Geschlechterrollenkritische Didaktik in Geographie und

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Geschlechterrollenkritische Didaktik in Geographie und
Proseminararbeit zur LV 290143-1:
Geschlechterrollenkritische Didaktik
in Geographie und Wirtschaftskunde
Leitung:
Mag.a Dr.in Ingrid Schwarz
Name: Reinhard Holzer
Mat. Nr.: 9302247
A 190 313 456
Wintersemester 2015/16
1
Inhalt
1.Einleitung.............................................................................................................................................. 3
3.Unterrichtsplanung zum Thema: „Bilder im Kopf“............................................................................... 5
3.1 Anbindung an den Lehrplan: ......................................................................................................... 5
3.2 Lernziele, Kompetenzorientierung, Vermittlungsinteressen ........................................................ 5
3.2.1 Lernziele ................................................................................................................................. 5
3.2.2 Didaktische Vermittlungsinteressen: ..................................................................................... 6
3.2.3 Kompetenzorientierung: ........................................................................................................ 6
3.2.4 Orientierung am Beutelsbacher Konsens zur Politischen Bildung ......................................... 7
3.3 Erwartungen und Befürchtungen .................................................................................................. 7
3.4 Abfolge und Begründung der ausgewählten Inhalte, Sozialformen und Methoden .................... 7
3.4.1 Einstiegs-Methoden ............................................................................................................... 8
3.4.2 Die unterdrückte Mehrheit: Majorité Opprimée ................................................................... 9
3.4.2b Kritik: Bedienung rassistischer Stereotype: „Feminismus nur für Weiße“......................... 10
3.4.3 Geschlechterrollen 1: Nur ein Spiel für echte Männer?....................................................... 13
3.4.4 Geschlechterrollen 2: “The more TV a girl watches, the fewer options she thinks she has in
life” ................................................................................................................................................ 15
3.4.5 Kritik an der Genderforschung: „Schlecht, schlechter, Geschlecht“ .................................... 17
3.4.5b Kritik an der Kritik bzw. Klarstellungen: Biologistische Grenzziehungen ........................... 19
3.5 Planungsmatrix ............................................................................................................................ 21
4. Ausgewählte Artikel .......................................................................................................................... 33
4.1 Majorité Opprimée ...................................................................................................................... 33
4.2"Oppressed Majority": Feminismus nur für Weiße ...................................................................... 33
4.3 Nur ein Spiel für echte Männer? ................................................................................................. 35
4.4 “The more TV a girl watches, the fewer options she thinks she has in life” ............................... 38
4.5 „Genderforschung: Schlecht, schlechter, Geschlecht“ ............................................................... 41
4.6 Biologistische Grenzziehungen .................................................................................................... 48
5. Informationsblatt: Wichtige Fachbegriffe ......................................................................................... 51
6. Quellen- und Literaturverzeichnis ..................................................................................................... 53
6.1 Schulbücher ................................................................................................................................. 53
6.2 Internetquellen:........................................................................................................................... 53
2
1.Einleitung
Die vorliegende Arbeit stellt die Abschlussarbeit des Proseminars „Geschlechterrollenkritische
Didaktik in Geographie und Wirtschaftskunde“ dar. Vorgabe war,
zum Einen eine
geschlechterrollenkritische Analyse eines gesamten Schulbuches der Sekundarstufe 1,
zumindest aber eines Kapitels daraus durchzuführen. Aufgrund der Bedeutsamkeit der Lehrund Lernmittel für die geschlechtsspezifische Sozialisation von SchülerInnen sollte der
Verfasser dieser Arbeit ebenso wie seine KollegInnen im Zuge der Durchführung seine
Sensibilität schärfen und auf die symbolische Repräsentation sowie die soziale Konstruktion
der Geschlechter achten. Die dadurch vermittelten männlichen und weiblichen Rollenbilder
sollten aufgedeckt werden und es sollte beachtet werden, ob eine geschlechterdifferenzierte
Sprache zur Verwendung kommt.
Dabei wurde (siehe Kapitel 2) ein Mittelweg gewählt, der nach Möglichkeit die Präzision
einer Detailanalyse mit der Vollständigkeit einer Übersichtsanalyse zusammenführen sollte;
zusätzlich wurde auch noch ein themenspezifischer Schulbuchvergleich durchgeführt.
Zum
Anderen
sollte
unter
Fokus
auf
geschlechterrollenkritische
Didaktik
ein
Unterrichtsbeispiel bzw. eine Unterrichtseinheit für die Sekundarstufe 2 zu einem der Themen
„Reproduktive Rechte“, „Arbeitsrechte“ oder „Bilder im Kopf“ entwickelt werden. Hier
wurde das Thema „Bilder im Kopf“ ausgewählt (siehe Kap. 3-5), weil es dem Verfasser als
das
hierzulande
momentan
kontroverseste
mit
dem
größten
„Bewusstseinsmobilisierungspotential“ erschien. Als Inspiration dazu diente unter anderem
die (insbesondere in punkto Quellenauswahl) hervorragende Proseminararbeit des Kollegen
David Kerbl (vgl. Kerbl 2014: 46-56). Der Verfasser der vorliegenden Proseminararbeit hielt
es nach Lektüre dieser ansonsten vorzüglichen Arbeit nämlich für geboten, zwei von Kerbls
herangezogenen Quellen Gegenstandpunkte (siehe 3.4.2b und 3.4.5b) entgegenzustellen und
damit Reflexionsmöglichkeiten für die SchülerInnen zu erweitern, wofür entsprechende
Methoden herangezogen und Aufgabenstellungen ausgearbeitet wurden.
Aufgrund der dem Thema „Bilder im Kopf“ zugemessenen Bedeutung blieb es allerdings
nicht bei einer Unterrichtseinheit - vielmehr wurde ein ganzer Unterrichtsblock konzipiert, um
die wesentlichsten geschlechterspezifischen Aspekte des Themas in einer Art und Weise
abhandeln zu können, die bei den SchülerInnen jene intensiven Bewusstseinsprozesse
ermöglicht,
um
im
Rahmen
der
individuellen
3
Sozialisation
internalisierte
Geschlechterrollenstereotype abbauen zu können; insbesondere solche die der betreffenden
Person selbst oder anderen Menschen, speziell Minderheitengruppen, schaden. Der Block
wurde in Form von Modulen konzipiert, um je nach der Verfügbarkeit von Doppel- oder
vielleicht nur Einzelstunden in der Anwendung flexibel zu sein (Angegeben ist in der Regel
die Mindestzeit pro Sequenz, die qualitatives Arbeiten ermöglicht – sie kann nach Bedarf
ausgedehnt werden). Trotz explizit geschlechterrollenkritischer Ausrichtung wurde auf eine
multiperspektivische Darstellung geachtet, die traditionelle Rollenbilder zwar hinterfragen,
aber (abgesehen von den mit Gewalt verbundenen) nicht abwerten soll. Schließlich sollen
SchülerInnen grundsätzlich nicht indoktriniert werden (siehe 3.2.4), sondern sich vielmehr auf
Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse eine eigene Meinung bilden können.
4
3.Unterrichtsplanung zum Thema: „Bilder im Kopf“
3.1 Anbindung an den Lehrplan:
Siehe aktueller OSt-Lehrplan, Bildungsbereiche (BMBF 2016):
Siehe aktueller USt-Lehrplan:
Lehrstoff 7. Klasse:
3.2 Lernziele, Kompetenzorientierung, Vermittlungsinteressen
3.2.1 Lernziele
Förderung gleichberechtigten und partnerschaftlichen Miteinanders und der
gegenseitigen Akzeptanz und Toleranz der Geschlechter.
Bewusstmachung noch bestehender ungleicher Chancen für Mädchen und Jungen
sowie von (insbesondere geschlechtsspezifischen) Minderheiten im beruflichen und
im privaten Bereich (vgl. Schwarz 2015), nicht zuletzt durch Thematisierung
unterschiedlicher Einstellungen und Verhaltensweisen von Mädchen und Burschen
sowie Lehrerinnen und Lehrern.
Förderung einer Einstellung der Akzeptanz der Differenz und der Gleichwertigkeit
männlicher und weiblicher (und „dritter“) Identitäten bei den SchülerInnen
Fördern eines Bewusstseins dafür, dass vorherrschende Rollenbilder von Weiblichkeit
und Männlichkeit nicht angeboren, sondern anerzogen sind.
5
Fördern eines Verständnisses von männlichem und weiblichem Verhalten als im Zuge
der Sozialisation gesellschaftlich angeeignete und damit veränderbare
Verhaltensweisen („soziales Geschlecht“).
Empowerment von SchülerInnen gegenüber in Zusammenhang mit dem sozialen
Geschlecht stehenden Unterdrückungsformen.
Erweiterung des Horizonts bzw. des Selbstvertrauens in Bezug auf wissenschaftliche
und berufliche Karrieren.
Kritische Auseinandersetzung mit Vorurteilen, Klischees und Stereotypen.
Schaffung eines Bewusstseins der Problematik (insbesondere geschlechter-)
stereotypischer Zuweisungen durch Sensibilisierung der SchülerInnen.
Sichtbarmachung von kulturellen und gesellschaftlichen Leistungen von Frauen und
Mädchen und deren gleichwertige Einbeziehung.
Kritische Reflexion gesellschaftlicher Mechanismen (hier insbesondere in
Zusammenhang mit Fragen des sozialen Geschlechts).
3.2.2 Didaktische Vermittlungsinteressen:
Bei der Gestaltung dieses Blocks standen (wie an den Lernzielen erkennbar und auch aus der
Konzeption ersichtlich sein sollte) insbesondere das Kritisch-Emanzipatorische sowie das
Praktische (an der Lebenswelt der SchülerInnen orientierte) Vermittlungsinteresse im
Vordergrund. Ein technisches Vermittlungsinteresse liegt aber auch vor, weil es für
erweitertes Verständnis unerlässlich ist, die wichtigsten Grundbegriffe zu erläutern, um
Missverständnissen zumindest so weit wie möglich vorzubeugen. Für die SchülerInnen wurde
zu diesem Behufe zwecks Übersichtlichkeit ein Informationsblatt erstellt (siehe 5.).
3.2.3 Kompetenzorientierung:
Der Block „Bilder im Kopf“ steht ganz im Zeichen der Förderung von „Genderkompetenz“,
die im Oberstufen-Lehrplan als Teil der Gesellschaftskompetenz betrachtet wird; jedenfalls
werden im Rahmen des Blocks geschlechtsspezifische Unterschiede in verschiedenen
sozioökonomischen und soziokulturellen Systemen analysiert. Insbesondere durch die
SchülerInnenorientierung wird aber auch die Orientierungskompetenz gestärkt: Es ist
ausdrückliche Intention, dass die SchülerInnen erworbenes Wissen und gewonnene Einsichten
privat wie beruflich nutzen und in die Öffentlichkeit einbringen können. Weil auch Einsicht
in das Wirkungsgefüge der Gesellschaft gegeben wird, wird die Synthesekompetenz ebenfalls
gestärkt (siehe folgende Zitate; BMBF: 2016).
6
3.2.4 Orientierung am Beutelsbacher Konsens zur Politischen Bildung
(=Vorbemerkung zu 3.4 bzw. Klarstellung):
Zur gebotenen Vorgehensweise im Rahmen der Politischen Bildung gehört grundsätzlich ein
Verzicht auf jegliche Indoktrinierung. Daher ist auch der Block „Bilder im Kopf“ unter
besonderer Bedachtnahme auf den Beutelsbacher Konsens konzipiert worden. Es gelten also
in
allen
Sequenzen
grundsätzlich
dessen
drei
Prinzipien
Überwältigungsverbot,
Kontroversitätsgebot [Bei allem, was in der Gesellschaft kontroversiell ist, ist diese
Kontroversialität auch im Unterricht darzustellen] und SchülerInnenorientierung.
3.3 Erwartungen und Befürchtungen
Aufgrund der Konzeption des Blocks mit seinen höchst kontroversen Inhalten ist zu erwarten,
dass auch die SchülerInnen insbesondere die Thematiken Feminismus und Rassismus,
wahrscheinlich aber auch die Thematik Sexuelle Minderheiten teilweise sehr gegensätzlich
sehen und dies möglicherweise auch entsprechend offensiv artikulieren. Hier ist nötigenfalls
mit Nachdruck auf den grundsätzlich gebotenen Respekt gegenüber Anderen und deren
Meinung zu bestehen.
3.4 Abfolge und Begründung der ausgewählten Inhalte, Sozialformen und
Methoden
Die Methoden sind gemäß der „Methodenkiste“ der Bundeszentrale für politische Bildung
(Scholz/BPB: 2010) konzipiert oder daran angelehnt, wobei anstelle von „Fish-Bowl“ der
Begriff „Aquarium“ präferiert und daher verwendet wird. Die Zeitangaben der
Planungsmatrix sind generell Orientierungswerte und sollten idealerweise je nach Interessen
7
und Engagement der SchülerInnen, in pragmatischer Hinsicht aber auch an die Schulstunden
angepasst werden.
3.4.1 Einstiegs-Methoden
Der
Einstieg
soll
im
Sinne
der
SchülerInnenorientierung
und
des
Praktischen
Vermittlungsinteresses an den persönlichen Erfahrungen der SchülerInnen anknüpfen. Der
Themeneinstieg erfolgt also über Persönliche Betroffenheit und thematisiert Formen von
Diskriminierung anhand von Benachteiligungserfahrungen aufgrund des Geschlechts innerund außerhalb der Schule:
Modul 1: Einstieg
Vermittlungsinteresse: Praktisch
Kompetenzen: Genderkompetenz
Zeit
(ca.)
Thema / Inhalt
Sozialformen
und Methoden
Ablauf Tätigkeiten L/S
2min
Benachteiligungserfahrungen
aufgrund des Geschlechts in
der Schule
Reflexion in
Einzelarbeit
10
min
Sammlung und Reflexion
Plenum
2min
Benachteiligungserfahrungen
aufgrund des Geschlechts
außerhalb der Schule
Reflexion in
Einzelarbeit
15
min
Sammlung und Reflexion
Rotierendes
Partnergespräch
oder Plenum
Zunächst äußern sich die Mädchen dazu,
dann die Burschen.
5-10
min
Feminismus:
Positionslinie
Pole: Absolut
sinnvoll/unnötig
S argumentieren ihre Position.
Zunächst äußern sich die Burschen dazu,
dann die Mädchen
In Sequenz 4 hätte ein Rotierendes PartnerInnengespräch den Vorteil, dass alle selbst ihre
Erfahrungen mitteilen könnten; Nachteil gegenüber der Sammlung im Plenum wäre
allerdings, dass (sofern man nicht mehr Zeit dafür veranschlagt) nicht jeweils alle zuhören
könnten. Die Methode Position-Beziehen entlang der Positionslinie (Sequenz 5) wurde zum
Einen gewählt, damit die SchülerInnen ihre Position zum Thema Feminismus reflektieren und
auch argumentieren können bzw. dies „trainieren“. Zum Anderen wird die Positionslinie im
Rahmen des Blocks durch mehrmalige Anwendung allen veranschaulichen, ob und in welcher
Weise sich die jeweiligen Einstellungen verändert haben. Je nach Verfügbarkeit von Zeit (ob
Doppelstunden oder ein Block möglich sind oder nicht) kann die Dauer der Sequenzen 2, 4
und 5 notfalls verringert, gegebenenfalls aber auch verlängert werden.
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3.4.2 Die unterdrückte Mehrheit: Majorité Opprimée
Nach der Thematisierung persönlicher Erfahrungen der SchülerInnen zum Thema
geschlechterspezifischer Benachteiligung sollen sie nun mit der Sichtweise der französischen
Schauspielerin und Regisseurin Eléonore Pourriat konfrontiert werden. Ihr Kurzfilm Majorité
Opprimée wurde ausgewählt, weil er deutlich zum Ausdruck bringt, dass unsere Gesellschaft
in vieler Hinsicht noch sehr stark vom patriarchalischen Erbe geprägt ist – wobei der Filmtitel
darauf hinweist, dass es hierbei demographisch gesehen eine Mehrheit ist, die unterdrückt
wird. In diesem Film wird nämlich eine Spiegelung dieser uns wohlbekannten Verhältnisse
vorgenommen, womit offenbar auch ein Nerv getroffen wurde. Im Internet wurde dieser
Kurzfilm nämlich zum „viralen Hit“, indem er innerhalb kürzester Zeit millionenfach
angesehen wurde - was wohl auch daran liegt, dass er durch seine Drastik wohl niemanden
unberührt lässt. Diese Tatsache erfordert aber auch, die SchülerInnen in Bezug auf die
Darstellung (Nacktheit, Gewalt) im Vorhinein vorzuwarnen. Schließlich ist es nicht das Ziel,
die SchülerInnen zu verstören. Einzelne SchülerInnen können daher notfalls auch ohne alle
Szenen gesehen zu haben darüber mitdiskutieren, wenn dies ihrer Aufgeschlossenheit
zuträglich ist. Dem Publikum sollte mit diesem Film zunächst das höchst berechtigte
feministische Anliegen nahe gebracht werden, dass sich jede Frau ohne sexuelle Belästigung
und natürlich auch angstfrei in allen öffentlichen Räumen frei bewegen können soll. Diese
Thematik ist in der Regel für SchülerInnen auch in ihrem Alltag höchst relevant. Es ist ja
traurig genug, dass eine solche Sicherheit bei gleichzeitiger Bewegungsfreiheit, die für alle
Menschen selbstverständliches Recht sein sollte, faktisch vielerorts eben nicht gegeben ist.
Majorité Opprimée soll den SchülerInnen aber auch die Macht von Rollenbildern bewusst
machen – indem sie selbst beurteilen, inwiefern das Verhalten des Protagonisten als
„weiblich“ zu betrachten ist und/oder zumindest betrachtet wird. Und, analog dazu, ob das
Verhalten der im Film gezeigten Frauen schockiert – und zwar obwohl, oder gerade eben
weil sich viele Männer im realen Leben in ganz ähnlicher Weise verhalten. Dass der Film auf
einen Teil der SchülerInnen also auch verstörend wirken kann, ist hier im Sinne des
Lerneffekts beabsichtigt. Entscheidend ist, dass respektvoll und so ausführlich als nötig
darüber gesprochen werden kann.
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Modul 2a: Unterdrückte Mehrheit
Vermittlungsinteresse: Praktisch und Kritisch-Emanzipatorisch
Kompetenzen: Gesellschaftskompetenz, Orientierungskompetenz, Synthesekompetenz
Zeit
Thema / Inhalt/Medien
10min
Youtube-Clip „Majorité
Opprimée“
10
min
Plakate
ca. 15
min
Sozialformen und
Methoden
Beobachtung: In welcher Weise wird über die
und mit der Hauptperson gesprochen?
Schreibgespräch
(1, Was hat mich schockiert
2, Was hat mir an diesem
Rollenwechsel gefallen
bzw. 3, missfallen.)
Besprechung der Ergebnisse
des Schreibgesprächs/der
Eindrücke des Films.
Reflexion und Argumentation
Ablauf Tätigkeiten L/S
Aquarium
je 6 SchülerInnen halten auf einem Plakat ihre
Eindrücke fest: Jede/r schreibt jeweils einen Eindruck auf
und gibt das Plakat an den/die Nachbar/in weiter.
Fragen L an S: Inwiefern ist 1, das Verhalten des
Protagonisten als „weiblich“? 2, das Verhalten
der Frauen als „männlich“ einzustufen?
Als Methode für Sequenz 2 wurde Schreibgespräch gewählt, damit alle SchülerInnen sich
gegenüber einer Reflexion im Plenum weniger beeinflusst durch allzu starke Emotionen dazu
äußern können; die drei Fragen sind so gestellt, dass Begeisterte wie Ablehnende
gleichermaßen sich in ihrem Sinne äußern können. Die Methode Aquarium ermöglicht es in
Sequenz 3, die Ergebnisse zusammenzuführen, sich auszutauschen und die Eindrücke im
Gespräch zu reflektieren, wobei im Aquarium eben (nach den GruppensprecherInnen) jede/r
Schüler/in die Gelegenheit hat, sich zu äußern.
Theoretisch könnte man nun auch noch eine Positionslinien-Sequenz zum Feminismus
einschieben. Dem Verfasser erscheint es aber (sofern dem keine zeitliche Einschränkung
entgegensteht) sinnvoller, direkt mit dem folgenden Artikel anzuschließen:
3.4.2b Kritik: Bedienung rassistischer Stereotype: „Feminismus nur für Weiße“
Eléonore Pourriat, die Majorité Opprimée auf Basis eigener Erfahrungen konzipiert hat (vgl.
Cocozza: 2014) hat sich im Sinne des von ihr beabsichtigten maximalen emotionalen Effekts
darauf konzentriert, bei Männern jene äußerst unangenehmen Gefühle entstehen zu lassen, die
viele Frauen – und oft sogar regelmäßig - durchleben müssen. Weil Pourriat somit die
französischen Männer als „Hauptzielgruppe“ anvisiert, hat sie als Opfer einen „typisch
französischen“ Mann auserkoren, während die Täterinnen, wie sich bei genauerer Betrachtung
zeigt, allesamt schwarzhaarig und tendenziell eher dunkelhäutig sind. Dadurch setzte sich die
Regisseurin neben der von ihr erwarteten Kritik von patriarchalischer Seite jedoch auch der
Kritik aus, rassistische Stereotype zu bedienen. Ob und inwiefern diese Kritik zu Recht geübt
wird, sollen die SchülerInnen während und nach der Lektüre des Artikels Feminismus nur für
Weiße? von Mohamed Amjahid erwägen und beurteilen. Insbesondere wenn, wovon heute
10
auszugehen ist, muslimische SchülerInnen Teil der Klasse sind, ist diese Problematik
unbedingt zu thematisieren. Aber auch falls dies nicht der Fall sein sollte, ist es gerade in
Zeiten der „Flüchtlingskrise“ dermaßen aktuell, dass es aus Sicht des Verfassers dieser Arbeit
dennoch geboten ist. Auch sollte es nicht Ziel geschlechterrollenkritischer Didaktik sein, die
Benachteiligung einer (Mehrheits-)Gruppe von Menschen zu beenden, dafür aber eine andere
(Minderheits-)Gruppe pauschal abzuwerten. Wenn aber, womit gegenwärtig zu rechnen wäre,
von SchülerInnen die Ereignisse von Köln zu Silvester 2015/16 angeführt würden, dann ist
aus Sicht des Verfassers dieser Arbeit im Zuge der Besprechung ausdrücklich klarzustellen,
dass und warum weder eine Pauschaleinstufung aller Flüchtlinge/Asylwerber/Muslime als
potentielle Sexualverbrecher angemessen und akzeptabel wäre; genausowenig allerdings ist
akzeptabel, dass man Angst vor Sexualverbrechen bagatellisiert und delegitimiert1. Eine
solche Bagatellisierung ginge nämlich auf Kosten vergangener wie zukünftiger Opfer
sexueller Gewalt. Und andererseits ist dennoch (in diesem Konzept in Sequenz 4 und 5)
darauf hinzuweisen, dass von manchen Medien und insbesondere von Teilen der politischen
Rechten Angst von Frauen vor sexuellen Übergriffen eben auch instrumentalisiert wird wenn beispielsweise das Team Stronach anlässlich des Frauentags vor dem Parlament
Pfeffersprays verteilt, oder wenn sich im Rahmen einer Demonstration vorgebliche
Frauenfreunde als rechtsradikale Islamfeinde herausstellen, denen die Töchter in der
Bundeshymne (begleitend von einem aggressiven Unterton) „wurscht“ sind (ORF-„Report“:
2016).
1
Beispielsweise, wie der Verfasser dieser Arbeit an der Uni von einer Kollegin im Rahmen eines Seminars
hören durfte, als (antimuslimischen) „rassistischen Exzess“!
11
Modul 2b: Feminismus nur für Weiße?
Vermittlungsinteresse: Technisch (Fachbegriffe), Praktisch, Kritisch-Emanzipatorisch
Kompetenzen: Medienkompetenz, Gesellschaftskompetenz, Orientierungskompetenz,
Synthesekompetenz
Zeit
Thema / Inhalt/Medien
Sozialformen und
Methoden
Ablauf Tätigkeiten L/S
15
min
Rassistischer Feminismus ?
Artikel: Feminismus nur für Weiße
Einzelarbeit
S: Lesen und Beantworten der Leitfragen
10-15
min
Ecke 1: “nicht rassistisch“
Ecke 2: „ein bisschen rassistisch“
Ecke 3: „ziemlich rassistisch“
Ecke 4: absolut rassistisch
„In der Ecke stehen“
mit Argumentation
und evtl.
Positionswechsel
10-15
min
Thematisierung des Begriffs
Intersektionalität
Plenum
8 min
Evtl. Betrachtung des Beitrags
„Die neuen Frauen-Freunde“
(Video)
Präsentation der
Ergebnisse
10
min
Thematisierung der
Instrumentalisierung (weiblicher)
Ängste vor sexueller Gewalt
Plenum
L erklärt Begriff.
S können auch über persönliche
Benachteiligungserfahrungen berichten
Leitfrage(n) zu „Feminismus nur für Weiße“:
Beurteile und argumentiere, ob und inwiefern du Amjahids Argumentation, dass der Film
rassistisch sei, teilst oder nicht teilst. Liegt deiner Meinung nach eine kulturelle Zuschreibung
von Gewalt vor? Hätte Pourriat zumindest eine weiße Gangsterin im Film unterbringen
sollen? Ist Feminismus deiner Meinung nach weißdominiert oder universell?
Danach (sofern dem keine schwerwiegenden gruppenbezogenen zwischenmenschlichen
Probleme in der Klasse entgegenstehen; in diesem Fall würde im Plenum diskutiert) wird die
Methode „In der Ecke stehen“ eingesetzt: In Ecke 1 positionieren sich alle, die Majorité
Opprimée trotz der Lektüre von Amjahid für nicht rassistisch halten. Analog dazu folgen in
Ecke 2: „ein bisschen rassistisch“, in Ecke 3: „ziemlich rassistisch“ sowie in Ecke 4: absolut
rassistisch. In der Folge argumentieren SchülerInnen aus den vier Ecken abwechselnd ihre
Position. Falls SchülerInnen (Gegen-)Argumente ihrer KlassenkollegInnen überzeugend
finden, haben sie auch die Möglichkeit, die Ecke zu wechseln. Darin liegt in diesem Fall auch
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der Vorteil gegenüber einer weiteren Positionslinie (insbesondere bei einer hohen Anzahl von
SchülerInnen). Von der Lehrperson ist bei diesem heiklen Thema in besonderem Maße darauf
zu achten, dass respektvoll diskutiert wird und Gegenmeinungen oder Positionswechsel nicht
verächtlich gemacht werden.
In der folgenden Sequenz 3 erfolgt im Plenum eine Thematisierung des Begriffs
Intersektionalität, der in Feminismus nur für Weiße zwar angeschnitten, aber nicht
ausreichend behandelt wird. SchülerInnen dürfen und sollen ihre
persönlichen (Benachteiligungs-)
diesbezüglichen
Erfahrungen mitteilen, wodurch der Begriff auch
„lebensnäher“ und den SchülerInnen leichter abrufbar bleiben würde. Allerdings soll sich aber
auch niemand „outen“ (und damit Wunden aufreißen) müssen, der dies nicht möchte.
Um den Aktualitätsbezug der gesamten Thematik zu verdeutlichen und gleichzeitig Politische
Bildung, Orientierungs- und Synthesekompetenz zu stärken, wird empfohlen, im Anschluss
daran zunächst den Beitrag aus dem ORF-Report vom 08.03.2016 anzusehen und danach
unter Beachtung des Beutelsbacher Konsenses die Instrumentalisierung (weiblicher) Ängste
vor sexueller Gewalt zu thematisieren. Da die SchülerInnen aber nicht überwältigt werden
sollen und dürfen, ist es selbstverständlich, dass sie auch dann ihre Standpunkte zu dieser
Thematik äußern können und sollen, wenn sie der Meinung sein sollten, dass eine derartige
Instrumentalisierung (siehe oben) legitim sei.
3.4.3 Geschlechterrollen 1: Nur ein Spiel für echte Männer?
In weiterer Folge soll die Beleuchtung beider Geschlechterrollen vertieft werden. Zunächst
soll es in Modul 3 um die Frage gehen, was „echte Männer“ (angeblich) auszeichnet. Der
dazu herangezogene Artikel Nur ein Spiel für echte Männer (siehe 4.3; Landerl: 2006) ist
zwar in Teilen seiner Aussage nicht mehr auf dem allerletzten Stand, eignet sich aber dennoch
oder
gerade
deshalb
hervorragend
zur
Thematisierung
von
gängigen
Männerrollenzuschreibungen im Unterricht. Er wurde nicht nur deshalb ausgewählt, weil er
exemplarisch aufzeigt, welch teils widerwärtige Handlungsweisen ein solches (Miss-)
Verständnis der Männerrolle nicht selten mit sich bringt; sondern insbesondere auch deshalb,
weil er in jeder Hinsicht unangebrachte bzw. unzulässige Rollenzuschreibungen und
Ausgrenzungsmechanismen gegenüber sexuellen Minderheiten erörtert. Weil er auch vor
sozialen Zuschreibungen nur so strotzt, eignet er sich gut für eine Sensibilisierung der
SchülerInnen, die insgesamt eine kritischere Sichtweise auf Medieninhalte und somit eine
Stärkung ihrer Medienkompetenz mit sich bringen soll. Ziel der Thematisierung im Unterricht
ist selbstverständlich nicht eine „Verteufelung“ alles Männlichen - jedoch gilt es ein
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Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Männlichkeit zumindest in postheroischen Gesellschaften
heutzutage eben nicht mehr durch Ausübung von Gewalt oder Ausgrenzung Schwächerer
bewiesen werden muss und soll; sondern etwa auf familiärer wie gesellschaftlicher
Übernahme von Verantwortung und notfalls auch Schutz basieren kann. Aufgrund des
gewählten Artikels könnte dazu eine spannende Diskussion entstehen; am Ende sollte
insbesondere für die jungen Männer klar sein, dass Männer auch in kriegslosen Zeiten nach
wie vor nicht „unnötig“ sind oder in nächster Zukunft werden.
Modul 3: Männlichkeit, Homosexualität, Initiationsriten und Ausgrenzungsmechanismen (bzw.
Mechanismen der In- und Exklusion)
Vermittlungsinteresse: Technisch (Fachbegriffe), Praktisch, Kritisch-Emanzipatorisch
Kompetenzen: Medienkompetenz, Gesellschaftskompetenz, Orientierungskompetenz,
Synthesekompetenz
Zeit
Thema / Inhalt/Medien
Sozialformen und
Methoden
Ablauf Tätigkeiten L/S
10 min
Artikel: Nur ein Spiel für
echte Männer?
Einzelarbeit
Arbeitsauftrag an S: Identifiziere und markiere fünf
Zuschreibungen, die Du in diesem Artikel findest.
Plenum
Sammlung (und gegebenenfalls Ergänzung) der
entdeckten Zuschreibungen.
Aquarium
(nur notfalls Diskussion
im Plenum)
Einteilung der Klasse in 5 Gruppen mit spezifischen
Fragestellungen (siehe unten), danach
Zusammenführen und Reflexion der Punkte im
Aquarium
5 min
mind.
30-40
min
Zuschreibungen,
Ausgrenzungsmechanismen,
Initiationsriten,
Männlichkeit
Anm.: bei Zeitmangel würde es notfalls reichen, bis incl. den Absatz „Männlichkeitsrituale“
(siehe 4.3) zu lesen.
Nach der Lektüre des Artikels und Erfüllung des Arbeitsauftrags erfolgt entweder eine
Diskussion der folgenden Leitfragen im Plenum oder (was empfohlen wird) nach Methode
Aquarium, wobei die Klasse in fünf Gruppen geteilt würde, die zunächst intern ihre jeweilige
Fragestellung diskutierten:
1, Sind diese Zuschreibungen nachvollziehbar? Sind sie problematisch? Wenn ja, inwiefern?
2, Differenziert insbesondere zu den Absätzen 4 und 5 (betreffend Wiener Derby und
Aussagen des Ex- Nationalteamchefs Otto Baric) zwischen Ängsten, Vorurteilen
Zuschreibungen und Beschimpfungen.
3, Ausgrenzungsmechanismen am Beispiel Homosexualität im Fußball. Ist ein Outing
möglich und sinnvoll? Vergleich der Situation im Fußball mit der Politik und dem
Showbusiness. Außerdem: Warum „nerven“ Outings manche Menschen?
4, Zweck und Problematik von Initiationsriten.
14
5, Wodurch äußert sich Männlichkeit?
Danach würde jeweils ein/e Sprecher/in im „Aquarium“ Platz nehmen, welche/r von
GruppenkollegInnen unterstützt oder abgelöst werden könnte. Der Vorteil der Methode
besteht darin, dass zunächst innerhalb der Gruppen mit größerer Beteiligung diskutiert werden
kann, in der Folge aber alle an den Erkenntnissen teilhaben und bei Bedarf bzw. auf eigenen
Wunsch nochmals mitreden können. Aufgrund der Brisanz und Komplexität der Themen ist
die veranschlagte Dauer von ca. 30-40 min Minuten eher als Minimum zu betrachten, um
nicht die gebotene Qualität der Auseinandersetzung zu vernachlässigen.
3.4.4 Geschlechterrollen 2: “The more TV a girl watches, the fewer options she thinks
she has in life”
Nach
den
Männern
zugeschriebenen
Rollen
sollen
wiederum
weibliche
Geschlechterrollenzuschreibungen kritisch beleuchtet werden. Dazu wurde ein Artikel aus
dem britischen Guardian ausgewählt, der aber für eine siebente Klasse AHS nicht zuletzt
aufgrund der Verfügbarkeit elektronischer Wörterbücher kein Problem darstellen sollte. Die
Lehrperson steht nötigenfalls ebenfalls als Übersetzer/in zur Verfügung. Es handelt sich um
ein Interview mit Geena Davis, einer der beiden Hauptdarstellerinnen des Films Thelma und
Louise, die sich seit einem Jahrzehnt im Rahmen eines von ihr gegründeten Institutes mit den
Rollen von Frauen in Medien generell und insbesondere in Hollywood-Filmen
auseinandersetzt. Die Thematisierung dieses Interviews soll das Selbstbewusstseins aller
SchülerInnen stärken und sie ermutigen, ihren eigenen privaten und beruflichen Neigungen
und Träumen notfalls auch gegen (genderbezogene) gesellschaftliche Widerstände
nachzugehen. Gleichzeitig soll beleuchtet werden, wie Geschlechterrollen (re-) produziert
werden. Und, um kritisch-emanzipatorischen Ansprüchen möglichst vollständig gerecht zu
werden, soll nicht zuletzt auch thematisiert werden, ob und inwiefern jede/r Einzelne als
Konsument/in selbst an der Geschlechterrollenreproduktion mitwirkt. SchülerInnen, die über
die ökonomischen Mechanismen Bescheid wissen, können am Ende selbst entscheiden, ob
sie/er mittels Bezahlung von Eintritten oder Kaufs von DVDs dazu beisteuern möchte - die
Mitwirkung an TV-Quotenmessungen ist ja bedauerlicherweise einer Minderheit vorbehalten,
wodurch ein etwaiges Nicht-Einschalten aller Anderen folgenlos bliebe. Es sollen aber
weitere mediale und politische Einwirkungsmöglichkeiten der SchülerInnen zur Sprache
kommen, wobei man gespannt sein darf, wieviel davon die SchülerInnen auch ohne die
Lehrperson bereits im Zuge der Lektüre und der Thematisierung in der Gruppe
herausarbeiten.
15
Modul 4: Reproduktion von Rollenbildern und ihre Problematik
Vermittlungsinteresse: Praktisch, Kritisch-Emanzipatorisch
Kompetenzen: Medienkompetenz, Gesellschaftskompetenz, Orientierungskompetenz,
Synthesekompetenz
Zeit
Thema / Inhalt
Sozialformen
und Methoden
Ablauf Tätigkeiten L/S
15 min
Artikel: “The more TV a girl
watches, the fewer options she
thinks she has in life”
Einzelarbeit
S: Lesen des Artikels unter Bedachtnahme auf die
5 Leitfragen (siehe unten)
30 min
Reproduktion von
Geschlechterrollenbildern;
Möglichkeiten der Einflussnahme;
Selbst-Ermächtigung
Gruppenpuzzle
5 Leitfragen werden zunächst in der Stammgruppe
diskutiert, dann in der ExpertInnengruppe
ausgetauscht. Zuletzt erfolgt ein Austausch im
Plenum.
Leitfragen/Diskussionsaufgaben:
1, Warum hat sich das Frauen zu Männer Verhältnis in Hollywood-Filmen sich seit 1946
nicht verändert?
2, Welche Rollen werden Frauen zugeschrieben? Welche Altersgruppen sind bevorzugt? Wer
hat Interesse daran? Ist dies gesellschaftlich und/oder individuell wünschenswert?
3, Welche Rollen werden Männern in Hollywood-Filmen zugeschrieben? Welche
Altersgruppen sind bevorzugt? Wer hat Interesse daran? Ist dies gesellschaftlich und/oder
individuell wünschenswert?
4, Wer ist dafür verantwortlich, dass so wenige Frauen (und noch weniger farbige Frauen)
hinter der Kamera stehen und dass Frauen auch in Hollywood schlechter bezahlt werden als
Männer?
[Anm.: Die 37-jährige Maggie Gyllenhaal wurde kürzlich als „zu alt“ eingestuft, um das
Gegenüber eines 55-jährigen Mannes zu verkörpern (vgl. The Guardian: 2015).]
5, Welche Rolle spielt der Feminismus in der Gesellschaft generell und speziell in Bezug auf
die Filmindustrie? Sollte er eine größere oder eine kleinere Rolle spielen?
Die hier vorgeschlagene Methode Gruppenpuzzle bietet im Vergleich zu anderen Methoden
den Vorteil, dass viele SchülerInnen an Austausch bzw. Weitergabe der Ergebnisse beteiligt
sind. In diesem Fall wird davon ausgegangen, dass die Ergebnisse auch in recht knapper Form
präsentiert werden können, wodurch die Methode nicht allzu zeitaufwändig sein sollte.
Großes Augenmerk ist aber auf die letzte Phase zu legen, bei der in der Klasse über die
Ergebnisse gesprochen wird.
16
3.4.5 Kritik an der Genderforschung: „Schlecht, schlechter, Geschlecht“
Das fünfte Modul beschäftigt sich mit der Genderforschung, die in der Regel sehr polarisiert.
Der Sinn des „Genderns“ hat sich selbst vielen StudentInnen noch nicht erschlossen. Sie tun
es zwar zumeist, nicht zuletzt weil es von den meisten (auch männlichen) Lehrenden an den
Unis gefordert wird, aber vielfach nicht aus Überzeugung (vgl. etwa die Aussage der
Studentin Nadja Fuchs im ORF-„Report“ vom 08.03.2016, die geschlechtergerechte Sprache
als ein „falsches Symbol der Frauenpolitik“ kritisiert). Es ist davon auszugehen, dass neben
der (auch von Nadja Fuchs als Mitgrund genannten) Umständlichkeit des Genderns auch die
jeweilige Sozialisation der SchülerInnen durch die Familie sowie die Medien zur Persistenz
einer solchen traditionellen Einstellung entscheidend beitrugen. Nicht unterschätzen sollte
man dabei jedoch das Faktum, dass akademische Genderdiskurse für die breite Masse vielfach
nicht nachvollziehbar sind. Oft werden sie medial noch dazu in derart verkürzter Form
abgehandelt, dass sie auch von nicht allzu voreingenommenen Nicht-Eingeweihten vielfach
als geradezu schwachsinnig empfunden werden. Zur Ablehnung trägt oftmals auch bei, dass
nicht wenige Proponentinnen mit allen Arten von Vorwürfen an Andersdenkende schnell zur
Hand sind. All dies thematisierte Harald Martenstein in seinem 2013 in der Zeit erschienenen
Artikel „Schlecht, schlechter, Geschlecht“, indem er diese wunden Punkte der
Genderforschung ansprach und damit insbesondere für LeserInnen ohne Fachkenntnis äußerst
überzeugend wirkte, wodurch er auch wiederum in Fachkreisen für beträchtliches Aufsehen
gesorgt hat. Eine eingehende (und keinesfalls rein apologetische!) Auseinandersetzung mit
Martensteins Thesen ist daher aus Sicht des Verfassers dieser Arbeit nicht nur für zukünftige
Gender-StudentInnen relevant, sondern für die gesamte Gesellschaft und deren zukünftige
Entwicklung. Daher sollen diese Thesen in Modul 5 begutachtet werden.
Martensteins Artikel ist insgesamt von beträchtlicher Länge; bei Zeitmangel könnten auch nur
Teile davon verwendet werden. Bei jedem Absatz lohnen aber Lektüre und Reflexion. Falls
der gesamte Artikel bearbeitet würde, würde im Zuge dessen auch die angeblich immer kürzer
werdende Aufmerksamkeitsspanne der SchülerInnen trainiert werden. Nach Lektüre sowie
der Reflexion wird es sehr spannend, an welcher Stelle sich die Mehrzahl der SchülerInnen an
der Positionslinie einordnet. Es sollte jedenfalls nicht verwundern, wenn viele SchülerInnen
nach Lektüre des Martenstein-Artikels keine allzu hohe Meinung von der Genderforschung
haben.
17
Modul 5a: Kritik an der Genderforschung
Vermittlungsinteresse: Technisch, Praktisch, Kritisch-Emanzipatorisch
Kompetenzen: Medienkompetenz, Gesellschaftskompetenz, Orientierungskompetenz,
Synthesekompetenz
Zeit
Thema / Inhalt/Medien
Sozialformen und
Methoden
Ablauf Tätigkeiten L/S
40 min
Artikel: „Schlecht,
schlechter, Geschlecht“
Einzelarbeit
S: Lesen, incl. Erwägung und kurze
Beantwortung (meist reicht ja/nein) der
Leitfragen (siehe unten)
10 min
Hirschbrunft; Testosteron;
Gender; Genderforschung;
Gleichstellungsbeauftragte
Positionslinie Pole:
S ordnen sich ein und begründen ihre
Positionierung.
Genderforschung ist eine höchst
notwendige Wissenschaft bzw. eine
Antiwissenschaft, die nicht länger
gefördert werden sollte
Leitfragen: (zumeist reicht ja/nein als Antwort; ansonsten reicht ein Wort)
Welchen Zweck erfüllt die Seeszene (Absatz 1)?
Sollen Fotos von der Hirschbrunft aus der Werbebroschüre von Naturparks entfernt werden?
Sind Geschlechter „natürlich“, oder ein soziales Konstrukt? Was sagen uns die Ergebnisse
eines Marathonlaufs darüber?
Sollte es mehr männliche Lehrer (insbesondere an Grund- bzw. Volksschulen) geben?
Bedeutet der Ruf danach eine Abwertung von Frauen?
Hat die angeblich negative Einstellung männlicher Jugendlicher zum Lernen etwas mit einer
männlichen Rollenfestlegung und/oder der Verschiedenartigkeit ihrer Behandlung von Geburt
an zu tun?
Wie stellt Martenstein Geschlechterforschung dar? Wie GeschlechterforscherInnen?
Sollten mehr Frauen ProfessorInnen werden?
Überzeugen dich Martensteins Beispiele wissenschaftlicher Studien?
Überzeugt dich Bruce Reimer? Uta Brandes? Camille Paglia?
Haben Sonderlinge und Eigenbrötler (fast) immer einen Penis?
Soll überall in der Gesellschaft ein Verhältnis von 50:50 herrschen?
Wie stellt Martenstein die Gleichstellungsbeauftragte Maybritt Hugo dar?
Ist biologische Forschung ein Herrschaftsinstrument der Männer?
Ist Genderforschung eine „Antiwissenschaft“?
18
3.4.5b Kritik an der Kritik bzw. Klarstellungen: Biologistische Grenzziehungen
Gerade weil Martensteins Argumentation auf den ersten Blick so überzeugend wirkt, gilt es
sie im Sinne der Genderkompetenz aber zu dekonstruieren: Wo beruht sie auf Fakten, und wo
spricht sie einfach nur Klischees an, die so tief in vielen von uns verankert sind, dass wir sie
unhinterfragt als Realität betrachten - und wahrscheinlich gerade deshalb vielfach Martenstein
auch zustimmen? Um die „Gültigkeit“ dieser Klischees an der Realität zu messen, sollten die
SchülerInnen auch erfahren, wie GenderforscherInnen ihre Tätigkeit argumentieren. Daher
wurde ein in der taz erschienener Artikel von Sabine Hark und Paul Irene Villa gewählt, weil
er dies in auch für SchülerInnen verständlicher Weise prägnant zum Ausdruck bringt.
Es ist auch hier (ähnlich wie in 3.4.4) nicht Ziel, dass am Ende alle SchülerInnen der Meinung
sind, dass Martenstein ein „röhrender Hirsch“ sei, der „nicht nur sexistische, sondern auch
rassistische
Abwertungen
und
Diskriminierungen
unter
dem
Deckmantel
der
Meinungsfreiheit schleichend zuspitzt“, wie es ihm die Genderforscherinnen Isabel Collien,
Inga
Nüthen,
Heike
Pantelmann
und
Ulla
Bock
in
ihrem
Artikel
„Geschlechterforschungspolemik im Sommerloch“ vorwerfen (vgl. Collien et al. 2013). Ziel
ist vielmehr, dass sich jede/r auf Basis von Fachwissen sowie der zu diesem Behufe
gewählten multiperspektivischen Bearbeitung selbst seine/ihre eigene Meinung darüber bilden
kann, in welchen Punkten Martenstein weiterhin zugestimmt werden kann und in welchen
Punkten vielleicht doch besser nicht. Dies geschieht in Sequenz 2.
Schließlich soll erneut die Methode Position beziehen/Positionslinie zum Einsatz kommen.
Etwaige Positionsveränderungen wie auch Nichtveränderung sollen „gerechtfertigt“ werden,
wobei man (wenn noch Zeit bleibt) die Argumentation nochmals intensivieren und die
Motivation von überzeugten GenderforschungsbefürworterInnen wie –gegnerInnen steigern
kann, indem man aus der Positionslinie eine „Streitlinie“ macht.
Der Verfasser dieser Arbeit geht davon aus, dass sich einige Positionen entlang der Linie nach
Reflexion von Biologistische Grenzziehungen beträchtlich verschoben haben werden – und
falls doch nicht, darf man auf die Begründung gespannt sein. Wie auch immer – eine
Bewusstseinsbildung in Bezug auf Genderforschung und eigene wie fremde Bilder im Kopf
sollte erfolgt sein.
19
Modul 5b: Kritik an der Kritik an der Genderforschung
Vermittlungsinteresse: Technisch, Praktisch, Kritisch-Emanzipatorisch
Kompetenzen: Medienkompetenz, Gesellschaftskompetenz, Orientierungskompetenz,
Synthesekompetenz
Zeit
Thema / Inhalt
Sozialformen und
Methoden
Ablauf Tätigkeiten L/S
15 min
Artikel: Biologistische
Grenzziehungen
Einzelarbeit
S: Lesen
5-10 min
Einzelarbeit
S: individuelles Überdenken der
Beantwortung der Leitfragen zu Martenstein
15 min
Positionslinie bzw. Streitlinie
Pole: Genderforschung ist eine höchst
notwendige Wissenschaft vs. eine
Antiwissenschaft, die nicht länger
gefördert werden sollte
Da der gesamte Block einiges an Zeit in Anspruch genommen haben wird, wird empfohlen,
die SchülerInnen ein Abschlussfazit ziehen zu lassen sowie um ihr Feedback (+/-; schriftlich
auf „Feedback-Zetteln“) zu ersuchen.
Schulstufe: 7. Klasse AHS
Thema des Blocks: „Bilder im Kopf“
Abschluss: Feedback
Zeit
Thema / Medien
Sozialformen und
Methoden
Ablauf Tätigkeiten L/S
5 min
Feedback-Zettelchen
Einzelarbeit
S ziehen Abschluss-Fazit zum Block
und geben Feedback
20
3.5 Planungsmatrix
Schulstufe: 7. Klasse AHS
Thema des Blocks: „Bilder im Kopf“
Zeit
Thema / Inhalt/Medien
Sozialformen und
Methoden
Ablauf Tätigkeiten L/S
2
min
Benachteiligungserfahrungen
aufgrund des Geschlechts in
der Schule
Reflexion in Einzelarbeit
10
min
Sammlung und Reflexion
Plenum
2
min
Benachteiligungserfahrungen
aufgrund des Geschlechts
außerhalb der Schule
Reflexion in Einzelarbeit
15
min
Sammlung und Reflexion
Rotierendes
Partnergespräch oder
Plenum
Zunächst äußern sich die Mädchen dazu,
dann die Burschen.
5-10
min
Feminismus:
Positionslinie
Pole: Absolut
sinnvoll/unnötig
S argumentieren ihre Position.
Kompetenzen und Vermittlungsinteressen
Modul 1: Einstieg
Vermittlungsinteresse: Praktisch
Kompetenzen: Genderkompetenz
Zunächst äußern sich die Burschen dazu,
dann die Mädchen
21
Zeit
Thema / Inhalt/Medien
10
min
Youtube-Clip „Majorité
Opprimée“
10
min
Plakate
Sozialformen und
Methoden
Ablauf Tätigkeiten L/S
Beobachtung: In welcher Weise wird
über die und mit der Hauptperson
gesprochen?
Schreibgespräch
(1, Was hat mich schockiert
2, Was hat mir an diesem
Rollenwechsel gefallen bzw.
3, missfallen.)
je 6 SchülerInnen halten auf einem
Plakat ihre Eindrücke fest: Jede/r schreibt
Kompetenzen und Vermittlungsinteressen
Modul 2: Unterdrückte Mehrheit (a)
Vermittlungsinteresse: Technisch (Fachbegriffe),
Praktisch und Kritisch-Emanzipatorisch
Kompetenzen: Gesellschaftskompetenz,
Orientierungskompetenz, Synthesekompetenz
jeweils einen Eindruck auf und gibt das Plakat an
den/die Nachbar/in weiter.
ca. 15
min
Besprechung der Ergebnisse des
Schreibgesprächs/der Eindrücke
des Films.
Reflexion und Argumentation
Aquarium
Fragen L an S: Inwiefern ist
1, das Verhalten des Protagonisten als
„weiblich“?
2, das Verhalten der Frauen als
„männlich“ einzustufen?
15
min
Rassistischer Feminismus?
Artikel: Feminismus nur für
Weiße
Einzelarbeit
S: Lesen und Beantworten der
Leitfragen
10-15
min
Ecke 1: “nicht rassistisch“
Ecke 2: „ein bisschen rassistisch“
Ecke 3: „ziemlich rassistisch“
Ecke 4: absolut rassistisch
„In der Ecke stehen“ mit
Argumentation und evtl.
Positionswechsel
10-15
min
Thematisierung des Begriffs
Intersektionalität
Plenum
8 min
Evtl. Betrachtung des Beitrags
„Die neuen Frauen-Freunde“
(Video; ORF-„Report“)
Präsentation der
Ergebnisse
10
min
Thematisierung der
Instrumentalisierung (weiblicher)
Ängste vor sexueller Gewalt
Plenum
L erklärt Begriff.
S können auch über persönliche
Benachteiligungserfahrungen berichten.
22
Modul 2: Feminismus nur für Weiße? (b)
Vermittlungsinteresse: Technisch (Fachbegriffe),
Praktisch und Kritisch-Emanzipatorisch
Kompetenzen: Gesellschaftskompetenz,
Orientierungskompetenz, Synthesekompetenz
Zeit
Thema / Inhalt/Medien
10
min
Artikel: Nur ein Spiel für
echte Männer?
5 min
Sozialformen und
Methoden
Einzelarbeit
Plenum
mind.
30-40
min
Zuschreibungen,
Ausgrenzungsmechanismen,
Initiationsriten, Männlichkeit
Aquarium
(nur notfalls Diskussion im
Plenum)
15
min
Artikel: “The more TV a girl
watches, the fewer options
she thinks she has in life”
Einzelarbeit
30
min
Reproduktion von
Geschlechterrollenbildern;
Möglichkeiten der
Einflussnahme; SelbstErmächtigung
Gruppenpuzzle
Ablauf Tätigkeiten L/S
Kompetenzen und Vermittlungsinteressen
Arbeitsauftrag an S: Identifiziere und
Modul 3: Männlichkeit, Homosexualität,
markiere fünf Zuschreibungen, die Du in Initiationsriten und Ausgrenzungsmechanismen
diesem Artikel findest.
(bzw. Mechanismen der In- und Exklusion)
Vermittlungsinteresse: Technisch (Fachbegriffe),
Sammlung (und gegebenenfalls
Praktisch, Kritisch-Emanzipatorisch
Ergänzung) der entdeckten
Kompetenzen: Medienkompetenz,
Zuschreibungen.
Gesellschaftskompetenz, Orientierungskompetenz,
Synthesekompetenz
Einteilung der Klasse in 5 Gruppen mit
spezifischen Fragestellungen (siehe
unten), danach Zusammenführen und
Reflexion der Punkte im Aquarium
Modul 4: Reproduktion von Rollenbildern und ihre
Problematik
Vermittlungsinteresse: Praktisch, KritischEmanzipatorisch
5 Leitfragen werden zunächst in der
Kompetenzen: Medienkompetenz,
Stammgruppe diskutiert, dann in der
Gesellschaftskompetenz, Orientierungskompetenz,
ExpertInnengruppe ausgetauscht. Zuletzt Synthesekompetenz
erfolgt ein Austausch im Plenum.
S: Lesen des Artikels unter
Bedachtnahme auf die 5 Leitfragen
(siehe unten)
23
Zeit
Thema / Inhalt/Medien
Sozialformen und
Methoden
Unge
kürzt:
40
min
Artikel: „Schlecht,
schlechter, Geschlecht“
Einzelarbeit
10
min
Hirschbrunft; Testosteron;
Gender; Genderforschung;
Gleichstellungsbeauftragte
Positionslinie Pole:
15
min
Artikel: Biologistische
Grenzziehungen
Einzelarbeit
Einzelarbeit
15
min
Positionslinie bzw. Streitlinie
Kompetenzen und Vermittlungsinteressen
Modul 5: Kritik an der Genderforschung und Kritik
an der Kritik
Vermittlungsinteresse: Technisch, Praktisch,
Kritisch-Emanzipatorisch
Kompetenzen: Medienkompetenz,
Gesellschaftskompetenz, Orientierungskompetenz,
Synthesekompetenz
Genderforschung ist eine höchst
notwendige Wissenschaft bzw. eine
Antiwissenschaft, die nicht länger
gefördert werden sollte
5-10
min
5
min
Ablauf Tätigkeiten L/S
S: individuelles Überdenken der
Beantwortung der Leitfragen zu
Martenstein
Pole: Genderforschung ist eine
höchst notwendige Wissenschaft
bzw. eine Antiwissenschaft, die
nicht länger gefördert werden sollte
Feedback-Zettelchen
Einzelarbeit
S ziehen Abschluss-Fazit zum Block und Abschluss: Feedback
geben Feedback
24
4. Ausgewählte Artikel
4.1 Majorité Opprimée
(https://www.youtube.com/watch?v=V4UWxlVvT1A, 09.03.2016.)
4.2"Oppressed Majority": Feminismus nur für Weiße
Ein Kurzfilm kehrt die Geschlechterrollen um und macht Männer zum Opfer von Frauen. Die
User applaudieren millionenfach, obwohl der Film einen rassistischen Haken hat.
Von Mohamed Amjahid , 14. Februar 2014
Ein Mann, der wegen seiner kurzen Hosen von seiner Frau getadelt und von einer halbnackten
Frau sexuell belästigt wird. Der von einer Polizistin nicht ernst genommen wird, als er eine
Vergewaltigung zur Anzeige bringen möchte. Wo es das gibt? Im Kurzfilm Majorité Oprimée
(Unterdrückte Mehrheit) wird mit umgekehrten Geschlechterrollen auf Missstände in unseren
Gesellschaften mit ungewohnten Bildern hingewiesen: Gewalt gegen Frauen findet täglich
und überall statt.
Die französische Filmemacherin Eléonore Pourriat hat die traditionellen Rollen von Männern
und Frauen umgekehrt. Sie zeigt Männer, die nur über ihren Körper definiert werden, und
Frauen, die gewalttätig sind und darüber Witze machen. Unterdrückte Mehrheit ist ein
Internethit. Viral verbreitet sich das Video im Netz, mehr als 5,8 Millionen Klicks hat es
allein auf YouTube. Und es zeigt Wirkung: User, die sich noch nie mit dem Thema Sexismus
auseinandergesetzt haben, denken öffentlich und ernsthaft in ihren Kommentaren über das
Problem nach. Die meisten der Nutzer jubeln über den Film, darunter sind viele
Feministinnen. Doch hat der Film einen großen Haken – einen rassistischen Haken.
Erstes Beispiel: Nachdem Pierre, die Hauptfigur im Kurzfilm, sein Kind in den Kindergarten
gebracht hat, schließt er an einer Gasse sein Fahrrad ab, um ins Büro zu gehen. Eine Frau
hockt pinkelnd im Weg. Eine sehr unangenehme und auch bedrohliche Situation: Die
pinkelnde Frau gehört zu einer weiblichen Gang, die Pierre erst verbal beleidigt und dann
vergewaltigt. "Du machst mich geil!", schreit ihm eine junge Frau zu, dann hält sie ihm ein
Messer an den Hals. Was dabei auffällt: Die Mädchen haben alle schwarze Haare, sprechen
ein migrantisches Französisch, wie in den Vorstädten von Paris und Marseille, sie heißen
Samia und nicht Christine. Die unterschwellige Message: Achtung liebe Frauen, Araber sind
Sexisten. Sie pinkeln auf der Straße. Sie werden Euch in einer Gasse festhalten, ausziehen,
begrapschen und vergewaltigen.
Es ist aber nicht nur die Darstellung als Gewalttäter, die Araber diskriminiert. In einer
anderen Szene spricht Pierre mit dem Kindergärtner Nissar. Er trägt neuerdings ein Kopftuch.
Pierre hakt nach: "Ich will wirklich nicht unhöflich sein, aber fühlen Sie sich nicht
eingeschlossen? Zuerst mussten Sie Ihren Schnäuzer dann ihren Bart abrasieren, nun müssen
Sie das tragen!" Nissar zuckt mit den Schultern, es sei nun mal so und er unterwerfe sich dem
Gesetz Gottes. Was für ein Klischee: Natürlich werden Frauen und Mädchen auch
gezwungen, das Kopftuch zu tragen und ihnen sollte geholfen werden. Dies ist aber kein
Grund, alle kopftuchtragenden Frauen als naive, unselbstständige und verletzbare Opfer
darzustellen.
33
Weißdominierter Feminismus
Es sind diese zwei Schlüsselszenen, denen Regisseurin Eléonore Pourriat einen prominenten
Platz in ihrem Kurzfilm zukommen lässt und die viel erzählen über die Vorurteile eines
weißdominierten Feminismus, der nie die Sensibilität aufbringen konnte auch in anderen
Kategorien zu denken. Denn Intersektionalität ist ein langes Fremdwort. Allerdings als
Konzept wichtig, wenn wir um Diskriminierung und Machtverhältnisse streiten.
Intersektionalität meint, dass jeder Mensch wie auf einer Kreuzung betrachtet werden kann.
Viele Wege und Straßen führen auf die Verkehrsinsel in der Mitte, die seine Persönlichkeit,
seine Handlungsspielräume und seine verletzbaren Stellen ausmacht. Es reicht nicht, nur in
der Kategorie Gender zu denken. Rasse, Klasse, Gesundheit und eben Machtverhältnisse
spielen immer auch eine Rolle.
In Frankreich, der Entstehungsort des Films, wird über Rassismus derzeit ganz anders
diskutiert als in Deutschland. So spielt die Frage zwar keine Rolle, ob Menschen mit nichturfranzösischer Abstammung tatsächlich Franzosen sind. Der Rassismus bei unseren
Nachbarn nimmt aber zu und wird salonfähig. So gehen etwa Hunderttausende Menschen auf
die Straße, getrieben von Homophobie, Rassismus und Angst vor dem "Fremden". Und der
rechtspopulistische Front National könnte bei den bevorstehenden Europawahlen stärkste
Kraft werden.
Nicht alle Araber sind Verbrecher
Das Gefährliche an der Diskussion wie auch an dem Film: Die kulturelle Zuschreibung von
Problemen wie Sicherheit, Arbeitslosigkeit und eben sexueller Gewalt. Das ist nicht nur
bedenklich, sondern von Vorgestern. In Deutschland hat Thilo Sarrazin solche Thesen
verbreitet, eine Debatte ausgelöst und viel Geld gemacht. Filme wie Unterdrückte Mehrheit
reproduzieren seine Thesen in Europa und tragen sie in unseren Alltag, in diesem Fall auf
Facebook-Profile, Tweets und in die Medien. Und niemandem fällt auf, dass es diesen
rassistischen Haken gibt.
Es hätte nicht viel gebraucht, dass dieser Artikel nicht hätte geschrieben werden müssen: In
der Mädchenclique wenigstens eine weiße Gangsterin untergebracht, in einer anderen, kurzen
Szene wenigstens eine emanzipierte Frau mit Kopftuch: schon hätten wir das Problem nicht.
Bei Filmen geht es auch um Bilder, die Nachrichten und Ideen transportieren, das ist mehr als
nur symbolisch.
Aber muss in einem zehnminütigen Video zum Thema Sexismus an Rassismus gedacht
werden? Selbstverständlich! Viel Aufwand, viele Gedanken und kreative Energie steckt hinter
Unterdrückte Mehrheit, wie Regisseurin Pourriat dem Guardian verraten hat. Da wäre eine
kleine Geste der Differenzierung nicht zu viel verlangt. (Amjahid 2014)
http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2014-02/film-unterdrueckte-mehrheitfeminismus-rassismus/komplettansicht, 03.03.2016.
34
4.3 Nur ein Spiel für echte Männer?
Von Peter Landerl
Anderswo darf man sich als Homosexueller bekennen - im Fußball ist es noch ein
Tabu
Der Fußball hat seit Anfang der 1990er Jahre eine erstaunliche Entwicklung
genommen. Wurde er in den 1980er Jahren noch mit ungustiösen, grölenden
Bierbäuchen und Gewaltexzessen in Verbindung gebracht und als Sport für Proleten
bezeichnet - die Zuschauerzahlen waren in den meisten europäischen Ligen stark
rückläufig -, so änderte sich das, als der Fußball als Medienprodukt entdeckt wurde
und eine entsprechende Vermarktung einsetzte.
Statt der rührigen, oft auch eitlen Vereinsmeier übernahmen in den großen europäischen
Ligen ehrgeizige Manager die Führungspositionen in den Klubs. Diese konnten die TVEinnahmen unverhältnismäßig steigern, renovierten die Stadien oder bauten - wie etwa in
Deutschland - mit Hilfe von Star-Architekten spektakuläre Fußballtempel, die auch
Erlebniswelten des Konsums sind. Dabei eliminierten sie gleich auch die billigen Stehplätze:
Der zahlungskräftige Fan ist der bessere Fan, so heißt die Philosophie.
Fußball wurde auch für die gehobene Mittelschicht gesellschaftsfähig. Der tumb stammelnde
Fußballer der 1980er Jahre mit der dämlichen Vokuhila -Frisur (vorne kurz, hinten lang), dem
nach dem Karriereende oft ein Dasein als Tankstellenpächter oder Trafikant blühte, hatte sich
in einen smarten, fein gekleideten, rhetorisch beschlagenen Ballkünstler gewandelt. Ihm ist
bewusst, dass er durch seine Gestik und sein Outfit eine bestimmte (Werbe)Zielgruppe
anspricht.
Alles schön, neu und modern? Der Fußball als gesellschaftlicher Vorreiter und Trendsetter?
Leider nicht. Während es in der Kunst kaum Probleme bereitet, sich als Homosexueller zu
outen, es selbst in der Politik möglich ist, homosexuell zu sein, ist - obwohl statistisch
unmöglich - in ganz Europa kein homosexueller Fußballprofi zu finden. Es gibt sie, aber
keiner von ihnen wagt es, sich zu outen. Der Fußball hat ein Problem mit der Homosexualität.
Bei Wiener Derbys schallt nicht selten "schwuler SCR" und "schwule Austria" von der West
zur Osttribüne und wieder zurück. Auch in Deutschland sind homophobe Sprechchöre nicht
unbekannt: "Arbeitslos und homosexuell, das ist der Vfl (Bochum)." Die Spieler geben sich
ebenfalls schwulenfeindlich oder möchten sich zu diesem "heißen Eisen" nicht äußern. "Ich
kann mir nicht vorstellen, dass Schwule Fußball spielen können" sagte Paul Steiner,
ehemaliger Verteidiger beim 1. FC Köln, bei einer Fernsehdiskussion zum Thema
Homosexualität im Fußball. Michael Schütz, ein früherer Spieler von Fortuna Düsseldorf, ist
ähnlicher Meinung: "Man würde gegen so einen nicht richtig rangehen, weil die gewisse
Furcht vor Aids da wäre."
Aber auch die Trainer, die doch eine Vorbildfunktion haben sollten, sind oft ähnlicher
Meinung. Offen homophob zeigte sich der frühere Trainer der österreichischen
Fußballnationalmannschaft, Otto Baric. Der Schweizer Zeitung "Blick" erzählte er im Jahr
2004 (als er Trainer der kroatischen Nationalmannschaft war): "Meine Spieler müssen echte
Kerle sein. Also können Homosexuelle bei mir nicht spielen, höchstens gegen mich." In einem
Gespräch mit der kroatischen Zeitung "Jutarnji List" äußerte er sich ähnlich: "Ich weiß, dass
35
es in meiner Mannschaft keine Homosexuellen gibt. Ich erkenne einen Schwulen innerhalb
von zehn Minuten, und ich möchte sie nicht in meinem Team haben." Gegenreaktionen auf die
Aussagen von Baric blieben aus. Die Sensibilität der Verbände und Vereine ist auf diesem
Gebiet nicht vorhanden. Anfragen bei der österreichischen Bundesliga, dem ÖFB und dem
DFB ergaben, dass das Thema Homophobie nicht wirklich ernst genommen wird. Es gibt
keine Projekte zum Thema Homosexualität im Fußball.
Outing oder nicht?
Wozu Ignoranz und die Ablehnung homosexueller Fußballer führen können, zeigt das
tragische Beispiel des 1961 geborenen Justin Fashanu, der unter anderem bei Nottingham
Forest spielte und in der englischen Liga der erste farbige Spieler war, der über eine Million
Pfund Ablöse erzielte. Verletzungen und sein "anderer" Lebensstil führten zu vielen
Vereinswechseln und einer Karriere, die unter seinen spielerischen Möglichkeiten blieb. Nach
dem Ende seiner Laufbahn outete sich Fashanu 1990 im Boulevardblatt "Sun". Er trat in
zahlreichen Fernsehsendungen auf, hielt dem öffentlichen Druck aber nicht stand und
erhängte sich 1998. Wäre die Zeit reif für ein Outing? Tatjana Eggeling, Wissenschafterin am
Institut für Kulturanthropologie und europäische Ethnologie der Universität Göttingen, meint,
dass man darauf wohl warten müsse, weil der Sport einer der konservativsten Bereiche
unserer Gesellschaft sei. "In verschiedener Hinsicht wäre es allerdings wichtig und ein klares
Zeichen: Einmal um deutlich zu machen, dass Männerfußball nicht allein das ist, wofür er
gemeinhin gehalten wird, nämlich eine Sache heterosexueller Männer, sondern dass die
Spieler ganz verschiedene Lebensweisen haben, die einem qualitativ hohen Spiel nicht
entgegenstehen. Und auch deshalb, weil in einer Gesellschaft, die sich als demokratisch,
tolerant und humanistisch begreift, die Anerkennung von Homosexualität in allen
Lebensbereichen selbstverständlich sein sollte."
"Fußballer sind heterosexuell, Fußballerinnen Lesben." So lautet das gängige Vorurteil,
zugleich Essenz zahlreicher homophober Witze. Warum wird der Fußball als typisch
männlicher Sport gesehen, während das bei ähnlichen Teamballsportarten, etwa Handball,
nicht der Fall ist? Tatjana Eggeling meint dazu: "Da er lange Zeit fast nur von Männern
gespielt wurde, wurde angenommen, dass es eben eine männliche Angelegenheit ist. Das
ändert sich in Deutschland gerade. Fußball wird jedoch von fußballspielenden Männern
meist als Männersport gesehen. Frauenfußball ist in dieser Sicht kein echter Fußball."
Gibt es eine Angst vor einer Feminisierung des Fußballs? "Angst vor einer Feminisierung
wohl nicht. Doch wird ja weithin angenommen, dass zum Fußball auf dem Platz auch typisch
männliche Verhaltensweisen originär gehören. Andererseits zeigen die Frauenfußballteams,
dass es auch ohne diese attraktiven Fußball geben kann, der zu spielen und zu sehen Spaß
macht.
Männlichkeitsrituale
Dass Fußball nur von "echten, harten Kerlen" gespielt werden kann, soll bei nicht wenigen
Teams durch Initiationsriten gesichert werden. Im Sommer 2002 kam die
Nachwuchsakademie des GAK in die Schlagzeilen, da ein Nachwuchsspieler in einem
Interview mit dem "Kurier" das Männlichkeitsritual des "Pasterns" publik gemacht hatte.
Dabei wurde jungen Spielern von Jahrgangsälteren zuerst der Hintern mit schwarzer
Schuhcreme eingerieben, anschließend wurde ihnen der Stiel einer Klobürste anal eingeführt.
Hatte man die Prozedur überstanden, durfte man beim nächsten Mal zuschauen oder
mitmachen.
36
Kein Wunder, dass homosexuelle Amateur-Sportler eigene Vereine gründen. So wird etwa
bei Klubs mit reizvollen Namen wie Abseitz Stuttgart oder SSV Vorspiel Berlin Fußball
gespielt. Im Sommer 2005 fand in Kopenhagen sogar eine Fußball-Weltmeisterschaft für
Schwule und Lesben statt, an der an die 700 Spieler teilnahmen. Siegreich waren Paris PAEC
bei den Männern und PAN Fodbold bei den Frauen. Aber erhöhen solche Veranstaltungen
nicht die Distanz zwischen homosexuellen und heterosexuellen Sportlern? Tatjana Eggeling:
"Die Veranstaltungen sind nicht der einzig mögliche Ort für Homosexuelle, Sport zu treiben,
aber diejenigen, die es dort tun, tun es begründet. Hier geht es keineswegs nur darum - im
Sinne von gegen etwas - Sport nicht im heterosexuellen Kontext zu treiben, wo es noch
Diskriminierung gibt. Es geht auch darum, es in Zusammenhängen zu tun, in denen sich die
Aktiven besonders aufgehoben, angenommen, zu Hause fühlen. Sport treiben, weil es gut tut
und Spaß macht und damit zugleich auch ein homopolitisches Zeichen geben."
Ein Zeichen gegen die Tabuisierung der Homosexualität im Profifußball will auch der
Lesben- und Schwulenverband Deutschland (LSVD) beim Weltmeisterschaftsfinale am 9. Juli
in Berlin setzen. Geplant ist, eine Informationsveranstaltung durchzuführen.
Landesverbandssprecher Dirk Alex: "Von Akzeptanz der Homosexualität ist der Fußball weit
entfernt. Die Leute müssen begreifen, dass keine Werte über Bord geworfen werden, wenn
man schwul oder lesbisch ist."
Ein bisschen Farbe in die deutsche Bundesliga bringen neben Corny Littmann, dem schwulen
Präsidenten vom FC St. Pauli, einige schwule Fanclubs, etwa die 2001 gegründeten Hertha
Junxx, die über 60 eingeschriebene Mitglieder, aber kaum mehr als ein Dutzend aktive Fans
haben. Oder die Stuttgarter Junxx, die Rainbow-Borussen, die Karlsruher Wildpark-Junxx
und die Dynamo-Junxxs aus Dresden. Sie sind aber Kämpfer auf einsamem Felde.
Vielleicht bedarf es der Fiktion, um die realen Verhältnisse zu verändern. So handelt die
Filmkomödie "Männer wie wir" von dem schwulen (Amateur)Fußballtormann Ecki, der nach
einem Fehler in einem entscheidenden Spiel zum Sündenbock gestempelt wird und sich bei
dieser Gelegenheit auch gleich outet, was zum Vereinsausschluss führt. Daraufhin fordert er
Revanche und organisiert ein schwules Fußballteam. Auch in "Abblocken", einem
Kriminalroman von Dan Kavanagh (ein Pseudonym von Julian Barnes), spielt ein schwuler
Fußballtormann die Hauptrolle. Und schließlich geht es auch in der englischen TV-Serie
"Footballer's Wives" um schwule Spieler und eine lesbische Präsidentin, die ein
Zwangsouting verhindern will.
Auch die Ablichtung der englischen Fußball-Ikone David Beckham im Schwulenmagazin
"Attitude" mag das Tor zu einem natürlicheren Umgang des Fußballs mit Schwulsein ein
Stück weit geöffnet haben. Solange aber die Verbände und Clubs das Problem nicht
wahrhaben wollen und keine Aktionen gegen Homophobie setzen, werden die schwulen
Fußballprofis weiterhin dazu gezwungen sein, ihren Klubkollegen und der Öffentlichkeit ein
heterosexuelles Leben vorzulügen.
Peter Landerl, geboren 1974, ist Literaturwissenschafter und arbeitet derzeit als Lektor in
Straßburg.
http://www.wienerzeitung.at/nachrichten/archiv/116602_Nur-ein-Spiel-fuer-echteMaenner.html, 09.03.2016.
37
4.4 “The more TV a girl watches, the fewer options she thinks she has in
life”
“If we see women doing brave things, it impacts us greatly” Geena Davis
The Oscar winner Geena Davis has spent more than two decades campaigning for gender
equality in the entertainment industry. Geena Davis talks about why so little has changed on
screen since Thelma & Louise and why this matters in the real world.
It has been 25 years since Geena Davis held hands with Susan Sarandon and hurtled over a
cliff in Thelma & Louise. The film – a trailblazing feminist road movie and box-office smash
to boot – was hailed a turning point for women in film. And for Davis, at least, it was; for the
past quarter of a century she has been trying to convince others of the lessons the film taught
her: that society is losing out because there are too few women on our screens.
“This is my passion. It’s what I do all day,” she laughs. And she’s not exaggerating – almost a
decade ago she created the Geena Davis Institute for Gender in Media to address the gender
imbalance in TV programmes and films aimed at children, while she regularly tries to
convince studio heads to include more female roles.
It has been 25 years since Thelma & Louise came out. What has changed since then?
Really, the most significant thing is what hasn’t changed. The way people reacted was
overwhelming – wanted to tell me what it meant to them and their friends. In the press they
said: “Now we will see more buddy movies or road movies starring women.” After A League
of Their Own, it was the same thing.” Neither prediction turned out to be true.
After that, I started paying attention. Every few years there would be a new successful movie
starring women and it would be the same – “This will change everything.” But nothing has
changed. The Hunger Games came out and the numbers have not moved. The male-to-female
character ratio in films is the same as in 1946.2
2
Research Facts
Males outnumber females 3 to 1 in family films. In contrast, females comprise just
over 50% of the population in the United States. Even more staggering is the fact that
this ratio, as seen in family films, is the same as it was in 1946.
Females are almost four times as likely as males to be shown in sexy attire. Further,
females are nearly twice as likely as males to be shown with a diminutive waistline.
Generally unrealistic figures are more likely to be seen on females than males.
Females are also underrepresented behind the camera. Across 1,565 content creators,
only 7% of directors, 13% of writers, and 20% of producers are female. This translates
to 4.8 males working behind-the-scenes to every one female.
From 2006 to 2009, not one female character was depicted in G-rated family films in
the field of medical science, as a business leader, in law, or politics. In these films,
80.5% of all working characters are male and 19.5% are female, which is a contrast to
real world statistics, where women comprise 50% of the workforce.
(http://seejane.org/research-informs-empowers/, 04.03.16.)
38
Abb. 9: Susan Sarandon and Geena Davis in Thelma & Louise. Photograph: MGM/Everett /
Rex Features
What impact did that have on your own career?
I had always wanted to avoid being just the girlfriend or the wife. My motivation was always
to have challenging roles to play – either being dead [in Beetlejuice], or in love with a fly
[The Fly]. But Thelma & Louise changed my life. For the first time I realised how rare it is for
women to come out of the cinema and feel excited and empowered by the female characters
they saw. I was already a feminist – I had always wanted to empower women and girls – but
Thelma & Louise was an awakening about how powerful media images could be. And also
how negative they are; how women are being completely left out of entertainment media.
But why does it matter?
From the very beginning, we train children to have unconscious gender bias. Even in kids’
movies there are fewer female characters. And the female characters that are there are very
often valued for their looks, and don’t have the same kind of aspirations and goals and dreams
[as the male characters].
In the 21st century, there is no reason to show the world bereft of female presence. But our
motto is: if you see it, you can be it. There are so few role models in many fields in real life –
in science, technology, engineering and maths (Stem) careers, for instance – that we have to
see them on screen because that inspires people to think they can do it.
Is that reflected in the research?
When we studied the occupations of female characters on television, there was one that was
really well represented: forensic scientist, because of CSI. And, in real life, the number of
women wanting to enter that profession has skyrocketed.
In a month or two, we will release research to show that, after Brave and the Hunger Games,
the number of women and girls taking up archery has also shot up. Until we show that women
take up half the space, and do half the interesting things in the world, it’s going to be hard to
make progress.
39
Abb. 10: Szenenbild aus Brave: Mädchen beim Bogenschießen (Photograph: Pixar/AP)
‘After Brave and The Hunger Games, the number of women and girls taking up archery has
also shot up.’
Our research [commissioned in conjunction with J Walter Thompson] shows that the more
TV a girl watches, the fewer options she thinks she has in life. She doesn’t see all the great
options that are presented to men and boys; male self-esteem goes up when they watch TV.
People can be inspired or limited by what they see. If they see women doing brave things,
such as leaving their abusive husbands, it impacts us greatly.
But are things changing?
Disney has shown that you can have blockbuster movies with female leads. And witness Star
Wars: in The Force Awakens, the lead character is female, so if there was ever a time to retire
the idea that men and boys don’t want to watch women and girls … You can’t say that again.
Does Hollywood have a specific problem?
People are unaware of the extent of their bias – it’s unconscious. Whether it’s about diversity
or women, people think they are operating in an egalitarian way. But it’s also because the
people making the decisions are, for the most part, white males. And you pick up stories
about people who look like you, you cast people who look like you. Our research showed that
when you have a female writer, producer or director, the percentage of women on screen goes
up.
Did it become more difficult to find characters you wanted to play?
Yes, that’s why I have a long downtime between jobs. The kind of parts I want dwindled
dramatically after I turned 40 – I didn’t escape the fate of actresses in Hollywood. The pay
disparity was not something I noticed. But now there is so much more awareness about it that
I would definitely pay attention to it.
What about #OscarsSoWhite? How does that shake up the debate?
There are so few opportunities for women of colour that they barely register in the research
[into the numbers of women in film and TV]. We are doing a bad job with women and a
horrible job with women of colour. There are female actors nominated for the Oscars because
we divide by gender – if it were one category for best performance, we would have a really
hard time. But the Oscars are emblematic of a deep-seated problem – really, it’s about the
product being put out by Hollywood. Most profoundly, it’s what is made that needs to change.
http://www.theguardian.com/lifeandstyle/2016/feb/29/geena-davis-tv-girl-gender-equalitythelma-louise-women, 09.03.2016.
40
4.5 „Genderforschung: Schlecht, schlechter, Geschlecht“
Die Genderforschung behauptet, dass die Unterschiede zwischen Mann und Frau kulturell
konstruiert sind. Unser Autor ist sich da nicht so sicher.
Von Harald Martenstein, 6. Juni 2013, ZEITmagazin Nr. 24/2013
Als ich mich auf diese Geschichte vorbereitete, lag ich an einem See in Brandenburg und
wollte in aller Gemütlichkeit die Einführung in die Gender Studies von Franziska Schößler
lesen. Zufällig war Herrentag, so heißt in Brandenburg der Vatertag. Außer mir waren ein
Dutzend junger Männer da, Zwanzigjährige. Sie tranken Bier. Sie brüllten, ununterbrochen.
Sie warfen sich gegenseitig ins Wasser. Sie ließen die Motoren ihrer Autos aufheulen. Das
fanden sie toll. Ich klappte das Buch wieder zu. Warum sind junge Männer manchmal so?
Warum sind junge Frauen meistens anders?
Die meisten Leute, die nicht im Universitätsbetrieb stecken, können sich unter den Wörtern
"Gender", "Gender Mainstreaming" und "Gender Studies" nicht viel vorstellen. Letzteres ist
wahrscheinlich der am schnellsten wachsende Wissenschaftszweig in Deutschland. 2011 gab
es 173 Genderprofessuren an deutschen Unis und Fachhochschulen, die fast ausschließlich
mit Frauen besetzt werden. Die Förderung dieses Faches gehört zu den erklärten
bildungspolitischen Zielen der Bundesregierung, SPD und Grüne sind auch dafür. Die
Slawisten zum Beispiel, mit etwa 100 Professoren, sind von den Genderstudies bereits locker
überholt worden. Die Paläontologie, die für die Klimaforschung und die Erdölindustrie recht
nützlich ist, hat seit 1997 bei uns 21 Lehrstühle verloren. In der gleichen Zeit wurden 30 neue
Genderprofessuren eingerichtet.
"Gender Mainstreaming" bedeutet, dass alle Geschlechter in sämtlichen Bereichen
gleichgestellt werden, Männer, Frauen, auch Gruppen wie Homosexuelle oder Intersexuelle.
Das ist ein gutes und richtiges Ziel. Manchmal wird über dieses Ziel allerdings
hinausgeschossen: Bei dem Versuch, Gender Mainstreaming im Nationalpark Eifel
durchzusetzen, gelangten Genderforscherinnen zu der Forderung, Fotos von der Hirschbrunft
müssten aus der Werbebroschüre des Naturparks entfernt werden. Die Bilder der Hirsche
würden stereotype Geschlechterrollen fördern. Das führte zu Erheiterung in der Presse und
war natürlich Wasser auf die Mühlen der Sexisten. Die Naturschützer fanden es auch nicht
gut.
Das Wort "Gender" könnte man vielleicht mit "soziales Geschlecht" übersetzen. Das
biologische Geschlecht heißt "Sex". Genderforscher glauben, dass "Männer" und "Frauen"
nicht eine Idee der Natur sind, sondern eine Art Konvention, ungefähr wie die Mode oder der
Herrentag. Klar, einige Leute haben einen Penis, andere spazieren mit einer Vagina durchs
Leben. Das lässt sich wohl nicht wegdiskutieren. Aber abgesehen davon sind wir gleich,
besser gesagt, wir könnten gleich sein, wenn die Gesellschaft uns ließe. Bei Franziska
Schößler, deren Buch 2008 erschienen ist, liest sich das so: "Es sind vor allem kulturelle Akte,
die einen Mann zum Mann machen."
Das ist eine mutige These. Spielen nicht auch das Hormon Testosteron und die Evolution bei
der Mannwerdung eine ziemlich große Rolle? Man hört so etwas oft, wenn man mit
Wissenschaftlern redet, die keine Genderforscher sind. In den folgenden Tagen habe ich dann
noch zwei weitere Einführungen in die Genderforschung gelesen. Irritierenderweise tauchte
das Wort "Hormon" nur zwei- oder dreimal am Rande auf, das Wort "Evolution" überhaupt
nicht. Mehr noch, sogar hinter die Existenz des Penis – in diesem Punkt bin ich mir bis dahin
völlig sicher gewesen – muss im Licht der Genderforschung zumindest ein Fragezeichen
41
gesetzt werden. "Anatomie ist ein soziales Konstrukt", sagt Judith Butler, eine der Ahnfrauen
der Genderforschung. Es sei Willkür, wenn Menschen nach ihren Geschlechtsteilen sortiert
werden, genauso gut könne man die Größe nehmen oder die Haarfarbe. Die seien genauso
wichtig oder unwichtig.
Das Feindbild der meisten Genderforscherinnen sind die Naturwissenschaften. Da ähneln sie
den Kreationisten, die Darwin für einen Agenten des Satans und die Bibel für ein historisches
Nachschlagewerk halten. "Naturwissenschaften reproduzieren herrschende Normen." –
"Naturwissenschaften konstruieren Wissen, das den gesellschaftlichen Systemen zuarbeitet."
– "Der Objektivitätsanspruch der Wissenschaft ist ein verdeckter männlicher Habitus." –
"Naturwissenschaft und Medizin haben eine ähnliche Funktion, wie die Theologie sie einst
hatte". Von solchen Sätzen wimmelt es in den Einführungen. Irgendwie scheint
Genderforschung eine Antiwissenschaft zu sein, eine Wissenschaft, die nichts herausfinden,
sondern mit aller Kraft etwas widerlegen will. Aber wenn Wissenschaft immer
interessengeleitet ist, was vermutlich stimmt, dann gilt dies wohl auch für die
Genderforschung.
Ich fahre zu Hannelore Faulstich-Wieland, Genderforscherin, Pädagogin und
Gleichstellungsbeauftragte an der Hamburger Uni. In einem Interview hat sie mal gesagt, dass
es gesellschaftliche Gründe habe, wenn Männer im Marathonlauf schneller sind als Frauen.
Sie ist sehr nett. Und sie hat zwei Söhne. Menschen mit Kindern tendieren meist zu der
Ansicht, dass es natürliche Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen gibt. Aber sie tickt
nicht so. Eines ihrer Forschungsgebiete: "Männer und Grundschule".
In der Schule läuft es für die Mädchen meist besser als für die Jungen. Es gibt mehr
männliche Schulabbrecher, mehr Sitzenbleiber, weniger Abiturienten. Entwicklungsstörungen
aller Art, ADS, Asperger, das sind typische Probleme von Jungs. Seit Mädchen den gleichen
Zugang zu Bildung haben, merkt man, wie schwach die Jungen sind, im Durchschnitt. Wegen
ihrer besseren Noten dominieren inzwischen junge Frauen das Medizinstudium.
Viele meinen, dass es mehr männliche Lehrer an der Grundschule geben sollte, weil Männer
ein Rollenmodell sein und mit der Aggressivität schwieriger Jungs besser umgehen könnten.
Faulstich-Wieland hält Erzieher dagegen für gefährlich. Die Gefahr bestehe darin, dass
"Jungen auf ein Stereotyp von Männlichkeit programmiert werden". Das gleiche Argument,
das schon gegen die röhrenden Hirsche in der Eifel sprach! Außerdem enthalte der Ruf nach
mehr Lehrern die Unterstellung, Lehrerinnen leisteten keine gute Arbeit. Dies sei eine
Abwertung von Frauen.
Das aggressivere Verhalten der Jungs sei anerzogen. Folglich müsse es aberzogen werden.
Jungs hätten eine negative Einstellung zum Lernen, was damit zusammenhänge, dass sie
schon früh auf eine männliche Rolle festgelegt würden. Schon Babys würden ja verschieden
behandelt, daher komme die Verschiedenheit von Mädchen und Jungs.
Ist das alles wirklich nur Ideologie?
Wer mit Genderforscherinnen ins Gespräch kommen will, darf sich nicht daran stören, dass
das Wort "männlich" durchgängig negativ besetzt ist. Muss man die Jungs einfach dazu
bringen, sich wie Mädchen zu verhalten – ist das die Lösung? Und kann es wirklich sein, dass
viele Mütter ihren Söhnen schon als Babys beibringen, schwierige Raufbolde zu werden?
Was ist denn mit den Müttern los? Als ich versuche, ein paar wissenschaftliche Studien über
42
Jungs aus meinem Gedächtnis hervorzukramen, sagt Hannelore Faulstich-Wieland:
"Naturwissenschaft ist eine Konstruktion."
Erst als wir uns schon getrennt haben, fällt mir ein, dass es ja eigentlich eine Abwertung der
Männer darstellt, wenn es heißt, mehr Frauen sollten Professorinnen werden. Leisten
Professoren keine gute Arbeit? Jedenfalls ist der Fachbereich Pädagogik fest in weiblicher
Hand, im Studentencafé sitzen fast nur Frauen, alle in Gruppen, plaudernd. Die beiden
einzigen Studenten hocken allein in der Ecke und befassen sich mit ihrem Laptop.
Wenn diese beiden Studenten Ingenieur oder Informatiker werden wollten, wäre die Lage
umgekehrt. Sie hätten fast nur männliche Kommilitonen und beinahe ausschließlich
männliche Professoren. Die Universitäten suchen händeringend Männer, die Grund- und
Hauptschullehrer werden möchten. Gleichzeitig versuchen sie, mehr Frauen in die
Naturwissenschaften zu locken. Bei den Ingenieuren sind in Deutschland nur 9 Prozent der
Professoren weiblich, in den Geisteswissenschaften sind es 30.
Robert Plomin hat das Aufwachsen von 3000 zweieiigen Zwillingen beobachtet, Jungen und
Mädchen, die in derselben Familie aufwuchsen. Im Alter von zwei Jahren war der Wortschatz
der Mädchen bereits deutlich größer. Die Neurowissenschaftlerin Doreen Kimura hat einen
Zusammenhang zwischen Testosteronspiegel, Berufswahl und räumlichem
Vorstellungsvermögen nachgewiesen – bei Männern und Frauen. Den höchsten
Testosteronspiegel haben übrigens Schauspieler, Bauarbeiter und Langzeitarbeitslose, den
niedrigsten haben Geistliche. Der Osloer Kinderpsychiater und Verhaltensforscher Trond
Diseth hat neun Monate alten Babys in einem nur von Kameras überwachten Raum Spielzeug
zur Auswahl angeboten, Jungs krochen auf Autos zu, Mädchen auf Puppen. Der
Evolutionsbiologe Simon Baron-Cohen, ein Vetter des Filmemachers Sascha Baron-Cohen,
hat die Reaktionen von Neugeborenen erforscht, da kann die Gesellschaft noch nichts
angerichtet haben: Mädchen reagieren stärker auf Gesichter, Jungen auf mechanische Geräte.
Richard Lippa hat 200.000 Menschen in 53 Ländern nach ihren Traumberufen gefragt,
Männer nannten häufiger "Ingenieur", Frauen häufiger soziale Berufe. Die Ergebnisse waren
in so unterschiedlichen Ländern wie Norwegen, den USA und Saudi-Arabien erstaunlich
ähnlich. Wenn es wirklich einen starken kulturellen Einfluss auf die Berufswahl gäbe, sagt
Lippa, dann müssten die Ergebnisse je nach kulturellem Kontext schwanken.
Der Hirnforscher Turhan Canli, ein Amerikaner, hat festgestellt, dass Frauen emotionale
Ereignisse meist in beiden Hirnhälften speichern, Männer nur in einer. An einen Ehestreit
oder den ersten Kuss können sich Männer deshalb im Durchschnitt nicht so gut erinnern wie
Frauen. Wenn auf Fotos Gesichter zu sehen sind, traurige oder fröhliche, dann entschlüsseln
Männer die Emotionen der abgebildeten Personen im Durchschnitt schlechter. Mein
Lieblingsexperiment hat Anne Campbell an der Universität Durham veranstaltet: Männer und
Frauen wurden zu einem Test eingeladen. Dann teilte man ihnen mit, dass sie schmerzhafte
Elektroschocks erdulden müssten. Es dauere noch ein paar Minuten. Die Frauen warteten
gemeinsam, in Gruppen. Die Männer warteten lieber alleine.
Die Wissenschaft ist sich einig: Geschlechterunterschiede sind zum Teil sicher anerzogen.
Vieles hängt aber auch mit der Evolution und mit den Hormonen zusammen. Ist das alles
wirklich nur Ideologie? Gibt es eine Art Weltverschwörung, gegen die Genderforschung?
Und wenn ja: Wo bleiben eigentlich die Gegenstudien? Genderprofessorinnen gibt es doch
reichlich.
43
Im Grunde ist die Genderdebatte nur eine Variante der uralten Diskussion über das, was ein
Individuum zu einem Individuum macht, die Umwelt oder das Erbe. Was ist genetisch
determiniert, was ist von den Eltern anerzogen, was geht auf den Einfluss der Gesellschaft
zurück?
An der Berliner Charité wird medizinische Genderforschung betrieben, zur Frage, warum
Frauen und Männer für Krankheiten unterschiedlich anfällig sind. Im Regelfall aber ist diese
Wissenschaft eher theoretischer Natur. Das hängt stark mit John Money zusammen, einem
amerikanischen Sexualforscher, der die Gendertheorie in den fünfziger Jahren miterfunden
hat. Um seine These zu beweisen – Geschlecht ist nur erlernt –, hat Money den zweijährigen
Bruce Reimer 1966 von seinem männlichen Genital befreit und als Mädchen aufwachsen
lassen. Der Penis des Kindes war bei der Beschneidung verletzt worden, deshalb ließen sich
die Kastration und die Herstellung von Schamlippen wohl als eine Art "Therapie" darstellen.
Eine Ethikkommission wurde offenbar nicht konsultiert. Alice Schwarzer hat dieses nicht sehr
menschenfreundliche Experiment als eine der wenigen Forschungen zum
Geschlechterverhältnis gewürdigt, die "nicht manipulieren", sondern "aufklären". Der
erwachsene Reimer ließ die Umwandlung rückgängig machen und erschoss sich. Seitdem
muss die Theorie ohne Beweisversuche auskommen. Geschadet hat das ihrer Verbreitung
nicht wirklich.
Uta Brandes ist Professorin für Gender und Design in Köln, seit 1995. Eine ihrer früheren
Studentinnen heißt Gesche Joost und gehört jetzt zum "Kompetenzteam" des SPDKanzlerkandidaten Peer Steinbrück. In den neunziger Jahren hat die SPD-Ministerin Anke
Brunn jeder Hochschule in Nordrhein-Westfalen eine neue Professorenstelle versprochen,
vorausgesetzt, es handelte sich um eine Genderprofessur. Das führte zu einem Boom.
Wir reden über Stehlampen. Uta Brandes hat einmal erklärt: "Alles, was aufrecht steht, ist
eher männlich." Sie sagt, dass sie auch Kirchtürme zu phallisch findet, so ein Kirchturm
penetriere das Dorf geradezu. Ich sage, dass man die Kirchenuhr im Dorf halt schlecht sehen
kann, wenn man sie in einer Höhle unterbringt. Sie lacht. 1960 wurde ja auch die erste nicht
phallische Stehlampe entworfen, die bogenförmige Arco von Castiglioni. Es geht also. Ein
Kirchbogen statt eines Kirchturms, warum nicht.
Uta Brandes hat unter anderem das Verhalten an Fahrkartenautomaten erforscht, sie ist also
keine Theoretikerin. Männer haben an Automaten weniger Angst vor Misserfolgen, Methode
"Trial and Error". Frauen überlegen länger, bevor sie einen Knopf drücken. Die Ergebnisse
lassen einen irgendwie an Peer Steinbrück und Angela Merkel denken. Brandes befasst sich
auch damit, wie man ein alltagstaugliches Statussymbol für mächtige Frauen gestalten könnte.
Eine große, höhlenartige Handtasche wäre eine Möglichkeit. Sie hat außerdem vorgeschlagen,
dass die englischen Wörter teacher und professor, die für Männer und Frauen gelten, eine
weibliche Form bekommen, teacheress und professoress. "Frauen müssen in der Sprache
sichtbar sein", sagt sie. Aber die Engländer lassen sich in ihre Sprache natürlich ungern von
einer deutschen Professorin hineinreden. In Deutschland könnte man es durchsetzen, denke
ich. Die Inder haben ja auch ein eigenes Englisch. Zum Abschied sage ich: "Na, zur
Fortpflanzung wird man die Männer und dieses ganze phallische Zeugs jedenfalls weiterhin
brauchen." Uta Brandes lacht und sagt: "Wer weiß, wie lange noch."
Mit den Auswirkungen des Teufelszeugs Testosteron hat sich besonders intensiv die
kanadische Psychologin Susan Pinker befasst, ihr Buch Das Geschlechter-Paradox wurde in
viele Sprachen übersetzt. Testosteron macht Menschen risikofreudiger und kräftiger, Männer
haben meistens mehr davon. Leider macht es auch kurzlebiger, weil es das Immunsystem
44
schwächt. Postoperative Infektionen verlaufen bei 70 Prozent der Männer tödlich, aber nur bei
26 Prozent der Frauen, daran sind weder die Ärzte schuld noch die Gesellschaft. Warum
haben relativ viele Jungs Probleme in der Schule? Oft hängt es – das verdammte Testosteron!
– mit mangelnder Disziplin zusammen. Mädchen halten sich, im Durchschnitt, eher an die
Regeln. Andererseits könnte man eine lange Liste von spektakulären Schulversagern
zusammenstellen, die später sehr hübsche Karrieren zustande gebracht haben, darunter
Charles Darwin. Ab einem gewissen Punkt der Biografie ist das Testosteron wieder nützlich,
bei manchen zumindest.
In Wirklichkeit ist die Biologie längst weiter
Frauen und Männer haben im Durchschnitt den gleichen Intelligenzquotienten. Aber am
oberen und am unteren Ende der Skala finden sich mehr Männer, sie sind extremer, oder, wie
Pinker einen Kollegen zitiert: "Bei den Männern gibt es mehr Genies und mehr Idioten."
Noch schöner hat es die Kulturhistorikerin Camille Paglia gesagt: "Ein weiblicher Mozart
fehlt, weil es auch keinen weiblichen Jack the Ripper gibt." Extremes Verhalten und
obsessive Fixierung auf eine bestimmte Sache – so was ist eher ein Männerding. Der Typ, der
Amok läuft, um sich für eine Kränkung zu rächen: fast immer ein Mann. Der Mensch, der
eine 90-Stunden-Woche nach der anderen herunterschrubbt, weil er Chef werden will, und am
Ziel tot umfällt: wahrscheinlich ein Mann. Ein extremer Einzelgänger und Hypochonder, der
Klavier spielt und sonst fast nichts tut: Glenn Gould. Ein Mensch, der in jeder freien Minute
Wörterlisten auswendig lernt, nur weil er, völlig sinnlos, Scrabble-Weltmeister werden will:
Joel Wapnick. Wer sich einen Sonderling oder einen Eigenbrötler mal genauer anschaut,
entdeckt fast immer einen Penis.
Das Geschlechter-Paradox besteht darin, dass sich in freien Gesellschaften mit ausgeprägten
Frauenrechten nicht weniger, sondern mehr Frauen für angeblich typische Frauenberufe
entscheiden, soziale oder kreative Berufe. Wenn Frauen die Wahl haben, tun sie eben nicht
das Gleiche wie die Männer. Sie werden, ohne Druck, im Durchschnitt lieber Ärztin, Lehrerin
oder Journalistin als Statikerin, Ingenieurin, Schachprofi oder Patentanwältin. Über
Individuen sagen solche Statistiken natürlich nichts aus, es kann auch hervorragende,
glückliche Notarinnen geben und Physik-Nobelpreisträgerinnen. Wer aber glaubt, dass wir
alle dem gleichen Normgeschlecht angehören und deshalb überall in der Gesellschaft ein
Verhältnis von 50 zu 50 herrschen muss, der kann dies, laut Susan Pinker, nur mit staatlichen
Zwangsmaßnahmen erreichen. Weder Hannelore Faulstich-Wieland noch Uta Brandes
kannten ihre Kollegin Susan Pinker.
Ich bin dann, um von der Theorie in die Praxis zu wechseln, nach Braunschweig gefahren.
Maybritt Hugo, Jahrgang 1960, arbeitet dort seit 1992 als städtische
Gleichstellungsbeauftragte. Vorher hat sie Politik und Germanistik studiert und war
Fraktionsgeschäftsführerin bei den Grünen. In Behörden und Kommunen gibt es inzwischen
etwa 1900 Gleichstellungs- oder Frauenbeauftragte. Der Posten muss weiblich besetzt
werden, dazu existiert ein Gerichtsurteil. Die Beauftragte ist nur dem Oberbürgermeister
unterstellt, sonst niemandem, sie hat Zutritt zu fast allen Gremien, darf ohne Genehmigung
der Betroffenen alle Personalakten einsehen, ohne Rücksprache die Presse kontaktieren, bei
jeder Einstellung mitreden. Eine ihrer Aufgaben ist es, den Anteil der Frauen im Personal –
vor allem im Führungspersonal – zu steigern und die sich selbst rekrutierenden Männerlobbys
aufzubrechen.
45
Maybritt Hugo hat bei der Braunschweiger Feuerwehr etwas Wichtiges erreicht. Beim
Eignungstest sind die Bewerberinnen fast immer durchgefallen. Das lag unter anderem an den
Klimmzügen. Frauen fallen Klimmzüge schwerer als Männern. Außerdem wurde von allen
Bewerbern eine abgeschlossene handwerkliche Ausbildung verlangt. Inzwischen dürfen
Bewerber, um ihre Kraft unter Beweis zu stellen, einen schweren Kanister eine Treppe
hochtragen, und die Feuerwehr akzeptiert auch eine Ausbildung im Gesundheitswesen.
Seitdem steigt die Zahl der Feuerwehrfrauen.
Ich frage, wie eine Gleichstellungsbeauftragte mit Bereichen umgeht, in denen die Männer
benachteiligt sind. Obdachlosigkeit zum Beispiel. 70 bis 80 Prozent der Obdachlosen sind
Männer. Maybritt Hugo antwortet sehr freundlich, dass die Statistik ein falsches Bild ergebe.
Frauen seien genauso von Obdachlosigkeit betroffen. Sie würden dann eben bei Freundinnen
oder Verwandten unterschlüpfen. Obwohl sie es nicht ausspricht, es klingt schon ein bisschen
so, als seien obdachlose Männer selber schuld. Warum sind Männer nicht einfach ein
bisschen kommunikativer, sozialer – weiblicher eben? Dann frage ich, ob es schon einen Fall
sexueller Belästigung eines Mannes durch eine Frau gegeben hat, in Braunschweig.
Tatsächlich, so etwas gab es. Ein Mann hat sich beschwert. Er wurde nicht angegrapscht,
aber, nach seiner Darstellung, von einer Chefin immer wieder verbal angemacht und auch
herabgesetzt. Und, wie ging der Fall aus? Sie weiß es nicht genau. "Ich glaube, er hat seinen
Job einfach weitergemacht." Das war bei Frauen früher auch üblich, heute wehren sich zum
Glück viele und gehen zur Gleichstellungsbeauftragten.
Kurze Geschichte der Genderforschung:
1976 In West-Berlin findet die erste Sommeruniversität für Frauen statt – Männer sind dabei
nicht zugelassen. Sie trägt die Frauenbewegung in die Hochschulen, die sich aus Sicht von
Feministinnen fast nur für Männer interessieren. In verschiedenen Fächern entsteht
Frauenforschung als Wissenschaft von Frauen an Frauen.
Anfang der achtziger Jahre kritisieren feministische Sprachwissenschaftlerinnen, dass
männliche Bezeichnungen Frauen und ihre Leistungen ausblenden. Behörden und Ämter
geben später Leitfäden zur geschlechtergerechten Sprache heraus, die aus Studenten
"Studierende" und aus Mannschaften "Teams" machen sollen.
1987
Die Soziologin Raewyn Connell sorgt mit ihrem Konzept der "hegemonialen Männlichkeit"
für Diskussionen. Die Frauenforschung geht in die Geschlechterforschung über: Auch
Männer, Macht und Männlichkeit werden untersucht, da sich Gleichberechtigung ohne
Veränderung von Männern nicht durchsetzen kann.
1990
Judith Butler verkündet: »Die Grenzen zwischen den Geschlechtern sind nur sozial
konstruiert.« Die amerikanische Philosophin stößt die Entstehung der Queer Studies an. Sie
untersuchen Schwule, Lesben, Transsexuelle und jegliche Form von sexuellem Begehren, das
»quer« zur Norm steht.
Seit den neunziger Jahren gehen Genderforscher verstärkt der Frage nach, welche Bedeutung
das Geschlecht im Berufsleben hat. Die Wissenschaftler kritisieren die ungleichen
Karrierechancen von Männern und Frauen und liefern Impulse für die Gleichstellungspolitik
und Quotendiskussionen.
46
2010
Die Fachgesellschaft Geschlechterstudien wird gegründet. Die Wissenschaft bleibt
interdisziplinär: Weit über hundert Professuren für Genderforschung sind über Fächer wie
Pädagogik, Jura, Sprachwissenschaft und Physik verstreut.
Inzwischen habe auch ich, wie die Genderforschung, eine Theorie. Ich glaube, ich weiß,
warum selbst bestens belegbare Erkenntnisse der naturwissenschaftlichen
Geschlechterforschung von vielen Genderfrauen abgelehnt oder gar nicht erst zur Kenntnis
genommen werden. "Natur" war, jahrtausendelang, ein Totschlagargument der Männer.
Frauen konnten angeblich dieses nicht und jenes nicht, sie galten als eitel, dumm, schwach,
hysterisch, zänkisch, schwatzhaft und charakterlich fragwürdig. Das alles kam im Gewande
der wissenschaftlichen Erkenntnis daher. So wie man auch für wissenschaftlich belegt hielt,
dass man Mörder an ihren Augenbrauen und Vergewaltiger an ihren Ohrläppchen erkennen
könne. Immer hingen die angeblichen Defizite der Frauen mit ihrer angeblichen Biologie
zusammen, und meistens ging es dabei darum, die Macht der Männer ideologisch zu
begründen. Wenn früher von Unterschieden zwischen Männern und Frauen die Rede war,
dann lief es immer darauf hinaus, dass Frauen die Schlechteren sind und Männer die
Besseren. Die Genderfrauen ziehen daraus den Schluss, dass biologische Forschung
insgesamt ein Herrschaftsinstrument der Männer sein muss. Deshalb sagen sie: Es gibt keine
Unterschiede, basta. Warum? Weil es einfach keine geben darf. Genderforschung ist wirklich
eine Antiwissenschaft. Sie beruht auf einem unbeweisbaren Glauben, der nicht in Zweifel
gezogen werden darf.
In Wirklichkeit ist die Biologie längst weiter. Sie kann zeigen, dass Männer und Frauen in
vielen Bereichen gleich sind, in anderen verschieden. Sonst wäre die Evolution ja sinnlos
gewesen – wozu zwei Mal das gleiche Modell entwickeln? Beide Geschlechter haben Stärken
und Schwächen, die sich ergänzen, und ganz sicher ist keines "besser" als das andere. Wenn
ein Mann und eine Frau zusammen in Urlaub fahren wollen, wird in 80 Prozent der Fälle sie
noch schnell das Gespräch mit einem schwierigen Handwerker führen, während er den
Kofferraum belädt. Das ist nicht sexistisch, das ist klug.
http://www.zeit.de/2013/24/genderforschung-kulturelle-unterschiede/komplettansicht,
03.03.2016.
47
4.6 Biologistische Grenzziehungen
Sabine Hark, Paul Irene Villa, (14.03.2013)
Die Unterstellungen sind bekannt: Genderstudies sind unwissenschaftlich. Das „ZeitMagazin“ versucht diese Debatte neu zu entfachen – eine Replik.
Abb. 11: Zwillingsbabies Bild: imago/Chromorange
Es sind nicht die Hormone allein, die die Zukunft bestimmen.
Wir haben wieder eine „Gender-Debatte“. Die Wochenzeitung Die Zeit meint derzeit mit der
Diskreditierung der Genderstudies als „Glaube“, gar „Antiwissenschaft“ Auflage machen zu
können.
In den Weiten der Social Media empören sich aufgebrachte Menschen auf meist wenig
zivilisierte Weise über die angebliche Gehirnwäsche durch Gender, die vermeintliche
Verschwendung aberwitziger Summen öffentlicher (Steuer-!)Gelder für Gender, über die
angebliche Profilierungssüchtigkeit der „Genderfrauen“ – so der Kolumnist Harald
Martenstein, ansonsten bekannt für sein Engagement zur Rettung der Berliner Gaslaternen, im
Zeit-Magazin – und über den Untergang von Bildung, Kultur und Abendland durch Gender.
Was aber ist das, dieses ominöse Gender? Die Genderstudies liefern auf diese Frage nicht
keine, aber keine eindeutige Antwort. Gender meint zunächst eine Grenzziehung, die
Unterscheidung zwischen Männern und Frauen. Diese Grenzziehung halten wir im Alltag und
seit der modernen Verwissenschaftlichung der Welt für biologisch gegeben.
Dieser Annahme folgen durchaus Teile der Genderstudies, etwa wenn sie beforschen, welche
Männer und welche Frauen mit welchen Optionen arbeiten, wie sie ihre Freizeit verbringen,
welchen – geschlechtsspezifischen – Krankheitsrisiken sie jeweils wie begegnen oder wie sie
in den Medien dargestellt und wie sie sozialisiert werden. Und sie tun dies durchaus auch
mithilfe naturwissenschaftlicher Methoden.
Nun ist, aller Meinung zum Trotz, Wissenschaftlichkeit allerdings mehr als
naturwissenschaftliche Methode. Die forschende Auseinandersetzung mit allen Bereichen der
Welt – Menschen inklusive – bringt es mit sich, dass man sich dabei mit von Menschen
(mindestens mit-)erzeugten Phänomenen auseinandersetzen muss. Für die wissenschaftliche
Auseinandersetzung mit Gender gilt dies im besonderen Maße.
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Zugleich ist kaum eine Leitdifferenz der Gegenwart derart eng geknüpft an ein biologisches,
genauer: biologistisches Verständnis. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts halten wir das
Geschlecht für eine unverrückbare, universale und unhintergehbare Naturtatsache, die an
einem bestimmten physikalischen Ort der menschlichen Körper angesiedelt sei. Selbst wenn
dies stimmte, so ist es doch höchst interessant und erkenntnisreich, sich mit der Geschichte
dieser Tatsache zu befassen.
Genau das tun einige in den Genderstudies. Anders als davon auszugehen, dass es Männer
und Frauen (qua Genetik, Gebärmutter, Anatomie oder Hirnwindung) an und für sich „gibt“,
erforschen sie die historisch konstituierte, kulturell geregelte und subjektiv interpretierte
Bedeutung des Geschlechtsunterschieds.
Historische Arbeiten im Feld der Genderstudies stellen etwa fest, dass diese Universaltatsache
der biologischen Geschlechterdifferenz sich je nach geschichtlicher Konstellation recht
unterschiedlich ausnimmt. „Alles, was wir an dem wahren Weibe Weibliches bewundern und
verehren, ist nur eine Dependenz des Eierstocks“, schrieb der preußische Mediziner Rudolf
Virchow 1848.
Und die holländische Gesundheits- und Hormonforscherin Nelly Oudshoorn zeichnete nach,
wie sich die Idee der „Geschlechtshormone“ allmählich im Kontext alltagsweltlicher
Deutungen verselbständigte – und zwar entgegen vielfachen klinischen Evidenzen.
Ein Verdienst der Genderstudies
Dass wir von vielen kruden Vorstellungen zur Geschlechterdifferenz heute weit entfernt sind,
ist nicht zuletzt ein Verdienst der Genderstudies. Denn diese haben Argumentationen, die
Biologie als Schicksal setzen, und die lange auch das (natur- wie sozial- und kultur)wissenschaftliche Wissen beherrschten, hinterfragt und herausgefordert.
Was gerade durch wissenschaftshistorische Arbeiten in diesem Feld klar wurde, ist, dass die
Grenzziehung zwischen Natur und Kultur mitnichten so offen zutage liegt. Diese
erkenntnistheoretisch völlig triviale Einsicht stellt allerdings für viele Journalisten und
Kommentatorinnen außerhalb der Wissenschaft offenbar eine schwer zu schluckende Kröte
dar.
Es ist indes eine Einsicht, die NaturwissenschaftlerInnen und GeschlechterforscherInnen
teilen. Jedenfalls ist es von der Position etwa des Cambridger Neurowissenschaftlers Simon
Baron Cohen, der die alte Natur-versus- Kultur-Debatte in Bezug auf Geschlecht als geradezu
absurd simplistisch bezeichnet und dafür plädiert, die Interaktion zwischen beidem in den
Blick zu nehmen, nicht weit bis zum Plädoyer der in Berkeley lehrenden Philosophin Judith
Butler, die Geschlechterdifferenz als jenen Ort zu verstehen, an dem die Frage nach dem
Verhältnis des Biologischen zum Kulturellen gestellt werden müsse.
Denn die psychischen, somatischen und sozialen Dimensionen der Geschlechterdifferenz
ließen sich niemals gänzlich ineinander überführen, sie seien aber ebenso wenig als
voneinander geschieden zu verstehen.
Ohne Antwort
Das Programm, das die Genderstudies daher nüchtern wie vorurteilsfrei verfolgen, besteht
folglich genau darin, am Ort der Geschlechterdifferenz die Frage nach dem Verhältnis des
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Biologischen zum Kulturellen zu stellen. Und zwar sie immer wieder zu stellen, da sie, wie
Butler sagt, zwar gestellt werden muss, aber, streng genommen, nie beantwortet werden kann.
Nimmt man also ernst, dass simplistische Natur/Kultur-Debatten in einem falschen
Binarismus verfangen sind, so folgt daraus durchaus, dass es Materialitäten (etwa Strukturen
des Gehirns, Anatomie, Hormone) geben kann, die bei Männern und Frauen häufiger oder
seltener vorkommen.
Es folgt daraus allerdings ebenso logisch, dass diese Materialitäten mit sozialen Umständen
und Erfahrungen interagieren: So sind Hormone auch von UV-Licht oder der Diät abhängig,
sie reagieren auf Angst oder Lust, sie treten je nach Alter einer Person unterschiedlich auf.
Und umgekehrt: Hormone beeinflussen Angst und Lust, sie machen Hunger oder müde. Doch
Hormone machen ebenso wenig wie bestimmte Hirnstrukturen oder Chromosomensätze
Frauen und Männer.
Zellen erkennen Testosteron nicht
Was es also bedeutet, individuell und gesellschaftlich eine „Frau“ oder ein „Mann“ zu sein,
das wird nicht durch eine biologische Essenz festgelegt. Die Berliner Genetikerin Heidemarie
Neitzel beschreibt, dass die Untersuchung des Hormonspiegels nicht unbedingt Eindeutiges
ergibt. Es gebe Beispiele, wo Androgene wie Testosteron in männlicher Dosierung vorhanden
seien, aber von den Zellen nicht erkannt würden.
Solche Befunde aber belegen nichts anderes, als dass die „Wahrheit des Geschlechts“ seit
jeher keine nackte, sondern eine höchst bekleidete Wahrheit ist. Es sind solche Erkenntnisse –
Erkenntnisse, die den Alltagsverstand, der zwei und nur zwei eindeutige Geschlechter kennt,
erschüttern –, von denen Martenstein und Konsorten nichts wissen wollen. Wie gesagt, wir
reden hier von wissenschaftlichen Selbstverständlichkeiten, die spätestens seit Kants Kritik
der reinen Vernunft zum Grundwissen moderner Wissenschaften gehören.
Bleibt zu fragen, warum es dagegen derzeit erneut eine medial geschürte Abwehr gibt? Es ist
erst rund hundert Jahre her, dass deutsche Wissenschaftler wie Rudolf Virchow sich mit dem
Rekurs auf die Natur gegen das Recht von Frauen, zu studieren, stellten.
Statusangst der Professorenschaft
Virchow, Max Planck und Kollegen fürchteten einen möglicherweise sogar irreversiblen
Eingriff in die Naturgesetze, sollten Frauen als Gleiche in die Akademie einziehen. Es sei
dahingestellt, inwieweit sie dies für eine wissenschaftlich fundierte Aussage hielten oder ob
sie sich nur taktisch des wirkmächtigen Diskurses einer naturalisierten Geschlechterdifferenz
bedienten, um sowohl eine gesellschaftlich prestigereiche Position zu verteidigen als auch die
in der deutschen Professorenschaft damals weit verbreitete Statusangst, die sich als Angst vor
der Feminisierung ihres Berufes äußerte, zu bekämpfen. To allow women to be like men
would be to risk men becoming like women – so hat die US-amerikanische Historikerin Joan
Scott dies für einen anderen Kontext bilanziert.
Spricht aus der Diskreditierung der Genderstudies, inklusive der „Genderfrauen“, nichts als
die Angst vor Uneindeutigkeit? Die Kultur, das „Volk“, das Abendland, die Wissenschaft, ja
selbst die Natur sind bislang nicht untergegangen an der wachsenden Einsicht darin, dass
Gender wesentlich mehr und anderes ist als Eierstöcke oder Hoden. Daran wird sich auch
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zukünftig wenig ändern, selbst wenn die Genderstudies derart wichtig und einflussreich
würden, wie ihnen unterstellt wird.
http://www.taz.de/!5065401/, 05.03.2016.
Paula-Irene Villa
Jahrgang 68, ist Professorin für Soziologie und Gender Studies an der LMU München. Ihre
Schwerpunkte sind Diskurstheorie und Körpersoziologie. Als Standardwerk gilt „Sexy
Bodies. Eine soziologische Reise durch den Geschlechtskörper“ 4. Auflage, 2011.
Sabine Hark
Jahrgang 63, ist Professorin der Soziologie und Leiterin des Zentrums für interdisziplinäre
Frauen- und Geschlechterforschung an der Technischen Universität Berlin. Sie gilt als
Mitbegründerin der Queer Theory in Deutschland. Ihr bekanntestes Buch: „Dissidente
Partizipation. Eine Diskursgeschichte des Feminismus“ (2005).
5. Informationsblatt: Wichtige Fachbegriffe
Siehe folgende Seite.
51
(Wichtige) Fachbegriffe im Rahmen des Themenblocks Geschlechterrollenkritik
Diskriminierung: Benachteiligung von Personen oder Gruppen, z.B. aufgrund des
Geschlechts oder der Ethnie (Ethnie: wissenschaftlich exakterer Ausdruck für Volksgruppe).
Drittes Geschlecht: Eine soziale Kategorie für Personen mit unbestimmtem Geschlecht
sowie für Personen die sich nicht in Mann oder Frau einteilen lassen wollen.
Feminismus: Bezeichnung für eine sowohl akademische als auch politische Bewegung von
Frauen, die für Gleichberechtigung und Selbstbestimmung von Frauen sowie gegen Sexismus
auftritt.
Gender: Das soziale Geschlecht bzw. Geschlecht in seiner gesellschaftlichen Einordnung
(gegenüberstehend dem Begriff Sex, worunter das biologische Geschlecht zu verstehen ist).
Genderforschung bzw. Gender Studies: erforscht die historisch konstituierte, kulturell
geregelte und subjektiv interpretierte Bedeutung des vermeintlichen oder tatsächlichen
Unterschieds zwischen den Geschlechtern bzw. das Verhältnis des Biologischen zum
Kulturellen Geschlecht.
Gender Mainstreaming: In allen Politikbereichen und auf allen gesellschaftlichen Ebenen
sollen die Auswirkungen aller Entscheidungen auf beide Geschlechter im Sinne der
Förderung von Geschlechtergerechtigkeit und/oder Gleichstellung beurteilt werden.
Heteronormativ(ität): Heterosexualität als Norm ansehend bzw. postulierend. Betrachtet
Heterosexualität (Sexualität zwischen Mann und Frau) als in der Natur des Menschen
verankert und alle anderen Formen von Sexualität als unnatürlich.
Homosexualität: Gleichgeschlechtliches sexuelles Verhalten, Begehren oder eine darauf
aufbauende Identität.
Intersektionalität: Es ist oft nicht ausreichend, nur in einer Kategorie der Benachteiligung zu
denken. Neben dem Geschlecht spielen oftmals auch Rasse, Klasse, Gesundheit sowie
Machtverhältnisse eine Rolle.
Klischee: unbedacht übernommene Redewendung bzw. Sprachbild.
Queer: bezeichnet Personen (sowie als Adjektiv allgemein auch Dinge und Handlungen), die
von der Norm abweichen. In Bezug auf Personen ursprünglich negativ konnotiert, wurde
später aber zu einer durchaus mit Stolz verwendeten Selbstbezeichnung. wurde so zum
Sammelbecken für nicht heteronormative Personen.
Stereotyp: Kategorisierung von Personen anhand bestimmter Merkmale (z.B.: Haut, Haare,
Geschlecht, Alter).
Vorurteil: Vorsicht, hat unterschiedliche Bedeutungen: vorwiegend versteht man darunter
1, eine (oft wenig reflektierte) negative Meinung oder Haltung (in unserem Zusammenhang)
gegenüber bestimmten Personengruppen. Meist mit Diskriminierung verbunden.
2, ein vorläufiges Zwischenergebnis während der Entwicklung eines Urteils.
(verwendete Quellen: Heinsohn & Kemper: 2012; UN: 2016; Wikipedia: [März] 2016.)
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6. Quellen- und Literaturverzeichnis
6.1 Schulbücher
Böckle, Roland; Hitz, Harald; Kuschnigg, Wolfgang; Lidauer, Rainer; Neubauer, Erwin;
Sonnenberg, Christian (1997): Horizonte 2 (2. Auflage 1997), Ed. Hölzel, Wien.
Zeugner, Klaus und Marianne (2015): Faszination Erde 3 (2., ergänzte Auflage 2015), Ed.
Hölzel, Wien.
In der Vorbereitung herangezogene Literatur:
Ott, Christine (2013): Geschlechtsidentität(en) im Mathebuch. Was die Sprache in
Bildungsmedien über ihre Gesellschaft verrät. In: Schulpädagogik heute. Lernen und
Geschlecht, S. 1 – 11. Köln.
Preinsberger, Alexandra; Weisskircher, Elisabeth (1997): Mathematikschulbücher – eine
aktuelle Untersuchung. In: Schule Weiblich, Schule Männlich. Zum Geschlechterverhältnis
im Bildungswesen, S. 132 – 143. Innsbruck.
Schwarz, Ingrid (2005): Geschlechterrollenkritische Didaktik diesseits und jenseits der
Grenze. In: Reif Elisabeth, Schwarz Ingrid (ed.): Zwischen Konflikt und Annäherung. Ein
interdisziplinäres Friedensprojekt zum Thema „Interkulturelle Kommunikation“ mit
Tschechien, S. 46 – 67. Wien.
6.2 Internetquellen:
Amjahid, Mohamed (2014): "Oppressed Majority": Feminismus nur für Weiße. In: Die Zeit
http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2014-02/film-unterdrueckte-mehrheitfeminismus-rassismus/komplettansicht, 03.03.2016.
BMBF (2016):
https://www.bmbf.gv.at/schulen/unterricht/lp/lp_neu_ahs_06_11858.pdf?4dzgm2,
09.03.2016.
Cocozza, Paul (2014): Oppressed Majority: the film about a world run by women that went
viral. In: The Guardian http://www.theguardian.com/lifeandstyle/womensblog/2014/feb/11/oppressed-majority-film-women-eleonore-pourriat, 03.03.2016.
Collien, Isabel; Nüthen, Inga; Pantelmann, Heike; Bock, Ulla (2013):
Geschlechterforschungspolemik im Sommerloch oder ich röhre also bin ich
http://www.zefg.fu-berlin.de/replik_martenstein/index.html, 09.03.2016.
53
Hark, Sabine; Villa, Paul Irene (2013): Biologistische Grenzziehungen. In: taz
http://www.taz.de/!5065401/,09.03.2016.
Heinsohn, Kirsten; Kemper, Claudia(2012): Geschlechtergeschichte, Version: 1.0, in:
Docupedia-Zeitgeschichte http://docupedia.de/zg/Geschlechtergeschichte?oldid=106423,
05.03.2016.
Kerbl, David (2014): Proseminararbeit Geschlechterrollenkritische Didaktik in GW.
http://suedwindnoesued.at/files/unterrichtsbeispiele_geschlechterrollenkritdidaktik_kerbl_david.pdf,
09.03.2016.
Landerl, Peter (2006): Nur ein Spiel für echte Männer? In: Wiener Zeitung
http://www.wienerzeitung.at/nachrichten/archiv/116602_Nur-ein-Spiel-fuer-echte-Maenner.html,
09.03.2016.
Majorité Opprimée (2010): https://www.youtube.com/watch?v=V4UWxlVvT1A, 09.03.2016.
Martenstein, Harald (2013): Schlecht, schlechter, Geschlecht. In: Die Zeit
http://www.zeit.de/2013/24/genderforschung-kulturelle-unterschiede/komplettansicht,
09.03.2016.
ORF-„Report“ (2016): (Anm.: Beiträge) „Feministische Lebensentwürfe“; „Die neuen
Frauen-Freunde“ http://tvthek.orf.at/program/Report/11523134, 09.03.2016.
Scholz, Lothar/ BPB (2010): Methodenkiste www.bpb.de/system/files/pdf/WY0L8M.pdf,
13.03.2016.
Schwarz, Ingrid (2015): Informationen zur LV „Geschlechterrollenkritische Didaktik in
Geographie und Wirtschaftskunde“ im Vorlesungsverzeichnis der Universität Wien
http://online.univie.ac.at/vlvz?kapitel=2906&semester=W2015#2906_16, 09.03.2016.
Seejane (2016): http://seejane.org/research-informs-empowers/, 09.03.2016.
The Guardian (2015): http://www.theguardian.com/film/2015/may/21/maggie-gyllenhaal-tooold-hollywood, 09.03.2016.
The Guardian (2016): Interview mit Geena Davis
http://www.theguardian.com/lifeandstyle/2016/feb/29/geena-davis-tv-girl-gender-equalitythelma-louise-women, 09.03.2016.
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UN (2016):http://www.un.org/womenwatch/osagi/gendermainstreaming.htm, 09.03.2016.
Zusätzlich zur Vorbereitung herangezogene Internetquellen:
Lüpke-Narberhaus, Frauke (2010): Gender-Pädagogik: Cowboy mit pinkfarbenem
Turnschuh. In: Die Zeit http://www.zeit.de/2010/23/Gender-Paedagogik/komplettansicht,
05.03.2016.
Vinken, Barbara (2011): Kleines Schwarzes oder Burka?
http://chrismon.evangelisch.de/artikel/2011/kleines-schwarzes-oder-burka-11491, 05.03.2016.
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