziert" empfahl. Ab Januar 1846 bezog der neue ChefMedailleur ein Jahresgehalt von 1000 Talern. Der jetzt zuständige Minister von Thiele teilte
Pfeuffer in einem Schreiben die Beförderung mit und unterließ darin nicht, in das Lob auch die
in ihn gesetzten Erwartungen zu mischen: „Ich darf bei der von Ihnen bisher bewiesenen
Geschicklichkeit, Accuratesse und strengen Rechtlichkeit überzeugt sein, daß Sie fortfahren
werden, sich die Zufriedenheit Ihrer Vorgesetzten auch in dieser Stelle zu erhalten." Es wurde
noch einmal auf die Dienst-Instruktion von 1841 hingewiesen und zusätzlich betont, daß die
Stellung des 1. Münzmedailleurs dem Münzmeister gegenüber nicht zu unabhängig sein sollte.
Der Münzmeister trage die letzte Verantwortung für die einwandfreie Ausprägung des Geldes
und soll deshalb auch weiterhin befugt bleiben, dem Medailleur Vorschriften zu erteilen.
Pfeuffer soll nötigenfalls auch die niedrigeren Arbeiten seiner Kollegen ausführen.
Im Vordergrund des Medaillenwerks Pfeuffers in seiner zweiten Schaffensperiode von 1840 bis
1861 stehen die im staatlichen Auftrag ausgeführten Arbeiten. Neben den bereits erwähnten
Huldigungsmedaillen schuf Pfeuffer sowohl unter Friedrich Wilhelm IV. als auch noch 1861
unter Wilhelm I. Schießprämien, Prämienmedaillen für Kunst und Wissenschaft, Preismedaillen der Akademien der Künste in Berlin und Kassel sowie der Berliner Schützengilde.
Von ihm stammen auch die Prämienmedaillen für die Berliner Gewerbeausstellung, 1844,
sowie die Anerkennungs-Medaille für die der preußischen Krone treu gebliebenen Mitglieder
der Neuenburger Regierung, 1849.
Daneben führte Pfeuffer auch, wie schon vor 1840, jetzt aber in den Räumen und mit den
Prägeapparaten der Kgl. Münze, Medaillenaufträge privater Kunden aus, zahlenmäßig allerdings nur ein bescheidenes CEuvre von etwa 12 Medaillen, darunter eine Arbeit auf den
Philosophen F. W. J. von Schelling, von seinen Gasthörern bestellt.
Bei den Medaillen-Aufträgen arbeitete Pfeuffer meist nach eigenen Entwürfen. Sollte ein
Porträt dargestellt werden, hielt er sich an die ihm zur Verfügung gestellten Abbildungen, auch
Fotografien dienten jetzt schon dazu, oder er porträtierte selbst die abzubildende Person.
Wilhelm I. und sicherlich zuvor auch Friedrich Wilhelm IV. gewährten Pfeuffer Sitzungen zur
Anfertigung ihrer Porträts auf Münzen. Auch nach Weimar fuhr Pfeuffer, um den Großherzog
Carl Alexander für das Münzbild zum 2-Taler-Stück zu porträtieren. Seine Reisekosten
wurden mit sechs Friedrichsdor vergütet. 1841 hatte der Künstler schon einmal für SachsenWeimar gearbeitet, und 1858 wurde er ein weiteres Mal mit Münzaufträgen des Großherzogtums bedacht. Für die Entwurf- und Stempelarbeiten zu den 1- und 2-Pfennig- Stücken
sowie zu dem 1-Vereins-Taler erhielt Pfeuffer ein Honorar von 30 Friedrichsdor. Aktenkundig
ist auch eine Reise Pfeuffers, 1855, nach Arolsen. Dort gewährte ihm Georg Victor, Fürst zu
Waldeck-Pyrmont, Sitzungen für das Münzbild auf dem Doppeltaler von 1856, das später auch
für den Vereins-Taler verwendet wurde.
Auf einer Anzahl von Medaillen finden wir auch den Namen eines zweiten Künstlers. Bei diesen
Stücken handelt es sich entweder um eine Gemeinschaftsarbeit, wie z. B. bei der Medaille auf
den General-Münz-Direktor Goedeking, zu der H. F. Brandt die Kopf-, Pfeuffer aber die
Rückseite arbeitete, oder aber Pfeuffer hat zu einer schon früher von einem anderen Medailleur
gefertigten Medaille einen neuen Vorder- oder Rückseitenstempel angefertigt. Das trifft vor
allem für mehrere staatliche Prämienmedaillen zu. Außer nach seinen eigenen Entwürfen hat
Pfeuffer auch nach denen anderer Künstler gearbeitet.
14
Bei den staatlichen Medaillen-Aufträgen wurde mit Pfeuffer ein Vertrag geschlossen. So kam
man z. B. 1844 überein, daß er die durch den Regierungswechsel notwendig gewordenen neuen
Patrizen und Matrizen der Vorderseiten-Stempel für die großen und kleinen Prämienmedaillen
der Akademie der Künste schnitt. Pfeuffer garantierte die Haltbarkeit der Stempel für das
Ausprägen von je 100 Medaillen und verzichtete gleichzeitig auf seine Eigentumsrechte an den
Stempeln. Als Honorar wurden ihm hierfür zusammen 66 Friedrichsdor gezahlt und vereinbart, daß er für eine eventuelle spätere Anfertigung neuer Stempel 24 für die große und
20 Friedrichsdor für die kleine Medaille erhalten sollte.
Geprägt wurden seine Medaillen vor allem in Silber und Bronze, aber auch in Gold, Zinn,
vergoldeter Bronze (Neugold) und Eisen. Die Größe seiner Gepräge ist noch die gleiche wie zu
den Zeiten von Daniel Loos. Etwa die Hälfte aller Medaillen mißt ca. 42 mm. Abgesehen von
der Medaille auf den Wiener Kongreß, 1814, mit einem Durchmeser von 77 mm und auf die
Antigone-Aufführung, 1841, von 63 mm, verteilen sich die übrigen Medaillen auf Durchmesser
von 25 bis 53 mm.
Nach den wenigen Informationen über die Prägezahlen kann angenommen werden, daß die
Medaillen selten mit mehr als 300 Exemplaren ausgeprägt wurden. Die Medaille auf den
Hamburger Senator Bausch, 1832, wurde geprägt: 10 Exemplare in Gold, 100 in Silber und 100
in Bronze. Die Medaille auf das 300jährige Bestehen des Johanneums in Hamburg wurde
geprägt: 14 Exemplare in Gold, 400 in Silber und eine „größere" Anzahl in Bronze. Über die
Preise sind wir besser unterrichtet. Die Berliner Medaillen-Münze verlangte für die Medaille auf
Spontini, 51,5 mm, in Gold 25 Friedrichsdor, in Silber 6 Taler, in Neugold 2 und in Bronze
l'/2 Taler; für die Medaille auf Alexander von Humboldt, 41 mm, in Gold 10 Friedrichsdor, in
Silber 3 Taler, in Bronze 1 Taler.
Bis 1840 kümmerte sich die Berliner Medaillen-Münze, für die Pfeuffer arbeitete, um Aufträge
und besorgte den Vertrieb.
Seine Arbeiten wurden in den Verkaufskatalogen der Berliner Medaillen-Münze, ohne jedoch
dabei seinen Namen zu nennen, angeboten. Außerdem machte die Firma auch mit Zeitungsinseraten auf die kleinen Kunstwerke aufmerksam. So weist eine Annonce in den Berlinischen
Nachrichten vom 20. September 1828 schon auf die Humboldt-Medaille hin, die erst im darauffolgenden Jahr erscheinen sollte. Sogar in der Augsburger Allgemeinen Zeitung finden wir
Angebote von Pfeuffers Medaillen. Im angesehenen Kunstblatt (Morgenblatt für gebildete
Stände) erscheinen über viele Jahre hin kurze Besprechungen der Arbeiten Pfeuffers.
Bei der künstlerischen Gestaltung seiner Medaillen bediente sich Pfeuffer des seit Daniel Loos
bewährten Schemas: Auf der Vorderseite erscheint meist im Profil der Kopf oder das Brustbild
der geehrten Person, manchmal in antikem Gewand, und eine Umschrift. Auf der Rückseite die
Widmung, meist in einem Kranz, dessen Laub aber dem Anlaß entspricht (Lorbeer für Ruhm).
Vergleicht man Pfeuffers Medaille auf die Einnahme Adrianopels, 1829, mit der Medaille von
Friedrich Loos auf den Generalfeldmarschall von Moellendorf, 1793, so ist leicht zu erkennen,
daß die Entwicklung der Kunst während der 30 Jahre Pfeuffer nicht beeinflußt hat. Immer
noch, wenn auch nicht mehr so häufig wie Daniel Loos, benutzte Pfeuffer, um ein Thema
deutlich zu machen, die symbolischen Bilder aus der Antike. In der Mehrzahl jedoch sin'd seine
Medaillenbilder realistisch. Seine königlichen Herren stellt er fast nur in Kopfbildern dar. Von
dem Herkömmlichen heben sich wohltuend seine Arbeiten ab, die er aus Anlaß des
300. Jahrestages wichtiger Begebenheiten aus der Reformationsgeschichte, 1829 und 1830,
geschaffen hat. Diese Werke haben auch seinen Ruhm begründet, und die Kunstkritik erwähnt
sie mit Lob.
15
Danach bewegt sich sein Stil wieder in den alten Bahnen, bis er ab 1840 neue Gestaltungsformen wagt: Die Medaillen auf ein neues Schulgebäude in Hamburg, 1840, auf die AntigoneAufführung, 1841, auf Schelling, 1842, passen sich dem damals modernen Geschmack an. Aber
immer wieder kehrte Pfeuffer zu den alten Formen zurück.
Mit lobenswerter Exaktheit behandelt er architektonische Themen. Die Darstellungen des
Breslauer Rathauses, des Alten Museums in Berlin, der Ehrenburg in Coburg und des
Mailänder Doms sind meisterhaft. Zu letzterer Arbeit bemerkt das „Kunstblatt" vom
16. Oktober 1838: „Eine vortreffliche perspektivische Darstellung und so zart im Detail ausgeführt, daß man die einzelnen Teile nur durch das Vergrößerungsglas in ihrer ganzen Schönheit
erkennen kann."
Von 1805 bis 1848 stellte die Kgl. Eisengießerei in Berlin, Invalidenstraße, Neujahrsplaketten in
Eisenguß (auch Neujahrskarten genannt) her, um sie zum Jahreswechsel an den König, die
Behörden und Geschäftsfreunde zu versenden. Zu den Künstlern, die die Modelle lieferten,
gehörte nicht zuletzt auch Christoph Carl Pfeuffer. Die Modelle zu den Neujahrskarten für die
Jahre 1831,1832,1833,1837 und 1838 sind nachweislich sein Werk.
Wiederholt beteiligte sich Pfeuffer auch den Ausstellungen der Akademie der Künste in Berlin.
Bei den Kunstverständigen seiner Zeit fand Pfeuffer Anerkennung. Goethe besaß mehrere
seiner Medaillen in seiner Kunstsammlung. Christian Daniel Rauch empfahl der jungen
Medailleurin Angelika Facius „vormittags zu ihm zum Modellieren zu kommen und sich
nachmittags im Medaillieren bei Herrn Pfeuffer zu beschäftigen". Das Urteil der Kunstkritiker
über Pfeuffers Arbeit ist fast immer positiv: „Er erreicht im Porträt Ähnlichkeit und ganz
vorzüglich dürfte ihm die Medaille auf die in Berlin Statt gehabte Reformationsfeier gelungen
sein" (Bolzenthal, 1840). - „Er wurde in kurzer Zeit einer der vorzüglichsten Künstler seines
Fachs. Mehrere seiner Werke müssen den besten Erzeugnissen der modernen Stempelschneidekunst eingereiht werden" (Nagler). - Gleichzeitig Lob und Tadel sprechen aus den
Worten von Franz Kugler, 1854: „In der Prämienmedaille für gewerbliche Leistungen finde ich
kein künstlerisches Vermögen im höheren Sinne des Wortes und fühle mich daher nicht
veranlaßt, sie in diesem, der Kunst gewidmeten Blatte näher zu besprechen... im Profilbild des
Königs (Friedrich Wilhelm IV.) tritt das ausschließlich Individuelle (jedoch) vielleicht (besonders) charakteristisch hervor."
Wegen seines schlechten Gesundheitszustandes mußte Pfeuffer die General-Münz-Direktion
immer wieder um Urlaub bitten, der auch stets gewährt wurde. Seine Vorgesetzten wünschten
ihm gute Besserung: „Wir fügen den Wunsch hinzu, daß diese kleine Reise den von ihr
erwarteten Einfluß auf Ihr Wohlbefinden haben möge."
Im Revolutionsjahr 1848 setzte sich die General-Münz-Direktion mit Erfolg dafür ein, daß
Pfeuffer nicht zum Dienst in der Bürgerwehr einberufen wurde.
Anfang 1861, Pfeuffer war zu dieser Zeit infolge des Regierungswechsels mit der Anfertigung
neuer Avers-Stempel stark beschäftigt, verschlechterte sich sein Befinden. Schließlich, am
24. Dezember 1861, mußte die General-Münz-Direktion dem Finanzminister von Patow mitteilen: „Pfeuffer ist zu unserem großen Leidwesen, nachdem er wiederholt unter Brustaffektionen zu leiden hatte, in der letzten Nacht am Lungenschlag gestorben."
Seine Beerdigung fand am 26. Dezember 1861 auf dem Sophien-Kirchhof statt.
Anschrift des Autors:
Klaus Sommer, Heyenfeldweg 120,4150 Krefeld
16
Straßenbeleuchtung im Gespräch
Historisch, nostalgisch oder zweckmäßig*
Von Ernst Alberts f
Auf ihrer Jahrestagung 1985 in Mannheim hat die Lichttechnische Gesellschaft an die
Verantwortlichen in den Kommunalverwaltungen appelliert, die Straßenbeleuchtung nicht aus
Ersparnisgründen zu reduzieren. Dabei wurde auf ein vielfach festzustellendes Mißverhältnis
hingewiesen, das darin besteht, daß an der Beleuchtungsquantität und -qualität gespart, dafür
aber erheblich mehr für vermeintliche Erfordernisse im ästhetischen Bereich ausgegeben wird.
Daß hier ein erheblicher Druck von seiten eines Teils der Bürger ausgeübt wird, der glaubt, daß
den Leuchten in besonderem Maße auch eine schmückende Aufgabe im Straßenbild zufallen
muß, steht außer Zweifel. Dabei wird als „schmückend" meist die Rückkehr zu Leuchtenmodellen früherer Jahrzehnte angesehen. Vielfach wird darüber hinaus noch von historischen
Leuchten gesprochen. Gesteigertes Heimatgefühl und alle möglichen anderen emotionalen
Argumente müssen als Begründung für kostspieligen Nachbau von aufwendigen Kandelabern
u. ä. herhalten.
Dabei bin ich überzeugt, daß ein großer Teil der Verfechter dieser nostalgischen Welle in
Wirklichkeit die Straßenbeleuchtung aus diesem Gesichtswinkel überhaupt nicht wahrnimmt
oder bisher wahrgenommen hat und schon aus Generations- und Altersgründen zu diesen alten
Leuchten gar keine Beziehung hat. Wenn man dann noch hört, daß z.B. bei Umfragen
auswärtige Besucher sich in hohem Prozentsatz - von 70 % ist da die Rede - für alte Leuchten
und gegen moderne ausgesprochen haben, so muß das doch sehr verwundern. Normalerweise
muß man wohl annehmen, daß sich Fremde mindestens um diese Seite der Straßenbeleuchtung
weniger kümmern als Einheimische. Ich will dabei nicht so weit gehen, zu behaupten, daß die
gleichen sich in ihrem Heimatort über diese Dinge weniger Gedanken gemacht haben oder
machen als ausgerechnet hier in Berlin. Grundsätzlich ist doch zu sagen, daß die Straßenbeleuchtung eine reine Zweckanlage ist, die dem Verkehr und der Sicherheit dienen muß. Das
darf allerdings für niemanden ein Grund sein, das Aussehen der Leuchten vollständig außer
acht zu lassen oder sich gar zu bemühen, sie möglichst häßlich zu gestalten.
Um zunächst einmal die Leuchten im engeren Sinne zu betrachten. Da werden jetzt z. B. die
fälschlich Schinkelleuchten genannten Formen besonders bevorzugt und, um sie den heutigen
Bedürfnissen anzupassen, statt mit Gas mit elektrischem Strom betrieben.
Für jemanden, der diese Leuchten nicht mehr mit dem stehenden Glühstrumpfund später mit
eingebautem Pilzbrenner mit hängenden Glühstrümpfen gekannt hat, wird es nicht so stark
auffallen, daß durch die jetzige Ausrüstung mit Natriumdampfhochdrucklampen ein absolut
falsches Verhältnis zwischen Leuchtkörper und Lampe entsteht. Von dem Lichtfarbenunterschied zwischen dem hell-weißlich-gelben Gaslicht gegen das goldgelbe, ans Orange
grenzende elektrische Licht dieser Lampentypen ganz zu schweigen. Auch daß diese Leuchten,
soweit wir in ihrer Form tatsächlich auf die Zeiten Schinkels zurückgehen, nicht mit Glühstrümpfen mit immerhin recht intensiver Lichtwirkung ausgerüstet waren, soll ganz außer acht
gelassen werden.
Im Grunde ist doch das Gestaltungsprinzip dieser Leuchten lediglich ein 4-, 6- oder 8eckiger
* Nachdruck mit Genehmigung des Autors aus „Licht" Nr. 4/1985
17
Glaskasten, der sich von oben nach unten verjüngt und oben durch ein Zeltdach abgeschlossen
wird.
Daß da manchmal noch als Endigung der Sprossen eine akanthusblattartige Verzierung
vorhanden ist und das Zeltdach von einer Art Pickelhaube gekrönt wird, ist doch nur
nebensächliches Beiwerk. Es verliert in dem Augenblick, in dem ich den Leuchtenkörper nach
Größe und Form den heutigen Lampen anpasse, restlos an Bedeutung. Dabei spielt es keine
Rolle, ob die Leuchte mit Entladungslampen in Glühlampenform oder Leuchtstofflampen in
Röhrenform ausgestattet wird.
Bei den Hängeleuchten ist es entsprechend. Hier werden z. B., vermutlich weil noch größere
Bestände davon vorhanden sind, die in den letzten Jahren vor dem Krieg und, soweit sie nicht
dem Bombenkrieg zum Opfer gefallen sind, auch noch nach dem Krieg üblichen Leuchten
umgebaut. Daß ihre Form sich aus ihrer Funktion - Fernzündung usw. - entwickelt hat und
damit bei Verwendung von elektrischen Lampen vollkommen sinnlos ist, will ich gar nicht als
Argument anführen. So pingelig braucht man nicht zu sein. Etwas anderes ist es schon, wenn
wegen des größeren Lichtstroms und der größeren Leuchtdichte der Lampen statt der früher
üblichen Klarglas- jetzt Trübglasglocken verwendet werden müssen. Aber auch das ist vielleicht etwas, das nur der bemerkt, der den früheren Zustand wirklich gekannt und bewußt
empfunden hat.
Etwas anderes ist es schon mit der Leuchtenform als solcher. Sehen wir einmal davon ab, daß
die jüngere Generation höchstens die neuesten dieser Leuchten in der Praxis gesehen hat. Wird
jedoch der ältere Bürger in der so wieder zu Ehren gekommenen Leuchte wirklich „seine"
Leuchte wiedererkennen? Ich glaube kaum. Voraussetzung wäre sowieso bewußte Wahrnehmung in früheren Jahrzehnten! Aber auch dann ist das sehr zweifelhaft, weil in der Zeit von
der Jahrhundertwende bis zum Zweiten Weltkrieg etwa 3 bis 4 Finnen solche Gashängeleuchten nach eigenen Vorstellungen hergestellt haben. Darüber hinaus war die Zahl der
untergebrachten Glühstrümpfe in einer ganzen Reihe von Stufen zwischen eins und vierundzwanzig von ausschlaggebender Bedeutung. Auch die zeitliche Entwicklung spielte eine
Rolle. Die Zahl der daraus sich ergebenden Modelle wird sicher nicht viel unter hundert
bleiben. Welches ist nun für den Durchschnittsbürger „seine" Leuchte?
Ähnlich, aber stärker ins Ästhetische übergehend, liegt es bei den Masten. Hier gibt es aus den
ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts eine ganze Reihe verschiedener Modelle, die außer durch
die grundsätzliche Formgebung vor allem mehr oder weniger starke Unterschiede in der
Ornamentierung aufweisen.
Nach der hauptsächlich nach dem Ersten Weltkrieg propagierten Verteufelung jeden
Ornaments ist es schon verständlich, daß sich hier eine Gegenbewegung bemerkbar macht. Es
fragt sich nur, wie weit man dem nachgeben darf und ob nicht wieder des Guten zuviel getan
wird.
An Versuchen, hier eine Zwischenlösung zu finden, hat es nicht gefehlt.
Was da jedoch an dem Zeitgeist entsprechenden Entwürfen geboten wurde, konnte oft auch
kaum befriedigen. Es hat da gewisse Parallelen zu Entwürfen aus der ersten Hälfte des vorigen
Jahrhunderts gegeben, wie wir sie aus alten Darstellungen kennen (Bild 1). Was aber dort schon
vom Maßstab her elegant wirkt, zeigt sich, in die wesentlich größeren Dimensionen nach
heutigen Bedingungen übertragen, grob und unschön. Es ist kein Wunder, daß diese Entwürfe
wenig Anklang gefunden haben. Das zeigte sich besonders bei den Entwürfen für den
Kurfürstendamm in Berlin und ähnlich prominente Straßen.
Anscheinend hat auch die heutige Generation vielfach nicht das richtige Gespür für eine
wirklich annehmbare Gestaltung. Das gilt allerdings bedauerlicherweise nicht nur auf diesem
IX
Bild 1: Platz vor der Königlichen Oper Berlin, um 1850. Im Hintergrund Bogenkandelaber
\9
hier behandelten Sondergebiet. Diese Entwicklung geht schon weit in das vorige Jahrhundert
zurück. Mit der Klassifizierung des künstlerischen Geschehens früherer Jahrhunderte und der
Einteilung in einzelne Stilarten, noch dazu mit Unterteilungen wie Früh-, Mittel- und Spät- war
offenbar das Ende einer natürlichen Entwicklung erreicht. Es folgte eine Zeit der Nachahmung
aller erdenklichen Stilarten, die dann wieder nachträglich als Historismus klassifiziert wurde.
Seit diese Übung in Verruf kam, wurde fast immer die neue Entwicklung gewissermaßen im
Verordnungswege, d.h. durch Beschlüsse von Künstlergruppen nach dem Motto „Wir müssen
jetzt einen neuen Stil haben", eingeleitet.
Daß das nicht funktionieren kann, hat man anscheinend bis heute nicht erkannt. So ist man
nun auf Gebieten, die dazu geeignet erscheinen, zu dem System der Meinungsumfrage übergegangen.
Das bringt allerdings auch nicht die Lösung, zumal wenn z. B. bei solchen Entscheidungen wie
über die Straßenbeleuchtung und deren Einrichtungen auch noch zusätzlich parteipolitische
Überlegungen mitsprechen. Vor allem hat es den außerordentlichen Vorteil der Verantwortungsverlagerung. Ein Kuriosum bei diesem Verfahren ist allerdings, daß es auch Fälle gibt,
in denen man der Mehrheit die Urteilsfähigkeit abspricht. Wenn den Initiatoren irgendeines
besonders progressiven Plans die Mehrheitsentscheidung nicht paßt, wird von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht. Daß nicht grundsätzlich die Mehrheit mit ihrer Auffassung recht hat,
ist sicher richtig. Daß aber in besonderen Fällen die Minderheit auf ihre „einzig richtige"
Auffassung pochen zu dürfen glaubt, ist selbstverständlich ebenso anfechtbar.
Das alles gewinnt aber keine besondere Bedeutung, wenn man sich auf die sachlichen
Bedingungen besinnt und beschränkt, die aus der Aufgabe der zur Entscheidung stehenden
Dinge erwachsen.
Bei der Straßenbeleuchtung stehen diese Aufgaben unumstößlich fest und dahinter haben alle
anderen Gesichtspunkte zurückzutreten.
So sind die hier zur Verwendung kommenden Leuchten lediglich nach ihrer Zweckmäßigkeit
für die betreffende Straße auszuwählen, einschließlich der dazugehörenden Masten. Dabei ist
noch besonders zu beachten, daß die Leuchten nur während der Dunkelstunden „gebraucht"
werden, während sie sonst meist eher im Wege stehen.
Aus dem letzteren Grunde wäre der Straßenüberspannung, wie sie heute bei schmalen Straßen
in kleineren Orten vielfach üblich ist, der Vorzug zu geben. Wo man jedoch auf Masten nicht
verzichten kann, sollte man ihnen keine schmückende Aufgabe zuordnen, sondern sie so
unauffällig wie möglich gestalten. Wichtig ist nur, daß sie die von ihnen zu tragenden Leuchten
in die richtige Position bringen. Das ist z. B von besonderer Bedeutung, wenn man Straßenrand
Bäume stehen, deren Wachstum in absehbarer Zeit für die Beleuchtungswirkung stark hinderlich werden kann. Diese Möglichkeiten sind bei den heute vielgeschmähten Peitschenmasten
und verwandten Konstruktionen im Gegensatz zu den alten Masten leicht zu erreichen.
Oft zeigt es sich deutlich, daß die vielfach aufgestellte Behauptung, daß moderne Leuchten sich
nicht in ein historisches Straßenbild einfügten, ebensowenig stimmt wie die, daß hier nur
„historische" Kandelaber Verwendung finden dürften. Während die Peitschenmasten vor dem
wirklich alten Fachwerkhaus in keiner Weise stören, ist der historische Kandelaber vor dem
historisierenden Fachwerkbahnhofgebäude ein geradezu unerträglicher Stilbruch. Wegen der
Straßenbreite und der Verkehrsbedingungen wäre hier vermutlich ein einfacher Mast mit einer
Aufsatzleuchte ausreichend gewesen. Die Auswahl an hierzu geeigneten Leuchten, die sich z. T.
auch mehr oder weniger an die Form der „Schinkelleuchten" anlehnen, ist groß genug.
Während es bei vielen Straßen keinen vernünftigen Grund gibt, auf irgendwelche alten
Leuchtenformen zurückzukommen, gibt es da selbstverständlich auch Ausnahmen, die es
20
Bild 2: „Historischer" Kandelaber vor pseudohistorischem Fachwerkhaus:
U-Bahnhof Dahlem-Dorf in Berlin
jedoch in Berlin (West) kaum gibt. Wenn z. B. die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche nicht bis
auf wenige Reste vernichtet wäre und auch die anderen romanischen Gebäude erhalten wären,
wäre ein solcher Fall gegeben. Hier hätte es Sinn, auch nicht mehr vorhandene Schwechtenkandelaber nachzubauen, weil hier ein historischer Zusammenhang vorläge. Geradezu absurd
wäre es aber, nachdem die den Platzraum bestimmenden Schwechtenbauten fast restlos
verschwunden sind, die vielleicht als einziges Relikt noch erhaltenen Leuchten wieder aufzustellen oder sogar nachzubauen.
Anders liegt es bei Leuchten, die Teile der Architektur sind (wie man heute wohl sagen muß: „in
die Architektur integriert" sind), wie wir es z. B. bei U-Bahneingängen, bedeutsamen Gebäuden
und einigen Brücken finden. Hier muß die gestalterische Aufgabe den Vorrang haben.
Allerdings werden auch selten besondere beleuchtungstechnische Anforderungen zu stellen
sein. Hier ist dann auch ein kostspieliger Nachbau nicht nur vertretbar, sondern erforderlich.
Bei sich in diesem Zusammenhang noch ergebendem Wechsel in der Energie ist dann aber auch
große Vorsicht geboten.
Unsere Vorfahren, die doch erwiesenermaßen sehr viel schmuckfreudiger waren als wir, waren
im Hinblick auf die Straßenbeleuchtung offensichtlich sehr zurückhaltend. Besonders ausgestattete Schmuckleuchten wendeten sie nur in Sonderfällen an, und selbst an eigentlich recht
prominenten Orten haben sie darauf verzichtet. Auf Bild 1 ist neben den schon erwähnten
Schmuckleuchten vor der Königlichen Oper im Hintergrund eine ganz schlichte Bogenleuchte
erkennbar. Schätzungsweise steht sie vor dem ehemaligen Prinzessinnenpalais (heute Operncafe). Dieses ganze Areal mit Oper, dem Palais, der Neuen Wache und dem Zeughaus ist doch
sicher ein Platz, der durch eine besondere Leuchtenform ein besonderes Gepräge hätte bekommen können. Nichts ist da geschehen. Ähnlich ist es auch auf einem bestimmt ebenso
prominenten Platz in Potsdam vor der Nikolaikirche, dem Stadtschloß gegenüber. Dabei hätte
21
Bild 3: Laternen als Architekturteil: U-Bahnhof-Eingang in Berlin
man damals ohne weiteres reinen Zierleuchten den Vorzug geben können, da der
Beleuchtungswert - Gasschnittbrenner oder Öllampen - sowieso nur sehr gering
einzuschätzen war. Statt dessen hat man sich für die schlichten Zweckleuchten entschieden,
übrigens eine Form, wie sie ganz ähnlich noch 1935 in der Brüderstraße in Berlin gestanden hat
(Bild 4).
So wäre es z. B. bei uns vor dem Berlin Museum richtiger gewesen, ähnliche Leuchten statt der
jetzt dort stehenden aus der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts aufzustellen. Historische
Leuchten aus der Erbauungszeit, der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, wären mangels
Mustern kaum nachzubauen. Vor allem würden sie aber nun wirklich nicht den heutigen
Beleuchtungsansprüchen genügen können. Die jetzt dort stehenden Kandelaber haben doch zu
dem barocken Gebäude genausowenig eine Beziehung wie im Fall Dahlem-Dorf.
Ähnlich wie hier und wie bei dem heutigen Breitscheidplatz in Berlin verhält es sich beim
Kurfürstendamm. Ist beim Breitscheidplatz von den Schwechtenbauten fast nichts mehr
erhalten, so trifft das für den Kurfürstendamm auf weite Strecken auch zu. Wo aber der Krieg
oder Nachkriegsabbrüche Lücken in die alte Bebauung gerissen haben, ist doch, harmlos
ausgedrückt, ein so wechselvolles, nicht immer erfreuliches Straßenbild entstanden, daß
objektiv kein Grund für die durch Mehrheitsbeschluß bestimmte Straßenbeleuchtung vorliegt.
Mit dem gleichen Recht, mit dem moderne Leuchten vor den erhalten gebliebenen Bauten
abgelehnt werden, sind die alten Leuchten vor den modernen Bauten abzulehnen. Hinzu
kommt, daß die tatsächlich den Anfängen des Kurfürstendamms entsprechende Leuchtenform
zweifelhaft ist und außerdem im Lauf der Jahrzehnte den schon beschriebenen Wandlungen
unterworfen war.
22
Bild 4: Bogenkandelaber von 1935 in der Brüderstraße in Berlin (Alt-Cölln)
Außerdem waren zu damaliger Zeit die Bäume jung und hatten nur kleine Kronen, zwischen
denen verzierte Kandelaber auch wirklich noch schmückend in Erscheinung treten konnten.
Diese Zeit ist jetzt auf lange Sicht vorbei. Die in ihrer Länge beschränkten Ausleger reichen
keinesfalls dazu aus, die Leuchten in den Bereich außerhalb des Laubwerks zu bringen. Auch
der gewaltige Unterschied zwischen dem Fahrverkehr damals, zum großen Teil noch mit
Pferdefuhrwerken, und heute ist dabei zu berücksichtigen, obwohl häufig die Ansicht vertreten
wird, die Kraftwagen hätten ihre eigene Beleuchtung und benötigten die Straßenbeleuchtung
deshalb nicht.
Die Entscheidung über die Beleuchtung des Kurfürstendamms ist ja nun durch Mehrheitsbeschluß zugunsten der Nostalgie gefallen. Ich bin jedoch überzeugt, daß man schon bald nach
voller Durchführung des Plans mit Bedauern feststellen wird, daß hier der falsche Weg
eingeschlagen wurde. Ob man es zugeben wird? Die Verantwortung liegt ja bei der dann
bestimmt schweigenden Mehrheit!
An einer Stelle in Berlin (West) haben wir tatsächlich historische Straßenleuchten, die auch den
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Krieg fast ohne Schaden überstanden haben. Vom beleuchtungstechnischen Standpunkt sind
sie mindestens umstritten. Vom Ästhetischen her werden sie, heute z. T. allerdings auch aus
ideologischen Gründen, abgelehnt. Die Historie würde man sicher gern ignorieren. Trotzdem
bin ich nicht sicher, daß nicht eines Tages im Kampf um die Speerleuchten an der Ost-WestAchse alle emotionalen Register gezogen werden. Welche Seite dann siegt?
Bei der Frage, ob alte oder moderne Leuchten im allgemeinen, ist doch zu sagen: Wenn sich ein
Privatmann für seine Kellerbar oder einen anderen romantisch einzurichtenden Raum
Petroleumlampen in elektrische umwandeln läßt, auch wenn ein Gastwirt das gleiche tut, so ist
das deren Privatsache, und wenn die sonstige Gestaltung und Ausstattung des Raumes dem
Geschmack zur Zeit der Pretroleumlampe entspricht, ist auch wenig dagegen einzuwenden.
Besonders Ansprüche an die Beleuchtungsqualität, Gütemerkmale usw. sind sowieso kaum zu
stellen. Aber bei der Straßenbeleuchtung?
Abschließend möchte ich deshalb noch einmal betonen, daß bei der Straßenbeleuchtung vor
irgendwelchen emotional nostalgischen Träumereien der sachliche Zweck unbedingt den
Vorrang haben muß, was bedeutet nicht schmücken, sondern beleuchten.
Bürgerinitiativen und -wünsche sind sicher in vielen Dingen als Regulativ sehr zu begrüßen.
Dies muß aber auch seine Grenzen haben, wo u. U. unverzichtbare Allgemeinaufgaben
darunter leiden würden. Hier muß es die Möglichkeit geben, letztere durchzusetzen. Dabei
dürfte es hilfreich sein, daß es eine ganze Reihe von Leuchtenmodellen gibt, die modern und
beleuchtungstechnisch zweckmäßig sind, außerdem eine gewisse wohnliche Note haben und so
für reine Wohnstraßen oder Fußgängerzonen geeignet sind sowie den Rückgriff auf Kopien
und Umbauten überflüssig machen.
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Die Minervastatue des holländischen Bildhauers Bartholomäus Eggers
im Schloßpark von Charlottenburg
Von Harry Nehls
Das bekannteste großplastische Bildwerk in Charlottenburg dürfte zweifellos das Reiterdenkmal des Großen Kurfürsten (1640-1688) von Andreas Schlüter (1660-1714) - dem
„Michelangelo des Nordens" - im Cour d'honneur des Schlosses Charlottenburg sein.'
Weniger bekannt ist hingegen das überlebensgroße marmorne Standbild der Athena-Minerva
(Abb. 1) auf dem von Rhododendron umgebenen Sandsteinpiedestal in dem der Schloßterrasse
zunächst gelegenen Rondell. Unschwer erkennbar ist die Göttin/Schutzpatronin Athens, die
im legeren Kontrapostmotiv auf einem sphärischen, rundschildartigen Gebilde ruht, an ihren
charakteristischen Attributen wie Helm, Ägis mit Medusenhaupt und dem ihr heiligen Tier: der
Eule, die sich behutsam an das linke Standbein der Gottheit schmiegt. Der linke, angewinkelte
Arm ist in die Hüfte eingestützt, während der rechte erhoben ist und seine Hand einst die für
Athena typische (heute fehlende) Lanze2 hielt. Die Figur ist stark beschädigt; der Eule fehlt der
linke Flügel.
In der einschlägigen Berlinliteratur3 findet man nur spärliche Hinweise auf Herkunft/Provenienz, Schicksal und Aufstellung dieser bemerkenswerten Statue. Sie gilt heute als ein Werk des
holländischen Bildhauers Bartholomäus Eggers (um 1637-vor 1692), der sie im Auftrag des
Großen Kurfürsten im Jahre 1682 schuf.4 Doch für den Charlottenburger Schloßgarten kann
diese antikisierende Barockplastik ursprünglich nicht bestimmt gewesen sein, da mit dessen
Anlage erst im Sommer 1697 begonnen wurde.5 Ihre erste Aufstellung fand sie vermutlich, wie
auch das Original (s. u.), als Brunnenfigur im Areal des Schlosses Oranienburg6, des Sitzes der
holländischen Gemahlin des Großen Kurfürsten, Louise Henriette. Wann genau die Statue
von dort nach Charlottenburg kam, ist leider nicht überliefert, ebensowenig ihr neuer Standort.
Allgemein wird angenommen, daß sie unter Friedrich dem Großen (1740-1786) hierher
gelangte.7 Im Siebenjährigen Krieg (1756-1763) wurde das Bildnis der Minerva anscheinend
schwer in Mitleidenschaft gezogen, denn 1840 fand man es im Charlottenburger Schloßpark
„unter einem Haufen von Gartenabfällen".8 Unter Friedrich Wilhelm IV. (1840-1861) restaurierte sie der Bildhauer August Wittig9, ein Schüler Christian Daniel Rauchs (1777-1857).
Erhalten hat sich diesbezüglich eine Notiz Rauchs, der am 5. März 1849 die folgenden Worte an
den damals amtierenden Hofgärtner, Ferdinand Fintelmann (1774-1863), schrieb:
„Euer Wohlgeboren hatten diesen sehr verletzten Marmor aus dem Schutte des Holzplatzes in dessen Nähe vor Jahren wieder aufgestellt, und würden solchen morgen oder in
den nächsten Tagen abholen lassen, sollten sich noch der Kopf oder andere Theile später
wiedergefunden haben, so würde ich bitten auch das Unbedeutendsterscheinende mir
gefäll, zugleich mit zu senden."10
Da sich der Kopf aber nicht wiederfand, fertigte Wittig nun unter der Aufsicht Rauchs einen
Ersatzkopf, der - nach einer Idee Friedrich Wilhelms IV. - die Porträtzüge der Königin Sophie
Charlotte", der Namensgeberin von Charlottenburg, erhielt. Dies war durchaus nichts Ungewöhnliches, ließen sich doch Fürstinnen gelegentlich gern als Minerva, die dem 17. Jahrhundert
als Schirmherrin von Wissenschaft und Kunst galt, darstellen. Als Point de vue placierte man
das „Pasticcio" anschließend in das Rondell nördlich des Mittelpavillons der Orangerie.
25
Abb.l:
Marmorstatue der Minerva des
Amsterdamer Bildhauers
Bartholomäus Eggers, 1682, im
Schloßpark von Charlottenburg
Das unmittelbare Vorbild der Charlottenburger Minerva befindet sich heute im Städtischen
Museum Haus Koekkoek in Kleve, dem Nachfolgebau des dortigen Heimatmuseums. Kein
Geringerer als der Antwerpener Barockbildhauer Artus Quellinus der Altere (1609-1668)12
schuf 1659/60 die ursprünglich „Tritonia virgo" bezeichnete Idealplastik (Abb. 2). 1660
schenkte sie die Stadt Amsterdam dem Statthalter von Kleve, dem Fürsten Johann Moritz von
Nassau-Siegen (1604-1679). Dieser ließ die „Minerva Tritonia" inmitten seines „Amphitheater"
genannten Waldtals im Neuen Tiergarten zu Kleve als - von vier Delphinen umgebene Brunnenbeckenfigur aufstellen. Erst während des Zweiten Weltkrieges wurde das Standbild
aus dem Klever Tiergarten entfernt und in das Atelier des flämischen Bildhauers Achilles
Mortgaart'3 verbracht, der es vorsorglich in seinem Garten vergrub, wo es dann nach dem
Krieg wieder ausgegraben wurde und 1954 an seinen angestammten Standort zurückkehrte.
Seit 1975 ersetzt eine moderne Kopie das kostbare Original des nassauischen Fürsten.
Gewiß hat Quellinus für seinen Athenatypus auf antike Vorlagen oder auch zeitgenössische
Kupferstiche zurückgreifen können. Etwa um 1635 ist er nachweislich in Rom gewesen14, wo er
sich als Bildhauer intensiv mit den seit 1500 zahlreich ausgegrabenen antiken Skulpturen
beschäftigen konnte. Zwar folgt seine Athena motivisch (Helm, Ägis, Lanze, Ponderation)
26
Abb. 2:
Die „Minerva Tritonia" des
Barockbildhauers Artus Quellinus,
1659, in Kleve - das Vorbild der
Charlottenburger Statue.
Als Postament dient eine - von vier
Delphinen umgebene kraterartige Vase mit dem
Stadtwappen Amsterdams:
drei übereinandergestaffelten
Andreaskreuzen
antiken Vorbildern, bleibt jedoch im Stil eindeutig seiner eigenen Zeit, d.h. dem späten
17. Jahrhundert, verpflichtet. Daher erübrigt sich die Suche nach konkret benennbaren Vorbildern.15
Am Schluß unserer Betrachtung sei kurz daraufhingewiesen, daß sich im Chor der Ostberliner
Marienkirche auf dem Alexanderplatz ein weiteres Quellinus zugewiesenes Werk befindet: das
Grabmal für den kurfürstlich-brandenburgischen Feldmarschall Otto Christoph Freiherr von
Sparr (1605-1668), das 1663 aufgestellt wurde.16 Als leicht abgewandeltes Zitat seiner kurz
zuvor (1659/60) in Amsterdam geschaffenen überlebensgroßen Athena erscheint sie noch
einmal als kleine, Statuettenhafte Bekrönungsfigur des Grabmals.17
Vergleicht man das wesentlich schlankere, elegante, S-förmig geschwungene Klever Original
des Quellinus mit unserer fülligen, wahrhaft barocken Charlottenburger Kopie von Eggers, so
wird klar, wem der Vorzug zu geben ist. In ihrer ursprünglichen Funktion als Brunnenfigur
nicht mehr erkennbar und der verlorenen Delphine beraubt, sollte der Besucher des Charlottenburger Schloßgartens trotzdem nicht achtlos an dieser kunsthistorisch interessanten Skulptur vorübergehen.
27
Anmerkungen
1. Margarete Kühn: Die Bauwerke und Kunstdenkmäler von Berlin. Schloß Charlottenburg. BerlinWest 1970, S. 231 ff.
2. Vgl. Christoph Voigt: Eine Minerva-Standbild von Anus Quellinus im Schloßpark von Charlottenburg, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins. 36. Jg. 1919, S. 21 mit Abb.
3. Kühn (wie Anm. 1), S. 200, Abb. 852. - Eva und Helmut Börsch-Supan/Günther Kühne/Hella
Reelfs: Berlin. Kunstdenkmäler und Museen. Zweite Aufl. Stuttgart 1977, S. 438 (= Reclams Kunstführer Deutschland, VTI). - Clemens Alexander Wimmer: Die Gärten des Charlottenburger Schlosses. Berlin-West 1985, S. 80,92.
4. Zu Eggers vgl. Willy Halsema-Kubes: Die von Artus Quellinus und Bartholomäus Eggers für Johann
Moritz geschaffenen Skulpturen, in: Soweit der Erdkreis reicht. Johann Moritz von Nassau-Siegen
1604-1679. Ausstellungskatalog des Städtischen Museums Haus Koekkoek Kleve. Kleve. Zweite
Aufl. 1980, S. 222-224 und Register S. 430 s. v. Eggers, Bartholomäus.
5. Wilfried Hausmann: Gartenkunst der Renaissance und des Barock. Köln 1983, S. 258. - Wimmer
(wie Anm. 3), S. 14ff., bes. S. 17.
6. Halsema-Kubes (wie Anm. 4), S. 221.
7. Halsema-Kubes (wie Anm. 4), S. 222 mit Anm. 95.
8. Halsema-Kubes (wie Anm. 4), S. 222. Zum Aufstellungsort der Minerva vgl. auch das Charlottenburger Skulpturen-Inventar des Archäologen Aloys Hirt (1759-1837) aus dem Jahre 1810, wiedergegeben
bei Wimmer (wie Anm. 3), S. 99 Anm. 49, wo es heißt: „Auf der entgegengesetzten Seite des Gartens
steht ebenfalls zwischen Bäumen und anderen Statuen von Sandstein in der Mitte eine Vertiefung, die
ehedem zu einem Wasserbassin gedient zu haben scheinet, das marmorne Bild der Minerva (= identisch mit Eggers' Minerva?) von moderner Arbeit."
9. Zu Wittig vgl. Thieme-Becker . . .
10. Zitiert nach Wimmer (wie Anm. 3), S. 80.
11. Vgl. Kühn (wie Anm. 1), Tafelband, Abb. 79.
12. Zu Quellinus vgl. Hans Peter Hilger: Klevischer Helikon. Zur Interpretation der Statue der Minerva
Tritonia im Amphitheater des Neuen Tiergartens zu Kleve, in: Soweit der Erdkreis reicht (wie
Anm.4), S. 189ff. - Halsema-Kubes (wie Anm.4), S. 214 und Register S.433 s. v. Quellinus, Artus.
13. Halsema-Kubes (wie Anm. 4), S. 220.
14. Halsema-Kubes (wie Anm. 4), S. 214.
15. Sowohl was die Drapierung als auch den starken S-förmigen Hüftschwung anbelangt, weicht die
Klever Minerva erheblich von antiken Athenastatuen ab. Zur antiken Vorbildfrage vgl. Voigt (wie
Anm. 2), S. 20. - Hilger (wie Anm. 12), S. 192 mit Anm. 192 (Athena Farnese!), bzw. Halsema-Kubes
(wie Anm. 4), S. 218 mit Anm. 36 und Abb. 6.
16. Halsema-Kubes (wie Anm. 4), S. 220 f. Abb. 9.
17. Halsema-Kubes (wie Anm. 4), S. 220 Abb. 10.
Anschrift des Verfassers: Harry Nehls, M. A., Seelingstraße 35, 1000 Berlin 19
2X
Aus dem Vereinsleben
Zur Studienfahrt nach Trier vom 11. bis 14. September 1987
Für einige Teilnehmer der Studienfahrt bot der Direktor der Stadtbibliothek und des Stadtarchivs Trier,
Dr. Günther Franz, alternativ zum Besuch des Marx-Hauses eine kurze Führung durch eine Ausstellung
ausgewählter Kostbarkeiten aus Handschriften und Inkunabeln. Sie war abgestellt auf die römische
Reichstradition Triers von den Zeiten Kaiser Konstantins über Karl den Großen und die Ottonischen
Kaiser bis hin zur Reichsauflösung von 1803. Die Ausstrahlungskraft der Klöster im Trierer Land (auch in
der Eifel und im Hunsrück) bis nach Mainz und zur Reichenau und vice versa die Einwirkungskraft aus
Nordfrankreich und Luxemburg wurde evident. - Die Besonderheit der Bibliotheksbestände ist zu
verstehen aus dem Einschnitt in das Schicksal der Stadt Trier durch die französischen Revolutionstruppen;
sie säkularisierten die Klöster, lösten 1794 das Jesuitenkolleg auf und überführten ihre Buchbestände sowie
die der Universitätsbibliothek 1804 in städtischen Besitz, darunter die Gutenberg-Bibel, einige
karolingische Handschriften und den berühmten Codex Egberti.
Erst im 20. Jahrhundert wurde die Sammlung der Öffentlichkeit zugänglich, erhielt 1957 ein eignes
Gebäude; seit 1982 nimmt sie Wechselausstellungen für Besucher vor. Die den Berliner Gästen
vorgeführte Auswahl war aufgearbeitet worden für die 1984 veranstaltete Ausstellung „2000 Jahre Stadt
Trier". Dr. Franz hatte ihnen die sonst unter besonderen Licht- und Luftverhältnissen aufbewahrten
Besonderheiten zugänglich gemacht.
Da ist als früheste Probe eine Handschrift von 791, enthaltend die eschatologischen Vorstellungen der
Bibel, die den Übergang von der spätantiken zur frühmittelalterlichen Theologie des 5. Jahrhunderts
bestimmten, aus Norditalien stammend und noch recht schmucklos geschrieben. Es folgten Beispiele aus
der Hofschule Karls des Großen (um 800), unter Alkuin geleitet. In seinem Skriptorium wird der Sprung
zu kostbarer Ausstattung gemacht: der Codex des Ada-Evangeliars ist ganz in Gold geschrieben und
enthält die vier Evangelien. Auf die noch wirksame antike Kunsttradition weist die plastische Durchgestaltung der in Herrscherhaltung thronenden Evangelistengestalten hin, ein eingängiges Beispiel für die
religiös begründete Kaiserauffassung Karls. Als Stifterin wird eine „Mater Ada" genannt, nach der eine
ganze Handschriftengruppe ihren Namen hat. Die Kostbarkeit wurde im Kloster St. Maximin aufbewahrt,
1794 von den Franzosen nach Mainz überführt, von dort in die Nationalbibliothek nach Paris verbracht,
1815 von preußischen Truppen nach Aachen geholt und schließlich 1818 vom preußischen König nach
Trier überwiesen.
Es folgte ein Beispiel für die Verschmelzung von Antike und Mittelalter: der 1499 gefertigte Buchdeckel für
das Ada-Evangeliar; ihm ist ein antiker Kameo eingefügt, als dessen dargestellte Gestalten - 5 Personen
hinter einer Adler-Brüstung - man die Familie Kaiser Konstantins deutet und die Arbeit deshalb auf die
Zeit vor 326 datiert. Mittelalterlich sind die vier Evangelistengestalten auf dem Rand: geflügelte Wesen, in
Smaragden gefaßt; die Arbeit fertigte ein Trierer Goldschmied.
Nach Nordfrankreich weist ein typisches Beispiel für die Weltangst und Weltflucht der Jahrtausendwende.
Nach einem Vorbild aus Tours (um 800) ist eine Miniatur mit Szenen aus der Apokalypse des Johannes
dargestellt. Der Bilderzyklus ist schon farbiger und dramatisch bewegter.
In den Bereich der Rechtsaltertümer und damit das Gebiet frühester fränkischer Herrschaft im Moselgebiet führt eine althochdeutsche Lex-Salica-Übersetzung um etwa 815. Die Lex Salica war das kodifizierte
salische Stammesrecht der Franken; man führt ihre älteste Fassung von 507 bis 511 auf König Chlodwig
zurück. Karl der Große griff sie bewußt als ein germanisches Recht auf, ließ sie umarbeiten und eine
althochdeutsche Übersetzung herstellen, von der sich nur das Trierer Fragment erhalten hat. Während es
uns heute Aufschluß über Rechtsgeschichte und Volkskunde gibt, schnitten Mönche im 15. Jahrhundert,
als man das Althochdeutsche nicht mehr verstand, vor allem nicht im moselfränkisch-niederdeutschen
Sprachraum, die Seiten auf und verwandten sie als Vorsatzblätter für Inkunabeln.
Ein gleiches Schicksal erlitten Textfragmente aus Tours, die ebenfalls auf die Hofschule Karls des Großen
zurückgehen. Er initiierte eine Vereinheitlichung verschiedener im Umlauf befindlicher Bibelversionen.
Die Arbeit wurde im Skriptorium der Abtei von Tours unter Aufsicht Alkuins angefertigt; eine Abschrift
von 845 kam nach St. Maximin, wo Mönche des 16. Jahrhunderts sie in ihrer Begeisterung für die damals
neuen Druckerzeugnisse zerschnitten und zu Bucheinbänden verarbeiteten. Auch hier ist der preußische
Staat um 1850 fündig geworden und hat die Blätter der Stadt Trier übereignet.
Das künstlerisch am meisten ansprechende Beispiel, der Codex Egberti, führt in die Schreibschule auf der
Reichenau gegen die Jahrtausendwende. Es ist ein Perikopenbuch. Darin werden die Evangelientexte in
29
der Reihenfolge verzeichnet, wie sie im Ablauf des Kirchenjahres verlesen werden. Der Codex trägt seinen
Namen nach dem Erzbischof Egbert (977-993), dem Kanzler Kaiser Ottos III. Der Haupttext ist, wie die
Illustrationen zeigen, auf der Reichenau geschrieben worden, die feinen und farbintensiven Miniaturen
zeichneten, wahrscheinlich nach antiken Vorlagen, Trierer Mönche. Vom Codex Egberti gingen wiederum
Rückwirkungen auf die Schreibschule des Klosters Echternach bei Luxemburg aus. Nach der
Säkularisation kam der Codex aus dem Besitz des Doms in den der Stadtbibiliothek.
Mit den Handschriften des 11. Jahrhunderts kommt die reichhaltiger ausgestaltete Buchmalerei ins Bild.
Dafür steht als Hauptzeuge für die Trierer Geistesgeschichte der Psalter von St. Simeon (um 1050). Er
diente - mit Psalmentexten und Neunten - dem liturgischen Gebrauch; angefügt sind ein Glossar und ein
Kalendarium für Trierer Kirchenfeste, v. a. die Dedicatio altaris sancti Symeonis inclusi, die Gedenkfeier
für den Einsiedler Simeon in der Porta Nigra. 1042 wurde neben der zur Kirche umgewandelten Porta das
Kanonikerstift St. Simeon gegründet. - Hier sind die Initialen besonders schön in Gold und Silber auf
hellrosa, blauem und grünem Grund ausgemalt. Jede Zierleiste trägt die Psalmenanfänge: „Beatus vir
qui..., Wohl dem Mann, der . . ."
Auch vom Selbstverständnis des alten Trier, daß es fast so alt sei wie Rom, gibt es ein Fragment-Zeugnis,
den Liber officialis des Amalarius Fortunatus aus dem 12. Jahrhundert. Auch er stammt aus karolingischer Zeit und aus dem Umkreis von Trier. Amalarius war ein Schüler Alkuins und hat für die
Absolventen der Hofschule ein Kompendium der Theologie mit Erklärungen verfaßt. Der Codex wird
eingeleitet mit seinem Autorenbildnis, das ihn zwischen zwei Basiliken zeigt, der von Rom und Tier; in
Händen hält er ein Schriftband, das besagt: Im Anfang war Rom, das zweite Rom ist Trier.
Sehr schön ist das erhaltene Halbseidengewebe eines Bucheinbandes aus dem 12. oder 13. Jahrhundert. Es
trägt zwischen seinen Streifen lebendig gezeichnete Tiere, vor allem Vögel. Man hält es für ein frühes
Zeugnis der Kölner Seidenweberei.
Das 13. Jahrhundert ist das der städtischen Blüte; sie bringt den Aufschwung der Reform- und Bettelorden
mit sich, die ihre Wirksamkeit in die Städte verlegten oder sich ihnen bewußt entgegensetzten. Schon
vorher knüpften sich Beziehungen zum Zisterzienserkloster Himmerod in der Eifel fester. Die Stadtbibliothek besitzt von dort eine Sammlung gregorianischer Gesänge und Stundenbücher, wahrscheinlich
von einem Trierer Bürger gestiftet. Die Handschrift trägt schon naturalistisch gesehene Rankeninitialen in
leuchtendem Rot, Blau, Grün und Gold. Immer mehr läßt sich beobachten, wie im Lauf der Zeit sich
biblische Ereignisse zu dramatischen oder erzählerischen, gefühlsbetonten Szenen verdichten, so die
Geburt Christi, die Frauen am Grabe, Christus erscheint den Jüngern, seine Wunderheilungen. Überall
sind die Szenen von leuchtenden Blumenranken gesäumt und dadurch überhöht. Diese Ikonographie
weist auf französische Zisterzienserbräuche.
Trier rühmt sich ferner der ältesten hebräischen Schriftfragmente, so des Buches Sefer ha-teruma des
Baruch ben Isaak aus Worms, um 1200 abgefaßt. Es enthält eine Zusammenfassung kultischer jüdischer
Gesetze. - Ein Kuriosum ist eine Bibel auf hauchdünnem Pergament, gleichsam der Vorläufer unserer
Dünndruckausgaben, angefertigt im Mainz des 14. Jahrhunderts. Für die gesamte Bibel samt Glossar
wurde so dünnes Pergament verwendet, daß 400 Seiten nur 4 cm dick sind.
Mit wachsendem Einfluß der Trierer Kurfürsten in Rom hängt es zusammen, daß die Abteien und das
Dom-Archiv Zeugnisse der kirchenpolitischen Dekrete und Rechtsgutachten aus der nachstaufischen Zeit
enthalten, in der sich Bettelorden und häretische Sekten (s. unter Papst Bonifaz VIII.) gegen die Kirche
stellten. Gleichsam als Gegenkraft sind in Trier Heiligenviten erhalten (Mitte des 14. Jahrhunderts), die das
häusliche und alltägliche Leben in farbiger Intimität abschildern und mit Blumen und Blättern verzieren;
man sieht darin eine mittelfränkische Eigenart.
Bis zum 15. Jahrhundert werden diese Bücher nach Inhalt und Ausstattung immer reichhaltiger und
kunstvoller. Dann beginnt der Buchdruck. Trier besitzt eine 42zeilige Gutenberg-Bibel von 1454, die
besonders gut den Eindruck vom harmonischen Schriftbild der frühen Buchdruckerkunst vermittelt. Die
farbigen Initialen und Zierranken wurden handschriftlich hinzugefügt. Die Bibel stammt aus einem der
Trierer Klöster, wurde 1804 der Stadt übergeben; weitere Blätter versteigerte man 1931 zugunsten des
Neubaus der Stadtbibliothek. Dafür stellte Berlin 1979 ein faksimiliertes Exemplar zur Verfugung. Schon
diese Auswahl spricht für die von der Berliner Romantik motivierte Neuaneignung des Mittelalters und
der Kulturpflege des preußischen Staates im 19. Jahrhundert. So war die Führung eine freundliche Geste
des 2000jährigen Trier an das 750jährige Berlin.
Christiane Knop
Die Angaben wurden entnommen: „Kostbare Bücher und Dokumente aus Mittelalter und Neuzeit.
Katalog der Ausstellung der Stadtbibl. u. des Stadtarchivs Trier", 1984.
30
Noch einmal „Historische Berliner Friedhöfe und die Berliner Bildhauerschule"
Leider haben sich im abgedruckten Text einige Verwechslungen und falsche Zuschreibungen eingeschlichen. Glume war einer der letzten spätbarocken Vorläufer der Gründerzeit der Berliner Bildhauerschule; das Grabmal Fleck stammt von Schadow; Encke war nicht Rauch-Schüler, sondern lernte bei
Albert Wolff - er ist also der Gruppe der Rauch-Enkel zuzuordnen; das Grab Duncker ist eine Arbeit
Eberleins; ein gründerzeitliches Grab ist das von von Krause (Krause ist in symbolistischem Jugendstil);
von Klimsch stammt das Denkmal für Virchow, nicht das Grabdenkmal; „das Leid" ist Eberlein
zuzuschreiben; dem Jugendstil folgt der Neuklassizismus mit seinem schlichten Formenkanon.
Sibylle Einholz
Aus dem Mitgliederkreis
Ehrensenatorenwürde für Frau Dr. Ursula Besser
Der Akademische Senat der Technischen Fachhochschule Berlin hat zum ersten Mal in der Geschichte
dieser Hochschule die Würde einer Ehrensenatorin an Frau Dr. Ursula Besser verliehen. Frau Dr. Besser,
langjährige Vorsitzende des Wissenschaftsausschusses im Abgeordnetenhaus von Berlin, erhielt diese
hohe Auszeichnung für ihr großes Engagement für die Fachhochschulen und besonders die T F H Berlin.
Auch von dieser Stelle gehen Frau Dr. U. Besser noch einmal herzliche Glückwünsche ins Haus.
SchB.
Buchbesprechungen
Klaus-Rainer Woche: „Vom Wecken bis zum Zapfenstreich" - Vier Jahrhunderte Garnison Berlin. Vowinckel
Verlag, Berg am See, 1986, 318 Seiten, 24 Bildseiten, 39,80 DM.
Garnison: Lt. Lexikon der Ort, in dem ständig eine militärische Truppe untergebracht ist. So kann sich
auch Berlin als einen solchen Ort für die Hälfte seiner 750jährigen Geschichte betrachten. Was allerdings
man heute unter Garnison versteht, einen Standort mit Kasernen und anderen militärischen Anlaufstellen,
gab es noch nicht zur Zeit des Großen Kurfürsten. Garnison hieß im 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts
Einquartierung, Unterkunft aller Soldaten in Bürgerhäusern. So kann man sich die Soldaten als eine
damalige Belastung der Berliner vorstellen, denn nach dem Kriegsartikel von 1656 stand es den Soldaten
zu, „sein ehelich Weib bei sich zu haben". Erst ab 1767 entstanden mehrere Kasernenbauten für die
verschiedenen in Berlin garnisonierten Regimenter. Bauten dieser Art sind in der Innenstadt, anderen
Zwecken zugeführt, noch heute anzutreffen in der Friesenstraße, Mehringdamm, Werner-Voß-Damm
und Rathenqwer Straße, um nur einige zu nennen. Andere sind wieder ihrer eigentlichen Aufgabe
zugedacht, ob zu Recht oder zu Unrecht, sei dahingestellt. Nun, die Kasernen sind nicht die einzigen
Erinnerungen dieses Buches, das Soldatenleben und die Aufzeichnungen aller in Berlin stationierten
Regimenter könnten manchen alten Herrn an seine Garnisonszeit erinnern. Selbst der Verein für die
Geschichte Berlins profitiert von der Erwähnung seines 1. Vorsitzenden Louis Schneider als den Herausgeber der Zeitschrift „Der Soldatenfreund".
Woches Buch ist eine umfassende Darstellung des militärischen Schicksals dieser Stadt mit allen Höhen
und Tiefen vom Dreißigjährigen Krieg bis zur „geteilten Garnison" dieser Tage.
Bei der Entfernung vom Autorenwohnort und Verlagsort möchten wir die kleinen Unebenheiten von
Setzfehlern entschuldigen, und denken, daß in einer 2. Auflage auch die Orte Hohenzieritz und Neudeck in
die richtige Provinz verlegt werden.
Bei Umfang und Fülle des Materials, rechtzeitig zum Jubiläumsjahr erschienen, wollen wir dem Buch eine
weite Verbreitung wünschen.
K. Grave
31
Pierre-Paul Sagave: „Berlin und Frankreich 1685 - 1871". 281 Seiten, zeitgenöss. Abb. und eine Zeittafel,
Literaturverzeichnis, Berlin 1980 (Haude & Spener).
Vf. verfolgt die Einwirkung französischen Geistes auf das Preußische, wie es sich besonders durch Geist
und Schicksal Berlins entwickelt hat und schließlich auf die Reichspolitik einwirkte. Seine Aufnahme wird
in mehrere Hauptkomplexe gefaßt: Integration und Assimilationskraft der Hugenotten, die bildende
Kraft der hugenottischen Prinzenerzieher auf die Thronfolger des 18. und 19. Jahrhunderts, der Höhepunkt der von Frankreich ausgehenden Aufklärung in Herrschergestalt und Persönlichkeit Friedrichs des
Großen, der Umschlag positiver Einschätzung durch die Französische Revolution und die Siege
Napoleons über Preußen, Franzosenbewunderung und -gegnerschaft zwischen Vormärz und 48er Revolution, schließlich die sich zuspitzende Rivalisierung durch die Person Napoleons III. - Vf. betont zwar, er
habe keine „durchgehende Berlin-Geschichte" schreiben wollen; ungewollt ist es aber doch eine geworden,
doch hat er an diesen historischen Höhepunkten die Berlinische Geistesart auf die Warte europäischer
Geschichtswirksamkeit gehoben, die nach 1871 schließlich tragische Folgen hatte.
Vieles uns von der Durchdringungskraft der Hugenotten Bekannte wird nochmals gestrafft und plastisch
zugleich in den Entwicklungsgang eingebunden; relevant erscheint dabei v. a. das Einsickern der französischen Elite in Staatsverwaltung und Heer, gefördert vom reformierten Hohenzollernhaus, das - wie die
Zuwanderer selbst - von „rational-asketischem Berufsethos" (Max Weber) beseelt war. So verweist Vf. zu
Recht auf die hugenottischen Lehrer an der preußischen Ritterakademie; ihre französisch gefärbte
Staatsräson trieb die absolutistische Zentralisierung Brandenburg-Preußens voran. - Besonders gut lesbar
sind - wie erwähnt - die Kapitel über die Prinzenerzieher Dohna, Rebeur, Duhan, Beguelin, Moulines und
Ancillon, deren pädagogische Vorbilder französische Fürstenspiegel waren. Die schillernde
Ausstrahlungskraft Friedrichs des Großen wird von hier aus auf wenige, immer wiederkehrende Grundantriebe gebracht wie Räson (als Staatsräson) und Gloire. Die Katte-Tragödie wird nochmals ins Licht
gerückt. Prof. Sagave interpretiert den Seelenkampf des begnadigten Kronprinzen: Das persönliche
Christentum seines Vaters wird zunächst als feindliches Prinzip erlebt; in mühevollem Ringen wird es
geläutert in ein vernünftig konzipiertes Weltbild übergeführt, das er selbst erdenkt: „Der aufgeklärte
Herrscher als Verkörperung der Vernunft, die der Weltordnung vorsteht" (S. 70). In dieses Ideal nimmt er
auch den Tugendbegriff Marc Aureis hinein, später eignet er sich die Voltairesche Geschichtsauffassung
an. Von hier gehen Impulse aus, die Akademie der Wissenschaften zu prägen und ihr Vorstellungen
einzupflanzen, die geeignet waren, die moderne Natur des Menschen zu erfassen. Aus diesen Wertbegriffen
leitete Friedrich seine persönlichen Maximen der Herrschertugenden ab. Vf. nennt sie menschlich und
erkennt in ihnen die durch Alterserfahrungen sublimierte Ruhmsucht der Gloire, die Friedrich nie
beschönigt hat. - Von der Räson ist auch Friedrichs ästhetischer Geschmack geprägt, kann er als Bauherr
gewürdigt werden. - Mirabeau, den Deutschen im allgemeinen nur in seiner Rolle bei den Revolutionsgeschehnissen von 1789 bekannt, wird vom Vf. umfassender geschildert: er erzählt von seinem Aufenthalt
und seiner Wirksamkeit am preußischen Hof Friedrichs des Großen als Träger eines französischen
Geheimauftrages. Aus Mirabeaus Berichten entsteht ein Bild über die Zustände am Hof, als der Niedergang Preußens sich schon insgeheim abzeichnete. Ähnliches gilt für den Aufenthalt des Abbe Sieyes in
Berlin.
Die Jahrhundertwende zum 19. Jahrhundert mit ihren starken geistigen Gegensätzen betrachtet Vf. au c h
aus dem Blickwinkel der Presse, wobei er die Vossische und die Haude & Spenersche Zeitung besonders
heranzieht, wenn es darum geht, Zustimmung oder Ablehnung des Bürgertums zur Persönlichkeit
Napoleons abzulesen. Der Zwiespalt ist identisch mit dem zwischen dem herrschenden Adel und dem
liberalen Bürgertum. Die Presse bezeugt, daß mit Friedrichs Tod die Vorherrschaft der französischen
Sprache bei den Gebildeten zu schwinden beginnt; an der Akademie ist bereits eine „Germanisierung" zu
beobachten.
Der Kampf zwischen Revolution und Reaktion nimmt in Berlin einen fast parallelen Verlauf mit dem in
Paris, auf das sich die freiheitlichen Erwartungen richteten. Vieles Umstrittene läßt sich aus Friedrich
Wilhelms IV. Frankophobie verstehen, die die umstürzlerischen Ereignisse der Märztage in Berlin
gleichsetzte mit den Geschehnissen um die königliche Familie in Frankreich 1793.
Das letzte Kapitel gilt der Spiegelung des zweiten französischen Kaiserreiches in Berlin bis zum Kriegsausbruch von 1870. Napoleon III. wird auch vom Bürgertum hier als Ursupatorund Kriegstreiber angesehen;
sein Verhalten läßt die alten Befürchtungen wieder aufkommen, die man Napoleon I. entgegengebracht
hatte, und so glättete sich für gewisse Jahr die innenpolitische Spannung in Preußen.
Die vergleichende Gegenüberstellung der Stadtplanung verdeutlicht, wie die Modernisierung in Berlin
nach Pariser Muster erfolgte. Haussmanns Straßendurchbrüche für Ringboulevards, der Abbruch der
Akzisemauer und die Anlage der Radialstraßen und Plätze ist auf den Berliner Bebauungsplan übertragen
32
worden; gleicherweise ergab sich auch eine „soziale Segregation" in einen proletarischen Osten und einen
großbürgerlichen Westen. Auch andere kulturgeschichtliche Streiflichter sind anzumerken - wie z. B. der
friedliche Wettstreit auf der Pariser Weltausstellung von 1867 oder die Wirksamkeit des Hugenottenerben
Fontane als Kriegskorrespondent. Er erscheint als unbestechlicher und originärer Beobachter, der trotz
angeborener französischer Art als toleranter und Preuße sich erweist. Auch er sieht Frankreichs Niedergang sich abzeichnen. Und so charakterisiert Sagave die 60er Jahre schon als „Frankreichs Verfall". Der
Krieg ist vorweggenommen und damit der sich entwickelnde Nationalismus, in dem sich beide Staaten als
Erbfeinde zu sehen beginnen.
„In zwei Jahrhunderten, seit dem Widerruf des Edikts von Nantes bis zur Fernwirkung der Pariser
Kommune, hat Berlin, ,Licht für die Welt', seinen Brennstoff. . . sehr häufig aus Frankreich bezogen.
Doch der Krieg von 1870/71 führte zwischen beiden Nationen eine Epoche der Zwietracht herauf, die erst
in unserer Zeit überwunden worden ist."
In der Bündigkeit der Stoffbewältigung und der Treffsicherheit der Formulierung wird man das Buch als
ein Standardwerk bezeichnen müssen.
Christiane Knop
Günter Wollschlaeger: „Chronik Tempelhof. Teil I: Das Tempelhofer Feld." Reihe Vorabdruck Nr. 1.
97 Seiten, erschienen bei Wort & Bild Specials/Hans Peter Heinicke, Berlin 1987.
Günter Wollschlaeger, der stellvertretende Vorsitzende unseres Vereins, hat die Reihe der Stadtteilchroniken mit „Tempelhof fortgesetzt. In der dreiteilig konzipierten Anlage ist zunächst als Vorabdruck
die Geschichte des Tempelhofer Feldes erschienen. Vf. schildert es als Feldflur des mittelalterlichen
Ordenshofes und Dorfes, die 1351 erstmals beurkundet wurde. Wie sie ihr Exponiertsein als städtisches
Vorfeld Berlins teils vorteilhaft, teils als leidvolles Schicksal erlebte, macht den Inhalt der Erzählung aus.
Das Gesetz, nach dem es angetreten, nämlich Zankapfel und strategischer Punkt innerhalb städtischer
oder landesherrlicher Machtkämpfe zu sein, bekundet sich auch in den späteren Ereignissen. (Berlin
konnte vom Tempelhofer Berg aus beschossen werden.) Es war Schicksalsort bis in die Konflikte des
kalten Krieges hinein.
Vf. sucht die Mächte auf, die abwechselnd das „historische Ethos" - wie er es nennt - und die bürgerliche,
ja auch frühdemokratische Popularität zur Ansicht bringen. Das ist nicht immer bequem und birgt die
Gefahr der Mißverständnisse mit sich, da das Tempelhofer Feld auch Schauplatz militärischer und
nationaler Schauen und damit herrscherlicher Machtdemonstration war. - Er schlägt den Bogen von der
Pestzeit im 17. Jahrhundert über das Jahr 1631, als Gustav Adolf seinen kurfürstlichen Schwager Georg
Wilhelm unter Druck setzte, sich auf seine Seite zu schlagen, über die ein Jahrhundert später einsetzenden
Militärschauen des Soldatenkönigs, über das Jahr 1760, das Jahr der Russenbesetzung Berlins, bis zu den
Schlachten von Großbeeren, Dennewitz und Hagelberg, die in seinem militärischen Vorfeld sich
ereigneten. Im 18. und 19. Jahrhundert entstanden Gebäude und Institutionen, die heute als typisch den
Bezirk Kreuzberg ausfüllen, einschließlich des islamischen Friedhofs, der Militärfriedhöfe und Kasernen,
Betriebe, Gast- und Vergnügungsstätten und des Flughafens. Auch der Kreuzberger Weinkultur wird
gedacht. Der Schauplatz der Hasenheide mit den patriotischen Bestrebungen Jahns und Friesens wird in
Genreszenen lebendig gemacht, ebenso wie die Lazarettplätze in den Befreiungsschlachten von Großbeeren und Dennewitz, von denen schon der „alte Heim" in seinen Erinnerungen berichtete. Ferner
schildert Vf. die Aushebung von Massengräbern für Freund und Feind und die Anlage der Militärfriedhöfe; er berichtet aber auch von den Gartenlokalen, Vergnügungsstätten der Berliner, und den
Brauereien. Er verschweigt das Unbehagen darüber nicht, wie das Tempelhofer Feld zwischen Volkstümlichkeit und preußischer Machtrepräsentation geschwankt hat. „Auch das Tempelhofer Feld erlebte stets
beide Seiten ein und derselben Sache." - Schließlich wird der Blick gelenkt auf das Vordringen der Stadt
über das Hallesche und Kottbusser Tor hinaus nach Süden.
Einen breiten Raum nimmt die Entwicklung des Tempelhofer Feldes vom Schauplatz der ersten Flugversuche bis zum „Weltflughafen" ein; sie wird dem Leser in ihrer ganzen Zwiespältigkeit vor Augen
geführt; denn Vf. schildert die Schaulust, das faszinierende Gepränge, in welchem Massenbegeisterung
und Anerkenntnis fliegerischer Hochleistung untrennbar eins waren. Recht stoffreich ersteht vor dem
Leser die sehr schnell ausgreifende Entwicklung zur technischen Hochblüte des Flugwesens, zu sportlich
höchster Könnerschaft, wie sie das Engagement von Wirtschaft und Gesellschaft bei der neuen Erfindung
auslöste. Wie im Eisenbahnzeitalter liegt dem Neuen seine militärische Verwertbarkeit schon in der
Wurzel eingepflanzt. Eindeutig schildert und benennt er das Doppelbödige, das dem zivilisatorischen,
ökonomischen und propagandistischen Hochstand innewohnte, der den Nationalsozialisten Anlaß zu
seiner Pervertierung gab. Er zeigt die Nahtstelle auf, soweit sie erkennbar ist, und zwar durch den
33
Kunstgriff der Gegenüberstellung mancher Phänomene. Das Tragische wird sichtbar: Die Geltung
fliegerischen Könnens, sein Wagemut wie seine Zuverlässigkeit, seine Ritterlichkeit und der Stolz fast
göttergleichen Menschentums im Fliegen sind hervorgegangen aus der militärischen Schulung und Übung
im Ersten Weltkrieg. Danach war die Entwicklung des Luftverkehrs die Herausforderung in der
krisenhaften Zeit der Weimarer Republik; sie ergriff freudig die neuen Möglichkeiten. Protektion und
Anwesenheit der höchsten Vertreter der Republik, aber auch der sogenannten guten Gesellschaft sowie
der des Auslands haben einen friedlichen Wettstreit erwarten lassen. Deutsche und amerikanische
Publikumslieblinge unter den Piloten wurden gleichermaßen auf dem Tempelhofer Feld bejubelt wie in
Amerika verehrt.
Über Berlins Rolle als Vorreiter des Flugwesens zu sprechen ist nicht möglich, ohne seine Entwicklung zur
Luftwaffe (Görings) zu schildern. Erst durch ihn wurden Gigantomanie, nationales und wirtschaftliches
Konkurrenzdenken an die Stelle sportlicher und technischer Leistung gesetzt; das Ritterliche schwand
zusehends und das Teuflische wurde klar beim Einsatz der „Legion Condor" im Spanischen Bürgerkrieg.
Die Dämonisierung wird auch am Beispiel Udets erkennbar, so wie Zuckmayer seine Gestalt aufgefaßt
hat: die reine Lust am Fliegen machte ihn blind. Einerseits ist das deutsche Flugnetz so vorbildhaft wie nie
wieder ausgebaut worden, andererseits wurde schnell der Schritt zur Entwicklung deutscher Kampfbomber getan. An der kritischen Beurteilung dieser Vorgänge schieden sich die Geister.
Da hiermit die Ursachen oder Mitursachen zur deutschen Niederlage von 1945 aufgezeigt wurden, hat sich
Vf. auf die kurze Erwähnung des Flughafens als Schicksalsort in der Blockade Berlins und zur Zeit der
großen Flüchtlingsströme vor dem Mauerbau beschränken können und dafür den Aufstieg des internationalen Flugverkehrs im Rahmen einer Weltstadt stärker hervorgehoben und die avantgardistische
architektonische Gestaltung der Gebäude geschildert. Sein Zurückfallen in der geteilten Stadt ist um so
schmerzlicher anzusehen.
Im Rahmen des Nachkriegsgeschehens wird die Luftbrücke 1948/49 ausführlich im zweiten Band dargestellt und gewürdigt werden.
Christiane Knop
Gültekin Emre: 300 Jahre Türken an der Spree. Ein vergessenes Kapitel Berliner Kulturgeschichte. Berlin:
Ararat-Verlag 1983.
Das schon vor fünf Jahren erschienene Büchlein soll hier vor allem deshalb noch einmal erwähnt werden,
weil es mit seinem historischen Teil in der Berliner Öffentlichkeit hinsichtlich des Eintreffens der ersten
osmanischen Gesandtschaft in Berlin eine gewisse Verwirrung gestiftet hat. Der Vf. hat mit dieser
Veröffentlichung in unserer Zeit des türkisch-deutschen Zusammenlebens in dieser Stadt den ersten
verdienstvollen Schritt unternommen, türkische Spuren in Berlin zu sichern. Inzwischen sind auch
wissenschaftlich fundierte Arbeiten des Istanbuler Historikers Kemal Beydilli (1984 und 1985) erschienen.
Im Jahre 1986 publizierte Karl Pröhl seine Kieler Dissertation „Die Bedeutung preußischer Politik in den
Phasen der orientalischen Frage".
Der Titel des reichlich illustrierten Bändchens von Gültekin Emre ist nun allerdings etwas unglücklich
gewählt! Schon wesentlich früher sind Türken nach Berlin gekommen. So soll etwa der spätere Kurfürst
Joachim II. bereits 1532 Gefangene nach Berlin gebracht haben, die er bei der Abwehr von Sultan
Süleymans zweitem Angriff auf Wien - es war sein sogenannter Deutschland-Feldzug (Alaman seferi) gemacht hatte. Doch der Vf., der auf die Zeit der Türkenabwehr brandenburgischer Truppen unter der
Fahne des Kaisers und des Königs von Polen und den damit verbundenen Erscheinungen wie Türkensteuer, Türkenglockenläuten und Türkenpredigten nicht eingeht, dachte bei der Wahl des Titels eher an
Gesandtschaften als an Kriegsgefangene. Dabei ist ihm nun insofern ein Fehler unterlaufen, als er die erste
osmanische Gesandtschaft an den Berliner Hof in das Jahr 1701 verlegt. Einmal davon abgesehen, daß die
Vasallen der Osmanen, die Chane der Krimtataren, schon in der Mitte des 17. Jahrhunderts Gesandte zum
Großen Kurfürsten abgefertigt haben, traf die erste osmanische Gesandtschaft unter Ahmed Resmi Efendi
erst 1763 in Berlin ein. Der Vf. stützt sich für seine Behauptung auf einen ungeprüft übernommenen Artikel
eines Dr. C. Brecht über den türkischen Friedhof in Berlin, welcher 1875 in der Zeitschrift „Der Bär" in
Berlin erschienen ist. Dieser Dr. C. Brecht, ein Kanzleirat und Registrator im Justizministerium widmete
sich der Erforschung der Geschichte der Mark Brandenburg, war aber mit dem Studium der OriginalQuellen zur Geschichte des Osmanischen Reiches ebensowenig vertraut wie der Vf.
Einige Anmerkungen seien hier noch gemacht: Auf Seite 5 ist kein „Sultanssiegel" abgebildet, sondern eine
Tughra, der kalligraphisch gestaltete verschlungene Namenszug des jeweils regierenden Sultans.
„Meklubsi" muß natürlich Mektupcu (etwa Staatssekretär) heißen (S.12). Bei der Abbildung auf Seite 16
handelt es sich nicht wie die Unterschrift besagt um „Schreiben türkischer Sultane an preußische Könige" 34
dies ist nur der ständig wiederkehrende Seitentitel der von Gültekin Emre benutzten Veröffentlichung - ,
sondern konkret um ein Schreiben Sultan Ahmeds III. an König Friedrich Wilhelm I. aus dem Jahre 1721.
Die Stärke des Büchleins liegt weniger in den ersten zwei historischen Kapiteln als in den dann folgenden
Abschnitten, welche die türkische Präsenz in Berlin während und nach dem Ersten Weltkrieg in sehr
ansprechender Form dokumentieren. Weiteres bleibt noch zu tun!
Klaus Schwarz
E i n g e g a n g e n e B ü c h e r (Besprechung vorbehalten)
Bernhard Sowinski: Berlin und ich, eine Anthologie. Ferd. Dümmels Verlag, Bonn 1987.
Willy Römer: Vom Pferd zum Auto, Verkehr in Berlin 1903-1932. Dirk Nishen Verlag, Berlin-Kreuzberg
1984.
Günther Schade: Die Berliner Museumsinsel, Zerstörung, Rettung, Wiederaufbau. Henschel-Verlag,
Berlin 1986.
Günter Stahn: Das Nikolaiviertel am Marx-Engels-Forum, Ursprung, Gründungsort und Stadtkern
Berlins. Ein Beitrag zur Stadtentwicklung. VEB-Verlag für Bauwesen, Berlin 1985.
Heinz Wohner: Ich steh' auf Berlin, Berlin und zugenäht. Ein Text von Anna Jonas. Paul List Verlag,
München 1987.
Berlin und die Zukunft Europas. Herausgegeben von Erich G. Pohl. Verlag Bernhard & Graefe, Koblenz
1986.
Winfried Löschburg: Spreegöttin mit Berliner Bär, Historische Miniaturen. Verlag der Nation, Berlin
1987.
Aras Ören: Dazwischen, Gedichte. Dagyeli Verlag, Frankfurt am Main 1987.
Gruß aus Berlin, ein Bummel durch Berlin um 1900 auf 120 Postkarten mit „Onkel Theo und seiner Nichte
Lottchen". Agora Verlag, Berlin.
Klaus Bölling: Die fernen Nachbarn, Erfahrungen in der DDR. Stern-Buch im Verlag Grüner & Jahr AG
& Co., Hamburg 1983.
Märkischer Dichtergarten: „Die Ehre hat mich nie gesucht", Lessing in Berlin. Fischer Taschenbuch
Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1986.
Fritz Rudolf Fries: Alexanders Neue Welten, ein Kolportageroman aus Berlin. Suhrkamp Verlag,
Frankfurt am Main 1983.
Große Politik und Alltagsleben, meine Heimatstadt Berlin 1900-1945, 4 Cassetten. Network MedienCooperative, Hallgartenstraße 69, Frankfurt am Main 60.
Gerda Harms, Christa Preissig, Adolf Richtermeier: Kinder und Jugendliche in der Großstadt. Gedruckt
mit Unterstützung der Freien Universität, Berlin 1985.
Neue Mitglieder im IV. Quartal 1987
Lieselotte Bastian, Oberbibliothekarin a. D.
Margaretenstraße 4 b, 1000 Berlin 45
Günter Bruch, Bundesbahn-Beamter
Homburger Straße 1, 1000 Berlin 33
Telefon 8 2219 47
(Geschäftsstelle)
Achim-Detlef Fritze, Elektroniker
Am Busche 23, 5810 Witten 9
Telefon (0 23 02) 515 20
(Geschäftsstelle)
Maria Hesse, Kauffrau
Schwambzeile 1, 1000 Berlin 13
Telefon 3 45 8313
(Geschäftsstelle)
Renate Hildebrand, Sekretärin
Barbarossastraße 32, 1000 Berlin 30
Telefon 2413 89
(Geschäftsstelle)
Rainer Lübbe, Lehrer
Uhlandstraße 50,1000 Berlin 15
Telefon 8 83 47 27
(Geschäftsstelle)
Heidemarie Pust, Verwaltungsangestellte
Rufacher Weg 8,1000 Berlin 47
Telefon 604 3647
(Geschäftsstelle)
Achmed Schmiede, Übersetzer
Weifenallee 19,1000 Berlin 28
Telefon 4 0612 08
(Langenheld)
Heinz Somnitz, Rentner
Ahornallee 26, 1000 Berlin 41
Telefon 7 9114 83
(Geschäftsstelle)
Dr. Kurt Trumpa, Arzt
Leo-Baeck-Straße 13, 1000 Berlin 37
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Veranstaltungen im I. Quartal 1988
1. Montag, 18. Januar 1988, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Frau Ingeborg und Herrn
Oswald Hensler: Drei Jahrzehnte Bombenentschärfung in Berlin. Bericht über die Tätigkeit
des 1. Leitenden Polizeifeuerwerkers in Berlin Gerhard Räbiger seit 1945. Herr Gerhard
Räbiger ist anwesend. Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg.
2. Montag, den 15. Februar 1988,19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Frau Dr. Sibylle Einholz:
Spaziergang über Ostberliner Friedhöfe. Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg.
3. Mittwoch, den 24. Februar 1988,16.00 Uhr: Vortrag von Herrn Hans-Werner Klünner am
Stadtmodell im Berlin Museum: Berlin im Todesjahr des Großen Kurfürsten. Treffpunkt
um 15.45 Uhr im Foyer des Berlin Museums.
4. Sonntag, den 20. März 1988, 10.00 Uhr: Begehung des Waldfriedhofs Dahlem mit Herrn
Joachim Hans Ueberlein: von Gottfried Benn, Bully Buhlan und Karl Correns zu Karl
Schmidt-Rottluff, Renee Sintenis und Matthias Waiden. Treffpunkt Hüttenweg 47, Eingang.
5. Montag, den 28. März 1988,19.30 Uhr: Vortrag von Herrn Dr. Stefan Hartmann: Fürstenmacht und Ständetum im Herzogtum Preußen während der Regierung des Großen Kurfürsten 1640 bis 1688. Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg.
Vorankündigung
Montag, den 11. April 1988,19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Hans Frost: Wie Berlin zu
seiner Stadt- und Ringbahn kam. Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg.
Bibliothek: Otto-Suhr-Allee 96 (Rathaus), 1000 Berlin 10, Telefon 34 30-22 34. Geöffnet: mittwochs 16.00
bis 19.30 Uhr.
Vorsitzender: Hermann Oxfort, Breite Straße 21, 1000 Berlin 20, Telefon 333 2408.
Geschäftsstelle: bei der Schatzmeisterin.
Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13, 1000 Berlin 65, Telefon 4509-291.
Schatzmeisterin: Frau Ruth Koepke, Temmeweg 38,1000 Berlin 22, Telefon 365 7605.
Konten des Vereins: Postgiroamt Berlin (BLZ 10010010), Kto.-Nr. 433 80-102,1000 Berlin 21;
Berliner Bank AG (BLZ 100 200 00), Kto.-Nr. 03 81801200.
Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865.
Schriftleitung: Günter Wollschlaeger, Kufsteiner Straße 2,1000 Berlin 62; Dr. Christiane Knop, Rüdesheimer Straße 14,1000 Berlin 28. Beiträge sind an die Schriftleiter zu senden.
Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 16 DM
jährlich.
Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn, 1000 Berlin 49.
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.
36
A 1015 FX
MITTEILUNGEN
DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS
GEGRÜNDET 1865
84. Jahrgang
Heft 2
April 1988
n
Der Stüler-Bau der Lützower Kirche um 1855,
nach einem Stich von Franz Hablitschek (nach Rohbock)
Abreißen? Verändern? Bewahren?
Zur Geschichte des Umgangs mit Denkmälern in der Charlottenburger Luisengemeinde
Von Birgit Jochens und Herbert May
Im Dezember 1987 ist die im Innenraum vollkommen umgestaltete evangelische Luisenkirche
in Charlottenburg eingeweiht worden. „Soviel Schinkel wie möglich, soviel Moderne wie nötig"
war das Leitmotiv des mehr als 2 Millionen DM teuren Restaurierungsvorhabens, das von dem
Architekten Jochen Langeheinecke verwirklicht wurde.
Gerade weil dieser Umbau nicht unwesentlich vom Rückgriff auf eine frühere Bautradition
geprägt ist, bietet er Anlaß, diese Maßnahme einmal in einem größeren historischen Zusammenhang als einen Akt im Umgehen einer Gemeinde mit ihren Denkmälern zu betrachten. In
diesem Beitrag soll dies in einer Untersuchung des Verhältnisses der Luisengemeinde vornehmlich zu ihren b e i d e n Kirchen, der Lützower Kirche, heute Kirche „Alt-Lietzow" genannt,
und der Luisenkirche geschehen. Thematisiert werden sollen insbesondere der Abriß und
Neubau der Lützower Kirche in den Jahren 1909 bis 1911 sowie die denkmalpflegerische
Behandlung der beiden Kirchen in der Nachkriegszeit.
In der Auseinandersetzung mit den für diese Bauten wichtigen Phasen in der jüngeren Vergangenheit läßt sich die Vielfältigkeit in den Kunst- und Kulturhaltungen der Gemeinde im
Verlauf ihrer Geschichte aufzeigen, werden Wandlungen in Motivation und Zielsetzungen
beim Umgang mit Denkmälern nachvollziehbar. Nicht immer, so wird sich zeigen lassen,
waren alte Kunstwerke so hoch geschätzt wie heute, wo sich Denkmalpflege einer zuvor
ungeahnten Popularität erfreut. Stets, so wird weiterhin festzustellen sein, war ein gewisses
Prestige nötig, um den Denkmälern die Anerkennung als Zeugnisse der Geschichte und damit
ein denkmalpflegerisches Engagement zu sichern. Und dieses kann von einer Generation zur
anderen ebenso verlorengehen wie aufgebaut werden.
Zur Baugeschichte
Zum besseren Verständnis wird eine knapp umrissene Baugeschichte der beiden Kirchen an
den Anfang gestellt.' Die erste urkundliche Erwähnung der Lützower Kirche findet sich in einer
kurfürstlichen Matrikel von 1541. Erbaut worden ist die Kirche vermutlich im letzten Drittel des
15. Jahrhunderts als Gründung des Kurfürsten Friedrich II. und der Benediktinerinnen von
Spandau. Nach der Zerstörung durch eine Feuersbrunst Mitte des 17. Jahrhunderts wurde die
Kirche wiederhergestellt und im September 1655 eingeweiht.
Bis 1708 war Lützow eine kirchliche Filiale von Wilmersdorf, danach erfolgte die kirchliche
Bindung an die 1705 gegründete Stadt Charlottenburg. Die Lützower Kirche war fortan eine
Nebenkirche der Charlottenburger Parochial- bzw. späteren Luisenkirche.
1848 bis 1850 wurde die Lützower Kirche erneut umgebaut. Baumeister war August Stüler, der
den Bau unter Beibehaltung der bis zum Fenstergesims reichenden mittelalterlichen Umfassungsmauern in neugotischem Stil errichtete. Der Bau erfuhr finanzielle Unterstützung
durch den oft in Charlottenburg weilenden Friedrich Wilhelm IV, der darüber hinaus am
Entwurf beteiligt war.2 1863/64 erfolgte noch ein Anbau zweier Räume an der Nord- und
Südseite. 1909 wurde die Kirche nach einer heftigen Debatte zwischen Kirchengemeinde,
Charlottenburger Magistrat und Provinzial-Konservator abgerissen. Der die Stülerkirche
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ersetzende und 1911 eingeweihte Bau des Architekten Kroger diente von allen Lützower
Kirchen die kürzeste Zeit als Gotteshaus: Nach nur 32 Jahren wurde die Kirche im Zweiten
Weltkrieg schwer beschädigt und Ende der 50er Jahre abgetragen. Der 1961 errichtete zeltartige
Neubau ist somit der fünfte Kirchenbau auf dem ehemaligen Lützower Dorfanger.
Die Luisenkirche hat ihre Ursprünge in der von Baumeister Philipp Gerlach errichteten und
1716 eingeweihten Parochialkirche. Nach Entwürfen von Friedrich Schinkel und auf Initiative
des Charlottenburger Oberpfarrers Dressel wurde 1824 bis 1826 ein neuer Turm errichtet sowie
das Kircheninnere im klassizistischen Stil grundlegend verändert (Abb. 1). Seit der Einweihung
am 11. Juni 1826 führt die Kirche den Namen der Königin Luise. Bis zur Zerstörung der Kirche
im November 1943 erfuhr der Bau nur unwesentliche Veränderungen, zu denen der Anbau
zweier Räume an der Turmseite gehörte. Die in den 50er Jahren vorgenommene Wiederherstellung erfolgte unter Leitung des damaligen Landeskonservators Hinnerk Scheper.
Die Diskussion u m den Abriß der Stüler-Kirche
Die von August Stüler, einem der prominentesten Baumeister Preußens, dem „Architekten des
Königs", errichtete Kirche (s. Titelbild) war ein schlichter Ziegelbau, der mit sehr schlanken,
hohen Giebelflankentürmen und einem Baldachin mit Engel auf dem Giebel der Westseite auf
eine bessere Fernwirkung hin angelegt war, als die alte Dorfkirche sie besessen hatte. Während
Stüler im allgemeinen mehr auf den Stil der Renaissance Bezug nahm, hat er sich bei der
Lützower Kirche, wohl dem Wunsch des Königs folgend, der gotischen Formensprache
bedient. Möglicherweise wollte man auf diese Weise noch etwas vom mittelalterlichen Charakter des Lützower Platzes bewahren, den nicht nur die ehemalige Dorfkirche, sondern auch der
alte Baumbestand des einstigen Kirchhofs schmückte.
Einzigartig im Werk Stülers waren bei der Lützower Kirche Proportionen, wie sie schon die
vom König besonders favorisierten frühchristlichen Basiliken aufgewiesen haben, mit Strebepfeilern und Zinnen der englischen Gotik verbunden worden. Dazu angeregt wurde Stüler
anscheinend durch eine Studienfahrt, die er 1842 nach England unternommen hatte. 3 Wohl
ebenfalls an frühchristlichen Beispielen orientiert, war auch das Innere des Gotteshauses
(Abb. 2) sehr schlicht gestaltet. Den Saal deckte eine hölzerne, buntbemalte Decke; Orgelempore, Kanzel und Gestühl waren aus gestrichenem Eichenholz. Die Wände waren rötlichgrau, die Altarnische, Wandinkrustation imitierend, marmorisiert getüncht und abschließend
mit einem an Kirchen der Spätantike erinnernden blauen Sternengewölbe versehen. Die Kirche
bot rund 230 Personen Platz.
Infolge der Bevölkerungsdynamik im Charlottenburg der Gründerzeit - die Bevölkerung stieg
von 25 847 im Jahre 1875 auf 239 547 im Jahre 1905 an4 - nahm auch die Zahl der evangelischen
Gemeindeglieder im entsprechenden Zeitraum dramatisch zu. Im Jahre 1907 gehörten allein
zur Luisengemeinde 63 000 Seelen.5 Pläne, die alte Stülersche Kirche durch einen größeren
Neubau zu ersetzen, scheint es schon vor 1907 gegeben zu haben. Im Archiv der Luisengemeinde sind entsprechende Bauentwürfe des Architekten Otto March enthalten, die dieser
bereits 1902 gezeichnet hat. Im Spätsommer 1907 wurde das Neubauprojekt dann konkret. Im
September dieses Jahres beantragten die kirchlichen Körperschaften der Luisengemeinde beim
Konsistorium die Genehmigung des Abrisses der alten Kirche und die Errichtung eines
Neubaues.6
39
Die Positionen
Der Antrag der Luisengemeinde orientierte sich begreiflicherweise an den oben bezifferten
Zuwachsraten der Gemeindeglieder in der Parochie: Argumentiert wurde in erster Linie mit
dem Bedürfnis einer größeren Kirche infolge der gestiegenen Seelenzahlen. Mit dem zweiten
Argument verließ die Gemeinde den Boden des Faktischen und thematisierte Ästhetisches: Der
Stülerbau passe nicht mehr in die bauliche Umgebung des Platzes „Am Lützow"! In dem
Schlußwort, das Oberpfarrer Riemann aus Anlaß der Schließung der Lützower Kirche im
November 1909 gehalten hat, wurde dieses Argument noch einmal deutlich ausgeführt:
„... Welche riesigen Fortschritte hat unsere Residenzstadt Charlottenburg in den letzten
Jahrzehnten in ihrer äußeren Entwicklung gemacht! Vor vierzig Jahren noch die anmutige Gartenstadt vor den Toren Berlins mit fast ländlichem Charakter und heute, mit
der Reichshauptstadt zusammengewachsen, ganz Großstadtgepräge tragend! Unser
Platz ,Am Lützow', auf welchem dieses Kirchlein steht, ist dafür bezeichnend. Was war
er einst und was ist er jetzt?! Sollte da die kirchliche Entwicklung nun ganz und gar
zurückbleiben dürfen?
Nicht wahr, wo die kleinen Häuslein einst hier ringsherum mit ihren wenigen Bewohnern
den stattlichen Gebäuden mit ihrer so viel größeren Seelenzahl jetzt haben weichen
müssen, da muß nun auch das kleine Lützowkirchlein durch ein größeres Gotteshaus
ersetzt werden."7
Riemann stützte seine Einschätzung nach eigenem Bekunden auf das Urteil des Architekten
Paul Schultze-Naumburg, der in seinen „Kulturarbeiten" die Lützower Kirche als einen
Kirchbau beschrieb, „der planlos inmitten eines großen Platzes erbaut, dort sehr unglücklich
dasteht. Häuser und Kirche sind innerlich und äußerlich vollkommen zusammenhanglos
zueinander gefügt."8
Die Berufung auf Schultze-Naumburg macht Riemanns Argument nicht stärker, geriet
Schultze-Naumburg doch einiges durcheinander, da er die Geschichte des Platzes „Am
Lützow" offensichtlich nicht kannte. Der Standort der Kirche auf dem ehemaligen Dorfanger
war keineswegs planlos gewählt, er hatte historische Tradition, da die Vorgängerbauten
ebenfalls dort standen.
Was schließlich den Denkmalwert der Lützower Kirche betrifft, sprach Riemann stellvertretend für den Gemeindekirchenrat (GKR) diesen der Stülerschen Kirche ab: Die Kirche habe als
Erneuerungsbau aus den Jahren 1849/50 keinen Anspruch, als altes Baudenkmal zu gelten. Die
Ehrfurcht vor den „verstümmelten Resten der früheren Lützower Dorfkirche" - gemeint sind
die mittelalterlichen Teile der Umfassungsmauern der Kirche - erschien Riemann nicht
plausibel. Allenfalls könne man kulturhistorisches Interesse geltend machen lassen, da der
Stülerbau ein Beispiel dafür sei, „in wie äußerlicher Weise der romantische Sinn der Zeit seiner
Entstehung durch Übernahme gothisierender Formen Bauwerken kirchlichen Charakter verleihen zu können glaubte".9 Soweit Motivation und Argumentation der Luisengemeinde, die
damit den Abriß als gerechtfertigt ansah.
Betrachten wir noch ein wenig genauer das Hauptargument der Gemeinde, die Kirche sei zu
klein geworden für die wachsende Gemeinde. Oberpfarrer Riemann gab an, daß zu seinen
Gottesdiensten in der Lützower Kirche häufig 400 Menschen kämen, die nur unter Zuhilfenahme zusätzlicher Stühle Platz fänden. Der Neubau wurde schließlich auf 900 bis 1000 Plätze
angelegt, d. h. für mehr als doppelt so viele Personen, wie von Riemann angegeben. Wenn er
40
Abb. 1: Der Schinkel-Bau der Luisenkirche, Ansicht um 1900
nun selbst noch davon ausging, daß die Seelenzahl der Luisengemeinde nach Errichtung der
Nordgemeinde entsprechend sinken und auch in Zukunft nicht mehr steigen würde, da die
Bebauung im Gemeindebezirk ausgereizt war, dann gerät dieses auf den ersten Blick plausibel
erscheinende sogenannte pragmatische Argument etwas ins Wanken.10
Die Denkmalwürdigkeit der alten Lützower Kirche hatte der Provinzial-Konservator der
Provinz Brandenburg, der Königliche Baurat Büttner, in einem Gutachten festgestellt. In dem
Gutachten vom 3. Dezember 1907 heißt es:
„Die Kirche besitzt zweifellos Denkmal wert. Begründet ist dieser einmal in der geschichtlichen Bedeutung, die das Bauwerk als ursprüngliche Dorfkirche in dem Dorfe Lützow
hat, und dann durch den künstlerischen Wert des Gebäudes, das auf mittelalterlichem
Kern in der romantischen Auffassung der Mitte des vorigen Jahrhunderts erbaut ist und
in dieser Gestalt auf dem Platz in seiner jetzigen Form ein ansprechendes Bild gibt. Im
Interesse der Denkmalpflege ist daher zu wünschen, daß die Kirche erhalten bleibt.""
Zu dem gleichen Ergebnis kam Baurat Julius Kohte, ein Mann, der sich um die Denkmalpflege
in Berlin sehr verdient gemacht hat.12 Kohte intervenierte mehrfach zugunsten der Erhaltung
der Stülerschen Kirche, am deutlichsten in Artikeln im „Zentralblatt der Bauverwaltung"
(1907), in denen er wie der Provinzial-Konservator die mittelalterliche Bausubstanz und auch
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die künstlerische Leistung Stülers als Argumente für die Bewahrung des Kirchbaus ins Felde
führt. Für die Erhaltung sprachen sich ähnlich eindeutig Büttners Nachfolger im Amt des
Provinzial-Konservators, Lutsch, sowie der Magistrat von Charlottenburg aus.13
Schließlich gab es auch innerhalb der Luisengemeinde eine wachsende Zahl von Abrißgegnern.
Während viele alte Charlottenburger Bürger die Bindung an „ihre" alte Lützower Kirche
betonten, befürchteten andere, daß mit der Errichtung einer großen Kirche das Konsistorium
seinen schon länger gehegten Plan eher verwirklichen könne, um die Lützower Kirche eine neue
Gemeinde zu firmieren. „Man wollte auf keinen Fall das Band zerrissen sehen, das Luisen und
Lützow seit 200 Jahren miteinander verknüpfte."14 Das Weiterbestehen dieser Bindung wurde
schließlich von Seiten der Gemeindeführung gegenüber dem Konsistorium eine Vorbedingung
dafür, daß die Luisengemeinde mit eigenen Mitteln einen Kirchenneubau ausführe.
Zur Grundsteinlegung des Neubaus im Mai 1910 lud der Gemeindekirchenrat der Luisengemeinde nur sich selbst mit seinen Angehörigen ein und ließ die wegen des Abrisses teilweise
aufgebrachte Gemeindebasis „außen vor". Ein recht unfreundliches Verfahren, das auf Antrag
schließlich vom Konsistorium genehmigt worden war.
Die Alternativen
Die Abrißgegner waren bemüht, die „Entweder-Oder"-Position aufzulösen, indem sie die
praktischen kirchlichen Bedürfnisse in dieser Sache durchaus anerkannten. Sie präsentierten
gleichzeitig mit ihrem Plädoyer Vorschläge, die das Bedürfnis der Gemeinde nach einem
größeren Gottesdienstraum und die Erhaltung des Stülerschen Baus zu verbinden suchten. Der
Charlottenburger Magistrat schlug vor, die Stülersche Kirche an ihrem alten Platz zu belassen
und den Neubau auf dem Gelände des seit 1884 geschlossenen Luisenfriedhofs I (Guerickestraße), eingereiht in die Häuserfront, zu errichten.
Der Provinzial-Konservator Büttner und auch Julius Kohte wollten die neue Kirche auf dem
westlichen Teil des Platzes „Am Lützow" errichtet sehen, dort, wo sich heute noch das an die
Gefallenen der Kriege von 1864,1866 und 1870/71 erinnernde Löwendenkmal befindet. Die
Stüler-Kirche hätte auf diese Weise als Konfirmandensaal weiterdienen können. Dieser Vorschlag erinnert an Beispiele in Wilmersdorf und Wedding, wo wilhelminische Großkirchen in
unmittelbarer Nachbarschaft älterer Kirchen erbaut worden sind (Wilhelmsaue, Leopoldplatz).
Julius Kohte brachte noch eine weitere Variante in die Diskussion ein: Jenseits der Spree, im
neugewachsenen Charlottenburger Stadtgebiet um die Kaiserin-Augusta-Allee, sollte eine neue
Gemeinde entstehen, und dort sei demzufolge auch die neue Kirche zu errichten. Dieser
Vorschlag hatte auch Befürworter in der Gemeinde.
Die interessanteste Alternative stammte von Provinzial-Konservator Lutsch: Er wollte die
mittelalterliche Bausubstanz wie auch den Stülerschen Westgiebel mit den beiden Türmen in
den Neubau integrieren. Konkret stellte er sich vor, anstelle des Chorpolygons und der
seitlichen Anbauten einen quergelegten Erweiterungsbau zu errichten, gegebenenfalls auch
unter kostenintensiver Verschiebung der zu erhaltenden Bauteile nach Westen, sollte durch den
Neubau der östliche Straßenzug des Platzes „Am Lützow" zu sehr beengt werden.
42
Abb. 2: Das Innere der Stüler-Kirche, Aufnahme kurz vor dem Abriß im Jahre 1909
Das Procedere
Die Diskussion um Erhaltung oder Abriß der alten Lützower Kirche wurde mit Engagement
und Vehemenz auch öffentlich geführt.15 Die Vorschläge der Anhänger des Stüler-Baus konnte
die Gemeindeführung aus in Teilen durchaus berechtigten Gründen ablehnen: Was den
Vorschlag des Neubaus auf dem westlichen Teil des Platzes „Am Lützow" anbetraf, hatte man
das Veto des Magistrats, der dies aus stadtbildpflegerischen Gründen ablehnte. Ein Neubau auf
Friedhofsgelände hätte langwierige Verhandlungen mit den Erbbegräbnisstelleninhabern zur
Folge gehabt, da trotz der offiziellen Schließung des Friedhofs Nutzungsfristen einzuhalten
waren. Die Errichtung einer neuen Gemeinde jenseits der Spree wollte der GKR zum damaligen Zeitpunkt noch nicht. Lediglich mit dem Vorschlag des neu im Amt befindlichen ProvizialKonservators, die alte Bausubstanz in den Neubau zu integrieren, tat sich die Gemeinde
schwer. Oberpfarrer Riemann bat den mit ihm bekannten Architekten Otto March um
Stellungnahme zum Vorschlag von Lutsch. March hielt die von Lutsch lediglich im Bereich des
Möglichen angesiedelte Westverschiebung der alten Bauteile wegen der örtlichen Bedingungen
für unabdingbar. Die Kosten dieser Verschiebung würden in keinem Fall dem Altertumswert
der zu erhaltenden Bauteile entsprechen.
Bemerkenswert ist hierbei die kritische Einstellung Marchs gegenüber der Stülerschen Bauschöpfung. Obwohl in seinen jüngeren Jahren nicht ohne Sympathie für an gotischen Stilformen ausgerichtete Neuschöpfungen16, sprach er dem Bauwerk Stülers jede Bedeutung in
„kunstkonservatorischem Sinne" ab, da dieser es versäumt habe, sich mit seiner Kirche dem
schlichten dörflichen Charakter des ursprünglichen Bauwerks anzupassen17; ein Einwand, der,
§3
selbst wenn ihm Stüler einst stärker, als er es getan zu haben scheint, Folge geleistet hätte,
zumindest nicht die kirchlichen Körperschaften der Luisengemeinde von ihrem Plädoyer für
einen Abriß abgebracht hätte, schien ihnen ihre alte Kirche doch gerade nicht repräsentativ
genug. Daß March statt dessen die Errichtung eines „zweckentsprechenden, würdigen Neubaus" forderte, entsprach ganz seinem später in verschiedenen Abhandlungen geäußerten
Absichten18, mit denen er sich immer wieder als Wegbereiter eines „von den Stilen befreiten",
von reiner „Zweckmäßigkeit" bestimmten Kirchenbaus erwiesen hat. Es bleibt Spekulation, ob
letztlich nicht auch die Hoffnung, den Auftrag zum Neubau zu erhalten, Marchs Gutachten
beeinflußt hat. Immerhin hatte er ja bereits 1902 entsprechende Entwürfe angefertigt, und
Oberpfarrer Riemann brachte schon vor dem offiziellen Bauwettbewerb Otto March als
möglichen Architekten für den Kirchenneubau mit ins Spiel.19
Im weiteren Verlauf der festgefahrenen Diskussion rettete sich die Kirche mit einer Eingabe an
ihren Landesbischof Wilhelm II. Er sollte über den Abriß der Kirche entscheiden, war sie doch
bekanntlich mit Unterstützung Friedrich Wilhelms IV. errichtet worden. Mit keinem Wort
wurde in dem Schreiben des evangelischen Oberkirchenrats vom 18. September 1908 an den
Kaiser die Denkmalpflege angeschnitten, vielmehr wurde ausschließlich pragmatisch argumentiert, d. h. die Platznot der Gemeinde als Grund für den notwendigen Abriß und Neubau
angeführt.
Wilhelm II. gab Ende Oktober 1908 sein Plazet zum Abbruch der alten Lützower Kirche und
entsprach damit dem schon vor der Jahrhundertwende deutlich gewordenen Geschmackswandel in der Beurteilung der von Schinkel und seinen Nachfolgern geprägten Baukunst, deren
eng an historische Stilformen ausgerichtete Gestaltung als Mangel an Schöpferkraft bewertet
wurde.20 Mit der Entscheidung des Kaisers fand die Diskussion um Erhalt oder Abriß des
Baudenkmals ein abruptes Ende.21
Julius Kohte blieb noch die Anregung überlassen, vor dem Abriß Fotos vom Äußeren und
Inneren der Kirche zu machen. Seiner Initiative verdanken wir somit die einzigen bekannten
Innenaufnahmen von der alten Kirche.
Der Neubau
Im Mai 1910 wurde mit dem Neubau der Kirche nach den Plänen des Königlichen Baurats
Kroger begonnen (Abb. 3 und 4). Kroger hatte den Bauwettbewerb gewonnen, an dem neben
ihm die Architekten March, Jürgensen/Bachmann sowie Gause/Leibniz teilgenommen
hatten.22
Vorgesehen war ein in barockisierenden Formen gehaltener Zentralbau, der wesentlich aufwandvoller als das frühere Gotteshaus war. Er sollte einen hohen, massigen Turm über der
rechteckigen Vorhalle und einen Kirchenraum mit geschwungenen Wänden an den Längsseiten und der Chorpartie erhalten. Aufwendiger geplant war auch das weißgold bemalte
Innere mit einem barockisierenden Hochaltar in der Mitte der etwas erhöhten Chorpartie,
geschwungenen Emporen und einer in Rabitz gewölbten, auf flachen Bögen ruhenden Decke
auch über Emporen und Altar.
Bereits die Entwürfe Krögers waren zeitgenössischer Kritik ausgesetzt. Der mittlerweile zum
Leiter des kirchlichen Bauamtes avancierte Königliche Baurat Büttner stufte in einem Gutachten den Entwurf gar als „noch nicht geeignet zur Ausführung" ein.23 Für Büttner war die
Innen- wie Außenarchitektur überfrachtet und noch nicht ausgereift. Seine Kritik richtete sich
vor allem gegen die Ausbauchung der beiden Seitenwände, die weder ein Vorteil für die
44
Abb. 3: Der Kröger-Bau,
nach einem Aquarell
von J. Kroger
von 1908
Raumwirkung noch für die Außenarchitektur seien. Büttner schlug deshalb vor, die Wände
gerade durchzuführen. Ferner bemängelte er die Funktionslosigkeit des oberen Umgangs
hinter dem Altar im Inneren der Kirche, die störende Wirkung des Dachreiters auf der Vierung
sowie die kleinen Kupferdächer auf den Eckbauten. Julius Kohte vertrat die Meinung, daß der
Krögersche Entwurf an künstlerischem Wert das von Stüler geschaffene Bild nicht erreicht
habe.24 Der somit bereits im Vorfeld kritisierte Entwurf wurde schließlich ohne Anderungsvorschläge von Wilhelm II. im August 1909 genehmigt.25 Der Kaiser hatte seine Abrißgenehmigung an das Verlangen gekoppelt, den Neubauentwurf vor dessen Ausführung sehen zu
wollen. Nach nur einjähriger Bauzeit wurde der Bau mit einem Platzangebot für maximal 1000
Personen am 30. Mai 1911 eingeweiht.
Die Kirchen in der Nachkriegszeit
Eine wiederum andere Haltung zu ihren historischen Monumenten zeigte die Gemeinde nach
dem Zweiten Weltkrieg. Wie vielfältig, ja divergent diese angelegt war, läßt sich in der
Gegenüberstellung vom Umgang mit ihren Kirchen und den historischen Monumenten auf
ihren Friedhöfen verfolgen.
Was den wichtigsten Besitz, die Gotteshäuser, betrifft, so entschied sich die Gemeinde trotz des
erheblichen Widerstandes von Magistrat und Landeskonservator für den Wiederaufbau der
fast völlig zerstörten Luisenkirche. Die weit weniger beschädigte Lützower Kirche ließ sie
dagegen ohne großes Zögern abreißen und durch einen Neubau ersetzen. Beide Gotteshäuser
hatten in der Nacht des 3. September 1943 schwere Verheerungen durch einen Großangriff
alliierter Flieger erfahren.
45
Die Luisenkirche (Abb. 5) brannte dabei kurz nach Mitternacht zum größten Teil nieder.26
Gegen den durch den Abwurf von Phosphorkanistern ausgelösten, rasch um sich greifenden
Brand konnte weder die kostspielige Imprägnierung etwas ausrichten, mit der die Gemeinde im
Jahr zuvor das Dachgestühl hatte schwer entflammbar machen lassen, noch halfen die Bemühungen eines kleinen Trupps von zwei Luftschutzleuten, dem Glöckner und einem Soldaten,
der bis zum völlig verspäteten Eintreffen der durch die Ereignisse der Nacht gänzlich überlasteten Feuerwehr mit Feuerspritze, Schaufel und Eimer nur wenig ausrichten konnte.
Schwere Schäden erlitt auch die Lützower Kirche (Abb. 6), als in der gleichen Nacht die ganze
Nordfront des Platzes Alt-Lietzow vom Lüdtgeweg bis zur Röntgenstraße von Brand- und
Sprengbomben schwer getroffen wurde. Mit Hilfe des Pfarrers und einiger Helfer konnte das
im Dachgestühl sich ausbreitende Feuer jedoch schnell eingedämmt werden. Und auch in der
folgenden Nacht wurde ein glühender Balken im Glockenstuhl gelöscht, bevor es zu einem
hellen Brand in der durch die Einlagerung von Möbeln Bombengeschädigter besonders gefährdeten Kirche kommen konnte.
Die sich bis 1950 hinziehende Prüfung der Schäden ergab im Fall der Luisenkirche folgendes
Resultat27: Ohne Bedachung waren nur noch Teile des Turmes und des Mauerwerks vom
Kirchenschiff erhalten. Die Mauern des überdies vollständig ausgebrannten Turmes waren bis
zum Untergurt gerissen, so daß er einzustürzen drohte. Stark gerissen waren auch die Umfassungsmauern des Kirchenschiffes, von denen ohnehin nur noch rund 28 % erhalten waren, und
die Fensterstürze drohten herabzustürzen.
Dagegen waren von der Lützower Kirche nicht nur, wenn auch ebenfalls ausgebrannt, der
Turm, sondern auch das gesamte Mauerwerk des Kirchenschiffes einschließlich der Decken
oberhalb und unterhalb der Glockenstube, über der Eingangshalle und dem Orgelraum
erhalten.28 Vernichtet waren hier sämtliche Dächer, die Rabitzgewölbe, Emporen und die
Innenausstattung.
Obwohl also - so die Stellungnahme des Kirchlichen Bauamtes29 - diese Ruine einen Wiederaufbau „in jeder Weise" gestattete, sogar eher möglich war als die Erhaltung der Mutterkirche,
hat die Gemeinde mit großer Energie nur die Wiedererrichtung der Luisenkirche verfolgt.
Besonders gegen den Magistrat gerichtet, der die vom Einsturz bedrohte Ruine der Luisenkirche vornehmlich als eine Gefahr für die Passanten betrachtete und den gesamten Kirchplatz
dem öffentlichen Verkehr überlassen wollte30, führte die Gemeinde dabei vor allem kulturhistorische Argumente an. Die Luisenkirche, so wurde immer wieder hervorgehoben31, sei
nicht nur als Mutterkirche aller Charlottenburger Kirchen erhaltenswert. Auch sei sie als
„Wahrzeichen" Alt-Charlottenburgs zu betrachten, sei eines der wenigen historischen Gebäude
von Rang, einer der wenigen Schinkel-Bauten, die Charlottenburg nach dem Kriege geblieben
seien.32 Zu verhindern sei deswegen, daß „im Westsektor das Gleiche getan" würde, „was am
Alexanderplatz geschehen" sei.33
Die Gemeinde hat sich in ihrer Haltung auch nicht von den Einwänden des Landeskonservators Professor Scheper und der Kunsthistorikerin Dr. Margarete Kühn korrigieren lassen,
die die Problematik des verständlichen Bestrebens, den Bau zu erhalten, aufgezeigt hatten. Um
nämlich den Wiederaufbau vornehmen zu können, mußten noch einmal weitere Teile der
ohnehin nicht mehr umfangreichen historischen Substanz beseitigt werden. Nur wenig Altes
wäre also - so der Konservator - im Fall der Restaurierung wirklich noch erhalten, und er
plädierte deswegen für einen „zeitentsprechenden Neubau".
Von der kulturhistorischen Bedeutung ihrer Kirche überzeugt hat sich die Gemeinde schließlich an den sicherlich kostspieligeren Weg34 des Wiederaufbaus gemacht.
46
Abb. 4: Innenansicht des Kröger-Baues
Den Auflagen des Magistrats entsprechend35 wurde zunächst einmal das Gelände zur Sicherung der Passanten eingezäunt, der Kirchturm eingerüstet und die schadhaften Fensterstürze
entfernt. In einem weiteren Schritt wurden sodann der Turm instand gesetzt und schließlich das
Umfassungsmauerwerk und ein einfacher Dachstuhl neu errichtet.
Den weiteren Wiederaufbau leitete Hinnerk Scheper. Dabei wurde die äußere Gestalt der
Kirche gegenüber Schinkels Plänen leicht verändert. In einer Reduzierung auf eine klare,
großflächige Formgebung erhielt sie statt der hohen Spitze einen zeltdachförmigen Turm.
Auch wurden die Attiken der vier Kreuzarme und des Turmes nicht wiederhergestellt. Mit dem
heute nicht mehr vorfindbaren warmgelben Putz der Mauern knüpfte man bewußt an barocke
Farbgebungen an. Damit sollte an den Vorgängerbau erinnert werden, der von Schinkel
erneuert worden war. Im Gegensatz zum gleich zweifachen Anknüpfen an die Tradition beim
Außenbau wurde das Innere, von aller Schinkelschen „Zusatzarchitektur" befreit, ganz im
Sinne von Leitgedanken der 50er Jahre gestaltet.36 Mit der Beseitigung der Trennwände aus
dem Ostflügel wurde die Gliederung des Äußeren auch innen klar erlebbar. Ohne weiteren
architektonischen Zierrat ausgestattet, bildeten die von Ludwig Peter Kowalski entworfenen
Fenster und das Kruzifix von Gerhard Schreiter den einzigen Schmuck in dem sonst kahlen,
nüchternen Raum.
Trotz der Unterstützung durch eine öffentliche Sammlung haben diese Maßnahmen offensichtlich die Mittel der Gemeinde weitgehend erschöpft.37 Damit ist auch der Hauptgrund für
die Entscheidung gegen einen Wiederaufbau der Lützower Kirche benannt.
Auch hat der einstmals mit großem Engagement verteidigte Kröger-Bau der Gemeinde wohl
nicht mehr besonders am Herzen gelegen. In keinem der verfügbaren GKR-Protokolle oder
Briefe der Gemeinde an das Konsistorium hat sie sich jemals zum Wert dieses Gotteshauses
geäußert. Anscheinend haben dessen ehemalige „aufwandvolle" und „leblose" Formen38 dem
gewandelten Verständnis von der Funktion und Bedeutung einer Pfarrkirche in der Nachkriegszeit nicht mehr entsprochen.
47
Bemerkenswert ist ferner, daß die Gemeinde lange Zeit auf die Abtretung Lützows/AltLietzows von der Luisengemeinde drängte.39 Um die Lützower Kirche sollte eine eigene und
damit auch finanziell selbständige Gemeinde gebildet werden; eine alte Idee des Konsistoriums,
die bekanntlich aufgrund der Historizität der Bindung des Lützower Gemeindeteils mit der
Luisengemeinde seinerzeit rigoros abgelehnt worden war.
Die Gemeinde wollte also in jedem Fall den Kirchenstandort auf dem alten Lützower Dorfanger erhalten, sie wollte und konnte zum damaligen Zeitpunkt jedoch nicht die finanziellen
Belastungen eines Wiederaufbaus bzw. Neubaus der Kirche tragen, den eine Beibehaltung des
Lützower Gemeindeteils mit sich gebracht hätte.
Das Insistieren auf den evangelischen Kirchenstandort Alt-Lietzow war letztlich kirchenpolitisch begründet. Die Gemeinde fürchtete, daß die katholische Kirche sich um die Lützower
Kirchenruine bemühen könnte, zumal die der Lützower Kirche benachbarte Pfarrkirche Herz
Jesu unter starkem Raummangel litt. Die Luisengemeinde sah in Charlottenburg „einen
Schwerpunkt der katholischen Aktion" und war bestrebt, „der intensiven Arbeit der Katholischen Kirche ein Gegengewicht entgegenzusetzen". Ein Argument übrigens, daß auch beim
Neubau des Gemeindehauses am heutigen Gierkeplatz 1932/33 eine Rolle gespielt hatte.40 Im
Falle der Lützower Kirche war der Kirchenrat der Luisengemeinde der Meinung, daß „zur
Wahrnehmung der evangelischen Anliegen . . . alles daran gesetzt werden muß, die Ruine der
Lietzowkirche für unsere Gottesdienste zu erhalten und wieder benutzbar zu machen.41
Der schließlich doch bei der Luisengemeinde verbleibende Lützower Gemeindeteil erhielt mit
der in klaren kubischen Formen gehaltenen Gesamtanlage der Kirche Alt-Lietzow einen
Neubau, der in der engen räumlichen Verbindung von Kirche und Gemeindehaus eine Intensivierung des Gemeindelebens ermöglicht. Damit und mit der im wesentlichen dem Klassizismus angepaßten Wiederherstellung der äußeren Gestalt der Luisenkirche hat die Gemeinde
letztlich einen interessanten Kompromiß zwischen Traditionsbewußtsein und Aufgeschlossenheit für die Moderne erzielt.
Exkurs: historische Grabdenkmäler
Nicht mit allen sich in ihrem Besitz befindenden historischen Monumenten ist die Gemeinde so
traditionsbewußt und auf den Erhalt bedacht umgegangen wie mit der repräsentativen Luisenkirche. Fast zur gleichen Zeit nämlich, als sie sich hartnäckig für den Wiederaufbau dieses
Gotteshauses einsetzte, hat sie sich wertvoller Denkmäler entledigt, die ihr mit alten, vor der
Lützower Kirche aufgestellten Grabdenkmälern geblieben waren. Die Grabdenkmäler der
Henriette Lehr und der Ernestine Caspari, die 1816 und 1814 aufgestellt bzw. gefertigt worden
waren und damit zu den ältesten erhaltenen Grabmonumenten Charlottenburgs gehörten,
hatte immerhin Gottfried Schadow entworfen bzw. in seiner Werkstatt herstellen lassen.42
Ohne zu zögern, überließ die Gemeinde die beiden stärker beschädigten Gedenksteine der
Meisterschule des deutschen Handwerks.43 Und trotz der Vorliebe für die Kunst des Klassizismus, wie sie die Gemeinde im Fall der Wiederherstellung ihrer Kirche bewiesen hat, ließ sie
nach 1945 auch die beiden anderen oben genannten offensichtlich in Unkenntnis ihres Werts
abräumen.44 Dabei hätte sich die Gemeinde leicht von der Bedeutung dieser Grabmale
überzeugen können, hätte sie dafür das gleiche historische Interesse aufgebracht wie für ihre
Kirche. Immerhin waren sie u. a. im „Alt-Berliner Grabmal" von 1917 mit Abbildungen und
Umzeichnungen publiziert45, so daß damit deren Alter und Herkunft bekannt waren. - Erst in
jüngster Zeit zeichnet sich ein Wandel in der Haltung gegenüber den kunst- und kulturhisto48
Abb. 5: Die Ruine der Luisenkirche
risch bedeutenden Grabdenkmälern ab. Nachdem bis in die 70er Jahre hinein wertvolle
Grabdokumente abgeräumt oder gedankenlos zu Wirtschaftsanlagen umfunktioniert worden
sind, wurde mit der Unterstützung von Inventarisierungsmaßnahmen eine Grundlage für
weitere denkmalpflegerische Maßnahmen geschaffen.
Zum jüngsten Umbau
Die 1987 abgeschlossene Umgestaltung des Innenraums der Luisenkirche belegt wiederum, wie
unterschiedlich zu Beginn des 20. Jahrhunderts, nach dem Zweiten Weltkrieg und heute
„fortschrittliche" Geistes- und Kunsthaltung verstanden wird.46 Mit diesem Umbau hat man
nicht nur eine Verbesserung der Licht- und Akustikverhältnisse angestrebt und für den Einbau
einer Fußbodenheizung gesorgt. Mit Elementen wie der vorgezogenen Altarwand, den modernisierten korinthischen Kapitellen, den Rundleuchtern und dem hellen Farbanstrich, die
allesamt am Entwurf Schinkels ausgerichtet sind, hat man offensichtlich versucht, ein religiöses
Erleben und Meditation fördernde Atmosphäre zu schaffen.47 Daß man sich dabei ganz
wesentlich auf die Tradition bezog, scheint ein nicht uninteressanter Kommentar zur Kunst
unserer Tage.
Bilanz
Zusammenfassend sind drei Beobachtungen festzuhalten:
1. Einzelne Entscheidungen der Luisengemeinde im Umgang mit ihren Denkmälern unterliegen zweifelsohne gewissen „zeitgeistlichen" Strömungen.
49
- Der Abriß der Lützower Kirche stellte an sich keineswegs einen ungewöhnlichen Vorgang
dar. Schon längst waren Berlin und das mit ihm zusammengewachsene Charlottenburg dabei,
ihre alten Gesichter zu verlieren und sich mit wilhelminischer Architektur zu überfrachten. Als
Berliner Beispiel aus dem kirchlichen Bereich mag der Dom stehen, der nach dem Abriß des
Schinkelschen Baus als überdimensionaler historischer Kuppelbau in den Jahren 1894 bis 1905
errichtet worden war.
„Man wollte Berlins .unaufhaltsamen Aufstieg zur Weltstadt', auf den man ja so stolz war,
nicht behindern; man betrachtete es als selbstverständlich, daß ,das Neue immer das Übergewicht über das Alte haben' müsse."48 Damit beschreibt Günther Kühne den Motor der
gewalt(tät)igen Stadtstrukturveränderungen im wilhelminischen Berlin.
Zu vermuten ist, daß im Fall der Lützower Kirche sowohl das „ästhetische" als auch das
„pragmatische" Argument mehr taktisch als zwingend gewesen waren. Hinter diesen Argumenten ist, folgt man der Einschätzung eines Zeitgenossen, wohl der Ehrgeiz eines einzelnen
anzunehmen.49 Es mag aber auch ein kirchliches Repräsentationsverständnis eine Rolle gespielt
haben, das sich letztlich gegen die Denkmalpflege durchsetzte.
- Das Abräumen und Zerstören von kunst- und kulturhistorisch wertvollen Grabdenkmälern
in der Nachkriegszeit ist ein in der jüngeren Vergangenheit allgemein zu konstatierendes Übel,
dem in Berlin erst in der 70er Jahren vornehmlich durch das Engagement und die Forschungen
von Professor Bloch (Skulpturengalerie) und seinen Mitarbeitern sowie durch die Arbeit der
AG Historische Friedhöfe begegnet worden ist.
- Als zeitgemäß können auch der Neubau der Lützower Kirche sowie die Innenraumgestaltung
der Luisenkirche in der Nachkriegszeit eingestuft werden. „Die . . . Wiederherstellung der
Luisenkirche . . . hält sich bei dem völlig neu geschaffenen Inneren an die schlichte, zurückhaltend kühle Formensprache der Kirchenbauten unserer Tage", befinden Paul Ortwin Rave
und Irmgard Wirth in ihrem 1961 veröffentlichten Inventar der „Kunst- und Baudenkmäler
Charlottenburgs".50
- Ebenso ist die aktuelle historisierende Umgestaltung nicht isoliert zu sehen von gegenwärtigen städtebaulichen Tendenzen.
2. Man wird der Gemeinde bzw. den an den Vorgängen Beteiligten jedoch nicht gerecht, will
man die einzelnen Vorgänge und Entscheidungen vollständig jeweils herrschenden Zeitströmungen unterordnen.
- Im Fall der alten Lützower Kirche überrascht die intensive Denkmalpflegediskussion, die
Sensibilität und das Engagement für den historischen Bau bei Fachleuten und innerhalb der
Charlottenburger Bevölkerung.
- Mit dem Wiederaufbau der Luisenkirche in der Nachkriegszeit zeigt die Gemeinde historisches Bewußtsein und setzt die Wiedererrichtung des Schinkelschen Äußeren gegen den
anfänglichen Willen des Landeskonservators und der städtischen Baubehörden durch.
3. Der Wert „historische Tradition" als Motiv für einzelne Entscheidungen der Gemeinde
scheint auf den ersten Blick beliebig verwendet worden zu sein. Der alten Lützower Kirche
wurde 1907/08 ein solcher historischer Wert abgesprochen. Gleichzeitig wurde das historische
Argument bemüht, indem das Fortbestehen der Bindung Lützows mit der Luisengemeinde
dem Konsistorium als Grundlage für die Entscheidung für einen Neubau mit eigenen finanziellen Mitteln genannt wurde.
In der Nachkriegszeit war die Gemeinde nun einerseits durchaus bereit, das nunmehr über
„200 Jahre miteinander verknüpfte Band" zwischen Luisen und Lützow zu zerschneiden,
andererseits führt sie historische Argumente für den Wiederaufbau der Luisenkirche ins Feld.
Deutet man dies dahingehend, daß die Gemeinde immer dann historisch argumentierte, wenn
50
Abb. 6:
Die Ruine der Lützower Kirche
es der eigenen Zielsetzung diente, würde sich die vordergründige Beliebigkeit auflösen. Zu
erkennen ist aber vielmehr auch, daß die Luisenkirche weit mehr als die Lützower Kirche zum
Identifikationsobjekt der Gemeinde geworden ist. Die Geschichte der Luisenkirche ist das
Substrat der Gemeindegeschichte, was sich u. a. auch darin zeigt, daß die Jubiläumsfeiern der
Vergangenheit (1916, 1966) sich an dem Datum der Einweihung der Parochial- und späteren
Luisenkirche orientieren (1716) und nicht an dem der Konstitutierung als selbständige kirchliche Gemeinde (1708).
Anmerkungen
Wir danken der Evangelischen Luisengemeinde (Herrn Pfarrer Kunkel) und dem Evangelischen Zentralarchiv (Frau Stephani), die uns freundlicherweise die Einsichtnahme in das
Quellenmaterial ermöglichten.
Vgl. Charlottenburg ist wirklich eine Stadt. Aus den unveröffentlichten Chroniken des Johann
Gottfried Dressel (1751-1824), hrsg. v. H. Hülsbergen, Berlin 1987, S. 68 ff.
Gundlach, W., Geschichte der Stadt Charlottenburg, Bd. 1, Berlin 1905, S. 11, 60 ff., 458 ff.
Kraatz, W., Geschichte der Luisengemeinde zu Charlottenburg, Charlottenburg 1916, S. 7 ff., 31 ff.,
121 ff., 231 ff.,
51
Rave, P. O./Wirth I., Die Bauwerke und Kunstdenkmäler von Berlin. Bezirk Charlottenburg, Bd. 1,
Berlin 1961, S. 48 ff., 58 ff.
2. Kohte, J., Die Lützower Kirche in Charlottenburg, in: Die Denkmalpflege, 20 (1918), S. 30.
3. Börsch-Supan, E., Berliner Baukunst nach Schinkel 1840-1870, München 1977, S. 165.
4. Vgl. Erbe, M., Von der Kleinstadt zur Großstadt. Zur Bevölkerungs- und Sozialgeschichte Charlottenburgs zwischen 1880 und 1920, in: Von der Residenz zur City. 275 Jahre Charlottenburg, Berlin
1980, S. 292.
5. Mitteilung Oberpfarrer Riemanns vom 17.9.1907, in: Evang. Zentralarchiv (EZA), Konsistorium
Rep.14/4258 a.
6. EZA, Konsistorium Rep. 14/4258 a.
7. Riemann, Erinnerungsblätter und -bilder aus dem Leben der Luisengemeinde in Charlottenburg:
Eine Auswahl von Predigten und Reden, Berlin 1916, S. 67 f.
8. Schultze-Naumburg, P., Kulturarbeiten. Städtebau, Bd. 4, München 21909, S. 145; Riemann führt die
Arbeit Schultze-Naumburgs in einem Aufsatz an, der im Zentralblatt der Bauverwaltung (1907)
erschienen, auszugsweise aber auch in der Vossischen Zeitung vom 17.10.1907 abgedruckt worden ist.
9. Voss. Zeitung vom 17.10.1907.
10. Vgl. Antrag der kirchl. Körperschaften der Luisengemeinde vom 17.9.1907, in: EZA, Konsistorium
Rep. 14/4258 a.
11. EZA, Konsistorium Rep. 14/4258 a, und Archiv Tiefbauamt Charlottenburg, „Lützower Platz",
Bd. II.
12. Das Verdienst J. Kohtes, eines Dozenten an der Charlottenburger TH, liegt vor allem in der
Inventarisierung der „Wohnhäuser von kunstgeschichtlichem Wert in Berlin und Vororten", in:
Zeitschrift für Bauwesen (1923).
13. Vgl. Schreiben Lutschs vom 18.4.1908 in: EZA, Konsistorium Rep.4258a, sowie Mitt. des Magistrats, in: Archiv Tiefbauamt Charlottenburg, „Lützower Platz", Bd. II.
14. Kraatz, a. a. O., S. 232.
15. Vgl. Artikel in der Vossischen Zeitung vom 4.10.1907 und 17.10.1907.
16. March, W. (Hg.), Otto March 1845-1912, Tübingen 1972, S. 24.
17. Gutachten Marchs vom 29. 5.1908, in: EZA, Evang. Oberkirchenrat (EOK) Rep. 7/V 10II, Bl. 182 f.
18. Vgl. Langmaack, G., Evangelischer Kirchenbau im 19. und 20. Jahrhundert, Kassel 1971, S. 32.
19. EZA, Konsistorium Rep. 14/4258 a.
20. Börsch-Supan, a.a.O., S.215.
21. Schreiben des Geh. Zivilkabinetts des Kaisers vom 31.10.1908, in: EZA, EOK Rep. 7/V 10II, Bl. 184.
22. Die Wettbewerbsentwürfe befinden sich im Archiv der Luisengemeinde.
23. Gutachten vom 24.6.1909, in: EZA, Konsistorium Rep. 14/4258a.
24. Mitt. J. Kohtes vom 10.11.1909, in: EZA, EOK Rep. 7/V 10II.
25. Schreiben des Geh. Zivilkabinetts des Kaisers vom 13. 8.1909, in: EZA, EOK Rep. 7/V 10 II.
26. Vgl. auch für das folgende den Bericht des Pfarrers Stahn vom 6.4.1943, in: Archiv der Luisengemeinde (AL), Rep. 511 a/3 a.
27. Mitt. des Baupolizeiamtes Charlottenburg vom 26.4.1950 und Stellungnahme des Kirchl. Bauamtes
vom 24.5.1950, in: AL, Rep. 511 a/3 a.
28. Mitt. des Kirchl. Bauamtes vom 2.9.1950, in: AL, Rep. 511 b / 3 .
29. Ebd.
30. Mitt. des Baupolizeiamtes Charlottenburg vom 26.4.1950, in: AL, Rep. 511 a/3 a, und Memorandum
des GKR vom 4.4.1951, in: AL, Protokollbuch des GKR von 1951.
31. Memorandum des GKR, ebd.
32. Siehe auch Stellungnahme des GKR vom 22.4.1950, in: AL, Rep. 511 a/3a.
33. Brief des GKR vom 4.7.1950, in: AL, Rep. 511a/3a.
34. So jedenfalls die Meinung von Professor Scheper und Dr. Kühn. Siehe Bericht des GKR vom
22.4.1950, in: AL, Rep. 511 a/3a.
35. Mitt. des Magistrats von Berlin vom 11. 7.1950, in: AL, Rep. 511 a/3a.
36. Hoffmann-Tauschwitz, M., Alte Kirchen in Berlin, Berlin 1986, S. 215.
37. Schreiben des GKR vom 23.12.1950, in: AL, Rep. 511 b / 3 .
38. Rave/Wirth, a. a. O., S. 52.
39. Bericht des GKR vom 10.9.1951, in: AL, Rep. 511 b / 3 ,
40. Bericht des GKR betr. Neubau eines Pfarr- und Gemeindehauses vom 22.1.1932, in: AL, Rep. 511/1 a.
52
41.
42.
43.
44.
45.
46.
47.
48.
49.
50.
Bericht des GKR vom 10.9.1951, in: AL, Rep. 511b/3.
Rave/Wirth, a. a. O., S. 55 f.
Siehe Aktennotiz vom 6.11.1942, in: AL, Rep. 1102.
So jedenfalls Rave/Wirth, a. a. O., S. 56.
Das Alt-Berliner Grabmal 1750-1850. 100 Aufnahmen und Vermessungen von W. Schütz. Kunstgeschichtlich eingeleitet von H. Mackowsky, Berlin 1917, S. 169 ff.
Siehe auch Hoffmann-Tauschwitz, a. a. O., S. 216.
Storck, H., Warum wurde die Luisenkirche umgebaut?, in: Kirchliche Nachrichten der evangelischen
Gemeinden in Berlin-Charlottenburg, 1/1988, S. 5.
Kühne, G., Über das gebrochene Verhältnis der Berliner zur Pflege ihrer Baudenkmäler, in: Der Bär
von Berlin (1987), S. 139.
Kraatz, a. a. O., S.232f.
Rave/Wirth, a. a. O., S. 64.
Abbildungsnachweis
Titelbild: Rellstab: Charlottenburg, Aufnahme der Landesbildstelle Berlin.
Abb. 1: Heimat-Archiv, Bezirksamt Charlottenburg, Otto-Suhr-Allee 100,1000 Berlin 10.
Abb. 2: Heimat-Archiv, Bezirksamt Charlottenburg, Aufnahme der Landesbildstelle Berlin.
Abb. 3: Heimat-Archiv, Bezirksamt Charlottenburg. Ansichtskarte.
Abb. 4: Heimat-Archiv, Bezirksamt Charlottenburg.
Abb. 5: Heimat-Archiv, Bezirksamt Charlottenburg.
Abb. 6: Archiv der Luisen-Gemeinde. Aufnahme Kultur und Wirtschaft, Tempelhof.
Anschrift der Verfasser:
Birgit Jochens, Sömmeringstraße 42,1000 Berlin 10
Herbert May, Neufertstraße 12,1000 Berlin 19
Martin Stritte - Spandauer Bezirksbürgermeister
und erster Vorsitzender der Berliner Liberalen nach 1945
Anläßlich seines 25. Todestages
Von Karl-Heinz Bannasch
Als sich am 21. September vor 40 Jahren die 17 Delegierten der Berliner Liberalen im Gebäude
der ehemaligen Bayerischen Hypothekenbank in der Taubenstraße, nahe dem alten Berliner
Zeitungsviertel in dem heute zum Ostteil der Stadt gehörenden Bezirk-Mitte, trafen, wählten sie
den Charlottenburger Bezirksvorsitzenden Martin Stritte zum ersten Landesvorsitzenden der
Liberalen. Die Berliner Liberale Partei war damit gegründet.1 Bereits Ende des Jahres 1945
zählte man an die 3500 Mitglieder. Ihre Zahl wuchs in den nächsten Jahren noch ständig.
53
Der Aufruf der neu gegründeten Partei wandte sich insbesondere an die ehemaligen Mitglieder
und Sympathisanten der Deutschen Demokratischen Partei (DDP), der Deutschen Volkspartei (DVP), der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) und der Wirtschaftspartei. Ihren
Standort bestimmte sie „rechts von der SPD". Als einen typischen Repräsentanten dieser
Konstellation erschien den Berliner Liberalen offensichtlich Martin Stritte. Er wurde am
6. November 18772 in Brandenburg an der Havel geboren, studierte in Berlin und Freiburg Jura
und wurde 1921 als damals Parteiloser von den Bezirksverordneten der DVP, der DDP, des
Zentrums und der DNVP zum Bezirksbürgermeister von Spandau gewählt.3 Stritte selbst hat
von allen diesen Parteien wohl der DVP am nächsten gestanden. Die DVP war die Partei
Gustav Stresemanns, eine Partei, die aus der Nationalliberalen Partei des Kaiserreiches hervorgegangen ist. Die DVP trat für eine „starke, festgefügte Staatsgewalt", eine unabhängige und
auf Recht und Gerechtigkeit begründete Rechtspflege, für die Freiheit der Presse, den Schutz
der freien Berufe und insgesamt dafür ein, Deutschland als einen nach innen freien und nach
außen starken Staat wieder aufzubauen.
Stritte blieb bis Juli 1933, kurz nach Ablauf seiner Amtszeit, im Amt.4 In die Zeit seiner
städtischen Bezirksregierung fielen wichtige Entscheidungen zur Entwicklung und Integration
des neugebildeten Stadtbezirkes. 1920 war Groß-Berlin entstanden, in dem acht bis dahin
unabhängige Städte sowie 59 Landgemeinden und 27 Gutsbezirke aufgingen. Groß-Berlin war
damals das bedeutendste städtische Industriezentrum Deutschlands - eine Funktion, die beide
Teile der Stadt in Gesamtdeutschland bis heute beibehalten haben.
Spandau wurde in Strittes Amtszeit konsequenterweise zum Industriebezirk ausgebaut. Es
entstand neben den bestehenden Deutschen Werken und Siemens-Halske das Osram-Glühbirnen-Werk und das Groß-Kraftwerk West. Es trägt heute den Namen Ernst Reuters.
Auch der Wohnungsbau schritt in der Amtszeit Strittes voran, wurden im Jahre 1920 nur etwa
400 Bauaufträge genehmigt, so waren es 1929 bereits um die 3500 „Bauscheine".5
Über Spandau und sogar über Berlin hinaus wurde Stritte bekannt, als er den damals spektakulären „Sklarek-Skandal" aufdeckte.6 Die Gebrüder Sklarek hatten, wie sich im September
1929 herausstellte, die Stadt um 12 Millionen Reichsmark „erleichtert", indem sie als Inhaber
einer großen Bekleidungsfirma Beamte und Kommunalpolitiker bestochen hatten, um dann
Rechnungen zu fälschen und minderwertige Ware sich von der Stadt abnehmen zu lassen.
Beamte und Wahlträger sämtlicher Parteien waren hieran beteiligt. Selbst Mandatsträger der
Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) konnten ihren Ehefrauen den Wunsch nicht
versagen, sich im neuen Pelzmantel zu zeigen. Sklarek lieferte sie frei Haus.
Während der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur stand Stritte der Hauptprüfungsstelle
des Magistrats7, heute als Rechnungshof bekannt, vor. Politische Entscheidungen hatte er nicht
mehr zu fällen. Stritte hielt aber in dieser Zeit Kontakt zu Leuten, die ihr Amt auch nicht mehr
ausüben durften. Dazu gehörte der in Wilmersdorf ansässige ehemalige Oberbürgermeister
von Dresden, Wilhelm Külz8, der später Mitbegründer der Liberal-Demokratischen Partei
(LDP) und für einige Jahre ihr Vorsitzender wurde. Külz, schon in der Weimarer Republik
zwei Jahre lang Reichsinnenminister, wurde nach 1945 eine der prägendsten Gestalten des
deutschen Nachkriegsliberalismus.
Zusammen mit Reichsminister a. D. Waldemar Koch, dem ersten Vorsitzenden der GesamtLPD, dürften sich Külz und Stritte in der Külzschen Wohnung, Pfalzburger Straße 82,
Wilmersdorf, getroffen haben.9 Es ging ihnen um die Frage, was man nach dem erwarteten
Zusammenbruch für „Deutschlands Wiedergeburt" (Külz) leisten dürfe und müsse. Es gab in
Berlin auch einen mehr oder weniger illegalen Stammtisch ehemaliger Bürgermeister, an dem
sich über die Frage nach Deutschlands Zukunft Gedanken gemacht wurden. Spätestens im
54
Spandau.
Ratha,
Spandauer Rathaus um 1920, Strittes Dienstwohnung von 1921 bis 1933. Der Eingang zur Wohnung ist
noch heute zugemauert am Stabholzgarten 5 zu sehen (Bildarchiv des Verfassers).
Sitzung des LDP-Zonenvorstandes in Berlin am 13. Februar 1946, einen Tag vor der Ablösung Strittes:
Martin Stritte (2. von links), Dr. Wilhelm Külz (4. von rechts) (Bildarchiv dpa).
55
Februar 1945 wurde zwischen Külz und Stritte über die Neugründung einer bürgerlichen Partei
gesprochen. Konkrete Gestalt nahmen die Pläne erst im Juni 1945 an, nachdem am 10. Juni
1945 die Sowjets die Neuzulassung von politischen Parteien veranlaßt hatten.10 Zunächst wurde
die Kommunistische Partei, dann die Sozialdemokratische Partei und kurz danach die Christlich-Demokratische Union gegründet.
Pläne, statt der CDU eine „Demokratische Union" als eine einheitliche Demokratische Partei
zu gründen - eine Idee, der Külz und Stritte anhingen - , waren mit der Beimessung des
Christlichen gescheitert. Erst am 5. Juli 1945, nachdem die anvisierte „Demokratische Partei"
jetzt das Beiwort „Liberal" bekam und die Sowjets sie unter dem Namen LDP lizensiert
hatten 1 ', ging die neue Partei an die Öffentlichkeit. Man wollte, ähnlich der Partei Stresemanns,
für ein nach innen freies und nach außen starkes, aber friedliches Deutschland wirken, das eine
starke Zentralgewalt, gestützt auf ein funktionstüchtiges Berufsbeamtentum, haben sollte.
Die Liberalen setzten sich auch für die Wiederzulassung von Unternehmerverbänden und
Gewerkschaften ein. Ihr zentrales Motto war jedoch der Stresemannsche Gedanke, daß
Deutschland weder zum Westen noch zum Osten, sondern nichts weiter als seinen Osten und
seinen Westen unter einem Dach vereinen wolle. Daß dazu ein gutes Verhältnis zu den
Siegermächten gehören würde, war für den ersten Berliner Landesvorsitzenden selbstverständlich.
Bald, nachdem Stritte den Landesvorsitz in Berlin übernommen hatte, regte sich Berliner
Widerspruch in Külz und damit auch in Stritte. Der beginnende Kalte Krieg zwischen den
Siegermächten und die unterschiedliche Politik in den vier Sektoren Berlins warf auch lange
Schatten auf die Berliner Partei. Einige, unter der Führung des späteren Landesvorsitzenden
Carl-Hubert Schwennicke, verlangten ein deutlicheres Entgegentreten der sowjetischen Besatzungspolitik und eine stärkere Anlehnung an die Politik der westlichen Besatzungsmächte.
Auf Initiative von Schwennicke wurde am 14. Februar 1946 eine Probeabstimmung im Vorstand mit der Frage durchgeführt12, ob Stritte, der hinter der Politik von Wilhelm Külz stand,
weiterhin das Vertrauen des Landesvorstandes genießen würde. Die Mehrheit sprach sich
gegen Stritte aus. Stritte zog die Konsequenzen und trat als Landesvorsitzender zurück. Er
blieb aber Vorsitzender des LPD-Zonenausschusses für Kommunalpolitik (zu dem ihn der
Zonenvorstand berufen hatte).13 Interimsvorsitzender wurde der bisherige Stritte-Stellvertreter
Fritz Hausberg.14 Er war Bezirksvorsitzender der LPD im Wedding. Im Juli 1946 übernahm
schließlich Schwennicke die Führung des Landesverbandes und steuerte, mit den westlichen
Besatzungsmächten im Rücken, einen deutlichen Konfrontationskurs zu der Ausgleichspolitik,
um die sich Külz auch gegenüber den Sowjets bemühte.
Zum Bruch zwischen dem Berliner Landesverband und dem Gesamtverband in der damaligen
Sowjetischen Besatzungszone kam es 1948.15 Külz, der bis dahin der LDP-Fraktion im Berliner
Stadtparlament angehörte und in der Frage, mit wem der Posten des Polizeipräsidenten besetzt
werden sollte, anders als seine Parteifreunde votierte, wurde daraufhin von der Landesdelegiertenversammlung der LDP aufgefordert, sein Stadtverordnetenmandat niederzulegen.16
Auf Antrag von Wilmersdorf-Nord wurde Külz schließlich aus der Berliner Partei ausgeschlossen. Im Gegenzug wurde dem Berliner LDP-Verband der Charakter eines Landesverbandes
der Gesamtpartei aberkannt und eine Arbeitsgemeinschaft der LDP gebildet.17 Ging aus dem
einen der spätere Bezirksverband Ost-Berlin der LDP hervor, wurde aus dem alten Landesverband der Liberalen unter Schwennicke der Landesverband der Berliner FDP.
Der Fall Martin Stritte war damit auf seine Art ein Vorzeichen der Teilung der Liberalen und
der Teilung Berlins. Stritte starb am 8. Juni 196318, die Berliner Liberalen hatten ihn längst
verdrängt.
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Martin Stritte als Spandauer
Bezirksbürgermeister in der
Weimarer Republik
(Bildarchiv des Verfassers)
Anmerkungen
1. Berlin, Quellen und Dokumente 1945-1951, 1. Halbband, Seite 987, Hrsg. Senat von Berlin, Berlin
(West) 1964.
Archiv des deutschen Liberalismus (AdL), Gummersbach.
2. Protokoll des Gespräches zwischen dem Verfasser und dem Schwiegersohn Strittes, Dr. Knobloch,
Bernburg/Saale, am 10.6.1985 und am 19.8.1985.
3. Spandauer Zeitung vom 28.4.1921.
4. Spandauer Zeitung vom 22.7.1933.
5. Spandau, Vom Werden Spandaus in Vergangenheit und Zukunft, Einleitung Bürgermeister Stritte,
Berlin 1931.
6. Landgericht Berlin I, Vernehmungsprotokolle, in: Landesarchiv Berlin, Rep. 58, Acc 61, Bd. 3.
Diverse Zeitungsberichte über diesen Skandal, so Vossische Zeitung vom 27/28.9.1929, Spandauer
Zeitung vom 22.7.1933.
7. Gespräch mit Dr. Knobloch: a.a. O.
Spandauer Volksblatt vom 11.6.1963 - Nachruf auf Stritte.
8. Protokoll des Gespräches zwischen dem Verfasser und dem früheren Landesvorsitzenden der L D P /
FDP Berlin, Dr. Carl-Hubert Schwennicke, am 20.7.1985.
57
Gespräch mit Dr. Knobloch: a. a. O.
Vgl. LDP-Aufnahmeantrag Strittes vom 23.7.1945; dort ein Vermerk, daß Stritte von Dr. Koch
eingeführt worden ist, AdL, Akten 7394.
Armin Behrendt: Wilhelm Külz, Aus dem Leben eines Suchenden, Hrsg. Buchverlag der Morgen,
Berlin (Ost) 1968.
Berlin, Quellen ...: a. a. O., Seite 1007.
Der Morgen vom 20. 2.1946.
Gespräch mit Dr. Schwennicke: a.a.O.
AdL, Akten 7394.
Der Morgen vom 20.2.1946.
Nachlaß Fritz Hausberg: Privatarchiv des Verfassers.
AdL, Akten 6762, 7698.
Ebd.
Flugblatt der LDP-Arbeitsgemeinschaft 1948: Privatarchiv des Verfassers.
Spandauer Volksblatt vom 9.7.1963.
Gespräch mit Dr. Knobloch: a.a. O.
Die Grabstätte Strittes befindet sich auf dem Bürgermeisterfeld des Spandauer Friedhofes „In den
Kisseln", Pionierstraße 82, 1000 Berlin 20.
Anschrift des Verfassers:
Karl-Heinz Bannasch, Hasenmark 22, 1000 Berlin 20
Heinrich Seidel: Das neue Empfangsgebäude
der Berlin-Anhaltischen Eisenbahn in Berlin
Von Karl-Robert Schütze
Der nachstehende Text aus dem Nachlaß von Heinrich Seidel wird in dieser vollständigen
Form hier wahrscheinlich erstmals veröffentlicht; es ist auch nicht gelungen, den gekürzten
Beitrag gedruckt nachzuweisen. Das Manuskript (Zugangsnummer 69.6590) befindet sich in
den von Ina Seidel (1885-1974) dem Deutschen Literaturarchiv/Schiller-Nationalmuseum in
Marbach übergebenen Nachlässen ihres Schwiegervaters Heinrich Seidel (1842-1906) und
ihres Gatten Heinrich Wolfgang Seidel (1876-1945).
Bei der Suche nach unbekanntem Material für die Ausstellung „750 Jahre Architektur und
Städtebau in Berlin" hat mich Dr. Peter-Paul Schneider auf diesen Text aufmerksam gemacht,
der im Deutschen Literaturarchiv bereits für die eigene Ausstellung „Literatur in einer industrialisierten Welt" vorgesehen war. Ich danke Herrn Dr. Schneider für die Unterstützung und
dem Deutschen Literaturarchiv/Schiller-Nationalmuseum für die Genehmigung zur Veröffentlichung dieses Textes.
Das Manuskript für einen Zeitschriftenbeitrag ist von Heinrich Seidel nicht namentlich
gezeichnet, nach Auskunft des Archivs handelt es sich aber eindeutig um seine Handschrift. Die
Aufschrift auf dem Umschlag stammt von seinem Sohn, sie gibt außerdem noch einen
Literaturhinweis (Friedrich Hasse, Der Ingenieur Heinrich Seidel und sein Werk, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins 55, 1938, S. 97-107), für den ein direkter
Zusammenhang allerdings nicht zu erkennen ist.
58
Der Text ist stark korrigiert und gekürzt, wahrscheinlich in zwei oder mehr Arbeitsgängen, es
sind geradlinige und wellenförmige Streichungen deutlich zu unterscheiden. Die Textstreichungen, die keine Neufassungen oder stilistische Änderungen betreffen, habe ich aufgelöst, sie
sind ohne weitere Unterscheidung kursiv gesetzt. Außerdem enthält der Text ein langes Zitat
aus dem Aufsatz von K. E. O. Fritsch: Das neue Empfangs-Gebäude der Berlin-Anhaltischen
Eisenbahn in Berlin, der in drei Teilen in der Deutschen Bauzeitung (13, 1879, S. 11-14, 21-23,
41/42, Zitat von S. 11/12) erschienen ist.
Auch wenn der Text keine neuen Informationen enthält, so ist er doch geeignet, zum Jubiläumsjahr 1987 einen Blick auf ein überragendes Bauwerk zu werfen, das wie so viele andere ein
Opfer der Berliner Abrißwut geworden ist. Das nach Einstellung des Eisenbahnverkehrs durch
die Reichsbahn im Jahre 1952 trotz internationaler Proteste 1959/60 freigeräumte Gelände
wurde in diesem Jahr erstmals für eine der Jubiläumsausstellungen wirklich genutzt, ob sich
daraus oder aus den vielen Vorschlägen der IBA eine dauerhafte Lösung entwickelt, ist noch
nicht zu erkennen.
Noch ist nicht ganz aus der Erinnerung verschwunden, daß Heinrich Seidel, der Vater von
„Leberecht Hühnchen", vor seiner schriftstellerischen Karriere als Ingenieur tätig war, aber es
ist an der Zeit, erneut daran zu erinnern. Das ist außerordentlich schwer, denn es fehlen nicht
nur die von ihm bearbeiteten Planungsunterlagen zum Anhalter Bahnhof, sondern überhaupt
fast alle technischen, konstruktiven Arbeiten von seiner Hand. Bisher konnten auch die von
ihm selbst aufgenommenen Fotografien, mit denen er den Baufortschritt festgehalten hat, nicht
aufgefunden werden. Trotz des umfangreichen erzählerischen Werkes findet sich dieser Teil
seines Lebens nur selten dargestellt. Eine wichtige Ausnahme bildet die Schilderung „Ein Tag
aus dem Büroleben" (Heinrich Seidel, Erzählungen und Gedichte, Berlin 19673, S. 127/128), in
der es heißt:
„Nach einer Eisenbahnfahrt von 18 Minuten [von Groß-Lichterfelde] kann man nun aber aus
dem Veilchen-, Flieder-, Rosen- oder Levkojenduft dieses Gartenidylls mitten in dem brausenden Berlin sein, und da ich sehr oft des Abends, wenn die Sonne sinkt, und ,es dem Guten
gegonnen ist', diese Gelegenheit benutze, so gewährt es mir dabei ein besonderes Vergnügen,
daß bei dieser Fahrt der Zug nur über Brücken geht, die von mir konstruiert worden sind, und
daß, wenn ich in die mächtige Halle einfahre, alles Eisen, das man sieht, von dem riesigen
Dache bis zu den nicht minder stattlichen Fenstern sowie den unterirdischen Gepäckaufzügen
einmal, sozusagen, durch meinen Kopf gegangen ist, und daß in dem ganzen Gewirr von
Stangen, Platten und Sprossen und dergleichen kein Teilchen ist, dem nicht einst von mir der
Platz angewiesen worden wäre. So ist denn jede solche Fahrt für mich eine Erinnerung an
meinen vormaligen Ingenieurstand, und zugleich erfüllt mich immer wieder die Freude, etwas
vorzeigen zu können, daran ich beweisen kann, daß ich nicht wegen verfehlten Berufes unter die
Schriftsteller gegangen bin."
Der Stolz, der aus diesen Worten spricht, ist auch in dem hier abgedruckten Text zu finden,
vielleicht am stärksten in der Feststellung, daß nur der zu enge „Geldbeutel" noch die ins
Riesenhafte zu steigernden, baukastenartigen Metallkonstruktionen aufhalten könne. Der den
modernsten Techniken gegenüber aufgeschlossene, sie sogar aktiv fördernde Konstrukteur
wurde „nebenbei" so bekannt als Schriftsteller, daß er seinen Hauptberuf nach der Fertigstellung des Anhalter Bahnhofs aufgeben konnte. Er war und blieb dabei der humorvolle
Schilderer einer kleinbürgerlich-betulichen Welt, die technische Errungenschaften nutzt, wenn
sie erschwinglich geworden sind, und sie dann als selbstverständlich ansieht, aber nicht zu
gebrauchen scheint. Bei diesen unvereinbar erscheinenden Widersprüchen in seiner Arbeit, mit
[ ] eckige Klammern = Zusätze des Herausgebers
59
diesem „Doppelleben" gehört auch Heinrich Seidel selbst zu dieser heilen, von etwas kauzigen
Persönlichkeiten bewohnten Welt, die er beschrieben hat und der er seinen schriftstellerischen
Erfolg verdankte.
[Heinrich Seidel]
Das neue Empfangsgebäude der Berlin-Anhaltischen Eisenbahn in Berlin
In einer Hinsicht hat die moderne Baukunst die ältere bei Weitem überholt und zwar in der
Fähigkeit große Weiten und mächtige Räume ohne Zwischenstützen zu überspannen. Riesige
Massen zu bewegen und aufzuthürmen verstanden schon die Aegypter, ihnen stand eine billige
Menschenkraft in Gestalt von Sklaven und Frohnarbeitern zur Verfügung und sie brachten
durch die massenhafte Menge der kleinen vereinigten Handkräfte dasselbe zu Stande, was wir
heute bei ungleich kostbarerem Menschenmaterial durch die Riesenkraft einer dampfgetriebenen Maschine leisten.
So thürmte man in Aegypten die ungeheuren Pyramiden und die muthigen Colossaltempel auf
unter Anwendung der primitivsten Mittel zum Heben und Fortschaffen der riesigen Steinlasten.
Unzählige muthige Bauwerke sind später bei den Römern und im Mittelalter entstanden und
erfüllen uns heute durch ihre mehr oder weniger erhaltenen Ueberreste mit Bewunderung und
Staunen, allein allen diesen Bauten ist etwas gemein, und zwar die verhältnismäßig geringe
durch alleinige Anwendung von Stein und Holz bedingte Breite der überspannten Räume oder
Spannweite der Öffnungen. Erst die Herrschaft der Dampfmaschine und die dadurch hervorgebrachte Massenfabrication des Eisens hat es möglich gemacht diese Schranke zu überspringen und die Gränze auf das Staunenswertheste zu erweitern.
Der mächtigste ohne Zwischenstützen überspannte Raum der Welt ist augenblicklich die
EmpfangsfhalleJ St. Pancras Station in London mit einer lichten Weite von 71 m allein hier liegt
noch keineswegs die Gränze der Möglichkeit. Würde sichfür irgend einen Zweck heute als nützlich
herausstellen, eine Halle von 200 m Breite zu haben, so würde dies nach dem heutigen Stande der
Eisenindustrie und des Ingenieurfaches keine unüberwindliche Schwierigkeiten bereiten und lediglich eine Frage des Geldbeutels sein.
Zu diesen Bemerkungen veranlaßt mich das augenblicklich in Berlin seiner Vollendung entgegengehende neue Empfangsgebäude der Berlin-Anhaltischen Eisenbahn, ein riesenhaftes
Bauwerk, das auf dem Kontinent nicht seines Gleichen hat und was von zwei englischen
Bahnhofshallen in Hinsicht auf die Breite, nicht auf die Höhe übertroffen wird. In Bezug auf die
künstlerische Bewältigung dieser großen Bau-Aufgabe jedoch, dies darf man wohl schon jetzt
aussprechen, wird dieser Bahnhof wahrscheinlich den ersten Rang einnehmen und einstweilen
die beste Lösung einer der größten architektonischen Aufgaben der Neuzeit sein. Der bekannte
bauwissenschaftliche Schriftsteller und Redacteur der „Deutschen Bauzeitung" K. E. O. Fritsch
spricht sich in seinem Blatte folgender Maassen darüber aus:
„Es gewährt uns eine aufrichtige Freude, über ein Werk dieser Art und dieses Ranges berichten
zu können, das wir mit ungetrübter Anerkennung begrüßen dürfen. Im harmonischen Zusammenwirken eines hochbegabten Architekten, der sich mit feurigem Eifer in die ihm
gestellte, bedeutsame Aufgabe vertieft und derselben mehre Jahre rastloser Arbeit gewidmet
hat, mit den einsichtsvollen Technikern der Bahn-Direktion, welche die Rücksichten der
Nutzbarkeit und Oekonomie nach Gebühr zu vertreten, gleichzeitig aber auch auf die künstlerischen Gedanken ihres Architekten einzugehen wussten, ist eine Leistung zu Stande gekom60
men, die hoch über den meisten Lösungen derselben Aufgabe steht, die wir kennengelernt
haben. Von jenem Kompromiss zwischen Monumental- und Nützlichkeits-Bau, an dem selbst
die aufwandsvollsten Bahnhofs-Anlagen der Neuzeit fast durchweg noch kränkeln und kranken, tritt hier wenig zur Erscheinung. Der Bau, über den ein endgültiges Urtheil freilich erst
nach seiner völligen Fertigstellung gefällt werden kann, wird voraussichtlich nicht nur allen aus
der Situation und dem Betrieb hervor gehenden Ansprüchen in bester Weise genügen, sondern
er wird auch als ein klarer und einheitlicher Organismus seine Bestimmung würdig und
charakteristisch verkörpern und unter den Monumental-Bauten der deutschen Hauptstadt
vermöge seines absoluthen Kunstwerths einen ehrenvollen Platz behaupten. Und wie er schon
jetzt - zunächst wohl seiner ungewöhnlichen Dimension wegen - das Aufsehen des Publikums
erregt und eine gewisse Popularität sich erworben hat, so darf erwartet werden, dass er auf die
Gestaltung späterer Bahnhofsbauten nützlichen Einfluß ausüben wird - als Beispiel einer guten
Lösung, wie als Muster für den Weg, auf dem eine solche Lösung erzielt werden kann."
Die ziemlich genau 100 m breite Fronte des Gebäudes ist am askanischen Platze gelegen und
zeigt einen zweigeschossigen Vorbau, in dessen Mitte das Eingangsvestibul mit einer geräumigen Droschkenunterfahrt wirkungsvoll zum Ausdruck kommt. Hinter diesem Vorbau erhebt
sich in muthigem von Fensteröffnungen durchbrochenem Bogen der vordere Abschluß der
Empfangshalle und bringt so die Bestimmung des Gebäudes in schlagender Weise zum
Ausdruck. Tritt man in das geräumige schön ausgestattete und durch Oberlicht erhellte
Vestibül, so befinden sich zur Linken sechs Billetschalter, zur Rechten die Gepäckexpedition.
Geradezu führt durch eine mächtige Bogenöffnung eine breite Treppe zu den 4,6 m über
[Straßenniveau] gelegenen Hallenfußboden empor und man gewinnt durch ein großes Fenster
einen imposanten Einblick in dieselbe. Auf halber Höhe theilt sich diese Treppe nach rechts
und links und führt in einen quer vor die große Halle gelegten Corridor von gewaltigen
Dimensionen, der den Zugang in sämmtliche für das Publikum bestimmte Räume, Wartesäle
etc. vermittelt. Aus diesem Corridor münden eine große Anzahl von Thüren auf den Kopfperron, von welchem vier Seiten- resp. Mittelperrons sich wie die Zähne eines Kammes auf die
Halle erstrecken. Zwischen diesen Perrons liegen drei Gruppen von je zwei Gleisen, von denen
viere für das abfahrende und zwei für das ankommende Publikum bestimmt sind. Eine
Neuerung ist, daß je zwei Gleise jedesmal zwischen sich einen Ladeperron erhalten haben,
welcher nur für die Beförderung des Passagiergepäcks bestimmt ist. Das Gepäck wird auf
Karren unterirdisch dorthin befördert, zwischen den Gleisen durch hydraulische Aufzüge
empor gehoben und kommt mit den für das Publikum bestimmten Perrons garnicht in
Berührung, so daß der von andern Bahnhöfen bekannte gewöhnlich schon von einem Stoß in's
Genick begleitete Ruf „Vorgesehn!" hier nicht gehört werden wird. Durch diese Platz raubende
aber praktische und bequeme Anordnung wird auch die große Breite der Halle, welche im
Lichten 60 m beträgt erklärt: Zum Vergleiche möge es den in Berlin bekannten Lesern dienen,
daß keine der neuen großen Berliner Bahnhofs-Hallen über 38 m Lichtweite besitzt, daß man
z. B. den ganzen Berliner Bahnhof der Berlin Potsdam Magdeburger Eisenbahn mit seinen Nebengebäuden in diese Halle hineinsetzen kann und über denselben immer noch reichlich Raum für ein
einstöckiges Wohnhaus verbliebe.
Die Beleuchtung geschieht durch große hochgelegene Seitenfenster von etwa 7 m Breite und
8 m Höhe und durch einzelne im Scheitel des Daches eingebrachte Oberlichter von verhältnismäßig geringen Dimensionen.
Der Dachstuhl wird gebildet durch eine eiserne Fachwerksbogenconstruction mit Stahlzugstange
undjeder dieser einzelnen Dachträger oder sogenannten Binder ist zusammengesetzt aus zwei mit
einander verbundenen Halbbindern, welche an den Seiten Consolen tragen, wodurch die ganze
61
Breite eines solchen Binders auf 7 m gebracht wird und es ermöglicht wird die Zwischenräume
zwischen den einzelnen Doppelbindern durch Holzbalken zu überspannen. Die Abbildung auf Seite
... giebt ein deutliches Bild dieser Construction.
Sehr bemerkenswerth und durchaus neu war die Aufstellung des eisernen Dachstuhls der
Halle. Je zwei der großen eisernen Doppelbogenträger, deren im Ganzen 11 vorhanden sind
wurden auf einem feststehenden Gerüst am Ende der Halle zusammengebaut und nach ihrer
Vollendung vermittelst eiserner Wagen auf Geleisen entlang, die auf der Krone der Hallenseitenwände lagen an den Ort ihrer Bestimmung gefahren. Die auf diese Weise jedes Mal
fortbewegte Last betrug etwa 1600 Centner. Diese Art der Aufstellung erregte in Fachkreisen
großes Aufsehen und sämtliche technische Körperschaften Vereine und Hochschulen sowie
fast alle in Berlin anwesenden Autoritäten sowohl des Architecten- als des Ingenieurfaches,
waren nach einander bei den verschiedenen Ueberschiebungen zugegen.
Unsere Abbildung zeigt den Hintertheil nebst dem für die Ein- und Ausfahrt der Eisenbahnzüge bestimmte Abschluß der Halle und giebt eine Vorstellung von der Großartigkeit der
ganzen Anlage.
Als Baumaterial für die Faqaden wurden Terrakotten und Verblendsteine der Greppiner Werke von
schöner gelber Farbe und zum Theil Sandstein verwendet. Die Eisenconstruction des Hallendaches
lieferte die Gutehoffnungshütte in Sterkrade.
Die technische Oberleitung über diesen Bau hatten der technische Director, Mitglied der Berlin
Anhalter Bahn, Herr Geh. Ob. Rath a. D. Siegert und der Ober-Ingenieur der Gesellschaft,
Rath Wiedenfeld.
Entworfen wurde das Gebäude von dem Baumeister Franz Schwechten, einem geborenen
Kölner, unter dessen künstlerischer Oberleitung derselbe auch zur Ausführung gelangt.
Das eiserne Hallendach ward auf den unter der Leitung des Herrn Baumeister Lantzendörffer
stehenden technischen Bureau der Bahn von dem Ingenieur Seidel berechnet und construirt.
Von demselben stammen auch die Entwürfe für die hydraulischen Aufzüge. Die technische und
geschäftliche Leitung der Bauausführung war dem Baumeister Zillich übertragen.
Anschrift des Verfassers:
Dr. Karl-Robert Schütze, Bruno-Bauer-Straße 20 a, 1000 Berlin 44
Nachrichten
Zur Erforschung und Propagierung der Heimatgeschichte in Ost-Berlin
Am 4. Februar 1988 ist unter dem Vorsitz des Stadtrats für Kultur Dr. Christian Hartenhauer eine
ehrenamtlich wirkende Arbeitsgruppe zur Erforschung und Propagierung der Regional- und Heimatgeschichte vom Magistrat der Stadt Berlin (Ost) berufen worden. Sie setzt sich aus 37 Persönlichkeiten von
wissenschaftlichen Einrichtungen wie der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee
der SED, der Humboldt-Universität, dem Museum für Deutsche Geschichte, dem Stadtarchiv, dem
Märkischen Museum sowie von heimatgeschichtlichen und Traditionskabinetten zusammen. Aufgabe der
Mitglieder ist es, sich der, wie es heißt, Ausarbeitung der Erbekonzeption für Berlin und der Profilierung
heimatgeschichtlicher Kabinette anzunehmen. Die Arbeitsgruppe soll dazu beitragen, die BerlinGeschichte weiter aufzubereiten sowie deren Propagierung kontinuierlich fortzuführen.
Im ersten Quartal 1988 zeigte das Museum für Naturkunde der Humboldt-Universität in der Invalidenstraße 43 eine Ausstellung unter dem Titel „Die alten Berliner - Skelettfunde sagen aus". Die Funde
stammen aus der sogenannten vorstädtischen Zeit (1180 bis 1230) bzw. aus der Barockzeit (1630 bis 1707).
SchB.
62
Aus dem Mitgliederkreis
Professor Dr. Dr. Walter Hoffmann-Axthelm 80 Jahre
Eine Reihe von Jahren verbringt unser Ehrenvorsitzender Professor Dr. med. Dr. med. dent. Walter
Hoffmann-Axthelm nun schon an seinem Ruhesitz in Freiburg im Breisgau, wobei der Ausdruck „Ruhe"
wohl einer Einschränkung bedarf, wenn man Temperament und Schaffensfreude unseres Geburtstagskindes kennt. Vor 80 Jahren wurde er arn 29. April 1908 in Berlin-Friedenau geboren, war als praktischer
Zahnarzt in Perleberg, als Kieferchirurg und Facharzt in Berlin und Hamburg sowie schließlich als
Medizinhistoriker an der Freien Universität Berlin tätig. Im Hinblick auf den Verein für die Geschichte
Berlins mag für ihn gelten: aus den Augen, nicht aus dem Sinn! Denn das Jahrzwölft seines Regiments an
der Spitze des Vereins hat Spuren hinterlassen, die seinem Wirken als Redakteur der „Mitteilungen" und
Mitherausgeber des Jahrbuchs, als Autor, als Interessenvertreter und Speerspitze des Vereins zu verdanken sind. Man soll aber auch nicht gering achten, wie er die Herzen der Mitglieder zu bewegen und ihre
Sinne zu bannen wußte.
Unser verstorbenes Mitglied Kurt Ihlenfeld hat einmal geschrieben: „Altern heißt auch: bestimmte Fragen
nicht mehr stellen, ferner auf bestimmte Fragen keine Antwort mehr erwarten, endlich bestimmte
Antworten nicht mehr in Frage stellen." Immer noch literarisch tätig und von Terminen umstellt, mag
Professor Hoffmann-Axthelm diesen Worten aus „Stadtmitte" ihre Berechtigung nicht absprechen. Mit
vier Kindern und inzwischen einer Schar von Enkeln gesegnet, in einem Großteil seines Lebens auch
lehrend tätig gewesen, wird er in nun schon vorgeschrittenen Lebensjahren Cicero beipflichten können,
der die rhetorische Frage stellt: Quid est jucundius senectute stipata studiis juventutis? (Was ist angenehmer, als im Alter von interessierten jungen Leuten umgeben zu sein?). Da gibt es höchstens noch
die Steigerung, eine höchst liebenswerte Gattin zur Seite zu haben: auch Frau Dr. Irmgard HoffmannAxthelm gilt unser Geburtstagsgruß zur Vollendung ihres 75. Lebensjahres!
H. G. Schultze-Berndt
Hans Schiller verstorben
Am 8. Januar hatte Hans Schiller, schon von Krankheit gezeichnet, sein 83. Lebensjahr vollenden können.
Am 23. Januar 1988 ist er verstorben. So lange es seine körperlichen Kräfte erlaubten (sein Geist blieb bis
zuletzt hellwach und verriet den gewitzten Berliner), versah er in der Bibliothek allwöchentlich wie seit 1966
seinen Dienst als Sachbearbeiter für den Tauschverkehr und als Korrespondent.
War er oben als Berliner apostrophiert worden, so würde er hier Einspruch eingelegt haben. Denn auf drei
Dinge legte er besonderen Wert: Zum ersten, daß er in Schöneberg geboren wurde, zum anderen, daß er
seit 1923 Inhaber eines vom Dampfkesselrevisionsverein Berlin-Charlottenburg ausgestellten Führerscheins war (und bis zu seinem schweren Sturz fuhr er unermüdlich seinen VW-Käfer), zum dritten
schließlich, daß er ein Gegner des nationalsozialistischen Regimes war; folgerichtig ist er 1938 nach
Argentinien ausgewandert, wo der gelernte Speditionskaufmann ein Vierteljahrhundert lang ein eigenes
Transportgeschäft betrieb. 1965 kehrte er nach Berlin zurück.
Früh schon war Hans Schiller mit dem Verein für die Geschichte Berlins in Berührung gekommen, hatte
1918 als Dreizehnjähriger dessen Bibliothek im Deutschen Dom besucht und als fünfzehnjähriger Schüler
die Verkehrsangaben für den Pharus-Plan für Berlin und seine Vororte redigiert. Bei Fragen des Berliner
Verkehrs lag auch der Schwerpunkt seiner historischen Interessen, kenntnisreich und mit einer an Akribie
grenzenden preußischen Gründlichkeit schrieb er seine Beiträge und Rezensionen für unsere „Mitteilungen" wie für andere Periodika.
Am 8. Juli 1987 verlieh ihm der Vorstand die nur selten vergebene „Fidicin-Medaille für Förderung der
Vereinszwecke" in Silber. Damit dankte ihm der Verein „für sein jahrelanges aufopferungsvolles und
umsichtiges Wirken in der Bibliothek und würdigt(e) seine Treue und Anhänglichkeit". Er war der getreue
Eckehart unserer Bibliothek, der sich im Pflichtgefühl von niemand übertreffen lassen mochte. Wir sind
traurig, daß er von uns Abschied genommen hat. Hans Schillers exemplarisches Leben gibt uns zu denken
und zu danken.
H. G. Schultze-Berndt
63
Ein preußischer Tod
Ein guter preußischer Beamter, so wollen es die Kenner wissen, erfülle täglich seine Pflicht, ohne je zu
fehlen oder zu klagen, trete mit der Vollendung des 65. Lebensjahres in den Ruhestand und sterbe binnen
eines Jahres, um dem Vaterland die Pension zu ersparen!
Peter Lorenz, langjähriges Mitglied des Vereins für die Geschichte Berlins, gegründet 1865, war kein
Beamter. Aber als er kurz vor Vollendung seines 65. Lebensjahres im letzten Dezember starb, da erinnerte
mancher sich an seine preußischen Tugenden: offen, gerade, zuverlässig, bescheiden, wahrhaftig und
liebenswürdig.
Auf Peter Lorenz schien Moltkes Sentenz zu passen: Viel leisten, wenig hervortreten, mehr sein als
scheinen. Peter Lorenz war kein Blender, es fehlte ihm, was die Politiker haben sollten, Charisma. Aber als
er fühlte, seine Partei braucht, um den Gipfel zu stürmen, einen neuen Mann an der Spitze, war er es selbst,
der den Wechsel einleitete, ohne selbst nach dem Lohn zu fragen.
Peter Lorenz war Berliner mit Herz, Verstand und „Schnauze". Seine Art wird ihm in den schweren Tagen
seiner Entführung geholfen haben. Ich empfand den persönlichen Umgang als sehr angenehm: von
welchem „politischen" Freund kann man das schon sagen?
Mit Peter Lorenz verbinden mich viele Erinnerungen: die Vorbereitung auf das Staatsexamen, die
gemeinsame Teilnahme an der mündlichen Prüfung, die Arbeit in der Geschäftsführung der „Heinzelmännchen", der gemeinsame Besuch am Potsdamer Platz am 17. Juni 1953, der gleichzeitige Vorsitz in
damals gegnerischen Parteien ...
Was bleibt, ist die Trauer um und die Erinnerung an einen Freund, den Berlin verloren hat.
Hermann Oxfort
Aus dem Vereinsleben
Wichtige Mitteilungen
Wegen Umzugs der Bibliothek, voraussichtlich Mitte 1988, bitten wir alle Interessenten, die ihre Mitteilungen der Jahrgänge 1983 bis 1987 einbinden lassen wollen, ihre Hefte bis spätestens Ende April in der
Bibliothek des Vereins, Otto-Suhr-Allee 96 (Rathaus), 1000 Berlin 10, geöffnet mittwochs 16.00 bis
19.30 Uhr, abzugeben.
/. Köhler
Auf der Hauptversammlung 1987 war die Erhöhung des Jahresbeitrages auf 60 DM beschlossen worden.
Leider ist das von vielen Mitgliedern nicht beachtet worden. Deshalb bittet der Vorstand darum, dieser
infolge der ständig steigenden allgemeinen Kosten notwendig gewordenen Maßnahme Verständnis entgegenzubringen. Es wäre schön, wenn die Damen und Herren, die den Jahresbeitrag für 1988 in der
früheren Höhe überwiesen haben, den Differenzbetrag nachzahlen könnten.
Studienfahrt n a c h D e t m o l d
v o m 9. bis 11. September 1988
Vorläufiges Programm:
Freitag, 9. September 1988
6.00 Uhr:
Abfahrt
12.30 Uhr:
Eintreffen in den Hotels
13.15 Uhr:
Gemeinsames Mittagessen (6 DM) in der Kantine der Bundesforschungsanstalt
für Getreide- und Kartoffelverarbeitung,
anschließend Besichtigung der Bundesforschungsanstalt.
Führung: Wissenschaftlicher Direktor und Professor Dr.-Ing. Peter Gerstenkorn
16.30 Uhr:
Kleiner Stadtbummel zum Schloß (Dauer des Besuchs ca. 45 min),
weiter Stadtrundgang unter Stadt- und landesgeschichtlichen Aspekten,
bei den Hotels endend.
Führung: Dr. Friedrich Hohenschwert
19.00 Uhr:
Fahrt zum gemeinsamen Abendessen im „Kohlpott" in Detmold-Pivitsheide
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Sonnabend, 10. September 1988
Fortsetzung des Stadtrundgangs
8.30 Uhr:
Besuch des Lippischen Landesmuseums, kurzer Rundgang durch Teilbereiche.
9.30 Uhr:
Führung: Dr. Friedrich Hohenschwert
Fahrt vom Theaterplatz zum Westfälischen Freilichtmuseum
10.30 Uhr:
mit Rundgang und Führung
13.00 Uhr:
Gemeinsames Mittagessen
14.30 Uhr:
Fahrt zur Greifvogelwarte Berlebeck mit Vortrag des Leiters der Adlerwarte Laue
Freiflugvorführungen mit abgerichteten Adlem, Geiern und Falken
15.00 Uhr:
Gemeinsame Kaffeetafel im Hotel zur Forelle, Berlebeck
16.00 Uhr:
17.00 Uhr:
Fahrt zur Grotenburg, kleiner Hünenring und zum Hermannsdenkmal
18.30 Uhr:
Gemeinsames Abendessen.
Wenn an diesem Abend ein (Kirchen-)Konzert stattfindet,
kann eine Programmänderung vorgenommen werden.
Sonntag, 11. September 1988
9.30 Uhr:
Landschafts- und kulturkundlicher Ausflug. Führung: Dr. Friedrich Hohenschwert
12.30 Uhr:
Gemeinsames Mittagessen im Burgkeller des Burghotels Blomberg
anschließend: Aufbruch zur Heimfahrt
Änderungen vorbehalten
In Heft 3/1988 der „Mitteilungen" werden die noch ausstehenden Einzelheiten zum Programm dieser
wieder nur dreitägigen Exkursion veröffentlicht. Unverbindliche Anmeldungen können jetzt bereits an
den Schriftführer Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13, 1000 Berlin 65, Telefon 4509-291, gerichtet
werden. Der Termin für eine verbindliche Zusage wird in der folgenden Veröffentlichung bekanntgegeben.
Eine hinreichende Zahl von Quartieren (auch Einzelzimmern) ist in den beiden Detmolder Hotels
„Lippischer H o f und „Detmolder H o f reserviert worden.
H. G. Schultze-Berndt
Studienfahrt nach Trier
Die traditionelle Exkursion 1987 führte vom 11. bis 14. September nach Trier; der weiten Anreise wegen
war diese Studienfahrt um einen Tag verlängert worden. Auf dem Hinweg wurde nach gewohnt frühem
Aufbruch bei gutem Wetter eine angenehme Mittagspause im Oelder Brauhaus eingelegt, der sich ein
Besuch der Oelder Privat-Brauerei Pott-Feldmann anschloß. Der junge Brauherr Dipl .-Braumeister
Rainer Pott-Feldmann ließ es sich nicht nehmen, die Gäste selbst durch seine aufstrebende mittelständische Braustätte zu führen. Für die Unterbringung standen die Hotels Blesiusgarten bzw. Neils Park zur
Verfügung, beide an der Peripherie der Moselstadt Trier gelegen, beide in ihrer Eigenart aber ein Labsal für
die Reisenden.
Am Sonnabend, 12. September 1987, war der Stadtrundgang dank der herzerfrischenden Art der an
Informationen schier übersprudelnden Führerin Frau Marga Müller-Möller ein Erlebnis, das allein schon
den Weg nach Trier lohnte. Einem freundlichen Empfang im Rathaus der Stadt Trier, gegeben vom
Beigeordneten Reinhard Heinemann, dem Baudezernenten der Stadt, folgten Ausführungen zur Denkmalpflege in Trier, für die sich der Städtische Denkmalpfleger Helmut Lutz einige der zahlreichen Objekte
ausgewählt hatte. Das gemeinsame Mittagessen wurde auf der Löwenbrauerei Trier eingenommen.
Nachdem Frau M. Müller-Möller auch noch die Führung durch den Dom übernommen hatte, trennten
sich die Gruppen je nach Interesse: eine Minderzahl besichtigte das Karl-Marx-Haus, das wenig Ausstrahlung verspüren ließ, die Mehrheit entschloß sich zu einem Besuch der Schatzkammer der Stadtbibliothek. In den „Mitteilungen" Nr. 1/1988 hat Frau Dr. Christiane Knop als Mitreisende ausführlich
davon berichtet, welche kostbaren Bücher und Dokumente Dr. Günther Franz, Direktor der Stadtbibliothek und des Stadtarchivs Trier, den Gästen präsentieren konnte. Albert Oberbillig-Schieben führte
schließlich den Spaziergang über den sonnigen Weinlehrpfad Olewig an und machte fachmännische
Ausführungen zu der Weinprobe in seinem Weingut Deutschherrenhof.
Am Sonntag wartete Frau Dipl.-Ing. Marie Luise Niewodniczanska an der Strecke auf den Berliner
Omnibus, um in einer so informativen wie munteren Weise im Rahmen einer kleinen Rundfahrt durch die
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Südeifel den Berlinern vorzuführen, wie es im Kreise Bitburg-Prüm mit der Denkmalpflege im ländlichen
Raum und mit der Erhaltung und Erneuerung von Dörfern bestellt ist. Bei einem großartigen Mittagsmahl
in der Burgschenke der Burg Rittersdorf gab sie dann die Leitung an Dipl.-Geologen Karl-Heinz Koppen
ab, der die Gruppe auf einer geologischen Exkursion in die Vulkan-Eifel und zu den Eifelmaaren mit
aufschlußreichen Daten aus der Vulkanologie und Hydrogeologie bekannt machte.
Die Rückfahrt am Montag führte über ein landschaftlich besonders attraktives Stück der Moselberge nach
Bernkastel-Kues, wo sich die Gäste im Geburtshaus des Kirchenfürsten, Theologen, Philosophen und
Universalgelehrten Nikolaus von Kues in dessen Leben und Wirken einführen ließen. Im St.-NikolausHospital (Cusanusstift) stieß dann Dr. Helmut Gestrich, Landrat des Kreises Wittlich-Bernkastel, zu den
Besuchern aus Berlin und vertiefte als Vorsitzender der Cusanus-Gesellschaft den Eindruck, den die
Mitglieder von diesem großen Neuerer gewonnen hatten.
Auch der weitere Heimweg muß glatt verlaufen sein - der Chronist kann hierüber nur von Hörensagen
berichten, da er eine Dienstreise an den Niederrhein antreten mußte.
Der Dank gilt wie immer nicht nur den so liebenswürdigen wie disziplinierten Mitreisenden, sondern allen
so besonders aufgeschlossenen Gastgebern, die hier genannt worden sind, vor allem aber auch dem
stellvertretenden Leiter des Verkehrsamts Trier, Günter Jacoby, bei dem die Fäden der Vorbereitung
zusammengelaufen waren.
H. G. Schultze-Berndt
Buchbesprechungen
Aus der Schriftenreihe des „Heimatvereins für den Bezirk Zehlendorf e.V." liegt die Nummer 5/87 der
Zehlendorfer Chronik vor. Betitelt ist sie: „Der historische Winkel." Teil I: Das Zehlendorfer Schulhaus von
1828; Teil II: Die Zehlendorfer Dorfkirche von 1768.
Benno Carus geht in seinem Beitrag zur Zehlendorfer Ortsgeschichte in einem sehr detaillierten und reich
bebilderten Beitrag auf die Baugeschichte der Zehlendorfer Schule bis in unsere Zeit ein. Christfried
Tschepe beschreibt nicht minder interessant die wechselvolle, über 200 Jahre alte Geschichte der Zehlendorfer Dorfkirche. Auch hier liegt ein reiches Bildmaterial vor.
/. Köhler
Wolfgang Rothe: Der Pflastertreter. Ein Bericht über Tabak, Bier und Hitler aus Berlins Arbeiterviertel
Neukölln. Fotos Stefan Rothe. Verlag das Wunderhorn, Heidelberg 1985,184 Seiten, broschiert.
Mehr als 40 Jahre, nachdem der Autor, gebürtiger Berliner des Jahrgangs 1929 und heute vielfältig tätiger
Publizist und Literaturwissenschaftler, in den Jahren zwischen 1935 und 1943 die Straßen seines damaligen
Wohnbezirks Neukölln durchschritten hatte (hier als „Berlins Arbeiterbezirk" gekennzeichnet), sucht der
Schreiber seine alte Heimat auf. Er will seine früheren Schulwege nochmals abgehen, „das inzwischen gang
und gäbe Pensum eines Literaten der Hitler- und Kriegsgeneration erledigen". Unterderhand gerät ihm
dieser Spaziergang zu einer Abrechnung mit seinen Eltern, die, beide Arbeiterkinder, 1935 in eine neu
errichtete Wohnsiedlung in Neukölln übergesiedelt waren (und auch das ist ja heute Literatenbrauch):
„Nein, mit dieser neuen Mittelschicht war kein Staat zu machen, höchstens einer in Gang zu halten."
Zutreffend bezeichnet W. Rothe seine Ausführungen als „heutige Reflexionen über sozialpathologische
Züge jener Zeit", in der der Autor „nicht den Ordnungsfetischismus dieser Spießer (durchschaute), deren
ständige Wohlverhaltensforderung Kinder auf die Dauer krank machen konnte". Ähnlich hart geht er mit
der heutigen politischen und gesellschaftlichen Situation Berlins um, wenn er dem Leser die Wette
anbietet, Neukölln würde im Jahre 2000 ein Slum sein: „Hier versucht man erst gar nicht, die durch
Milliardenspritzen mühsam vor dem Exitus bewahrte Stadt kosmetisch herzurichten, mit Kultur zu
parfümieren, hier stinkt die galvanisierte Leiche der einstigen Reichshauptstadt ungeniert vor sich hin..."
Aus den nachprüfbaren Tatsachen ergibt sich der fast masochistische Charakter dieser Abrechnung mit
seinen Eltern, „zwei Klassenverrätern", und dem Stadtviertel, in dem sie einst gelebt haben. Bei den
stundenlangen Spaziergängen durch die heute „menschenleeren Straßenzüge seiner Jugend" kommen ihm
dann auch Erinnerungen, die Patrick Süßkinds „Parfüm" alle Ehre gemacht hätten: „Die Mainzer Straße
wurde früher von süßlichen Malzschwaden einer Brauerei überschwemmt, das stadtbekannte Berliner
Kindl wurde hier produziert, der penetrante Gestank wälzte sich über die rostrote Ziegelmauer, war
brechreizerregend und einschmeichelnd zugleich. Inzwischen ist die Geruchsfolter außer Betrieb oder
abgerissen." Es soll sogar Leute geben, die den Geruch von Malz und Bierwürze der gottlob immer noch
produzierenden Berliner Kindl Brauerei als einen Teil ihrer Lebensqualität ansehen!
SchB.
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Ruth Andreas-Friedrich: Schauplatz Berlin, Tagebuchaufzeichnungen 1945-1948. Mit einem Nachwort von
Jörg Drews. Suhrkamp-Verlag 1984, 286 Seiten, Leinen, 27 DM.
Nach dem großen Erfolg ihres ersten Buches „Der Schattenmann", Tagebuchaufzeichnungen von
1938-45, entschloß sich der Suhrkamp-Verlag, auch den zweiten Teil der Aufzeichnungen (vom 2. Mai
1945 bis zum 29. Dezember 1948) zu veröffentlichen. Aus den Schicksalsgenossen der „Clique Onkel Emil",
die bedrohten Menschen während der Nazizeit half, wurden nach der Befreiung vom Hitlerterror wieder
der Dirigent, der Schriftsteller, der Arzt, die Schauspielerin, Sekretärin und Redakteurin. Ruth AndreasFriedrich beschreibt, mit welch großen Hoffnungen sie an einen Neuanfang gingen, wie unendlich
mühsam dieses Beginnen in dem zerstörten Berlin war und wie doch schon 1946 deutlich wurde: „Die
strahlende Beschwingtheit von 1945, der Rausch, aus der Kraft unseres Glaubens einen neuen Aufschwung
zu schaffen, ist einer flügellahmen Enttäuschung gewichen. Schon längst haben wir begriffen, daß es gar
nicht mehr um uns, sondern um den Machtstreit zweier Weltanschauungen geht. Auf unserem Rücken
wird er ausgetragen." Dazu kam die Resignation bei der Bevölkerung: Der Hunger und der Schwarzmarkt
waren stärker als das Schuldbewußtsein. Die Angst vor der Gestapo wurde abgelöst von der Angst vor den
Russen. Die Zwangsvereinigung von SPD und KPD zur SED im April 1946 konnte auch nicht als
Ermunterung betrachtet werden. Hinzu kam die Art der Entnazifizierung, die ganz schematisch und
„ahnungslos" abgewickelt wurde. All das spielte sich ab vor dem Hintergrund: halbzerstörte Wohnung,
mangelhafte Ernährung, kein Wasser, kein Strom, keine Kohlen. Die Tagebuchschreiberin verglich es mit
den sieben Plagen, unter denen ehemals Ägypten stand: „Kaum hat die Plage Krieg sich abgewendet, so
beginnt die Plage Vergewaltigung. Ihr folgt die Plage Flüchtlingsnot . . . die Plage Kälte ..."
Auch im privaten Bereich der Ruth Andreas-Friedrich blieb es nicht bei der alten Solidargemeinschaft,
man driftete auseinander. Ihr Freund, Leo Borchard, der erste Dirigent der Berliner Philharmoniker nach
1945, hielt ihr entgegen: „Es ist viel leichter gegen etwas solidarisch zu sein als für etwas."
Sie hatten vorgehabt, Brücke zwischen den Mächten zu sein, aber sie wurden Brückenkopf und schließlich
Fußmatte, „so sahen die Stationen unseres Abstiegs aus". Nach Währungsreform und Blockade zeichnete
sich immer deutlicher die Trennung der beiden Machtblöcke ab, was in Berlin zu zwei Stadtparlamenten,
zwei Polizeibehörden, zwei Stadtregierungen und zwei Universitäten führte. Nachdem ihre Arbeit in der
Frauenzeitschrift „SIE" mangels Papierlieferungen eingestellt werden mußte, verließ sie im Dezember 1948
den „Schauplatz Berlin" und ging nach München.
Beinahe prophetisch hatte sie unter dem 6. September 48 notiert: „Möglich, daß wir ab morgen zwei
Stadtregierungen und eine chinesische Mauer mit Wehrgang und Wachttürmen längs der Sektorengrenze
haben. Vielleicht braucht man dann ein Auslandsvisum, um von Charlottenburg nach den Linden zu
fahren."
Irmtraut Köhler
Heinz Knobloch: „Berliner Grabsteine". Das Arsenal, Verlag für Kultur und Politik, Berlin 1987,238 Seiten.
Auf seinen entdeckungsreichen Kulturstreifzügen durch Ost- und West-Berlin, deren Ergebnisse er dann
in stets interessanten und dabei nachdenklichen Büchern niederlegt, ist Heinz Knobloch neuerdings der
Geschichte ausgewählter Grabmäler gefolgt. Seine stark jüdisch-historisch betonten Erzählungen, besonders der „Herr Moses in Berlin" (jetzt in einer neu gestalteten, gründlich durchgesehenen 2. Auflage im
Verlag für Kultur und Politik, „Das Arsenal", Berlin 1987, erschienen), haben den Autor im Inland und
Ausland weithin bekannt gemacht.
Seine sehr persönlich gehaltenen Betrachtungen über „Berliner Grabsteine" (im gleichen Verlag, Berlin
1988) setzen die Reihe der erfolgreichen Knoblochschen Bücher fort. In diesem neuen stellt er die
unterschiedlichsten Lebensgeschichten mit allem, was auch genealogisch dazugehört, zusammen,
anschaulich erzählend und aufbauend auf präzisen Recherchen: eine Sammlung bunter historischer
Miszellen.
Der große Jüdische Friedhof in Weißensee, auf dem Knobloch Tage und Wochen zugebracht haben muß,
bietet Stoff vor allem für solche Lebensberichte, die während der NS-Zeit nicht mehr in einer breiten
Öffentlichkeit bekannt werden durften. Er holt das jetzt nach, bewundernswert taktvoll, aber deutlich.
Dafür einige Beispiele: Knobloch beschreibt die letzten Jahre des bekannten Professors für Theaterwissenschaft an der alten Berliner Universität, Max Herrmann, der 1944 in Theresienstadt umkam. Er erinnert an
Herbert Baum (1912-1942) und seine Gruppe, mit derein Stück Berliner Widerstandsgeschichte verbunden ist. Baums Grab wurde 1949 auf dem Friedhof in Marzahn am Rande von Berlin gefunden, erst
danach wurde er in Weißensee beigesetzt. Ein Gedenkstein für ihn, seine Frau Marianne und die 26
weiteren Angehörigen der Gruppe, die sämtlich hingerichtet worden waren, befindet sich in der Ehrenreihe. Und drittens zeichnet Knobloch den Lebensweg von „Noseph", dem Professor Jacques Joseph,
67
nach, der im ersten Drittel unseres Jahrhunderts durch bedeutende Gesichtsplastiken, speziell Nasenoperationen, bekannt wurde. Dieser verdiente Chirurg starb 1934,69 Jahre alt; 1933 war er, wie Knobloch
zu berichten weiß, von den Nazis mißhandelt worden.
Immer wieder wird gefragt, wo in Berlin sich die Gräber von Walther Rathenau und seiner nächsten
Angehörigen befänden; denn auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee seien sie nicht auffindbar. Was
schon bekannt war, bestätigt Knobloch jetzt definitiv. Er beschreibt im Detail das von Alfred Messel
erbaute Rathenau-Mausoleum auf dem Städtischen Waldfriedhof in (Ost-)Berlin-Oberschöneweide: Der
Innenraum wirke wie ein ungeheurer Steinsarg, meint Knobloch, in der Mitte eine unbenutzte Fläche,
offenbar gedacht für weitere Familienmitglieder. Hier ruhen nur vier Rathenaus, nämlich Erich, Walthers
frühverstorbener jüngerer Bruder, wie er selbst ein Ingenieur, sodann der Vater Emil, der Senior der
Familie, ein bedeutender Techniker, der 1857 die AEG gründete, gefolgt von dem 1922 ermordeten
Wirtschaftsorganisator und Politiker Walther und schließlich der Mutter, Mathilde, einer geborenen
Nachmann aus Mainz.
Gut vertraut mit Berlin-Mitte, beginnt Knobloch seine Wanderung in der Gegend zwischen der Großen
Hamburger und der Rosenthaler Straße und bezieht gleich auch die Schönhauser Allee mit ein. Wie so oft
in seinem Buch beschreibt er die Stimmung, die den Besucher auf diesen drei Friedhöfen einfängt. Ein
Grab, so berichtet er, hob sich von allen Gräbern damals leuchtend ab - es war von einem Gitter
umschlossen, mit Efeu bewachsen und auf dem Stein stand, oben in hebräischer Schrift, unten in goldenen
deutschen Lettern: „Moses Mendelssohn, geb. zu Dessau den 6. September 1729, gest. zu Berlin den
4. Januar 1786". Das Grab, so schließt Knobloch, ist heute (mit einem anderen Stein versehen) das einzige
auf diesem ältesten jüdischen Friedhof Berlins in der Großen Hamburger Straße.
Bei Felix-Mendelssohn Bartholdy und seiner Familie, für die auf dem Dreifaltigkeitsfriedhof am Halleschen Tor ein Ehrengrab besteht, erwähnt Knobloch den tschechischen Roman von Jifi Weil „Auf dem
Dach ist Mendelssohn" (Prag 1960). Vom Dach des Prager Künstlerhauses Rudolfinum soll die Figur des
Komponisten Mendelssohn verschwinden. Die mit der Ausführung des Auftrags betrauten Arbeiter,
eingedenk der ihnen erteilten Rassenlehre, daß Juden an großen Nasen erkennbar seien, beseitigen Richard Wagner. Ihre Erklärung: „Die anderen haben ganz gewöhnliche Nasen."
Nicht weit entfernt von Felix Mendelssohns Grabstätte, jedoch auf einem anderen Friedhof vor dem
Halleschen Tor, befindet sich das Grabmal von Henriette Herz (1764-1847), in deren Salon, einst ein
geistiger Mittelpunkt Berlins, auch die Mendelssohns verkehrten.
Verwickelt klingt die Familiengeschichte des Hofjuweliers Jacob Salomon und seiner drei zum Christentum übergetretenen Töchter. Diese Geschichte führt auf den katholischen Begräbnisplatz an der
Chausseestraße. Eine der Töchter, die spätere Marianne Saling (1786-1868), wurde wegen ihrer Anmut
überall mit Entzücken aufgenommen, vor allem von ihrer Wiener Tante Fanny Arnstein und deren
berühmtem Salon. Marianne hatte manche Liaison, blieb aber unverheiratet und betätigte sich auf
katholisch-sozialem Gebiet. Zum Kreis ihrer Verehrer zählte auch der kurios-neugierige Karl-August
Varnhagen von Ense - natürlich nach dem Tod seiner Frau Rahel, geb. Levin.
Und so können wir Knobloch auch zum Städtischen Friedhof an der Heerstraße in Neu-Westend
begleiten. Dort liegt auch Hans Ullstein (1859-1932) begraben, der älteste Sohn des Verlagsgründers, auf
dem Gemälde der fünf Brüder von Willy Jäckel (1927 zum 50jährigen Bestehen des Hauses entstanden) ist
er ganz links zu finden, der als schweigsam und öffentlichkeitsscheu geltende Jurist. Auf dem weiten, schön
angelegten Gelände findet man auch Grabdenkmäler des politischen Publizisten Maximilian Harden, fünf
Jahre vor Ullstein gestorben, und des Kunsthändlers Paul Cassirer aus dem Jahre 1926. Knobloch nennt
auch den völlig vergessenen Literatur- und Kunstschriftsteller Julius Elias und zitiert dabei Zuckmayer,
der einst von diesem als dem „Erzvater des Berliner Kunstlebens" sprach.
Wer suchet, der findet, könnte man sagen, wenn man Knoblochs Buch aus der Hand legt, Man ist fast
gleichermaßen beeindruckt von der oft eigenartigen stilistischen Darbietung des Stoffes wie von der Fülle
des Materials. Nur den Titel des Werks - „Berliner Grabsteine" - empfindet man als zu bescheiden; denn
Knobloch bietet mit seinem neuen Berlin-Buch weit mehr. Genau genommen bringt es vergessene
Repräsentanten des Berliner öffentlichen Lebens gewissermaßen wieder zum Leben, und das will etwas
heißen.
Ernst G. Lowenthal
Marion Klewitz: „Lehrersein im Dritten Reich. Analysen lebensgeschichtlicher Erzählungen zum beruflichen
Selbstverständnis. Materialien." Juventa Verlag, Weinheim und München 1987, 295 Seiten, reichhaltiges
Literatur- und Quellenverzeichnis.
Der etwas umständlich formulierte Titel umfaßt entsprechend komplizierte Inhalte und greift ein brisantes, längst überfälliges Thema auf. Seit dem erörterten Geschehen sind zwei Generationen herangewach68
sen; die seither stark angewachsene Erinnerungsliteratur hat aber die historische Wirklichkeit auf diesem
Feld eher verschwommen als geklärt erscheinen lassen. Vfn. betritt daher dieses dornige Gelände zögernd.
Inzwischen hat die hermeneutische Wissenschaft der Oral History, der erinnernd erzählten Vergangenheit,
die Kluft zwischen dem allgemeinen historischen Bewußtsein und lebensgeschichtlichem Verhalten einzelner Personen zu überbrücken versucht. Dies ist ein Ansatz unter anderen möglichen; sein Erfolg ist
noch strittig, zumal das Ergebnis auch dieser Studie nicht als endgültig zu betrachten ist. Zunächst aber ist
die Erforschung angestoßen. - Der jugendliche Frager bleibt in vielem ratlos; ob die betroffene Lehrerschaft im nachhinein zum erwünschten Selbstverständnis (s. Titel) gelangt ist, steht dahin, weil niemand
die „Grauzonen der Erinnerung" gänzlich erhellen kann. In den beiden Fallstudien kommen unbelastete
Lehrer zu Wort, die sich reinen Gewissens den Fragen stellen konnten, ja sogar als Widerstrebende gelten
können. - Der Studie liegt die Befragung einer Anzahl von Lehrern durch junge Kollegen bzw. Studierende zugrunde, deren Aussagen kritisch beleuchtet werden sollen und an denen die nachgeborenen
Fragenden historische Urteilsbildung lernen sollen; dies macht die Erörterung recht schwierig. Der zu
diesem Zweck vorangestellte methodologische Teil, der über die Wahrheitsfindung bei so vielschichtigen
Inhalten Auskunft geben soll, ist nur Insidern der Sozialforschung leicht verständlich, der gewöhnliche
Leser tut sich schwer damit. Ein Beispiel unter sehr vielen mag dieses damit zeigen: „An diesem Verfahren
besticht, daß die von einer Mehrzahl von Interpreten produzierten Kontextannahmen, die der Feinanalyse
vorangehen, eine grundsätzliche Gefahr vermeiden helfen. Sie machen den Beteiligten die persönliche,
perspektivische Wahrnehmung möglicherweise relevanter Kontextbedingungen bewußt zugänglich. Die
kommunikative Feinanalyse sodann, in der die Kontextannahmen anhand des Textes gemeinsam auf
plausible Strukturmerkmale hin überprüft werden, bildet eine zusätzliche Sicherung gegen Projektionen
und trägt dazu bei, zwischen angegebenen und tatsächlichen Motiven der in einer Interaktion Handelnden
unterscheiden zu können" (S. 31).
Daher werden die meisten Leser ihre Lektüre bei der Wiedergabe der Befragung der damals Handelnden,
ihrer Deutung und ihren Ergebnissen (im II. Teil) beginnen und den Eindruck gewinnen, der komplizierte
wissenschaftliche Apparat der Sozialforschung bringe auch nicht mehr als die einfach neben die Berichte
gesetzte Intentio obliqua, das kritische Querlesen gegen die Aussagen. - Aus einer Vielzahl von Berichten
hat das Fragerteam zwei repräsentative, wenn auch nicht brisante Fälle herausgegriffen, die für eine erste
Analyse tauglich sind, nämlich zur Erprobung, inwieweit man persönliche Lebensgeschichten gegen den
zeitspezifischen historisch-politischen und geistigen Hintergrund stellen und daraus allgemeine Aussagen
ablösen kann, d. h., wie Vfn. es formuliert, ob es sich in der objektiven Rückschau zeigt, inwieweit das
historische Bewußtsein des Dritten Reiches das ganze innere Leben durchdrungen hatte. - Vfn. hat
Berliner Lehrer befragt, hat Quellen hinzugezogen wie Berliner Schulbücher und Lehrpläne, Jahresberichte einzelner Schulen, Erlasse und Durchführungsverordnungen der Berliner Schulaufsicht, Vorlesungsverzeichnisse, akademische Zeitschriften, Verlautbarungen des NS-Studentenbundes und NSLehrervereins; sie beleuchtet u.a. das Feld der Geschichtswissenschaft und den Lehrbetrieb an der
Berliner Universität zwischen 1933 und 1935. Es spielen so kritische Ereignisse wie der Fall Oncken, Papens
Marburger Rede oder Wiecherts Rede an die Jugend, Röhm-Putsch und Bücherverbrennung hinein. Die
Interviewer sind ehrlich bemüht, die Wertsetzungen von Kaiserreich und Weimarer Republik zu erfassen,
und es muß zugegeben werden, daß sie die Akzente des Völkischen, Nationalen und Konservativen klar
gegen ihre Pervertierung durch den Rechtsradikalismus abgrenzen. Beim Fall der Frau K., Lehrerin an
einer Berliner Grundschule, hat das tradierte Berufs- und Beamtenethos der Weimarer Republik sie vor
Nazifizierung bewahrt. Ihre Berichte über den Schulalltag, auch über das Jahr 1945 hinaus, sind farbig und
treffend. Der andere Fall ist der eines jungen Mannes, der 1933 gerade sein Geschichtsstudium an der
Friedrich-Wilhelms-Universität bei namhaften Professoren begann und sich, getragen von der elterlichen
liberalen Tradition und durch wissenschaftlich kritischen Sinn, eine redliche Gesinnung bewahren konnte.
Er konnte so weit „ausweichen" - dies die Formulierung der Vfn. - , daß er nach 1948 Autor der an den
Gymnasien in Berlin (West), damals noch OWZ genannt, eingeführten Geschichtsbücher und Quellenhefte „Wege der Völker" werden konnte. - Beiden Fällen ist gemeinsam, daß Konflikte mit NS-Schule bzw.
Parteiinstanzen und Schülerschaft ausblieben; unterschiedlich sind beide durch ihre damalige Lebenssituation: Die eine war eine Frau in mittleren Jahren, durch ihr Bildungsstreben so stark sich selbst genug,
daß sie nicht auf Karriere und gesellschaftliche Geltung angewiesen war. Herr S. mußte als junger Mann in
allgemein finanziell ziemlich aussichtsloser Lage nach der Weltwirtschaftskrise seinen Beruf ergreifen und
konnte dies schließlich nicht ohne die damals schon gleichgeschalteten Berufs- und akademischen Organisationen tun.
69
Doch die Fülle inhaltlichen und persönlichen Geschehens in 12 Jahren Schulalltag, von der Vfn. „Lebenswelt" genannt, wird gleichsam in ein Schema gepreßt. Die überaus mannigfache Abstufung, das oft
stumme Einverständnis aller Betroffenen, die stets präsente Spannung, das augenblickliche Reagieren auf
Fragen und Antworten, Prüfungsängste und Konfrontationen mit der HJ unter der Schülerschaft
kommen weniger ins Wort. Dieses schwer Faßbare ließ jede Stunde und jede Persönlichkeit eine ganz
andere sein, die sich der Nachvollziehbarkeit durch Außenstehende und Angehörige einer späteren
Generation fast entzieht. Auch die Frage einer möglichen Schuldzuweisung läßt sich nicht schlüssig
beantworten; denn jeder Erwachsene sieht die eigene Vergangenheit als ein abgeschlossenes Ganzes an,
betrachtet sein Selbst gleichsam wie von außen. Vfn. gibt zu, daß niemand beurteilen kann, wieweit
jemand - auch ungewollt und unbewußt - mit der Verdrängung leben gelernt hat, weil es ums Überleben
ging. - Dabei hat sich im Fall des Studienrats K. die Beobachtung herausgefiltert, daß man das
Ausweichen in unverfängliche Themen und das bloß wortlose Vertrauen auf die Kritikfähigkeit der
Schüler, deren unbequeme Fragen oder gar Ablehnung zu tolerieren - gerade im Geschichtsunterricht der
Oberstufe - , als eine Art des Widerstrebens werten kann, weil schon dazu Mut und Redlichkeit gehörten.
Seltsamerweise geht durch alle Berichte die Maxime: „Möglichst durchhalten, ohne sich die Hände
schmutzig machen zu müssen! Überleben um diesen Preis!" Vfn. nennt dies Phänomen „Wettlauf mit der
Zeit". Hierin wird der Gegensatz von der Lebensbewältigung damaliger Lehrer und Schüler evident:
Lehrer dachten auf Zeit, Schüler hielten, jedenfalls bis 1944, den so festgefügten Machtstaat für unerschütterlich, sein Ende war ihnen unvorstellbar, überhaupt ihr Zeitgefühl verschwommen.
Vfn. stellt eine nachdenkenswerte Behauptung auf. Da der Geschichtsdurchgang in der Oberstufe der
höheren Schulen bis 1942/43 - sofern nicht einige Lehrer in das Abhaspeln der Wehrmachtsberichte
auswichen - mit dem Frankreichfeldzug endete und da außerdem die entscheidenden Jahrgänge seit 1943
Wehrmachtsangehörige oder Flakhelfer waren oder sich in der KLV (Kinderlandverschickung) befanden,
wäre hier ein Freiraum für nazifreie Erziehung gewesen. Sie leitet aus der Betrachtung der Berliner
Geschichtsbücher nach 1938 (Schulbuchreform) die Beobachtung ab, daß die Zeit der revolutionären
Bewegung abgeschlossen war und von einer Zeit stärkeren Leistungsprinzips, eines faktischen Geschichtsunterrichts, abgelöst wurde. Der Anteil vergangener Epochen sei quantitativ viel höher gewesen als der der
Gegenwartskunde. Daher ihre These: Hier seien Chancen für eine „spezifische historische Bildung" vertan
worden. Denn die Verquickung historischen und politischen Bewußtseins habe nur die Schule bieten
können. Die Lehrerschaft habe pädagogisches Terrain aufgegeben. Dies müßte umfangreicher belegt
werden, unter Umständen durch Hinzuziehung von Lehrbüchern, die außerhalb Berlins eingeführt waren.
Die Rezensentin beobachtete am angeführten „Gehl" (Literaturverzeichnis S. 245) einen Rest liberalen
Berliner Geistes etwa im Sinne Sprangers; die doktrinären Züge lagen in einleitenden oder zusammenfassenden Kapiteln gleichsam obenauf und konnten „beiseite geschoben" werden. Die Ausgabe „Volk und
Reich der Deutschen", eingeführt im Bereich der Provinzialschulverwaltung von Brandenburg, waren
gefühliger, verschwommener strukturiert und von Rassenideologie durchdrungen. M. E. wird dabei auch
die zunehmende Bildungsfeindlichkeit der NS-Ideologie zu berücksichtigen sein. Bis auf eine kleine Elite
sollte ja eine einseitig und begrenzt gebildete Jugend die höheren Schulen verlassen. Die HJ-Führung
unternahm nach 1943 alles, auch dort, wo noch Unterricht abgehalten wurde, etwa an den Randschulen
Berlins, den kontinuierlichen Ablauf durch „Einsätze" und außerschulische Anforderungen zu stören.
Wenn man die Studie als ersten Versuch zur Beantwortung einer längst überfälligen Frage wertet, sollte
man hinzufügen, daß, so weit auch das geistige Feld abgesteckt worden ist, weitere Inhalte und Lebenssituationen hinzugezogen werden müssen. Wichtige Fragen, die „Lebenswelt" betreffend, bleiben offen.
Wie war es möglich, daß eine Lehrerschaft, wie zwiespältig auch immer, in der KLV den ganz auf sie
angewiesenen Schülern - es waren darunter Kinder, die Eltern und Elternhaus durch Bombeneinwirkung
verloren hatten - , Ersatzeltern wurden, die sie bei zurückweichender Ostfront auf dem schwierigen
Rückzug aus den Ostgebieten des „Protektorats" und „Generalgouvernements" bis in die Heimat begleiteten? Sie schlichteten Zusammenstöße mit der polnischen oder tschechischen Bevölkerung oder schützten
umgekehrt Beziehungen zwischen Schülern und deren Angehörigen, die unerwünscht waren. Sie versahen,
soweit unbelastet, nach 1945 wieder ihren Dienst. Ein Teil ihrer Schüler waren dann Heimkehrer mit den
inneren Versehrtheiten ihrer Front- und Gefangenschaftserlebnisse, aus dem Schülerstand menschlich
heraus, aber von starkem Wissensdrang beseelt. Viele dieser Lehrer hielten den hohen menschlichen
Ansprüchen dieser Aufgabe stand und erwarben sich die Achtung der jungen Männer, weil sie nun frei ihre
Bildungswerte vermitteln konnten. Wenn in der Studie nach dem „faschistischen Potential" geforscht
wird, das im Erziehungsfeld vor 1933 gelegen haben kann, muß ebenso nach der Tatkraft gefragt werden,
die nach 1948 eine freie demokratische Schule schuf, in der z. B. das Buch „Wege der Völker" eine erste
70
Gehhilfe war. - Eine Grundfrage ist ferner der stete, zermürbende Kampf gegen den Anspruch „Jugend
soll durch Jugend geführt werden". Er war schon vor 1933 erhoben worden, und dies berührt den Komplex
der Zwangseingliederung aller außernazistischen Jugendbewegung.
Die damals Betroffenen sind heute hochbetagt. So müßten zu erneuter Befragung ergänzend ihre damaligen Schüler hinzugezogen werden. Vielfach haben sie das Zwiespältige und Abgründige der NS-Schule
bewußt erlebt und durch Kollaboration ihren Lehrern die Situation erleichtet. Nach dem Einmarsch der
Roten Armee in Berlin wurde ihnen das krasseste Umdenken in kürzester Zeit abverlangt, so hart, wie es
keine Generation hat leisten müssen. Ohne die Maßstäbe, Wertsetzungen und persönliche Ausstrahlungskraft ihrer Lehrer hätten sie das nicht leisten können; gerade in der einstigen SBZ haben sie ihnen geholfen,
trommelartige Propaganda von demokratischen Vorstellungen zu unterscheiden, ein jahrelanger Klärungsprozeß.
Es müßten auch Fälle krasser Zusammenstöße mit der Partei, so z. B. durch Denunziation durch Schüler,
erforscht werden. - Jede Gesprächsführung mit Älteren müßte aber auch eine gewisse Art der Abwehr
einer jüngeren Generation gegenüber einbeziehen, die keine unfreie Schule erlebt hat. Es muß auch heute
bekannt werden, daß 12 Jahre NS-Ideologie alle Lehrinhalte so durchdrungen hatten und daß die
Stoßkraft der „Bewegung" gerade in der Schule so kräftig wirkte, daß die Zeit wie eine Psychose erlebt
wurde, deren Schrecken erst nach Jahren abfiel, auch von den Lehrern des Dritten Reiches. Ein unerklärlicher Rest wird bleiben; damit müssen wir leben. - Als ein mutiger Vorstoß und Materialaufriß ist die
Arbeit jedenfalls lesenswert.
Christiane Knop
Neue Mitglieder im I. Quartal 1988
Dankward Buwitt, Kaufmann
Wünsdorfer Straße 68, 1000 Berlin 49
Telefon 7 45 56 36
(Oxfort)
Horst Drope, Angestellter
Halenseestraße 1 c, 1000 Berlin 31
Telefon 8 92 86 32
(Bibliothek)
Gisela Frydank, Archivarin
Wilhelmsruher Damm 105, 1000 Berlin 26
Telefon 415 2410
(Bibliothek)
Horst Gust, Bankkaufmann
Marwitzer Straße 63, 1000 Berlin 20
Telefon 3 75 62 73
(Oxfort)
Christel Haim, Hausfrau
Günter Haim, Rechtspfleger
Prager Straße 2 a, 1000 Berlin 30
Telefon 249442
(Geschäftsstelle)
Hans-Jürgen Issem, Versicherungskaufmann
Calandrellistraße 43 B, 1000 Berlin 46
Telefon 7 71 20 40
(Gelberg)
Senator Professor Dr. Wilhelm A. Kewenig
Schützallee 37, 1000 Berlin 33
(Oxfort)
Klaus Landowsky, Rechtsanwalt
Fontanestraße 69, 1000 Berlin 33
Telefon 8 25 89 42
(Oxfort)
Hans-Jörg Lech, Beamter
Alt-Marienfelde 14, 1000 Berlin 48
Telefon 7 2179 59
(Oxfort)
Jürgen Loewe, Dipl.-Braumeister
Kopernikusstraße 16, 6050 OfTenbach/Main
Telefon (0 69) 85 48 93
(Dr. Schultze-Berndt)
Herbert Lüpnitz, Pfarrer i. R.
Westhofener Weg 41, 1000 Berlin 38
Telefon 8 03 78 41
(Geschäftsstelle)
Professor Dr. med. Friedrich G. Nürnberger,
Hautarzt, Hochschullehrer
Kastanienallee 21. 1000 Berlin 19
Telefon 3 02 20 43
(Geschäftsstelle)
Ursula Paplowski, Bankkauffrau
Bocksfeldstraße 2d, 1000 Berlin 20
Telefon 3655125
(Oxfort)
Senator Dr. Günter Rexrodt
Kaiserdamm 4, 1000 Berlin 19
(Oxfort)
Senator Professor Dr. Rupert Scholz
Erbacher Straße 1, 1000 Berlin 33
Telefon 8911700
(Oxfort)
Elli Sukowski, Hausfrau
Am Dorfwald IIa, 1000 Berlin 22
Telefon 3 65 25 99
(Koepke)
71
Veranstaltungen im II. Quartal 1988
1. Montag, den 11, April 1988,19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Hans Frost: Wie Berlin
zu seiner Stadt- und Ringbahn kam. Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg.
2. Montag, den 25. April 1988, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag mit zwei Projektoren von Frau
Ingeborg und Herrn Oswald Hensler: Der Potsdamer und der Leipziger Platz mit ihrer
Umgebung einst und jetzt. Kemperplatz, Siegesallee, Königsplatz, Reichstag, Kammermusiksaal und Magnetbahn. Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg.
3. Montag, den 9. Mai 1988, vormittags: Auf Anregung des Vereins für die Geschichte Berlins,
gegr. 1865, Festveranstaltung zum 300. Todestag des Großen Kurfürsten des Senats von
Berlin in der Orangerie des Schlosses Charlottenburg. Festvortrag vom Präsidenten der
Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Herrn Prof. Dr. Werner Knopp. Kartenanforderung
beim Protokoll.
4. Mittwoch, den 18. Mai 1988,19.30 Uhr: Ordentliche Mitgliederversammlung im Pommernsaal des Rathauses Charlottenburg. Tagesordnung:
1. Entgegennahme des Tätigkeitsberichtes, des Kassenberichtes und Bibliotheksberichtes.
2. Berichte der Kassen- und Bibliotheksprüfer.
3. Aussprache.
4. Entlastung des Vorstandes.
5. Wahl der Kassen- und Bibliotheksprüfer.
6. Verschiedenes.
Anträge aus den Kreisen der Mitglieder sind bis spätestens 3. Mai 1988 der Geschäftsstelle
einzureichen.
5. Sonnabend, den 18. Juni 1988,10.30 Uhr: Begehung des Luisenstädtischen Friedhofes am
Südstern. Leitung: Frau Dr. Sibylle Einholz. Treffpunkt Haupteingang.
6. Montag, den 27. Juni 1988,19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Prof. Dr. Jürgen Julier:
Der Große Kurfürst im Spiegel der Medaillenkunst. - Zur Ausstellung im Schloß Charlottenburg. Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg.
Bibliothek: Otto-Suhr-Allee 96 (Rathaus), 1000 Berlin 10, Telefon 34 30-22 34. Geöffnet: mittwochs 16.00
bis 19.30 Uhr.
Vorsitzender: Hermann Oxfort, Breite Straße 21, 1000 Berlin 20, Telefon 3 33 2408.
Geschäftsstelle: bei der Schatzmeisterin.
Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13, 1000 Berlin 65, Telefon 4509-291.
Schatzmeisterin: Frau Ruth Koepke, Temmeweg 38, 1000 Berlin 22, Telefon 3 65 7605.
Konten des Vereins: Postgiroamt Berlin (BLZ 10010010), Kto.-Nr. 433 80-102,1000 Berlin 21;
Berliner Bank AG (BLZ 10020000), Kto.-Nr. 03 81801200.
Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865.
Schriftleitung: Günter Wollschlaeger, Kufsteiner Straße 2, 1000 Berlin 62; Dr. Christiane Knop, Rüdesheimer Straße 14,1000 Berlin 28. Beiträge sind an die Schriftleiter zu senden.
Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 16 DM
jährlich.
Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn, 1000 Berlin 49.
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.
72
A1015FX
MITTEILUNGEN
DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS
GEGRÜNDET 1865
84. Jahrgang
Heft 3
Juli 1988
Römischer Parade- bzw. Gesichtshelm aus den Ruinen der mittelägyptischen Stadt Antinoupolis. Erworben am 3. Januar 1821 durch Menü von Minutoli, heute im Besitz des Charlottenburger Antikenmuseums, Inv. Fr, 1022.
Ein römischer Paradehelm aus der Ägyptischen Sammlung
des Freiherrn Menü von Minutoli im Antikenmuseum
Von Harry Nehls
Im Helmmagazin des Charlottenburger Antikenmuseums befindet sich ein bronzener römischer Paradehelm (Titelbild) des 2. Jahrhunderts n. Chr. von ausgezeichneter Qualität. Er soll
uns hier weniger aus archäologischen als vielmehr berlin- und sammlungsgeschichtlichen
Gründen interessieren. - Vor nunmehr zehn Jahren wurde diese kostbare Antike, ohne
Hinweis auf ihren einstigen prominenten Besitzer, von J. Garbsch publiziert1.
Typologisch handelt es sich um einen sogenannten attischen Helm bzw. einen Gesichtshelm. In
seiner jetzigen Gestalt überliefert er jedoch nicht das vollständige Original, sondern lediglich
das Oberteil, die Kalotte des Helms. In der Mitte des Stirnrandes befindet sich noch das
Scharnier, an dem ursprünglich die (verlorene) Gesichtsmaske befestigt war. Ein geschwungenes reliefiertes Linienband, dessen Enden volutenförmig eingerollt sind, teilt die Helmkalotte in
zwei Bildregister mit getriebenen Reliefs: im unteren und oberen jeweils eine antithetische
Tiergruppe, bestehend aus Hunden bzw. Greifen zu sehen einer Palmette. Die figürlichen
Motive des Charlottenburger Exemplars finden auf dem attischen Helm, den der sogenannte
Ares Borghese (römische Marmorkopie nach klassischem Original der Zeit um 420 v. Chr.,
dem Bildhauer Alkamenes zugewiesen) im Pariser Louvre trägt, ihre genaue Entsprechung.
Während die dem Ares heiligen Hunde einen deutlichen Hinweis auf den Kriegsgott geben,
lassen sich die Greifen möglicherweise als apotropäisches, d. h. unheilabwehrendes Symbol
interpretieren2.
Die Frage nach der Provenienz sowie dem prominenten Vorbesitzer des Bronzehelms läßt sich
rasch beantworten. Während seiner „Reise zum Tempel des Jupiter Ammon in der Libyschen
Wüste und nach Ober-Aegypten in den Jahren 1820 und 1821" erwarb ihn nämlich niemand
anders als der damalige königlich-preußische Generalmajor, Kunstsammler, Archäologe und
Ausgräber, Prinzenerzieher und Militärschriftsteller Johann Heinrich Carl Freiherr Menü von
Minutoli (1772 Genf - 1846 Berlin!). Seine zahlreichen, in Ägypten erworbenen Altertümer
bilden noch heute den Grundstock der Ägyptischen Sammlung in Ost- und West-Berlin3.
Minutoli erstand den römischen Paradehelm genau am 3. Januar 1821 in den Ruinen von
Scheik-Abadeh, dem antiken mittelägyptischen Antinoupolis. Zu seiner Zeit existierten noch
mehrere Architekturdenkmäler dieser Stadt, die später unter dem Statthalter Ägyptens, Mohammed Ali (1769-1849), als Steinbruch zum Bau der Zuckerfabrik von Roda dienten. Doch
lassen wir Minutoli selbst zu Wort kommen:
„Alle hier vorhandenen zahlreichen Trümmer, von höchster Pracht und Anmuth, scheinen, bis auf einige Triumphsäulen des Alexander Severus, dem Zeitalter Hadrians
anzugehören, der Antinoe zu Ehren seines im Nil ertrunkenen Lieblings Antinous bauen
ließ. Von der älteren ägyptischen Stadt bemerkt man keine Spur, aber unter dem Schutt
viele Bruchstücke von Porphyr, Granit und selbst von italienischem und parischem
Marmor. Ich tauschte einen hier ausgegrabenen, geschmackvoll verzierten ehernen
Helm gegen andere Antiken ein, und ordnete Excavationen an." 4
Auf dem österreichischen Schiff „Cleopatra", das ihm zuvor der schwedische Konsul von
Alexandria, Giovanni d'Anastasi (1799-1850), besorgt hatte, verließ Minutoli am 17. Juli 1821
Ägypten. Nach einer neununddreißig Tage währenden Überfahrt erreichte er endlich am
74
Abb.l:
Aloys Hirt (1759-1836) inspizierte
mehrmals im Auftrage des Staatsministers v. Altenstein (1770-1840)
Minutolis ägyptische Sammlung. Das
Gutachten Hirts, der großen Einfluß
bei Hofe besaß, bewirkte maßgeblich
ihren Ankauf im April 1823.
Lithographie nach einer Zeichnung
des Berliner Malers Paul Mila,
um 1830
24. August den Hafen von Triest. Hier wurde nun seine wertvolle Altertümersammlung - nach
längerem Aufenthalt in einer „Quarantaineanstalt" - geteilt: 97 Kisten verlud man auf den
deutschen Segler „Gottfried", und 23 sollten auf dem Landweg nach Berlin gehen. Während die
„Gottfried" tragischerweise kurz vor Erreichen ihres Bestimmungsziels (Hamburg) in der
Nacht vom 11./12. März 1822 zwischen Helgoland und Cuxhaven kenterte, erreichte hingegen
die auf dem Landweg expedierte Antikenladung im Sommer desselben Jahres wohlbehalten
Berlin - und somit auch unser Helm aus Antinoupolis.
Schon im September wurde der Archäologe Jakob Andreas Konrad Levezow (1770-1835) mit
der provisorischen Aufstellung der Minutolischen Altertümer im Gartensaal des Schlosses
Monbijou beauftragt, und bereits im Oktober wurden sie der Öffentlichkeit präsentiert. Zu den
prominentesten Ausstellungsbesuchern gehörten Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831)
und Gustav Friedrich Waagen (1794-1868), August Boeckh (1785-1867) und Johann Gottfried
Schadow (1764-1850). Der Bildhauer Schadow vermerkte hierzu:
„Die ersten ägyptischen Kunstwerke und Mumien, welche der General Minutoli auf
seiner Reise in Ägypten gesammelt hatte, wurden im Oktober in Monbijou gezeigt.
Besonders interessant schien uns ein Helm von guter getriebener Arbeit."5
Die erste Äußerung über den Helm seitens eines berufenen Archäologen stammt von Aloys
Hirt (1759-1836 / Abb. 1), dem ersten Ordinarius für Archäologie an der 1810 gegründeten
Berliner Universität. Zur öffentlichen Feier der fünfunzwanzigjährigen Regierung Friedrich
Wilhelms III. hielt er am 16. November 1822 in der Königlichen Akademie der Wissenschaften
75
zu Berlin eine Vorlesung „Zur Würdigung der neuesten von dem General Freiherrn von
Minutoli eingebrachten Sammlung ägyptischer Alterthümer". Gedruckt bei Conrad Feister,
erschien sie 1823 in der Berliner Verlagsbuchhandlung bei Ferdinand Dümmler. Irrtümlich
klassifizierte Hirt den Helm als griechische Arbeit:
„Auch gehört hiezu (d. h. zu den ,Denkmälern in Erz', Anm. d. Verf.) ein griechischer
Helm, geziert mit Greifen und Hunden in getriebener Arbeit."6
Doch schon wenig später sprach Hirts Fachkollege Konrad Levezow erstmals die richtige
Datierung in römische Zeit aus:
„Ein bronzener Helm, in Antinoe gefunden, mit getriebener Arbeit geziert, zwei Greife
und zwei Wölfe darstellend. Wahrscheinlich aus römischer Zeit."7
Bereits im Oktober 1822 hatte Minutoli seine Sammlung für 22000 Taler in Gold dem
preußischen König angeboten. Doch zum Ankauf kam es erst, nachdem die dazu notwendigen
Gutachten von Hirt und Levezow vorlagen, nämlich im April 1823. Bei der vorgeschlagenen
Summe blieb es: Minutoli erhielt für die begehrten Papyri 12000 und für die restlichen
Altertümer 10 000 Taler in Gold. 1824 wurde dann die ägyptische Sammlung in die Kunstkammer des Berliner Stadtschlosses verbracht, wo sie am 27. August 1825 ein weiterer prominenter
Besucher - der Arzt, Naturwissenschaftler und Maler Carl Gustav Carus (1789-1869) besichtigen konnte:
„Heute . . . führte uns Geheimrat Schulz zur Kunstkammer des Schlosses, wo die große
Sammlung ägyptischer Altertümer und Mumien reichlich Stoff zur Betrachtung darbot.
Die wunderlichsten Amulette, Götterbilder, Nilschlüssel und Isisklappern,... Mumiensärge . . . , eine alte ägyptische Harfe, ein H e l m . . . usw., alles hätte eine längere Betrachtung verdient."8
Obwohl Carus auf den Helm nicht näher eingeht, so kann zweifelsohne nur der besagte gemeint
sein. Noch einmal wanderte später die ehemalige Sammlung Minutoli - und damit auch unser
Helm - herüber nach Monbijou. Erst 1848 fand sie in den Räumen des Neuen Museums eine
Unterkunft und Neuaufstellung. Der Bronzehelm scheint vermutlich schon in den 50er Jahren
des 19. Jahrhunderts aus der Ägyptischen Abteilung ausgesondert und an das „Antiquarium",
das sich einst im Erdgeschoß des Alten Museums befand, abgegeben worden zu sein. Zumindest konnte ihn dort der Besucher des Jahres 1871 nachweislich bewundern9. Bedingt durch die
Auslagerung der Berliner Antiken zu Beginn des Zweiten Weltkrieges, gelangte der römische
Paradehelm, den der frühere Gouverneur des Prinzen Carl von Preußen am 3. Januar 1821 in
Ägypten erworben hatte, ins Charlottenburger Antikenmuseum - wo er demnächst in einer
Sonderausstellung endlich wieder zu besichtigen sein wird.
Anmerkungen
1 Jochen Garbsch: Römische Paraderüstungen. München 1978, S. 25/S. 31 und S. 64 Kat.-Nr. 012 mit
Tafel 19, 3.
2 Zum „Ares Borghese" vgl. Werner Fuchs: Die Skulptur der Griechen. Dritte Auflage. München 1983,
S. 94 ff. Abb. 86/S. 585 mit älterer Literatur.
76
3 Über Minutoli sowie seine Altertümersammlungen bereitet der Verfasser soeben eine Dissertation vor
(in Arbeit).
4 Heinrich Freiherr von Minutoli: Reise zum Tempel des Jupiter Ammon in der Libyschen Wüste und
nach Ober-Aegypten in den Jahren 1820 und 1821, herausgegeben von Ernst Heinrich Toelken. Berlin
1824, S. 239. Die Transkription des arabischen Stadtnamens für Antinoupolis wird unterschiedlich
wiedergegeben: neben Scheik-Abadeh, Schech Abäde, Sheik-Tbada usw. Zur antiken Stadt vgl.
Konrat Ziegler/Walter Sontheimer (Hrsg.): Der Kleine Pauly. Bd. 1. Stuttgart 1964, Spalte 386, Nr. 2.
Gründlicher, wegen der zahlreichen Literatur, ist Georg Wissowa (Hrsg.): Paulys Real-Encyclopädie
der classischen Altertumswissenschaft. Bd. 1. Stuttgart 1894, Spalte 2441 f. (Pietschmann).
5 Johann Gottfried Schadow: Kunstwerke und Kunstansichten. Ein Quellenwerk zur Berliner Kunstund Kulturgeschichte zwischen 1780 und 1845. Kommentierte Neuausgabe der Veröffentlichung von
1849, herausgegeben von Götz Eckardt. Bd. 1. Berlin (Ost) 1987, S. 148.
6 Hirt, a. a. O., S. 12 (III. Classe. Denkmäler in Erz).
7 Levezow: Über die Königlich-Preußischen Sammlungen der Denkmäler alter Kunst, in: Amalthea
oder Museum der Kunstmythologie und bildlichen Alterthumskunde III (1825), S. 224 Nr. 171
(B. Denkmäler von Erz. b. Gefäße, Werkzeuge, Waffen, Schlünde).
8 C. G. Carus: Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten, nach der zweibändigen Originalausgabe
von 1865/66 neu herausgegeben von Elmar Jansen. Bd. 1. Weimar 1966, S.456L
9 Carl Friederichs: Berlins antike Bildwerke. II. Geräthe und Broncen im Alten Museum. Düsseldorf
1871, S.227f. Kat.-Nr. 1022.
Abbildungsnachweis
Titelbild: K. A. Neugebauer: Führer durch das Antiquarium. I. Bronzen. Berlin und Leipzig 1924, S. 63,
obere Abbildung.
Abb. 1: Forschungen und Berichte 20/21 (1980), S. 9, Abb. 1.
Anschrift des Verfassers:
Harry Nehls, M. A., Schloßstraße 2 H, 1000 Berlin 19
f 25 Jahre Krankenpflegeschule des Krankenhauses
, • der Berliner Vollzugsanstalten
Von Manfred Stürzbecher
Schon bei der Eröffnung des Königlichen Strafgefängnisses zu Plötzensee 1872 waren „zur
Untersützung der Hausärzte in der Behandlung und zur Pflege der Kranken . . . eigene
Krankenwärter als Beamte angestellt, von denen wenigstens der Oberaufseher des Lazareths
ein geprüfter Heilgehylfe sein muß". Auch in den anderen Gefängnisses Berlins finden wir am
Ende des vorigen Jahrunderts ausgebildetes Krankenwartepersonal. Die Männer waren meist
beim Militär ausgebildete Heilgehilfen, die nach dem Ausscheiden aus dem Militärdienst mit
dem sogenannten Zivilversorgungsschein zur Justizverwaltung gingen. Offensichtlich wurde
das ausgebildete Krankenpflegepersonal zahlenmäßig im Lauf der Zeit verstärkt. Auch nach
dem Zusammenbruch scheint man zunächst an der Übernahme von Sanitätspersonal aus dem
Militär festgehalten zu haben. In der ersten Nachkriegszeit bestand offensichtlich kein Mangel
an Krankenpflegern, die sich für den Justizvollzugsdienst meldeten. Mitte der 50er Jahre
scheint dieses Reservoir erschöpft gewesen zu sein. Dazu kam, daß die Entwicklung in der
Medizin den Einsatz geschulter Kräfte, vor allem im Krankenhaus der Berliner Vollzugsanstal77
ten, vordringlich machte. Über das Arbeitsamt waren in den ausgehenden 50er Jahren, der
Epoche der Vollbeschäftigung, keine Bewerber mehr zu finden. Daher wurde in der Frage der
Versorgung der Berliner Vollzugsanstalten mit Krankenpflegepersonal Kontakt zwischen den
Senatsverwaltungen für Justiz und für Gesundheitswesen aufgenommen.
Auf drei Eingaben des Senators für Justiz in der Zeit von Juli bis Oktober 1959 gibt die
Gesundheitsverwaltung unter dem 31. Oktober 1959 folgende Stellungnahme ab: „Auf längere
Sicht dürfte allein die Errichtung einer eigenen Krankenpflegeschule am Krankenhaus der
Berliner Vollzugsanstalten den laufenden Bedarf an Pflegekräften decken. Hierdurch würde
der erforderliche Nachwuchs, insbesondere an staatlich geprüften Krankenpflegern, sichergestellt werden. Ich empfehle daher dringend, an der genannten Anstalt eine Schule zu errichten.
Hinderungsgründe, die das Krankenhaus zur Unterhaltung einer solchen als geeignet anerkennen, liegen nicht vor. Es wird empfohlen, einen entsprechenden Antrag unter Beachtung des
Krankenpflegegesetzes vom 15. Juli 1957 zu stellen. Für die Übergangszeit schlage ich vor,
weiterhin in Verbindung mit dem Arbeitsamt - Wisokü - und außerdem mit einigen größeren
Krankenpflegeschulen zu bleiben. Da bekanntlich nicht alle Ausgebildeten in den entsprechenden Häusern bleiben, bietet sich hier gegebenenfalls Gelegenheit, geeignete Pflegekräfte für den
Justizvollzugsdienst zu gewinnen. Darüber hinaus empfehle ich, bei Ausschreibungen insbesondere Fachzeitschriften - z. B. Das Krankenhaus und Deutsche Schwesternzeitung - zu
wählen, die überwiegend von den angesprochenen Kreisen gelesen werden."
Der Präsident des Justizvollzugsamtes schreibt wenige Tage später, am 6. November 1959, an
den Senator für Gesundheitswesen, daß geprüft wird, „ob die Möglichkeit besteht, jüngeren
Oberwachtmeistern auf Probe und anderen bereits im Sanitätsdienst tätigen Beamten die
Gelegenheit zu geben, die nach dem Krankenpflegegesetz vorgesehene zweijährige theoretische
Ausbildung an einer Krankenpflegeschule durchzumachen und anschließend das dritte Jahr
für die praktische Ausbildung an den Krankenhäusern des Justizvollzugs abzuleisten. Es wäre
mithin in Abweichung von der Bestimmung des § 12 in Teil IV des Krankenpflegegesetzes nach
einer tragbaren Lösung zu suchen. Dabei wäre auch festzulegen, ob und wieweit gemäß § 9
Abs. 3 des Krankenpflegegesetzes die Zeit der Ausbildung in der Krankenpflege während des
Einsatzes im Krankenpflegedienst des Justizvollzuges, also in den Krankenhäusern und Krankenrevieren als nichtgepfrüfte Krankenpflegepersonen auf den Lehrgang in der Krankenpflege
angerechnet werden kann. Ich bin mir darüber im klaren, daß es sich hier nur um wenige
Personen handeln wird, weil diese während der theoretischen Ausbildung zum größten Teil im
praktischen Dienst ausfallen würden."
Weitere Einzelheiten sollten in einer Besprechung geklärt werden. Diese fand am 12. Dezember
1959 statt. Der Vorschlag des Justizvollzugsamtes wird von der Gesundheitsverwaltung, deren
Sprecher der Leiter der Abteilung II, Dr. Habenicht, ist, abgelehnt. Aus einem von Dr. Hofer
gefertigten Vermerk geht folgendes hervor: „Da die Relation zwischen geprüften und ungeprüften Krankenpflegepersonen innerhalb der Krankenanstalten des Strafvollzugs immer noch
sehr ungünstig ist und außerdem Schwierigkeiten bei der Besetzung der Krankenpflegestellen
dieser Anstalten befürchtet werden, empfahl Dr. Habenicht dringend, eine eigene Krankenpflegeschule am Krankenhaus der Berliner Vollzugsanstalten zu errichten, da nur eine solche
Maßnahme allein geeignet erscheint, den genannten Schwierigkeiten wirksam zu begegnen. Die
Herren des Justizvollzugsamtes wollen nunmehr die Einrichtung einer eigenen Krankenpflegeschule in Angriff nehmen und einen entsprechenden Antrag an unsere Senatsverwaltung
stellen."
Daraufhin beantragt mit Schreiben vom 17. Februar 1960 der Präsident des Justizvollzugsamtes die Errichtung einer Krankenpflegeschule am Krankenhaus der Berliner Vollzugsanstalten.
78
In dem Schreiben heißt es u. a.: „Träger der Schule ist der Präsident des Justizvollzugsamtes;
die Leitung der Schule wird dem beratenden Arzt des Präsidenten des Justizvollzugsamtes, der
gleichzeitig Leiter des ärztlichen Dienstes für den gesamten Justizvollzugsdienst und mit der
Leitung des Krankenhauses der Berliner Vollzugsanstalten in Berlin-Moabit beauftragt ist,
übertragen. Die Schule wird dem genannten Krankenhaus der Berliner Vollzugsanstalten
gemäß § 7 (3) angegliedert. Ausbildungsmöglichkeiten sind für 15 Krankenpflegeschüler(innen)
in dem Krankenhaus selbst mit innerer und chirurgischer Station, Sonderabteilung für Hautund Geschlechtskrankheiten, Röntgenstation und einem mit einem med.-techn. Assistenten
besetzten Laboratorium gegeben. Weitere Ausmündungsmöglichkeiten bieten die Tuberkulose-Krankenabteilung in Plötzensee, die Krankenstation der Strafanstalt Tegel, die Krankenreviere in der Frauenstrafanstalt Tiergarten und in der Vollzugsanstalt (weibliche Jugend) in
der Kantstraße. Kleinere Krankenreviere in anderen Anstalten sowie die chirurgische, innere
und psychiatrische Ambulanz in dem Krankenhaus der Berliner Vollzungsanstalten. Sämtliche
Einrichtungen stehen unter ärztlicher Leitung und unter Aufsicht von geprüften Krankenpflegepersonen.
Geeignete Lehrkräfte für den theoretischen und praktischen Unterricht nach §7 (2 a) des
Krankenpflegegesetzes sind in ausreichender Zahl vorhanden. Zu diesen rechnen der Leiter des
Krankenhauses der Berliner Vollzugsanstalten, die Leiter der inneren und chirurgischen Stationen, der Tbc-Krankenabteilung und der Röntgenabteilung. Außerdem können im Bedarfsfall erfahrene Anstaltsärzte und Assistenzärzte, darunter ein psychiatrisch vorgebildeter Arzt,
herangezogen werden. Ein Unterrichtspfleger mit langjähriger Erfahrung im Krankenpflegedienst, staatliche Anerkennung und große Erfahrung im Justizvollzugsaufsichtsdienst, steht
zur Verfügung."
Es wird darauf verwiesen, daß die notwendigen Voraussetzungen für die Durchführung der
Ausbildung gegeben sind.
„Unter Bezugnahme auf § 9 (3) beantrage ich, daß den Bewerbern, die eine Ausbildung in der
Krankenpflege im Justizvollzugsdienst bei ihrer bisherigen Verwendung als ungeprüfte Krankenpfleger unter Anleitung von Ärzten und geprüftem Krankenpflegepersonal erhalten haben
und mindestens zwei Jahre als Sanitätskräfte (Hilfskrankenpfleger) bis zum Lehrgangsbeginn
tätig waren, diese Zeit allgemein mit 12 Monaten auf die Ausbildungszeit angerechnet wird."
An anderer Stelle des Schreibens wird erklärt: „In dieser Stelle sollen unter Berücksichtigung
der Besonderheiten des Vollzuges lediglich Krankenpfleger und Krankenschwestern für die
Verwendung im Justizvollzugsdienst Berlins ausgebildet werden. Für die Aufnahme in die
Schule kommen nur im Aufsichts- und Krankenpflegedienst des Justizvollzuges bereits erprobte Bedienstete in Betracht."
Unter dem 9. März 1960 wird Dr. Hilsinger gebeten, die Lebensdaten und Papiere der vorgesehenen Unterrichtspfleger einzureichen. Daraufhin schreibt unter dem 11. März 1960 der Präsident des Justizvollzugsamtes:
„Als Träger der bei dem Krankenhaus der Berliner Vollzugsanstalten, das der Untersuchungshaftanstalt Moabit angegliedert ist, einzurichtenden staatlichen Krankenpflegeschule bitte ich,
die Genehmigung zur Eröffnung der Schule zum 1. April 1960 auszusprechen, da bereits 19
Anmeldungen von Krankenpflege-Schülern aus dem Kreise der Bediensteten des Justizvollzuges vorliegen. Als Leiter der Krankenpflegeschule benenne ich meinen beratenden Arzt,
Obermedizinalrat Dr. med. Wilhelm Hilsinger, geb. am 14. Februar 1899 . . . , der von mir
bereits mit der Leitung des Krankenhauses der Berliner Vollzugsanstalten betraut worden ist.
Dr. Hilsinger gilt als ein erfahrener und gewissenhafter Arzt. 1930 als Kreisarzt geprüft, war er
viele Jahre Amtsarzt und Leiter eines Bezirksgesundheitsamtes in Berlin, anschließend Medizi->Q
nal-Dezernent beim Regierungspräsidenten in Danzig und bis 1945 Dezernent in der Abt.
Volksgesundheit des ehemaligen Reichsministeriums des Inneren.
Er war drei Jahre Assistenzarzt in Berlin, anschließend -1928 bis 1933/34 sowie von 1945 bis zu
seiner Wiederverwendung im öffentlichen Dienst 1954 - praktischer Arzt in Berlin, hat sich bei
mir seit seiner Übernahme in den Justizvollzugsdienst - Oktober 1957 - als Leiter des
medizinischen Dienstes der Berliner Vollzugsanstalten bewährt und ist der Senatsabteilung für
Gesundheitswesen persönlich bekannt.
Als seinen Vertreter als Leiter der Krankenpflegeschule benenne ich den dienstältesten Medizinalrat im Berliner Justizvollzug, Anstaltsarzt Dr. med. Erhardt Schmidt, geb. 10. Februar 1912
. . . An seinem ärztlichen Können und seiner medizinischen Erfahrung bestehen keine Zweifel.
Zudem verfügt er über die notwendigen verwaltungsmäßigen Kenntnisse bei stets bewiesener
Korrektheit und sicherem Auftreten.
Als Unterrichtspfleger ist der staatlich geprüfte Krankenpfleger, Hauptwachtmeister an JVA
Wilhelm Gloßmann, Krankenhaus der Berliner Vollzugsanstalten in Berlin-Moabit, . . . in
Aussicht genommen.
Gloßmann wird gleichzeitig als Krankenpflege-Vorsteher benannt, wobei ihm der Krankenpfleger Edmund Mayer (nicht staatlich geprüft), der kürzlich vom Hauptwachtmeister im
Sanitätsdienst zum Verwalter befördert wurde, beigegeben wird. Die Stellung eines Verwalters
entspricht der einer Oberin in einem Krankenhaus.
Die von mir vorgeschlagene Regelung trägt den Besonderheiten von Haftkrankenhäusern im
Justizvollzug Rechnung und stellt deshalb eine unumgängliche Notwendigkeit dar.
Da im allgemeinen in der zu eröffnenden Krankenpflegeschule nur männliches Krankenpflegepersonal zur Ausbildung kommen wird, Krankenpflegeschülerinnen dagegen nur im Ausnahmefall angenommen werden können, erübrigt sich aus diesen und anderen vollzugsmäßigen Gründen die Bestellung einer besonderen Unterrichtsschwester."
Mit Schreiben vom 29.März 1960 wird die Genehmigung erteilt. Es heißt dort u.a.: „Die
Höchstzahl der Schüler(innen) für Ihre Krankenpflegeschule beträgt ab 1. April 1960 15, d. h.,
es dürften sich keinerzeit mehr als 15 Schülerinnen) in Ihrer Schule befinden."
Dr. Schmidt wird bis auf weiteres zum kommissarischen Leiter der Schule bestellt. Gegen die
Ernennung von Gloßmann zum Unterrichtspfleger bestehen keine Bedenken.
Diese „Anerkennung einer Krankenpflegeschule am Krankenhaus der Berliner Vollzugsanstalten" läßt ahnen, daß sich offensichtlich Schwierigkeiten hinsichtlich der Person von Hilsinger
ergeben hatten. Der Senator für Gesundheitswesen war auf die Mitgliedschaft Hilsingers in der
NSDAP hingewiesen worden. Es kam zu einigen Nachforschungen über die politische Vergangenheit des Arztes, die zu dem Ergebnis führten, daß er „nach der Entnazifizierungsakte am
5. November 1948 rehabilitiert worden" ist. Man stellt fest, „daß ärztlicherseits gegen die
Leitung der Krankenpflegeschule durch Dr. H. keine Bedenken bestehen". Die Wertung der
politischen Vergangenheit sei Sache der Dienstbehörde, daher sei vom Senator für Justiz
„zuständigkeitshalber zu prüfen, ob auch unter Berücksichtigung der politischen Vergangenheit des Dr. H. der Antrag aufrechterhalten wird, ihn als Leiter der Krankenpflegeschule zu
bestätigen". Diese Prüfung erfolgte beim Senator für Justiz und führte zu der Auffassung, daß
er mit der Leitung der Schule beauftragt werden könne. Am 30. August 1960 wurde er dann von
der Gesundheitsverwaltung zum Schulleiter bestellt.
Nun stellten sich aber andere Bedenken gegen die Errichtung der Schule heraus. Der Senator
für Finanzen machte sich folgenden Standpunkt zu eigen: „Wegen der Zweckmäßigkeit und
zwingenden Notwendigkeit für die Errichtung einer solchen Schule bestehen hier jedoch im
Hinblick auf die geringe Zahl der bei den Vollzugsanstalten benötigten Krankenpflegekräfte
80
erhebliche Bedenken . . . Sollte es bei den bekannten Nachwuchsschwierigkeiten für das Krankenpflegepersonal nicht möglich sein, die in den Vollzugsanstalten benötigten Pflegekräfte in
den bereits bestehenden Ausbildungsstätten der Gesundheitsverwaltung zu schulen, um so die
Schaffung aufwendiger und vielleicht nicht ausreichend zu nutzender eigener Einrichtungen in
der Justizverwaltung zu vermeiden?"
Der Senator für Gesundheitswesen trat dieser Auffassung mit Entschiedenheit entgegen. Er
führt u. a. aus: „Der Bedarf konnte sowohl über das zuständige Arbeitsamt als auch durch
Umfrage bei den Krankenpflegeschulen nicht gedeckt werden. Wegen des gegenwärtigen
Mangels an Krankenschwestern und besonders auch an Krankenpflegern wird das neu ausgebildete Krankenpflegepersonal ohnehin sofort von den Krankenanstalten absorbiert. Darüber
hinaus bestehen im Pflegedienst der Krankenanstalt des Strafvollzuges besondere Verhältnisse,
für die nicht alle Krankenschwestern bzw. Krankenpfleger geeignet sind ..."
Man hofft, daß sich in dieser Schule nur solche Personen ausbilden lassen, die eine Neigung zu
dieser besonderen Art der Krankenpflege haben. Dies hat sowohl Einfluß auf die Altersstruktur der Bewerber als auch später auf die Personalfluktuation.
„Darüber hinaus werden ungeprüfte Krankenpflegepersonen, die in den Einrichtungen des
Strafvollzuges tätig sind, durch die Einrichtung einer eigenen Krankenpflegeschule die Möglichkeit erhalten, durch eine entsprechende Ausbildung und Prüfung die staatliche Anerkennung mit der Erlaubnis zur Berufsbezeichnung .Krankenpfleger' bzw. .Krankenschwester' zu
erwerben. Hierdurch wird zugleich Pressenangriffen gegen den angeblich unzureichenden
Pflegedienst in Moabit vorgebeugt.
Ich halte es daher in Übereinstimmung mit dem Herrn Senator für Justiz für erforderlich, daß
in den Krankenanstalten des Berliner Strafvollzuges eine Krankenpflegeschule eingerichtet
wird, damit der dringende Bedarf an hierfür geeignetem und ordnungsgemäß ausgebildetem
Krankenpflegepersonal gedeckt werden kann. Die Schaffung der von mir inzwischen staatlich
anerkannten Schule war von mir angeregt worden."
Der Senator für Finanzen gab darauf seinen Widerstand auf und bewilligte 746 DM für den
laufenden Unterhalt der Schule.
Im Herbst 1960 ergab sich die Notwendigkeit einer Klärung, ob die praktische Ausbildung nur
in Moabit stattfinden muß oder ob sie auch in den Krankenhausabteilungen in Tegel und
Plötzensee durchgeführt werden kann. Der Senator für Gesundheitswesen ließ dann auch die
psychiatrische und die Tuberkulose-Abteilung als praktische Ausbildungsstätte zu.
Am 2. Januar 1961 sollte die Schule mit 15 Kursteilnehmern eröffnet werden. Wegen Erkrankung von Hilsinger und Schmidt mußte die Eröffnung jedoch verschoben werden. Am 1. April
1961 wurde dann endlich der Schulbetrieb aufgenommen. Hilsinger hielt beim ersten theoretischen Unterricht eine kurze Eröffnungsansprache, in der es u. a. heißt: „Alles wäre aber Theorie
geblieben, hätten sich nicht Männer gefunden, vom alten Stamm der Sanitätsbeamten und viele
neue Hilfskräfte, die sich für die Ausbildung freiwillig entschieden, die den Beruf der Krankenpflege mit ehrlicher Freude und vollem Ernst als Lebensberuf innerhalb des Justizvollzuges
gewählt haben. Daß dieser Beruf nicht leicht ist, daß er hohe Anforderungen an Haltung,
Wissen und Können stellt, und wie die Ausbildung im einzelnen vor sich geht, soll sehr bald im
Unterricht ausgeführt werden. Die Eröffnung der Schule ist hiermit vollzogen; mögen wir uns
alle bewußt bleiben, daß diese Stunde einen neuen bedeutenden Markstein in der Entwicklung
des Justizvollzuges darstellt."
Der Senator für Justiz teilt unter dem 10. April 1961 dem Gesundheitssenator die Eröffnung der
Schule mit und erklärt: „Der theoretische Unterricht findet an jedem Donnerstag, erstmalig am
6. Mai 1961, im Haus II der Untersuchungshaftanstalt Moabit statt und wird von dem Leiter der
81
Krankenpflegeschule, seinem Vertreter sowie den übrigen Ärzten des Justizvollzuges und dem
eingesetzten Unterrichtspfleger erteilt." Der eingereichte Lehrplan entsprach im Grundsatz der
Ausbildungs- und Prüfungsordnung, wobei auf die besondere Altersstruktur der Kursteilnehmer Rücksicht genommen werden mußie. Von den 15 Krankenpflegeschülern waren 12 älter als
30 Jahre, keiner unter 25 Jahren. Alle Kursteilnehmer hatten Volksschulabschluß bzw. den
Abschluß technischen Zweiges. Neben dem Schulleiter unterrichteten sieben weitere Ärzte des
Justizvollzugsdienstes.
Im Januar 1963 wurden gem. § 2 Abs. 3 der Prüfungsordnung vom 22. April 1959 die Mitglieder
des Prüfungsausschusses für das Staatsexamen bestellt. Es waren:
OMR Dr. Wilhelm Hilsinger,
als Vertreter MR Dr. Erhardt Schmidt;
OMR Dr. Reinhard Meitzner,
als Vertreter Dr. Lorenz Hagedorn;
OMR Dr. Jan-Hinnerk Husen,
als Stellvertreter MR Werner Buchwald;
Krankenpfleger Wilhelm Gloßmann,
als Vertreter Krankenpfleger Max Griesinger.
Es ergaben sich für den ersten Prüfungstermin noch Schwierigkeiten dadurch, daß einige
Beamte während der praktischen Ausbildung aus dienstlichen Gründen für vier bis fünf
Monate außerhalb der Krankenabteilung Dienst tun mußten. Es wurde aber eine Kompromißlösung gefunden, die die Zulassung zur Prüfung ermöglichte.
Etwa zum Zeittermin der Prüfung und Beginn des zweiten Kurses wurde eine besondere
Publikation herausgegeben, über die in der Berliner Medizin folgendes berichtet wird: „Nur für
den internen Dienstgebrauch der Krankenpflegeschüler ist jetzt ein klinisches Wörterbuch
(medizinische Terminologie) erschienen. Das Büchlein im Format DIN A5 hat einen Umfang
von 44 Seiten, ist nicht im Buchhandel erhältlich, weist keine Angaben über Autor, Druckort
und -jähr und Herausgeber auf und ist nach zuverlässigen Informationen in der Strafanstalt
Tegel gedruckt. - In einer Auflage von ca. 300 Stück soll das Heft die Anschaffung kostspieliger medizinischer Lexika ersparen. Die ursprüngliche Absicht, es auch den bereits im Sanitätsdienst tätigen und zum Teil darin ergrauten Beamten auszuhändigen, wurde aufgegeben,
nachdem die ersten Exemplare alles andere als eine zustimmende Resonanz ausgelöst hatten.
Das Buch wimmelt von sinnentstellenden Druckfehlern . . . Ob die im Berliner Strafvollzug
tätigen Ärzte, die an der Krankenpflegeschule unterrichten, über diese hausinterne Neuerscheinung sehr glücklich sind, kann man bezweifeln. Das Strafvollzugsamt, in dessen Zuständigkeitsbereich das .Wörterbuch' gedruckt worden ist, kann zu dieser ersten Blüte medizinischer Verlagstätigkeit nicht beglückwünscht werden. Der Senator für Gesundheitswesen sollte
die Mitglieder des Landesgesundheitsamtes, die in Zukunft die Examen an dieser Krankenpflegeschule abnehmen werden, rechtzeitig mit dem Inhalt dieses Unterrichtsmittels bekannt
machen." Wahrscheinlich auch ohne diese externe Kritik ist dieses Unterrichtsmittel offensichtlich aus dem Verkehr gezogen worden. Dem Autor dieser Zeilen ist es nicht gelungen, ein
Exemplar dieses Wörterbuches noch zu ermitteln.
Zum zweiten Lehrgang 1963 wurde die Zulassung auf 25 Plätze beantragt und auch genehmigt.
Der zweite Kurs hatte 18 Teilnehmer, darunter drei Frauen. Auch hier war die Altersstruktur
wieder von den Absolventen normaler Krankenpflegeschulen abweichend. 13 Teilnehmer
waren älter als 30 Jahre, nur eine Beamtin war 25 Jahre alt. In diesem Kurs hatten vier Beamte
den Mittelschulabschluß.
82
Aus gesundheitlichen Gründen mußte Hilsinger 1963 vorzeitig aus dem Dienst ausscheiden. Zu
seinem Nachfolger in allen Ämtern, d. h. auch in der Schulleitung, wurde Meitzner ernannt.
1965 trat das neue Krankenpflegegesetz in Kraft, und die dazugehörige Ausbildungs- und
Prüfungsordnung verlangte eine dreijährige Ausbildung und setzte die Zahl der theoretischen
Unterrichtsstunden auf 1200 herauf. Die Schule paßt sich den neuen Gegebenheiten an.
Unter dem 23. Juli 1969 schreibt Meitzner an den Senator für Arbeit, Gesundheit und Soziales,
daß ein großer Bedarf von ausgebildeten Krankenpflegern bei der Justiz besteht: „Ich bitte
deshalb zu gestatten, daß dieser Kurs mit 30 Teilnehmern durchgeführt werden darf, wobei
daran gedacht ist, ihn mit 32 bis 33 Teilnehmern beginnen zu lassen. Nach den bisherigen
Erfahrungen scheiden bereits in den ersten Monaten jeweils einige Schüler aus, so daß dann die
Zahl von 30 das Maximum für den nächsten Kurs bis zum Examen darstellen würde." Die
Erhöhung der Platzzahl wird genehmigt. Das Durchschnittsalter der an den Lehrgängen
teilnehmenden Beamten wird deutlich geringer. Seit Beginn der 70er Jahre besitzen wir leider
nicht mehr die Erhebungsbögen der „Schulstatistik" der Krankenpflegeschule, so daß ein
zahlenmäßiger Nachweis nicht möglich ist. Es lassen sich nur noch die Teilnehmer an den
Krankenpflegeprüfungen ermitteln. Die Tabelle gibt einen Überblick über die Anzahl der
Examenskandidaten.
Krankenpflegelehrgänge und Prüfungen an der Krankenpflegeschule des Krankenhauses
der Berliner Vollzugsanstalten
Lehrgang
Zahl der Teilnehmer
Tag der Prüfung
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
15
17
20
29
35
11
13
17
19
6
10
14
11
3.10.1963
14.10.1965
l.und2. 4.1969
2. und 3.10.1972
17. bis 19. 9. 1975
11.9. 1978
13. 9. 1979
1. 3. 1982
23. 3. 1983
8. 9. 1983
7. 9. 1984
13. 3. 1986
11.9. 1986
Am Staatsexamen 1975 nahmen 35 Kandidaten teil. Dies stellt die Höchstzahl dar, in den
folgenden Prüfungsterminen traten dann erheblich weniger Prüflinge an. Offensichtlich war
der Bedarf gedeckt. Es darf auch nicht übersehen werden, daß die Zahl der Häftlinge im
Berliner Justizvollzug in dieser Zeit zurückgegangen ist.
Als das Zentralkrankenhaus der Justizbehörden Hamburg einen Antrag auf Zulassung einer
Krankenpflegeschule 1968 stellt, fragt die Gesundheitsbehörde beim Senator für Gesundheitswesen in Berlin an, welche Voraussetzungen zur Zulassung einer Krankenpflegeschule gefordert wurden. Die Antwort war kurz: „Die Krankenpflegeschule am Krankenhaus der Berliner
Vollzugsanstalten besteht seit dem 1. April 1960. Das Krankenhaus verfügt über vier Fachabteilungen (innere, chirurgische, Tbc- und psychiatrisch-neurologische Abteilung), so daß die
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Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Nr. 1 a des Krankenpflegegesetzes in der Fassung vom 20. September 1965 erfüllt sind."
1969 wird die „Hauptpflegerin Schultz als Lehrschwester an der Krankenpflegeschule der
Berliner Vollzugsanstalten" bestellt, nachdem sie den Lehrgang zur Heranbildung von Unterrichtsschwestern absolviert hatte. 1972 wird der Oberpfleger Manfred Kirsten als Unterrichtspfleger bestätigt. 1976 geht Wilhelm Gloßmann in den Ruhestand. Frau Schultz wird nun Ltd.
Unterrichtsschwester. 1981 wird Oberpfleger Bernhard Schröteler, bereits vorher als Schulassistent an der Schule tätig, als Unterrichtspfleger bestätigt.
Zu diesem Zeitpunkt tritt die Notwendigkeit ein, zur praktischen Ausbildung in den Fächern
Gynäkologie und Geriatrie die Beamten an ein auswärtiges Krankenhaus abzuordnen. Das
Krankenhaus Spandau dient als Ausbildungsstätte.
Nach der Pensionierung von Dr. Meitzner 1978 wurde der Chirurg Dr. Hans-Günther Kutz
sowohl Leiter des medizinischen Dienstes bei den Berliner Vollzugsanstalten als auch Leiter der
Krankenpflegeschule. 1979 wird die Erhöhung der Ausbildungsplätze auf 50 beantragt und mit
Wirkung zum 1. April 1980 auch vom Senator für Gesundheit und Umweltschutz genehmigt.
Folgender Bericht aus dem April 1985 gibt die gegenwärtige Situation der Krankenpflegeschule
wieder:
„Zur Ausnutzung der Ausbildungsplätze wird mitgeteilt, daß die genehmigten Plätze im
Durchschnitt mit 45 Schülern besetzt sind (davon etwa 15 bis 20 % Frauen). Jedes Jahr werden
etwa 15 neue Schüler aufgenommen. Aufgrund der besonderen Struktur des Krankenhauses in
den Berliner Vollzugsanstalten rekrutieren sich die Lehrgangsteilnehmer in aller Regel aus dem
Kreis der bereits als Beamte ernannten Bediensteten der Vollzugsanstalten, die nach der
Eingangsgruppe des mittleren Vollzugsdienstes (BesGr. A 5) besoldet werden. Während des
dreijährigen Lehrganges werden die Dienstbezüge voll weiter gewährt, der Beamtenstatus der
Lehrgangsteilnehmer wird durch den daneben geschlossenen Ausbildungsvertrag nicht verändert. Außenbewerber werden in die Schule nicht aufgenommen; ein in den früheren Jahren
durchgeführter Lehrgang für solche Schüler bildete lediglich eine Ausnahme. Nachwuchsschwierigkeiten werden nicht gesehen. Für die Zukunft rechnet man wegen des Ausscheidens
einer größeren Anzahl von ausgebildeten Krankenpflegern im Vollzugsdienst mit einem vorübergehenden noch steigenden Bedarf an neu ausgebildeten Krankenpflegern im Vollzugsdienst. Zu gegebener Zeit soll dann eine Erhöhung der Ausbildungsplätze für einen zusätzlichen Kurs beantragt werden. Die Frage der hierfür benötigten zusätzlichen hauptamtlichen
Unterrichtskraft ist rechtzeitig zu klären.
Die Krankenpflegeschüler werden voll in die allgemeine Stellenausstattung des Vollzugskrankenhauses mit Pflegekräften eingerechnet. Die praktischen Ausbildungseinsätze erfolgen auf
den vielen medizinischen Abteilungen des Vollzugskrankenhauses und in 18 sogenannten
Arztgeschäftsstellen in den Außenstellen der Vollzugsanstalten. Diese Einsätze werden vom
ärztlichen Leiter der Krankenpflegeschule mit einem Ausbildungseinsatz in der ambulanten
Krankenpflege verglichen. In diesem Zusammenhang machte ich auf die Notwendigkeit eines
Ausbildungseinsatzes von Krankenpflegeschülern auch in Sozialstationen aufmerksam, weil
die praktische Krankenpflegeausbildung in diesem Punkt sonst nicht den Anforderungen nach
den EG-Richtlinien entsprechen. Die Einsätze in den Arztgeschäftsstellen werden sicher nicht
mit den Aufgaben in einer Gemeindepflegestation oder Sozialstation zu vergleichen sein, weil
die Tätigkeit in den Arztgeschäftsstellen auf die speziellen Bedürfnisse der Krankenbetreuung
von Strafgefangenen ausgerichtet sein dürfte."
Anschrift des Verfassers:
Ltd. Med.-Dir. Dr. phil. Dr. med. Manfred Stürzbecher, Buggestraße 10b, 1000 Berlin 41
84
Der Friedenssender wurde nicht gebaut
Ein Bericht nach Gesprächsnotizen mit Alfred Braun
Von Christiane Knop
Die Hörergemeinde des „Spreekiekers" Alfred Braun empfing am 4. Adventssonntag 1977
seine letzte Sendung. Der einstige Chefsprecher und Leiter der Funkstunde im Berliner
Rundfunk hatte sich selbst - er ahnte nicht, daß es sein letzter werden sollte - den Wunsch
erfüllt, mit den Hörern gleichzeitig die Kerzen am Adventskranz anzuzünden und in beschwörender Schilderung der sprühenden Flammen die menschliche Unmittelbarkeit im Medium
Funk herzustellen. Er griff damit auf einen der ersten Versuche aus seiner Anfangszeit im
Voxhaus zurück, so daß Anfang und Ende seines Tuns sich in seltsamer Gleichartigkeit
berührten. - Er glaubte eine politische Aufgabe zu erfüllen: „Rettet Weihnachten, das stillste
Fest im Jahr! Denn wir brauchen es, wir brauchen noch viel mehr für die, die nach uns
kommen, für unsere Jugend, die die festlose Entleerung ihres Lebens nicht mehr ertragen kann
und in Rausch und Drogen flüchtet!"
Die weitere Aufwertung der festlichen Nüchternheit hatte er sich als Programm für die
nächsten Monate bis zum 3. Mai 1978 vorgenommen, bis zu seinem 90. Geburtstag, auf den er
sich kindlich freute. In der Nacht nach der Adventssendung traf ihn der tödliche Schlaganfall.
Vfn. hat seine intensive Vorarbeit, sein Auswählen, Wieder-Verwerfen und neues Aufnehmen
als Helferin miterlebt, da seine erlöschende Sehkraft und die müde gewordenen Ohren ihrer
Hilfe bedurften. Gegen seine Gewohnheit des virtuosen Improvisierens rief er rastlos sein
ganzes Schaffen vor sein inneres Auge und fragte nach seiner Leitidee. Dabei formten sich
bestimmte Phasen der Vergangenheit zu immer neu sich zusammensetzenden Mosaikbildern,
bis es schien, als habe er mitten darin den geheimen Drehpunkt gefunden; Vfn. gewann dabei
den Einblick in seine Alterskunst. Des Lesens nicht mehr fähig, war er ganz auf sein Gedächtnis
angewiesen; nicht mehr die konkreten Bilder, sondern geistige Leitfiguren wurden zur Reportage, die er so meisterte. - Eines der historisch bedeutsamsten Ereignisse, das fast unbekannt
geblieben ist, kam ins Wort und soll zu seinem 100. Geburtstag am 3. Mai 1988 berichtet
werden.
Je älter er wurde, desto mehr näherte er sich der Adventszeit mit der Besinnung auf die Gestalt
Johannes des Täufers, die eine starke Anziehungskraft auf ihn ausübte - nicht zufällig gehörte
er der freimaurerischen Johannisloge an. Die Begegnung der beiden Marien stand vor seinem
Auge, dann die Erkenntnis „Jener muß wachsen, ich aber muß abnehmen", schließlich Demut
und Trotz des Täufers, die Wahrheit Christi mit seinem Wüstendasein zu besiegeln. Die
Apostelfiguren an den französischen Kathedralportalen, der Isenheimer Altar gewannen
innere Leuchtkraft. Dann tauchte der Rhein auf und mit ihm Basel, zeitweiliger Ort seines Exils
nach der Entlassung aus dem KZ Sachsenhausen, schließlich dessen Nähe Straßburg, und mit
ihm überblendeten sich ihm die Bilder Meister Eckarts und Johannes Taulers, beide Dominikanermönche. Das alte Lied: „Es kommt ein Schiff geladen" verband die Erinnerungsbilder. Und weiter floß der Strom der inneren Bilder: Aus der Rheinbrücke wurde die Berliner
Mühlendammbrücke, in deren Nähe er die mittelalterliche Dominikaneransiedlung wußte.
Dann wieder war es die Potsdamer Brücke mit dem nahen Voxhaus.
„Es kommt ein Schiff geladen ...", und dann erzählte er von der Begegnung im Exil 1935.
»In Basel wohnte ich in einem alten Hotel dicht am Ufer bei der Rheinbrücke, und ich sah vom
Fenster hinüber aufs Münster und sah auf den Rhein und dachte an die Spree - wie ich all die
85
Jahre im Exil mich gefühlt habe, als ob ich auf dem Bahnperron stehe und auf meinen Zug nach
Berlin warte. Da klopfte es an meine Stubentür - nein, das kann doch nicht sein - , zwei nahe
befreundete Männer aus Berlin traten ein, froh, mich allein anzutreffen, weil sie mir etwas zu
sagen hätten, was vorläufig noch geheim bleiben müsse. Es bestand, bereits von einem großen
Aktionskreis mit großem Kapitalaufwand versehen, der Plan, in Bethlehem, der Geburtsstadt
Christi - denken Sie, draußen auf dem Feld, auf dem die Hirten in jener Nacht, da sie die
Himmel tönen hörten, ihre Herden weideten - und immer, wenn ich diese Zeilen der Weihnachtsgeschichte spreche, höre ich die silbernen Trompeten aus Bachs Oratorium - , denken
Sie, an dieser Stelle sollte ein internationaler Friedenssender gebaut werden, der alltäglich in
eine durch Haß vergiftete Welt, die am meisten genährt wurde durch das, was im nationalsozialistischen Deutschland geschah, eine Ermutigung zum Frieden ausstrahlen! Ich war
überwältigt von der Idee.
Der eine der Männer, der mir dies antrug, war der Dichter Ernst Toller. Er und ich sollten die
Leitung der deutschsprachigen Sendungen übernehmen, Toller sollte dafür aus seinem Exil von
New York nach Bethlehem gehen!
Die Herren hatten wenig Zeit, sie waren für den Nachmittag zu einer Besprechung in Straßburg
verabredet; so ging ich mit ihnen zum Mittagessen ins Hotel „Zu den Heiligen Drei Königen". Als wir über die Rheinbrücke gingen, blieb Toller stehen, und wir schauten über die Brüstung in
den Fluß. Da sagte Toller: „Immer am letzten Adventssonntag denke ich an diese Geschichte:
So hat der Dominikanerpater Tauler im Nebel gestanden und über den Rhein geschaut. - Er
hatte einen wachen Traum, während die Münsterglocken zu ihm herübertönten. Johannes,
mein Bruder', sagte seines Lehrers, des Meisters Eckart Stimme, ,ich habe dich ersehen, nach
mir die wahre Liebe zu den Menschen zu tragen, wenn mich der Tod ereilt hat!'"
Erschrocken blickte er auf und sah die Sterne klar über dem Rhein glitzern. Er, Johannes, sollte
des Meisters Eckart Mission erfüllen! Die Frage, wie das geschehen sollte, trieb ihn ein ganzes
Jahr rastlos um. Er predigte im Münster, er las inbrünstig Messen, er besuchte als Dominikanerbruder Aussätzige und teilte ihre Armut; er studierte und teilte den Klosterschülern
lehrend mit, was er von Gott wußte, doch sein Ungenügen blieb. Magister Eckart war tot;
wie konnte er sein Bote sein?
Ein Jahr später stand er wieder in der Christnacht auf der Flußbrücke in Straßburg. Er ist vom
Spital der Aussätzigen auf der anderen Rheinseite gekommen; doch er spürte, über der
Weihnachtsbotschaft blieben ihre Herzen stumm. Nun stand Tauler auf der Rheinbrücke, sah
zu den Sternen hoch, als käme wie einst Botschaft in seine Unrast. - Da schob sich auf dem
Strom ein verspätetes Kaufmannsschiff aus dem Abendnebel heraus, auf die Brücke zu, und
Bruder Johannes hörte die Schiffer singen:
Es kommt ein Schiff geladen
bis an sein höchsten Bord;
trägt Gottes Sohn voll Gnaden,
des Vaters ewges Wort.
Das Schiff geht still im Triebe . . . ,
und aus der Entfernung klang es leiser: „sein Anker ist die Liebe." Tauler blickte ihm nach. Sein
Sinn war noch gefangen von der Qual der Ärmsten, der Bitterkeit der Ausgesetzten, denen kein
Licht helfen kann. Sie sind so verstrickt in ihre eigne Not zum Tode, daß niemand ihren Bann
lösen kann. - In seiner Müdigkeit hörte er noch einmal den Fluß wind das Singen der
Rheinschiffer hinübertragen:
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„... sein Anker ist die Liebe . . .
der Anker haft' auf Erden,
da ist das Schiff am Land."
Da! Das ist es, was Meister Eckart gemeint hatte!
Bei Tisch fragte ich Toller, ob er diese schöne Tauler-Legende um ihrer selbst willen erzählt
habe; denn ich wußte, daß er sich nach jahrelanger Haft mit dem Gedanken trug, in den
Dominikanerorden einzutreten. Er antwortete: Ganz erloschen ist der Gedanke nie in mir. Und
sollte der Plan des Friedenssenders sich nicht verwirklichen lassen, werde ich wohl in der
Mönchszelle eine Heimstatt finden.«
Er ging nicht in Erfüllung. Der Krieg und viele andere Umstände bewirkten, daß seine
Realisierung immer wieder hinausgeschoben wurde, bis es zu spät war. Toller nahm sich 1939 in
seinem New Yorker Hotelzimmer das Leben. Braun: „Der tiefste Grund war die Resignation
nach dem Mißlingen eines solchen Plans."
Ich fragte ihn: „Sie und Toller, der ,zornige junge Mann' von 1918? Was hätte Sie verbunden
zum Neuanfang und zur Gegenkraft?" Wir kennen ihn als Dichter von sozialistischen Revolutionsdramen und als glühenden Pazifisten. Er war einer, der gegen alle Ordnungen und
Gewohnheiten anrannte. Er hatte aber keine Zeit mehr, die Welt zu verändern, sein „O
Mensch!"-Idealismus von 1918 setzte zu früh Patina an unter den bedrückenden Nöten der
Weimarer Republik. Hätten Sie, Alfred Braun, eine glaubhafte Friedensbotschaft gemeinsam
mit dem Mann gefunden, der bekannte: „Ich bin für Diktatur, aber nicht für die Diktatur der
Gewalt . . . Wann werden die Menschen endlich aufhören, einander zu jagen, zu quälen, zu
morden? - Und es gibt Menschen... im Kriege haben sie alles gelitten und ihre Herren gehaßt,
und haben doch gemordet und gehorcht, die alles vergessen! Sie werden wieder ihre Herren
hassen, werden wieder gehorchen und wieder morden. Sie steinigen den Geist, sie höhnen ihn,
sie schänden das Leben, sie kreuzigen es immer wieder und wieder!"
Braun dachte nach und gab zögernd zu, daß der Dramatiker der Gewaltlosigkeit wohl zum
Scheitern verurteilt war. Er war lange und besser mit ihm befreundet gewesen als andere und
kannte seinen inneren Widerspruch: Der ungestüme Streiter schlug den sanften Poeten in ihm er war eigentlich Lyriker - tot und erzeugte Wellen des Widerstandes gegen ihn selbst. Braun
hat am Ende diese Unvereinbarkeit ihrer beider Persönlichkeiten erkannt, gerade weil er,
Max-Reinhardt-Schüler wie jener, in Toller einen Geistesverwandten erkannte; beide verband
der Impuls zu wahrhaft großem Theater, zum Theater als moralischer Anstalt. Aber Brauns
Weg der Erneuerung verlief anders: Raabe und Fontane statt Franz Moor. Er sagte: „Und
heißt es im Lied nicht: Und wer dies Kind mit Freuden umfangen, küssen will, muß vorher mit
ihm leiden groß Pein und Marter viel, danach mit ihm auch sterben und geistlich auferstehn?"
Anschrift der Verfasserin: Dr. Christiane Knop,
Rüdesheimer Straße 14, 1000 Berlin 28
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Nachrichten
Freizeit-Denkmalpfleger in Ost-Berlin gesucht
Dr. Peter Goralczyk, Generalkonservator des Instituts für Denkmalpflege der DDR, hat vor kurzem auf
die Notwendigkeit hingewiesen, mehr Bürger für die ehrenamtliche Arbeit der Interessengemeinschaften
Denkmalpflege des Kulturbundes der DDR zu gewinnen. Da die staatliche Denkmalpflege überfordert ist,
werden ehrenamtliche Helfer gesucht, die sich in ihrer Freizeit um die Erhaltung historischer Bauten
kümmern.
In der DDR sind in rund 500 Gruppen etwa 6000 Mitglieder als Freizeit-Denkmalpfleger organisiert,
davon in Ost-Berlin 400. Unter anderem haben diese ehrenamtlichen Helfer bislang zwölf historische
Straßenbahnen, vier alte Omnibusse und eine Trümmerlok aus der Nachkriegszeit restauriert. Zu den von
ihnen gepflegten Denkmalen zählen auch die Klosterkirche, die alte Stadtmauer, der Garnisonsfriedhof
und der Parochialfriedhof. Zu den jetzt anstehenden Projekten gehört die weitere Gestaltung des Platzes
der Akademie (Gensd'armenmarktes) und des Lustgartens „nach historisch-originellen Vorbildern".
SchB.
Märkisches Museum mit weiteren Außenstellen
Das Märkische Museum konnte im vergangenen Jahr seine Sammlungen um mehrere tausend Neuerwerbungen ergänzen und erweitern. Viele von den neuesten Schaustücken aus den Bereichen Bodendenkmalpflege, Geschichte, Kunst, kulturgeschichtliches Depot sowie Theater und Literatur werden nicht
im Stammhaus am Köllnischen Park ausgestellt, sondern künftig in der Nikolaikirche und im EphraimPalais zu sehen sein. Aber auch das im Aufbau befindliche Dorfmuseum Marzahn oder das KnoblauchHaus in der Poststraße werden bedacht. Für die Eröffnung der Ausstellungen im Knoblauch-Haus stehen
unter anderem wertvolle Gegenstände aus dem Besitz der bedeutenden Berliner Bürgerfamilie Knoblauch
zur Verfügung. Das künftige Dorfmuseum in Marzahn konnte in Mecklenburg eine Reihe landwirtschaftlicher Geräte einer 10-ha-Wirtschaft erwerben, darunter als größtes Objekt einen Pferde-Mähbinder.
SchB.
25 000 Mitglieder der Gesellschaft für Heimatgeschichte
Am 9./10. April 1988 veranstalteten das Ministerium für Kultur und der Kulturbund der DDR in
Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) eine gemeinsame Konferenz. Auf ihr verpflichteten sich die rund 300
Geschichts- und Regionalmuseen sowie die 25 000 Mitglieder der Gesellschaft für Heimatgeschichte, „bei
der tieferen Erforschung und lebendigeren Propagierung der Geschichte der DDR" künftig enger zusammenzuwirken. Zur Vorbereitung des 40. Jahrestages der DDR haben unter anderem Museologen, Ortschronisten und Mitglieder des Kulturbunds ihre Erfahrungen über Aufgaben der regionalgeschichtlichen
Forschung ausgetauscht.
SchB.
Stiftung Historische Friedhöfe
Im Jahre 1976 hatte Professor Dr. Peter Bloch im Heft 9 der Berliner Forum-Reihe den Figurenschmuck
des Alten St .-Matthäus-Kirchhofes katalogisiert und damit die Erhaltung bedeutender Grab- und Friedhofsanlagen angeregt. Mit finanzieller Unterstützung des Landes Berlin kümmert sich die dortige Kirchengemeinde seitdem auch mit Hilfe von Firmenspenden um die Restaurierung historischer Gräber.
Um die Arbeiten fortführen zu können und die Unterhaltung wiederhergestellter Ruhestätten zu ermöglichen, plant ftian, eine Stiftung Historische Friedhöfe mit einer angeschlossenen Bauhütte ins Leben zu
rufen. Seit 1. Juli 1988 sind bereits 15 Jugendliche unter Leitung eines erfahrenen Pädagogen und 3 Facharbeiter des Maurer- und Zimmerhandwerkes beschäftigt. Die Bauhütte soll später als Lehrbetrieb
Restauratoren ausbilden. Zur Zeit sucht man jedoch noch nach dem Träger der Stiftung.
Der Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865, begrüßt das Projekt, weil es einmal Jugendliche mit den
verdienten Bürgern aus der Vergangenheit unserer Stadt vertraut macht und darüber hinaus neue
Arbeitsplätze sichern kann. Wir werden deshalb auch in Zukunft darüber berichten.
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Aus dem Mitgliederkreis
In memoriam Ernst Alberts (1903-1987)
Man braucht nur einige Sätze in seinem Aufsatz über die Straßenbeleuchtung im alten Berlin in den letzten
„Mitteilungen" zu lesen, und schon steht einem seine ganze Persönlichkeit vor Augen. Ein alter Berliner im
besten Sinne des Wortes, einer, der den schier vergeblichen Kampf gegen die falsche Historisierung seiner
Stadt aufnahm, dabei kein Freund der ausgefeilten literarischen Form. Man denkt an seine Wut über die
verlogenen Straßenschilder an der Siegessäule. Es fällt einem seine tätige Anteilnahme bei Aufbau und
Einrichtung des Berlin-Museums ein. Sein Zorn über die Anbringung des Münzfrieses an einer mißglückten, privaten Architektur, sein jahrelanges, unablässiges Eintreten für einen Umzug an einen
konservatorischen Anforderungen genügenden und zugleich würdigen Platz, sein Einfallsreichtum und
seine bis zuletzt ungeheure Aktivität für die Berliner Kulturgüter ohne die Spur eines persönlichen Vorteils
haben seine Freunde, vielleicht auch seine Widersacher beeindruckt. Für Ernst Alberts trifft zu, was für
viele voreilig in Anspruch genommen wird: er hinterläßt eine Lücke. Denn Leute seines Schlages wachsen
nicht mehr nach.
Helmut Vogt
Julius Posener BDA-Ehrenmitglied
Der Bund Deutscher Architekten hat unser Mitglied Professor Julius Posener zum Ehrenmitglied ernannt
und damit gewürdigt, daß er „einen großen Beitrag zur Entwicklung der Baukultur in Berlin und der
gesamten Bundesrepublik Deutschland geleistet" hat.
SchB.
Mitgliederversammlung am 18. Mai 1988
Aussicht auf neue Bibliotheksräume
Der Vorsitzende, Rechtsanwalt und Notar H. Oxfort, Bürgermeister von Berlin und Senator a. D., leitete
die diesjährige Ordentliche Mitgliederversammlung am 18. Mai 1988 im Pommernsaal des Rathauses
Charlottenburg nach der Begrüßung mit der Totenehrung ein. Er würdigte vor allem die Persönlichkeit
des langjährigen Bibliothekars Hans Schiller, Trägers der Fidicin-Medaille des Vereins. Der Tätigkeitsbericht, der auch im Jahrbuch 1988 „Der Bär von Berlin" abgedruckt werden soll, lag den Mitgliedern
ebenso vor wie der Kassenbericht 1987 und der Voranschlag 1988. Ergänzend zum Tätigkeitsbericht führte
der Vorsitzende aus, daß die fristgemäß zum 31. Juli 1988 gekündigten Räume der Bibliothek im Rathaus
Charlottenburg zu diesem Zeitpunkt nicht freigemacht werden können, daß aber Verhandlungen laufen,
dem Verein eine sehr ansprechende, zweckmäßig und günstig gelegene neue Unterkunft für die Bibliothek
zu verschaffen. Der Vertrag wurde noch nicht unterschrieben, das Bezirksamt Charlottenburg aber
verständigt, daß der Umzug Anfang 1989 erfolgen wird.
Die 125-Jahr-Feier des Vereins soll mit einer größeren Veranstaltung am 28. Januar 1990 im neuen
Kammermusiksaal der Philharmonie begangen werden.
Leider hat es bei der vom Verein angeregten offiziellen Veranstaltung des Senats von Berlin anläßlich des
300. Todestages des Großen Kurfürsten, die am 9. Mai stattfand, eine Reihe von Mißverständnissen auf
Seiten des Senats gegeben. H. Oxfort bedauerte, daß nicht alle Mitglieder für diese würdige Veranstaltung
Karten bekommen haben.
Der Kassenbericht wurde von der Schatzmeisterin, Frau Ruth Koepke, der Bibliotheksbericht von Frau
Irmtraut Köhler erstattet. Die Kassenprüfer H.-D. Degenhardt und K.-H. Kretschmer fanden keinen
Grund zur Beanstandung, sie richteten an die Mitglieder die Bitte, der Schatzmeisterin die Arbeit dadurch
zu erleichtern, daß der Absender angegeben, leserlich geschrieben und der neue Jahresbeitrag von 60 DM
beachtet wird. Zugleich für M. Mende verlas Frau Dr. E. Crantz den Bericht der Bibliotheksprüfer. Der
Vorsitzende dankte allen Berichterstattern, vor allem den beiden Bibliotheksprüfern, die auf eigenen
Wunsch ausscheiden wollen. In der Aussprache begründete er die Beitragserhöhung, die sich aus den
laufenden Ausgaben vor allem für die Publikationen ergeben hat. Noch in diesem Jahr wird aus Anlaß des
300. Todestages des Großen Kurfürsten ein neues Grünes Heft erscheinen. Von Mitgliedern wurden
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Fragen zur Finanzlage des Vereins und zum anstehenden Jubiläum 1990 gestellt und vom Vorstand
beantwortet.
Der von O. Hensler beantragten Entlastung des Vorstands wurde bei dessen Stimmenthaltung einmütig
entsprochen, in gleicher Weise erfolgte die Bestätigung der bewährten Kassenprüfer Degenhardt und
Kretschmer in ihrem Amt. Die als Bibliotheksprüfer vorgeschlagenen Mitglieder Dr. Sibylle Einholz und
Hans-Peter Doege erhielten gleichfalls das einstimmige Votum der Mitgliederversammlung.
Eine Reihe von Problemen bewegte die Mitglieder zum Punkt „Verschiedenes". Zur Statistik berichtete die
Schatzmeisterin, daß der Verein 801 Mitglieder hat, davon drei Ehrenmitglieder (Brandt, HoffmannAxthelm, von Weizsäcker) und 15 Familienmitglieder zum halben Beitrag. Einige Mitglieder zahlen mehr
als den Mindestbeitrag (Höchstbeitrag 1200 DM/Jahr).
Der Vorsitzende H. Oxfort schloß die Versammlung mit einem Dank an alle Mitglieder, vor allem auch an
seine Vorstandskollegen, für die stets loyale Zusammenarbeit.
SchB.
Studienfahrt nach Detmold vom 9. bis 11. September 1988
In Heft 2/1988, Seite 64 der „Mitteilungen" war das vorläufige Programm veröffentlicht worden. Nach
einem Besuch des Reiseleiters und Schriftführers Dr. H. G. Schultze-Berndt in Detmold haben sich einige
Ergänzungen und Änderungen ergeben, so daß hier das endgültige Programm abgedruckt wird. Für die
Führungen am Ort, die meisten Besichtigungen und Exkursionen hat sich liebenswürdigerweise Dr.
Friedrich Hohenschwert zur Verfügung gestellt, nach eigenen Angaben ein „Herdbuchlipper" und vor
zwei Jahren als Direktor des Lippischen Landesmuseums in den Ruhestand getreten. Dieser vereint
Schwung mit Kenntnisreichtum und gehört jener Kategorie engagierter Bürger an, denen man sich beim
Kennenlernen eines Ortes gern anvertraut.
Programm:
Freitag. 9. September 1988
6.00 Uhr
Abfahrt mit Omnibus an der Berliner Bank, Hardenbergstraße 32
Eintreffen in den Hotels
12.30 Uhr
Gemeinsames Mittagessen (6 DM) in der Kantine der Bundesforschungsanstalt
13.15 Uhr
für Getreide- und Kartoffelverarbeitung,
anschließend Besichtigung der Bundesforschungsanstalt
mit den Schwerpunkten Müllereitechnologie und Bäckereitechnologie,
Führung: Wissenschaftlicher Direktor und Professor Dr.-Ing. Peter Gerstenkorn
Kleiner Stadtbummel zum Schloß (Dauer des Besuchs ca. 45 min)
16.30 Uhr:
17.30 Uhr:
Kaffeepause im Cafe Wortmann,
weiter Stadtrundgang unter Stadt- und landesgeschichtlichen Aspekten,
Führung: Dr. Friedrich Hohenschwert
19.00 Uhr:
Gemeinsames Abendessen (ä la carte) in den Hotels; anschließend geselliges
Beisammensein je nach Witterung im Bistro Spieker oder im Dachsbau im Winkel;
die Privat-Brauerei H. Strate Detmold lädt anläßlich ihres 125jährigen Bestehens
zu einer Jubiläumsrunde ein.
Sonnabend, 10. September 1988
8.30 Uhr:
Fortsetzung des Stadtrundgangs
9.30 Uhr:
Besuch des Lippischen Landesmuseums, kurzer Rundgang durch Teilbereiche,
Führung: Dr. Friedrich Hohenschwert
10.30 Uhr:
Fahrt vom Theaterplatz zum Westfälischen Freilichtmuseum
mit Rundgang und Führung
13.00 Uhr:
Gemeinsames Mittagessen in der Fachwerkhausdeele des Teutonenhofs Holzhausen
Externsteine (Teutonenschinken/Spießbraten mit Röstkartoffeln und Salatbuffet
18 DM)
14.30 Uhr:
Fahrt zur Greifvogelwarte Berlebeck mit Vortrag des Leiters der Adlerwarte Laue
15.00 Uhr:
Freiflugvorführungen mit abgerichteten Adlern, Geiern und Falken
16.00 Uhr:
Gemeinsame Kaffeetafel im Hotel zur Forelle, Berlebeck
90
17.00 Uhr:
18.30 Uhr:
Fahrt zur Grotenburg, kleiner Hünenring und zum Hermannsdenkmal
Gemeinsames Abendessen in der Waldgaststätte „Forstfrieden",
Am Donoperteich, Detmold-Hiddesen.
Wenn an diesem Abend ein (Kirchen-)Konzert stattfindet,
kann eine Programmänderung vorgenommen werden.
Sonntag, 11. September 1988
9.30 Uhr:
Landschafts- und kulturkundlicher Ausflug, u. a. zu den Externsteinen,
Führung: Dr. Friedrich Hohenschwert
12.30 Uhr:
Gemeinsames Mittagessen im Burgkeller des Burghotels Blomberg
(leichte Cremesuppe von Steinpilzen, Sahnehaube; zartes Hirschragout „Baden-Baden",
gefüllte Williams-Birne, Rosenkohl, Preiselbeerpastete, Walnußkrusteln;
Schwarzwaldkirschen mit Eierliköreis, Sahne; 26,50 DM)
anschließend: Aufbruch zur Heimfahrt
ca. 20.30 Uhr: Ankunft Hardenbergstraße
*
Für die Unterbringung wurden die beiden folgenden in der Stadtmitte gelegenen Detmolder Hotels
ausgewählt:
„Lippischer Hof, Hornsche Straße 1
(Einzelzimmer 62 DM/Doppelzimmer 103,50 DM), und
„Detmolder Hof, Lange Straße 19
(Einzelzimmer 63 DM bis 81 DM/Doppelzimmer 90 DM bis 126 DM,
jeweils Endpreis pro Nacht).
Es stehen genügend Einzelzimmer zur Verfügung.
Das Teilnehmerhonorar beläuft sich auf 99 DM, es schließt die Omnibusfahrt, alle Führungen sowie die
Eintrittsgelder für das Residenzschloß, die Adlerwarte, das Freilichtmuseum, das Lippische Landesmuseum und die Externsteine ein.
Die bereits gemeldeten Damen und Herren haben das Programm und ein Anmeldeformular schon vorab
erhalten. Alle anderen Interessenten möchten sich möglichst bis zum 23. Juli 1988 bei Dr. H. G. SchultzeBerndt, Seestraße 13,1000 Berlin 65, Telefon (030) 4509-291, anmelden.
Buchbesprechungen
Eberhard Schönknecht: Vom Dorforug zum Prälaten. „Von mancherley Örtern, wo man Bier gebräuet und
ausgeschenket." Eine Kulturgeschichte Schöneberger Gaststätten 1375 bis 1987. Schöneberg auf dem Weg
nach Berlin. Herausgeber Bezirksamt Schöneberg von Berlin. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im
Prälat Schöneberg vom 31. Mai bis 28. Juni 1987. DIN A4, broschiert, 87 Seiten.
Die beiden Autoren (Bernd Günterberg hat einen Exkurs „Schöneberg, Mansteinstraße 4 oder Leydicke ein Kneipenmythos" verfaßt) sind keine Historiker oder Literaten: Eberhard Schönknecht ist gelernter
Koch und jetzt als Oberamtsrat in der Steuerverwaltung tätig, B. Günterberg gleichfalls Mitarbeiter in der
Berliner Verwaltung. Um so höher ist anzuerkennen, wie sorgfältig sie recherchiert haben, welche Fülle an
Objekten zur Ausstellung zusammengetragen worden waren und wie umfangreich und im wesentlichen
zuverlässig die Texte sind. Zwei Jahre lang haben sich Eberhard Schönknecht und seine Frau Helga dieser
Aufgabe gewidmet.
Wenn man vom Kapitel „Über das Bier" absieht, dessen Untertitel „Bier is ooch Stulle" dem Hochdeutschen „Biertrinken ist ein gutes Essen" und Immanuel Kant als Autor zugeordnet wird, ist diese Arbeit im
Grunde ein Abgesang oder Epilog. Dies gilt für die Geschichte Schöneberger Gaststätten (1375-1930)
einschließlich Mutter Leydicke ebenso wie für die Schloßbrauerei in Schöneberg (1871-1975). Auch dem
Prälaten war ein unrühmliches Ende beschieden.
Michael Barthel, Stellvertretender Bezirksbürgermeister, und Katharina Kaiser, Leiterin des Kunstamtes
Schöneberg, bringen in ihrem Vorwort die Hoffnung zum Ausdruck, diese Publikation möge denen
Argumente an die Hand geben, „die Stadtplanung auch unter dem Aspekt von Lebensqualität und
Kulturentwicklung sehen wollen".
SchB.
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Dieter Hoffmann-Atfhelm und Ludovica Scarpa: Berliner Mauern und Durchbrüche. Berliner Topografien
Nr. 7, Museumspädagogischer Dienst Berlin, 1987, Verlag Ästhetik und Kommunikation, 95 S., 50 Abb.,
16,80 DM.
Die beiden Autoren, bekannt durch ihre Stadt- und bauhistorischen Arbeiten, haben eine gemeinsame
Darstellung vorgelegt, bei der Dieter Hoffmann-Axthelm für die Kapitel über die Geschichte der Berliner
Mauern, Ludovica Scarpa für die Kapitel Durchbrüche II und III verantwortlich zeichnet, während das
Kapitel Durchbrüche I in Kooperation beider Autoren entstand.
Die Geschichte der Berliner Mauern wird einschließlich der heute die Stadt teilenden Mauer topographisch dargelegt. Dem Leser werden die Anhaltspunkte für den Verlauf längst vergangener Mauern nicht
nur mit Hilfe alter abgebildeter Stadtpläne, sondern auch im heutigen Straßenbild aufgezeigt, selbst wenn
sie nicht mehr oder nur noch punktuell steinern sichtbar sind: Von den mittelalterlichen Stadtmauern zur
Errichtung einer Festungsanlage unter dem Großen Kurfürsten, von den Vorformen der Zollmauer und
deren Bedeutung bis zu ihrer Erweiterung im 19. Jahrhundert; schließlich die heutige politische Mauer.
Dabei wird der jeweilige historische Hintergrund leicht verständlich beschrieben, so daß die Geschichte
der Berliner Mauern auch einen Abriß der Geschichte dieser Stadt darstellt. Sie wäre unvollkommen ohne
die Geschichte ihrer Durchbrüche, sowohl der Mauer- wie der Straßendurchbrüche, die einschließlich
heutiger Bau- und Unterlassungs-„Sünden" in beiden Teilen der Stadt aufgezeigt werden. Gerade die
Abfolge der Mauer- und Straßendurchbrüche, historisch dargelegt, ist auf dem Gebiet der Berlin-Literatur
neu und macht dieses Buch neben der Aktualisierung der Geschichte der Berliner Mauern - bis zur heute
die Stadt teilenden Mauer - besonders wichtig. Der Leser empfindet mit den Autoren die Brisanz von
Durchbrüchen als Wegweiser in die Zukunft. Angesichts der Vergänglichkeit von Mauern schließen die
Verfasser nicht ohne Augenzwinkern, wenn sie ein weiteres Kapitel, die erhoffte zukünftige Durchlässigkeit der heutigen Mauer und ihren späteren Abbruch betreffend, in Aussicht stellen - sofern sie dann noch
leben. Es ist dies ein zugleich spannendes und belehrendes Buch, dessen Ausführungen durch reizvolle
neue Fotos unterstützt werden. So sind auf Seite 41 die Reste der Zollmauer von 1840 auf den Grundstücken der Hessischen Straße 12 und Hannoverschen Straße 9 (in Berlin-Ost) abgebildet, eine Entdeckung
von Dieter Hoffmann-Axthelm. Die Innenseiten des Umschlages zeigen den Verlauf der vergangenen
Mauern und Palisaden auf einem modernen Stadtplan als Unterlage zur raschen Orientierung und als
Aufforderung an den Leser, diese Strecken selbst zu erwandern.
Erika Schachinger
Johann Caspar Struckmann: „Staatsdiener als Zeitungsmacher. Die Geschichte der Allgemeinen Preußischen
Staatszeitung." Haude & Spener, Berlin 1981,125 Seiten, 5 zeitgenöss. Abbildungen, gründlicher Anmerkungsapparat, Literatur- und Quellenverzeichnis.
Die Besinnung auf Preußen im Jubiläumsjahr brachte auch das Interesse an Berliner Zeitungen und der
Beobachtung ihrer Wirkungsgeschichte mit sich. Daß sich das Augenmerk im wesentlichen auf unabhängige, liberale Zeitungen richtete, liegt auf der Hand. Und da Pressefreiheit eine unerläßliche Voraussetzung
ist, erschien das Phänomen einer Staatszeitung reaktionär. Das Denkmodell einer liberalen Staatszeitung
zum Zweck politischer Bildung mag mancher als ein Unding ansehen. So verblüfft zunächst eine
Untersuchung aus dem Hause Haude & Spener, dessen Verlagsname im landläufigen Bewußtsein mit der
Berliner Aufklärung verknüpft ist. Sie beleuchtet das damals mit ihm konkurrierende publizistische
Unternehmen einer Staatszeitung zwischen 1819 und dem Vormärz. Es hat seinen Ursprung im Staatsgedanken des Kanzlers Hardenberg und seines Freundes Varnhagen von Ense. Beide gaben ihm die hohe
Zielsetzung einer so wohltätigen und weitsichtigen Erziehung, wie sie in dem Wort von Jean Paul
umschrieben ist, das der Einleitung vorangesetzt ist: „So (wie die Frucht um den Kern) bildet im Staate die
öffentliche Meinung eine Gewalt, welche die Keime der Zukunft beschirmt, und die nicht zu durchbrechen
ist."
Ein solcher idealistischer Flug ist durch das Zeitalter der Erhebung zu erklären. - Über die nur theoretisch
postulierte Pressefreiheit im Staat Friedrichs des Großen bringt der Autor nichts Neues über das Bekannte
hinaus. Er verweist aber darauf, daß eine Erörterung über Sinn und Zweck einer Staatszeitung von der
Grundtatsache auszugehen hat, daß im aufgeklärt absolutistischen Staat aller Regierungswille in der
Person des Herrschers verkörpert ist, der die Maschinerie der Ministerialbehörden straff in Gang hält.
Doch muß hinzugefügt werden, daß gegen Ende der friderizianischen Regierungszeit und unter seinem
Nachfolger darin eine Lockerung eintrat; die Verwaltung wurde schwerfälliger und unübersichtlicher, und
daraus erwuchs die Notwendigkeit eines amtlichen Publikationsorgans, das für die höhere Beamtenschaft
und das gebildete Bürgertum stärkere Transparenz herstellte. Diese auch von den Reformern seit 1807
92
befürwortete Entwicklung hätte sich vielleicht durchgesetzt, hätten die revolutionären Ereignisse in
Frankreich, sodann der nationale Aufbruch während der Napoleonischen Kriege sie nicht jäh gestört. Der
antinapoleonische Patriotismus wirkte mit elementarer Schubkraft in entgegengesetzte Richtung. So
konnten die konkreten Pläne Hardenbergs erst nach den reaktionären Erfahrungen der Kabinettspolitik
auf dem Wiener Kongreß entschiedenen Widerhall finden. Der Staatskanzler und sein „Pressechef
Varnhagen suchten die Enttäuschung darüber zu nutzen für eine öffentliche Meinung, die die „Keime der
Zukunft hätte beschützen" können. Nach zögernden Anfangen brachte die erneute Zensur (Karlsbader
Beschlüsse) nach 1819 das Werk zum Scheitern.
Der Verfasser betrachtet diesen Zwischenraum zwischen 1807 und 1819 genauer. Er durchforscht den als
tolerant apostrophierten Absolutismus Friedrichs auf zukunftweisende Ansätze und sieht sie gegeben in
Friedrichs Art, im Sinne der Berliner Aufklärer Nicolai und Lessing gegen bloße Geburtsvorrechte des
Adels anzugehen, und mit der Schaffung des Allgemeinen Preußischen Landrechts (das er initiierte, dessen
Verabschiedung er nicht mehr erlebte) einen Rechtsstaat zu begründen, der den „Weg vom Untertanen
zum Staatsbürger vorzeichnete" (S. 25). - Das Konzept einer liberalen Staatszeitung mußte das Vorhandensein einer öffentlichen Meinung voraussetzen. Und diese war, getragen von einer schmalen Schicht,
kurzlebig, kleinbürgerlich und geistig immobil. Sie „räsonnierte" über Rechtsschutz vor Staatswillkür und
Gemeinwohl, setzte sich aber mit politischen Entscheidungen im engeren Sinne nicht auseinander; die
demokratische Einheit von Volk und Volkswille existierte nicht. Im Gegenteil, zwischen 1815 und 1819 war
das politische Denken von Reichssehnsucht und Vergangenheitsverklärung erfüllt. Erst in dem Maße, wie
der Staatsapparat schwerfälliger zu dirigieren und infolge der wirtschaftlichen Rückschläge nach dem
Tilsiter Frieden uneffektiver wurde, ergab sich die Notwendigkeit, ihn publizistisch transparenter zu
machen. Die ersten Ansätze dazu wurden durch die gewaltsame Unterdrückung eigenständigen Lebens
durch Napoleon vernichtet. Seine straff zentralisierte, verzerrte Propaganda traf in Preußen auf ein
Vakuum. Solchem „Jakobinertum" hatte es nichts entgegenzusetzen. Eine freie, selbstgesetzliche Presse
wurde als verschwörerisch gefürchtet. Auch die beiden bestehenden „Privilegierten" Blätter, die Vossische
und die Haude & Spenersche Zeitung, bezeichnet der Verfasser als Hofzeitungen. Aber analog ihrer
journalistischen Gediegenheit und Wirkungsweise dachte sich Hardenberg ein Ministerialblatt, das
geeignet sein könnte, der französischen Agitation ein Gegengewicht entgegenzusetzen und einen Interessenausgleich zwischen Siegern und Besiegten zu schaffen. Er erwartete auch, daß es liberale Strömungen
und Ereignisse, etwa innerhalb der Studentenschaft (Wartburgfest), kanalisieren würde.
Unter den ungünstigen Konstellationen von 1819 erschien die „Allgemeine Preußische Staatszeitung" als
Produkt der Absprache zwischen dem Staatskanzler, der Beamtenschaft und dem Zeitungsmacher
Friedrich August von Stägemann. Der Verfasser beschreibt seine journalistischen Fähigkeiten, seine
organisatorischen und personellen Schwierigkeiten, vor allem in der Person des kleinmütigen Königs, der
das eigene Urteil oft scheute und den Einflüsterungen seiner Räte leicht zugänglich war. Der eigentlich
kritische Punkt aber war das Fehlen eines Parteienlebens und einer Volksvertretung, vor der die Beamtenschaft hätte Rechenschaft ablegen müssen. So war auch der Aufgabenbereich verschwommen; dem Zweck
politischer Meinungsbildung und der Artikulierung des Volkswillens konnte es nicht dienen. Stägemann
verlor als Herausgeber bald den Mut. Unter seinem Nachfolger sank das Niveau zur Bedeutungslosigkeit
herab; die Zeitung hätte eigentlich eingestellt werden müssen, hätte die Regierung nicht aus unbekannten
Gründen daran festgehalten. Dem neuen Herausgeber Philipsborn gelang es sogar, sie noch einmal in den
Aufwind zu führen. Von Relevanz jedoch ist das Fazit, das der Verfasser zieht: Die Uneffektivität der
Staatszeitung markiert das Scheitern der preußischen Neuordnung. Ohne die versprochene Volksvertretung blieb die Politisierung des preußischen Staates aus; die erstrebte politisch mitdenkende Bürgerschaft
ließ sich nicht herstellen, und infolge erneuter Pressezensur blieben Staatsdiener der Verwaltung ihre
Zeitungsmacher, von denen der Verfasser sagt: „Die meisten Behördenvertreter und -leiter waren Opfer
ihrer Sozialisation. Es fehlte ihnen an politischer und sozialer Phantasie, sich z.B. die Folgen der
Einführung der Pressefreiheit vorzustellen" (127). - Die Zeitung starb also an der Krankheit, die ihr im
Keim eingepflanzt worden war.
Christiane Knop
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Hans Reuther: „Die große Zerstörung Berlins. Zweihundert Jahre Stadtbaugeschichte." 216 Seiten und
114 Abbildungen, Fotos und alte Pläne, Literaturverzeichnis, Sach- und Herkunftsverzeichnis. Propyläen
Verlag, Frankfurt/Main 1985.
„Stadtbilder. Berlin in der Malerei vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart; Berlin-Museum." Ausstellungskatalog 576 Seiten, viele Abbildungen, Sach- und Namensregister, Abbildungsnachweis und Künstlerbiographien im Anhang. Nicolaische Verlagsbuchhandlung und Verlag Willmuth Arenhövel, Berlin 1987.
Vf. teilt die „Zweihundert Jahre Stadtbaugeschichte" in sechs Epochen ein: Friderizianische Zeit Schinkelzeit - Gründerzeit - Zwanziger Jahre - Nazizeit - Wiederaufbau nach dem Kriege - und verfolgt
innerhalb der so gekennzeichneten Stadtforschung mehrere Entwicklungsstränge der Zerstörung. Der
Topos „große Zerstörung" weist ins Existentielle.
1. Zerstörung der Achsen und Zuordnung ihrer Stadtglieder ins Ungleichgewichtige, Zerreißung des alten
Kerns und damit verbunden eine Verschiebung der City-Funktion.
2. Einfügung in den landschaftlichen Rahmen von Spreetal bzw. -ebene und Hügellandschaft des Teltow
und Barnim bis hin zur Entfaltung eines Großraums (Zweckverband Groß-Berlin) bzw. seine Zerreißung.
3. An die Stelle der Maßstabbezogenheit der Häuser in den einheitlichen Straßenzügen tritt Ausuferung
der gewachsenen Maßstäbe ins immer Größere, ins Monumentale und schließlich in Megalomanie. Die
damit gegebene Zerstörung der Bauensembles trägt den Keim des Zersprengenden, Hybriden in sich und
hätte auch dann zerstörerisch wirken müssen, wenn der Krieg das Stadtbild nicht ins Unkenntliche
zerschlagen hätte.
Zum erstgenannten Kennzeichen: Die landesherrlich-preußische und bürgerliche Großstadt des ausgehenden 18. Jahrhunderts hatte ein einheitliches Aussehen; sie war nach Prinzipien der ästhetischen
Ordnung angelegt, markiert von optischen Schwerpunkten der in die Straßen hineinwirkenden Türme,
von geometrischen Plätzen und Sichtachsen zwischen Schloß-Linden und Tiergarten. Von diesem
Schaubild nach holländisch-barockem Muster leitet Vf. seine Kriterien der Betrachtung ab. Schinkel habe
trotz seines „kreativen und weitgespannten Schaffens" und seiner Orientierung an den gesellschaftlichen
Bedürfnissen des beginnenden industriellen Zeitalters (Englandreise) das von Langhans gesetzte Gleichmaß des Klassizistischen nicht erfüllt. Dies hätte von der friderizianischen zur preußischen Königsstadt des
19. Jahrhunderts schlechthin geführt. - Nach seiner schlicht-echten Ausgestaltung der Spreeinsel und der
ost-westlichen Stadtachse habe er ein in sich verschiedenes Berlin hinterlassen, das in sozial unterschiedliche Stadtviertel separiert war. Der individuelle Stadtorganismus begann sich zu differenzieren.
Bestimmte Vorstellungen der Verkehrserschließung und der Ansiedlung von Folgeeinrichtungen der
Wirtschaft waren der Zeit noch fremd, so urteilt Vf. An der um 1835 noch unfertigen Luisenstadt habe sich
- trotz der Grünzüge und des Landwehr- und Luisenstädtischen Kanals - die beginnende Unsicherheit
bereits dokumentiert. Sie habe sich im Zeitalter Friedrich Wilhelms IV und in der frühen Gründerzeit
fortgesetzt; er apostrophiert diesen latenten Zustand als „Anfänge der großen Zerstörung Berlins", obwohl
die Vedutenmaler die Stadt noch immer als einen Teil der Landschaft auffaßten und vom erhöhten
Standpunkt auf sie hinabblickten.
Der so gekennzeichnete Mangel gilt besonders für die Jahre zwischen 1850 und 1870; es ist das Zeitalter der
Lenneschen Planung der Generalzüge und der Hobrechtschen Gesamtplanung. Das - bis in die Nazizeit
reichende - Problem der mangelnden Eisenbahneinbindung verlangte auch später noch nach grundlegender Lösung. „Wie Nadelstiche im Stadtorganismus erwiesen sich nach 1841 die Kopfbahnhöfe der
Eisenbahnen." Sie verwandelten schon insgeheim das räumliche Erscheinungsbild. - In diesem Zusammenhang wird die schon anderweitig* erörterte Problematik des Hobrechtschen Bebauungsplans und der
damit angestoßenen Entwicklung zur Mietskasernenstadt abgehandelt. 1870 wird dann aus der Königsresidenz im Stadtkern eine City; damit veränderte sich die Nutzung der alten Stadtteile. Die Königsresidenz wird zum Sitz der Reichsbehörden und des Dienstleistungszentrums. Bis zum Ende der Hohenzollernherrschaft 1918 wurde die erste große Zerstörung Berlins vollendet. Die „falsch verstandene
Repräsentation von Staat, Handel und Industrie trug erheblich dazu bei, die verbliebenen architektonischen Zusammenhänge zu zerreißen."
Die bis dahin noch erkennbare axiale Ordnung der Stadt wird verwischt, bis sie durch die Gigantomanie
des geplanten „Germania" völlig zerstört worden wäre. Die nationalsozialistische Bausucht ist - dank des
Kriegsbeginns! - nur in einigen Großprojekten in Angriff genommen worden, denen Vf. nicht einmal
so sehr künstlerische Pervertierung vorwirft als Ideenlosigkeit und monumentale Langeweile.
* „In der Luisenstadt. Studien zur Stadtgeschichte von Berlin-Kreuzberg" bei TRANSIT, Berlin 1983,
oder Geist-Kürvers: „Das Berliner Mietshaus", II. Teil, bei Prestel, München 1984.
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Als eine Insel der Urbanität umreißt er das Schaffen der Weimarer Städteplaner nach dem Ersten
Weltkrieg und ihr soziales Engagement in Siedlungen und genossenschaftlichem Bauen. Hier wurden
ein letztes Mal städtebauliche Maßstäbe gesetzt.
Damit ist der dritte verfälschende Zug aufgezeigt, nämlich die Entwicklung vom urbanen architektonischen Maß zu Überdimensionierung und Hypertrophie. Auch hier legt Vf. die Wurzeln schon für die
Schinkelzeit bloß, verweist auf einige seiner Großprojekte (unausgeführt geblieben) wie den für das
Friedrichsdenkmal oder die Gedächtniskirche für die Gefallenen der Befreiungskriege. - Als Eingriff in
die gewachsene Stadtlandschaft schildert Vf. - auch hier schon im frühen 19. Jahrhundert beginnend - die
„Verschandelung der Landschaftsräume", die das ländliche Umfeld seiner Eigenart entfremdeten. Die
sonst in kommunalpolitischer Hinsicht positiv gewertete Gegebenheit des „Zweckverbandes Groß-Berlin"
von 1911 erscheint hier als halbherzige Entwicklung: sie hätte die getrennten Glieder nicht verschmolzen
und die Mietskasernenstadt nicht auslöschen können.
Hat man diese Gesichtspunkte einmal akzeptiert, bleibt darüber hinaus viel Positives und Erfreuliches zu
lesen. Der Leser sieht das Berlin, das er unzerstört im Gedächtnis hat, sich aufbauen, sieht im Berlin der
Gründerzeit die zwei Seiten derselben Sache: Weltstadt ««asoziales Elend, erfährt von den Siedlungen der
zwanziger Jahre, von Gartenstadtbewegung und Industriekultur und schließlich vom Anwachsen zur
Stadt der modernsten Verkehrserschließung.
Das Buch besticht durch die Fülle schöner Fotos oder Reproduktionen des unzerstörten Berlin in der
„guten alten Zeit", die dem Laien unverfänglich erscheinen; durch die Erörterungen des Vf. werden sie
transparent für eine sich einschleichende Aushöhlung. Doch erst ihre Deutung aus dem Gesamtzusammenhang läßt die „große Zerstörung" erkennen als Zerbrechen der Stadtlandschaft, obwohl die heutige
Stadtbildpflege manches anders sehen mag. Ergänzend läßt sich der Ausstellungskatalog „Stadtbilder"
hinzuziehen. Auch hier zieht sich der Bogen von der schönen Vedute zum zersprengten Stadt- und
Menschenraum. Was bei Reuther in sachlicher Deskription dargelegt wird, kann erhellend zusammengeschaut werden mit den in den Ausstellungstexten aufgezeigten Tendenzen. An die Seite der sachlichen
Funktion tritt die motivisch gestaltete und metaphorische Ergänzung, tritt an die Oberfläche, was in der
Vedute noch hinter der Konstruktion verborgen liegt: die expressive Explosion. Der Text (ab S. 243)
verweist auf dieselben Ursachen: „Kehrseite des gigantischen Stadtlebens sind soziales Elend", „Zerstörung des historischen Zentrums", „Skrupellosigkeit der Erschließung des Umlandes", d. h. Mißachtung
des Stadtraums als eines Menschenortes. Dies bedeutet zugleich Verfälschung der Stadtrandgestalt, denn
die sich in Berlin ansiedelnden Expressionisten haben die Wesensdarstellung der Stadt in die Vororte
verschoben; so findet sich unter dem Etikett „Expressionismus" die treffende Formulierung von den
„Abseiten der Stadt als Schauplatz existentieller Konflikte". (S. 245) Die neu entstehenden Vororte wie
Wilmersdorf oder Westend oder Hermsdorf gaben den Malern neue Bildinhalte wie „gefräßige Bahnhöfe", „schwefelgelbe Hauswände" und „stürzende Brandmauern". Vor allem die Maler der „Brücke"
besetzten das Stadtbild mit Menschen, die von der dämonischen Stadtnatur ins Unglück gestürzt werden;
sie sind Verlorene unter Gewitterhimmeln; über ihnen wird schließlich die gebaute Welt zur apokalyptischen Explosion, die alles verschlingt. Das Pittoreske wird zur geheimen und offenbaren Destruktion, die
Kahlschlag und aufgebrochene Erdschichten bloßlegt.
So kann man - bei gebührender Reservatio mentalis - beide Bücher zusammenschauend lesen. Gleichgerichtete Stilmittel erhellen wechselseitig den Sinn ein und desselben Phänomens. Der Betrachter erfährt,
wie die futuristische Malerei, die nach 1933 folgte, tatsächliche große Zerstörung vorwegnimmt. Die
interpretierenden Kapitel beziehen die expressionistische Großstadtlyrik wie die von Waiden, Heym,
Loerke und Däubler mit ein sowie die kunsttheoretischen und autobiographischen Äußerungen der
„Brücke"-Maler, wie z. B. die von Meidner oder Feininger. Schon hier wird von „endzeitlicher Weltlandschaft" oder der „Passion Berlins" gesprochen (S. 255). Auch der Gang durch die Ausstellung selbst
machte erfahrbar den Wandel von der holländisch anmutenden Grachtenlandschaft an der Spree zu den
dämonischen Straßen- und Kanalschluchten am Landwehrkanal, die alles Menschliche verfremdeten.
Christiane Knop
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Laurenz Demps: „Der Gensd'armen-Markt. Gesicht und Geschichte eines Berliner Platzes." 480 Seiten,
334 Abbildungen und Pläne und Skizzen, Abbildungs- und Quellenverzeichnis. Berlin 1988 bei Haude &
Spener als Lizenzausgabe für den Henschelverlag Kunst und Gesellschaft, Berlin (Ost) 1987.
Der Untertitel „Gesicht und Geschichte eines Berliner Platzes" weist auf die historische Aufarbeitung eines
Gesamtberliner Anliegens, das die Veröffentlichungen des vergangenen Jubiläumsjahres der Stadt ergänzen kann. Sie erfolgt in ihrer Gesamtkonzeption nach den Richtlinien, wie sie der sozialistische Staat der
DDR gebietet. Das Material zur nachvollziehenden Rekonstruktion dieses zerstört gewesenen Juwels der
Bürgerstadt befindet sich größtenteils im andern Teil der Stadt und war bisher weithin unbekannt; ein
anderer Teil ist dem Landesarchiv bzw. dem Berlin Museum (West) entnommen. Der im politischen Leben
an entscheidender Stelle engagierte Ostberliner Historiker Laurenz Demps, der sich auf der Buchpräsentation im Rahmen des Vereins für die Geschichte Berlins, gegr. 1865, zu seiner Berlinliebe bekannte, hat
das Werden des Gendarmenmarktes (die Schreibung im Buchtitel knüpft an die alte Regimentsbezeichnung an) gleichsam in Jahresringen aufgezeigt, in denen sich seine Ausgestaltung Phase für Phase in
bedeutsamen Zeiten um den Kern gelegt hat. Solange Alt-Berlin in nachmittelalterlicher Zeit als kürfürstliche Residenz geprägt wurde, fristete die Friedrichstadt ein vergleichsweise abseitiges Dasein im ländlichen Vorfeld der Bastionen. Erst mit den Stadterweiterungen des 18. Jahrhunderts nach barockem
Idealplan begann seine konfliktreiche, oft unzureichende Ausgestaltung im toten Winkel der Sternlinien
der Festungsvorsprünge. Das Bedürfnis nach einem friedrichstädtischen M a r k t blieb lange zurück
hinter dem Ausbau der beiden Kirchen. - Die Essenz seiner Spurensuche umreißt Vf. im Vorwort, wenn er
den hohen Rang des Platzes preist und vom „Handeln der an ihm lebenden und wirkenden Menschen"
spricht, deren Impuls ihn verpflichtet, ungebahnte Wege zu gehen. Es darf aber nicht übersehen werden,
daß die Zusammenschau der Geschichtsauffassung des Historischen Materialismus verpflichtet ist und
daher den Ereignissen seit 1848 schematisch ihr gesetzlicher Platz im Klassenkampf zugewiesen wird. Sie
postuliert die Pflege von „Tradition und Erbe" der DDR als ihren Höhepunkt. Zu ihm und seinem
„humanistischen Bemühen" bekannte sich der Autor ausdrücklich, und der westliche Leser muß also
berücksichtigen, daß diese Formulierungen mit bestimmten ideologischen Inhalten besetzt sind.
Wir sehen manches lockerer und in vielfältigeren Zusammenhängen, lassen uns aber von dem schönen
Bildmaterial und unbekannten alten Hauszeichnungen gern zur Neugier verführen, das Material genau zu
studieren. In Ost und West ist uns gemeinsam, die „Dinge neu ordnen" zu müssen. Eine Aufarbeitung
solcher Art ist hier geleistet worden; manches ist wohl bei teilweise lückenhafter Quellenlage hypothetisch
geblieben, was Vf. mutig zugibt; wieweit diese Ergebnisse in Zukunft neu gewertet werden, bleibt
abzuwarten. Jedenfalls ist unsere Bilder- und Lesefreude angestoßen worden, u.a. auch durch die
ausgezeichneten Fotos des einstigen Hofphotographen Schwanz, die um die Jahrhundertwende in den
Räumen des Vereins für die Geschichte Berlins im Deutschen Dom ausgestellt waren. Auch wenn wir viele
Passagen wie gegen den Strich gebürstet lesen, sollten wir nachdenklich werden. Gemessen an dem
beziehungslosen Nebeneinander der historischen Veranstaltungen in Ost und West anläßlich des vorjährigen Stadtjubiläums, ist dies eine ausgestreckte Hand. Der Verein für die Geschichte Berlins, gegr.
1865, und der einzelne Leser sind aus Gründen der Spurensuche zur Identität zu dieser Auseinandersetzung aufgefordert. Dem Verlag Haude & Spener ist die reiche Ausstattung durch Reproduktion des
schönen Bildmaterials zu danken, die uns diese Herausforderung erleichtert. Inwieweit dem Gendarmenmarkt seit 1800 ein bürgerliches Selbstbewußtsein innewohnte oder wieweit dies vom Vf. deduziert wurde,
mag umstritten sein; ein hervorragender gesellschaftlicher und geistiger Ort war der Platz immer, und so
„geht er uns etwas an".
Es erscheint verdienstlich, außer den beiden Kirchen und dem Theaterbau auch die Randbebauung mit
schönen Bürgerhäusern nach alten Bauzeichnungen, Katasterakten, Rechnungen, Behördenschriftwechsel, Firmengeschichten und persönlichen Briefen ins Bild einzubeziehen (z. B. die Gontard- und UngerHäuser, das Predigerwitwenhaus der Französischen Gemeinde, ihr Waisenhaus, die Preuß. Seehandlung
und die Lotteriedirektion, das Salzkontor, das Haus Lutter und Wegener, die Gebäude der Banken und
Versicherungen). Aus ihm erwächst das Bild des klassizistisch Schönen, Würdigen und Lebensvollen, das
d e n Berliner stolz machte. - Auf weite Strecken spürt der Leser die Darstellungsfreude des Autors
(in unakademisch-einfacher Diktion), so z. B., wenn er das Alltagsleben auf dem Markt, aber auch das
erste Kraftwerk an der Taubenstraße, die Lesecafes oder die Ereignisse der Märztage von 1848 schildert.
Doch auch die dunklen Seiten wie der Brand des Schauspielhauses oder die sozialen Bedingungen der
Arbeiter sind lohnend, selbst wenn die Ausfälle gegen die dürftige Gebefreudigkeit der preußischen
Könige unsympatisch wirken. Wir sind uns aber mit dem Autor eins, daß der unmerkliche Beginn der
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Zerstörung durch Bodenspekulation angestoßen wurde, die das schöne Gesicht verfremdete; diese Entwicklung ist auch hierorts vermerkt worden.
Gegen den Strich gebürstet erscheint uns die ins klassenkämpferische Schema gepreßte Anschauung vom
Bürgertum der wilhelminischen Ära, als führe sie zwingend in die Nazizeit. Die Ausführungen sollten nach
Inhalt und Form differenzierter gegeben werden. Dem Vernehmen nach hat der Verlag Haude & Spener
keine Gelegenheit mehr zu glättenden Eingriffen gehabt; so ist hier die Tätigkeit des einzelnen gefordert.
Der Verlag hat das Unternehmen in der Hoffnung auf wachsende Annäherung gewagt, dem Verein die
Präsentation angeboten, weil dieser seine Heimat früher „am Platz" gehabt hat. Gerechtigkeitsempfinden
gebietet die Auseinandersetzung, sollte aber dem Autor dieselbe Berlinliebe zugestehen, die er für sich in
Anspruch nimmt.
Mit Interesse liest man von der schrittweisen, oft von Hindernissen verfälschten Ausgestaltung des
Stadtgrundrisses der Friedrichstadt und ihres „Lebens am Platze", so auch, wenn der Autor den Aspekten
der Baukosten und der Situation der Arbeiter nachgeht. Er ist ferner Chronist des heute kaum noch
bekannten Regiments „Gens d'Armes". Wir lesen vom Einsturz des Deutschen Turms, der Kristallisation
der bürgerlich-aufklärerischen Ereignisse um das Schauspielhaus von der Iffland-Zeit bis in die Moderne,
der Formung des „Schillerplatzes" mit seinem Denkmal. Vf. geht auf die Lesecafes als Bildungsanstalten
ein, verfolgt die Spur von E. T. A. Hoffmann (dessen „Schizophrenie" n. u. E. nicht nur Leiden an den
gesellschaftlichen Widersprüchen ist, sondern existentieller Art); er plädiert für das Junge Deutschland
gegen die Romantik.
„Mit Fanfaren unter dem Hakenkreuz" - so beginnt das Kapitel über die Jahre nach 1933. „Am 30. Januar
1933 schoben die einflußreichsten und kriegslüsternen Zirkel des deutschen Finanzkapitals die Faschisten
an die Macht; Adolf Hitler wurde Reichskanzler. Die in den Finanzstuben der Platzumbauung wirkenden
Kreise hatten daran ihren Anteil, und sie versprachen sich von der zu erreichenden Vorherrschaft in der
Welt und dem Krieg das große Geschäft, das sie ohne Rücksicht auf fremde Völker und auf das eigene
Volk zu realisieren gedachten. Vorbereitung des Krieges und seine Finanzierung waren das Thema in den
Geschäftshäusern, die Schatten fielen auch auf den Platz, dem eine Rolle in der ideologischen Kriegsvorbereitung der Berliner Bevölkerung zuerkannt wurde. Die alle Werte verfälschenden ideologischen
Wegelagerer fingen bald an, den Platz und seine Traditionen zu besudeln und völlig zu verfälschen
„Als der deutsche Imperialismus sich am 1. September 1939 anschickte, seinen weitgespannten Expansionszielen durch Krieg und Völkermord näher zu kommen, waren in den Banken und Staatsbehörden am
Gensd'armen-Markt soziale Träger und Interessenvertreter an der Planung und Realisierung des Konzepts zur Erringung der Vorherrschaft in der Welt beteiligt." Über das Verbrecherische und Menschenverachtende der braunen Herren besteht kein Zweifel; so sehr die o. g. Aussagen in ihrem Kern wahr sind,
lesen wir diese Art von Vereinfachung doch mit Unbehagen. Daß die Nationalsozialisten sehr früh
begannen, jede demokratische Tradition an der Wurzel abzutöten, steht auch für uns außer Zweifel und
erregt unsere Abscheu. Stärker als diese verbalen Aussagen sprechen die beigegebenen Fotos von der
Zerstörung und der Herabwürdigung des Stadtplatzes zur Ackerfläche. Das Entsetzen stellt sich vielleicht
im nachhinein noch stärker ein als in der damaligen Gegenwart.
Wir wissen die Aufbauleistungen der DDR zu würdigen; die alte geistige Identität kann es naturgemäß
nach diesem Ausmaß an Zerstörung nicht mehr geben, zumal die neue Platzumbauung etwas Nachempfundenes ist, uns dennoch als eine Heranführung an die historische Tradition Berlins erscheint.
Christiane Knop
Berliner Sitte(n). Zusammengestellt von Emil Koschka. Edition Jule Hammer. Haude & Spenersche
Verlagsbuchhandlung GmbH, Berlin 1981, broschiert, 93 Seiten.
Der Titel verrät nicht, daß wir uns nicht nur auf ein schlüpfriges Parkett, sondern auch in die Historie
Berlins begeben. Wie Jule Hammer in seinem Vorwort mitteilt, hat sich in Berlin mit der Geschichte der
„Sitte" und mit der Entwicklung der „Sitten" eine ganz besondere Sprache herausgebildet, die er als ein
Gemisch zwischen Rotwelsch und liebenswürdigem Kiezplausch bezeichnet. In drei Kapiteln („Altberliner
Sitten", „Die heimlichen Sünden der Kaiserstadt" und „Berlin - Weltstadt der Lüste") wird aufgespürt,
was sich seit den Zeiten der Badestuben und der preußischen Lustkasernen über die Mädchen aus Zilles
Milljöh bis zu den 20er Jahren und zur so glanzvollen Friedrichstraße getan hat. Von Walter Benjamin
stammt die Feststellung (1928): „Bücher und Dirnen kann man ins Bett nehmen."
SchB.
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Hans-Joachim Richnow: „Erinnerungen an Preußen". Berlin 1978, bei Haude & Spener, 192 Seiten mit vielen
zeitgenössischen Abbildungen und Literaturverzeichnis.
Rückschau auf die Verlautbarungen zur 750-Jahr-Feier Berlins impliziert Rückschau auf die fast seit
einem Jahrzehnt stattfindende Preußen-Renaissance. Mit diesem Buch haben wir einen ihrer Vordenker,
der von sich sagt, er wolle „Scheinwerfer der Erinnerung auf Orte richten, von denen die Chronik
Bemerkenswertes erzählt, auf Männer, die mit dem Geschick Preußens verbunden waren und nicht in
Vergessenheit geraten sollten". Dies geschah 1978 im Vorfeld der Preußen-Ausstellung, als es um eine
behutsam abwägende, kritische Betrachtung ging. Die Anmerkungen, die damals erst ertastet wurden,
erscheinen auch heute noch gültig.
Vf. unterzieht die - fontanisch gesprochen - märkisch-preußischen Lieblingsorte und -gestalten einer
genaueren Betrachtung, greift Reizworte des vaterländischen Ruhms auf und geht den Umständen der
Legendenbildung nach. Er entdeckt, daß es bei den Ereignissen in Wahrheit recht menschlich und
zuweilen wenig heldisch zugegangen ist. So sucht er ihnen eine bescheidenere Akzentsetzung zu geben.
Die Vorgänge um die Schlacht von Tannenberg 1410 machen deutlich, wie sehr der machtpolitische und
strukturelle Wandel innerhalb des Ordensstaates mit dem Wandel der spätmittelalterlichen Reichsstruktur
zusammenhing, in die der Ordensstaat auf Gedeih und Verderb eingebunden war. Eine solche permanente
Staatskrise mußte auch den Staat, der noch unausgewogen zwischen Deutschen und Slawen existierte,
entscheidend schwächen. So meldet Vf. Zweifel an, ob die preußischen Staatstugenden seit dem 18. Jahrhundert tatsächlich auf die politische Haltung des Ordens zurückzuführen seien.
Um den Ort, die Burg Plaue, knüpft sich die Auseinandersetzung zwischen dem neuen Territorialfürsten
Friedrich I. und dem egoistischen märkischen Adel. Die bisher oft geübte Schwarzweißmalerei pro
Kurfürst und kontra „Raubritter" muß realisiert werden. Die Gestalt des ersten Hohenzollern erscheint
hier keineswegs souverän und einhellig in ihren Zielen, sondern sie zeigt ein unsicheres Schwanken. Der
einheimische Adel scheint zuweilen zu Recht, wenn auch mit unerlaubten Mitteln, seine Position zu
verfechten. Als Rocher de bronze erweist sich eher der ständische Egoismus als die überlegene staatsmännische Kraft Friedrichs I. Erst sein Sieg durch die stärkeren Waffen begründet den Aufstieg seines
Hauses. Danach bedurfte es noch des inneren Ausbaus des Staates, und der stand dahin.
Auch in der Frage der Einführung der Reformation in Brandenburg durch Joachim II. werden die
Ereignisse von 1539 in Spandau ihrer einmaligen Glaubensentscheidung entkleidet. Vf. legt vielmehr dar,
daß von der Enteignung des Klosterbesitzes zugunsten der Bezahlung der Geistlichen Sachzwänge
ausgingen, die eine schon länger bestehende Entwicklung förderten; 1539 erscheint hier als Endglied in der
Kette. Die Reformation in Brandenburg ist danach mehr Angelegenheit der Territorial- als der Kirchengeschichte.
Der Leser vermag den solcherart aufbereiteten kritischen Punkten zu folgen; es lohnt sich, darüber
nachzudenken. Die Ergebnisse lassen sogar noch radikalere Rückschlüsse zu, ohne gehässige Feindseligkeit preußischer Geschichte gegenüber zu erzeugen. Der Leser findet vielmehr das alte historische Prinzip
verwirklicht: Es kommt darauf an, was geschichtswirksam ist.
Das gilt auch für die Betrachtung von Fehrbellin, Kunersdorf, Tauroggen und Nikolsburg. Die Wirkung
der jeweiligen Persönlichkeit und ihrer Überzeugungskraft wurde zum Fanal einer reifenden Entwicklung.
So stellt er dem Leser die Schlacht von Fehrbellin als ein bloß gelungenes Rückzugsgefecht dar, das noch
dazu mit dem Makel der Schaukelpolitik des Großen Kurfürsten behaftet ist und ihn beinahe um alle
Gewinne aus dem Westfälischen Frieden gebracht hätte. Aber der Nimbus des Feldherrn, der die
Ermatteten persönlich noch einmal ins Treffen führte, hat sich mit seinen Verdiensten um den inneren
Ausbau des Landes und seine Toleranzpolitik verbunden.
Ähnliches gilt für Friedrichs Haltung in Kunersdorf. Er selbst hat in der verzweifelten Nacht nach der
verlustreichen Schlacht sein Versagen als Feldherr eingestanden, das ihn fast um alles gebracht hätte. Das
„Mirakel des Hauses Brandenburg" war ein bloßer Zufall: die Einigung zwischen Daun und den Russen,
die daraufhin abzogen.
Richnow kennzeichnet die Haltung des preußischen Königs 1848 als halbherzig und inkonsequent; denn er
mußte erkennen, daß seine nicht eingehaltenen Freiheitsversprechungen die Krise verschuldet hatten. Die
Frage der nationalen Einheit in Freiheit in einem parlamentarischen Staat ist dadurch um 20 Jahre
verzögert worden und hat Bismarck die kleindeutsche Lösung fast vorgeschrieben.
So, wie Yorck von Wartenburg in Tauroggen klein war, weil er zauderte und auf Zeit spielte in der
Hoffnung, Seydlitz werde aus Berlin die Weisungen des Königs zum Ungehorsam mitbringen, so war auch
Bismarck in den Querelen, die dem Krieg von 1866 vorangingen, kleinlich und nachtragend; es erscheint
seine Verhandlungsführung in Paris 1866 wie eine Überreaktion, seine Unbeliebtheit im Verfassungs98
konflikt von 1862 wettzumachen, bis ihm angesichts des Siegestaumels in Nikolsburg die staatsmännische
Maxime klar wurde: Nicht Richter spielen, sondern Politik machen!
Man mag darüber anders denken, die vorgebrachten Denkanstöße sind aber erwägenswert und halten
differenzierter historischer Wertung stand.
Christiane Knop
E i n g e g a n g e n e B ü c h e r (Besprechung vorbehalten)
Das Mauerbuch, Texte und Bilder aus Deutschland von 1945 bis heute. Oberbaumverlag, Berlin.
Ingrid Heinrich-Jost: Literarische Publizistik Adolf Glaßbrenners (1810-1876). Die List beim Schreiben
der Wahrheit. K. G. Säur Verlag, München 1980.
Gerhard Falkner: Berlin - Eisenherzbriefe. Luchterhand Verlag, Darmstadt und Neuwied 1986.
Ralf Rothmann: Messers Schneide, Erzählung. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1986.
Institut für Landschaftsökonomie: Werkstattberichte. Herausgegeben von Prof. Dr. Arnim Bechmann,
TU Berlin. Vertrieb Uni-Bibliothek der TU Berlin, Abt. Publikationen. Budapester Straße 40, Berlin 30.
Marianne Blasinski:... und dennoch liebt mich das Leben, Erzählungen. J. G. Bläschke Verlag, A-9143
St. Michael.
Berliner Geschichtswerkstatt e.V.: Vom Lagerfeuer zur Musikbox, Jugendkulturen 1900-1960. Elefanten
Press, Berlin 1985.
Märkischer Dichtergarten: Christoph Friedrich Nicolai: Vertraute Briefe von Adelheid B. an ihre Freundin Julie S., herausgegeben und mit einem Nachwort von Günter de Bruyn. Fischer Taschenbuch
Verlag, 1983.
Benno Meyer-Wehlack: Pflastermusik, Berliner Erzählungen. Rogner's Edition bei Ullstein, Frankfurt am
Main 1982.
Kleines Berlin-Lexikon, zusammengestellt von Hanna Pretzsch. Stapp Verlag, Berlin 1984.
Albrecht von Hardenberg: West-Berlin Rundwanderungen. Fink - Kümmerly + Frey Verlag GmbH,
Ostfildern 1982.
Jens Schneider, Herausgeber: Jugend in Kreuzberg. Ararat Verlag, Berlin 1984.
Neue Mitglieder im II. Quartal 1988
Horst Drope, Angestellter
Halenseestraßelc, 1000 Berlin 31
Telefon 8 92 86 37
(Bibliothek)
Andrew Dujardin, Kaufmann, Konsul e. h.
Herbertstraße 20,1000 Berlin 33
Telefon 8925392
(Oxfort)
Helga Funke, Lehrerin
Binger Straße 41,1000 Berlin 33
(Hentschel)
Peter Gorecki-Wanjek, Programmierer
Gudrun Gorecki-Wanjek, Erzieherin
Landhausstraße 44,1000 Berlin 31
Telefon 877013
(Geschäftsstelle)
Michael Kaluza, Student
Treseburger Straße 4,1000 Berlin 10
Telefon 344 7287
(Teile)
Marcel Meili, Angestellter
Eglisackerweg 2, CH-8610 Usater
Telefon 01-9405690
(Geschäftsstelle)
Walter Momper, Fraktionsvorsitzender
Fichtestraße 15,1000 Berlin 61
Telefon 6 9143 59
(Oxfort)
Aigrid Neumerkel
Föhren weg 6,1000 Berlin 33
. _. . _ t
Telefon 8 32 82 75
(Geschäfts* ehe)
Elmar Pieroth, Senator fm Ortschaft und Arbe.t
Am Sandwerder 41, 1000 Berhn 39
Telefon 803 8200
(Oxfort)
Manfred Schmid, Landschaftsarch'tekt
Wiesbadener Straße 4, lOOOBerhn 30
Telefon 8 529142
(Dr. Schul ze-Berndt)
Peter Scharmann Verwal ungsangestellter
Alt-Britz 45 b 1000 Berhn 47
Telefon 6062377
(Dr. S^ultze-Berndt)
Gerhard Schnöder, Parbmentar. Geschäftsführer
Liliencronstraße 18,1000 Berlin 41
Telefon 7 96 50 73
(Oxfort)
Dr- Hermann Wagner
Konradinstraße 28,1000 Berlin 42
Telefon 7 524868
(Geschäftsstelle)
Hans Zielmski, Journalist
Guntersblumer Weg 13,1000 Berlin 38
Telefon 8011257
(Geschäftsstelle)
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Veranstaltungen im III. Quartal 1988
1. Freitag, den 15. Juli 1988, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Prof. Dr. Martin
Sperlich: Das Denkmal des Großen Kurfürsten und seine Aufstellung. Bürgersaal des
Rathauses Charlottenburg.
2. Sonnabend, den 23. Juli 1988, 14.30 Uhr: Sommerausflug des Vereins: Besichtigung der
Dorfkirche Stolpe, der Kirche am Stölpchensee. Leitung: Herr Günter Wollschlaeger.
Anschließend 15.30 Uhr geselliges Beisammensein im Gartenrestaurant „Stölpchensee".
Kaffee oder Tee und Kuchen nach Wahl oder Essen nach Karte. Treffpunkt 14.30 Uhr vor
der Kirche. Fahrverbindung vom U-Bahnhof Oskar-Helene-Heim mit dem Bus 18 bis
Wilhelmplatz, Kirche am Stölpchensee.
Sommerpause im Monat August.
3. Sonnabend, den 27. August 1988,11.00 Uhr: Besuch des Schlosses Köpenick. Leitung: Herr
Hans-Werner Klünner. Treffpunkt 11.00 Uhr auf dem Schloßhof. Individuelle Anfahrt,
Tagesvisum für den anderen Teil unserer Stadt erforderlich.
4. Montag, den 12. September 1988,19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Frau Dr. Iselin Gundermann: Friedrich III. und das Dreikaiserjahr. Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg.
5. Montag, den 26. September 1988,19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Dr. Ulrich Stark
vom Senator für Stadtentwicklung und Umweltschutz: Die städtebauliche Entwicklung
Berlins seit 1650. Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg.
Im Monat August bleibt die Bibliothek geschlossen.
Bibliothek: Otto-Suhr-Allee 96 (Rathaus), 1000 Berlin 10, Telefon 34 30-22 34. Geöffnet: mittwochs 16.00
bis 19.30 Uhr.
Vorsitzender: Hermann Oxfort, Breite Straße 21, 1000 Berlin 20, Telefon 3 332408.
Geschäftsstelle: bei der Schatzmeisterin.
Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13, 1000 Berlin 65, Telefon 4509-291.
Schatzmeisterin: Frau Ruth Koepke, Temmeweg 38, 1000 Berlin 22, Telefon 365 7605.
Konten des Vereins: Postgiroamt Berlin (BLZ 10010010), Kto.-Nr. 433 80-102, 1000 Berlin 21;
Berliner Bank AG (BLZ 10020000), Kto.-Nr. 0381801200.
Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865.
Schriftleitung: Günter Wollschlaeger, Kufsteiner Straße 2, 1000 Berlin 62; Dr. Christiane Knop, Rüdesheimer Straße 14, 1000 Berlin 28; Roland Schröter. Beiträge sind an die Schriftleiter zu senden.
Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 16 DM
jährlich.
Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn, 1000 Berlin 49.
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.
100
A 1015 FX
MITTEILUNGEN
DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS
G E G R Ü N D E T 1865
84. Jahrgang
Heft 4
Oktober 1988
einen Weg zu Gott, den vor ihm noch niemand beschritten hat.
(Ausspruch des Propheten Muhammed mi, Erläuterung
« ^ S S S t ^ ^ l S Ä
Staatsmannes, Dichters und Mystikers AH Aziz Efendi v°" Kreta ve^torben als osman^eBoscna
in Preußen am 29. Oktober 1798 und bestattet auf dem Turk.schen Fnedhof zu Berlm.)
Denkmal für Ali Aziz Efendi von Kreta, errichtet auf Weisung Kömg
^
^
^
durch den Baumeister Voigtel auf dem h.storischen Turk.schen Fnedhof zu Berlin
(Zeichnung: Hassan-Ingo Schmiede)
^
Vor 190 Jahren ...
Tod des türkischen Botschafters Ali Aziz Efendi
Von H. Achmed Schmiede
Berlin, Ende Oktober 1798. Durch die Friedrichstraße rollt ein großer, von vier Pferden
gezogener Leiterwagen langsam in Richtung Hallesches Tor. Auf der Ladefläche steht, mit
grünem Tuch bedeckt, ein schlichter Holzsarg. Auf den Leitern zu beiden Seiten des Wagens
sitzen fremdartig gekleidete Gestalten, die von Zeit zu Zeit Geldstücke unter die den Straßenrand säumende Menge werfen.
Oben auf dem Sarg liegt eine Kopfbedeckung, die manchem Zuschauer bekannt vorkommen
mag. Der Mann, der diesen Turban getragen hatte, war zu Pfingsten 1797, genauer: am 4. Juni,
in Berlin angekommen. Damals waren ebenfalls viele Berliner, den Meldungen folgend,
wonach eine osmanische Gesandtschaft in der Hauptstadt Preußens erwartet wurde, hinaus
zum Frankfurter Tor gezogen, um dieses Ereignis mitzuerleben.
Bereits zweimal hatten zuvor türkische Botschafter Berlin besucht, 1763 Resmi Ahmed Efendi
und 1791 Ahmed Said Azmi Efendi. Beide aber hatten sich nur vorübergehend aufgehalten, um
nach Erledigung ihres Gesandtschaftsauftrages in die Heimat zurückzukehren. Dieser jedoch,
der Kreter Ali Azis Efendi, war vom Padischah zum ständigen außerordentlichen und bevollmächtigten Botschafter der Osmanischen Hohen Pforte am Preußischen Königshof ernannt
worden.
Den erwarteten großen Empfang für den Botschafter aber hatte es nicht gegeben. Durch eine
fehlerhafte Meldung des preußischen Gesandten in Konstantinopel war der hohe diplomatische Rang Ali Aziz Efendis vom preußischen Ministerium verkannt worden. Die Oberhofmeisterin Sophie Marie Gräfin von Voß vermerkt in ihren Memoiren1 unter dem 5. Juni 1797:
„Der türkische Gesandte ist am vierten des Monats eingetroffen, aber noch nicht
empfangen worden."
Diese fehlerhafte Einschätzung seitens der preußischen Behörden war bereits auf der Anreise
Ali Aziz Efendis Ursache von Peinlichkeiten gewesen. Obwohl der Hospodar der Moldau,
Fürst Callimachi, unter dem 17. April 1797 dem österreichischen Generalfeldzeugmeister Graf
von Kaunitz ganz korrekt Mitteilung gemacht hatte:
„ . . . la Sublime Porte vient d'envoyer pour son Ambassadeur aupres de S.M. le Roi de
Prusse le ci-devant bas mouhasebi Aziz-Ali-Effendi cet Ambassadeur ayant ete arrive a
Jassy ..." 2 ,
blieb der richtige Durchblick an der österreichisch-preußischen Grenze hängen, und der König
verließ sich ganz auf die Meldung seines diplomatischen Vertreters, wonach es sich bei Ali Aziz
Efendi um einen einfachen Gesandten handele, welcher die Vergünstigungen und Ehrungen,
die seine Vorgänger genossen hatten, nicht zu beanspruchen habe. Diese - auf Gegenseitigkeit
beruhenden - Vergünstigungen genossen in Preußen außer den im Ministerrang stehenden
außerordentlichen und bevollmächtigten Botschaftern der Hohen Pforte nur die Vertreter von
Kur-Mainz und der Niederlande. Da hierunter auch die Übernahme der Reisekosten und eine
der Würde des Botschafters entsprechende militärische Begleitung, angemessene Unterkunft
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und ein bestimmtes Zeremoniell bei der Ankunft gehörte, ihm dieser Anspruch aber verwehrt
wurde, weigerte sich Ali Aziz Efendi, bei seiner Ankunft an der preußischen Grenze in Slawkow
am 22. Mai 1797 auch nur den Wagen zu verlassen. Bei soviel Standhaftigkeit muß den
örtlichen Behörden heiß unter den Perücken geworden sein, denn entgegen der Anordnung des
Königs wurde dann doch noch ein militärisches Geleit zur Verfügung gestellt, und die Kosten
für Reise und Unterkunft wurden zunächst vorgestreckt. Über Krakau, Breslau, Posen und
Frankfurt weiterreisend, langte der Botschafter am 4. Juni 1797 in Berlin an.
In Berlin mußte er feststellen, daß hier keinerlei Vorkehrungen für angemessene Unterkunft
und Empfang getroffen worden waren.
Nach erheblichem, tagelangem Hin und Her, u. a. der Einschaltung des französischen Gesandten, wird Ali Aziz Efendi schließlich von Friedrich Wilhelm II. empfangen und überreicht das
prachtvoll ausgefertigte Beglaubigungsschreiben des Sultans, in welchem er als Minister des
Kaiserlichen Diwans, als Oberster Finanzinspecteur der asiatischen Reichsteile sowie außerordentlicher und bevollmächtigter Botschafter der Hohen Pforte am preußischen Königshof
ausgewiesen wird. Den Empfang schildert Frau von Voß so:
„15. Juni. - Der türkische Gesandte hatte seine Audienz beim König, er heißt Aziz
Effendi. Vorher waren wir beim König zum Dejeuner mit den Schönhausern, und ich
fand den König wieder viel wohler. Gegen 12 Uhr also kam der Gesandte in einem
Gala-Hofwagen mit 6 Pferden, der Graf R. fuhr mit ihm; hinter diesem wurde ein
Paradepferd des Königs geführt, dann kamen noch ein Hofwagen mit 6 Pferden und
einige zweispännige Wagen mit seinem Gefolge. Der Graf Podewils führte den Botschafter ein, alle Minister und Generäle standen neben dem Thron im Rittersaal; der
König mit dem Hut auf dem Kopf unter dem Thronhimmel, und die Prinzen ihm zur
Seite. Der Türke hielt seine Anrede, die der Dolmetscher übersetzte und auf die der Graf
Finkenstein antwortete; dann machte er zwei tiefe Verbeugungen, übergab seine Creditive und entfernte sich wieder."
Nachdem Ali Aziz Efendi dann auch noch fürstliche Geschenke der Hohen Pforte für den
König, die Königin, den Kronprinzen Friedrich (später Friedrich Wilhelm III.), die Kronprinzessin Luise und die übrigen Mitglieder der königlichen Familie eingehändigt hatte (der
Gesandtschaftsbericht Aziz Efendis enthält eine sehr anschauliche Schilderung von höfischen
Einstufungen, die bei der Einteilung der Geschenke zu beachten waren), blieb Friedrich
Wilhelm II. und seinem Kabinett nichts anderes übrig, als dem Botschafter sein lebhaftes
Bedauern über diese Vorkommnisse auszudrücken und sich in aller Form zu entschuldigen.
In der Folge wurde dann das Protokoll peinlichst beachtet, und Ali Aziz Efendi hatte sich über
Mangel an Ehrungen nicht mehr zu beklagen.
In Berlin hatte ein türkischer Botschafter zu jener Zeit kaum mehr zu tun, als seinen Souverän
durch Würde und persönliche Ausstrahlung zu repräsentieren. Diesem Anspruch hat Ali Aziz
Efendi in vollem Umfang entsprochen, doch scheint er auch kein Freund von Traurigkeit
gewesen zu sein. An Festlichkeiten der Berliner höfischen Gesellschaft nahm er gern teil:
„Abends war Thee und Ball bei Reck in seinem Garten, wo die Königin ebenfalls war.
Der Türke unterhielt sich herrlich. Alles amüsirte ihn."4
Auch entspann sich alsbald zwischen ihm, dem feinsinnigen und toleranten Gelehrten, und
hiesigen Akademikerkreisen ein reger Gedankenaustauch.
103
*
' Der Ruf Ali Aziz Efendis als Schriftsteller beruht in erster Linie auf seinen „Muhayyelät"
(Phantasien). Dieses Werk stellt praktisch den Grundstein der modernen türkischen Literatur
dar, wie Andreas Tietze bemerkt:
„ . . . ebenso wie den politischen Reformen der Tanzimat die Versuche einer Modernisierung der Armee schon unter Selim III. vorangehen, so hatte auch die Westorientierung in
der Literatur Vorläufer, die bis in dieselbe Zeit, in das ausgehende XVIII. Jahrhundert
zurückgehen. Der Mann, mit dem jede Darstellung der türkischen Moderne anheben
müßte, ist der Kreter ,Aziz efendi'."5
In richtiger Einschätzung der Bedeutung dieses Buches, das Andreas Tietze zu seiner Feststellung bewegt, hat schon Ende des 19. Jahrhunderts E. J. W. Gibb das Kernstück der „Muhayyelät" ins Englische übersetzt und veröffentlicht.6 Es bleibt zu wünschen, daß es auch einmal eine
deutsche Übersetzung geben wird.
Mit den Titeln „Muhayyelät" (Phantasien), „Varidät" (Intuitionen), einem kleinen Diwan und
einer Anzahl weiterer Gedichte in türkischer und persischer Sprache erschöpft sich auch schon
der (bislang bekannte) literarische Nachlaß Ali Aziz Efendis. Mit Sicherheit hat er weit mehr
geschrieben. Im Vorwort eines ungenannten Herausgebers zu den „Muhayyelät" wird mit
Bedauern festgestellt, daß die Nachkommen des Efendis den Wert dieser Hinterlassenschaft
nicht zu schätzen gewußt haben und das meiste daher verlorengegangen sei.7
Über das Vorgenannte hinaus besitzen wir lediglich einen Teil eines Schriftswechsels mit einem
Geheimrat von Diez8, zwei Aufsätze („Alles außer Allah existiert paarweise", „Beschreibung
der Wohlberedsamkeit und der Reinheit der Rede")8, ein sechzehn Seiten umfassendes Büchlein (risale) mit dem Titel „Hüläsatü'l-Efkär"9 und seinen Gesandtschaftsbericht.10 Daß dieses
wenige schon ausgereicht hat, in Ali Aziz Efendi quasi den Begründer der neuzeitlichen
türkischen Literatur zu erkennen, spricht beredt für die ihm zukommende Bedeutung.
*
Ali Aziz Efendi (Giritli Ali Aziz Efendi) wurde vermutlich in den dreißiger Jahren des
achtzehnten Jahrhunderts in Kandia auf Kreta geboren. Sein Vater, der „Tahamisci" Mehmed
Efendi, war Defterdar (oberster Finanzverwalter) dieser 1669 dem Osmanischen Reich einverleibten Inselprovinz. Der Titel „Tahmisci" ist - was Ali Aziz Efendis Vater angeht - nicht
eindeutig geklärt. Er bedeutet eigentlich „Kaffeeröster". Daß Mehmed Efendi ihn trug, muß
nicht unbedingt heißen, daß er - wenigstens zu der Zeit, als er das Amt des Defterdars auf Kreta
bekleidete - auch noch mit Kaffee zu tun hatte. Gerade Bedienstete des kaiserlichen Hofes, die
mit der Auf- und Zubereitung von Kaffee befaßt waren, genossen hohes Ansehen und beriefen
sich auch später, d. h. nach Übernahme eigentlich höherer Ränge, häufig mit Stolz auf diese
Stellung in der höfischen Hierarchie, die ihren tagtäglichen unmittelbaren Kontakt zum
Herrscher in Erinnerung rief (siehe auch: Nurhan Atasoy, „Türkische Kaffeehaustradition",
Deutsch von H. Achmed Schmiede, in „Türkisches Leben", Mozaik Band 2, Leibniz-Gesellschaft für kulturellen Austausch, 1987).
Jedenfalls war Mehmed Efendi ein wichtiger Beamter auf der Insel. Nach dem Tod des Vaters
sah sich Ali Aziz im Besitz eines beträchtlichen Vermögens, das er durch jugendlich leichtsinnige Lebensweise in verhältnismäßig kurzer Zeit gründlich aufgezehrt hatte, so daß er nach
Konstantinopel zog und dort in der kaiserlichen Schützengarde Dienst nahm.
104
In seiner weiteren Laufbahn wurde er Muhassil, Steuereinnehmer, auf der Insel Sakiz (Chios).
Als 1792 Belgrad von den Osmanen zurückerobert wurde, entsandte man den inzwischen für
seine loyale Gesinnung und Zuverlässigkeit bekanntgewordenen Ali Aziz dorthin, wo er im
Dienste der Hohen Pforte Liegenschaftsangelegenheiten abzuwickeln hatte. In Belgrad blieb er
zwei Jahre und zeichnete sich wiederum durch Pflichttreue und Gewissenhaftigkeit aus.
Anschließend wurde er mit einer offenbar sehr hohen Position im Kaiserlichen Diwan betraut.
1796 erhielt er seine Ernennung zum ersten ständigen Botschafter in Berlin.
Bis dahin muß er längst die „Intuitionen", seinen türkischen (und vermutlich auch einen
persischen) Diwan sowie mit Sicherheit weitere, nicht mehr aufzufindende Werke verfaßt
haben. Mit seinem Hauptwerk „Muhayyelät" ist er eben erst fertig geworden. Nunmehr bereitet
er sich aufsein neues Amt vor. Daneben verfaßt er noch die „Hüläsat'ül-Efkär" (Zusammenfassung von Gedanken).
Ob Ali Aziz Efendi auch während seines diplomatischen Aufenthalts in Berlin von Juni 1797
bis zu seinem Tod im Oktober 1798 literarisch tätig war, ist nicht bekannt. Andererseits ist
kaum denkbar, daß ein Mann von seinem Format über ein Jahr lang keinen Federstrich getan
haben soll, obwohl er gerade auf diesem Posten unbegrenzt Zeit für literarische Aktivitäten
hatte. Dem Schriftwechsel mit Friedrich von Diez ist zu entnehmen, daß er diesen förmlich
animiert hat, ihn mit kniffligen Fragen zu traktieren. Was wir wissen, ist, daß er bald nach
seiner Ankunft und der Etablierung der osmanischen Botschaft im Ephraimschen Palais am
Schiffbauerdamm einen Gesandtschaftsbericht verfaßt hat, von dem wir eine Abschrift in
„Tarih-i Nun" n auffinden konnten. Möglicherweise fördert die Zukunft weiteres zutage, ob bei
uns oder in der Türkei, wo in ungesichteten Handschriftensammlungen und Archiven noch
vieles auf seine Neuentdeckung harrt.
Am 16. November 1797 stirbt Friedrich Wilhelm IL, und sein Sohn Friedrich besteigt als
Friedrich Wilhelm III. den preußischen Thron. Dieser muß Anfang 1798 erkrankt oder
unpäßlich gewesen sein; jedenfalls trägt das letzte bekannte Schreiben Ali Aziz Efendis, in dem
er Genesungswünsche ausdrückt, das Datum 8. Februar 1798. Der Briefwechsel mit von Diez
hat bereits 1797 stattgefunden.
Am 29. Oktober 1798 ist Ali Aziz Efendi im Ephraimschen Palais gestorben. König Friedrich
Wilhelm III. erwarb aus eigener Schatulle ein „auf der Tempelhofer Feldmark, unweit des
Wiesenplans" gelegenes Areal vom Grafen Podewils und stellte es der diplomatischen Vertretung des befreundeten Landes als Begräbnisstätte zur Verfügung. Der Platz ist an der heutigen
Urbanstraße, an einer Stelle einer gedachten Weiterführung der Geibelstraße in Richtung
Blücherstraße gelegen. Hier wurde (wahrscheinlich am 30. Oktober 1798) Ali Aziz Efendi,
Minister des Kaiserlichen Diwans, Oberster Finanzinspecteur der asiatischen Reichssteile,
außerordentlicher und bevollmächtigter Botschafter der Hohen Pforte am preußischen Königshof, begabter Dichter und bahnbrechender Schriftsteller, vor allem aber vorbildlicher
Muslim und Sufi mit einer sich über zwei Jahrhunderte erstreckenden Ausstrahlung zur letzten
Ruhe gebettet.
Zur letzten Ruhe? Unter dem 31. Oktober 1800 erfolgt an den Königlichen Kabinettsminister
Graf von Alvensleben folgende Meldung des Berliner Polizeidirektors Eisenberg:
„Zeige ich hiermit untertänigst an, daß die vor dem Halleschen Thore unweit der
Hasenheide befindliche und mit einem Stakkat umgebende Grabstätte des ehemaligen
türkischen Gesandten heute früh geöffnet gefunden worden. Es ist ein Teil des Stakkats
zerbrochen gewesen und von dem Sarge haben einige Muttern, ferner etliche Knochen
und der Bart des Verstorbenen um die Grabstätte gelegen ..." n
105
Das Kabinettsministerium reagiert heftig:
„Laut Eurer Anzeige vom 31. v. M. haben Wir den frevelhaften Unfug, welcher an der
Grabstätte des ehemaligen türkischen Gesandten verübt worden ist, mit gerechtestem
Unwillen erfahren. Wir zweifeln nicht, daß Ihr bey der in der Stille zu unserer völligen
Zufriedenheit verfügten Wiederherstellung des Grabmales auch auf sorgfältige Miteinscharrung des Leichnams werdet bedacht genommen haben; und sehen Euren ferneren
Anzeigen entgegen, wenn Ihr den Tätern und dem Zusammenhang des Frevels näher auf
die Spur gekommen seyn werdet."13
Die Grabstelle wird wieder hergestellt und der besonderen Obhut der Behörde und der
Bevölkerung anempfohlen.
Als im Jahre 1804 der osmanische Geschäftsträger ad interim Esad Bey verstirbt, wird er an der
Seite Ali Aziz Efendis beigesetzt. Mit dem Jahr 1806 kommt die Niederlage Preußens im Krieg
gegen das Napoleonische Frankreich, und in den darauffolgenden Jahren gerät der erste
türkische Friedhof Berlins vor den Toren der Stadt in Vergessenheit. Die hölzerne Einfriedung
verfällt, und auch der zur Kenntlichmachung aufgestellte Findling verschwindet unter üppigem
Wildwuchs.
Im Jahre 1836 erst werden die Gräber von dem Förster Christoph wiederentdeckt. Die von
diesem erfolgte Meldung wird dem König zur Kenntnis gebracht, und dieser verfügt eine
würdige Neugestaltung des kleinen Friedhofes. Auch Karl Friedrich Schinkel wird hinzugezogen und fertigt den Entwurf für ein Grabmal (das aber dann in dieser Form doch nicht zur
Auführung kommt).
Für uns hier in Berlin - ob Deutsche oder Türken - ist sowohl die historische Gestalt als auch
das literarische Wirken Ali Aziz Efendis von besonderer Bedeutung: Es besteht nämlich kein
Zweifel daran, daß der Marksteinsetzer der modernen türkischen Literatur auch mit seinem
politischen und gesellschaftlichen Engagement in der Hauptstadt Preußens einen Grundstein
gelegt hat, indem er eine zögernd einsetzende historische Entwicklung in Schwung brachte, so
daß die freundschaftlichen Beziehungen zwischen den Herrschenden beider Länder sich zu
einer allgemeinen preußisch-osmanischen und später deutsch-türkischen Freundschaft entwickeln konnten.
Dem trägt der Senat von Berlin (West) mit der Anbringung einer Gedenktafel für Ali Aziz
Efendi zur 190. Wiederkehr des Todestages in der Urbanstraße, unweit der ursprünglichen
Begräbnisstätte, sowie der Restaurierung des Monumentes auf dem Türkischen Friedhof am
Columbiadamm in dankenswerter Weise Rechnung.
Anmerkungen
1 Sophie Marie Gräfin von Voß: „Neunundsechzig Jahre am Preußischen Hofe", Leipzig 1894.
2 Zentrales Staatsarchiv, Merseburg/DDR, Auswärtige Beziehungen, Rep. 11 Nr. 274a Türkeir Fasz.
6d.
3 Siehe oben, Voß.
4 Dito.
5 Andreas Tietze: „Aziz Efendis Muhayyelat", in: ORIENS 1,1948.
6 „The Story of Jewad", a romance by Ali Aziz Efendi the Cretan, translated from the Turkish by E. J.
W. Gibb, Glasgow 1884.
7 Ali Aziz Efendi: „Muhayyelät-i Ledünn-i Ilahi", Istanbul 1852, sowie: „Muhayyelät-i Aziz Efendi",
sadelestiren: Ahmet Kabakh, Istanbul 1973 (Vorwort).
106
8 Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Diez, Türkische Handschriften, Nr. 499.
9 Daselbst: „Risale-i Giridi" (Hüläsat'ü-1-Efkär), Hs. or. 1010.
10 In: „Tarih-i Nun", Österreichische Nationalbibliothek, Handschriften- und Inkunabelsammlung,
Cod. H.O. 107.
11 Dito.
12 Wie oben, Ziff. 2.
13 Dito.
Anschrift des Verfassers:
H. Achmed Schmiede, Welfenallee 19, 1000 Berlin 19
Der Flensburger Löwe in Heckeshorn
Von Jürgen Wetzel
Seit einigen Jahrzehnten steht in Heckeshorn der sogenannte Flensburger Löwe. Viele vorbeikommende Besucher fragten nach seiner Bedeutung, fanden am Denkmal aber keine Erklärung. Deshalb entschloß sich das Bezirksamt Zehlendorf, eine Gedenktafel mit den wichtigsten
Daten am Sockel anzubringen und in einer kleinen Zeremonie am 18. Juni 1988 zu enthüllen.
Bei dieser Gelegenheit hat der Verfasser in großen Zügen die Hintergründe erläutert, die zur
Anfertigung und zur Errichtung des Flensburger Löwen führten. Dazu mußte etwas weiter
ausgeholt werden, denn zum Verständnis der politischen Zusammenhänge waren zunächst
einige Bemerkungen zur verwickelten Geschichte Schleswig-Holsteins nötig.
Nachdem die Napoleonische Herrschaft zu Anfang des vorigen Jahrhunderts unter Mißachtung der Ideale der Französischen Revolution den Deutschen nicht die erhoffte Freiheit,
Gleichheit und Brüderlichkeit gebracht, sondern sie im Gegenteil in den Dienst der Eroberungs- und Unterwerfungspolitik des Diktators gestellt hatte, besannen sie sich auf ihre eigenen
Kräfte, auf ihre eigene glanzvolle Geschichte des mittelalterlichen Kaiserreiches, auf ihre
gemeinsame Kultur, Sprache, Brauchtum, Wissenschaft, Dichtung und Kunst, die gerade um
die Jahrhundertwende einen ersten Höhepunkt erreicht hatten. Es entwickelte sich ein deutsches Nationalgefühl, das im Abwehrkampf gegen die Fremdherrschaft und dann in den
Befreiungskriegen kräftige Impulse erhielt und dadurch zu einer breiten Bewegung wurde.
Dieses in allen Ländern Europas entstandene Nationalgefühl kehrte sich jedoch in den gemischt besiedelten Grenzgebieten gegeneinander, so auch in Schleswig-Holstein.
Schleswig-Holstein hatte eine komplizierte staatsrechtliche Stellung. Das Herzogtum Holstein
gehörte seit alters zum Deutschen Reich und im 19. Jahrhundert zum Deutschen Bund. Da aber
der König von Dänemark seit 1460 die Herzogsgewalt innehatte, war Holstein auch ein Teil des
dänischen Staatsverbandes und wurde von Kopenhagen aus regiert. Schleswig dagegen gehörte
seit dem Mittelalter zu Dänemark, war aber durch die Bestimmung im Ripener Vertrag von
1460,
dat se bliven ewich tosamende ungedeelt", in einer vom dänischen König garantierten Realunion mit Holstein verbunden und zu zwei Dritteln deutsch besiedelt. Der inzwischen
ebenfalls erwachte dänische Nationalismus trachtete nun danach, das mit seiner deutschen
Bevölkerung und seiner Verbindung zum Deutschen Bund schwer zu integrierende Holstein
auszusondern und das gemischt besiedelte Schleswig zu „redanisieren" und bis zur Eider einem
zu errichtenden dänischen Nationalstaat einzuverleiben. Gegen dieses von König Friedrich
VII. am 22. März 1848 anerkannte Regierungsprogramm erhoben sich im Zuge der allgemeinen
107
revolutionären Bewegungen in Europa die Schleswig-Holsteiner und kämpften mit der aus
dem Ripener Vertrag entnommenen zündenden Parole „up ewich ungedeelt" um ihre Selbständigkeit. Im Auftrag des Deutschen Bundes und dann der Frankfurter Nationalversammlung
kamen ihnen preußische Truppen unter General von Wrangel zu Hilfe, die bis Jütland
vordrangen. Dieser schnelle Vormarsch alarmierte England und Rußland, die aus eigennützigen Gründen und aus Gründen des europäischen Gleichgewichts nicht wollten, daß sich am
„Bosporus der Ostsee" eine deutsche Großmacht, womöglich ein deutscher Nationalstaat
etablierte. Sie zwangen Preußen nach zwei Waffenstillstandsperioden am 2. Juli 1850 im
Berliner Frieden zum Rückzug aus Dänemark und zur Aufgabe der Herzogtümer, was alle
deutschen Patrioten als Schmach empfanden. Die Schleswig-Holsteiner, nun auf sich allein
gestellt, unterlagen den Dänen am 25. Juli 1850 in der blutigen Schlacht bei Idstedt - es fielen
über 6000 Mann - und mußten sich wieder dem dänischen Gesamtstaat unterwerfen. Im
sogenannten Londoner Protokoll von 1852 garantierten die fünf Großmächte und SchwedenNorwegen den Fortbestand des dänischen Gesamtstaates unter Einschluß Schleswig-Holsteins
und erkannten die auf dem weiblichen Erbrecht beruhende Erbfolge des Prinzen Christian von
Glücksburg unter Mißachtung des zunächst erbberechtigten Agnaten, des Herzogs von Augustenburg, an. Diese Regelung war erforderlich, weil das dänische Königshaus mit dem kinderlosen Friedrich VII. auszusterben drohte. Österreich und Preußen unterschrieben das Protokoll jedoch erst, nachdem Dänemark Zusicherungen für die Selbständigkeit der Herzogtümer
Schleswig und Holstein innerhalb der Gesamtmonarchie gegeben hatte.
Als Erinnerung an den großen Sieg über die Schleswig-Holsteiner bei Idstedt beauftragte die
Regierung den damals bekanntesten dänischen Bildhauer Hermann Villem Bissen mit der
Anfertigung eines Löwendenkmals aus Bronze - der Löwe ist sowohl Wappentier Dänemarks
als auch Schleswigs - und ließ es 1853 auf dem Alten Kirchhof in Flensburg aufstellen.
Die dänischen Nationalliberalen, die sogenannten Eiderdänen, die seit 1854 die Regierung
stellten, verloren trotz der Rückschläge ihr Ziel nicht aus den Augen. In logischer Konsequenz
ihrer Politik brachten sie am 13. November 1863 im Folketing, dem dänischen Parlament, ein
Grundgesetz durch, das ihr eiderdänisches Programm verwirklichte: Aussonderung Holsteins
und Inkorporation Schleswigs in den dänischen Nationalstaat. Zu ihrem Unglück starb zwei
Tage später der letzte Vertreter des regierenden Königshauses, so daß plötzlich das schwierige
Verfassungsproblem mit der umstrittenen Erbfolgefrage verknüpft wurde. Als Friedrichs VII.
Nachfolger, der „Protokollprinz" Christian IX., am 18. November das Grundgesetz unterzeichnete, löste er eine schwere europäische Krise aus, die zur schwersten Niederlage in der
dänischen Geschichte führte. Für den Deutschen Bund, für die deutsche Nationalbewegung
sowie für die Garantiemächte des Londoner Protokolls, Österreich und Preußen, war die
Unterzeichnung des Grundgesetzes eine Provokation, die sie nicht hinzunehmen gedachten.
Und für den preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck war das die längst ersehnte
große Stunde. Bismarck, der damals wohl der am meisten gehaßte Mann Deutschlands war,
sah in dem Schleswig-Holstein-Konflikt die Gelegenheit, sich aus der innenpolitischen Isolierung zu befreien und gleichzeitig dem Ziel seiner Politik, der Einigung Deutschlands, einen
Schritt näher zu kommen. In einer diplomatischen Meisterleistung manövrierte er Dänemark
in eine Sackgasse, neutralisierte die Großmächte und schaltete die deutsche Nationalbewegung
aus, die den Herzog Friedrich von Augustenburg unterstützte, der mit dem Slogan „Mein
Recht ist Eure Rettung" für die Errichtung eines selbständigen Fürstentums innerhalb des
Deutschen Bundes kämpfte.
Indem Bismarck zur Empörung der deutschen Nationalliberalen auf die Restaurierung der
international garantierten dänischen Gesamtmonarchie drängte, wohl wissend, daß der däni108
Abb.l:
Der Flensburger Löwe vor der
Hauptkadettenanstalt
(nach einer Postkarte der
Privatsammlung Klünner)
sehe Nationalismus eine Rückkehr zum Status quo ante nicht mehr zuließ, setzte er Dänemark
ins Unrecht und nahm den Großmächten die Grundlage zum Eingreifen. Sein Ziel war die
Annexion der Herzogtümer für Preußen und Preußens Aufgehen in einem geeinten deutschen
Nationalstaat. Er wehrte sich gegen die Errichtung eines neuen Mittelstaates unter den Augustenburgern, der ihm im Bundestag zu Frankfurt - ähnlich wie die anderen Staaten - weitere
Schwierigkeiten in der Verfolgung seiner Politik gemacht hätte.
Am 16. Januar 1864 stellten Österreich und Preußen der dänischen Regierung das Ultimatum,
die Novemberverfassung zurückzunehmen. Als sie sich weigerte, überschritten die deutschen
Truppen die Eider und eröffneten die Kampfhandlungen. Am 18. April wurden die Düppeler
Schanzen und am 29. Juni die Insel Alsen erobert. Am 20. Juli mußte Dänemark um Waffenstillstand bitten und am 30. Oktober im Frieden von Wien die Herzogtümer an Österreich und
Preußen abtreten.
Die Erinnerung an den für Preußen und für die Einigung Deutschlands so wichtigen Krieg
hielten und halten noch heute im Bezirk Zehlendorf die Namen Alsen, Colomier, Düppel und
109
Abb. 2: Der Zinkabguß in der Kolonie Alsen um 1880 (Foto: Landesarchiv Berlin)
das Denkmal des Flensburger Löwen wach. Als Dank für seine Verdienste um die Erstürmung
der Düppeler Schanzen verlieh König Wilhelm 1865 dem aus Dreilinden und Neu-Zehlendorf
gebildeten Besitz seines Neffen, Prinz Friedrich Karl, die Eigenschaft eines landtagsfähigen
Rittergutes mit dem Namen Düppel. Und der Kaufmann Wilhelm Conrad nannte sein 1870 am
Wannsee errichtetes Haus „Villa Alsen". Diesen Namen übertrug 1872 auf seinen Antrag das
Landratsamt des Kreises Teltow auf die seit 1869 am Wannsee entstehende Villenkolonie. Auch
dafür waren ähnlich wie bei Düppel patriotische Motive ausschlaggebend; denn mit dem
Übergang auf die Insel Alsen war der Deutsch-Dänische Krieg entschieden worden. Die
Gegend am Wannsee hatte außerdem Conrads Schwager Louis Napoleon von Colomier, der
als General der Artillerie an der Erstürmung der Düppeler Schanzen beteiligt war, an die
jütische Landschaft um die Insel Alsen erinnert. Sein Andenken wird übrigens mit der
Colomierstraße direkt am Großen Wannsee geehrt.
Den Flensburger Löwen brachten die preußischen Truppen 1867 nach der Annexion beider
Herzogtümer als Kriegsbeute nach Berlin und deponierten ihn im Hof des Zeughauses. Nach
Fertigstellung der Kadettenanstalt wurde er Ende der siebziger Jahre nach Lichterfelde
überführt und dort zur Erinnerung an die im ersten Gefecht mit Dänemark am 9. April 1848 bei
Bau gefallenen Studenten und Freiwilligen vor dem Kommandanturhaus aufgestellt.
Aus Verehrung für den siegreichen Heerführer, den Prinzen Friedrich Karl, seinen Nachbarn in
Düppel, ließ der schon erwähnte Kaufmann Conrad einen Zinkabguß des Flensburger Löwen
anfertigen und an der nach dem Denkmal benannten Straße zum Löwen auf einer Art Schanze
110
als ein weithin sichtbares Sieges- und Herrschaftszeichen aufstellen. Ein 1919 gestohlenes
Bronzemedaillon mit dem Bildnis Friedrich Karls am vorderen Sockel und eine Bronzetafel am
hinteren Sockel mit der Inschrift:
„Dem Übergang nach Alsen
am 29.6.1864
siegreich vollführt von Preußens Kriegern
unter dem Oberkommando des Prinzen
Friedrich Karl und der Führung des
Generals Herwarth von Bittenfeld
zu ehrendem Gedächtnis"
erinnerten an die Verdienste des Prinzen. Erst 1938, im Zuge der Neugestaltung des Geländes,
wurde das Denkmal an seinem heutigen Platz nach Heckeshorn versetzt.
Das Original vor der Kadettenanstalt gaben 1945 die Amerikaner an Dänemark zurück. Es
steht heute im Kopenhagener Zeughausmuseum.
Der Flensburger Löwe wurde einst als Siegessymbol errichtet. Heute jedoch, nach zwei
verlorenen Weltkriegen und nach dem Verlust der deutschen Einheit, ist dieses Denkmal auch durch sein eigenes Schicksal - zu einem Mahnmal für die Wechselfälle der neueren
Geschichte geworden.
*
Der Verfasser ist Herrn Hans-Werner Klünner für die Ermittlung verschiedener Daten sehr verbunden.
Anschrift des Verfassers:
Dr. Jürgen Wetzel, Karlsbader Straße 2, 1000 Berlin 33
Die Eindrücke des norwegischen Architekten H. D. F. Linstow
von Berlin in den Jahren 1836 und 1837
Von Jens Christian Eldal
Das, was den norwegischen Architekten Hans Ditlev Frans Linstow in Berlin beeindruckte, als
er sich 1836/37 studienhalber hier gründlich umsah, sollte für die Entwicklung der norwegischen Baukunst von langjähriger Bedeutung sein. Linstow war der Architekt des neuen
königlichen Schlosses, das sich in jener Zeit in der Hauptstadt Christiania, dem heutigen Oslo,
im Bau befand. Geboren war er in Dänemark als Sohn einer naturalisierten, aus Mecklenburg
eingewanderten Adelsfamilie. Linstow besaß keine formelle Architektenausbildung, jedoch
hatte er während seines Jurastudiums in Kopenhagen an der Kunstakademie hospitiert und
auch später Architekturunterricht am Bergwerksseminar in der norwegischen Silberbergwerksstadt Kongsberg genossen. Außerdem hatte er ein umfassendes Selbststudium betrieben und
war Lehrer der Baukunst an der Königlichen Zeichenschule in Christiania, an deren Errichtung
im Jahre 1818 er beteiligt gewesen war.
111
Die Betreuung des Schloßbaues war 1836 bis zum Beginn der Einrichtungsarbeiten gediehen,
und Linstow, der nie über Skandinavien hinausgekommen war, empfand das dringende
Bedürfnis, sich durch eine Studienreise auf den Kontinent mit den großen Fortschritten
vertraut zu machen, die von der Baukunst während der letzten Generation erzielt worden
waren. Diese Fortschritte seien, so meinte er, nie zuvor so groß gewesen, und er fuhr fort:
„Nicht mit der Zeit zu gehen, bedeutet daher in unseren Tagen dasselbe wie zurückzugehen."
Linstows ursprünglicher Wunsch war es, nach Berlin und München, vor allem aber nach Paris
zu reisen. Die königliche Verfügung, die ihm einen achtmonatigen Urlaub und Reiseerlaubnis
gewährte, schränkte jedoch die Reiseroute auf Kopenhagen, Berlin, München und Stockholm
ein, und diese Weisung geht wahrscheinlich auf ein persönliches Eingreifen des Königs zurück.
Linstow hatte um eine etwas spezielle Finanzierungsform, die auch bewilligt wurde, ersucht. Es
handelte sich dabei um ein Darlehen der Staatskasse, das nach der Rückkehr im Verhältnis zu
dem Nutzen erlassen werden sollte, den die Nation aus den von ihm heimgebrachten Kenntnissen ziehen würde.
Linstow blieb, teilweise wegen Erkrankung, länger in Berlin als vorausgesetzt war, und im Juni
1837 ersuchte er in einem Schreiben um eine viermonatige Verlängerung seines Auslandsurlaubs, um auch nach München reisen zu können. Diesem Gesuch lag ein Brief aus 24
dichtbeschriebenen Seiten bei, auf denen er detailliert von seinen in Berlin gewonnenen
Eindrücken erzählt. Dieser Brief, der kürzlich entdeckt worden ist, berichtet von dem, was
einem Besucher aus dem provinziellen Norwegen im Bereich der Architektur und einer Reihe
anderer kultureller Bezirke imponierte, und er vermittelt gelegentlich ein lebendiges Bild des
damaligen Berlin. Die großen kulturellen Unterschiede zwischen den beiden Hauptstädten
treten auch deutlich ins Blickfeld. Dieser Brief liegt - in redigierter Form - dem folgenden
Referat zugrunde.1
Einleitend berichtet Linstow von den Zeichnungen, die er während seiner Krankheit in Berlin
für den Festsaal und die Kirche des Schlosses geschaffen hatte. Er würde sie schicken, damit die
Schloßbaukommission die Auffassungen, zu denen er inzwischen gekommen war, kennenlernen und alles unterlassen sollte, was nicht mit ihnen harmonieren würde. Der Festsaal hatte
stärker das Gepräge des Konzertsaals im Berliner Schauspielhaus als des Rittersaals im Schloß
Christiansborg in Kopenhagen erhalten. Die beiden erwähnten Vorbilder stellten die schönsten
Festsäle dar, die er gesehen hatte, doch habe er sich vorwiegend vom Schauspielhaus inspirieren
lassen, da die dortige Architektur billiger auszuführen sein werde. Linstow schickte auch eine
Anzahl Warenproben von Berliner Fabrikanten, die sich als nützlich bei der künftigen Gestaltung der Innenräume des Schlosses erweisen könnten.
In Berlin hatte der norwegische Architekt sich über die bedeutsamsten Bauten der Stadt
informiert und die Bekanntschaft von Fachkollegen gemacht. Als Gast war er in den Architekten-Verein eingeführt worden, der 300 Mitglieder zählte und gesellige Zusammenkünfte veranstaltete, bei denen man Gegenstände der Architektur behandelte. Linstow schreibt jedoch nicht
präzis, mit welchen Architekten er zusammenkam. Klarer geht immerhin hervor, daß er den
Ofen- und Ziegelsteinfabrikanten Feilner, den Theaterdekorateur und Steinpappefabrikanten
Carl Gropius, den Hersteller von poliertem Granit Cantian, Direktor Frick von der kgl.
Porzellanfabrik und den Betriebseigner Nathusius getroffen haben muß. Erst 1843 schreibt er
von einer persönlichen Bekanntschaft mit Schinkel.2
Eine der nützlichsten Bekanntschaften, sagt Linstow, sei diejenige mit Geheimrat Beuth,
Direktor und Gründer des Gewerbeinstituts. Mit seiner Hilfe erhielt er als Geschenk für die
Zeichenschule in Christiania das große und seltene Werk „Vorbilder für Fabrikanten und
Handwerker, herausgegeben von der königlich Preußischen Deputation für Gewerbe" mit
112
seinen 150 Tafeln. Das seit 1821 erschienene Werk hätte, wäre es käuflich gewesen,
4500 Speziestaler gekostet, es würde jedoch nur als Prämie o. ä. verwendet. Mit unter anderem
schönen Mustern für Parkettböden und vielen anderen Details konnte es auch für das Schloß
von Nutzen sein.
Bauten von Bedeutung stammten nach Linstows Ansichten mit Ausnahme des Brandenburger
Tors in Berlin entweder aus der Zeit Friedrichs IL, oder sie seien seit der Zeit nach dem Krieg
neu entstanden und von Schinkel oder unter dessen Einfluß entworfen. Berlin sei wie ein
„Phönix aus der Asche" gestiegen, besonders in den letzten zehn Jahren.
Alles habe er nicht gesehen. Man müsse Grenzen setzen, sonst werde man in einer Stadt wie
Berlin nie fertig. Dies sei mit ein paar Monaten unmöglich. Selbst auf einige interessante
Kirchen am Rande von Berlin habe er verzichten müssen.
Die Baukunst war variationsreicher, als es Linstow sich vorgestellt hatte. In Kirchen werde am
häufigsten byzantinischer Stil verwendet, der nach Linstows Darlegungen für feierliche Handlungen geeigneter sei als antikischer Stil und weniger teuer als der gotische. Außerdem sei er für
Ziegelbauten ohne Putz geeignet. Antikischer Stil, hier in Berlin mehr griechisch als römisch, sei
vorherrschend bei öffentlichen Bauten. Private Wohnsitze in der Stadt seien „meist in einer Art
zusammengesetzten modernen und antiken Stils, etwas in pompejanischer Manier", und
Landhäuser in „einem leicht florentinischen Stil" ausgeführt, asymmetrisch und auf perspektivische Wirkung berechnet, mit kleinen Orangerien und italienischen Pergolen, bei denen man
wilden Wein verwendete, eine Pflanze, die Linstow offenbar bis dahin nie gesehen hatte.
Außen bevorzugte man Polychromie, innen pompejanische Dekorationen. Aber dazu bedürfe
es guter Künstler. „Der sicherste Weg ist jedoch, sich an unsere übliche grau verschwommene
nichtssagende Farbgebung zu halten. Man entgeht damit mindestens einer Disharmonie, und
man kann auch nicht falsch spielen, wenn man ständig denselben Ton bläst." (Dies sagt freilich
mehr über Linstow und Christiania aus als über Berlin.)
An Bauten der jüngeren Vergangenheit, die der Norweger augenscheinlich gesehen hat, nennt
er eine größere Anzahl, einige mit Kommentaren: Neue Wache, das Schauspielhaus mit dem
Festraum, wo er zweimal zum Ball gewesen sei, um den Raum mit seiner Beleuchtung zu sehen,
das Königstädtische Theater, Altes Museum, Gewerbeinstitut, das Königliche Schloß, das alt
sei und in dem nur die Zimmer des stark kunstinteressierten Kronprinzen Friedrich Wilhelm
von praktischem Interesse für ihn waren, die prächtige Schloßbrücke mit Piedestalen aus
blankpoliertem Granit, die Palais der Prinzen, Sternwarte, Ingenieurschule, mehrere Stadttore,
Kasernen und Exerzierhäuser, öffentliche Wohltätigkeitsanstalten, die weniger nachahmenswert seien als die Hamburger, denn die Berliner seien zu groß und viele außerdem veraltet, das
Packhaus der Zuckersiederei Schickler, das, um Versicherung zu sparen, feuersicher gebaut sei
mit dem Dach, innerem Stützwerk und Treppen ganz aus Eisen und das zudem ein sehr schönes
Gebäude sei, sowie dem Wohnsitz des Kaufmanns Ravene, der ebenso wie das Prinz-AlbrechtPalais Eisentreppen von großer Eleganz besäße.
Eines der am meisten bemerkenswerten neuen Bauwerke war für Linstow Schinkels Bauakademie wegen der Verwendung von rotem Ziegel ohne Putz der Fassade „in einem besonders
schönen, ganz der Beschaffenheit des Materials angepaßten Stil". Andere Bauten in unverputztem Ziegel seien die Werdersche Kirche und das eigene Wohnhaus des Ziegelfabrikanten
Feilner. Ein weiteres Bauwerk in unverputztem Ziegel, das er erwähnen wollte, war die Kirche
St. Peter und Paul in Nikolskoe, die - wie Linstow schreibt - in byzantinischem Stil errichtet
sei.
Unverputzter Ziegel sei von ständig größerer Bedeutung und zweifellos das beste Material in
einem kalten Klima, wenn man nicht nur gehauenen Stein verwenden könnte. Der Berliner
113
Ziegel sei prächtig anzusehen, und die Bauakademie schien mehr aus Porzellan als aus Ziegel zu
sein. Die Verwendung von unverputztem Ziegel würde eine andere als die in Norwegen
heimische Ziegelproduktion erfordern. Linstow hatte auch gesehen, wie Ornamentsteine aus
Ziegel exakt und haltbar gemacht werden konnten; er habe Feilners Ziegelei besucht und die
Herstellung studiert. Er werde einen der heimischen Fabrikanten darüber so genau wie möglich
unterrichten.
In Potsdam galten Linstows Besuche dem kronprinzlichen Landschloß Charlottenhof, der
Nikolaikirche, gegen deren damalige Hauptform ganz wie ein antiker Tempel er verschiedenes
einwenden zu können meinte, dem Zivilkasino, das sehr gut eingerichtet sei, und mehreren
Lustorten in der Umgebung, deren kleine Gartenanlagen, sagt er, wiederum von Schinkel oder
in letzter Zeit von jüngeren Architekten seiner Schule stammten.
Im übrigen hatte Linstow viele schöne Gärten gesehen und erwähnt Peter Joseph Lenne als
einen ausgezeichneten Vertreter der Landschaftsgärtnerei.
Daß Holzbauten, hier in Berlin nach Schweizer und Tiroler Muster, jedoch sehr verwandt mit
der traditionellen norwegischen Bauweise, zu einem hohen Grad von Eleganz gebracht werden
konnten, hatte Linstow an mehreren Beispielen gesehen. Dies gelte insbesondere, wenn das
Holzmaterial von Polychromie unterstützt werde. Er werde selbst auf diese Art bauen, wenn er
nach Hause komme. Linstow nennt die Konditorei von Fuchs Unter den Linden, wo der
Architekt Stüler ein ausnehmend schönes Zimmer ganz in Schweizer Stil in der Weise geschaffen hatte, daß die Dachschräge mit dem Sparrenwerk die Plafonddekoration bilde. Die Wände
seien mit Füllungen und Friesen aus verschiedenen feinen blankpolierten Holzsorten bekleidet,
während das Dach von leichten Stützbalken mit feinen Profilierungen abgesichert werde.
Linstow hatte Cafes und Gaststätten mit offenen Laubsälen und Orchestern am Tiergarten
besichtigt, der gerade zu einem sehr hübschen Park für die Öffentlichkeit umgestaltet wurde.
Auf öffentliche Vergnügungseinrichtungen und Promenaden kommt er ständig zurück. Dergleichen habe man in seiner Heimat nicht, und selbst in Kopenhagen bedeuteten sie nicht viel.
In Berlin habe er gesehen, wie geschmackvoll sie sein müßten, um mit Bänken und Tischen, die
in Laubhütten und Bogengängen verteilt seien, ihren Zweck zu erfüllen. Unerläßlich für ein
Volksfest sei Musik, sonst sei das Fest tot, oder das Leben müßte auf dem Boden der Flasche
gesucht werden. Vor allem aber kam es auf zahlreichen Besuch an. Die vielen Volksvergnügungsplätze verringerten den Bedarf an privaten Landhäusern, und von diesen gebe es in
Berlin, legte man die Einwohnerzahl zu Grunde, weniger als in Christiania.
Die Volksvergnügungseinrichtungen seien so gepflegt, daß sie auch von den Gebildeten
aufgesucht würden. An die Spitze stellte Linstow das Colosseum, das an Größe, Pracht und
Zweckmäßigkeit das feinste Ballhaus in seiner Heimat mehrfach übertreffe. Noch feiner sei der
Festraum im Schauspielhaus, wo zu den Bällen in der Fastenzeit nur in Ballkleidung erscheinende, namentlich ausgewiesene Personen Zutritt hätten, die einen hohen Eintrittspreis bezahlen müßten. Hier erschien auch der Hof, und der schwedisch-norwegische Kronprinz hatte erst
kürzlich bei seinem Berlin-Besuch im Schauspielhaus, wo er jeden Abend gewesen war, große
Aufmerksamkeit erregt.
Ebenso begeistert war Linstow von Berlins speziellen Festdekorateuren, die Kontore, Lagerräume und sonstige Lokalitäten für eine Festlichkeit herrichteten. Sie verfügten über eine Fülle
von Requisiten wie Seidengardinen, Spiegel, Kronleuchter, vergoldete Verzierungen, schöne
Teppiche, Kandelaber u. a. Sie seien auf der Kunstakademie ausgebildet worden und führten
ihre Arbeiten mit großem Kunstsinn aus.
Linstow pries die preußische Ordnung. Während seines langen Aufenthaltes, bei dem er an so
zahlreichen unterschiedlichen Orten gewesen sei, habe er nicht Ausschreitungen oder unange114
nehme Zwischenfälle erlebt, auch nicht, daß die Polizei ihre Macht demonstrierte. Bei allen
größeren Ansammlungen von Menschen sähe man bewaffnete Gendarme, die, wenn es nötig
war, höflich auf Unerlaubtes aufmerksam machten. Auch für die gerechte Regelung der
Wehrpflicht für alle zeigte Linstow Verständnis. Der preußische Staat stützte sich auf die
Verbreitung von Intelligenz, und alle Fähigen hätten die Möglichkeit der Ausbildung; freilich
müßten die wirtschaftlichen Voraussetzungen dafür vorliegen, unbezahlt so lange arbeiten zu
können, wie es nötig sei, bis die Einkünfte beginnen. Sehr sympathisch fand Linstow auch die
Liberalität des preußischen Staates hinsichtlich der Gewerbetreibenden, da im Gegensatz zu
dem sogenannten freien Hamburg alle Privilegien aufgehoben worden seien.
Im Museum habe jedermann Zutritt, und Angereiste könnten auch nach Absprache hineinkommen, wenn geschlossen sei. Linstow lobte die Kunstvereinigung und die ausgedehnte
Zusammenarbeit, die von den Kunstvereinigungen der verschiedenen Städte untereinander
vereinbart wurde.
Von bildenden Künstlern nennt Linstow nur den Bildhauer Chr. D. Rauch, der zu jener Zeit an
sechs Victoriafiguren für des bayerischen Königs Walhalla bei Regensburg arbeitete. Der
schwedisch-norwegische Kronprinz hatte - erfahren wir - Rauchs Atelier besucht. Linstow
fügt hinzu, daß er den dänischen Bildhauer Bertel Thorvaldsen höher bewerten würde. Im
übrigen habe er sowohl das Kreuzberger Monument als auch die Standbilder des Fürsten
Blücher sowie der Generale Scharnhorst und Bülow besichtigt.
Das Handwerk habe in Berlin ein so hohes Niveau, daß die Architekten nicht bei allem
Anleitungen geben müßten. Die Architektenhonorare für kleinere Aufträge seien häufig
bescheiden, doch zahlten größere Bauherren gut. Linstow schreibt, er wünsche sich für sein
ganzes Leben nichts mehr, als Architekt im Dienste des Handelshauses Schickler zu sein, und er
berichtet ferner, der Architekt Stüler habe das erste Fundament seines Glücks bei dem
Handelsmann Ravene gelegt.
Linstow befaßte sich weitgehend mit den praktischen und bautechnischen Zuständen. Er
berichtet von Kommissionär Dorn, einem der hervorragenden Technologen Berlins, der eine
gummiähnliche Masse erfunden hatte, die den Bau dichter, flacher Dächer ermöglichte. Diese
Dächer seien seit den letzten vier Jahren sehr verbreitet. Mit ihnen könnte man unbesorgt die
wünschenswerten flachen Dächer bauen, die sonst mit norwegischen Dachdeckungsmaterialien unmöglich wären. Mit flachen Dächern erzielte man auch eine bessere Ausnutzung der
Böden durch allgemeine Stehhöhe. In Berlin würden jetzt alte Häuser mittels neuer, höherer
Gesimse und solcher Dächer renoviert. Die Gesimse würden mit Geländern ausgestattet, und
auf dem Dach plaziere man Lusthäuschen. Nach Linstows Ansicht werde Berlin sich im Lauf
weniger Jahre verändern.
Die Fenster säßen überall tief in der Wand, und im Winter brächte man Doppelfenster auf der
Außenseite, nicht wie in Norwegen im Innern an. Das Baugesetz enthielt nicht so viele
Restriktionen wie in Christiania. In Berlin sei es z.B. erlaubt, am Hauptgesims Holz zu
verwenden. Auch ereigneten sich keine solchen Brände, wie Linstow sie sowohl in Kopenhagen
als auch in Hamburg erlebt hatte. Dagegen gehe man in Berlin bei der Anlage von Feuerstellen
mit großer Vorsicht vor. Im übrigen habe er in großem Ausmaß Luftheizungen gesehen, die mit
Erfolg im Museum installiert waren.
Den Wasserdruck hatte Linstow sowohl im königlichen Schloß als auch im Schauspielhaus
studiert. Im Schloß werde er dadurch bewirkt, daß ein Wasserrad in der Spree ein Druckwerk
antreiben müßte, welches das Wasser zu einem Reservoir auf dem Dach hochpumpte, während
im Schauspielhaus eine Dampfmaschine die Pumpe hinauf zum Reservoir auf dem Dach
antriebe. Im Schauspielhaus befanden sich außerdem Leitungen mit Druckwasser in den
115
Kulissen, so daß im Fall eines Brandes stets Wasser vorhanden sei. Dagegen verwendete man
nicht mehr die von einer Dampfmaschine angetriebene Konstruktion für den Kulissenwechsel,
da sie so leicht alles auf ihrem Wege zerschlage und - besonders bei Ballettaufführungen mit
vielen Kindern - Unfälle verursache. „Maschinen sind erbarmungslose Arbeiter." Schließlich
teilt Linstow auch mit, daß Wasserklosetts in Berlin noch selten seien.
Sehr begeistert war er von der gesamten theatertechnischen Einrichtung des Schauspielhauses.
Die Kulissen stammten hauptsächlich von dem Dekorateur und Steinpappefabrikanten Carl
Gropius, der Linstow die Möglichkeit verschafft hatte, alles zu besichtigen. Nicht besichtigt
hatte er dagegen das Opernhaus, das älter und weniger zweckdienlich sei.
Mit Interesse hatte Linstow Cantians Werkstatt für das hochentwickelte Schleifen und Polieren
von Granit studiert. Nicht einmal die Porphyrarbeiten aus Älvdalen in Schweden könnten mit
Cantians Granit konkurrieren. Die riesige Granitschale vordem Alten Museum sei sein Werk,
und er exportiere auch nach England. Linstow meinte, daß sich mehrere norwegische Steinsorten gut ausnähmen, wenn man sie auf Cantians Weise polierte, und er habe Cantian bereits
zugesagt, ihm eine Probe des opalisierenden labradorischen Syneit aus Larvik in Südnorwegen
zu schicken.
Linstow beschrieb das Patent des Tischlers Batmeier für einen Fußboden ohne Nuten und
Nagel, bei dem dagegen die Bretter zusammengeleimt würden wie bei Tischplatten. Jedoch
werde überall in Berlin statt einfacher Fußböden Parkettfußboden gelegt, sobald sich der
kleinste Wunsch hinsichtlich Architektur regte. Parkett werde sogar in Schulen und Bibliotheken sowie ähnlichen öffentlichen Gebäuden verwendet.
Im Konzertsaal des Schauspielhauses hatte Linstow zum ersten Mal eine Decke aus Holz ohne
Benutzung tiefer Kassetten kennengelernt. Die Felder der Decke waren statt dessen mit Farben
voneinander getrennt und die Ornamente in geschnittenem Holz ausgeführt. In letzter Zeit
habe man außerdem angefangen, die Ornamente in Steinpappe auszuführen, und derartige
Decken seien billiger als Gipsdecken. Im Palais des Prinzen Wilhelm seien Ornamente aus
Steinpappe benutzt worden, die fertig oder nach Zeichnung geliefert wurden. Linstow schickte
Proben mit, desgleichen Proben vergoldeter Leisten eines von vielen Architekten nachdrücklich empfohlenen Vergolders. Dieser liefere auch vergoldete Zinnornamente, die gebogen
werden konnten, und vergoldete Kronleuchter aus einem anderen und billigeren Material als
Bronze. Solche falschen Bronzekronen wurden in Berlin besonders in großen Sälen verwendet,
wo sich hoch hingen. Die Werkstätten für Dekorationsornamente hätten in den letzten zehn
Jahren sehr große Fortschritte gemacht und würden dank der vielen gutorganisierten Unterrichtsanstalten ständig besser.
Stärker und haltbarer seien Ornamente aus Zink, unter anderem von dem Fabrikanten Geiß,
den Schinkel außerordentlich schätzte. Bei ihm hatte Linstow auch vier Fuß hohe Kandelaber
mit echter Vergoldung gesehen, die zum Tanzsaal im Schloß zu Christiania passen könnten.
Architekturdekor wie Giebelverzierung und ähnliches gebe es auch fertig aus Zink. Ein Beispiel
für die Verwendung von Zink sei das Schloß in Potsdam, wo die verfallenen Gesimsverzierungen „in altmodischem Geschmack" mit gegossenem Zink anstelle von gehauenem Stein
repariert wurden. Linstow erstellte eine Übersicht darüber, was Berlin an Ornamenten und
Verzierung liefern könnte und welche Preise verlangt würden.
Der norwegische Architekt war meistens von all dem Neuen, das er zu sehen bekam, begeistert
gewesen, und es war nicht wenig, was er mit nach Hause brachte. Plötzlich gelangten große
Teile der neuen Technologie des Historismus und seiner neuen Formen- sowie Materialwelt in
die kleine Hauptstadt Christiania des jungen norwegischen Staates. Gleichzeitig übernahm
Deutschland die Hauptrolle als Inspirationsquelle der norwegischen Architektur, die bis dahin
116
Dänemark und zum Teil England gespielt hatten. Zunächst dominierten Berlin und teilweise
München, während Hannover sie im Lauf der fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts sowie in
dessen Ausgang als wichtigster Ausbildungsort ablöste.
Was daraus resultierte, wurde sofort augenfällig, vor allem durch Linstows eigene Leistungen
bei der Einrichtung des Schlosses. Von dort verlief nunmehr auch ein gleichmäßiger Strom der
Bestellungen von Ornamenten aus Steinpappe sowie Zink hin zu Gropius und Geiß in Berlin.
Der erste Entwurf zu einem Gebäude in dem neuen Holzstil kam mit Linstows Vorschlag zu
Pförtnerhäusern im Schloßpark 1839, der in bearbeiteter Fassung zusammen mit der Gardewachstube und Linstows eigener Wohnung wenige Jahre später ausgeführt wurde. In der
Formung und Bepflanzung des Schloßplatzes sah man die Inspiration durch den Berliner
Lustgarten, während bei Linstows Regulierung des Bereichs zwischen dem Schloß und der
Stadt mit der jetzigen Hauptstraße - Karl Johans gate - eher Münchens Ludwigstraße zu
Grunde lag.
Es besteht aller Grund zu der Annahme, daß Linstow seine neuen Kenntnisse durch die
Tätigkeit als Lehrer an der Königlichen Zeichenschule verbreitete, bis er dort im Jahre 1840
ausschied. Impulse aus Berlin und München zeigten sich jedoch auch bei den Arbeiten seines
Nachfolgers an der Zeichenschule, des dänischen Architekten J. H. Nebelong, der sowohl
Linstows Assistent in der Zeichenstube des Schlosses war als auch 1843 selbst ein Staatsstipendium für eine Deutschlandreise mit Hauptgewicht auf gerade diese beiden Städten erhielt.
Das sichtbarste Resultat des neuen, Schinkelschen Einflusses auf die Architektur erhielt
Norwegen mit der neuen Universitätsanlage an der Karl Johans gate, die von dem norwegischen Architekten Chr. H. Grosch in Zusammenarbeit mit Schinkel gestaltet wurde. Sie war
zugleich eines der äußerst wenigen Bauwerke von europäischem Format, das im 19. Jahrhundert in Norwegen entstand. In hohem Grad ist es auf eben diese Studienreise Linstows
zurückzuführen, daß der überragende Einfluß Schinkels hier so stark wurde.3 4
Anmerkungen
1 Linstows Brief an die Kommission für den Bau der Königswohnung vom 3. Juni 1837 aus Berlin.
Archiv der Kommission für den Bau der Königswohnung, Paket 18, Anlage 502. Kommissionen unter
dem Finanzministerium. Reichsarchiv in Oslo.
Der Brief und die mit der Reise zusammenhängenden Vorfälle wurden zuvor von dem Verfasser
behandelt in dem Artikel „Nicht mit der Zeit zu gehen, hat daher in unseren Tagen dieselbe Wirkung
wie zurückzugehen", Kunst und Kultur Nr. 5, Oslo 1987. Linstow veröffentlichte seine mehr allgemeinen Eindrücke von Schinkels Architektur und dessen Architekturauffassung in „Vorschlag betreffend
eine Verbindung zwischen der Königswohnung und der Stadt Christiania", Christiania 1838.
2 Linstow, H. D. F. v.: „Beiträge zur zweckmäßigen Anordnung des Zuschauerraumes in Schauspielhäusern. Entworfen bei Veranlassung des neu aufzuführenden Berliner Opernhauses", ohne Ort und
Jahr. (Geschrieben in Christiania 1843.)
3 „Arkitektene Christian Heinrich Grosch og Karl Friedrich Schinkel og byggingen av Det Kongelige
Frederiks Universität i Christiania". Av Truls Aslaksby i samarbeide med Ulf Hamran, Alvheim &
Eide, Akademisk Forlag, erschienen 1986 zum 175jährigen Gründungsjubiläum der Universität 1811.
4 Ulf Hamran: „Schinkel og Norge", in: St. Hallvard, 1961, S. 1-36.
Anschrift des Verfassers:
Magister Jens Christian Eidal, Hauptantiquar bei dem Reichsantiquar in Oslo
(staatliche Denkmalpflege), Maridalsveien 120, 0461 Oslo 4
*
Die Redaktion hat Frau Prof. Dr. Margarete Kühn sehr herzlich für die freundliche Vermittlung dieses
Beitrages zu danken. Die Übersetzung nahm dankenswerterweise Herr Herbert A. Frenzel vor.
117
Nachrichten
Restaurierung des Roten Rathauses
Nachdem bereits 1987 Bergsteiger lockere Steine am 73 m hohen Turm des Roten Rathauses beseitigt
hatten, ist jetzt der Turm eingerüstet, damit im Rahmen einer grundlegenden Sanierung Formsteine und
Sandsteinsäulen ausgewechselt und der Dachstuhl sowie der Glockenstuhl nach historischen Vorlagen
erneuert werden können. Auch die Turmuhr aus der Münchner Werkstatt Johann Mannhardts wird
generalüberholt. Bei einem Durchmesser von 4,75 m mißt das Zifferblatt 4,40 m, die Zeiger haben eine
Länge von 2,10 m und 1,50 m. Die Stundenglocke hat bei einem unteren Durchmesser von 1,44 m den
Ton D, die Viertelstundenglocke (1,12 m) den Ton G. Beide Stahlgußglocken sollen ins Museum kommen
und durch zwei neue mit reinerem Klang aus Apolda ersetzt werden. Die im Zweiten Weltkrieg stark
beschädigte Turmuhr wurde 1954 von der Leipziger Firma Zacharieä instandgesetzt.
Den Arbeiten am Turm soll dann bis 1991 das Restaurieren der Fassaden des Rathauses folgen. SchB.
225 Jahre Königlich Preußische Porzellan-Manufaktur
Am 19. September 1763, etwas über ein halbes Jahr nach dem Friedensschluß zu Hubertusburg, hatte
Friedrich der Große für 225 000 Reichstaler die Kaufurkunde über den Erwerb der von Johann Ernst
Gotzkowsky in der Leipziger Straße 1761 gegründeten Porzellan-Manufaktur unterzeichnet. Schon 1751
hatte der Wollfabrikant Wegely vergeblich versucht, es der seit 1710 produzierenden Manufaktur Meißen
gleichzutun. Porzellan gehörte damals als besondere Kostbarkeit zur Ausstattung jeder Hofhaltung, und
die Porzellankabinette mit den oft erlesenen Stücken aus China bildeten den Stolz der jeweiligen Landesherren. Auch Eosander hatte im Schloß Charlottenburg in den Jahren 1705/1706 ein solches eingerichtet,
das zu den frühen Sammlungsräumen zählt.
Friedrich der Große hat sich insgesamt 24 Service in seiner Manufaktur fertigen lassen und alle ohne
Inanspruchnahme eines Vorzugspreises gekauft. Dabei kümmerte er sich, wie es seine Art war, um
Dekore, Muster, Farben, Stückzahl und sonstige Einzelheiten selbst. So geht zum Beispiel das für die KPM
so berühmte „bleu mourant", das „sterbende Blau", eine Farbnuance zwischen Hellblau und Grau, auf
seine Intuition zurück. Die Mitarbeiter der KPM, die neben dem Luxus- auch feuerfestes Gebrauchsgeschirr herstellten, genossen schon damals ganz modern wirkende Privilegien wie Mitgliedschaft in der
Krankenkasse, Altersvorsorge, Hinterbliebenenunterstützung und Arbeitszeitenregelung.
Nach dem Tod des Monarchen geriet die KPM in den Strudel unruhiger Zeiten, die in der Plünderung der
Bestände und der Verwüstung der Produktionsanlagen durch die Franzosen gipfelten. Friedrich Wilhelm
III. ließ neue Fertigungseinrichtungen beschaffen und bessere Brennöfen bauen. Schon 1815 hatte man ein
„Gesundheitsgeschirr" entwickelt, weil die alte Bleiglasur das Anrichten der Speisen beeinträchtigte. Die
Manufaktur erreichte europäischen Ruf. Bismarck war es dann, der den Umzug in den Tiergarten
veraniaßte, weil er auf dem alten KPM-Gelände sein Parlament errichten wollte.
Innerhalb des klassischen Formengutes gelang es der Manufaktur immer wieder, Neues zu entwickeln, das
mit der Zeit selbst wieder „klassisch" wurde. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts arbeiteten auch Johann
Gottlieb Schadow und Karl Friedrich Schinkel für die KPM, nach 1918 waren es neben anderen Georg
Kolbe, Trade Petri und Renee Sintenis, die das künstlerische Erbe fortführten.
Große finanzielle Gewinne erzielte die KPM anscheinend selten, in den letzten 66 Jahren weisen die
Unterlagen nur das Jahr 1936 mit nennenswerten Überschüssen aus. Damals erwarben zahlreiche ausländische Andenkenjäger, die als „Schlachtenbummler" die Olympischen Sommerspiele in Berlin besucht
hatten, Stücke aus der Fertigung.
Die Zerstörung im Zweiten Weltkrieg bedeutete auch den Verlust eines wesentlichen Teiles der preußischen Kulturgeschichte. Das bayrische Selb übernahm zunächst die Produktion. 1951 gelang es, einen Teil
der in Eisleben ausgelagerten Modelle zurückzuerhalten. Vor wenigen Jahren kamen im Austausch gegen
die Schloßbrückenfiguren Archivmaterial und weitere Modelle zurück.
Neuen Aufschwung erwartet man sich von der Umwandlung der Manufaktur von einem Eigenbetrieb des
Senats in eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung, mit der auch die Rückbenennung der seit 1918
118
staatlichen Manufaktur vollzogen wurde. Die Erzeugnisse der neuen alten Königlichen Porzellan-Manufaktur schmückt wie eh und je das blaue Zepter Kurbrandenburgs, das ihr Friechrich der Große als Marke
verliehen hat.
Wolkchl.
Aus dem Mitgliederkreis
Georg Holmsten 75 Jahre
Der durch historische Monographien sowie Berlin-Bücher bekannte Schriftsteller Georg Holmsten wurde
am 4. August 1988 75 Jahre alt. 1913 wurde er in Riga geboren. 1922 siedelte seine Familie nach Berlin über.
Das Studium der Geschichte und Literatur an der Berliner Universität gab er wegen des zunehmenden
Druckes der Nationalsozialisten auf. Er wandte sich der politisch verhältnismäßig neutralen Tätigkeit
eines Nachrichtenjournalisten zu. Bei Kriegsbeginn wurde er Redakteur und Chef vom Dienst in der
Auslandsredaktion des Deutschen Nachrichtenbüros. Aufgrund dieser Tätigkeit gelang es ihm, nach
seiner Einberufung zur Wehrmacht als Informationsofiizier in Zivil in das von Admiral Canaris geleitete
Amt Ausland-Abwehr hineinzukommen. An der Aktion des 20. Juli 1944 war er mit dem Sonderauftrag
beteiligt, nach dem Gelingen des Staatsstreichs provisorisch das Deutsche Nachrichtenbüro zu übernehmen. Nach dem gescheiterten Putsch, den Holmsten im Berliner Bendlerblock erlebte, kam er mit einigem
Glück und etwas List mit dem Leben davon.
Nach dem Krieg hatte Holmsten als Buchautor Erfolg. Das erste seiner bisher mehr als 30 Bücher, die
bereits im Frühjahr 1946 erschienenen „Berliner Miniaturen", erreichte eine Auflage von mehr als 100 000
Exemplaren. In den fünfziger Jahren publizierte Holmsten zehn historisch-biographische Romane, die
eine Auflage von mehr als 1 Mio. erlebten. Auf exaktem Quellenstudium basieren Holmstens RowohltMonographien über Friedrich den Großen, den Freiherm vom Stein, Voltaire und Rousseau. In den in der
Reihe der „Berlinischen Reminiszenzen" des Verlages Haude & Spener erschienenen Bänden „Brandenburg - Die Geschichte der Mark" und „Potsdam - Geschichte der Stadt, der Bürger und Regenten"
wandte sich Holmsten der Geschichte der Landschaft zu, in der er seit 60 Jahren lebt.
Seiner Wahlheimat Berlin galten die Baedeker-Führer durch die Bezirke Wilmersdorf, Wedding, Tempelhof, Kreuzberg, Steglitz und Charlottenburg. Publikationen zur Zeitgeschichte sind die Bücher „Kriegsalltag 1939-1945 in Deutschland" und „Deutschland Juli 1944". Holmstens letztes größeres Werk ist „Die
Berlin-Chronik" (1984), die erste Geschichte der Stadt in Form einer kalendarischen Übersicht. Zur Zeit
arbeitet der Ator an einem weiteren umfassenden Buch über Berlin, das eine Lücke in der Stadtgeschichte
füllen soll.
Seit 1952 ist Holmsten mit der gleichfalls aus dem Baltikum stammenden Lyrikerin und Malerin Aldona
Gustas verheiratet, die auch als Initiatorin der „Berliner Malerpoeten" bekannt geworden ist. 1981 wurde
Holmsten mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse ausgezeichnet.
Zu den vielen Gratulanten zählt auch der Verein für die Geschichte Berlins, gegründet 1865.
Buchbesprechungen
Günter Wollschlaeger: „Chronik Tempelhof Teil II. Die Ortsgeschichte". Reihe Vorabdruck Nr. 3, bei Wort
& Specials (Hans-Peter Heinicke), Berlin 1988, 130 Seiten und ein Quellenanhang.
Der mit dem Sarotti-Mohren aufgemachte Einband läßt vorrangig auf die Beschreibung eines modernen
Großstadtbezirks schließen, wie er sich mit seinem Industriegelände längs des Teltowkanals ausdehnt.
Aber die Aufmerksamkeit des Lesers wird zunächst auf die wichtigen Voraussetzungen gelenkt: die
119
Geschichte des Tempelritterhofes und seiner Komtureikapelle aus der Besiedlungszeit wird erzählt. Daran
schließt sich fast lückenlos die Geschichte des Dorfes in der frühen Neuzeit, im 19. Jahrhundert und seine
Ausweitung zum Großstadtbezirk. Zwar kennt der Leser diese Grundzüge aus der älteren Stadtgeschichtsund Landesforschung (Joh. Schultze) und weiß um das alte Dorf; doch arbeitet Günter Wollschlaeger die
neueren Aspekte mit ein, die die Archäologie Adriaan von Müllers der Geschichte an die Hand gegeben
hat. Er beleuchtet neu die Bedeutung Berlins als Handelsplatz an der Fernhandelsstraße von Magdeburg
nach Frankfurt an der Oder, ferner die Besiedlung des Teltow im Kontext der Machtabgrenzung
gegenüber den Wettinern und weist Berlin eine größere Bedeutung zu, als man der mittelalterlichen Stadt
früher zugestanden hat. Mit der Publikation der Ausgrabungsergebnisse in den letzten Jahren ist das
Interesse an der Frühgeschichte der Mark Brandenburg wieder aufgelebt.
Günter Wollschlaeger erzählt mit Behagen und Detailfreude die Alltagsverhältnisse in der feudalen
Grundherrschaft - dieser Begriff nicht ideologisch eingegrenzt - und entwirft ein nachvollziehbares Bild
ihrer sozialen und wirtschaftlichen Kraft. Er arbeitet die dem Altreich gegenüber fortschrittlichen Regierungsformen heraus; Bekanntes und weniger Bekanntes ziehen am Leser vorüber; er läßt sich noch einmal
die Entwicklung von den Impulsen Kaiser Lothars von Supplinburg (Süpplingenburg) - ein vielfach
vernachlässigter Aspekt - , ferner das Aufblühen und die Ausweitung der ritterlichen und predigenden
Orden vor Augen führen. Er staunt, wie im scheinbar entlegenen ostelbischen Kolonialland gerade in der
Epoche der Auseinandersetzung um die cluniazensische Kirchenreform die Reichspolitik sich Akzente
setzend auswirkt. Das alles ist, gestützt auf ältere Veröffentlichungen des Vereins für die Geschichte
Berlins, gegr. 1865, und auf Material aus der Gemeindegeschichte Tempelhofs, dargestellt. Über ältere
Fachliteratur hinaus führt der Hinweis auf die zeitlichen und geistig-geistlichen Wurzeln des Missionsgedankens innerhalb der kolonisierenden Ordensgemeinschaft im Jerusalem der frühen Stauferzeit, ferner
die innere Verwandtschaft des Zisterzienserordens mit dem geistigen Klima im Heiligen Land. - Der Leser
sieht Tempelhof in den näheren Bereich der mittelalterlichen Doppelstadt Cölln-Berlin verwiesen, bis an
deren Grenzen der Bereich und der Besitz des Ordens reichte, der das Patronat über die Nikolaikirche
besaß.
In der bekannten Erzählfreude berichtet Vf. auch über die moderne Zeit, die Herausbildung von Gewerbe
und Industrie; die Frühgeschichte der Filmgesellschaften, vor allem der Ufa, wird von ihm mit ihren Lichtund Schattenseiten buchstäblich vor Augen geführt. - Die Siedlungen der 20er Jahre sind bevorzugtes
Thema des Vfs., weil ihr architektonischer Reiz in dem Zusammenklang von sozialer Absicht und
künstlerischer Form liegt. NS-Zeit und Widerstand werden abgehandelt, und zwar der sozialistische und
kommunistische Widerstand und die Verfolgung recht detailliert. Bedeutsam ist ferner der Hinweis auf die
Kapitulationsverhandlungen, die nach der Schlacht um Berlin zwischen Weidling und Shukow in einer
Wohnung am Schulenburgring 2 geführt wurden; unmittelbarer Anlaß war der Selbstmord Hitlers, wobei
als pikante Beigabe ein Faksimile von Eva Hitlers Todesbescheinigung beigefügt worden ist. - Neu sind
viele Ausführungen über Vorgeschichte und Verlauf der Blockade, sie sind besonders lesenswert, weil
Neues über die Schwierigkeiten der Flugbewegungen und der Organisation der Versorgung mitgeteilt
wird.
Am Ende steht der alte Ortsteil Tempelhof als ein geschlossenes Ganzes vor uns; die historische Linie ist
ziemlich lückenlos von seiner Gründung bis in die Gegenwart durchgezogen; aus der historischen Sicht
verblassen die damaligen Risse und Sprünge im Bild, es hebt sich das Wesentliche hervor. Der Materialienanhang bringt Zahlen von Lasten und Diensten aus der Zeit der Grundherrschaft des Ordens.
Das Buch ist auch als Kassette für Sehbehinderte erhältlich.
Christiane Knop
„Preußens Adoptivkinder. Die Hugenotten. 300 Jahre Edikt von Potsdam. Unter Verwendung von ,Memoires pour servir ä l'histoire des refugies francois dans l'etat du roi' von J. P. Erman und P. Reclam
1782-1799", dargestellt von Horsta Krum, arani Verlag, Berlin 1985. 222 Seiten, 30 zeitgenössische
Abbildungen, zumeist Kupferstiche von Chodowiecki, Zeichnungen und Faksimiles, mit einem Stadtplan: Berlin um 1750 (mit Beschreibung der Gebäude der Franz. Kolonie), Worterklärungen, Zeittafel,
Literatur- und Bildverzeichnis und einem Grußwort des Bischofs der Evang. Kirche in Berlin-Brandenburg, Dr. Martin Kruse (Berlin West).
Das Buch, erschienen zum 300. Jubiläum des Potsdamer Edikts, ist wieder aktuell geworden als Beitrag
zum 300. Todestag des Großen Kurfürsten. Der Fürst hat, da er nur wenige Jahre später starb, die Früchte
seiner Aufbauarbeit kaum noch gesehen, aber die Hugenotten haben ihm in seinem Nachruhm den
120
meisten Dank gezollt; aus ihrer Selbstdarstellung und ihrem historischen Selbstverständnis geht das Bild
des inneren Staatsausbaus des brandenburg-preußischen Staates in wesentlichen Grundzügen hervor.
Über des Kurfürsten Toleranzpolitik ist in der Preußen-Literatur seit 1981 viel geschrieben worden. Hier
wird seine Person aus der Verehrung der inzwischen integrierten französischen Untertanen gespiegelt, die
nun nicht mehr bloße Untertanen oder Empfänger von Wohltaten, sondern Staatsbürger waren. Dem
Leser wird das Kurfürsten-Porträt in doppelter Reflexion vorgestellt: erstens auf der Ebene von Erman
und Reclam, zwei hervorragenden Gelehrten der französischen Kolonie, die nur zweieinhalb Menschenalter von den Ereignissen trennte, und zweitens in der Version der Autorin Horsta Krum, die die
Berichterstattung der Erman/Reclam verkürzend auswählt, den Kapiteln kommentierende Einleitungen voranstellt
und so daraus eine eigne Darstellung geformt hat; sie ist gut lesbar in ihrer freien Nachempfindung des Stils
von 1800.
Die Autorin, die sich als Wahlberlinerin und Pastorin in der Französischen Kirche Berlin (West) vorstellt,
läßt noch einen Hauch der Zugehörigkeit zur französischen Kolonie spüren, vor allem in der Wertung der
Ereignisse. - So wird die Passage des Klappentextes bestätigt: die Refugies haben für die wirtschaftliche,
kulturelle und militärische Entwicklung des brandenburgisch-preußischen Staates die Weichen gestellt.
Bei der Beurteilung der Aufnahme der Flüchtlinge ist die Tatsache zu berücksichtigen, daß sie aus dem
Frankreich kommen, dem Ludwig XIV. seinen Namen gegeben hat; es war auf dem Höhepunkt seiner
nationalen Entfaltung und kulturellen Blüte. Dagegen war das ausgeblutete Brandenburg rückständig und
wegen des „Wechselfiebers der Allianzen" seines Herrschers im Urteil seiner europäischen Nachbarn in
Mißkredit.
Auf die Schilderung, in welchem Umfang der Refuge auf allen Gebieten von Wirtschaft und Handwerk,
Handel und angenehmem Leben, Sprache und Wissenschaften, Hof und Militär und Ausbau der Stadt
Berlin eingewirkt hat, braucht hier nicht weiter eingegangen zu werden; jeder Leser wird es mit Anteilnahme verfolgen. Übereinstimmend sei festgestellt, daß der Zustrom die in statu nascendi befindliche
Entwicklung zum Manufakturwesen beschleunigt hat und daß militärische Festigung und verwaltungsmäßiger Ausbau der wirtschaftlichen Kräfte einander getragen haben.
Aber es ist aufschlußreich zu sehen, was die Autoren selbst als geschichtswirksam für den brandenburgischen Staat erkannten. Sie betonen, das Refuge habe in gewisser Wahlverwandtschaft zur Person ihres
Landesvaters den Geist der Aufklärung vorgeformt, und zwar in seiner kalvinistisch-niederländischen
Ausprägung; der junge Kurprinz Friedrich Wilhelm hat aus dem geistigen Umfeld der Niederlande den
damals modernen Staatsbegriff eines zentralistischen, naturrechtlich begründeten Gemeinwesens mit
seiner städtischen Kultur aufgenommen und ihn mit dem Wagemut der eignen Existenz und gegen alle
Wahrscheinlichkeit des Gelingens nach Brandenburg verpflanzt. Deshalb standen die Angehörigen der
französischen Kolonie in Berlin nicht an, ihm das Attribut „der Große" beizulegen. Am Ende ihrer
Einschätzung steht nicht der absolute Fürst, sondern die Person des Landesvaters, weswegen sie den
Begriff „Adoptivkinder" wählten; er impliziert für sie das Geben nach dem Nehmen; sie betonen
wiederholt, die strenge kalvinistische Sittlichkeit und Zuverlässigkeit, die sparsame Lebensführung der
ersten Hugenotten haben das Preußische mitgeformt. - Sie verschweigen die Schwierigkeiten und Konflikte der Anpassung nicht.
Abschließend äußern sie sich nochmals zur „Größe" des Kurfürsten: „Anders als bei Ludwig XIV. gab es
an seinem Grabe keine bezahlten Lobredner, die sich in schmeichlerischen und hohlen Lobreden ergingen.
Nein, dieser Herrscher wurde von allen seinen Untertanen aufrichtig betrauert, besonders von den
Refugies; sie verloren in ihm einen Vater."
Christiane Knop
Bürger, Bauer, Edelmann. Berlin im Mittelalter. Berlin: Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz/
Museum für Vor- und Frühgeschichte und Nicolaische Verlagsbuchhandlung, 1987. 288 S.
Dieses Buch ist der Katalog der gleichnamigen Ausstellung, die aus Anlaß der 750-Jahr-Feier Berlins vom
8. Mai bis 1. November 1987 in der Zitadelle Spandau gezeigt wurde. Es verzeichnet aber nicht nur die
imponierende und erstaunliche Fülle der dort zusammengeführten Gegenstände, sondern enthält außerdem vierzehn Aufsätze zu den Gliederungspunkten „Die Anfänge" (Schriftquellen und archäologische
Funde), „Das Land" (Geschichte von Landschaft, Siedlung und Landwirtschaft), „Die Stadt" (Topographie, Verfassung, Sozial- und Alltagsgeschichte, Münzwesen, Hausbau), „Die Kirche" und „Der Adel".
Mit dieser Konzeption und durch seine reiche, teilweise farbige Bebilderung ergänzt der hier besprochene
Band quasi die entsprechenden chronologischen Abschnitte in der umfang- und detailreicheren, ebenfalls
121
im Jubiläumsjahr 1987 erschienenen zweibändigen „Geschichte Berlins". (Dagegen konnte der knappe
Mittelalter-Teil der zentralen Ausstellung „Berlin, Berlin" und des dazu erschienenen Katalogs keinen mit
„Berlin im Mittelalter" auch nur annähernd vergleichbaren Rang beanspruchen.)
Mit einem Problem aber hat sich jeder auseinanderzusetzen, der sich mit der mittelalterlichen Geschichte
Berlins beschäftigt, und erst recht derjenige, der sie in einer Ausstellung sichtbar, plastisch und lebendig
darstellen möchte: es gibt in Berlin - zumal in West-Berlin, also außerhalb der mittelalterlichen Doppelstadt Berlin/Cölln - nur relativ wenig authentisches und „ausstellungsfähiges" Material. Man mußte sich
also behelfen; zum einen, indem man die räumlichen Grenzen Berlins und die zeitlichen Grenzen des
Mittelalters überschritt, zum anderen, indem man in reichlichem Maße von Faksimiles (beispielsweise bei
den Ersterwähnungsurkunden von Colin, Berlin und Spandau), Fotos (etwa bei den mittelalterlichen
Dorfkirchen im Gebiet von Groß-Berlin), Modellen und lebensgroß nachgestellten Szenen (zum Beispiel
einer „mittelalterlichen " Schusterwerkstatt), modernen Karten und graphischen Darstellungen Gebrauch
machte. Bei den Originalen reicht die zeitliche Spannweite vom 10. bis ins 19. (!) Jahrhundert und die
geographische Herkunft nicht nur bis Spandau / Burgwall und Zehlendorf / Krummes Fenn (Bodenfunde), sondern es wurden beispielsweise ein wunderschöner Schmuckfund aus Pritzwalk, ein großer
bronzener Türzieher vom Lübecker Rathaus, Eßgeschirr aus Göttingen, eine Schreibtafel und ein Spielbrett aus Freiburg im Breisgau gezeigt. Das legitimiert sich natürlich nicht bloß durch die Maxime „Not
kennt kein Gebot" (auch die Nennung der zahlreichen Leihgeber macht deutlich, daß keines der hiesigen
Museen allein aus seinen eigenen Beständen die Ausstellung hätte bestreiten können); vielmehr wurden ja
bekanntlich nicht sämtliche mittelalterlichen Tatbestände mit dem Jahr 1500 „abgeschafft", sondern es
erwies sich vieles als äußerst zählebig - und was die Objekte der materiellen Kultur (insbesondere
Gebrauchsgegenstände) betrifft, so sahen Becher oder Schuhe in Lübeck oder Göttingen wohl nicht sehr
anders aus als gleichzeitig in Berlin/Cölln. Nicht nur die Ausstellung, sondern auch die Katalog-Aufsätze
müssen teilweise von bekannten anderweitigen Gegebenheiten Analogieschlüsse auf die ansonsten unbekannten Berliner Gegebenheiten ziehen. Andererseits erweist sich die Not jedoch als Tugend: da die
„reine" Lokalgeschichte nicht in allen ihren Aspekten rekonstruierbar ist, wird Berlin/Cölln immer wieder
in die überörtlichen Zusammenhänge hineingestellt.
Auch nachdem die Ausstellung geschlossen ist, behält dieser Katalog bleibenden Wert als Informationsund Arbeitsmittel. Im Katalogteil sind die Gegenstände mit Angabe von Druck- bzw. Publikationsort
beschrieben, es gibt (auf S. 287) ein kleines Verzeichnis „Quellen und allgemeine Literatur", vor allem aber
im Anschluß an jeden Textabschnitt jeweils noch eine gesonderte Literaturliste. Statt dessen oder ergänzend dazu hätte sich die Rezensentin freilich präzise Anmerkungen gewünscht, auf die aber konsequent
verzichtet wurde. Warum eigentlich? Aus Platzgründen sicher nicht, denn mehrmals ist eine Doppelseite
geopfert worden für Umzeichnungen aus dem Totentanz der Berliner Marienkirche mit dazugehörigen
Dialogtexten zwischen dem Tod und einem Menschen, der seinen Stand vertritt. - Drei dieser Menschenbilder haben übrigens für die Gestaltung des Buchumschlags (und des Ausstellungsplakats) als Vorlage
gedient und versinnbildlichen den Grundgedanken, das Leben der Menschen damals den Menschen heute
nahezubringen. Im Rahmen des Möglichen ist es in der Tat gelungen, einen Abschnitt der Stadtgeschichte
wieder präsent zu machen, dessen materielle Überreste in dem so ganz „modernen" Berlin kaum mehr
greifbar sind.
Christiane Schuchard
Gruß aus Berlin. Ein Bummel durch Berlin um 1900 auf 120 Postkarten mit Onkel Theo und seiner Nichte
Lottchen. Nachwort Janos Frecot. Berlin: Agora Verlag o. J., 125 S., 122 Abb.
Schon wieder ein nostalgisches Berlin-Bilderbuch? Ja, aber ein originelles, reizvolles Postkartenalbum,
dessen Zusammenstellung ausnahmsweise nicht der Herausgeber besorgt hat, sondern der Absender der
Karten, nämlich der im Untertitel genannte „Onkel Theo": der Bankier Theodor Hellwig, der für seine
Nichte Charlotte Hellwig („Lottchen"; zusammen mit ihrem Onkel in Visitenkartenfotos auf dem
Titelblatt verewigt) um die Jahrhundertwende herum 120 gekaufte Ansichtskarten mit der Schilderung
imaginärer Sightseeing-Touren durch das „offizielle", repräsentative Berlin (und Charlottenburg) fortlaufend betextete. Die Fahrten und Spaziergänge führen durch die heutigen Bezirke Mitte, Tiergarten,
Charlottenburg und Kreuzberg und zeigen natürlich großenteils die immer wieder abgelichteten Motive
der Reichshauptstadt (Schloß, Unter den Linden, Reichstag), teilweise aber auch Selteneres (wie zum
Beispiel frühe Ansichten aus dem „Westen": Savignyplatz, Wittenbergplatz und Nollendorfplatz mit
neuen Häusern und frischgepflanzten Bäumen, die beiden letztgenannten Plätze noch ohne U-Bahnhof
bzw. Hochbahn). Den Reiz der kleinen Edition machen nicht nur die interessanteren Bilder aus, sondern
122
auch die unter den Postkarten-Reproduktionen transkribierten dazugehörigen Kommentare eines Zeitgenossen, eben des „Onkels Theo". Dieser schildert sehr lebendig einige gemeinsame „Bummel durch
Berlin", wobei er immer den Erfahrungshorizont seiner etwa neunjährigen Nichte berücksichtigt. Unverkennbar vorhanden ist die pädagogische Absicht, etwa wenn Lottchen die Nationalgalerie wenigstens
schon einmal von außen gezeigt bekommt; „auch Dir wird es ja später vergönnt sein Dich an diesen
Sammlungen zu erfreuen, zu bilden und zu erbauen" (27). Sprache und Gedankenwelt des großbürgerlichen „Reiseführers" sind zeitgebunden, besonders in Formulierungen wie „der Große Kaiser" (bei der
Betrachtung des Palais Kaiser Wilhelms I., Bild 4) und „Tempel der Kunst" (das Theater des Westens, Bild
79); in der Siegesallee (Bild 36) „wird unser Auge gleich gefesselt durch eine im Entstehen begriffene,
großartige Anlage". Derlei Beispiele lassen sich beliebig vermehren und ergeben in ihrer Summe - trotz der
persönlichen, unkonventionellen Darbietungsform - ein recht konventionelles Stadtbild, das im Nachwort zutreffend mit „dem" Baedeker in Verbindung gebracht wird. Es muß offenbleiben, ob der Blick des
Reisenden bzw. Stadtbummlers durch ein begrenztes Angebot an gängigen Bildmotiven konditioniert
war, oder ob Onkel Theo auch andere, „originellere" Ansichten hätte auswählen können. Vielleicht ja,
wenn er zum Beispiel nach Postkartenserien von F. Albert Schwanz gesucht hätte, die das von der
Spitzhacke bedrohte alte Berlin zeigten; Frecot charakterisiert im Nachwort ganz kurz das Werk der
großen Berliner Stadtfotografen (neben Schwanz Hermann Rückwardt und Waldemar Titzenthaler, die
„Zilles Berlin" der wenig ansehnlichen Stadtrandgebiete freilich alle noch aussparten). Der Herausgeber
sagt außerdem ein paar Worte zur Geschichte der Ansichtskarte, zur Entdeckung der Großstadt als
Heimat (erst seit etwa der Jahrhundertwende), zum „Gesicht" Berlins um 1900, und beklagt abschließend
die „Störungen und Zerstörungen, die die deutsche Geschichte dieser Stadt und ihren Bewohnern angetan
hat." Allein die Bilder sind geblieben und laden ihre heutigen Betrachter zu einer „Reise im Kopf™ ein genau so, wie Onkel Theo seinerzeit das Lottchen dazu einlud. Eine nette Idee, damals wie heute; doch das
hübsche Geschenkbüchlein wird heute - anders als damals - ganz sicher mehr als nur einer Betrachterin
Freude machen.
Christiane Schuchard
Berliner Straßen und Plätze. Berlin: Nicolaische Verlagsbuchhandlung und Sender Freies Berlin, 1988.
180 S„ brosch.
In ähnlicher Aufmachung wie die beiden Bände „Streifzüge durch Berlin" sind jetzt 88 Rundfunkbeiträge
einer Sendereihe des SFB auch gedruckt greifbar; es handelte sich wiederum um „akustische Spaziergänge" (S. 5), die diesmal jedoch als Beitrag zur 750-Jahr-Feier Berlins gedacht und unter ein anderes
Leitmotiv gestellt waren: ausgewählte Straßennamen, im Buch alphabetisch geordnet von „Adenauerplatz" bis „Zillestraße". Gerade 10 der 88 zum Teil bebilderten, je anderthalb Seiten langen Artikel
betreffen übrigens Straßen und Plätze im Ostteil der Stadt; unter den Westberliner Bezirken sind Charlottenburg und Wilmersdorf am besten weggekommen. Trotz unterschiedlicher Akzente, die die 38 Autorinnen und Autoren setzen, geht es regelmäßig um die Beantwortung eines Kanons naheliegender Fragen:
Wer war die namengebende Person, bzw. was war oder ist die namengebende Sache? Welche Beziehung
hat er oder sie zu Berlin? Welchen „Charakter" besaßen die Straßen und Plätze früher, wie sieht es heute
dort aus? Welche berühmten Leute wohnten einmal dort? Besonders interessant wird es jedoch in den
Fällen, bei denen auch die näheren Umstände der Namensgebung zur Sprache kommen, also speziell bei
Umbenennungen oder bei Kontroversen und Alternatiworschlägen. Hier zeigt das auf den ersten Blick
„nur historische", unpolitische Thema „Straßennamen" seinen politischen Aspekt und seine Aktualität
(man denke zum Beispiel an die Dikussion um den „Olof-Palme-Platz"). Ein systematischer historischer
Überblick über die Berliner „Straßenbenennungspolitik" - etwa als Einleitung - hätte den Rahmen des
Bändchens gesprengt; wer so etwas sucht, kann es aber an anderer, etwas versteckter Stelle finden, nämlich
in dem Buch von Heidrun Joop „Berliner Straßen. Beispiel: Wedding" (Berlin: Edition Hentrich, 1987).
Christiane Schuchard
Günther Schulz: Die ältesten Stadtpläne Berlins 1652 bis 1757. Acta humaniora, VCH, Weinheim 1986.
200 S. mit zahlr. Abb., Ln. 135 DM.
Von jeher haben historische Pläne eine besondere Faszination auf Fachleute und Laien ausgeübt. Kaum
eine andere Quelle ist so aussagekräftig wie ein Plan, weil mit einem Blick die Situation einer Ortschaft
erfaßt werden kann. Es ist deshalb zu begrüßen, daß Günther Schulz in dem vorliegenden Band alle älteren
Berlin-Pläne zusammengetragen und damit der Forschung ein wichtiges Hilfsmittel erschlossen hat. Die
123
großzügige und attraktive Gestaltung des Buches wird darüber hinaus auch jeden Berlin-Freund begeistern.
Die Publikation beginnt mit dem Stadtplan des kurfürstlichen Festungsbaumeisters Johann Gregor
Memhard aus dem Jahre 1652, der erstmals in der Topographia von Zeiller-Merian erschien, und endet mit
dem dritten großen Plan des Kartographen Johann David Schleuen von 1757. Zeigt der Memhard-Plan
kurz nach Ende des 30jährigen Krieges Berlin noch als mittelalterliche Kleinstadt, so hält der SchleuenPlan genau hundert Jahre nach Baubeginn der kurfürstlichen Fortifikationen den Zustand fest, in dem
bereits alle Spuren dieses Festungswerkes wieder getilgt sind. Innerhalb dieses zeitlichen Rahmens stellt
Schulz 89 bisher ermittelte Berlin-Pläne vor und - um es gleich vorwegzunehmen - schafft damit ein
Standardwerk, das weit über die bisher einzige vergleichbare Arbeit von Clauswitz/Zögner hinausgeht.
Fast jeder Plan ist abgebildet, zum Teil auch farbig, und wird ausführlich bis ins kleinste Detail
beschrieben. Dabei beschränkt sich Schulz nicht nur auf die Interpretation, sondern beleuchtet auch die
historischen Hintergründe. Der Berlin-Interessierte erhält so eine vorzügliche Anschauung über die
städtebauliche Entwicklung der brandenburg-preußischen Hauptstadt von der Mitte des 17. bis zur Mitte
des 18. Jahrhunderts. Durch Vergleich der Pläne untereinander und mit anderen Quellen kann Schulz
manchen Fehler korrigieren, den ein Kartograph vom anderen übernommen hat. Schon der MemhardPlan enthält kleine Ungenauigkeiten. Schulz weist auch stets darauf hin, an welchen Stellen Clauswitz/
Zögner irren oder ergänzt werden müssen. Außerdem stellt er einige Pläne vor, die in der Publikation von
Clauswitz/Zögner fehlen.
Der Text wurde in 22 Kapitel gegliedert, in denen einzelne Pläne oder sachlich zusammengehörende
Plangruppen behandelt werden. Auf diese Weise werden die Pläne, Handzeichnungen und Vogelperspektiven der Kartographen Memhard, La Vigne, Schultz, Broebes, La Möte, Kaulitz, Dusableau, Schleuen,
Walther und Schmettau vorgestellt. Keinen Zweifel läßt Schulz daran, daß er den auf Weisung Friedrichs
des Großen 1748 vom Feldmarschall Samuel Graf von Schmettau angefertigten Plan wegen der Informationsfülle und der Genauigkeit für das bedeutendste kartographische Werk der Epoche hält.
Alle 89 Pläne sind am Schluß des Bandes chronologisch mit genauem Titel, Angabe des Formats und dem
Hinweis auf entsprechende Nummern bei Clauswitz/Zögner aufgeführt. Dieses Planverzeichnis bietet eine
schnelle Orientierung über alle frühen Berlin-Pläne.
Bei einem so umfangreichen Werk sind Irrtümer und Unkorrektheiten wohl kaum zu vermeiden. Die hier
aufgelisteten Fehler sollen deshalb als Hinweis verstanden werden, sie bei einer 2. Auflage zu korrigieren.
Auf den Seiten 13 und 21 spricht Schulz von der Läpp- und von der Petristraße, die Memhard und seine
Kartographen-Nachfolger vergessen hätten. Tatsächlich sind jedoch beide Straßen identisch. Die Lappstraße ist erst 1816 in Petristraße umbenannt worden.1
Bei der Beschreibung des Schmettau-Planes (S. 140) erwähnt der Verfasser das Forum Fridericianum, das
Friedrich der Große mit seinem Freund Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff noch während seiner
Rheinsberger Zeit geplant hatte. Schulz erwähnt leider nicht, daß sich dieser Plan im Original mit
handschriftlichen Einzeichnungen des Königs im Landesarchiv Berlin befindet.2 Vielleicht hätte er sich als
Ergänzung zum Schmettau-Plan auch zur Publikation geeignet.
Warum Schulz im Text durchgehend die alte Schreibweise von Akzise (S. 195)3 und Konsistorium (S. 140)
wählt, ist zwar nicht einleuchtend, doch immerhin konsequent. Ärgerlich dagegen ist, daß er den
Dönhoffplatz (S. 196) stets nur mit einem f schreibt, das Kottbusser Tor (S. 197) mit einem t und bei der
Charite (S. 195) den Accent aigu wegläßt. Ebenso wird durchgehend von der Jerusalemkirche (S. 197)
gesprochen. Es muß aber Jerusalemer Kirche heißen. Erhält Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff auf
Seite 140 mit „Hans" einen ihm nicht gehörenden Vornamen, so wird ihm dagegen auf Seite 197 das ihm
zustehende Adelsprädikat genommen. Das Prinz-Heinrich-Palais (S. 137 und 199) erscheint einmal mit
und einmal ohne Bindestrich. Das Berlin Museum wird schließlich stets mit Bindestrich (S. 195) geschrieben, und das Landesarchiv Berlin firmiert unter der falschen Bezeichnung „Landesarchiv des Senats von
Berlin" (S. 198). Diese Liste von Fehlern und Ungenauigkeiten ließe sich leider noch fortsetzen, der Wert
des Werkes wird dadurch aber nicht geschmälert. Günther Schulz hat mit den Abbildungen der ältesten
Berliner Stadtpläne, mit der ausführlichen Beschreibung und dem chronologischen Verzeichnis eine
Publikation vorgelegt, die in Zukunft für jeden Berlin-Historiker ein unentbehrliches Arbeitsinstrument
sein wird.
Jürgen Wetzel
1 Vgl. Hermann Vogt: Die Straßen-Namen Berlins, Berlin 1885, S. 72.
2 LA Pr.Br.Rep. 42 VII 35.
3 Bei Fehlern, die sich durch den ganzen Text ziehen, wird nur die Seitenzahl des Schlagwortes im
Register angegeben.
124
Hans Dieter Schäfer: Berlin im Zweiten Weltkrieg. Der Untergang der Reichshauptstadt in Augenzeugenberichten. R. Piper, München 1985, broschiert, 390 Seiten.
Hans Dieter Schäfer, gebürtiger Berliner des Jahrgangs 1939, hat die Geschichte seiner Heimatstadt an
Berichten von Augenzeugen der Kriegszeit noch einmal zusammenfassend aufgezeigt. Sein Meisterstück
hatte er zuvor schon in seinem Buch „Das gespaltene Bewußtsein über deutsche Kultur und Lebenswirklichkeit 1933 bis 1945" bestanden. Er leitet die schon an anderer Stelle veröffentlichten und von ihm nur
geschickt zusammengestellten Einzelberichte mit einem gescheiten Vorwort ein, dessen Prämisse man sich
allerdings nicht zu eigen zu machen braucht: „Berlin vergegenständlicht heute - wie kaum eine zweite
deutsche Stadt - in ganz unmittelbarer, physischer Weise das Absterben des öffentlichen Lebens . . . Die
nach dem .Zusammenbruch' entstandene Stadt drückt augenfällig die Pathologie unserer nachbürgerlichen Gesellschaft aus, die Bauwerke sind isoliert, nichts deutet auf Vermischung und In-Beziehung-Setzen, die politische Spaltung Berlins erscheint so als bloße Variante dieser unnatürlichen Entwicklung.. .*
Er schließt sein Vorwort mit der Bemerkung, die Sieger hätten nach dem „Zusammenbruch" Volksgemeinschaftsideologie und Führerprinzip durch bürgerlich-individuelle bzw. revolutionäre Propaganda
ersetzt, unverändert sei aber die Entfaltung einer neuen öffentlichen Kultur behindert: „Vielleicht wird
nach der Lektüre der Augenzeugenberichte deutlich, daß der Untergang Berlins den Menschen nicht
einfach geschehen ist, sondern daß der Katastrophe eine freiwillige Selbstausschaltung vorausgegangen
war." Die Hoffnung Schäfers ist das letzte Wort, wonach „vielleicht die Zukunft nicht fern (ist), in der
Berlin als öffentlicher Schauplatz neu belebt wird, wenn wir nicht bloß Nähe suchen, sondern uns den
zerklüfteten Flächen der Stadt und damit wieder dem Leben als etwas Unheimlich-Fremden öffnen."
Die dann folgenden Augenzeugenberichte sind chronologisch zugeordnet, von der allgemeinen Stimmung
in Berlin 1939 bis 1941 und dem wirtschaftlichen Niedergang seit dem Rußlandfeldzug bis zur Schlacht um
Berlin und der unmittelbaren Nachkriegszeit unter russischer Besatzung. Schwerpunkte des Kriegsgeschehens werden mit der Flächenbombardierung vom 22. bis 26. November 1943 und den Tagesangriffen
gesetzt. Einzelne Aspekte der Kriegszeit wie die Deportationen der Juden sowie Arbeitsmoral und
Kriminalität werden besonders hervorgehoben, daneben Unterhaltung und Fremdarbeiter. Zu Schäfers
Zeugen gehört unter vielen anderen die unlängst verstorbene Journalistin Ursula von Kardorff, die von
1939 bis 1945 als Redakteurin der „Deutschen Allgemeinen Zeitung" schrieb, aber auch die spätere
Zoodirektorin Katharina Heinroth, deren Erlebnisse besonders eindrucksvoll erscheinen.
H. G. Schultze-Berndl
Bodo Rollka/Klaus-Dieter Wille: „Das Berliner Schloß. Geschichte und Zerstörung." 107 Seiten, 79 Abbildungen, Dokumentenanhang und Literaturverzeichis, bei Haude & Spener, Berlin 1987.
Das Hauptgewicht des Erzählerischen wird weniger auf die Baugeschichte des Schlosses gelegt als auf das
Heranreifen des Entschlusses zu seiner Zerstörung und der plötzlich erfolgten Ausführung dieses Beschlusses, der in zwei Wochen durchgepeitscht worden war; ferner auf den vergeblichen Kampf gegen den
Abriß, geführt von führenden Persönlichkeiten in beiden Teilen der Stadt. - Der Abriß wird mit
erschütternden Bilddokumenten belegt.
Die beiden Autoren, einander in der baugeschichtlichen bzw. bautechnischen Seite des Vorgangs und der
publizistisch-dokumentarischen ergänzend, verweisen mehrmals auf die damals (1950) noch ungeteilte
Stadtbevölkerung und ihren einheitlichen Sinn, der sich u.a. an diesem Gegenstand zu polarisieren
begann, indem sie sich zu Widerstand und Bewußtseinsbildung formierte. Im Zentrum der Debatten stand
der - heute wieder oft verwendete - Begriff des „kulturellen Erbes", der auch in der gegenwärtigen
westlichen Geschichtsbetrachtung neu durchdacht werden sollte. Wie wir heute sicher vermuten, hätte
heute auch die andere Seite aus der noch erhaltensfähigen Bausubstanz eine Denkwürdigkeit gemacht.
Die „Demontage der Vergangenheit" (S. 10) hätte nicht mehr stattgefunden. Die Absicht des Verlages,
diese Dokumentation zu publizieren, zielt auf die Erkenntnis, daß zwar auch „Neubauten in gemeinsamer
Arbeit (von Ost und West) errichtet, . . . die gerissenen Lücken nicht schließen können", die Wiederaufnahme der Betrachtung solcher Zerstörung aber zukunftweisendes Bedenken erzeugen sollte. Sie wird
angesichts des 40. Jahrestages des Blockadebeginns wieder aktuell.
Der architekturgeschichtliche Teil markiert die baukünstlerischen Besonderheiten jeder Phase - Schlüterzeit - preußisches Rokoko - Klassizismus - und stellt im Bildteil ihre heilen Bilder denen der Zerstörung
gegenüber, so daß sie sich wie gleichartige Glieder ineinanderpassen. „Die Bilder, die nach 1945 aufgenommen wurden, geben einen guten Eindruck vom Erhalt der Bausubstanz. Sie sprechen eine eigne
Sprache und widerlegen viele bestellte Gutachten, in denen ein sofortiger Abriß wegen Baufälligkeit
gefordert wurde" (S. 33).
125
Die Exponenten des Widerstandes gegen den Abriß waren u. a. Prof. Dr. Stroux als Präsident der
Akademie der Wissenschaften, Prof. Dr. Richard Hamann, der vielgeachtete Marburger Kunsthistoriker
und damalige Nationalpreisträger der DDR, der sächsische Landeskonservator Prof. Dr. Schubert und
der Berliner Universitätsrektor Prof. Dr. Friedrich.
Die westlich freie und die SED-gebundene Presse polarisieren sich; der Streit war allerdings ein Nachhutgefecht, weil der Abriß, längst in Moskau beschlossen, von W. Ulbricht auf dem 3. Parteitag der SED im
Juli 1950 durchgesetzt, der Schaffung eines „Roten Platzes" in Berlin dienen sollte. Die zu kurz bemessene
Zeit seiner Verabschiedung machte jeden Einspruch unwirksam. Im Rückblick erkennt man bei Durchsicht der Dokumente schmerzlich, wie sehr noch gesamtdeutsche Argumente ins Feld geführt wurden, wie
man bestimmten Einzelteilen wie Schlüterhof und Treppenhaus und Staatsratssaal europäischen Rang,
würdevolle Größe zusprach, ohne sich so schwerwiegender Worte zu schämen. Prof. Stroux sprach noch
von der Rolle Berlins als Hauptstadt (und meinte damit die ganze Stadt), andere Gegner sprachen von dem
neu projektierten Aufmarschfeld als von einem ungebunden-ungeformten Platz, der ohne bauliche
Begrenzung ein Unding sein würde. Noch warf man den Blick westlich über das Brandenburger Tor hinaus
und schlug den verwüsteten Tiergarten und das noch immer verwüstete Hansaviertel oder den nördlichen
Spreebogen als Alternative vor; man verwies auf die Paradoxie, nach welcher der Dresdener Zwinger
wiederaufgebaut werde, das gleichwertige Barockschloß in Berlin dagegen zerstört.
Die Memoranden, vor allem das Hamanns, zeigen bewundernswerte Zivilcourage, die auf ihre kulturpolitische Verantwortung pochte. - Die Dokumentation des Pressekampfes bringt auch eine Analyse der
Intentionen, die man hinter dem Beschluß wirksam glaubte und die man unwirksam zu machen hoffte;
stellvertretend sei der Appell von Frau Dr. Margarete Kühn zitiert: „Unsere Einstellung zum Kunstwerk
der Vergangenheit ist eine andere. Sie beruht auf der Forderung unbedingter schöpferischer Originalität,
dem Glauben an die Unwiederholbarkeit der schöpferischen Leistung" (S. 104).
Um so mehr vermißt man das Aufstehen der Politiker im engeren Sinne. Haben sie die Bedeutung des
Geschehens nicht erkannt?
Wer auch ohne diese gedankliche Brechung die Bilder auf sich wirken läßt, trauert dem Unwiederholbaren
nach, das hier vom Chronisten des Abrisses festgehalten ist: anklagender Schmerz in den Gesichtern der
Skulpturen und Gesimsfiguren (wie „Sommer" und „Genien"), wehrlos und sinnentleert der Öde preisgegeben.
Christiane Knop
Berlin aus der Luft. Herausgegeben von Richard Schneider. Nicolaische Verlagsbuchhandlung Beuermann
GmbH, Berlin 1986. Leinen, 78 Seiten.
An 70 überwiegend Luftaufnahmen wird die Entwicklung des Berliner Stadtbildes bis in unsere Tage
belegt. Fast ausschließlich stammen die Fotografien aus der Landesbildstelle Berlin, die bei diesem Band
auch sonst Pate gestanden hat. Richard Schneider als Herausgebergeht mit der Kahlschlagplanung und
-architektur der Nachkriegszeit mächtig ins Gericht. Er beklagt den totalen Raumverlust als Folge der
Abrißwut der 50er und 60er Jahre, die zu riesigen Brachen zwischen Lützowplatz und Halleschem Tor,
zwischen Matthäikirche und Anhalter Bahnhof geführt hat. Am Schicksal der Plätze kann man ablesen,
was aus Berlin geworden ist: Potsdamer Platz und Leipziger Platz einerseits, Königsplatz, Askanischer
Platz, Prager Platz oder Lützowplatz auf der anderen Seite.
Den Bildern sind gute Beschreibungen beigegeben. Seinen Reiz erhält das Buch aus den Gegenüberstellungen derselben Stadtlandschaften im Abstand der Jahre. Dieser Bildband versteht sich als ein Buch der
Erinnerung.
SchB.
„1933. Fünfzig Jahre danach. Das Ermächtigungsgesetz." Herausgeber: Reinold Schattenfroh und Annerose Benecke im Auftrag des Instituts für soziale Demokratie (August-Bebel-Institut), Berlin 1983.
82 Seiten broschiert, Faksimiles und Literaturverzeichnis
Das Gespaltensein aller Empfindungen in den diffusen Erscheinungen der Tage um den Reichstagsbrand
und der darauffolgenden (Selbst-)Entmachtung der Weimarer Volksvertretung spiegelt die Fotomontage
auf dem Umschlagsbild wider: in verblassendem Licht der Redner Otto Wels bei der Begründung des
Neins seiner Fraktion bei der Abstimmung, dagegen scharf umrissen in Führerpose Adolf Hitlers,
umgeben von uniformierter SA. - Die dokumentierende Untersuchung leistet in Anlage und Durchfüh126
rung politische Bildungsarbeit im besten Sinne; sie sucht das verblassende Bild eines ungeheuerlichen
Vorgangs, der ins Klischee abzurutschen droht, wieder ins helle Licht des Bewußtseins zu ziehen. Sie geht
anhand von Protokollen, Memoiren und Presseverlautbarungen und Zeitzeugenberichten dem Geflecht
vieler Ereignisstränge in ihrer scheinbaren Normalität und doch entscheidungsschweren Verknotung
nach. Sie bietet dem jungen Fragenden eine Wirklichkeit, die er bisher meist nur aus der Sicht der
Verfassungsnorm zu sehen gelernt hat; die Verfassungswirklichkeit und die Entscheidungslast der Betroffenen war ihm schwerer nachvollziehbar.
Das August-Bebel-Institut stützt sich natürlich vorrangig auf die Rolle der SPD und kann als wirkungsvollste Kronzeugin die mutige Haltung der Louise Schroeder ( „ . . . und wenn sie mich drüben in Stücke
reißen!") und die Erinnerungen Wilhelm Hoegners von 1979 anführen; ferner wird der letzte noch lebende
ehemalige Reichstagsabgeordnete und spätere Chef des „Vorwärts" befragt. Jedoch wird die Rolle der
bürgerlichen Parteien unparteiisch beleuchtet.
Im Vorwort wird auf die Übereinstimmung mit anderer Erinnerungsliteratur verwiesen, die „die von Tag
zu Tag durch viele Einzelmaßnahmen fortschreitende Aushöhlung der demokratischen Rechte" ebenso
konstatiert; sie ist für die politische Atmosphäre jener Wochen bestimmend gewesen. Gerade dieses
unübersichtliche und doch minutiös ablaufende Zusammenspiel gilt es durchsichtig zu machen.
Die SPD kann das Verdienst in Anspruch nehmen, als einzige Fraktion den Anfängen gewehrt zu haben.
Jedoch wird neben ihrer mutigen Kraft ebenso ehrlich der Zustand einer mutlosen Partei geschildert, die
auch von Pragmatismus und irrigem Denken befallen war. Die entscheidende Voraussetzung war ihre
Überzeugung, ein Generalstreik als Antwort auf die handstreichartige Ernennung Hitlers zum Reichskanzler werde Bürgerkrieg zur Folge haben. Das hat ihre Bedenklichkeit bis in die Stunde der Abstimmung erzeugt, und der Nacherlebende ist ebenso geneigt, diese Bedenklichkeit zu teilen wie das Fehlerhafte daran zu benennen.
Wichtigstes Kriterium zur Beurteilung ist die Einsicht, daß und wie Hitler die SPD in den Staatsstreich zu
treiben suchte, um eine parlamentarische Handhabe gegen sie zu gewinnen. Das raffinierte Spiel um
Aushöhlung des Entscheidungsbeschlusses wird offen gelegt; Personen, Institutionen, Presse und Grundfragen treten in klarem Licht auf, vor allem die Verhaftungswelle, die ein Drittel des Parlaments bei der
entscheidenden Abstimmung zum Schweigen verurteilt hat. Als wichtiger Hinweis kann auch die Vermutung akzeptiert werden: „Gegen einen Staatsstreich - Hitler als Usurpator - hätten Beamte und Richter
loyal zum Weimarer Staat gestanden und sich wie beim Kapp-Putsch gewehrt. Aber nach einem legalen
Vorgang der Kanzlerernennung Hitlers hat es keine andere Wahl gegeben."
Obwohl beim Staatsakt in Potsdam wie bei der Abstimmung in der Krolloper die Botschafter des
Auslands anwesend und über die Hintergründe des Plebiszits informiert waren, war es nur Otto Wels, der
die gültige Mahnung aussprach: „Kein Ermächtigungsgesetz gibt Ihnen die Macht, Ideen, die ewig und
unzerstörbar sind (Rechtsbewußtsein), zu vernichten. - Auch das Sozialistengesetz hat die SPD nicht
vernichtet. Auch aus einer neuen Verfolgung kann die deutsche Sozialdemokratie neue Kraft schöpfen."
Die Untersuchung bringt die klare Einsicht in das Hinübergleiten von den Präsidialkabinetten in die
Diktatur und zeigt, daß uns ein Verurteilen versagt ist, im Gegenteil: vor dem Leser ersteht ein Geschehen,
das noch heute wieder denkbar ist, auch bei Ausschöpfung aller Rechtsmittel.
Christiane Knop
Neue Mitglieder im III. Quartal 1988
Brigitte Düren, Verw.-Angst. i. R.
Stresemannstraße 20, 8000 München 90
Telefon (0 89) 6 99 05 57
(Dr. Knop)
Ruth Maerker, Sonderschullehrerin
Hirtsieferzeile 35, 1000 Berlin 47
Telefon 6 03 62 21
(Geschäftsstelle)
Dr. Gernot Moegelin, Dipl.-Kfm.
Pücklerstraße 52, 1000 Berlin 33
Telefon 88 415103
(Geschäftsstelle)
Dr. Manfred Uhlitz, Kunsthistoriker
Westendallee 71, 1000 Berlin 19
Telefon 3 04 26 57
(Dr. Kutzsch)
127
Veranstaltungen im IV. Quartal 1988
1. Mittwoch, den 12. Oktober 1988, 14.45 Uhr: Führung durch das Jagdschloß Grunewald.
Leitung: Herr Prof. Dr. Helmut Börsch-Supan. Gruppeneintrittspreis 1,50 DM, bitte passend bereithalten. Treffpunkt im Schloßhof.
2. Donnerstag, den 13. Oktober 1988,16.30 Uhr: Führung durch die Ausstellung des Landesarchivs „ . . . bei Kroll - Etablissement, Ausstellungen, Theater, Konzerte, Oper, Reichstag,
Gartenlokal 1844-1957". Leitung: Herr Dr. Hans Joachim Reichhardt. Treffpunkt in der
Halle des Landesarchivs Berlin, Kalckreuthstraße 1/2, Berlin 30. Fahrverbindungen: Busse
19, 29, U-Bahnhof Wittenbergplatz oder Nollendorfplatz.
3. Sonnabend, den 12. November 1988,10.30 Uhr: Führung „Britz - Dorflage und Rittergut".
Leitung Herr Prof. Dr. Helmut Engel. Treffpunkt vor dem Gruftanbau der Dorfkirche
(Straße Alt-Britz).
4. Dienstag, den 15. November 1988,19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Frau Prof. Dr. Ursula
Koch: „Der Teufel in Berlin. Berlin, das Zentrum des illustrierten, politischen Witzblattes
ab 1848". Pommernsaal des Rathauses Charlottenburg.
5. Montag, den 5. Dezember 1988,16.00 Uhr: Führung durch die Ausstellung im Kunstforum
der Nationalgalerie „Kaiser Friedrich III.". Leitung: Frau Dr. Iselin Gundermann. Treffpunkt im Bau der Grundkreditbank, Budapester Straße 35, gegenüber dem Elefantentor.
6. Montag, den 12. Dezember 1988, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Harry Nehls:
„Leben und Wirken des preußischen Generals, Forschungsreisenden und Kunstsammlers
Johann Heinrich Carl Freiherrn Minu von Minutoli". Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg.
7. Freitag, den 16. Dezember 1988, 18.00 Uhr: Vorweihnachtliches Beisammensein mit Programm in den Tegeler Seeterrassen, Wilckestraße 1. Essen nach Wahl. Telefonische Anmeldungen ab 19.00 Uhr unter 8 54 58 16. Fahrverbindungen U-Bahnhof Tegel. Kurzer Fußweg
durch die Straße Alt-Tegel. Anmeldeschluß am 10. Dezember.
Ab 1. November hat die Leitung der Geschäftsstelle des Vereins für die Geschichte Berlins, gegr. 1865, Frau
Ingeborg Schröter, Brauerstraße 31,1000 Berlin 45, Telefon 7 72 34 35, übernommen. Frau Ruth Koepke
führt die Geschäfte der Schatzmeisterin weiter.
Bibliothek: Otto-Suhr-Allee 96 (Rathaus), 1000 Berlin 10, Telefon 34 30-22 34. Geöffnet: mittwochs 16.00
bis 19.30 Uhr.
Vorsitzender: Hermann Oxfort, Breite Straße 21, 1000 Berlin 20, Telefon 3 332408.
Geschäftsstelle: Frau Ingeborg Schröter, Brauerstraße 31,1000 Berlin 45, Telefon 7723435.
Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13,1000 Berlin 65, Telefon 4509-291.
Schatzmeisterin: Frau Ruth Koepke, Temmeweg 38, 1000 Berlin 22, Telefon 365 7605.
Konten des Vereins: Postgiroamt Berlin (BLZ 10010010), Kto.-Nr. 433 80-102, 1000 Berlin 21;
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MITTEILUNGEN
DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS
GEGRÜNDET 1865
85. Jahrgang
Heft 1
Januar 1989
Personenzug der Berlin-Potsdamer Eisenbahn mit der Lokomotive Prussia
Lithographie nach einer Zeichnung von E. Damm, 1846
150 Jahre Berlin-Potsdamer Eisenbahn*
Von Jürgen Wetzel
Wie jede neue Erfindung, so hatte auch die Eisenbahn lange gegen althergebrachtes Denken
und gegen die Technikfurcht Anfang des vorigen Jahrhunderts zu kämpfen, bevor sie sich
durchsetzen konnte. Viele bezweifelten, daß die vorhergesagte Geschwindigkeit von 30 Kilometern in der Stunde überhaupt zu erreichen sei, schaffte doch die Thurn-und-Taxissche Post
im Durchschnitt nur 37 Kilometer pro Tag. Andere wollten mit wissenschaftlicher Autorität
nachweisen, daß der Mensch eine solche Geschwindigkeit gar nicht ertragen könne. Land- und
Forstwirte sahen durch den Funkenflug der Lokomotiven sämtliche an den Bahnstrecken gelegenen Wälder in Brand. Und die Bauern glaubten, daß durch den von der Bahn erzeugten Luftwirbel die Tiere auf der Weide geschädigt und die Pferde beim Anblick der feuerspeienden
Ungeheuer scheuen würden.
Konservative Politiker sahen in der Lokomotive den Leichenwagen, auf dem der Absolutismus
und Feudalismus zum Kirchhof gefahren würden. Sie befürchteten deshalb soziale Umwälzungen und glaubten, mit der Eisenbahn die Revolution zu schnell ins Haus zu bekommen. Die
Kirche schließlich war gegen die neue Erfindung, weil sie die Entwicklung von Fortbewegungsmitteln, die dem Menschen nicht von der Natur vorgegeben waren, als Hybris, ja als Gotteslästerung empfand. So hatten die Befürworter der Eisenbahn keinen leichten Stand. Der
Furcht vor sozialem Wandel hielt der Nationalökonom Friedrich List die wirtschaftlichen Möglichkeiten durch die soziale Mobilität der Arbeiterschaft entgegen. Der Unwissenheit versuchte
er, durch genaue Beschreibungen der neuen Erfindungen zu begegnen. „Eisenbahnen oder
Schienenbahnen", so schrieb er 1835 in einem Artikel „Über Eisenbahnen und das deutsche
Eisenbahnsystem", „sind parallel nebeneinander fortlaufende, 3 Fuß 8 Zoll bis 4 Fuß 8 Zoll
voneinander getrennt liegende Geleisebäume (im Englischen Rails) oder Schienen von Eisen
oder auch von Holz auf Steinen, die mit Eisen beschlagen sind, worauf eigens dazu bestimmte
Wagen mit gußeisernen Rädern, welche durch die an ihrer inneren Peripherie befindlichen
Räder oder Kränze stets auf dem flachen Geleise gehalten werden, in beliebiger Schnelligkeit
fortbewegt werden können."
Gegen alle Widerstände und Bedenken kämpfte in Preußen mit bewundernswerter Energie
der in Berlin geborene Justizkommissar J. C. Robert an. Nach Überwindung bürokratischer
Hürden erhielt er auf sein an den König gerichtetes Gesuch am 19. Dezember 1835 die vorläufige Konzession zur Errichtung einer Eisenbahn von Berlin nach Potsdam. Für das Gesuch von
Robert sprach, daß er keine staatlichen Mittel, sondern nur den staatlichen Schutz bei den erforderlichen Grundstückserwerbungen beantragte und den Nachweis der Finanzierung des
Vorhabens durch die Bildung einer Kapitalgesellschaft erbringen konnte. Außerdem hatte
Robert seinem Gesuch ein überzeugendes Baugutachen für die Errichtung der Bahn durch den
Geheimen Oberbaurat Crelle beigelegt.
Die Statuten der 1836 gegründeten Berlin-Potsdamer Eisenbahngesellschaft sahen die Bestellung eines Staatskommissars und nach Amortisation die unentgeltliche Übernahme der Bahn
durch den Staat vor, die freilich erst 1880 erfolgte.
Die Ideenträger Robert und Crelle erlitten ein mehrfach zu beobachtendes Erfinderschicksal:
Bald nach der Gründung der Aktiengesellschaft wurden sie durch Intrigen im Vorstand ausge* Der hier abgedruckte Beitrag ist der geringfügig erweiterte Vortrag, den der Verfasser im Rahmen
einer Festveranstaltung zum 150jährigen Bestehen der Berlin-Potsdamer Eisenbahn am 24. September 1988 in Zehlendorf gehalten hat.
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Potsdamer Bahnhof, ca. 1905
schaltet, so daß sie, als König Friedrich Wilhelm III. am 23. September 1837 durch Allerhöchste Kabinettsordre die endgültige Konzession erteilte, in der Geschäftsführung keine Rolle
mehr spielten.
Kurz vor der Erteilung der endgültigen Konzession war Anfang August 1837 bereits mit den
Erdarbeiten für die Anlage der Bahnstrecke begonnen worden; und schon am 21. September
1838 konnte die Teilstrecke von Potsdam nach Zehlendorf und am 29. Oktober die gesamte
26,4 Kilometer lange Strecke von Berlin nach Potsdam in Betrieb genommen werden.
Der Ausgangsbahnhof in Berlin lag vor dem Potsdamer Tor neben dem alten Dreifaltigkeitsfriedhof. Von dort führte die Strecke über den Schafgraben, den späteren Landwehrkanal, am
östlichen Rand der Dörfer Schöneberg und Steglitz vorbei bis nach Zehlendorf. Lichterfelde
war damals noch ein ganz unbedeutender Ort, und Friedenau gab es noch nicht.
Südlich von Zehlendorf ging die Strecke weiter durch die Machnower Heide, an Kohlhasenbrück und Neuendorf vorbei bis in die Teltower Vorstadt Potsdams. Von dort sollte die Weiterführung der Strecke nach Magdeburg erfolgen.
Einziger Haltepunkt zwischen Berlin und Potsdam war zunächst nur Zehlendorf. Dieser Haltepunkt wurde aber im November geschlossen und erst im Sommer 1839 wieder geöffnet. Zur
gleichen Zeit kamen Haltestellen in Steglitz und Kohlhasenbrück hinzu. Zehlendorf besaß
aber noch keinen Bahnhof. Der Zug hielt nur im Bedarfsfall an der Wärterbude Nr. 25, um Personen aufzunehmen oder abzusetzen.
Der gesamte Bahnbau, einschließlich des Erwerbs der Grundstücke und der Beschaffung der
Fahrzeuge, hat insgesamt 1 Million Taler, nach heutiger Währung etwa 15 Millionen DM, gekostet. Von dieser Summe wurden 88 000 Taler für den Berliner Bahnhof und nur 700 Taler für
die Zehlendorfer Haltestelle aufgewendet.
131
Mit sechs Lokomotiven und vierzig Wagen eröffnete die Eisenbahngesellschaft den Betrieb.
Die Lokomotiven mußten zunächst noch von der englischen Fabrik Robert Stephenson aus
Newcastle bezogen werden. Aus England stammten auch der Werkstattmeister und die Werkstattarbeiter, die jedoch 1840 wegen zu hoher Lohnforderungen entlassen wurden. Erst ab
1846 kamen Lokomotiven von der Maschinenfabrik Borsig.
Die Wagen waren in ihrer Form den Postkutschen nachgebildet. Die Wagen der ersten und
zweiten Klasse waren geschlossen, die der dritten zunächst noch offen und nur mit einem Segeltuch bespannt. Um die Reisenden besser zu schützen, mußten auch sie ab 1840 nach und nach
mit zinkverkleideten Holzflächen versehen werden.
Wegen des geringen Personenaufkommens und vielleicht wegen der Gefährlichkeit des Betriebes wurden morgens die ersten und abends die letzten Züge zunächst von Pferden gezogen.
Aus diesem Grunde hatte der Bahnhof in Berlin neben den Anlagen für den Dampfbetrieb
noch einen Stall für vierzig Pferde.
Die Geschwindigkeit war unterschiedlich. Sie wurde besonders festgelegt für Fahrten am Tage
und in der Dunkelheit sowie bei Nebel und Schnee. Bei Nebel und Schnee durfte die Fahrgeschwindigkeit die eines trabenden Pferdes nicht überschreiten. Erreichten die ersten Lokomotiven nur eine Geschwindigkeit von 40 Stundenkilometern, so waren es bereits wenige
Jahre später 50; bei Dunkelheit mußte die Geschwindigkeit jedoch so ermäßigt werden, daß
die Fahrt mindestens anderthalbmal so lange dauerte wie am Tage. Eine Fahrt von Berlin nach
Potsdam dauerte anfangs in der Regel 40 Minuten, von Zehlendorf nach Berlin 20 Minuten.
Sie kostete für die gesamte Strecke in der ersten Klasse 17Vj Silbergroschen, in der zweiten
12 V2 und in der dritten Klasse 7 '/2, das sind nach heutiger Währung etwa 8,75; 6,25 und 3,75
DM.
Kommen wir nun aber zum Anlaß dieser Gedenkstunde, der feierlichen Eröffnung der Bahnstrecke vor 150 Jahren. Einen Tag vor der Eröffnung der Teilstrecke von Potsdam nach Zehlendorf veröffentlichten die Berlinischen Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen, besser als Haude und Spenersche Zeitung bekannt, folgende Bekanntmachung:
„Auf höhere Anordnung werden hierdurch folgende, für die Benutzung der Eisenbahn
zwischen Potsdam und Zehlendorff maßgebende Bestimmungen zur öffentlichen Kenntniß
gebracht:
1) Die Eisenbahn ist für jetzt ausschließlich der Personen-Beförderung geöffnet. Gepäck
dürfen die Passagiere nur in so weit mitnehmen, als sie solches ohne Unbequemlichkeit
für das übrige Publikum an sich behalten können.
2) Der Eingang zu den Wagen ist dem Publikum bis 10 Minuten vor der zum Abgange bestimmten Stunde geschlossen. Um diese Zeit wird der Verschluß geöffnet, und dies durch
einmaliges Läuten einer Glocke angedeutet. Es treten hieraus die mit einem Billet zur
nächsten Fahrt versehenen Personen ein und nehmen nach Anweisung der die Aufsicht
führenden Wagen-Meister und Wärter ihre Plätze in den Wagen ein. Nach 5 Minuten,
also 5 Minuten vor dem Abgange, wird zum zweiten Mal geläutet, um die etwa noch zurückgebliebenen Passagiere auf die Abfahrt aufmerksam zu machen.
3) Mit dem Schlage der zur Abfahrt bestimmten Stunde, wird zum dritten Male geläutet und
zugleich der zu den Wagen führende Eingang wieder geschlossen. Es wird als dann Niemand weiter zum Mitfahren zugelassen. Die Wagen-Meister und Wärter schließen die
Thüren der Wagen, und nehmen die Plätze auf denselben ein. — Der Wagen-Meister giebt
dem, den Dampf-Wagen führenden Maschinisten ein Zeichen, und der Zug setzt sich in
Bewegung.
132
Blick auf Bahnhof, Kuiiligshof u. Rathaus
Blick auf den Bahnhof Steglitz, ca. 1910
Bahnhof Schlachtensee, ca. 1914
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4) Bei der Ankunft am Bestimmungsorte öffnen die Wagen-Meister und Wärter die Wagen.
Die Passagiere steigen aus und begeben sich unverzüglich aus dem für die Wagen bestimmten Orte, welcher sogleich wieder verschloßen wird.
5) Der Betrieb der Eisenbahn-Beförderung wird nach der Uhr der Garnisonkirche zu Potsdam geleitet.
6) Die Passagiere sollen sich nicht aus den Wagen hinauslegen, auch dieselben zum Ein- und
Aussteigen nicht selbst öffnen, sondern dies den Wagen-Meistern und Wärtern überlassen.
7) Kranke Personen und säugende Kinder können zur Mitreise nicht zugelassen werden.
8) Die Passagiere dürfen Hunde und andere Tiere nicht mit sich führen.
9) Das Tabackrauchen ist nur in der letzten Wagen-Klasse gestattet.
10) Solche Passagiere, welche die für die Aufrechterhaltung der Ordnung gegebenen Vorschriften nicht beachten, oder sich unanständig betragen oder trunken sind, werden von
der Mitreise zurückgewiesen; sie haben sich hierbei den Anordnungen der uniformirten
Aufsichts-Beamten unbedingt zu unterwerfen. — Das schon gezahlte Personengeld kann
in diesem Falle nicht zurückgefordert werden, sondern ist verfallen.
Berlin, den 18. Sept[ember] 1838.
Direction der Berlin-Potsdamer Eisenbahn-Gesellschaft."
In einer zweiten Bekanntmachung lud die Direktion die Berliner zu den ab 22. September
regelmäßig verkehrenden Bahnfahrten von Zehlendorf nach Potsdam ein und organisierte
dazu einen speziellen Kremser-Fuhrdienst vom Brandenburger Tor aus für 5 Silbergroschen.
Endlich war der mit großer Spannung erwartete Tag der ersten Eisenbahnfahrt gekommen,
von dem die Haude und Spenersche Zeitung begeistert berichtete:
„Vom schönsten Wetter begünstigt fand gestern, am 21sten Sept[embe]r, in Gegenwart vieler
Tausender von Zuschauern, welche sich aus Berlin und Potsdam dazu eingefunden, und an
verschiedenen Punkten auf den Seiten der Bahn Posto gefaßt hatten, die feierliche EröffnungsFahrt statt... Zwei Minuten nach 12 Uhr setzte man die Lokomotiven: ,Adler' und ,Pegasus'
mit 16 Wagen, von denen der erste ein Musik-Corps enthielt, unter dem Donner von Kanonen
und dem Jubel der Zuschauer in Bewegung. Zwei und zwanzig Minuten nach 12 Uhr langte der
Zug in Zehlendorf an, die Strecke von 1 % Postmeilen ist also in 20 Minuten zurückgelegt worden. Die Fahrt lief ohne die geringste Störung ab, indem das schaulustige, wie das fahrende Publikum, sich den Anordnungen der Bahn-Beamten, welche sich in ihrer Uniform sehr stattlich
ausnahmen, willig fügte. Auch in Zehlendorf waren Tausende von Neugierigen, zu Fuß, zu
Pferde und in Wagen, versammelt, welche den pfeilschnell herannahenden Zug mit lautem Jubelruf begrüßten und ihre Teilnahme an dem glücklichen Gelingen des Unternehmens freudig
aussprachen."
Bereits fünf Wochen später, am 29. Oktober, fand dann die feierliche Eröffnung der ganzen
Strecke von Berlin nach Potsdam statt. Wieder berichtete der Chronist der Haude und Spenerschen Zeitung voller Bewunderung: „Zur Eröffnungs-Fahrt, an welcher S[eine] Königliche]
Hohfeit] der Kronprinz, so wie sämmtliche hier anwesende Prinzen des königlichen] Hauses
und mehrere hohe Staatsbeamte Theil nahmen, waren von der löbflichen] Direction der
Eisenbahn-Gesellschaft noch 256 Personen eingeladen worden, welche sich gegen 12 Uhr in
der vorderen, von außen mit Blumen und Laubgewinden geschmückten, Halle des zweckmäßig eingerichteten und elegant decorirten Bahnhauses vor dem Potsdamer Thore versammelten. Wenige Minuten nach der bestimmten Zeit setzte man die Lokomotive ,Iris' und ,Pegasus'
mit 11 Wagen, worin sich zwischen 3 und 400 Personen befanden, während ein Corps auf dem
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Locomotiv-Schuppen der Berlin-Potsdamer Eisenbahn in Berlin
Balkon des Empfanghauses lustige Fanfaren ertönen ließ, in Bewegung. Schon in 5 Minuten
erreicht man Schöneberg, in 8 Steglitz, in 7 Zehlendorf, in 14 Kohlhasenbrück, in 4 Nowawes
und in 3 Minuten Potsdam, so daß also die ganze Strecke (3'/2 Postmeilen) in 41 Minuten zurückgelegt war." Das grenzte für die damaligen Beobacher fast ans Wunderbare. „Nach einem
solchen Resultate", fuhr der Chronist fort, „kann man wohl annehmen, daß auch die bisherigen Gegner der Eisenbahnen sich einem Unternehmen zuwenden werden, dessen gestrige, so
glücklich abgelaufene Einweihung in der Geschichte Berlins gewiß ein lichter Moment blei135
ben, und einen riesigen Fortschritt des Verkehrs und National-Wohlstandes bezeichnen wird."
Im Gegensatz zu seinem Vater erkannte der an der Eröffnungsfahrt teilnehmende Kronprinz
die epochemachende Wirkung des neuen Verkehrsmittels und hat das Ereignis mit einem berühmt gewordenen Satz kommentiert: „Diesen Karren, der durch die Welt rollt, wird kein
Menschenarm mehr aufhalten." Friedrich Wilhelm III., der mit seinen Vorstellungen noch im
18. Jahrhundert wurzelte, war skeptischer. Er sah voraus, daß mit der Eisenbahn und der
Geschwindigkeit das Ende des gewohnten Lebensstils gekommen war. „Alles soll Carriere
gehen", sagte er bei Unterzeichnung der Konzessionsurkunde, „die Ruhe und Gemütlichkeit
leidet aber darunter. Kann mir keine große Seligkeit davon versprechen, ein paar Stunden früher von Berlin in Potsdam zu sein. Zeit wirds lehren."
Bei den Berlinern dagegen erfreute sich das neue Verkehrsmittel von Anfang an großer Beliebtheit. Bereits in den ersten Wochen nach der Eröffnung war der Zustrom so stark, daß der
Lokomotiv- und Wagenpark stark vermehrt werden mußte. 1840 beförderte die Bahn bereits
rund 550 000 Personen, und nur noch 77 wurden mit von Pferden gezogenen Schienenfahrzeugen transportiert.
Der Güterverkehr spielte zunächst kaum eine Rolle. Den Einnahmen von rund 175 000 Talern
aus der Personenbeförderung standen 12 500 Taler aus dem Güterverkehr gegenüber. Bereits
zwei Jahre nach der Eröffnung konnte die Gesellschaft einen Reingewinn von 40 Talern verbuchen.
1844 verkaufte die Eisenbahngesellschaft ihre Anteile an die neugegründete Berlin-PotsdamMagdeburger Eisenbahngesellschaft, die den Ausbau der Bahnstrecke von Potsdam nach
Magdeburg in Angriff nahm, der 1848 fertig wurde. In kürzester Zeit war die Eisenbahn zum
Symbol technischen und wirtschaftlichen Fortschritts geworden und brachte besonders den
Menschen der unteren sozialen Schichten ein vorher nie gekanntes Maß an Freiheit und
Gleichheit.
Für die Entwicklung Zehlendorfs bedeutete der Bau der Eisenbahn von Berlin nach Potsdam
eine Zäsur. Immer enger wurde nun sein Schicksal mit der atemberaubenden Entwicklung der
preußischen Hauptstadt verknüpft. Schon die bei der Einweihung hereinströmenden Massen
ließen ahnen, welche Möglichkeiten sich für die Zukunft eröffneten. Verkehrten zunächst nur
vier Züge pro Tag in beiden Richtungen, so waren es vierzig Jahre später mehr als hundert.
Und in jedem darauffolgenden Jahr kamen weitere Züge hinzu.
Da die Bahn zunächst ebenerdig fuhr, mußte der Übergang nach Teltow durch Schranken gesichert werden. 1866 erhielt Zehlendorf ein Bahnhofsgebäude, das bereits 25 Jahr später erneuert werden mußte, als wegen des sprunghaft angestiegenen Verkehrs ein drittes und viertes
Gleis gelegt wurde. Bei dieser Gelegenheit bekam das Dorf eine Unterführung, damit die südlichen Teile ungefährdet erreicht werden konnten.
Die Folge der Verkehrserschließung war eine allmähliche Bevölkerungsvermehrung. Immer
mehr Berliner strebten in die ländliche Idylle Zehlendorfs und forcierten die Bautätigkeit. Zunächst profitierten die Bauern von dieser Entwicklung. Nach anfänglichem Sträuben verkauften sie der Eisenbahn-Gesellschaft Land und konnten mit dem Geld ihre Hypotheken ablösen.
Bald aber wurde der Ort von Spekulanten entdeckt. 1849 und 1858 kauften clevere Potsdamer
Immobilienmakler die Bauerngüter Nr. 9 und 19 auf, parzellierten sie und veräußerten die einzelnen Teile weiter. So entstanden viele kleine Besitzungen entlang der Potsdamer Chaussee.
Ein weiterer wichtiger Schritt in diese Richtung war die Anlage der Wannseebahn. Sie wurde
auf Initiative Wilhelm Conrads und auf Wunsch des Prinzen Friedrich Karl, eines Neffen des
Kaisers, angelegt. Friedrich Karl wünschte eine schnelle Verbindung zu seinem Jagdschloß
Dreilinden, und Wilhelm Conrad, der ab 1869 die Villenkolonie Alsen anlegen ließ, benötigte
136
ihre Anbindung an das Berliner Schienenverkehrsnetz, um potente Käufer von Parzellen aus
dem fernen Berlin anzulocken. Gegen starke Opposition setzte er als Vorsitzender des Aufsichtsrates der Berlin-Potsdam-Magdeburger Eisenbahngesellschaft durch, daß 1874 eine besondere Bahnverbindung zum Wannsee und von dort nach Potsdam gebaut wurde. Sie gilt
übrigens als erste Vorortbahn der Welt.
Die Strecke zweigte kurz nach dem Zehlendorfer Bahnhof ab und führte in großem Bogen am
Schlachtensee vorbei über Wannsee nach Potsdam. Bei Kohlhasenbrück vereinigte sie sich
wieder mit der Stammbahn. Viele Zehlendorfer glaubten nicht an die Rentabilität dieser Linie,
weil sie durch fast unbesiedeltes Gebiet führte, und spotteten über die auf „Conrädern" rollende „Wahnsinnsbahn". Conrad ließ sich jedoch nicht beirren. Er glaubte an das nach der
Reichsgründung mächtig aufstrebende Berlin, und die Entwicklung gab ihm recht.
Durch die Anlage der Bahnhöfe Schlachtensee und Wannsee schaffte die Verbindung langfristig die Voraussetzung für die Erschließung des Zehlendorfer Westens und der Stolper Feldmark. Viele wohlhabende Geschäftsleute, Künstler und Gelehrte entdeckten dort ideale Ansiedlungsmöglichkeiten und ließen sich in Zehlendorf, den Kolonien Alsen und Wannsee sowie später auch in Nikolassee komfortable Villen errichten. In wenigen Jahrzehnten vervielfachte sich die Bevölkerung. Wohnten Mitte der siebziger Jahre etwa 3000 Einwohner auf dem
Gebiet des heutigen Bezirks, so waren es 1914 etwa 33 000.
Wegen der Zunahme des Verkehrs erhielt die Wannseebahn, die bis Zehlendorf die Schienen
der Stammbahn benutzte, 1891 eigene Gleise und in Berlin mit dem Wannseebahnhof eine
eigene Station.
Nach dem schweren Unglück zu Anfang der 80er Jahre im Bahnhofsbereich von Steglitz waren
alle ebenerdigen Bahnübergänge der Strecke durch Tieferlegen der Straßenzüge in Überführungen umgewandelt worden.
Im Jahre 1903 wurde der erste Schnellzug auf der Strecke Wannsee-Zehlendorf-Berlin eingeführt, der ab 1908 als sogenannter „Bankierzug" ab Zehlendorf-Mitte ohne Halt bis Berlin
durchfuhr. So konnten die neuen Bewohner Zehlendorfs, wie es der Chronist Paul Kunzendorf sah, die Freuden des Landlebens genießen, ohne die Vorzüge und den Komfort der Großstadt zu entbehren.
Durch die Anlage der Wannseebahn erhielt die Entwicklung des bis dahin noch ländlich geprägten Zehlendorf zum eleganten Vorort Berlins kräftige Impulse. Diese Entwicklung fand
schließlich ihren Abschluß mit seiner Eingemeindung nach Berlin 1920. Die Weichen dazu
wurden aber bereits vor jetzt 150 Jahren mit dem Bau der Berlin-Potsdamer Eisenbahn gestellt.
Bildnachweis:
Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz (1)
Landesarchiv Berlin (2, 3, 4, 5)
Anschrift des Verfassers:
Dr. Jürgen Wetzel, Karlsbader Straße 2, 1000 Berlin 33
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Berlin als Standort des zentralen Trägers
der Rentenversicherung der Angestellten
Von Hans-Jörg Bonz
Die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA), der zentrale Träger der Rentenversicherung der Angestellten, ist heute aus Berlin nicht mehr wegzudenken. Die Gebäude der BfA
geben dem Geviert zwischen Fehrbelliner Platz, Konstanzer Straße und Preußenpark, der
Nestorstraße sowie dem Hohenzollerndamm beim S-Bahnhof im Bezirk Wilmersdorf ihr eigenes, unverwechselbares Gepräge. Ihr Hochhaus am Hohenzollerndamm gehört zur Silhouette
der Großstadt Berlin. Mit ihren knapp 13 000 Beschäftigten ist die BfA zudem ein nicht zu vernachlässigender Wirtschaftsfaktor in Berlin (West).
Das am 3. Juli 1953 vom Deutschen Bundestag angenommene und am 7. August 1953 in Kraft
getretene Gesetz über die Errichtung der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte bestimmte in seinem § 1, daß die als Träger der gesetzlichen Rentenversicherung der Angestellten
errichtete Bundesversicherungsanstalt für Angesteile ihren Sitz in Berlin hat. Bei rückschauender Betrachtung erscheint diese Regelung als eine Selbstverständlichkeit, denn der zentrale
Träger der Angestelltenversicherung war seit 1912, dem Beginn seiner Existenz, mit der alten
Reichshauptstadt aufs engste verbunden. Die Gründe, die die Bundesregierung veranlaßt hatten, Berlin als Standort der zu errichtenden Bundesversicherungsanstalt für Angestellte zu bestimmen, lagen auf der Hand. Die Entscheidung sollte die Verbundenheit der Bundesrepublik
Deutschland mit Berlin zum Ausdruck bringen und sie noch enger gestalten. Große Erwartungen richtete man ferner auf eine Entlastung des Berliner Arbeitsmarktes, da zu Recht angenommen wurde, daß ein so großer zentraler Versicherungsträger vor allem den zahlreichen arbeitslosen Angestellten in Berlin die Chance eines Arbeitsplatzes bieten werde. Und nicht zuletzt waren in Berlin, dem Sitz der alten Reichsversicherungsanstalt für Angestellte, die Gebäude und Einrichtungen als Grundstock für den neu gebildeten Versicherungsträger BfA vorhanden.
Die mit dem Standort Berlin verbundenen Nachteile konnten allerdings nicht übersehen werden. Die politische Situation im westlichen Teil Berlins erschien vielen als labil und risikobehaftet. Aber nicht diese Bedenken waren es, die die Entscheidung für Berlin nicht ganz so
selbstverständlich werden ließen, wie etwa nach der Begründung der Bundesregierung im
Gesetzentwurf angenommen werden durfte. Berlin als Standort war vielmehr dadurch in Frage
gestellt, daß die Bundesländer im Bundesrat eine Erweiterung des § 1 des Errichtungsgesetzes
dahingehend angeregt hatten, als Unterbau Geschäftsstellen im Bundesgebiet zu errichten, denen die wesentlichsten Aufgaben der Versicherung übertragen werden sollten. Für Berlin erwies es sich als vorteilhaft, daß diese Vorstellungen der Bundesländer nicht realisiert worden
sind.
Wie die von der Bundesregierung für die Wahl des Standorts Berlin gegebene Begründung
zeigt, hatte eine nicht unwesentliche Rolle gespielt, daß in der alten Reichshauptstadt die Gebäude und Einrichtungen der 1945 als zentraler Versicherungsträger der Angestellten stillgelegten Reichsversicherungsanstalt für Angestellte (RfA) noch vorhanden waren. Gerade
diese uns heute gleichfalls als selbstverständlich anmutende engste Verbindung zwischen dem
1912 ins Leben gerufenen zentralen Träger der Angestelltenversicherung und Berlin war jedoch - wie ein Blick auf die Organisationsgeschichte der RfA zeigt - keineswegs unumstritten
gewesen. Da die Entwicklung Berlins auch durch die hier angesiedelten Verwaltungsinstitutio138
nen mit geprägt worden ist, erscheint es nicht uninteressant, sich einmal an dieser Stelle auf die
Anfänge der Verbindung zwischen Berlin und dem zentralen Träger der Angestelltenversicherung zurückzubesinnen.
Berlin als Standort der Reichsversicherungsanstalt für Angestellte
Sowohl der Vorentwurf als auch der am 20. Mai 1911 dem Reichstag zugeleitete Entwurf eines
Versicherungsgesetzes für Angestellte sahen vor, als Träger der Versicherung die Reichsversicherungsanstalt für Angestellte in Berlin zu errichten1. Im Reichstag allerdings stieß diese
Wahl nicht auf ungeteilte Zustimmung. Auf die Frage eines Mitglieds der 16. Kommission über
den Entwurf eines Versicherungsgesetzes für Angestellte, warum nicht eine andere, zentral gelegene Stadt des Deutschen Reiches, die billigere Lebensverhältnisse habe, in Betracht komme,
wurde die Wahl Berlins im endültigen Kommissionsbericht damit begründet, es liege „am zentralsten, weil es am besten von allen Seiten zu erreichen sei"2.
Nicht nur in der Kommission, sondern auch im Plenum des Reichstages regte sich jedoch
Widerstand gegen Berlin als Standort des künftigen Versicherungsträgers. Bedenken gegen die
Wahl Berlins äußerte in der Debatte zu § 97 des Entwurfs u. a. der Abgeordnete Erzberger, der
spätere Reichsfinanzminister in der Weimarer Republik. Für ihn waren fiskalische Erwägungen maßgebend. Würde die Versicherungsanstalt in einem Ort der Klasse II oder III errichtet,
so könnten nach seiner Berechnung jährlich 100 0000 Mark an Wohnungsgeldzuschuß für die
Beamten der RfA gespart werden. Gegen die Wahl Berlins sprach nach seiner Auffassung
auch, daß die Beamten in der Zentrale Berlin täglich nur 6 bis 7 Stunden hindurch arbeiten
würden3.
Die Debatte im Plenum des Reichstags kreiste ferner um die Frage, ob die Festschreibung des
Standortes „Berlin" im Gesetz es ausschlösse, die Versicherungsanstalt in Wilmersdorf, einem
damals noch selbständigen Ort, zu errichten4.
Die Pflege ihres Wählerstammes lag den Reichstagsabgeordneten auch damals schon sehr am
Herzen. Der im Wahlkreis Kassel gewählte Abgeordnete Lattmann brache als Alternativstandort für die zu errichtende RfA Kassel in die Diskussion5. Seinen Reichstagskollegen gab er von
einem an ihn gerichteten Telegramm des Oberbürgermeisters von Kassel Kenntnis, wonach
Kassel bereit war, „zur Erbauung der Reichsversicherungsanstalt Bauplatz je nach Wahl unentgeltlich oder zu billigen Bedingungen zur Verfügung zu stellen".
Für die Reichshauptstadt als Standort der Reichsversicherungsanstalt machte sich der Abgeordnete Stresemann, der spätere Reichskanzler und Reichsaußenminister, stark. Gerade bei einer großen sozialen Institution, die mit der Reichsgesetzgebung zusammenhänge, müsse die
Reichshauptstadt, bei der diese ganze Gesetzgebung in den einzelnen Behörden zusammenlaufe, zunächst und in erster Linie als Standort in Betracht kommen6.
Die für die Wahl Berlins sprechenden Argumente schienen das Plenum des Reichstags überzeugt zu haben. Weitgehende Übereinstimmung bestand auch darin, daß unter „Berlin" in § 97
des Versicherungsgesetzes für Angestellte „nicht die Gemeinde Berlin, sondern Groß-Berlin
mit den Vorortgemeinden verstanden ist"7.
Die vom Abgeordneten Erzberger geäußerte Erwartung, das Beispiel in Kassel möge auch bei
den Vororten Berlins nachgeahmt „und ein recht schöner günstig gelegener Bauplatz für das
Gebäude der Privatbeamtenversicherung von einer Stadt oder einem Vorort Berlins auch gratis zur Verfügung gestellt" werden8, war leider etwas realitätsfremd gewesen.
Als die RfA nach Inkrafttreten der organisationsrechtlichen Bestimmungen des Versiche139
rungsgesetzes für Angestellte am 28. Dezember 1911 im Verlauf des Jahres 1912 ihre Tätigkeit
aufnahm, mußte sie dies in angemieteten, am Hohenzollerdamm und in seinen Seitenstraßen
gelegenen Gebäuden tun. Ein eigenes zentrales Dienstgebäude stand ihr noch nicht zur Verfügung. Bereits am 24. Mai 1913 erwarb die RfA jedoch einen Grundstücksblock am Fehrbelliner Platz in Berlin-Wilmersdorf mit einem Flächeninhalt von ca. 30 000 m2. Einschließlich aller Unkosten belief sich der gesamte Aufwand auf 3 476 000 Mark.
Bis zur Errichtung des — nach Erweiterungen noch heute genutzten — ersten Dienstgebäudes
auf diesem Grundstück vergingen aber weitere 10 Jahre. Zuvor wurde allerdings noch einmal
heftig diskutiert, ob nicht die RfA von Berlin weg in eine andere Stadt des Deutschen Reiches
verlegt werden sollte.
Überlegungen zur Verlegung der RfA
Die Unterbringung des Versicherungsträgers in über 100 angemieteten Wohnungen rund um
den HohenzoUemdamm zwischen der heutigen Bundesallee und dem Fehrbelliner Platz schuf
zunehmend unzuträgliche Verhältnisse. Da die Räumlichkeiten nicht mehr ausreichten, wurde
zunächst von August 1919 bis April 1920 ein Behelfsbau für 700 Bedienstete errichtet. Der
Geschäftsbericht der RfA vermerkte, daß „wesentliche Klagen über die Lehmbauten nicht laut
geworden" seien9. Auch dieser Bau konnte jedoch nur ein Transitorium sein. Konkrete Überlegungen zu einer Verlegung des in Aussicht genommenen Neubaues für die RfA nach Dresden,
Nürnberg oder Stuttgart wurden im Herbst des Jahres 1919 angestellt. Eine aus Gegnern und
Befürwortern einer Verlegung des Sitzes der RfA paritätisch zusammengesetzte Kommission
des Verwaltungsrates der RfA, d. h. des als Legislativorgan fungierenden Selbstverwaltungsgremiums der RfA, besichtigte Alternativstandorte in Dresden, Nürnberg und Stuttgart. Ohne
Kenntnis des Verwaltungsrats schloß sich daran eine Besichtigungsreise von „Vertretern der
höheren Beamtenschaft" an. Ausgelöst worden waren die Überlegungen von der Erwägung,
daß sich durch eine Verlegung des Sitzes der RfA jährlich Gehälter von 75 000 Mark einsparen
ließen. Ferner wurde darauf hingewiesen, bei einer Verlegung — insbesondere bei einem Anschluß Deutsch-Österreichs —ließe sich eine bessere zentrale Lage erreichen, ferner würden die
Baukosten wesentlich niedriger ausfallen. Für einen Umzug spreche ferner „die in Berlin herrschende Unterernährung der gesamten Bevölkerung". Die soziale Stellung der Beamten sei
außerhalb Berlins „eine viel gehobenere"10.
Da nach dem Bezug des Behelfsbaus die Entscheidung, ob und wo ein eigenes Dienstgebäude
zu errichten ist, unumgänglich wurde, nahm man im Frühsommer 1920 die Verhandlungen mit
den Städten Stuttgart, Nürnberg, Dresden und Kassel wieder auf. Maßgebliche Gesichtspunkte bei den Besprechungen waren die Möglichkeiten der Beschaffung der Baumaterialien,
die Höhe der Kosten des Neubaus und auch die Frage, ob durch Übersiedlung des Beamtenkörpers „die Lebensbedingungen der Beamten der Anstalt verbessert werden könnten".
Nach lebhaften Auseinandersetzungen wurde schließlich die Verlegung des Dienstsitzes der
RfA nach Dresden in Aussicht genommen. Den Ausschlag für die Entscheidung, doch in Berlin zu bleiben und auf dem bereits 1913 erworbenen Baugrundstück den Neubau zu errichten,
gab dann aber das Angebot, vom Wohnungsverband Berlin zu Vorzugspreisen die erforderlichen Bausteine zu erhalten und nach dem Vorschlag eines Mitglieds des Verwaltungsrats die
Abwärme der Gasanstalt Schmargendorf" zur billigen Beheizung des Neubaus auszunutzen12.
Der für Herbst 1920 vorgesehene Beginn des Neubaus verzögerte sich jedoch, da das Reichsarbeitsministerium seine Genehmigung noch von der Auskunft abhängig gemacht hatte, „ob der
140
Verwaltungsrat auch volle Klarheit über die zu erwartenden Kosten ggf. über 27 Mio. habe" 13 .
Nach Ausräumung dieser Schwierigkeiten konnte dann Mitte Februar 1921 der erste Spatenstich erfolgen. Die Planung beschränkte sich auf die Bebauung des Grundstücksteils von der
Westfälischen Straße zu der Straße 5 (heute Ruhrstraße), so daß „die wertvolle Ecke am Fehrbelliner Platz für spätere anderweitige Verwendung frei" gelassen wurde. Entsprechend der zu
erwartenden Reduzierung des Beamtenkörpers der Rf A war das Bauprogramm auf Räumlichkeiten für 1500 Beamte eingeschränkt worden14.
Am 14. April 1921 fand — wie der Geschäftsbericht vermerkt - „in einer den Zeiten entsprechenden schlichten Form" die Grundsteinlegung des Dienstgebäudes statt15. Eine unliebsame
Überraschung ergab sich allerdings bei den Baukosten. Da die Löhne Ende 1921 auf das Dreifache der Januar-Löhne 1921 und die Materialpreise sogar um das Drei- bis Fünffache gestiegen waren, wurde deutlich, daß die Ende 1920 auf 27 Mio. Mark veranschlagten Baukosten —
trotz der sich aus frühzeitigen Vertragsabschlüssen ergebenden Ersparnisse — auf etwa das
Dreifache emporschnellen würden16. Daran vermochte auch nichts zu ändern, daß nach dem
Bauplan „im Innern... eine schlichte, einfache und würdige Architektur, die unseren Zeitverhältnissen entspricht, vorgesehen" war17.
Da der Rohbau noch vor dem großen Sturz der Mark beendet worden war, ließ sich im Geschäftsbericht für das Jahr 1922 mit Beruhigung feststellen, daß sich die gesamten Baukosten
für den Neubau „in erträglicher Höhe" halten werden18.
Nach 22monatiger Bauzeit konnte der Neubau dann ab April 1923 bezogen werden. Die gesamten Baukosten betrugen infolge der einfachen Ausstattung des Gebäudes19 nur knapp über
1 Mio. Goldmark. In den fünf Hauptgeschossen und im ausgebauten Dachgeschoß war — entgegen der ursprünglich vorgesehenen Einschränkung — dann doch Platz für 2500 Beamte. Da
jedoch infolge des Beamtenabbaus zahlreiche Büroräume nicht genutzt werden konnten, vermietete die RfA einen Teil des Gebäudes 20 .
Mit dem Einzug in den Neubau wurden mehr als 100 Wohnungen in Wilmersdorf frei gemacht,
die nun dem Wohnungsmarkt zur Verfügung standen21.
Anmerkungen
1 Vgl. § 99 des Vorentwurfs; § 97 des Entwurfs (Reichstags-Drucksache Nr. 1035, 12. Legislaturperiode, II. Session 1909/11).
2 Vgl. Bericht der 16. Kommission über den Entwurf eines Versicherungsgesetzes für Angestellte,
Reichstags-Drucksache Nr. 1198, erstattet am 18. November 1911, S. 29.
3 Vgl. stenografische Berichte der 214. Sitzung des Reichstags am 1. Dezember 1911,12. Legislatuperiode, II. Session 1909/11 S.8231 f.
4 Ebenda, S. 8233, 8236.
5 Ebenda, S. 8233 A.
6 Ebenda, S. 8234.
7 Ebenda, S. 8235.
8 Ebenda, S. 8235.
9 Bericht des Direktoriums der RfA über das Geschäftsjahr 1920, S. 5
10 Vgl. Bericht über die Besichtigungsreise nach den angebotenen Bauplätzen, erstattet von dem
Mitglied des Bauausschusses A. Hering.
11 Dieser Vorschlag konnte dann allerdings nicht realisiert werden, da die Gasanstalt Schmargendorf
„infolge großer UnWirtschaftlichkeit, die durch den starken Rückgang des Gasverbrauchs verursacht wurde",im April 1922 stillgelegt worden war. Die RfA konnte jedoch erreichen, daß der
Magistrat von Berlin die sich aus dem bereits geschlossenen Vertrag ergebenden Vergünstigungen
in anderer Form gewährte (vgl.Bericht des Direktoriums der RfA über das Geschäftsjahr 1921,
S.4).
141
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
Vgl. Bericht des Direktoriums der RfA
Ebenda, S. 6.
Ebenda, S. 6.
Vgl. Bericht des Direktoriums der RfA
Ebenda, S. 4.
Ebenda, S. 6.
Vgl. Bericht des Direktoriums der RfA
Vgl. Bericht des Direktoriums der RfA
Ebenda, S. 15.
Vgl. Bericht des Direktoriums der RfA
über das Geschäftsjahr 1920, S. 6.
über das Geschäftsjahr 1921, S. 4.
über das Geschäftsjahr 1922, S. 9
über das Geschäftsjahr 1923, S. 15.
über das Geschäftsjahr 1922, S.9.
Anschrift des Verfassers:
Hans-Jörg Bonz, Söhtstraße 10, 1000 Berlin 45
„Mit der Brotkarte zur Wahl"
Eine Erinnerung an die ersten freien Berliner Nachkriegswahlen
anläßlich des Wahltages am 29. Januar 1989
Von Karl-Heinz Bannasch
„Berliner Wähler! Aus Kontrollgründen müssen sich alle Wähler, die eine Lebensmittelkarte
haben, mit dieser im Wahllokal einfinden."1 Mit diesem für heutige Zeiten ungewöhnlichen
Aufruf wandte sich die Alliierte Kommandantur zwei Tage vor den Wahlen zur Stadtverordnetenversammlung am 20. Oktober 1946 an die Berliner.
Während heute die Wahlberechtigung anhand des Personalausweises geprüft wird, besaßen ein
Jahr nach Kriegsende noch nicht alle Berliner ein solches Dokument. Die effizienteste Kontrolle ging über die Essensberechtigung. Die Wahlen am 20. Oktober 1946 waren die letzten
freien Wahlen in Groß-Berlin, wahlberechtigt waren alle Berlinerinnen und Berliner, die das
21. Lebensjahr vollendet hatten. Es waren zugleich die letzten freien Wahlen zu den Landtagen
in der Sowjetischen Besatzungszone. Die Erwartungen an die Wahlen zur Berliner Stadtverordnetenversammlung waren groß.
Die Londoner Times knüpfte an die Wahlen zur Stadtverordnetenversammlung — die Vorgängerin des Abgeordnetenhauses — eine Signalwirkung für ganz Deutschland. Allgemein wurden
die Wahlen als eine Testwahl zwischen der kommunistischen Partei, die sich in Berlin inzwischen Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) nannte, und der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) angesehen. Sie war in der Sowjetischen Besatzungszone
außerhalb Berlins ein halbes Jahr vorher mit der KPD zur SED zwangseingegliedert worden, so
daß ein Kräftemessen östlich der Elbe bisher nicht hatte stattfinden können.
Die SED hatte im Jahr zuvor zusammen mit der Besatzungsmacht der sowjetischen Zone eine
großangelegte Bodenreform vollzogen. Aller Besitz über 100 Hektar war entschädigungslos
enteignet, in 20-Hektar-Höfe parzelliert und an sogenannte „Neubauern" übergeben worden.
Die ehemaligen Besitzer mußten den Landkreis verlassen. In den Betrieben sogenannter „ehemaliger Nazis" war es immer wieder zu ungerechtfertigten Übergriffen gekommen. Im Zuge
der Zwangsvereinigung von KPD und SPD zur SED wurden viele SPD-Funktionäre, die nicht
in den Kommunisten aufgehen wollten, verhaftet und in Interaierungslagern festgesetzt. Bei
den Wahlen am 20. Oktober 1946 hoffte die SED, die absolute Mehrheit in Berlin und in der
142
Stadtverordnetenwahl am 20. Oktober 1946: Wahlpropaganda im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg
(Schönhauser Allee), Foto Landesbildstelle.
sowjetischen Zone zu erhalten. Zumindest aber werde sie, erklärte ihr Parteivorsitzender, der
spätere DDR-Präsident Wilhelm Pieck, „mit ihren Wahlstimmen an der Spitze aller Parteien
marschieren".2 Spitzenkandidat der SED war der 54jährige Max Fechner, ehemaliger Sozialdemokrat, der später Präsident der Justizverwaltung der SBZ werden sollte.3
Die SPD eröffnete ihren Wahlkampf am 2. August mit drei aufeinanderfolgenden Veranstaltungen im Ostsektor Berlins.4 Ihr Vorsitzender Franz Neumann erklärte, die Pflicht der Sieger
sei es, in Deutschland die Menschenrechte wieder zur Geltung zu bringen, um derentwillen der
Krieg geführt worden war. Anstelle des Kapitalismus forderte die SPD eine planmäßig gelenkte Wirtschaft. Eine besondere Rolle wies sie den Gewerkschaften zu. Sie sollten Träger
neuer Wirtschaftsorgane werden und bei der Planung und Lenkung des Wiederaufbaues sowie
der Heranbildung eines wirtschaftlichen Führungsnachwuchses tätig werden. Franz Neumann,
der 42jährige Spitzenkandidat, war in der Weimarer Republik Funktionär der Metallarbeiterjugend gewesen und wurde in der NS-Zeit wegen Widerstandes monatelang inhaftiert.5
Anders die Liberal-Demokratische Partei (LDP). Auf einer zentralen Wahlversammlung im
gleichen Monat rief ihr Berliner Vorsitzender Carl-Hubert Schwennicke aus: „Wir wollen
nichts mit Sozialismus zu irgendwelchen Schattierungen zu tun haben." 6 Die LDP sei sozial,
aber nicht sozialistisch eingestellt. Die Liberaldemokraten hoben die fruchtbare Eigeninitiative
von Unternehmern und Handwerkern hervor. Auf die Dauer könnten Privateigentum und
Marktwirtschaft eine gesunde Volksdemokratie in Deutschland gewährleisten. Es gelte, kapi143
talistisch zu produzieren, so die LDP, und sozial zu verteilen. Spitzenkandidat der LiberalDemokratischen Partei bei den Stadtverordnetenwahlen 1946 war der LDP-Vorsitzende der
Sowjetischen Besatzungszone, Wilhelm Külz. Der 76jährige war seit Mitte der dreißiger Jahre
in Berlin ansässig, 1926/27 Reichsinnenminister, amtierte er zuletzt als Oberbürgermeister
von Dresden, wo er sich 1933 weigerte, auf Begehren der Nationalsozialisten die Hakenkreuzfahne auf dem Rathaus zu hissen, und deshalb aus dem Amt entfernt wurde.7
Im Gegensatz zu heute vertrat die Christlich-Demokratische Union (CDU) kurz nach dem
Krieg einen „Sozialismus aus christlicher Verantwortung".8 Sie wollte Planung und Privatwirtschaft mischen, befürwortete das Gemeineigentum der Schlüsselbetriebe. Der Marxismus,
erklärte der CDU-Zonenvorsitzende Jakob Kaiser im Wahlkampf, habe in Wirtschafts- und
Sozialfragen „ein gutes Stück sehender Mensch gemacht", vom Marxismus trenne die CDU
jedoch die Ablehnung vom Klassenkampf und Klassendiktatur. Klare marktwirtschaftliche
Ziele übernahmen die Christdemokraten erst später von den Liberalen.
Jakob Kaiser führte auch die CDU-Kandidaten zur Stadtverordnetenversammlung an. Der
58jährige war in den zwanziger Jahren christlicher Gewerkschaftsfunktionär im Rheinland. Im
Dritten Reich gehörte Kaiser zur Widerstandsgruppe des Kreisauer Kreises um Helmuth von
Moltke und mußte sich nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 verborgen halten.9
Während in den Berliner Westsektoren Amerikaner, Briten und Franzosen darauf achteten,
daß alle Parteien im Wahlkampf gleiche Chancen hatten, wurde die SED im sowjetischen
Sektor der der Stadt massiv bevorzugt. So stand etwa die Hälfte der dortigen Plakatwerbeflächen allein der SED zur Verfügung. In der S-Bahn und den in Ost-Berlin eingesetzten Bussen
und Straßenbahnen der BVG konnte die SED sogar die gesamte Werbefläche belegen. Auch
in der Zuteilung von Zeitungspapier wurden die bürgerlichen Parteien LDP und CDU mit
ihren in Ost-Berlin ansässigen Parteiblättern kraß benachteiligt. Nicht gerade zimperlich gingen die Kommunisten damals mit ihren politischen Gegnern um. Auf Kundgebungen tauchten
wiederholt SED-Rollkommandos auf, um die Versammlungen zu sprengen. Die LDP, SPD
und CDU mußten sich immer wieder etwas Neues einfallen lassen, damit ihre Plakate nicht
nächtlich von den Wänden verschwanden.10
Besonders schlimm waren die Wahlbehinderungen in der Sowjetischen Besatzungszone. Hier
kandidierten nicht nur SED, CDU und LDP, sondern auch die kommunistisch beeinflußten
Massenorganisationen, wie z. B. die Freie Deutsche Jugend (FDJ) oder der Gewerkschaftsbund. Die Sowjetische Militäradministration hatte gegen mehrere bürgerliche Spitzenpolitiker, u. a. den stellvertretenden Vorsitzenden der Zonen-LDP Arthur Liutenant, Redeverbote
erteilt." Besonders hart wurde der LDP-Spitzenkandidat Brandenburgs, der aus dem Spandauer Norden stammende 36jährige Wilhelm Falk, getroffen. Daß er als Widerständler gegen
den Nationalsozialismus von den Sowjets verdächtigt wurde, Nazi-Propaganda betrieben zu
haben, kostete ihn die Kandidatur in der Mark.12
Aber auch andere Benachteiligungen wurden aus der sowjetischen Zone gemeldet. So wurden
im Kreis Teltow mehrere 100 Parteimitglieder der CDU und LDP noch vor dem Wahltag zu
Arbeitseinsätzen in verschiedene Landkreise verpflichtet, damit die SED hier konkurrenzlos
siegen konnte.13 In Beeskow, nahe Frankfurt an der Oder, verhafteten die Sowjets den CDUOrtsvorsitzenden, weil er ein Plakat der SED, mit dem diese ein CDU-Schild überklebt hatte,
wieder entfernt hatte.14
Schon am Abend des 20. Oktober wurde deutlich, daß der Berliner Wahlsieger bei außerordentlicher Wahlbeteiligung (92,3 %) nicht die SED, sondern die SPD war. Am Tag darauf lagen die vollständigen Wahlergebnisse vor; die Sozialdemokraten hatten in Berlin 48,7 %, die
CDU 23,2 %, die SED 19,8 % und die Liberaldemokraten 9,3 % der Stimmen erhalten. Bei
144
den Landtagswahlen in der sowjetischen Zone wurde die SED durch die massiven Wahlbeeinflussungen stärkste Partei, zweitstärkste Partei wurde die LDP, die CDU landet auf dem dritten Platz.15
Das gute Abschneiden der Sozialdemokraten und der bürgerlichen Parteien bei den Berliner
Wahlen, auch in den klassischen Arbeiterbezirken, verursachte bei den am Wahlabend in
ihrem Parteihaus in Berlin-Mitte versammelten SED-Spitzenfunktionären einen Katzenjammer. Die Bekanntgabe der Wahlergebnisse an die vor dem Haus versammelten Menschen über
Lautsprecher wurde vorzeitig abgebrochen. Der Chefredakteur des SED-Organs „Neues
Deutschland", Lex Ende, stöhnte: „Ich muß morgen den Leitartikel schreiben. Was soll ich
denn bloß schreiben?" Einer hatte Galgenhumor: „Schreib doch: Alles im Eimer!"16
Als am 26. November 1946 die neugewählten Volksvertreter erstmals im Neuen Stadthaus in
der Parochialstraße (Stadtbezirk Mitte) zusammentraten, war dies die erneute Geburtsstunde
der Demokratie in Berlin. Als erster Vorsteher der Stadtverordnetenversammlung wurde Dr.
Otto Suhr, SPD, gewählt.
In Ost-Berlin mußte die SED eine Anzahl von Bezirksbürgermeistersesseln räumen. Als Berliner Oberbürgermeister wählten die neuen 130 Stadtverordneten Otto Ostrowski, SPD.17
Auch im Magistrat verlor die SED bis auf drei Positionen alle innegehabten Ämter. Nach
diesem Ergebnis wurden die für 1948 vorgesehenen Wahlen in der sowjetischen Zone auf
Weisung der Sowjets verschoben.
Seit 1950 werden die Wahlen in der DDR und Ost-Berlin nur noch nach einer Einheitsliste mit
vorher festgelegtem Parteien- und Organisationsschlüssel durchgeführt und die Vorherrschaft
der SED gesichert.
Im Westteil der Stadt finden dieses Jahr die 13. Wahlen statt.
Anmerkungen
1 Telegraf vom 19. Oktober 1946 (brit. Lizenzierung).
2 Wolfgang Leonhard: Die Revolution entläßt ihre Kinder, Berlin (West) 1967, S. 370.
3 SBZ - Ein Taschen- und Nachschlagewerk über die Sowjetische Besatzungszone Deutschlands
von A - Z , Bonn 1954; Max Fechner: 27. Juli 1892 in Rixdorf (Berlin) geb., 13. September 1973
in Berlin (Ost) gest., Werkzeugmacher.
4 Telegraf vom 3. August 1946.
5 Wilhelm Kosch: Biographisches Staatshandbuch, fortgeführt von Eugen Kuri, 2. Band, Berlin
(West), 1963; Franz Neumann: 14. August 1904 in Berlin geb., 9. Oktober 1974 in Berlin (West)
gest., Schlosser.
6 Telegraf vom 30. August 1946; seit Ende 1948 im Westteil der Stadt FDP.
7 Armin Behrendt: Wilhelm Külz, Aus dem Leben eines Suchenden, Berlin (Ost) 1968; Wilhelm
Külz: 18. Februar 1875 in Borna/Leipzig geb., 10. April 1948 in Berlin gest., Jurist
8 Flugblätter der Berliner CDU, Landesarchiv Berlin Rep. 240, Acc. 2782, Nr. 699 u.707.
9 wie Anm. Nr. 5; Jakob Kaiser, 8. Februar 1888 in Hammelburg/Franken geb., 7. Mai 1961 in
Berlin (West) gest., Gewerkschaftsfunktionär.
10 Peter Bloch: Zwischen Hoffnung und Resignation, Köln, 1986; aber auch alle im Westteil Berlins
erschienenen Tageszeitungen berichten von massiven Behinderungen und Nachteilen für die
SPD, CDU und LDP; Der Kurier vom 17.und 19. Oktober 1946 (frz. Lizenzierung); z. B.: die
LDP erhielt in der SBZ 4,5 Tonnen, die SED 80 Tonnen Papier zugeteilt.
11 Telegraf vom 14. September 1946.
12 Archiv des deutschen Liberalismus (AdL), Nr. 6763.
13 Telegraf vom 20. Oktober 1946.
14 Telegraf vom 14. September 1946.
15 Berlin in Zahlen 1946-1947, Berlin 1949, S.432 ff.
16 Wolfgang Leonhard: Anm. 2, Seite 371.
145
17 Berlin, Quellen und Dokumente 1945-1951,2. Halbband, Berlin (West) 1964, S. 1145 ff.; Otto
Ostrowski, 28. Januar 1883 geb., 19. Juni 1963 Berlin (West) gest.
Zu den Anmerkungen 3 bis 9: Die Wahlaufrufe der SPD, SED, CDU und LDP sind in: Berlin, Quellen und Dokumente 1945-1951, 1. Halbband, Berlin (West) 1964, S. 1127-1134 abgedruckt.
Anschrift des Verfassers:
Karl-Heinz Bannasch, Hasenmark 22, 1000 Berlin 20
Anhang
Ergebnisse der Wahlen zur Stadtverordnetenversammlung von Berlin
und zu den Bezirksverordnetenversammlungen vom 20. Oktober 1946
Stadtverordnetenversammlung:
SPD
SED
CDU
LDP
48,7%
63 Mandate
19,8%
26 Mandate
23,2%
29 Mandate
9,3%
12 Mandate
Bezirksverordnetenversammlungen:
Bezirk
Anzahl der Mandate
SPD
SED
CDU
LDP
Mitte
Tiergarten
Wedding
Prenzlauer Berg
Friedrichshain
Kreuzberg
Charlottenburg
Spandau
Wilmersdorf
Zehlendorf
Schöneberg
Steglitz
Tempelhof
Neukölln
Treptow
Köpenick
Lichtenberg
Weißensee
Pankow
Reinickendorf
40
40
45
45
40
45
45
40
40
30
40
40
40
45
40
40
40
30
40
40
20
22
24
21
19
26
22
23
19
12
20
18
21
26
17
15
17
13
17
22
11
5
11
14
13
7
4
4
2
2
4
3
3
8
12
12
12
9
11
7
7
10
8
7
6
9
13
9
13
12
11
13
11
8
8
9
8
6
8
8
2
3
2
3
2
3
6
4
6
4
5
6
5
3
3
4
3
2
4
3
Quelle: Berlin in Zahlen 1946-1947, Berlin, 1949
146
Wahlbeteiligung und abgegebene Stimmen für die Parteien
Bezirk
Mitte
Tiergarten
Wedding
Prenzlauer Berg
Friedrichshain
Kreuzberg
Charlottenburg
Spandau
Wilmersdorf
Zehlendorf
Schöneberg
Steglitz
Tempelhof
Neukölln
Treptow
Köpenick
Lichtenberg
Weißensee
Pankow
Reinickendorf
Wahlbeteiligung
%
91,3
91,5
91,2
93,6
94,5
93,2
88,2
92,4
90,3
88,2
91,2
91,1
92,4
92,3
92,3
94,5
94,6
94,8
94,4
92,9
SPD
%
SED
%
47,7
53,4
53,1
45,3
46,1
56,4
48,0
56,4
46,6
41,2
49,6
44,8
51,8
56,4
40,7
38,0
43,3
40,9
42,4
51,9
28,5
13,8
23,4
30,6
31,0
15,0
10,4
11,0
6,3
6,8
9,9
7,2
9,3
18,1
31,1
29,2
28,9
30,9
28,0
18,2
CDU
%
LDP
%
17,6
24,5
17,6
17,1
16,6
21,1
29,1
22,4
31,3
38,9
28,2
32,1
26,9
17,6
19,3
22,8
20,2
20,5
18,9
20,9
6,2
8,3
5,9
7,0
6,3
7,5
12,5
10,2
15,8
13,1
12,3
15,9
12,0
9,9
8,9
10,0
7,6
7,7
10,7
9,0
Die hier erfolgte Wiedergabe der Prozentzahlen ist das Wahlergebnis für die Stadtverordnetenversammlung, eine Wiedergabe für die Bezirksverordnetenversammlungen erübrigt sich,
da sie nur unbedeutend abweichen.
Quelle: Berlin in Zahlen 1946-1947, Berlin, 1949
Die massiven Beeinträchtigungen im Wahlkampf im Ostteil der Stadt lassen sich auch am
Wahlergebnis ablesen. In keinem der Ostberliner Bezirke konnte die SPD die absolute Mehrheit erringen, wogegen die SED ihre acht besten Ergebnisse in den acht Ostbezirken erzielen
konnte.
Auch in der Wahlbeteiligung, insgesamt 92,3 % (2 085 338 abgegebene Stimmen), ist ein
leichtes Übergewicht der Ostberliner Bezirke festzustellen (die drei Bezirke mit der höchsten
Wahlbeteiligung sind Weißensee, Friedrichshain und Pankow).
Wahlbeteiligung nach alliierten Sektoren
sowj. Sektor
93,8%
brit. Sektor
90,3%
amerik. Sektor
91,8%
frz. Sektor
91,3%
Quelle: Berlin in Zahlen 1946-1947, Berlin, 1949
147
Im Rückblick: Das „Gesamtarchiv der deutschen Juden" in Berlin
Direktor Dr. Jacob Jacobson wäre kürzlich 100 Jahre alt geworden
Von Ernst G. Lowenthal
Es ist etwas mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen, seit der Leiter des Gesamtarchivs der
deutschen Juden in Berlin mit einem Appell „Schützt Euer Archivgut!" vor die jüdische Öffentlichkeit trat. „Jeder Archivbestand und jeder Archivzugang wird danach bewertet, was er
an personen- und familiengeschichlich Bedeutsamem und Auswertbarem enthält", hieß es da.
In erster Linie sind es die Personenstandsregister, in denen die Geburten, Trauungen und Sterbefälle eingetragen sind. Hinzukommen Gräberverzeichnisse, Steuer- und Wählerlisten, Schüler- und Gewerbeverzeichnisse, Musterrungsrollen und Register über den Erwerb der Synagogenplätze, Akten mit Personalnotizen. Sie alle werden, so hieß es weiter, dem willkommen sein,
der den Spuren seiner Vorfahren nachgeht und Nachweisungen über Leben und Stellung seiner
Eltern beizubringen hat. Aus diesem Zitat geht hervor, daß man schon damals bestrebt war, das
Archivgut jüdischer Gemeinden „vor sinnloser Verzettelung zu bewahren". Das war nicht der
erste Aufruf dieser Art. Der seit 1933 im Gang befindliche Prozeß der Verkleinerung und Auflösung jüdischer Gemeinden hatte schon früher ähnliche Appelle ausgelöst.
In die Gegenwart, in der von alten, als verschollen geltenden Archivalien die Rede ist, aber
auch von dem Problem neuzuschaffender jüdischer Archive, fällt der Tag, an dem der wohl
prominenteste Archivar im früheren deutschen Sprachgebiet 100 Jahre alt geworden wäre. Wir
sprechen von Dr. Jacob Jacobson, der am 27. November 1888 als Sohn des späteren Gnesener
Rabbiners Dr. Moses Jacobson in Schrimm in der ehemaligen Provinz Posen zur Welt kam und
am 31. Mai 1968 während eines Erholungsaufenthaltes in Bad Neuenahr gestorben ist. Noch
sehe ich den mittelgroßen, leicht untersetzten Mann mit schütterem Haar in seinem blauen Arbeitskittel leibhaftig vor mir. Es mag im Sommer 1931 gewesen sein, daß in der Oranienburger
Straße 29 in Berlin viele ältere Akten des 1893 gegründeten Central-Vereins deutscher Staatsbürgerjüdischen Glaubens an das Gesamtarchiv abgegeben wurden. Diese zum Teil historischpolitisch wertvollen Bestände sollten später einmal im Gesamtarchiv der wissenschaftlichen
Forschung zur Verfügung stehen. Ich war Zeuge dieses Übergabeaktes, der nicht mein letzter
Besuch in Jacobsons Wirkungsstätte sein sollte.
Dieser Mann, der aus traditionell jüdischem Hause stammte, hatte an verschiedenen deutschen
Universiäten Geschichte, aber auch Germanistik und benachbarte Fächer studiert und war
schon durch seine Doktordissertation über „Die Stellung der Juden in den 1793 und 1795 erworbenen Povinzen zur Zeit der Besitznahme" für die Übernahme der Leitung des Gesamtarchivs 1920 geradezu prädestiniert. Das Gesamtarchiv war 1905 von einigen jüdischen Großgemeinden, dem Deutsch-Israelitischen Gemeindebund und den Bne-Brith-Logen ins Leben
gerufen worden. Bis 1919 war es von dem späteren Heidelberger Professor Eugen Täubler
(1879—1953) fast 15 Jahre lang betreut worden. Dem Leiter stand, jedenfalls war es so im Jahre
1926, ein lököpfiges Kuratorium zur Seite, das sich aus jüdisch-historisch interessierten Persönlichkeiten zusammensetzte.
Jacobson blieb lange auf seinem Posten. Schon bis 1935 war es ihm mit Fleiß und Ausdauer
gelungen, die Akten von etwa 400 jüdischen Gemeinden aus allen Gegenden Deutschlands im
Gesamtarchiv unterzubringen. In einem Rückblick auf die ersten 30 Jahre der Tätigkeit des
Gesamtarchivs, veröffentlicht im Gemeindeblatt der Berliner Jüdischen Gemeinde vom
3. November 1935, konnte Jacobson dies feststellen: „Die Neugestaltung des Lebens in
148
Deutschland und parallel dazu das Anschwellen des bereits wachgerufenen familiengeschichtlichen Interesses stellten das Gesamtarchiv vor die Bewährungsprobe. Es darf wohl gesagt werden, daß es diese bestanden hat... In Sprechstunden und Briefen, von Behörden und Privatpersonen werden in einer nicht abreißenden Kette dem Gesamtarchiv Anfragen zugeleitet, um
deren Erledigung es sich in ungemein angespannter Arbeitsleistung bemüht."
Als nach den Novemberpogromen von 1938 Dr. Jacobson 1939 mit seiner Frau und seinem
Sohn Amram auswandern wollte, versagte ihm die Gestapo die Ausstellung eines Reisepasses
und damit die Ausreise, während seine Angehörigen sich noch rechtzeitig und unversehrt nach
England retten konnten. Sie taten das in der Hoffnung, bald mit Mann und Vater wieder vereint
sein zu können. Aber es kam anders. Dr. Jacobson saß im Gesamtarchiv in einer für das „rasseforschende" Reichssippenamt allzu interessanten Stelle. Für das herrschende Regime war er,
zumal er hebräische Urkunden lesen und entziffern konnte, unentbehrlich, ja „staatspolitisch
wertvoll". Diese durch sein Spezialwissen begründete Position war delikat und gefährlich, aber
konnte sich Jacobson wehren? So blieb er sozusagen als „Gefangener der Behörden" in Berlin.
Im Mai 1943 wurde er deportiert und das Gesamtarchiv für das Reichssippenamt beschlagnahmt. Jacob Jacobson wurde nicht nach dem Osten, sondern mit dem letzten, dem 94. Berliner Transport nach Theresienstadt verschleppt. Entscheidend dafür war sicherlich die Tatsache, daß er ein Schwerbeschädigter des Ersten Weltkrieges war.
1945 gehörte er zu den verhältnismäßig wenigen Menschen, die diese „Pforte zum Tod" überstanden hatten. „Terezin - The Daily Life 1943-1945" heißt sein kleiner, nüchterner Bericht,
den er im darauffolgenden Jahr in London dem „Jewish Central Information Office", dem
Vorläufer der „Wiener Library", vorlegte. Auch das erste Kapitel dieser Schrift, in dem er die
Tage beschrieb, die er in der Großen Hamburger Straße in Berlin bis zu seiner eigentlichen
Deportation verbrachte, sind für die Nachwelt außerordentlich aufschlußreich geblieben.
Das Fach- und Interessengebiet des Historikers Jacobson war weit und keineswegs auf Archivsachen beschänkt. Es umfaßt die Geschichte der Juden vornehmlich in Preußen und da wiederum in den Provinzen Posen, Brandenburg und Hessen sowie in Berlin. Lange hat er nicht
nur in den „Mitteilungen des Gesamtarchivs", sondern in beträchtlichem Umfang auch in der
einst so vielgestaltigen jüdischen Zeitungs- und Zeitschriftenpresse Deutschlands die Ergebnisse seiner mannigfachen Forschungen niedergelegt. Außerdem gab er, gemeinsam mit Dr.
Jacob Segall (1883—1959), das „Jüdische Jahrbuch für Groß-Berlin" heraus. Natürlich war er
auch Mitarbeiter des fünfbändigen „Jüdischen Lexikons". Ein Unikum ist die in meinem Besitz
befindliche Umbruchkorrektur des von Jacobson minutiös zusammengestellten „Naturalisationsverzeichnisses der Stadt Posen 1834-1848", das 1938 in der Zeitschrift für die
Geschichte der Juden in Deutschland nicht mehr erscheinen konnte, weil diese von den Nazis
am 10. November schlagartig verboten wurde — wie alle anderen periodischen jüdischen Veröffentlichungen.
Auch in den letzten 23 Jahren seines Lebens war er, selbst wenn er, naturverbunden, wie er stets
gewesen war, in Worcester in der „englischen Provinz" lebte, zurückgezogen, unauffällig still,
praktisch unausgesetzt mit seinen soliden, gründlichen Kompilationen und Darstellungen beschäftigt. Das galt nicht allein für das Leo-Baeck-Institut, dessen Londoner Vorstand er angehörte. Sein Forschergeist hat ihn nie ruhen lassen. Wer in seinem 1962 erschienenen „Judenbürgerbüchern der Stadt Berlin 1809—1851" (Veröffentlichungen der Berliner Historischen
Kommission, Bd. 4) nur einmal geblättert hat, weiß zu ermessen, wieviel „alte" und „neue" Arbeit in diesem Werk steckt. Das Manuskript dieses Werks war von Jacobsons Angehörigen unter großen persönlichen Opfern rechtzeitig nach England gerettet worden. Das gilt auch für das
Manuskript seiner zweiten, auf seine Wirksamkeit als Archivar in Berlin zurückgehenden
149
Quellenpublikation, den „Jüdischen Trauungen in Berlin 1759-1813" (Bd. 28 der Veröffentlichungen der Berliner Historischen Kommission), 1968.
Zu den Personen, die Jacobson bei seinen Arbeiten durch Materialbeschaffung besonders behilflich waren, gehörte auch, wie aus dem Vorwort zu den „Trauungen" ersichtlich, Dr. Bernhard Brilling in Münster (1906-1986). Dieser, der einen ähnlichen geistig-geographischen
und jüdischen Background wie Jacob Jacobson hatte, schloß seinen im „Mitteilungsblatt für
Deutsches Archivwesen, Der Archivar", Mai 1969, veröffentlichten Nachruf auf den verstorbenen, weit älteren Berufskollegen mit diesem einen treffenden Satz: „Ich habe in ihm einen
Freund und Kollegen verloren, der fast die gleichen Interessen hatte wie ich und mit dem ich gemeinsam das jüdische Archivwesen in Deutschland aufgebaut hatte, das heute nur noch in der
Erinnerung existiert."
Anschrift des Verfassers:
Professor Dr. E. G. Lowenthal, Kaunstraße 33, 1000 Berlin 33
Aus dem Mitgliederkreis
Hermann Oxfort 60 Jahre
Am 27. Oktober vollendete unser Vorsitzender, Rechtsanwalt und Notar Hermann Oxfort, Senator
und Bürgermeister von Berlin a.D., sein sechstes Lebensjahrzehnt. Der gebürtige Erfurter legte am
Humanistischen Gymnasium seiner Vaterstadt 1947 sein Abitur ab und brach dann seine Ausbildung
im thüringischen Justizdienst ab, als er 1949 zum Studium der Rechtswissenschaften an der Freien
Universität Berlin zugelassen wurde. Der Ersten Juristischen Staatsprüfung 1953 folgten vier Jahre
später die Zweite Juristische Staatsprüfung und die Zulassung als Rechtsanwalt beim Landgericht
Berlin und beim Kammergericht sowie 1968 die Bestellung zum Notar.
Schon 1948 war er der LDP beigetreten, hatte sich dann in Spandau der ED.P. angeschlossen und war
von 1963 bis 1975 Vorsitzender der F.D.P.-Fraktion des Abgeordnetenhauses von Berlin, Mitglied
des Bundesvorstands (1968 bis 1972) und Landesvorsitzender dieser Partei (1969 bis 1971). Den
Fraktionsvorsitz gab er ab, als er 1975 Bürgermeister von Berlin und Senator für Justiz wurde, ein
Amt, aus dem er gut ein Jahr später ausschied, als er die Verantwortung für den Ausbruch von Terroristen aus dem Gefängnis übernahm. Noch einmal war er von 1983 bis 1985 unter dem Regierenden
Bürgermeister Richard von Weizsäcker Senator für Justiz.
Lang ist die Reihe der Gesellschaften und Vereinigungen, in denen der vielbeschäftigte Spandauer
Anwalt mitwirkt. Hier seien nur seine Mitgliedschaften in der Juristischen Gesellschaft zu Berlin und
im Richterwahlausschuß des Landes Berlin und seine Zugehörigkeit zur Deutschen Gruppe der Liberalen Internationale und zur Liberalen Gesellschaft e.V. genannt.
Seit dem 12. November 1985 ist Hermann Oxfort nach dem einmütigen Votum der Mitgliederversammlung Vorsitzender des Vereins für die Geschichte Berlins, gegründet 1865. Als Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin von 1963 bis 1981 und wiederum seit April 1985, im Senat und in einer
Vielzahl von berufsständischen, politischen und humanitären Vereinigungen hat Hermann Oxfort
seine Aufgeschlossenheit für die Probleme unserer Stadt bekundet. Er würde es zurückweisen, wollte
man sein verdienstvolles Wirken in die Worte kleiden, er habe ein Stück Berliner Geschichte mitgeschrieben. Daß er nun aber seine Erfahrungen, sein ausgleichendes Wesen und seine Tatkraft an der
Spitze unseres Vereins dazu verwendet, diesem traditionsreichen Zusammenschluß Berliner Bürger
die Richtung zu weisen, hat der Vorstand segensreich erfahren und konnten die Mitglieder und die
Öffentlichkeit bei einer Reihe größerer Veranstaltungen miterleben. In dieser Reihe steht nun auch
das 125jährige Jubiläum, das am 29. Januar 1990 im Kammermusiksaal der Philharmonie gefeiert
wird. Vorher dürfte der Umzug der Bibliothek in die neuen Räume an der Berliner Straße/Blissestraße erfolgen, die der Verein seinem Vorsitzenden Hermann Oxfort verdankt. Daß sich dieser, engagiert, wie es gerade Wahlberliner zu sein pflegen, auch künftig vom Vertrauen der Mitglieder getragen fühlt, an der Seite seiner verehrten Gattin seine Gesundheit bewahrt und zuweilen darüber philosophiert, daß zwar alles nicht ohne Politik geht, die Politik aber nicht alles ist, sei ein herzlicher
Wunsch an dieser Stelle.
Hans Günter Schultze-Berndt
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Nachrichten
Lippe-Detmold, eine w u n d e r s c h ö n e S t a d t . . .
In gewohnter Weise fand die Studienfahrt 1988 am zweiten September-Wochenende statt. Vom Wetter und von den Umständen sichtbar begünstigt, erkundeten die Teilnehmer das ehemalige Fürstentum Lippe und dessen liebenswürdige Residenz. Der ehemalige Direktor des Lippischen Landesmuseums, Dr. Friedrich Hohenschwert, war ihnen ein getreuer Begleiter, der ebenso kenntnisreich
wie eloquent und mit allen lippischen Wassern gewaschen den Gästen aus Berlin einen hervorragenden Eindruck von seinem Lande vermittelte, sie die Stadt Detmold unter Stadt- und landesgeschichtlichen Aspekten sehen ließ und bei den Ausflügen nicht mit landschafts- und kulturkundlichen Erläuterungen geizte, immer bereichert um die Gedankengänge der Topographie, Volkskunde, Geologie
und Botanik. Dr. F. Hohenschwert erwies sich für diese Exkursion als ein wahrer Glücksfall!
Ihm stand Dr.-Ing. Peter Gerstenkorn, Wissenschaftlicher Direktor und Professor an der Bundesforschungsanstalt für Getreide- und Kartoffelverarbeitung, keineswegs nach, der seinen Berliner Landsleuten die Schwerpunkte Müllereitechnologie und Bäckereitechnologie der Detmolder Bundesforschungsanstalt in lebendiger Weise nahebrachte.
Am 9. und 10. September lernten die 40 Teilnehmer auf Rundgängen die Stadt, das didaktisch und
vom Inhalt her hervorragend bestückte Lippische Landesmuseum und wenigstens Teilbereiche des
Westfälischen Freilichtmuseums kennen. Sie hatten Freude an der urigen Atmosphäre des gemeinsamen Mittagessens in der Fachwerkhausdeele des Teutonenhofs Holzhausen-Externsteine, ließen sich
bei den Freiflugvorführungen abgerichteter Adler in der Greifvogelwarte Berlebeck die Sonne auf
den Pelz scheinen und gewannn dem Hermannsdenkmal auf der Grotenburg völlig neue Aspekte ab.
Diese Aussage ist auch für den ausgedehnten Besuch der Externsteine zutreffend, bei dem Dr.
F. Hohenschwert die Reisenden zu den frühen Anfängen des Christentums zurückführte. Nach einem
kulinarischen Mahl im Burgkeller des Burghotels Blomberg wurde er mit Ovationen verabschiedet.
Diese gebühren auch allen Mitgliedern, die rücksichtsvoll und diszipliniert dem Reiseleiter die Exkursion leicht machten und das strapaziöse Programm aufgeschlossen und wißbegierig absolvierten. Für
die nächstjährige, wieder auf vier Tage konzipierte Studienfahrt wurden inzwischen die Fühler nach
Ulm an der Donau ausgestreckt.
SchB.
Forschungsförderungsprogramm „Berlin-Forschung"
Die Auswahlkommission für das Forschungsförderungsprogramm „Berlin-Forschung" der Freien
Universität Berlin hat zum zehnten Mal ihres Amtes gewaltet und auf der Grundlage wissenschaftlicher Gutachten und Stellungnahmen Berliner Institutionen aus 65 eingegangenen Anträgen 14 Projekte ausgewählt und zur Förderung empfohlen. Die Themen umfassen die Bereiche Ökologie, Stadtplanung, Frauen, Kulturelle Entwicklung, Politische Entwicklung, Bildung und Bevölkerungsentwicklung.
Seit 1979 wurden 146 Projekte mit insgesamt 278 Mitarbeitern über jeweils zwei Jahre gefördert; die
Arbeiten erstreckten sich über die unterschiedlichsten Themenbereiche, darunter „Sinti und Roma in
Berlin zur NS-Zeit".
Der Abgabetermin für die nächste Ausschreibung ist der 1. März 1989. Hinweise zum Antragstellen
und Informationen zum Förderungsprogramm sind zu erhalten bei der Freien Universität Berlin
( - II A4-), Harnackstraße 5, 1000 Berlin 33, Telefon 838-3178. Dort können auch Veröffentlichungen angefordert werden, die auf den Abschlußberichten der Projekte beruhen.
SchB.
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Buchbesprechungen
Sackgassen. Keine Wendemöglichkeit für Berliner Straßennamen. Herausgegeben von der Berliner
Geschichtswerkstatt. Berlin: Verlag Dirk Nishen, 1988. 144 Seiten.
Die Berliner Geschichtswerkstatt hat es unternommen, die Aufmerksamkeit auf eine Sache zu lenken, die jede(r) tagtäglich vor Augen hat, ohne jedoch normalerweise ein Problem darin zu sehen: die
Namen von Straßen, Plätzen, Brücken und Stadtvierteln. Eine nicht geringe Anzahl davon ist in letzter Zeit jedoch zum Gegenstand kritischer Betrachtung und polemischer Auseinandersetzung gemacht worden — von Menschen, die diesen Teil ihrer unmittelbaren Umgebung nicht (mehr) als wertneutralen Adressenbestandteil, sondern als historisch-politisches Symbol und Ergebnis administrativer Entscheidungen wahrnehmen: „Hier in Berlin... finden sich bis heute Elemente einer ruhmlosen
Vergangenheit gerade in diesen Namen wieder: Monarchismus, Militarismus, Kolonialismus, Antisemitismus und nicht zuletzt Sexismus, um nur die wichigsten zu nennen.... Schlimmer als die Traditionspflege kaiserlicher Namensgebung ist die Beibehaltung von Benennungen der Nationalsozialisten" (Vorwort, S. 7).
Der Sammelband dokumentiert in seinen vierzehn Text- und Bildbeiträgen jedoch nicht nur bestehende Ärgernisse, sondern auch Versuche, Alternativen zu verwirklichen, aktuelle Umbenennungsdiskussionen und weitere entsprechende Vorschläge für die Zukunft; stellvertretend seien genannt:
die vorübergehende Umbenennung von Straßen des Tempelhofer „Fliegerviertels" (1946) und schon
1945 von Straßen im Bezirk Reinickendorf; das „Afrikanische Viertel" im Wedding; die „Rosa-Luxemburg-Brücke" über den Landwehrkanal; gleich drei Beiträge über bzw. gegen die „(Stadtplanmäßige Frauenunterdrückung" (S. 83).
Demgegenüber wird mehrfach die DDR-„Vergangenheitsbewältigung ... im Straßenbild" (S. 7)
lobend hervorgehoben — aber nicht erwähnt, daß es in Ost-Berlin von 1949 bis 1961 auch eine
Stalinalle gab... Dennoch regt dieser Band zum Nachdenken an, was wichtiger ist: Namenskontinuität und (wenn doch einmal eine Neu- oder Umbenennung ansteht) die Vermeidung von in Ost-Berlin
schon „vergebenen Namen" (bei gleichzeitiger Beibehaltung von, beispielsweise, je fünf Bismarckund Charlottenstraßen in den Westberliner Ortsteilen) — oder aber die Beseitigung von „Mißständen" (S. 8) und die noch ausstehende Berücksichtigung von Namengebern und -geberinnen, die besser in die demokratische Landschaft passen würden als mancher (noch) vorhandene Straßenname?
Christiane Schuchard
Wolf Jobst Siedler: „Wanderungen zwischen Oder und Nirgendwo. Das Land der Vorfahren mit
der Seele suchend." 14 Abbildungen, 141 Seiten, 2 Kartenauszüge, Quellen- und Abbildungsverzeichnis; in der Reihe „Corso" bei Siedler, Berlin 1988.
Das Büchlein gereicht denen zur Freude, die immer wieder die heimatliche Mark Brandenburg gleichsam als einen „Baedeker des Herzens" aufsuchen, die sich an ihren baumkronenüberwölbten Chausseen, ihren einsamen Seeufern und den verlorenen Landstädtchen entzücken und hinter deren heruntergekommenen Fassaden das innere Land suchen. Der Beititel „... mit der Seele suchend" evoziert
eine Fülle von Empfindungen; nicht immer tut sich nur eine vergangene Zeit auf, sondern ein
menschlicher Zustand, wenn auch kein klassischer, wie die goethische Formulierung vermuten ließe,
sondern darüber hinaus ein gegenwärtig-schmerzlicher. — Der Betrachter muß sich in den Anblick
der breiten Ströme von Oder und Elbe, die das Land prägten, ganz hineinnehmen lassen und sich zu
sehr ernsten Auseinandersetzungen bereit finden. Nicht nur daß die Berlinfunktion ketzerisch neu zu
bestimmen ist, dahinter klärt sich für Vf. das Preußische in einem härteren Licht. Nicht ohne Grund
bringen die Kartenausschnitte die Rheinsberger und Eberswalder Forsten als Herzlandschaften zu
Gesicht, an denen sich das „Land der Vorfahren" prüfen läßt. Vf. redet keiner Vergangenheitsseligkeit das Wort; dazu ist der DDR-Alltag zu trist und zwiespältig und ist vor allem die Aufgabe des westlichen Besuchers zu verantwortungsvoll. Wer den vorgeschlagenen Spuren des Vf. gefolgt ist, akzeptiert das ketzerische Postulat Nietzsches, das er seinem Exkurs voranstellt: „Sein (des Geschichtsschreibers) Thema, die sogenannte Weltgeschichte, sind Meinungen über vermeintliche Handlungen
und deren vermeintliche Motive. Alle Historiker erzählen von Dingen, die nie existiert haben, außer
in der Vorstellung." Was besagt, daß Vf. einen eigenwilligen Weg der Geschichtsbetrachtung geht; es
152
ist derjenige, den ihm der Standort Berlins und sein Generationserlebnis zuweist. Denn das Märkische, das eichendorffisch in den Dingen gesucht wird („Schläft ein Lied in allen Dingen, die da träumen fort und fort"), ist das menschliche Maß der Dinge, das noch fast heil war, ehe der Zweite Weltkrieg die Maßstablosigkeit auslöste, von der das Land zwischen Elbe und Oder sich noch nicht wieder
erholt hat. — Es ist ihm zuzustimmen, wenn er feststellt, daß die Mark Brandenburg keine Ideallandschaft und kein Reiseland war — bis auf die kurze Zeit, als Schinkel und Lenne die Potsdamer Landschaft in ein märkisches Italien verwandelten; daß es erst aus der Geschichte kommen mußte, ehe wir
es neue erobern sollten, und dies in doppelter Brechung: zuerst von Fontane ins Licht gehoben, nun
aufs neu gesehen von uns.
Eigentlich stimmt der Leser dem Vf. auch überall da zu, wo er fragt, was denn früher die Behaglichkeit
in den kleinstädtischen und dörflichen Gasthöfen ausgemacht habe; die bescheidene Zeit unserer
Großväter wird beschworen, als für sie die Mark eine „Sommerfrische" war.
Vf.s Geschichtsexkurs stimmt, und die Abgrenzung gegen das, was über 35 Jahre Sozialismus aus den
Land der preußischen Herrensitze gemacht haben, auch. Auf dieser Grundlage ist unser Zusammengehörigkeitsgefühl als unabweisbar artikuliert; es weist auf ein Zukünftiges — noch ein „Nirgendwo"
—, dessen Wirkungen noch ausstehen, aber hoffen lassen. — Den besonderen Tiefgang erhält die Darstellung durch die Erzählung von der Schlacht auf den Seelower Höhen von 1945, deren Tragik
a u c h mit dem alten russisch-preußischen Einvernehmen verbunden ist.
Christiane Knop
Ursula Riechert: „Von St. Nikolai zum Reichstag. 500 Jahre Bauen in Berlin. Wirtschaft - Technik - soziale
Beziehungen." Hrsg. von der Fachgemeinschaft Bau e.V., Bauverlag, Berlin 1987. 159 Seiten, 38 Fotos,
Literaturverzeichnis und Quellen im Anhang.
Vfn. bezeichnet im Titel die Nikolaikirche und das Reichstagsgebäude als Anfangs- und Endpunkte im
Werden einer Bürgerstadt, gesehen von ihrer materiellen Kultur her, d. h. von der Verflechtung der
organisatorischen, technischen, sozialen und sozialpolitischen Faktoren innerhalb der Bauleute. Über die
mittelalterlichen Zünfte erfährt der Leser außer Bekanntem einiges Berlinspezifische. In der Ausformung
des frühen Stadtgesichtes spiegelte sich die Festigung städtischen Selbstbewußtseins wider. Seine Ausbildung erfolgte im 15. Jahrhundert in Auseinandersetzung mit landesherrlichen Eingriffen; der erste
Profanbau war das Schloß an der Spree. Mit den Stadterweiterungen und dem Ausbau zur Festung und
Hohenzollernresidenz wird im 17. Jahrhundert ein Ansteigen der handwerklichen Tätigkeit vermerkt, v. a.
herbeigeführt durch die französischen Immigranten und ihre Ingenieurkunst. Am späteren Rondell, dem
Leipziger Platz, entstand eine erste Handwerkeransiedlung (ehe das Neu-Voigtland gegen Ende des
18. Jahrhunderts angelegt wurde). Soweit das Bekannte.
Als ein roter Faden geht durch die weitere Darstellung die Beobachtung, daß einschneidende historischpolitische Ereignisse und die Lage der Bauwirtschaft und der in ihr Tätigen sich verhalten wie Zettel und
Einschlag im Gewebe, eines wird zur Ursache des anderen und umgekehrt. Wer dieser Schilderung folgt,
erkennt ein bemerkenswertes inneres Phänomen: Laienhafte Kenntnis hält im allgemeinen das Überwundenwerden der Zunftbeschränkungen durch Einführung der Gewerbefreiheit (1869 in Preußen) für
fortschrittlich und effektiv. Vfn. differenziert diese Meinung. In den Hohenzollernzeiten des 17. und
18. Jahrhunderts war die landesväterliche Fürsorge wohltätig; königliche Verordnungen regelten Löhne,
Arbeitszeiten und Vorsorge im Krankheitsfall. Dies geschah im merkantilistischen Sinne zugunsten des
gerechten Preises und zur auskömmlichen Existenz für jedermann; die preußische Domänenkammer
bahnte in ihrer Verwaltungspraxis hier die festen Amtswege an. Doch mit beginnender Industrialisierung
und damit einhergehender Lockerung des Zunftzwanges lief die Entwicklung am Wohl der Gesellen und
Lohnabhängigen vorbei. Der Ruf nach einer modernisierten Gewerbeordnung erschien eine Generation
später schon wieder als fortschrittlich und notwendig. Das Halbherzige und Unfertige der Gewerbefreiheit
verlangte bald die Schaffung zunftähnlicher Abschlüsse im Baugewerbe. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts
zeigte sich deutlich die Abhängigkeit politischer und sozialer Ereignisse von den außenpolitischen Krisen
der Vorweltkriegszeit; sie sind in den Tarif- und Lohnkämpfen der 90er Jahre wie ein verborgener Kern
enthalten, so daß der negative Kriegs- und Nachkriegsverlauf vorweggenommen erscheint.
So wird das Architekturbild Berlins politisch transparent gemacht, seine Pervertierung seit 1930 sichtbar;
die „Gleichschaltung" konnte als Korrelat der baulichen Gigantomanie nur die Gesichtslosigkeit und
Zerstörung zur Folge haben. „Bauen im eigentlichen, zivilen Sinne gab es nun in Berlin nicht mehr. Was in
Jahrhunderten geschaffen worden war, lag (1945) in Trümmern. Die Organisation der Wirtschaft war zu
Zerrbildern zerstört, gefügiges Werkzeug in den Händen der politischen Machthaber. Als der 8. Mai 1945
153
das Ende des .Tausendjährigen Reiches' besiegelte, war daher auch für die Wirtschaftsverbände ein
Neuanfang nötig." (102)
Der Schlußteil zeigt, wie mit der Erhebung Berlins zur Reichshauptstadt die Bedeutung als Bürgerstadt
sich gewandelt hat; ihr letztes Bauzeugnis ist das Reichstagsgebäude. Mit seiner Errichtung war der
heimliche Untergang schon gesetzt. - In stoffreich ausgeführten Skizzen schildert die Darstellung in den
verschiedenen Bauphasen Berlins die Interdependenz von Bauwirtschaft, ihrer Technik, den Baustoffen
und den Verbandsorganisationen. Vfn. betrachtet die sozialpolitische Tätigkeit der Arbeitgeberverbände
ausführlicher als die der Lohnabhängigen; von klassenkämpferischen Kategorien im sozialistischen Sinne
ist wenig die Rede. Den Fotos des unzerstörten Berlin sind Abbildungen von Bautätigkeiten beigegeben,
so z. B. die der Untertunnelung der Spree am Spittelmarkt für den U-Bahn-Bau oder die des Hochbahnbaus in der Luisenstadt.
Christiane Knop
Geschichte der Berliner Verwaltungsbezirke. Eine Veröffentlichung der Historischen Kommission
zu Berlin aus Anlaß der 750-Jahr-Feier der Stadt Berlin 1987. Hrsg. von W. Ribbe. Bd. 1: Schütte,
Dieter, Charlottenburg, Berlin 1988.
Der Charlottenburg-Band bildet den Auftakt der zwölfbändigen „Geschiche der Berliner Verwaltungsbezirke", die im Nachgang zur 750-Jahr-Feier Berlins von der Historischen Kommission
(HiKo) veröffentlicht wird.
Der Anspruch an das Gesamtwerk wird im Vorwort von Prof. Dr. Wolfgang Ribbe, Leiter der Sektion für die Geschichte Berlins bei der HiKo und Herausgeber des Werks, klar formuliert: „Heute
noch vorhandene Urkunden und Akten, einschließlich des Plan-, Karten- und Bildmaterials, die sich
nicht nur im zuständigen Landesarchiv, sondern an vielen anderen Stellen verstreut befinden", sollen
aufgearbeitet und für die weitere Forschung erschlossen werden.
Allen Bänden ist eine Rahmengliederung vorgegeben, die zum einen den „gegenwärtigen Zustand
und Tendenzen der weiteren Entwicklung" des jeweiligen Bezirks behandelt und zum anderen dessen
historische Entwicklung zum Thema hat. Dieses Gliederungsschema dient der Vergleichbarkeit von
Geschiche und Gegenwart der Bezirke.
Daß der aktuellen Zustandsbeschreibung in einer historischen Darstellung konzeptionell ein breiter
Raum eingeräumt wird, mag kein Mangel sein, obgleich der Titel des Werkes diesen Themenschwerpunkt nicht gleich vermuten läßt. Im vorliegenden Band erfaßt D. Schütte den gegenwärtigen Zustand Charlottenburgs im wesentlichen mittels Rückgriff auf statistische Erhebungen. Eine Fülle von
Datenmaterial zu Bevölkerung und Gesellschaft, Wohnen, Wirtschaftsstruktur, öffentlichen und privaten Institutionen sowie Kultur und Freizeit wird dem Leser präsentiert. Eine solch nüchterne
Bestandsaufnahme im Spiegel der statistischen Jahrbücher und Stadtplanungsrichtlinien kann aber
sicherlich nur bedingt das gegenwärtige Bild eines Bezirks vermitteln. Weiterführende Überlegungen
zu den in der Kapitelüberschrift angekündigten „Tendenzen der weiteren Entwicklung" sucht man
vergebens.
Der Hauptteil des Bandes erzählt auf knapp 90 Seiten die Geschichte Charlottenburgs von der
Schloßgründung über die sich in einem atemberaubenden Tempo vollziehende Großstadtwerdung
im Zeichen der Industrialisierung bis hin zur neuen Cityfunktion im geteilten Berlin der Nachkriegszeit. Dabei stützt sich die Darstellung der Geschichte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ganz wesentlich auf das stadtgeschichtliche Standardwerk: Wilhelm Gundlachs zweibändige „Geschichte der
Stadt Charlottenburg" aus dem Jahre 1905. Die bei Gundlach so schmerzlich vermißte Sozialgeschichte der Stadt liefert jedoch auch D. Schütte nicht. Und hier genau liegt das Problem. Angetreten mit dem Anspruch, das heute noch greifbare Quellenmaterial aufzuarbeiten und zu erschließen,
bezieht sich die Darstellung zum größten Teil auf bereits publizierte stadthistorische Untersuchungen
und leistet nur in bezug auf die Nachkriegszeit einen eigenen quelleninterpretatorischen Forschungsbeitrag.
Eine Vielzahl der mittlerweile im Charlottenburger Heimatmuseum gesammelten sog. „grauen Literatur", das gesamte Charlottenburg betreffende und durchaus zugängliche Quellenmaterial des
Stadtarchivs in Ost-Berlin und des Zentralen Staatsarchivs der DDR in Potsdam, ja selbst der Großteil der im hiesigen Landesarchiv vorhandenen Akten zur Geschichte Charlottenburgs wurden in
diesem Band nicht berücksichigt. Auch das reichhaltige Material in den verschiedenen Kirchenarchiven des Bezirks oder im Evangelischen Zentralarchiv fand keinen Eingang in die Darstellung.
154
Dabei ist dieses Versäumnis nicht unbedingt dem Autor anzulasten, es wirft vielmehr Fragen an die
Gesamtkonzeption des Werkes auf. Will man dem von W. Ribbe vertretenen Anspruch gerecht werden, so muß der Darstellung ein wesentlich breiterer Raum gegeben werden, als ihn dieser schmale
Band bietet, was wiederum nur ein größer dimensioniertes Forschungsprojekt leisten könnte.
Der Band ist bestens geeignet, einen schnellen Überblick über die historische Entwicklung Charlottenburgs zu gewinnen, ohne in das monströse Werk Gundlachs einsteigen zu müssen oder sich mühsam aus den publizierten Darstellungen zu einzelnen Aspekten der Stadtgeschichte einen Gesamteindruck verschaffen zu müssen. Hier liegt sein unbestreitbarer Nutzen und Vorteil. Doch den beanspruchten Forschungsbeitrag hat dieser Charlottenburg-Band nicht geleistet, da er das vorhandene
Quellenmaterial nicht annähernd vollständig gesichtet oder gar aufgearbeitet hat.
Indem W. Ribbe in seinem Vorwort die Bedeutung der Aufarbeitung von schriftlichen Quellen für
die „Geschichte der Berliner Verwaltungsbezirke" unterstreicht, äußert er gleichzeitig Vorbehalte
gegen die in jüngster Zeit zahlreich publizierten „Kiezgeschichten". Die Autoren würden sich vielfach ausschließlich der „oral history" bedienen, was zu „Verzerrungen im Geschichtsbild" führen
könnte. Doch gerade die großen Veröffentlichungen der Berliner Geschichtswerkstatt zur 750-JahrFeier über den Wedding, die Schöneberger „Rote Insel" oder die Siedlung Lindenhof haben den
Gegenbeweis angetreten und mit überzeugenden Ergebnissen die Methoden der „oral history" mit
dem Studium und der Auswertung schriftlicher Quellen verknüpft.
Herbert May
Schloß Britz. Die Geschichte eines Herrenhauses. Herausgeber: Nicolaische Verlagsbuchhandlung
Beuermann GmbH, Berlin, und Kulturstiftung Schloß Britz, verantwortlich Eike Warweg, Schutzgebühr 5 DM.
Mit der Beendigung der Restaurierungsarbeiten am alten Herrenhaus in Britz — „von der Bevölkerung (Neuköllns) liebevoll Schloß genannt" — erschien in der Nicolaischen Verlagsbuchhandlung
diese reich bebilderte Broschüre. Sie erzählt die wechselvolle Geschichte des Hauses, berichtet über
die verschiedenen Besitzer: Familie von Britzke (17. Jahrhundert); Staatsminister von Ilgen; Minister
von Hertzberg, der das Gut zu einem wichtigen landwirtschaftlichen Betrieb in der Mark Brandenburg machte; Bankier und Fabrikant von Wrede (1865); der das Haus im Stil der französischen Renaissance umbauen ließ. Schließlich kam es 1924 an das Land Berlin, dem es als Stadtgut diente, das
nach 1945 so manche Not lindern konnte, indem es Milch, Obst und Gemüse an Kinderkrankenhäuser lieferte. Von 1956 bis zu seiner Restaurierung 1985 war es Kinderheim. Den Abschluß bilden
— neben einer stimmungsvollen Beschreibung von Rosen-Britz — Erläuterungen über das Gesamtensemble, welches aus Gutshof, Gutspark, Kirche, Pfarrhaus, Schule und Teich besteht.
lrmtraut Köhler
„Verkehr in Berlin. Von den Anfängen bis zur Gegenwart." Band I: Nahverkehr. 163 Fotos aus
dem Bildarchiv der Landesbildstelle, ausgewählt und erläutert von Jürgen Grothe. 120 Seiten; Haude
& Spener, Berlin 1987.
Die Dokumentation ist, wie das Vorwort betont, nicht als Kompendium einer Berliner Verkehrsgeschichte gedacht, sondern als Text- und Fotoreise, auf der der Betrachter seine Erinnerungen Spazierengehen lassen kann; ihm begegnet die heile Vergangenheit wie die kriegszerstörte und die wiederaufgebaute Stadt mit ihren Zwiespältigkeiten.
Ein knapper Abriß der Verkehrsgeschichte gibt ihm die wichtigsten Gesichtspunkte an die Hand.
Darüber hinaus erhält er in den Bildunterschriften viele Informationen, zumeist technischer Art, aber
auch städtebauliche Streiflichter sind dabei, die den Komplex vertiefen. Verkehr ist nicht nur eine
schnelle, ausgreifende Bewegung, sondern, wie ihn schon Kiaulehn beschrieben hat, ein berlintypisches soziologisches Phänomen. Stadt- und Industrielandschaft, Arbeitsleben und großstädtisches
Selbstbewußtsein geben die tiefen Töne ab. — Das Ineinandergreifen der Verkehrsmittel auf verschiedenen Ebenen macht das Rasante und Faszinierende aus. — Der Überblick über die Entwicklung
jedes einzelnen Verkehrsmittels zieht den Betrachter ins Industriezeitalter hinein. Er erblickt noch
einmal — gerade, was den Hochbahnbau betrifft — das Würdige und Gediegene der Stadtlandschaft,
die etwas vom Geist Schinkels atmet; noch läßt sich das Einpassen der Trassen in geformte Straßenbilder erkennen. Der Leser erinnert sich, wie man damals auf den beiden Straßenbahnringen, dem
„großen" und dem „kleinen", eine Entdeckungsreise durch die Vaterstadt machen konnte. — Es gibt
155
wehmütig stimmende Bilder wie die der zerstörten und der wiederaufgebauten und sich langsam teilenden Stadt: Straßenbahnwagen als Panzersperren, Schaffnerwechsel an den Sektorengrenzen. Die neuen Trabantenstädte kommen ins Bild. - So schichtet sich eine im Bild erzählte Stadttopographie um die Verkehrsmittel.
Christiane Knop
Adriaan von Müller/Klara von Müller-Muci: „Ausgrabungen und Funde auf dem Burgwall in Berlin-Spandau." Abbildungen, 19 Anlagen, Tafeln und Katalogteil, Wissenschaftsverlag Volker Spiess,
Berlin 1987, in: Berliner Beiträge zur Vor- und Frühgeschichte, Neue Folge Bd. 5, hrsg. von Klaus
Goldmann, Alfred Kerndl, A. von Müller, Eva Strommenger; Archäologisch-historische Forschungen in Spandau, Bd. 2.
Das Buch ist ein Rechenschaftsbericht über die Grabungsergebnisse unter Leitung von Prof. A. von
Müller auf mehreren Grundstücken am Spandauer Burgwall, ausgeführt 1982—84 und 1986. Sie
waren gezielt angestellt worden und konnten das bisherige Bild der slawischen Burg-Stadt-Siedlung
vervollständigen. Sie knüpfen an die Darstellungen A. von Müllers: „Mit dem Spaten in die Berliner
Vergangenheit. Eine archäologische Reise" in „Berlinische Reminiszenzen" No. 54 (Haude & Spener, Berlin 1981) und „Edelmann ..., Bürger, Bauer, Bettelmann. Berlin im Mittelalter" (Haude &
Spener, Berlin 1979), an (s. a. „Mitteilungen" 1987, Heft 4). Die Archäologie zeigt sich imstande,
Lebens- und Herrschaftsverhältnisse in der „dunklen" Zeit zwischen 955 und dem Slawenaufstand
von 983 und weiter bis zur deutschen Wiederbesiedlung ab 1157 durch Sachkultur zu erhellen. Vor allem die Ansichten über die Burgphasen vom 10. bis zur Mitte des 11. Jahrhunderts werden verifiziert.
Die Ausgräber fanden ihren eigenen Anspruch bestätigt, der Geschichtswissenschaft durch Bodenfunde zu dienen; sie wurden ermutigt durch die Kongruenz mit den wenigen Quellen (Thietmar von
Merseburg und Otto von Bamberg). — Von den ersten Ansätzen bis zu den neuesten Ergebnissen
schält sich die hervorragende Position Spandaus als eines bedeutenden Umschlagplatzes an der seit
slawischer Zeit bestehenden Handelsstraße von Magdeburg über Brandenburg und Spandau an die
Oder heraus. Die Vff. können sogar das Wasserwegenetz, welches das Havelland im Raum Spandau— Nauen—Havelberg erschließt, stärker differenzieren. Nur der Fachmann kann die äußerst detailliert gegebenen Grabungsfunde mit ihren Bildbeigaben nachvollziehen; der mittelalterliche Stadthistoriker hält sich an die Ausdeutung der spätslawisch-frühdeutschen Burg-Stadt-Siedlung auf den
beiden Havelinseln (s. „Reminiszenzen", S. 92—99). Für die Übergangsepoche der Burgwall-Siedlung des mittleren 10. Jh.s (zwischen 955 und 983) konnte man in Analogie zu Bauten im südlichen
Ostseeraum einen slawischen Kultbau rekonstruieren; es handelt sich um einen Typus, wie er bei den
Westslawen verbreitet war und wie er etwa der Beschreibung bei Thietmar von Merseburg entspricht.
Auf seinen Fundamenten wurde eine christliche Kirche gebaut, nachdem man die heidnischen Kultgeräte sorgfältig beseitigt hatte. Der Befund weist auf eine unübliche Bauweise, einen schiffsförmigen
Hallenbau mit Ostapsis, der seine Entsprechungen in der ottonischen Reichsarchitektur (Königspfalzen) hat und den Schluß zuläßt, Spandau habe eine wichtige Funktion im ottonischen Burgwarndienstsystem gehabt, der Kirchbau stehe vermutlich im Zusammenhang mit dem Italienzug Kaiser Ottos II. Vff. vermuten ferner, daß die Bischofssitze Havelberg und Brandenburg „nur Inseln im
Meer des Heidentums" gewesen seien und daß die Slawen glauben konnten, mit dem Angriff auf
diese Bischofssitze die deutsche Herrschaft abschütteln zu können, sobald man den deutschen Bischof
vertrieben hatte. Nur das schnelle Eingreifen des Reiches hat eine Ausweitung des Aufstandes verhindern können.
Die ausgegrabenen Reste der Häuser bringen die Ausgräber zur Ansicht, in dieser Burgstadt des
10. Jahrhunderts habe es bereits eine planmäßige frühstädtische Bebauung entlang eines Hauptweges
gegeben, über welchen der Handelsweg die Stadt betrat und verließ. Die Funde weisen ferner auf die
Konzentration einiger Handwerke, u. a. der Feinschmiede, und geben Zeugnis von einer verhältnismäßig wohlhabenden Bewohnerschaft; darauf weisen die Fundstücke von handwerklich hochwertiger Importware aus dem osteuropäischen Raum. Die Funde beschreiben Kämme, Spielsteine
Schmuck und Münzen. Immer wieder ergibt sich daraus die Erkenntnis von der Wichtigkeit Spandaus
in seiner Lage am Handelsweg zu Lande und am Wasser, eine Voraussetzung, welche die Zusiedlung
frühdeutscher Bewohner in askanischer Zeit ermöglichte. — Die Ausdeutung der Münzfunde ergibt,
daß es in der Zeit zwischen dem 10. und 12. Jahrhundert außer Brandenburg und Spandau keine wei156
teren slawischen Burgwallplätze mit handwerklicher Bevölkerung gegeben habe; ihre wirtschaftliche
Funktion wies zwangsläufig auf die Entwicklung von Burgstädten. Ferner kann man vermuten, daß
die Zeit zwischen 1030 und 1100 als eine Epoche der Ruhe und des sich langsam entwickelnden
Wohlstands gewesen sein kann, in der sich die Voraussetzungen für die Bildung eines Geldmarktes
bilden konnten, ein Zustand, auf den der bedeutende wirtschaftliche Markt der Askanierzeit aufbaute. — Ein ausführliches Kapitel ist dem Fund eines Thebalrings gewidmet, dem Beispiel aus einer
Gruppe von Amulettringen, die sich im nord- und nordwesteuropäischen Raum finden. Vff. leiten in
einem Exkurs ihre sprachliche Herkunft aus dem Aramäischen ab, aber das bleibt zunächst noch eine
Hypothese.
Interessant ist ferner die Überlegung, ob der Name „Nienburg" (Neue Burg) in einer Memlebener Urkunde des 10. Jahrhunderts mit Spandau identisch sein könnte. Der slawische Name „Spandau"
bleibt dabei außer acht; es könnte mit „Nienburg" die damals moderne Burgform der ottonischen
Zeit (Bergmotte statt Flachmotte) gemeint sein; dies ließe dann Rückschlüsse darauf zu, ob der Anstoß zur Christianisierung des Elb-Havel-Winkels von Memleben ausgegangen sein könnte.
Christiane Knop
Sibylle Meyer/Eva Schulze: „Von Liebe sprach damals keiner. Familienalltag in der Nachkriegszeit." 269 Seiten, 54 zeitgenössische Fotos, Zeittafel, 2 Schaubilder und 9 Statist. Tabellen, Literaturverzeichnis. Verlag C. H. Beck, München 1985.
Die schlichte Formulierung des Titels ist ein Under.» itement und impliziert den mahnenden Hinweis,
sich von der Vergangenheit her auf die Kategorien des Familienlebens neu zu besinnen; in jener unheilvollen Zeit waren sie anders, waren sie vielleicht gerade wegen der lebensbedrohenden Verzerrung des Alltags geradliniger. Manche heute wichtig genommene Problematik existierte nicht, was sie
wohl relativieren mag. Hintergründig lebt darin die Frage, ob das Ausufern der Wohlstandszeit die
Chance zur Wiedergewinnung eines einfachen, friedlichen Lebens verspielt habe; obschon die Schilderungen ein treffenderes Bild vom oft diskreditierten Wohlstand zeigen; er war hart erarbeitet und
blieb bescheiden und sollte nicht billig als Vorwand zur Erklärung für negative Erscheinungen
dienen. Doch ist die Darstellung fernab von jeder Moralisierung, Schuldzuweisung oder politischen
Polemik. Die Autorinnen und ihre interviewten Personen berichten nur summarisch und fast unterkühlt. Die damals Betroffenen sehen auf eine Zeit zurück, die ihre Existenz aus den Fugen brachte; sie
stehen der eigenen Vergangenheitsbetrachtung fast ungläubig gegenüber; den Nachgeborenen erwächst aus dieser Art von Oral history ein zwar nicht lückenloses, aber dichtes Zustandsbild der
Kriegs- und Nachkriegszeit. Wenn die Oral history in dieser Weise der Geschichtsforschung ergänzend an die Seite tritt, hat sie ihre Aufgabe gut gelöst. Die Verfasserinnen befragten Frauen und Männer, die mit ihren Familiengeschichten zu Worte kommen, sie schieben weitere Zeitzeugen und Einzelberichte ein und verbinden die Teile durch kommentierenden Text — in prägnanter, schlichter
Sprache. „Die Frauen und Männer stammen aus unterschiedlichen sozialen Schichten, haben unterschiedliche Schul- und Berufsbildungen und wohnen in verschiedenen Stadtteilen Berlins. Die Mehrheit der 27 befragten Familien hat Kinder. Ein Teil davon wurde noch vor 1939 geboren, die Hälfte
sind Kriegskinder, einige wurde nach 1945 geboren." — Schaubilder und numerische Daten verallgemeinern und verifizieren das subjektiv Gesagte und heben es über das Berlinspezifische hinaus. Dabei lassen sich Wiederholungen und Überlappungen nicht vermeiden. Sie stören nicht, sondern erleichtern es jungen Lesern, die ihnen unbekannten Ereignisse nachzuvollziehen.
Hier wird die Nachkriegszeit als unabdingbare Folge eines über die Menschen verhängten Unheils
nur erlitten, am meisten, so will es der gewählte Blickpunkt, von den Frauen. Daneben tritt gleichgewichtig, wenn auch anders geartet, die Unbehaustheit der Männer. Die Berichtenden gehören dem
mittleren und unteren Berliner Bürgertum an. Im Bericht wird keine Gesellschaft soziologisch aufgespalten; nur ein Hinweis dieser Art findet sich: „Für die Generation derer, die den Krieg miterlebt
hatten, war Familie nicht gleichbedeutend mit der heutigen Kleinfamilie. Familie bedeutete für sie
enge Beziehung zur Verwandtschaft aus relativ zuverlässigem Zusammenwirken zwischen Kern- und
Herkunftsfamilie, Geschwistern und Schwiegerfamilien."
Die ganze Skala äußerster Lebenssituationen wird aufgeblättert: Trennung der Familien und das Leben der Getrennten im Nichtwissen umeinander, die Verselbständigung der Frau als Haushaltsvorstand, Mutter, Erzieherin, Ernährerin und Bewahrerin (auch in einer ungewohnten ländlichen Um157
weit), Arbeiterin in Rüstungsbetrieben oder Lazaretten, ihr Dasein in der Evakuierung und schließlich auf der Flucht oder im Bombenkrieg auf Berlin; am quälendsten war das Warten auf die Heimkehr der Männer und der Aufbau einer kümmerlichen Welt aus Trümmern, da alle Gewohnheiten
sich verschoben hatten. Frauen haben unberaten, unkonventionell und doch ohne Kommentierung
durch eine Frauenpresse oder Verbände neue Wege gesucht; ihr Leiden in einem Übermaß an seelischer und körperlicher Überforderung, an Existenznot und Unbehaustheit geschah wie unter der
Decke eines schweigsamen Dunkels; keine soziologische, ideologische oder frauenfreundliche Aufklärung erhellte ihre Einsamkeit; im Gegenteil, es entstand in den Briefen an die Front und zurück ein
Schweigen und Verheimlichen, das, wenn es auch aus Rücksicht geschah, vielleicht die Wurzel späterer Entfremdung war. Nie ist das Auseinanderfallen von politischer Propaganda (die „die deutsche
Frau" schaffen wollte) und unbesagtem Leid größer gewesen. Es wird erkennbar, wie eine Generation von Bildern und Wertvorstellungen lebte, die nicht mehr existierten. Wenn hier mehr Frauen als
Männer zu Wort kommen, spricht das nicht für ein Unverständnis der männlichen Probleme („Die
Ehefrauen berichten ... ausführlicher über die Erfahrungen in familiärer Hinsicht. Die Männer berichten ausführlicher über ihre Erfahrungen als Soldaten und Gefangene als über ihre Beziehungen
zur Familie und äußern sich und orientieren sich ... vorrangig an ihrem beruflichen Werdegang.");
auch ihre Zerbrochenheit wird ungeschmälert beim Wort genannt. Es dokumentiert sich in der
schrecklichen Erfahrung — hier liegt eine der Wiederholungen —, für ein ziviles Leben untauglich geworden zu sein. Unter der Herausforderung des politischen Umdenkenmüssens und des Fremdgewordenseins der Kinder fanden sie infolge ihrer seelischen und körperlichen Erschöpftheit keine
„Rolle" mehr und waren auf das Zupacken der Frauen angewiesen. In Umkehrung der Dinge waren
die Kinder Stützen und Vertraute ihrer Mütter geworden; aus dieser Welt fühlten sich die Heimkehrer ausgeschlossen — eine wahrhaft tragische Erfahrung! Nach Ausbombung und Verlust der Heimat,
die sie ja gerade hatten abwenden sollen, war die Kluft zur jungen Generation die unverständlichste
Herausforderung. Daß Ehen unter dieser Überbelastung noch weiterbestanden, wirkt wie ein Wunder; man sollte eine viel größere Zahl von gescheiterten Ehen vermuten. (Das Problem der Kriegstrauungen wird nur gestreift.) Daß die Familien unter Anspannung der äußersten Willenskräfte
wieder zueinanderfanden, sollte heute zu denken geben. Von Liebe sprach keiner, sie wurde wortlos
geleistet.
Das wohltuend schlicht Erzählte wird unterstützt durch eindringliche Fotos der Trümmerbehausungen, der damals anders gearteten Gesichter, des Lebens im Bunker, in dem Kinder geboren wurden,
der Heimkehrer und Flüchtlinge. Ihre Unmodernität bekommt durch die Darstellung herausfordernde Modernität. Diese Rechenschaft einer bewundernswerten Generation beantwortet viele Fragen, ja, sie läßt den Eindruck entstehen, hier sei die vielberufene Vergangenheitsbewältigung zum
Teil geleistet. Und es ist ein Antikriegsbuch.
Christiane Knop
Schütze, Karl-Robert: Von den Befreiungskriegen bis zum Ende der Wehrmacht. Der Garnisonfriedhof. Berlin 1986 (Neuköllner Beiträge zur Bezirksgeschichte, Heft 2).
Friedhofsgeschichte ist „in". Das beweisen die zahlreichen kunst- und kulturhistorischen Veröffentlichungen zu inner- und außerhalb Berlins gelegenen Friedhöfen, von denen einige in diesen „Mitteilungen" bereits besprochen worden sind.
Auch der vorliegende Band bestätigt aufs neue die oft zitierte Feststellung des Feuilletonisten Heinz
Knobloch, Friedhöfe seien aufgeschlagene Geschichtsbücher.
In einer ungeheuer materialreichen Darstellung erzählt Schütze die Geschichte des in Neukölln gelegenen Garnisonfriedhofs von seiner Gründung als Bestattungsplatz für Seuchenopfer der Befreiungskriege im Jahre 1813 bis zur Aufhebung der Bestimmung als Militärfriedhof nach dem Ende des
Zweiten Welkrieges.
Bei aller Berücksichtigung auch der kleinsten Details dieser Geschichte verliert Schütze die historisch-politischen Zusammenhänge nicht aus den Augen. „Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln", hat Clausewitz gesagt, und kein anderer Friedhof Berlins spiegelt die politische Geschichte Preußens und des Deutschen Reiches im 19.und 20. Jahrhundert mehr wider als der Garnisonfriedhof. Dieser Friedhof ist das Negativ der in der deutschen Geschichtsschreibung so strahlend
gefeierten großen militärischen Siege des 19. Jahrhunderts — in den Befreiungskriegen, im Krieg gegen Österreich (1866) und im großen „Einigungskrieg" gegen Frankreich (1870/71). Kriegsgräber
158
und Gedenksteine erinnern noch eindringlich an den Preis für diese Siege, und der Preis war hoch.
Für die zahllosen Toten des Ersten Weltkrieges wurde eigens ein „Heldenfriedhof" eingerichet und
das bestehende Terrain erheblich erweitert.
„Nie wieder Krieg!": Wenn wir aus der Geschichte lernen wollen, dann auch und vor allem an diesem
Ort. In diesem Sinne versteht Schütze den Garnisonfriedhof als ein „Denkmal gegen den Krieg".
Die Darstellung besteht aus zwei Teilen:
Der l.Teil beschreibt die Geschichte der Friedhofsanlage, wobei eben auch auf Ursachen und Verlauf der Kriege eingegangen wird, deren Opfern auf dem Friedhof gedacht wird. Nach dem Ersten
Weltkrieg wird die Nachbarschaft zum neu angelegten Tempelhofer Flughafen zunehmend von Bedeutung. Die Gigantomanie der nationalsozialistischen Stadplanung machte auch vor dem Garnisonfriedhof nicht halt. Die Ruhe der Toten des „Heldenfriedhofs" sollte einem geometrischen Ideal geopfert werden, das eine beträchtliche Vergrößerung des Flughafenfeldes vorsah und zudem das
Kreuzbergdenkmal Schinkels mittels Ausbildung einer Langachse in die Gesamtgestaltung mit einbezog. Das Projekt kam nicht zur Ausführung, obgleich bereits Umbettungen von Toten des Ersten
Weltkrieges vorgenommen worden waren.
Der 2. Teil der Darstellung ist ein Rundgang über den Friedhof, der ebenso wie bereits der 1. Teil auch
den innerhalb des Friedhofskomplexes gelegenen und 1866 eingerichteten Türkischen Begräbnisplatz berücksichtigt. Der Rundgang beschreibt in der Hauptsache Gestalt und Wirkung herausragender Grabdenkmäler, Mausoleen, Gedenksteine oder Friedhofsbauten, ohne jedoch eine Einordnung
in einen größeren kunsthistorischen Zusammenhang zu leisten. Teilweise werden auch Biographien
von Bestatteten geliefert wie beispielsweise die des Oberleutnants und Philosophen Eduard von
Hartmann (1842-1906).
Der Rundgang verdeutlicht aber auch, wie hoch auch hier der Verlust an Denkmalsubstanz ist, was
der Situation auf vielen Berliner Friedhöfen entspricht.
Schütze hat intensiv recherchiert. Seine Darstellung fußt auf dem Quellenmaterial zahlreicher Archive in beiden Teilen Deutschlands (u. a. Bundesarchiv Koblenz, Militärarchiv Freiburg/Breisgau,
Zentrales Staatsarchiv der DDR in Merseburg, Stadtarchiv in Ost-Berlin).
Ein Manko ist jedoch die Form der Darstellung. Dem Werk hat eindeutig ein Lektorat gefehlt, das für
die flüssige Lesbarkeit des Textes hätte sorgen müssen. Die Aufgabe des Lektors wäre in erster Linie
die Straffung des Textes gewesen. Schütze hat den Text mit einer Vielzahl von mitunter überlangen
Zitaten zersetzt, die nicht selten wenig aussagekräftig und daher überflüssig sind. Oft hätte auch eine
eigene kurze Zusammenfassung der Zitate gnügt. Auch die große Vorliebe fürs historische Detail beispielsweise im Hinblick auf Veränderungen der Friedhofsumfriedung oder der Friedhofsfläche —
ist bisweilen ermüdend. Ebenso aufgebläht ist die schon fast inflationär zu nennende Illustration des
Textes. Hier hätte manches weggelassen werden können, sei es aufgrund der schlechten Bildqualität
oder wiederum aufgrund des geringen Aussagewertes. Was z. B. soll eine Abbildung, die einzig und
allein das Etikett eines Verzeichnisss der auf dem Garnisonfriedhof beerdigten Personen von 1876 ff.
zeigt? Hier wurde wohl nach dem Motto verfahren, daß allein das Alter den historischen Wert bestimmt. Manche Textabbildung ist überdies so verkleinert wiedergegeben, daß man Mühe hat, sie zu
entziffern.
Schade, durch diese Art der Darstellung verliert das gut recherchierte Buch doch einiges an Wert.
Herbert May
Neue Mitglieder:
Karl Wolfgang Bartel, Pensionär
Hatzfeldtallee 6,1000 Berlin 27 (Nürnberg)
Walter-Georg Krull, Steuerberater
Fretzdorfer Weg 2, 1000 Berlin 37
(R. J. Napirala)
Joachim Pohl, Angestellter
Innstraße 26, 1000 Berlin 44 (Schriftführer)
Ulrich Stark, Dr.-Ing.
Kuno-Fischer-Straße 19, 1000 Berlin 19
(Siewert)
Dr. Hans-Peter Wüst, Rechtsanwalt und Notar
Schlüterstraße 6, 1000 Berlin 12
(Schriftführer)
159
Veranstaltungen im I.Quartal 1989
1. Donnerstag, den 26. Januar 1989,16.30 Uhr: Führung durch die Ausstellung im Landesarchiv: „Totgeschwiegen — Die Geschichte der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik von 1880
bis 1945". Leitung: Frau Christina Hertel. Treffpunkt in der Halle des Landesarchivs Berlin, Kalckreuthsraße 1/2, Berlin 30. Fahrverbindungen: Busse 19, 29 und U-Bahnhof
Wittenbergplatz oder Nollendorfplatz.
2. Montag, den 30. Januar 1989, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Frau Dr. Christiane
Knop „Fahrten in die Mark Brandenburg — vertraute Stätten wiederentdeckt". Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg.
3. Montag, den 13. Februar 1989, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Joachim-Hans
Ueberlein „Ein historischer Spaziergang durch den Bereich Alt-Spandaus". Bürgersaal
des Rathauses Charlottenburg.
4. Montag, den 27. Februar 1989, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Frau Dr. Sibylle Einholz und Frau Erika Müller-Lauter: „Der ferne Ort — 80 Jahre Südwestfriedhof Stahnsdorf". Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg.
5. Montag, den 6. März 1989, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Prof. Dr. Helmut
Engel: „Zur Geschichte der Denkmalpflege in Berlin im 19. Jahrhundert". Bürgersaal des
Rathauses Charlottenburg.
6. Montag, den 20. März 1989, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag mit zwei Projektoren von
Frau Ingeborg Hensler und Herrn Oswald Hensler: „Glogau - Handelsstadt und Festung
an der Oder". Im 16. Jahrhundert mit 25 000 Einwohnern zweitgrößte Stadt Schlesiens
(zum Vergleich: Berlin und Colin zahlten damals etwa 10000 Bewohner). Heute ist die
Innenstadt Glogaus dem Erdboden gleichgemacht. Berlin und Glogau besaßen viele Gemeinsamkeiten. Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg.
Ab 1. November 1988 hat die Leitung der Geschäftsstelle des Vereins für die Geschichte Berlins,
gegr. 1865, Frau Ingeborg Schröter, Brauerstraße 31,1000 Berlin 45, Telefon 7 72 34 35, übernommen. Frau Ruth Koepke führt die Geschäfte der Schatzmeisterin weiter.
Bibliothek: Otto-Suhr-Allee 96 (Rathaus), 1000 Berlin 10, Telefon 3430-2234. Geöffnet: mittwochs 16.00 bis 19.30 Uhr.
Vorsitzender: Hermann Oxfort, Breite Straße 21, 1000 Berlin 20, Telefon 3 33 24 08.
Geschäftsstelle: Frau Ingeborg Schröter, Brauerstraße 31, 1000 Berlin 45, Telefon 77234 35.
Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13, 1000 Berlin 65, Telefon 4509-291.
Schatzmeisterin: Frau Ruth Koepke, Temmeweg 38, 1000 Berlin 22, Telefon 3 65 76 05.
Konten des Vereins: Postgiroamt Berlin (BLZ 100 100 10), Kto.-Nr. 433 80-102,1000 Berlin 21;
Berliner Bank AG (BLZ 100 20000), Kto.-Nr. 03 81801 200.
Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr.
1865, Schriftleitung: Günter Wollschlaeger, Kufsteiner Straße 2, 1000 Berlin 62; Dr. Christiane
Knop, Rüdesheimer Straße 14,1000 Berlin 28; Roland Schröter.Beiträge sind an die Schriftleiter zu
senden.
Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 16 DM
jährlich.
Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn, 1000 Berlin 49.
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.
160
A 1015 F
MITTEILUNGEN
DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS
GEGRÜNDET 1865
85. Jahrgang
Heft 2
J. G. Hossauer, Silberpokal, 1834
April 1989
Glienicker Nachträge — Paralipomena II
Von Harry Nehls
„Nur durch den Austausch und die Reibung der Ideen gelangt man dahin, den einen
oder andern wissenschaftlichen Gegenstand zu berichtigen."
Menü von Minutoli
„Die Aufwertung des Prinzen in jüngster Zeit ist ein bemerkenswertes Phänomen." In der Tat
ist sie das. War doch in der älteren Literatur relativ wenig über den von der Historiographie
kaum beachteten Prinzen Friedrich Carl Alexander von Preußen (1801—1883) zu erfahren.
Das neu erwachte Interesse an seiner immer noch weitgehend unerforschten Biographie darf
uns daher nicht verwundern. Denn es war bisher stets abhängig vom Interesse an seinem einstigen Landsitz, der Villa Glienicke bei Potsdam. Nach dem Tod des Prinzen fiel die Glienicker
Villeggiatur, die — dem Zeitgeschmack entsprechend — Italien in die Mark Brandenburg versetzte, in einen beinahe einhundert Jahre währenden „Dornröschenschlaf", aus dem sie durch
die gelungene Ausstellung „Schloß Glienicke — Bewohner Künstler Parklandschaft" endgültig wieder zum Leben erweckt worden sein dürfte. Zu Recht bescheinigt man Glienicke neuerdings im Zusammenhang mit den Potsdamer Schlössern und Gärten „europäischen Rang".
Glienickes wertvollste Kunstschätze waren zuvor allerdings verkauft, versteigert bzw. illegal
ins Ausland (USA, Großbritannien, Österreich, Schweiz) verbracht worden. Da Akten und
Inventare über die betreffenden Kunstdenkmäler nicht mehr vorhanden sind, gilt es heute
mehr denn je, zahlreiche offene Fragen in bezug auf Verbleib und Provenienzen der „verschollenen" Kunstobjekte zu klären.
Keineswegs geht es bei dem kulturhistorischen Phänomen Glienicke und allem was damit zusammenhängt — so auch die Frage nach seinem einstigen Besitzer — um eine „Aufwertung",
sondern unter anderem auch darum, bisher Versäumtes aufzuarbeiten.
Man erinnere sich beispielsweise nur, wie lange es brauchte, bis endlich eine Bestandsaufnahme der Glienicker Antikensammlung vorlag. Natürlich hing das auch mit der peripheren
Lage Glienickes, das landschaftlich gesehen eher zu Potsdam denn zu Berlin gehört, zusammen. Weitere Ursachen dafür sind erst kürzlich geschildert worden.' Ein auf den neuesten Forschungsstand gebrachter, kleiner handlicher Kunstführer durch die Glienicker Antikensammlung, in der Art, wie er für Schloß Glienicke und Charlottenburg, Schinkel-Pavillon, Jagdschloß Grunewald und Pfaueninsel längst existiert, steht bis auf den heutigen Tag bedauerlicherweise noch immer aus.2 Der Hohenzollernprinz bzw. sein Nachlaß, auf den jüngst ein
Nachfahre Anspruch erhoben hatte 3 , ist geradezu in die „Schußlinie" von Kunsthistorikern
und Archäologen, Historikern, Gartendenkmalpflegern und Architekten geraten. Die eigentliche „Initialzündung" aber für die erneute Beschäftigung mit dem drittältesten Sohn Friedrich
Wilhelms III. bewirkte das 1981 im Osnabrücker Biblio Verlag erschienene Buch von Malve
Gräfin Rothkirch: Prinz Carl von Preußen. Kenner und Beschützer des Schönen 1801 bis
1883. Eine Chronik aus zeitgenössischen Dokumenten und Bildern.4
Der eingangs zitierte Satz ist absichtlich aus dem Kontext herausgelöst worden, um zu demonstrieren, wie es zu dieser vermeintlichen „Aufwertung" kam. Indem er nun wieder in den Kontext eingefügt wird, soll gleichzeitig die Haltbarkeit einer „Abwertung" überprüft werden. Im
Zusammenhang lautet die betreffende Passage: „Bezeichnend für das Wesen des Prinzen ist
auch ein Bericht von 1821, den Folkwin Wendland (Berlins Gärten und Parks von der Gründung der Stadt bis zum ausgehenden neunzehnten Jahrhundert, Berlin, Wien 1979, S. 136,
162
137) zitiert. Hier wird geschildert, wie der Prinz ein Pferd mißhandelt, das im Morast steckengeblieben ist. Die Aufwertung des Prinzen in jüngster Zeit ist ein bemerkenswertes Phänomen."5
Der von Wendland zitierte Bericht („Im Thiergarten vor 65 Jahren") erschien 1886 in der
Zeitschrift „Der Bär. Illustrirte Berliner Wochenschrift, eine Chronik für's Haus", 12. Jg.,
S. 467, unter der Rubrik „Miscellen" — signiert von einem gewissen Herrn „G. St.". Das vom
Lateinischen herkommende Wort „Miscelle" bedeutet soviel wie „allerlei, gemischt" und im
literarischen Sinne „Schrift, Aufsatz vermischten Inhalts, Allerlei". Da Zitate meist ad libitum
verwendet werden, sei die Miscelle vollständig wiedergegeben: „Im Thiergarten vor 65 Jahren.
Im März 1821 war der Frühling in Berlin mit aller Macht erschienen. Heller Sonnenschein
hatte die im Februar gefallenen großen Schneemassen geschmolzen, aber auch die damals
noch nicht so hoch aufgeschütteten Wege im Thiergarten so aufgeweicht, daß Spaziergänge
nur längs der Charlottenburger Chaussee gemacht werden konnten. Eines Tages kam P r i n z
K a r l in seiner kleinen russischen Droschke, mit einem schönen Pferde von auffallend vollem
Schweif und flatternder Mähne in hohem Bügel zwischen zwei Deichseln kurz gespannt, mit
dem kleinen Kutscher im langen russischen Rock, kleinem Hütchen und rother Schärpe, im
schnellsten Trabe auf dem Hauptwege hergerollt, lenkte aber links vom festen Wege kurz ab in
den weichen Boden des Thiergartens so ein, daß die niedrigen Droschkenräder sogleich bis an
die Axen einsanken, der Wagen noch auf eine kurze Strecke geschleift wurde, bis auch das
Pferd bis an den Leib im Schlamm versank und das Ganze dann zum Stillstand kam. Der Prinz
schwang sich mit kühnem Sprung bis auf des Fußweges Rand. Der kleine Kutscher kroch im
langen Rock mühsam aus dem Schlamm hervor, hatte aber seine Peitsche nicht losgelassen.
Der Prinz nahm ihm diese ab und hieb damit auf das Pferd ein, welches aber in der schwierigen
Lage, in der es sich befand, regungslos verharrte. Niemand außer mir und meinem Freunde, die
wir schnell herzusprangen, war zu sehen. Ich trat daher an den Prinzen heran und bot ihm höflich meine Hülfe an, welche gern angenommen wurde. Ich ergriff das Pferd am Zügel, hielt ihm
den Kopf hoch, beruhigte es und löste mit Hülfe des Kutschers alle Riemen. Inzwischen waren
einige Leute herangekommen, welche den Wagen rückwärts bewegten, so daß das Pferd frei
wurde. Als es auch so noch nicht im Stande war, sich aus dem Schlamm zu helfen, so ergriff ein
Mann dasselbe am Schweif und zog und hob daran, während ich, den Kopf am Zügel haltend,
das Pferd hob und ermuthigte. Es gelang, das Pferd erhob sich. Aber — o Schrecken! — der
Mann, der ihm dazu durch einen starken Ruck am Schweif geholfen hatte, lag hintenübergefallen im Schlamm und h i e 11 d i e f a l s c h e P f e r d e h a a r t o u r e m p o r , während das Pferd
sich schüttelte und m i t d e r k a h l e n S c h w a n z w u r z e l w e d e l t e .
Der Prinz mußte hell auflachen. Der Wagen und das Geschirr wurde nun, so gut es anging, wieder zusammengebracht; doch war es nicht möglich, daß der Prinz darin nach Hause fahren
konnte. Zum Glück kam in diesem kritischen Augenblick sein älterer Bruder, der Prinz Wilhelm in seinem solideren Fuhrwerk an, und beide Prinzen fuhren weiter, nachdem Prinz Karl
die helfenden Leute in sein Palais beschieden und mir freundlich gedankt hatte. Der kleine
Kutscher aber legte mit einem russischen Fluch den falschen Hinterschmuck dem auferstandenen Pferde an."
Keineswegs steht hier ein tierschindender Prinz vor Gericht, sondern dem Erzähler geht es ausschließlich um die Pointe vom „falschen Pferdehaartour", und daher ist auch nur diese Passage
gesperrt gedruckt worden, nicht aber die, wo Prinz Carl auf das Pferd einhieb. Für eine Beweisführung über den schlechten Charakter des Prinzen kann dieser Bericht wohl kaum herangezogen werden. Im Gegenteil: „Sir Charles Glinicke" ist eher ein Pferdeliebhaber gewesen. Denn
jemand, der seine Pferde „mißhandelt" (das Wort ist unglücklich gewählt, da es den Katalog163
leser in eine ganz bestimmte Richtung lenkt), wird ihnen kaum in seinem Park - so, wie es
Prinz Carl de facto getan hat - ein Grabmal6 errichten lassen. Ferner sei daran erinnert, daß
Carl Initiator der seit dem 8. Februar 1828 jährlich stattfindenden Parforcejagden im Grunewald gewesen ist und daß er sich gern zu Pferde porträtieren ließ. Im Juni 1829 fanden in Berlin
die ersten Pferderennen statt, und am 1. Mai 1834 stiftete „Seine Königliche Hoheit der Prinz
Karl von Preußen . . . aus Höchsteigener Bewegung ein dauerndes Denkmal (Titelseite) . . . ,
worauf durch eine Reihe von 30 Jahren die Namen der Sieger... aufgezeichnet werden" sollten. „Das Kleinod besteht in einer viereckigen, nach oben sich verjüngenden, Säule, von
151öthigem Silber..., oben mit einem Pferde aus gleichem Metall geziert. Die Hauptflächen
der Säule enthalten die Felder zur Eintragung der Sieger. Auf der Stirnseite befindet sich folgende Inschrift:
KARL PRINZ VON PREUSSEN
STIFTETE DIESE TAFELN
ZUR AUFZEICHNUNG
EINER XXXJÄHRIGEN
REIHE VON SIEGEN
AUF DER BRESLAUER RENNBAHN
MDCCCXXXIV.
Die Rückseite zeigt den Preußischen Adler, umgeben von der Kette des schwarzen AdlerOrdens; darüber die Königl. Krone. Das Kunstwerk ist von George Hossauer in Berlin gefertigt."7 Im Fußgestell dieses Silberpokals befand sich einst, versehen in einer Silberkapsel, die
Stiftungsurkunde. Dem angeblich so bezeichnenden Bericht von 1821 „für das Wesen des
Prinzen" sei hier ohne weiteren Kommentar eine Tagebuchnotiz des Schriftstellers Karl August Varnhagen von Ense (1785-1859) aus dem Jahre 1852 entgegengesetzt: „Ein guter Zug
vom Prinzen Karl. Auf seinem Schmerzenslager unsäglich leidend hat er seinen Stallmeister
Brocksch rufen lassen, ihm die Hand gegeben und freundlich zugeredet: ,Sie sind nicht schuld
an meinem Unfall, lieber Brocksch, das weiß ich recht gut; auch das Pferd ist nicht schuld, nur
die Sandgrube, die nicht ordentlich zugeworfen war! Was macht denn mein Leidensgefährte?
(Das Pferd, das auch beschädigt war.) Sobald ich so weit besser bin, daß ich an's Fenster kann,
müssen Sie mir das arme Thier auf dem Platz vorreiten.' Das macht dem Prinzen alle Ehre."
(K. A. Varnhagen von Ense: Tagebücher. Bd. 9. Hamburg 1868, S. 435, Notiz vom
12. Dezember 1852.)
Einen Höhepunkt der 750-Jahr-Feier Berlins markierte die Ausstellung „Schloß Glienicke —
Bewohner Künstler Parklandschaft". Doch als abgeschlossen kann die Glienicke-Forschung
damit — zumindest was die Detailforschung anbelangt — noch lange nicht betrachtet werden.
Im Sinne des hier vorangestellten Mottos des Prinzenerziehers Minutoli seien im folgenden
einige kritische Anmerkungen, Nachträge und Ergänzungen gestattet. Einen schwerwiegenden Lapsus stellt die Behauptung dar, die dem Portal des 1850 von Ferdinand von Arnim errichteten Klosterhofes gegenüber befindliche, zur Basis für die Säule mit dem venezianischen
Markuslöwen umfunktionierte, dorische Säulentrommel stamme „vom Poseidon-Tempel aus
Selinunt".8 Daß dem nicht so ist, bedarf keines weiteren Kommentars, da die kannelierte Säulentrommel, zusammen mit zwei weiteren des Pleasuregrounds, erwiesenermaßen nicht nach
Sizilien, sondern nach Attika, zum sogenannten Poseidontempel von Sounion, gehört.9
Ebenso unhaltbar ist die Behauptung, die Vorlage für das Bogenmotiv der 1827/28 errichteten Wagenremise, die 1846 zeitweilig als Antikendepot diente, habe Schinkel vom Athener
164
Abb. 1:
Statue des Demosthenes in
Potsdam-Sanssouci,
Sizilianischer Garten.
Marmorkopie'"
des 19. Jahrhunderts,
um 1860.
„Turm der Winde" übernommen.10 Ferner gilt die kolossale römische Kaiserstatue vor der
schmalen Südwand des Casinos den Porträtforschern längst nicht mehr als „Tiberius", sondern
- mit einer Ausnahme — communis opinio als Bildnis des Nerva. Die Glienicker Statue, die
den Kaiser nackt, d. h. heroisiert im ikonographischen Jupiterschema wiedergibt, sollte daher
dem Forschungsstand entsprechend künftig als Nerva und nicht mehr als „Tiberius"11 deklariert werden. Ebenso läßt sich heute die (verschollene) Kaiserbüste — einst auf dem porphyrnen Säulenpostament vor dem südwestlichen Pergolarm des Casinos — zweifelsfrei als
Augustusporträt bestimmen.12 Bis 1911 war die Paludamentumbüste, nach Ausweis eines bisher übersehenen Fotos13, dort noch vorhanden. Vermutlich wurde sie mit zahlreichen anderen
Kunstgütern ein paar Jahre später von Prinz Friedrich Leopold (Vater) nach Lugano14 verbracht.
Kürzlich sind gegen die These von der Einmauerung einer so bekannten Antike wie dem Glienicker Demosthenes in den zylindrischen Schaft der Großen Neugierde berechtigte Zweifel
laut geworden. Daß Prinz Carl, seit 1832 „außerordentliches Mitglied des Archäologischen
Instituts in Rom"15, Benennung und Bedeutung dieses Porträts nicht gekannt hat, muß man
wohl - unter Berücksichtigung all derjenigen Berater, die dem Prinzen nachweislich zur Verfügung gestanden haben — ausschließen. Mit zu berücksichtigen ist bei dieser Diskussion der
165
Umstand, daß Andreas Rumpf, der am 16. August 1917 gemeinsam mit Mitgliedern und Gästen des Vereins für die Geschichte Berlins „die Kunstschätze, Architecturwerke und gärtnerischen Anlagen im ehemaligen Park des Prinzen Carl von Preußen in Kl. Glienicke"16 besichtigt
hatte, den Demosthenes wie überhaupt die Große Neugierde mit keiner Silbe erwähnt. Das berühmte Pendant zum Aischines wäre dem geschulten Archäologen mit Sicherheit aufgefallen.
Dennoch, um den Eisenträger am Hinterkopf sowie den grauen Farbanstrich des Demosthenes kommt man nicht herum. Die antiken Glienicker Bildnisse des Demosthenes und Aischines finden ihre Parallele in Form von Kopien des 19. Jahrhunderts (Abb. 1) auf der Balustrade
des Sizilianischen Gartens in Potsdam-Sanssouci.17 Gänzlich unbewiesen bleibt die psychologisierende Annahme, daß es sich bei der Aischinesstatue vor dem Casino um eine „Identifikationsfigur des Prinzen Carl"18 gehandelt haben soll. In Glienicke, wo sie seit Mai 1846 nachweisbar ist, wurde sie zu Lebzeiten des Prinzen irrtümlich als „Aristides" bezeichnet. In archäologischen Fachkreisen hingegen war die richtige Bezeichnung (Aischines) längst bekannt.
Das Vorbild, nach dem die Statue (in Glienicke unter Rauch oder Gilli?) ergänzt worden war,
wurde 1799 zusammen mit einer Dichter- und Philosophenstatue in der Villa dei papiri in Herculaneum entdeckt und gelangte schließlich in das Museum von Neapel. Laut Eduard Gerhard
(1795—1867) soll ihre Benennung („Aristides der Gerechte") auf den „Marchese Venuti" zurückgehen.
Lodovico Marchese Venuti kam 1799 mit seinem Vater Domenico nach Rom, wo er Schüler
des Malers und Antikenhändlers Vincenzo Camuccini (1773—1844) wurde, einem Verwandten des römischen Archäologen E. Q. Visconti (1751—1818). Als Enkel des Archäologen
und ersten Ausgrabungsleiters von Herculaneum, Niccolö Marcello Marchese Venuti
(1705—1763), hat sich Lodovico gleichfalls als Ausgräber betätigt, wie ein Brief Tischbeins an
die Herzogin Anna Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach, geschrieben am 18. Dezember
1792 in Neapel, bezeugt: „Der Cavaliere Venuti hat eine Zeitlang in Locri gegraben und viele
aber nur kleine Vasen gefunden und viele Fragmente von großen Vasen, die alle von wunderbarer, schöner Zeichnung sind."19 Der Archäologe Gerhard bezweifelte jedoch alsbald (1828)
Venutis „Aristides"-Benennung. Er schreibt: „Indessen darf es kaum bemerkt werden, wie
ohne irgend eine ikonographische Bürgschaft der beliebte Name ohne alle Gültigkeit ist; auch
würde der Staatsmann Aristides wahrscheinlich in heroischem Kostüm sich gezeigt haben,
oder auch, wie der Vatikanische Phocion, in Kriegermantel und mit Wehrgehenk. . . . Unter
Philosophen, oder noch lieber unter berühmten Rednern Griechenlands würde die richtige
Benennung vermuthlich zu suchen seyn, scheint aber unter den uns bis jetzt bekannten Köpfen
derselben sich nicht vorzufinden; auf einen Redner läßt theils das Kostüm, theils das halbabgeschnittene Scrinium zu seiner Linken schließen."20 Bereits fünf Jahre später (1835) gelang dem
schriftstellernden Ausgräber und Antikenhändler zu Rom, Luigi Vescovali, die endgültige
Identifizierung des Neapler Porträts als das des Aischines.21 Denkbar, daß sich in seiner Antikensammlung, die er 1846 dem Prinzen Carl vermachte, auch eine Replik des berühmten Rhetors befand. In diesem Kontext ein weiterer Nachtrag: Die vom Verfasser entdeckte Provenienz der Statue aus Alexandria, einst Bestandteil der Carlschen Antikensammlung und seit
1922 im Besitz des Pergamonmuseums, ist 1841 beiläufig von dem Archäologen Friedrich
Gottlieb Welcker (1784—1868) als „Rhetor" klassifiziert worden.22 Erneute Nachforschungen haben ergeben, daß der vermutete Standort (Sockel vor der Kavalierhauswand) der alexandrinischen Statue nicht zutreffen kann.23 Denn das zur Beweisführung herangezogene Sievers-Foto, das eine ähnliche Gewandfigur auf dem heute leeren Sockel zeigt, stammt nachweislich aus dem Jahre 1938! Somit bleibt ihr ursprünglicher Aufstellungsort weiterhin unbekannt. Auch glaubt der Verfasser heute nicht mehr, daß Carl August Böttiger den Verkauf der
166
Abb. 2:
Louis Schneider
(1805-1878), Fotographie
um 1875.
Statue an den Prinzen Carl über den Berliner Archäologen Hirt, sonden vielmehr über den unmittelbar in Glienicke tätigen Bildhauer Rauch vermittelte. Beide, Böttiger und Rauch, pflegten nachweislich einen intensiven freundschaftlichen Briefkontakt.24
Über die qualitätvolle Waffensammlung des Prinzen Carl, zumeist Mittelalterliches, aber auch
Antikes25 enthaltend, braucht man kaum mehr viel Worte zu verlieren. Im Glienicker Ausstellungskatalog werden die „Salut-Böller", die zweifelsohne Bestandteil der prinzlichen Sammlung gewesen sind, nur am Rande gestreift. Sie scheinen nicht so recht ins Bild zu passen, obwohl sie gerade dort zu sehen sind.26 Die Kanonen erfüllten ausschließlich friedliche Zwecke,
späterhin mögen sie mehr dem militärischen Renommee des Prinzen gedient haben. Die erste
Kanone, die Carl anläßlich seines siebenundzwanzigsten Geburtstages von seinem Vater erhielt, war ein Dreipfünder und wurde umgehend benutzt: „Am vergangenen Montag habe ich
zuerst von der schönen Kanone Gebrauch gemacht, welche Sie die Gnade hatten, mir diesen
Geburtstag (29. Juni 1828, Anm. d. Verf.) zu schenken, indem ich nämlich Glinicke und Umgebung durch seinen Donner und vielfaches Echo den Geburtstag meines Schwagers verkündete. Morgen will ich Gleiches Charlotten zu Ehren tun."27 Neun Jahre später (1837) ist bereits
die Rede von mehreren Geschützen, die alle zum Zwecke von Salutschüssen dienten. Eines
der ältesten, das Prinz Carl besaß, stammte aus der Zeit des Großen Kurfürsten (1640-1688),
167
andere wiederum aus friderizianischer Zeit. Weitere waren Kriegstrophäen „von den siegreichen Kämpfen 1864 bei Düppel, 1866 in Böhmen und 1870 in Frankreich. Kaiser Wilhelm
machte diese Geschütze seinem Bruder, dem General-Feldzeugmeister und Chef der Artillerie zum Geschenk."28
Einen ausführlichen, bisher übersehenen Bericht über die Provenienzen der Glienicker Kanonen verdanken wir Louis Schneider (Abb. 2), dessen verwahrloste Grabstätte (Abb. 3,4) sich
in Potsdam befindet: „Dann dasjenige Geschütz, welches im Parke des Jagdschlosses Glineke,
von vier Bomben auf einer Plateform umgeben, am Ufer der Griebnitzbucht in der Richtung
über die weite Havelfläche bis Potsdam aufgestellt ist. Dasselbe ist ein Geschenk König Friedrich Wilhelm's III. für den Prinzen Carl von Preußen, Königliche Hoheit, und befand sich früher im Parke des Lustschlosses Glineke neben der Gärtnerwohnung, wo es zu Salutschüssen
diente. Es trägt unter dem Kurfürstlichen Scepterwappen die Inschrift: ,Friedrich Wilhelm,
Kurfürst zu Brandenburg ließ mich gießen. Anno 1680.' Beides steht zwischen den als Delphine gestalteten Henkeln29 und der ebenfalls einen Delphin darstellenden Traube. Zwischen
Zündloch und Traube, auf der etwas eingelassenen Friese steht: ,Johann Martin Heins von
Hamburg goß mich in Berlin'.30 An der Verstärkung des Bodenstücks hat auch dieses Geschütz eine Wunde erhalten. Bei der Restauration des Jagdschlosses ließ Prinz Carl, Königliche Hoheit, dies Geschütz aus seinem Parke an die jetzige Stelle bringen und wird dasselbe
auch hier gegenwärtig zu Salutschüssen benutzt. Seine Stelle im Parke von Glineke ist durch
ein anderes Bronzegeschütz in eiserner Lafettirung ersetzt worden, welches aber auf dem Langenfelde unter der Mündung die Inschrift: ,La Souris'; in der Höhe der Schildzapfen den
Wahrspruch ,Ultima ratio regum', darunter die Worte: ,Louis Charles de Bourbon, Comte
d'Eu' mit dem Dreililienwappen führt, welches Wappen sich nach den Worten: ,Pluribus nee
impar' noch einmal wiederholt. Am Bodenstücke befindet sich die Inschrift: Strasburg 1743,
fondu par Jean Maritz, Comissaire de Fönte.' Rechts und links neben diesem vorzüglich schön
geformten Geschütz stehen zwei kleinere nur mit der Inschrift: ,Me fecit Peter Seest.31 Amstelodami 1786', und rechts und links neben diesen, zwei kleine, sehr alte Geschütze aus Schmiedeeisen, ohne jede Bezeichnung. Außerdem sind neben dem Casino zwei Preußische und vier
Russische, unter Kaiser Alexander I. gegossene kleine Schiffsgeschütze ebenfalls zu Salutschüssen aufgestellt."32
Neben Antiken und Waffen sammelte Prinz Carl auch bescheidenere Dinge wie „heidnische"
oder „vaterländische Alterthümer". So berichtet Leopold von Ledebur (Abb. 5), Direktor der
Königlichen Kunstkammer und des Museums für vaterländische Altertümer, daß in Phöben —
in der Nähe von Werder — um 1840 bei einer Nachgrabung Urnen mit Ohrringen, kleineren
Steinäxten, einer langen Nadel, einem Mammutzahn u. a. m. zu Tage kamen: „Mehrere dieser
Gegenstände wurden nach Potsdam gesendet und sollen an S. Königl. Hoheit den Prinzen Carl
gelangt sein."33 In dem italienisierenden Ambiente von Glienicke fand sich jedoch kein rechter
Platz für prähistorische Funde, so daß Prinz Carl sie, wie auch andere Sammlungsobjekte, späterhin dem Museum überwies.34
Abschließend noch einige rezensionsartige Anmerkungen zum Ausstellungskatalog: Schloß
Glienicke — Bewohner Künstler Parklandschaft. Mit einer unglaublichen Fülle an Material
und Informationen führt er dem Leser eindrucksvoll den derzeitigen Forschungsstand vor Augen. Sehr zu bedauern ist das Fehlen eines Personen-, Orts- und Sachregisters, das die Benutzung dieses Kataloges wesentlich erleichtert hätte. Wenn der „Schwerpunkt", wie im Vorwort
(S.5) ausdrücklich betont wird, „auf dem Schinkel-Schloß liegt", dann fragt man sich, weshalb
gerade für das Frontispiz des Kataloges eine Casinoansicht (die Große Neugierde, die in der
Literatur des 19. Jahrhunderts ein Wahrzeichen Glienickes darstellt, ist weggelassen) gewählt
168
Abb. 3: Die verwahrloste und mittlerweile fast vollständig zugewachsene Grabstätte der Familie
Louis Schneider auf dem Neuen Friedhof in Potsdam. In der Bildmitte Schneiders Grabstein in Form
eines aufgeschlagenen Buches (vgl. Abb. 4), im Hintergrund die in die unverputzte Ziegelmauer eingelassene Marmortafel mit der Inschrift „Louis Schneider".
Abb. 4:
Rechts der Grabstein für
„L. Schneider/geboren/
d. 29. April/1805/gestorben/
d. 16. December/1878.", links
der seiner treuen Lebensgefährtin „Ida Schneider/geb.
Buggenhagen/d. 2. April/
1813/gestorben/1886". Der
Geheime Hofrat (seit 1865)
war Mitglied des 1827 gegründeten „Tunnels" und laut
Fontane „Seele" und „Stütze"
dieses literarischen Sonntagsvereins. Dem einstigen Schauspieler, Schriftsteller, Vorleser,
Initiator des 1862 gegründeten
Vereins für die Geschichte
Potsdams, Vorsitzenden des
Vereins für die Geschichte
Berlins (seit 1868) und Herausgeber der „Mittheilungen"
(seit 1869) hätte man kein
passenderes Grabdenkmal
setzen können.
169
wurde. Während der „Experte" sofort Gärtners Gemälde wiedererkennt, ist der „Laie" hingegen - aufgrund des fehlenden Hinweises im Impressum — zu langem Blättern verurteilt, bis er
es schließlich unter der Kat.-Nr. 488 a wiederentdeckt. Der Zeitdruck, unter dem dieser Katalog offensichtlich entstanden ist — er war im offiziellen Verkauf erst vom 8. September 1987 an
erhältlich —, mag daher manche Unklarheiten und Druckfehler35 entschuldigen.
Während es vor einigen Jahren noch hieß, Kopischs Meinung, die Schweizer Teufelsbrücke bei
St. Gotthard sei nicht das Vorbild der Glienicker Teufelsbrücke36, so kann man jetzt — ohne
Auseinandersetzung mit dieser Behauptung - wieder lesen, daß „die ebenfalls ruinöse Teufelsbrücke unterhalb des Gotthardpasses" doch „ihr Vorbild sei" bzw. „Als Vorbild diente
eine damals weithin bekannte und vielfach dargestellte Brücke auf dem Weg zum Gotthardpass in Richtung Italien."37 Und so scheint es denn auch wirklich zu sein. Jedenfalls ist die Glienicker Teufelsbrücke in der Literatur des 19. Jahrhunderts fast ausschließlich mit dem Schweizer Pendant in Verbindung gebracht worden: „ . . . steigen wir vom Rohrhäuschen bergnieder
und kommen zu der Teufelsbrücke. Dieser malerische Bau ist ein reizendes Miniaturbild der
bekannten Teufelsbrücke in der Schweiz.. ,"38 Erfreulich ist, daß man im Katalog nunmehr
eine Spätdatierung der Mannfeldschen Radierung „Klosterhof im Schloßpark zu Glienicke"
findet, auf die der Verfasser bereits im April 1987 aufmerksam gemacht hatte. 39 Unrecht tut
man allerdings dem Archäologen Rumpf an, wenn man behauptet, er datiere die Darstellung
„auf um 1885". 40 Lassen wir ihn selbst zu Worte kommen: „Die einzige zugängliche Abbildung des Klosterhofes, der vom Äußeren des Parkes aus nicht sichtbar ist, gibt die u m 1880
(Hervorhebung v. Verf.) entstandene Radierung von B. Mannfeld."41 Rumpf hat sich nur in
einer Sache geirrt, bei der Angabe, daß „die linke Hälfte eines Totenmahlreliefs (Abb. 6) aus
der Troas" stamme.42 Denn es handelt sich nicht um die linke, sondern um die rechte Hälfte.
Die unscheinbare kleine, aber sammlungsgeschichtlich so interessante Tabula unterhalb dieses
hellenistischen Weihreliefs besteht übrigens nicht aus „Metall"43, sondern S c h i e f e r .
Einige Objekte der Carlschen Kunstsammlung, über die man gern etwas mehr erfahren würde,
wie z. B. die Merkurstatue aus dem späten 18. Jahrhundert, die islamische Marmortabula oder
den heute „verschollenen" Renaissancetondo aus carrarischem Marmor, klammert der Glienickekatalog leider aus.44 Man wüßte auch gern, ob die kaum beachtete, von Besuchern allenfalls als Papierkorb mißverstandene Steinschale schräg gegenüber von Rietschels Neptun ursprünglich überhaupt als Staffageelement in den Glienicker Park gehörte. Vom Erscheinungsbild her würde sie sich stilistisch besser in die Gegend des Klosterhofes oder des Jägertores einfügen. Sollte es zutreffen, daß Prinz Carl einen Traktat unter dem Titel „Einige Aufschlüsse
über die Fabrication des Damas" verfaßt hat (vgl. M. Schütte in: Schloß Glienicke, wie Anm. 5,
S. 208 Anm. 60), dann fragt man sich, weshalb diese interessante Notiz lediglich im Anmerkungsapparat des Glienicker Kataloges zu lesen ist.
Ferner vermißt man im Ausstellungskatalog zahlreiche Literatur, Glienicke betreffend. Beispielsweise die interessanten Aufsätze von Goerd Peschken: Technologische Ästhetik in
Schinkels Architektur, in: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 22 (1968),
S. 45 ff.; Malve Gräfin Rothkirch: Der Glienicker Klosterhof. Eindrücke — Fragen - Gedanken, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins 3 (1983), S. 66 ff.; Martin Sperlich: Farbe am Bau bei Schinkel, in: Baukultur 4 (1985), S. U 1 ff.; Peter Bloch/Waldemar
Grzimek: Das klassische Berlin. Die Berliner Bildhauerschule im neunzehnten Jahrhundert.
Frankfurt am Main, Berlin, Wien 1978; Gerd Bartoschek: Malerei des Berliner Biedermeier in
Sanssouci. Potsdam 1984; Marie-Louise Plessen (Hrsg.): Berlin durch die Blume oder Kraut
und Rüben. Gartenkunst in Berlin-Brandenburg. Ausstellungskatalog Berlin (West) 1985
u. a. m.
170
Abb. 5:
Leopold Karl Wilhelm August
Freiherr von Ledebur, „Vorsteher der Abteilung für vaterländische Alterthümer" (seit
11. Januar 1829) und „Aufseher" bzw. „Director der
Königlichen Kunstkammer"
(seit 29. Mai 1830 bzw.
27. Februar 1832).
Fotographie, um 1870.
Daß Baron Cerrini als Vermächtnis den Staatlichen Schlössern und Gärten Berlins zahlreiche
Glienicker Kunstgegenstände hinterlassen hat, durch die eine derartige kultur- und kunstgeschichtliche Ausstellung überhaupt erst ermöglicht wurde, bleibt wohl sein anerkennenswertester Verdienst. Zu Recht ist man ihm dafür „zu großem Dank verpflichtet".45 Der Bildhauer
Joachim Dunkel hat diese Danksagung gekonnt in ein rundplastisches Porträt des Stifters Cerrini — aufgestellt im Obergeschoß der Villa Glienicke — umgesetzt. Im zur Ausstellung erschienenen Katalog wird zwar auch Johannes Sievers (Abb. 7) gelegentlich mit anerkennenden Formulierungen wie „bedeutendster Kenner Glienickes"46 bedacht, und bereits im Vorwort werden seinem „Prinzenband" Gründlich- und Genauigkeit bescheinigt, doch — so möchten wir
abschließend fragen — hätte nicht ebenso dem um Glienicke so verdienten Berliner Kunsthistoriker eine entsprechende Würdigung seitens des Ausstellers gebührt?
Anmerkungen
1 H. Nehls: Italien in der Mark. Zur Geschichte der Glienicker Antikensammlung. Berlin (West)
1987, S. 35 f. Anm. 57 und S. 77 (= Schriften des Vereins für die Geschichte Berlins, 63).
2 Die mehrfach aufgelegte, längst vergriffene Broschüre von Johannes Sievers: Schloß Glienicke.
Fünfte Auflage. München 1975 (— Große Baudenkmäler, 169) ist im Glienicker Ausstellungska171
talog nicht berücksichtigt worden; verdient hätte sie es, da sie eine brillante Zusammenfassung
darstellt. Mit dem Vorschlag, einen Glienicker Antikenführer herauszugeben, ist der Verf. mehrmals (1981 bzw. 1985) an die Staatlichen Schlösser und Gärten Berlin herangetreten. Frau
Ulrike Axmann, die 1986 „mit der Arbeit an einem Führer zu den Antiken im Schloß Glienicke"
(vgl. Archäologischer Anzeiger 1986, S. 767) begann, ist inzwischen von diesem begrüßenswerten Vorhaben zurückgetreten. Die bibliotheksgerechte Publikation von Friedrich Wilhelm
Goethert: Katalog der Antikensammlung des Prinzen Carl von Preußen im Schloß zu KleinGlienicke bei Potsdam. Mainz 1972 ist für den Glienickebesucher allein ihres Formates wegen als
„Führer" ungeeignet — und außerdem längst vergriffen. Daß allgemein großes Interesse an einem
neu bearbeiteten taschenformatigen Kunstführer besteht, wird wohl niemand mehr bestreiten
wollen. Die dritte Aufl. der Zehlendorfer Chronik 6 (1987) ist zwar ein guter Parkführer, läßt
aber die Antikensammlung weitgehend unberücksichtigt.
3 Bereits im März 1984 forderte der 67jährige Prinz Friedrich Karl von Hohenzollern von der Stadt
Berlin eine Nachzahlung von 43 Mio. DM, da das Schloß Glienicke samt Inhalt angeblich 1939
von seinem damaligen Vormund, Prinz Christian zu Schaumburg, mit 920 000 Mark weit unter
dem Preis verkauft worden sei, vgl. die Berliner Tagespresse vom 14. Oktober 1986 (z. B. Der Tagesspiegel: „Hohenzollernprinz klagt Glienicker Schloß ein"). Auch die erneute Forderung
Friedrich Karls in Höhe von 15 Mio. DM wurde am 13. Oktober 1987 vom Berliner Landgericht
abgewiesen. Die „Berliner Abendschau" vom 13. Oktober 1987 hat darüber ausführlich berichtet, vgl. ferner die Tagespresse vom 14. Oktober 1987 (z. B. Der Tagesspiegel: „Kein Anspruch
Friedrich Karls an Klein-Glienicke und Jagdschloß").
4 Vgl. dazu die Rezension von Eckart Henning in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 33 (1982), S. 173 f.
5 Helmut Börsch-Supan: Prinz Carl von Preußen, die Maler und die Bildhauer, in: Schloß Glienicke. Bewohner Künstler Parklandschaft. Ausstellungskatalog Berlin (West) 1987, S. 217 f.
Anm. 27.
6 Nehls (wie Anm. 1), S. 17 und 84 mit Abb. 45.
7 Zweiter Jahres-Bericht des Schlesischen Vereins für Pferderennen und Thierschau für 1834,
S. 1—13. Für den Hinweis auf den „Jahres-Bericht" ist der Verf. Malve Gräfin Rothkirch zu besonderem Dank verpflichtet. Zu Hossauer vgl. Angelika Wesenberg: Johann George Hossauer
1794—1874. Führender Berliner Goldschmied des 19. Jahrhunderts, in: Forschungen und Berichte 26 (1987), S. 213 ff.
8 So Gerd-Harald Zuchold: Der „Klosterhof" im Park von Schloß Glienicke: privates Refugium
oder Ausdrucksträger eines konservativen Staatsmodells? In: Schloß Glienicke (wie Anm. 5),
S. 237.
9 Nehls (wie Anm. 1), S. 10. Zuletzt Sepp-Gustav Gröschel: Glienicke und die Antike, in: Schloß
Glienicke (wie Anm. 5), S. 255.
10 So Jürgen Julier: Das Schloß, in: Schloß Glienicke (wie Anm. 5), S. 16, und Martin Sperlich:
Nicht Schloß, sondern Villa, in: Schloß Glienicke (wie Anm. 5), S. 29. Das Bogenmotiv ist vom
Agoranomion hergeleitet, vgl. Nehls (wie Anm. 1), S. 34, Anm. 46. — Gröschel (wie Anm. 9),
S. 250 f. Zuletzt hat sich auch M. Sperlich: Eine römische Villa an der Havel, in: Zehlendorfer
Chronik 6 (1987), S. 54, wieder für eine Herleitung vom Agoranomion ausgesprochen.
11 So Helmut Börsch-Supan: Schloß und Landschaftsgarten Glienicke, in: Museen in Berlin. Ein
Führer durch 68 Museen und Sammlungen. München 1987, S. 301.
12 Augustus ist deutlich zu erkennen auf dem im Erdgeschoß des Schlosses Glienicke ausgestellten
Foto, vgl. Schloß Glienicke (wie Anm. 5), Kat.-Nr. 88 und 264.
13 Fritz Stahl: Schinkel. Berlin 1911, S. 77, Abb. 84. Die Anregung, das Casinoumfeld mit Skulpturen ausschmücken zu lassen, könnte möglicherweise in Verbindung mit dem Aufenthalt des Prinzen Carl in der Neapler Villa bzw. dem Casino Reale del Chiatamone im November/Dezember
1822 stehen, vgl. Johannes Sievers: Das Vorbild des „Neuen Pavillons" von Karl Friedrich Schinkel im Schloßpark Charlottenburg, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 1960, S. 227 ff. mit Abb.4.
14 Kurt Heinig: Hohenzollern. Wilhelm II. und sein Haus. Der Kampf um den Kronbesitz. Berlin
1921, S. 156. - Nehls (wie Anm. 1), S. 9, 16.
15 Eduard Gerhard: Thatsachen des Archäologischen Instituts in Rom. Berlin 1832, S. 24.
16 Andreas Rumpf: Wanderfahrt nach Glienicke, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte
172
Abb. 6: Rechte Hälfte eines
hellenistischen Totenmahlreliefs, Klein-Glienicke, Gartenhof. Unterhalb des Reliefs
eine Schiefertabula mit der
Provenienzangabe: „Aus den
Ruinen von Troja/von Sr. K.
H. Prinz Friedrich Carl/1872
mitgebracht."
Berlins 9 (1917), S.59. Zu Rumpf vgl. Reinhard Lullies/Wolfgang Schiering (Hrsg.): Archäologenbildnisse. Porträts und Kurzbiographien von Klassischen Archäologen deutscher Sprache.
Mainz 1988, S. 252 ff. (Tobias Dohrn).
17 Hans Hoffmann/Saskia Hüneke: Bauten und Plastiken im Park von Sanssouci. Potsdam 1987,
S. 56, Kat.-Nr. F 6 a - b . Beide Kopien ohne Signatur, vermutlich von Eduard Mayer (1812—
1881), um 1860. - Nehls (wie Anm. 1), S. 67, Abb. 20.
18 So Gröschel (wie Anm. 9), S. 264.
19 Eberhard Haufe (Hrsg.): Deutsche Briefe aus Italien. Von Winckelmann bis Gregorovius. Dritte
Aufl. Leipzig 1987, S. 77. Zur Archäologendynastie der Venutis vgl. Friedrich Carl Gottlob Hirsching's Historisch-Litterarisches Handbuch berühmter und denkwürdiger Personen, welche im
173
achtzehnten Jahrhundert gelebt haben. Bd. 15. Leipzig 1812, S. 251 ff. - Weiss, in: J. F. Michaud:
Biographie universelle. Ancienne et moderne. Bd. 43. Graz 1970, S. 126 f. (= Reprint der Pariser
Ausgabe v. 1854). - U. Thieme/F.. Becker: Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler. Bd.
34. Leipzig 1940, S.221. - Pericle Ducati, in: Enciclopedia Italiana. Bd. 35. Mailand o. J., S. 139.
Zu Camuccini, Tischbein und Anna Amalia vgl. Gisold Lammel: Deutsche Malerei des Klassizismus. Leipzig 1986, S. 185 ff. mit Farbabb. 125 und 127. - Nehls (wie Anm. 1), S. 10 mit Anm. 65.
20 Eduard Gerhard/Theodor Panofka: Neapels antike Bildwerke. Stuttgart und Tübingen 1828,
S. 106, Text zu Kat.-Nr. 363.
21 Annali dell' Instituto di corrispondenza archeologico 8 (1836), S. 207 mit Anm. e. - Nehls (wie
Anm. 1), S. 10 mit Anm. 67.
22 F. G. Welcker: Das akademische Kunstmuseum zu Bonn. Bonn 1841, S.49, Text zu Kat.-Nr.49.
23 Nehls (wie Anm. 1), S. 105 ff.
24 Robert Boxberger: Briefe des Bildhauers Chr. Rauch, meist an Hofrath Böttiger, aus dessen
Nachlass auf der Bibliothek in Dresden, in: Jahrbuch der Königl. Preuß. Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt N. F. 11 (1882), S. 115 ff.
25 Drei antike Helme aus der ehemaligen Sammlung Prinz Carls befinden sich heute im Antikenmuseum in Berlin-Charlottenburg, vgl. Hermann Pflug, in: Antike Helme. Sammlung Lipperheide und andere Bestände des Antikenmuseums Berlin. Ausstellungskatalog. Mainz 1988,
Kat.-Nr. 41, 75 und 93 (= Monographien des Römisch-Germanischen Zentralmuseums, Forschungsinstitut für Vor- und Frühgeschichte, 14). — Ders.: Antike Helme. Begleitheft zur Ausstellung im Antikenmuseum. Berlin (West) 1988, S. 9. — Nehls (wie Anm. 1), S. 42, Anm. 155.
Eine mittelalterliche Beckenhaube eines norditalienischen sogen. Hundsgugels der Zeit um 1390
aus der Sammlung Prinz Carls (alte Inv.-Nr. PC 14313) ist von Heinrich Müller/Fritz Kunter:
Europäische Helme aus der Sammlung des Museums für Deutsche Geschichte. Berlin (Ost)
1984, S. 257, Kat.-Nr. 20, publiziert worden.
26 Beispielsweise auf der Casinoterrasse der Haunschen Farblithographie (Schloß Glienicke, wie
Anm. 5, Kat.-Nr. 275) sowie oberhalb der Legende des Parkplanes von 1862 (Schloß Glienicke,
wie Anm. 5, S. 152, Abb. 88).
27 Rothkirch: Prinz Carl von Preußen, S. 69.
28 Vgl. Nehls (wie Anm. 1), S. 17 f.
29 Nehls(wie Anm. 1), S.86, Abb.47. Die in der Abb. rechts befindüche Kanone könnte typologisch
noch in das 17. Jahrhundert gehören. Vgl. das Neubertsche Geschützrohr aus dem Jahre 1651,
das ebenfalls Delphinhenkel besitzt, in: Hans-Joachim Giersberg/Claudia Meckel/Gerd Bartoschek (Red.): Der Große Kurfürst. Sammler, Bauherr, Mäzen. Ausstellungskatalog Neues Palais. Potsdam 1988, S. 50, Kat.-Nr. 11.33 (Bartoschek).
30 Das von Schneider erwähnte Geschütz von 1680, das Johann Martin Heins von Hamburg goß,
kam später ins Artilleriemuseum des Berliner Zeughauses, vgl. Thieme-Becker (wie Anm. 19),
Bd. 16. Leipzig 1923, S. 313 s.v. Heintze.
31 Peter oder Pieter Seest, seit 1771 Leiter der Amsterdamer Stadtgießerei, war Geschütz- und
Glockengießer, vgl. Thieme-Becker (wie Anm. 19), Bd. 30. Leipzig 1936, S. 435 s. v. Seest.
32 Zitiert nach Louis Schneider: Die Kanonen im Lustgarten zu Potsdam, in: Mittheilungen des
Vereins für die Geschichte Potsdams 1 (1864), S. 6 (= 22te Sitzung v. 25. Mai 1864). Zu den
Geschützen vgl. ferner Folkwin Wendland: Berlins Gärten und Parke usw. Frankfurt, Berlin,
Wien 1979, S. 354. -Schloß Glienicke (wie Anm. 5), Kat.-Nr. 287 (Bernhard).
33 Leopold Freiherr von Ledebur: Die heidnischen Alterthümer des Regierungsbezirks Potsdam.
Berlin 1852, S. 53 („Localitätsbericht" von 1844). — Ders.: Die heidnischen Alterthümer aus der
Umgegend von Potsdam, in: Mittheilungen des Vereins für die Geschichte Potsdams 1 (1864),
S. 7 (— 17. Sitzung v. 29. Dezember 1863). Für die großzügige Reproduktionserlaubnis des
Ledebur-Fotos danke ich Herrn Dr. Klaus Goldmann, Museum für Vor- und Frühgeschichte,
Berlin-Charlottenburg.
34 Dazu ausführlich der Verf. in: Die Altertümersammlungen des Freiherrn von Minutoli. Diss. FU
Berlin (in Vorbereitung).
35 Richtig müßte es beispielsweise auf S. 31 statt „karytischem Marmor" — „Karystischem Marmor"
(nach Karystos auf Euboia benannt), S. 37 statt „Lichtschirmchen . . . (Kat.-Nr. 40)" — „Lichtschirmchen .. .(Kat.-Nr.92)",S.38statt„1934warLenne"-„1834warLenne",S.164,Anm.9
174
Abb. 7:
Johannes Sievers
(1880-1969), der Verfasser
der „Prinzenbände". Aufnahme um 1930.
statt „Berlin 1972" - „Berlin 1971", S. 187 statt „Schädlingsbefahl" - „Schädlingsbefall", S. 217
statt „1950 malte er das Pferd Agathon" - „1850 malte er das Pferd Agathon", S. 237 statt
„Linde" - „Buche", S. 260 statt „im Hamburg" - „in Hamburg", S. 319 im Text zu Kat.-Nr. 32
statt „Schinkel bediente sich vermutlich das Vorbildes" - „Schinkel bediente sich vermutlich des
Vorbildes", S.376 in der Literaturangabe derKat.-Nr. 153 statt „Rumpf 1917, S. 153" - „Rumpf
1917, S. 62", S. 544 im Text zu Kat.-Nr. 625 statt „Hilt beschreibt" - „Hiltl beschreibt" heißen.
Ferner fehlen auf S. 563 folgende Katalognummern: 114, 331, 350, 409-414, 416-434, 437,
440, 452, 462-472, 474/475, 477-480, 483, 485-491, 493-496, 499/500, 502/503,
505-507b, 509/510, 512-521, 523-554, 556-565 und 649. Falls die Angabe von Harri
Günther: Peter Joseph Lenne. Berlin (Ost) 1985, S. 112: „Als Villa Alexander blieb sie bis zum
Brand 1982 erhalten." zutrifft, muß Seilers Angabe im Text zu Kat.-Nr. 303: „Nach einem Brand
1981 . . ."entsprechend korrigiert werden. Der Bildhauer Simoni schuf zwar 1832eine unbekleidete Büste des Prinzen Carl, jedoch stammt die in der Ausstellung gezeigte, auf der Ruckseite
signierte („Simoni 1835"), eindeutig aus dem Jahre 1835. Von dieser Büste berichtet BörschSupan in: M. Sperlich/H. Börsch-Supan (Hrsg.): Schloß Charlottenburg Berlin Preußen. Festschrift für Margarete Kühn. München 1975, S. 99, Text zu Nr. 153, sie sei „1968 erworben als
Geschenk von Baron Cerrini". Im Glienicker Ausstellungskatalog heißt es hingegen im Text zu
Nr. 419: „Stiftung Cerrini 1981". So ist man fast geneigt, die Existenz von zwei Büsten anzunehmen. Es handelt sich aber um ein und dieselbe, nämlich die mit der Signatur „Simoni 1835".
175
36 So Martin Sperlich: Schinkel als Gärtner, in: Festreden Schinkel zu Ehren 1846-1980. Berlin
(West) 1981, S. 384.
37 Tilo Eggeling: Ludwig Persius als Architekt der Potsdamer Landschaft, in: Schloß Glienicke (wie
Anm. 5), S. 57, 78.
38 Leipziger Illustrirte Zeitung Nr. 154 vom 13. Juni 1846, S. 383. Vgl. ferner Beschreibung von
Sanssouci, dem Neuen Palais und Charlottenhof mit Umgebungen, auch aller übrigen Königlichen und Prinzlichen Schlösser, Gärten und Anlagen in und bei Potsdam. Potsdam 1850, S. 88. —
Ludwig Rellstab: Berlin und seine nächsten Umgebungen in malerischen Originalansichten.
Darmstadt 1854, S. 375. - Klaus Konrad Weber: Die „belebende Idee" des Glienicker Parkes,
in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 15 (1964), S.52mit Anm.3. Seilers Äußerungen (Schloß Glienicke, wie Anm. 5, S. 154) zu Webers Aufsatz ändern nichts an der Richtigkeit der Grundaussage Webers, mag dessen „Programm"-Vorstellung der Glienicker Parkkonzeption auch noch so „trivial" (Seiler) gewesen sein.
39 Nehls: Paralipomena — Glienicker Antiquitäten aus dem Kunsthandel, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins 2 (1987), S. 497. Allein die üppige Vegetation, die Mannfelds Radierung deutlich wiedergibt, empfiehlt eine Spätdatierung.
40 So Andreas Bernhard in: Schloß Glienicke (wie Anm. 5), im Text zu Kat.-Nr. 153. Ferner muß es
dort statt „Rumpf 1917, S. 153" richtig „Rumpf 1917, S. 62" lauten.
41 Rumpf (wie Anm. 16), S. 62.
42 Rumpf (wie Anm. 16), S. 60.
43 So Jürgen Julier: Das Schloß, in: Schloß Glienicke (wie Anm. 5), S. 23. Als „Bronzetafel" angesprochen in: Marie-Louise Plessen/Daniel Spoerri: Le musee sentimental de Prasse. Aus großer
Zeit! Ausstellungskatalog Berlin (West) 1981, S.372. Zu diesen Schiefertäfelchen vgl. Nehls (wie
Anm. 1),S. 12, 33, Anm. 40.
44 Dazu Nehls (wie Anm. 1),S. 12 mit Abb. 17/18auf S.64f.,S.15mit Abb.33auf S.76,S.14,41,
Anm. 133 und S. 75, Abb. 32.
45 Jürgen Julier: Zum Gedenken an Friedrich Baron Cerrini de Montevarchi Potsdam 1895—Imlau
1985, in: Schloß Glienicke (wie Anm. 5), S.7. Beigesetzt wurde Cerrini auf dem Friedhof in Lugano-Castagnola, bei seinem einstigen Dienstherrn, Prinz Friedrich Leopold von Preußen
(1895—1959). Das Pseudonym bzw. den Adoptivnamen „Cerrini/Cerrini de Monte Varchi"
entlehnte er dem alten florentinischen Adelsgeschlecht Cerrini di Monte Varchi, vgl. Allgemeine
Deutsche Biographie. Bd. 4. Leipzig 1876, S. 90 (Flame).
46 Gröschel (wie Anm. 9), S. 243.
Abbildungsnachweis
Titelblatt: Zweiter Jahres-Bericht (wie Anm. 7), Titelvignette.
Abb. 1: Aufnahme des Verf., 1985.
Abb. 2: Mittheilungendes Vereins für die Geschichte Potsdams3 (1883), Vortitelblatt mit aufgezogenem Foto.
Abb. 3 und 4: Aufnahmen des Verf. vom 5. Oktober 1987.
Abb. 5: Fotothek des Museums für Vor- und Frühgeschichte, Berlin-Charlottenburg (Neg.-Nr.
11250).
Abb. 6: Plessen/Spoerri (wie Anm. 43), S. 373 Abb.
Abb. 7: Reichshandbuch der Deutschen Gesellschaft. Das Handbuch der Persönlichkeiten in Wort
und Bild. Bd. 2. Berlin 1931, S. 1783.
Anschrift des Verfassers:
Harry Nehls M.A., Schloßstraße 2H, 1000 Berlin 19
176
Urteile über Berlin und die Berliner
In den Jahren 1938 bis 1943 sind in den „Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins",
damals „Zeitschrift" genannt, insgesamt zwanzig „Urteile über Berlin und die Berliner" erschienen, zumeist aus der Feder von Felix Hasselberg und Dr. Hermann Kügler. In loser Folge
sollen auch jetzt wieder weniger bekannte und an verstreut erscheinenden Stellen abgedruckte
Bemerkungen über unsere Stadt und ihre Einwohner erscheinen.
Hier wird mit Aufzeichnungen der Anfang gemacht, die der damals fünfundzwanzigjährige
englische Arzt Dr. Henry Reeve (1780-1814) im Winter 1806 in sein nicht für die Öffentlichkeit bestimmtes Reisejournal eintrug. Es behandelt eine Reise von Wien über Dresden nach
Berlin. Der Text wurde von Henning Schlüter ins Deutsche übertragen, bearbeitet und in der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlicht.
Mitgeteilt von Dr. H. G. Schultze-Berndt.
Mittwoch, den 19. Februar. Bis Berlin gilt es, nicht weniger als elf Poststationen zu passieren!
Je weiter ich mich von Dresden entfernte, um so jämmerlicher wurden die Straßen und Gasthöfe. Jenseits der sächsischen Grenze versank die Kutsche immer wieder in tiefem Sand. In den
preußischen Dörfern zeigte sich nur selten eine menschliche Seele. Hie und da huscht ein ausgemergeltes Weiblein oder ein dürres Kind über die Dorfstraße. Die Männer scheinen ausnahmslos zum Dienst in der Armee gepreßt zu sein. Als wir uns Berlin näherten, wurden die
Sandwege immer ärger. Fast hätte man meinen können, ringsum sei Urwald, und es ginge
einem darin verborgenen indianischen Wigwam entgegen!
Um so größer war mein Erstaunen, als wir durchs Tor rollten und nun im Trab auf einer breiten, wohlgepflegten Straße fuhren. Berlin entzückte mich auf den ersten Blick. Besonders
schön, daß alle großen Bauwerke ganz für sich allein stehen. Freilich vermißte ich, wie schon
draußen am Tore, den geschäftigen Trubel einer Metropole. Verglichen mit Wien, Dresden
oder gar London, rollten nur herzlich wenige Fuhrwerke an uns vorüber.
Gleich am ersten Abend ging ich ins Theater, wo man eine Art Märchenoper gab. Als die
königliche Familie ihre Loge betrat, gab es keinerlei ehrerbietige Begrüßung seitens des
Publikums. Niemand schien von der Anwesenheit des Landesherrn und seiner Gemahlin
sonderliche Notiz zu nehmen. Welch eine Schönheit ist übrigens die anmutige, jugendfrische
Königin Luise von Preußen! Man sieht ihr wahrhaftig nicht an, daß sie schon achtmal niedergekommen ist.
Freitag, den 28. Februar. Gleich in der Frühe führte mich der berühmte Dr. Hufeland zu dem
Hospital „La Maison de Charite", wo unter einem Dach die mannigfaltigsten Gebrechen kuriert werden. Leider kann ich über die Reinlichkeit der Krankenstuben nichts Gutes notieren.
Es sind schmale, düstere Gelasse, in denen allzu viele Betten aufgestellt sind. Und keines ist mit
einem Vorhang vom nächsten getrennt!
Dienstag, den 4. März. Trotz Schnee- und Hagelschauern stapfte ich zur Königlich Preußischen Porzellamanufaktur und betrachtete dort allerlei hübsche Dinge, deren handwerkliche
Akkuratesse staunenswert ist. Allerdings fordert man gesalzene Preise für all diese Figuren,
Tassen und Vasen! So kostet eine Kakaotasse nebst Untersatz, beides dekoriert mit dem Porträt der Königin Luise, nicht weniger als 45 Taler. Ich sah auch ein Service für die königliche
Tafel, das dieser Tage von der Staatsschatulle für 15 000 Taler erworben wurde. Auf einer
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Abendgesellschaft beim Professor Hufeland fand ich eine elegant gekleidete Schar von Menschen jeglicher Provenienz vor. Ordensgeschmückte Hofbeamte und Offiziere, Poeten, Philosophen und sogar einige wohlrenommierte Komödianten wandelten schwatzend, trinkend
und schmausend durch sechs hell beleuchtete Stuben.
Donnerstag, den 13. März. Ich machte Herrn Humboldt meine Aufwartung. Dieser dreißigjährige, ganz unaffektierte und quicklebendige Mann beherrscht fünf Sprachen und ist ein Individuum von großen Gaben. In der hohen Einschätzung seiner Fähigkeiten als Mineraloge,
Chemiker und Naturforscher sind sich alle Kapazitäten einig. Was ihn vor den Fachgelehrten
so auszeichnet, ist seine süperbe Sprachbegabung und die reiche literarische Bildung. Herr
Humboldt, der mir lange von seinen aus eigener Tasche bezahlten Forschungsreisen nach Peru
und Mexiko erzählte, ist gebürtiger Berliner. Das Königreich Preußen kann sich eines solch
urbanen Geistes mit Recht rühmen!
Sonntag, den 15. März. Bei einem Benefizkonzert hörte ich den Kastraten Tombolini eine Arie
von Cimarosa singen. Der arme Teufel besitzt zwar eine göttliche Stimme, aber der Anblick
dieses um der Kunst willen aller Männlichkeit beraubten Individuums stimmt so betrüblich,
daß ich die Augen schließen mußte, um mich des glockenhellen Gesangs recht erfreuen zu
können. Hinterdrein spielte ein vierzehnjähriger Knabe namens Meyerbeer ein Klavierkonzert
von Mozart und erntete dafür Beifallsstürme. Die gesamte königliche Familie, alle Gesandten
und der in Berlin ansässige preußische Adel wohnten der Veranstaltung bei.
Sonntag, den 22. März. Um 12 Uhr mittags ging ich zu einem Kolleg des Herrn Fichte über die
neue, so lauthals gepriesene Transzendentalphilosophie. Dieser Professor, ein Schüler Kants,
gilt hier als der allertiefste Denker. Während er den Sommer über in Erlangen lehrt, hält er zur
Winterszeit hier alle Sonntage einen Vortrag, bei dem jedermann gegen einen Taler Entree
Zutritt hat. Mit dem feierlichen Gestus, der einer umwälzenden Entdeckung zukommen mag,
gab dieser kleine, zugeknöpfte Mensch ganz nebulöse Worte oder altbackene Gemeinplätze
von sich. Wir waren unserer drei und zerbrachen uns den Kopf, um diesem krausen Kolleg
einen plausiblen Sinn abzuringen. Immer wieder stellten wir uns die Frage, was wohl all die Zuhörer, darunter etliche gescheit aussehende Männer und sogar ein Dutzend Frauenspersonen,
bewogen haben mochte, dieser konfusen Darlegungen zu lauschen.
Nachrichten
Neuer Glockenstuhl auf dem Roten Rathaus
Im Heft 4/88 der „Mitteilungen" hatten wir auf die Restaurierung des Roten Rathauses, vor allem
des Turmes und seiner Uhr, hingewiesen. Ende November 1988 ist der neue, etwa 61 schwere Glokkenstuhl mit Hilfe eines Kranes auf den mehr als 70 m hohen Turm gehoben worden. Die beiden
bronzenen Glocken stammen aus Apolda: Die Stundenglocke mit dem Ton D hat ein Gewicht von
1,71, die Viertelstundenglocke (Ton G) von 0,851. Die alten Stahlgußglocken sollen vor dem Märkischen Museum aufgestellt werden.
Schließlich wurde auch noch der annähernd l i m hohe Fahnenmast auf dem Turm befestigt. SchB.
178
Aus dem Mitgliederkreis
Studienfahrt nach Ulm (Donau)
Die diesjährige Exkursion führt die Mitglieder vom 8. bis 11. September 1989, also vier Tage, an die
Donau, wo unter Leitung des Schriftführers Dr. H. G. Schultze-Berndt in Ulm, um Ulm und um Ulm
herum ein ansprechendes Programm vorbereitet worden ist. In der Stadt selbst sind eine Besichtigung
des Münsters mit Orgelspiel, ein Blick in die Bauhütte des Ulmer Münsters und ein Spaziergang durch
die Stadt vorgesehen, der auch eine Führung durch das Fischer- und Gerberviertel, die Besichtigung
des Minnesängersaals im Ehinger Hof und der romanischen Reste im Steinhaus einschließt. Der übliche Ausflugtag führt nach Wiblingen zur Klosterkirche mit Bibliothek, nach Blaubeuren mit einer
Führung durch die dortige Klosterkirche mit dem berühmten Hochaltar und der Besichtigung des
Blautopfs, schließlich nach Oberelchingen zur Besichtigung der bis dahin restaurierten Klosterkirche
mit einem Blick von der Napoleonshöhe. Ob sich auch noch Besuche der Klöster Roggenburg und
Zwiefalten sowie der „berühmtesten Dorfkirche der Welt", Steinhausen, unterbringen lassen, müssen die weiteren Gespräche ergeben.
Für die Führung in Ulm und in die Umgebung konnte Frau Ingeborg Bock, geb. Schlumberger, gewonnen werden, eine jener stadthistorisch, musikgeschichtlich und kunsthistorisch gleichermaßen
beschlagenen Führerinnen, die mit dem Engagement für ihre Heimatstadt die Herzen der Besucher
gewinnen. Eine genügende Zahl von Zimmern (vor allem Einzelzimmer) ist im Hotel Neuthor in
Ulms Innenstadt für alle Fahrtteilnehmer schon gesichert worden. Auf der Hinfahrt wie auf der Rückreise werden an sehenswerten Stätten jeweils Pausen eingelegt.
Das ausführliche Programm erscheint im Heft 3/89 der „Mitteilungen" im Juli. Wer vorab über den
Fahrtverlauf und die Ausgestaltung der Exkursion unterrichtet werden möchte, kann sich unverbindlich jetzt schon anmelden beim Schriftführer Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13, 1000 Berlin
65, Telefon 4509-291.
SchB.
Buchbesprechungen
Bodo Rollka/Volker Spiess (Hrsg.): Berliner Laubenpieper — Kleingärten in der Großstadt. 120
Seiten, zahlreiche Fotos, Literaturverzeichnis und Übersicht über Berliner Kleingartensiedlungen,
aufgeschlüsselt nach Bezirken. Haude & Spener, Berlin 1987.
Das scheinbar nur vergnügliche Buch ist bedeutungsvoller, als es das leicht ironisch gebrauchte Wort
„Laubenpieper" glauben macht: „Der Blick auf den Kleingarten und der Blick aus dem Kleingarten
sind für die Beteiligten zwei Paar Schuhe", heißt es darin; zu ergänzen ist: es wird die ganze Palette
eines spannungsreichen Themas ausgebreitet; sie umfaßt die Entwicklung von den „Armengärten"
bis hin zur Frage der Lebensqualität und der Atemluft in der eingeschlossenen Stadt Berlin überhaupt. Wie das Buch die verschiedenen Aspekte von ihrem Entstehen in der frühen Industrialisierungszeit bis zu seiner konfliktreichen sozioökonomischen Brisanz entfaltete, ist es entstanden als ein
Gemeinschaftswerk „im Rahmen eines Projektes .Berufspraxis im Verlagswesen' an der Technischen
Universität Berlin". Das Impressum nennt eine Reihe von Mitarbeitern unter Leitung des Verlegers
Volker Spiess und seines Mitarbeiters Bodo Rollka. Es bietet recht verschiedenartigen Begabungen
und Darstellungsmöglichkeiten Spielraum.
Der historische Leitfaden von den ersten Armengärten — nur halb zu Recht „Schrebergärten" genannt - bis zu den heutigen Kleingartenkolonien scheint am Anfang wie am Ende dieselbe Problemlage offenzulegen: die Bedrohung der städtischen Lebenswelt durch das Überwuchern der Industrie;
aber die in Frage gestellte Menschlichkeit ist heute grundsätzlicher.
Die Suche nach naturdurchdrungenem Lebensraum setzte nicht, wie allgemein angenommen wird,
179
mit der Lebensreformbewegung der Jahrhundertwende ein, sondern ist als dunkle Abseite schon in
die Lennesche Praxis und Philosophie der höfischen Landschaftsparke eingewoben; Armengärten
sind die Kultur- und Erlebnisform des „kleinen Mannes", der die höfische Welt und später die bürgerliche, ausgeformt in den „Volksparken", ermöglichte. Von hier aus ergibt sich für die Berichterstatter
eine kritische Distanz zu den Werbespots der „grünen Stadt", mit denen sich Berlin andernorts zu
profilieren sucht. Ihr „Vorzeigecharakter" wird allseits hinterfragt; am Ende steht die Sympathie mit
den engagierten Kämpfern der heutigen Kleingartennutzer gegen Flächennutzungspläne, welchen
die Erwägungen des Senats als vom grünen Tisch her erscheinen lassen; dies ist die Perspektive „aus
den Kleingärten hinaus". Es wird nicht nur das heute selbstverständlich gewordene und unbestrittene
Unbehagen vor der betonierten Stadt artikuliert, sondern das Recht auf Selbstbehauptung begründet
sich — im Interesse aller — aus einer kultur- und geistesgeschichtlichen Entwicklung, einer Lebensform, die das 19. Jahrhundert gezeitigt hat und die in den 80er Jahren des unseren sich als Überlebensfrage stellt.
Aufkommen und Fortgang der Kleingartenbewegung werden markiert durch die Armengärten von
1833 und ihre sozialfürsorgerische Funktion der Selbsthilfe — die Ausformung einer Gesetzgebung
und Ordnung für ihr Zusammenleben gegen Ende des 19. Jahrhunderts und in der Weimarer Republik — der Verfremdung in der NS-Zeit bis hin zur naturerhaltenden Bedeutung im Kampf gegen den
rein zweckgebundenen Flächennutzungsplan (FNP). — Aus derselben Wurzel, aus der früher die
Forderung nach Nachweis der „Würdigkeit und Bedürftigkeit" für soziale Hilfe entsprang, der Anpassung an das bürgerliche Wohnen, wuchsen auch die restriktiven Begleiterscheinungen; ja, sofern
Wohnen im Grünen einem menschlichen Grundbedürfnis entspricht, wird sein Einordnen ins soziale
und rechtliche Umfeld ein Politikum überhaupt.
Der historische Überblick beginnt mit der Klarstellung, daß der Arzt Dr. Schreber aus Leipzig mit den
nach ihn benannten Gärten weniger zu tun hatte, daß sein philanthropischer Ansatz zur Körperertüchtigung sich aber mit der Kleingartenbewegung verband. — Dem mit der Frage Unvertrauten erschien bisher die Errichtung von Armengärten als eine soziale Wohltat einfachhin; hier lernt er ihre
unvermutet entstandenen Begleiterscheinungen kennen, so z. B. den Widersinn, daß sich aus der
jugendfürsorgerischen Maßnahme gerade die sittliche Gefährdung Jugendlicher durch Alkoholmißbrauch und Streitsucht in „den Kolonien" entwickelte. Auch die Verbindung der Arbeiterbewegung
und der karitativen Absicht des Roten Kreuzes und der Wohlfahrtsverbände lernt er hier konkreter
sehen. Der Leser bekommt auch geschildert, wie die auf das Bauerwartungsland spekulierenden
Generalpächter alles Erreichte zunichte zu machen schienen.
Auf dem Feld der Kleingartenbewegung, organisiert in Reichsverbänden und Unterorganisationen,
spiegelt sich das parteipolitische und ideologische Hin und Her der Weimarer Jahre und der Nazizeit.
Die Kleingärtner gerieten in die Gigantomanie der Baupläne der Speer-Stadt „Germania"; Laubenpieper wurden totalitär und lebensbedrohlich beherrscht. Was die Nazis nicht einkalkulierten: Laubenkolonien wurden zu Orten des Widerstandes und der Verstecke für die Verfolgten.
Noch immer offen ist aber der Kampf, den die Eigner bzw. Nutzer der Kleingärten um die Erhaltung
ihres Grüns und ihrer individuellen Lebensform gegen die kommunalpolitisch betriebene Baulenkung, niedergelegt im FNP, führen. Seit Lautwerden der Ökobewegung ist der Kampf um die Bewahrung dieses Lebensraums — für alle — umfassender und tiefgreifender geworden. Die Verff. mißtrauen dem statistischen Material und den bürokratischen Argumenten. Sie artikulieren die „Kleingartenkultur" als eine menschliche Grundform, die zu bewahren sei. Sie führen als literarische Zeugen Fallada, Erich Mühsam, Kästner und Ciaire Waldoff an, natürlich auch Vater Zille; ferner ist ein
Exkurs über die Gartenstadtbewegung eingebunden; ihr liegen ähnlich strukturierte Denkmodelle
zugrunde; in beiden findet der Mensch in der Großstadt seinen „gesellschaftlichen Ort".
Neben anderen amüsanten Streiflichtern sei auf das Bildmaterial verwiesen. Die Fotos erzielen mit
verschiedenen Mitteln reizvolle, stets kontrastreiche Wirkungen; es sind vielfach Details aus ungewöhnlicher Perspektive. Das Unaufgeräumte, Unaufgeputzte, oft Kitschige, vielfach aber Romantische überwiegt; es ist das losgelöste Nur-für-sich-selbst-Dasein. Die Mitarbeiter haben da ihre Lust
am Skurrilen und Hintergründigen eingebracht — bis hin zum Herausfordernden des Umschlagbildes. Es ist ein wenig Nostalgie darin, aber auch die Frage nach einem erneuten Miteinander und Füreinander der Generationen. Die Bilder legen mehr als jede Polemik das beiseite geschobene Recht
der Älteren dar und machen einsichtig, daß stadtgestalterische Reglementierung gefährlicher sein
kann als die „Ordnungen" des 19. Jahrhunderts.
Christiane Knop
180
Christian Velder: „300 Jahre Französisches Gymnasium Berlin. 300 ans au College Francsiis".
664 Seiten, 107 jeweils zeitgenössische Porträts, Quellen- und Literaturverzeichnis, Literaturangaben über wissenschaftliche oder publizistische Veröffentlichungen der geschilderten Lehrer und ehemaligen Schüler, Register. Nicolai Verlag, Berlin 1989. Französische Übersetzung und Kurzfassung
der Lebensläufe von Dominique und Serge Vanhove.
Der Nicolai Verlag legt zum 300. Jahrestag der Gründung des College Francais/Französisches Gymnasium ein nach Stoff und Gehalt gewichtiges Buch vor, das auf jeder Seite hohe Lesefreuden weckt
und dem Leser Respekt vor der profunden Quellenarbeit des Autors abnötigt sowie vor seiner überaus bedachten Kraft der Darstellung; ebenso aber auch für die Bedeutung einer solchen Institution,
deren Geschichte Verf. aus dem Zugehörigkeitsgefühl zu „den Collegianern" in der Sprache der modernen Schule entfaltet. So, wie die Geschichte eines Hauses die seiner Bewohner ist, umschreibt die
einer Schule die seiner Lehrer und Schüler, seiner Gründungsväter, Förderer und Absolventen von
Ruf. Verf. konzipiert sie als Personengeschichte in Einzelporträts; daraus entsteht ein lebensvolles,
farbiges Bild voll Tiefenschärfe, ein überaus reich facettiertes Spektrum, darin jede Epoche und jede
große Persönlichkeit eine besondere Nuance bildet, die neue geistige Aspekte auftut. Als aufgesetztes
Glanzlicht erscheint die Tradition der ehrwürdigen Hugenottenschule. Daß die schlichte Frömmigkeit und gediegene Lebenshaltung, der geistige Mut der Hugenotten und ihre Weltweite in drei Jahrhunderten zum alles durchdringenden Prinzip geworden sind, erfüllt Verf. mit dankbarer Freude. Er
führt die Segensformel an, die allen Abiturienten auf ihrem Abgangszeugnis mitgegeben worden ist:
«Je prie Dieu, qu'il vous ait en sa sainte garde I» — So kann es nicht verwundern, daß die Stiftung Preußische Seehandlung, die Botschaft der Französischen Republik und Seine Kaiserlichen Hoheit Dr.
Louis Ferdinand Prinz von Preußen die Herstellung eines so kostbaren Buches gefördert haben, weil
ihre eigensten Interessen darin berührt sind.
Welche Berliner Schule, so ehrwürdig ihr Ruf auch ist, kann auf fundamentale Quellen aus Staatsarchiven in Ost undWest (Preußischer Kulturbesitz und Staatsarchiv der DDR in Merseburg), eingeschlossen persönliche Briefe der Hohenzollernkönige, und auf eine so außergewöhnliche kostbare,
einzigartige Schulbibliothek zurückgreifen? Es muß ein jahrelanges Sichten vorangegangen sein, sie
zu verarbeiten. Nicht weniger mühevoll ist das Profilieren des reichen Stoffes gewesen; es folgt den
Gründern und Wiedergründern, Bewahrern und Reformern bis hin zur Fusion zweier frankophoner
Schulen „unter einem Dach" zu einer Anstalt.
Verf. berichtet von der Schwierigkeit der Auswahl: von den mehr als 2000 Namen in Jahresberichten
und Abiturregistern habe er die ausgewählt, die durch Porträts „öffentlich" geworden sind. Die Auswahl hätte auch anders getroffen werden können, ein anderes Bild von der geistigen Entwicklung und
den besonderen Aspekten hätte sich wohl kaum ergeben. Für jeden Chronisten ist es reizvoll, die
„Männer der ersten Stunde" zu charakterisieren; in nobler Weise ehrt Verf. aber auch das Andenken
derer, denen als Kriegsopfer beider Weltkriege ihre spätere Entfaltung versagt war; er berichtet über
das immer stärker werdende jüdische Element in dieser bildungsoffenen, liberalen Welt, nennt auch
taktvoll, soweit er dies verantworten kann, diejenigen Lehrer, die sich dem Zugriff der braunen Herren nicht entzogen haben; groß ist ihre Zahl infolge der lebendig und kräftig gelebten Toleranz nicht
gewesen. - Durch das erzählerische Vorgehen, die geschilderte Persönlichkeit, oft Lehrer und Schüler in eins, mit einer attributivischen Kennzeichnung zu versehen, ist bei völliger Individualität die erstrebte Gleichartigkeit durch eine prägende Institution erzielt worden. (Der deutschen Porträtschilderung ist jeweils ein französischer Lebensabriß beigegeben worden.) Schulgeschichte als Geschichte
markanter Persönlichkeiten - das involviert gleicherweise bündige Aussagen über die Wechselwirkung von Lehrern auf Schüler und der wiederum daraus hervorgehenden Absolventen auf Wissen
und Gesellschaft ihrer Zeit, ferner Interdependenz des historischen Umfelds in Gestalt von Eltern
und Lehrern auf die Schule bzw. die Schulaufsicht: das war lange Zeit der Conseil academique. Gerade die Darstellung des gegenseitigen Gebens und Nehmens einer so stark sich ausweitenden Institution macht eine der genannten Lesefreuden aus. - Die Geschichte des College erfolgt in enger Anlehnung an die Geschicke der französischen Kolonie und Gemeinde, wie sie für den brandenburgischen
Staat und seine Herrscher und den preußischen Adel, später auch das liberale Bürgertum zum Bildungsfaktor wurde, der über das französische Element in die Weite europäischer Geistigkeit führte.
Es entstand eine bis heute einzigartige pädagogische Provinz, in der jüdische Liberalität ebenso zu
Hause war wie adliges oder nationales bürgerliches Denken. Das College hat das vom Großen Kurfürsten Empfangene - Staatstreue und aufgeklärtes Staatsbewußtsein - mit Zins zurückgegeben, es
181
wurde zu einer Stätte, in welcher sich honorige Standfestigkeit und Glanz und Elend der Weimarer
Jahre behaupteten und noch im Dunkel der NS-Zeit die Hoffnung aufrecht hielten. Es war, wie Karl
Voß es verstand, ein Weg von der Geborgenheit zur weltweiten Reputation. Seine Markierungen
werden unter anderem durch Namen wie Charles Antillen, Kurt Levinstein, Karl Voß und Paul Hartig bezeichnet. Und es ist sicherlich kein Zufall, daß der Vertrag, der die Fusion des Französischen
Gymnasiums mit der Französischen Schule in Berlin-Frohnau regelte, zum Modell für spätere
deutsch-französische Verbindungen wurde.
Diese Dinge leben im Bewußtsein der Berliner, sind aber nicht so konkret präsent. Wer hier inhaltliche Einzelheiten berichten will, gerät wieder in Auswahlschwierigkeiten und die Gefahr subjektiver
Wertung, was vermieden werden soll. — Die erste Lehrergeneration, den städtischen Bildungsbedürfnissen der Refugies entsprechend, kam an die Schule, als sie nur drei Jahre zuvor gegründet
worden war; die Männer waren in der Jahrhundertmitte geboren. Ihre Bildung war geprägt von dem
frühaufklärerischen Staatsdenken der Niederländer mit seinem Natur- und Widerstandsrecht; sie
brachten andererseits dem Staatswesen Ludwigs XIV. hohe Achtung entgegen und wurden durch
diese Spannung fruchtbar, die sie an den Hof des Großen Kurfürsten übertrugen. Sie brachten moderne Naturwissenschaften und eine emanzipierte Pädagogik mit. Und da sie als Lehrer zugleich hervorragende Gelehrte und geniale Übersetzer waren, wurden sie infolge ihrer höfischen französischen
Geschliffenheit auch für die preußischen Thronfolger als Prinzenerzieher interessant. Sie bereiteten
das Zeitalter Friedrichs des Großen, die geistige Luft für Gründung und Aufstieg der Akademie der
Wissenschaften in Berlin vor, aus der später Diplomaten hervorgingen, die z. B. mit Napoleon wichtige Verträge aushandelten. In dem Maße, in dem sich Brandenburg-Preußen als moderner absolutistischer Staat stabilisierte, wurde das Französische Gymnasium als Bildungsstätte seiner Staatsdiener
verlockend.
Die zweite Generation ist die der Söhne der Flüchtlinge, verkörperte schon einen neuen Zeitgeist und
stellte ihr Bildungskonzept aus eigener Kraft auf; es fällt auf, wie früh sie bereits ihr Studium abgeschlossen haben und zu hoher Geltung gelangt sind. Als einige Beispiele für die Frühvollendeten
mögen gelten J. P. Erman, der mit 19 Jahren sein Theologiestudium absolviert hatte, oder Formey,
der mit 20 Jahren ein Philosophieprofessor von internationaler Geltung war, oder Graefe, der mit
15 Jahren sein Abitur machte und erst konfirmiert werden mußte, ehe man ihn immatrikulierte; er
wurde mit 24 Jahren habilitiert. — Die Eigenart der Schule als Bildungsstätte für Preußens Staatsdiener erklärt ihre Staatsgebundenheit bis in die Moderne; sie stand aber souverän im Spannungsfeld
zwischen staatstragenden Ideen und liberaler Geistigkeit. Als der Philosoph von Sanssouci diese
Männer in seinen Dienst nahm, leiteten sie über in die Zeit Mendelssohns und Nicolais, befruchteten
sie die Berliner Geschichtsschreibung und belebten durch ihre Übersetzungskunst die Aneignung der
Antike, vor allem der griechischen und hebräischen; sie übereigneten dem Gymnasium ihre Kunstund Büchersammlungen; es entstanden aus ihrem Kreis Standardwerke der philosophischen und
theologischen Methodik. Sie waren überall die Anreger und Vordenker, ersten Praktiker und griffen
von einem Wissenschaftsgebiet auf das andere über und entfalten die Palette der Moderne: sie adaptierten das Strafrecht, die Musik, die Mathematik, Orientalistik, Anglistik und Romanistik; Prof.
Graefe machte die Charite zum Zentrum der Ophthalmologie; sie entwickelten die Biochemie, das
Bank- und Wirtschaftswesen, die Kunst der Statistik, die Pathologie und Ägyptologie, kritische Publizistik und moderne Literaturwissenschaft, Soziologie und Politologie. Seit sie auf Mendelssohn
und seinen Kreis so große Anziehungskraft ausübten, wurden sie für das jüdische Bildungsbürgertum
ein „Integrationsinstitut", das seine Bewährungsprobe in der dunklen Zeit des Antisemitismus bestand, so, wie es dem antifranzösischen Chauvinismus des 19. Jahrhunderts widerstand.
Die dritte Generation hat den Boden für die Gründung der Berliner Universität vorbereitet, die sich
ausformende Germanistik, Anglistik und Altertumskunde gefördert. Auf ihr beruht der Geist der
preußischen Städteordnung Steins.
Überall sind die Lebensläufe aufschlußreich, ob die von Erich Mühsam, Adelbert von Chamisso, den
Ermans und Reclams, Charles Ancillon oder Ernst Heilborn, Tucholsky oder Lindeborn oder die der
Hochschullehrer, Künstler und Publizisten nach dem Zweiten Weltkrieg: Michael Erbe, Dieter
Ciaessens z. B. oder Gesine Schwan, mit der die Frauengeneration „zum Zuge kommt", überall tut
sich für den Leser Interessantes auf. Betroffen liest er, wie stark der jüdische Anteil war und wie
schmerzlich der Aderlaß. Doch heißt es: „Gerade der Exodus (in die Emigration) brachte die Verwirklichung übernationaler Toleranz als Frucht hervor; eine Fackel wurde entzündet, die von dort in
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das besiegte und gedemütigte Deutschland zurückgebracht wurde." So hat das College eine vielfältige Schülerschaft in vielfältiger Facettierung entlassen.
Es schlagen sich aber auch Grunderlebnisse und Lebenswerte nieder, die die Kriegs- und Nachkriegsgeneration bestimmt haben, die Heimholung von Kriegsgefangenen z. B. oder Anstöße an das Völkerrecht oder die Menschenrechte, Zusammenarbeit mit internationalen Jugendverbänden, Rechtsund Wirtschaftsgutachten für die Politiker in Deutschland, Frankreich oder der Europäischen Gemeinschaft; einer hat die letzte Botschaft des Feldmarschalls Paulus aus dem Kessel von Stalingrad
herausgebracht, einer war der erste Prediger an der Ruine des Französischen Doms, wo er dem
zögernden Neubeginn des Colleges die erste Heimstatt bot; unter dem Appell „Jugend forscht" trat
eine neue Schülergeneration an. So wurde der Boden bereitet, daß in dem beruhigten europäischen
Klima das Französische Gymnasium Besuche der Staatsmänner Bidault, Spaak und Mitterand empfangen konnte, wobei auch Richard von Weizsäcker dem Geleisteten seinen Respekt erwies; das geschah in der Ära Voß. Ein eigenes Kapitel wäre dem Thema Stiftungen und den vielen Auszeichnungen und Ehrungen zu widmen. Hier werden die Rückwirkungen auf Bildungskonzeption und Praxis
sichtbar, ein weiteres Beispiel dafür, wie gut man mit dem Pfunde zu wuchern verstand. Im Rückblick
zeigt sich, wie sehr das 20. Jahrhundert als ein Scherbenhaufen des deutsch-französischen Verhältnisses begann; als Beispiel gelte das Scheitern der Staatsmänner Stresemann und Briand. Um so höher ist
das Verdienst der hier geleisteten Bildungsarbeit zu erachten, die zukunftsfreudig auf das 21. Jahrhundert vorausblickt; möge es gekennzeichnet sein mit dem Statement Hartmut von Hentigs: „Das
wird unser Treffpunkt sein: die Freiheit, die unsere Lehrer uns ließen, die gemeinsame Arbeit auch an
Dingen, die außerhalb des eigentlichen Schulbetriebs lagen, und das gemeinsame Schicksal, dem wir
jetzt entgegengehen."
Christiane Knop
Paul und Gisela Habermann: Fürstin von Liegnitz. Ein Leben im Schatten der Königin Luise.
Nicolaische Verlagsbuchhandlung Beuermann GmbH, 190 Seiten, Leinen, gebunden, Berlin 1988.
Wer war diese Frau, die ein Leben im Schatten der Königin Luise führte und von heutigen Zeitgenossen nicht selten mit der Gräfin Lichtenau, der Geliebten Friedrich Wilhelms IL, verwechselt wird? Es
war die zweite Gemahlin Friedrich Wilhelms III., der sie vierzehn Jahre nach dem Tod der Königin
Luise in morganatischer Ehe, also zur „linken Hand", geehelicht hatte. Derartige Ehen schlössen
Frau und Kinder von Standesvorrechten und von der Erbfolge aus.
Anhand der Schilderungen von Zeitgenossen und einigen Briefen der Fürstin an ihre Kusinen und
Jugendfreundinnen (die im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz aufbewahrt werden)
gelingt es den Verfassern, ein recht plastisches und farbenfrohes Bild des Lebens am preußischen
Hofe in Berlin zu zeichnen. Friedrich Wilhelm III. suchte nach dem Tod der Königin Luise und dem
Wegzug der Töchter nach deren Verheiratung eine neue Lebensgefährtin — genau besehen aber eine
„Tochter". Er fand sie in der dreißig Jahre jüngeren, nicht standesgemäßen, aus Böhmen stammenden Gräfin Auguste Harrach. Die Trauung fand am 9. November 1824 in der Schloßkapelle
Charlottenburg statt. Die Gräfin erhielt Rang und Titel einer Fürstin von Liegnitz und Gräfin von
Hohenzollern.
Doch in der Rangfolge stand sie hinter allen preußischen Prinzessinnen an letzter Stelle. Der König
hatte es unterlassen, seiner Frau eine Stellung zu geben, die ihr das Leben in der strengen höfischen
Ordnung erleichtert hätte. Innerhalb der königlichen Familie hatte sie einen schweren Stand. Man
nahm keinerlei Notiz von ihr, und dies war so auffallend, daß sogar diplomatische Berichte davon erfüllt waren. Bezeichnend vielleicht auch ein Schreiben des Großfürsten Nikolaus an seinen Bruder
Alexander, den Zaren von Rußland: „ . . . daß sie gut ist, sehr einfach, bescheiden, aber ganz unbedeutend. Ihr Hauptverdienst in meinen Augen ist, daß sie niemanden stört, und das will in einem Familienkreise, wie der unsrige hier ist, viel sagen. Niemand bemerkt, daß sie nicht schon früher da war."
Doch scheint die Fürstin selbst von großer Liebenswürdigkeit gewesen zu sein, voll Takt und Bescheidenheit. Caroline von Rochow meint teilnehmend: „So geht sie ihren harten Weg, ohne rechts und
links zu blicken, und eben weil sie den Verwicklungen ihrer Lage eine so große Einfachheit und Ruhe
entgegensetzt, gelingt es ihr hindurchzukommen, ohne anderen Anstoß zu geben, ohne sich selbst zu
verletzen." Doch an der Seite des Königs scheint sie glücklich gewesen zu sein. Auch liegen keinerlei
Anzeichen dafür vor (Briefe, Äußerungen), daß sie die ihr zugedachte Tochterrolle nicht mit wirklich
innerem Einverständnis übernommen hat. Sie ist dem König eine gute Gefährtin, aufopferungsvolle
Krankenpflegerin und Begleiterin zu Bällen, Opern, Reisen und sonstigen Vergnügungen gewesen,
183
und sie hat in sechzehn Ehejahren ihre Lebensaufgabe getreulich erfüllt. Um dreiunddreißig Jahre
überlebte sie den König. Nach mühseligen Auseinandersetzungen um ihre Witwenpension verweilte
sie viel auf Reisen im Ausland und war nur noch selten in Berlin zu sehen. Die letzten Jahre verbrachte
sie auf ihrem Anwesen am Genfer See; sie starb dreiundsiebzigjährig und wurde im Mausoleum im
Park des Charlottenburger Schlosses beigesetzt.
Das Buch ist mit Illustrationen, Stammtafeln, Chroniken und bibliographischen Hinweisen gut ausgestattet; zweimal fielen der Rezensentin Ungenauigkeiten auf. So wird im Text die Gemahlin von Prinz
Wilhelm (Bruder Friedrich Wilhelms III.) stets Marianne genannt, statt Marie Anna, und auf
Seite 123 das Schloß Niederschönhausen „Sommersitz der Königin Elisabeth Christine" (Frau
Friedrichs IL). Es war doch wohl eher ein Verbannungsort.
Für den Leser, der keine geschichtlichen Zusammenhänge erwartet, gibt das Buch durchaus interessante Einblicke in das Berliner Hofleben um die Mitte des vorigen Jahrhunderts. Irmtraut Köhler
150 Jahre Bote & Bock. Musikverlag und Musikalienhandlung in Berlin 1838—1988. Den Freunden des Hauses gewidmet zum hundertfünfzigjährigen Bestehen der Firma Bote & Bock Musikverlag
und Musikalienhandlung. Broschiert, 80 Seiten, Bote & Bock, Berlin 1988.
150 Jahre Bote & Bock — das sind zugleich anderthalb Jahrhunderte Berlinhistorie und Geschichte
des Musiklebens und des Urheberrechts wie der Verwertung musikalischer Aufführungsrechte. Statt
einer Darstellung des Werdens dieses bedeutenden Musikverlages, die sich an gleicher Stelle gut ausnehmen würde, sei hier die kleine Jubiläumsschrift besprochen, deren wesentlicher Beitrag von
Harald Kunz, seit 1955 für Bote & Bock tätig, geleistet wird. Was Bote & Bock heraushebt, ist die Tatsache, daß seit 1838 fünf Generationen einer Familie Kapitaleignerund Geschäftsführer sind und die
Tradition einer engen Verbindung von Musikverlag und Musikalienhandel ununterbrochen erhalten
geblieben ist. Die Persönlichkeit des Gründers Gustav Bock (1813—1863), seines Bruders Emil
(1816-1871) und seines Sohnes Hugo (1848-1932) haben das Profil des Unternehmens im ersten
Jahrhundert geprägt, nicht minder seine Enkel Gustav (1882—1953) und Anton (1884—1945), seine
Urenkel Kurt Radecke (1901—1966) und Dieter Langheld (geboren 1911) sowie schließlich seine
Ururenkel Hans-Jürgen Radecke (geboren 1932) und Wolfgang Langheld (geboren 1941), die heute
die Geschäfte des Hauses führen. Gründung, Entwicklung und Aufstieg werden beleuchtet, auch die
dreißiger Jahre kritisch betrachtet und das vermeintlich absehbare Ende geschildert, als die Geschäftshäuser des Verlages beim Bombenangriff vom 23V24. November 1943 zerstört wurden, der
Vorsitzer des Aufsichtsrats mitteilte, das Berliner Geschäft sei nunmehr zum Erliegen gekommen,
nachdem es von Kurt Radecke fünfmal wieder aufgebaut worden war, und nachdem überdies auch
noch die in das Gut Woxfelde bei Küstrin verbrachten Bestände und Dokumente von sowjetischen
Truppen mit unbekanntem Ziel abtransportiert worden waren. Aber schon Ende Juni 1945 konnte in
der Bülowstraße die Musikalienhandlung in 1944 neu erworbenen Räumen eröffnet werden, die nun
seit drei Jahrzehnten in der Hardenbergstraße 9 a ihren Sitz hat.
Immer ist der Verlag ein aktiver Förderer zeitgenössischer Musik gewesen, vor allem Berliner Autoren. So nimmt es nicht wunder, daß der Verlag Bote & Bock die Gelegenheit seines Jubiläums nutzte,
um am 11. Dezember 1988 in der Philharmonie, in deren Kammermusiksaal sowie in der KaiserFriedrich-Gedächtniskirche vornehmlich zeitgenössische Musik seiner Verlagsproduktion vorzustellen, mit niemand Geringerem als u. a. den Berliner Philharmonikern unter Lorin Maazel.
Werner Bollert, in diesen „Mitteilungen" bereits häufiger vertreten, geht auf die Verlagsgeschichte
„nach der Stunde Null" von 1945 bis 1988 ein und würdigt Boris Blacher, den Hauptautor und künstlerischen Berater des Verlages. Er stellt auch die wohl in jeder Generation neu aufzuwerfende Frage,
was aus den zahlreichen Neuschöpfungen werde, die der mutige Verleger Jahr für Jahr an die Öffentlichkeit bringt.
Erich Schulze, Generaldirektor der GEMA, schildert Bote & Bocks Beitrag zur Entwicklung urheberrechtlicher Verwertungsgesellschaften und zitiert dabei Goethes Meinung zu unerlaubten Nachdrucken : „Wer keinen Geist hat, glaubt nicht an Geister und somit auch nicht an geistiges Eigentum."
Artur Sawady, bis zu seiner Auswanderung nach Palästina 1934 Lehrling und später Angestellter bei
Bote & Bock, steuert Erinnerungen aus den Jahren 1929 bis 1933 bei. Horst Riedel schließlich äußert
sich unter dem Motto „Kollegialität, nicht Konkurrenz" zur Partnerschaft im Musikalienhandel.
Hans Werner Henze ist beizupflichten, wenn er in seinem Grußwort betont, wie viel ärmer die Musikstadt Berlin ohne den Nukleus Bote & Bock wäre, jenes Zusammenspiel verlegerischer Arbeit und
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musikhändlerischen Wirkens. Auch der Verein für die Geschichte Berlins, gegründet 1865, teilt den
Wunsch, sein Mitglied, das Haus Bote & Bock, möge sich ungestörten Wachstums erfreuen und in
aller Ruhe und Behutsamkeit seine Bahn für lange Zeit fortschreiten.
Hans G. Schultze-Berndt
„Und allen ist zuviel aufgeladen." Zu einem Reprint von Ludwig Geigers „Geschichte der Juden in
Berlin" von Karl Voß.
Dr. Karl Voß hat uns folgende Buchbesprechung zugesandt, die im „Luxemburger Wort" im August
1988 erschienen ist. Der Beitrag ist für dortige Leser gedacht; Verf. erachtet ihn als gute Ergänzung
zum Aufsatz von Ernst Gustav Lowenthal: „Im Rückblick: Das ,Gesamtarchiv der deutschen Juden'
in Berlin" in Heft 1/Jg. 85 unserer „Mitteilungen". Die Redaktion gibt ihn mit freundlicher Genehmigung des Autors verkürzt wieder. Ludwig Geiger: „Geschichte der Juden in Berlin", Reprint der
zweibändigen Ausgabe von 1871 bei arani Verlag, Berlin 1988.
Von Moses Mendelssohns Ankunft in Berlin 1743 bis zur ersten nationalsozialistischen „Endlösung
der Judenfrage" mit der Ausrottung der Berliner jüdischen Bürgerschaft ist kein Kapitel der Kulturund Literaturgeschichte Deutschlands geschrieben worden, in dem nicht der prägende Anteil des Judentums am Aufstieg der unbedeutenden preußischen Residenz von damals zu einer europäischen
Weltstadt erkannt worden ist. Noch ein knappes halbes Jahrhundert später schaudert einem vor dem
Gedanken, daß von 160000 jüdischen Bürgern der damaligen Reichshauptstadt nur gerade wenig
mehr als die Hälfte illusionslos in eine fremde Zukunft entkommen konnte, daß 7000 die Angst vor
dem, was ihnen angedroht war, in den Selbstmord trieb und 60 000 ein qualvolles Ende in den Gaskammern des Regimes bereitet wurde. Nur 2000, an Körper und Seele schwer angeschlagene Opfer,
denen die Lyrikerin Nelly Sachs mit ihrem Gedicht „Chor der Geretteten" ein ehrenvolles Gedenken
widmet, kamen nach der bedingungslosen Kapitulation zurück, wo sie in der Hauptstadt 1400 Glaubensgenossen aufstöbern konnten, die bei heldenmütigen Gastgebern am Rande des Todes im Untergrund überlebt hatten.
Es ist sicher kein Zufall, eher ein denkwürdiges Begebnis, daß gerade im „Europajahr 1988" in Berlin
ein überaus selten gewordenes Buch der Vergessenheit entrissen und der Öffentlichkeit wieder zugänglich gemacht werden konnte, das sich als Standardwerk der verhältnismäßig kurzen Geschichte
der Juden in Preußen und Berlin erwiesen hat. Vor kurzem legte der verdienstvolle Berliner araniVerlag die am 10. September 1871 anläßlich des 200. Jahrestages des Bestehens der Jüdischen Gemeinde Berlins in einer Auflage von nur 5000 Exemplaren erschienene, längst vergriffene, zweibändige „Geschichte der Juden in Berlin" vor, die als Reprint in deutsch-deutscher Kooperation mit dem
Zentralantiquariat der DDR entstanden ist.
Im Vorwort zu diesem von erstrangiger Bedeutung für die Geschichtsschreibung Preußens und Berlins anzusehenden Buch umreißt der stellvertretende Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde von OstBerlin, Dr. Hermann Simon, die Geschichte des Berliner Judentums von der ersten Erwähnung von
Juden in einem Innungsbrief vom 28. Oktober 1295, mit dem den Wollwebern im damaligen Fischerkiez bei Strafe verboten wurde, „sich bei Juden Garn zu beschaffen", über ihre Ghettoisierung zu
Ende des 13. Jahrhunderts, wovon der bis zur Bombardierung der Stadt im Zweiten Weltkrieg noch
bekannte Name des Judenhofs und die wenn auch nur in ihrem Namen noch bestehende Judenstraße
im Zentrum der Stadt Zeugnis ablegen, bis zur „Herstellung" der ersten Synagoge in Berlin.
Den immer wiederkehrenden Pogromen und Anklagen wegen Hostienschädigung, Ritualmords und
vorsätzlicher Ausbreitung von Epidemien setzte der Große Kurfürst, dessen Verdienste als Förderer
von Toleranz und Religionsfreiheit ihm den Titel eines Staatsmannes von europäischem Format eingebracht haben, mit der Verkündung des sogenannten Aufnahme-Edikts vom 21. Mai 1671 ein
rühmliches Ende. - Hierin räumte er den Juden in seinem Land das Recht ein, sich in seiner Hauptstadt und einigen Ortschaften der Mark Brandenburg niederzulassen, zu Gemeinden zusammenzuschließen, in einem Privathaus zum Gottesdienst zu treffen und eine Begräbnisstätte zu erwerben, die
nach wenig mehr als zwei Jahrhunderten später wie die meisten jüdischen Friedhöfe von Nationalsozialisten geschändet und dem Erdboden gleichgemacht worden ist. — Am denkwürdigen 10. Dezember desselben Jahres öffnete der Kurfürst fünfzig aus Österreich vertriebenen wohlhabenden jüdischen Familien die Tore seines Landes, denen vierzehn Jahre später die aus Frankreich ihres Glaubens wegen geflohenen Hugenotten folgten, womit er der wirtschaftlichen Situation seines Landes
eine wohlfundierte Basis zu schaffen verstand.
Dem Aufnahme-Edikt des Kurfürsten, mit dessen Betrachtung Ludwig Geiger sein Werk eröffnet,
185
folgte eine Reihe weiterer Erlasse, die den beschwerlichen und weiten Weg des Judentums zu einer
staatlich anerkannten Gleichberechtigung pflasterten und die Verwobenheit der jüdischen Bürger
mit ihren nichtjüdischen Mitbürgern förderten.
Schon mit der Errichtung der ersten Berliner Synagoge zu Neujahr 1714, die als die „schönste Europens" galt und deren Einweihung König Friedrich Wilhelm I. und sein Gefolge mit ihrer Anwesenheit
ehrten, war ein wichtiger Schritt getan, der mit einem Erlaß Friedrichs des Großen, nach dem jeder in
seinem Lande nach seiner Fasson selig werden muß — was auf die jüdischen Bürger nur bedingt Anerkennung erfuhr —, die „Abkauffung eines gewissens Zeichens", des gelben „Flecks", den die Juden
seit dem Mittelalter tragen mußten, fortgesetzt wurde . . . Nach wie vor aber mußten die Juden bei
Eheschließungen ansehnliche „Trauscheingelder" bezahlen und für überteuerte Beträge angestoßenes Porzellan aus der Kgl. Manufaktur erstehen. Bau und Ankauf neuer Häuser wurde ihnen weiterhin verboten und die Befolgung einer 1716 erlassenen Verordnung auferlegt, wonach „kein Jude,
strafbarer Totschläger, Gotteslästerer, Mörder, Dieb, Ehebrecher, Meineidiger oder der sonst mit öffentlichen Lastern oder Sünden befleckt ist", Handel treiben durfte. Lediglich der Kauf oder Verkauf
von Pferden und „Trödel" blieb ihnen erlaubt. — Erst das sogenannte Emanzipationsedikt Friedrich
Wilhelms III. machte die Juden zu „Einländern" und preußischen Staatsbürgern.
Nach Würdigung einiger dem Judentum aufgeschlossener gegenüberstehender christlicher Schriftsteller und Wissenschaftler, des nachhaltigen Einflusses der jüdischen Salons... sowie der Verdienste, die sich jüdische Mitbürger auf dem Gebiet der Literatur, des Theaters, der Musik, des Films, der
Presse, der Architektur und der Kunst erworben und damit zur Entfaltung der Metropole im europäischen Geistesleben hervorragend beigetragen hatten, schließt der Verfasser sein eigentliches Werk
mit einer eingehenden Darstellung des „Statuts der Jüdischen Gemeinde zu Berlin" vom 23. Mai
1861 ab, in der dem Bau der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße, dem „stolzen Bauwerk,
dem würdigen Denkmal für den Dienst, dem es geweiht ist", ein längerer Abschnitt geweiht ist. Obwohl in der revidierten Verfassung der Regierung vom 31. Januar 1850 die Gleichstellung aller Preußen unabhängig vom Glaubensbekenntnis garantiert wurde, war eine vollkommene kulturelle und
geistige Assimilation der Bürger jüdischen Glaubens, wie sie Moses Mendelssohn einst erstrebt hatte,
noch immer nicht erreicht. Höhere Ränge der Beamtenschaft und des Müitärs wurden, abgesehen
von wenigen Ausnahmen, jüdischen Bewerbern erst nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs in
der Weimarer Republik zugestanden.
Der zweite Band des Werks, der die Zeit von 1871 bis 1890 umfaßt und, wie es im Vorwort heißt, für
jede wissenschaftliche Arbeit als Ersatz für längst verlorengegangene Quellen von unschätzbarem
Wert ist, behandelt bis ins letzte Detail gehende Anmerkungen zum Text, weitere Ausführungen,
aktenkundliche Zitate, Nachträge zu den Edikten sowie urkundliche Beilagen, die „Cultus"angelegenheiten, die rabbinistische Gerichtsbarkeit, Handelsbestimmungen und Privilegien zum Bau der
Synagogen und jüdischen Schulen von der Gründung der ersten Freischule im Jahre 1778 bis zur
Einweihung der Gemeindeschule im Jahre 1826, deren Besuch chrisüichen Knaben verboten war,
betreffen.
Von besonderem Interesse bleiben der „Vor hundert Jahren" überschriebene Abschnitt, in dem Ludwig Geiger Beiträge der „Vossischen Zeitung" aus den Jahren 1788/89 eingehend kommentiert zusammenstellt, wie auch die analytische Aufarbeitung der Angaben in Berliner Adreßbüchern der Zeit
und Besprechungen von Büchern, Zeitschriftenaufsätzen, Pamphleten und Akten, die sich mit dem
Judentum befassen. Ludwig Geiger konnte ebenso wie alle seine Zeitgenossen nicht ahnen, was auf
ihre jüdischen Mitbürger nach dem wirtschaftlichen Aufschwung im Kaiserreich und der glanzvollen
kulturellen Entfaltung trotz des verlorenen Krieges . . . in den zwanziger Jahren . . . , die von ihnen
mit beeinflußt und mit getragen wurde, nach der „Machtübernahme"... zukommen sollte. Der liberalste Staat Deutschlands wurde zur Hauptstadt des Terrors und des Holocausts.
„Schwer zu sein a Jidd" heißt es in einem alten jüdischen Melodram des ostjüdischen Dichters
Scholem-Alejchem, ein Wort, das, über die Geschichte des jüdischen Volkes geschrieben, noch heute
seine traurige Gültigkeit hat.
Anm.: Die Überschrift stammt aus dem Roman „Die Straße der kleinen Ewigkeit" des im Jahre 1949
im New Yorker Exil verstorbenen Juristen und Schriftstellers Martin Beradt. Er führt in die armselige
Welt des j üdischen Proletariats, das sich nach seiner Flucht aus Polen in den zwanziger Jahren im Berliner Scheunenviertel, vor allem der Grenadierstraße, „für eine kleine Ewigkeit" niederließ.
Christiane Knop
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Wemer Vogel: Berlin und seine Wappen. 106 Seiten mit 24 farbigen und 40 einfarbigen Abb., geb.,
28 DM. Verlag Ullstein GmbH, Berlin und Frankfurt/Main 1987.
Gewiß nicht zufällig im Jahr des Stadtjubiläums brachte der Ullstein-Verlag dieses Buch heraus, das
eine Lücke füllt; es ersetzt und aktualisiert das längst vergriffene, von Hans J. Reichardt verfaßte Berliner Forum-Heft 2/79 „Der Berliner Bär".
Außer den wichtigsten Daten zur Ortsgeschichte und zur kommunalen Heraldik präsentiert es in 64
zum Teil farbigen Abbildungen sowohl die ältesten Siegel und Wappen von Berlin, Colin und Spandau und verschiedene Versionen des Berliner Bären-Wappens als auch die Wappen der frühneuzeitlichen Vorstädte, der 1920 eingemeindeten Orte und der seither gebildeten Bezirke, darunter auch —
mit Schwarzweißabbildungen — die neuen Ostberliner Bezirkswappen, über die man sich zuvor nur
durch Zeitungsartikel hatte informieren können: die Bezirke Marzahn (1979), Hohenschönhausen
(1984) und Hellersdorf (1986) wurden neu gebildet, und die Bezirke Mitte, Friedrichshain und
Prenzlauer Berg erhielten 1987 neue Wappen. Nicht vollständig aufgeführt sind die Ostberliner Ortsteile mit ihren Wappen. Diese werden jedoch in dem gleichfralls 1987 erschienenen Buch von Heinz
Matatscheck „Als der Wappenbär geboren wurde. Aus der Geschichte der Berliner Wappen" beschrieben und, wie auch die dortigen Bezirkswappen, alle farbig abgebildet. Dagegen fehlen bei
Matatscheck die Westberliner Orts- und Bezirkswappen, und er verzichtet auf nicht amtliche und
nicht mehr gültige Wappen, während Vogel immer auch die historische Entwicklung darstellt. Seine
Quellen sind Siegel(abdrücke), künstlerische Gestaltungen (zum Beispiel von Otto Hupp
[1859—1949], dem „Altmeister" der deutschen Heraldik) und amtliche Texte und Vorlagen. Ergänzend zur Darstellung S. 36 f. über die westliche Suche nach einem neuen Bären-Bild sei nur noch erwähnt, daß die Wettbewerbsentwürfe von 1952 erhalten sind und im Landesarchiv Berlin aufbewahrt
werden.
In dem ansprechend ausgestatteten Buch sind leider einige Hupp'sche Wappen seitenverkehrt abgebildet (Tempelhof und Marienfelde, S. 60 unten; Zehlendorf, S. 69, Stralau, S. 72 links), doch dies
wird sich bei einer eventuellen Neuauflage sicher leicht korrigieren lassen. Christiane Schuchard
Dieter Brozat: „Der Berliner Dom und die Hohenzollerngruft". 185 Seiten, 132 Bilder, Literaturund Abbildungsverzeichnis, Haude & Spener, Berlin 1985.
Das Buch ist Ergebnis der fast 20jährigen Arbeit eines Liebhabers im wahrsten Sinn, der sich zwar der
wissenschaftlichen Hilfe der Historiker und Theologen bediente, selbst aber die Kleinarbeit des Vermessens, Beschreibens und Auflistens nicht scheute und das Makabre des Aufsuchens von Knochenresten und Gewebeteilen unternahm. Es diente dem Zweck, den europäischen Rang der Berliner
Fürstengruft auch noch im Zustand der Zerstörung, des Unbeachtetseins und Auseinandergerissenseins zu dokumentieren.
Der Titel in seiner Doppelheit von Dom und Gruft deutet auf die sich gegenseitig bedingende Bezogenheit von Kirche und Grablege der Hohenzollern, die einst in der Dominikanerkirche angelegt war,
die nach der Reformation zur Schloßkirche wurde. Dementsprechend ist das Buch zweiteilig angelegt; es bringt die Geschichte der Domkirche und des Camposanto. - Zum Zeitpunkt seiner Publikation war die Wiederherstellung der Tauf- und Traukirche abgeschlossen, war der Leser auf den Abschluß der Bauarbeiten an der Predigtkirche gespannt; damit wäre die endgültige Aufstellung der
Hohenzollernsärge gegeben. Damit würde auch der Vorgang der Entfremdung und Diskriminierung,
von dem Verf. spricht, überwunden sein. — Die forschende Zuwendung zur Hohenzollerngruft hat
das Fehlen des Hohenzollernschlosses lange Zeit vertreten. — Der historische Abriß führt über die
Schlüterzeit, den Boumann-Dom und seine Erneuerung durch Schinkel und schließlich den Raschdorff-Bau, dem Verf. viel von seiner Gescholtenheit nimmt, indem er die künstlerische Erörterung
beiseite läßt. Dafür tritt mit Raschdorff ein erweitertes Preußen ins Blickfeld, dessen geistige Einflüsse von Schlesien bis in die rheinische Neugotik reichen. Man muß nicht unbedingt Wilhelms II.
Großmannssucht anprangern, sondern kann die endgültige Ausführung als Fortführung der Camposanto-Idee ansehen, die seit 1844 bestand und die Kaiser Friedrich III. förderte. Sie war allen Dombauprojekten integriert. — Das Streben nach Kostbarkeit der Ausstattung und Würde wird ohnehin
relativiert durch das deprimierende „Hin- und Herschieben" der Grabmale nach 1918, deren traurige Odyssee berichtet wird. Als Zeuge führt Verf. den Sterneaux-Artikel von 1932 an. - Der alte
Kaiser Wilhelm II. war in Doorn an das Vorstellungsbild der Hohenzollerngruft noch immer fixiert
und glaubte, auch er würde dort zur ewigen Ruhe gebettet werden.
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Großartiges und Bekanntes stehen neben verblüffenden Einzelheiten, so z. B., daß 1961, im Jahr des
Mauerbaues, der auch die Domgemeinde trennte, 425 Jahre vergangen waren, seit die Dominikaner
Kloster und Kirche verlassen hatten. Oder die Parallelität der Ereignisse, daß Kriegszerstörungen bei
beiden Domen, dem evangelischen wie dem katholischen Hedwigsdom, die herabstürzende Kuppel
den Boden des Andachtsraumes durchschlug und zu neuer Gestaltung unter Einbeziehung der Gruft
zwang.
Als künstlerisch herausragende Grabmale führt uns der Band die des Großen Kurfürsten und seiner
zweiten Gemahlin Dorothea von Nering-Döbel, die König Friedrichs I. und seiner Gemahlin von
Schlüter und das Kaiser Friedrichs III. von Reinhold Begas vor. — Verf. hat mit vielen Mühen die
Domakten eingesehen; die Beschreibung des Fortgangs der Grabmalskunst ist ein die Hohenzollerngeschichte begleitender Vorgang. Die Untersuchung kommt nicht nur zu der verblüffenden Vermutung, daß die Särge der Markgrafengruft schlicht vergessen wurden und wahrscheinlich unter dem
Pflaster des Marx-Engels-Platzes (einstigem Lustgarten) noch aufzufinden seien, sondern er schreibt,
gleichsam in behutsamem Seitenlicht, eine menschlich anrührende Familiengeschichte: die der
Frauen, die kaum in die Geschichte traten, der früh gestorbenen Prinzen — so der älteren Brüder
Friedrichs IL, die buchstäblich an der Last der Krone starben —, der wenig geliebten Brüder und
Heerführer, aber auch der lichtvollen Prinzen wie Louis Ferdinand. „Drei Jahrhunderte Geschichte
schlafen hier dem Jüngsten Tag entgegen." So hat er der Morbidität das Schöne abgewonnen und verweist auf die Hoffnung, in absehbarer Zeit die Fürstengruft wieder in ursprünglicher Gestalt sehen zu
können.
Christiane Knop
Günter Stalin: „Das Nikolaiviertel am Marx-Engels-Forum. Ursprung, Gründungsort und Stadtkern Berlins. Ein Beitrag zur Stadtentwicklung." 88 Seiten; 86 Bilder im Text, Bildanhang mit 22
Fotos, Stichen und Zeichnungen, Literatur- und Abbildungsverzeichnis, VEB Verlag für Bauwesen,
Berlin (Ost) 1985.
Das Buch entstand zeitlich auf halbem Wege zwischen dem Beginn der ersten Planung und ersten
Baumaßnahmen und dem Abschluß des Wiederaufbaus 1987 und ist als Verständnishilfe für das neu
Entstehende gedacht. Titel und Untertitel verdeutlichen durch ihre Ausführlichkeit die ganze Palette
des Anliegens und verweisen auf ein aktuelles, politisches Motiv: das zum 750jährigen Stadtjubiläum
wiederaufgebaute Nikolaiviertel als historischen Ort zu begreifen und aufzuzeigen, von welchen geschichtlichen Inhalten und gestalterischen Orientierungspunkten die Konzeption geleitet wurde; daraus leitet sich für die Planer die zukünftige soziale Aufgabe ab. — Inwieweit an einem völlig zerstörten,
traditionsreichen städtebaulichen Zentralraum Anbindung des Neuen an das Alte überhaupt gewagt
werden sollte und gelingen kann, ist unter Konservatoren selbstverständlich umstritten. Hier hat man
den Versuch gewagt und ihn — auch den Bewohnern der DDR — zur Diskussion gestellt und hat ein
Zukunftsprogramm verwirklicht. Möglicherweise lernt man an evtl. Unzulänglichkeiten für einen
späteren Fall. Aber der hier konzipierte geschichtlich gebundene Zukunftsgedanke hat seine Gestaltungskriterien vom Gehalt der Bürgerstadt Berlin bezogen — zu Ungunsten der Residenz; er richtet
sein Augenmerk vorrangig auf die Platzbauten des Gründungskerns, der Nikolaikirche am Spreeübergang. Als Rechtfertigung für die erstrebte Kontinuität wird angeführt: „Solange diese Gebäude
— auch das Ephraimpalais ist eingeschlossen (d. Rz.) — noch als bildhafte Erinnerung im Bewußtsein
der Berliner lebendig sind, ist deren sinnvolle Einbeziehung beim Wiederaufbau politisch legitim. Sie
lassen sich mit hoher Authentizität dem Kulturleben zurückgewinnen" (S. 8).
Für den Abriß der Stadtgeschichte verwendet der Vf. dieselben Stadtpläne (Memhard), wie sie hierorts angeführt werden, und dieselben Ansichten der Stadtmaler wie Gärtner, Krüger, Graeb,
Rosenberg und Hintze. Um die Stadtbaukunst vergangenheitsbezogen aufzubereiten, werden als
„maßstabformend" die historischen Leitbauten, nämlich Bürgerbauten des 17. und 18. Jahrhunderts,
ferner das Knoblauchhaus und die noch erhaltene Platzstruktur, angeführt; über sie hebt sich das
Ephraimpalais in seinen Maßen hinaus und leitet auf die Neugestaltung der Spreefront an der Burgstraße und die Bauten zum neuen Marx-Engels-Forum hin.
Die Ansicht vom Gründungsort hebt auf die Bürgerstadt des Spätmittelalters und ihre wirtschaftliche
Funktion an der wichtigen Kreuzung des Wege- und Wassernetzes ab: die Ansiedlung der Fernkaufleute und die Schaffung ihrer städtischen Selbstverwaltung und Gerichtsbarkeit, ferner die Konzentration des ersten Gewerbes. So soll die Einbindung zwischen die Fixpunkte des Rathauses mit
der Gerichtslaube, des Mühlendamms bzw. Molkenmarkts und der bürgerlichen Hallenkirche von
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St. Nikolai verstanden werden, und zwar an einem bestimmten Augenblick in der gesellschaftlichen
Entwicklung festgehalten. Diese Ansicht ist ideologisch fixiert; ihr übergeordneter Gesichtspunkt ist
der des verpflichtenden bürgerlichen Humanismus. Inwieweit der Leser hierorts sich damit identifiziert, sei dahingestellt; auf jeden Fall wirkt die Wiederherstellung des Nikolaiviertels und die Placierung verschollen geglaubter architektonischer Einzelteile und Skulpturen oder Straßenmöbel stärker, als gedankliches Unbehagen beeinträchtigen kann. Im Abbildungsteil erscheinen die Modelle
teilweise plakativ und grell, die heutige Wirküchkeit ist gedämpfter und anheimelnder. Für den gebürtigen Berliner ist das im weiteren Sinne neugestaltete Spreeufer unmittelbarer erlebbar geworden,
als es früher möglich war.
Die Kontrastierung der Bilder von der Zerstörung mit dem Geplanten macht das Abwägen, eine bestimmte Stadtstruktur darzustellen, nachvollziehbar. Es ist dankenswert, daß eine Kulturlandschaft
aus der Öde des Nichts gewollt wurde; mit ihr kann sich der westliche Betrachter, abgesehen von
einigen Vorbehalten, identifizieren. Die Vorbehalte liegen in der Erinnerung, daß dieser städtebauliche Zentralraum bis 1945 ein vielfach überschichteter war. Dem neuen Konzept ist eine gedankliche
Konstruktion unterlegt worden, was anfechtbar sein kann. So bleibt es abzuwarten, inwieweit der gewisse Bilderbuchcharakter zur „aktivierten Stadtmitte" wird.
Christiane Knop
In Zusammenhang mit der Besprechung des Bandes „Charlottenburg" der Geschichte der
Berliner Verwaltungsbezirke von Herbert May in Heft 1/1989 unserer,, Mitteilungen "gibt die
Redaktion dem Autor Gelegenheit zur Antwort:
Was darf die Rezension? Von Dieter Schütte
Fragen wir frei nach Tucholsky: „Was darf die Rezension? " Jedenfalls nicht „alles", wie es Tucholsky
für die Satire reklamierte. Die Rezension — in diesem Fall geschichtlicher Darstellung — sollte ein besprochenes Buch würdigen, Anspruch und Umsetzung vergleichen, es am Forschungsstand messen,
an Fehlern und Unzulänglichkeiten Kritik üben. Im Idealfall ist die Rezension ein Beitrag im geschichtswissenschaftlichen Diskurs. Die Rezension wird vom Autor nicht ohne Unbehagen erwartet,
weiß er doch am besten um Lücken oder Schwächen seines Produkts.
Aber das darf die Rezension nicht: über eine Veröffentlichung urteilen, ohne ihre Details zu kennen.
Genau dies ist aber der Fall in der Besprechung, mit der Herbert May den Band 1 aus der Reihe „Geschichte der Berliner Verwaltungsbezirke", Charlottenburg, von Dieter Schütte rezensiert. Kommen
wir zu den Einzelheiten und dabei gleich eine Kleinigkeit vorweg: der Charlottenburger Band, auch
wenn er die Nr. 1 trägt, bildete nicht den Auftakt zur „Geschichte der Berliner Verwaltungsbezirke".
Es war der Band 12 über Zehlendorf, der zuerst erschien.
Die Inseitige Vorbemerkung des Herausgebers ist gewiß jener Textabschnitt, den May am gründlichsten gelesen hat, und sie gibt, dies sei zugestanden, zu Mißverständnissen Anlaß. Im Grunde genommen war das Projekt „Geschichte der Berliner Verwaltungsbezirke" im Vorbereitungsstadium
zweigeteilt: in die vom Herausgeber benannten Angestellten im ABM-Programm, die Quellen und
Literatur zu sichten und zu erfassen hatten, und in den Kreis der 12 Autoren. Nur in zwei oder drei
Fällen bestand eine Personalunion. Die Ergebnisse des Erfassungs- und Sichtungsprogramms, ursprünglich als eigenständige bibliographische Verzeichnisse für den Druck vorgesehen, sollten dabei
den Autoren zur Verfügung stehen. Hervorzuheben ist aber, daß demgegenüber die einzelnen Bände
der Geschichte der Verwaltungsbezirke in keinem Fall mehr als 110 bis 120 Druckseiten umfassen
sollten, von denen auch noch ca. 25% für Abbildungen vorgesehen waren. Gleichzeitig war den
Autoren eine Rahmengliederung vorgegeben. Nicht alle Autoren waren darüber glücklich, aber man
muß dem Herausgeber ein berechtigtes Interesse an diesen Vorgaben zugestehen. Für die Autoren
bedeutete dies, sich von vornherein auf eine geraffte Darstellung zu konzentrieren. Über die Konzeption der Reihe ebenso wie über die von May beanstandete „nüchterne Bestandsaufnahme" vom gegenwärtigen Charlottenburg läßt sich durchaus diskutieren, was dann aber folgt, zeugt von geringer
Kenntnis der Materie. Die Darstellung, so May, stütze sich bis ca. 1900 auf Wilhelm Gundlachs Standardwerk. Nur bei der Nachkriegsgeschichte leistete der Autor einen quelleninterpretatorischen
Forschungsbeitrag. Wirklich?
189
Nehmen wir als Beispiel den Abschnitt über das Industriezeitalter, der von ca. 1850 bis 1920 reicht.
Gundlachs Buch erschien 1905, erfaßt also noch weit mehr als die Hälfte dieser Zeit. Spiegelt sich dies
in den Anmerkungen? Von ca. 130 Beleghinweisen dieses Abschnittes sind ca. 45 Quellen im engeren Sinne, ca. 70 sind Literaturhinweise, zum großen Teil auf zeitgenössische Literatur, aber nur 10
Belege verweisen auf Gundlach. Bedeutet das, sich „wesentlich" auf Gundlach gestützt zu haben?
Lediglich für die frühe Geschichte büdete Gundlach eine unbestrittene Grundlage. Redlicherweise
hätte der Rezensent aber auch den Charakter dieses „Standardwerks" andeuten können, von dem ja
nur der erste Teil eine Darstellung, der zweite aber eine Mischung von Quellensammlung, -Verzeichnis und -kommentar ist. Diese Quellen zur frühen Geschichte Charlottenburgs sind heute im Original
nicht mehr erhalten. Wer heute darüber arbeitet, muß demnach auf Gundlach zurückgreifen, und
diese Zwangssituation ergibt ein etwas anderes Bild als des Rezensenten hingeworfene, diesen Tatbestand verschweigende Bemerkung, der Autor halte sich an Gundlach. May kennt Gundlach aber
nicht, wenn er pauschal bei ihm die Sozialgeschichte vermißt. Wilhelm Gundlach widmet zig Seiten
sozialgeschichtlichen Themen, man nehme nur die Ausführungen über die Kanalisation, das Gesundheitswesen, die Entstehung der Ackerbürgergemeinde und anderes mehr. Das Problem bei
Gundlach ist ein anderes. In seiner buchhalterischen und pedantischen Arbeit widmete sich Gundlach einer erschlagenden Fülle von Fakten. Was aber fehlt, ist ein Verständnis sozialer Ursachenzusammenhänge und entsprechende Gewichtungen in der Darstellung. Die für die Großstadtwerdung
überaus bedeutsame Befreiung der Bürger aus den Produktionszwängen der Ackerbürgergemeinde
überliest man fast, einen solch geringen Stellenwert maß Gundlach dem bei. Auch gibt es bei ihm
keine — und das hielten ihm schon Sozialdemokraten zu Lebzeiten vor — sozialen und Klassengegensätze. Er kannte nur königstreue Bürger.
Auch im von ihm besprochenen Text vermißt May „schmerzlich" die Sozialgeschichte.
Gewiß — das Buch ist keine Sozialgeschichte Charlottenburgs, das sollte es auch nicht sein. Liefert es
aber keine sozialgeschichtlichen Fakten und Entwicklungsprozesse? Beim Durchblättern sind May
folgende Punkte entgangen: der Zusammenhang von Bevölkerungsentwicklung und Anwesenheit
des Hofes; die Einkommensquellen der Ackerbürgergemeinde; das Gewerbe im vorindustriellen
Charlottenburg; die Auflösung der alten Agrarverfassung; der Zusammenhang von Bebauungsplanung, neuen Verkehrsmitteln, Bodenspekulation und Bebauungsetappen; kommunale Daseinsvorsorge im Industriezeitalter; der Einfluß der Hausbesitzer; Bevölkerungsentwicklung und soziale Zusammensetzung; Industrie-, Gewerbe- und Beschäftigtenstruktur; Wohndichte und Wohnungsgröße usw. Neben der inhaltlichen Kritik hält May dem Autor vor, zugängliche Literatur und Quellen
nicht verarbeitet zu haben.
Aber weder innerhalb der „grauen" noch in der bibliographisch vorschriftmäßig edierten Literatur,
die sich im Sommer 1986, als das Manuskript abgeschlossen wurde, im Heimatarchiv befand, war
auch nur ein Titel, der die Darstellung im Buch relativieren würde. Was soll der Hinweis auf das
„durchaus zugängliche" Material in Potsdam und Ost-Berlin? Hat es sich nicht bis zu May herumgesprochen, daß diese Archive im Vorfeld der Berliner 750-Jahr-Feier eben nicht zugänglich waren.
Die Antwort auf eine Anfrage aus dem Jahr 1985 an das Stadtarchiv erwartet der Autor bis heute.
Was soll der Hinweis auf die Kirchenarchive? Ist May nicht aufgefallen, daß auf die Kirchen — bewußt
— weitgehend verzichtet wurde? Und die Akten des Landesarchivs? Hat May dort die beiden Charlottenburg betreffenden Findbücher mal etwas gründlicher durchblättert? Die Zahl der Akten sagt
doch noch nichts über ihre Aussagekraft für eine spezifische Form der Darstellung. Nicht alle Akten
sind von vornherein in eine Darstellung wie der vorliegenden integrierbar. Die Bestände im Landesarchiv ermöglichen zahlreiche Einzelstudien, aber gerade bei der Auffüllung von unbestreitbaren
Lücken, insbesondere für die Weimarer Zeit und den Nationalsozialismus, helfen die Bestände im
Landesarchiv kaum weiter.
Am Schluß bricht May eine Lanze für die „oral history". Dagegen ist nichts zu sagen, aber was will
May eigentlich? Bezirksgeschichten mit ihren Jahrhunderte zurückreichenden Ursprüngen sind nun
mal nicht mit den Methoden der „oral history" zu erarbeiten. Und für die neuere Zeit, für die Zeitzeugen befragbar sind? Auch hier kennt May den rezensierten Text nicht. Ist ihm nicht aufgefallen, daß
der Autor sich für die Zeit des Nationalsozialismus in nicht geringem Maße auf die Untersuchungen
Hans Wienickes stützt und daß diese Untersuchungen zum großen Teil aus der Befragung von Zeitzeugen bestehen?
Anschrift des Verfassers:
Dr. Dieter Schütte, Menzelstraße 27, 1000 Berlin 41
190
E i n g e g a n g e n e B ü c h e r (Besprechung vorbehalten)
1. Berlin, von Theodor Plivier, Roman, 766 Seiten, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1985.
2. Berlin, ein Lesebuch, herausgegeben von Diethard H. Klein, gesammelt von Evelyn Grüning
und Herbert Grohmann, Taschenbuch, 160 Seiten, Husum Verlag, Husum 1986.
3. Das Berliner Wohnhaus des 17. und 18. Jahrhunderts, von Albert Gut, 296 Seiten, Verlag Wilhelm Ernst & Sohn, Berlin 1984.
4. Die Berliner Entscheidung, von E. A. Richter, Roman, 150 Seiten, Residenz-Verlag, Salzburg
und Wien 1984.
5. Christus und Hakenkreuz, Kirche im Wedding, von Detlef Minkner, 208 Seiten, Selbstverlag Institut Kirche und Judentum, Berlin 1986.
6. Herbert v. Karajan, eine Biographie, von Ernst Haussermann, 315 Seiten, Taschenbuch, Goldmann-Schott Musikverlag, München 1983.
7. Journal einer Revolution, Tagebücher 1848/49, von Karl August Varnhagen von Ense, 343 Seiten, Verlag Franz Greno, Nördlingen 1986.
8. Kinder (die) aus Nr. 67, Band 1 und 2, Taschenbuch, 216 Seiten, von Lisa Tetzner, Verlag dtv
junior, München 1985.
9. Kleine Bettlektüre für alle Berliner, die nischt uff ihre Schnauze kommen lassen, von Joachim
Wachtel, 156 Seiten, Scherz Verlag, 1982.
10. Lachen und Heulen, von Heinrich Goertz, Roman, der Berlin-Roman der 30er Jahre, 382 Seiten, List-Verlag, München 1982.
11. Lesebuch (Bilder) über Schule und Alltag Berliner Arbeiterkinder, Arbeitsgruppe Pädagogisches Museum, 304 Seiten, Elefanten Press, 1981.
12. Die Lieder der Ciaire Waldoff, nach alten Schallplatten in Druckfassung, von Helga Bemmann,
95 Seiten, arani-Verlag, 1. Auflage, 1983.
13. ökologische Stadterneuerung, die Wiederbelebung von Altbaugebieten. M. Küenzlen/Oekotop, Autorenkollektiv, 2. Auflage, 274 Seiten, Verlag C. F. Müller, Karlsruhe.
14. Sodom Berlin, Roman, von Yvan Goll, 174 Seiten, Verlag Rotbuch, deutsche Ausgabe, 1985.
15. Das Schlangenmaul, Roman, von Jürg Fauser, 268 Seiten, Ullstein-Verlag, Berlin 1985.
16. Teltow u. Barnim, Landschaften im Mittelalter, 342 Seiten, von Eberhard Böhm, Böhlau-Verlag, Köln/Wien 1978.
17. Welt im Guckkasten, von Adolf Glaßbrenner, Taschenbuch I u. II, 464 und 488 Seiten. Verlag
Ullstein Werkausgaben, ausgewählte Werke I und II, Juni 1985.
18. Wie eiskalt ist's im Hemdchen, ein Berliner kiekt Theater, von Gustav Lemke, 128 Seiten, araniVerlag, Berlin 1986.
Im ersten Vierteljahr 1989
haben sich folgende Damen und Herren zur Aufnahme gemeldet:
Joachim Brummer, Angestellter
Schottmüllerstraße 50 a, 1000 Berlin 37
(Koepke)
Dr. Elisabeth Gebier, Ärztin
Alt-Pichelsdorf 35,1000 Berlin 20
(Geschäftsstelle)
Anna Sabine Halle
Marthastraße 5, 1000 Berlin 45
(Schriftführer)
Hermann Kreutzer, Ministerialdirektor i. R.
Angerburger Allee 41, 1000 Berlin 19
(Oxfort)
Hilmar Krüger, Polizeibeamter
Mohriner Allee 114 a, 1000 Berlin 47
(Kalutza)
Prof. Dr. Kurt-Victor Selge
Höhmannstraße 6, 1000 Berlin 33
(Koepke)
Dr. Hans-Jürgen Thiedig
Prinzenallee 78/79,1000 Berlin 65
(Schriftführer)
Hans-Wolfgang Treppe, Generalstaatsanwalt
Berchtesgadener Straße 3, 1000 Berlin 30
(Schriftführer)
Lutz-Rüdiger Voß, Jurist
Kolberger Platz 4, 1000 Berlin 33
(Oxfort)
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Veranstaltungen im IL Quartal 1989
1. Montag, den 24. April 1989, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Erhard Mayer:
„Das Leben Friedrichs des Großen 1712—1755 — Historische Stätten heute". Bürgersaal
des Rathauses Charlottenburg.
2. Montag, den 8. Mai 1989,19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Erhard Mayer: „Das
Leben Friedrichs des Großen 1756—1786 — Historische Stätten heute". Bürgersaal des
Rathauses Charlottenburg.
3. Mittwoch, den 17. Mai 1989,19.30 Uhr: Jahreshauptversammlung im Pommernsaal des
Rathauses Charlottenburg, Tagesordnung: 1. Entgegenahme des Tätigkeitsberichts, des
Kassenberichts, des Bibliotheksberichts; 2. Berichte der Kassen- und Bibliotheksprüfer;
3. Aussprache; 4. Entlastung des Vorstandes; 5. Wahl des Vorstandes; 6. Wahl von zwei
Kassenprüfern und zwei Bibliotheksprüfern; 7. Verschiedenes. Anträge aus den Mitgliederkreisen sind bis spätestens 2. Mai 1989 der Geschäftsstelle einzureichen.
4. Montag, den 12. Juni 1989,19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Günter WoUschlaeger: „Landschaft an der Havel — Preußische Gartenkunst um Potsdam". Bürgersaal des
Rathauses Charlottenburg.
5. Freitag, den 30. Juni 1989,19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Dr. Clemens Alexander Wimmer: „Peter Joseph Lenne — Leben und Persönlichkeit". Pommernsaal des
Rathauses Charlottenburg.
Bibliothek: Otto-Suhr-Allee 96 (Rathaus), 1000 Berlin 10, Telefon 34 30-2234. Geöffnet: mittwochs 16.00 bis 19.30 Uhr.
Vorsitzender: Hermann Oxfort, Breite Straße 21, 1000 Berlin 20, Telefon 3 33 2408.
Geschäftsstelle: Frau Ingeborg Schröter, Brauerstraße 31, 1000 Berlin 45, Telefon 7723435.
Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13, 1000 Berlin 65, Telefon 45 09-291.
Schatzmeisterin: Frau Ruth Koepke, Temmeweg 38, 1000 Berlin 22, Telefon 365 7605.
Konten des Vereins: Postgiroamt Berlin (BLZ 100 10010), Kto.-Nr. 433 80-102,1000 Berlin 21;
Berliner Bank AG (BLZ 10020000), Kto.-Nr. 0381801200.
Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr.
1865, Schriftleitung: Günter WoUschlaeger, Kufsteiner Straße 2, 1000 Berlin 62; Dr. Christiane
Knop, Rüdesheimer Straße 14,1000 Berlin 28; Roland Schröter. Beiträge sind an die Schriftleiter zu
senden.
Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 16 DM
jährlich.
Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn, 1000 Berlin 49.
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.
192
An alle Mitglieder, Freunde und die Tauschpartner
des Vereins für die Geschichte Berlins!
Die Bibliothek mußte umziehen! Die neue Adresse lautet ab sofort:
Verein für die Geschichte Berlins
Bibliothek
Berliner Straße 40
1000 Berlin 31
Telefon 87 2612
(Zugang über den l.Hof)
geöffnet wie bisher mittwochs 16 bis 19.30 Uhr
Fahrverbindungen:
U-Bahn Linie 7, Bhf. Blissestraße (West-Ausgang rechts);
Omnibusse 1, 4, 74 und (Haltestelle Uhlandstraße:) 60
*«h«fet. der Berliner StodtbibHoHwt
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1015
F
MITTEILUNGEN
DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS
GEGRÜNDET 1865
85. Jahrgang
Heft 3
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aus: Eugenie von Soden (Hrsg.), Das Frauenbuch, Band III
Stuttgart 1914 (Tafel I)
Juli 1989
Quellen zur Geschichte der Frauenbewegung
im Landesarchiv Berlin: Das Helene-Lange-Archiv
Von Christiane Schuchard
Im Herbst 1988 übernahm das Landesarchiv Berlin als Dauerleihgabe vom Berliner Frauenbund 1945 e.V. das Helene-Lange-Archiv, das bis dahin im Deutschen Zentralinstitut für soziale Fragen (DZI) in Berlin-Dahlem untergebracht gewesen war.1 Dieser Standortwechsel
und die große Bedeutung des Helene-Lange-Archivs (im folgenden abgekürzt: HLA) als
Quellenbestand zur Geschichte der älteren deutschen Frauenbewegung sind Anlaß und Begründung dafür, es auch hier vorzustellen2 und dabei die Bedeutung Berlins in diesem Zusammenhang wenigstens andeutungsweise hervorzuheben.
*
Die Frauenbewegung der Gegenwart — aus historischer Perspektive: die Neue Frauenbewegung — hat bei der Suche nach der Geschichte von Frauen und ihren sozialen Bewegungen in
der Vergangenheit die Geschichte der Alten Frauenbewegung (auch als ältere oder erste
Frauenbewegung bezeichnet) wiederentdeckt und neu erforscht. Eine Aussage wie zum Beispiel: „Es ist immer wieder verblüffend zu sehen, wie viele unserer Auseinandersetzungen
Frauen bereits vor 60, 70 oder gar 100 Jahren geführt haben"3 macht dabei zwei Dinge deutlich: zum einen die persönliche Betroffenheit als Ausgangspunkt der Beschäftigung mit der
Vergangenheit, zum anderen ein Informationsdefizit in der breiteren Öffentlichkeit, welches
Frauengeschichte als eine mißachtete, vergessene, verschüttete, verborgene Geschichte erscheinen ließ. Die maßgeblichen Lehrbücher und Nachschlagewerke zur deutschen und allgemeinen Geschichte für angehende Historiker/innen, Geschichtslehrer/innen und sonstige
Geschichtsinteressierte erwähnen die Frauenbewegung nämlich entweder gar nicht4 oder nur
in knapper, manchmal unzureichender Form5. Auch in neueren biographischen Nachschlagewerken wie etwa den „Großen Deutschen", dem „Biographischen Wörterbuch zur deutschen
Geschichte" und der „Neuen Deutschen Biographie" sind Frauen unterrepräsentiert, kommen
die Vorkämpferinnen der deutschen Frauenbewegung größtenteils nicht vor. Ursachen dafür
sind neben dem Traditionsbruch von 1933 die durch Desinteresse und Kriegseinwirkungen
eingetretenen Quellenverluste6 und die Tatsache, daß Frauen(geschichts)forschung heute gerade erst an der Schwelle der „etablierten" Wissenschaften steht. Gleichzeitig existiert jedoch
bereits seit langem eine kaum übersehbare Fülle an Literatur über Frauen und über die Frauenbewegungen), wie allein schon die beiden dickleibigen Bände der vom Deutschen Akademikerinnenbund angeregten Bibliographie „Die Frauenfrage in Deutschland" und die mittlerweile drei Bände der „Neuen Folge" dieser Bibliographie eindrucksvoll belegen.7
*
Die Geschichte der Frauenbewegung ist im wesentlichen eine Geschichte ihrer Organisationen. Hatte sich die Diskussion über „die Stellung der Frau in Ehe, Familie und Gesellschaft"
während der Aufklärung, des Vormärz und der Revolution 1848/49 auf „kleine intellektuellliterarische oder radikale politische Zirkel beschränkt"8, so erlangte die „Frauenfrage" im Ok194
Abb. 1: Zeichenkursus, aus: Eugenie von Soden (Hrsg.), Das Frauenbuch, Band 1, Stuttgart 1913
(Tafel I oben).
tober 1865 durch die Gründung des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins (ADF) in Leipzig
und die Gründung des Lette-Vereins9 im Februar 1866 in Berlin große Publizität10. Neben bürgerlich-liberalen Vereinsgründungen entstanden die konservativen „Vaterländischen Frauenvereine" und auf der anderen Seite des politischen Spektrums die proletarische Frauenbewegung.11
Der ADF-Gründungskonferenz war im Februar 1865 in Leipzig die Gründung eines Frauenbildungsvereins vorausgegangen; ihr folgte eine Welle von Gründungen lokaler, mancherorts
freilich kurzlebiger Frauenbildungsvereine. Auf einer Tagung in Berlin im November 1869 rief
auch der Lette-Verein einen Verband ins Leben, den Verband Deutscher Frauen-Erwerbsund Bildungs-Vereine (VDF). (Auf die Unterschiede zwischen ADF und VDF und auf die
Entwicklung des gegenseitigen Verhältnisses soll hier nicht eingegangen werden12, sondern nur
die Organisationsgeschichte der bürgerlichen Frauenbewegung in aller Knappheit skizziert
werden.) Herrad-Ulrike Bussemer verzeichnet in der Reichsgründungszeit eine „Differenzierung des bürgerlichen Frauenvereinsspektrums"13 durch die Entstehung von Berufsorganisationen. „Das Spektrum der Frauenvereine [...] läßt sich grob nach folgenden Zielorientierungen klassifizieren: erstens Vereine, die Berufs- und Ausbildungsinteressen vertraten; zweitens
wohlfahrtsorientierte und sozialreformerisch tätige Organisationen und drittens Vereine, die
allgemeine, übergreifende Emanzipationsziele formulierten."14
Am 28729. März 1894 gründeten 34 Frauenverbände und -vereine im Berliner Lette-Haus
den Bund Deutscher Frauenvereine (BDF)15 als nationalen Dachverband nach amerikani195
schem Vorbild, allerdings ohne die sozialdemokratischen Frauenvereine. Von den in der Folgezeit entstehenden konfessionellen Frauenorganisationen hielt sich der Katholische Frauenbund Deutschlands (gegründet 1903) immer abseits, während der 1899 gegründete DeutschEvangelische Frauenbund erst 1908 dem BDF beitrat, ebenso wie der 1904 gegründete Jüdische Frauenbund16. Innerhalb des BDF gab es von Anfang an einen gemäßigten und einen
radikalen Flügel; dieser kämpfte u. a. für das Frauenstimmrecht und für die Streichung des
§ 218. Während des Ersten Weltkriegs nahm er eine pazifistische Haltung ein und trennte sich
vom BDF, der einen „Nationalen Frauendienst" initiierte und mit den Behörden zusammenarbeitete.
Nach dem Krieg konzentrierte sich der BDF auf die Parlaments- und Lobbyarbeit. 1919 war in
Deutschland das Frauenstimmrecht eingeführt und damit eine wichtige Forderung der Frauenbewegung verwirklicht worden; weitergehende Hoffnungen erfüllten sich dadurch jedoch
nicht. Finanzielle Schwierigkeiten und interne Differenzen waren Begleiterscheinungen des
Niedergangs der organisierten Frauenbewegung, obwohl der BDF in der Weimarer Republik
seine größte Mitgliederzahl erreichte. Durch eine Veränderung der Mitgliederstruktur verlagerte sich das politische Schwergewicht innerhalb des BDF allmählich nach rechts. Das Verhältnis des BDF zum aufkommenden Nationalsozialismus wird in der modernen Forschung
unterschiedlich beurteilt, nämlich als protofaschistisch (Evans), gleichgültig (Stoehr), ambivalent (Greven-Aschoff, Bussemer) oder emanzipatorisch (Schmidt-Waldherr).17 Durch seine
Selbstauflösung bei der letzten Vorstandssitzung am 15. Mai 1933 entging der BDF der drohenden Gleichschaltung.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gründeten sich einige Organisationen der Alten Frauenbewegung neu. Heute existieren sie neben den zahlreichen Gruppen, die sich in der Neuen Frauenbewegung seit den 1970er Jahren gebildet haben, weiter — das Spektrum der Frauenbewegung
ist (wieder) sehr breit geworden, auch und gerade in Berlin.18
Der oben bereits beklagte Traditionsverlust ging mit der Vernichtung, Vernachlässigung oder
Zersplitterung der einschlägigen Quellen einher, deren Verbleib — soweit sie überhaupt noch
existieren — häufig nur mühsam zu klären ist. Dies gilt nicht nur für das hinterlassene Schriftgut
natürlicher Personen, das sich normalerweise zunächst in Privathand befindet, sondern auch
für das Archiv- und Bibliotheksgut von juristischen Personen, also Organisationen. „Schon die
erste Frauenbewegung hatte zu einer Vielzahl von Bücherei- und Archivgründungen geführt.
Jedoch wissen wir heute über diese Einrichtungen fast nichts mehr."19 Die Neue Frauenbewegung mußte noch einmal von vorn beginnen. Die in den letzten Jahren neu entstandenen Frauenarchive und -bibliotheken bemühen sich, soweit sie (auch) die Erste Frauenbewegung dokumentieren20, alte Bücher, Zeitschriften, graue Materialien und Archivalien ohne Rücksicht auf
deren Herkunft in selbst bestimmter oder sich durch den Angebotszufall ergebender Auswahl
zu sammeln und nach einer ebenfalls jeweils selbst erarbeiteten Systematik zu ordnen; die
heute noch relativ junge Geschichte dieser Einrichtungen ist Teil der Geschichte der Neuen
Frauenbewegung und spiegelt aktuelle Sichtweisen und Interessenschwerpunkte.
Im Unterschied dazu hat das Helene-Lange-Archiv (genauer: Archiv und Bibliothek der Helene-Lange-Stiftung) eine relativ lange Geschichte, die — ausnahmsweise — in die Epoche der
Alten Frauenbewegung zurückreicht und ebenso ein Teil von dieser gewesen ist. Sein Inhalt ist
196
Abb. 2: Büroarbeit, 1918, aus einem Fotoalbum der Teltower Kriegswirtschafts-Gesellschaft m.b.H.
über einen längeren Zeitraum hinweg mehr oder weniger kontinuierlich angewachsen, und die
Ordnungsprinzipien, nach denen er organisiert wurde, sind heute selbst historisch.
Grundlegendes zur Geschichte des HLA bis 1945 hat Herrad-Ulnke Bussemer « t e t o
schüre über die Geschichte des Bundes Deutscher Frauenvereme veröffentlicht; über d e Zeit
von 1933 bis zur Gegenwart hat auch Hanna-Beate Schöpp-Schilling wichtige Informationen
zusammengestellt.21
,
.
„ ,
erhielt« Das HLA umfaßt außerdem die Archive des Allgemeinen Deutschen Leh ennnenVereins des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins (teilweise), des Deutschen AkademikeIZ-Bundesu^^
wohnung in der Prinzregentenstraße 89 (Wilmersdorf) das Vermögen aufgelöster Frauenorganisatione'n übernahm und zur Auffangste.le für deren Archiv- und B.bhotheksgut w u r d .
Hinzu kamen (Teil-)Nachlässe einzelner Persönlichkeiten aus der Frauenbewegung^Helene
Lange (1848-1930), Anna Pappritz (1861-1939), Anna von Gierke (1874-1943) und
Dr. Marie Munk (1885-1978). 23
n«,to*P
Andere Arch.valien, die in enger Beziehung zum HLA stehen, besitzt heute de Deutsche
Staatsbürgerinnen-Verband und bewahrt sie in seiner Berliner Geschäftsstelle auf: den ande197
ren Teil des Archivs des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins und (Teil-)Nachlässe von
Louise Otto-Peters (1819-1895) und Dorothee von Velsen (1883-1970). 24 Mikrofiches dieser Bestände befinden sich im HLA.
*
Der Archivstandort Berlin hat sich nicht zufällig ergeben. Über die Rolle Berlins in der Geschichte der deutschen Frauenbewegung ist einiges bereits oben angedeutet worden; es kann
hier nur durch weitere, kurze Hinweise ergänzt werden. Eine moderne Überblicksdarstellung
steht noch aus; sie müßte außerdem untersuchen, welche Rolle — umgekehrt — die organisierte
Frauenbewegung in und für Berlin gespielt hat.25 Einerseits haben dort Ereignisse stattgefunden, die für die Entwicklung und Selbstdarstellung der gesamten Bewegung von Bedeutung
waren: Verbandsgründungen wie zum Beispiel diejenige des BDF1894 und die des Verbandes
fortschrittlicher Frauenvereine 189926; der Internationale Frauenkongreß 190427; 1912 eine
große Ausstellung „Die Frau in Haus und Beruf"28. Andererseits gründeten sich in Berlin und
seinen Vororten zahlreiche lokale Frauenvereine, wie zeitgenössische Adressenzusammenstellungen und Statistiken zeigen: 1901 gab es allein in Berlin 30,1908 bereits 63 Vereine.29 Eine
offizielle Statistik zählte 1909 in Berlin 65 Vereine mit insgesamt 36 993 weiblichen und 5547
männlichen Mitgliedern.30 Während sich im Laufe der Zeit Ortsgruppen der verschiedensten
Organisationen überall in (Groß-)Berlin bildeten, konzentrierten sich die Geschäftsstellen der
Frauenverbände in den bürgerlich geprägten westlichen und südwestlichen Vororten bzw.
Ortsteilen, speziell in Schöneberg.31 In jenen Gegenden wohnten eben auch viele der Frauen,
die die bürgerlich-liberale Frauenbewegung trugen — Differenzierung und räumliche Schwerpunktbildung innerhalb Berlins ergaben sich gewiß nicht zufällig. Auch befanden sich die Geschäftsstellen oft in den Privatwohnungen von Verbandsfunktionärinnen. Dies galt lange sogar
für den BDF, der erst in den 1920er Jahren „eigene" Räume in der Motzstraße 22 (Schöneberg) beziehen konnte. Indem das Helene-Lange-Archiv ins Landesarchiv Berlin einzog, ist es
also wieder in ein Stadtviertel zurückgekehrt, mit dem sich die Tradition der Frauenbewegung
besonders auffällig verbindet.
Anmerkungen
1 Über die Unterzeichnung des Depositalvertrags durch die Vorsitzende des BFB, Ika Klar, und
den damaligen Kultursenator Dr. Volker Hassemer berichteten am 30. August 1988 DER TAGESSPIEGEL, das VOLKSBLATT BERLIN und die BZ.
2 Vgl. außer den in Anm. 21 genannten Arbeiten: Richard J. Evans: Feminism and Female Emancipation in Germany 1870—1945: Sources, Methods, and Problems of Research, in: Central European History 9 (1976), S. 323-351, besonders S. 340f.; Karin Schatzberg (Hrsg.): Frauenarchive und Frauenbibliotheken, 2., erweiterte und aktualisierte Auflage, Aachen 1986, S. 36—39;
Fundorte. 200 Jahre Frauenleben und Frauenbewegung in Berlin. Katalog zur Ausstellung „Kein
Ort nirgends?", Berlin 1987, S. 172; Christiane Schuchard: Das Helene-Lange-Archiv im Landesarchiv Berlin, in: Der Archivar 42 (1989), H. 1, Sp. 81-84.
3 Christiane Eifert/Susanne Rouette: Einleitung, in: Unter allen Umständen. Frauengeschichte(n) in Berlin, Berlin 1986, S. 7-14, S. 9.
4 Vgl. die entsprechenden Bände der Reihen „Fischer Weltgeschichte" (27 und 28), „Deutsche Geschichte" (8 und 9) innerhalb der „Kleinen Vandenhoeck-Reihe" (in der gebundenen Ausgabe:
Bd. 3; Register) und „Oldenbourg Grundriß der Geschichte" (14 und 15; Register) sowie das Lexikon „Geschichtliche Grundbegriffe".
198
5 Vgl. beispielsweise: Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte. 9., neu bearbeitete Auflage,
hrsg. von Herbert Grundmann, dtv-Tb.-Ausgabe Bd. 17 (Wilhelm Treue: Gesellschaft, Wirtschaft und Technik Deutschlands im 19. Jahrhundert, München 1975; = Bd. 3 des Originalwerks,
Stuttgart 1970, § 67-89), Register; Gerhard Taddey (Hrsg.): Lexikon der deutschen Geschichte.
Personen, Ereignisse, Institutionen . . . , 2., überarbeitete Auflage, Stuttgart 1983, S. 379—381
(Artikel „Frauenbewegung" von Wolf gang Schmierer); Sachwörterbuch der Geschichte
Deutschlands und der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. 1: A—K, Berlin (Ost) 1969, S. 616—619
(Artikel „Frauenbewegung", bebildert). — Unzulänglich ist der Artikel „Frauenbewegung,
Frauenemanzipation" bei Konrad Fuchs/Heribert Raab: dtv-Wörterbuch zur Geschichte, Bd. 1.,
München 1972, S. 273 f. (Zitat: „Die F. hat seitdem [= 1792], von Unterbrechungen abgesehen,
ununterbrochen Fortschritte machen können." Ebd., S. 273). — Exemplarische Kritik an Schulgeschichtsbüchern und an Golo Manns „Deutscher Geschichte des XIX. und XX. Jahrhunderts"
übte bereits 1976 Marielouise Janssen-Jurreit in ihrem Buch „Sexismus. Über die Abtreibung der
Frauenfrage" (München/Wien 1976) mit der These (Überschrift von Kapitel 2): „Die Geschichtslosigkeit der Frau wird durch die Geschichtsschreibung hergestellt."
6 Vgl. S. 196.
7 Vgl.: Die Frauenfrage in Deutschland. Strömungen und Gegenströmungen 1790—1930. Sachlich
geordnete und erläuterte Quellenkunde. [Band 1.] Hrsg. von Hans Sveistrup und Agnes von
Zahn-Harnack, Burg bei Magdeburg 1934=Tübingen 1961 = München usw. 1984. — Deutscher
Akademikerinnenbund e.V. (Hrsg.): Die Frauenfrage in Deutschland. Bibliographie. Band 10:
1931—1980. Bearb. von Ilse Delvendahl unter Mitarbeit von Doris Marek, München usw. 1982
[= Kumulation der Bände 2 - 9 (Berichtsjahre 1931-1978) + Berichtsjahre 1979 und 1980; vgl.
ebd., S.VI]. — Die Frauenfrage in Deutschland. Neue Folge. Bände 1—3, München usw.
1983-1987 (Berichtsjahre: 1982-1984). - In den letzten fünfzehn Jahren sind außerdem mindestens 20 weitere einschlägige Bibliographien erschienen; über ein Dutzend davon ist beispielsweise im Lesesaal der Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin einzusehen.
8 Herrad-Ulrike Bussemer: Frauenemanzipation und Bildungsbürgertum. Sozialgeschichte der
Frauenbewegung in der Reichsgründungszeit, Weinheim/Basel 1985, S. 16, nach Paul Kluckhohn und Renate Möhrmann, vgl. Anm. 18 (ebd., S. 257).
9 Bei seiner Gründung hieß er „Verein zur Förderung der Erwerbsfähigkeit des weiblichen Geschlechts" ; nach dem Tod seines Gründers Adolf Lette wurde er umbenannt in „Lette-Verein zur
Förderung der höheren Bildung und Erwerbsfähigkeit des weiblichen Geschlechts". Vgl. Bussemer, Frauenemanzipation und Bildungsbürgertum, S. 301, Anm. 5 zu Kapitel 3. - Literatur: vgl.
Lilly Hauff (unter Mitarbeit von Elli Lindner): Der Lette-Verein in der Geschichte der Frauenbewegung, Berlin 1928, und Doris Obschernitzki: „Der Frau ihre Arbeit!" Lette-Verein. Zur Geschichte einer Berliner Institution 1866 bis 1986, Berlin 1987 (•= Stätten der Geschichte Berlins,
Bd. 16).
10 Vgl. im einzelnen Bussemer, Frauenemanzipation und Bildungsbürgertum, Kapitel 2 „Die .Frauenfrage' in der öffentlichen Diskussion der 60er Jahre" und 3.1 „Entwicklung zweier konkurrierender Organisationsmodelle 1865/66". - Überblick über Berliner Zeitungsberichte: vgl. ebd.,
S. 256 Anm. 13 und S. 103.
11 Vgl. dazu: Sabine Richenbächer: Uns fehlt nur noch eine Kleinigkeit. Deutsche proletarische
Frauenbewegung 1890-1914, Frankfurt am Main 1982.
12 Vgl. hierzu ausführlich die materialreiche Arbeit von Bussemer, Frauenemanzipation und Bildungsbürgertum.
13 Bussemer, ebd. S. 218.
14 Barbara Greven-Aschoff: Die bürgerliche Frauenbewegung in Deutschland 1894-1933, Göttingen 1981 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 46), S.71.
15 Vgl. (außer der in der vorigen Anm. genannten Arbeit von Greven-Aschoff): Richard J. Evans:
The Feminist Movement in Germany 1894—1933, London 1976.
16 Vgl. hierüber: Marion A. Kaplan: Die jüdische Frauenbewegung in Deutschland. Organisation
und Ziele des Jüdischen Frauenbundes 1904-1938, Hamburg 1981.
17 Ausführliche Diskussion der Standpunkte bei Hiltraud Schmidt-Waldherr: Emanzipation durch
Professionalisierung? Politische Strategien und Konflikte innerhalb der bürgerlichen Frauenbewegung während der Weimarer Republik und die Reaktion des bürgerlichen Antifeminismus und
des Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 1987.
199
18 Vgl. beispielsweise: Wohin geht die Frauenbewegung? 22 Protokolle, aufgezeichnet von Gisela
Gassen, Frankfurt am Main 1981.
19 Fundorte, S. 170. - Über eine dieser Einrichtungen - die Berliner Bibliothek des Kaufmännischen Verbands für weibliche Angestellte — vgl.: Ursula Nienhaus: Berufsstand weiblich. Die ersten weiblichen Angestellten, Berlin 1982, S. 126 f.
20 Genannt sei hier stellvertretend das Archiv der deutschen Frauenbewegung (Sommerweg 1B,
3500 Kassel), das auch die Spezial-Zeitschrift „Ariadne" (mit umfangreicher Bibliographie) herausgibt. Bisher (1985-1988) erschienen 12 Hefte.
21 Vgl.: Herrad-Ulrike Bussemer:,,... ein einzig'Volk von Schwestern". Zur Geschichte des Bundes Deutscher Frauenvereine, Berlin 1987; Hanna-Beate Schöpp-Schilling: Vieles ist vergessen,
vieles verdrängt. Spurensicherung: Frauenarchive in der Bundesrepublik, in: Frankfurter Rundschau, 2. November 1985, S. ZB 2; wieder in: Informationen für die Frau 1/86, S. 15—17 (unter
dem Titel: „Spurensicherung. Frauenarchive in der Bundesrepublik").
22 Vgl.: Jahrbuch des BDF 1929 [Berichtsjahre 1927-1928], S.46-52.
23 Vgl. das vom BFB herausgegebene „Findbuch der Archivalien des Helene-Lange-Archivs"
(Weinheim 1987) sowie Schuchard, Das Helene-Lange-Archiv.
24 Vgl. dazu Näheres ebd., Sp. 82 Anm. 6.
25 Der Zweite Band der neuen „Geschichte Berlins" (Von der Märzrevolution bis zur Gegenwart,
hrsg. von Wolfgang Ribbe, München 1987) enthält für die in Frage kommenden Zeitabschnitte
kein entsprechendes Kapitel; ein Sachregister, das es ermöglichen würde, etwaige kurze Erwähnungen der Frauenbewegung ausfindig zu machen, fehlt leider.
26 So auch Greven-Aschoff, Die bürgerliche Frauenbewegung, S. 87: „Die Entstehung einiger für
die Frauenbewegung bedeutsamer Vereine in Berlin in dem Zeitraum zwischen 1888 und 1894
signalisiert eine wichtige regionale Schwerpunktverlagerung. Waren bis dahin die mitteldeutschen Vereine in Leipzig und Dresden Ausgangs- und Kristallisationspunkt der deutschen bürgerlichen Frauenbewegung gewesen, so übernahmen jetzt die Berliner Vereine diese Funktion."
27 Vgl. hierzu: Marie Stritt: Der Internationale Frauen-Kongreß, Berlin 1904; Handbuch für die III.
Generalversammlung des Internationalen Frauenbundes in Berlin vom 6.—11. Juni 1904 und für
den Internationalen Frauenkongreß in Berlin vom 12.—18. Juni 1904, hrsg. vom Lokalkomitee,
Berlin o. J. [ 1904]; Bilder vom Internationalen Frauen-Kongreß 1904. . . redigiert von Frau Eliza
Ichenhaeuser..., Berlin o. J. [1904].
28 Vgl. hierzu: Ausstellung „Die Frau in Haus und Beruf unter dem Allerhöchsten Protektorat
Ihrer Majestät der Kaiserin und Königin. Berlin 1912. 24. Februar bis 24. März. Ausstellungshallen am Zoologischen Garten. Mit einem Plan der Ausstellung, Berlin o. J. [1912].
29 1901: vgl. Betty Günther: Merkbüchlein der Frauenfrage, Bonn 1901; 1908: vgl. Marie Wegner:
Merkbuch der Frauenbewegung, Leipzig/Berlin 1908.
30 Statistik der Frauenorganisationen im Deutschen Reiche. Bearbeitet im Kaiserlichen Statistischen Amte, Abteilung für Arbeiterstatistik, Berlin 1909, S. 20*. — Ein „Jahrbuch der Vereine
und Verbände Groß-Berlins" (1930) nennt in der Gruppe „Frauenvereine" weit über 200 Adressen — ohne die gesondert aufgeführten Berufsorganisationen, aber einschließlich der zahlreichen
Vaterländischen und konfessionellen Frauenvereine und, beispielsweise, der Ortsgruppen des
Stahlhelm-Frauenbundes. Welche Gruppen der Frauenbewegung zuzurechnen sind, ist dieser
Quelle also nicht zu entnehmen.
31 Vgl. beispielsweise die vom BDF herausgegebene „Zusammenstellung der angeschlossenen Verbände und ihrer Mitgliedsvereine, der Mitglieder des engeren und des Gesamtvorstandes, der
Mitglieder des Frauenberufsamtes, sowie der Stadtverbände", o.O. [Berlin] 1922.
Bildnachweis
Helene-Lange-Archiv im Landesarchiv Berlin; Ansichtensammlung des Landesarchivs Berlin
Anschrift der Verfasserin:
Dr. Christiane Schuchard, Landesarchiv Berlin, Kalckreuthstraße 1/2, 1000 Berlin 30
200
Aus dem Mitgliederkreis
Dr. Gerhard Kutzsch 75 Jahre
Am 5. August 1989 vollendet Dr. Gerhard Kutzsch, Landesarchivdirektor a.D. und langjähriger
Vorsitzender unseres Vereins, sein 75. Lebensjahr. In Leipzig geboren und zur Schule gegangen, studierte er nach dem Abitur Geschichte, Anglistik und Germanistik an der Universität seiner Heimatstadt. 1941 wurde er mit einer Arbeit über George Bernard Shaw zum Dr. phil. promoviert. Bis zu seiner Kriegsdienstverpflichtung bei der Deutschen Reichsbahn im Jahre 1943 war er Mitarbeiter an der
Ernst-Moritz-Arndt-Biographie.
1947 siedelte Gerhard Kutzsch nach Berlin über und war hier zunächst im Schuldienst tätig. 1950
nahm er ein Zweitstudium an der Hochschule für Politik auf, das er mit dem Hochschuldiplom beendete. Mit einer Referenz von Otto Suhr versehen, schloß sich eine Tätigkeit im Hauptarchiv, dem heutigen Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, an. Dort entdeckte er seine Liebe zum Archivarberuf. Gerhard Kutzsch war von der Aufgabe des Archivs, als Stätte der Wissenschaft und Forschung mit der Bereitstellung von Quellen zur Erhellung der Vergangenheit und zum Verständnis der
Gegenwart beizutragen, so fasziniert, daß er sich 1955/56 in Marburg zum wissenschaftlichen Archivar ausbilden ließ. Von 1957 an arbeitete er im Landesarchiv Berlin, dessen Direktor er von 1964 bis
zum Eintritt in den Ruhestand 1979 war.
Im Archiv hat er sich der vorher vernachlässigten Aufgaben angenommen. Er führte ein nach archivischen Gesichtspunkten ausgerichtetes Ordnungssystem ein und baute vor allem die Sammlungen zur
wichtigsten Dokumentation nichtstaatlichen Schriftgutes aus.
Neben seiner Tätigkeit im Landesarchiv galt und gilt sein Engagement dem Verein für die Geschichte
Berlins, dem er seit über dreißig Jahren die Treue hält. Durch das Vertrauen der Mitglieder wurde
Gerhard Kutzsch 1971 zum stellvertretenden Vorsitzenden und von 1978 bis 1985 zum Vorsitzenden
berufen. In diesen Ämtern war es sein Anliegen, die neuesten Erkenntnisse der wissenschaftlichen
Forschungen zur Geschichte Berlins auch breiteren Kreisen- der Bevölkerung zu vermitteln. Dazu
dienten ihm vor allem die Vereinspublikationen. Er selbst gibt seit 1977 das Vereinsjahrbuch „Der
Bär von Berlin" heraus, dessen Beiträge auch weit über Berlin hinaus Beachtung finden. Der Freude,
den „Dingen auf den Grund zu gehen", der Freude an der prägnanten Formulierung und dem geschliffenen Satz verdanken wir zahlreiche Beiträge zur Berliner Verwaltungs-, Sozial- und Kulturgeschichte aus seiner eigenen Feder.
Im Auftreten eher zurückhaltend, hat er es doch stets vermocht, ein kollegial-freundschaftliches Verhältnis zu seinen Mitarbeitern im Archiv und seinen Mitstreitern im Verein zu erreichen. — Die Vereinsmitglieder hoffen, daß ihm auch künftig die Gesundheit und die Freude an der Geschichte Berlins
erhalten bleiben, danken ihm für sein unbeirrtes Engagement und für sein langjähriges Wirken und
gratulieren sehr herzlich.
Jürgen Wetzel
Studienfahrt nach Ulm (Donau) vom 8. bis 11. September 1989
Im Heft 2/1989, Seite 179 der „Mitteilungen" war in groben Zügen auf das Programm der diesjährigen viertägigen Studienfahrt nach Ulm hingewiesen worden. Hier folgt nun das mit seinen Besichtigungen am Ort vollständige Programm, das lediglich um die Stationen auf der Hinreise und auf dem
Rückweg zu ergänzen wäre. Für alle Führungen in Ulm selbst und in dessen Umland steht Frau Ingeborg Bock, geb. Schlumberger, zur Verfügung, die ausgeprägten Charme mit der großen Gabe verbindet, ihre weitreichenden Kenntnisse kunstgeschichtlicher, musikwissenschaftlicher und stadthistorischer Art mit Engagement an den Mann (und die Frau) zu bringen. Teilnehmer früherer Fahrten seien
etwa an gleich liebenswürdige und kundige Führer in Lübeck, Trier oder Detmold erinnert.
201
Programm
Freitag, 8. September 1989
6.00 Uhr
Abfahrt mit Omnibus an der Berliner Bank, Hardenbergstraße 32
19.30 Uhr
Eintreffen im Hotel, Abendessen ä la carte
Sonnabend, 9. September 1989
9.00 Uhr
Frau Ingeborg Bock holt die Gruppe vom Hotel ab und führt sie durch die ehemaligen
Stadtviertel der Schlosser, Schmiede, Büchsenmacher, „Nördlich des Münsters" und
durch das Ulmer Münster; Blick in dessen Bauhütte
11.00 Uhr
Kleines Konzert an der großen Münsterorgel (8400 Pfeifen, 100 Register). Weiter
Führung über das Rathaus durch das Viertel der Fischer und Gerber
13.00 Uhr
Gemeinsames Mittagessen im „Franziskaner" (Schwäbischer Rostbraten auf Krautspätzle, 17,90 DM)
14.30 Uhr
Spaziergang zum Ulmer Museum mit thematisch konzentrierter Führung. Möglichkeit zur Erfrischung in der hübschen Cafeteria des Hauses
16.30 Uhr
für ausdauernd Interessierte Besichtigung einer Spezialität: Nikolauskapelle und
Steinhaus, ein im Kern romanischer Gebäudekomplex, für dessen sensible Restaurierung der Stadt Ulm ein Europa-nostra-Preis verliehen wurde
19.30 Uhr
Abendessen ä la carte im Ratskeller, Marktplatz 1
Sonntag, 10. September 1989
9.00 Uhr
Abfahrt mit Reisebus in Begleitung von Frau Ingeborg Bock nach Kloster Wiblingen.
Führung in der kostbaren Barock-Rokoko-Bibliothek und der spannungsvollen barock-klassizistischen Kirche.
Weiter über Biberach nach Steinhausen zur „berühmtesten Dorfkirche der Welt". Besichtigung der wunderfeinen, eigenwilligen Wallfahrtskirche im Rokoko-RegenceStil. Durch die Federseelandschaft nach Zwiefalten.
Mittagspause Gemeinsames Mittagessen in der Brauereigaststätte Zwiefalten (Gefüllte Kalbsbrust
mit Erbsen und Karotten, dazu Kartoffelcroquetten, 14,80 DM)
anschließend Besichtigung der Abteikirche Zwiefalten, eines Höhepunktes deutscher Barockkunst. Durch das Tal von Donau und Blau in der reizvollen Karstlandschaft des
Schwäbischen Jura nach Blaubeuren. Besichtigung des Hochaltars im ehemaligen
Benediktinerkloster, eines der bedeutendsten Werke der Spätgotik in Deutschland.
Möglichkeit zum Kaffeetrinken in Blaubeuren. Ausklang des Tages am landschaftlich
stimmungsvollen Blautopf. Rückkehr nach Ulm.
19.30 Uhr
Abendessen ä la carte im Gerberhaus, Weinhofberg 9
Montag, 11. September 1989
8.00 Uhr
Aufbruch nach Berlin
Änderungen vorbehalten!
Für die Unterkunft steht das Hotel Neuthor Ulm. Neuer Graben 23, 7900 Ulm (Donau), Telefon
(07 31) 15 16—0, zur Verfugung, in dem eine hinreichende Zahl von Zimmern, auch Einzelzimmern,
gesichert werden konnte. Sämtliche Zimmer sind mit Bad oder Dusche/WC ausgestattet und kosten
je Übernachtung einschließlich Frühstück vom Büfett 66 DM pro Person im Doppelzimmer, 76 DM
pro Person im Einzelzimmer, jeweils abzüglich 5%.
Das Teilnehmerhonorar beläuft sich auf 132 DM, es schließt die Omnibusfahrt, alle Führungen, Besichtigungen und Eintrittsgelder ein.
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Die bereits gemeldeten Teilnehmer haben das Programm und das Anmeldeformular bereits vorab erhalten. Alle anderen Interessenten werden gebeten, sich spätestens bis zum 24. Juli 1989 bei Dr. H. G.
Schultze-Berndt, Seestraße 13,1000 Berlin 65, Telefon 4509-291, zu melden. Es kann nicht verbürgt werden, daß spätere Meldungen noch Berücksichtigung finden.
H. G. Schultze-Berndt
*
Wer von unseren Mitgliedern hätte Freude daran, in einer lebendigen Atmosphäre als Bibliothekshelfer jeweils am Mittwoch nachmittags mitzuarbeiten? Interessenten wollen sich bitte mit Frau Irm
Köhler, Tel. 8 55 59 94, in Verbindung setzen.
Nachrichten
Historische Mühle von Sanssouci ersteht neu
Die ursprünglich 1739 an ihrem Standort neben dem Schloß Sanssouci errichtete, mehrfach geänderte und wieder aufgebaute Mühle, die kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges abgebrannt ist, soll in
der holländischen Form wiedererstehen, die sie 1791 vom Zimmermann van de Bosch erhalten hatte.
Ende 1988 wurde mit der Fundamentierung begonnen. Teile für die Wellen wurden aus einer alten
Mühle in Wredenhagen (Kreis Röbel) geborgen, auch Material für die Decken steht schon bereit.
Die fertige Mühle wird sich drei Geschosse höher präsentieren als heute. Die untere Raumfläche
beträgt dann 72 m2, die obere für das künftige Handwerksmuseum des Bezirks Potsdam bestimmte
52 m2. Die Stockwerke werden im Inneren durch eine Wendeltreppe verbunden. Von der außen um
die Mühle laufenden Galerie aus lassen sich die Mühlenflügel mit Hilfe des Sterts in die günstige
Windrichtung drehen. Über die Flügelwelle und Königswelle im Innern werden dann die Mahlsteine
mit Windkraft betrieben.
Die Mühle mit ihrem Museum wird dann Besuchern zugänglich sein. Die alte Zunft der Müller vereint
im Bezirk Potsdam noch 50 Handwerker.
SchB.
Ausbau des Märkischen Museums
Das Märkische Museum umfaßt gegenwärtig außer seinem Stammhaus am Köllnischen Park die
Nikolaikirche, das Ephraimpalais, in dessen drittem Stockwerk eine Kindergalerie eingerichtet werden soll,das Handwerkermuseum, das Knoblauch-Haus im Nikolaiviertel, den Turm des Französischen Domes und in der Husemannstraße die Ausstellung „Berliner Arbeiterleben um 1900". In den
letzten Jahren ist die Ausstellungsfläche von 2400 auf 6300 m2 gewachsen, sie soll sich in der nächsten
Zeit um eine Ausstellung zur Zirkusgeschichte sowie um ein Museumsgehöft im Dorf Marzahn erweitern.
Zu den Beständen von rund 300 000 Ausstellungsstücken treten alljährlich 3000 bis 4000 neue hinzu.
In jüngster Zeit konnten Gemälde von Karl Friedrich Schinkel sowie Möbel aus der Biedermeierzeit
erworben werden.
Zur Zeit werden vom Märkischen Museum 42 Grabtafeln aus dem 16. bis 18. Jahrhundert restauriert,
die bis 1991 wieder in der Nikolaikirche ihren Platz finden sollen.
In dem unter Denkmalschutz stehenden U-Bahnhof „Märkisches Museum" werden seit Dezember
1988 auf der Grundlage eines vom Magistrat beschlossenen Konzepts vom Büro für architekturbezogene Kunst zum Thema „Berliner Stadtbaugeschichte" die bisherigen Werbeflächen an den Wänden
durch 24 Gipsreliefs ersetzt, in die Abformungen baukünstlerischer Details eingefügt sind. Mit der
Gestaltung des Bahnhofs beschäftigen sich die Künstler Karl-Heinz Schäfer, Joachim Doese und
Ulrich Jörke. Die Repliken werden Schöpfungen unter anderem von Karl Friedrich Schinkel, Christian Daniel Rauch, Käthe Kollwitz und Fritz Cremer entnommen, die Originale befinden sich z. B. an
203
der Nikolaikirche, am Ephraimpalais, im Roten Rathaus oder auf dem Jüdischen Friedhof in der Herbert-Baum-Straße. Zwischen diesen Reliefs werden Steincollagen historischer Berliner Stadtpläne
angebracht.
SchB.
Buchbesprechungen
Der Roggenpreis und die Kriege des großen Königs. Chronik und Rezeptsammlung des Berliner
Bäckermeisters Johann Friedrich Heyde 1740 bis 1786. Herausgegeben und eingeleitet von Helga
Schultz. Wolf Jobst Siedler Verlag GmbH, Berlin 1988. 192 Seiten mit Abbildungen, gebunden,
39,80 DM.
Die Chronik des Bäckermeisters Johann Friedrich Heyde, die im Berliner Stadtarchiv aufbewahrt
wird, soll der Nachwelt „ein Denkmal und gute Erinnerung" geben. Im Jahre 1731 hatte er fast ohne
eigene Mittel seine Bäckerei begonnen. Dreizehn Jahre später konnte er sein Haus auf der Dorotheenstadt kaufen und die Backstube wie auch die Branntweinbrennerei modernisieren, die er als einträgliches Nebengeschäft betrieb, trat doch der Branntwein immer mehr an die Stelle des Bieres als Lieblingsgetränk der Berliner. Die Aufzeichnungen verdienen auch insofern Interesse, als der Aufstieg des
Meisters J. Fr. Heyde parallel zu demjenigen der brandenburg-preußischen Hauptstadt und Preußens
zur europäischen Großmacht verlief. Am 5. November 1790 ist der Chronist verstorben, „alt 87 Jahre
und drei Monate". Seinen Aufzeichnungen hatte er eine umfangreiche Sammlung von Rezepten als
geschlossenen Teil nachgestellt.
Die Chronik beginnt mit Familiärem und beschreibt dann, „was sich seit Anno 1740 allhier in Berlin
und sonsten in unsern Lande zugetragen und auch sonsten andern Seltenheiten". Dabei werden auch,
wie es im Titel dieser Ausgabe heißt, die Preise für Roggen und für andere Lebensmittel mitgeteilt.
1762 belief sich bei einem Wochenlohn von 1 bis 2 Talern (24 bis 48 Groschen) der Preis für „das Stadt
Bier Quart" (= 1,15 1) auf einen Groschen; 1748 hatte 1 Quart Gerstenbier noch 6 Pfennige (einen
halben Groschen) gekostet. Als am 15. Februar 1763 aufschloß Hubertusburg die Friedensurkunden
unterzeichnet wurden, ging der Marktpreis der Gerste von 5 Talern bis 3'/2 Taler herunter, „worunter
Bäcker auch Brauer ein groß Kapital verloren".
Von den Rezepten seien hier zwei wiedergegeben: Vor den Husten. 4 Pfennig Korn Branntwein
6 Pfennig Jungfer Honig zusammen in einen Diegel über Feuer gekrüschet und denn warm ausgegossen, ist gut. Damit nieder geleget und fein warm zugedecket, hilft.
Und zum anderen: Ein Getränke wodurch einen Menschen Kräfte können beigebracht werden. Am
Grünen Donnerstage ein Quart roten Wein in einen Ameisen Haufen eingegeben und stehen lassen
das Jahr durch, das folgende Jahre am Karfreitage ausgegraben und nach und nach davon getrunken,
soll ungemein stärken.
Zum Rezeptteil werden Wort- und Sacherklärungen angefügt. Eine Zeittafel stellt synchronoptisch
die Geschehnisse der Jahre 1740 (Thronbesteigung Friedrichs II.) bis 1786 (Tod Friedrichs des Großen) in Berlin, in Brandenburg-Preußen und dem Reich sowie außerhalb Deutschlands zusammen.
Hervorzuheben sind die jeweils am Rande aufgeführten guten Anmerkungen, so über den Winter
1739/40, was im Hinblick auf den milden Winter 1988/89 von Interesse sein mag: 1740 war mit einer
Mitteltemperatur von 5,4°C das kälteste Jahr seit Beginn der regelmäßigen Messungen in Berlin 1719.
In ganz Europa war es eines der kältesten Jahre unseres Jahrtausends. Der Winter dauerte von Oktober 1739 bis Mitte Juni 1740; am 13. Juni trat der letzte Frost auf, und noch im April waren die Brunnen gefroren.
Auch die Fülle der Abbildungen ist so erfreulich wie überraschend, kann man sonst der Ausstattung
auch nur bescheidene Qualität attestieren (Gesamtherstellung VEB Druckhaus „Maxim Gorki",
Altenburg). Auch die Erklärungen zu den Rezepten, bei denen erstaunlicherweise viel mit Spirituosen gearbeitet wird, verdienen einschließlich der Umrechnung der Hohl- und Massemaße wie Quart
oder Lot ein ausdrückliches Lob.
In dieser Chronik ist der Versuch gelungen, aus der Sicht eines Berliner Bürgers die Auswirkungen der
Politik seines Landesherrn auf einen Handwerksmeister als seinen Untertanen sichtbar werden zu lassen — wer will, kann dies als ein frühes Beispiel der „Geschichte von unten" bezeichnen.
Hans G. Schultze-Berndt
204
Hans Joachim Wefeld: Ingenieure aus Berlin. 300 Jahre technisches Schulwesen. Haude & Spenersche Verlagsbuchhandlung, Berlin 1988, gebunden, 616 Seiten.
Mit immensem Fleiß hat der Autor, der neben seinem Lehramt an der Technischen Fachhochschule
Berlin auch deren Historisches Archiv leitet, die vielfältig gegliederte, verwirrende Vorgeschichte dieser technischen Lehranstalt, der anderen Ingenieurschulen von kürzerer Lebensdauer und die Entwicklung der Ingenieurschulen im Ostteil Berlins und in dessen Umland in Form dieses Buches
zusammengetragen, das nach eigenem Eingeständnis eigentlich den Titel tragen müßte: „Die technischen Schulen in Berlin und Umgebung, dargestellt anhand ihrer historischen Entwicklung vom
17. Jahrhundert bis in die Jetztzeit — Ein Beitrag zur Technikgeschichte und der daran beteiligten Persönlichkeiten." Daß dieses Standardwerk von H. J. Wefeld verfaßt, daß die Fülle der Literatur von
ihm bewältigt wurde und daß das Buch schließlich mit Hilfe „von ganz altem preußischem Geld"
(nämlich der Stiftung Preußische Seehandlung) vom ältesten Verlag der Stadt veröffentlicht werden
konnte, ist überaus verdienstvoll. Daß man auch kaum auf Druckfehler stößt, erweist die gleichfalls
preußische Akkuratesse (oder diejenige eines Ingenieurs).
Den Anfängen technisch orientierter Schulen im 17. und 18. Jahrhundert folgen die drei Gründungsphasen technischer Lehranstalten im 18. Jahrhundert, in der Zeit nach den Befreiungskriegen sowie
während der Wilhelminischen Zeit. Es werden schließlich die Weiterentwicklung zu Ingenieurschulen
zwischen den Weltkriegen und die jeweiligen Besonderheiten der Ingenieurschulen und Fachhochschulen in den beiden Teilen Berlins und in dessen Randgebiet geschildert.
Ursprünglich wollte sich der Autor auf den Werdegang jener ehemaligen Ingenieurschulen konzentrieren, die 1971 zur Technischen Fachhochschule zusammengeschlossen worden waren. Unterderhand ist dann aber unter Verzicht auf die Geschichte der Technischen Universität Berlin und von
Berufsschulen wie auch niederen Fachschulen eine Arbeit entstanden, die die Historie des technischen Schulwesens in Groß-Berlin von 1640 bis zur Gegenwart umfaßt. Wenn Wefeld auf den „vielfältigen Begriffswirrwarr" bei den technischen Bildungsstätten verweist, die seit der Jahrhundertwende als Fachschulen, Höhere technische Lehranstalten, Bauschulen, Ingenieurschulen und Ingenieurakademien bezeichnet wurden, so ist ein nicht geringerer Wirrwarr entstanden, als 1983/84 den
Absolventen der technischen Fachhochschulen der Titel Diplom-Ingenieur zuerkannt wurde.
Einige Einzelheiten seien herausgegriffen. Wie der Verfasser generell auf Biographien bedeutender
Persönlichkeiten Wert legt, so beleuchtet er auch die Beziehungen Karl Friedrich Schinkels zum technischen Schulwesen der Stadt Berlin. In gleicher Weise geht er auf die großen Verdienste Christian
Peter Wilhelm Beuths ein, „für immer... Schöpfer des technischen Schulwesens in Preußen". Ihm ist
zu verdanken, neben der staatlichen Initiative auch eine private Initiative durch Vereine geweckt zu
haben, die neben der Ausbildung eine Fortbildung der Gewerbetreibenden und Industriellen
bezweckte. Insofern gilt Beuth „als Vater der Ingenieure und als Schöpfer der norddeutschen Technik".
Die ursprünglich private Gärtner-Lehranstalt war ohne Vorbild und vermutlich die erste Institution
ihrer Art zumindest in Europa. Ihrer Entwicklung zunächst in Schöneberg und in Potsdam (Wildpark) wird mit Liebe nachgegangen und dabei u. a. auch Peter Joseph Lenne gewürdigt, dessen
200. Geburtstag sich 1989 jährt.
In einer kurzen Betrachtung wird auf die Hochschulen technischer Prägung eingegangen und die Entstehung eines sekundären technischen Bildungsbereichs dann ausführlicher gewürdigt. In Gestalt
einer Grafik wird die Entwicklung des technischen Schulwesens einschließlich ihrer Typologie aufgezeigt.
Daß, wo dies möglich war, auch über die Standesverbände, studentischen Verbindungen und Vereinigungen ehemaliger Studierender Bericht erstattet wird, rundet die Darstellung jeweils ab. Zu ergänzen wäre allenfalls die Vereinigung ehem. VLBer (Vereinigung ehem. Studierender am Institut für
Gärungsgewerbe Berlin) e.V. mit jetzt rund 1200 Mitgliedern. - Auf die seit mehr als 100 Jahren
„durch die geschickte Kooperation eines Gewerbezweiges mit dem Hochschulbereich" erzielten
bemerkenswerten Ausbildungserfolge am Institut für Gärungsgewerbe und Biotechnologie wird mit
Nachdruck verwiesen, wenn Max Delbrück als dessen wissenschaftlichem Direktor auch nur eine
Dienstzeit von 1898 bis 1900 zugemessen wird (richtig von 1883 bis 1919), übrigens der einzige Fehler, der in diesem Mammutwerk entdeckt worden ist.
Die den Abschluß bildende wohl erste zusammenfassende Chronik des Ingenieurschulbereichs in
205
Berlin (Ost) und Umgebung soll historische Vergleiche erleichtern und aufzeigen, wie die politischwirtschaftliche Entwicklung die Ingenieurausbildung nach 1945 geprägt hat.
Daß Wefeld es nicht mit der Schilderung der Strukturen der technischen Lehranstalten und ihrer
Änderungen hat bewenden lassen, sondern neben den Lehrern immer auch die Studenten mit einbezieht, rundet das Bild ab und macht die Darstellung lebendig. Ganz allgemein gilt, was Friedrich der
Große am 18. November 1775 hinsichtlich der Bewerber für die Ecole de genie et d'architecture
schrieb: „Tumme Teufels müssen sich darunter ebenso wenig als Windbeutel einschleichen, nur offenen Koepfen und jungen Leuten von Application und guter Erziehung soll der Zugang dazu offen stehen." Daß es 1852 an der Bauakademie studentische Streiks gegeben hat, die durch eine zu langsame
Reformpolitik ausgelöst worden waren, vernimmt man mit Interesse. Im Juli 1988 konnte der Autor
noch vermelden, seit 1979 habe das allgemeine Interesse der Studentenschaft für Fragen der Hochschulpolitik „sehr stark nachgelassen", ein halbes Jahr später gab es auch an der TFH in Berlin wieder
Streiks und Besetzungen. Ob man den heurigen Studenten mit dem § 28 der Vorschriften des Polytechnischen Instituts zu Berlin aus der Zeit vor 80 Jahren beikommen könnte? „Für Beschädigungen
des Anstaltseigentums sind die Studierenden, resp. die Eltern und Vormünder derselben haftbar.
Kann der Täter nicht ermittelt werden, haftet die Gesamtheit der Studierenden."
Dabei haben es doch die Studenten in Berlin so gut! Im selben Jahr 1908 konstatiert das Statut des
Polytechnischen Instituts: „Das abwechslungsreiche, großstädtische Leben und der Besuch der Theater, Konzerte, Kunstsammlungen, unentgeltlichen öffentlichen Vorträge und Bibliotheken, vor allem
aber der überaus reichen technischen Sammlungen der Reichshauptstadt bewahrt außerdem die Studierenden vor einem ständigen Aufenthalt in ,Kneipen' etc., auf den sie in kleinen Orten fast ausschließlich angewiesen sind, und erhält ihnen die geistige Frische, Arbeitsfähigkeit und Arbeitsfreudigkeit."
H. J. Wefeld beschließt sein Vorwort: „Die hier erstmals vorgelegte Behandlung des technischen Bildungswesens auf lokaler Ebene könnte einen Stein ins Gebäude der Historiographie der deutschen
Technik einfügen. Gleichzeitig wollte ich mit dieser Arbeit meiner Heimatstadt Berlin einen Gefallen
erweisen." Wir teilen gern die Hoffnung des ersten Satzes und bestätigen dem Verfasser, daß er Berlin
mit seiner Arbeit nicht nur einen Gefallen getan, sondern einen Dienst erwiesen hat.
H. G. Schultze-Berndt
Schacht, Jürgen (Hrsg).: Metropole Berlin - Historische Fotografien einer Weltstadt 1900-1939.
Texte Hans-Werner Klünner, Berlin 1985 (Verlag Jürgen Schacht).
Bildbände zu Berlin gibt es reichlich, sie wirken in der Regel durch die Qualität des Fotomaterials,
weniger durch einleitende oder begleitende Texte, die in diesem Fall aus der sachkundigen Feder von
Hans-Werner Klünner stammen. Die kurzen Texte zu den Abbildungen eignen sich häufig nur, um
Beschreibungen von Zuständen zu geben, die heute infolge von Kriegseinwirkungen und Abbruchen
nach 1945 verschwunden sind und einem unkundigen jüngeren Betrachter erst vor Augen geführt
werden müssen. In der Abfolge der Bilder sollte sich stets eine Gesamtvorstellung von der Stadt ergeben können, wobei in der Regel zu entscheiden ist, ob einer chronologischen Folge oder einer Darstellung räumlicher Bereiche innerhalb der Stadt der Vorzug gegeben wird. Daß das zur Verfügung stehende Abbildungsmaterial nicht immer reine Lösungen dieser beiden grundsätzlichen Möglichkeiten
erlaubt, verdeutlich der vorliegende Bildband besonders, er kommt doch nicht ohne räumliche und
zeitliche Sprünge und damit Brüche aus. Das geht aber leider zu Lasten der Bildhaftigkeit und Einprägsamkeit des alten Berlin.
Helmut Engel
Merian: Topographia Electoratus et Brandenburgici Ducatus Pomeraniae — Die Beschreibung von
Berlin, Köpenick, Spandau, Bernau und Potsdam (auszugsweiser Nachdruck der 1. Ausgabe von
1652).
Der Nachdruck zielt sicherlich auf den Liebhaber alter Bücher, sofern er sich eben mit einem solchen
zufrieden gibt; der legendäre Ruhm Merians mag für die Verkaufserwartung dabei eine besondere
Rolle spielen. Der an der Geschichte Berlins und des näheren Umlandes Interessierte wird es eher als
griffbereites Quellenwerk betrachten, in dem nachgelesen und mit dessen Abbildungen gearbeitet
werden kann, so mit dem Memhardschen Stadtgrundriß, der in dieser Wiedergabe anders als in seinen
vielen fotografisch kleinmaßstäblichen Wiederholungen „lesbar" ist.
Helmut Engel
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Wagner, Martin, und Buhne, Adolf (Hrsg.): Das Neue Berlin — Großstadtprobleme. Basel 1988
(Birkhäuser Verlag — Reprint der Ausgabe von 1929, mit einem Vorwort von Julius Posener).
Jeder Nachdruck einer im Buchhandel nicht mehr beziehbaren und in den öffentlichen Bibliotheken
kaum noch ausleihbaren Publikation von Quellenwert ist ein verdienstvolles Unterfangen, für das
dem Verlag, der ein solches wirtschaftliches Wagnis unternimmt, Dank abzustatten ist. Der Nachdruck von „Das Neue Berlin" ist ein solches Verdienst, denn damit steht ein Dokument von großem
zeitgeschichtlichem Aussagewert einer breiten Öffentlichkeit erneut zur Verfügung, stammt es doch
von den Protagonisten eines neuen Berlin, von Stadtbaurat Martin Wagner, seit 1926 im Amt, und
von Adolf Behne, dem literarischen Begleiter der Architektur in den zwanziger Jahren.
Das „Neue Berlin" erschien 1929 als Zeitschrift in 12 Heften und dann noch einmal als eine gebundene Jahresausgabe. Ihr Ziel sollte sein — so die beiden Herausgeber —, „alle Arbeiten, Gedanken
und Leistungen zu sammeln, die beitragen können, Berlin zu einer Stätte glücklicher Arbeit und
glücklicher Muße zu machen", eine Aufbruchstimmung von fast naiver Gläubigkeit, trotzdem sicherlich auch mit politischem Anspruch ernst gemeint. Die Vision gibt Martin Wagner in seinem Einleitungskapitel des ersten Heftes, seine Grundbegriffe sind: „Selbstbewußtsein, Weltstadtgeist, weltstädtisches Verantwortungsgefühl, Spitzenleistungen, zielklare Führung" — fast meint man noch
expressionistische Ungeduld zu verspüren.
Die Autoren der Hefte sind von beachtlicher Prominenz: neben Adolf Behne und Martin Wagner
selber sind es zum Beispiel Erwin Barth, Walter Gropius, Ernst Mendelssohn, Adolf Rading, Ernst
Reuter und Bruno Taut, vorgestellt werden wichtige Bauvorhaben der Zeit: der Volkspark Rehberge,
das neue Strandbad Wannsee, der Wettbewerb zum Alexanderplatz, ein Projekt von Kallmorgen für
eine Umbauung des Tiergartens, die Konzeptionen von Poelzig für das Ausstellungsgelände am
Funkturm. Spätestens die Planungen zum Durchbruch einer Straße durch die Ministergärten, die die
Empörung der Berliner Geschichtsfreunde hervorgerufen hatte, macht deutlich, daß Wagner vor
handfester Polemik nicht zurückschreckt. Die maßvoll vorgetragenen Bedenken des Staatssekretärs
in der Reichskanzlei, Dr. Hermann Pünder, gegen dieses Projekt „bügelt" er regelrecht ab: „Die
Furcht und die Ehrfurcht vor dem Alten macht uns schwach, lähmt und tötet." Auch an anderen Stellen bricht sich eine Polemik gegen Bindungen an die Geschichte Bahn. Wenn heute die architektonischen Leistungen der späteren zwanziger Jahre mit hohem Respekt vor den baukünstlerischen Leistungen geschützt und restauriert werden, dann entbehrt dies somit nicht einer gewissen Ironie, daß —
mit Recht — hier inzwischen Geschichte gewordene Dokumente aus einer Zeit bewahrt werden, die
selber sich bewußt über die Bindungen an Geschichte hinweggesetzt hat.
Die zwanziger Jahre faszinieren heute immer noch oder schon wieder. Deshalb ist der Nachdruck
gerade dieses Quellenwerkes, das man auch zwischen den Zeilen lesen muß, gerade zum richtigen
Zeitpunkt erschienen. Das drückt Posener in seinem Vorwort aus: „Wenn wir, von heute aus, auf dieses Jahr zurückblicken, wie es in dem Neuen Berlin erscheint, erfaßt uns etwas wie Neid." Engel
Im zweiten Vierteljahr 1989
haben sich folgende Damen und Herren zur Aufnahme gemeldet:
Dr. Paul Habermann, Kinderarzt
Franz-Nölken-Weg 9, 4770 Soest
Tel. (0 29 21) 6 37 04
(Frau Halle)
Gertrud Kniepen, Lehrerin
Treitschkestraße 8, 1000 Berlin 41
Tel. 7 92 22 04
(Frau Koepke)
Jochen Koch, Staatssekretär
Warmbrunner Straße 42, 1000 Berlin 33
Tel. 8 25 39 29
(Oxfort)
Peter Lemburg, Kunsthistoriker
Niedstraße 4, 1000 Berlin 41
Tel. 8 25 58 78
Gisela Stephan, im Ruhestand
Cunostraße 19, 1000 Berlin 33
Tel. 8 24 85 29
(Frau Franzke)
Christel Volk, kaufm. Angestellte
Barbarossastraße 69, 1000 Berlin 30
Tel. 216 9659
(Bibliothek)
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Veranstaltungen im III. Quartal 1989
1. Mittwoch, den 19. Juli 1989, 16.30 Uhr: Führung durch die Ausstellung des Landesarchivs „Gustav Lilienthal 1849—1933, Baumeister, Lebensreformer, Flugtechniker".
Leitung: Herr Dr. Hans Joachim Reichhardt. Treffpunkt in der Halle des Landesarchivs
Berlin, Kalckreuthstraße 1/2, Berlin 30. Fahrverbindungen: Busse 19, 29, U-Bahnhöfe
Wittenbergplatz und Nollendorfplatz.
2. Freitag, den 21. Juli 1989,15.45 Uhr: Sommerausflug des Vereins: „Lenne auf der Pfaueninsel ". Rundweg Rosengarten und Ausstellung. Leitung: Herr Dr. Michael Seiler. Treffpunkt Fähre Pfaueninsel, Inselseite.
Sommerpause im Monat August.
3. Sonntag, den 3. September 1989, 10.00 Uhr: Ein Spaziergang durch den Bereich AltSpandau. (In Fortsetzung des Frühjahr-Vortrages.) Leitung: Herr Joachim Hans Ueberlein. Treffpunkt Hauptportal Rathaus Spandau, Carl-Schurz-Straße. Fahrverbindungen:
U-Bahnhof Rathaus Spandau.
4. Mittwoch, den 6. September 1989, ab 16.00 Uhr: „Tag der offenen Tür". Besichtigung der
Vereins-Bibliothek in den neuen Räumen. Fahrverbindungen: U-Bahnhof Blissestraße.
5. Montag, den 11. September 1989, 19.30 Uhr: Vortrag von Herrn Prof. Dr. Christoph
Stölzl: „Vom Nutzen und Nachteil eines Deutschen Historischen Museums für das Berliner Geschichtsbewußtsein im Jahre 1989". Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg.
6. Montag, den 25. September 1989,19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Günter Wollschlaeger: „Peter Joseph Lenne und Carl Friedrich Schinkel: Charlottenhof'. Bürgersaal
des Rathauses Charlottenburg.
Im Monat August bleibt die Bibliothek geschlossen.
Die neue Anschrift der Bibliothek lautet ab sofort:
Verein für die Geschichte Berlins
Bibliothek
Berliner Straße 40
1000 Berlin 31
Telefon 87 2612
geöffnet wie bisher mittwochs 16 bis 19.30 Uhr, Zugang über den 1. Hof.
Fahrverbindungen: U-Bahn Linie 7, Bhf. Blissestraße (West-Ausgangrechts);Omnibusse 1,4,74
und (Haltestelle Uhlandstraße:) 60.
Vorsitzender: Hermann Oxfort, Breite Straße 21, 1000 Berlin 20, Telefon 3 33 2408.
Geschäftsstelle: Frau Ingeborg Schröter, Brauerstraße 31, 1000 Berlin 45, Telefon 77234 35.
Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13, 1000 Berlin 65, Telefon 45 09-291.
Schatzmeisterin: Frau Ruth Koepke, Temmeweg 38, 1000 Berlin 22, Telefon 3 65 76 05.
Konten des Vereins: Postgiroamt Berlin (BLZ 10010010), Kto.-Nr. 433 80-102, 1000 Berlin 21;
Berliner Bank AG (BLZ 100 20000), Kto.-Nr. 03 81801200.
Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr.
1865, Schriftleitung: Günter Wollschlaeger, Kufsteiner Straße 2, 1000 Berlin 62; Dr. Christiane
Knop, Rüdesheimer Straße 14,1000 Berlin 28; Roland Schröter. Beiträge sind an die Schriftleiter zu
senden.
Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 16 DM
jährlich.
Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berün/Bonn, 1000 Berlin 49.
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.
208
Ratsbibliothek
A 1 n 15 F
Faehabt. der Berliner Stadtbibliothek
MITTEILUNGEN
DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS
GEGRÜNDET 1865
85. Jahrgang
Heft 4
Eduard Gärtner: Villa Lenne, Tiergartenstraße 1, 1842
Oktober 1989
Aus dem Leben Peter Joseph Lennes
Von Clemens Alexander W i m m e r
Daß zu dem vielen beschriebenen Papier über Lenne hier noch mehr folgt, ist nur dadurch zu
entschuldigen, daß einige biographische Einzelheiten, besonders aus seiner Frühzeit, noch
nicht oder kaum bekannt sind, so daß zuweilen Fehleinschätzungen vorkommen.
L e n n e wird ins Ancien regime hineingeboren
„Lenne . . . ist den 29 ,cn September 1789 in Bonn geboren, woselbst sein Vater Peter Joseph
Lenne als Kurfürstl. Hofgärtner und Vorstand des botanischen Gartens, der zu der vom letzten
Kurfürsten von Cöln Maximilian Franz 1784 gestifteten Universität gehört, angestellt war.
Lenne, der Vater, genoß schon eines gewissen Rufes als Landschafts-Gärtner." So beginnt
Lennes Selbstbiographie von 1853.'
Der Taufeintrag im Kirchenbuch von St. Remigius in Bonn lautet: „Dominus Petrus Josephus
Lenne Hortolanus Aulicus et Domina Catharina Pottgitters conjuges/29 ua 7 bns Petrus Josephus/ D. Petrus Josephus Brandts Praetor in Güchen cujus loco, D. Josephus Clemens Wey et
Anna Margaretha Lenne." 2 Lenne trägt seine Vornamen also nicht nach seinem Vater, sondern nach seinem Paten, dem Schultheiß Brandts aus Jüchen. Wenn Lennes Angabe stimmt, so
ist er noch am Geburtstag getauft worden — ein Brauch, der dazu diente, daß die Kinder nicht
ins Fegefeuer kommen, falls sie sterben.
„Seit dem Jahre 1665 wo Augustin Lenne aus Lüttich nach Bonn als Kurfürstlicher Hofgärtner
berufen wurde, ist diese Stellung in den Händen von vier Vorfahren Lenne's gewesen."3
Es gab damals fünf Hofgärtnerstellen im Kurfürstentum Köln, nämlich die Lustgärtner in
Bonn, Poppeisdorf und Brühl sowie einen Gemüse- und einen Baumschulgärtner.4 Lennes
Großvater Cunibert war Lustgärtner in Bonn. Sein Urgroßvater, sein Ururgroßvater und sein
älterer Onkel Johann Heinrich hingegen hatten die Stelle in Poppeisdorf gehabt.
Lennes Vater Peter Joseph Johann Maria (1756-1821) wurde bereits mit 10 Jahren 1766 seinem Vater adjungiert — eine formelle Versorgungssache.5 Mit 14 Jahren kam er nach Bruchsal
in die Lehre. Dann ist er wie üblich auf Reisen — 1780 finden wir ihn in Meersburg. 1783 wird er
Lustgärtner und Schloßverwalter in Brühl.6 1784 tauscht er diese Stelle mit dem Ehemann seiner Schwester, Joseph Clemens Weyhe, dem Gemüsegärtner in Poppeisdorf. Man gesteht ihm
ein Gehalt von 200 Talern zu, so daß er, obwohl erst 28 Jahre alt, genausoviel wie sein 70jähriger Vater und mehr als die übrigen Hofgärtner verdiente. Seine besondere Geschicklichkeit im
Fortkommen wird schon damals deutlich. Am 21. Juni 1786 heiratet er Anna Catharina Potgieter, die Tochter des Bürgermeister, in Rheinberg, Kr. Mors7, und der Bernhardine Brandts.8
Als Nachfolger seines am 17. November 1787 verstorbenen Vaters wird er am 6. Januar 1789
zum Hofgärtner am Lust- und botanischen Garten in Bonn ernannt. Am 24. November 1790
folgt die Ernennung zum botanischen Gärtner. 9
Die Familie Lenne war also auf das engste dem kurfürstlichen Hof, dem Ancien regime und
dem Katholizismus verbunden. Zwei von Lennes Onkeln waren Stiftsvikare, Maximilian Hubert (1767-1820) in Köln, Johann Joseph (1772-1858) in Bonn, seine Schwester Gertrud
(1795—1884) ging zu den Benediktinerinnen.10
210
Lenne als französischer Untertan
Lennes Kindheit und Jugend waren vom Krieg geprägt. 1792 eroberten die Franzosen Mainz
und Aachen, am 2. Oktober 1794 floh der Kurfürst aus Bonn, am 8. wurde Bonn besetzt. Der
durch übermäßige Leibesfülle bekannte Kurfürst Maximilian Franz (1756—1801) war der
jüngste Sohn Maria Theresias. Von aufklärerischen Ideen berührt, bemühte er sich um Reformen und soll bei der Bevölkerung beliebt gewesen sein. In den ersten Jahren der Besetzung
wechselten die provisorischen Regierungs- und Verwaltungsformen schnell. Durch den Frieden von Campo Formio (3. Oktober 1797) wurden die linksrheinischen Lande Frankreich zugeteilt, und am 4. PluviöseVI (23. Januar 1798) wurde Bonn Teil des neuen Departements
Rhin-et-Moselle, das am 3. April 1801 zum Teil Frankreichs erklärt wurde. Seit dem 23. September 1802 galt hier auch die französische Verfassung; die französische Verwaltung führte
manche heilsamen Verbesserungen ein.
Die Lennes waren nun französische Staatsbürger. Vater Lenne hatte große Mühe, den Zerstörungen der Gärten durch die Soldaten Einhalt zu gebieten. Bis 1797 erhielt er noch Geld vom
kurfürstlichen Hofstaat, der sich in Recklinghausen eingerichtet hatte.11 Danach machte er aus
der Not eine Tugend und arbeitete für die Franzosen. Er erreichte, daß ihn die neuen Machthaber in ihre Dienste übernahmen. Am 3. September 1808 erhielt er die Leitung des Botanischen
Gartens in Bonn übertragen. Später zog er in die Departementshauptstadt Koblenz im bisherigen Erzbistum Trier, wo er am 30. April 1811 zum Jardinier-pepinieriste de la Pepiniere du Departement und später zum Leiter des Botanischen Gartens ernannt wurde, zwei Neugründungen der französischen Regierung. Außerdem hatte er seit 2. Mai 1812 die städtischen Promenaden unter sich.12 „Die köstlichen Orangerien aus Brühl und Bonn" wurden nach Koblenz überführt.13 Vater Lenne machte, ganz im Gegensatz zu seinem Bruder Heinrich und seinem
Schwager Weyhe, die keine neuen Stellungen bekamen, glänzende Karriere unter Napoleon,
und dies, obwohl er nicht oder nur unzureichend Französisch sprach.14
Lenne war zum Zeitpunkt der Besetzung vier Jahre alt. Er wuchs gleichsam in Frankreich auf.
Als Kind hatte er schwer die Pocken, wovon sein Gesicht zeitlebens Zeugnis gab. Doch entwikkelte er sich zu einem hochgewachsenen (ca. 1,80 m15) kräftigen Mann. 1798 lösten die Franzosen alle kurkölnischen Schulen und Universitäten auf, um das französische Schulsystem einzuführen. Die Absicht, republikanische Moral und französische Sprache zu lehren, war jedoch
mangels geeigneter Lehrer nicht vollständig durchzusetzen. Vater Lenne diente als BotanikLehrer an der 1799 anstelle der Bonner Universität eröffneten Zentralschule. Der Sohn besuchte nach eigenen Angaben das Gymnasium in Bonn, doch sagt ihm Karoline Schulze nach,
daß er nur eine geringe Bildung besaß, nicht Latein und Französisch konnte und in Haltung und
Manieren nichts von einem feinen Mann hatte.16 Daß er nicht Französisch konnte, ist angesichts seines späteren Frankreichaufenthalts wenig wahrscheinlich. Daß er nicht weit im Lateinischen kam, ist gut möglich, denn er blieb nicht lange auf dem Gymnasium.
Am 15. September 1805, kurz vor seinem 16. Geburtstag, begann er die dreijährige Gärtnerlehre bei seinem Onkel Joseph Weyhe, dem Lustgärtner in Brühl. Es handelte sich um eine Art
Austausch: Weyhes Sohn Maximilian Friedrich war umgekehrt 1789 bis 1792 beim alten
Lenne in der Lehre gewesen.17 Weyhe nennt sich auf Lennes Gesellenbrief181808 „seiner Kurfürstlichen Durchlaucht von Köln . . . Lustgärtner . . . von der jetzigen Administration
der 19 .. .ten Cohorde der Kaiserlich-Königlichen20 Ehrenlegion in dieser Eigenschaft Bestätigter" und verwendet die Siegelkapsel mit dem Porträt des Kurfürsten, obwohl dieser längst abgesetzt und 1801 im Exil seinen Leiden erlegen war. Man sieht daran, daß Weyhes Position
211
ziemlich ungesichert war und ihn die französische Regierung nicht übernommen hatte. Die
Verhältnisse in Weyhes Gärtnerei dürften äußerst eingeschränkt gewesen sein.
Währenddessen zog Napoleon, der 1799 1. Konsul und 1804 Kaiser geworden war, in Berlin
ein. Lenne hat sich der Einberufung zum Militär sowohl unter Napoleon als auch später unter
den Preußen entziehen können. Die französische Armee rekrutierte auch in den besetzten Gebieten; seit 1802 erhielten alle 20jährigen Stellungsbefehle, was es zuvor in Kurköln nicht gegeben hatte. Man konnte dem entgehen, indem man gegen Bezahlung einen Ersatzmann stellte.
Weyhe bescheinigte, daß Lenne sich „getreu, fleißig, gefällig, ehrerbietend und so verhalten
hat, daß ich jederzeit Vergnügen und Wohlgefallen an ihm hatte." Nach Beendigung der Lehre
trat Lenne die für junge Handwerker übliche Reise an. Angeblich fuhr er 1809 „nach Baden,
Württemberg, Frankreich, Belgien und England"21, was aber zweifelhaft ist. Sicher ist nur, daß
er im April 1811 nach Paris ging. Damit folgte er konsequent der neuen Orientierung seines Vaters. Er arbeitete als Gehilfe nicht irgendwo in der Provinz, sondern im weltberühmten Pariser
Jardin des Plantes.22 Dies war gewiß nicht ohne Beziehungen und geschickte Manöver möglich
gewesen. Lennes älterer Bruder Philipp Joseph war übrigens als Sergeant Major der Nationalgarde schön länger in Paris. Eine Urkunde von 181023 weist diesen als Mitglied einer geheimen
Pariser Loge aus.
„In Paris beschäftigten Lenne neben Botanik, die reichen ihm gebotenen Hilfsmittel benutzend, die Naturwissenschaften im weiteren Sinne und machte er hier außerdem einen cursus
der Architectur unter Durand." 24
Von einer Beschäftigung mit der Gartenkunst in Frankreich sagt Lenne kein Wort. Wenn eine
Auswertung der Pariser Archive nichts anderes ergibt, muß es als ganz unbewiesen gelten, daß
Lenne in Paris von dem Gartenkünstler Gabriel Thouin ausgebildet wurde, mit dem er nachweislich nichts weiter als eine gewisse Art der eleganten Wegeführung teilte. Auch einen Niederschlag des Architekturlehrers Durand wird man nicht ohne weiteres in Lennes Werk nachweisen können. Es war nicht ungewöhnlich, daß ein reisender Gartengeselle auch einmal in
Hochschulvorlesungen hineinschaute.
Lenne schreibt weiter, daß er im Sommer 1812 zunächst in seine Heimat zurückkehrte und von
dort aus die besten Gärtnereien Deutschlands und der Schweiz besuchte. Besonders wichtig
war sein Aufenthalt in München, wo er die Gärten des damals noch lebenden Gartendirektors
Sckell studieren konnte.
Lenne „befindet sich im Spätherbst in Wien, in dem Familien-Kreis des Kaiserl. Gartendirectors Boos, eines Jugendfreundes seines Vaters. In Wien ist sein Streben vorzüglich dem Studium der Botanik gewidmet, um sich für eine Professur in dieser Wissenschaft oder zur Stellung
als Director eines botanischen Gartens vorzubereiten."25 Zu den Franz Boos unterstellten Gärten gehörte der botanische Garten in Schönbrunn, der sog. Holländische Garten.
In Österreich blieb er knapp drei Jahre, es war damit sein längster Auslandsaufenthalt. Lennes
Selbstzeugnis zeigt klar, daß er sich damals von einer Laufbahn als Botaniker am meisten versprach. Wien war die richtige Anlaufstelle dafür, indem der Kaiser ein begeisterter Hobbybotaniker war.
Über Politik spricht Lenne nie, sie interessierte ihn wohl nur, soweit sie ihm nützen konnte. Es
ist verfehlt, ihn mit Ideen der Französischen Revolution in Verbindung zu bringen, die vom
damaligen Herrscher Frankreichs ohnehin längst pervertiert waren. Auch der Aufenthalt in
Wien eben zu dieser Zeit war für Lenne politisch opportun, hatte doch Napoleon 1812 die Erzherzogin Marie Luise geheiratet. Zugleich war Lenne von der Truppenaushebung durch Napoleon weiter entfernt.
„1814 erhielt er hier, unter Verleihung des Titels eines Kaiserl. Garten-Ingenieurs durch den
212
Abb. 1:
Burchard Friedrich
Frhr. v. Maltzahn
Schloßhauptmann von Riedel26 den Auftrag, einen Plan zur Vergrößerung und Verschönerung
des Gartens von Laxenburg zu entwerfen. Als Lenne diesen Plan, nach welchem späterhin die
Anlagen, jedoch ohne seine Mitwirkung zur Ausführung kamen, vollendet hatte, folgte er im
Juli 1815 der Aufforderung seines Vaters zur Rückkehr in sein Vaterland."27
Auch dieses Datum ist durchaus nicht zufällig. 1813 hatten sich in Preußen die freiwilligen
Jägercorps und die Landwehr gebildet, im September 1814 war die allgemeine Wehrpflicht
eingeführt worden. Vater Lenne ließ damals seine Beziehungen spielen, damit sein zweiter
Sohn Clemens nicht zur Landwehr mußte, sondern eine Stelle erhielt.28 Im Januar 1814 hatten
die Preußen Köln genommen, im März waren sie in Paris einmarschiert und hatten Napoleon
zum ersten Mal vertrieben. Koblenz wurde von den Russen besetzt. Lenne schrieb darauf
überschwengliche Worte aus Wien, und der Vater kritisierte: „Der Inhalt deines... Schreiben,
welcher nur Schwermerey teuschen Patriotismus enthielte, zeigte, daß du mit den aufopferungen, welche wir hier thuen nicht bekannt bist." Die Familie litt schwer unter der Einquartierung, die Soldaten schleppten Krankheiten ein, an denen „einer nach dem andern" erkrankte
und am 12. Januar 1814 Lennes Mutter starb.
Am 24. April 1814 freut sich Vater Lenne über den Sturz Napoleons und wünscht, „das wir ein
östereichen Fürsten zu unserem Regenten bekommen mögten. Napohons Rolle endichte sehr
klein. Indessen bemerkt Mann hir, daß unter seinen Üblen, auch hir und dorten Gutes wäre,
welches Ihn unvergeßlich machen wird." Hieraus wird die ambivalente Haltung Vater Lennes
und der meisten damaligen Rheinländer zu Frankreich deutlich.
213
Ein Jahr später kehrte Napoleon noch einmal zurück, um im Juni 1815 endgültig besiegt zu
werden. Am 30. April 1815 beschloß Friedrich Wilhelm III. die Gründung der preußischen
Provinz Niederrhein. Das Rheinland wurde preußisch.
Fast scheint es, daß Treitschke recht hat, wenn er schreibt, obwohl sich auch Rheinländer dem
preußischen Landsturm anschlössen, sei ihnen die große vaterländische Begeisterung der
Preußen fremd geblieben, „denn die Masse der Rheinländer lebte allein den Sorgen des Handels und Wandels".29 Just nämlich nachdem die Macht unverkennbar an die Preußen übergegangen war, kehrte Lenne im Juli 1815 an den Rhein zurück. Der Vater wußte auch diesmal die
politischen Verhältnisse zugunsten der Familie auszunutzen. Lenne stellte sich dem Intendanten der kgl. preußischen Gärten, Freiherrn von Maltzahn aus Berlin (Abb. 1), vor, einem gutmütigen Hofmann von feinen Manieren, der in Koblenz weilte, um „das Schloß daselbst in
Stand zu setzen," und legte „ihm Planzeichnungen zu Landschaftsanlagen vor, die er gezeichnet".30 Er meldete sich also gleich höheren Orts und nicht, wie es für einen Gärtnergesellen, der
eine Stellung in den Königlichen Gärten suchte, sonst üblich war, bei einem der Hofgärtner im
Lande.
Maltzahn, „da er ihm aber eine solche (Anstellung) weder versprechen noch zusichern können," habe „ihm gerathen, nach Potsdam zu kommen, sich dem Gartendirector vorzustellen,
wo sich dann das Weitere finden werde".31 Das heißt, er verwies Lenne auf den normalen
Dienstweg.
Lenne ging vorläufig noch seinem Vater zur Hand, um im zeitigen Frühjahr 1816 auf Maltzahns
Rat nach Berlin zu reisen. Dort stellte er sich erst Maltzahn und dem Staatsrat Hartig vor, und
nachdem er von diesen freundlich aufgenommen worden war32, suchte er in Potsdam den dortigen Hofgartendirektor Johann Gottlob Schulze (1755-1834) auf.
Lenne in Potsdam macht sich Feinde
Schulzes Tochter Karoline (1794—1881) erinnert sich daran so: „An einem schönen Frühlingstage in der zweiten Hälfte des Aprils 1816 machte der Gärtnergeselle Lenne meinem Vater seinen ersten Besuch, oder vielmehr, er stellte sich ihm ehrerbietig vor. Nachdem er sich verabschiedet, theilte mein Vater seiner Familie von diesem Besuch mit, und daß Lenne einen angenehmen Eindruck auf ihn gemacht habe, da ihn die von Pockennarben verzerrte Maske an die
Jugendfreundin seiner Gattinn erinnert habe. Wir waren aber höchlich erstaunt, als der simple,
häßliche Geselle bei uns vorgestellt wurde. Lennes verschmitzten Gesichtszüge, die kleinen gekniffenen Augen, die schlechte Haltung, kurz, er machte bei der Familie kein Glück."
Karoline Schulze fand, daß zu dem Gesuch bei Maltzahn „ein Muth, eine Anmaßung oder
Frechheit ohne Gleichen (gehörte), wie sie eben nur ein Lenne hatte. Soeben erst preußischer
Unterthan geworden, sofort eine Anstellung zu beanspruchen — hätte er sich doch mindestens
1815 in die Reihen der Vaterlandsvertheidiger stellen können."
Den rheinischen Dialekt und die katholische Religion hat Lenne stets beibehalten, was manchen in Preußen affektiert vorkam. Er hat seine Heimat immer geliebt — selbst als er später
nach England reiste, gefiel es ihm dort nicht so gut wie am Rhein. Und in Potsdam hielt er ausschließlich Rhein- und Moselweine in seinem Keller.33
Schulze, der Jura und Architektur studiert hatte und dessen liebste Beschäftigung der Obstbau
war, gab dem 26jährigen, der gut zeichnen konnte, eine Gesellenstelle beim Hofgärtner Johann
Georg Morsch im Neuen Garten, wo Lenne monatlich 16 Taler erhielt. Damit verwies ihn
Schulze zwar auf den ihm zukommenden untergeordneten Platz, jedoch räumte er ihm von
214
Anfang an eine gewisse Sonderstellung ein: Lenne bekam eine Wohnung im Grünen Haus, die
geräumiger war als üblich, und wurde weniger zu Diensten bei Morsch als zum Zeichnen bei
Schulze herangezogen, der ihm auch den Lohn persönlich auszahlte.
Lenne setzte nun nicht mehr auf Botanik, da das Interesse hieran in Berlin bei weitem nicht so
groß war wie in Wien, sondern auf die Gartenkunst. Schon am 24. Juni 1814 hatte der Vater aus
Koblenz ihm geschrieben: „lasse dich durch das Wissenschaftlige der Botaniq nicht zu weit verleiden, denn ich kannte gelehrte genug die darben musten."
Alle paar Wochen richtete der alte Lenne einen Brief an den „lieben Peter", in dem er vom
Leben in der Heimat berichtet und sehr praktische Ermahnungen gibt.34 Er ist grundsätzlich
mißtrauisch und warnt vor den Potsdamer Hofgärtnerkollegen, unter denen der Sohn arbeitet:
„draue den Hrn. nicht, es geht Ihnen sicher nicht ans Herz, suchen nur Dir abzusehen, und auszuforschen, um Hernechst mit Brilliren zu können." 35 Der Sohn soll ihnen „Höflich und Vertraut" tun, „ich schreibe Deiner Klugheit alles dieses zu".36 Der Vater baut auf Verstellung. Er
kennt keine Skrupel und stachelt den „lieben Peter" unablässig und geradezu fanatisch zu Ehrgeiz und Opportunismus an. „Es ist jetz der Zeitpunkt Dich hervorzuthun um mir und Clemens
(seinem jüngsten Sohn) einstens nuzen zu können, mit vorsieht ohne Zurücksetzung anderer
lasse also keine Gelegenheit fahren, Dir ein ansehligen festen Fuß zu machen. — auf dergleichen stellen kann hernechst doch alles geleitet werden, wie Manns zum besten der famille wünschet — dieses kann eher geschehen wenn mann grossen Einfluß hat, als wenn mann Immer
dazu suchen muß." 37 „Lieber Peter trachte, daß du Gelegenheit findes dem Hr. Finanzmenister
vorgestelt zu werden, auch suche bey gelegenheit des Plans des thiergartens Bekanntschaft mit
Hn. v. Winzienroth zu machen." 38
Lenne tut vollkommen, wie ihm geheißen, und bald kann der Vater schreiben: „daß du Täglich
mehr und mehr mit den Grossen bekannt wirst, kann uns allen viel Vortheil zuziehen."39
Vater selbst stellte sich als Vorbild hin. Er sprach nicht mehr von seinen Diensten bei Napoleon,
denn er verkehrte jetzt mit den preußischen Größen, mit dem berühmten Gneisenau, der damals Kommandant des rheinischen Armeekorps war, und mit dem Geheimen Staatsminister
und Oberpräsidenten der Provinz Niederrhein, Carl Ludwig Heinrich v. Ingersleben. Über ihn
schreibt Treitschke: „Den Rheinländern gefiel der alte Herr durch Wohlwollen und gastfreundliche Heiterkeit."40 Er war der höchste Regierungsvertreter in Koblenz, vergleichbar
dem heutigen Ministerpräsidenten. Vater Lenne speiste bei ihm und bewirtete ihn auf einem
Ausflug sogar selbst, „seit dem nennet er mich immer mein lieber Lenne und giebt mir die Hand
beym fortgehn".41 „Du weiß", belehrt er den Sohn, „daß ich mit den fürsten und Vornehmen
alzeit in Verhältniß gestanden habe, ich glaubte mir wissend nie feindschaft dadurch zugezogen
zu haben, weilen ich Jenen, welche es seyn könnten am vorkommensten wäre."42
Lennes Onkel Johann Heinrich hatte nicht dieses Glück oder diese Geschicklichkeit. Er wurde
bei der Umwandlung des Poppelsdorfer Lustgartens in einen botanischen Universitätsgarten
1818 entlassen, da er als botanischer Gärtner nicht geeignet war. Lenne, der dreißigjährige
Garteningenieur, schrieb seinetwegen einen Bittbrief an einen Minister43 — ein Zeichen seines
Selbstbewußtseins.
Die Bevorzugung am preußischen Hof verschaffte Lenne Neider. So kamen die Gärtner Theodor und Eduard Nietner und Karl Fintelmann aus den Freiheitskriegen zurück nach Potsdam,
wo ihre Väter und Großväter schon Gärtner gewesen waren, und suchten ebenfalls eine Anstellung. Sie kamen aber nicht so schnell voran: Lenne setzte noch vor der Gründung der Gärtnerlehranstalt durch, daß die Gesellen ein Examen ablegen mußten, nach dessen Bestehen sie
sich Obergärtner nennen durften, und erst dann hatten sie Anrecht auf eine Hofgärtnerstelle.
Als erster mußte Theodor Nietner 1821 diese Prüfung machen.
215
Lenne war besonders an der Zurückdrängung Eduard Nietners interessiert. 1818 gab er bei
Maltzahn eine sehr abfällige Stellungnahme zu Nietners Reisebericht aus Österreich ab. Er kritisierte darin Satzbau und Orthographie, die doch sein eigener Vater nicht beherrschte, und
tadelte Nietners Geringschätzung der alten barocken Gartenkunst, die Lenne sonst selbst
teilte.44 Hier zeigt sich schon deutlich, welchen Wert man Lennes Äußerungen beimessen darf.
Sie waren stets nur auf einen bestimmten Zweck gerichtet und gaben durchaus nicht immer
seine Überzeugung wieder. Nietner mußte infolgedessen bis 1831 — 13 Jahre — auf eine Hofgärtnerstelle warten.
Schulze sah in Lenne seinen einstigen Nachfolger und förderte ihn nach Kräften, was dieser zunächst mit Freundlichkeit erwiderte. Als Geselle hatte Lenne manche Freiheit, die einem Hofgärtner nicht zukam. Andererseits war keine Gesellenstelle auf Dauer angelegt. Daher meinte
der Vater: „das freye leben muß doch einmahl aufhören, deine Jahre erfodern, daß du auf ein
beständiges Brod denken muß." 45
1817 wurden Lenne kurz hintereinander drei durch den Tod vakant gewordene Hofgärtnerstellen in Potsdam angeboten. Es handelte sich um das Revier der Orangen-, Kirsch- und Weintreiberei, um die Ananasgärtnerei sowie um die Baumschule vor dem Berliner Tor. Er lehnte sie
alle ab, da diese Tätigkeiten ihm nicht zusagten und wohl auch nicht seine Stärken waren — wofür er sich einen Verweis seines Vaters zuzog. Dieser schreibt ihm: „es konnte sich nimand die
fortschrite deines allgemeinen zutrauen so bald denken, indem es jetz erst ein Jahr ist, daß du in
Berlin anlangtes, und sogar, daß mann dir eine Hofgtn.stelle antrug. Allgemein glauben wir hir,
wars du zu Rasch im ausschlagen dieser stelle, ich hätte untervorwand, daß du mich um Rath
fragen könndes, diese stelle aufbewahret, und Vieleicht hätte sich ausmitlen können, daß unter
den vielen Höfgärtnern da, Mann einen hätte versezen können, und du eine stelle / : wenn diese
auch geringer an Einkünften gewesen wäre: / erhalten hättes, welche dir Erlaubt hätte den auswertigen gescherten und Anlagen mehr nachzugehn. Bey deinen Vornehmen Bekanntschaften
hättes du dieses sicher fertig gebracht, besonders in einem Augenblick, wo mann in Anlagen
dich nöthig hat, du hättes doch ein sicheres Königl. Brod gehabt, und bey dir hätte es ja gestanden, wenn sich ein Brod am Rhein für dich gezeigt hätte, du diesen Wechsel hättes erhalten
können." 46
Das Glück blieb Lenne aber hold. Kurz darauf starb auch der alte Gartenkontrolleur Lange,
der Schulze gegenüber im Gartenkontrolleurshaus am Fuße der Terrassen von Sanssouci
wohnte. Dieser Posten, der ihm der Spitze näher brachte, sagte Lenne mehr zu. Maltzahn gab
der Stelle einen neuen Namen — „Garteningenieur und Mitglied der Gartendirektion" — und
damit ein erheblich stärkeres Gewicht. Lenne hatte nun Weisungsbefugnis allen Hofgärtnern
gegenüber. Zugleich sollte er die Hofgärtner kontrollieren und Verbesserungsvorschläge für
die Gärten machen. Das war nun ein Jahr nach seiner Ankunft in Potsdam für den 27jährigen
ein ganz unerhörter Erfolg. Er bezog nun eine Wohnung im Gartenkontrolleursgebäude.47
Er zögerte nicht und entwarf radikale Veränderungen für den Tiergarten, Sanssouci und Charlottenburg. Er wollte gründlich mit den noch vorhandenen barocken Strukturen aufräumen,
Alleen und Statuen beseitigen und landschaftliche Gesamtkunstwerke schaffen. Die Traditionalisten wie Schulze verübelten ihm besonders, daß er das gärtnerische Werk Friedrichs des
Großen in Sanssouci pietätlos zerstören wollte. Mit allem drang er nicht durch, doch gelang es
ihm im Lauf der Jahre, den zunächst so zurückhaltenden König in allen seinen Gärten zu
Modernisierungen zu bewegen. Die Gärten tragen heute sämtlich Lennes Stempel.
Wie die alten Männer war übrigens auch der Kronprinz Friedrich Wilhelm (IV) durchaus nicht
mit allen Änderungen Lennes einverstanden. Schon 1820/21 störte er sich an der Zupflanzung
eines Weges in Sanssouci und rief zornig aus, als ihm die Arbeiter Lenne als Urheber genannt
216
Abb. 2:
Der Potsdamer
Ehrenbürgerbrief
hatten: „Was ist das für ein Tier!«48 Nach seinem Regierungsantritt hat er tatsächlich verschiedene Maßnahmen Lennes rückgängig gemacht, was ihn aber nicht hinderte, Lenne in seiner
Art zu schätzen und ihm ein Denkmal im Garten von Sanssouci zu setzen.
Am 3. Januar 1820 heiratete Lenne Friederike Voß (1798-1855), die älteste Tochter eines
Potsdamer Hofgärtners. Joachim Heinrich Voß stammte aus Mecklenburg und gehorte somit
nicht zu den alten Potsdamer Dynastien. Friederike, am 22. August 1798 geboren war neun
Jahre jünger als Lenne. Schulze war ihr Pate.4» Die Trauung fand in der katholischen Kirche
St. Peter und Paul in Potsdam statt.50
Karoline Schulze, die vielleicht, wenn es nach ihrem Vater, dem Gartendirektor, gegangen
wäre, Lennes Frau geworden wäre, verübelte Lenne die Heirat mit ihrer Spielkamerad«! noch
Jahre nach seinem Tod.51
.
.
.: : . . . .
Lenne ging von nun an dem alten Schulze aus dem Wege. Von diesem ist ein an Lenne gerichteter Brief von 1820 im Konzept überliefert. „Sie scheuen oder hassen mich . . . Ihr ganzes Benehmen gegen mich zeigt es . . . Ich wünschte Sie zu meinem Freunde zu haben
Kam es darauf an, Ihnen gefällig zu sein, so war ich bereit. Wenn Sie krank, so nahm ich Theil, hatte ich
Meinungen, Ansichten, als Mensch, so waren Sie der erste, zu dem ich offen handelte und
sprach, wie ich dachte . . . Wir sind Nachbarn und sehen uns nicht. Ich war krank, Sie sahen
mich nicht. Ich begegnete Ihnen, und Sie vermieden mich . . . Ist es billig, daßSie:ba altenIhren
Dienstgeschäften thun, als sei ich nicht da? . . . Haben Sie mir jemals nur ein Wort Nachncht
217
vergönnt, wenn Sie verreisten, seit Sie selbständig im Dienst stehen? . . . Wir bilden eine Behörde. Kann das in den Augen des übrigen Gartenpersonals gut erscheinen, wenn man sieht,
daß zwei, die ihrer Bestimmung nach eins sein sollen, so getrennt s i n d ? . . . Erkennen Sie in diesen Worten nichts, als den redlichen Willen, pflichtmäßig und christlich in Ruhe und Frieden zu
leben. Sehen Sie es so an, ich werde aus Ihrer Antwort entnehmen, ob ich noch länger hoffen
darf, in Ihnen einen Freund zu haben, oder ob ich aufhören muß zu denken, daß ein Mann, den
ich von je her innigst liebte und schätzte, auch künftig mir noch theuer sein soll."52 Von Lennes
Reaktion darauf wissen wir nur so viel, daß er fortan seine häufige Abwesenheit von Potsdam
dem Gartendirektor vorher in einem formellen Briefchen anzeigte.
Schulze konnte auch wütend werden, wenn Lenne den Dienstweg nicht beachtete: „Hätte Herr
Lenne" wie er im Landsturm die Waffen getragen, „so würde er wie ich Subordination gelernt
haben, und es schadet ihm gar nichts, wenn er sie jetzt noch kennen lernt." 53
Lenne nutzte seine neue Stellung nach Kräften. Es gelang ihm bis 1824 die Gründung der Gärtnerlehranstalt, der Landesbaumschule und des Gartenbauvereins, dreier für die weitere Entwicklung des Gartenwesens in Preußen höchst wichtiger Institutionen. Sie ersetzten die Organisationen, die Schulze in kleinerem Rahmen geschaffen hatte — die von ihm mit viel Liebe zur
Sache angelegten Obstbaumschulen und die private Zeichenschule im Direktorenhaus — was
Schulze verständlicherweise wiederum verletzte. Lenne erhielt 1824 sogar den Titel Gartendirektor, obwohl der 74jährige Schulze noch als solcher im Dienst war. Lennes Gehalt betrug damals 1200 Taler jährlich.54 (Zum Vergleich: Die Durchschnittseinkünfte einer Superintendentenstelle im Bezirk Potsdam lagen bei 750 Talern). Als Lennes Gehilfe wurde Carl Friedrich
Jancke bei der Gartendirektion angestellt. Bis zu Lennes Tode sollte er in seinem Dienst verbleiben. Schulze dagegen beklagte, daß er keinerlei Bürohilfen hätte, so daß seine Frau und
seine Kinder aushelfen mußten.
Freilich gab es bei allen Rivalitäten auch unbeschwerte Stunden. Alljährlich im Winter veranstalteten die Hofgärtner Tanzvergnügen, Kränzchen genannt. Hieran nahmen außer den Hofgärtnern auch Schulze und Lenne teil, jeweils mit ihren Familien, so daß 16 bis 19 Familien zusammenkamen. Man traf sich im Haus des Hofgärtners Handmann; Essen, Tische und Stühle
sollte möglichst jeder selbst mitbringen; für Lampen, Laternen, Wachslichter und die Musik
sammelte Hofgärtner Hermann Sello jedesmal bei den Teilnehmern im voraus zwölf Taler ein.
Jeden Winter fanden drei bis vier solcher Vergnügen statt. Um sechs Uhr traf man sich, um sieben begann der Tanz.55
Man möchte wohl glauben, daß Lenne auch die rheinische Fröhlichkeit wie den rheinischen
Wein importiert hat. „Genialisch, tüchtig, lebensfroh", so empfand ihn Zelter.56 Heiter blickt
Lenne auch auf allen Porträts drein, die ihn als jüngeren Mann zeigen.
Auf d e m Gipfel der Macht
Die weitere steile Karriere Lennes wollen wir hier nur kurz streifen: 1828 wird Schulze in Pension geschickt und Lenne ist alleiniger Gartendirektor. Mit 39 Jahren hat er die höchste Macht
erreicht, die ein Gärtner haben konnte. Ähnlich herausragenden Einfluß als Gärtner hatten
sich vor ihm nur Andr6 Le Nostre am Hofe Ludwigs XIV und der 1823 verstorbene bayerische
Hofgartendirektor Sckell, der sogar geadelt wurde, sichern können.
1838 erbaut sich Lenne am Tiergarten in exklusiver Lage auf einem Eckgrundstück zur Stadt
hin eine Villa (Abb. 2). Unter König Friedrich Wilhelm IV. (seit 1840) wird er Berlins maßgeblicher Stadtplaner und entwirft zahllose Straßenzüge, die noch heute die Ortsteile Kreuzberg,
218
Moabit und Schöneberg prägen. 1853 wird er Ehrenmitglied der Preußischen Akademie der
Künste, 1854 erhält er den Ehrentitel Generalgartendirektor, 1861 wird er Ehrendoktor der
Universität Breslau, 1863 Ehrenbürger Potsdams (Abb. 3, 4). Von 1832 bis 1864 erhält er
zwölf in- und ausländische Orden. Sei Einfluß reicht weit über Preußen hinaus. Aus Bayern,
Österreich, selbst aus Mallorca und Italien wendet man sich in Gartensachen an ihn. Längst
zeichnet Lenne nicht mehr selbst, er gebietet über ein gut funktionierendes Büro. Gustav
Meyer entwirft und zeichnet für ihn und arbeitet die theoretischen Schriften aus, Koschny und
Jancke erledigen die übrigen Arbeiten. Ein Stab geschulter Spezialisten bildet Gärtner in der
Gärtnerlehranstalt aus, welche Lennes Stil in alle Welt verbreiten.
Wo Marxisten Lenne ehren, wird er gern in Zusammenhang mit sozialen Ideen, ja gar mit der
Revolution von 1789 gebracht. Dabei ist offensichtlich, daß Lenne weder mit dieser noch mit
der Revolution von 1848, die er als reifer Mann erlebte, sympathisierte. Das Wohlwollen
Friedrich Wilhelms IV. sicherte ihm seinen Einfluß, und als Hofbeamter war er selbstverständlich dem König treu ergeben. Wichmann sagt, Lenne habe „eigentlich gar keine politische Meinung" gehabt und einmal, „in seinem Revier als einziger Wähler erster Klasse, befugt, zwei
Wahlmänner zu wählen, einen Ultrakonservativen und einen Demokraten in die Urne (gesteckt) . . . Unser großer Politiker war eben dadurch, dass er fortwährend in seine Pläne versenkt war, sehr leicht auf kurze Zeit zu einer der seinen fremden politischen Meinung zu bekehren; noch mehr, gewöhnlich gab er dem Recht, der zuletzt mit ihm gesprochen."57 Man achtet
Lenne dafür, daß er Vertretern aller politischen Richtungen sein Haus öffnete; an Lennes
„konservativer Gesinnung" 58 kann jedoch kein Zweifel bestehen. Es ist erwiesen, daß er die restaurativen Bestrebungen nach 1848 zum weiteren Ausbau seiner Stellung zu nutzen suchte.
Indem er sich nur für seine Arbeit interessierte und diese in den Hofstaat eingebunden war,
wirkte sich sein unpolitisch gemeintes Verhalten zwangsläufig im Interesse des Hofes aus.
Lenne hat auch protektionistisch für seine jüngeren Verwandten gesorgt, wie einst sein Vater
für ihn.59 Dieser ausgeprägte Familiensinn, der nicht ruhte, bis alle Nachkommen im angestammten Beruf gut untergebracht waren, war nicht auf die Lennes beschränkt. Er war in allen
Gärtnerfamilien üblich. Die Art und Weise allerdings, in der Vater Lenne gehandelt hat, und
die zweifellos den Sohn von Kindheit an prägte, scheint extrem und trägt nicht unwesentlich zur
Erklärung von Lennes Handeln bei.
D e r alte L e n n e , ein Mythos
Rastlose Arbeit, viele Kämpfe, Triumphe und Mißerfolge haben Lenne im Lauf seiner 50jährigen Tätigkeit in Preußen verändert.
Den alten Lenne schildert der Komponist und Dirigent Herman Wichmann (1824-1905)
freundlich als naives Gärtneroriginal. „Ich gebe meinen Helden eben wie er mir entgegentrat,
gleich geliebt von mir wegen seiner großen Tugenden, als auch wegen seiner kleinen Schwächen: genial, kindlich, oft überaus sonderbar, sich hin und wieder scheinbar in seinem Thun
widersprechend, stets aber durch und durch nobel und seine öffentliche Wirksamkeit wie sein
Privatleben in unverbrüchlicher Ehrenhaftigkeit bis zur letzten Stunde durchführend."60
Von den Seltsamkeiten, die Wichmann überlieferte, hier einige. Lenne erschien am Frühstückstisch „im Schlafrocke, der sowohl vorne wie hinten mit Kreuzchen, Sternen und grossen
Ordensbändern derartig bespickt und umwunden war, dass alle diese Herrlichkeiten bis an die
Kniee hinunterschlappten".61
Und Lenne sagte zu Friedrich Wilhelm IV.: „Ew. Majestät begreifen immer noch nicht das
Geistreiche meiner Idee." 62
219
Weiter erzählt Wichmann, daß Lenne jeden Besucher, den er durch den Garten kutschierte, zuerst zu der Lennebüste führte, die der König 1847 hatte aufstellen lassen „um dann, in Erinnerung, wie aus Dankbarkeit für die ihm gewordene königliche Gnade seinen Hut lüftend, den
unkundigen den Ursprung dieser Stiftung haarklein mit allen Nebenumständen zu erklären.
Oft erweckt er hiermit den Schein, als ob er sein Haupt vor sich selbst entblösste, wie weit entfernt auch der bescheidene Mann von jeder Selbstverherrlichung war."63
Eine andere Anekdote zu dieser Büste besagt, Lenne habe sie einmal, befragt, wen sie denn
darstellte, verlegen für Voltaire ausgegeben und darauf die Bemerkung des Fremden einstekken müssen: „Voltaire? Na, das sieht man doch dieser boshaften Fratze auch gleich an, was das
für ein gemeiner Kerl gewesen sein muß!" 64
Wichmann berichtet aus dem Jahre 1858: „Einst hatte (Lenne) bei einer Konferenz in d e m . . .
Oekonomie-Kollegium seinem Untergebenen, dem Hofgärtner Sello, der, als ordentliches
Mitglied der Gesellschaft, in ihr dasselbe Recht wie sein Chef zu beanspruchen hatte, wegen
verschiedener Meinung derbe Worte gesagt. Sello, seiner Stellung als Untergärtner eingedenk
und wohl auch aus Hochachtung vor seinem Oberen, dieser kleinen Eigenheit Rechnung tragend, hatte den Streit abgebrochen, war aber doch sichtlich betroffen und gedrückt. Da erhob
sich der wohlbekannte, alte Oekonomierath Thaer, kanzelte ohne Umstände Lenne vor der
ganzen Versammlung wacker ab und vertrat mit kühnen Worten, unter dem begründeten Beifall sämmtlicher Anwesenden, die Gleichberechtigung aller Mitglieder des Kollegiums. Lenne
war verdutzt und erregt, griff nach Hut und Stock und entfernte sich. Tags darauf, als Sello dem
Gartendirektor neue Pläne zu unterbreiten und Vortrag zu halten hatte, schienen beide Männer etwas verlegen, aber das alte Verhältnis war in keiner Weise durch diesen Vorfall gestört
worden." Lenne soll sogar Thaer gegenüber Dankbarkeit für die Maßregelung geäußert haben.65
Vom eigenen Erfolg begeistert zeigt sich Lenne in einem Brief an den Neffen August (1846):
„Wenn Du mich wieder besuchest, findest Du die Riesen-Projekte für die Hauptstadt... realisiert . . . hieraus magst Du erkennen, daß ich in kurzer Zeit vieles geleistet habe." 66
In seinem Lebenslauf zur Aufnahme in die Akademie der Künste (1853) schreibt Lenne ohne
weiteres, daß unter seiner Leitung „großartige Anlagen" entstanden seien. Diesen Text gab er
auch an den Redakteur der erstmals 1860 erschienenen „Encyklopädie der Gartenkunst," wo
er wenig verändert abgedruckt wurde.
Lennes Visitenkarte strahlte Skurrilität und Extravaganz aus. Sie bestand aus roter Gelatine
und war zierlich mit goldener und silberner Schrift bedruckt.67
Die Schauspielerin Therese Devrient erlebte Lenne als „steifen, trockenen, zeremoniellen
Mann," gerade so, wie er auf seinen Altersfotos wirkt. Seine große „Phantasie und Erfindungskraft" hätte man ihm dem Aussehen nach nicht zugetraut.68
In seinem Testament von 1863 bestimmt Lenne, daß seine in Bau befindliche Villa in Koblenz
nach seinem Tod mit seinen Möbeln, den Familienporträts, seiner Gemäldesammlung und den
Vasen (mit wenigen Ausnahmen), dem Porzellan, den Nippsachen und den Stickereien von
Hand seiner verstorbenen Frau ausgestattet werden und stets im Besitz seiner Familie verbleiben soll.69 Er scheint hier eine Art Lenne-Museum konzipiert zu haben.
Krasse Widersprüche wie Eitelkeit, Ironie, Naivität und Bescheidenheit sind in der Charakterschilderung des alten Lenne unauflösbar miteinander verwoben.
Seinen Plan, als Pensionär in der Heimat zu sterben, konnte er nicht mehr verwirklichen. Er
arbeitete bis in sein 77. Jahr und starb unerwartet in Potsdam. „Die trauernden Geschwister" —
Lenne blieb kinderlos — ließen die Todesanzeige drucken: „Heut früh um 7 Uhr verschied
sanft und ruhig in Folge eines Unterleibsleidens nach zweimonatlichem Krankenlager, mit den
220
Abb. 3 :
Lenne und der
Potsdamer
Ehrenbürgerbrief
Sterbe-Sacramenten der katholischen Kirche frühzeitig versehen, unser theurer, unvergesslicher Bruder, der Königl. General-Garten-Director Dr. Peter Joseph Lenne."7'
Das Kirchenbuch gibt Gehirnschlag als Todesursache an.71
Seine Leiche nahm Hermann Sellos Privatfriedhof in Bornstedt auf, auf dem auch schon dessen Schwager Ludwig Persius bestattet war. Hierin zeigt sich das familiäre Verhältnis der Sellos
zu Lenne. Lenne ist auf diesem Friedhof der einzige Katholik. Normalerweise wurden die Potsdamer Katholiken mit auf dem der evangelischen Kirche gehörenden Alten Friedhof bestattet.
Lenne hatte in seinem Testament 1000 Taler für das Altarbild der geplanten neuen katholischen Kirche auf dem Bassinplatz vorgesehen, die schließlich 1867-70 nach Stulers Entwurf
gebaut wurde.72 Man finanzierte mit Lennes Legat die Apsisausmalung. Ihren beherrschenden
Standort am Ende der nach Sanssouci führenden Straße soll die neue Kirche, die wie ihre Vorgängerin den Namen St. Peter und Paul erhielt, Lennes Einfluß verdanken.
Lennes jüngerer Bruder Clemens bezog die verwaiste Villa in Koblenz. Von ihr ist nichts erhalten. Lenne, der Ausländer, ist völlig von Preußen vereinnahmt worden, und nicht Bonn, sondern Berlin gibt 1989 die Lennebriefmarke heraus.
Gärten scheinen harmlos. Gärtner, so denkt man, zumal im Biedermeier, „verträumen ihr
Leben heiter und glücklich hinter Blumen".73 Das stimmt nicht. Die Arbeit mit Garten ist hart
und aufreibend. Bevor Lenne so weit gekommen war, daß man ihn gleichsam heilig sprach,
mußte er viele Widerstände überwinden und sich auch Feinde machen. Für diese war er der
ruchlose Ausländer, der pietätlose Schurke.74
Wir mögen das große Werk Lennes zu seinem Geburtstag ehren, Lenne als Mensch sollte aber
nicht romantisch verklärt werden. Nur ein kühler Manager konnte so viel erreichen, und gewiß
221
kommt der ihm zugeschriebene Grundsatz: „Erst mit dem Kopf und dann mit dem Herzen"75
seinem Wesen recht nahe. Scharfsichtig meint auch Heinz Ohff in seiner jüngsten Lennebiographie: „Er ist eines nicht: ein weltfremder Schwärmer. Man könnte ihn, so verträumt die von
ihm geschaffenen Landschaften aussehen, ganz modern einen der ersten Macher nennen."76
Anmerkungen
1
2
3
4
In: Peter Joseph Lenne: Volkspark und Arkadien. Berlin 1989, S. 13f.
Stadtarchiv Bonn.
WieAnm.l.
Elisabeth Pieper: Organisation und Verwaltung des kurkölnischen Hofstaats in den Jahren
1784-1794. Diss. Bonn 1949, S. 51.
5 Vgl. Busso von der Dollen, in: Bonner Geschichtsblätter 29. 1977, S. 131-141.
6 Urkunde: Berlin, Staatl. Schlösser u. Gärten: Stiftung Lenne; Pieper, S. 53.
7 Harri Günther: Peter Joseph Lenne. Berlin 1985, S. 13 nach Angaben von Herbert Lenne,
Lauenburg.
8 Pieper wie Anm. 4, S. 53.
9 Urkunden: wie Anm. 6.
10 Stammbaum Dr. Heinz Lenne, Bonn.
11 von der Dollen, wie Anm. 5.
12 Pieper, wie Anm. 4, S. 53 f.
13 Herman Wichmann: Gesammelte Aufsätze Bd. 2. Leipzig 1887, S. 135.
14 Er ließ seine Eingaben übersetzen, von der Dollen, wie Anm. 5, S. 140.
15 Zu ermitteln aus dem Foto, das ihn stehend neben dem Potsdamer Ehrenbürgerbrief zeigt, dessen
Maße bekannt sind.
16 Staatsarchiv Oldenburg i. O., Best. 271—25, Nr. 52 Nachlaß Karoline Schulze, Personalia Lenne,
Promemoria, S. 2.
17 Düsseldorfer Gartenlust. Düsseldorf 1987, S. 92.
18 Berlin, Staatl. Schlösser u. Gärten, Stiftung Lenne.
19 Nummer fehlt.
20 Napoleon war Kaiser von Frankreich und König von Italien.
21 Wichmann, wie Anm. 13, S. 135.
22 Karl Koch: Peter Joseph Lenne. In: Wochenschrift d. Vereines z. Beförderung d. Gartenbaues...
9. Berlin 1866, S. 58.
23 Berlin, Staatl. Schlösser u. Gärten, Stiftung Lenne.
24 Lenne, wie Anm. 1.
25 Ebd.
26 Johann Michael Sebastian Riedl war seit 1798 Oberaufseher für das Bau- u. Gartenwesen in
Laxenburg.
27 Lenne, wie Anm. 1.
28 Berlin, Staatl. Schlösser u. Gärten, Stiftung Lenne: Briefe Vater Lennes.
29 Heinrich v. Treitschke: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Bd. 2, 3. Aufl. Leipzig 1882,
S.291.
30 Karoline Schulze, Geheimes Staatsarchiv SPK, Berlin, I. HA. Rep. 94, Nr. 814, p. 1-5.
31 Ebd.
32 Brief des Vaters, wie Anm. 28, 9. März 1816.
33 Wichmann, wie Anm. 13, S. 133.
34 Hinz hat in seinen Zitaten alle Fehler verbessert.
35 6. Juli 1816.
36 9. März 1816.
37 11. Juli 1816.
38 19. Dezember 1816. Wintzigenrode war nach Georg Ludwig Hartig der zweite Oberlandforstmeister im preußischen Finanzministerium.
39 26. Februar 1817.
222
40
41
42
43
44
45
46
47
48
49
50
51
52
53
54
55
56
57
58
59
60
61
62
63
64
65
66
67
68
69
70
71
72
73
74
75
76
Wie Anm. 29, S. 274.
Wie Anm. 28, 9. März 1816.
10. Oktober 1816.
Bittgesuch 1819. Günther, wie Anm. 7, S. 15.
Zentrales Staatsarchiv Merseburg: H. A. Rep. 192 Lenne Nr. 4, p. 2—5.
Wie Anm. 28, 11. April 1817.
Ebd.
Karoline Schulze, wie Anm. 16, S. 37.
Ebd., S. 42.
Berlin, Geheimes Staatsarchiv PK, MKB 588.
Es war dies ein schäbiger Fachwerkbau aus den Tagen Friedrich Wilhelms I., der im Hof der Gewehrfabrik, Priester-/Ecke Waisenhausstraße stand (heute Gelände des VEB Stadtbau, BauhofEcke Hoffbauerstraße). Frdl. Hinweis von Herrn Andreas Kitschke, Potsdam.
Karoline Schulze, wie Anm. 16, S. 30.
Ebd., S. 31-33.
Georg Sello: Potsdam und Sanssouci. Breslau 1888, S. 124.
Wie Anm. 16, S. 35.
Papiere bei Hanna Nietner, Berlin.
Zit. nach Heinz Ohff: Peter Joseph Lenne. Berlin 1989, S. 15.
Wichmann, wie Anm. 13, S. 140-142.
Ebd.
Sein Neffe Joseph August (1814-1894) wurde Kurdirektor in Bad Neuenahr, sein Vetter Ferdinand Franz (1796—1859) Obergärtner in der Königlichen Landesbaumschule Alt-Geltow
(Stammbaum der Familie, mitgeteilt von Dr. Heinz Lenne, Bonn). Ein weiterer Vetter, Peter Ferdinand (?), wurde auf Lennes Betreiben Schloßgärtner in Merseburg (Zentrales Staatsarchiv
Merseburg, H.A. Rep. 192, Lenne Nr. 10, p. 16-18).
Wichmann, wie Anm. 13, S. 134.
S.155.
S.138.
S. 146-8.
Werner Fuchs-Hartmann: Die Berliner Anekdote im 19. Jahrhundert. Berlin 1931, S. 145.
Wichmann, wie Anm. 13, S. 151 f.
Gerhard Hinz: Peter Josef Lenne. Berlin 1937, S. 31.
Wie Anm. 1, S. 192.
Zit. nach Heinz Ohff, wie Anm. 56, S. 21.
§§ 5 und 6 des Testaments vom 10. Oktober 1863. Staaü. Schlösser u. Gärten, Berlin, Stiftung
Lenne.
Staatl. Schlösser u. Gärten, Berlin: Stiftung Lenne.
Pfarramt der kathol. Gemeinde St. Peter u. Paul, Potsdam, Totenbuch 1862-66, S. 135. Hinweis
von Andreas Kitschke.
Andreas Kitschke: Kirchen in Potsdam. Berlin (Ost) 1983, S. 54. Quelle: Staatsarchiv Potsdam,
Pr. Br., Rep. 2A, Reg. Potsdam II Nr. 534.
Wichmann über Voß, zit. nach Ohff, wie Anm. 56. S. 23 f.
Wimmer, in: wie Anm. 1, S. 98ff.
Karoline Schulze, wie Anm. 16, S. 12.
Ohff, wie Anm. 56, S. 59.
Bildnachweis
Titel: Usingen, Marion Blöcker
Abb. 1: Bonn, J. W. Frhr. v. Maltzahn
Abb. 2: Berlin, SSG
Abb. 3: Berlin, Landesbildstelle
Anschrift des Verfassers:
Dr. Clemens Alexander Wimmer, Emser Straße 14, 1000 Berlin 31
223
Die Reformation 1539 in der Mark Brandenburg
Von Karl-Heinz Bannasch
Anläßlich der 450. Wiederkehr der märkischen Reformation sollen die Anfänge und der Ablauf dieser gesellschaftsverändernden „Revolution" in Brandenburg skizziert werden.
Warum ist diese Reformation heute noch so einschneidend für uns? Der Direktor des Deutschen Historischen Museums, Professor Dr. Christoph Stölzl, sagte in einem Radiointerview
knapp und zutreffend: „Noch heute haben wir die Abkürzungen der katholischen und evangelischen Kirche auf der Steuerkarte, damals wurde der Himmel geteilt."
Wie aber nun hat die Bewegung begonnen, die mit dem Namen Martin Luthers auf das engste
verbunden ist? Ausgelöst wurde zunächst ein von Luther geführter theologischer Streit um die
Macht- und Prachtentfaltung der römisch-katholischen Kirche. Sie verschlang, z. B. im Ausbau des Petersdomes in Rom, riesige Summen. Der 1513 gewählte Papst Leo X. zeichnete sich
durch geistliche Verantwortungslosigkeit und Verschwendungssucht aus. Um die benötigten
Summen zu erhalten, wurde der Ablaß in der Kirche verändert. Eigentlich sollte durch „gute
Taten" und durch „vorgeschriebene Gebete" eine Sünde auf Erden getilgt werden, später
wurde dieser Ablaß kommerziell ausgenutzt. Gegen Entrichtung einer Geldsumme wurde den
Sündern ein Ablaßbrief überreicht. Er gewährte auch Absolution für künftige Sünden.
Das Mittelalter war davon geprägt, daß das Leben Sünde sei. Darum war bei den „einfachen
Menschen" die Frömmigkeit derart ausgeprägt, daß das Leben verneint, die Welt und ihre Gaben abgelehnt wurden. Den Gott der Liebe und Barmherzigkeit zeichneten die Priester als einen Gott der Befehle und Strafen. So konnte das Volk jahrhundertelang im „Griff" gehalten
werden. Schon die Vorgänger des erwähnten Papstes waren verroht. Mord, Verrat und Unzucht (Papst Alexander VI. war der Vater von Cäsar und Lucrezia Borgia) bestimmten anscheinend das geistliche Leben der Päpste.
Im Jahre 1517 erließ Papst Leo X. einen allgemeinen Ablaßhandel, und nun fühlte sich Luther
auf den Plan gerufen. Die Gläubigen seiner Gemeinde in Wittenberg forderte er zur „wahrhaftigen Buße und Reue", aber viele seiner Gemeindemitglieder hielten ihm erworbene Ablaßbriefe entgegen. Der Ablaßhandel wurde aggressiv vorangetrieben, waren doch gewaltige
Summen aufzubringen, um den Verpflichtungen nachzukommen. Der Papst setzte Kommissare für den Ablaßhandel ein, für Deutschland den Erzbischof Albrecht von Mainz und Magdeburg, und dieser wiederum Unterkommissare. Der bekannteste sollte Johann Tetzel werden.
Dieser und seine „Predigerkollegen" zogen nun durchs Land, predigten und sammelten Geld.
Tetzel, der auch in Berlin weilte, ist hier mit offenen Armen empfangen worden, nähere Einzelheiten über seinen Aufenthalt sind leider nicht erhalten; erhalten ist jedoch ein Ablaßbrief in
Berlin, den Tetzel im April 1514 ausstellte.
Weshalb nun kam die Reformation in der Mark so schwer in Gang?
Da wäre zuerst Joachim I. zu nennen, der sich ganz dem Papst verschrieben hatte. Zu nennen ist
in diesem Zusammenhang auch sein Bruder Albrecht, der schon erwähnte Erzbischof. Dieser
trat mit 23 Jahren in den geistlichen Stand, wurde dann umgehend Erzbischof von Magdeburg,
ein Jahr später Erzbischof von Mainz und Erzkämmerer des Reiches. Der Kardinalshut sollte
folgen. Diese Ernennungen bildeten Verstöße gegen die Kanonischen Gesetze, zudem war es
eigentlich untersagt, die beiden Bistümer in Personalunion zu führen. Um diese Ausnahmen
beim Papst zu erwirken, mußte viel Geld in Richtung Rom fließen. Beim Aufbringen der Gelder waren die Fugger in Augsburg behilflich. So entstanden Schulden, die mit dem Ablaßhandel abgetragen werden sollten. Der Papst und Albrecht teilten sich die Einnahmen.
224
Aber noch ein zweiter Hohenzoller machte zur gleichen Zeit von sich reden, nämlich der Vetter
des Kurfürsten und Erzbischofs, ebenfalls ein Albrecht, der 1511 zum Hochmeister des Deutschen Ritterordens in Preußen gewählt worden war. Damit vereinigten sich wichtige Ämter im
Reich in der Hand der Hohenzollern, man schloß zu den Habsburgern auf. Dieser Status mußte
erhalten bleiben.
Der Hochmeister jedoch nahm schon 1523 persönlich Kontakt mit Martin Luther auf, er sollte
auch der letzte Hochmeister in Preußen sein. Denn im Vertrag von Krakau nahm er Preußen als
erbliches Lehen 1525 aus der Hand des polnischen Königs und führte sofort die evangelische
Ordnung ein. Die Berliner Hohenzollern kamen in die Erbfolge. Neben Herzog Albrecht von
Preußen trat 1527 die Ehefrau Joachims zum neuen Bekenntnis über, mußte aber kurze Zeit
später vom Berliner Hof fliehen, weil Joachim ihr ein Ultimatum gestellt hatte. Sie kam dieser
Aufforderung nicht nach, blieb ihrem neuen Glauben treu und entwich nach Sachsen. Dort
herrschte ein Verwandter, der ebenfalls schon übergetreten war. Kurfürst Friedrich III., der
Weise, hatte sich schon frühzeitig zur Reformation bekannt.
Diese Umstände und Personen sind zu berücksichtigen, wenn man die Reformation in der
Mark Brandenburg betrachten will. Ein letzter, aber um so wichtigerer Aspekt ist noch zu erwähnen. Wäre Brandenburg schon frühzeitig lutherisch geworden, hätte dies die gesamte
Machtkonstellation im Reich durcheinanderbringen können.
Die nachfolgenden Daten geben einen Überblick über die Geschehnisse im 16. Jahrhundert:
1517:
1518:
31. Oktober: Anschlag der sog. 95 Thesen gegen den Ablaßhandel.
Luther wird vom Kardinal de Vio von Gaeta nach Augsburg geladen, er verweigert
aber den Widerruf seiner Thesen und flieht.
1519:
Wahl Karls I. von Spanien zum deutschen Kaiser als Karl V, Krönung 1520.
Luther bricht mit Rom.
1520:
Luther veröffentlicht seine Hauptschriften, u. a. „An den christlichen Adel deutscher Nation", „Von der Freiheit eines Christenmenschen".
1521:
Beginn der Bibelübersetzung auf der Wartburg.
1522:
Einführung des Gottesdienstes mit deutscher Predigt und dem Abendmahl in beiderlei Gestalt in Kursachsen.
1523:
Einführung der Reformation in Hessen und Schweden.
1524:
Joachim I. verbietet die Lutherübersetzung der Bibel wegen „viel hundert Irrthumb".
1525:
Luther, ehedem Mönch, heiratet Katharina von Bora.
Einführung der Reformation in Preußen.
1526:
Verbot der „neuen Lehre" in der Mark Brandenburg.
1527:
Ehefrau Joachims I. tritt über und flieht später.
1528:
Evangelische Predigten in Brandenburg/Havel.
1530:
Reichstag zu Augsburg - Übergabe des Augsburger Bekenntnisses durch die evangelischen Fürsten an KarlV.
1531:
Gründung des Schmalkaldischen Bundes.
1535:
Melanchthon einige Wochen in Spandau.
1535:
H. Juli: Tod Joachims I., der zuvor noch Melanchthon empfing.
1537:
Erster evangelischer Prediger in Spandau.
1539:
„Reformation" in der Mark Brandenburg.
1540/41: Kirchenvisitation in der Mark Brandenburg.
225
Wie nun aber ist es zu den Feierlichkeiten in Spandau gekommen?
Nach dem Tod Joachims L, Nestor, folgte ihm sein Sohn Joachim II., Hektor, auf den Kurfürstensessel. Hiermit verbanden die evangelischen Stände in Deutschland und der Mark die
größten Hoffnungen. Joachim II. war schon frühzeitig mit der Reformation in Kontakt gekommen. Auf dem Weg zur Kaiserwahl im Jahre 1519 hörte er in Wittenberg eine Predigt Martin
Luthers. Aber vorerst hielt sich Joachim mit reformatorischen Änderungen zurück, vielmehr
stärkte er die katholische Seite, indem er die Dominikaner-Kirche 1536 in Colin dem Domkapitel übergab. Die neue Domkirche erhielt den Namen „Zum heiligen Kreuz". Bis 1608 wurde
der Gottesdienst in diesem Haus nach den alten Formen abgehalten. Die nicht mehr erhaltene
Kirche wurde 1747, unter König Friedrich IL, abgetragen.
Die Reformation wurde jedoch nicht durch den Kurfürsten vorangetrieben, den Motor bildete
vielmehr der Bischof von Brandenburg, Mathias von Jagow. Durch ihn kam es zur Initialzündung, als er in Teltow mit Jochen von Schwanebeck und weiteren Edelleuten in der „Teltower
Einigung" beschloß, sich nun auch offiziell zur neuen Lehre zu bekennen. Jetzt scheint der zaudernde und wenig entscheidungsfreudige Joachim in Zugzwang geraten zu sein. Im Sommer
des gleichen Jahres beauftragte er eine Kommission mit der Ausarbeitung einer Kirchenordnung für die Mark. Dieser erste Entwurf wurde aber verworfen, Melanchthon bezeichnete
dieses Papier als „Munchsbuch". Ein zweiter Versuch konnte im September 1539 vorgelegt
werden. Und wieder wurde eine Stellungnahme der Reformatoren eingeholt. Luther und
Melanchthon stimmten jetzt dem Entwurf zu, wenn auch unter großen Bedenken. Joachim
ging einen Weg zwischen Luther und Melanchthon auf der einen und dem Papst und Kaiser auf
der anderen Seite. Er legte die neue Ordnung sogar dem Kaiser in Wien vor und war somit der
einzige Landesfürst, der eine Zustimmung von beiden Parteien erhielt. Ein Einverständnis der
Städte und Stände in der Mark war nun gesichert.
Der 1. November 1539 bildet das markante Datum in der Reformationsgeschichte der Mark
Brandenburg. Schon im September teilte er seinem katholischen Schwiegervater den Termin
zur Einführung einer neuen Kirchenordnung mit. Dessen Antwort fiel wie erwartet sehr mißbilligend aus.
Nun stellt sich noch die Frage: Berlin oder Spandau? Ich reihe mich nicht deshalb in die Befürworterschlange Spandaus ein, weil ich Spandauer bin, sondern weil die „Belege", Argumente
und Begründungen für Spandau sprechen. Der Vorgang als solcher war schon so weit vorangetrieben worden, daß eine Rücknahme der Abendmahlsfeier in der St.-Nicolai-Kirche zu Spandau nicht mehr möglich war. Vertreter der Städte und des Adels weilten bereits in der Stadt. Da
es keine Primärquellen über die eigentliche Feier gibt, muß wieder das „Haus-Buch" derer von
Schwanebeck herhalten. Schon die Teltower Einigung ist dort nachzulesen. Und eben dort ist
wiedergegeben, „daß nach dem Vorgang des Durchlauchtigen und hochgeborenen Churfürsten, Herrn Joachim des Jüngeren löbliches Gedächtnisses in der dasigen Pfarr Kirchen das
reine evangelium öffentlich bekannt und das heilige Sacrament von gedachtem Herrn Bischof
Mathias empfangen". Dieses „nach dem Vorgang" wird seitdem verschieden gedeutet; heißt es
nun nach dem Vorgang des Kurfürsten in Colin oder nach dessen Vorgang in der St.-NicolaiKirche in Spandau? Eigentlich kann nur das zweite gemeint sein, denn sonst hätten beispielsweise an einem Tage zwei Gottesdienste, nämlich in Colin und Spandau, stattfinden müssen.
Nein, der 2. November 1539 war den Berlin-Cöllnern vorbehalten. Zwei weitere Gründe sprechen für Spandau:
1. Die Kurfürstenmutter lebte seit Jahren in Spandau und praktizierte schon nach der neuen
Ordnung.
2. Joachim II. vermied einen offiziellen Staatsakt in Berlin, der Residenzstadt, um eine Brüs- •
226
Denkmal Joachim I!
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kierung der Ehefrau (sie war strenge Katholikin), des Kaisers und des Onkels auf jeden Fall
zu vermeiden.
Eine eigentliche Reformation war jedoch an diesen Tagen nicht eingeführt worden, denn eine
Kirchenordnung wurde weder in Spandau noch in Berlin vorgelegt. Der Druckauftrag wurde
erst im Frühjahr 1540 erteilt, die Kirchenordnung selbst dürfte dann im Juli 1540 in Kraft getreten sein. Melanchthon schrieb später über seine Besuche in Berlin: „Die Mark durstet nach
der reinen Lehre." Diese märkische Reformation war nicht von oben verordnet, sondern Stuck
für Stück von den Gemeinden erobert worden.
Es ist festzuhalten, daß die Hohenzollern in Brandenburg eine wechselvolle Rolle in der kirchlichen Auseinandersetzung spielten, daß aber letztlich die evangelische Sache durch den Übertritt Joachims II. in Deutschland gesichert werden konnte. Hätten die Protestanten ohne Brandenburg an ihrer Seite die nächsten Jahrzehnte bis ins 17. Jahrhundert überdauert?
Literatur
1. JahrbUChfürbrandenburgischeKirchengeschichte,40.,1965,KarlThemel,S.24-85.-Ausfuhrlicher Hinweis auch auf das Haus-Buch der Schwanebecks.
2. Jahrbuch für Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte, 49., 1947, Wolfgang R,bbe, S. 59-65.
3. Julius Heidemann: Die Reformation in der Mark Brandenburg, Berlin, 1889.
4. Julius Rieger: Berliner Reformation, Berlin 1967.
5. Daniel Friedrich Schulze: Zur Beschreibung und Geschichte von Spandau, Spandau 1913, II.
Band, S. 46-50.
6. Julius Köstlin: Luthers Leben, Leipzig, 1883.
. „....
c, ^ _ _ | j _
7. Luther und die Reformation im Herzogtum Preussen, Ausstellung des Geheimen Staatsarchivs
Preußischer Kulturbesitz, Berlin 1983.
.
8. Wolfgang Ribbe: Geschichte Berlins, Von der Frühgeschichte bis zur Industrialisierung, München, 1987,1. Band, S. 292-296.
Anschrift ^
Verfassers;
Karl-Heinz Bannasch, Hasenmark 22, 1000 Berlin 20 (Spandau)
227
Nachrichten
375 Jahre Haude & Spener
Am 10. Mai 1989 konnte die Haude & Spenersche Verlagsbuchhandlung GmbH auf ihr 375jähriges
Bestehen zurückblicken. Der Verlag hat eine schmale Broschüre von 16 Seiten Umfang als Verlagschronik herausgebracht, die den Werdegang dieses ältesten noch existierenden Berliner Verlags- und
Buchhandels-Unternehmens schildert, das zugleich der drittälteste Verlag in Deutschland und der
sechstälteste im deutschsprachigen Raum ist. Das Heft kann (gegen Portoerstattung von 1 DM)
kostenlos angefordert werden bei der Haude & Spenerschen Verlagsbuchhandlung, Potsdamer
Straße 199, 1000 Berlin 30, Telefon (0 30) 216 50 61-63.
SchB.
Aus dem Mitgliederkreis
Dipl.-Ing. Dr. Michael Seiler, Gartenhistoriker bei der Verwaltung der Staatlichen Schlösser und
Gärten und vielfach in unserem Verein hervorgetreten, zuletzt bei der Führung über die Pfaueninsel
am 21. Juli 1989, ist zum Honorarprofessor an der Freien Universität Berlin ernannt worden. SchB.
Am Sonntag, dem 28. Januar 1990, feiert der Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865, den
125. Jahrestag seiner Gründung. An diesem Tag wird um 11.00 Uhr eine Festveranstaltung in der
„Kleinen Philharmonie" mit musikalischer Umrahmung stattfinden. Der Bundespräsident hat sein
Erscheinen in Aussicht gestellt. Der Regierende Bürgermeister wird im Anschluß an diese Veranstaltung einen Empfang für die Mitglieder des Vereins geben. Hierzu lädt der Vorstand schon jetzt alle
Mitglieder herzlich ein.
Buchbesprechungen
Berlin literarisch. 120 Autoren aus Ost und West fotografiert und zusammengestellt von Renate von
Mangoldt. Argon Verlag GmbH, Berlin 1988. Broschiert, 256 Seiten.
Aufnahmen aus den Jahren 1965 bis 1987 mit dem Schwerpunkt in den 80er Jahren, jeweils mit Angabe des Ortes, an dem die Porträts entstanden sind, wurden Texte gegenübergestellt, deren Auswahl
die Autoren selbst besorgten, Gedichte vielfach oder Prosastücke, die Aussagen über das Schreiben
enthalten.So äußert sich Martin Kessel: „In keiner deutschen Stadt kann man leben, wenn man ohne
Beziehungen ist, nur in Berlin... Berlin muß man fortwährend wiederentdecken, sonst verflüchtigt es
sich. Man kann inmitten Berlins wie in der Wildnis leben: als städtischer Robinson."
Zwischen die alphabetisch geordneten Porträts von Richard Anders bis Gisela Zies wurden Gruppenbilder von Schriftstellertreffen aufgenommen. Biographische und bibliographische Daten der
Autoren vervollständigen den Band. Wird dort korrekt angegeben, Franz Fühmann sei 1922 in
Rochlitz im Riesengebirge geboren worden, so könnte einen der Vermerk zu seiner Fotografie mit
Rokytnic (CSSR) in die Irre führen, da das Staatsgebilde CSSR erst 1948 gegründet wurde.
Günter Kunert hat das unvermeidliche und wie stets kluge Vorwort beigesteuert, in dem er auf die
Momentaufnahmen aus 120 enorm unterschiedlichen Schicksalen von Dichtern, Schriftstellern,
Autoren, Literaten, Schreiberlingen und Skribenten in Effige verweist, „die dennoch eine Obsession
eint: Ihr Selbst fortwährend schriftlich zum Ausdruck bringen zu müssen. Ihr Geburts-, Heimat- oder
228
nur Wohnort allemal Berlin: Eine Stadt, die durch Verdoppelung nicht mehr, sondern weniger
wurde." Und weiter: „Ein Schriftsteller ist nicht nur jemand, dem das Schreiben schwerfällt, vielmehr
einer, der durch Schreiben zu ersetzen sucht, was ihm das Leben versagt hat;... Dieser bedauernswerte, höchst kreative Zustand ähnelt auf gewisse Weise dem dieser Stadt, die ebenfalls eine obskure
und unnormale Existenz führt, immer am Rande des Abstürzens und ständig auf ihre Verlorenheit gestoßen, über die sie sich mit Witz und einer heiteren Resignation hinwegrettet. Berlin und seine
Schriftsteller: Eine Symbiose eigentümlichster Art, von der auf Fotografien nur wenig sichtbar werden kann. Fotografien sind bestenfalls die Einladung, an dieser Symbiose als Außenstehender betrachtend und vielleicht mitfühlend teilzunehmen." Diese Einladung zum Besuch der in ihrer Eigenart trefflich festgehaltenen und wiedergegebenen Literaten sei hier gern weitergereicht.
Hans G. Schultze-Berndt
Werkstattbesuche bei Künstlern in Berlin-Wedding. Reihe Lebendiges Museum. Bd. 1. 123 Seiten,
mehr als 150 Abb., davon 18 in Farbe, 21 X 27 cm, Hardcover, 29,80 DM. Dieses Buch erscheint als
erstes einer mehrbändigen Dokumentation der Volkshochschule Berlin-Wedding über Künstlerinnen und Künstler, die im Bezirk Wedding ihre Werkstatt haben. Herausgeber: Volkshochschule Berlin-Wedding, Fachbereich Kulturelle Bildung, Redaktion: Ursula Diehl, Direktorin der Volkshochschule, Gisela Weimann, Fachbereichsleitung Kulturelle Bildung, Idee und Konzeption Gisela Weimann. FAB Verlag KG, Berlin 1988.
Der Wedding ist zu einem Bezirk für Künstler geworden. In aller Stille haben sich Ateliergemeinschaften gebildet und in leerstehenden Fabrikgebäuden angesiedelt, mit Hilfe des Senats, des Bezirksamtes
Wedding oder des Berufsverbandes Bildender Künstler Berlin. Im Rahmen der Veranstaltungsreihe
Lebendiges Museum hat die Volkshochschule Wedding mit Unterstützung der Wochenzeitung „Der
Nord-Berliner" damit begonnen, die zahlreichen Künstler vorzustellen, die im Bezirk arbeiten. Das
Lebendige Museum (Atelierbesuche und Gespräche mit Künstlerinnen und Künstlern in Berlin) besteht seit 1982, seit nämlich Gisela Weimann ihre Tätigkeit als Leiterin des Fachbereichs Kunst und
Kreativität an der VHS Wedding aufgenommen hat. Sie hat ebenso wie Bernd Schimmler, Volksbildungsstadtrat, dem Band ein Geleitwort mit auf den Weg gegeben.
Die Gegenüberstellung der Kritiker (und ihrer Lebensläufe) und der Künstler kann als durchweg gelungen bezeichnet werden. Vielfach handelt es sich um kleine Kabinettstücke der Kritik. Die Fotos der
Künstler und ihres Ambientes sind aussagekräftig. Renate Altenrath hat auch eine Fotodokumentation über das Symposium in der Weddinger Bildhauerwerkstatt bis zum Endergebnis beigesteuert.
Leider bleibt es (meist) nur bei einer farbigen Reproduktion eines Kunstwerks.
Der „Nord-Berliner" verdient Respekt, daß er dieses löbliche Unterfangen unterstützt und die zum
Teil recht anspruchsvollen Kritiken abgedruckt hat. Einer Kursteilnehmerin des Lebendigen Museums ist beizupflichten, wenn sie den Künstlern attestiert: „Sie hinterlassen mit ihren Arbeiten unseren Nachfahren Strömungen und Geisteshaltung unserer Zeit". Wenn einem von ihnen allerdings
nachgesagt wird, er sei schon auf der Schule fest entschlossen gewesen, Kunstmaler zu werden, so sei
diese Bezeichnung nicht auf die Goldwaage gelegt. Otto Nagel würde es sich jedenfalls verbeten
haben, als „Kunstmaler" bezeichnet zu werden, und bei Matthias Koeppel würde man sich eine Beleidigungsklage einfangen.
Hans G. Schultze-Berndt
Berlin-Stadtatlas mit Spirale. Völlig überarbeitete und aktualisierte 15. Auflage 1989/90. RV
Reise- und Verkehrsverlag Berlin, Stuttgart, Gütersloh, München, 16,80 DM.
Von den Stadtplänen, die nach einem patentierten Verfahren gefaltet sind, unterscheidet sich dieser
Stadtatlas durch seine Ringheftung und die damit zu Lasten des Formats gewonnene Übersichdichkeit. Mit Hilfe von Übersichtskarten 1: 250000 bzw. 1: 70000 können die im Maßstab 1: 20000
wiedergegebenen 64 Einzelpläne aufgefunden und aufgeschlagen werden. Die Innenstädte beider
Stadthälften sowie Spandaus sind auf einer Karte 1:10000 erfaßt. Ein Verzeichnis der U- und
S-Bahnlinien (diese ebenso wie das Straßenverzeichnis nach West und Ost getrennt) vervollständigen
den Stadtatlas, der auch mit einem Verzeichnis der Postämter und Telefonnummern sowie der inzwischen 23 Berliner Bezirke aufwartet, nämlich einschließlich Hohenschönhausen, Marzahn und Hellersdorf. Der gediegene Atlas empfiehlt sich zur Benutzung.
SchB.
229
Jürgen Konert: „Theodor Brugsch. Internist und Politiker." In der Reihe: „Humanisten der Tat.
Hervorragende Ärzte im Dienste des Menschen.", hrsg. von Wolfgang Genschorek und Albrecht
Gläser, 200 Seiten, 69 Abbildungen, Literaturauswahl und Personenregister, Teubner Verlagsgesellschaft, Leipzig 1988.
Das Anliegen des Autors und die Gewichtung des dargestellten Professors Brugsch sind schon in der
Formulierung des Titels eingeschlossen. Er schreibt die Biographie eines Menschen, dem wir zwar seiner politischen Haltung wegen ambivalent gegenüberstehen, er verdient dennoch als überdurchschnittlicher Arzt unseren Respekt; im Zeitalter fortschreitender Technisierung der Medizin suchte er
das Bild vom ganzen Menschen auszuformen; er tat dies im Besitz der immer mehr sich verfeinernden
naturwissenschaftlichen Grundlagen, doch zugleich mit allen Aspekten der benachbarten geisteswissenschaftlichen Disziplinen; durch ihre Verschmelzung schuf er das Bild vom kranken Menschen, das
fortschreitend zur Herausforderung unserer Zeit wurde. Er hat den Ruf der Berliner Charite weltweit
weitergetragen. Unbehagen erzeugt nur, wie er hier systemimmanent als politischer Mensch nach dem
vorgegebenen Bild des „Humanisten der Tat" gezeichnet wird, wobei, wie es der Rezensentin erscheint, fertige Versatzstücke auf ein wechselvolles Leben zurückprojiziert werden. — Da Gesundheitsfürsorge in der Gesellschaft der DDR einen anderen Wert hat und deren politische Voraussetzungen als gesichert gelten, hat eine Arzt-Biographie Vor-Bild-Charakter, und ihre Wertung wird
vom Ende her vorgenommen.
Der Blick des Betrachters wird gesteuert vom Axiom her: „Seine Entwicklung stellt keine Ausnahmeerscheinung dar, sondern ist objektiv das Ergebnis des gesellschaftlichen Entwicklungsverlaufs
(der DDR — d. Rez.)." Darin war der Hochschulprofessor, Klinikdirektor und Bildungspolitiker
Schlüsselfigur für die Zentralverwaltung für Volksbildung und die sowjetischen Hochschuloffiziere
innerhalb der SMAD (Sowjet. Militäradministration in Deutschland). Mag man diesen Gesichtspunkt akzeptieren oder nicht, es geht die Karriere eines außerordentlichen Mannes und Arztes in
schwerster Zeit den geschichtlich orientierten Berliner etwas an.
Das verklammernde Leitbild vom „Humanisten der Tat" ermöglicht es Vf., Widersprüche im Charakter und den Entscheidungen aufgrund seiner Machtposition zu glätten und zu überbrücken. Tatsächlich hat es 1945 seine Kollegen und Schüler gewundert, einen Mann von so hervorgehobener
Bürgerlichkeit auf der Seite der antifaschistischen Arbeiterklasse zu finden. — Vf. führt uns den Sohn
des Ägyptologen Heinrich Brugsch-Pascha in seiner geistig vielseitigen Kindheit vor Augen, ferner
das Fußfassen in der medizinischen Wissenschaft nach dem frühen Tode des Vaters, seine großen akademischen Lehrer, die alle Leitbilder in ihrer Zeit waren, seine erste Tätigkeit als medizinischer Autor,
seine Mitarbeit in wissenschaftlichen Gesellschaften, sein Sich-Erarbeiten eigener philosophischer
Ansichten, seine frühe Entschiedenheit für die klinische Arbeit, seinen Aufstieg innerhalb der Charite und der Universität. Es geschah unter bürgerlichem und nationalem Vorzeichen; nur sein parteiergreifendes, entschiedenes Handeln, seine ungewöhnliche Arbeitskraft hoben ihn früh aus der
Menge seiner Berufskollegen heraus.
Als roter Faden zieht sich durch die so dargestellte Lebensgeschichte das langsame Erwachen hindurch, das Vf. seinen Aufstieg artikuliert als: „ . . . von der bürgerlichen Klassenposition zur politisch
gereiften Persönlichkeit." Von dieser bürgerlichen Frühzeit heißt es, daß er (1916) revolutionäre Ereignisse noch nicht reflektierte und die Tragweite sich vorbereitender historischer Ereignisse nicht ermessen habe. Das Amalgam, diese Zeit in den „humanistischen" Zusammenhang einzupassen, wird
gefunden mit „Hilfe am kranken Menschen". Was für ein Arztleben eigentlich selbstverständlich ist,
gilt hier vertiefend als ein bestimmender Zug im Gesamtbild. Vf. durchmißt die Bereiche so verschiedenartiger Tätigkeiten wie seine Rolle bei der ärztlichen Fortbildung, der philogophischen Grundlegung zur gesellschaftlichen Auffassung vom Menschen, seine Konstitutionslehre, die ihn in gefährliche Nähe zur Rassenideologie der Nazis brachte; nur das Vorgehen gegen jüdische Kollegen ließ ihn
aufhorchen und mißtrauisch werden. Es wird über seine weit verzweigten Freundschaften berichtet,
so über die mit Sauerbruch und Gohrbandt, aber auch einigen Offizieren der SMAD. Wichtig wurde
seine Tätigkeit bei der Wiedereröffnung der Universität Berlin, seine Schlüsselrolle in der Zentralverwaltung für Volksbildung neben Paul Wandel, seine Mitgliedschaft im „Kulturbund für die demokratische Erneuerung Deutschlands", die ihm wichtige Aufgaben bei der Schaffung oder Organisierung
des Hochschulwesens zuschrieb. Weniger weiß man von seiner Rolle bei politischen Entscheidungsfindungen im engeren Sinne wie bei der Mitarbeit beim Entwurf der Verfassung der DDR. Er wurde
zu internationalen Gesprächen wie etwa auf der Genfer Konferenz hinzugezogen, die die DDR an der
230
Seite der Sowjetunion und anderer Ostblockstaaten führte. — Aus der Zeit Gesamtberliner Vergangenheit ist sein Hinweis in Erinnerung, wie stark die Seuchen des Frühsommers 1945 die „physische
Existenz" des Volkes bedrohten. Vf. nennt die geringen Bettenzahlen, die wenigen Ärzte und Pfleger,
beschreibt die hohe Sterberate. Ins Licht einer breiteren Öffentlichkeit trat Brugsch, als er, mit der Leitung der I. Medizinischen Klinik der Charite betraut, die Wiedereröffnung der Universität an entscheidender Stelle förderte. In diesem Zusammenhang fällt auf, wie sehr der Vf. in der Absicht straffender Darstellung in eine formelhafte Diktion verfällt, wenn geschichtsbestimmende Ereignisse —
recht undifferenziert — wiedergegeben werden. So heißt es z. B. bei Brugschs Entschiedenheit für eine
neue Universität: „Gleichzeitig war ihm bewußt, daß die SMAD eine baldige demokratische Neueröffnung anstrebte, während die USA 1945 entsprechend ihrem Morgenthau-Plan die Neubelebung
deutscher Universitäten ablehnten." (132) (Ein ähnliches Beispiel der Schwarz-Weiß-Manier findet
sich in der Aussage: „Die herrschenden imperialistischen Kreise bereiteten aktiv einen Krieg zur Neuaufteilung der Welt vor.")
So erscheint der Rezensentin sein Verhalten bei der Auseinandersetzung um die Gegengründung der
Freien Universität bezeichnend. Er sagte 1946 anläßlich seines Amtsantritts als Ordinarius: „Die
Universität hat sich aktiv an dem Aufbau der neuen Demokratie zu beteiligen, sie hat den neuen Menschen zu erziehen, zu prägen und zu bilden. Das erfordert von Lehrern wie Schülern ein Begreifen des
Zeitgeistes, aber auch der speziellen Aufgaben der Universität, die man in die Worte prägen kann: Erziehung zur Menschenwürde, zur Freiheit des Geistes, zur Wahrheit und Klarheit, zum Fortschritt,
zum Gewissen gegen die Allgemeinheit, zur Duldung und zum Verstehen der Mitwelt." — Wer die
Gründungsvorgänge um die Freie Universität in westlichen Publikationen nachliest, wird dies kritisch
hinterfragen. Abgesehen davon, welcher junge Mensch hätte das nicht erstrebt? Es wurde erst später
deutlich, wie die sozialistische Ideologie jedem dieser Grundbegriffe eine bestimmt fixierte Bedeutung unterlegte. Es ist durchaus nicht sicher, ob er dies damals schon so begrenzt gesehen hat oder ob
sich eine gewisse Verkrustung erst später eingestellt hat. Die Darstellung erfolgt gerade in dem zeitlichen Abstand von etwa 40 Jahren, den Fontane als den historisch angemessenen erachtet: die großen
Linien eines Bildes heben sich als dauerhaft hervor, das scheinbar Zufällige verblaßt. Mit diesem
Maßstab wird auch der „Humanist der Tat" gemessen werden. In solcher Rückschau bestaunt man
aber auch die große Chance, ein großes Gesamtleben führen zu können. Sie wurde ihm gegeben, weil
er im Schnittpunkt zweier Generationen stand und sein Leben ausformte, als flüssige Zustände sich
eben erst zu verfestigen begannen über die Hindernisse bürokratischer Mittelmäßigkeit hinweg, die
seine Persönlichkeit wegzuschmelzen die Kraft hatte. Ob er aber nicht auch eine Ärzteschaft erzogen
hat, die im System „funktioniert", steht dahin.
Den Nachgeborenen gibt die Biographie ein Bild von der Gestaltung des wissenschaftlichen und bildungspolitischen Lebens in der ersten Nachkriegszeit bis hin zur Konsolidierungsphase der DDR. Für
die an der Geschichte der Freien Universität Interessierten seien einige kritische Punkte hervorgehoben. Brugsch selbst wird zitiert mit dem Grundsatz: „Zur Erweckung unseres Volkes im humanitärdemokratisch-sozialen Sinne brauchen wir die besten Hochschullehrer und die besten Studenten, die
nachweislich gegen Militarismus und Faschismus gerichtet sind;... wir wollen mit den besten Lehrern die deutsche Jugend neu formen." Vf. schreibt ihm das Hauptverdienst zu, den Lehrkörper von
faschistischen Elementen gereinigt und einen neuen angeregt zu haben. In diesem Sinne hat er die
Einführung von Pflichtvorlesungen über „Politische und gesellschaftliche Probleme der Gegenwart"
durchgesetzt und sie ausdrücklich als „marxistisch-leninistisches Grundlagenstudium" verstanden
wissen wollen. In diesem Sinne nennt ihn Vf. einen „Schrittmacher der Entwicklung zur antifaschistisch-demokratischen Hochschule". So wird die oppositionelle Studentenbewegung seit Ende 1947
als „Haß der imperialistischen Kräfte, die auf Spaltung drängten", bezeichnet. Es wird seine Stellungnahme auf der Sitzung des Akademischen Senats am 11. Mai 1948 wörtlich angeführt: „Die weitere
Zerreißung des wissenschaftlichen und geistigen Lebens wäre ein neues Verhängnis für Deutschland;
• • • die geplante Universität in Westberlin ist von vornherein auf eine Kampflage aufgebaut." Die
Gründungsabsichten werden hier „Abwerbungsaktionen, Sabotageakte und Provokationen" genannt, und zwar vor dem Hintergrund eines „erneuten internationalen Konfliktes; die Welt stand am
Rand eines Krieges". In seiner Abwehr der „drei Provokateure" wird Brugsch die Vorreiterrolle zugeschrieben und das Ganze als „Brugsch-Konflikt" artikuliert. „Nachdem die imperialistischen Kreise
die Erfolglosigkeit ihrer Bemühungen um einflußreiche Positionen in der traditionsreichen Berliner
Universität einsehen mußten, gaben sie sich also mit der Gründung einer zweiten, imperialistischen
231
Zielen verpflichteten Universität zufrieden. Im Dezember 1948 wurde diese in Berlin-Dahlem eröffnet. Lediglich 3 % der Studenten, vier ordentliche und drei Professoren mit Lehrauftrag waren der
reaktionären Propaganda gefolgt." (181) — Aus dem genannten historischen Abstand erkennt man,
wie beide Seiten eine unheilvolle Entwicklung vorausahnten, deren Anfängen sie zu wehren suchten.
Streicht man von der vorliegenden Darstellung manches Einseitige, möglicherweise schon Überholte
ab, bleibt doch die Feststellung, daß Professor Brugsch das Große gestaltete und der Berliner Medizin
ein weiteres Glanzlicht aufsetzen konnte. Dafür gebührt ihm sicherlich Lebensdank.
Christiane Knop
„Berlin und seine Wirtschaft. Ein Weg aus der Geschichte in die Zukunft — Lehren und Erkenntnisse", hrsg. von der Industrie- und Handelskammer zu Berlin bei Walter de Gruyter, Berlin — New
York 1987. 252 Seiten, 25 Abbildungen, Namen- und Sachregister, die Referenten, Literaturhinweise zu jedem Kapitel.
Hier wird in Buchform eine Vortragsreihe publiziert, die wirtschafts- und sozialhistorische Fachleute
vor der Industrie- und Handelskammer zum 750jährigen Jubiläum Berlins gehalten haben. Sie wenden sich an wirtschaftlich interessierte Laien, und es ergeben sich durchweg Lesefreuden, weil manches nur unvollständig Gewußte hier in einen stadtgeschichtlichen Zusammenhang gebracht worden
ist. Einzelne Sachbereiche — wie z. B. bürgerliches Mäzenatentum oder die Organisation moderner
Wissenschaftsinstitute durch die Wirtschaft — sind herausgelöst und einzeln ins Licht gestellt worden.
Manche Entwicklungslinien sind mit anderer Zielrichtung durch die Darstellungen des Berlin-Jubiläums ausgebreitet worden und überlappen sich; sie erscheinen aber immer wieder neu lesbar und
werden deshalb sichtbar, weil oft gebrauchte Klischees wie etwa die vom Primat wirtschaftlicher Egoismen vor echten politischen Problemen hier auf klare Sachverhalte zurückgeführt werden. Das reichhaltige, aber gestraffte Material wird so in seiner Bedeutung evident. Die behutsam erhellende Tatsächlichkeit erscheint der Rezensentin besonders ersichtlich bei den beiden Weltkriegen und der Weimarer Republik. Europäische Reichs- und preußische Geschichte wird in ihrem Durchdrungensein
von Produktionsmöglichkeiten, Marktentscheidungen und wirtschaftlich-sozialen Leitbildern erhellt
und wie in einen Brennpunkt auf Berlin bezogen, was seine Berechtigung sowohl in seinem einstigen
Hauptstadtcharakter wie in seiner finanziellen Kraft hatte. Daraus ergeben sich zwangsläufig Konsequenzen für seine gegenwärtige und zukünftige Funktion, worauf im Gesamttitel die Topoi „Lehren
und Erkenntnisse" weisen. — Die Aufsätze sind überall gut lesbar; der Leser begegnet einer Erzählkunst, die farbige Lebensbilder schafft. Der Text ist in sich gegliedert durch prägnante Fragestellungen; unverhoffterweise sind auch Tenor und Darstellungsabsicht der völlig individuellen Autoren so
einheitlich wie aufeinander abgestimmt. — Es bedarf für den Laien keiner besonderen voraussetzenden Kenntnisse; das Verstehen von wirtschaftswissenschaftlichen Grundbegriffen, Einsichten in das
Funktionieren der Faktoren im Apparat und das Instrumentarium, Krisen und Konjunkturen zu
handhaben, genügen. Die Arbeiten bestätigen die allgemeine Kenntnis, daß marktwirtschaftliche
Aspekte politische Leitbilder wesentlich beeinflussen, sogar Wege zu besonderer Staatsbildung oder
Regierungskunst öffnen können, ohne dem allzu simplen Axiom zu verfallen, die Geschichte sei der
Ablauf von Klassenkämpfen. Da das soziale Umfeld in den Beiträgen weitgehend ausgeleuchtet wird,
kann der Titel zu Recht „den Weg aus der Geschichte in die Zukunft" anbieten.
Da der Wirtschaftsschub durch die hugenottische Einwanderung im Zeitalter des Merkantilismus und
in Wechselwirkung mit der Ausbildung des absolutistischen Staates in den Publikationen der Jahre
1985 bis 1987 oft dargestellt wurde, möge hier die Aufmerksamkeit auf die Tradition seit der frühen
Industrialisierung zwischen 1815 und 1870 und auf alles Spätere gelenkt werden. Wolfram Fischer
fragt in seinem Bild vom Weg der preußischen Residenz zur Industriestadt im 19. Jahrhundert: wer
waren die Unternehmer als treibende Kräfte, wer die zuwandernden Arbeitskräfte? Er lenkt den
Blick auf die städtebauliche Erweiterung der Altstadt Berlin über ihren Mauerbereich hinaus. Damit
faßt er eine komplexe, in sich spannungsreiche Epoche zu einer Einheit zusammen. — Die Sachverhalte : Berlin — Hauptstadt — Industriemetropole — Finanzplatz geben gleichermaßen Anlaß zu kritischer Beleuchtung wie zur kulturgeschichtlichen Vertiefung.
Indem Michael Stürmer („Berlin als Hauptstadt des Reiches, Industriemetropole und Finanzplatz")
die Hauptfaktoren an den Gegebenheiten Ort — Menschen — Zeit festmacht, enthüllt er, wie stark
sich — es ist die Fontane-Zeit — das doppelgesichtige Zeitalter der Hochfinanz und Hochindustriali232
sierung unter die noch als einsträngig gezeichnete Epoche schiebt; somit wird das Bild vielschichtiger.
Den Leser fesselt am meisten die Aussage über die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen, in der Carl
Maria von Weber undWagner, Anton von Werner und Kandinsky, der Wandervogel und Nietzsche,
das kaiserliche Hofzeremoniell und Marxsche Weltsicht nebeneinander existieren. Der Leser wird
nachdenklich beim Hinweis, daß der alte Kaiser im Spiegelsaal von Versailles sich noch an den Fluchtwinter von 1805 über das vereiste Haff erinnerte, während Kandinsky bald seine kühnen Träume entwerfen sollte. Das preußische Maß ist seit der Jahrhundertmitte gesprengt, die Gesellschaft in sich so
revolutionär wie das inkompatible Nebeneinander von — schon fast eklektizistischen — Repräsentationsbauten der neuen Villen neben dem alten Bürgerhaus der Schinkelzeit. Er legt den Finger auf die
Widersprüchlichkeit zwischen dem alten Regierungsviertel und dem Westender Charlottenburg, den
arkadischen Parklandschaften von Potsdam und Glienicke und dem Entstehen der hochmodernen
Kaiser-Wilhelm-Institute. Tiefer greift der Untergang des alten Menschentyps, hervorgerufen durch
die Gründerkrise. Als historische Ursache bezeichnet er das Scheitern der 48er Revolution, die eine
halbherzige Reform von oben nach sich zog. „Und wie kein Gedanke der Jahre von 1789 bis 1848 in
der Reichsgründung verloren war, so blieb auch im letzten Jahrzehnt vor dem großen Krieg kein Gedanke ungedacht, der einst die Weimarer Republik bestimmen sollte und jene Nachkriegszeit schon
zu einer Vorkriegszeit machte. Und vieles, wenn auch nicht alles, geschah in Berlin. Es war die Ungleichzeitigkeit der Epoche, aus der ihr innerer Widerspruch entstand wie ihre Kraft zum Aufbau und
Zerstörung." (90) Hiermit leuchtet Vf. in die großen Ängste der Tieferblickenden hinein. So bleibt
nur das Fazit vom großen Drama zwischen Sedan und der Marne, das er auf den Grundzwiespalt von
Hybris und Nemesis bringt, was besagt, daß auch das wirtschaftliche Geschehen historischer Dramatik unterworfen sein kann. Zwischen den Zeilen wird hörbar, wie Vf. selbst zwischen Anziehungskraft
dieser Epoche und kritischer Distanz steht. Sein Bedauern konzentriert sich auf die Aussage: „Zwischen der Aschermittwochsstimmung von 1873 und dem Zolltarif 1879 endet die liberale Phase der
Reichsgründung. Was blieb, war Berlins Rolle als größte kontinentaleuropäische Industriemetropole,
als deutscher und mitteleuropäischer Finanzplatz—zehn Jahre noch maßgebend für das russische Anleihegeschäft —, alles dies wurde durch die Kräftekonzentration in der Hauptstadt Preußens und des
Reiches noch verstärkt. In dem Dreieck der Macht, der Industrie und des Geldes — wo Köln und
Essen, Frankfurt, Dresden und München längst marginalisiert waren —, stieg Berlin zum Kraftzentrum einer Industrienation auf, die durch Technik und Wissenschaft sich von ihrer Vergangenheit lösen und erlösen wollte." (90)
So fügt sich sinngemäß daran die Abhandlung (Tilmann Buddensieg: „Berlin - Der Standort großer
Industriearchitektur") über die Architekturindustrie an, wo sich ebenfalls im „Kraftzentrum" das
kühne Wollen neuen Bauens spiegelt. — Thomas Nipperdey: „Die Organisation der Wissenschaften
im Wilhelminischen Berlin und ihre Beziehung zur Wirtschaft" steuert einen sonst wenig beachteten,
aber sehr wichtigen Teilaspekt über die Interdependenz von Staat und Wissenschaft im Zeitalter
höchster Technisierung bei. Erstmals hatte der Absolutismus die Faktoren Staat und technische Wissenschaften in einen festen Zusammenhang gebracht. Das Verhältnis vom staatsdienenden Gelehrten
zu einem solchen Gelehrten, der gleichberechtigt neben den Staat trat, kam erst im ausgehenden
18. Jahrhundert auf mit der Gründung von Gewerbeschulen, die den englischen Vorsprung einzuholen bezweckten. Vf. verweist darauf, daß hier noch ein lutherischer Gedanke in blasser Abschattierung lebendig war, wonach der Landesfürst außer seinem Gewissen auch dem Wissen seiner Zeit verantwortlich war. Erst im 19. Jahrhundert verblaßte dieser Anspruch gänzlich; die Professorenschaft,
mündig geworden, wurde — wie im Paulskirchen-Parlament evident—zur Meinungsmacht des liberalen Bürgertums. Erst im Wilhelminischen Kaiserreich hörte dies auf; an ihre Stelle trat das großbürgerliche Mäzenatentum, das dem Staat wiederum Impulse setzte. In gleichem Sinne wird ein Kapitel
über kunstförderndes Mäzenatentum angefügt (Werner Knopp; „Meisterwerke und Mäzene - Die
Rolle privater Kunstförderung in der deutschen und preußischen Hauptstadt"). Auch diese Initiative
wird gewürdigt in Abgrenzung gegen primitiv-marxistische Klischees; Vf. führt das Entstehen der
Nationalgalerie und aller späterer Kunstmuseen aus bürgerlichen Stiftungen vor das Auge des Lesers.
Die nächstwichtige Frage ist die des Wandels der Wirtschaft im sogenannten Kriegssozialismus im Ersten Weltkrieg. Jürgen Kocka beschäftigt sich mit dieser Frage („Kriegssozialismus? Unternehmer
und Staat 1914-1918"). Uns interessiert vor allem das Verhältnis der Industrie zur Sozialdemokratie
und ihre Rolle in der Kriegswirtschaft. Hier werden primitive Vorurteile aufgearbeitet und in die all233
gemeine Kriegssituation und ihren Entscheidungsablauf eingebettet und versachlicht. Des Lesers Interesse wird geweckt, solche Abhängigkeiten erneut zu durchdenken, vor allem den Kriegsablauf als
auch wirtschaftlich unterschiedlich gegliedert zu sehen. Dasselbe Betrachtungsmuster gilt auch für
den Zweiten Weltkrieg; auch hier heben sich ähnliche Prämissen heraus, die sich gleichrangig neben
die politische und militärische Grundfrage stellen: wie weit war man auf einen materialintensiven
Krieg vorbereitet? — Was sich zwischen 1914 und 1918 erst allmählich entwickelt hat, setzt 1939 schon
voll ausgebildet ein, die staatlich gelenkte Wirtschaft; sie erfolgte im Ersten Weltkrieg noch vergleichsweise freizügig, sofern man darunter die Entscheidungsspielräume des Marktes und seiner Anbieter versteht; Darüber hat man sich im Dritten Reich diktatorisch hinweggesetzt. — Nicht allgemein
bewußt ist der Hinweis, daß sich die Inflation schon 1916 durch Halbherzigkeit entwickelte, weil man
aus Rücksicht auf den Rüstungsarbeiter keine drastischen Steuererhöhungen wagte; so überrollte die
Entwertung die Wirtschaft, was sich erst nach der Niederlage voll auswirkte. — Ein weiterer Widerspruch innerhalb des Wilhelminismus wird sichtbar: ein eigentlich schwacher Staat führte einen
mächtigen Krieg. — Auch die Frage der Marktentscheidungen der Wirtschaftsführer gegen oder mit
Hilfe des Staates sowie die ungerechte Verteilung der Lasten werden unbefangen und ohne Schuldzuweisungen abgehandelt. Es erwies sich schon im Kaiserreich als ein wichtiger Faktor, daß Berlin und
Preußen — anders als das Ruhrgebiet — die entscheidenden Kräfte im Produktionsprozeß waren; in
dieser Hinsicht gab es schon keinen Föderalismus mehr! — Der Krieg bedeutete am Ende den Schub
zu Unternehmerorganisationen gegen den Staat, was zwar eine Zusammenarbeit erzeugte, doch eine
voller Reibungen durch die Versuche der Unternehmer, politische und militärische Entscheidungen
zu ihren Gunsten zu beeinflussen, andererseits trotz bewirtschafteter Rohstoffe bis in die späte Kriegsphase verhältnismäßig intakte Produktionsprozesse ermöglichte. Damit bildeten sich die Konfliktlinien der Weimarer Republik vor, der Boden für den Nationalsozialismus wird bereitet. — Das späte,
von der Kriegswirtschaft so favorisierte Kriegsende förderte eher das Anwachsen liberalistischer
Züge; die Unternehmer wünschten sich einen problemlosen Staat, mit dem sich eine leidliche Zusammenarbeit bisher als halbwegs effektiv erwiesen hatte. Doch muß man zugeben: Verbandsorganisationen der Arbeitgeber verhinderten die noch schlimmere Radikalisierung der Revolution von 1918.
Folgerichtig fügt sich in den Zusammenhang die Darstellung von Hagen Schulze („Am Beispiel Weimar: Das Verhältnis von Staat und Wirtschaft"). Die Wirtschaft sei die Überlebensfrage für die Republik gewesen. Vf. bringt die ererbten Tugenden der preußisch-deutschen Tradition in die Betrachtung
ein: Der Staat Preußen hat sich immer als ein sozialer und wirtschaftlicher Ausgleicher gesehen; nur
so wird Preußen — s. Schutzes Braun-Biographie — ein Musterland in der schwachen Republik, was
um so höher zu werten ist, denn in Berlin ballte sich die Wirtschaftskraft und schuf daher die meisten
sozialen Probleme. — Die Anteilnahme des Lesers wird geweckt, wo Vf. die Verflechtung aus Ursachen und falschen Folgerungen zu einer unheilvollen Kette bloßlegt: Der schwache Staat „wurstelt"
weiter in der Krise — die Inflation wird nicht abgewendet — eine weitere Schwächung des Staates ist die
Folge. Vf. spricht über Gewinner und Verlierer, die Scheinblüte der Kredite und schließlich die falsche
Politik Brünings aus außenpolitischen Erwägungen heraus.
Knapp und informativ handelt Wolfgang Schieder („Staat und Wirtschaft im Dritten Reich — Der
Weg in die Katastrophe") als Historiker der NS-Zeit die Probleme ab, die in die Katastrophe geführt
haben. Auch er greift gezielt Klischees auf, wie etwa die, nur die Großindustrie habe Hitler in den Sattel gehoben, was in dieser Vereinfachung falsch ist. Vielmehr hat die Unternehmerschaft selbst durch
die geplante Rüstungswirtschaft hindurch an ihrer Entscheidungsfreiheit festzuhalten versucht. Aber
in der Abfolge der drei Phasen: Schacht — Göring — Speer — kehrte sich das Verhältnis zwischen Staat
und florierender Industrie um: der übermächtige Staat nahm sie bis hin zur Diktatur in seinen Dienst.
Die Katastrophe ist u. a. abzulesen an der Entwicklung vom geplanten „Germania" zum zerstörten
und geteilten Berlin. — Nicht allgemein im Bewußtsein ist, wie stark trotzdem der industrielle Aufschwung bis 1943 war. Was seinen Grund darin hatte, daß es kein einheitliches Wirtschaftskonzept
gab, weil es v. a. Göring an Sachverstand fehlte. Dies verschuf der Industrie Freiräume, mit denen sie
partiell auch den Machtapparat noch beeinflußte, bis der totale Krieg dem ein Ende setzte. Dennoch
erfolgte der Abstieg nach demselben Muster wie im Ersten Weltkrieg, nämlich als ein vergeblicher
Versuch der Mobilisierung der Kräfte mit gleichen Verschleißerscheinungen sämtlicher Ressourcen,
so daß die Vergeblichkeit evident ist, einem materiell so überlegenen Gegner gewachsen zu sein. Vf.
nennt „Unmaß" als letzte Ursache. — Hinter dieser eindeutigen Aussage tritt die Erörterung zurück,
ob Hitlers Blitzkriege taktisch geplant oder ein nützlicher Zufall waren. — Ergänzend zur Faschismus234
Forschung sind die Ausführungen über Görings Wirtschaftsdiktatur mit Hilfe des Vierjahresplans
und der Hermann-Göring- Werke zu lesen, hinter denen jedoch kein sachverständiges Konzept stand
und das außerdem durch die Rivalität Himmler gegenüber gestört wurde. Die Ausbeutung der besetzten Gebiete wird ebensowenig verschwiegen wie die Tatsache, daß sich fast alle großen Wirtschaftsführer zur Mitarbeit mit Göring einließen und daß dennoch keine Tiefenrüstung erreicht war, als
Hitler den Krieg vom Zaun brach. Die anfangs nur verdeckten Mängel traten in dem Maße hervor, je
materialaufwendiger der Krieg wurde.
Das letzte Kapitel, Günter Braun: „Der Wiederaufbau Berlins — Eine Stadt auf dem Wege zu neuen
Aufgaben", ist methodisch ein wenig anders angelegt, weil das Material nur halbwegs historisch zu betrachten ist; denn es gilt ebenso das Gegenwartsbewußtsein als Wirtschaftsfaktor zu analysieren. Die
Deskription des mühsamen Aufstiegs aus der Katastrophe gibt das Material ab für Zukunftserwägungen. Wo die erneute Schlüsselrolle der Stadt erwogen werden soll, sagt Vf. Unbequemes, da er grundlegende Mängel nachweisen kann. In all dem Auf und Ab zwischen Aufschwung und Krisen geht als
Grundgesetz das Modell der Investitionshilfe als Berlin-Förderung hindurch. — Hier wird das VierMächte-Abkommen in neuem Lichte gesehen: Vf. bekennt, daß es zwar eine euphorische Entspannung des allgemeinen politischen Bewußtseins brachte; für die Wirtschaft aber schlug die Enttäuschung durch, daß die Westmächte auf absehbare Zeit die Teilung akzeptiert hatten und Berlin seine
Sonderrolle behielt; er spricht von einer überzeichneten Wirtschaftspolitik. „Jetzt kam zur Geltung,
daß die Zukunft der Stadt nicht allein von ihrer objektiven Sicherheit abhängt, sondern auch davon,
wie ihre Entwicklungsmöglichkeiten subjektiv eingeschätzt wurden." (234)
Wir heißen euch hoffen! ließe sich für diese Zukunftsaussichten sagen, das bedeutet aber neuartige
Anstrengungen, die Vf. mit der Forderung belegt, Berlin müsse wieder ein hochqualifiziertes Dienstleistungszentrum werden, ein Ort kreativer Entscheidungen. Darin fordert er Forschung und Entwicklung als starken Aktivposten, wobei die Hochschulen neue Qualitäten gewinnen und die Erblast
der 70er Jahre abbauen müssen. — In diesem Zusammenhang bringt er Hinweise auf neue Impulse für
stadtplanerische Kunst in Fortsetzung der großen Tradition der zwanziger Jahre. Christiane Knop
Im dritten Vierteljahr 1989
haben sich folgende Damen und Herren zur Aufnahme gemeldet:
Michael S. Cullen, Historiker
Carmerstraße 1, 1000 Berlin 12
Tel. 3125865
(Dr. Wetzel)
Helga Gathemann
Kleiststraße 24, 1000 Berlin 37
Tel. 8018305
(Koepke)
Holger Hübner, Angestellter
Salzburger Straße 3, 1000 Berlin 62
Tel. 7 811190
(Schriftführer)
Reinhard Lang, Stadtführer
Großgörschenstraße 9, 1000 Berlin 62
Tel. 7 817190
(Ingrid Zander)
Dr. Diether Ontrup, Zahnarzt
Nestorstraße 4, 1000 Berlin 31
Tel. 3 23 40 09
(Schriftführer)
Knud Petersen, Architekt
Humboldtstraße 34, 1000 Berlin 33
Tel. 8 9129 85
(Geschäftsstelle)
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Veranstaltungen im IV. Quartal 1989
1. Montag, den 30. Oktober 1989,19.30 Uhr: Lichtbildervortrag mit zwei Projektoren von
Frau Ingeborg und Herrn Oswald Hensler: „Das Berliner Stadtschloß und das Kaiser-Wilhelm-Palais, der Lustgarten, der Schloßplatz, die Schloßfreiheit und das Nationaldenkmal
Kaiser Wilhelms I. und ein Rundgang durch das einstige Schloß".Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg.
2. Montag, den 6. November 1989, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Architekten
Christian Koch: „Das barocke Wohnhaus in der südlichen Friedrichstadt". Bürgersaal des
Rathauses Charlottenburg.
3. Montag, den 27. November 1989, 19.30 Uhr: Vortrag von Frau Dr. Christiane Knop:
„Die Italiensehnsucht bei Joseph von Eichendorff". Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg.
4. Montag, den 11. Dezember 1989, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Dr. Peter
Lemburg: „Friedrich Adler, ein gelehrter Berliner Architekt des 19. Jahrhunderts". Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg.
5. Montag, den 18. Dezember 1989,18.00 Uhr: Vorweihnachtliches geselliges Beisammensein im Restaurant Wilhelmshöhe, Methfesselstraße 43,1000 Berlin 61. Telefonische Anmeldungen unter 8 54 5816 ab 19.00 Uhr bis zum 10. Dezember 1989. Essen nach Wahl.
6. Sonnabend, den 6. Januar 1990, Heilige Drei Könige, 15.00 Uhr: Eisbeinessen mit vorangehender Führung durch Herrn Landeskonservator Professor Dr. Helmut Engel. Anschließend lädt die Schultheiss-Brauerei zu einem Umtrunk ein in den „Gambrinus" der
Schultheiss-Brauerei AG, Betriebsstätte Kreuzberg. Methfesselstraße 28/48, 1000 Berlin 61. Telef. Anmeldungen unter 8 54 5816 ab 19.00 Uhr bis 10. Dezember 1989.
Die Anschrift der Bibliothek lautet ab sofort:
Verein für die Geschichte Berlins
Bibliothek
Berliner Straße 40
1000 Berlin 31
Telefon 872612
geöffnet wie bisher mittwochs 16 bis 19.30 Uhr, Zugang über den 1. Hof.
Fahrverbindungen: U-Bahn Linie 7, Bhf. Blissestraße (West-Ausgangrechts);Omnibusse 1,4,74
und (Haltestelle Uhlandstraße:) 60.
Vorsitzender: Hermann Oxfort, Breite Straße 21, 1000 Berlin 20, Telefon 3 33 24 08.
Geschäftsstelle: Frau Ingeborg Schröter, Brauerstraße 31, 1000 Berlin 45, Telefon 77234 35.
Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13, 1000 Berlin 65, Telefon 45 09-291.
Schatzmeisterin: Frau Ruth Koepke, Temmeweg 38, 1000 Berlin 22, Telefon 3 65 7605.
Konten des Vereins: Postgiroamt Berlin (BLZ 10010010), Kto.-Nr. 433 80-102, 1000 Berlin 21;
Berliner Bank AG (BLZ 100 20000), Kto.-Nr. 03 81801200.
Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr.
1865, Schriftleitung: Günter Wollschlaeger, Kufsteiner Straße 2, 1000 Berlin 62; Dr. Christiane
Knop, Rüdesheimer Straße 14,1000 Berlin 28; Roland Schröter. Beiträge sind an die Schriftleiter zu
senden.
Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 16 DM
jährlich.
Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn, 1000 Berlin 49.
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.
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MITTEILUNGEN
DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS
GEGRÜNDET 1865
86. Jahrgang
Heft 1
Januar 1990
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Der Flensburger Löwe in Wannsee um 1880
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Geschichte und Bedeutung der Flensburger Löwen
Von Hans Konrad
1. V o r b e m e r k u n g
In Heft 4 (1988) erschien ein Artikel, der sich vor allem mit den zeitgeschichtlichen Hintergründen für die Aufstellung des Idstedt-Löwen in Flensburg und dessen Berliner Kopie am
Wannsee befaßte.1 Da dort jedoch, genau wie auch in der übrigen Literatur über die beiden
Denkmäler, einige Daten aus deren unstetem Schicksal offenblieben und da dieses Schicksal
zudem für einen mehrmaligen Wandel des Symbolgehalts dieser Sinnbilder verantwortlich ist,
sollen die wechselvolle Geschichte und Bedeutung der beiden Löwenmale an dieser Stelle
nachgereicht werden.2
2. Chronologie des Idstedt-Löwen
25. Juli 1850: In der Schlacht bei Idstedt besiegen die Dänen die aufständischen SchleswigHolsteiner.
Ende der 50er Jahre: In Dänemark erstarkt der Nationalismus wieder, als dessen Zeichen u. a.
Denkmäler aufgestellt werden.3
6. Juli 1858: Als so in Fredericia als Denkmal des Sieges über die Schleswig-Holsteiner der
„Landsoldat" von Bissen enthüllt wird, regt der eiderdänische Politiker Orla Lehmann an,
auch dem dänischen Oberkommandanten der Schlacht von Fredericia (1849), Frederik
Bülow, ein Denkmal zu errichten.4
23. Juli 1858: Angesichts des sofortigen hohen Spendenaufkommens für das Bülow-Denkmal
schreibt Lehmann an Bissen, der wohl übrigbleibende „Rest sollte als Grundstock für das,
was das Volk in dieser Richtung noch schuldet, gebraucht werden. Das ist meiner Meinung
nach . . . ein Denkmal für die Schlacht bei Idstedt, an dem schönsten Punkt auf dem schönen
Flensburger Friedhof, nämlich eine hohe Säule aus Bornholmer Steinen mit einem Bronzelöwen obenauf."5
1. Dezember 1858: Das Kopenhagener Bülow-Denkmal-Komitee bildet sich in ein IdstedtDenkmal-Komitee um.
21. März 1859: Bissen schreibt einem Freund, er habe jetzt „den Auftrag für das Grab der im
Kriege gefallenen und in Flensburg beerdigten Krieger, einen collosalen Löwen zu modelliren". 6
2. Juli 1859: Da er in Dänemark keinen Löwen findet, nimmt Bissen das im Pariser Jardin des
Plantes gehaltene Tier als Modell für sein Denkmal.7
15. März 1860: Bissen beendet das Gipsmodell des Löwen.8
März 1860 bis Juni 1862: Bissen arbeitet am Bronzeguß für den Löwen.9
25. Juli 1862: Am zwölften Jahrestag der Schlacht bei Idstedt wird das Löwendenkmal im
Rahmen eines großen dänischen Volksfestes auf dem Alten Friedhof in Flensburg enthüllt.10
7. Februar 1864: Im Deutsch-Dänischen Krieg nehmen preußische Truppen Flensburg ein.11
22V23. Februar 1864: Bericht in der Neuen Preußischen Zeitung vom 26. Februar 1864:
„Aus Flensburg berichtet man der Nat.-Z.: In der Nacht vom 22. zum 23. begab sich eine
Anzahl von Personen, meistens Maschinenbauer aus Altona, auf den Kirchhof, um den Löwen
238
• I4p.mn*
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Abb. 1: Kadettenspaß mit dem Löwen
von Idstedt, das verhaßte Denkmal dänischen Hohnes (über die Niederlage der SchleswigHolsteiner im Jahre 1850) mit Hülfe von Hebeln und Flaschenzügen von seinem Sockel zu
heben und auf mitgebrachten Blockwagen nach Altona zu entführen. Schon war das Ungethüm um 2 Fuß auf dem Postamente seitwärts gerückt, wobei der Schwanz ausriß, als Militär
auf dem Kirchhofe erschien und vier der Urheber dieses Handstreichs verhaftete."1
25. Februar 1864: Bismarck, der von diesen Vorgängen aus der Zeitung erfahren hatte, weist
den preußischen Zivilkommissar in Flensburg, v. Zedlitz, an, das Denkmal zu schützen, denn,
so schreibt er: „Es ist ein durchaus unwürdiger Gedanke, die Denkmale früherer feindlicher
Siege, besonders wenn dieselben irgendwie einen künstlerischen Charakter tragen, zu vernichten oder auch nur zu entfernen, und ich erwarte daher mit Bestimmtheit, daß Ewr. Exe. ferner
allen solchen Versuchen mit Nachdruck entgegentreten."13
27. Februar 1864: Schreiben General Wrangeis an v. Zedlitz: „Um jeden Zerstorungs-Versuch des Flensburger Löwen von Seiten des Volkes . . . zu verhüten, befehle ich, daß das
genannte Denkmal sofort von Amts wegen von dem Flensburger Kirchhofe entfernt und an
einem sicheren Ort in Verwahrung genommen werde."14
26. Februar 1864: Telegramm v. Zedlitz' an Bismarck: „Die Abnahme, die durch Abschraubung der einzelnen Stücke und Verpackung derselben in Kisten erfolgt, wird heute beendet."
Da der Krieg noch andauerte, wurde das in Kisten verpackte Denkmal erst einmal im Flensburger Ständehaus untergestellt16, wo es dann in den nächsten Jahren etwas m Vergessenheit
geriet.
239
11. Januar 1867: Möglicherweise weil er nach dem preußischen Sieg über Österreich seinen
eigenen, im Deutsch-Dänischen Krieg errungenen Ruhm etwas verblassen sieht und sich deshalb der Öffentlichkeit wieder ins Gedächtnis rufen will17, macht Wrangel bei v. Zedlitz „die
ganz ergebenste Anfrage..., ob eine Aussicht vorhanden ist, — daß der Loewe von Flensburg
. . . bald hier nach Berlin gesandt werden wird, — denn es ist mein sehnlichster Wunsch, dieses
schöne Meister-Werk, an den sich so viele geschichtliche Rückerinnerungen knüpften, nach
hier einpasiren zu sehen, — doch müßte dieser Zeit-Punkt bald kommen —, denn bei einem
alter von 83 Jahren muß man jeden Tag als den letzten ansehen".18
13. Januar 1867: Antwort v. Zedlitz' an Wrangel: „Die . . . wohl conservirten Theile des
Denkmals harren noch immer der Bestimmung, welche Se. Majestät der König Allerhöchst
sich vorbehalten haben. — Eure Exzellenz selbst würden diese Bestimmung gewiß am leichtesten herbeiführen können." 19
Wrangel scheint diesen Rat, sich mit seinem Anliegen an König zu wenden, befolgt zu haben,
denn am 19. Januar 1867: teilt dieser dem Außenministerium mit: „Es ist meine Absicht,...
(den Flensburger Löwen) im hiesigen Zeughause als Trophäe aufstellen zu lassen. Demgemäß
beauftrage ich Sie, die schleunige Beförderung des genannten Denkmals nach Berlin zu veranlassen."20
11. Feburar 1867: Schreiben des Außen- an das Kriegsministerium über den noch in Flensburg befindlichen Löwen: „Die Verpackung der Figur und der Medaillons des Sockels ist
bereits bewirkt, und wird die Sendung an das hiesige Artillerie-Depot in diesen Tagen abgehen."
27.März 1867: Mitteilung des Kriegs- an das Außenministerium: „ . . . daß nach einer
Anzeige des hiesigen Artillerie-Depts. die einzelnen Theile des Löwendenkmals excl. Sockel
hier eingetroffen sind."
1. Mai 1867: Allerhöchste Kabinetts-Ordre König Wilhelms, „ d a ß . . . das aus Flensburg hierher geschaffte, einen Löwen darstellende Denkmal in der Mitte des inneren Hofes des hiesigen
Zeughauses aufgestellt (wird)." 21
Anfang Februar 1868: Aufstellung des restaurierten Löwenmals im Zeughaus. 22
9. Februar 1868: Bericht im Soldatenfreund vom Februar 1868: „Am Mittag des 9. Februar
besichtigte ihn (den Flensburger L ö w e n ) . . . Se. Majestät der König . . . Damit ist das Zeughaus auch wieder dem Besuche des Publikums eröffnet worden." 23
25. Oktober 1877: Bericht des Artillierie-Depots an das Kriegsministerium „betreffend die
Entfernung zweier Gegenstände aus dem neu einzurichtenden Zeughaus" (das zu einem
repräsentativen Museum umgestaltet werden sollte), „deren ferneres Verbleiben daselbst
bereits Gegenstand unendlicher Erörterungen geworden ist": „Der Löwe zeichnet sich mehr
durch seine colossalen Dimensionen als durch Formenschönheit aus und würde schwerlich
einem Platz der Residenz zur Zierde gereichen. Diese Gründe sind es auch, welche es notwendig erscheinen lassen, den Löwen bei der neuen Errichtung des Zeughauses nicht zu verwenden."
25. Januar 1878: Vermerk in den Akten des Kriegsministeriums: „Seine Majestät haben die
vorgeschlagene Aufstellung des Löwendenkmals auf dem Hofe der Central-Cadetten-Anstalt
genehmigt."24
1. Mai 1878: Bericht des Zehlendorfer Anzeigers vom Sonntag, dem 5. Mai 1878, aus Lichterfelde: „Der Flensburger Löwe, der bisher auf dem Zeughaushofe in Berlin stand, ist am Mittwoch nicht ohne große Schwierigkeit in zwei Theilen von seinem Sockel abgehoben und mittelst starker Rollwagen nach seiner neuen Bestimmung, der Cadetten-Anstalt hierselbst
gebracht."
240
Seit 1874: Zahlreiche dänische Bitten an die deutsche Regierung um Rückgabe des IdstedtLöwen (u. a. mit dem Hinweis, daß man in Berlin doch auch noch eine Kopie davon habe, mit
der man sich begnügen könne 25 ), die jedoch alle ohne Ergebnis bleiben.
4. Juli 1945: Als die Amerikaner in Berlin einziehen und von den Sowjets u. a. auch die Lichterfelder Kaserne übernehmen, entdeckt der Korrespondent der dänischen Zeitung Politiken,
H. V. Ringstedt, dort während einer Parade den Idstedt-Löwen.26
September 1945: Sowohl Ringstedt als auch die dänische Regierung wenden sich mit der Bitte
um Rückgabe des Löwen an General Eisenhower, der ihr entspricht.27
3. Oktober 1945: Abtransport des Löwen mit einem amerikanischen Militärlaster.
5. Oktober 1945: Ankunft des Löwendenkmals in Kopenhagen.28
8. Oktober 1945: Zum Schutze des im Kopenhagener Zeughaus aufgestellten Löwen wird
eine Militärwache eingerichtet, die jedoch bald zu einem Ehrenposten wird und bis zum
12. Dezember 1947 besteht.29
20. Oktober 1945: Feierliche Übergabe des Denkmals durch die Amerikaner an den dänischen König im Hofe des Kopenhagener Zeughauses30, wo es seither zu besichtigen ist.
Seit 1945: Zahlreiche Bitten von deutscher und dänischer Seite um Wiederaufstellung des
Löwen in Flensburg, die jedoch alle ohne Ergebnis bleiben.
3. Chronologie des Wannseer Löwen
1869: Auf einem von ihm 1863 erworbenen Gelände am Wannsee beginnt der Berliner Kommerzienrat Wilhelm Conrad mit dem Bau der (Villen-)„Colonie Alsen", im Rahmen deren
landschaftsplanerischer Gestaltung er seit 1871/72 auch einen Park, „Die Schweiz", anlegen
läßt31, für die er bei der Berliner Zinkgießerei Pohl einen Abguß des Löwendenkmals in Auftrag gibt.32
l.Juli 1874: Bericht der Neuen Preußischen Zeitung: „Eine Zinkguß-Copie des Flensburger
Löwen, der jetzt im hiesigen Zeughause steht, soll in der Villen-Colonie am Wannsee auf
einem freien Platze aufgestellt werden. Die Copie . . . ist auf Kosten des Consuls v. d. Heydt
und des Commercienrathes Conrad angefertigt worden."
23. September 1874: Bericht der Vossischen Zeitung: „Vollendet aber ist jetzt das Löwenmonument, mit welchem der Geheime Commercienrath C o n r a d . . . die Höhe vor dem Wasserthurm und den diesen umgebenden Bergpark schmückte . . . Das mächtige, wenn auch
unschön sich aufbäumende Thier blickt über den See hochragend hinaus."
1906: Nach dem Tod Conrads (1899) wird der Löwenpark durch seine Erben an die Landgesellschaft Wannsee verkauft, die das Gelände parzelliert, ohne dabei Rücksicht auf den Platz
des Denkmals zu nehmen, so daß dieses bald ziemlich eingeengt steht.33
3. Mai 1914: Bericht im Berliner Lokal-Anzeiger: „Das Denkmal ist heute. . . vernachlässigt
und seine Umgebung verwildert."
1919: Diebstahl von Schwanz und Inschrift des Denkmals.34
1923: Löwenpark und -denkmal werden von der Landgesellschaft Wannsee der Stadt Berlin
überlassen.35
1925/26: Bemühungen des Kriegervereins Wannsee, „den ,Flensburger Löwen', der durch
Vernachlässigung und Diebeshände in Verfall geraten ist, wieder in einen würdigen Zustand
zu versetzen"36, scheitern an den zu hohen Kosten (1000 RM).
241
1. November 1934: Schreiben des Auswärtigen Amtes an den Berliner Oberbürgermeister mit
der Mitteilung, in der dänischen Presse sei über das Denkmal berichtet worden, es befinde
„sich jetzt in völlig verwahrlostem Zustande".37 — Wenngleich dies auch von der Berliner Verwaltung bestätigt werden mußte, änderte das Schreiben - im Gegensatz zum folgenden - doch
nichts am Zustand des Löwenmals:
19. Februar 1938: Schreiben des Generalskommandos III. Armeekorps an den Berliner Oberbürgermeister mit der Aufforderung, „für sachgemäße Instandsetzung und Pflege" des Wannseer Löwendenkmals, „welches durch einen Blechzaun abgesperrt... (und) im übrigen durch
Strauchwerk verwachsen ist, Sorge tragen zu wollen".38
Ende Oktober 1938: Umsetzung des Löwen auf seinen heutigen Platz in Heckeshorn.39
17. April 1989: Eintragung des Wannseer Löwendenkmals in die Schutzliste des Landeskonservators.40
4. Bedeutung der Flensburger Löwen
In seiner 1898 erschienenen Denkschrift über Bissen erwähnte der dänische Kunsthistoriker
Philip Weilbach auch dessen 1864 in Flensburg errichtetes Denkmal. Dabei handelte es sich,
so schreibt er, um „einen mächtigen Löwen, sitzend und mit dem Blick nach Süden gewandt.
Es war, was man in der Sprache der Kunst eine ,allegorische' Darstellung nennt, d. h., die Figur
wird nicht um ihrer selbst willen betrachtet, sondern als Sinnbild, als Ausdruck eines menschlichen Gedankens oder Gefühls."41 Weilbach erläutert allerdings nicht, welcher Gedanke oder
welches Gefühl durch die sitzende Löwenfigur versinnbildlicht werden soll —, vielleicht weil er
glaubte, die allgemeine Kenntnis ihrer Symbolik voraussetzen zu können, vielleicht aber auch,
weil es nie eine allgemein anerkannte Bedeutung des Löwenmals gegeben hat, sondern dieses
vom Zeitpunkt seiner ersten Konzeption hinsichtlich seines Sinngehalts stets heftig umstritten
war und zu Kontroversen Anlaß gab, die heute, 125 Jahre nach seiner Abnahme, zwar quantitativ abgenommen haben, in ihrer Qualität den ursprünglichen aber durchaus noch gleichen
und die weiterhin verhindern, daß das Denkmal an seinem ersten Standort in Flensburg wieder
aufgestellt wird.
5. Bedeutung der Errichtung in Flensburg
Wie eingangs dargestellt, war in einer national- und denkmalbewußten Zeit der auslösende
Faktor für die Entstehung des Flensburger Löwen der auf dänischer Seite geäußerte Gedanke,
daß man sich für den bei Idstedt über die Schleswig-Holsteiner errungenen Sieg gewissermaßen noch ein Denkmal „schuldig" sei. Man wollte, so schrieb das daraufhin gegründete
Idstedt-Denkmal-Komitee am 9. Dezember 1858 an eine Reihe bedeutender Männer in ganz
Dänemark, einen Nationalgedenkstein „an die siegreichen Taten, durch welche Schleswig wiedergewonnen und dessen Besitz behauptet wurde" und der deshalb auch in einem Landesteil
errichtet werden sollte, „der der eigentliche Gegenstand des Kampfes war".42
Wenn Bissen andererseits etwas später schrieb, er habe „den Auftrag für das Grab der im
Kriege gefallenen und in Flensburg beerdigten Krieger, einen collosalen Löwen zu modelliren"43, so deuten sich schon bei dieser ersten Konzeption des Denkmals unterschiedliche Auffassungen hinsichtlich dessen an, was es zum Ausdruck bringen sollte. So lehnten es denn von
den zehn Männern im Herzogtum Schleswig, an die sich das Denkmal-Komitee im Dezember
242
Abb. 2:
Umsetzung
des Wannseer Löwen
im Oktober 1938
1858 ebenfalls gewandt hatte, auch sechs ab, den Aufruf zu unterzeichnen, denn so argumentierten sie, es sei ihnen durchaus nicht klar, ob das geplante Denkmal „ein Nat.onaldenkmal für
den Sieg oder ein Nationaldenkmal für die Gefallenen"« sein sollte, und sie äußerten die
Befürchtung, daß ein Siegesmal den Riß, der das Volk spaltete, nur vertiefen wurde.
Bei der volksfestartigen Einweihung des Denkmals am 25. Juli 1862 (dem zwoffien Jahrestag
der Schlacht bei Idstedt), der etwa 7000 Dänen beiwohnten, waren d.e Worte des Hauptredners Professor H. N. Clausen zwar insgesamt eher gemäßigt. So sagte er u. a.: „So stehst du,
edles Siegesdenkmal, bei dem letzten unserer Heldengräber, errichtet von einem dankbaren
Volk. Du stehst nicht herausfordernd - Dänemarks uraltes Reich ist nicht durch Raub zusammengerafft, und Dänemarks Politik hat nichts gemein mit der eines gefräßigen Raubtieres
aber wie du aus Dänemarks und Schleswigs Wappenschild genommen bist, so w,rst du zu
treuer, heldenmütiger Verteidigung gegen jeden auffordern, der unseren Grenzfrieden bre243
chen wird." Doch sang man auch Lieder, in denen zum Ausdruck gebracht wurde, daß das
Löwenmal für den Stolz und den Ruhm stand, die den Dänen wegen ihres Sieges in der
Schlacht bei Idstedt gebührten: „Wie kühn steht jener Felsenblock / Mit stolzem Löwenzeichen. / . . . / Weit schallen soll der Ruf: /Mit uns war Gott im Streit, / Stahl legt er in den
Arm, / Des Löwen Mut in die Brust / und Glanz uns in den Nachruhm!" Ein anderes Lied
betonte die gerechte Niederlage der aufständischen Schleswig-Holsteiner in dieser Schlacht:
„Noch hat Dänemarks alter Löwe / Nie gescheut die Stärkeprobe! / Noch er springen kann im
Zorne / Ueber Idstedts Heide!" 45
Von deutscher Seite erfolgte in Schleswig-Holstein sofort eine heftige Reaktion. In Zeitungsberichten hieß es, die Einweihungsfeier des Denkmals sei den Flensburgern ,oktroyiert' worden und .reiner Quark' gewesen46, und schon zwei Tage später kam es bei einem deutschen
Sängerfest in Husum, an dem auch etwa 650 Flensburger teilnahmen, zu so heftigen Meinungsäußerungen über das „Löwenfest", daß einem Redner schließlich sogar das Wort entzogen und kurze Zeit später der Flensburger Gesangverein aufgelöst wurde.47 Zugleich verspottete man den Bronzelöwen als „geschorenen Pudel" und als „Flensburger Laubfrosch".48
Da für viele deutsch gesinnte Schleswig-Holsteiner ihre Unterdrückung durch Dänemark
durch die Errichtung des Löwendenkmals noch einmal sinnfällig zum Ausdruck kam, mußte
sich für sie auch die erhoffte Abschüttelung der dänischen Herrschaft in einer ähnlichen symbolischen Handlung manifestieren. So hieß es in einem Flugblatt, das wahrscheinlich zu
Beginn des Krieges von 1864 erschien: „Zieht ihr dereinst als Sieger in Flensburgs Mauern ein,
/ Dann, Schleswig-Holsteins Krieger, bemächtigt Euch des Leu'n. / Zertrümmert seine Glieder und schlagt ihn kurz und klein, / Doch schonet seinen Podex, den schickt den Dänen ein, /
Das soll ihr Löwenanteil an Schleswig-Holstein sein."49 Dementsprechend versuchte dann ja
auch der Altonaer Maschinenbauer Lorentzen das Denkmal von seinem Platz zu entfernen,
um es gegen Entgelt in deutschen Städten öffentlich zur Schau zu stellen50, und das Eckernförder Tageblatt frohlockte nach dem Sieg über Dänemark: „Aus deinen Klauen, Leu! / Ist
Schleswig-Holstein frei!!"51
6. Bedeutung als Trophäe für Deutschland
Erstmals als Trophäe bezeichnet wurde das Löwenmal in der Anordnung König Wilhelms
vom 19. Januar 1867, in der dieser befahl, es im Berliner Zeughaus aufstellen zu lassen (in dessen Akten es im übrigen auch häufiger unter dieser Bezeichnung geführt wird). In der Öffentlichkeit begann es schon bald eine entsprechende Bedeutung anzunehmen. So wies der Soldatenfreund vom Februar 1868 seine Leser daraufhin, daß der Flensburger Löwe im Zeughaus
„jetzt den Berlinern zur Ansicht, den preußischen Kriegern zum Andenken aufgestellt ist".52
Nach seiner Umsetzung in die Lichterfelder Hauptkadettenanstalt galt „das Beutestück aus
dem Dänischen Kriege"53 dort als „ein würdiges Pro memoria für die heranwachsende Kriegsjüngerschaft", das „das siegreiche Preußenschwert 1864 den Dänen . . . von dem eroberten
Boden davongeführt hat".54 So betonte der Kommandeur der Hauptkadettenanstalt, Oberst
v. Jabrowski, 1912: „Diese Denkmäler einstiger, durch Uneinigkeit verursachter, deutscher
Schwäche und preußischer Kraft und Macht, welche bald darauf die getrennten Stämme unter
der Kaiserkrone zu vereinen gewußt hat, stellen ein willkommenes Geschenk dar, gerade hier,
wo die heranwachsende Jugend angesichts des Löwendenkmals immer wieder erneut darauf
hingewiesen wird, ihrerseits dereinst dafür einzustehen, daß Tage, wie die, in denen jenes
244
Denkmal in Flensburg enstand, niemals wiederkehren."55 (Wie spätere, unten zitierte Äußerungen über die Wannseer Kopie des Löwenmals zeigen, behielt es diese nationalistische
Bedeutungskomponente noch lange bei.)
7. Dänische Bewertung des Löwen als Kriegstrophäe
Sowohl die Niederlage Dänemarks in dem Krieg, den Preußen und Österreich gegen es geführt
hatten, wie auch die Fortführung des Idstedt-Löwen nach Berlin bewirkten, daß dieser im
dänischen Bewußtsein eine neue Bedeutungskomponente annahm. War er noch 1862 als
Siegesmal eingeweiht worden, so schrieb ein dänisch gesinnter Schleswiger 1883 dazu im
Rückblick: „ . . . mit einem herausfordernden und trotzigen Blick wandte er den Blick nach
Süden, als wenn er Wiedervergeltung und Demütigung herbeirufen wollte — und desto schlimmer! wie wir alle wissen, hat er sie nicht vergebens herbeigerufen... Er stand zugleich als Symbol des Uebermuts und einer wenig vorausschauenden Sorglosigkeit. Als die Deutschen die
Macht dazu hatten, schlugen sie ihn in Stücke und führten seine Reste nach Berlin."56 Und über
die Fortführung und Aufstellung des Löwendenkmals im Berliner Zeughaus heißt es in einem
gegen die Deutschen gerichteten dänischen Gedicht dieser Zeit: „Dort sitzt er jetzt als Denkmal stolz / für all das Unrecht, das Ihr gewollt. / Dort sitzt er jetzt als Monument / für den
Volksgeist, den Ihr geschänd't." 57
Wenn auch die zahlreichen Versuche, das Denkmal nach Dänemark zurückzuführen, erfolglos
blieben, so verringerte sich doch nicht die Bedeutung, die man seinem „National-GrabmaT
dort weiterhin beimaß (wie der Idstedt-Löwe in den Dreißiger Jahren von einer dänischen Zeitung genannt wurde 58 ). Diese verschärfte sich vielmehr in dem Maße, wie sich das Land durch
das Dritte Reich bedroht und zur Selbstbehauptung gezwungen sah. So bezeichnete es ein
1940 erschienenes Buch wieder ausdrücklich als Bissens „stolzes Siegesmal", das durch den
„Frevel der Preußen" entweiht und nach Berlin geschafft und dort in einer Kaserne so aufgestellt worden sei, daß es, wie der Autor gewiß nicht ohne politischen Hintersinn bemerkt, jetzt
„nach Nordwesten schaut".59 Dänische Touristen dagegen, die sich in Berlin aufhielten, spotteten, der Löwe wende deshalb sein Haupt zur Seite, damit er nicht mitansehen müsse, wie vor
ihm in der Adolf-Hitler-Kaserne SS-Truppen marschierten.60
8. Bedeutung der Rückgabe an Dänemark 1945
Nicht nur die Rückgabe des Denkmals durch die Amerikaner, sondern bereits der Verlauf des
Rücktransports selbst erschien den beteiligten Dänen voller Symbolik. So weist der Korrespondent von Politiken, der den amerikanischen Militärlaster mit dem Löwen von Berlin nach
Kopenhagen begleitete, ausdrücklich darauf hin, daß als Treff- und Ausgangspunkt für den
Konvoi am 3. Oktober 1945 der bei Dreilinden aufgestellte sowjetische Panzer ausgemacht
worden war. Dort, so schreibt er bedeutungsvoll, „trafen sich das alte dänische Denkmal und
Berlins neuestes Monument". 61 Und im Laufe seiner ausführlichen Beschreibung des Transports durch das zerstörte Deutschland versäumte er auch nicht den Hinweis auf den kleinen
Wegweiser nach Idstedt, an dem der Konvoi bei Sonnenuntergang vorüberfuhr.
Auch die Rückgabe des Denkmals an die Dänen durch die Amerikaner war für beide Seiten
voller Bedeutung. In seiner vor König Christian X. gehaltenen Ansprache wies der Botschafter
der Vereinigten Staaten, die zusammen mit den anderen Westalliierten erst wenige Monate
245
zuvor Dänemark befreit hatten, so ausdrücklich darauf hin, daß mit dem Löwenmal auch das
„Symbol dänischer Tapferkeit und Selbständigkeit heute Eurer Majestät und dem dänischen
Volk zurückgegeben wird". Ähnlich betonte der dänische Verteidigungsminister: „Über viele
Jahre hinweg ist es unsere Hoffnung gewesen, daß der Idstedt-Löwe aus seiner Gefangenschaft
in Deutschland befreit werden würde. Dieser befreite Löwe berichtet vom Kampf für Recht
und Ehre, und er ist ein Symbol für dänischen Mut und Unerschrockenheit.. . Der Landsoldat
und der Idstedt-Löwe, das sind unsere Geschichte, unser Schicksal."
Dieser nun auch sinnbildlich wiederhergestellten Ehre und Selbständigkeit Dänemarks entsprechend, sah der Berichterstatter von Politiken auch „den majestätischen Löwen, stolz und
hoch aufragend" und „mit vornehmer Ruhe und Überlegenheit"62, von seinem Holzsockel auf
die im Kopenhagener Zeughaushof stattfindende Rückgabezeremonie herabblicken.
9. Bedeutung einer Wiederaufstellung in Rensburg
König Christian sagte während dieser Feierlichkeit: „Frederik VII. und seine Generation
schenkten Flensburg den Idstedt-Löwen. Und wenn es die Umstände zulassen, dann, so
scheint es mir, soll der Löwe auch wieder in Flensburg als Denkmal an die vergangenen Zeiten
und für diejenigen aufgestellt werden, die im Krieg von 1848—50 ihr Leben opferten."63 Seither sind sowohl von deutscher wie von dänischer Seite zahlreiche Versuche der Wiederaufstellung des Denkmals in Flensburg unternommen worden, die jedoch alle ohne Erfolg blieben.
Die Zeit sei gekommen, so argumentierten auf beiden Seiten der Grenze die Befürworter einer
Rückführung des Löwen an seinen ursprünglichen Standort, „durch eine solche Tat symbolisch auszudrücken, daß der Grenzkampf vorüber sei. Nicht als Zeichen der bitteren deutschdänischen Kämpfe des vergangenen Jahrhunderts, sondern als Wahrzeichen für die deutschdänische Verständigung unserer Tage, für die Zusammenarbeit Dänemarks mit dem Lande
Schleswig-Holstein, möge der Löwe fortan gesehen werden."64 Darüber hinaus, so betont eine
Stimme aus Südjütland, könne eine Wiederaufstellung des Löwen in Flensburg „unterstreichen, daß dieser Landesteil ein Produkt von gleichviel dänischer wie deutscher Kultureinwirkung ist".65 Von dänischer Seite wurde außerdem geltend gemacht, in einer Zeit, in der es zu
einer Wiederannäherung beider Staaten auch als gemeinsame Mitglieder der NATO komme,
könne eine Rückführung des Denkmals nach Flensburg zudem „ein sichtbares Pfand für die
rechte seelische Einstellung zur Verteidigungsgemeinschaft sein, mit welcher ein neues Blatt in
der Geschichte unserer beiden Völker geschrieben wird".66
Weniger neu, dafür aber offenbar stärker sind dagegen die Argumente derjenigen, die sich
gegen eine Wiederaufstellung des Denkmals an seinem ursprünglichen Standort in Flensburg
aussprechen. Auf eine im heutigen Bewußtsein fortlebende Vergangenheit deutet so beispielsweise eine dänische Stimme, die geltend macht, daß „die Zerstörung und Fortführung des
Idstedt-Löwen im Bewußtsein der heutigen Menschen weiterhin eine traurige Erinnerung an
den Vandalismus, die Pietätlosigkeit und die mangelnde Ritterlichkeit mit einem gefallenen
Gegener ist".67 Deshalb ist es für diese Seite ebenso wenig einzusehen, warum das Denkmal
nach Deutschland gebracht werden sollte, wie auch gewisse deutsche Kreise, die es weiterhin
als „Siegesmal der Dänen über die Deutschen" betrachten, die Frage verneinen: „Kann man
aber den Schleswig-Holsteinern den Löwen in Flensburg zumuten?" 68 (Eine Einstellung, die
der Berlingske Tidende vom 23. Juli 1987 „unbegreiflich " erscheint.)
Wenn daher, wie Der Nordschleswiger vom gleichen Tag schreibt, in gewissem Maße weiterhin gilt: „Das Denkmal kündet noch heute in seiner zeitgegebenen Situation von der Proble246
matik der Volkstumsfrage, die das Bewußtsein gemeinsamer geschichtlicher Überlieferung
(immer noch) überdeckt" 69 , so wären beide Seiten unter diesen Umständen in der Tat gezwungen, sich mit einer Wiederaufstellung des Löwen in Flensburg zugleich „zu einer gegen früheres geschichtsbedingtes Denken revolutionierenden Tat zu bekennen"70 — eine Handlung, die
offenbar weiterhin noch nicht ausgeführt werden kann.
10. B e d e u t u n g des W a n n s e e r Löwen
Die 1874 angefertigte Kopie des Flensburger Löwen hatte für ihren Auftraggeber Wilhelm
Conrad eine ebenso dekorative wie funktionale Bedeutung, da sie als weithin bekanntes71
Andenken an den siegreichen Krieg gegen Dänemark die von ihm angelegte und nach einem
Ereignis dieses Feldzugs benannte Villenkolonie Alsen in doppeltem Sinne abrundete. Das
Denkmal schmückte dort ebenso den mit einem kleinen künstlichen See versehenen Bergpark
„Die Schweiz", wie es als sichtbares Zeichen die Siedlung mit ihrem namensgebenden Ereignis
verband, und schließlich war es noch ein Zeichen der Verehrung, die Conrad dem Prinzen
Friedrich Karl entgegenbrachte, der sich im Deutsch-Dänischen Krieg bei der Erstürmung der
Düppeler Schanzen verdient gemacht hatte und dessen Jagdschloß Dreilinden sich unweit der
Villenkolonie und des Löwenparks befand.72
Aufgrund seiner direkten Verbindung mit den deutsch-dänischen Kämpfen in der Mitte des
19. Jahrhunderts behielt der Wannseer Löwe, genau wie das in Lichterfelde stehende Original,
noch lange eine nationalistische Bedeutungskomponente. So schrieb die Wochenschrift Der
Bär am 12. März 1898 (auf S. 131) über diesen Zusammenhang und den damit verbundenen
neuen Symbolgehalt des Denkmals: „Der im stolzen Gefühl des Sieges ruhende Löwe,
dereinst ein dänisches Siegeszeichen, jetzt ein Wahrzeichen für die Befreiung Schleswig-Holsteins vom Dänenjoche, stellt daher inmitten einer Gegend, an welche sich die verschiedenartigsten Erinnerungen an den Prinzen Friedrich Karl, den Sieger von Düppel und Alsen,
knüpfen." Entsprechend gesinnte Kreise betrachteten auch noch „das Kolossalbild eines sitzenden Löwen als Siegesmal, die Unterjochung der Nordmark verkörpernd"73 bzw. als
„Denkmal an den beginnenden Aufstieg des Vaterlandes"74, und dementsprechend war es
auch der Kriegerverein Wannsee, der sich in den zwanziger Jahren dafür verantwortlich fühlte,
„den .Flensburger Löwen', der durch Vernachlässigung und Diebeshände in Verfall geraten
ist, wieder in einen würdigen Zustand zu versetzen"75, was ihm aus finanziellen Gründen allerdings nicht gelang.76
Erst nach der „Machtergreifung" wurden hier wieder gewisse Hoffnungen gesehen, wenngleich damit auch abermals eine neue Bedeutung verbunden war. So schrieb das Zehlendorfer
Bezirksblatt vom 23. Mai 1933, „entsprechend den Richtlinien des Reichskanzlers Adolf
Hitler" würden nun „mit frischem Zupacken . . . allerorten die der nationalen Erhebung
zugrundeliegenden Ideen in Taten umgesetzt... Auch für Wannsee ergibt sich... die Pflicht,
• •. seinen Teil zum Aufstieg bezutragen", und hierzu dienlich sei „die Versetzung des Flensburger Löwen" - eine Tat, die allerdings noch ein halbes Jahrzehnt auf sich warten ließ und
dann auch nur durch Druck von außen zustande kam.
Neben seiner politischen begann der Wannseer Löwe auch schon bald nach seiner Aufstellung
eine lokale und eine touristische Bedeutung anzunehmen. Da man ihn „gleichsam als Wächter
vor der Colonie Alsen stehen" sah, wurde er allmählich zum „Symbol des neuen Ortsgebietes"77, zu dessen 25jährigem Bestehen dementsprechend auch 1888 „ein großes Feuerwerk am
Flensburger Löwen"78 stattfand.
247
Seit W. Riehls „Kiessling's Touristen-Führer durch Potsdam und Umgebung" gelobt hatte,
von der „Nachbildung des Flensburger Löwen" genieße man „prächtige Aussichten über den
See bis nach Spandau" (Berlin 1882, S. 38), fehlte das Denkmal in kaum einem Reieführer dieser Gegend. Allerdings mehrten sich schon bald Bemerkungen, daß dort „jetzt schattiger
Laubwald . . . (das) Löwendenkmal vollständig einhüllt"79, welches „aus dunklem Grün herausschaut"80, bis schließlich nur noch der Hinweis auf den „Hügel mit leider verwachsender
Aussicht, welcher den Flensburger Löwen trägt"81, blieb.
War „das trutzige und schöne Bildwerk" vor dem Zweiten Weltkrieg auch noch von „national
Denkenden" 82 als ein ,Denkmal an den beginnenden Aufstieg des Vaterlandes' gesehen worden, so ist nach dem Krieg „seine Bedeutung als Heldenmal verlorengegangen".83 Denn, so
schrieb der Telegraf: „Was sich um die Mitte des vorigen Jahrhunderts zwischen Dänemark
und Schleswig-Holstein zutrug, ist längst Geschichte geworden und tut heute keinem mehr
weh."85 Und der Tagesspiegel bemerkte über den Wannseer Löwen: „Nichts Gefährliches
liegt in i h m ; . . . und der Spaziergänger von heute nimmt die kriegerische Belehrung über den
deutsch-dänischen Konflikt achselzuckend h i n . . . , und wenn er sich — zu Füßen des saloppen
Löwen — auf eine Bank setzt und den Blick über die niedrige Balustrade streifen läßt, dann mag
er getrost auf Preußens Glorie verzichten."85
11. B e d e u t u n g der Flensburger L ö w e n heute
Wenn für die Beteiligten nördlich und südlich der deutsch-dänischen Grenze das Löwenmal
bisweilen auch noch heute ein lebendiges Stück Geschichte mit einer ähnlich polarisierenden
Wirkung wie zu seiner Entstehungszeit ist, so hat es insgesamt doch viel von seiner früheren
aktuellen Symbolkraft verloren. Auf die Entstehung des Denkmals zurückblickend, sagte so
etwa der Direktor des Kopenhagener Zeughausmuseums anläßlich des 125. Jahrestages der
Aufstellung des Löwen in Flensburg lediglich: „Der Löwe steht als ein Symbol für die Umwälzungen jener Zeit." 86 Noch distanzierter äußert sich ein Berliner Historiker: „Der Flensburger
Löwe wurde einst als Siegessymbol errichtet. Heute jedoch, nach zwei verlorenen Weltkriegen
und nach dem Verlust der deutschen Einheit, ist dieses Denkmal — auch durch sein eigenes
Schicksal — zu einem Mahnmal für die Wechselfälle der deutschen Geschichte geworden."87
Damit liegt die Bedeutung, die ihm heute beigemessen wird, eher in dem über sich selbst hinausweisenden wechselvollen Schicksal des Denkmals als in einem ihm noch innewohnenden
eigenen und ursprünglichen Symbolgehalt. Da der Flensburger Löwe an dem Ort, für den er als
Sinnbild gedacht war und dessen Namen er trägt, keine zwei Jahre stand und ihm seither über
„125 Jahre im Exil"88 beschieden gewesen sind, sind es auch eher die Zufälligkeiten der zeitlichen und örtlichen Umstände seiner jeweiligen Aufstellungen gewesen, die seine Bedeutung
stets mit bestimmt haben. Ernsthaft als Stellplatz für den Idstedt-Löwen erwogen oder vorgeschlagen worden waren jedoch auch noch das Hermanndenkmal (1864), das Berliner Rathaus
(1864), die Hasenheide (1878), Idstedt (1934) sowie nach 1945 neben zahlreichen Plätzen in
Kopenhagen auch noch mindestens sieben weitere Orte in Dänemark (u. a. Düppel). Und als
weitere Wannseer Aufstellungsorte für die Kopie des Löwen waren das Große Tiefenhorn
(1914), das „Rehwäldchen" (1914), der Sportplatz, der Bahnhofsvorplatz, der Wilhelmsplatz,
die Wannseebrücke sowie eine künstliche Insel in der Nähe des Westufers des Wannsees in der
Diskussion (alle 1936—38). Angesichts der changierenden Symbolik, die sich bereits durch die
wechselnden tatsächlichen Aufstellungsorte des Denkmals ergeben hat, steht zu vermuten,
daß mit allen diesen vorgeschlagenen weiteren Stellplätzen eine entsprechende Menge neuer
248
Bedeutungsvarianten verbunden gewesen wäre. Wie sehr durch die eher zufällige Wahl eines
Standorts ein Denkmal auch noch im nachhinein und vollkommen unvorhersehbar mit Symbolkraft und Inhalt gefüllt werden kann, beweist die Aufstellung des Löwen an seinem jetzigen
Standort in Heckeshorn, dem (vermutlich auch aus Kostengründen) 1938 der Vorzug vor den
anderen fünf damals vorgeschlagenen Wannseer Plätzen gegeben wurde. So hat der Landeskonservator die Eintragung des Flensburger Löwen soeben u. a. mit der Begründung gerechtfertigt, das Denkmal erhalte „durch seinen heutigen Aufstellungsort in unmittelbarer Nachbarschaft der Villa Marder, der Villa der sog. Wannseekonferenz, wo 1942 die Durchführung
des Massenmordes an den deutschen und europäischen Juden beschlossen wurde, in Verbindung mit dieser Villa eine von den Urhebern nicht beabsichtigte oder vorausgesehene Bedeutung als Symbol für die schuldhaften Verstrickungen, die in Deutschland vom übersteigerten
Nationalismus zum Rassenwahn und zur Austrottungspolitik des NS-Staates geführt haben.
Es ist daher ein Baudenkmal von geschichtlicher Bedeutung."89
Anmerkungen
1 Jürgen Wetzel, Der Flensburger Löwe in Heckeshorn, in: Mitteilungen des Vereins für die
Geschichte Berlins 84 (1988), 107-111.
2 Dabei ist versucht worden, mit möglichst vielen Originalzitaten zu arbeiten, die Interessenten zu
einem Weiterlesen anregen sollen. Die Übersetzungen aus den zitierten dänischen Quellen stammen vom Verfasser.
3 Vgl. Fritz Graef, Der Löwe von Idstedt und die Kriegsgräber auf dem Alten Kirchhofe in Flensburg, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 65 (1937), 255—
316, S. 276.
4 Vgl. Hans-Friedrich Schutt, Der Löwe von Idstedt, in: Flensburger Nachrichten, 21. Juli 1975.
5 Ebd.
6 In: Haavard Rostrup, Billedhuggeren H. W. Bissen. 1789-1868, Kopenhagen 1945, 2 Bände,
Band 1, S. 377.
7 Vgl. ebd., S. 378.
8 Vgl. Oscar Bloch, H. V. Bissen og hans Hjem, Kopenhagen 1927, S. 200.
9 Vgl. Rostrup (Anm. 6), S. 380.
10 Vgl. Hector Boeck, Danske Mindesmxrker og Krigergrave i Sonderjylland, Kopenhagen 1940,
S. 212-224.
11 Vgl. Theodor Fontane, Der Schleswig-Holsteinische Krieg im Jahre 1864, Berlin 1866 (Nachdruck, Frankfurt 1981), S. 93-95.
12 Vgl. die Illustration hierzu in : Über Land und Meer, Bd. 12 (April 1864), 424.
13 In: Graef (Anm. 3), S. 307.
14 Ebd., S. 309.
15 Ebd.
16 Dort sah es kurze Zeit später Theodor Fontane bei einer Reise nach Schleswig-Holstein; vgl. seine
Tagebuchnotiz vom 25. Mai 1864: „Gang durch die Stadt. Ins Ständehaus (jetzt Lazareth) wo der
zerstückelte Idstedter Löwe liegt" (in: Theodor Fontane, Reisenotizen aus Schleswig-Holstein
1864, hg. v. Sonja Wüsten, in : Fontane Blätter 4 (1979), 356-392, S. 380.
17 Vgl. Graef (Anm. 3), S. 288.
18 Eine Kopie dieses Briefes befindet sich bei Dr. Wetzel im Landesarchiv Berlin, der sie d. Verf.
freundlicherweise zur Verfügung stellte.
19 In: Graef (Anm. 3), S. 316.
20 Ebd.
21 Diese Schreiben befinden sich in den Zeughausakten des Museums für Deutsche Geschichte, bei
dessen Direktor, Prof. Dr. W. Herbst, ich mich für die Erlaubnis zur Einsichtnahme bedanke.
249
22
23
24
25
Vgl. Neue Preußische Zeitung, 6. Februar 1868.
Soldatenfreund 35 (1868): 655.
Vgl. Anm. 21.
Vgl. den „Pressebericht Dänemark" Nr. 409 B der Deutschen Gesandtschaft Kopenhagen vom
23. Oktober 1934, der d. Verf. vom Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes zur Verfügung
gestellt wurde.
26 Vgl. Politiken, 25. August 1945.
27 Vgl. ebd., 14. Oktober 1945; Stars and Stripes, Germany Edition, 20. Oktober 1945.
28 Vgl. Politiken, 14. Oktober 1945.
29 Vgl. den Bericht des Kopenhagener Zeughausmuseums an das dänische Verteidigungsministerium vom 11. Januar 1971 über die Nachkriegsgeschichte des Löwendenkmals, den mir dessen
Direktor, Ole Louis Frantzen, freundlicherweise zur Verfügung stellte.
30 Vgl. Politiken, 21. Oktober 1945.
31 Vgl. Tilmann Johannes Heinisch, Horst Schumacher, Colonie Alsen, Berlin 1988, S. 81.
32 Vgl. den Brief des ausführenden Obergärtners Ernst Klaeber vom 4. Februar 1908 (in: LA Berlin
Rep 210/1, Nr. 1179x).
33 Vgl. Heinisch/Schumacher (Anm. 31), S. 138, sowie die entsprechenden Vermerke in den
Grundstücksakten des Tiefbauamtes Zehlendorf.
34 Vgl. Georg Brasch, Das Wannseebuch, Berlin 1926, (Reprint 1984), S. 54.
35 Vgl. Schöneberg-Friedenauer Lokal-Anzeiger, 25. Juli 1923, sowie die Eintragungen in den
Grundstücksakten des Tiefbauamtes Zehlendorf.
36 Berliner Lokalanzeiger, 21. September 1926; vgl. die Korrespondenz mit dem Bezirksamt Zehlendorf in den dortigen Grundstücksakten.
37 Eine Kopie des Schreibens wurde d. Verf. vom Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes zur
Verfügung gestellt.
38 Das Schreiben befindet sich in den Grundstücksakten des Tiefbauamtes Zehlendorf.
39 Vgl. Wannsee-Zeitung, 22. Oktober 1938; Zehlendorfer Anzeiger, 20. Oktober 1938.
40 Vgl. Amtsblatt für Berlin, 39. Jg., Nr. 31, 2. Juni 1989, S. 1217.
41 Philip Weilbach, H. V. Bissen. Et Mindeskrift, Kopenhagen 1898, S. 82.
42 In: Graef (Anm. 3), S. 276 f.
43 Vgl. Anm. 6.
44 In: Graef (Anm. 3), S. 277.
45 Die Zitate stammen aus: Karl Brügge, Die Kriegsgräber auf dem alten Flensburger Friedhofe und
der Flensburger Löwe, in: Rensburger Norddeutsche Zeitung, 24. Juli 1912.
46 Vgl. Boeck (Anm. 10), S. 222.
47 Vgl. Graef (Anm. 3), S. 279.
48 Vgl. Karl Brügge, Nachlese, in: Flensburger Norddeutsche Zeitung, Sonderdruck, veröffentlicht
in den Ausgaben vom 21. bis 25. Oktober 1912; vgl. auch die Karikatur in Sydslesvisk Arbog 27
(1988): 103.
49 In: Brügge (Anm. 48).
50 Vgl. Graef (Anm. 3), S. 285 f. Vgl. dazu jedoch auch die scharfe Kritik daran in der Neuen Preußischen Zeitung vom 28. Februar 1864 sowie die spätere ausschmückende Heroisierung dieser
Tat durch Detlev von Liliencron, Up ewig ungedeelt, Hamburg 1898, S. 445—447.
51 In: Brügge (Anm. 48).
52 Soldatenfreund 35 (1868), 655.
53 Ludwig Herrig, Die Haupt-Cadetten-Anstalt zu Lichterfelde, Berlin 1878, S. 73.
54 Paul Lüders, Groß-Lichterfelde in den ersten fünfundzwanzig Jahren seines Bestehens, Berlin
1893, S. 24.
55 In: Brügge (Anm. 48). — Die Kadettenfreilichtrieben mit dem Löwenmal auch einigen Schabernack; vgl. Karl-Hermann Freiher von Brand u. Helmut Eckert, Kadetten. Aus 300 Jahren deutscher Kadettenkorps, München 1981, Band 1,S. 150 f., sowie Walter Lux, Vor 111 Jahren hielt
der „Flensburger Löwe" Einzug in Lichterfelde, in: Steglitzer Lokal-Anzeiger, 29. April 1989.
56 In: Brügge (Anm. 48).
57 In: L. R. Lassen, Apropos - Istedloven, in: Sonderjysk Mänedsskrift 63 (1987), 224 f., S. 224.
58 Vgl. Rensburger Nachrichten, 14. März 1933.
250
59 In: Boeck (Anm. 10), S. 222,224,225. (Im Soldatenfreund 60 [1892] heißt es auf S. 449 jedoch
lediglich: „ . .. der . . . nach Westen schauende Löwe.")
60 Vgl. Politiken, 14. Oktober 1945.
61 Ebd.
62 Politiken, 21. Oktober 1945.
63 Ebd.
64 Gerd Vaagt, Kommt der Idstedt-Löwe nach Flensburg zurück?, in : Schleswig-Holstein 26
(1974), 2 f., S. 2.
65 Inge Adriansen u. Henrik Fangel, „Siegessäule" i Berlin — et relief vender hjem, in: Sonderjysk
Mänedsskrift 63 (1978), 220-224, S. 223.
66 In: Hanno Schmidt, Ein Monument im Wandel der Zeit, in: Schleswig-Holstein 14 (1962):
29-31, S. 31. Ähnlich äußerte der Chef der Militärregion VI und Kommandant in Kopenhagen,
Oberst E. M. Veisig, in der Politiken vom 26. Juli 1989: „Deutschland ist nicht länger unser Erzfeind, und das Verhältnis zwischen den Minderheiten nördlich und südlich der Grenze ist vorbildlich .. . Deswegen kann ich auch nicht einsehen, warum man nicht über eine Angelegenheit verhandeln sollte, die, wie der Idstedt-Löwe, ihre Wurzeln in so weiter Ferne wie dem Krieg von
1848—50 und dem von 1864 hat." Für ihn zumindest sei „die Zeit nach, wo die Verhältnisse die
Rückgabe des Löwen zulassen werden."
67 Lassen (Anm. 57), S. 224 f.
68 Dierk Puls, Nochmals: Idstedt-Löwe nach Flensburg zurück?, in: Schleswig-Holstein 26 (1974):
78.
69 Dieses Zitat des Nordschleswigers stammt aus: Gerd Stolz, Der Idstedt-Löwe, in: SchleswigHolstein 32 (1980), 11-13, S. 11.
70 Schmidt (Anm. 66), S. 31.
71 Seit seiner umstrittenen Aufstellung in Rensburg besaß das Löwenmal einen solchen Bekanntheitgrad, daß es in fast allen Berichten stets nur als „der berühmte Löwe von Flensburg" bezeichnet wurde (und in der heutigen dänischen Presse auch noch immer wird).
72 Vgl. Brasch (Anm. 34), S. 53 f, sowie Andreas Bernhard, Die Bautätigkeit der Architekten
v. Arnim und Petzholtz, in : Schloß Glienicke, Bewohner, Künstler, Parklandschaft, Katalog zur
gleichnamigen Ausstellung, Berlin 1983, S. 81-107, bes. S. 102-105.
73 Berliner Lokal-Anzeiger, 21. September 1926.
74 Wannsee-Zeitung, 19. Dezember 1936.
75 Berliner Lokal-Anzeiger, 21. September 1926.
76 Auf dänischer Seite empfand man die Tatsache, daß von dem als Trophäe nach Berlin gebrachten
Löwenmal nicht nur auch noch eine Kopie angefertigt worden war, sondern diese darüber hinaus
in einem verwilderten Park am Wannsee verkommen sollte, als „Geschmacklosigkeit" (Boeck
(Anm. 10), S. 226).
77 Der Westen, 19. August 1934.
78 Teltower Kreisblatt, 21. Juli 1888.
79 Ebd., 24. Juli 1888.
80 August Trinius, Die Umgebungen der Kaierstadt Berlin, Berlin 1899, S. 223.
81 Aloys Hennes, 200 Ausflüge in die Umgebung von Berlin, Berlin 201896, S. 101.
82 Zehlendorfer Bezirksblatt, 17. Juni 1933.
83 Reclams Kunstführer. Deutschland. Band VII: Berlin, Stuttgart 21977, S.563.
84 Telegraf, 20. April 1958.
85 Tagesspiegel, 24. Oktober 1956.
86 Politiken, 26. Juli 1987.
87 Wetzel (Anm. 1), S. 111.
88 Berlingske Tidende, 23. Juli 1987.
89 So der Landeskonservator Prof. Engel am 21. April 1989 in seiner „Begründung des Denkmalwerts" des Flensburger Löwen.
Anschrift des Verfassers:
Dr. Hans Konrad, Weiserstraße 26, 1000 Berlin 30
251
Graubündner Zuckerbäcker, Cafetiers und Brauer
in Berlin vor dem Ersten Weltkrieg
Von Dolf Kaiser
Das „Nationalgewerbe der Zuckerbäcker und Cafetiers im Ausland" nahm in früheren Zeiten
in der Kultur- und Wirtschaftsgeschichte Graubündens einen beachtlichen Raum ein. Um die
Mitte des letzten Jahrhunderts schilderte Eugen Baron von Vaerst, der spätere Besitzer der
„Breslauer Zeitung", die Lage dieser süßen Branche wie folgt: „Die verzüglichsten Zuckerbäcker auf der ganzen Erde, die man auch in allen großen Städten in- und außerhalb Europas
findet, kommen aus Graubünden." 1
Am Anfang der Bündner Auswanderungsgeschichte steht die Republik Venedig. Den ausgewanderten Landsleuten gehörten um 1750 etwa 40 von insgesamt 42 Konditoreien in der
Lagunenstadt. Politische Auseinandersetzungen und Machenschaften zwischen der Republik
Venedig und dem Freistaat der Drei Bünde führten um die Mitte des 18. Jahrhunderts zu einer
ernsthaften Krise. Die Folgen ließen nicht auf sich warten: die erzürnte „Serenissima" gab den
Bündnern den Laufpaß. Im Jahre 1766 mußten mehr als 170 Unternehmer den Betrieb schließen und sich mit ihren Angestellten nach anderen Arbeitsorten umsehen. Nach diesem Exodus aus Venedig entstanden in ganz Europa kleinere und größere Kolonien von Bündner
Emigranten.
Um diesen Zeitpunkt eröffneten die ersten Bündner Zuckerbäcker ihre Verkaufsläden in Berlin. Der erste dürfte der aus dem Schamstertal stammende Johann Heinrich Caviezel, eingebürgert 1756, sein. Berlin als preußische Hauptstadt hatte für die bündnerischen Auswanderer, insbesondere für die Engadiner, nicht geringe Bedeutung; es scheint ihnen dort stets gut
gefallen zu haben. Einer schrieb 1832: „Es lebt sich hier ganz prächtig, es ist eine seltene,
sublimschöne Welt; ich habe auch gute Freunde gefunden."
1846 schreibt F. Saß 2 : „Und nun gelangen wir zu dem mächtigen Schweizerregimente, welches
sich dem Conditoreiwesen Berlins historisch berechtigt und ausgebildet hat. Diese freien
Schweizer verließen seit Jahrhunderten ihre Berge, ihre Seen, ihre Täler, um der Despotie als
Leibwache zu dienen und dem Norddeutschen Baisers zu verkaufen und Kaffee zu schenken.
Die Suprematie der Schweizer erstreckt sich über das ganze Conditoreiwesen Norddeutschlands. Die Schweizer Conditoreiwaren sind eben so bekannt geworden, als früher einmal die
Treue der Schweizer, und, in der Tat, wer die Alpen weit durchwandert hat, der wird nicht leugnen können, daß die Schweizer vortreffliches Eis und ausgezeichnetes Gefrorenes herstellen.
Die Schweizer Conditoren in Norddeutschland werden alle reich, und es sind nicht bloß günstige Vorurteile, die für sie sprechen. Die Sauberkeit ihrer Warenbehandlung, ihre Kunst, sich
Verhältnissen und Zuständen des fremden Landes anzubequemen, muß sie empfehlen, ihre
anspruchslose Artigkeit gewinnt für sie, und ihre solide Gefälligkeit muß dem Berlinertum,
welches bei Koblank hinter dem Ladentisch stand, vorgezogen werden.
Wir wollen mit der Jostyschen Conditorei beginnen. Sie liegt an der Stechbahn, an der gefährlichsten Ecke Berlins, dem Schlosse schräg gegenüber. Schon die lebensgroßen Wandgemälde
des verstorbenen und des jetzigen Königs in vollständiger Uniform können den Eintretenden
belehren, daß er sich hier an einem Orte befindet, wo die Elemente der preußischen Militairhierarchie ganz besonders vorzuherrschen pflegen. Es ist aber nicht der leichtfüßige Gardelieutenantston, wie er bei Kranzler zum Vorschein kommt, der sich hier geltend macht, es ist
hier bei Josty noch manches alte, schwere und vernagelte Geschütz von Anno 1813 vorhan252
Abb.l:
Johann Josty aus Sils i. E.
(1773 bis 1826),
Mitbegründer etlicher
Konditoreien und Kaffeehäuser in Deutschland
den. In den Wochentagen sieht man viele Civilpersonen, deren ramassierter Schnurrbart den
pensionierten Militair verkündet. Sonntags nach der Parade blitzen und blinken die Uniformen in buntester Mischung. Die Militairpersonen, welche bei Josty verkehren, and meistens
gereift und alternd. Viele von ihnen sind über die Erinnerung 1813-15 nicht hmausgegangen
und halten sie fest und verteidigen sie als teuerstes Gut. Dort herrscht die Devise ,Mit Gott, für
König und Vaterland'".
.,
,.
Johann Josty (1773 bis 1826) aus Sils im Oberengadin begann seine Berufskamere als Konditor in Magdeburg und siedelte später nach Berlin über. Hier gründete er mit dem aus dem gleichen Dorf stammenden Andreas Puonz 1796 einen Laden. Später gesellten sich noch die beiden Landsleute Jacob Zamboni aus Bever (1769 bis 1859), Inhaber einer Konditorei in
Hirschberg (Schlesien), und Christoffel Pedotti von Ftan (Unterengadin) dazu. Die neu
gegründete Firma hieß „Johann Josty & Companie". Dem Gesellschaftsvertrag wurde die
Bestimmung beigefügt, daß bei Uneinigkeiten jeder Teilhaber einen Bundner „un hom gnschun", wählen und daß das, was die Vertrauensmänner beschließen oder entscheiden, rechtskräftig sein solle wie ein obrigkeitliches Urteil.3 Der erste Berliner Laden befand sich vor dem
königlichen Schloß „an der Stechbahn Nr. 1". Heinrich Heine schreibt 1822 in seinen Briefen
ausBerlin««: Jinkswiederzwdschöre^
gerade vor uns ist die Stechbahn, eine Art Boulevard. Und hier wohnt Josty! - Ihr Gotter des
Olymps, wie würde ich euch euer Ambrosia verleiden, wenn ich die Süßigkeiten beschreibe
die dort aufgeschichtet stehen. O, kenntet ihr den Inhalt dieser Baisers! O Aphrodite, wärest
dusolchem Schaum entstiegen, du wärest noch vielsüßer! Das I^kal ist zwar eng und dumpfig,
und wieeineBierstubedekoriert, doch das Gute wird immer den Sieg über das Schone behaupten. Zusammengedrängt wie die Bücklinge sitzen hier die Enkel der Brennen und schlurfen
Kreme, und schnalzen vor Wonne und lecken die Finger.
253
Fort, fort von hier!
Das Auge sieht die Türe offen,
Es schwelgt das Herz in Seligkeit."
Heinrich Heine verdanken wir auch eine Notiz, wonach sich die Firma Josty an der 1822 neu
eröffneten, „großartig angelegten" Börsenhalle beteiligte. Bis 1864 blieb die Konditorei Josty
an der oben erwähnten Stechbahn, dann wurde die Liegenschaft von der Stadt expropriiert. In
unmittelbarer Nähe an der Schloßfreiheit richtete die Firma die neuen Lokalitäten für jene Zeit
so fein ein, daß das Konditoreigeschäft als das schönste Berlins oder sogar als „schönstes der
ganzen Welt" gelten konnte. Doch auch hier mußte das Etablissement in den achtziger Jahren
weichen, denn die ganze Straße an der Schloßfreiheit wurde geschleift, weil Platz geschaffen
werden mußte für das Denkmal Kaiser Wilhelms I. Jetzt siedelte das Geschäft über nach dem
Potsdamer Platz, um einen Gesellschaftsgarten erweitert. Die Konditorei hat sich aber mehr
zum „Cafe" gewandelt. Theodor Fontane, einer der bekanntesten Jostyschen Stammgäste an
der Stechbahn, der Schloßfreiheit und auch später noch am Potsdamer Platz, erwähnt in seiner
Erzählung „Schach von Wuthenow", daß im Jahre 1806 nach einem Abendessen die großen
Jostyschen Devisenbonbons herumgereicht wurden; diese trugen allerlei Sprüche wie beispielsweise: „Liebe wunderbare Fee, selbst Dein Wehe tut nicht weh" und wurden, der kleinen, undeutlichen Schrift ungeachtet, entziffert und verlesen. Bereits aus früherer Zeit scheint
der Vers zu stammen:
„Wanderer, steh'! Hier geht's zu Josty ein, dem Konditor!
Nur wenn da du geschmaust, sage, du warst in Berlin."
Ob dieser Spruch tatsächlich außen am Geschäft angebracht wurde, bleibt ungewiß.
Daniel Josty (1834 bis 1891), Enkel des alten Josty, erzählte später in seinen Tagebüchern folgende Begebenheit, die sich in den Räumen der Konditorei Josty an der Stechbahn beim
Schloß zu Berlin zugetragen haben soll. Die kriegerische Auseinandersetzung Napoleons I. mit
Preußen endete am 14. Oktober 1806 in der Doppelschlacht bei Jena und Auerstedt mit einer
Niederlage der preußischen Armee. Danach fiel Napoleon am 27. Oktober 1806 in Berlin ein.
Plünderungen und Beschlagnahmungen durch die hungrige französische Armee in den Metzgereien, Lebensmittelläden und Konditoreien standen an der Tagesordnung. Die Berliner
schlössen demzufolge ihre Läden, nur Josty nicht. Dieser stand in grauer Jacke und weißer
Schürze vor seinem Geschäft und wartete auf die Ankunft Napoleons. Als der Kaiser beim
Schloß erschien, entdeckten Soldaten seiner Armee den offengebliebenen Laden und stürzten
sich auf diesen. Josty stand da, unbewaffnet, mit einem Servierbrett voll Backwaren und einem
Korb mit Champagnerflaschen. Als die Herde vorwärtsdrängte, schrie Josty laut: „Arriere,
vous betes . . . seht Ihr denn nicht unseren großen Kaiser, der auf sein Essen wartet? — Es lebe
Napoleon der Erste!" Die Soldaten wichen zurück und machten ihrem Heerführer Platz; doch
dieser wagte nicht, die Konditorei zu betreten. Als Napoleon den kleinen und aufdringlichen
Zuckerbäcker auf sich zukommen sah, erkundigte er sich bei seinen Offizieren, was man mit
ihm vorhabe. Man wolle ihm eine Erfrischung anbieten, wurde ihm erklärt. Da lachte er und
befahl dem Ladeninhaber, die Pastete selber zu essen, da er befürchtete, die angepriesene
Backware sei vergiftet. Josty setzte sich, verschlang einen Teil der Pastete, entkorkte eine
Champagnerflasche, füllte ein Glas, stand wieder auf und sprach mit lauter Stimme „Ewiva
grand Napoleon!" Dieser erwiderte: „Halt ein, ich bin so hungrig wie Sie" und nahm den Rest
der Pastete zu sich. Das Lokal war inzwischen mit Offizieren voll besetzt. Diese aßen, tranken
und bezahlten sogar ihre Zeche. Schmunzelnd fühlte sich der Bündner Zuckerbäcker als Sieger über die französische Armee. 5
254
Abb. 2:
Daniel Josty (1777 bis 1845),
Konditor, Bierbrauer und
Schriftsteller in Frankreich
und von 1818 an in Berlin;
1820 eröffnete er eine Bierbrauerei am Prenzlauer Berg
Das CafeJosty hatte im Lauf der Zeit noch einige Filialen eröffnet, so 1865 anderKonigstraße,
1880 am Bahnhof Zoo; diese Zweigniederlassung existierte bis 1918. Im gleichen Jahr wurde
ein neues Kaffeehaus am Bayerischen Platz eröffnet, das aber infolge Unrentabihtat bereits
1921 geschlossen wurde. Der Hauptsitz am Potsdamer Platz wurde im April 1930 aufgegeben,
da es unmöglich war, den Mietvertrag zu annehmbaren Bedingungen zu erneuern Im Hause
des gegenüberliegenden „Palast-Hotels" am Potsdamer Platz/Fnednch-Ebert-Straße 13
wurden die Erdgeschoßräume gemietet. Die große Wirtschaftskrise, die 1930 begann und
1931 ihren Höhepunkt erreichte, zwang Josty jedoch dazu, die Räume bereits zum 31. März
1932 wieder aufzugeben.
. __
,
Von jetzt an blühte nur noch die 1913 an der Kaiserallee/Trautenaustraße m Wilmersdorf
gelegene Zweigstelle. Im Herbst 1943 fiel das beinahe 150 Jahre alte und bekannte Unternehmen einem Bombenangriff zum Opfer. Die beiden letzten Geschäftsführer, Otto und Herbert
Pedotti, kehrten danach in ihre Heimat zurück.
Daniel Josty, Bruder des Mitbegründers Johann Josty, hat die Geschichte des Brauwesens in
Berlin mit geprägt. In Bever (Oberengadin) erblickte er 1777 das Licht der Welt. In den
bewegten Revolutionsjahren absolvierte er seine Zuckerbäckerlehre bei Landsleuten aus Pontresina in der Stadt La Rochelle in Südwestfrankreich. Dort und vor allem spater in Niort
erlernte er zusätzlich den Beruf des Bierbrauers. In jungen Jahren beteiligte er sich an einer
kleinen Brauerei in dieser Stadt. Sein Bruder Johann Josty in Berlin empfahl ihm in einem
255
Brief, seine Tätigkeit in der preußischen Hauptstadt fortzusetzen. Daniel Josty zog bald nach
Berlin, und im Frühjahr 1820 eröffnete er an der Prenzlauer Straße eine kleine Brauerei. Er soll
ein leichteres, sogenanntes Lagerbier neu eingeführt haben. In einem Schreiben an seine
Angehörigen in der Heimat äußerte er sich, daß die Berliner immer mehr Freude an seiner
„Brühe" zeigen, was ihn persönlich sehr freue. Daniel Josty war sehr sprachgewandt, und 1835
veröffentlichte er ein Buch „Biere de mon Tonneau" (Bier von meinem Faß). Das Buch enthält
Gedichte, Aphorismen, Lebensweisheiten und Erinnerungen, und zwar in drei Sprachen;
Französisch, Deutsch und Rätoromanisch. In den vierziger Jahren zog er sich zurück und übergab sein Geschäft seinen beiden Söhnen Gian Daniel Josty (1818 bis 1856) und Daniel Jean
Josty (1820 bis 1909). Er starb im Jahre 1845 in Madulain, wo er einen stattlichen Alterssitz
erbauen ließ. Dieses Haus „Palazzo Josty" ist heute im Besitz der Stadt Zürich und wird für
Ferienkurse benutzt. Die „Brauerei Josty" in Berlin übernahm F. W. Körner, (1849 bis 1909),
Schwiegersohn des Daniel Jean Josty. Die Brauerei ging dann in die Bergbrauerei an der Bergstraße 22 über, die 1903 von der Engelhardt-Brauerei AG am Alexanderplatz übernommen
wurde. Die nach Daniel Josty benannte „Jostystraße" in Ost-Berlin wurde vor einigen Jahren
aufgehoben.
Die Konditorei Josty unterhielt außer in Berlin Filialen in Minden, Stettin, Breslau, Danzig,
Leipzig, Braunschweig, Frankfurt an der Oder, Potsdam, Hamburg und Kassel. In Bremen
betrieb er mit Stehely zusammen das Cafe am Domhof.
Bei Josty hatte 1831 ein besonderes Getränk eine starke Anziehungskraft: eine Patent-KreaZome-Chocolade. Damals war Schokolade das vornehmste Getränk. Man war sparsam und
wollte für sein Geld etwas Nahrhaftes haben. Schokolade bestand aus einer dicken, klebrigen
Brühe, weil die feine Vermahlung des Kakaos noch nicht erfunden war. Der Deckel der Schokoladenkanne hatte ein großes Loch, in dem ein Quirl steckte, um den Grund des Getränkes
vor dem Eingießen aufrühren zu können. Die alte Kaffeekanne, die jetzt oben im großen Loch
des Porzellandeckels einen Holzknopf hatte, war nun eine Schokoladenkanne. Josty verfiel auf
den Gedanken, die Schokolade durch Zusatz von Fleischextrakt noch nahrhafter zu machen.
Es war ja die Zeit der „Kraftsuppen", die der elegante Rumford von München aus empfohlen
hatte. Josty versprach sich von seiner Nährschokolade so viel, daß er sich darauf am 23. August
1831 ein preußisches Patent nahm. Die Berliner tranken die neue Schokolade fleißig, aber bald
kam das Getränk außer Mode. 6
Zu den berühmtesten Berliner Konditoreien zählte auch Stehely am Gendarmenmarkt neben
der Salomon- Apotheke, die am Ende der dreißiger Jahre in das Eckhaus Jäger- und Charlottenstraße übersiedelte und 1876 aufhörte zu existieren. Von ihr schreibt E. Beuermann 7 : „In
einem kleinen, unansehnlichen Hause befindet sich jene Konditorei, die von Berlin aus Ruf in
Deutschland erlangt hat. Hier hält der Unternehmer mit seinem Kompagnon Stoppany hinter
dem reichbesetzten Ladentisch Wache. In älterer Zeit sind E. T. A. Hoffmann und das junge
Deutschland bei Stehely ein und aus gegangen, so daß gesagt worden ist: ,Eine Geschichte der
Stehelyschen Konditorei schreiben hieße nichts anders als eine Geschichte der Berliner Literaturzustände schreiben.' Dennoch ist die literarische Geschichte der Stehelyschen Konditorei
nicht das Eigenartige gewesen, das sie von den anderen Berliner Konditoreien unterschied,
sondern die Geschichte, die sie in der Politik gespielt hat. Sie hatte sich allmählich in der vormärzlichen Zeit von einem literarischen zu dem einzigen politischen Treffpunkt entwickelt.
Die Schriftsteller der Radikalen trafen sich im dritten Zimmer, zu dem einige Stufen hinaufführten, das nachmals als das ,Rote Zimmer' bekannt und immer wieder neu rot tapeziert
wurde, lasen die Zeitungen, sammelten Notizen für ihre journalistische Tätigkeit und debattierten. Im Allerheiligsten aber, dem Lesezimmer, hing gar kein Bild, weil man es doch nicht
256
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Abb. 3: „Cafe Josty" am Potsdamer Platz um 1910
gesehen hätte, denn in diesen Raum drang fast nie ein Sonnenstrahl. Wahrend in den baden
Vorderzimmern diskutiert und krakeelt, Throne gestürzt und Könige abgesetzt wurden,
herrschte im Rauch- und Lesezimmer die feierliche tiefe Stille eines Lesesaals der Staatsbibliothek."
Das Cafe Stehely erwähnt auch Friedrich Engels in einem Brief aus Barmen an Karl Marx
(1845): „Der kleine Rest, Meyen, Rutenberg und Konsorten, lassen sich durch nichts stören,
gehen wie vor sechs Jahren täglich 2 Uhr nachmittags zu Stehely und klugscheißen über die
Zeitungen."8
Den eigentlichen Typ der späteren Berliner Konditorei mit Kaffeeausschank und Lesekabinett
soll Giovanoli 1818 in der Charlottenstraße geschaffen haben. Er ist dann jahrzehntelang für
Berlin der maßgebende Typ geworden, den Josty und alle später eröffneten Geschäfte annahmen.
P. Pietsch schreibt um 1880: „Was für die Berliner von heute die Wiener Cafes sind, waren für
die Vormärzlichen gewisse mit Lesekabinetten verbundene Konditoreien. Die Berliner, alte
und junge, waren passionierte Kuchenesser. Zu Kranzler ging man zum Genuß von Süßigkeiten ohne jeden Nebenzweck. Gegenüber, bei Spargnapani, in den heute von Dresseis Restaurant eingenommenen, aber gründlich umgestalteten Räumen, bei Stehely neben der SalomonApotheke in der Charlottenstraße am Gendarmenmarkt, bei Giovanoli an der Ostecke der
Charlotten- und Behrenstraße und bei Courtin in der Königstraße neben dem Hauptpostgebäude suchte man vor allem Zeitungslektüre. Jedes der Viere hatte sein besonderes Stammpublikum. Bei Spargnapani saßen und verzehrten ihre Zeitungsnahrung, ihre Süßigkeiten, ihre
Schokolade, ihren Kaffee und Tee vorzugsweise die jüngeren Gelehrten, die liberalen Studierten, die jungen Aerzte, Juristen, Referendarien, Kandidaten der Philosophie, besonders aber
die in Berlin verweilenden Russen, Polen, Franzosen und andere Auslander. In dem langen,
257
dunklen, an einem engen, düsteren Hof gelegenen Hinterzimmer der Courtinschen Konditorei
aber sah man kaum jemals andere Gestalten als die der Geschäftsleute aus der Königsstadt, die
Männer von der Berliner Börse, deren Bedeutung und deren Tatenfeld damals noch ziemlich
bescheiden waren." 9
Eine vergnügliche Begebenheit aus der Konditorei Vicedomini gegenüber dem neuen Postgebäude soll hier erwähnt sein. Der gleichnamige Geschäftsinhaber Francois Vicedomini aus
Celerina, ein Eigenbrötler ganz besonderer Art und Freund alter Volksbräuche, verlangte, daß
am l.März zur Erinnerung an das traditionelle Chalandamarz-Fest in seiner Heimat seine
Markeure mit einer um den Bauch gebundenen Kuhglocke den Kaffee ausschenken mußten.
Das Berliner Publikum ergötzte sich an diesen Darbietungen, doch für die Kellner war das eine
erniedrigende Zumutung. 10 Ungefähr dort, wo einst diese nostalgischen Volksbräuche stattfanden, erhebt sich heute der Fernsehturm, das Wahrzeichen Ost-Berlins.
Beteiligungen der Firma „Johann Josty & Co.", Berlin
in verschiedenen Städten Deutschlands
„Conditorei Josty", Danzig, erwähnt 1820/44
„Kreazon-Chocolade", Berlin, erwähnt 1831
„Manatschal & Jordan", am Ring 18, Breslau, erwähnt 1845
A. Giovanoli & Co. am Kohlmarkt, Braunschweig, erwähnt 1832 bis 1845
„Cafe National", am Markt 16, Peterstraße 1, Leipzig, erwähnt 1839 bis ca. 1875
„Brauerei Josty", Prenzlauer Straße 59, erwähnt 1820
„Stehely und Josty", am Domhof, Bremen, 1844 bis 1864
„Perini & Josty", später „Giovanoli & Co.", am Jungfernstieg, Hamburg, 1831 bis 1868
„Andrea Pontz & Co.", Reifschlägerstraße 100, Stettin, erwähnt 1828 bis 1845
„Conditorei Kintschy" & „Schweizerhäuschen" im Rosental, Leipzig, erwähnt 1824
„Börsenhalle Berlin", erwähnt 1822
„Conditorei Josty & Co., Potsdam, erwähnt 1821
„Perini & Co., Junkernstraße 3, Breslau, erwähnt 1816
„Cafe Stehely" am Gendarmenmarkt, Berlin, erwähnt 1818 bis 1876
„Conditorei G. Turtach & Co.", Frankfurt a. d. Oder, erwähnt 1833 bis 1851
Bündner Firmen in Berlin, die nicht zum Josty-Imperium gehörten
„Conditorei L'Orsa", erwähnt 1802/11
„Cafe Courtin" Königstraße 61 (Kaffeehaus der Börsianer), erwähnt 1831 bis 1865
„Cafe Giovanoli", Jägerstraße 18/Charlottenstraße 21, erwähnt 1818 bis 1836
„Cafe Vicedomini", Königstraße 37, erwähnt 1853
„Cafe Spargnapani", Unter den Linden 50, erwähnt 1830 bis 1870
„Conditorei Buol", Wilhelmstraße 17, erwähnt 1836
„Conditorei Caduff", Jerusalemstraße 50, erwähnt 1836
„Conditorei Conradi", Schloßfreiheit 3, erwähnt 1836
„Conditorei L. Conradi", Jägerstraße 25, erwähnt 1836
258
Anmerkungen und Quellenangaben
1 Die nachfolgenden Aufzeichnungen stammen zu einem wesentlichen Teil aus meinem 1985
erschienenen Buch „Fast ein Volk von Zuckerbäckern?" 210 Seiten mit mehr als 50 Abbildungen, NZZ-Verlag Zürich, 2., etwas erweiterte Auflage 1988.
2 Friedrich Saß: Berlin in seiner neuesten Zeit und Entwicklung. Berlin 1846.
3 Ernst Lechner: Die periodische Auswanderung der Engadiner und anderer Bündner. 2. Auflage.
Samedan 1912. S. 110.
4 Heinrich Heine: Briefe aus Berlin 1822 (H. Heine: Sämtliche Werke Band VI. Kindler-Taschenbücher 1964, S. 139.
5 Chronik von Daniel Josty junior (1834 bis 1891) im Besitze von P. L. Josty, Sarnia (Kanada).
6 Aus einer Berliner Zeitungsnotiz vom 30. März 1932.
7 Ernst Beuermann: Vertraute Briefe über Preußens Hauptstadt. Stuttgart 1837.
8 A. Bebel und E. Bernstein (Hrs.): Der Briefwechsel zwischen Friedrich Engels und Karl Marx
1844 bis 1883. 1. Bd. Seite 13. Stuttgart 1913.
9 Ludwig Pietsch: Konditoreien im Vormärz (Berlin! Berlin! Ein literarischer Bilderbogen der letzten 150 Jahre. Herausgegeben von Gustav Sichelschmidt). Tübingen 1980. S. 37/38.
10 Mitteilungen von H. Bavier, St. Moritz.
Anschrift des Verfassers:
Dolf Kaiser, Carl-Spitteler-Strasse 69, CH-8053 Zürich
Noch einmal „Die Reformation 1539 in der Mark Brandenburg"
Freundlicherweise hat unser Vorstandsmitglied Hans Zielinski der Redaktion einige Ergänzungen zum Aufsatz von Karl-Heinz Bannasch übersandt, die wir nachstehend veröffentlichen
wollen:
Zuerst einen Blick auf die Neumark. Dort hatte der dortige Regent, Hans von Küstrin, die neue
Lehre zeitiger offiziell gemacht als sein Bruder Joachim II. in der Kurmark. Außerdem hatten
die dortigen Kirchengemeinden — die Neumark war zum großen Teil im Besitz des Johanniterordens — in eigener Zuständigkeit die Reformation eingeführt. Zwei wichtige Beispiele für
diese „Kirche von unten" bilden Züllichau und Cottbus.
Eine solche Bewegung der „Kirche von unten" gab es auch in Kurbrandenburg: 1537 berief der
Rat von Colin den Geistlichen Johann Baderesch (Badereske) als Prediger an die Petrikirche,
1538 wurde beim kurbrandenburgischen Landtag in Berlin der Antrag gestellt, durch hoheitsrechtliche Weisung die „Schäden im religiösen Leben" zu beseitigen, das heißt, die in der
katholischen Kirche üblich gewordenen Mißbräuche zu unterbinden. — Im Februar 1539
wurde den Räten von Berlin-Cölln aufgetragen, für das Osterfest die Genehmigung zu
beschaffen für eine öffentliche Adendmahlsfeier in lutherischer Form.
Das theologische Element im Werk Luthers verdeutlichen seine bereits vor dem 31. Oktober
1517 veröffentlichte Auslegung der zehn Gebote und des Römerbriefes, der Psalmen und des
Vaterunsers sowie die Disputationen über die Freiheit des Willens, über die Liebe, die Gnade,
die Rechtfertigung und die Buße, die das Fundament der Reformation bilden.
Die Kurfürstin Elisabeth, Ehefrau Joachims I., fand unter der Regentschaft Johann des Beständigen Aufnahme in Kursachsen. Sein Bruder Friedrich III., der Weise, war bei ihrer Ankunft
schon verstorben. Sie kehrte 1545 nach Spandau zurück.
Hier hat sich der Autor geirrt.
259
Urteile über Berlin und die Berliner
Die Monatsschrift der englischen Quäker „The Friend" vom Jahr 1854 bringt einige Auszüge
aus dem Buch „Home Life in Germany", in dem ein junger Amerikaner seine Erlebnisse auf
einer Reise durch Deutschland schildert. Sehr beeindruckt hat ihn das Schlittschuhlaufen der
Berliner im winterlichen Tiergarten. Die recht farbige Schilderung lohnt, der Vergessenheit
entrissen zu werden:
„Eine der angenehmsten Erquickungen, die man sich jetzt im Freien verschaffen kann, ist eine
Schlittschuhgesellschaft durch den Tiergarten ,auf den Wiesen', die ungefähr eine Meile von
der Stadt entfernt liegen. Gewöhnlich bilden wir eine Gruppe von Damen und Herren und
gehen hinaus. Die Wiesen sind einige ausgedehnte vom Wasser überschwemmte Flächen und
bilden eine wunderschöne Eisbahn. An einem freundlichen Winternachmittag ist dort einer
der belebtesten Schauplätze, den ich jemals gesehen habe.
Das Eis ist für ungefähr eine Meile bedeckt mit einem Gewirr wirbelnder, gutangezogener
Gruppen. Da ist ein Mann, der die kunstvollsten und geheimnisvollsten Figuren ausführt, dort
laufen zwei Damen gemeinsam in der anmutigsten Weise, hier eine Dame und ein Herr Hand
in Hand, oder es läuft dazwischen eine ganze Gruppe vereint, und wieder durch diese alle hindurch, mit einer höchst beunruhigenden Geschwindigkeit, die Stuhlschlitten mit Damen, von
Dienern oder von Freunden geschoben, — alles bewegt sich, wirbelt und stürmt herum und
durcheinander und doch wird niemand angestoßen oder zu Fall gebracht. Dann am Rande
wieder andere Gruppen: Männer, die Schlittschuhe verleihen, Frauen mit Tabletts mit Kaffee
und Kuchen, Jungen mit frischen Blumen aus den Gewächshäusern, und eine Anzahl von
Mietpferden und privaten Kutschen, die daraufwarten, die Schlittschuhläufer aufzunehmen;
und verteilt über das alles die allmächtige und aufmerksamste Person — der Berliner Schutzmann — erhaben in Helm und blauem Mantel und mit Säbel. Um das Bild vollkommen zu
machen, tritt zu allem die klare Winterluft; das prächtige Sonnenlicht, weit im Süden gesunken, fällt auf die Gruppen und färbt gerade die weißen Rauchsäulen mit rosigen Farben und im
Hintergrund stehen das feine Maßwerk und die dunklen Massen der alten Bäume gegen den
grauen Osthimmel.
An manchen Tagen sind wohl an die tausend Leute hier draußen, von allen Klassen, jung und
alt, Damen und Herren, und die Damen in ihren schönsten Kleidern, mehr als für eine elegante
Promenade.
Ich habe nie eine anmutigere Übung für Damen gesehen, und die meisten waren in der Kunst
des Schlittschuhlaufens sehr gewandt. Es war vor einigen Jahren von den Berliner Damen versucht worden, und seitdem es eine von den Prinzessinnen in die vornehme Welt brachte, ist es
nun vollends in Mode. Am meisten überraschend war für einen Amerikaner die Anzahl der
älteren Herren, die sich dieser Sportart anschließen — Männer von Rang — der Professor
ebenso wie der Student oder der erschöpfte Geschäftsmann, der hier herauskommt, um wieder
einmal die Freiheit des Sports seiner Jugend zu genießen."
(Quelle: „The Friend", 111/54, 1854, London; aus d. Engl. P. H.)
Die Redaktion dankt für die freundliche Übermittlung unserem Mitglied
Dr. med. habil. Paul Habermann, Franz-Nölken-Weg 9, 4770 Soest
260
Eingegangene Bücher
1. Architekten- u. Ingenieur-Verein zu Berlin: Berlin und seine Bauten, Teil V: Bauwerke f. Kunst,
Erziehung und Wissenschaft. Verlag: Wilhelm Ernst & Sohn, 1983, 220 S.
2. Ausstellungskatalog, Palais des Beaux Arts Brüssel und Kulturabteilung der Bayer AG, Leverkusen: Die wiedergefundene Metropole, Neue Malerei in Berin. Verlag: Frölich & Kaufmann,
Berlin 65, 1984, 144 S.
3. Bembnista, Gerd / Bochmann, Klaus: Das Bahnbetriebswerk Berlin-Lichtenberg-Ost. Verlag:
Klaus Bochmann, Schwäbisch-Hall, 1984, 74 S.
4. Bennett, Capt. Jack O.: 40 000 Stunden am Himmel, 24 000 Flüge nach Berlin. Verlag: Ullstein,
1982, 395 S.
5. Berlin-Forschung, Holger Funk / Reinhard G. Wittmann: Literatur-Hauptstadt, Schriftstellerin
Berlin heute. Verlag: Spitz, Berlin, 1983, 659 S.
6. Betthausen, Peter: Karl Friedrich Schinkel, mit fünfzehn farbigen und vierundfünfzig einfarbigen Abbildungen. Verlag: Henschel, Kunst und Gesellschaft, 1983.
7. Blum, Dieter / Eckardt, Emanuel: Das Orchester, die Innenwelt der Berliner Philharmoniker.
Verlag: Scripta, Stuttgart, 1983, 228 S.
8. Buder, Marianne / Gonschorek, Dorette (im Auftrag des Philharmonischen Chores Berlin):
Tradition ohne Schlendrian, 100 Jahre Philharmonischer Chor Berlin 1882—1982. Verlag Stapp,
1982, 285 S.
9. Hillebrand, Martin J.: Die Zukunft Berlins. Verlag: Ullstein, 1981, 365 S.
10. Kuhlmann, Michael / Meyer, Alwin: Ayse und Dvrim: Wo gehören wir hin? Verlag: Lamuv
Taschenbuch-Verlag, 1983, 141 S.
11. Koischwitz, Gerd: Sechs Dörfer in Sumpf und Sand, Geschichte des Bezirks Reinickendorf von
Berlin. Verlag: Der Nordberliner, Wilhelm Möller KG, 1984, 238 S.
12. Paczensky, Gert v. / Gansmayr, Herbert: Nofretete will nach Hause, Europaschatzhaus der
„Dritten Welt". Verlag: Limes, Wiesbaden u. München, 1981, 318 S.
13. Prösl, Susan / Kremin, Michael: Berlin um 1700, die Inselstadt Charlottenburg. Verlag: Publica
Berlin, 1984, 230 S.
14. Reissner, Alexander: Berlin 1675-1945. Verlag: Oswald Wolff, London, 1984, 165 S.
15. Poesner, Wolfgang, Institut für Krankenhausbau: Wegweiser durch das Gesundheitswesen in
Spandau. Verlag: TU Berlin, 1984, 318 S.
16. Seyppel, Joachim: Die Mauer oder das Cafe am Hackeschen Markt. Verlag: Limes, Wiesbaden
u. München, 1981, 318 S.
17. TU Berlin, Zerges / Dunger / Sonntag: Sammlung zur Alltags- und Industriekultur, ein Standortverzeichnis, Bd. 1 A-J, 1983, 522 S.
18. Verkehrs- und Baumuseum Berlin: Amtlicher Führer durch die Sammlungen, Reprint der Ausgabe von 1941. Verlag: Ästhetik und Kommunikation, Berlin, 183 S.
Buchbesprechungen
Hesse/Schrader (Hg.): Menschen in Berlin. 750 Berliner, Fotos, Meinungen und Ansichten. Fotografiert von: Petra Gall, David Hornback, Christian G. Irrgang, Ann-Christine Jansson, Wolfgang
Knapp, Paul Langrock, Ali Paczensky, Thomas Rase, Nelly Rau-Häring, Marco Saß, Sabine Sauer,
Hans-Peter Stiebing, Ruth Walz. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 1987, 280 Seiten.
Die Herausgeber haben die Idee, 750 Jahre Berlin in „750 Berliner" zu verwandeln, zu einem Bildband gestaltet, der ein Portrait dieser Stadt im Spiegel ihrer Menschen sein soll. Der zufällige Bezug,
der sich durch die alphabetische Anordnung ergibt, zeigt eine Welt der Gegensätze auf. Hesse/Schrader schreiben hierzu: „Durch Sichtbarwerden und Sich-zur-Sprache-bringen treten die Menschen
einen Moment aus der Vereinsamung, Sprachlosigkeit, Anonymität und Bevormundung ihres großstädtischen Massendaseins heraus. Vielleicht wird so auch eine Art Dialog zwischen ihnen und dem
Leser möglich, der — sich im anderen erkennend — nicht nur vom anderen, sondern auch etwas über
sich selbst erfährt."
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Wenig Zeit ist erst vergangen, seit dies Buch das Licht der Öffentlichkeit erblickte, und schon wundert
man sich über das Wiedersehen mit Dr. Gert Ellinghaus oder bestaunt die Wachablösung vor dem
„Kriegsverbrechergefängnis" in Spandau oder das Foto des greisen Wolfgang Neuss.
Man glaubt eine gewisse Tendenz aus den Äußerungen herauszuhören, wenn der Ärztekammerpräsident Dr. Ellis Huber von seinen Kollegen erklärt, sie würden zu emotionalen Analphabeten erzogen,
wohingegen „wir die Leute (sind), die diese Gesellschaft für's nächste Jahrtausend gestalten". Heinrich Albertz bekundet seinen „Ekel vor dem Sumpf" in der alten Hauptstadt Preußens, und Rolf
Bothe weist auf die Gegensätze hin, „die Berlin charakterisieren: einerseits die ganz große Kunst,
andererseits großes soziales Elend". Auch ein Student stellt die sonst gerade von jungen Leuten erfahrene Situation Berlins auf den Kopf, wenn er die Isolation beklagt: „Du kannst hier nicht zwanglos
Leute kennenlernen."
In den Chor derer, die Berlin ablehnen, stimmen dann auch Rechtsanwalt Claus Croissant ein, der in
Berlin (West) lebt, „weil es nicht Teil der Bundesrepublik ist und auch nicht von ihr regiert werden
darf".
Die positiven Stimmen der hier ausgewählten Berliner, was nicht mit Wahl-Berliner gleichzusetzen
ist, seien indes nicht verschwiegen, so diejenige des Präsidenten des Umweltbundesamtes Dr. Heinrich Freiherr von Lersner, für den Berlin „die großstädtischste, lebendigste Stadt der Bundesrepublik
ist". Oder von Dr. Hanna-Renate Laurien: „Ich mag Berlin, weil es Stimmung atmet, weil es faszinierend ist, mit jenen Spannungen zu leben, die für Berlin kennzeichnend sind."
Daß es sich bei den Bauarbeitern in Ost-Berlin (Nr. 57—75) in Wirklichkeit um Pioniere der Nationalen Volksarmee handelt, zeigt ein Blick auf deren Uniformen.
Dr. Ulrich Eckhardt sei das letzte Wort gegeben: „Nach dem Selbstverständnis der Stadt und ihrer
Bewohner muß die Beschäftigung mit Geschichte aktuell bezogene Nachfrage sein, nicht rückwärtsgewandte Nostalgie." Auf der nächsten Seite werden allerdings dann zwei Verleger abgebildet, die
einen Verlag und eine Kneipe machen, denn: „Buch und Bier hält Leib und Seele zusammen." Dies
hätte der Rezensent nicht treffender sagen können.
Hans G. Schultze-Berndt
Stationen der Moderne — Die bedeutenden Kunstausstellungen des 20. Jahrhunderts in Deutschland. Berlin 1988 (Nicolai). Eine Ausstellung der Berlinischen Galerie — Museum für moderne
Kunst, Photographie und Architektur, 25. September 1988 bis 8. Januar 1989.
Die Ausstellung, die die Geschichte der bedeutenden Ausstellungen des 20. Jahrhunderts in Deutschland im Rahmen des Programms „Berlin — Kulturstadt Europas 1988" zu rekonstruieren unternommen hatte, wird sicherlich eben in die Geschichte dieser Ausstellungen als konzentrierter Überblick
über ein halbes Jahrhundert Kunstbetrieb in Deutschland eingehen. Dazu wird ihr nicht zuletzt der
sehr gut gearbeitete Katalog verhelfen. Seine einleitenden Überblicke und Einführungen von Roters,
Grasskamp, Schneede, Hüneke, Herzogenrath und Merkert, die Geschichte und Bedeutung dieser
Ausstellungen umkreisen, vermitteln gerade wegen der gelegentlich auftretenden Überschneidungen
in den nuancenreichen Interpretationen des gleichen Phänomens ein ungemein spannungsvolles Bild,
das sich gegenseitig ergänzt, die Katalogbeiträge zu den einzelnen Ausstellungen vor dem Ersten
Weltkrieg, während der Weimarer Republik, in der Zeit des Nationalsozialismus und nach 1945 - insgesamt 20 Stationen — liefern die einzelnen Bestandteile zum Gesamtbild.
In die „Stationen der Moderne" eingereiht wurde auch die „Große Deutsche Kunstausstellung" München 1937, selbst wenn diese alles andere als „modern" sein wollte. Trotzdem war ihre Aufnahme in
das Konzept der Ausstellungen gerechtfertigt, einmal um diese Zeit nicht einfach totzuschweigen und
durch Übergehen zu „bewältigen", zum anderen um aufzuzeigen, daß neben der avantgardistischen
Moderne seit der Jahrhundertwende bürgerlich-konservative Kunst eben weiterhin Bestand hatte.
Die bildende Kunst im „Dritten Reich" als „von extrem spießiger Mediokrität" (Roters), als „meist
um künstlerisch belanglose Sentimentalitäten im technisch perfekten Rückgriff auf altgewohnte,
inzwischen zum Klischee verkommene inhaltliche und kompositorische Schemata" (Roters), d. h.
überwiegend mit Kriterien der Kunstkritik zu verstehen (und zu verurteilen), wird auf Dauer nicht
ausreichen; sie muß in ihre historischen Abhängigkeiten und Bedingungen eingeordnet und bewertet
werden. Diese Auseinandersetzung zu führen überstiege indessen die Möglichkeit einer solchen Ausstellung, die trotzdem das immer wieder notwendige — hoffentlich heilsame — Erschrecken über diese
Zeitdokumente nach 1933 erneuert hat.
Helmut Engel
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Das neue Berlin-Kochbuch. Alte Rezepte & neue Ideen. Von Sybille Schall und Günther Fannei.
96 Seiten mit 79 Koch- und 20 Getränke-Rezepten. 94 Abbildungen in Farbe. Format 23,5 X 24 cm.
Küchen- und praxisgerecher Hochglanzleinband. 29,80 DM. Nicolaische Verlagsbuchhandlung
Beuermann GmbH, Berlin 1987.
Die Autoren, die auch für die Rezepte verantwortlich sind, G. Fannei überdies für neue Ideen mit
Berliner Weisse, haben ihrem Buch „Geschichte und Geschichten vom Essen und Trinken in Berlin"
vorangestellt. Apodiktisch erklären sie: „Andere Städte werden von kostbaren Bauten und prächtigen Anlagen, Berlin wird vom Berliner geprägt. Dessen Küche ist weder originell, noch sehr einfallsreich, aber sie hat Charakter. Und sie machte den Berliner zu einem zufriedenen Esser und fröhlichen
Zecher." Schon 1288, mithin vor genau 700 Jahren, „brauten die alten Weiblein im Hospital zum
Heiligen Geist ein starkes und gesundes Bier", aber bereits 1331 mußten die Berliner zur Mäßigkeit
im Essen ermahnt werden. Während die Liebe des Berliners zum Korn in jeder Form (von Molle und
Korn bis zu Stulle und Schrippe) erhalten geblieben ist, dürfte diejenige zu Fisch wohl mehr der Vergangenheit angehören. In Berlin werden nicht nur die verschiedenen Zuwanderer mit den „Ureinwohner" verschmolzen, die auf diese Weise entstandenen Berliner verfügen dann auch über die
Gabe, alles Fremde aufzunehmen und zu nutzen — einschließlich der Berliner Küche, die in unseren
Tagen bunter und vielseitiger geworden ist.
Von Joachim I., „mäßiger Esser und sparsamer, aber überzeugter Biertrinker", erfährt man, daß er
den „Churfürstlichen Hopfengarten für die Große Churfürstliche Brauerei" anlegte. Auch Johann
Georgs Mitgliedschaft im „Orden zur Mäßigung des Trinkens", die „täglich nur 14 Becher Wein erlaubte", konnte es nicht verhindern, daß Dorfkrug und Trinkstube zur zweiten Heimat des Berliners
wurden. Wenn man hierfür „Kneipe" setzt, ist dies bis heute so geblieben.
In einem abschließenden Kapitel wird auf Mix-Rezepte mit Berliner Weisse eingegangen und darauf
verwiesen, daß die Weisse der Berliner Kindl Brauerei, einer der Sponsoren dieses Buches, dank ihrer
Tankgärung keinen Hefebodensatz mehr enthält und sich als klares Getränk für Cocktails eignet —
sofern man diese nicht gar mit naturtrüben Säften bereitet.
Die Abbildungen sind so plastisch, daß einem das Wasser im Munde zusammenläuft.
SchB.
Im vierten Quartal 1989
haben sich folgende Damen und Herren zur Aufnahme gemeldet:
Ludewig, Karin,
Weddigenweg 67 a, 1000 Berlin 45
Tel. 8 33 16 45
(Geschäftsstelle)
Thur-v. Schütz, Ingrid-Leonore,
Rechtsanwältin u. Notarin
Ringstraße 32/33, 1000 Berlin 45
Tel. 8 33 83 04
(R. u. I. Schröter)
Dr. Venohr, Wolfgang, Journalist
Fregestraße 65/66, 1000 Berlin 41
Tel. 8 5213 33
(Oxfort)
Wirth, Wolfgang, Pharmazeut
Markgrafenstraße 86, 1000 Berlin 61
Tel. 2 5184 75
(R. Koepke)
Beilagenhinweis
1. Diesem Heft liegt eine Ermächtigung zum kostenlosen Bankeinzugsverfahren bei. Die Schatzmeisterin würde sich freuen, wenn die Mitglieder von dieser Möglichkeit regen Gebrauch machen
würden.
2. Weiterhin liegt eine Einladung mit Rückantwortkarte bei.
3. Außerdem liegt die fehlende Karte des Jahrbuches bei. Wir bitten die Mitglieder, diese dem Jahrbuch einzulegen.
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Veranstaltungen im I.Quartal 1990
1. Freitag, den 12. Januar 1990, 15.00 Uhr: Eisbeinessen mit vorausgehender Führung
durch Herrn Landeskonservator Professor Dr. Helmut Engel. Treffpunkt im „Gambrinus" der Schultheiss-Brauerei AG, Betriebsstätte Kreuzberg, Methfesselstraße 28—48,
1000 Berlin 61.
2. Sonntag, den 28. Januar 1990,11.00 Uhr: Festveranstaltung zm 125. Jahrestag der Gründung des Vereins für die Geschichte Berlins im Kammermusiksaal der „Kleinen Philharmonie". Einladungen mit Rückantwortkarte liegen dem Heft bei.
3. Montag, den 12. Februar 1990, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Wolfgang
Holtz: „Der Wallfahrtsweg zum Wunderblut von Wilsnack". Bürgersaal des Rathauses
Charlottenburg.
4. Montag, den 26. Februar 1990, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Professor Dr.
Hellmut Lorenz: „Schlüters Landhaus Kameke". Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg.
5. Freitag, den 2. März 1990,15.00 Uhr: „Eine Schlafzimmer-Ausstattung von Julius Zwiener im Auftrag Kaiser Wilhelms II. für das Berliner Schloß". Die Neuerwerbung erläutert
Herr Professor Dr. Winfried Baer. Treffpunkt Eingang Knobelsdorff-Flügel des Schlosses
Charlottenburg.
6. Sonntag, den 25. März 1990, 11.30 Uhr: Besichtigung der Marienkirche im Stadtbezirk
Mitte. Treffpunkt am Sühnekreuz neben dem Westportal.
Die Anschrift der Bibliothek lautet ab sofort:
Verein für die Geschichte Berlins
Bibliothek
Berliner Straße 40
1000 Berlin 31
Telefon 872612
geöffnet wie bisher mittwochs 16 bis 19.30 Uhr, Zugang über den 1. Hof.
Fahrverbindungen: U-Bahn Linie 7, Bhf. Blissestraße (West-Ausgang rechts); Omnibusse 1, 4,
74 und (Haltestelle Uhlandstraße:) 60.
Vorsitzender: Hermann Oxfort, Breite Straße 21, 1000 Berlin 20, Telefon 3 33 24 08.
Geschäftsstelle: Frau Ingeborg Schröter, Brauerstraße 31, 1000 Berlin 45, Telefon 77234 35.
Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13, 1000 Berlin 65, Telefon 4509-291.
Schatzmeisterin: Frau Ruth Koepke, Temmeweg 38, 1000 Berlin 22, Telefon 365 7605.
Konten des Vereins: Postgiroamt Berlin (BLZ 100 10010), Kto.-Nr. 433 80-102,1000 Berlin 21;
Berliner Bank AG (BLZ 10020000), Kto.-Nr. 0381801200.
Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr.
1865, Schriftleitung: Günter Wollschlaeger, Kufsteiner Straße 2, 1000 Berlin 62; Dr. Christiane
Knop, Rüdesheimer Straße 14,1000 Berlin 28; Roland Schröter. Beiträge sind an die Schriftleiter zu
senden.
Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 16 DM
jährlich.
Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn, 1000 Berlin 49.
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.
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PS3
A 1015 F
MITTEILUNGEN
DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS
GEGRÜNDET 1865
86. Jahrgang
~
^ Heft 2"
April 1990
Ratsbib'lofhek
Fochabtellung der Berliner
Starft!>ibll«thet
Die Büste Friedrich August Stülers
nach einer Kopie von Schievelbein
im Palast der Ungarischen Akademie der Wissenschaften
Friedrich August Stüler (1800-1865)
Gedanken zum 125. Todestag des preußischen Architekten
Von Gerd Kley
Wer offenen Auges durch die Berliner Stadtbezirke und die Mark Brandenburg geht, wird eine
Vielzahl von Bauten aus der Mitte des 19. Jahrhunderts entdecken, die auch heute noch unsere
Stadtbilder und Landschaften prägen. Fast alle haben im Krieg gelitten. Manche sind heute in
veränderter Form, meist mit sehr vereinfachter oder modernisierter Innenausstattung wieder
aufgebaut, weiteren Bauten sieht man an, daß sie bis heute nicht für denkmalwürdig gehalten
werden. Einige wurden in der Nachkriegszeit abgetragen.
Friedrich August Stüler war einer der produktivsten Architekten der Generation nach Schinkel, zu der u. a. auch Knoblauch, Strack, Hesse und Persius gehörten.
Friedrich August Stüler war das jüngste Kind einer alteingesessenen Mühlhäuser Pfarrersfamilie, deren berufliche Traditionen er nach dem Wunsche des Vaters fortsetzen sollte. Stüler
schloß mit 17 Jahren das Gymnasium seiner Vaterstadt mit der Reifeprüfung ab. Einer seiner
älteren Brüder, Carl Ascan (geb. 1796), war derzeit königlicher Bauinspektor in Erfurt. Vielleicht war es dessen Einfluß, vielleicht inspirierten den jungen Stüler auch die herrlichen Bauwerke des mittelalterlichen Mühlhausen, daß er einen Beruf im Bauhandwerk wählen wollte.
Der Weg zur Baukunst führte damals nur über die Laufbahn eines königlichen Baubeamten.
Die erste Stufe dazu war eine Lehre als Feldmesser, die er bei seinem Bruder in Erfurt absolvierte, bevor er 1818 seine Fachstudien an der Berliner Bauakademie begann. Stüler absolvierte einige Grundstudien. Kunstgeschichtliche (Prof. Hirz) und mathematisch-naturwissenschaftliche Vorlesungen mußte er an der Berliner Universität oder bei Privatdozenten belegen,
Zeichenunterricht erhielt er an der Kunstakademie bei Prof. Hummel. Die Bedingungen waren
keinesfalls günstig und erforderten ein hohes Maß an eigener Initiative, zumal die führenden
Architekten dieser Zeit kaum Einfluß auf den Lehrbetrieb nahmen und vorrangig — wie z. B.
Schinkel — in strenger Abgeschiedenheit mit ihren Mitarbeitern wirkten.
Im Mai 1819 besteht Stüler das Examen als Feldmesser und leistet bis 1820 als Pionier seinen
Militärdienst. Vom Herbst 1820 an leitet er drei Jahre als „Kondukteur" verschiedene Bauausführungen im Raum Naumburg/Schulpforte und beschäftigt sich gleichzeitig mit seiner ihm
1820 übergebenen Probearbeit für die Staatsprüfung als Baumeister, zu der im Fach Wasserbau der Entwurf einer Schleuse, im Fach Maschinenbau eine Vorrichtung zum Bewegen einer
Lenkstange und im Fach Hochbau der Entwurf einer Landkirche für 600 Personen gehörten.
In Berlin macht er auch in seiner Naumburger Zeit von sich reden, indem er bestimmte Aufgaben beim Bau der Medizinisch-Chirurgischen Friedrich-Wilhelm-Akademie in der Friedrichstraße und einer Kaserne in der Karlstraße übernimmt.
Seine Staatsprüfung als Baumeister besteht er im März 1827 mit höchstem Lob der Kommission und qualifiziert sich damit auch zum „königlichen Beamten". Stülers Entwurf einer Landkirche stellt einen Backsteinbau mit Formziegeln dar. Er bedient sich dabei ausschließlich der
gotischen Formensprache. Schinkel wird durch diesen Entwurf auf Stüler aufmerksam und
verpflichtet ihn zur Mitarbeit beim Bau des Palais für den Prinzen Karl in Berlin. Die zweijährige Bauzeit ist vermutlich die Periode des engsten Kontaktes zwischen Schinkel und Stüler. Er
wird diese Zeit zum intensiven Studium der Fähigkeiten des Altmeisters des Klassizismus, vielleicht aber auch zur kritischen Auseinandersetzung mit dessen Bauauffassungen genutzt
haben. Er selbst hat es stets abgelehnt, als „Schinkel-Schüler" zu gelten.1
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Abb. 1: Universität zu Königsberg, aus Miegel, „Königsberg" 1939, Stabi Berlin.
Im April 1829 zieht es ihn mit seinem Freund Eduard Knoblauch (1801—1865; ihr gemeinsames Werk ist die 1866 eingeweihte Neue Synagoge), der damaligen Tradition folgend, für
einige Zeit zum Studium von Kunst und Architektur der Klassiker in südliche Gefilde, nach
Frankreich, in die Schweiz und nach Italien. Beide bringen eine Vielzahl von Stadtbildern und
landschaftlichen Ansichten nach Hause. Bei Stüler festigt sich auf diesen Reisen die Überzeugung, daß Architektur immer als Teil eines landschaftlichen Gesamtbildes zu begreifen sei, niemals als Bauaufgabe an sich. In Italien überrascht ihn die Nachricht von der Ernennung zum
Preußischen Hofbauinspektor (Mai 1829), einer Auszeichnung, deren damit verbundene
Pflichten er erst nach Rückkehr von seiner Studienreise im Juli 1830 wahrnehmen muß. Schon
im Juli 1831 erfolgt seine „Beförderung" zum Hofbaurat und Direktor der Schloßbaukommission von Berlin. Ohne Zweifel spielen hierbei Stülers Leistungen bei seinen bisherigen Bauten
eine Rolle. Seine engen Bindungen zum preußischen Hof waren seiner Entwicklung zumindest
sehr förderlich. Zum König und zum Kronprinzen Friedrich Wilhelm bestanden seit dem Bau
des Palais für den Prinzen Karl und einer gemeinsam im Charlottenburger Schloß verbrachten
Quarantänezeit (bei Ausbruch der Cholera in Berlin) enge persönliche und künstlerische Kontakte. Namentlich der spätere König Friedrich Wilhelm IV. (1795-1861) mit seinen architektonischen Neigungen begeisterte sich für Stülers Entwürfe und kunsthistorische Exkurse.
Beide verband eine lebenslange Beziehung, die weit über die eines königlichen Dienstherren
und seines Baumeisters hinausging. Diese Verbindung wurde von manchem Zeitgenossen als
Glück für die Durchsetzung Stülerscher Ideen, von anderen dagegen als Gängelung und Vergeudung des Stülerschen Genies durch den Zwang zur Beschäftigung mit den naiv-dilettantischen Ansichten des „architektonischen Schwärmers" Friedrich Wilhelm angesehen, mit
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deren Umsetzung er seine Kreativität und Originalität verbrauchte. Er selbst mag es nicht so
gesehen haben. Zumindest bestätigte er dem König nach dessen Tod in einer Gedenkrede auf
dem Schinkelfest des Architektenvereins 1861 hohe Sachkenntnis und baukünstlerische Begabung.2
Bis zum Jahre 1840 sind bis auf die Wiederherstellung des Rittersaales im Berliner Schloß und
des Neubaus der Kirche in Nikolskoe an der Havel keine Bauten Stülers im Rahmen seines
Staatsamtes bekannt. Er betätigt sich vielmehr als Privatarchitekt und entwirft Bürgerhäuser
und Landschlösser sowohl in Berlin als auch im weiteren preußischen und mecklenburger
Raum. Unter den Schloßbauten ist besonders die Anlage des Dorf- und Schloßkomplexes von
Basedow zu erwähnen. Im Auftrag des Grafen Hahn von Basedow schufen Stüler und Peter
Joseph Lenne (1789—1866) eine Schloß- und Parklandschaft unter Einbeziehung der dörflichen Umgebung, deren Schönheit auch heute noch zu erkennen ist.
In einer Rede auf dem XI. Bundeskongreß des Kulturbundes zur Erbaneignung ging Helmut
Sakowski speziell auf Stülers Werk in Basedow ein (auch wenn er vom „Schinkelschüler Stüler"
spricht) und dessen Verfall in den vergangenen Jahrzehnten. Er forderte dazu auf, das kulturelle Erbe auch auf diesem Gebiet anzunehmen und zu wahren.3
In dieser Zeit entstanden offensichtlich auch einige Wohnbauten sowie eine Leichenhalle nach
seinen Entwürfen in der Heimatstadt Mühlhausen, die heute verschwunden sind.4
Interessant ist die Entstehungsgeschichte eines Denkmals für den verstorbenen Mühlhäuser
Bürgermeister Gier, eines aktiven „48ers". Als Hofbaurat konnte er es sich wohl nicht leisten,
offen als Architekt des Denkmals für seinen Landsmann und Freund der Familie aufzutreten.
Er fürchtete, in Ungnade zu fallen. So wanderten Entwürfe und Gutachten unter Umgehung
des Namens über einen in Berlin studierenden Mühlhäuser hin und her, bis es unter tunlichster
Vermeidung des Namens seines Meisters eingeweiht werden konnte.5
In den letzten Regierungsjahren des Königs Friedrich Wilhelm III., die Stüler seitens seines
staatlichen Amtes wenig forderten, widmete er sich sehr intensiv seiner Nebentätigkeit als Lehrer an der „Allgemeinen Bauschule", der zeitweiligen Nachfolgerin der Bauakademie. Dort
lehrte er von 1834 bis 1842 u. a. die Fächer „Stadtbaukunst" und „Entwurf von Gebäuden in
höherem Stil" für angehende Bauinspektoren. Dem von Eduard Knoblauch 1842 gegründeten
Architekten-Verein gehörte Stüler seit Anbeginn als Vorstandsmitglied an. Aus einer losen
Gemeinschaft junger Architekten zur künstlerischen Selbstbildung wurde nach und nach ein
wohlorganisierter Verein mit regelmäßigen Vorträgen, Diskussionsveranstaltungen und Ausstellungen. Das Notizblatt des Vereins mit seinen Abhandlungen wurde die erste bauwissenschaftliche Zeitschrift in Deutschland. Die Jahresversammlungen des Vereins (später „Schinkelfeste" genannt) haben Architekturgeschichte gemacht. Die zu den Schinkelfesten ausgeschriebenen Bauwettbewerbe förderten weiterhin das Baugeschehen und die Qualifizierung
der Architekten.6
Stüler selbst beteiligt sich mit Joh. Heinrich Strack (1805—1880) an einem Wettbewerb zum
Bau einer Eisenbahnstation in Petro-Pawlowsk bei Petersburg (nicht ausgeführt). Sowohl hier
als auch beim Wettbewerb um ein Denkmal für den Kaiser Franz in Prag mit einer umgebenden
neuen Straßenanlage sowie um die Neue Börse in Frankfurt/Main erringt er den ersten Preis.
Letzteres wird später unter seiner Leitung auch ausgeführt.7 Gegen Ende seines Lebens nimmt
er wieder an einem Wettbewerb teil, diesmal um den besten Entwurf für den Palast der Ungarischen Akademie der Wissenschaften zu Budapest. Er erhält den Zuschlag in Konkurrenz zu
Architekten aus Deutschland und Ungarn (Klenze, Henslmann, Ferstel, Skalnitzky).
Bei einem Aufenthalt in der Mainmetropole lernt er die Tochter des bayerischen Gesandten im
Frankfurter Bundestag, Caroline von Mieg (1807-1888), kennen. 1834 findet in Aschaffen268
,
Abb. 2:
Schloß zu Königsberg
mit dem Turm
nach Entwurf Stülers.
bürg beider Hochzeit unter großer Anteilnahme seiner Kollegen und Freunde statt. Er selbst
und seine nächsten Freunde schätzten ein, daß diese Frau, interessiert an all seinen Arbeiten,
ebenbürtig an Geist und Charakter, es Stüler erst ermöglichte, die Schaffenskraft, die die Jahre
nach 1840 erforderten, freizusetzen. Der Ehe mit Caroline von Mieg, die ihn 23 Jahre überlebte, entstammten 3 Töchter und 4 Söhne.
1840 tritt in der Person Friedrich Wilhelms IV. ein romantisch verklärter Monarch die Regierung in Preußen an, der sich der Baukunst gegenüber nicht als Mäzen fühlt, sondern der als
Architekt selbst entwerfen und ausführen will. Der Altmeister Schinkel ist zu dieser Zeit bereits
durch seine schwere Krankheit gezeichnet, der er 1841 erliegt. Stüler und Ludwig Persius
(1803—1845) treten an seine Stelle, wobei es zunächst zu einer Teilung der Zuständigkeiten
zwischen Berlin und Potsdam (Persius) kommt. Beide werden gleichzeitig 1842 zu „Architekten S. M. des Königs" ernannt und als Oberbauräte in die Technische Oberbaudeputation
Preußens berufen (die 1850 als Bauabteilung in das Ministerium für Handel, Gewerbe und
öffentliche Arbeiten eingeht). Damit hatten beide Architekten Einfluß auf das gesamte öffentliche Baugeschehen in Preußen. Mit August Soller (1805—1853) war Stüler für das Kirchenbauwesen in Preußen verantwortlich. Der Kirchenbau entsprach seit Beginn seiner Berufstätigkeit den persönlichen Neigungen. Es war der ausdrückliche Wunsch des Monarchen, im
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preußischen Raum viele mittelalterliche Kirchen — z.T. unvollendet, z.T. verfallen — zu restaurieren und jeder Kirchengemeinde ein eigenes Gotteshaus zu beschaffen. Ein derartiges Bauprogramm erforderte den Einsatz aller damals vorhandenen technischen Mittel und die Auswahl möglichst leicht beschaffbarer Baumaterialien, die aber trotzdem ein künstlerisch vollendetes Werk garantieren sollten.
Stüler begibt sich 1842 mit Strack auf eine Reise nach England, um den dortigen Kirchenbau zu
studieren. Seine in England gewonnenen Erfahrungen über die künstlerischen, technischen
und organisatorischen Aspekte des Kirchenbaus und ihre Übertragbarkeit auf preußische Verhältnisse8 sowie seine in Italien gewonnenen Eindrücke finden ihren Niederschlag in dem 1852
gemeinsam mit Soller u. a. verfaßten Werk „Entwürfe zu Kirchen, Pfarr- und Schulräumen".9.
Nach Sollers Tod 1853 ist er als Dezernent allein für den Kirchenbau in Preußen zuständig. Bis
zu seinem Tod beteiligt sich Stüler durch eigene Entwürfe und Korrekturen an etwa 300 Kirchenbauten. Keine der Kirchen gehört jedoch in ihrer Ausstattung zu den Gotteshäusern ersten
Ranges, ihre künstlerische Durchbildung ist trotzdem oft vorzüglich. Sie dienten vorwiegend
den Zweckbedürfnissen nicht sehr reicher und kleiner Gemeinden. Zu nennen sind in diesem
Zusammenhang die Berliner Bartholomäus-, Jacobi- und Marcus-Kirche, die ehemaligen
Dorfkirchen in Pankow und Marzahn, die Kirchen in Oranienburg, Werder, Fehrbellin, Oderberg, Hohensaaten, Birkenwerder, Zingst und Niemegk, um nur einige Beispiele anzuführen.
In seiner näheren Heimat entwarf er die Dorfkirche zu Dachwig bei Erfurt. Für ein großes,
monumentales Gotteshaus liegt von Stüler nur ein Entwurf vor, nämlich für einen neuen Dom
in Berlin, der das Schinkelsche Bauwerk ablösen sollte. Aus vielerlei Gründen kam er zu dieser
Zeit nicht zur Ausführung, sondern erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Entwurf von
Raschdorff.
Die Restaurierung und die Anpassung eines gotischen Turmes an die unvollendete Bartholomäuskirche in Demmin stellt eine ausgezeichnete denkmalpflegerische Leistung dar und zeugt
von Stülers Fähigkeit, sich in die Gedankenwelt der Baumeister vergangener Epochen zu versetzen.10 Dies gilt gleichermaßen für seine denkmalpflegerischen Arbeiten zur Innenausstattung der Barther Marienkirche.11 Bei der Restaurierung der Berliner Marienkirche erkannte
Stüler als erster die kunsthistorische Bedeutung des freigelegten mittelalterlichen Totentanzes
und ließ das Wandgemälde sichern.
In den Jahren um 1864 entwarf Stüler einen sich harmonisch an das vorhandene Bauwerk
anpassenden Mittelturm für die bis dahin unvollendete gotische Marienkirche seiner Heimatstadt Mühlhausen. Der Turm war seit seiner Entstehung mehrmals zerstört und verändert worden und trug nach der letzten größeren Erneuerung um 1690 eine barocke spanische Haube.
Stülers Vorschläge zur Sanierung der Kirche und zum Bau des neugotischen Mittelturmes wurden allerdings vom Kirchenrat wegen „Undringlichkeit" abgelehnt, schufen aber die Voraussetzung für die von 1884 bis 1903 ausgeführte Restaurierung. Der von Baurat Röttscher entworfene Mittelturm geht in seinen Proportionen zum Langhaus weit über Stülers Vorschlag
hinaus und entspricht sowohl dem Repräsentationsbedürfnis des aufstrebenden Mühlhäuser
Bürgertums um die Jahrhundertwende als auch dem Geist der späten wilhelminischen Zeit.12
Fast alle Kirchenbauten Stülers im preußischen Raum sind in unverputztem Ziegelbau ausgeführt. Auf malerische Wirkung bedacht, lehnen sich seine Entwürfe an italienische und mittelalterliche deutsche Vorbilder an. Mit dem Baumaterial korrespondierend wählt er meist den
gotischen Stil, vereinzelt jedoch auch - dem Vorbild der „Berliner Schule" folgend - antikisierende Formen und romanische Motive.
Zwischen den Architekten der „Berliner Schule" gab es eine enge künstlerische Verwandtschaft und eine ebenso enge praktische Zusammenarbeit. Bei vielen Bauwerken ist heute kaum
270
Abb. 3:
Das Kreuz am Kremmer
Damm, das die Erinnerung an
den im dortigen Gefecht am
24. Oktober 1412 gefallenen
Grafen zu Hohenlohe
bewahrt. Mit dem Sieg über
die Pommern begründeten die
Hohenzollern ihren Aufstieg
in Brandenburg. Stüler hat
1845 die hölzernen Vorgängerkreuze von 1415, 1666 und
1796 auf Ordre Friedrich
Wilhelms IV. durch dieses
Steinkreuz ersetzt.
zu erkennen, daß eine Reihe von Baumeistern am Werk war. Bei der Vollendung von Schinkels
Nikolaikirche in Potsdam durch Persius flössen Gedanken von Stüler ein (Oberbauleitung
nach Persius' Tod und Teile der Innenraumgestaltung), ebenso beim Bau der Friedenskirche im
Park von Sanssouci. Nach Knoblauchs Ausscheiden aus der Bauleitung der Neuen Synagoge
zu Berlin als Folge seines unheilbaren Leidens war es für Stüler, der ohnehin Teile der Innenausgestaltung entworfen hatte, nicht schwer, den Fortgang des Baus im Knoblauchschen Sinne
in die Hand zu nehmen, ebenso wie dies Strack tat, als Stülers Entwurf der deutschen Nationalgalerie nach dessen Tod zur Ausführung kam.
Als Hofarchitekt des Königs und Direktor der Schloßbaukommission oblagen Stüler alle Bauaufgaben an den Schlössern des Königs. Mit Albert Schadow (1779-1869) als Bauleiter setzte
er die schon von Schinkel erwogene Absicht um und errichtete über dem Eosanderportal des
Berliner Schlosses die Schloßkapelle, deren Kuppelbau bis zur endgültigen Zerstörung des
Schlosses ein markanter Punkt des Berliner Stadtzentrums war. Viel beachtet wurden Stülers
Weiterführung der Eosanderschen Prachttreppe, der Ausbau des Weißen Saales und der sogenannten Paradekammern im Schloßkomplex. All dies wurde ein Opfer des Krieges und des
Unverständnisses für die Werte unseres kulturellen Erbes durch den Abriß 1950. Wesentlichen
Einfluß nahm Stüler weiterhin auf alle Bauten in und an den Schlössern in Breslau (neuer Seitenflügel), Königsberg (Moskowiter Saal), Stolzenfels, Koblenz, Liegnitz, Erdmannsdorf und
271
Letzlingen (Jagdschloß). Der romantischen Neigung seines Dienstherrn folgend, wurde die
Burg Hohenzollern auf den Mauern der verfallenen mittelalterlichen Anlage nach Stülers Entwürfen in gotischem Stil neu errichtet. Sie gilt als Musterbeispiel der romantischen Reflexion
des Mittelalters in der Architektur.13 Letztlich wurden alle Schloßbauten von Potsdam, die in
der Regierungszeit Friedrich Wilhelms IV. entstanden, in irgendeiner Weise durch Stüler
beeinflußt (Orangerie, Schloß Belvedere auf dem Pfingstberg, Weinbergsanlagen usw.).
Einen Höhepunkt in Stülers Schaffen bildet der Auftrag zum Bau des Neuen Museums,
dem die Neugestaltung der gesamten Berliner Museumsinsel nach den Plänen Friedrich
Wilhelms IV. folgen sollte. Im Rahmen der ihm gesteckten Grenzen schuf Stüler ein Meisterwerk der Museumsbaukunst, das alle Erkenntnisse der damaligen Zeit in konstruktiver und
musealer Hinsicht berücksichtigte. In der Bauausführung wurden in England entwickelte statische Lösungen verwendet, es wurden neuartige Baustoffe und Verarbeitungsverfahren für
dekorative Elemente angewandt. So führte Stüler in enger Zusammenarbeit mit den Berliner
Gießereien den Zinkguß für den plastischen Bauschmuck in großem Maße ein (diese Technik
fand später auch beim Bau der Neuen Synagoge in vielfältiger Weise Anwendung). Als Treppenaufgang kam ein Entwurf Schinkels zur Geltung, der ebenso wie Stülers Bronzetür in
Schinkels Altem Museum die geistige Verbindung beider Meister symbolisierte.
Die benachbarte Nationalgalerie in Form eines griechischen Tempels mit architektonischer
Treppe wird erst nach Stülers Tod durch Strack ausgeführt, der den Entwurf geringfügig verändert.
Das Nationalmuseum in Stockholm gehört ebenso wie der Palast der Ungarischen Akademie
der Wissenschaften zu Budapest zu den bedeutendsten auswärtigen Bauten Stülers. Der Palast
am Donauufer stellt einen Renaissancebau dar, der ganz bewußt in der Wahl des Stiles eine
Brücke zu der Zeit der Menschheitsgeschichte schlagen soll, in der die Wissenschaft nach der
Finsternis des Mittelalters erwachte und wieder großer Leistungen fähig wurde.14 Ähnliche
Gedanken mögen Stüler bewogen haben, das Universitätsgebäude von Königsberg (Pr) in klarer und einfacher Renaissancearchitektur auszuführen. Sowohl im Material als auch in der
Wahl des Bauschmuckes hält sich Stüler bei beiden Bauwerken an die örtlichen Möglichkeiten
und Traditionen.15 Für den Schmuck an der Universität Königsberg und für die Reliefs der in
Backsteinbau gehaltenen Gitterbrücken von Dirschau über die Weichsel und Marienburg über
die Nogat verwendet er edle Terrakotabauteile, Reliefs und figürliche Darstellungen. Für die
Bahnhofsgebäude von Dirschau und Eydtkuhnen verwendet er helle Ziegelsteine und baut in
Anlehnung an italienische Paläste.
Über den künstlerischen Wert des Schweriner Schlosses ist viel gestritten worden. Unbestreitbar ist aber, daß seine märchenhafte Ansammlung vieler Stilelemente und Teile aus vielen Epochen eine romantische Anziehung auf die meisten Menschen ausübt. Seine äußere Form hat es
letztlich durch Stüler erhalten, der nach der Amtsenthebung Georg Demmlers (1804—1886)
die Weiterführung des Umbaus übernahm. Neben Teilen des überkommenen Schloßbaus finden wir Elemente der Renaissance und der Gotik in einer gekonnten Stilverschmelzung, die
den malerischen Reiz des Schlosses bewirkten. Schon bei der ersten Ausschreibung für die
Umgestaltung des Schlosses in den 30er Jahren standen sich Demmler, Semper und Stüler als
Konkurrenten gegenüber. Großherzog Friedrich Franz II. entschied sich damals aber für keinen der Vorschläge. Ohne Zweifel gab es nach der Übernahme der Bauleitung im Jahre 1851
bei Lage der Dinge zwischen Stüler und Demmler große Kontroversen, die M. Pfannstil in ihrer
Serie zum Schweriner Schloß in der „Wochenpost"16 allein der politischen und persönlichen
Feindschaft zwischen beiden zuschreibt. Eine solche Beurteilung mißachtet die damaligen
Gegebenheiten im Bauwesen, bei denen die Konkurrenz um den besten Entwurf bzw. um die
272
Abb. 4: Stülers Geburtshaus in Mühlhausen in Thüringen, das Pfarr- und Gemeindehaus
„St. Marien", inzwischen in der Dachzone und der Fensterfront verändert.
Gunst des Bauherrn zum Normalen gehörte. Allerdings muß eingeräumt werden, daß Stüler
seinem Landesherrn gegenüber stets eine loyale Haltung eingenommen hat, die auch in der
Zeit der 48er Revolution nicht erkennbar ins Wanken geriet.
In die späten Schaffensjahre Stülers fallen wiederum eine ganze Reihe von Wohnbauten,
Schloßentwürfen und -umbauten, so z.B. in Boitzenburg, Blankenburg, Neustrelitz und
Altenstein bei Meiningen sowie die Marställe in Meiningen und Altenburg. Die Berliner Villen
Stülers haben die große Stadterweiterung und die Zerstörung des letzten Krieges nicht überstanden, auch nicht das Cafe Kranzler an der Ecke Friedrichstraße/Unter den Linden, dessen
romanischer Anbau das Bild dieser bewegten Ecke prägte.
Die Vielseitigkeit Stülers zeigt u. a. auch seine Aktivität bei der Gestaltung von Grabkapellen
und Denkmälern (so das Rubenow-Denkmal in Greifswald, das Schulz-Kersten-Denkmal in
Kyritz, das Hohenlohe-Kreuz in Kremmen, das Jasko-Kreuz auf der Insel Schildhorn, das Kurfürst-Johann-Denkmal in Köpenick, die Grabdenkmale von Koppen und von Ravene in Berlin-Mitte).
Stüler stand zu seiner Schaffenszeit in hohen Ehren, wurde dekoriert von den Regierenden vieler Länder und war Mitglied einer großen Zahl in- und ausländischer Akademien und Gesellschaften.
Nach Knoblauchs Ausscheiden übernahm Friedrich August Stüler auch die Leitung des Architektenvereins, dessen Vorstand er seit 1824 angehörte.
Als er sich am Abend des 18. März 1865 zu einer Sitzung der Berliner Kunstakademie begeben
wollte, erlag er einem Herzschlag, der ihn — der immer voll aus seinen Kräften schöpfen konnte
- unvorbereitet aus seinem Arbeitsleben riß.
273
Unter Teilnahme der gesamten Architektengemeinde Berlins und vieler Freunde und Vertreter
der Berliner Öffentlichkeit wurde Stüler am 23. März 1865 auf dem Dorotheenstädtischen
Friedhof in Berlin beigesetzt. Durch Spenden seiner Freunde und Kollegen konnten 2000 Thaler aufgebracht werden, mit deren Hilfe nach Entwürfen von Strack ein würdiges Denkmal entstand. Ein marmorner Baldachin erhob sich über einer Büste, geschaffen von Schievelbein, die
Stüler als 50jährigen Mann zeigte. Das Grab war umgeben von einem kunstvollen gußeisernen
Gitter.
Die gesamte Anlage fiel dem letzten Krieg zum Opfer. Eine Wiedererrichtung übersteigt zur
Zeit die Möglichkeiten der Denkmalpflege. Noch in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts
begeistert gefeiert, begann bald eine radikale Abwendung der Bauwelt von den Leistungen der
Schinkel-Nachfolge. Lier bestätigt Stüler 1893 in der „Allgemeinen Deutschen Biographie"17,
daß er „zu den Architekten gehörte, die sich vermöge ihrer Bildung und ihrer reichen geschichtlichen Kenntnisse in allen Sätteln zurecht fanden, aber nur wenige eigene schöpferische
Gedanken gehabt haben. So hat Stüler wesentlich dazu beigetragen, das Ansehen der Schinkelschen Schule in Berlin und Deutschland zu schwächen und die Unausführbarkeit des Schinkelschen Grundgedankens, aus hellenistischem Geiste heraus die Aufgaben unserer Zeit zu
lösen, deutlich zu beweisen". Die „Kunst des 19. Jahrhunderts" von Lübke-Haag18, ein Standardwerk der damaligen Zeit, erwähnt die Architekten der „Berliner Schule" nur mit einem
Satz, die Meister des Bauhauses haben für sie gar nur Verachtung übrig.
Stüler und mit ihm der ganzen Generation der Schinkel-Nachfolge wird man nur gerecht, wenn
man sie aus heutiger Sicht im Zusammenhang mit ihrer historischen Epoche, ihrem eigenen
Geschichtsverständnis, ihren spezifischen künstlerischen Ansichten, aber auch ihren technischen Möglichkeiten sieht. Die Technik des Bauens hatte sich im Prinzip seit Jahrhunderten
nicht wesentlich geändert und basierte auf soliden handwerklichen Traditionen. Die Ausbildung der Baumeister war noch zu Stülers Jugend mehr oder weniger unsystematisch und vom
Geschick oder Glück des einzelnen abhängig. Aus technischen Neuerungen konnten keine
Impulse für eine neue Stilrichtung kommen. Neue Lösungen im Detail, beim Baumaterial, im
Bauschmuck usw. wurden oft schon als gravierende Umwälzungen angesehen. Gerade hierbei
hat Stüler in mancherlei Hinsicht Pionierarbeit geleistet, sei es — nach Schinkel — beim umfassenden Einsatz des heimischen Backsteins im Kirchenbau, der Einführung neuer preiswerter
Werkstoffe und Rezepte für hohe Ansprüche, des Einsatzes von Terrakotta und des Zinkgusses
für den Bauschmuck sowie bei der Anwendung neuer statischer Lösungen.
Alle Kunstepochen schöpften aus dem Formenreichtum ihrer Vorgeschichte, meist jedoch nur
im historischen Nahfeld oder in einer bevorzugten Epoche der Vergangenheit. Das
Geschichtsverständnis der Romantik hatte diese Grenzen abgestreift und sah sich als Erbe der
gesamten Menschheitsgeschichte. Was Wunder, daß sich ihre Künstler berufen fühlten, aus
dem gesamten Formenschatz der Vergangenheit zu schöpfen. Stüler und seine Zeitgenossen
fühlten sich nicht, wie ihr großer Ahnherr Schinkel, allein der griechischen Klassik und ihrer
Adaptation im 15./16. Jahrhundert verbunden, sie griffen, je nach Zweckbestimmung, umgebender Landschaft und architektonischem Umfeld, auf Elemente der gesamten Bautradition
zurück - eine Verfahrensweise, die natürlich bei leichtfertigem Umgang die Gefahr des Oberflächlichen, Unechten enthält. Stüler entging ihr, indem er stets klare Baukörper schuf, bei
denen nie das historische Detail die Gesamtform überwucherte. In seinem Bauentwurf für den
Palast der Ungarischen Akademie der Wissenschaften14 kommt Stülers Auffassung deutlich
zum Ausdruck. Er, der für seine kirchlichen Bauten den gotischen Stil bevorzugt, entscheidet
sich für einen Renaissancepalast. Seine Begründung dafür findet er in der symbolischen Beziehung zu der Blütezeit der Wissenschaft in der europäischen Renaissance. Er argumentiert ein274
Abb. 5:
Die Ruhestätte Stülers
auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof
(zerstört).
leuchtend, daß ein gotisches Bauwerk (für das fast alle anderen Konkurrenten plädierten) nicht
diesen Symbolwert trage und auch nicht der ungarischen Tradition entspräche.
Stüler bedient sich also der antiken Formen ebenso wie der gotischen, der des italienisierenden-altchristlichen ebenso wie der des deutsch-romanischen Rundbogenstiles, jedoch immer
in sparsamer und maßvoller Weise. Seine Kirchen, Wohn- und Profanbauten zeichnen sich
durch klare Formen, zurückhaltende und trotzdem ansprechende Ausschmückungen, klare
Proportionierungen der Baukörper und deutliche Gruppierungen aus. An allen Werken
erkennbar ist das Streben nach Harmonie mit der architektonischen und landschaftlichen
Nachbarschaft.
Mit der großen Industrialisierung, die um 1870 auch im Bauwesen einzog, ergaben sich viele
neue Möglichkeiten in technischer und kunsthandwerklicher Hinsicht. Neue Verfahren der
technischen und künstlerischen Gestaltung von konstruktiven und dekorativen Elementen
wurden ausprobiert und bald in Massenproduktion wohlfeil hergestellt, vielfach unbedenklich
und überschwenglich eingesetzt. Als Auftraggeber traten immer stärker aufstrebende Vertreter
des Bürgertums in Erscheinung, die ihre nunmehr gewonnene Bedeutung auch in ihren Repräsentationsbauten ausgedrückt sehen wollten. Die Zurückhaltung vergangener Meister galt
nicht mehr viel. Mit der Abkehr von deren Grundsätzen ging eine Hinwendung zum Detail und
zum individuellen Bauwerk einher, das oft beziehungslos zur Umgebung errichtet wurde.
In der Gründerzeit werden in freier Handhabung alle Stile der Vergangenheit neu durchlaufen,
alle technischen Raffinessen an ihnen ausprobiert, bis mit dem Jugendstil eine Form mit relativ
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eigenständiger Ausdrucksweise gefunden wird. In den Werken des Bauhauses wird schließlich
ein hoher Grad an Übereinstimmung von technischen Möglichkeiten und künstlerischer
Umsetzung verwirklicht.
Aus der Sicht unserer Tage (und mit den Augen eines kunstwissenschaftlichen Laien) kann
man sagen, daß keine der baugeschichtlichen Epochen ohne die Erkenntnisse und Irrtümer
ihrer Vorgänger zu ihren Leistungen gelangt wäre, daß sie sich auch in ihren Widersprüchen
bedingen.
Stüler stand gewissermaßen als Nachfolger des großen Schinkel am Ende einer Epoche, die uns
um viele Kunstwerke bereichert hat. Gleichwohl trug er durch sein künstlerisches, pädagogisches und organisatorisches Wirken wesentlich dazu bei, eine neue Epoche der Baugeschichte
einzuleiten. Eine weniger wohlwollende Betrachtungsweise mag dies so interpretieren, daß er
durch sein Wirken zum Absterben seiner eigenen Epoche beigetragen habe.
Die erste differenzierte Wertung nach einer Phase der Verachtung erfährt das Werk Stülers an
seinem 100. Geburtstag durch den Berliner Architekten und Kunstwissenschaftler K. E. O.
Fritsch.1 Auf einer Veranstaltung des Berliner Architektenvereins würdigt er Werk und Ausstrahlung des Meisters und versucht, die Ursachen der genannten Erscheinungen zu ergründen. Fritsch findet auch Worte für seine menschlichen Qualitäten; „der sonnigen Heiterkeit
seines Gemüts, der ungeheuchelten Bescheidenheit und Anspruchslosigkeit seines Herzens,
der Zuverlässigkeit seines Charakters. Streng nur gegen sich selbst, mild im Urteil über andere
und duldsam gegen jede von der seinigen abweichenden Ansicht, teilnehmend und hilfreich
gegen alle, die seiner Hilfe bedurften, war er der Inbegriff einer edlen und liebenswürdigen Persönlichkeit" (eine Charakterisierung, die unvereinbar ist mit der von M. Pfannstil getroffenen).
Die kürzlich aufgefundenen Briefe Stülers im Zusammenhang mit dem Bau des Palastes der
ungarischen Akademie gewähren Einblick in seine Arbeitswelt. Gleichsam zeigen sie seine
Haltung zu Kollegen und Bauleuten, die Fritschs Urteil nur bestätigen.
Die Zeit hat ihr Urteil über Stüler und seine Zeitgenossen längst gesprochen. In Berlin werden
die Ruinen des Neuen Museums und der Neuen Synagoge gesichert und in naher Zukunft wieder aufgebaut. Auch in Potsdam werden bald die von der Zeit geschaffenen Ruinen des
Pfingstberges den Glanz der Orangerie zeigen. Die Kunstwissenschaft beginnt sich des
19. Jahrhunderts unter weniger Vorbehalten anzunehmen. An dieser Stelle ist insbesondere
die umfassende Arbeit „Berliner Baukunst nach Schinkel 1840—1870" von Eva BörschSupan19 hervorzuheben. Wesentliche künstlerische Aspekte beleuchtet die Dissertation „Potsdam-Berliner Architektur zwischen 1840 und 1875" von Volker Duvigneau.20. Was aber
immer noch fehlt, ist eine umfassende Darstellung des gesamten Werkes der Meister dieser
Epoche, in der auch ihre Persönlichkeit eine entsprechende Würdigung erfährt, eine Anforderung, der ein Laie wohl nicht gerecht werden kann.
Der Autor dankt an dieser Stelle den Mitarbeitern der Deutschen Staatsbibliothek, der Berliner Stadtbibliothek, dem Kreisarchiv Mühlhausen, dem Handschriftenarchiv der Ungarischen
AdW zu Budapest sowie zahlreichen Privatpersonen für ihre Unterstützung, Frau Dr. Eva
Börsch-Supan für verschiedene freundliche Hinweise.
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Literatur
1 K. E. O. Fritsch, „Rede zum 100. Geburtstag August Stülers" anläßlich der Gedenkfeier des
Architektenvereins zu Berlin am 29. Januar 1900.
2 Friedrich August Stüler, „Über die Wirksamkeit König Friedrich Wilhelms IV. in dem Gebiete
der bildenden Kunst", Vortrag zum Schinkelfest am 13. März 1861 zu Berlin.
3 Helmut Sakowski, „Ihr wollt wohl den Grafen wieder holen? / Zum Umgang mit kulturhistorischer Hinterlassenschaft", in: „Sonntag" Nr. 33 (1987), S. 7.
4 Gerhard Günther/Winfried Korf, „Mühlhausen", Leipzig 1986.
5 Helmut Fischer, „Stülers Schaffen für seine Heimatstadt", in: „Mühlhäuser Warte" (1958) 11,12;
(1959) 2 (aus einer Jahresarbeit der EOS Mühlhausen, 1958).
6 G. Aßmann, „Carl Heinrich Eduard Knoblauch", in: „Zeitschrift für Bauwesen" 15 (1865),
427-434.
7 Friedrich August Stüler, Brief an den Sekretarius der Ungarischen Akademie der Wissenschaften,
Grafen Dessewy, vom 30. Dezember 1861.
8 Friedrich August Stüler, „Über den Bau neuer evangelischer Kirchen in England mit besonderer
Rücksicht auf den Kirchenbau unseres Landes", Zeitschrift für Bauwesen 8 (1858), 374—410.
9 Stüler, Soller, Busse, Persius, „Entwürfe zu Kirchen, Pfarr- und Schulhäusern", Potsdam 1852.
10 Georg Daniel, „St. Bartholomäus in Demmin hat eine lange Baugeschichte", in: Neue Zeit vom
15. Februar 1988.
11 Friedrich Schulz, „Ich werde Ihnen Stüler schicken — Vom Wirken des Berliner Baumeisters F. A.
Stüler im Norden unseres Landes", in: Der Demokrat vom 23. Februar 1987.
12 Winfried Korf, „Der Bau des neugotischen Turmes und die Erneuerung der Marienkirche zu
Mühlhausen", in: „Mühlhäuser Beiträge" (1981) 4, 61—66.
13 Friedrich August Stüler, „Die Burg Hohenzollern", in: Zeitschrift für Bauwesen 15(1865)1—12.
14 Friedrich August Stüler, Bauentwurf für den Palast der Ungarischen Akademie der Wissenschaften vom 16. Juli 1861, Handschriftenarchiv der UAdW, Budapest.
15 Friedrich August Stüler, „Das Neue Universitätsgebäude zu Königsberg", in: Zeitschrift für Bauwesen 14 (1864), 1-14.
16 Margot Pfannstil, Wochenpost-Serie zum Schweriner Schloß, Wochenpost 27 (1980),
Nr. 40-50.
17 H. A. Lier, in: „Allgemeine Deutsche Biographie" Bd. 36 (1893), 742/7743.
18 Wilhelm Lübke/Friedrich Haag, „Die Kunst des XIX. Jahrhunderts", Esslingen 1907.
19 Eva Börsch-Supan, „Berliner Baukunst nach Schinkel 1840—1870", München 1977.
20 Volker Duvigneau, „Die Potsdam-Berliner Architektur zwischen 1840 und 1875", Dissertation,
München 1966.
Weitere wichtige Arbeiten über Stüler:
R. Lucae, „Friedrich August Stüler / Nekrolog", Zeitschrift für Bauwesen 15 (1865), 273—278.
P. Walle, „Zur Erinnerung an August Stüler", Centralblatt der Bauverwaltung (1900) 7, S. 38-42.
Bildnachweis
Privatarchiv Dr. Gerd Kley mit Ausnahme Abb. 1
Anschrift des Verfassers:
Dr. Gerd Kley, Memhardstraße 8, Berlin—Mitte
277
In Berlin geblieben bis zum bitteren Ende
Professor Cora Berliner wäre jetzt 100 geworden
Von Ernst G. Lowenthal
Als ich unlängst im „Parlament", der Wochenschrift der Bundeszentrale für politische Bildung
(Bonn), den Aufsatz von Professor Dr. Kurt Nemitz (Bremen) über „70 Jahre Frauen in deutschen Parlamenten" aufmerksam las, schoß mir spontan die Frage durch den Kopf: Hätte nicht
auch Cora Berliner in diesen Kreis gehören können? Der Artikel handelt von drei nichtjüdischen deutschen Frauen, die, sämtlich von der Sozialarbeit her kommend, 1933 ihr Mandat als
Reichstagsabgeordnete verloren: Marie Juchacz (Landsberg a. d. Warthe 1879 — Köln 1956),
die Gründerin der „Arbeiterwohlfahrt" und SPD-Abgeordnete, die 16 Jahre ihres Lebens in
der Emigration in den USA verbrachte, sodann Christine Teusch (Köln 1888—1968), die aus
den christlichen Gewerkschaften und der katholischen Tradition des Rheinlands hervorgegangene Lehrerin, und schließlich Dr. Marie-Elisabeth Lüders (Berlin 1878—1966), die als
Abgeordnete der Deutschen Demokratischen Partei und Beamtin im Reichsarbeitsministerium sich u. a. für die Interessen der weiblichen Arbeitnehmer einsetzte. Nach Kriegsende fanden nur die beiden letzten wieder ihren Weg in die Bonner Parlamentsarbeit der CDU bzw. der
FDP.
Cora Berliner, vor 100 Jahren in Hannover geboren und am 19. Juni 1942 von den nationalsozialistischen Machthabern in die todbringende Deportation verschleppt, gehörte ungefähr zu
der gleichen Generation deutscher Frauen wie die drei vorgenannten Persönlichkeiten. Auch
ähnelten sich die vier in ihrer humanitären Grundhaltung und in gewisser Weise auch in ihren
Lebens- und Berufswegen sowie in der Art ihrer Ausbildung und in ihrer Denkausrichtung.
Gemeinsam war allen auf jeden Fall die Rolle, die sie im ungefähr gleichen Zeitraum in der
Frauenbewegung spielten. Cora Berliner z. B. gehörte längere Zeit dem Vorstand des Jüdischen Frauenbundes an.
Bevor sie 1933 — soweit erinnerlich, über den Jüdischen Central-Verein — den Weg in die
Arbeit der kurz vorher gegründeten Reichsvertretung der deutschen Juden fand, hatte Cora,
wie sie zumeist kurz genannt wurde, eine Reihe interessanter öffentlicher Ämter innegehabt.
Im nachhinein erscheint es als durchaus möglich, daß sie ohne Hitler und das Dritte Reich eines
Tages Parlamentarierin geworden wäre, im Reich, in Preußen oder in Berlin. Das Zeug dafür
hatte sie, nicht nur aufgrund ihrer Erfahrung im öffentlichen Dienst, sie verstand es auch, überzeugend und diszipliniert zu sprechen und klar zusammenzufassen. Aber Cora Berliner ging im
Alter von nur 52 Jahren dahin, in der Blüte ihrer reifen Jahre wurde ihre Laufbahn in der allgemeinen deutschen Öffentlichkeit abrupt beendet, in der sie 15 Jahre verbracht hatte. Weitere
neun Jahre arbeitete sie für die jüdische Spitzenorganisation, die Reichsvertretung der deutschen Juden (später zwangsweise umbenannt in Reichsvereinigung der Juden in Deutschland).
In dieser Dekade war sie für Rabbiner Dr. Leo Baeck, den ehrenamtlichen Präsidenten, und für
Ministerialrat a. D. Dr. Otto Hirsch, den Geschäftsführenden Vorsitzenden der R.V., eine
engagiert helfende Beraterin, zumal sie ja mit dem Apparat der deutschen Verwaltung der Zeit
vor dem Dritten Reich vertraut war und manchen ihrer Funktionsträger kannte.
Schon von früh an auch mathematisch-statistisch interessiert und in dieser Richtung vielleicht
vom Vater (Manfred Berliner, 1853—1951) her „belastet", der in Hannover eine Private
Höhere Handelsschule besaß und leitete, hatte sie 1916 mit einer Dissertation über „Die Organisation der jüdischen Jugend in Deutschland" in Heidelberg promoviert. Bereits vorher hatte
278
sie in dem 1909 gegründeten „Verband der jüdischen Jugendvereine Deutschlands" eine Rolle
gespielt, der später lange unter der Kurzbezeichnung „Neutraler Verband" bekannt war. Nach
dem Ende des Ersten Welkrieges war Cora bei der Stadtverwaltung in Berlin-Schöneberg tätig.
1919 wurde sie ins Reichswirtschafsministerium berufen. Seit 1923, im Zeitalter der Inflation,
als Regierungsrätin im Statistischem Reichsamt, wurde sie vorübergehend 1927 an die deutsche Botschaft in London „abkommandiert", um, wie es damals hieß, an der Vertiefung der
deutsch-englischen Handelsbeziehungen mitzuarbeiten. 1930—33 wirkte sie als Professor für
Nationalökonomie an dem noch jungen staatlichen Berufspädagogischen Institut in Berlin,
einer höheren Ausbildungsstätte für Gewerbelehrer.
Aus diesem ihrem Amt 1933 verjagt, übernahm Cora Berliner in der Reichsvertretung
zunächst das Referat für wirtschaftliche und soziale Angelegenheiten, wurde auch für Auswanderungsfragen zuständig, und zusätzlich mußte sie 1937 noch das durch die Auswanderung von Dr. Friedrich S. Brodnitz vakant gewordene Presseressort übernehmen. So hat Cora,
um einmal Professor Ernst Simon zu zitieren, am „Aufbau im Untergang", mit anderen Worten: an der Selbsthilfe der Juden im nationalsozialistischen Deutschland, wesentlichen Anteil
gehabt.
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Ihre Erscheinung, mittelgroß und schlank, stets dunkel gekleidet - mit Hut —, ihre lebhaften
dunklen Augen, ihre hohe Stimme, ihr norddeutscher Akzent (zuweilen fast spitz-burschikos
zutage tretend), ihre brünette Hautfarbe, ihre rasche Gangart, manchmal ihre Ungeduld mit
sich selbst und anderen, alles das ist dem überlebenden Zeitgenossen gegenwärtig geblieben.
Kurz: Cora Berliner war eine gewinnende, menschennahe Persönlichkeit, die auf jüdischer
Seite sehr wohl nicht nur der Generation, sondern auch der Bedeutung der eingangs genannten
Sozialarbeiterinnen zuzurechnen ist.
Ihr Geburtstag jährte sich am 23. Januar 1990 zum hundertsten Mal.
Anschrift des Verfassers:
Professor Dr. Ernst G. Lowenthal, Kaunstraße 33, 1000 Berlin 37
Noch einmal: „Der Idstedt-Löwe"
Im Nachtrag zu Dr. Hans Konrads Arbeit über die Flensburger Löwen sandte uns Dipl.- Ing.
Heinz Jung eine Aufnahme vom 14. Juli 1989. Sie zeigt den jetzigen Standort des Originals
über hölzernem Sockel auf dem „nicht günstig gelegenen" (Jung) Museumshof in Kopenhagen. Die jetzige (13. Juli 1989) Inschrift am Monument lautet in deutscher Übersetzung:
Der Idstedtlöwe
Grabmal für die in der Schlacht bei Idstedt am 25. Juli 1850 gefallenen und auf dem SanktMarien-Kirchhof in Flensburg begrabenen dänischen Soldaten. Das Monument, das von dem
Bildhauer H. V. Bissen geschaffen und aus der Bronze alter Kanonen aus dem hiesigen Zeughaus gegossen wurde, wurde im Jahre 1862 errichtet. Im Februar 1864 wurde es von den Preußen vom Kirchhof entfernt und im Jahre 1866 als Trophäe im Berliner Zeughaus aufgestellt. Im
Jahre 1878 wurde es zur Kadettenanstalt im Vorort Groß-Lichterfelde bei Berlin überführt.
Dort fanden es im Mai 1945 amerikanische Truppen unbeschädigt und überführten es auf
dänische Initiative nach Kopenhagen, wo es an König Christian X. übergeben wurde. Die dazugehörigen 2 Inschriftplatten und 4 Porträt-Reliefs sind in der Kanonenhalle des Museums zu
finden.
Die Redaktion dankt Herrn Jung für die freundliche Überlassung von Foto und Text.
Wir freuen uns immer über eingehende Bemerkungen, Anregungen oder Ergänzungen unserer Leser, sind sie doch ein Zeichen für das Interesse und die Aufmerksamkeit, die die Beiträge
der „Mitteilungen" bei den Mitgliedern finden.
Günter Wollschlaeger
280
Der Idstedt-Löwe
im Museumshof
in Kopenhagen
am 14. Juli 1989
Aus dem Mitgliederkreis
Die Schatzmeisterin richtet einen dringenden Appell an unsere Mitglieder, bei Zahlungen
Namen und Adresse nicht zu vergessen oder deutlich lesbar zu schreiben. Auch bei den neuen
Formularen muß auf dem Durchschlag der Gutschrift der Name deutlich zu lesen sein. Bitte,
beachten Sie diese kleine Mühewaltung!
281
Studienfahrt nach Ulm (Donau)
Hatte es in der Ankündigung dieser Exkursion geheißen, für alle Führungen in Ulm selbst und in dessen Umland stünde Frau Ingeborg Bock, geborene Schlumberger, zur Verfügung, „die ausgeprägten
Charme mit der großen Gabe verbindet, ihre weitreichenden Kenntnisse kunstgeschichtlicher, musikwissenschaftlicher und stadthistorischer Art mit Engagement an den Mann (und die Frau) zu bringen", so werden die Teilnehmer bestätigen können, daß der Schriftführer hier den Mund nicht zu voll
genommen hatte. Die Hinfahrt am 8. September 1989 war von bestem Reisewetter begünstigt, das
nahe der Autobahn gelegene Heilsbronn bot sich für die Mittagsrast ideal an. Daß bei solch freundlichem Wetter das Fischerviertel das geeignete Ziel eines abendlichen Bummels ist, wußten offensichtlich auch andere Gäste Ulms und die Bürger dieser schönen Stadt selbst, denn es war in keiner der
historischen Gasthäuser Platz zu finden.
Am Sonnabend holte Frau I. Bock die Gruppe vom Hotel ab und führte sie intelligent-beredt durch
Ulms Altstadt und durch das Ulmer Münster, dessen Orgel in einem kleinen Konzert vorgeführt
wurde. Das Ulmer Museum verdiente einen Besuch, und in der Nikolauskapelle, einem eher
unscheinbaren Bauwerk, wußte Frau Bock auf eindrucksvolle Weise ihr Aufgehen auch in denkmalpflegerischer Funktion zu demonstrieren. Während die Zahl der Mitreisenden, die den Münsterturm
bestieg, offensichtlich nicht sehr groß war, ließ sich eine deutlich stärkere Gruppe bei dem von unserer
Führerin empfohlenen Violinkonzert der jungen Künstlerin Julia Galic im Münster begeistern.
Der sonntägliche Ausflug war in der Abfolge etwas umgestellt worden: zunächst wurde dem Benediktinerkloster Blaubeuren mit seinem bedeutenden Hochaltar und dem Blautopf ein Besuch abgestattet, dann (im unvermeidlichen Gedränge eines „offenen Tages") der Abteikirche Zwiefalten. Auf
Umwegen erreichte der Omnibus, dessen guter Fahrer Günter ein besonderes Lob verdient, die Wallfahrtskirche in Steinhausen, und den Abschluß dieser die verschiedenen Stile der Architektur aufweisenden Rundfahrt bildeten im Kloster Wiblingen die Barock-Rokoko-Bibliothek und die barockklassizistische Kirche. Im Gerberhaus konnte bei einer netten Abendrunde Frau Ingeborg Bock als
die großartige Botschafterin ihrer Vaterstadt verabschiedet werden; es ist nicht auszuschließen, daß
sich Teilnehmer unserer Exkursion auch an einer der von Frau Bock organisierten Studienfahrten
beteiligen werden.
Von der Heimfahrt bei unverändert gutem Wetter läßt sich nichts anderes sagen, als daß sie in der
freundlichen Stimmung stattfand, die die ganze Reise kennzeichnete, bei der die Fülle der Eindrücke
und Erlebnisse die unleugbaren Strapazen des Programms mehr als aufwog. — Bevor die Öffnung der
Grenzen andere Überlegungen in den Vordergrund treten ließen, waren die Vorbereitungen zur diesjährigen Exkursion vom 7. bis 9. September nach Paderborn bereits angelaufen.
SchB.
Buchbesprechungen
Hauptsache, wir sind alle jesund. Berliner Witze. Herausgegeben von Katrin Pieper. Illustrationen
von Manfred Bofinger. Der Kinderbuchverlag Berlin 1986, 5,50 Mark.
Viele alte bekannte und einige neue Berliner oder auf Berlin zugeschnittene Witze sind in diesem
Büchlein vereint. Zwei Beispiele mögen für den Inhalt stehen (warum soll an dieser Stelle nicht auch
einmal gelacht werden ?): Karlchen singt auf dem Klo: „Es geht alles vorüber — es geht alles vorbei."
„Setz dir jefälligst richtig uff de Brille", brüllt der Vater. Und (hier wird dann deutlich, in welcher
Stadthälfte der Verlag angesiedelt ist): Ein Trabbi hat Panne. Kommt ein Überland-Tonner und
stoppt. Der Fahrer beugt sich heraus und fragt den Trabbi-Besitzer: „Kannste mit den Kasten ooch
UKW hörn?"
SchB.
Projekt: Spurensicherung. Alltag und Widerstand im Berlin der 30er Jahre. Herausgeber: Berliner
Geschichtswerkstatt e.V. Berlin: Elefanten Press Verlag GmbH, 1983, 255 Seiten.
Als Begleitbuch zu einer Ausstellung der Berliner Geschichtswerkstatt im Rahmen von Veranstaltungen über die „Zerstörung der Demokratie 1933 - Machtübergabe und Widerstand" erschien diese
bebilderte Aufsatzsammlung. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter — geboren zwischen 1947 und
282
1959 — gehören einer Generation an, die die 30er Jahre nicht miterlebt hat, aber „spezifische Erfahrungen mit der Aufarbeitung des Themas Nationalsozialismus" sammelte (S. 5), die viele ihrer Fragen
offenließ — Anlaß zur Auseinandersetzung mit den bisherigen Formen und Inhalten von Geschichtsvermittlung, zur eigenen Quellensuche vor allem im privaten Bereich und zum Rückgriff auf die
Methode des lebensgeschichtlichen Interviews. Darin sowie in der bewußten „Untersuchung kleinräumlicher Strukturen" in Charlottenburg und Schöneberg (S. 7) und in der Zielsetzung, „mit den
Betroffenen zusammen Geschichte aufzuarbeiten" (S. 6) und vom Gegenwartsbezug eines Themas
auszugehen, weiß sich die Gruppe der „Geschichte von unten"-Bewegung verpflichtet und zugehörig. Diese „Neue Geschichtsbewegung" entstand seit den späten 70er Jahren und hat sich inzwischen,
natürlich auch in Berlin, neben den Geschichts- und Heimatvereinen mit einem eigenständigen
Angebot von Veranstaltungen und Publikationen etabliert. Wenn auch die Berliner Geschichtswerkstatt mit „Projekt: Spurensicherung" nicht sogleich die auf dem Rückendeckel des Buches angekündigte Reihe einleiten konnte, so sind doch seit 1985 zahlreiche Veröffentlichungen erschienen, die
zum Teil an Ausstellungen oder an „Historische Dampferrundfahrten" auf dem Landwehrkanal und
der Spree anknüpfen. Die 1983 vorgetragene heftige Institutionenschelte vor allem gegen Archive
(S. 7 f.) dürfte in der Zwischenzeit einer differenzierteren Einstellung gewichen sein. — Ohne die Beiträge des Bandes einzeln aufzuzählen, sei erwähnt, daß mehrere von ihnen sich mit Themen aus den
Alltagsbereichen „Freizeit" und „Unterhaltung" beschäftigen. Das Taschenbuchformat erzwingt oft
eine starke Verkleinerung der Abbildungen, die für den hier gewählten methodischen Zugang aber
unerläßlich sind und in ihrer „Anschaulichkeit" weit mehr als nur Buchillustration und Zugabe zum
Text sind, nämlich Geschichtsquellen.
Chrisliane Schuchard
Reinhard Mey. Mein Dorf in Berlin. Aus der Reihe „Ganz Persönlich". Beschreibungen in Zusammenarbeit mit dem ZDF. 48 Seiten mit 40 Farbfotos von Erhard Pansegrau und einer Karte, Pp. lam.,
24,80 DM. ISBN 3-89 102-217-4. Eulen Verlag, Wilhelmstraße 18, Freiburg i. Br.
„Denn zu Haus kann ich nur in Berlin sein!" — Reinhard Meys Zuhause ist der Berliner Norden, vor
allem Frohnau, wohin er nach seinen Gastspielen immer wieder zurückkehrt. Vielleicht mag diese
Verwurzelung mit dazu beigetragen haben, daß er zu jenen Künstlern gehört, die die Musikindustrie
nicht verschlissen hat, wie es im Vorwort heißt.
In dem mit einer Fülle von Farbaufnahmen ausgestatteten Band geht Reinhard Mey seinen Erinnerungen nach, so „beim Blättern in den Bildern meiner Kindheit", wo es heißt „Wie manches, dem wir
kaum Beachtung schenken, / Uns dennoch für ein ganzes Leben prägt". Der Liebhaber Meys findet
den Liedtext „Es gibt keine Maikäfer mehr" ebenso wie schon ein Foto der Humboldt-Bibliothek in
Tegel, aber auch „Berlin tut weh", was von der Berlin-Werbung in „ . . . tut gut" umgemünzt worden
ist. Eine gewisse „Ich hab' noch einen Koffer in Berlin"-Rührseligkeit kommt in dem Lied auf „Ich
trag' den Staub von deinen Straßen — Berlin" mit dem Vers:
Der Braunbierwagen fährt längst andre Lasten.
Den Scherenschleifer und den Kesselschmied,
Den Alten mit seinem Leierkasten,
Die gibt es fast nur noch in meinem Lied.
Den Schlußpunkt setzt das Gedicht „Aber zu Haus kann ich nur in Berlin sein".
Eine Karte mit den Berliner Bezirken ist diesem Band angefügt worden, auf der allerdings die beiden
neuen Stadtbezirke Hellersdorf und Hohenschönhausen fehlen; die in Reinickendorf verzeichnete
S-Bahnlinie nach Heiligensee (und weiter) harrt indes noch ihrer Wiederbelebung.
H. G. Schultze-Berndt
Georg Brandes: „Berlin als deutsche Reichshauptstadt. Erinnerungen aus den Jahren
1877—1883." Übersetzung aus dem Dänischen von Peter Urban-Halle, hrsg. von Erik M. Christensen und Hans-Dietrich Loock, 619 Seiten, 84 zeitgenössische Abbildungen, Anmerkungen des Übersetzers und Aufsatz der Herausgeber: „Ein Europäer in Berlin". — In der Reihe „Wissenschaft und
Stadt", Bd. 12 - Colloquium Verlag, Berlin 1989.
283
Da Brandes Literaturwissenschaftler und zugleich Hörer an der Berliner Universität war, lag es für die
Herausgeber nahe, ihn unter dem Topos „Berlin in der Wissenschaft — Wissenschaft in Berlin" aus der
Vergangenheit heraufzuholen. Es geschah in Zusammenarbeit mit der Freien Universität Berlin im
Rahmen der 750-Jahr-Feier der Stadt. Das Buch ist die Wiederauflage der vom Verf. in Buchform
edierten Zusammenfassung seiner Korrespondentenberichte für skandinavische Zeitungen,
ursprünglich in dänischer Sprache erschienen und nun erstmals in deutscher Übersetzung publiziert.
Rezensentin stimmt mit den Herausgebern überein, daß hier ein großer Europäer schreibt und daß
mit der Sammlung eine hervorragende Dokumentation der frühen Kaiserzeit vorliegt (Klappentext).
— Zu Recht werden von ihm Aufsätze über die jüdischen Transitflüchtlinge auf dem Schlesischen
Bahnhof und der Aufsatz über den Berliner Kongreß als Kernstücke hervorgehoben; Rez. möchte das
Moltke-Porträt ergänzend hinzufügen.
Da die Berichte in chronologischer Reihenfolge angeordnet sind, muß der Leser den sachlichen und
geistigen Zusammenhang selber zusammentragen, was den Reiz der Lektüre ausmacht. Als inneres
Band bietet sich die linksliberale, die oft die sozialistische Gesellschaftskritik involvierende Einstellung des dänischen Korrespondenten an, der seinen Landsleuten ein bis vor 20 Jahren noch feindseliges Land nahebringt und danach fragt, wie es sich objektiv mit seiner Machtstruktur verhalte. Bei aller
Evidenz dieser Art sind seine Aussagen oft widersprüchlich, und es ist der Mut der Herausgeber zu
loben, die Neupublikation auf sich zu nehmen. Es ist ihnen zuzustimmen, wenn sie „Brandes ein
Thema für zukünftige Forschung" nennen, und dies dem Leser überlassen, dem sie mit der nachgestellten biographischen Würdigung Material an die Hand geben. Der Aspekt des Europäers ist sicherlich hilfreich. Bei aufmerksamer Lektüre findet sich, daß Verf. Brandes selbst, ihm wohl nur halb
bewußt, ihm einen Schlüssel in die Hand gibt, und dieser findet sich in den Aussagen über G. Kellers
„Grünen Heinrich". Er nennt den Roman „ein originelles und tiefes Buch, so reich an Poesie wie arm
an Kunst" (im Sinne von Mache — d. Rez.). Diese Einschätzung war damals keineswegs im allgemeinen Bewußtsein; sie kann als bahnbrechend zusammengelesen werden mit Brandes' Aufsatz über den
(märkischen) Sand, in dessen Mitte Berlin liegt. Scheinbar nur ironisch-geistreich ist seine Charakterisierung der Bourgeois-Atmosphäre der frühen 80er Jahre, für deren Gehalt er den märkischen Sand
als Allegorie setzt. Sand als geistiges Füllmaterial, das hart und schlagkräftig macht; den Durchschnittsmenschen macht er zum „Philister". Dies Wort erinnert an Eichendorffs Scheidung in „Philister und freie Burschen" in der Heidelberger Romantik. Eichendorff der Romantiker hatte 1857 vor
dem Philistertum als einem Abstieg in die Barbarei gewarnt. Hierin läßt sich die Übereinstimmung mit
Brandes' pessimistischem Zeitgefühl sehen. „Der reißend schnelle geistige Verfall hat einen unsauberen, falschen Ton" (459). — In ähnlicher Weise handeln die Herausgeber als die Problematik des Verf.
sein Mißverhältnis als Linksliberaler und „Analytiker der Macht" zum Christentum ab; sie verweisen
auf das schwer Rationalisierbare seiner Wirkung und das Unaufgeklärte zwischen seiner Liebe zu
Nietzsche und seiner ideengeschichtlichen Darstellung der Literatur, die modern ist.
Das Buch kann als Quellenaufbereitung für den eigenständigen Versuch dienen, die Geschichtsschreibung über das Zeitalter der Reichsgründung in seiner allmählichen Entfaltung nachzuvollziehen; denn sie war zu Brandes' Zeit ja noch im Fluß. Die ganze Breite vielfältiger Urteile ist, entsprechend dem Schema der Reichstagsparteien, in diesen Berichten enthalten, die teils verläßlicher Information, teils eigner Erfahrung entstammen. — Kein Gegenstand des geistigen, künstlerischen, sozialen und wirtschaftlichen, stadtgeschichtlichen und politischen Lebens der 70er Jahre kann abgehandelt werden ohne den Hintergrund der Person Bismarcks, dessen staatsmännische Kraft sich auch im
Urteil des Verf. schon wie Urgestein ausnimmt. — Er hat zu ihm ein Verhältnis der Haßliebe, einerseits
der Bewunderung echter Größe, andererseits der instinkthaften Ablehnung seiner Berechnung und
Kleinlichkeit. Dennoch ist ein treffendes Urteil gefunden, gestützt auf psychologischen Scharfsinn
und die gesellschaftskritische Distanz des Verf. — So wird im Kapitel über den Reichstag der Reichskanzler exemplarisch herausgestellt. Er sieht in ihm den Mann der äußersten Gefühle, der zugleich
tief hassen und inbrünstig verehren kann; er schildert ihn bei den verschiedensten Anlässen im
Reichstag, wo er sich aus kalter Leidenschaft heftig gibt und zugleich die tiefste Leidenschaft beherrschen kann, der die Bühne wie ein politisches Marionettenspiel handhabt und im privaten Umgang
von umwerfender Offenheit ist. Als sein Zeitgenosse schildert Verf. schon 1878 das vielschichtige
Naturell, bewundert die große Weite außenpolitischen Handelns und Gestaltens, die geistige Hochstimmung, die von Reizthemen wie Orientpolitik, Rußland und Napoleon III. ausgeht. „In seiner mit
soviel Selbstbeherrschung getarnten Machtstellung gegenüber Rußland ist er ein großer Mann, in sei284
ner parlamentarischen Taktik gegenüber den Liberalen ist er viel kleiner. Machiavellismus kann für
beide Bereiche gleichermaßen wertvoll sein, aber attraktiv wird er erst in großem Stil" (101). Verf.
empfindet die Rolle des ehrlichen Maklers als echt und wahr. Er exemplifiziert Bismarcks großen
historischen Realitätssinn, wenn er das Aufeinandertreffen mit Napoleon III. in Sedan schildert. In
glänzenden Formulierungen kennzeichnet er den Schwärmer Louis Napoleon: „Hortenses Sohn mit
dem mystischen Cäsarenglauben an seinen Stern, der Abenteurer mit dynastischen Traditionen,...
halb moderner Mensch, halb Neffe des großen Napoleon, der Träumer, der große unklare Kopf und
Schlafwandler, dem es an dieser Größe fehlte und der sich einbildete, in dem brandenburgischen Politiker einen Schüler gefunden zu haben! .. .Und dann dieser ,Wirkliche', der mit beiden Beinen fester
auf dem Boden stand als irgendein anderer in Europa" (105 f.). Verf. nennt ihn — 1878, als es noch
keine Bismarck-Legende gab — einen „Auerochsen, eine Naturkraft in Germaniens uralten Wäldern" . — Er nimmt Bismarck als Christen ernst, er glaubt ihm seine Überzeugung, vom Walten Gottes
geführt zu werden. „Aber ich frage mich, ob er Goethe zu begreifen vermag" (in seiner Ansicht vom
Dämonischen — d. Rez.). Und er vermerkt scharfsichtig dessen Vorliebe aus Verwandtschaft für die
Figuren des Shakespeareschen Theaters. Und es sei vielsagend, wenn der bescheiden-klare Moltke
eifriger Leser der antiken Schriftsteller sei. „Er ist für Deutschland, was eine ausgezeichnete, überaus
starke Brille für den schlecht Sehenden ist. Es ist ein großes Glück für den Mann, daß er eine so gute
Brille besitzt, aber ein großes Unglück, daß er sie benötigt" (111). — Verf. sieht schon in dieser Zeit das
Schwächerwerden seiner Durchsetzungskraft in der politischen Normalität. Er brauche wieder eine
große Aufgabe, die seine Kräfte belebe. Der große Mann ist für ihn ein kleiner Mensch, weil despotisch und umstürzlerisch (Ausführungen zur Schutzzollpolitik).
In der damals noch offenen Erörterung seines Verhältnisses zu den Nationalliberalen nimmt Verf.
scharfsinnige Urteile vorweg und bringt die Frage auf den nationalökonomischen Nenner. Bismarcks
Abwendung von ihnen 1878 erfolgte seiner Ansicht nach nicht aus bloßem Opportunismus; beider
Bündnis war keine bloße Vernunftehe, deren Frieden auf Nachgeben beruhte, sondern die tiefere
Ursache ist der Geldzustrom aus den französischen Reparationen. Bismarck war zu wenig Wirtschaftsfachmann und hatte sich in der Einschätzung der wirtschaftlichen Einbußen Frankreichs verschätzt; Frankreich wurde nicht dauernd geschwächt und daher von linksradikalen Kräften bedroht;
so habe er sich auch über die Wirksamkeit der deutschen Liberalen getäuscht und sei aus Enttäuschung darüber zu den reaktionären Ansichten seiner Jugendzeit zurückgekehrt. Verf. deduzierte
damals eine längere Untätigkeit der Liberalen, die erst dadurch überwunden werden kann, daß die
Reaktion das erträgliche Maß überschreitet und eine Gegenreaktion erzeugt. Dann sei ein Hauch von
Hoffnung für die Opposition gegeben, aber eben nur ein Hauch, denn er erachtet auch den Kronprinzen Friedrich Wilhelm für keinen Liberalen. Hellsichtig sieht er ein Ansteigen der wirtschaftlichen
Schwierigkeiten der Gründerjahre voraus und als Ergebnis einen Linksruck in der deutschen Innenpolitik, der zwangsläufig die linksdemokratischen Kräfte in Frankreich wiederbeleben werde und Bismarcks erbitterten Widerstand erzeugen. — Tatsächlich bezeichnet er nur ein Jahr später Bismarck als
„demagogischen Diktator", der im Kulturkampf „tyrannisiert und experimentiert". Diese unheilvolle
Entwicklung wird vertieft durch einen Generationswechsel. Eine Wohlstandsjugend sei nach 1871 zur
politischen Reife gekommen, der Bismarcks Allwissenheit und Chauvinismus zur höchsten Doktrin
geworden sei. „Die bemerkenswerte Bescheidenheit der Studenten und jungen Offiziere kurz nach
dem Kriege ist dahin, die alte Generation der Befreiungskriege längst abgetreten." Diese Beobachtung machte er anläßlich der Vermählungsfeier des Prinzen Wilhelm, was bedeutet, daß Verf. den
Wilhelminismus schon sehr früh konstatiert und daß der Bruch von 1890 schon längst Vorhandenes
sichtbar machte.
Er mißt seine eignen Urteile über Bismarck an den Idealen des englischen Parlamentarismus, d. h.
nach seiner Verfassungsnorm und dem Common sense im Unterhaus. Vor diesem Hintergrund räumt
er den deutschen Liberalen nur geringen Spielraum ein, da ihnen Bismarcks Achtung fehle. Es räche
sich jetzt ihre zögerliche und inkonsequente Haltung in der Verfassungszeit, als sie Bismarck die Mittel
zwar verweigerten, seine Resultate aber wünschten und bewunderten. Sie haben erfahren müssen,
daß Bismarck sie danach nur opportunistisch nutzte. „Von einem wirklichen parlamentarischen Einfluß ist keine Rede, solange Bismark lebt." — Vor diesem Vorstellungsbild charakterisiert er auch die
liberalen Parteiführer im Reichstag, vor allem Eduard Lasker, dessen geistige Überlegenheit, die
Geradheit nach dem Muster schweizerischer Demokraten und die Freiheit seiner Seele er lobt.
In den publizistischen Streit um das Treffende oder Unzutreffende eines Vergleiches des damaligen
285
Zeitalters mit dem friderizianischen und dem Bürgertum des 18. Jahrhunderts, um das Vergleichbare
seiner großen Männer mit Goethe, Luther, Lessing eingreifend, bestimmt Brandes, es habe sich im
1. Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts „ein bestimmtes Ideal herausgebildet; der (vergottete) Staat, ein
hoher nationalstaatlicher wie weltbürgerlicher Begriff". Bismarcks Wirken sieht er in besten Zeiten
ihm verpflichtet; er bildete sich den Staat nach seinem großen Bilde. Aber dies habe je länger, desto
mehr seine hohen Gefahren.
Denn es gelingt ihm nicht, die Gesellschaft weltbürgerlich umzuformen. So ist Verfs. tieferer Untergrund allenthalben Gesellschaftskritik. Als Bestätigung mögen seine Beobachtungen gelten, die er
zum Konservativismus macht. Den Leser schaudert es, wenn er im Hinblick auf den Generationskonflikt sagt: „Und in politischer Hinsicht sind die Jungen alt und die Alten jung. Freiheitsliebe im englischen Sinne existiert im gegenwärtigen Deutschland nur noch bei der Generation, die in zehn Jahren
ausgestorben ist. Dann wird Deutschland einsam, isoliert und bei seinen Nachbarn verhaßt in der
Mitte Europas ein Bollwerk des Konservativismus sein. Drumherum, in Italien, Frankreich, Rußland
und Skandinavien wird dann eine Generation mit kosmopolitischen Idealen herangewachsen sein"
(452). — Ferner: „Man kann beklagen, daß Deutschlands politischer Aufschwung nicht durch, sondern trotz des Parlamentes kam und der Ausgang der Ereignisse den Kampf des Reichstages für das
Bewilligungsrecht in den Jahren 1862—64 in ein schiefes Licht rückte. Aber so ist es nun einmal, und
selbst ein politisch reiferes Volk, das aus der Hand des Schicksals ein so großes und siegreiches politisches Genie empfangen hätte, wäre versucht gewesen, ihm die Zügel der Regierung ganz zu überlassen . . . Jedes Jahr, das vergeht, macht die außenpolitische Meisterschaft deutlicher: Er schließt Bündnisse mit Österreich, bewahrt Frieden, ist Schiedsrichter im Orient, isoliert Rußland, schickt die österreichisch-ungarische Armee nach Bosnien, die französische nach Tunis — die Opposition wächst dennoch, und die Regierung hat nie eine sichere Mehrheit" (457).
Ebenfalls gesellschaftskritisch betrachtet er die Welle von Gesinnungsschnüffelei und Überreaktionen nach dem Attentat auf den Kaiser. Da es zur Rechtfertigung der Sozialistenverfolgung herhalten
mußte, sucht Verf. über den Anlaß hinaus ein klares Bild über des Attentäters Nobiling wahre Hintergründe zu finden. Die verschreckte Philisterhaftigkeit deute auf politische Unreife der Deutschen und
mache Klassentrennung evident, an der er das Gefühl für den Wert des menschlichen Lebens vermißt.
Eine solche Anklage speist sich aus Verf. hoher Vorstellung von seinem verpflichtenden Wert und
vom Wert des Regenten als Volkserzieher. Gerade weil er dem alten Kaiser und Bismarck die Gabe
dafür zumißt, ist er über ihre Halbheit enttäuscht.
Das Thema „Kaiserstadt Berlin" kann nicht ohne Blick auf die Reichsgründung abgehandelt werden.
Verf. preist sie als belebenden Anstoß auf allen Gebieten der Kultur und des öffentlichen Lebens,
schildert, wie unverbrauchte Lebenskraft die Berliner zu höherem Leben anspornt, das auch den
Fremden einschließt. — Er begutachtet den Vorlesungsbetrieb an der Berliner Universität. Dort hat er
den materialistischen Nationalökonomen Dühring gehört, ebenso Vorlesungen über Schopenhauer.
Beider pessimistische Anschauungen liegen ihm nicht, aber er bewundert die Unerschrockenheit und
zieht zum Vergleich den damals in Deutschland nur wenig bekannten Kierkegaard heran. Gleicherweise erkennt Brandes damals schon das Unkünstlerische an Anton von Werners Bild der Reichsgründung in Versailles, das bloß auf der Welle nationaler Hochstimmung Schwebende, und spricht
vom Menetekel der Geschichte.
Aufschlußreich sind seine Auswahlkriterien und die Art, wie Verf. die Männer des Kulturlebens charakterisiert: durch Ernst und Jugendlichkeit, freiheitliche Gesinnung und nobles Menschentum,
durch das, was sie sind, worin sie Humanität und intellektuellen Scharfsinn vereinen. Er hebt u. a.
Eduard von Hartmann als Philosophen des Unbewußten hervor, preist gleichzeitig den heute fast vergessenen Spielhagen hoch, schildert die erste Ausstellung der Tanagra-Figuren als „erlesensten
Schönheitsgenuß". Der Leser kann das Zusammenströmen seltenster und verschiedenartigster
Kunstschätze in den Berliner Museen nachvollziehen, die Ergebnisse der Funde von Olympia verfestigen sich in der Altertumskunde, die französischen Impressionisten entfalten ihre Wirksamkeit. Die
Funde von Olympia und Pergamon nennt er die erste rein idealistische Tat des neuen Reiches, die
grundlegende Wirkung auf die Originalität der damals zeitgenössischen Kunst ausübte; er betont die
Bedeutsamkeit der Persönlichkeit von Ernst Curtius, des einstigen Kronprinzenerziehers des späteren Kaisers Friedrich III. — Er kennzeichnet Menzel als größten Realisten und größten Preußen, er
schreibt über Mommsen und berichtet über Theaterpremieren und die Sezession. Da er Gelehrte und
Künstler in ihrer gesellschaftlichen Verflechtung charakterisiert, bleibt es nicht aus, daß über ihre zeit286
lose Wirkung und Wertung anderes gesagt wird, als wir sie heute einordnen. — Von der WallensteinAufführung der Meininger ausgehend, die zeittypisch für die damalige Schillerrezeption ist, betrachtet er das bürgerliche skandinavische Trauerspiel und sagt von Ibsen, er habe das Alltägliche groß
geschaffen. Aus persönlicher Beschäftigung mit der Literaturwissenschaft an der Berliner Universität
hat er heute noch gültige literaturkritische Maßstäbe gesetzt; es ist aufschlußreich, was er hervorhebt:
das Hineinwachsen in die historische Anschauungsweise und den Schritt von der philosophischen
Spekulation weg zu verständiger Urteilskraft, zur Solidität der Darstellung und persönlicher Bescheidenheit. Das sind Kriterien, an denen er selbst gemessen werden kann und denen er entspricht.
Zukünftiger Forschung bliebe auch die Ergänzung vorbehalten, das Verhältnis des Literaturwissenschaftlers zu den Naturalisten und ihren europäischen Vorbildern zu beleuchten. Relevant ist ferner
der Versuch, sein Verhältnis zu den Dänen zu erörtern. Es bleibt der „Brandes, der undogmatisch die
Zukunft aus der Gegenwart extrapoliert, der den Leser bewegt" (615).
Christiane Knop
„Preußen. Seine Wirkung auf die deutsche Geschichte." 361 Seiten. Gesamtband bei Klett-Cotta,
Stuttgart 1985. Der Sammelband enthält eine Vorlesungsreihe, veranstaltet von der Fritz-ThyssenStiftung und der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, gehalten im Otto-Braun-Saal der Staatsbibliothek
Berlin in den Jahren 1981 bis 1984; die Reihe wird abgeschlossen mit dem Protokoll einer Podiumsdiskussion unter Leitung von Prof. Werner Knopp.
Die Formulierung des Titels zeigt, daß das Thema aus praktisch-politischen Gründen eingegrenzt und
zugespitzt worden ist. Angeregt von erneuter Bilanzsuche im Preußen-Jahr 1981, handeln die besten
Sachkenner das umstrittene Phänomen des Preußischen nochmals ab, vor allem bezogen auf das geistig-politische Erbe, soweit es die Bundesrepublik Deutschland und, in skeptischer Abwandlung und
vorzeitiger Annäherung, auch die DDR für sich beanspruchen. Oder, als Zweck formuliert, es soll
nach den Brüchen unserer nationalen Tradition der Maßstab der Grundwerte wiedergewonnen werden.
Dem Geist des Ortes der Veranstaltung entsprechend, das ist die Persönlichkeit des preußischen
Ministerpräsidenten Otto Braun und seiner beschwörenden Mahnung, die Spannung des Janusgesichts Preußens durchzuhalten, werden essentielle Gebiete des Preußischen befragt, u. a. das Verhältnis von Adelsgesellschaft und Militär zum Staat, die soziale Frage in der Industriegesellschaft des
19. Jahrhunderts, die Reform und die Reformer im Zeitalter der Erhebung, das Verhältnis des jungen, modernen Staates zum alten Reich, die Bismarcksche Reichsgründung und ihre Folgen im Kaiserreich, die Größe Friedrichs IL, die Revolution von 1848, die Rolle des Liberalismus im 19. Jahrhundert, das Preußentum in der Weimarer Republik, die Kulturleistung der Berliner Universität. Sie
setzen beim Leser die Kenntnis der voraufgegangenen Diskussion, vor allem seit Haffners Frage nach
dem Ende Preußens und seinem Erbe, mit allen Urteilen, Verdikten, Erkenntnissen und offenen Fragen voraus. Preußens Leistung auf dem Gebiet von Forschung und Erziehung, seine Verdienste beim
Aufbau eines Staatswesens, das von Arbeitsethos und protestantisch gesehener Rechtsstaatlichkeit
durchdrungen war, bleiben unbestritten. Die Beiträge kulminieren im Blick auf das demokratische
Preußen der Weimarer Republik. Denn so, wie ein Phänomen gerade bei seinem Erlöschen noch einmal in schmerzlicher Klarheit aufleuchtet, erhellen Prof. Hagen Schulze und Horst Möller das ungeliebt-geliebte Wesen des rationalstaatlichen Preußen in seinem Sterbeakt, im Preußen-Schlag des Jahres 1932. Sie vermitteln das Verständnis für die Leistung, durch Preußen die demokratische Erziehung der Deutschen nach 1918 zu leisten. Hier ist das Sprungbrett für seine mögliche neue Aufgabe in
den beiden Staaten Deutschlands nach 1949 gefunden.
Auf den Ergebnissen der bisherigen Preußen-Forschung fußend, verbindet die Suche nach konsensbüdender und staatstragender Wirkung die verschiedenen Sachbeiträge. Darin gilt es, die als Conditio
Borussiae erkannte Zwangslage, Hammer oder Amboß sein zu müssen, rational zu übersteigen. Da
keiner der beiden Staaten, die 1949 auf dem Territorium des alten Preußen entstanden, als reine
Nachfolgerstaaten erachtet werden können, schält sich nun die Möglichkeit heraus, eine dritte
Variante zu finden, der Art, daß uns Preußen ein Konsens und ein Gebilde formaler rechtlicher Normen bedeutet, beruhend auf der rationalen Staatsidee, die dem Preußen des Großen Kurfürsten eingepflanzt worden war und die sich über alle Fehlperioden hinweg bis zu den Tagen Otto Brauns
erhielt. So knüpft die Übereinstimmung und der Rettungsversuch auch an das vomationalstaathche
287
Preußen des 18. Jahrhunderts an. Es kann sein Ende sinngemäß nach der Erhellung des demokratischen Preußen und seiner Führer in dem Preußen-Schlag Papens gesehen werden.
Jeder der Beiträge und Sichtweisen ist für das Ganze gleichwertig und aufschlußreich; je nach subjektiver Neigung wird der Leser sich dem einen oder anderen mehr zuwenden. Gestreift werden möge
hier nur die Erörterung der sozialen Frage in dem wirtschaftlichen Zusammenhang der Industrialisierung Preußens (Prof. Wolfram Fischer: „Industrialisierung und soziale Frage in Preußen"); als spezifisch preußisch arbeitet er die Mischung von staatsdirigistischem Merkantilismus und privatkapitalistischem Liberalismus heraus, dann die vorbildhafte Lösung der sozialen Frage durch die Bismarcksche Gesetzgebung.
Keine der Abhandlungen kommt ohne den Topos des „Mehrfachgesichtes Preußens" aus — es wird
definiert als Doppelheit von Modernität und feudalstaatlich-militaristischem Komplex —, und nirgendwo tritt es schmerzlicher in Erscheinung als im Weimarer Preußen, wo der Staat im Gegensatz
zum Reich noch einmal eine große Aufgabe zugewiesen bekam und sie nach Kräften meisterte. Und
so, wie es jeder Historiker für seine schönste, anteilfordernde Aufgabe ansieht, eine solchermaßen tragische Zeit zu schildern, führt Prof. Karl Dietrich Bracher („Das Ende Preußens") die große Krise von
1932 aus. Er verweist — seltsame Gleichartigkeit des Datums 20. Juli — auf den „preußisch inspirierten Widerstand" der Attentäter von 1944 als letzte noble Geste, die den alten preußisch-protestantischen Widerstand wieder zu Ehren brachte.
Wohltuend moderat erscheint d. Rez. die Untersuchung über „Peußen und die Universität" (Prof.
Thomas Nipperdey); sie ist getragen von den Kampferfahrungen an der Freien Universität Berlin und
entwickelt die Humboldtsche Gründung als ein Produkt von Gelehrten und Beamten des Bildungsbürgertums ; sie stand im Dienste des idealistischen Staates. „Die Universität lieferte trotz des Zerfalls
der Disziplinen Bausteine von Weltanschauung, und das wurde in den Krisen der Kirchen und dem
Kampf politischer Ideologien immer wichtiger" (76).—Verf. schildert bis 1933 eine naturgemäße und
vernünftige Elite und bescheinigt ihr, eine Staatsgesinnung geprägt zu haben, von der sich sagen läßt,
„es blieb Preußen auch der Staat von Wissenschaft und Universität, Sachlichkeit und Vernunft, das
versöhnte mit Preußen, daraufhin suchte man den ganzen Staat zu orientieren" (89).
Von bestürzender Aktualität ist die Bilanzdiskussion um das wahre Erbe, weil sie in unseren Tagen
aufs neue in gesamtdeutschem Licht gesehen werden muß. Was vor fünf Jahren noch ein Sichbereithalten im theoretischen Raum war, ist durch die Dynamik der einigenden Prozesse schon fast überholt, und gerade bei dem vorliegenden Thema muß ein Rezensent mit der Tatsache leben, daß der
Gang der Ereignisse das Gesagte bei Erscheinen der Besprechung schon ungültig macht. Aber die
Aufgabe der Bestandsaufnahme, hier in großartiger Verantwortlichkeit geleistet, bleibt bestehen und
ist dem klärenden Meinungsbildungsprozeß hilfreich, damit eine Jahrhundertaufgabe nicht verfehlt
wird. Das Buch ist geeignet, Befürchtungen zu zerstreuen und Hoffnungen auf eine geglückte Zukunft
zu wecken, sofern der Rahmen der Behutsamkeit nicht gesprengt wird.
Christiane Knop
275 Jahre Nicolaische Verlagsbuchhandlung. Eine Chronik. Zusammenstellung: Karl-Robert
Schütze. Berlin: Nicolaische Verlagsbuchhandlung Beuermann GmbH, 1988, 51 Seiten, 21 Abbildungen.
1988 minus 275 ergibt 1713. Am 3. Mai 1713 fand das Ereignis statt, das zum Anlaß eines seltenen
Finnenjubiläums wurde: „Privilegierung der Buchhandlung unter dem Namen Nicolai, dieser Tag
wird damit als eigentlicher Gründungstag angesehen" (S. 10). Das Vorgängergeschäft, die Buchhandlung von Heinrich Johann Meyer und Jeremia Schrey, hatte aber schon 1682 ihr ältestes Privileg erhalten (vgl. S. 7); die Chronik setzt sogar bereits mit der Zeit „um 1660" ein, da sie nicht nur die Familien- und Firmengeschichte, sondern auch die Häusergeschichte der Firmensitze Brüderstraße 13 und
Dorotheenstraße 62 (1892—1945) berücksichtigt. Dies geschieht, wie der Untertitel ankündigt, in
Form eines chronologischen Faktengerüstes, das aber mit literarischen und historischen Urteilen über
die „Hauptperson" Friedrich Nicolai (1733—1811) angereichert ist. Der Schwerpunkt liegt dementsprechend auf der zweiten Hälfte des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Eine sachlich gegliederte systematische Verlagsgeschichte darf man hier also nicht erwarten, auch keinen Nachweis der Quellen und der Literatur, die der Bearbeiter der Chronik herangezogen hat. Der
Bildnachweis (S. [52]) nennt aber ein „Nicolai-Archiv", in dem es offensichtlich außer alten Photographien auch Dokumente und Druckschriften gibt, denn ihm entstammen nicht nur Abbildungen
288
der Verlagshäuser, sondern auch des Privilegs von 1713 und der Titelseiten Nicolaischer Bücher. Die
unprätentiöse, aber solide Aufmachung und die gute drucktechnische Wiedergabe auch der Illustrationen sind bei einer Verlagschronik natürlich Ehrensache.
Christiane Schuchard
Großer Stadtplan Berlin. Maßstab 1: 27 500,14. Auflage, RV Reise- und Verkehrsverlag Berlin und
Stuttgart 1990, 7,80 DM bzw. 9,80 DM.
Der Große Stadtplan ist dadurch gekennzeichnet, daß ein größerer Teil des Berliner Stadtgebiets wiedergegeben ist, so etwa im Norden Frohnau, wenn auch nur auf einer unglücklich abgetrennten
Nebenkarte, nicht aber im Südosten Schmöckwitz. Die beiden Ausgaben unterscheiden sich darin,
daß bei der teureren Berlin auf einer einzigen Karte (einseitig) erfaßt worden ist, wohingegen die
preiswertere die beiden Stadthälften Nord und Süd auf der Vorder- und Rückseite (doppelseitig) enthält. Die neu eingerichteten Übergänge sind nach dem Stand der 46. Woche 1989 eingezeichnet. In
der kartographischen Darstellung und der Bezifferung der Planquadrate sind der RV Berlin Stadtatlas und der RV Berlin Stadtplan identisch. Ein Straßenverzeichnis (korrekt „Verzeichnis der Straßen,
Plätze, Brücken, Bahnhöfe, Kolonien, Siedlungen, Grünanlagen, Gewässer und Waldungen")
jeweils für Berlin (West) und (Ost) ergänzt die Karte. Für den Westteil sind auch wichtige Anschriften
vom Ärztlichen Bereitschaftsdienst über (gut berlinisch) Badeanstalten und BSR-Recycling-Höfe
(warum nicht ALBA?) bis zu Uraufführungs- und Filmkunstkinos angegeben, überflüssigerweise
auch noch die Büros für Besuchs- und Reiseangelegenheiten, die Grenzübergänge sogar nach dem
Stand der 47. Woche 1989. Vergleichbare Angaben für Ost-Berlin vermißt man, obwohl sich zumindest zum Stichwort „Sehenswürdigkeiten" sicherlich einiges aufführen ließe.
SchB.
Klaus-Dieter Wille: „Die Glocken von Berlin (West). Geschichte und Inventar." Unter Mitarbeit
von Lothar Fender und Heinz Kroll. Gebr. Mann Verlag, Berlin 1987 — im Rahmen: „Die Bauwerke
und Kunstdenkmäler von Berlin", hrsg. vom Senator für Stadtentwicklung und Umweltschutz — Landeskonservator — Beiheft 16. 255 Seiten, 134 Abbildungen, Objekt- und Literaturverzeichnis. Mit
einem Geleitwort des Landeskonservators Prof. Dr. Helmut Engel.
Glocken gehören so wie Brunnen, Gassen und Markt, Giebelhäuser, Brücken und Tore zum inneren
Leben vorwiegend städtischer Menschen, wie es im Hochmittelalter vorgeprägt wurde. Daß sie aber
in moderner Zeit nicht nur nostalgischer Zierrat, sondern ein wesentliches Politikum im städtischen
Leben sind, zeigt ihre Auflistung von Klaus-Dieter Wille. Zwar hat sich der Landeskonservator aus
praktischen Gründen der Bewahrung ihrer Substanz vor Umweltzerstörung ebenfalls angenommen,
aber auch er läßt in seinem Geleitwort „Begeisterung" des Autors am Stoff durchblicken. — Verf.
hatte schon vor fast 10 Jahren eine Zwischenbilanz des Projekts in den „Mitteilungen" unseres Vereins
(Jg. 75, Heft 2 vom April 1979, S. 33—43) publiziert. Es ist von ihm in privater Initiative und weitgehend auf eigne Kosten durchgeführt worden. Er hatte damals über seine Aufgabenstellung (erste
Bestandaufnahme seit 50 Jahren) und die Forschergruppe berichtet, ferner einen historischen Überblick skizziert und über Glockengießerkunst sowie Berlins Rolle als Glockengießerstadt einiges
Wesentliche gesagt. Damals hatte er 75 Kirchtürme mit ihren Glockenstuben bestiegen, jetzt sind es
über 300. Schon damals erfuhren die Leser des Vereins Genaueres über Glockenformen und ihren
Werkstoff und sahen einige Beispiele der vorzüglichen Fotos des Verf. und seiner Mitarbeiter. Die
damals angekündigte systematische Gesamtdarstellung liegt nun vor. Verf. zieht darin das Fazit und
sagt über Sinn und Zweck seiner Arbeit: „ . . . ist, die Erzeugnisse der deutschen Erzgießerkunst nach
Form und Dekor, nach Inschrift und Jahreszahl oder sonstige bildnerische Attribute zu untersuchen,
um eine exakte Darstellung des Berliner Glockenbestandes der an diesem Thema interessierten
Öffentlichkeit zugänglich zu machen." Er schildert ferner die Schwierigkeiten der Inaugenscheinnahme in den Glockenstuben.
Das sorgfältig angelegte Buch vermittelt über seinen Sachgehalt hinaus nicht nur die emotionale
Anziehungskraft von Glocken, sondern lenkt den Blick auf den Anspruch, ihre Existenz in modernes
Leben einzubinden. So ist trotz scheinbar bloßer Auflistung und Deskription dem Stoff neue Anziehungskraft gegeben; er ist durchaus nicht so spröde, wie es der Landeskonvervator in seinem Geleitwort anmerkt. Denn es wird seine hohe kulturhistorische Bedeutung einsichtig, im Bilderschmuck
und dem kirchengeschichtlichen Umfeld, das ungebrochen bis in die Gegenwart hineinreicht. In der
289
Darstellung liegt der Hinweis auf das ganze Berlin, das nun so unerwartet schnell Wirklichkeit wurde.
Der historische Umriß wirft ein Licht auf alle Altberliner Kirchen (dies in ergänzender Vertiefung der
beiden Bändchen gleichen Titels in den „Berlinischen Reminiszenzen" des Haude & Spener Verlages), die auch in den alten Bildern erscheinen.
Aber auch außerhalb dieses Rahmens wird etwas Bedeutsames spürbar: das Ehrwürdige und der
sakrale Charakter von Glocken, wie beides bei Sehiller evident wurde. Dankenswerterweise sind auch
die Glocken von Friedhofskapellen, Krankenhäusern und Schulen einbezogen; die Olympische und
die Freiheitsglocke werden sichtbar.
Der Versuch, aus dem Bildmaterial hervorragende Beispiele hervorzuheben, kann nur ein subjektives
Unterfangen werden, aber jeder Leser spürt die Akribie der Gesamtübersicht. Sie ist nach Verwaltungsbezirken aufgegliedert. Das Literaturverzeichnis ist aktualisiert und von vielen Fehlern (durch
Augenschein) gereinigt worden.
Christiane Knop
Cöpenicker Dampfboot. Beiträge zur Geschichte des Stadtbezirks. Nr. 1, Juli 1989. Herausgeber:
Kulturbund der DDR, Gesellschaft für Heimatgeschichte, Kreisvorstand Köpenick, Friedrichshagener Straße 58, Berlin 1170. Redaktion: Lucie Groszer, Gerhard Richter, Dr. Bernd Rühle, DIN A5,
16 Seiten, 2 Mark.
Die kleine Zeitschrift, nach dem seit 1868 zweimal wöchentlich erschienenen „Cöpenicker Dampfboot" genannt, stellt sich mit ihrer 1. Ausgabe vor, deren Beiträge, darin den „Mitteilungen" unseres
Vereins nicht unähnlich, den ehrenamtlich tätigen Mitarbeitern nicht honoriert werden. Einige Aufsätze seien genannt: „Zur französisch-reformierten Kolonie in Köpenick (1686—1809)" von Dr.
Bruno Zilch, „Die Herkunft des Namens Müggel" (Dr. Jürgen Scharnhorst) und „August Strindberg
in Friedrichshagen" von Albert Burkhardt, der den Vorschlag unterbreitet, das Wohnhaus des großen
schwedischen Nationaldichters Strindberg, Lindenallee 20, sorgfältig instandzusetzen und mit einer
Gedenktafel zu versehen. Über „Hessenwinkel an Dämeritzsee und Spree" berichtet Heinrich Jendro, „Daten aus der Historie des Ortsteil Wendenschloß" steuert Johannes Zschachlitz bei. Weitere
kleine Beiträge: „Dr. Max Jacoby und sein Denkmal" (Inge Kießhauer) und „Einhundert Jahre Dorfkirche von Rahnsdorf" (Werner Zimmermann). Bemerkenswert ist eine aktuelle Liste der angemeldeten und laufenden Forschungsthemen, soweit sie der Arbeitsgemeinschaft Heimatforschung in der
Gesellschaft für Heimatgeschichte Köpenick bekannt sind, knapp 50 an der Zahl, darunter die
Geschichte des Braugewerbes in Köpenick. Daneben laufen Arbeiten der zwölf Ortschronisten in den
verschiedenen Ortsteilen. Vom 21. bis 25. September 1989 fanden in Köpenick die Tage der Denkmalpflege und Heimatgeschichte unter dem Motto „Die Altstadt und ihre Vorstädte — von Jahrhundertwende zu Jahrhundertwende" statt. Unter anderem wurden in Vorträgen die Geschichte der
Stadtkirche und des Schlosses Köpenick behandelt und die Frage gestellt „Die alte Stadt — ein
Museum?"
SchB.
„Als wäre es nie gewesen." Menschen, die nicht mehr entkamen — Fotografien aus den letzten
Jahren des jüdischen Gemeindelebens in Berlin bis 1942. Ausstellung zum Gedenken an den
50. Jahrestag der Pogrome vom November 1938. Veranstaltet von der Jüdischen Abteilung des
Berlin Museums im Martin-Gropius-Bau 4. November 1988 bis 15. Januar 1989. Samson Verlag
Berlin 1988, broschiert, 105 Seiten.
Nicola Galliner, von der die Ausstellungskonzeption stammt (wissenschaftliche Mitarbeit, Bildtexte
sowie Ausstellungsgestaltung Helmuth F. Braun) hält in ihrem Vorwort fest, welche Bedeutung das
Bildarchiv des Fotografen Abraham Pisarek (1901 bis 1983) hat, aus dem für die Ausstellung eine
Auswahl getroffen wurde. Zur Arbeit jüdischer Organisationen in Berlin 1933 bis 1942, die sich in
den Fotografien widerspiegelt, berichtet Norbert Kampe in seiner Einführung „Aufbau im Untergang". Die nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten gebildete erste moderne jüdische
Dachorganisation, die „Reichsvertretung der deutschen Juden", mußte schon Ende des Jahres 1933
erkennen, daß an die Stelle der Abweisung der Angriffe gegen die jüdische Gemeinschaft nun die
Konzentration aller Anstrengungen auf den Aufbau jüdischer sozialer Hilfsdienste zu treten hatte.
Unter der Leitung der „Reichsvertretung" arbeitete der „Zentralausschuß für Hilfe und Aufbau",
daneben der im Sommer 1933 gegründete „Jüdische Kulturbund". Die Fotografien A. Pisareks
290
zeigen Situationen aus den Arbeitsbereichen des Zentralausschusses, des Kulturbundes und der
Jüdischen Gemeinde zu Berlin.
Bis zu den Pogromen vom 9./10. November 1938 wurde den jüdischen Selbsthilfeorganisationen
eine relativ große Autonomie zugestanden. Vor allem die Abteilung „Wanderungswesen" des Zentralausschusses wurde als nützlich angesehen, da bis 1941 die Auswanderung das erklärte Ziel der
deutschen Judenpolitik war.
1939 löste die Gestapo die jüdische Selbstverwaltung auf und gründete eine Zwangsvereinigung
unter der Bezeichnung „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland".
Die sehr eindrucksvollen Aufnahmen, denen in dankenswerter Weise die nötigen Bilderklärungen
beigegeben sind, werden in die Abschnitte „Religion, Tradition", „Ausbildung, Umschulung, Auswanderung, Gedenkfeier", „Sport", „Winterhilfe, Kleiderkammer, Jüdisches Krankenhaus" sowie
„Kultur, Kulturbund" und „Der gelbe Stern" unterteilt. Der Stiftung Deutsche Klassenlotterie Berlin
ist Dank zu sagen, daß sie der Jüdischen Abteilung des Berlin Museums die erforderlichen Mittel für
die Ausstellung zur Verfügung stellte.
H. G. Schultze-Berndt
Im ersten Quartal 1990
haben sich folgende Damen und Herren zur Aufnahme gemeldet:
Barry, James
Ritterstraße 98, 1000 Berlin 61
Tel. 614 53 42
(Bibliothek)
Bittcher, Ernst, Orgelbauer
Schopenhauerstraße 57, 1000 Berlin 38
Tel. 8 03 57 29 (von Mitgliedern anläßlich
einer Werkstattführung)
Buchholz, Christa, Angestellte
Am Hügel 25, 1000 Berlin 26
Tel. 4114707
Dr. Görlich GmbH
Kurfürstendamm 45, 1000 Berlin 15
Tel. 8 83 20 31
(Schriftführer)
Firma Herrn. Herdegen GmbH & Co.
Blohmstraße 37-61, 1000 Berlin 49
(Schriftführer)
Dr. Klink, Günter, Biologe, Rentner
Zinsweiler Weg 22, 1000 Berlin 37
Tel. 8134422
(R.Schröter)
Klink, Marlies
Zinsweiler Weg 22, 1000 Berlin 37
Tel. 813 44 22
(R. Schröter)
Kraft, Dr. Herbert, Dipl.-Forstwirt
Quantzstraße 22, 1000 Berlin 38
Tel. 8039247
Kränzlein, Peter, Geschäftsführer
Blohmstraße 35, 1000 Berlin 49
Tel. 7408111
(Schriftführer)
Leschber, Professor Dr.-Ing. Reimar
Baumläuferweg 6, 1000 Berlin 47
Tel. 6024094
(Schriftführer)
Lipp, Maria-Eleonore
llsenburger Straße 11, 1000 Berlin 10
Tel. 3 45 30 68
(Frau Scheid)
Lux, Dr. Walther, Jurist
Klingsorstraße 18, 1000 Berlin 41
Tel. 7 9199 76
(Herr Lehnhardt)
Moers, Ursula, Rentnerin
Am Volkspark 33, 1000 Berlin 31
Tel. 8533204
Schacher, Dieter, Dipl.-Ing.
Herthastraße 20, 1000 Berlin 33
Tel. 8 92 65 66
(RA Oxfort)
Schroedter, Ernst-Georg, Pensionär
Heiligendammer Straße 16, 1000 Berlin 33
Tel. 8231033
(RA Oxfort)
Severin, Professor Dr.-Ing. Dietrich
Hortensienstraße 39, 1000 Berlin 45
Tel. 8 34 88 76
(Schriftführer)
von Werne, Rose-Bertel
Geraer Straße 30, 1000 Berlin 45
Tel. 7119157
(Frau Eva Guth)
Werner, Michael, Kaufm. Angest.
Menzelstraße 33, 1000 Berlin 41
Tel. 8557990
(Bibliothek)
291
Veranstaltungen im II. Quartal 1990
1. Mittwoch, den 25. April 1990,16.30 Uhr: Führung durch die Ausstellung des Landesarchivs „Kapp-Putsch und Generalstreik März 1920 in Berlin — Tage der Torheit, Tage der
Not". Leitung: Herr Dr. Hans Joachim Reichhardt. Treffpunkt in der Halle des Landesarchivs Berlin, Kalckreuthstraße 1/2, Berlin 30. Fahrverbindungen: Busse 19,29, U-Bahnhöfe Wittenbergplatz und Nollendorfplatz.
2. Sonntag, den 29. April 1990, 11.00 Uhr: Führung durch die Ausstellung „Der Wallfahrtsweg über Heiligensee zum Wunderblut von Wilsnack um 1400". Leitung: Herr
Wolfgang Holtz. Treffpunkt: Heimatmuseum Reinickendorf, Alt-Hermsdorf 35—38,
1000 Berlin 28.
3. Mittwoch, den 9. Mai 1990, 19.30 Uhr: Ordentliche Mitgliederversammlung im Pommernsaal des Rathauses Charlottenburg;
Tagesordnung:
1. Eröffnung und Begrüßung
2. Verleihung der Fidicin-Medaille
3. Entgegennahme des Tätigkeits-, des Kassen- und des Bibliotheksberichtes.
4. Bericht der Kassenprüfer und der Bibliotheksprüfer.
5. Aussprache.
6. Entlastung des Vorstandes.
7. Wahl von zwei Kassenprüfern und zwei Bibliotheksprüfern.
8. Verschiedenes
Anträge aus dem Mitgliederkreis sind bis spätestens 25. April 1990 der Geschäftsstelle
einzureichen.
Im Anschluß hält Frau Dr. Sibylle Einholz einen Lichtbildervortrag zur Ausstellung
„Ethos und Pathos — Die Berliner Bildhauerschule 1786—1914".
4. Sonntag, den 27. Mai 1990,11.00 Uhr: Führung „Park und Schloß Babelsberg". Leitung:
Herr Joachim Ueberlein. Treffpunkt Parktor bei den DEFA-Studios, Grenzstraße, Ecke
Alt-Nowawes. Fahrverbindungen mit der BVG, Bus 29, Babelsberg, einige Minuten Fußweg. Bitte Station erfragen, da sich die Linienführung ändern könnte.
5. Sonnabend, den 9. Juni 1990,11.00 Uhr: Führung „Durch die Entwicklung der Wohnund Miethausbauten in der südlichen Friedrichstadt". Leitung: Herr Christian Koch.
Treffpunkt: Lindenstraße 39.
6. Sonnabend, den 16. Juni 1990, 10.30 Uhr: Führung „Durch die Sophienstadt". Leitung:
Frau Dr. Christiane Knop und Herr Günter Wollschlaeger. Treffpunkt: U-Bahnhof
Rosenthaler Platz, vor der Heinrich-Heine-Buchhandlung.
Bibliothek: Berliner Straße 40, 1000 Berlin 31, Telefon 87 2612. Geöffnet: mittwochs 16.00 bis
19.30 Uhr. Zugang über den 1. Hof.
Vorsitzender: Hermann Oxfort, Breite Straße 21, 1000 Berlin 20, Telefon 3 33 24 08.
Geschäftsstelle: Frau Ingeborg Schröter, Brauerstraße 31, 1000 Berlin 45, Telefon 77234 35.
Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13, 1000 Berlin 65, Telefon 45 09-291.
Schatzmeisterin: Frau Ruth Koepke, Temmeweg 38, 1000 Berlin 22, Telefon 3 65 76 05.
Konten des Vereins: Postgiroamt Berlin (BLZ 10010010), Kto.-Nr. 433 80-102, 1000 Berlin 21;
Berliner Bank AG (BLZ 100 20000), Kto.-Nr. 03 81801200.
Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr.
1865, Schriftleitung: Günter Wollschlaeger, Kufsteiner Straße 2, 1000 Berlin 62; Dr. Christiane
Knop, Rüdesheimer Straße 14,1000 Berlin 28; Roland Schröter. Beiträge sind an die Schriftleiter zu
senden.
Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 16 DM
jährlich.
Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn, 1000 Berlin 49.
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.
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MITTEILUNGEN
DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS
G E G R Ü N D E T 1865
86. Jahrgang
Heft 3
Zwischen Reichstag und Brandenburger Tor im November 1989
Juli 1990
Berlin: Geschichte einer Stadt
Von Hermann Oxfort
Konnten die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges ernsthaft daran glauben, auf der Gundlage
der Spaltung des deutschen Volkes und seiner staatlichen Ordnung ließe sich ein dauerhafter
Friede in Mitteleuropa aufbauen?
Ich habe nie an eine dauerhafte Spaltung unseres Landes und unserer Stadt geglaubt. Auch
40 Jahre Teilung und unterschiedliche politische und wirtschaftliche Entwicklung haben den
Willen der Menschen in beiden Teilen unseres Landes nicht erlahmen lassen, als ein Volk in
einem Staat zu leben und zugleich diesen Willen einmünden zu lassen in ein vereintes Europa,
das dem Weltfrieden und der Wohlfahrt seiner Bürger dient, ungeachtet ihrer Nationalität,
ihrer Rasse, ihres Geschlechts oder ihrer politischen Überzeugung.
Es bedarf keiner Prophetie, um vorauszusagen, daß auch das geteilte Berlin alsbald zusammenwachsen wird. Gesamtberliner Wahlen werden zu einer gemeinsamen Stadtregierung führen,
deren wichtigste Aufgabe es sein wird, den im Ostteil Berlins gelegenen Verwaltungsbezirken
jene Entwicklung zu gewährleisten, welche zur Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und
West führt.
Der im Jahre 1865 gegründete Verein für die Geschichte Berlins, der sein Gründungsjahr in
seinem vollständigen Namen führt, hat es sich zur Aufgabe gesetzt, die Geschichte Berlins zu
erforschen und zu verbreiten. Durch die Herausgabe seiner wissenschaftlichen Schriften (seiner Jahrbücher, seiner vierteljährlichen „Mitteilungen", seiner „Grünen Schriften"), seiner
Vorträge und Führungen und durch die Unterhaltung seiner der Öffentlichkeit zugänglichen
Bibliothek mit Berlin-Literatur nimmt der Verein auf die an der Geschichte unserer Stadt interessierten Bürger, aber auch auf das Bewußtsein der Öffentlichkeit Einfluß. Die Besinnung auf
die Vergangenheit und die Entwicklung unserer Stadt fördert zugleich das Verständnis für
Gegenwart und Zukunft. „Wer seine Vergangenheit nicht achtet, wird auch keine Zukunft
haben", soll einst der spartanische Staatsmann Lykurg gesagt haben.
Die Mitgliederlisten unseres Vereins lesen sich wie ein Stück Stadtgeschichte. Überflüssig zu
sagen, daß in den 125 Jahren der Geschichte des Vereins die Stadtoberhäupter bis zur Gegenwart ebenso unsere Mitglieder gewesen sind wie Wirtschaftsunternehmen mit Tradition,
Schriftsteller—hier sei nur Theodor Fontane genannt—, Wissenschaftler und interessierte Bürger. Zu seinen Ehrenmitgliedern zählt der Verein den Bundespräsidenten ebenso wie Willy
Brandt.
Wir machen keine Parteipolitik, sondern fühlen uns unserer wissenschaftlich begründeten Aufgabe und dem Ziele verpflichtet, das historische Bewußtsein der Bürger unserer Stadt zu wekken und zu fördern.
Bis zu seiner Ausbombung im Jahre 1943 hatte der Verein seinen Sitz im Deutschen Dom. In
einer Zeit, da Wahrheit und Objektivität im Ostteil unserer Stadt nicht gefragt waren, haben die
Mitglieder des Vereins in Berlin West die Tradition des Vereins gehütet. Nun ist es an der Zeit,
die Mitgliedschaft auch für jene Bürger der Stadt zu öffnen, die ihren Wohnsitz in den elf Verwaltungsbezirken Ost-Berlins haben.
Die Tätigkeit unseres Vereins hat sich, getreu seinen historischen Aufgaben, schon immer auf
ganz Berlin erstreckt. Ich rufe daher unsere Berliner Mitbürger — insbesondere im Ostteil der
Stadt — auf, dem „Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865" beizutreten und sich durch
Teilnahme am Vereinsleben unserer gemeinsamen Geschichte zu verpflichten. Für den monat294
liehen Mitgliederbeitrag von 5 DM werden sowohl der Bezug der wissenschaftlichen Veröffentlichungen wie auch die Teilnahme an den Veranstaltungen des Vereins abgegolten:
Schließlich arbeitet der Verein gemeinnützig.
„Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört" (Willy Brandt)! Die Hauptstadt Berlin
braucht Bürger, die sich zu engagieren bereit sind!
Anschrift des Verfassers:
Hermann Oxfort, Vorsitzender, Breite Straße 21, 1000 Berlin 20
Titelfoto Günter Wollschlaeger
Der Berliner Orgelbauer Peter Migendt (1703—1767)
Von Christhard Kirchner
Am 13. April des Jahres 1690 — vor 300 Jahren — wurde in Karow bei Genthin der Orgelbauer
Joachim Wagner als Sohn eines Pfarrers geboren.1 Bei welchem Meister er in die Lehre ging, ist
bislang unbekannt. Bevor er sich 1719 in Berlin niederließ und eine eigene Werkstatt errrichtete, war er zwei Jahre lang - wahrscheinlich 1717 bis 1719 - Mitarbeiter Gottfried Silbermanns (1683—1753)2, des bedeutendsten Orgelbauers des 18. Jahrhunderts in Sachsen, gewesen.
Für die Residenzstadt Berlin wurde Wagner der Begründer einer weitreichenden Orgelbautradition, wie sie für Hamburg im 16. und 17. Jahrhundert mit der Orgelbauerfamilie Scherer oder
für Dresden zu Beginn des 17. Jahrhunderts durch Gottfried Fritzsche (1578-1638) entstand.
Mit seinen Orgeln schuf Wagner einen eigenen, märkischen Typus der Orgel, weshalb man ihn
später auch den „preußischen Silbermann" nannte.
In den 30 Jahren seines Wirkens — Wagner starb 1749 in Salzwedel — hatte er eine große Zahl
von Schülern und Gesellen.3 Sie haben das geistige Erbe Wagners bewahrt und fortgeführt und
das Bild des Orgelbaus in Berlin und in Preußen entscheidend mit geprägt.
Peter Migendt ist wohl der bekannteste unter Wagners Mitarbeitern, wenn auch sicherlich nicht
der bedeutendste. Einige andere Wagner-Schüler, wie z. B. Heinrich Andreas Cuntzius in
Halle, Gottlieb Scholtze in Neuruppin oder Ernst Marx in Berlin, entfalteten eine weitaus größere Wirksamkeit. Keinem dieser Orgelbauer widmete das Lexikon „Die Musik in Geschichte
und Gegenwart" einen eigenen Artikel. Immerhin bezeichnet Claus-Peter Schulze Migendt als
„Meisterschüler" Wagners, der „den preußischen Orgelstil wagnerischer Prägung" lebendig
erhielt.4 Ernst Ludwig Gerber 5 und Carl Freiherr von Ledebur6 nennen Migendt einen „braven
Orgel-Baumeister, wahrscheinlich zu Berlin", von dessen Orgelwerken sie nur wenige aufzuzählen wissen.
Peter Migendt wurde 1703 in Birthelm in Siebenbürgen - im heutigen Rumänien - geboren.7
Wo er den Orgelbau erlernte und wann er nach Preußen kam, war bisher nicht zu ermitteln.
ErstimJahre 1731 —oder spätestens im Frühjahr 1732 —wurde er Geselle Wagners. 1753erinnert sich Migendt und schreibt: „Die 17 Jahr die ich bei Sei. Wagner gewesen bin, (.. .)." 8 Bei
Fertigstellung der neuen Wagner-Orgel in der Berliner Parochial-Kirche — im Herbst 1732 —
wird Migendt neben Matthias Callensee, Heinrich Cuntzius u. a. mit als Geselle genannt.9
295
Verschiedenen Schreibweisen des Namens begegnet man: Mügend, Migend, auch Johann
Peter Miegent. Er selbst unterschreibt aber stets: Peter Migendt. So steht es auch in der Sterbeeintragung von St. Georgen Berlin 1767.10
Bei seinem Meister erwarb sich Migendt durch seine Tüchtigkeit im Lauf der Jahre eine Vertrauensposition, die dazu führte, daß Wagner ihn 1741 mit der Aufstellung der neuen großen
Orgel im Dom zu Trondheim in Norwegen betraute, sicherlich auch weil Matthias Callensee,
der Werkmeister und Schwager Wagners, gesundheitlich angeschlagen war und Wagner seine
immer zahlreicheren Inlandsprojekte selbst in der Hand behalten wollte. Die Orgel für Trondheim war ursprünglich mit 27 Registern geplant gewesen, dann aber mit 30 Registern auf
zwei Manualen und Pedal gebaut worden.11 Das schöne Orgelgehäuse Wagners ist noch heute
vorhanden. Seit 1930 steht dahinter eine große Steinmeyer-Orgel. Wichtige Teile der WagnerOrgel (Windladen, Pfeifenwerk und Mechanik) wurden aber aufbewahrt. So ist ein Wiederherstellen des Wagner-Instrumentes möglich und bereits geplant.
1744/45 arbeitete Peter Migendt an Wagners neuer Orgel in der Stadtkirche St. Marien zu
Angermünde mit. Im Auftrag Wagners quittierte er am 7. Juni 1745 während dessen Abwesenheit über 10 Taler für verauslagten Fuhrlohn.12 Migendt lernte in dieser uckermärkischen Stadt
seine spätere Ehefrau, die Jungfer Catharina Elisabeth Balcke, kennen. Sie war die Tochter des
Mühlenmeisters Friedrich Balcke in Neu-Angermünde, des Inhabers der Windmühle vor dem
Hohen Thor. Am 8. November 1726 wurde sie in Angermünde geboren und zwei Tage später
in St. Marien daselbst getauft.13 Peter Migendt und Catharina Elisabeth wurden am 2. Dezember 1748 in der Berliner Jerusalems-Kirche getraut.14 Nach der Eintragung im Kirchenbuch
blieb die Ehe kinderlos.
Der Turm der Nicolai-Kirche in Spandau war in der Nacht vom 24. zum 25. Juni 1740 durch
Blitzschlag in Flammen aufgegangen. Dabei verbrannten auch die vier Keilbälge der neuen
Wagner-Orgel von 1734. Durch die Rettungs- und Löscharbeiten wurde zugleich die übrige
Orgel in Mitleidenschaft gezogen. Der Magistrat beauftragte den Orgelbauer Callensee, die
beschädigte Orgel zu besichtigen, teilweise zu demontieren und auszulagern. Er erhielt dafür
1 Taler 8 Groschen, der Handlanger 1 Taler.15
Nach dem mehrjährigen Wiederaufbau des Kirchturms schloß der Magistrat von Spandau mit
Peter Migendt am 6. Oktober 1746 einen Contract über 300 Taler zur Wiederherstellung der
Orgel.16 Das beschädigte Orgelgehäuse, die „Structur", hatte inzwischen ein einheimischer
Tischler 1742 für 18 Taler in Ordnung gebracht.17 Nun wurden Migendts Sachen und Werkzeuge aus Berlin geholt. Das Holz für die neuen Keilbälge und Windkanäle wurde angefahren,
und Migendt begann zu arbeiten.18 Bereits im November 1746 wurde auf der Westempore ein
Gerüst vor der Orgel errichtet.19 Mitte Januar 1747 waren die vier neuen Bälge fertig. Sie wurden von fünf Männern in die Kirche transportiert und dann in die Balgkammer im Turm
geschafft.20
Das Reparieren bzw. Nachschnitzen der beschädigten Gehäuseornamente wurde dem katholischen Bildhauer Michael Wasser aus Berlin verdingt. Er beendete seine Arbeit am 7. April
1747 und bekam insgesamt 45 Taler dafür.21 M. Wasser arbeitete 1747 ebenso für Angermünde. Er erhielt hier für das Schnitzen zweier Blindflügel am Orgelprospekt 25 Taler.22
Migendt hat auch später mit M. Wasser verschiedentlich zusammengearbeitet.
Am 7. Oktober 1746 empfing Migendt in Spandau die ersten 100 Taler, am 28. März 1747
50 und am 14. April weitere 100 Taler.23 Am 3. Oktober quittierte er über nochmals 20 Taler,
so daß seine Arbeit nun als beendet anzusehen war. Den Rest sollte er — laut Contract — erst
„ein halbes Jahr nach verfertigter Arbeit, wenn es in guthem Stande befunden", erhalten.
Migendt arbeitete in Spandau mit Unterbrechungen. Zwischenzeitlich war er wohl in der Berli296
ner Werkstatt für Joachim Wagner tätig. Wenigstens ein Geselle ging ihm in Spandau zur Hand,
wie aus der Zahlung von „Biergeld, den Gesellen da die Arbeit fertig" zu schließen ist.24 Zwischen dem 20. Februar und 22. Juli 1747 arbeiteten sie ohne Unterbrechung, was durch die
erhaltene Übernachtungsquittung zu belegen ist.24 Die letzte Rate von 30 Talern empfing
Migendt am 7. Juni 1748.25
Joachim Wagner hatte für den Bau einer neuen großen Orgel in der Petri-Kirche Berlin einen
Kostenanschlag erstellt. Die Orgel sollte 50 Register auf drei Manualen und Pedal und dazu
acht Bälge umfassen. 1747 wurde Wagners Entwurf genehmigt.26 Mit der umfangreichen
Arbeit konnte nicht sofort begonnen werden, da die Petri-Gemeinde noch genügend Geld
sammeln mußte. Wagner ließ deshalb im November 1747 nach Vollendung seines neuen Werkes in der Stadtkirche St. Johannis zu Werben sein Werkzeug von Werben nach Salzwedel
schaffen, wo er in der Marien-Kirche einen weiteren großen, dreimanualigen Neubau übernommen hatte. Die Vorarbeiten waren so weit gediehen, daß Wagner im Februar 1748 die alte
Vorgängerorgel abbrechen konnte. 27 Unter den mitarbeitenden Gesellen wird Peter Migendt
nicht genannt. Offenbar war er in der Berliner Werkstatt verblieben. Sollte er vielleicht mit dem
Bau der neuen Petri-Orgel — entsprechend den Plänen Wagners — beginnen? In Berlin hatte
man zunächst nur die Mittel, um das große Gehäuse, einen Teil des Hauptwerkes, drei Register
im Pedal, vier Bälge und den Spielschrank herstellen zu lassen.
Ganz überraschend starb am 25. Mai 1749 — 59jährig — Joachim Wagner in Salzwedel. Seine
dortige Orgel war noch nicht fertig. Die Arbeit an der Berliner Petri-Orgel hatte begonnen.
Vorauszahlungen waren an Wagner geleistet worden. In dieser Situation war Peter Migendt,
der Werkmeister Wagners, gefordert. Die Pläne und Zeichnungen für die Petri-Orgel lagen
bereit. Seit 1730, dem Jahr des Brandes der Petri-Kirche, hatte die Gemeinde ohne Orgel auskommen müssen. Sicherlich drängte der Propst Johann Peter Süßmilch (1707—1767), der seit
1742 an der Petri-Kirche amtierte und ein Bahnbrecher der statistischen Bevölkerungskunde
war, auf Weiterarbeit, damit der Gemeindegesang bald wieder ein Begleitinstrument hatte.
Noch im Todesjahr Wagners waren die Arbeiten Migendts so weit gediehen, daß Propst Süßmilch die neue, halbfertige Orgel am 1. Advent, dem 30. November 1749, mit einer feierlichen
Predigt einweihen konnte. Es waren im Hauptwerk acht und im Pedal drei Register spielbar. Es
fehlten noch ein großer Teil der Prospektpfeifen, das Schnitzwerk am Gehäuse, die meisten
Windladen und weitere vier Bälge.26 Aber der Platz für alles war vorgesehen. Lediglich der
Spielschrank mit allen Klaviaturen und Registerzügen scheint von Anfang an komplett gewesen zu sein.
Bis 1751 schaffte es Migendt, den in Auftrag gegebenen zweiten Bauabschnitt zu erstellen. Das
waren die Windladen des Oberwerks, dazu im Oberwerk sieben Register, weitere Register im
Hauptwerk und eines im Pedal, außerdem das dazugehörige Regierwerk, eine Manualkoppel
und die fehlenden Prospektpfeifen. Der Bildhauer Michael Wasser schuf die Ornamente und
Engelsfiguren am Prospekt. Und der Maler Fischer aus Berlin bemalte und vergoldete das
gewaltige Gehäuse. Es maß in der Höhe 40 Fuß. Das Gehäuse der größten damaligen Orgel
Berlins, das der Garnison-Kirche, deren Orgel Joachim Wagner 1724/25 mit ebenfalls 50
Registern erbaut hatte, maß nur 27 Fuß an Höhe. 28
Viele Jahre blieb die Orgel so als Torso stehen. Nach dem Tod Migendts, 1768, konnte endlich
der Berliner Orgelbauer Ernst Marx die Windladen und die Traktur des Seitenwerks und einige
von den zehn von Wagner vorgesehenen Registern bauen. So umfaßte die Orgel nun 26 Register. Bei dieser Registeranzahl blieb es bis zum Kirchenbrand 1809, dem die Orgel zum Opfer
fiel.26 Zur Verbesserung der Windversorgung setzte E. Marx 1782 noch zwei der vorgesehenen
297
Keilbälge ein. Die Register und Windladen des Großpedals sind jedoch niemals gebaut worden. So mußte auch Principal 16' Pedal im Prospekt immer stumm bleiben.
In der späteren Literatur wird stets die von Wagner geplante vollständige Disposition wiedergegeben und der Eindruck einer klangprächtigen Orgel erweckt. Als Erbauer wird nur Peter
Migendt genannt, jedoch Wagners Autorschaft und der Anteil von E. Marx verschwiegen.29
Die ursprünglich von Wagner konzipierte und die tatsächlich gebaute Disposition mögen hier
folgen:30
Berlin St. Petri, 1749/51 und 1768
Seitenwerk (I): C, D-c3
Hauptwerk (II): C, D-c3
Principal
Gedact
Quintatön
Rohrflöte
Nasat
Octave
Terz
Quinta
Cymbel4f.
Vox humana
Schwebung
Principal
Bordun
Octave
Rohrflöte
Quinta
Octave
Flöte traverse
Quinta
Octave
Scharf 6 f.
Cymbel4f.
Cornett 5 f.
Trompete
Fagott
16'
16'
8'
8'
6'
4'
4'
3'
2'
1V 2 '
1749
1751 (?)
1749
1749
1749
1749
nicht gebaut
1749
1749
1749
1751 (?)
a b c ' 1751 (?)
16 nicht gebaut
16' nicht gebaut
r
Oberwerk (III): C, D-c3
Principal
Quintatön
Gedact
Salicet
Octave
Fugara
Spitzflöte
Quinta
Octave
Waldflöte
Mixtur 5 f.
Trompete
Oboe
8' 1751
16' nicht gebaut
8' 1751
8' nicht gebaut
4' 1751
4' nicht gebaut
4' nicht gebaut
3' 1751
2' 1751
2' nicht gebaut
1751
8' 1751
8' nicht gebaut
4'
8'
8'
4'
3'
2'
m
i%'
V
r
1751/1768
1768
nicht gebaut
nicht gebaut
nicht gebaut
1768
1768:Octav 1'
nicht gebaut
nicht gebaut
nicht gebaut
nicht gebaut
Pedal: C, D-d'
Principal
Violon
Quinta
Octave
Gemshorn
Quinta
Octave
Quinta
Mixtur 8 f.
Posaune
Posaune
Trompete
Cornet Clairon
16' 1751, stumm
16' 1749
12' nicht gebaut
8' 1749
8' nicht gebaut
6' nicht gebaut
4' 1749
3' nicht gebaut
2' nicht gebaut
32' nicht gebaut
16' 1751 (?)
8' nicht gebaut
4' nicht gebaut
Koppel Oberwerk/Hauptwerk
Tremulant
2 Sonnen
4 Sperrventile
Trompeten, welche die Engel gegen den
Mund an- und absetzen.
Pauken, die von Engeln auch als natürlich
geschlagen werden.
8 Keilbälge - 4 1749 gebaut,
2 1782 gebaut.
298
Der Oberbürgermeister der Stadt Frankfurt/Oder, Johann Lukas Thering, zugleich königlichpreußischer Hofrat, erkundigte sich brieflich am 20. Dezember 1749 bei Johann Gottlieb
Graun, dem Konzertmeister der Berliner Hofkapelle, nach dessen Urteil über den Orgelbauer
Peter Migendt. Die neue Orgel Migendts in der Petri-Kirche war vor wenigen Tagen eingeweiht
worden. Die Stadt Frankfurt plante eine Renovierung des Inneren der Unterkirche und in diesem Zusammenhang einen Orgelneubau. Sie hielt deshalb nach einem geeigneten Orgelbaumeister Ausschau. Graun hatte schon vor Ostern 1749 den Thomaskantor Johann Sebastian
Bach in Leipzig um Empfehlung eines tüchtigen Orgelbauers für den Neubau in der Frankfurter Unterkirche, der ehemaligen Franziskaner-Klosterkirche und heutigen Konzerthalle „Carl
Philip Emanuel Bach", gebeten.31 Bach hatte in seinem Antwortbrief Heinrich Andreas Cuntzius, den früheren Gesellen Joachim Wagners, genannt. Seit 1736 ist Cuntzius in der Stadt
Halle als Orgelbauer nachweisbar. Ihm übertrug man 1748 als „Orgelrevisor" die Pflege sämtlicher Orgeln der Stadt.32 Am 12. Januar 1748 hatte ihm Bach ein Gutachten ausgestellt, mit
dem er das Orgelbauer-Privilegium bei der preußischen Regierung erwirken wollte.33 Noch
heute ist der schöne Prospekt der Orgel erhalten, die Cuntzius 1743 für die Bartholomäus-Kirche in Halle-Giebichenstein schuf.
Weder Migendt noch Cuntzius bekamen den Auftrag. Nach dem Neubau der Orgelempore an
der Westseite der Unterkirche führte 1754 der Orgelbauer Damm eine Erweiterung der von
Matthias Schurig aus Radeberg/Sa. an der gleichen Stelle 1688 bis 1690 errichteten Orgel
aus.34
Während Peter Migendt in Berlin an der Petri-Orgel arbeitete, suchte der Magistrat von Salzwedel nach einem Meister, der die dortige Marien-Orgel vollenden würde, und wandte sich an
Migendt. Dieser kam Ende November, noch vor der Einweihung der Petri-Orgel, nach Salzwedel und machte Vorschläge zum Weiterbau. Wegen seiner Berliner Verpflichtungen konnte er
aber keine konkreten Termine zusagen. Bis zum Juni 1750 zogen sich die Verhandlungen hin.
Schließlich wandte man sich im Juli 1750 an Gottlieb Scholtze, den Neuruppiner Orgelbauer.
Er war bereit, das Werk Wagners für 1100 Taler fertigzustellen.35
Noch während Salzwedel mit Migendt verhandelte, meldete sich bei ihm die Stadt Stettin. Der
Organist Christian Michael Wolff an der dortigen Schloßkirche bemühte sich, die alte Orgel
reparieren zu lassen, und empfahl für diese Arbeit Peter Migendt.36 Die bisherige Orgel hatte
zwei Manuale und kein Pedal. Migendt untersuchte das Instrument und riet zu einem kleinen
Neubau mit 13 Registern, 1 Manual und Pedal (13/I+P). Der Contract wurde am 30. Juli 1750
unterzeichnet. Migendt versprach darin den Bau der neuen Orgel für 400 Taler und nahm die
alte in Zahlung. Bereits im nächsten Frühjahr waren die Arbeiten abgeschlossen. Offensichtlich liefen sie parallel zu dem 2. Bauabschnitt für St. Petri in Berlin. Die Einweihung in der
Schloßkirche fand am 2. Mai 1751 in Anwesenheit des preußischen Königs mit einer festlichen
Kirchenmusik statt. Letztlich betrugen die Kosten 460 Taler. Sie wurden durch Spenden und
den Verkauf unbrauchbar gewordener Kirchengeräte gedeckt.
Schloßkirche Stettin, Disposition nach dem Kostenanschlag:
Manual, C, D-c 3
1. Principal
2. Gedact
3. Octave
4. Rohrflöte
5. Nassat
6. Octave*
8
8
4
4
3
2
Fuß
Fuß
Fuß
Fuß
Fuß
Fuß
englisch Zinn, von E an im Gesicht.
die unterste Octave von Holz, die anderen 3 löthig Metall.
von Probe Zinn.
1 von Metall.
299
Quinta
172 Fuß37
Cornet 3.fach
Mixtur 4.fachaus 1 Fuß*
Trompet
8 Fuß
Pedal, (C, D-c)
11. Subbaß
16 Fuß
12. Octava
8 Fuß
13. Posaune
8 Fuß
7.
8.
9.
10.
l von Probe Zinn.
Jvon c' bis c3.
von Holz.
von Holz.
die Corpora von Holz, die Mundstücke von Metall,
mit 2 Blase Bälgen 10 Fuß lang und 5 Fuß breit, und mit einem Tremulant.
Vor Abschluß der Arbeiten an der Schloßkirchenorgel rief man Migendt zur Begutachtung des
alten Instruments in der Gertrud-Kirche. Sein Zustand war so bedenklich, daß eine Reparatur
nicht mehr lohnte. Migendt reichte daher zwei Dispositionsvorschläge für einen Neubau ein.
Der größere Entwurf (12/I+P) wurde genehmigt. Das Stettiner Konsistorium bewilligte einen
Zuschuß von 400 Talern.37 So wurde der Vertrag mit Migendt über 550 Taler noch im Jahre
1751 geschlossen. Die Einweihung der neuen Orgel erfolgte 1752 und geschah mit einer festlichen Kirchenmusik. Die Disposition ist überliefert:38
Manual, C, D-c3
1. Principal
8. Fuß
2. Gedact
8. Fuß
3. Octav
4. Fuß
4. Rohrflöth
4. Fuß
5. Nassat
3. Fuß
6. Octav
2. Fuß
7. Quinta
IV* Fuß
8. Cornett 3.fach c' bis c "
9. Mixtur 3.fach aus
1. Fuß
10. Trommet
8. Fuß c' bis c'"
Pedal, C, D-c'
11. SubBaß
12. Posaune
16. Fuß
8. Fuß
„Einige Stimmen im Manual werden also angeleget, daß der Baß alleine und der discant auch
alleine kann gezogen und gespielet werden, (...)."
Jetzt reißen die Aufträge an Peter Migendt nicht mehr ab. Nahezu 15 Jahre wird er in Stettin
tätig sein und ständig zwischen dieser Stadt und Berlin hin- und herreisen. 1751 wurde er gebeten, die Stettiner Orgeln in St. Nicolai und in St. Jacobi, der Hauptkirche der Stadt, gründlich
zu untersuchen. Für St. Nicolai schlug er einen Neubau vor, der jedoch nicht zur Ausführung
kam.39 Für die von Matthias Schurig begonnene und durch Arp Schnitger 1699 vollendete
Orgel (46/III+P) in St. Jacobi erstellte Migendt ein Gutachten und forderte 500 Taler zu ihrer
völligen Wiederherstellung40, die sicher mit einer Umdisponierung verbunden sein sollte. 1747
bei der Übergabe der Orgel an den neuen Jacobi-Organisten Theophilus Andreas Volckmar
„stellte man fest, kein einziges Register ist in Ordnung. Einige Register lassen sich gar nicht ziehen. Die meisten Pfeifen sind schlecht. Nur ein Drittel der Pfeifen klingt, die schlechten dabei
Einige Stimmen im Manual werden also angelegt, daß der Baß alleine und der Discant auch allein
kann angezogen und gespielet werden. (Octave 2' und Mixtur 4fach haben also geteilte Schleifenzüge.)
300
ausgenommen." Offensichtlich hatte mangelnde Pflege die weit über die Stadt hinaus
berühmte Orgel in diesen bedenküchen Zustand geraten lassen. Aus Geldmangel kam es nicht
zur Ausführung. 1752 unterbreitete Migendt ein weiteres Kostenangebot zur gründlichen
Instandsetzung, auf das man jedoch erst 1756 zurückkam. Auch der Stettiner Instrumentenmacher Zahl und der Organist aus Warthin, Christian Friedrich Voigt, Sohn eines Orgelbauers
in Damm, bemühten sich um diesen lukrativen Auftrag.
Ebenso schlecht stand es um die Orgel der Marien-Kirche in Stettin. Chr. M. Wolff, der auch an
dieser Kirche das Organistenamt versah, hatte bereits 1746 einen Neubau gefordert und dazu
Joachim Wagner vorgeschlagen. 1752 bemühte sich Wolff erneut und empfahl Peter Migendt.
Dieser besichtigte die Orgel, „die eine der allerältesten in Pommern war", und veranschlagte
für eine Reparatur und Umdisponierung 1220 Taler.41 Da die finanziellen Mittel fehlten,
unterblieb die Auftragserteilung.
Zwischendurch wurde Migendts Anwesenheit auch in Berlin verlangt. Die Neue Kirche auf
dem Gendarmenmarkt, die als ein Fünfeck erbaut und am 9. April 1708 eingeweiht worden
war, hatte anfangs nur ein geliehenes Positiv. Die reformierte Gemeinde konnte es im Jahre
1713 dann für 150 Taler käuflich erwerben. 1751 waren „die Pfeifen von Salpeter, der Holzkasten von Würmern ganz zerfressen". Man bat Migendt um einen Kostenanschlag. Nach langen
Verhandlungen genehmigte der Magistrat einen Orgelneubau. Migendt errichtete wiederum
ein einmanualiges Werk mit Pedal, das im Prospekt Principal 8' enthielt.42 Am 12. November
1752 wurde die Orgel eingeweiht. In einem Bericht dazu liest man: „Wobey zu merken, daß
bey Erbauung der Orgel drey Leute von drey Religionen gearbeitet: 1. der Orgelbauer, Herr
Peter Migend, war lutherisch, 2. der Bildhauer, Herr Michael Wasser, war catholisch, 3. der
Mahler, Herr Johann Conrad Müller, war reformiert."43
1847 erbaute Carl August Buchholz eine neue, größere Orgel (. ./II+P) in der Neuen Kirche,
wobei er das Migendt-Gehäuse und einige Register von 1752 wiederverwendete.44 Sie kostete
1236 Taler. 1881 wurde diese Orgel an die Stadtkirche St. Marien in Ueckermünde verkauft
und dort durch den Orgelbauer Wilhelm Sauer aufgestellt und verändert. Einige MigendtRegister sind hier bis heute erhalten.45 Die Neue Kirche selbst bekam eine neue Orgel (37/
III+P) von Wilhelm Sauer mit einem neugotischen Gehäuse, die am 17. Dezember 1882 eingeweiht wurde.
Die reformierte Bethlehems-Kirche in Berlin, auch böhmische Kirche genannt, erlebte ihre
Einweihung am 12. Mai 1737. Sie war für die evangelischen Emigranten aus Böhmen
bestimmt. Der Baumeister Friedrich Wilhelm Diterichs hatte sie als eine markante Rundkirche
entworfen, mit vier kurzen Kreuzarmen. Zunächst besaß sie keine Orgel. Man bat Peter
Migendt um einen Dispositionsentwurf und Kostenanschlag. Am 6. Februar 1753 unterschrieb er den Contract46, der erhalten ist. Die Orgel sollte ein Brüstungswerk, einmanualig
und ohne Pedal werden. Als Krönung des Prospekts sollten eine „Glorie" angebracht und darunter eine sich drehende Sonne mit Cimbelglöckchen befestigt werden. Der Spieltisch kam an
die Seite. Die Register Octave 2' und Scharff 5.fach sollten geteilte Züge nach Baß und Diskant
erhalten. Als Preis wurden 230 Taler vereinbart, jedoch ohne die Malerkosten. Die Disposition
lautete:
Manual: C, D-c 3
1. Principal
2. Gedact
4 Fuß
8 Fuß
englisch Zinn.
die unterste Octave von Holz, die 3 übrigen Octaven
von Metall.
301
3.
4.
5.
6.
7.
8.
Rohrflöt
Nassat
Octave
Cornet 3.fach
Scharff 5.fach
Trompet
Tremulant,
Sonnenzug,
Calanten-Zug.
4 Fuß
3 Fuß
2 Fuß
8 Fuß
l
l Metall.
J
von c' bis c'" •>
aus 172 Fuß 1 Proben Zinn.
von c' bis c'" J
Bereits am 27. September 1753 war die Orgel fertig und wurde übergeben. Am darauffolgenden Tag quittierte Migendt über die restlichen 100 Taler. Die Orgel erhielt ihren Standort auf
der 2. Empore, dem Kanzelaltar gegenüber.47 Ihre Farbfassung und Vergoldung bekam die
Orgel erst 1759, und zwar durch den Berliner Maler Fr. Fischer. Im Februar 1945 brannte die
Kirche aus. Die Ruine beseitigte man endgültig 1963.
Die Stadtkirche St. Laurentius in Havelberg hatte bei einem schweren Gewitter am 28. Juli
1752 großen Schaden erlitten. Die Orgel war nicht mehr zu reparieren. Der Magistrat entschloß
sich zu einem Neubau und forderte den Orgelbauer Gottlieb Scholtze aus Neuruppin zu Vorschlägen auf. Scholtzes Kostenaufstellung und Dispositionsentwürfe reichte der Magistrat am
23. März 1753 zur Genehmigung nach Potsdam ein. Die königliche Regierung ersuchte Peter
Migendt um eine gutachterliche Stellungnahme zu dem Orgelprojekt. Migendt, der Scholtze
gewiß aus dessen früherer Zusammenarbeit mit Joachim Wagner kannte, kritisierte den
Kostenanschlag als nicht ausreichend spezifiziert und die Kosten als zu ungenau kalkuliert. In
seinem Gutachten vom 20. April 1753 schrieb er weiter: „Die 17 Jahr die ich bey Sei. Wagner
gewesen bin habe ich manch schönes Werck helfen bauen und die Kosten sein mir nicht unbekannt, waß Orgeln kosten große und kleine."48 An der Prospektzeichnung, dem „Riß",
bemängelte er den fehlenden Maßstab. Scholtzes größerer Entwurf (32/II+P) kam dann zur
Ausführung und wurde 1754 vollendet. Die Orgel ist bis heute erhalten.
1753 und in den folgenden Jahren hielten die anstehenden Aufgaben Migendt zunächst in Berlin fest. König Friedrich II. ließ im Lustgarten auf der Spreeinsel einen neuen Dom errrichten.
Im alten Dom, an der Südseite des Schlosses, der ehemaligen Dominikaner-Klosterkirche,
hatte der Orgelbauer Johann Michael Röder 1720 eine neue Orgel (32/II+P) erbaut. Migendt
setzte 1753 die Röder-Orgel in den neuen Dom um, reparierte sie und veränderte etwas die
Dispositionen.49 Sie hatte nun folgende Gestalt:
Im Hauptwerk:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
302
Principal
Quintatön
Rohrflöte
Octav
Spitzflöt
Quinta
Super Octav
Tertia
Quinta
Sedecima
Scharff 6.fach
Cymbel3.fach
8 Fuß
16 Fuß
8 Fuß (1720 Gedact 8 Fuß)
4 Fuß
4 Fuß (1720 Gedact 4 Fuß)
3 Fuß
2 Fuß
l3/5 Fuß
1V2 Fuß (1720 Tertian 2.fach)
lFuß
(1720 Mixtur lO.fach)
Im Ober Werk:
13.
14.
15.
16.
17.
18.
19.
20.
21.
22.
Principal
Bordun
Gedact
Quintatön
Octav
Quinta
Octav
Scharff 6.fach
Mixtur 4.fach
Trompet
8 Fuß
16 Fuß
8 Fuß
8 Fuß
4 Fuß
3 Fuß (1720 Sesquialtera 2.fach)
2 Fuß
(1720 Rauschquint 2.fach)
8 Fuß
Im Pedal:
23.
24.
25.
26.
27.
28.
29.
30.
31.
32.
Principal
Violon
Octav
Quinta
Octav
Quinta
Nachthorn
Mixtur ö.fach
Posaun
Trompet
Coppel zu beyden
Ciaviren,
Tremulant,
Windt Ventile.
16 Fuß
16 Fuß
8 Fuß
6 Fuß
4 Fuß
3 Fuß (1720 Rausch quinta 2.fach)
2 Fuß
(1720 Mixtur lO.fach)
16 Fuß
8 Fuß
Manual
Die Orgel stand bis 1817, in welchem Jahr sie durch einen Neubau von dem Berliner Orgelbauer Johann Simon Buchholz abgelöst wurde.
Ebenfalls 1753 stellte Migendt die Orgel Arp Schnitgers (24/II+P), die am 30. Januar 1707 in
der Berliner Sebastians-Kirche eingeweiht worden war, in der neu errichteten Sebastians-Kirche unverändert wieder auf.50 Die Einweihung der neuen Kirche wurde am 23. Dezember 1753
begangen. Auf königliche Anweisung wurde die Kirche 1802 in „Luisenstadt-Kirche" umbenannt. Laut Contract erhielt Migendt für Reparatur und Umsetzung der Orgel 200 Taler.51
Im Februar 1754riefder Magistrat von Rathenow Peter Migendt nach dort. Er sollte gemeinsam mit Johann Christian Hentzschel, dem Organisten der Altstadt Brandenburg, eine
umfangreiche Orgelinstandsetzung in der Stadtkirche St. Marien-Andreas begutachten. Der
Magistrat hatte mit Salomon Kleinert, einem Orgelbauer aus der Stadt Brandenburg, am
10. Mai 1753 einen Contract zur Reparatur der Stadtkirchenorgel geschlossen. Die Arbeit war
fertig. Migendt und Hentzschel stellten allerlei Mängel fest und forderten Nachbesserung.52
Joachim Wagner hatte 1723 für die alte Garnison-Kirche in Potsdam eine neue Orgel (25/
II+P) geschaffen. Bei Abbruch der Kirche 1730 schenkte sie König Friedrich Wilhelm I. der
Berliner Jerusalems-Kirche und ließ sie da einbauen. Nach rund 30jährigem Gebrauch zeigte
sie nun Verschleißerscheinungen. Man beauftragte Migendt mit der Instandsetzung. 1754
„renovierte" er die Orgel gründlich und fügte im Pedal noch eine neue Trompete 8' ein.53
303
Im gleichen Jahr begann Migendt mit seiner wohl wichtigsten Arbeit, dem Bau der Orgel für
die Prinzessin Amalia von Preußen, der jüngeren Schwester König Friedrichs II. Migendt
betrat mit der Konzeption zu dieser Orgel in mancherlei Hinsicht Neuland. Den Umfang der
Manualklaviere weitete er erheblich aus: C—f'", einschließlich Cis! Hierin haben sich gewiß die
Wünsche der Auftraggeberin ausgewirkt, die eine exzellente Klavierspielerin war. Für die
Stimmtonhöhe wählte Migendt den Kammerton, wohl im Blick auf die Verwendbarkeit der
Orgel zum Ensemblespiel. Die Kirchenorgeln im damaligen Preußen standen fast ausnahmslos
im „Chorton". Besonders auffallend aber ist die Klanggestalt:54
Hauptwerk (I): C-f3
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
Principal
8'
Bordun
16'
Rohrflöte
8'
Viola di Gamba 8'
Octave
4'
Quinta
3'
Octave
2'
Mixtur 4.fach
Flöt douce
8'
Oberwerk (II): C-f3
10. Principal
4'
11. Gedackt
8'
12. Quintatön 8'
13. Salicional 8' von c' an.
14. Rohrflöte 4' (Gedackt 4')
15. Nassat
3'
16. Octave
2' (Waldflöte 2')
17. Sifflöte
r
Pedal: C - d '
18.
19.
20.
21.
22.
Subbaß
Octave
Baßflöte
Octave
Posaune
16'
8'
8'
4'
16'
Manual-Coppel,
Tremulant,
3 Sperrventile,
Calcanten Glocke.
Oberwerk und Pedal haben keine Klangkronen, keine Mixturen. Sie treten dadurch deutlich
hinter dem Hauptwerk zurück. Die Orgel enthält keine Quinta 1V2', die Migendt sonst in allen
seinen Orgeln disponiert. Auch ein terzhaltiges Register fehlt. Bordun 16' im Hauptwerk ist in
Baß (C—h°) und Diskant (c'—f") geteilt, hat also zwei Züge. Die Manual-Coppel ist als Gabelkoppel gestaltet55, wie sie bereits Joachim Wagner anwandte. Die Orgel ist als ein Zimmerinstrument angelegt, mit geringerem Winddruck und entsprechender Intonation. Die heute in
der Orgel befindlichen Zungenregister — außer Posaune 16' — sind barockisierende spätere
Zutaten. Auch die heutige Pedalkoppel ist nicht original. Migendt hat — gleich Wagner — niemals eine Pedalkoppel gebaut.
Prinzessin Amalia wünschte die Orgel für ihr Berliner Palais Unter den Linden.56 Sie hielt sich
hier während der Winterszeit auf. Als Tochter des Königs Friedrich Wilhelm I. am 9. November 1723 im Schloß zu Berlin geboren, erhielt sie frühzeitig Klavierunterricht — in den Jahren
1740 bis 1742 — durch den Domorganisten Gottlieb Hayne, den wohl einzigen Musiker von
Bedeutung im damaligen Berlin. Er war es sicherlich, der sie in die Welt der Orgel einführte,
der sie sich seit ihrem 30. Lebensjahr leidenschaftlich hingab.57 Ihren Briefen ist zu entnehmen,
wie sehr sie der Vollendung ihrer Hausorgel entgegensah. Im Dezember 1755 war die Orgel
fertig. Amaliens Freude sah man in der Familie des Königs nur mit Verwunderung und
Befremden. In der Mitte des 18. Jahrhunderts war die Orgel kein Hausinstrument mehr, zumal
bei Hofe.
304
Nach dem Tod der Prinzessin ( t 30. September 1787) schenkte König Friedrich Wilhelm IL die
Orgel der Schloßkapelle in Buch bei Berlin, wo sie 1788 auf der eigens dafür tiefer gesetzten
Westempore aufgebaut wurde.58 Sehr wahrscheinlich ging dabei das bekrönende wertvolle
Schnitzwerk der Orgel verloren. In seinem Bericht von 1783 schilderte es Ernst Marx: „Auf
den obern Pfeiffen Thurm sitzt die Göttin der Music, mit vielen Instrumenten umgeben; Alles
ist starck vergoldet."55 Bis zum Jahre 1939 stand die Orgel in Berlin-Buch und wurde als ein
Opus Joachim Wagners angesehen. Der Orgelbauer Hans-Joachim Schuke identifizierte sie als
Werk Migendts und empfahl ihre Umsetzung. 1938/39 wurde ein Umbau der Berliner Nikolai-Kirche geplant und damit kurz vor Beginn des Zweiten Weltkrieges begonnen.59 Neben
dem großen Instrument von Wilhelm Sauer (1902,61 /III+P) sollte die Kirche eine historische
Zweitorgel bekommen. So wurde 1939 die Migendt-Orgel in Buch ausgebaut und in der
Marien-Kirche zwischengelagert. Hier entging sie der Vernichtung, denn die Schloßkirche
Buch und die Nikolai-Kirche wurden durch die Kriegsereignisse schwer beschädigt. Aus Platzgründen konnte sie in Marien nicht bleiben. Deshalb schenkte Propst Heinrich Grüber 1956
die Orgel der evangelischen Kirche „Zur frohen Botschaft" in Berlin-Karlshorst. Die Orgelbau-Anstalt Alexander Schuke, Potsdam, übernahm die Wiederherstellung der Orgel und
stellte sie 1960 in Karlshorst auf. Heute ist Migendts Amalien-Orgel die einzige vollständig
erhaltene Orgel aus dem 18. Jahrhundert in Berlin.
Beim Bau der Amalien-Orgel hatte Peter Migendt einen Mitarbeiter, der besonders erwähnt
werden muß, der dann auch in Berlin sein Geschäftsnachfolger wurde: Ernst Marx. Welchen
Anteil im einzelnen Marx am Entwurf und am Bau der Orgel hatte, ist unklar und muß noch
untersucht werden. Bei späteren Arbeiten Migendts wird der um 25 Jahre jüngere Marx verschiedentlich mit genannt.60 In einem im Jahre 1783 niedergeschriebenen Verzeichnis seiner
bis dahin gebauten Werke in Auswahl führt Marx auch die Amalien-Orgel auf.61 Keinesfalls
darf diese Orgel von 1755 verwechselt werden mit der wesentlich größeren Orgel, die Prinzessin Amalia im Jahre 1777 durch Ernst Marx für ihre Sommer-Residenz, das spätere Palais Prinz
Albrechts in der Wilhelmstraße, in der Friedrichstadt, bauen ließ.62 Werner David ist diesem
Irrtum erlegen63, während Christoph Friedrich Nicolai durchaus zutreffend berichtet.64 Peter
Migendt und Ernst Marx waren zunächst freundschaftlich, später auch verwandtschaftlich verbunden — Marx heiratete 1756 die jüngere Schwester von Migendts Ehefrau.65 Und die Eheleute Migendt haben dann bei zwei Kindern der Familie Marx Pate gestanden.
Noch vor Abschluß der Arbeiten an der Amalien-Orgel hatte Migendt einen Contract zur
Überholung der Berliner Marien-Orgel unterzeichnet. Die Pflege der Orgel führte wohl bisher
der Marienorganist Johann Gottlieb Wiedeburg, der das Organistenamt 1738 übernommen
hatte, selbst aus. Seine Arbeit wird im regelmäßigen Stimmen der Zungenregister und im
Nachregulieren der Tastenmechanik bestanden haben. 1754 starb er kurz vor Martini.66 Inzwischen war nach 35jährigem Gebrauch die Orgel verschmutzt. 1755 reinigte und reparierte
Peter Migendt die von Joachim Wagner 1720/21 erbaute Orgel (40/III+P) gründlich und
quittierte über 70 Taler.67 Der Calcant Kühnel erhielt dabei 7 Taler 12 Groschen.
Die vielen Aufträge an Migendt beweisen, daß man seine Arbeit schätzte. So gelangte er zu
Wohlstand und begann, ein eigenes Haus „auf der Contrescarpe", einem Wohnviertel in der
Nähe des Georgentores, zu bauen. Am 7. Januar 1756 ließ er sich in das Berliner Bürgerbuch
eintragen. Die Gebühren dafür wurden ihm in Anbetracht seines Hausbaues erlassen.68
Im gleichen Jahr nun beauftragte man Migendt, seinen Kostenanschlag von 1752 über die
Generalreparatur der Stettiner Jacobi-Orgel auszuführen.69 Er hatte 300 Taler gefordert, dazu
„frey Logis und Betten" für sich selbst und zwei Gesellen. Die berühmte Schnitger-Orgel wollte
305
man nicht dem noch unbekannten Christian Friedrich Voigt anvertrauen, trotz der hohen
Kosten. Gustav Fock datiert diese Reparatur in das Jahr 1751.70 Hier interpretiert er die Quelle
falsch.
1757 unternahm Organist Wolff einen erneuten Vorstoß für einen Orgelneubau in St. Marien
zu Stettin. Migendt reichte Disposition und Kostenangebot für eine zweimanualige Orgel mit
Pedal ein. Seine Forderung betrug 2740 Taler, dazu freie Beherbergung für ihn und seine
Leute.71 Wegen Geldmangels ließ man das Vorhaben fallen.
1759 wurde Migendt an seine Orgel in der Neuen Kirche Berlin gerufen. Der Organist Johann
Friedrich Kauffmann hatte eines Tages berichtet, daß „das Register nur zum Teil, das Pedal gar
nicht zu benutzen sei".72 Offenbar waren einige Registerzüge verquollen und ließen sich nicht
mehr bewegen. Kauffmanns Schilderung gestattet den Schluß, daß diese einmanualige Orgel
ebenfalls einige Register mit geteilten Schleifen besaß. Die Reparatur verursachte nicht unerhebliche Kosten.
Im gleichen Jahr schloß das Domkapitel zu Brandenburg mit Migendt einen Vertrag zur gründlichen Überholung der großen Domorgel, die Wagner 1723 erbaut hatte. Bereits 1749 hatte
Gottlieb Scholtze auf den schlechten Zustand der Orgel aufmerksam gemacht und am
26. August einen Kostenanschlag7