DER SPIEGEL Jahrgang 1999 Heft 37

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DER SPIEGEL Jahrgang 1999 Heft 37
Werbeseite
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DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN
Hausmitteilung
Betr.: SPIEGEL-Berlin
FOTOS: M. DARCHINGER
13. September 1999
SPIEGEL-Party im Hof der Friedrichstraße 79
Rühe, Doerry
Fischer, Leinemann
Schily, Schönbohm
W
enn der SPIEGEL sich bei der Geburt seinen Erscheinungsort hätte aussuchen können, so wäre er ohne Zweifel in Berlin zur Welt gekommen.“ Das
schrieb Rudolf Augstein 1952, als der SPIEGEL von Hannover nach Hamburg umzog. Jetzt, fast ein halbes Jahrhundert später, ist das deutsche Nachrichten-Magazin mit einem Teil seiner Redaktion in der Hauptstadt angekommen. Ein guter Anlass, um zu feiern. Vergangenen Dienstag konnte Chefredakteur Stefan Aust, 53, mit
seinen Stellvertretern Martin Doerry, 44, und Joachim Preuß, 54, etwa 900 Gäste
aus Politik, Wirtschaft und Kultur auf dem Hof der Berliner SPIEGEL-Dependance
in der Friedrichstraße 79 begrüßen. Darunter Kanzler Gerhard Schröder und viele Kabinettsmitglieder, wie Gesundheitsministerin Andrea Fischer und Innenminister
Otto Schily. Auch zahlreiche Oppositionspolitiker waren da, etwa CDU-Vize Volker
Rühe, Generalsekretärin Angela Merkel und Brandenburgs Wahlsieger Jörg Schönbohm. Der Berliner SPIEGEL-Ableger soll mehr sein als ein Büro, wie es vormals
in Bonn der Fall war. So ist auch die interne Zusammenarbeit neu organisiert:
Die verantwortlichen Berliner Redakteure gehören
gleichzeitig der Leitung ihrer jeweiligen Ressorts in
Hamburg an. Repräsentanten vor Ort sind Jürgen
Leinemann, 62, und Heiner Schimmöller, 49. An ihrer Seite stehen die Stellvertreter der Ressorts
Deutsche Politik (Hajo Schumacher, 35), Deutschland (Georg Mascolo, 34) und Wirtschaft (Jan Fleischhauer, 37). Schon jetzt ist die Hauptstadt-Dependance mit 35 Redakteuren größer, als es die früheren
Büros in Bonn und Berlin zusammengenommen
waren. Aus gutem Grund, wie SPIEGEL-Herausgeber
Augstein schon vor 47 Jahren sagte: „Berlin ist die
Aust, Schröder
Welt für ein Blatt, wie es der SPIEGEL sein will.“
Im Internet: www.spiegel.de
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Werbeseite
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In diesem Heft
Titel
Sparpaket und Steuerdebatte – Deutschland
in der Gerechtigkeitsfalle................................ 96
Die Bilanz der Deutschland AG .................... 102
SPIEGEL-Gespräch mit Finanzminister
Hans Eichel über seine Kürzungspolitik
und den Widerstand in der SPD .................... 110
Das Ende der Beglückungsmaschine
J. DIETRICH / NETZHAUT
Deutschland
Müntefering, Schröder
Das System staatlicher Fürsorge
ist unbezahlbar geworden. Die
soziale Beglückungsmaschine
läuft nicht mehr wie früher –
Gerechtigkeit muss neu definiert
werden. Mit Personalverschiebungen – dem künftigen SPDGeneralsekretär Franz Müntefering und dem neuen Verkehrsminister Reinhard Klimmt – will
Gerhard Schröder auch die
Gerechtigkeitsdebatte der SPD
in den Griff bekommen.
Die Akten des Agenten Brandt
Seite 60
Was tat Willy Brandt im Exil? Die Frage, einst von der Union mit diffamierendem
Unterton gestellt, kann nun genauer beantwortet werden. Bisher unbekannte schwedische Akten zeigen ihn als von Briten und Amerikanern geschätzten Agenten.
Kampf in allen Klassen
L. VITALE / GRAZIA NERI
Panorama: Asyl für Kurden erleichtert /
Die Streichliste der Expo ................................ 17
SPD: Der Richtungsstreit geht weiter.............. 22
CSU: Stoiber in Not ........................................ 28
CDU: Interview mit Parteichef
Wolfgang Schäuble über Erfolge und
Defizite der Union.......................................... 34
FDP: Die Partei setzt sich von
Guido Westerwelle ab ..................................... 36
Brandenburg: SPD-Landesausschuss
votiert für Große Koalition ............................. 38
Bundeswehr: Die Pläne für die Armee
der Zukunft .................................................... 42
Beamte: Lukrativer Dauerurlaub für
Berliner Staatsbedienstete .............................. 50
Bundestagspräsident: Thierse kämpft
um seine Wohnung und um seine Zukunft
in der Partei .................................................... 54
Kriminalität: Die Luftgeschäfte des
Konsuls Petersmann........................................ 56
Zeitgeschichte: Neue Aktenfunde über
Willy Brandts Agententätigkeit im Exil........... 60
Rüstung: Italiener springen bei „Taurus“ ab.. 70
Innere Sicherheit: Private Wachfirmen
haben Hochkonjunktur ................................... 76
Interview mit NRW-Innenminister Fritz
Behrens über gesetzliche
Regelungen für Hilfssheriffs............................ 80
Politiker: Ein Fotobuch zeigt die
Spuren der Macht ........................................... 86
Seiten 22, 96
Wirtschaft
Trends: Virgin mit Billigst-Preisen / Deutsche
Bank ermittelt im Geldwäscheskandal /
Bertelsmann-Vorstand über die Fusion
Viacom/CBS ................................................... 93
Geld: Telefon-Aktien im Test /
Erfolge mit japanischen Kleinstfirmen ............ 95
Konzerne: Der Krieg der Autobosse ............. 114
Fusionen: Viag und Veba planen
Milliardenverkäufe ........................................ 118
Internet: Das Online-Imperium des
Japaners Masayoshi Son ................................ 122
Unternehmer: Großbäcker Heiner Kamps
im Kaufrausch ............................................... 124
Seiten 114, 296
In der deutschen Autoindustrie herrscht eine neue Schlachtordnung: Jeder gegen jeden. VW, BMW und DaimlerChrysler machen
sich in allen Klassen Konkurrenz. Der Wettbewerb wird zum Verdrängungskampf. Ausgerechnet Auto-Designer Giorgetto Giugiaro
(Golf, Bugatti) warnt davor, dass die Fahrzeuge immer größer und
schneller werden: „Die Freiheit wird zur Verrücktheit.“
Medien
Gesellschaft
Szene: Gondel fahren in Hamburg /
Ungeahnte Freuden beim Hausputz .............. 149
Religion: Rummel um
Marienerscheinungen im Saarland ................ 150
Spielzeug: Furby und andere
sprechende Knuddeltiere .............................. 156
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Giugiaro, Mercedes-Benz SLR
Kritik am Shoah-Projekt
Seite 246
Fünf Jahre lang ließ Steven Spielberg, Regisseur von
„Schindlers Liste“, die Erinnerungen von Überlebenden des
Holocaust auf Video dokumentieren. Doch Kritiker werfen
dem Superstar aus Hollywood vor, er betreibe statt seriöser
Dokumentation Personenkult und Geschäftemacherei.
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M. LENGEMANN
Trends: Interview mit Comedy-Star
Wigald Boning / Neuer Job für Ex-„taz“Chefin Georgia Tornow ................................. 129
Fernsehen: 2000 Jahre Christentum /
„Bericht aus Bonn“ als Polit-Comedy ........... 130
Vorschau........................................................ 131
Satire: „Peep“-Show erregt den Kanzler...... 132
Trash-Offensive bei RTL 2 ............................. 134
Talkshows: Der langsame Abstieg des
ARD-Stars Reinhold Beckmann .................... 138
TV-Serien: Die „Lindenstraße“ – Versuch
eines Abschieds ............................................. 146
Spielberg
Sport
P. KASSIN
Russlands Klotz
Dom von Kaliningrad
Seite 206
Kaliningrad, Russlands Ostseeprovinz um das
frühere deutsche Königsberg, wird zu Moskaus
Bürde. Selbstzweifel und Zukunftsängste plagen die von EU-Anwärtern umschlossene Exklave. Dazu das hartnäckige Gerücht, Russland
wolle das Gebiet zur Tilgung seiner Auslandsschulden verscherbeln. Gouverneur Gorbenko dementiert und setzt gleichwohl auf die Zusammenarbeit mit Deutschland.
Seite 228
KEYSTONE PRESS ZÜRICH / DPA
Der Montblanc verliert die Balance
Montblanc-Massiv
Die verheerende Brandkatastrophe im Montblanc-Tunnel und ein gewaltiger Bergsturz haben den Biorhythmus einer ganzen Region zerstört. Eine schleichende Naturkatastrophe droht nun den Fremdenverkehr im Aosta-Tal zu ruinieren: Die NullGrad-Grenze steigt immer höher, der stabilisierende Eispanzer löst sich langsam auf.
Unter dem Einfluss der Erderwärmung gerät das Gebirgsmassiv aus der Balance.
Wirkstoff gegen Malaria
Seite 302
Gießener Forscher haben eine Substanz aufgespürt, die den Stoffwechsel der Malaria-Erreger hemmt. Das Antibiotikum tötet selbst Parasiten ab, die gegen alle bekannten Mittel resistent sind, und hat kaum Nebenwirkungen. Doch noch fehlen den
Wissenschaftlern die Geldgeber, um den Wirkstoff in ein Medikament zu verwandeln.
Fußball: Thomas Häßler blüht in
München wieder auf ..................................... 160
Prozesse: DDR-Kader brechen
ihr Schweigen................................................. 162
Military: Olympia ohne deutsche Equipe? .... 164
Spiegel des 20. Jahrhunderts
Das Jahrhundert des geteilten
Deutschland – 40 Jahre DDR:
Günter Kunert über die Ära Ulbricht......... 177
Porträts: Becher, Benjamin....................... 194
Ausland
Panorama: Russland – Ruf nach dem
Notstand / Erdbebenfalle Ägäis ..................... 197
Osttimor: Kosovo in den Tropen................... 200
Ungarn: Ball paradox am Jahrestag .............. 203
Serbien: Interview mit Patriarch Pavle
zur Notwendigkeit eines Regimewechsels ..... 204
Kaliningrad: Ostseeprovinz mit
Zukunftsängsten ........................................... 206
Arno Surminski über
das nördliche Ostpreußen ............................. 208
Interview mit Gouverneur
Leonid Gorbenko zu Gerüchten über
den Ausverkauf von Königsberg .................... 211
Großbritannien: Wehe, wenn man
krank wird..................................................... 216
USA: Ernster Rivale für Al Gore.................... 219
Europa: SPIEGEL-Gespräch mit Günter
Verheugen über die EU-Erweiterung ............ 220
Alpen: Radikale Veränderung
der Gebirgswelt im Montblanc-Massiv .......... 228
Palästina: Gaza als Ferienparadies .............. 236
Japan: Aristokratische Bastion ..................... 240
Kultur
Szene: Kampf um Goethe-Institute
geht weiter / Melissa Bank
über Frauen, die Männer fischen................... 243
Hollywood: Historiker kritisieren Steven
Spielbergs Shoah-Projekt .............................. 246
Intellektuelle: Ernst Jünger und
Carl Schmitt – Briefe aus 53 Jahren .............. 268
Bestseller..................................................... 270
Theater: Intendant Klaus Bachler über
seinen Start beim Wiener Burgtheater........... 274
Literatur: Das Romandebüt von
Liv Ullmanns Tochter Linn............................ 278
Kino: Die Film-Biennale in Venedig .............. 282
Wissenschaft + Technik
Seite 132
Mit einer sexsüchtigen Gummi-Puppe von
Kanzler Gerhard Schröder feierte Nadja ab
del Farrag ihr Debüt als „Peep“-Moderatorin – und zugleich die Rückkehr in die
Schlagzeilen der Boulevard-Presse: „PfuiTV“, dröhnte „Bild“. Das Kanzleramt war
empört. Der Schmuddelsender RTL 2 ruderte zurück. Auf das Pfui folgte das Hui
der öffentlichen Debatte. Wieder mal fragte sich die Nation erregt: Was darf Satire?
Reibereien zwischen Politikern und HumorFabrikanten haben seit der Ära Adenauer
eine lange Tradition in Deutschland.
Farrag
RTL
Pfui und Hui
Prisma: Fingerabdruck als Autoschlüssel /
Rückzug der Russen aus der Antarktis .......... 285
Prisma Computer: Game-Boy-Wettkämpfe
per Handy / Versteigerung
von Babys und Nieren im Internet ................ 286
Militärtechnik: Datennetze – Schlachtfeld
im Krieg der Zukunft .................................... 288
Tiere: Mordlust unter Delfinen ..................... 292
Automobile: SPIEGEL-Gespräch mit
Designer Giorgetto Giugiaro über
Kastenautos und Protzkarossen .................... 296
Medizin: Wie Gießener Forscher ein
Malaria-Mittel entdeckten............................. 302
Briefe ............................................................... 8
Impressum...............................................14, 308
Leserservice ................................................ 308
Chronik......................................................... 309
Register........................................................ 310
Personalien .................................................. 312
Hohlspiegel/Rückspiegel............................ 314
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Briefe
„Wer heute mehr Geburten fordert,
hat in 60 Jahren noch mehr Alte,
deren Unterstützung wiederum
Bevölkerungswachstum erfordern
würde. Ist es da nicht richtig und an
der Zeit, dieses Kettenbriefsystem des
Generationenvertrags zu beenden?“
Stefan Hiemer aus Frankfurt am Main zum Titel „Die Baby-Lücke“
Eine zynische Frechheit
Nr. 35/1999, Titel: Die Baby-Lücke –
Der Geburtenrückgang erzwingt eine radikale
Rentenreform
Ich kann das ewige Gekreische über die
kontinuierlich sinkenden Geburtenraten
nicht mehr hören. Sicherlich ist ein zahlenmäßiger Rückgang nicht von der Hand
zu weisen, aber die bedrohlichen Auswirkungen sind rein statistisch. Allein die Geburt von Kindern löst keine Probleme. Kinder brauchen eine Zukunftsperspektive
und später Ausbildungs- und Arbeitsplätze.
Diese gibt es in Deutschland jedoch kaum,
und daran wird sich in absehbarer Zeit
auch nichts ändern.
Delmenhorst
Thilo Braun
Die Jungen zahlen für die Alten? Das Gegenteil ist doch wohl der Fall: Die meisten
Alten haben ihren Kindern eine sorglose
Kindheit und eine gute Ausbildung finanziert! Und damit nicht genug: Die Jungen
sind schließlich die lachenden Erben.
Holzkirchen (Bayern)
Max Brandes
Bei 82 Millionen Einwohnern und einem
Heer von 10 Millionen Arbeitslosen von Arbeitskräfteknappheit zu sprechen, die in irgendeiner fernen Zeit mal auf uns zukommen könnte, ist fast schon eine zynische
Frechheit. Der Grundirrtum dieses Humbugs von der angeblichen Baby- und Zuwanderungslücke ist immer der gleiche: Die
Finanzierung von sozialen Sicherungssystemen hat mit der Zahl der geborenen
Kinder nur sehr wenig, mit der Zahl der
(sozialversicherungs- und steuerpflichtigen)
Arbeitnehmer aber alles zu tun. Diese finanzieren unsere Sozialsysteme und nicht
das siebte Sozialhilfe beziehende Zuwandererkind ohne Hauptschulabschluss mit
lebenslanger Sozialhilfekarriere.
Oberhausen
Jürgen Voß
Es zeugt schon von unverschämtem Anspruchsdenken, wenn die von Ihnen erwähnte Familie Kremer sich mit 4000 Mark
Monatseinkommen arm rechnen darf. Ich
weiß nicht, was die Herrschaften Kremer
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meinen, was ein Single monatlich verdient.
Es ist inzwischen obszön, mit welcher Aggressivität Eltern versuchen, im wahrsten
Sinne des Wortes ihre Kinder zu Geld zu
machen und nach sozialistischen Enteignungsmustern zu ihren Gunsten schreien.
Selbstverständlich wird nach unserem
merkwürdigen Steuerrecht das
Nichtstun der Ehefrau mit Steuerklasse III subventioniert, während der Single mit seiner Steuerklasse I seine Arbeit hoch
besteuert sieht.
London
Paul Wallace
Autor des Buchs „Altersbeben“
Was dringend Not tut, ist eine gesellschaftliche Aufwertung desjenigen, der bereit ist,
seine Zeit den Kindern zu widmen. Wie
kommt es, dass derjenige, der erwerbsmäßig
acht Stunden im Büro sitzt, ein verlässliches Sozialprestige genießen kann, während
die Mütter, die – nicht erwerbstätig – in der
Regel deutlich länger etwas leisten müssen,
in dem Gefühl leben, in der Sozialskala unten angekommen zu sein?
Schönhorst (Schlesw.-Holst.)
Dr. Gerd Dingebauer
Es ist nicht so wichtig, die Bevölkerungszahl stabil zu halten, sondern die Produktivität der Wirtschaft aufrechtzuerhalten. Dieses könnte man durch Programmierer erreichen, die den deutschen E-commerce
Düsseldorf Ludger Hagenlücke
Als spielten bei der Entscheidung für oder gegen Kinder
nicht viele andere individuelle,
biografisch bedingte Gründe –
außer den rein wirtschaftlichen
– eine Rolle. Dass es durchaus
Frauen und Männer gibt, die
aus Verantwortungsbewusstsein Großeltern, Enkel: Reicher als alle Generationen vor uns
keine Kinder in die Welt setzen,
da sie nicht in stabilen Partnerschaften le- Sektor stärken. Es werden also nicht einfach
ben und einem Kind keine aufreibenden nur mehr Menschen gebraucht, sondern in
Trennungssituationen zumuten wollen, und bestimmten Wirtschaftszweigen benötigte
die außerdem auch ohne Kinder nicht un- Arbeitskräfte werden gesucht.
bedingt die große berufliche Karriere ma- Berlin
Christoph Mäulen
chen, scheint bei den Schreibern des Artikels nicht ins Gewicht zu fallen.
Der erste Schritt, die Geburtenrate zu erhöhen, wäre eine Regulierung des ausgeHannover
Ute Nicolaysen
uferten Immobilienmarktes zu Gunsten
Erforderlich ist eine drastische Neustruk- von Familien mit mehreren Kindern.
turierung der Arbeit, die Frauen und Män- Gronau (Nrdrh.-Westf.)
Karl Efkemann
nern größere Flexibilität erlaubt, Arbeit
und Kinder – die Investition der Gesell- Wir sind reicher als alle Generationen vor
schaft in die demografische Zukunft – un- uns. Aber wir können uns keine Kinder
ter einen Hut zu bringen. Gleichzeitig muss mehr leisten – und bald können wir uns
Vor 50 Jahren der spiegel vom 15. September 1949
Adenauer spürt schon den Wind einer „Gegenregierung“ Im Bundesrat
formiert sich eine große Koalition aus CDU, SPD und FDP. Traditionelle
Ziegelbauweise gewinnt gegen Schüttbau mit Beton Nur 450 Millionen Mark für den öffentlichen Wohnungsbau. Tourneepremiere der
Ex-Ufa-Schauspielerin Lilian Harvey in Koblenz Jubelndes Publikum.
Deutsche Uraufführung des sowjetischen Films „Stalingrader
Schlacht“ in Ost-Berlin Eine Hymne auf Stalin. Der Komponist Richard
Strauss starb 85-jährig Zum Abschied: „Rosenkavalier“.
Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter http://www.spiegel.de
Titel: Der neu gewählte Kanzler Konrad Adenauer
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C. BAYER / MAURITIUS
SPIEGEL-Titel 35/1999
das Arbeitsleben flexibel verlängert statt
generell verkürzt werden, während sich
auch die Lebensspanne verlängert.
Werbeseite
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Briefe
auch keine Eltern oder Großeltern leisten.
Die Jugendarbeitslosigkeit nimmt zu, aber
weil wir nicht noch mehr zukünftige Arbeitslose gebären, werden die „Aussichten
auf Wachstum und Wohlstand“ schlechter.
Zu solchen absurden Schlussfolgerungen
führt der Geldfetischismus unseres Wirtschaftssystems. Ihre Berechnungen sind
aber unsinnig, weil die Menschen nicht nur
älter werden, sondern auch länger gesund
und arbeitsfähig bleiben.
Mehr Tatsachentreue walten lassen
Neun Jahre Zeit ließ sich Egon Krenz, bis er
eine revidierte Fassung seiner Lesart vom
Ende des SED-Staates auflegen ließ. 1990 geht
der DDR-Dampfer bei ihm noch mit unüberhörbarer apotheotischer Begleitmusik unter:
,,Wenn Mauern fallen“ hieß sein Erstling, als
sei das deutsche Zueinander des Autors erstrebtes Lebensziel und die Bestimmung der
DDR gewesen. Die Erinnerungen heute sind
schlichter – für die diesjährige Gedenkschwemme gut getimt – „Herbst 89“ getitelt.
Der im SPIEGEL abgedruckte Auszug enthält, wenn auch nichts wesentlich Neues, so
doch mehr Details, die Hilflosigkeit, Querelen
und Hickhack in der Parteispitze während
der Zeit des finalen Siechtums der DDR belegen. Honecker ist nicht mehr der mit leiser
Wehmut bedachte tragische Patriarch, sondern der starrsinnige Rumpelstilz, der mit seiner Verbohrtheit Krenz „verzweifeln“ lässt
oder ,,schmerzlich enttäuscht“. Mancher kann
ohne Übervater nicht leben. So wird zu meiner Überraschung ein väterlicher Mielke vorgeführt. Als sich Krenz in den Abendstunden
des 9. November dafür entscheidet, die
Schlagbäume hochgehen zu lassen, ist der
Stasi-Chef dabei. Original-Ton Krenz: ,,Mielke ist fast 30 Jahre älter als ich. Leise, sehr
nachdenklich, sagt er: ,Hast Recht, mein
Jung.‘“ Verklärung für den alten Fuchs, der
längst um sein eigenes Ende bangt (Wenige
Tage später wird er mich fragen, ,,werdet ihr
uns nun umbringen lassen?“).Aufschlussreich
ist, dass Krenz zu jener Zeit weiter außerordentlich engen Kontakt zu FDJ-Funktionären
hielt, viel intensiver, als mir das in unserer
gemeinsamen konspirativen Phase im Spät-
Stockholm
Jacob von Uexküll
Gründer des Alternativen Nobelpreises
Wer keine Kinder großgezogen hat, muss
sich selbst um seine Altersversorgung kümmern. Schließlich genießen Kinderlose
auch einen erheblich höheren Lebensstandard als die Eltern mehrerer Kinder.
Pöttmes (Bayern)
Bruno Haberger
Früher haben Oma und Opa einen oft
großen Anteil an der Kindererziehung
übernommen und waren eine feste und
verlässliche Größe im Familienalltagsstress.
Das ist heute out und hat sichtbare Folgen. Überforderte Mütter, hin und her gerissen zwischen beruflicher Zukunftsangst,
Mutterfreuden und totaler Erschöpfung,
schwören sich nach dem ersten Baby: Nie
wieder!
Offenbach
Kirstin Goth
Müssen die Arbeitstätigen gesunde Rentner
vollständig ernähren, oder gäbe es Modelle für einen schrittweisen Ausstieg aus dem
Erwerbsleben? Könnten nicht rüstige Rentner einen Teil der Pflege der Pflegebedürftigen übernehmen und sich dadurch
spätere Ansprüche auf zusätzliche Pflege
durch andere Rentner sichern?
München
Uli Sommer
konntet Ihr das nur unserem deutschen
Gorbatschow antun?
Liebe Bärbel Bohley, lieber Gerd Poppe,
lieber Rainer Eppelmann, lieber Markus
Meckel. Jetzt könnt Ihr endlich lernen, wer
die wirklichen Reformer vom Herbst 1989
waren. Nicht Ihr beziehungsweise das
Neue Forum, die Initiative für Frieden und
Menschenrechte, der Demokratische Aufbruch, die SDP oder die vielen anderen,
die gegen das SED-Regime aufgestanden
sind, habt die Geschichte in Bewegung gesetzt. Nein, Egon und sein Club der alten
Männer aus dem Politbüro waren es gewesen. Egon hat selbstlos und uneigennützig den bösen Erich entmachtet, die
Mauer geöffnet und Systemgrenzen überwunden. Hättet Ihr ihn und seine revolutionären Genossen nur gelassen – dann
wäre die DDR bestimmt noch zum Arbeiter-und-Bauern-Paradies geworden. Wie
konntet Ihr ihn nur dabei stören? Wie
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Bonn
Udo Baron
Waldheimer Prozesse, tausende Verschleppte, hunderte Mauertote, eine ganze
SICHOV / SIPA
Unerfreuliche Vergangenheit
Nr. 35/1999, Zeitgeschichte: Reue und Rechthaberei
beim letzten Mann der DDR-Regimes;
Egon Krenz erinnert sich an den Herbst 1989
DDR-Staatsratsvorsitzender Krenz (1989)
Ein deutscher Gorbatschow?
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C. HIRES / GAMMA / STUDIO X
herbst ’89 bekannt und
bewusst war. Offensichtlich sollte sich
früher oder später daraus die neue Elite rekrutieren. Die Fortsetzung der DDR als FDJStaat, eine verwegene
Perspektive. Wieder
aufgewärmt wird der
Vorwurf an meine
Adresse, den Termin
der Maueröffnung un- Schabowski
zulässigerweise vorfristig verkündet zu haben. Tatsache ist, dass der
Text der Regierungsverordnung über Reiseund Ausreisefreiheit, den ich in der Pressekonferenz verlesen habe, keinen Sperrfristvermerk aufwies. Krenz hatte mir das Papier
zudem ohne jegliche Bemerkung über eine
Sperrfrist übergeben. Deshalb war die Frage
eines Journalisten nach dem Inkrafttreten der
Regelung von mir nur an Hand ihres Textes zu
beantworten: ,,Ab sofort“. Außerdem kann
man nicht mehrere hundert News-Vertreter
der Weltpresse eine derartige Jahrhundertnachricht schmecken lassen und ihnen dann
vorschreiben: ,,Runterschlucken dürft ihr sie
erst am nächsten Morgen.“ Der Meinung
konnte nur sein, wer diese Korrespondenten
mit einer ein- und ausknipsbaren Befehlspresse des DDR-Typus verwechselte. – Vielleicht lässt Egon im nächsten Buch noch mehr
Tatsachentreue walten. Für das Eingeständnis
seines Fehlers braucht er ja keine Parteistrafe mehr zu befürchten, und Mielke hat auch
nichts mehr zu melden.
Berlin
Günter Schabowski
Politbüromitglied der DDR (1984 bis 1989)
Bevölkerung vor der Welt weggesperrt, Militarismus schon im Kindergarten, übelster
Menschenhandel Jahre und Jahrzehnte vorher – alles vergessen? Oder gerechtfertigt?
,,Honecker und ich haben schließlich den
Kalten Krieg nicht erfunden“ (Krenz).
Steinheim (Bad.-Württ.)
Walter Heinlein
Am 8. Oktober will Herr Krenz an einer
„Routinesitzung“ der Staatssicherheit teilgenommen haben. Zu dieser Zeit befanden
sich Teile der NVA seit sechs Tagen in erhöhter Gefechtsbereitschaft, und es waren
tausende vollbewaffneter Soldaten im Einsatz, um die Durchfahrt der Züge aus der
Prager Botschaft abzusichern, die Jubelfeiern am 7. Oktober abzusichern und am
9. Oktober in Bereitschaft zu stehen, um
die Konterrevolution auf der Montagsdemo in Leipzig gemeinsam mit den russischen Kampfgefährten auf Befehl niederzuschlagen. So lauteten die Einsatzbefehle. Entweder ist Krenz von Alzheimer
befallen, oder er möchte die unerfreuliche
Vergangenheit etwas freundlicher darstellen, kurz sich und alle Leser belügen.
Budapest
d e r
Olaf Stuewe
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Briefe
te 19, 20457 Hamburg)
Meerbusch (Nrdrh.-Westf.) Martin Krolzig
Landespolizeipfarrer der Ev. Kirche im Rheinland
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TITELILLUSTRATION: Nancy Stahl für den SPIEGEL
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zeitig, quasi ersatzweise, erschien am
Waschtischstecker eine fußballgroße Lichtkugel, die sich fußbodenwärts bewegte, auf
dem Teppichboden in Richtung Fenster
weiterlief und dort mit einem leisen Zischgeräusch zerplatzte. Das dauerte circa drei
Sekunden. Aus der geschätzten Wegstrecke
von acht Metern ergibt sich die Geschwindigkeit von 2,7 Metern pro Sekunde –
tatsächlich die eines Joggers. Voraussetzung für den Kugelblitz war die – einem
Faradayschen Käfig ähnliche – totale
Kunststoffauskleidung der „Wohnzelle“,
durch die die natürliche Entladung des
durch Kurzschluss entstandenden elektrischen Potenzials verhindert wurde.
Hagen
Prof. Dr. Jürgen Stoffregen
Der Kaiser ist ja völlig nackt!
Nr. 35/1999, Schriftsteller: SPIEGEL-Gespräch
mit US-Bestsellerautor Tom Wolfe
über seinen neuen Roman „Ein ganzer Kerl“
Es kann doch kein SPIEGEL-Reporter so
gut sein, dass es Tom Wolfe nicht gelänge,
ihn zu verarschen. Was nun den Leithund
betrifft, den kann
man leicht ermitteln,
und zwar so: Seit
Wochen rennen wir
uns die Füße platt zu
den Buchhandlungen, um endlich jeden Preis für den
neuen Tom Wolfe zu
zahlen. Wann haben
wir das zuletzt für
Norman Mailer getan? Was nicht heißen soll, dass dieser
Leithund uns einiges
geschrieben hat, das
man in diesem Leben nicht besser maSchriftsteller Wolfe
chen kann. Doch leider, leider, Leithunde werden früher oder
später von jüngeren, unverbrauchten abgelöst. Besonders erfreulich für Kunstliebhaber: Dieses weiß gekleidete Kind wagt es
als eines der ganz wenigen zu sagen: Aber
der Kaiser ist ja völlig nackt!
MUSCIONICO / CONTACT
Es ist nicht der Arbeitsanfall oder
der Stress, der dem einzelnen Beamten auf Dauer schwer fällt, als
vielmehr die psychische Seite des
Berufs, die das Unterbewusstsein
nicht loslassen kann. Die Mehrheit
der PolizistInnen schleppen Erlebnisse mit sich herum, die nicht verarbeitet wurden. Zum beruflichen
Alltag gehören auch die Schattenseiten menschlichen Daseins – Elend,
Leid, Dreck und Gestank. Mit den
Wechselbädern der Gefühle müssen
PolizistInnen allein klarkommen.
Eben noch mit einem verwesenden
Toten zu tun gehabt, um im nächsten Moment einen Einbruch im Villenviertel aufzunehmen. Wer dabei
nicht funktioniert, wird trotzdem
Neusser Polizistin Dreisbach
schlecht beurteilt. Fragen nach der
„Die Gründe liegen im persönlichen Bereich“
Ursache für ein Leistungstief werden
nicht gestellt. Es sind Vorgesetzte, die wenig bis gar nichts über Menschenführung
Wechselbäder der Gefühle
wissen, die eine notwendige Kontrolle verNr. 35/1999, Polizei: Tragische Selbstmorde
hindern, dafür aber Nebensächlichkeiten
auf einer Neusser Wache
kontrollieren. Wer den Korpsgeist aufDass sich die Fälle in diesem einen Polizei- bricht, hat bei der Polizei nichts zu lachen.
revier häufen, kann Zufall sein. Und wenn Der wird gemobbt, bis er vor die Hunde
es kein Zufall sein sollte, wem soll man dann geht, wenn er keine Unterstützung erhält.
die Schuld geben? Den Kollegen, den Vor- Vermeintliche Verräter erhalten Morddrogesetzten etwa, wie hier beschrieben? Das hungen, oder Frauen werden überdurchfinde ich unglaublich. Ist nicht jeder auch für schnittlich oft sexuell belästigt bis hin zur
sich selbst verantwortlich? Man kann immer Nötigung. Das kollegiale Miteinander muss
nur so viel tun, wie der Mensch selbst wil- einen höheren Stellenwert erhalten.
lens ist, sich helfen zu lassen. Warum sich Wiesbaden
Jürgen Korell
letztlich die Polizeibeamten umgebracht haBAG Kritischer PolizistInnen
ben, wird niemand je wissen, wir können sie
nicht mehr fragen. Wir können jedoch eins
tun, das Problembewusstsein für den Suizid
Mit leisem Zischgeräusch zerplatzt
in jedem Einzelnen schärfen. Schließlich
Nr. 35/1999, Prisma: Wie entstehen Kugelblitze?
sterben in Deutschland mehr Menschen an
Suizid als an den Folgen eines Verkehrsun- Man kann den Kugelblitz auch ohne „ein
falls, und alle 45 Minuten nimmt sich ein kleines Schwarzes Loch“ reproduzieren.
Mensch das Leben.
In einem Motel in Palm Springs hatte ich
den für US-Stecker erforderlichen Adapter
Hannover
Dörte Correns
für meinen Rasierapparat vergessen und
Ich kenne keinen anderen Bericht und kei- mir im Supermarkt ersatzweise zwei Krone Analyse, die die innere Verfassung der kodilklemmen zur improvisierten StromPolizei so auf den Punkt bringt. Die Polizei versorgung besorgt, um mich für einen
wird nicht geführt, sondern verwaltet. Ab- Abendempfang zu rasieren. Als sich dabei
wiegeln ist oberstes Handlungsprinzip. Indiz die Klemmen berührten, erloschen im gedafür ist die stereotype Mitteilung der poli- samten Motel-Flügel die Lichter. Gleichzeilichen Pressestellen nach Suiziden: „Die
Gründe liegen im persönlichen Bereich.“
Die Polizei agiert hilflos, wenn ihre WerkVERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe für Panorama,
zeuge wie Ermittlungs- und DisziplinarSPD,CDU,FDP,Bundeswehr,Zeitgeschichte,Politiker: Michael Schmidtmaßnahmen nicht mehr greifen. Die SuiziKlingenberg; für CSU, Brandenburg, Beamte, Bundestagspräsident, Kride von Beamten sind die Fieberkurve des
minalität, Rüstung, Innere Sicherheit: Ulrich Schwarz; für Trends, Geld,
Titel, Konzerne, Fusionen, Internet, Unternehmer, Satire, Talkshows,
Unternehmens Polizei. Doch eine BestandsChronik: Gabor Steingart; für Fernsehen,TV-Serien,Szene,Spielzeug,Inaufnahme der eigenen Unternehmenskultur
tellektuelle,Bestseller,Theater,Literatur,Kino: Dr.Mathias Schreiber; für
ist bisher unterblieben. Deshalb erfordert
Fußball, Prozesse, Military: Alfred Weinzierl; für Spiegel des 20. Jahrder innere Zustand der Polizei eine Reform,
hunderts: Dr.Dieter Wild; für Panorama Ausland,Osttimor,Ungarn,Serbien,Kaliningrad,Großbritannien,USA,Europa,Alpen,Palästina,Japan:
deren Schlüsselfrage lauten muss: Wie geDr.Olaf Ihlau; für Prisma,Militärtechnik,Tiere,Automobile,Medizin: Johen wir miteinander um? Solange der Polihann Grolle; für die übrigen Beiträge: die Verfasser; für Briefe, Register,
zei der Mut zur Führung fehlt, wird sie mit
Personalien, Hohlspiegel, Rückspiegel: Dr. Manfred Weber; für Titelbild:
Suiziden wie denen in Neuss auch künftig
Stefan Kiefer; für Layout: Wolfgang Busching; für Hausmitteilung: HansUlrich Stoldt; Chef vom Dienst: Thomas Schäfer (sämtlich Brandstwiekonfrontiert werden.
Oberhausen
Herta Holtappel
Ich danke Herrn Hüetlin und dem Leithund Mr. Wolfe für das beste und amüsanteste Interview der jüngeren Geschichte.
Mülheim/Ruhr
Daniel Lohse
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit Anschrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen.
Eine Teilauflage dieser SPIEGEL- Ausgabe enthält einen
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Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe ist ein Prospekt
der Deutschen Bank, Frankfurt, beigeklebt. Einer Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe liegen Beilagen der
Firmen Pro. Idee, Aachen, Expo 2000, Hannover, Spotlight, Planegg, und Hewlett Packard, Böblingen, bei.
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Deutschland
Panorama
KURDEN
Mehr Chancen
auf Asyl
E
in neuer Bericht des Auswärtigen
Amtes über die Menschenrechtslage in der Türkei eröffnet Kurden bessere Chancen auf Asyl in
Deutschland. Das bisher unveröffentlichte 33-seitige Dossier schildert
detaillierter als der vorausgegangene
Bericht die politische Lage, die
T. KLINK
Türkische Militäraktion gegen Kurden (1996)
Feier zum kurdischen Neujahrsfest (in Stuttgart)
„Menschenrechtspraxis“, das Verhalten von Justiz und Sicherheitsapparaten in der Türkei und beschreibt eine Fülle prekärer Einzelfälle. Die Entscheidung, ob einem Bewerber Asyl
gewährt oder ob er abgeschoben wird, liege nun „da, wo sie
hingehört, bei den Gerichten“, sagt der grüne Staatsminister
Ludger Volmer: „Die sollen sich zusätzlich noch aus eigenen
Quellen schlau machen.“
Gleichwohl eröffnet die Faktensammlung den Richtern die
Möglichkeit, großzügiger Asyl zu gewähren. Zwar geht das
Außenamt weiter davon aus, dass es in der Türkei keine „Gruppenverfolgung“ gibt, die den Kurden als ethnischer Gruppe automatisch Anspruch auf Asyl in Deutschland gewährt. Die ge-
schilderten Fälle aber machen klar, dass die türkischen Behörden eingreifen, wenn sich jemand für kurdische Belange einsetzt. Selbst Personen, die lediglich „Forderungen nach kultureller Eigenständigkeit“ der Kurden erheben, so der Bericht,
„riskieren, wegen ‚separatistischer Propaganda‘ bestraft zu
werden“ – mit bis zu lebenslanger Haft.
Das Dossier räumt weiterhin ein, dass bedrohte Kurden in der
Türkei eine „innerstaatliche Fluchtalternative“ besäßen; in
westtürkischen Großstädten wie Istanbul sind Kurden weniger
gefährdet – eigentlich ein Grund, ihnen Asyl in Deutschland zu
verweigern. Das gelte jedoch nicht für jeden und nicht in jedem
Fall: Es könne „im Einzelfall durchaus zutreffen“, so das Papier, dass es für Kurden in der Türkei selbst „keine Auswegmöglichkeit“ mehr gebe. Zudem räumt das Auswärtige Amt ein,
dass abgeschobene Asylbewerber nach ihrer Rückkehr in die
Türkei misshandelt wurden; das könnte Abschiebungen künftig erschweren.
Erstmals wirkten Mitarbeiter des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge an den Türkeiberichten nicht
mehr mit. Staatsminister Volmer hatte es als „völlig inakzeptabel“ bezeichnet, dass die Berichte von Mitarbeitern jener
Behörde des Innenamtes mitgeschrieben würden, die später
über die Asylanträge von Kurden entscheide.
beim Wachpersonal, den eine Milliarde
teuren Bauten auf dem Expo-Gelände
und bei der Werbung machen. Die Einschnitte, heißt es bei der Expo-Führung, seien „schmerzhaft“ und würden
ie Weltausstellung Expo 2000 in
zum Teil für die Besucher der WeltHannover hat ihr Budget um knapp
ausstellung spürbar werden. „Misslich“
80 Millionen Mark gesenkt. Allein beim
sei zudem die Verzögerung
so genannten Themenpark, dem
bei der „dringend notwendiHerzstück der Ausstellung, wergen“ Werbekampagne, die nun
den 10,5 Millionen Mark gestristatt im Herbst erst Anfang
chen. Das Kulturprogramm soll
nächsten Jahres starten könum vier Millionen Mark gekürzt
ne. Damit seien nun „alle
werden, heißt es in einem interEinsparungspotenziale ausgenen Planungspapier, das Ende
schöpft“.
des Monats im Aufsichtsrat verDie Gesellschafter der Expo –
abschiedet werden soll. Weitere
Bund, Land Niedersachsen und
Abstriche will die Gesellschaft
Expo-Logo
W E LTAU S S T E L L U N G
Expo speckt ab
D
d e r
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Hannover – hatten zuvor Einsparungen im Budget der Weltausstellung verlangt und damit Forderungen der ExpoFührung abgelehnt, Finanzreserven in
Höhe von 200 Millionen Mark schon in
diesem Jahr anzugreifen.
Zitat
»Was ist für Sie das
größte Unglück?« –
»Unverschuldete Arbeit.«
Ortwin Runde, Hamburgs Erster Bürgermeister, im Fragebogen der „FAZ“
17
Panorama
M. AUGUST
Rühe-Examensarbeit (Ausrisse), Rühe im Wahlkampf in Schleswig-Holstein
WA H L K A M P F
Rühes alte Zitate
V
ergangene Woche feuerte die SPD-Landtagsfraktion in Kiel
ihren Sprecher Thomas Röhr, weil der versucht hatte, die
Examensarbeit des Spitzenkandidaten der CDU für die Landtagswahl in Schleswig-Holstein, Volker Rühe, zu besorgen – der
Mann hätte sich die Mühe und den dann folgenden Ärger
sparen können.
Rühes „schriftliche Arbeit zur Vorlage bei der pädagogischen
Prüfung für das Lehramt an Gymnasien“ vom Januar 1970 ist
aus heutiger Sicht zwar kein Meilenstein der Pädagogik – wer
sie aber für den Wahlkampf benutzen will, muss lange nach
Zitaten suchen, die er publikumswirksam aus dem Zusammenhang reißen könnte. In dem Werk (Titel: „American English
– Ein Unterrichtsversuch in einer 11. Klasse“) überprüft Rühe
beispielsweise die Lehrpläne und Lehrer-Ausbildungsordnun-
STIFTUNGEN
Billiger beraten
Z
schaft und Politik (SWP), bislang im
bayerischen Ebenhausen angesiedelt,
und das Kölner Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale
Studien billigere Gebäude in Berlin beziehen, etwa den Bendler-Block. Beide
sollten eigentlich im Rahmen des Sparprogramms den Umzug verschieben
und so in den kommenden zwei Jahren 28,1
Millionen Mark einsparen. Mitglieder des
SWP-Stiftungsrats, darunter Hans-Ulrich Klose
(SPD), Volker Rühe
(CDU) und Hermann
Otto Solms (FDP), hatten den Kanzler vorige
Woche gebeten, den
Umzugsstopp aufzuheben. Durch die Nähe
zum Parlament, so ihre
Argumentation, könne
die Beratung der Abgeordneten wesentlich erleichtert werden.
P. LANGROCK / ZENIT
wei Institutionen für Politik-Beratung dürfen nun womöglich doch
nach Berlin umziehen. Als Kompromiss
ist in Sicht, dass die Stiftung Wissen-
gen einiger Bundesländer darauf hin, ob sie dem amerikanischen Englisch den angemessenen Stellenwert einräumen. Und
siehe da: Das SPD-regierte Hamburg wird diesbezüglich als
„recht fortschrittlich“ gelobt, das CDU-geführte niedersächsische Kultusministerium getadelt.
Zudem berichtet Rühe davon, dass er bei einem Amerikabesuch
wegen seines Oxford-Englisch verspottet wurde, da dies in den
USA als „affektiert“ gelte. Später beschreibt er in entwaffnender Offenheit, dass seine Schüler von den Aufgaben oft
überfordert waren. Und wenn man den Zusammenhang weglässt, outet sich Rühe sogar als ganz autoritärer Knochen: „Der
Lehrer muss allerdings sehr stark führen.“ Rühe-Wähler finden
den Satz wahrscheinlich sogar hochaktuell.
SPD-Sprecher Röhr hatte die Arbeit nicht erhalten, ihm fehlte die Zustimmung des Autors. Rühe hätte aber ohne weiteres
erlauben können, die Arbeit bei der Hamburger Schulbehörde
abzuholen. Dort nämlich liegt sie nach Auskunft der zuständigen Leiter gar nicht mehr vor: Nach zehn Jahren Aufbewahrungszeit wandern die Schriftstücke in den Schredder.
Bendler-Block in Berlin
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d e r
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AT O M AU S S T I E G
Grüne Hoffnung
J
oschka Fischer und Jürgen Trittin
wollen an diesem Freitag mit den
Chefs der vier größten Atomkonzerne
einen Kompromiss zum Ausstieg aus
der Nuklearenergie suchen. Die Grünen
wollen vor allem herausfinden, ob die
Strombosse willens sind, der Ökopartei
entgegenzukommen. Die wäre möglicherweise bereit, sich von den rechtlich
problematischen einheitlichen Laufzeiten zu verabschieden, falls die Strombosse im Gegenzug die kurzfristige
Stilllegung einiger Meiler akzeptierten.
Den von Wirtschaftsminister Werner
Müller im Juni ausgehandelten Ausstiegsfahrplan mit Reaktorlaufzeiten
von mindestens 35 Jahren lehnen die
Grünen ab, weil bisher kaum ein kommerzieller Reaktor derart lange Betriebszeiten erreichte. Außerdem würde
in der laufenden Legislaturperiode kein
einziges Kraftwerk stillgelegt.
Deutschland
R AU S C H G I F T
Dealer beim BGS
B
ACTION PRESS
eim Bundesgrenzschutz (BGS) häufen sich die Affären. Gegen einen
wachsenden Kreis von Beamten in
Frankfurt am Main ermitteln Staatsanwälte wegen Drogendelikten. Drei der
Tatverdächtigen sitzen in Untersuchungshaft, gegen rund zwei Dutzend
weitere laufen Strafverfahren. Den mutmaßlichen Haupttätern wird vorgeworfen, von Frankfurt aus einen organisierten Handel mit Kokain, LSD und Ecstasy
betrieben zu haben. BGS-Leute, die aus
der ehemaligen Bahnpolizei übernommen wurden, sollen zudem im Frankfurter Bahnhofsviertel Dealern Stoff abgenommen und dann einbehalten haben.
In Frankfurt (Oder) wurden zwei BGSPolizeimeister Anfang des Monats vorübergehend festgenommen und vom
Dienst suspendiert; Mitglieder einer internationalen Schleuserbande hatten
ausgesagt, die Beamten, die am Grenzübergang „Stadtbrücke“ eingesetzt waren, hätten sich für gezieltes Wegsehen
mit Rauschgift bezahlen lassen.
In der BGS-Inspektion Cuxhaven laufen
disziplinarische Ermittlungen gegen
13 Beamte. Sie sollen an Bord der Patrouillenboote BG 22 und
BG 23 Zigaretten und Alkohol geschmuggelt haben
oder Mitwisser gewesen sein.
Die Kollegen vom Zoll hatten
unter anderem 4980 Zigaretten und 23 Liter Schnaps aufgestöbert. Die Abberufung
des zuständigen Amtsleiters
gilt nun BGS-intern als beschlossene Sache. Bundesinnenminister Otto Schily
(SPD) stellt klar: „Wir werden keine Unregelmäßigkeiten dulden.“
SPD
„Sozialismus streichen“
Markus Meckel, 47, SPD-MdB und
Ex-DDR-Außenminister, über
die Programmdebatte seiner Partei
SPIEGEL: Sollte die SPD in ihrem
neuen Programm den Begriff
„Sozialismus“ tilgen?
Meckel: Ja, Sozialismus ist ein
missverständlicher Begriff. Er
taugt vielleicht für Debatten linker Theoretiker, aber nicht als
Zielvorstellung für die SPD.
SPIEGEL: Die Forderung nach
„demokratischem Sozialismus“
ist doch SPD-Tradition.
Meckel
BILDUNG
Schutz für Universitäten
B
ayerns Wissenschaftsminister Hans
Zehetmair (CSU) will den Begriff
Universität besser schützen: „Wer nur
ein oder zwei Fächer anbietet und gerade mal eine Hand voll Studenten ausbildet, der darf sich nicht als Universität aufspielen.“ Seine Kritik richtet
d e r
Meckel: Die Partei muss sich mit dieser
Tradition auch auseinander setzen und
kann sich zu ihr bekennen. Die Menschen setzen heute aber Sozialismus mit
DDR gleich, mit dem gescheiterten
kommunistischen Regime. Es ist für eine
Partei sinnlos, an einem komplett diskreditierten Begriff festzuhalten, der immer erst erklärt werden muss.
SPIEGEL: Den Sozialismus wollen Sie der PDS überlassen?
Meckel: Ja, so wird die Distanz
zur PDS deutlich, die sich der
DDR und dem gescheiterten
System bis heute verbunden
fühlt. Wir Sozialdemokraten
sollten uns soziale Demokratie
auf die Fahnen schreiben. Da
weiß jeder, was gemeint ist.
M. DARCHINGER
Grenzschützer (in Frankfurt/Oder)
sich vor allem gegen die in den vergangenen Jahren gegründeten kleinen Privat-Hochschulen wie die International
University Bruchsal mit derzeit rund
120 Studenten und 2 Studienfächern.
Zehetmair plant, für die Bezeichnung
Universität und nach Möglichkeit auch
für das englische Wort University im
Bayerischen Hochschulgesetz Mindeststandards für die Anzahl der Fächer
und der Dozenten vorzuschreiben.
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Panorama
Deutschland
Am Rande
20
Parade zum 40. Jahrestag der DDR im Oktober 1989 in Ost-Berlin
PDS
Gedenken an
die Konterrevolution
D
ie Kommunistische Plattform (KPF)
der PDS organisiert eine Feier zum
„50. Jahrestag der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik“.
„Nicht Trauer soll ihren Charakter bestimmen, schon gar nicht Denunziatorisches!“, heißt es in der Information zu
der Veranstaltung am 9. Oktober, die
EMS-SPERRWERK
Sind Fische blöd?
E
passenderweise in der früheren Berliner
SED-Parteihochschule stattfinden soll.
Im neuesten Mitteilungsheft der KPF
wird die Art des DDR-Gedenkens vorgegeben: Bei den gesellschaftlichen Veränderungen in Ostdeutschland seit 1989,
schreibt KPF-Vordenker Heinz Kallabis,
handele es sich nicht um „Resultate einer friedlichen Revolution, sondern einer Konterrevolution“. Die „Restauration kapitalistischer Verhältnisse“ sei ein
„historischer Rückschritt“ gewesen, die
Vereinigung der beiden deutschen Staaten eine „Annexion durch die BRD“.
Ems seien „ja nicht blöd“ und außerdem an Salzwasser gewöhnt – sie würden eben emsaufwärts schwimmen,
„wenn denen das Wasser zu salzig
wird“. Der Bau des 350 Millionen Mark
teuren Sperrwerks, Ende vergangenen
Jahres per Gerichtsbeschluss gestoppt,
soll ab Mitte Oktober fortgesetzt werden. Bis dahin will das Land alle erneuten Einwendungen von Anwohnern und
Umweltverbänden prüfen.
U-Generaldirektor James Currie
warnt vor einem „Massenfischsterben und Kleintiersterben“, falls das umstrittene Ems-Sperrwerk in Gandersum
bei Leer tatsächlich gebaut werden sollte. Eine „Verletzung von europäischem
Umweltrecht“ sei zwar „nicht mehr erkennbar“, so Currie in
einem Brief an Kanzleramtschef Frank-Walter Steinmeier. Die Verödung der Ems sei aber
absehbar, wenn der
Fluss wie geplant mit
Meerwasser aufgefüllt
und gestaut werde, um
Luxusliner der Papenburger Meyer-Werft in
die offene See zu überführen. Die zuständige
Bezirksregierung Weser-Ems hält die Warnung aus Brüssel jedoch für „völlig abwegig“. Die Fische der
Überführung eines Kreuzfahrtschiffs auf der Ems
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P. FRISCHMUTH / ARGUS
Früher hieß es: „Wer
nichts wird, wird
Wirt“, später wurden Kinder, die nicht
lernen wollten, gefügig gemacht, indem
ihnen ein Job bei der
Müllabfuhr angedroht wurde. Nun kommt aus
Amerika eine Meldung, die geeignet ist, den Polizeiberuf zum
Traumjob aller Dummbeutel zu
machen.
In New London, im US-Bundesstaat Connecticut, wurde ein 43jähriger Polizeibewerber abgelehnt, weil er durch den Intelligenztest gefallen war: Mit einem
IQ von 125 war er zu schlau für
den Job. Mit 104 wäre er tauglich
gewesen, mehr zu haben aber bedeute, dass sich der Kandidat auf
„die Dauer langweilen und den
Dienst quittieren“ würde.
Der Mann, der ein Literaturstudium abgeschlossen hat, könnte ja
immer noch Pförtner in Harvard
werden, wo die IQ-Höchstgrenze
kompatibler ist und wo es auch
schicke Uniformen gibt. Aber
nein, Polizist ist sein Traumberuf:
auf Streife gehen, Knöllchen ausstellen, für Recht und Ordnung
sorgen.
Armes Amerika! In Deutschland
wäre ihm das nicht passiert. Hier
werden solche Schlauköpfe in die
Deeskalationsstrategien bei Demonstrationen eingebaut, wo sie
dann so lange mit den Demonstranten über Kernkraft, Gewaltmonopol oder Gentechnik diskutieren, bis die Kollegen auf dem
Wasserwerfer den Weg zur Demo
gefunden haben. Mit einem IQ
von 125 könnte er sogar Polizeipräsident werden, vielleicht erst
mal nur im Osten, aber verglichen
mit New London ist das ja schon
gar nicht so schlecht.
SIPA
Klug wie Cops
Werbeseite
Werbeseite
Deutschland
SPD-Vorsitzender Schröder, Generalsekretär Müntefering*: „Der Kampf ‚wir gegen uns‘ muss aufhören“
SPD
Knüppeln, reden, zuhören
Wieder einmal soll alles anders werden. Kanzler Gerhard Schröder organisiert die Führung
der Partei neu, doch zunächst rechnet er mit weiteren Niederlagen der SPD.
Erst ab Mai 2000, mit der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, soll es wieder aufwärts gehen.
D
er Anruf wirkte wie bestellt. Nachdem Bundeskanzler Gerhard Schröder am Donnerstag vergangener
Woche in Berlin die Öffentlichkeit mit der
Präsentation seines parteiinternen Kritikers
Reinhard Klimmt als Verkehrsminister verblüfft hatte, saßen die Herren noch auf eine
kleine Zigarrenlänge im Arbeitszimmer des
Kanzlers zusammen. Beide waren sicher,
dass ihr gemeinsames Signal in der SPD
und bei den Bürgern so ankommen werde,
wie es Schröder formulierte: „Der Kampf
,wir gegen uns‘ muss aufhören.“
Da platzte Michael Steiner in die Runde,
der außenpolitische Berater des Kanzlers,
und meldete: „In zwei Minuten ruft Bill
Clinton an.“ Schröder löste sich irritiert
aus seinen innenpolitischen Erörterungen:
„Was will er denn?“ – „Vermutlich will er
uns gratulieren“, brummte Klimmt selbst22
ironisch. Es ging aber um Osttimor (siehe
Seite 200).
Mit einer Mischung aus Stolz über die
gelungene Überraschung, Erleichterung,
Galgenhumor und grimmiger Entschlossenheit sehen Schröder und seine engeren Gefolgsleute im Kanzleramt und im
Berliner Willy-Brandt-Haus den Folgen
ihrer organisatorischen Notoperation
entgegen.
Dass damit nicht sogleich Wahlen zu gewinnen sind, ist einkalkuliert. „Alle 90
Tage sind in den nächsten drei Jahren irgendwelche Wahlen“, sagte Schröder, der
mit einer Art Blut-, Schweiß- und TränenRede im Bundestag diese Woche seine Entschlossenheit zum Sparen bekräftigen will:
* In der Berliner SPD-Zentrale vor der Willy-BrandtSkulptur am vergangenen Montag.
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„Wenn die Bundespolitik darauf Rücksicht
nehmen wollte, müsstest du als Kanzler
deinen Hut nehmen. So kannst du nicht
regieren. So gehst du kaputt.“
Ernst war die Lage sowieso schon immer, seit die rot-grüne Regierung im
Oktober ’98 die Konservativen ablöste.
Nach einem knappen Jahr im Amt tendiert
der Trend in Richtung hoffnungslos. Sämtliche Landtags- und Kommunalwahlen in
diesem Jahr werden für die Sozialdemokraten wohl mit Niederlagen enden. Auch
den Grünen geht es schlecht.
Die Popularitätswerte des Kanzlers sind
rapide gefallen, die seiner SPD sowieso.
Die Gewerkschaften rebellieren, Parteimitglieder und Abgeordnete sind zutiefst
verunsichert. Sie alle treibt die Frage um:
Für was steht die deutsche Sozialdemokratie eigentlich noch? Wohin bewegt sie
Weil aber die noch in
diesem Jahr ausstehenden
Landtagswahlen in Sachsen
und Berlin nicht mehr
erfolgreich zu bestehen sind,
Auf der Suche nach neuen Wählerschichten
auch Schleswig-Holstein im
haben Parteien die ‚neue Mitte‘ entdeckt.
kommenden Februar nicht
Was denken Sie, wenn Sie diesen Begriff hören?
sicher ist, haben Schröder
und seine Strategen längst
GESAMT OST WEST
eine neue Zielmarke ins
Ich zähle zur 20
Auge gefasst: die Landtags7
23
wahlen im Mai 2000 im so„neuen Mitte“ dazu
zialdemokratischen Stammland Nordrhein-Westfalen.
26
25
Ich gehöre nicht dazu 25
Dort, so weiß der Kanzler,
heißt es: alles oder nichts.
Ich kann mir unter dem
64
50
Spät, sehr spät hat SchröBegriff
nichts vorstellen 53
der erkannt, dass er ohne –
Emnid-Umfrage für den SPIEGEL vom 7. und 8. September; rund 900
oder gar gegen – seine eigeBefragte; Angaben in Prozent; an 100 fehlende Prozent: keine Angaben
ne Partei nicht erfolgreich
Politik machen kann. Nun
will er „knüppeln, arbeiten, reden und Der Einzelkämpfer und Macher an der
zuhören“, um die SPD mitzunehmen. Zu- Spitze will Entscheidungen, nicht Diskusgleich aber erwartet er von der Sozialde- sionen in Sachen Sparpaket und Renten.
mokratie aktive Mithilfe bei dem Versuch Und er will Mehrheiten und klare Unterzu beweisen, „dass dieses Land in der Lage stützung auf dem Parteitag im Dezember.
ist, die Aussitzerei zu beenden“.
Dass die Union künftig im Bundesrat
Die Spannungen zwischen dem erfolgs- kräftig mittun darf, irritiert den Kanzler
und handlungsorientierten Macher Schrö- nicht ernstlich. Ein Berater: „Die Dinge
der und seiner diskutierfrohen und bewe- lassen sich im Vermittlungsausschuss dann
gungsunwilligen Partei sind freilich nicht in aller Ruhe besprechen.“ Er glaubt eher,
aus der Welt.
dass die fehlende rot-grüne Mehrheit in
So konzessionsbereit in Richtung SPD der Länderkammer in den eigenen Reihen
sich der Vorsitzende Schröder in der ver- für Disziplin sorgen und der Union das
gangenen Woche auch gab, sosehr auch sei- Oppositionsprofil nehmen wird.
ne Mitarbeiter beteuern, dass ihn die SorFalls sich sein Neu-Minister Klimmt, der
gen der Genossen an der Basis bekümmern sich bis zur Saarwahl noch über die „ex– aus seiner Haut kann und will er nicht: treme Schieflage“ bei Rentenreform und
Spardebatte beklagt hatte und
auch in Berlin von dieser Einschätzung nicht abrückte, doch
noch einmal öffentlich auf Abwege machen wollte, drohte ihm
Schröder kaum verhohlen vor der
Presse: „Reinhard Klimmt ist sich
völlig im Klaren darüber, dass
Loyalität und Kabinettsdisziplin
völlig selbstverständlich sind.“
Nein, deprimiert zeigt sich dieser Kanzler wahrlich nicht. Selbstbewusst und sichtlich mit seinem
Coup zufrieden präsentierte er
sich den Fernsehkameras. Gewiss
hat er begriffen, dass er so – mit
Sprache und Gestus eines Modernisierers in den Medien – weder
die Partei überzeugen noch Wahlen gewinnen kann.
Nichts hatte ihn im „eigenen
Laden“ (Schröder) mehr isoliert
als sein Posieren nach Kapitalistenart mit dicker Zigarre und
seine verächtlichen Sprüche über
Kritiker aus der eigenen Partei:
„Wer das Sparpaket nicht begreift,
ist blöd.“ Ein Spitzengenosse
Ziel-Grüppchen
sich? Wo bleibt die Gerechtigkeit beim
hastigen Reformkurs der Schröder-Regierung? Was ist überhaupt heute sozial gerecht (siehe Seite 96)?
Nun ließ Schröder seinen verhaltenen
Machtworten nach dem Sommertheater
der Genossen Aktionen folgen. Er glaubt,
dass die Mehrheit der Bürger die Notwendigkeit seines Sparprogramms im Grunde
schon akzeptiert habe: „Die Leute haben
verstanden, dass Innovation und Gerechtigkeit nicht nur Wohltaten bedeuten.“ Vertrauten erklärte er: „Es geht nur noch um
zwei Fragen: ob es geht und wie es geht.“
Damit hapert es aber vor allem noch in
seiner SPD. Am vergangenen Montag präsentierte der SPD-Vorsitzende deshalb
Franz Müntefering als zukünftigen Generalsekretär. Am Donnerstag stellte Schröder den Lafontaine-Freund Reinhard
Klimmt, der knapp als Ministerpräsident an
der Saar gescheitert war, als neuen Bauund Verkehrsminister vor.
Formal war es eine Umbesetzung im
Kabinett. Doch die Botschaft richtete sich
eindeutig an die Partei: Die Personalie
Klimmt soll die nörgelnde SPD-Linke und
die Gewerkschaften befrieden.
Der ehemalige Bundesgeschäftsführer
und erfolgreiche Wahlkämpfer Müntefering ist auserkoren, die entleerte Parteizentrale wieder zu einer Einrichtung mit
Offensivkraft auszubauen.
* Am vergangenen Mittwoch in Saarbrücken.
BECKER & BREDEL
M. URBAN
Parteifreunde Klimmt, Lafontaine*
Extreme Schieflage
23
T. SANDBERG
Wahlkämpfer Schröder (in Erfurt): Die Leistungen der Regierung sind noch nicht beim Publikum angekommen
Sächsischer Wahlkampf*
Gestus des Modernisierers
24
Obendrein dröhnte IG-Metall-Boss Klaus
Zwickel vernehmlich, die Arbeitnehmer
seien künftig früh und gewichtig an Programmdebatten zu beteiligen.
Mehr Offenheit ist versprochen. Aber
Schröders Lernfähigkeit auf diesem Gebiet
ist begrenzt. Mit seiner manchmal rüden
Art hat er sich selbst eingemauert. Nur mit
Mühe zügeln Vorstandsmitglieder wie Rudolf Dreßler, Wolfgang Thierse, Manfred
Stolpe oder Heidi Wieczorek-Zeul ihren
Unmut.
Auch die Entscheidung, Klimmt zum
Verkehrsminister zu ernennen, verschaffte
ihm mehr neue Kritiker als Sympathisanten. Der Ministerkandidat Siegmar Mosdorf, von Kanzleramtschef Frank Stein-
C. KOALL / LS-PRESS
meint: „Er behandelt die Partei wie der
Chef einen Konzern, er weist an und gibt
sich kaum noch Mühe, seine Entscheidungen zu begründen.“
Ein Wunder ist es nicht, dass der Niedersachse, dem als „Medienkanzler“ ein geradezu legendärer Ruf in Sachen Selbstvermarktung anhaftet, paradoxerweise auch
für die Kommunikationskatastrophe seiner
Regierung verantwortlich ist. Denn defizitär
ist nicht nur die Kommunikation nach innen, auch beim breiten Publikum sind Absichten und Leistungen der Regierung bisher nur unzulänglich angekommen.
Dass die große Mehrheit der Deutschen
mehr Geld in der Tasche hat als vor einem
Jahr, hat kaum einer registriert. Die gut
gemeinte Reform des 630-Mark-Gesetzes
erwies sich als Rohrkrepierer. Und die Rentendebatte wird geführt, als ob sämtliche
Rentner in Kürze der Sozialhilfe anheim
fielen.
Geradezu fahrlässig haben die Bonner
Regenten versäumt, die verunsicherten Gewerkschaften in ihre Strategie einzubinden. Keine Vorabgespräche, keine Symbole, kein Entgegenkommen.
Prompt reklamierten die Gewerkschaftsspitzen vergangenen Montag beim
Treffen mit dem Kanzler dringenden Nachholbedarf.
Ganz oben auf der Wunschliste: Korrekturen beim Sparpaket, Abkehr von der
zweijährigen Rentenanpassung auf Inflationsniveau sowie Entgegenkommen
bei der Vermögen- oder Erbschaftsteuer.
meier auf die mögliche Amtsübernahme
vorbereitet, ist frustriert, weil er seine
Nichtberücksichtigung aus den Fernsehnachrichten erfuhr.
Auch Fraktionschef Peter Struck, der
tapfer die „gute Personalentscheidung“
lobte, hatte aus den Medien von der Entscheidung gehört. In der Fraktion – vor allem bei den Nordrhein-Westfalen – hagelte es unverhohlene Kritik.
Von einer „verheerenden Wirkung“
sprach der Abgeordnete Uwe Jens. „So
wird das Kabinett zum Heldenfriedhof“,
murmelte ein Kollege. Gerade die Schröder-Freunde vom Seeheimer Kreis rangen
um Verständnis: „Bei uns knirschen sie mit
den Zähnen.“
Deutschland
* Links: SPD-Spitzenkandidat Karl-Heinz Kunckel (M.),
Schröder in der Sächsischen Schweiz am 27. August;
rechts: vor der Bonner Wahlkampfzentrale „Kampa“
am 26. September 1997.
Mehr „Disziplin“ sei erforderlich, riet
Starke Nerven wird er brauchen. Zum
er der Belegschaft an. Es sei nicht tragbar, ersten Mal wollen Parteifreunde bei der
wenn „über den Flurfunk“ weiterhin De- Trennung vom integren, aber glücklosen
tails aus der Parteizentrale nach außen Vorgänger Schreiner eigennützige Motive
sickerten. Abteilungsleiter dürfen nicht Münteferings beobachtet haben. Auch
mehr mit Journalisten reden.
das rasche und rüde Herausdrängen von
So will der Mann, der gern unauffällig, Schreiners Büroleiter fiel in der Parteizenkarg und manchmal komisch („Ich kann trale unangenehm auf.
nur kurze Sätze“) daherkommt, der lahIm Bau- und Verkehrsministerium hat
menden Partei zu neuem Schwung ver- Müntefering seinem Nachfolger eine Menhelfen. Müntefering ist derzeit die ein- ge ungelöster Probleme sowie ein Milliarzige SPD-Größe, die eine Kurskorrektur denloch hinterlassen. Die desolate Verfasim Sozialbereich glaubwürdig vertre- sung der Partei in Nordrhein-Westfalen
ten kann.
lasten nicht wenige Genossen ebenfalls
Das Plus des Sauerihrem Landesvorsitzenländers: Fast sieben
den an.
Jahre lang war er VorSchon in dieser Wositzender des Bezirks
che nimmt der Druck
Westliches Westfalen.
auf ihn zu, wenn die
Stets gab er den braven
Gründe für den Ausgang
Parteisoldaten. Selbst
der Kommunalwahlen
seine Defizite erweisen
an Rhein und Ruhr zu
sich jetzt als Vorteil.
analysieren sind. Denn
Denn die „klare Kankurzfristig ist der Trend
te“, von der er gern
kaum umkehrbar, den
spricht, hat er inhaltlich
schon Wahlanalysen aus
selbst nie gezogen. Stets
dem Saarland und aus
ließ er sich Spielräume
Brandenburg vermeldeoffen – und fuhr immer
ten. Insbesondere die
gut damit. Dafür bringt
Stammwähler der SPD
er jenen Stallgeruch
verweigern sich seit der
mit, den kernige Altgewonnenen BundesGenossen bei ihren
tagswahl.
schmucken FührungsDer
dramatische
leuten vermissen.
Rückgang der WahlbeZum Schröder-Blairteiligung im Saarland
Papier hat Franz Münvon 83,5 auf 68,7 Protefering so eisern gezent ging maßgeblich
schwiegen, dass selbst
auf Kosten der GenosSpitzen-Sozis heute
sen. Ob Europawahlen,
bekennen: „Eigentlich
der Urnengang in Hesweiß keiner genau,
sen oder im Saarland:
wofür er steht.“
Vor allem die massenStattdessen galt Lohafte Verweigerungshalyalität als Münteferings
tung der SPD-Sympahöchste Tugend, was
thisanten bescherte der
der Kanzler zu schätzen
Union den Wahlerfolg.
weiß. Weniger schätzt
Eine weitere Einer freilich Münteferings
sicht: Die Rentendebatumtriebigen Adlatus
te scheint zumindest im
Matthias Machnig, 39. SPD-Manager Müntefering, Machnig* Saarland kaum ursächDer Staatssekretär im
lich für das WahldeVerkehrsministerium, der ebenfalls in die bakel gewesen zu sein. Bei den Rentnern
Parteizentrale wechseln soll, gilt unter jedenfalls erlitt die SPD nur geringe EinSchröder-Leuten als arrogant und intrigant. bußen. Ratlos sind die Strategen hingegen,
Mit der „Kraft des Arguments“ und wie sie den Exodus der Jungen stoppen
„partizipatorischen Debatten“, merkt sollen, in früheren Jahrzehnten stets ein
Machnig im kleinen Kreis schon mal an, sei sicherer Rückhalt für die SPD.
keine effiziente Überzeugungsarbeit zu
Mehr denn je gilt, was der Soziologe Arleisten. Dann entstehen vielleicht „dicke thur Fischer, einer der Autoren der ShellDrehbücher“, aber selten erfolgreiche Jugend-Studie, registriert: „Für die jungen
Wahlkampfkonzepte.
Menschen sind Politiker Leute, die von
Von nämlicher Philosophie ist auch ihren Problemen keine Ahnung haben.“
sein Chef Müntefering durchdrungen.
Zugleich kristallisiert sich heraus: Nicht
„Die Partei ist in ganzer Breite eingeladen die Wechselwähler sind der entscheidende
mitzuarbeiten“, gehört zu seinem Stan- Faktor für SPD-Gewinne. Im Gegenteil,
dardrepertoire. Tatsächlich traut der neue die angeblich so risikofreudige und fleheimliche Parteichef nur einem – sich xible neue Mitte entpuppt sich als Phanselbst.
tom. „Schröders Wahlsieg war ein MissM. EBNER / MELDEPRESS
Ausgerechnet jener Linke, der gegen die
Regierungspolitik der eigenen Partei Wahlkampf geführt hatte, erhielt zur Belohnung
einen Ministersessel. Der Kanzler gab sich
überrascht: „Ich dachte, die freuen sich in
der Fraktion.“
Die Zeit, da überraschende Personalentscheidungen dem Kanzler und Parteichef Schröder als hinreichender Ersatz für
richtungweisende Programmatik und inhaltliche Festlegungen abgekauft wurden,
ist längst vorbei. Mit dem zeitweiligen
Ministerkandidaten Jost Stollmann und ExKanzleramtschef Bodo Hombach, mit
Oskar Lafontaine und SPD-Geschäftsführer Ottmar Schreiner ist der Verschleiß von
Symbolfiguren zu groß. Die Partei will, gerade wegen der unglücklichen Vorgabe des
Schröder-Blair-Papiers, ihre programmatischen Positionen erörtern.
„In der Sozialdemokratie wird wieder
über Grundsatzfragen gestritten, das ist gut
so“, heißt es in einem Papier der SPDGrundwertekommission zur „neuen Mitte“, das der Parlamentspräsident und Partei-Vize Wolfgang Thierse an diesem Mittwoch veröffentlichen will.
Auf der Basis von Studien aus vier europäischen Ländern wird der „soziale Ausgleich“, wie er im Sozialstaat seinen
Ausdruck findet, als „geheime Geschäftsgrundlage“ der Demokratie bezeichnet.
Die klammen Kassen erforderten allerdings „unvermeidlich auch eine Aufgabenkritik des Sozialstaates und die Anstrengung, die sozialen Leistungen zielgenauer
auf die unterschiedlich Bedürftigen auszurichten“.
Der Thierse-Text kommt der Arbeit der
Programm-Kommission zuvor, die Schröder angekündigt hat und die Partei-Vize
Rudolf Scharping leiten soll. Noch ist völlig offen, in welche Richtung sich die SPD
programmatisch entwickeln soll. Doch das
Ziel des Vorsitzenden ist klar: Entschiedene Festlegungen darf das Papier, wenn es
im Jahr 2001 erstellt ist, nicht enthalten.
Allenfalls einen Korridor, der vieles erlaubt und nur wenig wirklich fixiert.
So kann der Kanzler und Parteivorsitzende bei Kritik und kleinlichen Mäkeleien künftig elegant auf die Kommission verweisen, ist aber nicht festgelegt. Dahinter
verbirgt sich der Glaube: Programme sind
nur nützlich in Oppositionszeiten.
Auch der frisch ernannte Partei-Generalsekretär Franz Müntefering hat bereits
kundgetan, er könne auf ein neues Parteiprogramm schadlos verzichten.
Wie er sich seinen neuen Job vorstellt,
ließ er gleich bei seinem Amtsantritt
im Willy-Brandt-Haus am vergangenen
Dienstag erkennen: Mit harter Hand und
entschiedener Tonlage will er künftig
führen.
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Deutschland
W. SCHUERING / L. CHAPERON
verständnis“, sagt der Freiburger Wahl- tionsführer an der Saar war keine verforscher Gerd Mielke. „Gerade weil sich lockende Perspektive. Weil er – auch im
die so genannte neue Mitte mehr als an- Interesse seiner Saarländer – vom politidere in Berufen mit unsicherer Perspekti- schen Geschäft noch nicht lassen mochte,
ve bewegt, setzt sie auf ein hohes Maß an konnte er gar nicht umhin, die Offerte des
sozialer Absicherung.“
Kanzlers anzunehmen.
Schröder betrachtete den Wahlsieg im
Seine Glaubwürdigkeit sieht er dadurch
vergangenen Jahr als einen Blankoscheck, nicht gefährdet. „Die Programmdebatte
um die Modernisierung voranzutreiben muss weitergeführt werden“, sagte Klimmt
und gegen Parteitraditionen zu Felde zu in Berlin, „sie hat mit der Kabinettsdisziziehen. Das war, wie sich jetzt zeigt, zu- plin nichts zu tun.“ „Leider, leider“, rief
mindest voreilig, wenn nicht gar falsch. Schröder dazu. Er ist aber nicht beunruDenn auch die bürgerlichen Milieus set- higt: Illoyalitäten und Tricksereien gehören
zen durchaus auf eng geknüpfte soziale Netze.
Der Parteienforscher Franz Walter sieht die reale neue Mitte
der Gesellschaft nachhaltig geprägt
durch die sozial-liberale Ära der
Expansion des Wohlfahrtsstaates,
durch Bildungsrevolution und Partizipationsansprüche, durch Popkultur und Wertewandel. „Sie ist
keineswegs neoliberal, stollmännisch oder nach Art des Schröder- Genossen Schröder, Klimmt: Gemischte Reaktion
Blair-Papiers.“
Um solchen Veränderungen Rechnung nicht zu den herausragenden Eigenschaften
zu tragen, basteln Müntefering und Mach- Klimmts.
nig mitsamt den anderen Helfern, die sie
Der Kanzler und Vorsitzende ist vorerst
aus dem Ministerium in der Parteizentrale hoch zufrieden mit sich und der Welt:
herüberziehen, insgeheim schon längst an „Jetzt wird alles anders.“
einer neuen Konzeption: Die Botschaften
Ob es auch besser wird? Mit der neuen
müssen auf das Schlichteste konzentriert Konstruktion im Kabinett und an der
werden, und die Partei muss Geschlossen- Parteispitze hat er sich erst einmal Luft
heit zeigen. Erstes anvisiertes Ziel: Der verschafft. Insbesondere die labilen BeSPD-Parteitag Anfang Dezember in Berlin. findlichkeiten unter den Parteigranden sind
Er soll den emotionalen Wendepunkt fein austariert. Die Aufgaben sind so vermarkieren und jenen Rückenwind erzeu- teilt, dass sich Müntefering und Scharping
gen, der ein halbes Jahr später die Genos- gegenseitig in Schach halten sollen. Doch
sen in Nordrhein-Westfalen zum Wahlsieg hat sich ihr Verhältnis, einst von gegentragen soll.
seitigem Respekt getragen, deutlich abDass Lafontaine auf diesem Parteitag gekühlt.
auftauchen könnte oder dass seine in BuchSchröders Plan, in fast schon präsidialer
form vermarkteten Enthüllungen, Vorwür- Manier über diesem Machtgleichgewicht
fe und Rechtfertigungen zu einer Anti- zu thronen, könnte leicht ins Wackeln geSchröder-Bewegung führen könnten, hält raten. Tritt Scharping nun als Unruhefakder Kanzler für abwegig: „Was soll da jetzt tor an die Stelle von Lafontaine?
noch drinstehen?“ Schröder beziffert den
Die Nähe, die während des Kosovo-KrieAnhang für Lafontaine in der SPD auf ges zwischen Schröder und seinem Vertei„null“.
digungsminister entstanden war, scheint
Wer kann schon, wie der Vorsitzende, verloren. Dass der Westerwälder sich imseinen Job einfach hinschmeißen, wenn es mer noch für befähigt hält, selbst den ChefSchwierigkeiten gibt? Dass sich der einst sessel zu erklimmen, nährt des Kanzlers
geliebte Oskar seinen Rückblick finanziell latentes Misstrauen.
vergolden lässt und die ersten Passagen
Das speist der Verteidigungsminister
des Buches öffentlich ausgerechnet in mit „luziden“ Bemerkungen, wie es ein
Springer-Zeitungen zu verkosten sind, er- Spitzengenosse ausdrückt, indem er unhöht unter den Genossen nicht gerade die längst im Parteipräsidium Schröder an
Wertschätzung des Werks.
die Wurzeln seines heutigen Ungemachs
Mit dem ins Privatleben geflohenen erinnerte.
früheren Parteichef ist kaum noch zu rechHatten sie nicht alle, nicht nur Lafonnen. Selbst Lafontaine-Freund Klimmt taine, sondern auch der Innovationskandiräumte bei seiner Wahl-Nachlese im Par- dat Schröder, im Wahlkampf 1998 allzu vieteivorstand vergangenen Montag ein, dass le soziale Wohltaten versprochen und zu
ihn das überraschende Ausscheiden des wenig vor sozialen Grausamkeiten geParteichefs im Saarland Stimmen gekostet warnt? Scharping: „Wir haben keine sauhaben dürfte.
bere Eröffnungsbilanz gemacht.“
Klimmt selbst hat gute Gründe, den
Markus Dettmer, Horand Knaup,
Jürgen Leinemann
Wechsel nach Berlin zu riskieren. Opposi26
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Werbeseite
Deutschland
CSU
„Außer Kontrolle geraten“
Die Affäre um die Wohnungsbaugesellschaft LWS und den geschassten Justizminister Sauter
hat die Glaubwürdigkeit und Autorität von Ministerpräsident Stoiber nachhaltig
beschädigt. Auch andere Schatten der Vergangenheit bringen den Parteichef in Bedrängnis.
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T. GRABKA / ACTION PRESS
er große Vorsitzende war
wieder mal völlig unschuldig. Einen „eigenen
Fehler“ könne er „nicht erkennen“. Die Frage nach „politischen
Konsequenzen“ für ihn selbst
stelle sich deshalb nicht. Geradezu „abwegig“ sei der Vorwurf, er
sei in irgendeiner Weise „verantwortlich“ für das Desaster, das
seit Wochen die politische Szene
in Bayern beherrscht.
Schuld an dem Millionenskandal um die Landeswohnungs- und
Städtebaugesellschaft Bayern
GmbH (LWS) seien vielmehr, befand Edmund Stoiber, 57, letzte
Woche, „mangelnde Kompetenz
und gravierende Managementfehler“ der früheren LWSGeschäftsführung sowie das Versagen des Aufsichtsrats, insbesondere das seines langjährigen Vorsitzenden, Alfred Sauter, 49. Der
habe „seine Aufgaben und seine
Verantwortung verkannt“. Deshalb, so der bayerische Ministerpräsident nach einer denkwürdigen Sitzung seines Kabinetts,
müsse der Justizminister gehen.
Doch bevor Sauter an diesem Bayerischer Ministerpräsident Stoiber: Desavouiert und lächerlich gemacht
Montag endgültig abtritt, wenn
Nicht einmal seinen Willen, Sauter am
der Bayerische Landtag Stoibers Wunsch nem Chef „Stillosigkeit“ und „Verfasauf Entlassung zustimmt, hat er der CSU sungsbruch“ vor, weil der ihm vorvergan- Dienstag vergangener Woche bei der Beein Spektakel beschert, das seinesgleichen genen Samstag seinen Rausschmiss über ratung des Berichts des Bayerischen Obersin der Republik sucht. Der straff geführte Handy mitgeteilt hatte. Dann bezichtigte ten Rechnungshofs (ORH) zur LWS-AffäFreistaat, so registrieren die Zuschauer an- Sauter den Ministerpräsidenten der re vom Kabinettstisch fern zu halten, konndernorts schadenfroh, entpuppt sich als „Lüge“ und hielt ihm vor, „absoluten te Stoiber durchsetzen. Mit Verweis auf die
Rechtslage, der zufolge ein bayerischer Mideftiger bayerischer Komödienstadel. Er Schafscheiß“ zu verbreiten.
„Das Ding ist außer Kontrolle geraten“, nister so lange im Amt ist, bis er selbst
gäbe „sonst etwas dafür“, stöhnt StraußSohn Max Josef, „wenn ich den Kommen- klagt Stoibers Europaminister Reinhold zurücktritt oder der Landtag in seine Entlassung einwilligt, erzwang der Justizchef
tar meines Vaters aus dem Himmel“ zu Bocklet (CSU), 56.
In der ersten größeren Krise seiner seine Teilnahme an der Sitzung.
dem hören könnte, was derzeit unter StoiAmtszeit haben Stoiber und seine StaatsHinterher stand er in der Staatskanzlei
ber in seinem einstigen Reich passiert.
Aufmerksam verfolgen sowohl die Re- kanzlei beim Management krass versagt. Journalisten Rede und Antwort, Stoibers
gierung von Kanzler Gerhard Schröder „Man hätte schon vor sechs bis acht Wo- Beamte sahen hilflos zu und trauten sich
(SPD) als auch die Mit-Opposition um chen Klarheit schaffen können, anstatt der nicht einzuschreiten. Bei Stoibers anCDU-Chef Wolfgang Schäuble in Berlin SPD ein solches Sommertheater zu be- schließender Pressekonferenz setzte sich
die sich überschlagenden Meldungen aus scheren“, jammert der frühere CSU-Vor- Sauter unter die Zuhörer und verteilte ein
dem sonst so kraftvoll regierten Bayern. sitzende, Ex-Bundesfinanzminister Theo Skript, in dem er seine Sicht der LWS-Millionenpleite schildert.
Stoiber, das steht für sie bereits fest, wird Waigel, 60.
Die fehlgeschlagene Krisenbewältigung
Den Höhepunkt der Demütigung musste
die Affäre nicht unbeschadet überstehen.
Noch nie hat ein CSU-Minister seinen ei- hat Stoiber nun gleich zwei Probleme auf Stoiber zwei Tage später im Landtag erlegenen Partei- und Regierungschef öffent- einmal beschert: Sowohl seine Glaubwür- ben. Als er am Donnerstag vor dem Hauslich so desavouiert und lächerlich gemacht digkeit als auch seine Autorität als Partei- haltsausschuss erläuterte, warum die staatlich dominierte Wohnungsbaugesellschaft
wie der geschasste Sauter. Erst warf er sei- und Regierungschef sind angekratzt.
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U. WAGNER / GÜNSBURGER ZEITUNG
W. RABANUS
Schreiber, vor dessen möglichen
zwischen 1994 und 1998 bei riskanEnthüllungen die CSU bangt, erst
ten Bauträgergeschäften vor allem
mal Entwarnung. „Sagt meinen
in den neuen Ländern 367 MillioFreunden, dass ich zu ihnen halte“,
nen Mark verlor (SPIEGEL 35/1999)
verkündete er in Toronto.
und warum Sauter hierfür maßgebPeinlich für Stoiber könnte denlich verantwortlich sei, spazierte der
noch werden, dass die Ermittler inaus dem Saal und gab draußen Inzwischen auch Spuren verfolgen, die
terviews. Das Gros der Journalisten
bis in sein Kabinett und die Parteilief ihm nach, Stoiber rechtfertigte
zentrale der CSU führen.
sich drinnen vor gelichteten Reihen.
So finden sich über WirtschaftsAuch die Glaubwürdigkeit des
minister Otto Wiesheu, 54, merkSaubermanns Stoiber hat Schaden
würdige Aufzeichnungen in Schreigenommen. Hatte er vorigen Diensbers beschlagnahmten Notizbüchern
tag noch beteuert, mit einzelnen
und Kalendern. „Spende Otto“,
Entscheidungen der LWS nichts zu
heißt es dort etwa oder „Tel. Wiestun gehabt zu haben, musste er am
Donnerstag einräumen, mit dem Arzt Argirov, Patient Strauß (1986): Urlaub bei Freunden heu“ oder „Wiesheu wg. Schüssel S
100 T 30 M 25 K 25“. Tatsächlich hat
damaligen Aufsichtsratsvorsitzenden Sauter 1995 „ein- oder zweimal“ so- sich Stoiber gleich nach seiner Wahl zum Wiesheus CSU-Kreisverband Freising nach
gar über das Gehalt eines Bewerbers Regierungschef 1993 als derjenige, der ra- Angaben des Ministers 1993 und 1994 von
für den Geschäftsführerposten gesprochen dikal Schluss mache mit den alten Gepflo- Schreiber zwei größere Spenden erhalten,
genheiten. Ein Mann für die Zukunft, fast die „jeweils unter der Veröffentlichungszu haben.
Die Taktik, von heiklen Vorgängen ir- ohne Vergangenheit – so wollte er wahr- grenze gelegen“ seien. Die lag damals pro
Spende bei 20 000 Mark.
gendwie immer nichts oder nur ganz wenig und ernst genommen werden.
Selbst Parteifreunde waren zunächst
CSU-Generalsekretär Thomas Goppel,
mitbekommen zu haben, ist bei Stoiber
freilich bekannt. Ob bei den Amigo-Ge- verblüfft, wie kompromisslos Stoiber mit 52, von Stoiber erst Anfang des Jahres ins
schichten seiner verstorbenen Vorgänger manchem Kumpel von einst verfuhr, wenn Amt berufen, war nach eigener Aussage
Franz Josef Strauß und Max Streibl oder der sich im Amigo-Gestrüpp verhedderte. viele Jahre mit dem Kaufmann, gegen den
den skandalösen Geschichten um den „Seht her, ich räume auf“, lautete die Bot- ein internationaler Haftbefehl wegen SteuBäderunternehmer und Steuerflüchtling schaft nach innen wie nach außen. Der erhinterziehung vorliegt, „persönlich enger
Eduard Zwick – stets beteuerte Stoiber sei- Vorstandsvorsitzende der Bayern AG auf befreundet“. Regelmäßig sei er im Haus
ne Unschuld. Nie wollte er bei krummen Konsolidierungskurs. Ein Macher, der so von Schreiber zu Gast gewesen, umgekehrt
Dingen dabei gewesen sein, nie konnten tat, als wäre er gerade neu in die Firma habe er Schreiber auch zu sich eingeladen.
eingetreten.
Seit die Staatsanwaltschaft Ende 1995
seine Gegner das Gegenteil beweisen.
Sogar das Risiko, die Justiz des Landes Schreibers Haus und Firmen in Kaufering
Ein „echter Heuchler“ sei Stoiber, erregt sich ein früherer treuer Gefolgsmann in heiklen Verfahren nicht mehr auszu- durchsuchte, ist der Kontakt laut Goppel
bremsen, wie unter Strauß bisweilen ge- „weniger intensiv“. Nach Goppels Angavon Strauß.
Wiewohl im System Strauß als dessen schehen, ging Stoiber ein. Als Folge stoßen ben haben CSU-Gliederungen in seinem
engster Mitarbeiter groß geworden – Staatsanwälte – wie im Fall des Kauferin- Stimmkreis Landsberg allein 50 500 Mark
zunächst, von 1978 bis 1983, als CSU-Ge- ger Geschäftsmannes Karlheinz Schreiber, an Spenden von Schreiber erhalten, 47 500
neralsekretär und später, von 1982 bis 1988, 65, der vorige Woche gegen umgerechnet Mark davon zwischen 1990 und 1995. „Eine
als Leiter der Staatskanzlei –, präsentierte 1,5 Millionen Mark Kaution in Kanada aus politische Gegenleistung dafür“, so der
der Auslieferungshaft ent- CSU-General, „hat es aber nicht gegeben.“
lassen wurde – tief ins
Sauters Rausschmiss hat in der Partei
Schattenreich aus Politik die Befürchtung neu belebt, Stoiber und
und Wirtschaft vor.
sein Umfeld könnten von den alten AmigoBis ins direkte Umfeld Zeiten eingeholt werden. „Sicherlich nicht
des einstigen Ministerprä- ganz zufällig“ würden gerade jetzt Vorsidenten reichen die Vor- gänge in die Öffentlichkeit gezerrt, die ihn
würfe, die die Justiz in kompromittieren sollten, orakelte der ReAugsburg jetzt prüft. Ge- gierungschef selbst vergangene Woche. Er
gen Strauß-Sohn Max Josef habe da aber nichts zu fürchten: „Ich bin
wird wegen Steuerhinter- völlig unabhängig und in keiner Weise erziehung ermittelt. Den pressbar.“
früheren Büroleiter von
Tatsächlich lässt sich aus den „sechs oder
Strauß und späteren Ver- sieben“ (Stoiber) Ferienaufenthalten, die
fassungsschutzchef Lud- der Ministerpräsident in den achtziger Jahwig-Holger Pfahls – in der ren in Südfrankreich bei dem MultimilStaatskanzlei einst enger lionär und Geschäftsmann Dieter Holzer in
Kontaktmann Stoibers – dessen „Villa Soussou“ im schönen Golfejagt das Bundeskriminal- Juan samt Familie verbrachte, bislang
amt. Er soll 3,8 Millio- nichts Verfängliches konstruieren – außer
nen Mark Bestechungsgel- dass Holzer mittlerweile der Pariser Justiz
der angenommen haben. als Schlüsselfigur in der Schmiergeldaffäre
Strauß, 40, und Pfahls, 56, um die Privatisierung der Raffinerie Leubestreiten alle Vorwürfe na durch den französischen Mineralölkon(SPIEGEL 36/1999).
zern Elf Aquitaine erscheint.
Nach seiner Freilassung
Dasselbe gilt für Stoibers Urlaub im AuParteifreunde Sauter, Stoiber (1998): „Aufgaben verkannt“ vergangene Woche gab gust dieses Jahres, den er wieder in Südd e r
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Deutschland
Stoiber-Gastgeber Holzer, „Villa Soussou“ in Golfe-Juan: „Sechs- oder siebenmal“
kein anderer Innenminister eines Landes
zu sehen: mit höchsten Geheimhaltungsstufen versehene Dokumente über die
„Sowjetischen Goldreserven“, zur „Inneren Lage der Jugoslawischen Volksarmee“
oder zum Stand der „KGB-Auslandsaufklärung“. Selbst Dossiers wie „Sowjetunion: Veränderungen bei den Strategischen Raketentruppen“ und „SyrienIran: Gemeinsame Raketenproduktion“
landeten, nur um die Geheim-Stempel bereinigt, auf Stoibers Schreibtisch.
Auch die Staatsanwaltschaft hielt in einem Vermerk fest, die „Weitergabe“ sei
„nicht auf dem dafür vorgesehenen
Weg“ erfolgt. Münstermann habe
„wichtige öffentliche Interessen gefährdet“. Dennoch wurde das Verfahren voriges Jahr gegen Zahlung
einer Geldbuße eingestellt – und Stoiber blieb die öffentliche Blamage erspart.
Erst vergangene Woche, vom SPIEGEL auf den Vorgang in seinem ehemaligen Ministerium angesprochen,
räumte die Staatskanzlei Stoibers
Rolle in der BND-Connection ein.
Münstermann habe „Texte“ an „Innenminister Dr. Edmund Stoiber
übermittelt“, hieß es plötzlich. Zugleich legte Stoiber Wert darauf, dass er
nie den Erhalt des Materials bestritten
habe, sondern nur „eine inhaltliche Bewertung an ihn gegangener Zuleitungen
vorgenommen“ habe.
Solch laxer Umgang mit der Wahrheit
bei einem, der sonst in allem akkurat und
präzise sein will, ist unvereinbar mit dem
selbst polierten Image des Saubermanns.
„Prinz Makellos“, wie ihn ein CSU-Mann
spöttisch nennt, hat seine Schrammen weg.
Dennoch sitzt Stoiber in seinen Stammlanden fest im Sattel. Niemand in der CSU
kann oder will ihm ernsthaft gefährlich
werden; als Ministerpräsident ist er derzeit für die Partei unersetzbar und unentbehrlich. Ihre grandiosen Erfolge bei der
Landtagswahl vorigen Herbst und der Europawahl im Juni verdanken die Christsozialen, das wissen sie, in erster Linie ihm.
Doch seine bundespolitischen Ambitionen sind durch die blamable Darbietung
des LWS-Stücks auf der Münchner
Bühne erst mal gedämpft. Stoibers
Renommee hat gelitten. Schon sind
aus der Schwesterpartei CDU erste
hämische, schadenfrohe Töne zu vernehmen, der viel Gepriesene tauge
offenbar doch nicht zum Kanzlerkandidaten der Union.
Wenn einer schon bei kleinen
lokalen Krisen derart panisch reagiere, vertraute ein christdemokratischer Abgeordneter einem CSUBundestagskollegen an, habe er
sich damit für einen möglichen
Einsatz auf der Berliner Bühne selbst
diskreditiert.
Wolfgang Krach,
Journalisten bestätigte, verschwieg er einen „Ich war Innenminister des Freistaates
zweiten. Auch im November vorigen Jah- Bayern, ich war Leiter der Bayerischen
res sei Stoiber zu einem „sechstägigen Auf- Staatskanzlei, ich bin heute Ministerpräsienthalt bei Herrn Argirov in Cap Ferrat“ dent. Ich kriege die normalen Informatiogewesen, räumte die Staatskanzlei Ende nen des BND, die von der Wertigkeit nicht
vergangener Woche schließlich ein. Dafür so hoch einzuschätzen sind, wie das manhabe er „einen finanziellen Beitrag von che glauben.“
1500 Mark gegeben“.
Die Staatsanwaltschaft machte sich auf
Seine Holzer-Urlaube in den achtziger die Suche nach den Münstermann-SenJahren rechtfertigte der Ministerpräsident dungen und wurde ausgerechnet in Stoivorige Woche damit, dass Strauß „Wert bers ehemaligem Amt fündig. In der Regidarauf“ gelegt habe, „dass ich als Mitar- stratur des Innenministeriums lagerten
beiter so weit als möglich im Urlaub ver- zumindest noch zwei der Münstermannfügbar war“. Im Strauß-Umfeld kann man Lieferungen („Aktuelle außenpolitische Insich daran jedoch nicht erinnern. „Mein formationen“). Eingegangen waren sie am
Vater hat niemanden gebeten, mit ihm Ur- 18. Oktober und 15. November 1991 – in
laub zu machen“, beteuert Max Strauß.
Stoibers Amtszeit.
Problematisch könnte ein anderer VorWas der BND-Obere dem CSU-Mann
gang für den Regierungschef werden.
da, ohne offizielles Anschreiben des BND,
Dass dieser es beim Versuch, den Sau- stattdessen mit einer von ihm unterschriebermann zu mimen, mit der Wahrheit nicht benen Visitenkarte mit Privatadresse,
immer genau nimmt, zeigt der Fall des ehe- außerhalb des Dienstwegs schickte, bekam
maligen Vizepräsidenten des Bundesnachrichtendienstes (BND), Paul
Münstermann. Gegen den leitete die
Staatsanwaltschaft München I 1995
Ermittlungen wegen Verletzung von
Dienstgeheimnissen ein. Der CSUSpezl hatte jahrelang Parteifreunde
heimlich mit Geheimdienstinterna
versorgt. Sogar das damals noch
CDU-geführte Kanzleramt war über
die Münstermann-Aktion empört. Er
habe gegen die „Kernpflicht“ verstoßen, „wonach der Beamte dem
ganzen Volk, nicht einer Partei zu dienen hat“, hieß es dort.
Zu den Empfängern der von Münstermann eigenhändig per Schere von CSU-Spezl Schreiber: Reichlich Spenden an die Partei
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CANAPRESS
Geheim-Stempeln und Registraturnummern befreiten Dokumente gehörten neben Strauß und dessen Nachfolger Streibl
auch Waigel, Wiesheu – und Stoiber.
Als der SPIEGEL die CSU-Schiene aus
dem Geheimdienst offen legte, schwiegen
die meisten CSU-Größen betreten (SPIEGEL 25/1995). Stoiber, ganz ums Image besorgt, redete. Was er sagte, musste man als
klares Dementi verstehen. In der ZDF-Sendung „Bonn direkt“ mit der Frage konfrontiert, ob er „Geheimmaterial vom BND
erhalten“ habe, antwortete er: „Das ist alles für mich ein dummes Zeug.“ Stoiber:
ZDF
frankreich verbrachte, diesmal bei seinem
Freund Valentin Argirov, dem einstigen
Leibarzt von Franz Josef Strauß. Zwar hat
Argirov vom Freistaat bislang fast 200 Millionen Mark an Zuschüssen für Bau und
Erweiterung zweier Privatkliniken in Berg
am Starnberger See und Vogtareuth (Kreis
Rosenheim) bekommen. Das Geld freilich
steht ihm gesetzlich zu, Hinweise auf Vorzugsbehandlung gibt es bis jetzt nicht.
Offenbar aber plagt Stoiber trotzdem
ein unsicheres Gewissen. Nachdem er
zunächst schon den Argirov-Urlaub vom
August erst auf massive Nachfragen von
Georg Mascolo
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Deutschland
CDU
„Nichts ist entschieden“
M. URBAN
Partei-Chef Wolfgang Schäuble über den Erfolg der Union und
die Kompromissbereitschaft gegenüber der Regierung
gewonnen, der den Bürgern Unbequemes
sagt: Wir müssen weg von der Kohle. Das
zeigt: Wir sind die modernere Partei, und
wir haben die Kraft, das den Menschen
auch zu sagen.
SPIEGEL: Finanzminister Hans Eichel will
jetzt auf den Weg bringen, was die Regierung Kohl nicht mehr geschafft hat.
Schäuble: Wir bestreiten, dass diese Zickzackbewegung der Regierung Schröder die
Staatsquote senkt: 1999 steigen die Ausgaben, 2000 werden sie zurückgeführt, dann
sind wir wieder ungefähr auf dem Niveau
von Anfang 1999. Es ist eher Trickserei,
kurzatmige Hektik, die nicht die Wachstumskräfte stärkt. Das eigentliche Desaster
der Regierung Schröder ist doch, dass sich
die wirtschaftliche Entwicklung gegenüber
allem, was bis zum Regierungswechsel
stattfand, umgedreht hat. Die Arbeitslosenzahlen steigen derzeit, die Zahl der Erwerbstätigen geht zurück.
SPIEGEL: Mit den gewonnenen Landtagswahlen wächst die Macht der Union im
Bundesrat.Was von Eichels Sparpaket werden Sie zu Fall bringen?
Schäuble: Weder die Renten noch der Bundeshaushalt sind zustimmungspflichtig. In
dem vorgelegten Entwurf ist natürlich die
Kindergelderhöhung vom Votum des Bundesrats abhängig. Die werden wir nicht ablehnen.
SPIEGEL: Haben sich die Links-RechtsKoordinaten innerhalb der Gesellschaft
nicht längst so weit verschoben, dass es
kaum noch Unterschiede zwischen SPDund CDU-Politik gibt?
Christdemokrat Schäuble: „Die CDU ist die Partei der Jugend“
SPIEGEL: Herr Schäuble, die CDU wird in
den Umfragen derzeit bei knapp 50 Prozent gehandelt, die SPD nur mit etwa 30
Prozent. Wann übernehmen Sie die Regierung?
Schäuble: Das sind Momentaufnahmen,
auch wenn die Wahlen in diesem Jahr bundesweit darauf schließen lassen, dass wir 45
Prozent der Stimmen erreichen könnten.
SPIEGEL: Erstmals sinken auch die persönlichen Werte von Gerhard Schröder. Ist der
Mythos vom Sieger dahin?
Schäuble: Nach seinem Politikverständnis
ist das verheerend für ihn, weil er immer gesagt hat: Was schert mich diese blöde SPD?
Ich zeige den Genossen, dass ich die Wahlen gewinne. Das ist jetzt vorbei, und zwar
dauerhaft, wie ich glaube. Die Bürger sind
es auch leid. Wenn er Wahl um Wahl verliert, wird er die SPD nicht mehr zusammenhalten können. Dann kommt irgendetwas Neues. Scharping ist derzeit auffallend
fröhlich, obwohl es der SPD so schlecht
geht. Man hat das Gefühl, er rechnet damit,
dass der Satz „they never come back“ für
die Vorsitzenden der SPD nicht gilt.
SPIEGEL: Auch im Fall Oskar Lafontaine?
Schäuble: Nein. Die Art, wie er gegangen
ist, hat auch die verletzt, deren Herz ei-
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gentlich bei ihm ist. Lafontaine ist für längere Zeit draußen. Das ist fast schon etwas
tragisch. Ganz offensichtlich bereut er ja,
was er für einen Blödsinn gemacht hat.
SPIEGEL: Trauen Sie Schröder einen Sieg
bei der Bundestagswahl 2002 noch zu?
Schäuble: Nichts von dem, was in den
nächsten Jahren sein wird, ist entschieden.
Aber man wird vier Jahre nach einem Regierungswechsel nur dann erneut einen
Wechsel haben, wenn die Leute von der
Regierung enttäuscht sind. Wenn Schröder
also ganz erfolgreich arbeitet, hätte das
Land den Vorteil. So ist das in der Demokratie.
SPIEGEL: Wie kann die Union den positiven
Trend über drei Jahre konservieren?
Schäuble: Mit zwei neuen Ministerpräsidenten, Roland Koch in Hessen und Peter
Müller an der Saar, ist die Frage nach Erneuerung viel leichter zu beantworten. Personalentscheidungen – von Angela Merkel
bis Dagmar Schipanski oder Annette Schavan – das hilft uns. An der Saar haben wir
eine Wahl mit einem Spitzenkandidaten
* Am vergangenen Dienstag mit Alt-Bundeskanzler Helmut Kohl (r.) und Thüringens Ministerpräsident Bernhard
Vogel (3. v. l.) im Kaisersaal in Erfurt.
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Wahlkampf in Thüringen*: „Die Bürger sind davon
B. BOSTELMANN / ARGUM
Schäuble: Es gibt Veränderungen im Gefüge, obwohl eine Grundkontinuität bleibt.
Ich glaube an die Vision, in dieser modernen Welt die Teilhabe aller Menschen mit
einem hinreichenden Maß an Gerechtigkeit zu ermöglichen. Dazu braucht man
natürlich einen Staat, der den Rahmen
setzt. Aber den muss man sich eher zurückgenommen vorstellen, weil die Möglichkeiten staatlicher Regulierung in der Welt
der Globalisierung geringer werden. Deswegen wird die Fundamentierung durch
mehr Werte, durch den Appell an die besseren Eigenschaften des Menschen im
nächsten Jahrhundert noch wichtiger. Da
unterscheiden wir uns fundamental von
den Sozialdemokraten.
SPIEGEL: Das Schröder-Blair-Papier macht
Ihnen das Monopol auf Eigenverantwortung jetzt allerdings streitig.
Schäuble: Ich habe von den Sozialdemokraten inzwischen gehört, dieses SchröderBlair-Papier sei nicht für die deutsche
Politik bestimmt, sondern nur für Europa.
Wobei ich dann immer frage: Sind wir eigentlich nach dem Verständnis von Herrn
Schröder inzwischen außerhalb von Europa? Dieses Papier enthält viele richtige
Modernisierungserkenntnisse, aber ihm
fehlt die Substanz, um die Menschen für
diese Innovation zu gewinnen.
SPIEGEL: Warum verweigern Sie sich beim
Thema Rente jeglicher Innovation?
Schäuble: Bis jetzt gibt es nur eine Rentenmanipulation – alles Weitere liegt im
Nebel. Man muss den Menschen klar sagen, dass die Rente in Zukunft ein wenig
niedriger liegen wird. Deswegen wird der
Gedanke privater Vorsorge stärker. Ich
möchte durch das Steuerrecht einen zusätzlichen Anreiz für mehr Eigenvorsorge geben, vor allem durch die breitere
Streuung von Aktienbesitz. Dazu kommt
eine bessere betriebliche Vorsorge. Das
kann man dann wie Riester Drei-SäulenModell nennen. Da wären wir gesprächsbereit. Nur einen Zwang zur Vorsorge
lehnen wir ab.
SPIEGEL: Befürworten Sie niedrigere Rentenbeiträge für Familien mit Kindern?
Schäuble: Wir werden auf Dauer nicht
um einen stärkeren Ausgleich herumkommen zu Gunsten derer, die Kinder
großziehen. Das hätte auch den Vorzug,
dass die Eltern entlastet werden, wenn sie
die Kinder aufziehen. Machen wir es jetzt
doch gleich richtig: Wir müssen die heutigen Beiträge zur Altersvorsorge steuerfrei stellen.
SPIEGEL: Das deckt sich mit den Plänen
der Grünen. Theoretisch könnte eine Koalition mit der Öko-Partei in Berlin, in
Nordrhein-Westfalen, auch in Hamburg
eine Mehrheitsoption sein. Ist SchwarzGrün in der Union durchsetzbar?
Schäuble: Die Grünen stecken in einer
Phase der Schwäche, weil sie einen erheblichen Teil ihrer Identität aufgegeben haben. Jetzt klammern sie sich geradezu panisch an das rot-grüne Bündnis. Das ist für
diese Legislaturperiode wirklich kein Thema. Außerdem zeigen die Wahlergebnisse,
dass die CDU ohnehin die Partei der Jugend ist. Offenbar gelingt es uns inzwischen besser, die Bürger davon zu überzeugen, dass wir nicht altmodisch-besserwisserisch sind, sondern dass wir offen für
Neues sind.
SPIEGEL: Jetzt darf Hildegard Müller, die
Vorsitzende der Jungen Union, sogar Nachwuchspolitiker eigenmächtig zu einem
Rentengipfel einladen, den Sie bislang verweigerten.
Schäuble: Warum soll mich das stören?
Was wäre das für eine langweilige Partei,
wenn die Jungen nicht andere Sachen machen würden. Hildegard Müller hat diese
Geschichte nicht mit mir abgesprochen.
Wenn ich sie wäre, hätte ich das auch
nicht gemacht. Wir werden hinterher darüber reden.
SPIEGEL: So viel Respekt und Toleranz
einer jungen Frau gegenüber war in der
Union nicht immer selbstverständlich.
Wann ist in der CDU eine Frau als Kanzlerkandidatin denkbar, Angela Merkel
zum Beispiel?
Schäuble: Wir debattieren die Frage im Jahr
2002. Im Übrigen: Ich bin derjenige gewesen, der Angela Merkel als Generalsekretärin vorgeschlagen hat. Nicht alle
waren spontan überzeugt, dass es eine tolle Idee war. Inzwischen sind sich alle einig:
Sie macht es großartig.
Interview: Tina Hildebrandt,
Hajo Schumacher
überzeugt, dass wir offen für Neues sind“
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FDP
Mehr mit Herz
Das Amt von Parteichef
Wolfgang Gerhardt wird wohl
bald frei. Doch die
Chancen von Guido Westerwelle
auf die Nachfolge nehmen ab.
R
ainer Brüderle zeigte sich fürsorglich. Man dürfe, verkündete der
FDP-Vize mit Unschuldsmiene,
„nicht ausschließlich“ Parteichef Wolfgang
Gerhardt, 55, und Generalsekretär Guido
Westerwelle, 37, für die Landtagswahlschlappen in Brandenburg und an der Saar
verantwortlich machen. Westerwelle überging die vergiftete Solidaritätsadresse. Innerlich schäumte er.
Denn die Kritik galt hauptsächlich ihm.
Die wenigsten Parteifreunde von Gerhardt
machen sich noch die Mühe, den glücklosen Vorsitzenden für die Niederlagen verantwortlich zu machen. Das offizielle Ende
seiner Amtszeit ist nur noch Formsache.
Vergangene Woche forderte der schleswigholsteinische Fraktionschef Wolfgang Kubicki den Parteichef kaum verhohlen zum
Rücktritt auf. Hinter den Kulissen ist längst
der Kampf um die Nachfolge entbrannt.
„Da werden eifrig Startlöcher gegraben“,
beobachtet ein Spitzenliberaler.
Trotz – nicht wegen – Westerwelle, so
lautete bislang die Lesart nach verlorenen
Wahlen, seien die Liberalen im Abwind.
Doch nun gerät die Stimmung in Partei
und Fraktion erstmals ins Wanken. Aufmerksam registriert Westerwelle, dass
machtvolle Landesfürsten wie der Nordrhein-Westfale Jürgen Möllemann oder Kubicki den Generalsekretär und nicht den
Parteichef im Bundesvorstand zum Adressaten kritischer Nachfragen machen.
Nach außen üben sich die beiden möglichen Amtserben Brüderle („Ich bin 100
Prozent loyal“) und Westerwelle („Ich
habe keine Brutus-Qualitäten“) deshalb in
trauter Einigkeit.
Doch beim Polit-Kampf in den Hinterstuben punktet Brüderle, 54, wo er kann.
Während Westerwelle über die Programmpartei grübelt, macht Brüderle sich schlicht
beliebt. Wenn sich der kühle Generalsekretär nach Wahlkampfauftritten schnell
ins Privatleben verabschiedet, plaudert
der joviale Brüderle beim Weinschoppen
mit den Seinen und macht ganz nebenbei
ehrgeizigen Nachwuchsliberalen durch die
Blume Hoffnung auf Westerwelles Posten:
„Wenn ich Kanzler werde, dann wirst du
Kanzleramtsminister.“
Nie würde sich Brüderle bei einem bösen Wort über Westerwelle ertappen lassen. Aber wenn er klagt, die Partei wirke
unsympathisch, weiß jeder, wer gemeint
ist. Selbst enge Freunde räumen ein, dass
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K.-B. KARWASZ
Deutschland
REUTERS
Liberale Gerhardt (2. v. l.), Brüderle*: Eifriges Graben der Startlöcher
FDP-Generalsekretär Westerwelle
Rückstand im Menscheln
die kühl-glatte Ausstrahlung das größte
Handicap von Medienprofi Westerwelle ist.
Während Brüderle das Heil der FDP vor
allem darin sieht, „dass wir mit mehr Herz
rüberkommen“, macht Westerwelle das
unklare Profil der Liberalen für die Misere verantwortlich: „Ich wäre ja froh, wenn
wir eins der neoliberalen Etiketten, die angeblich an uns kleben, wirklich hätten.“
Doch die Wirklichkeit sieht anders aus:
Weiten Teilen der Bevölkerung ist das
FDP-Programm so unbekannt wie deren
Vorsitzender. Nur ein Prozent der Deutschen, das belegen Umfragen, schreiben
den Liberalen echte Wirtschaftskompetenz
zu, ebenso wenige wie den Grünen.
Dass die FDP derzeit ein Sympathiedefizit hat, gibt auch Westerwelle zu. Sympathie gewinne man aber nur durch Kompetenz, so die Überzeugung des Generalsekretärs. Schließlich sei Otto Graf Lambsdorff nach Erich Mende der erfolgreichste
Parteichef gewesen, obwohl der Graf nicht
gerade ein kumpeliger Typ sei.
Während Brüderle auf Kapitalismus mit
menschlichem Antlitz setzt („Wir brauchen
* Mit FDP-Politiker Manfred Hausmann (l.).
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keine Golfspieler, sondern Golffahrer“)
und Parteichef Gerhardt sich für den Ladenschluss am Sonntag ausspricht, um die
Traditionswähler unter den Geschäftsleuten nicht zu verprellen, will Westerwelle
Radikalopposition betreiben. Mit Parolen
wie „Wir müssen die Schwachen vor den
Faulen schützen“ will er den Platz rechts
von SPD und CDU besetzen.
Spätestens zum Jahreswechsel muss sich
die FDP nach Westerwelles Überzeugung
mit einer neuen Strategie präsentieren. Bis
zum Dreikönigstreffen im Januar will die
Parteispitze ein liberales Symbolthema
finden, mit dem sich gleichzeitig das Ellbogen-Image abbauen lässt.
Das große Problem von Westerwelle:
In seiner Partei steht der quirlige Rechtsanwalt ziemlich allein da. Nicht nur
eingefleischte Linksliberale wie Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger und Nordlicht Kubicki werden dem Brüderle-Flügel zugerechnet, auch Präsidiumsmitglied Walter Döring und der ehemalige
Fraktionschef Hermann Otto Solms tendieren eher zu dem leutseligen Mittelstandsvertreter. Nicht einmal auf den
Chef seines eigenen Landesverbands,
Möllemann, kann sich der Bonner Jurist
verlassen.
Einstweilen sind dem Generalsekretär
die Hände gebunden. Im Menscheln ist
Brüderle ihm voraus, und offen aus der
Deckung kommen kann Westerwelle vor
den Landtagswahlen nicht. Sollte Gerhardt
nach weiteren Niederlagen zurücktreten,
will Westerwelle nach Einschätzung von
Vertrauten jedoch den Kampf mit Brüderle aufnehmen.
Seine Chancen sind gering, die Partei
müsste sich gegen ihr Gefühl entscheiden.
Da helfen Argumente der WesterwelleFreunde wenig: „Wohin man kommt,
wenn man immer den Nettesten wählt,
das müsste die FDP inzwischen verstanden
haben.“
Tina Hildebrandt
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ARIS
fraktion Unterschriften gegen ein neues
Bündnis mit der PDS zu sammeln.
Kein gutes Klima für die Sondierungsgespräche in Potsdam. Mehrmals trafen die
Verhandlungsführer von CDU und PDS
mit den Sozialdemokraten zusammen. Sowohl PDS-Chef Lothar Bisky, dessen Partei ebenfalls zugelegt hatte, als auch Schönbohm taten alles, um die SPD zu locken.
Bisky, mit vielen Sozialdemokraten per
Du, stellte in Aussicht, die PDS könnte den
Widerstand gegen den geplanten Großflughafen Schönefeld aufgeben – ein Projekt,
das die Postkommunisten bislang heftig befehdet haben. Zeitgleich sandte Schönbohm versöhnliche Signale aus, lobte öffentlich Regine Hildebrandts „große Verdienste beim Aufbau des Landes“.
Sein Werben traf bei der Mehrheit der
SPD-Kader auf offenere Ohren. Für sie
stand schon vor der Wahl fest: Sollten sie
die absolute Mehrheit verlieren, sei die ZuRegierungschef Stolpe (M.), Konkurrenten Bisky, Schönbohm: „Nicht reden – handeln“
sammenarbeit mit den Konservativen der
lungen mit der Christenunion Jörg Schön- einzig gangbare Weg, um das hoch verBRANDENBURG
schuldete Land aus der Misere zu bringen.
bohms aufzunehmen.
Wichtige Vertraute Stolpes warben für
Die Entscheidung ist eine Zäsur in der
Geschichte der Ost-SPD. Knapp zehn Jah- ein Bündnis mit der Union: Justizminister
re galt das Duo Hildebrandt/Stolpe als un- Hans Otto Bräutigam, Innenminister Albesiegbares Traumpaar. Mit beiden, dem win Ziel und Matthias Platzeck, der bei
wegen seiner Stasi-Kooperation gebeutel- seinem Versuch, den Haushalt der Landesten Regierungschef und der Sachwalterin hauptstadt zu sanieren, von der PDS stänaller ostdeutschen Mühseligen und Bela- dig attackiert wird. „Die glauben noch imRichtungsentscheidung bei
denen, konnte sich die absolute Mehrheit mer“, so Platzeck verärgert, „man kann
der brandenburgischen SPD:
Geld beschließen.“
der Brandenburger identifizieren.
Die Mehrheit der leitenden
Vor allem das Wort des Potsdamer OBs
Am vorvergangenen Sonntag offenbar
nicht mehr. Das Wahlergebnis bedeutete das dürfte den Ausschlag auf der Sitzung im
Funktionäre will eine Koalition
Ende einer ostdeutschen Legende. Ausge- Landesausschuss gegeben haben. Er ist der
mit der Christenunion.
rechnet einem Wessi, dem General a. D. und neue Hoffnungsträger der Partei. Schon am
s war ein großer Auftritt – und wahr- früheren Berliner Innensenator Jörg Schön- Wahlabend zeichnete sich ab, dass Platzeck
viel früher als bislang geplant
scheinlich ihr letzter: Als Regine bohm (CDU), gelang es, die rodie künftige Nummer eins der
Hildebrandt, Sozialministerin Bran- te Hochburg Brandenburg zu
brandenburgischen SPD werdenburgs und Galionsfigur der Ost-SPD, erschüttern. Mit der Devise
den soll. Plötzlich stand er neauf der Sitzung des Landesausschusses der „Nicht reden – handeln“ hievben Stolpe und Hildebrandt
märkischen SPD am Freitagabend das Wort te er seine Partei von 19 auf 26
und dankte beiden „im Naergriff, herrschte gespannte Stille im Sit- Prozent Stimmenanteil, den
men aller“ für den Einsatz im
größten Zuwachs brachten von
zungssaal in Potsdam-Herrmannswerder.
Wahlkampf. Noch am selben
Wie in den Tagen zuvor plädierte sie den Sozis enttäuschte Wähler.
Tag berief Stolpe einen engen
Die Union nutzte ihr gutes
dafür, dass ihre Partei, die bei der LandVertrauten Platzecks in die
tagswahl die absolute Mehrheit verloren Abschneiden, um sich bei
Verhandlungskommission für
hatte, eine Koalition mit der PDS eingeht. Hildebrandt zu revanchieren,
die Sondierungsgespräche –
Neun Jahre habe die CDU dem Land und die aus ihrer tiefen Abneigung
Umweltstaatssekretär Rainer
ihr geschadet. Und wie in den Tagen zuvor gegen die CDU nie ein Hehl
Speer, der wohl auch die Leiwurde sie überdeutlich: Sie werde „kein gemacht hat. Generalsekretung der Staatskanzlei überBuch schreiben wie Oskar Lafontaine“, tärin Angela Merkel giftete Ministerin Hildebrandt
nehmen wird.
aber einer Großen Koalition nicht an- noch am Wahlabend vor johDoch der mediengewandte Platzeck, so
gehören.
lenden Anhängern: „Diese Frau schadet
Kurz nach ihr ergriff Potsdams Ober- der deutschen Einheit.“ Intern gab sie die fürchten die Parteistrategen, könne die imbürgermeister Matthias Platzeck das Wort: Losung aus: Koalition mit der SPD ja, aber pulsive Hildebrandt nicht ersetzen. Noch
am Freitag gaben sie die Losung aus: „ReEs stimme, was sie über die CDU gesagt nicht mit Ministerin Hildebrandt.
habe. Doch die anderen hätten dem Land
Die schüttete weiter Öl ins Feuer, nann- gine ist unverzichtbar.“ Sie haben einen
„40 Jahre geschadet“. Gemeint war die te im Vorstand ihrer Partei die Unionsleu- letzten Wunsch: Egal in welcher KonstelPDS. Wie schon zuvor Ministerpräsident te mehrfach „Arschlöcher“ und brach lation – Hildebrandt soll dafür sorgen, dass
Manfred Stolpe und Finanzministerin einen Richtungsstreit vom Zaun: Bei Ge- der PDS nicht die sozialen Themen überWilma Simon plädierte der OB für ein nossen in Sachsen-Anhalt, deren Minister- lassen werden.
Die Umworbene ließ die Genossen
Bündnis mit der Union. Nur eine Hand präsident Reinhard Höppner sich von der
voll Sozialdemokraten warben für eine Al- PDS tolerieren lässt, sowie beim Thüringer erst einmal im Ungewissen, ob sie ihre
Spitzenkandidaten Richard Dewes holte Drohung wahr machen und sich aus Manlianz mit den Postkommunisten.
Ohne Abstimmung empfahl das Gre- sie sich Rückendeckung. Derweil began- fred Stolpes Mannschaft zurückziehen
mium der Parteispitze, Koalitionsverhand- nen PDS-Gegner in der SPD-Bundestags- wird.
Stefan Berg
Regines
letzter Kampf
REUTERS
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Deutschland
BUNDESWEHR
Die intelligente Armee
Wie viele Soldaten braucht die Bundeswehr, welche Waffen soll sie haben, und wie viele Garnisonen
müssen geschlossen werden? Ein Berufsheer lehnt Rudolf Scharping ab, deshalb
wird die Bundeswehr in Zukunft zweigeteilt sein, um Kampfaufträge erfüllen zu können.
V
P. MÜLLER
AFP / DPA
ier Wochen lang
bleme sind gelöst.“ Aber
tingelte Rudolf
weil im Ernst für das
Scharping durch
kommende Jahr nur 45,3
die Truppe. Zwischen AlMilliarden Mark zur Verpenvorland und Ostseefügung stehen werden
Küste verkündete der
und die Bundeswehr in
Verteidigungsminister,
den darauf folgenden
dass die Bundeswehr im
vier Jahren nochmals
Kosovo-Konflikt „er19 Milliarden einsparen
staunliche Leistungen“
soll, steht der Minister
vollbringe, „Respekt“
vor einer schier unlösbaverdiene und getrost
ren Aufgabe.
„ein bisschen mehr Stolz
Modernes Kriegsgerät
zeigen“ dürfe.
anschaffen, den MilliarNebenbei sammelte
den Mark teuren BalkanScharping bei der KforEinsatz finanzieren, die
Friedenstruppe im KosoBundeswehr von Landesvo Eindrücke für ein
verteidigung umtrimmen
Buch über den Krieg geauf Einsätze fern der
gen Jugoslawien, zur
Heimat, die Stärke von
Rolle der Deutschen und
338 000 Soldaten nebst
ihres Militärs. Die Botetwa 130 000 zivilen Beschaft wird eher gediensteten halten – dabei
mischt ausfallen. An der
noch Milliarden sparen:
Heimatfront wie auf
Das alles geht nicht.
dem Balkan fand er
Aber „weiter so“, so
„hoch motivierte Soldaviel ist den Generälen
ten“ (Scharping) vor –
und den Fachleuten im
allerdings mit immer
Bundestag klar, geht erst
denselben Sorgen.
recht nicht: Die Bundeswehr muss schlanker
Die Truppe beklagt
werden – und stärker zuveraltete Ausrüstung,
gleich.
chronischen ErsatzteilStrittig ist nur, wie
mangel und trübe Beför- „Leopard“-Panzer an der Kosovo-Grenze (im Juni): Geschossen wurde kaum
schnell der Umbau komderungsaussichten; wegen der Spardiktate des Finanzministers teidigungsminister eine Bilanz des Kosovo- men soll, wie viele Garnisonen schließen
Hans Eichel grassiert bei den Soldaten Krieges ziehen. Für die Vormacht USA ist müssen – und wie klein die Truppe nach
samt Familien Furcht vor einer Verkleine- eine Konsequenz schon klar: Die europäi- der Reform denn werden darf. Sollen es
rung der Armee, vor Kasernen-Schließun- schen Verbündeten sollen mehr Geld in die 150 000 oder 300 000 Soldaten sein? Bei SoRüstung stecken.
gen und Jobverlust.
zialdemokraten und Grünen, Liberalen,
„Gebt mir 55 Milliarden“, meint der Ver- CDU/CSU und externen Sachkennern ist
Wegen der „Versäumnisse der Vergangenheit“, resümierte Scharping vorige Wo- teidigungsminister spöttisch, „und alle Pro- so ziemlich jede Zahl im Angebot.
che an der Hamburger Führungsakademie,
Dazu stellen sich auch noch einige
sei die Bundeswehr seit Jahren „unterfiGrundsatzfragen: Halten die Deutschen an
nanziert“: „Sie hat von der Substanz geder Wehrpflicht fest, einem Relikt aus der
lebt.“ Mittlerweile fehlten den StreitkräfÄra der Massenheere im Kalten Krieg?
ten sogar „elementare Fähigkeiten“, um
Oder folgen sie – wie Frankreich und jetzt
wohl auch Italien – den Amerikanern und
einen „wirkungsvollen und international
Briten, die Berufsarmeen unterhalten?
angemessenen Beitrag“ für BündnisverDürfen Frauen künftig an Gewehre und
teidigung und Kriseneinsätze zu leisten.
Kanonen, in die Cockpits von TransportDabei wachsen die Anforderungen.
flugzeugen und Kampfjets wie beim NachNächste Woche, bei einem Treffen im kabarn Niederlande? Oder bleibt es für sie
nadischen Toronto, wollen die Nato-Verbei Militärmusik und Sanitätsdienst?
Sicher ist nur: Das seit 1990 vereinte
Minister Scharping, Offiziere*
* Beim Besuch der Bundeswehr-Führungsakademie in
Deutschland ist von Freunden, Nato-VerHamburg am vergangenen Mittwoch.
„Seit Jahren von der Substanz gelebt“
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Deutschland
ter von Kirchbach: In Heeresbataillonen Die Radpanzer „Luchs“ und „Fuchs“ haund Luftwaffengeschwadern werden in ben sich zwar auf dem Balkan bewährt.
großem Stil Hubschrauber und „Tornado“- Aber die Vehikel fahren seit 20 und mehr
Kampfjets, Transportflugzeuge wie die Jahren. Sie sind entsprechend reparaturanTransall, Lastwagen und sogar Panzer aus fällig und teuer im Unterhalt.
der „Kriegsreserve“ ausgeschlachtet. „GeDer Kosovo-Krieg zeigte zudem, wie groß
zielte Ersatzteilgewinnung“ heißt das im die Kluft zwischen den Hightech-StreitkräfMilitär-Deutsch, die Soldaten nennen es ten der Amerikaner und den Armeen der
„Kannibalisierung“.
Europäer ist. Um aufzuholen und die geDie Hauptverteidigungskräfte, immer- meinsame Sicherheitspolitik Europas mihin fast 290 000 der 338 000 Soldaten, ge- litärisch zu unterstreichen, müssten auch die
raten immer mehr ins Hintertreffen. Be- Deutschen Milliarden lockermachen: Die
stenfalls 60 Prozent des Materials sind ein- Streitkräfte der Zukunft benötigen große
satzbereit – bei großzügiger Ausle- Transportflugzeuge, Kommunikations- und
gung der Vorschriften. Moderne Aus- Spähsatelliten, moderne Datennetze, Transstattung erhalten nur noch die portschiffe für Truppen und Kriegsgerät.
elitären KRK-Truppen.
Nur ist in Europa bislang niemand beNun rächt sich, dass Scharpings reit, zusätzliche Milliarden ins Militär zu
Vorgänger Rühe die Reform samt pumpen. Frankreich will nicht, GroßbriTruppenabbau verschleppt hat. Er tannien ebenso wenig – von Sparkommiswollte in der Nato nicht als unsiche- sar Eichel und Kanzler Gerhard Schröder
rer Kantonist dastehen – und daheim ganz zu schweigen.
nicht als Totengräber etlicher GarniEigentlich wollte Scharping erst einmal
sonen und der Wehrpflicht.
Zeit gewinnen und die Reform gemächlich
Jetzt rächt sich auch, dass CSU-Fi- angehen. Erst im September nächsten Jahnanzminister Theo Waigel der Bun- res sollte die im Frühjahr berufene unabdeswehr seit 1990 immer wieder Mil- hängige Kommission unter dem Alt-Bunliarden abknapste und für Anschaf- despräsidenten Richard von Weizsäcker,
fungen Jahr um Jahr die Order er- 79, „Optionen“ ausarbeiten.
ging: „Schieben, strecken, streichen“.
Jetzt erhöht der Sparzwang den Reform„Transall“-Flugzeuge: Milliarden für Mobilität
„Struktur, Ausrüstung, Ausbildung druck: Die Kommission muss sich sputen –
mat, Polizist, Samariter und Technischem und Einsatzbereitschaft des Heeres“, so wie auch die Stäbe im Ministerium. Schon
Hilfswerker gesucht. Er oder sie sollte von das Ergebnis der „Bestandsaufnahme“, für den Mai, noch vor Scharpings Verhandrobuster Natur, weltgewandt und mehr- sind auch im Jahr 10 nach dem Fall der lungen über den Etat des Jahres 2001, plasprachig sein, psychologisches Einfüh- Berliner Mauer noch „auf die Führung des nen die Kommissare einen ersten Report.
Dann wird sich zeigen, wie weit Scharlungsvermögen besitzen, über Improvisa- Gefechts mit hoher Intensität ausgerichtionstalent und gern auch Verwaltungs- tet“ – als drohe noch Krieg gegen die Rus- pings Absicht getragen hat, die Reformarsen im norddeutschen Tiefland.
beit seiner Stäbe mit den Denkspielen der
kenntnisse verfügen.
Noch immer stehen gut 2500 schwere Kommission zu „verzahnen“. Keinesfalls
Seit 1992 hatte Scharpings Vorgänger
Volker Rühe (CDU) die Truppe an neue „Leopard“-Panzer, 2100 „Marder“ und dürfe der Eindruck entstehen, lautete seiAufgaben gewöhnt – in Kambodscha, So- hunderte gewichtiger Panzerhaubitzen aus ne Vorgabe, das Ministerium wolle der
den siebziger Jahren in den Kasernen.
Kommission vorgreifen.
malia und Bosnien-Herzegowina.
Aber die Nato verlangt, dass künftig alle
Dabei ist das längst geschehen. Wichtige
Geschossen wurde kaum. Gefragt waren überwiegend die militärischen Hilfs- Truppen der Partner schnell und weiträu- Weichen sind bereits gestellt: Eine Berufswerker und Polizisten. Mit dem Krieg ge- mig verlegbar sind. Da wären leichtere armee soll es nicht geben.
Scharping und die Generäle hängen an
gen den Serben-Führer Slobodan Milo∆eviƒ Radfahrzeuge zweckmäßig, die sich notfalls
waren die deutschen Soldaten erstmals seit auch per Flugzeug transportieren ließen. der Wehrpflicht. Eine Profi-Armee sei „nicht
1945 im Kampfeinsatz.
Inzwischen sind bei der Truppe im Kosovo wieder zivile Tugenden gefragt – als
Moderatoren an runden Tischen oder bei
der Reparatur von Wasserleitungen.
Rund 10000 Soldaten der insgesamt 50000
Mann und Frau starken „Krisenreaktionskräfte“ (KRK) von Heer, Luftwaffe und Marine sind jetzt im Einsatz. Aus 123 Einheiten
in der ganzen Republik musste die Bundeswehr qualifizierte Soldaten und brauchbares
Material zusammensuchen, um an den Balkan-Aktionen teilnehmen zu können.
Gleichzeitig noch ein weiteres Auslandsabenteuer anzugehen hieße, die Truppe zu
überfordern: „Personell, materiell, organisatorisch und finanziell“, besagt eine interne „Bestandsaufnahme“, könne die Bundeswehr „nur einen Auslandseinsatz über
einen längeren Zeitraum durchführen“.
„Wir stehen an der Grenze der Belastbarkeit“, sagt Generalinspekteur Hans Pe- Panzer-Reparaturhalle: Die Kriegsreserve ausgeschlachtet
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S. SCHULZ / RETRO
AP
bündeten und EU-Partnern umzingelt. Die
neue Nato-Strategie und der Ehrgeiz der
Europäer, Krisen wie auf dem Balkan
künftig ohne die Weltmacht USA zu meistern, erfordern Soldaten neuen Typs –
mit neuer, leichterer Ausrüstung. Anstelle
des Landsers für das „Gefecht der verbundenen Waffen“ (Heeresjargon) in Panzerschlachten und Artillerieduellen wird
ein Multi-Talent mit neuem Berufsbild
benötigt.
Fürs internationale Krisenmanagement
wird eine Mischung aus Kämpfer, Diplo-
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Deutschland
T. EINBERGER / ARGUM
schub versorgen und Reparaturdienste leisten. Dazu kämen Planung und Verwaltung,
das Bereithalten von Personal für nationale und internationale Kommandostäbe.
Offen ist noch, wie stark die beiden
Schichten ausfallen werden. Kirchbach,
Kujat und seine Leute sollen noch ein
wenig rechnen. Erst dann will Scharping
festlegen, an wie vielen der 600 Bundeswehr-Standorte die Kasernentore für immer schließen werden.
Ein Truppenabbau von 10000 Soldaten, so
eine Faustformel der Militärs, zwingt dazu,
20 Garnisonen aufzulösen. Scharping lässt
erst einmal die 158 „Kleinst-Standorte“ mit
weniger als 50 Beschäftigten überprüfen.
Dann kommen die 300 Kasernen dran, in
denen weniger als 500 Soldaten stationiert
sind, vornehmlich in ärmeren und zudem
SPD-regierten Bundesländern wie Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern.
Rekrutengelöbnis (in Oberviechtach): Schnupperkurs beim Bund
Beginnen, auch soviel steht fest, soll die
billiger“, so Scharping, sie drohe zu überal- umfänglicher Hauptverteidigungskräfte Reform am Kopf. Als erstes möchte Schartern, wie Erfahrungen Belgiens und der Nie- soll es künftig jedoch zwei Schichten ping die Führung „straffer und effizienter“
derlande belegten. In Deutschland kämen übereinander geben: Oben werden „Ein- machen.
Da stehen heftige interne Auseinanderwomöglich bloß noch „die Rechten und die satzkräfte“ stehen, darunter – als FundaDoofen“, fürchten Berater des Ministers.
ment – eine „Grundorganisation“ ohne setzungen der Spitzenmilitärs bevor. Die
Inspekteure von Heer, Luftwaffe und MaUnterschwellig ist bei Sozialdemokra- Kampfauftrag.
ten noch immer die Sorge vorhanden, eine
In verquerem Militär-Deutsch hat Kirch- rine bangen um Macht und Einfluss. Denn
kleine Profi-Truppe könne sich wie die bach der Kommission beschrieben, wie die nach neuen Planspielen auf der Hardthöhe
Reichswehr nach dem Ersten Weltkrieg als kämpfende Oberschicht aussehen soll. Es würden die Kompetenzen des Generalin„Staat im Staate“ gebärden. Für die „de- gehe um „Kräfte zum Einsatz in der Kon- spekteurs zu ihren Lasten ausgeweitet.
Anders als seine Kameraden in den
mokratische Verankerung“ biete die Wehr- fliktverhütung und Krisenbewältigung im
pflicht die „beste Gewähr“, sagt denn auch Bündnisrahmen oder im multilateralen übrigen Nato-Ländern kann Kirchbach der
Scharping.
Rahmen, zur Sicherstellung der territoria- Truppe keine direkten Befehle erteilen. Er
In Wahrheit geht es nur darum, aus dem len Integrität und Reaktionsfähigkeit, zur ist bloß militärischer „Berater“ der RegieReservoir der Rekruten Soldaten für län- Wahrung des Völkerrechts sowie für Ret- rung und zuständig für die Planung.
Künftig soll der Generalinspekteur die
gere Verpflichtungszeiten aussuchen zu tungs- und Evakuierungsoperationen“.
können. „Wir brauchen die intelligente ArDie gemeinsame Grundorganisation von Truppen im Einsatz dirigieren – mit einer
mee“, so Planungschef Harald Kujat. Ohne Heer, Luftwaffe und Marine soll die Re- eigenen Operationsabteilung an seinem
Wehrpflicht müsse die Bundeswehr im- kruten trainieren, Offiziere und Unteroffi- Berliner Amtssitz und mit Hilfe eines „gemens viel Geld ausgeben, um in Konkur- ziere weiterbilden, Reservisten fit halten, meinsamen Einsatzstabes“ aus Offizieren
renz zur freien Wirtschaft Spezialisten an- die Truppe im Auslandseinsatz mit Nach- aller Teilstreitkräfte. Der soll in Potsdam
residieren, wo der bisherige Stab des
zuwerben. Schon jetzt sind ComputerIV. Korps „umgewidmet“ werden
fachleute Mangelware in der Bundeswehr.
54
53,6
könnte. So entstünde eine Art Mini„Aus Sicht der Nachwuchsgewinnung ist
Finanzieller
Generalstab.
die Wehrpflicht unverzichtbar“, heißt es
Rückzug
52
Um Personal zu sparen, würden
lapidar im Kapitel „Personal“ der „BeAusgaben für den
zugleich die Führungskommandos
standsaufnahme“. Denn die Personallage
Verteidigungshaushalt von Heer, Luftwaffe und Marine mit
werde „durch rückläufige Bewerberzahlen
50
in Milliarden Mark
den für Ausbildung und Verwaltung
belastet“. Im Klartext: Es kommen nicht
zuständigen „Ämtern“ verschmolmehr genug Freiwillige zu den Fahnen.
48
zen. Auch zivile Abteilungen des MiDer Nebeneffekt, dass auch der Zivilnisteriums könnten etliche Stellen
dienst erhalten bliebe, ist bei den Militärs
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einsparen samt einem der beiden beerwünscht und den Sozialverbänden willamteten Staatssekretäre.
kommen. Die Zahl der Verweigerer bewegt
45,3
Scharpings Führungsgehilfen finsich weiter auf Rekord-Niveau: Im ersten
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den in diesem Reformkonzept noch
Halbjahr 1999 lehnten es 85 266 junge Mänveranschlagter
Etat für 2000
einen anderen Reiz: Wenn im Miner ab, dem Ruf in die Kasernen zu folgen.
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nisterium dutzendweise hoch doFraglich ist, ob ein auf fünf bis sechs Motierte Stellen für Generäle und Minate verkürzter Grunddienst diesen Trend
nisterialräte wegfielen, werde es
wenden kann. Der Wehrdienst würde alle40
der Truppe umso leichter fallen,
mal zum Schnupperkurs. Nur dass statt
schmerzliche Einschnitte hinzunehrund 130 000 Rekruten nur noch etwa halb
38
men. „Oben mit dem Sparen anzuso viele in den Kasernen hocken werden.
Quelle: Verteidigungsministerium
fangen“, so ein Berater des Ministers,
Die Bundeswehr der Zukunft wird
1993
1995
1997
1999
1991
„ist doch ein schönes Signal.“
zweigeteilt bleiben. Statt dem Nebenein36
ander kleiner Krisenreaktionskräfte und
Alexander Szandar
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Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Deutschland
Urlaub auf
Lebenszeit
Der Berliner Innensenator hält
an einer illegalen Vorruhestandsregelung für Beamte fest –
als Bonner Staatssekretär hatte
er sie einst selbst bekämpft.
H
ecke schneiden, Bücher lesen, ein
wenig über die Welt nachdenken:
Eigentlich könnte Heinz Wendt seinen Lebensabend genießen, und das schon
mit 57 Jahren. Seit Januar profitiert der
Professor von einer ganz besonderen Berliner Großzügigkeit für Beamte: Er wurde
in einen „Sonderurlaub“ geschickt – der
bis zum Eintritt ins Pensionsalter dauert.
Doch den Juristen Wendt, viele Jahre
Dozent an der Berliner Fachhochschule für
Verwaltung und Rechtspflege, plagen Gewissensbisse: „Ich bin eine personifizierte
Rechtswidrigkeit.“
Um das Beamtenheer abzurüsten, verabschiedete der Berliner Senat im November 1996 die sogenannte 55er Regelung,
mit der überflüssige Staatsdiener der
Hauptstadt mit 55 Jahren nach Hause geschickt werden können. Wer sich daheim
für die Pension rüstet, wird reichlich entlohnt – mit 75 Prozent der Bezüge.
Bereits vor zwei Jahren hatte Wendt in
einem Aufsatz die Notlösung als „rechtswidrig“ analysiert, im Mai kam das Berliner Verwaltungsgericht zum gleichen
Schluss: Es erklärte die Regelung für illegal. Der „Sonderurlaub“, urteilten die
Richter, werde „faktisch als vorgezogener
Ruhestand“ missbraucht, dem es „an einer
gesetzlichen Grundlage mangelt“. Für eine
solche Regelung hätte der Bund das Beamtenrecht ändern müssen. Außerdem sei
eine längere Beurlaubung „mit der Dienstleistungspflicht des Beamten als Hauptpflicht nicht vereinbar“.
Weit über 500 Beamte, darunter mehr
als eine Hundertschaft Polizisten, genießen
inzwischen den rechtswidrigen Urlaub auf
Lebenszeit, bezahlt vom Steuerzahler. Und
es sollen, Urteil hin, Urlaub her, noch mehr
werden. Denn Berlin will „an der bisherigen Praxis“ festhalten, wie es in einer Vorlage heißt, die Innensenator Eckart Werthebach, 59, Anfang Juni „außerhalb der
Tagesordnung“ durch den Senat schleuste.
Damit wird die Posse endgültig zur politischen Affäre. Nicht nur, dass sich die
Beamten des Innensenators allerlei juristischer Finessen bedienen, um bis zum Jahresende, wenn die Sonderregelung verabredungsgemäß endet, so viele Beamte wie
eben möglich in den vorgezogenen Ruhestand zu schicken – hinter der fragwürdi50
fe Werthebachs. Der Staatssekretär beharrte darauf, dass es sich „unzweifelhaft
materiell um Zurruhesetzungen“ handele.
Und das bedeute eine „Umgehung“ bestehender Gesetze.
Die Niedersachsen ließen die Regelung
1997 auslaufen. Nur Berlin machte weiter
– selbst als Werthebach von Bonn in den
Hauptstadtsenat wechselte.
Wie etliche seiner Vorgänger hat auch er
die chaotische Innenverwaltung nicht fest
im Griff. Berliner Polizei und Verfassungsschutz leisten sich Panne auf Panne: Trotz
Warnungen vor Kurden-Krawallen nach
der Festnahme des PKK-Chefs Öcalan ließ
die Polizei das israelische Konsulat in der
Hauptstadt so gut wie unbewacht. Wohl
CDU-Senator Werthebach
um Fehler zu vertuschen, vernichtete der
Aufforderung zum Rechtsbruch?
Chef des Verfassungsschutzes einen brigen Praxis steht mit Werthebach auch ein santen Aktenvermerk.
Die illegale Verbeurlaubung von BeamMann, der einst vehement gegen die Berliner Regelung focht. Damals war er noch ten wird das Ansehen des CDU-Mannes
Staatssekretär im Bundesinnenministeri- kurz vor den Berliner Wahlen noch mehr
in Misskredit bringen: Wie Hohn klingt es,
um in Bonn.
Um den in Mauerzeiten aufgeblähten wenn die Innenverwaltung jetzt erklärt,
Administrationsapparat der Hauptstadt ab- das Urteil des Verwaltungsgerichts sei „aus
zubauen, beschloss der schwarz-rote Se- hiesiger Sicht nicht zu erwarten“ gewesen.
nat Anfang der neunziger Jahre die Strei- Denn nicht nur Werthebach aus Bonn hatchung von mehreren tausend Stellen pro te Alarm geschlagen.
Erst im November vergangenen Jahres
Jahr. Doch Beamte loszuwerden ist nicht
eben einfach. Einziges offizielles Instru- wies das Landesverwaltungsamt der Inment ist die Altersteilzeit: Der Staatsdiener nenverwaltung nach, wie absurd und ungerecht die Regelung ist. Sie errechnete,
arbeitet ab 55 Jahren nur noch halbtags.
Berlinern und Niedersachsen reichte der dass in einem konkreten Fall ein Beamter
Spareffekt nicht. Als der Bund sich einer mit Grundgehalt A 16/Endstufe (damals
Alternativlösung verweigerte, erfanden 9585 Mark monatlich) in der offiziellen Albeide Länder den „Sonderurlaub“ vor Pen- tersteilzeit (halbtags arbeiten) sogar 57
sionsbeginn. Bei einem Treffen des Bund- Mark weniger erhält, als wenn er als SonLänder-Arbeitskreises für Beamtenrechts- derurlauber ganz zu Hause bleiben würde.
Der Leiter des Personalreferats der Infragen wurden sie deshalb im Mai 1996 von
Bonner Ministerialen heftig gerüffelt. Den nenverwaltung remonstrierte sogar. Der
verbal vorgetragenen „schwerwiegenden Senatsrat weigerte sich, die rechtswidrige
rechtlichen Bedenken“ folgten böse Brie- Regelung anzuwenden. Die Praxis blieb,
der Mann musste das Referat verlassen.
Berliner Spitze
In seiner Vorlage für die SenatsBeamte der Länder
abstimmung erklärte Werthebach
auf jeweils 10 000 Einwohner sogar zufrieden, die Akzeptanz der
frühen Freizeit sei so groß, dass
„von einem deutlichen Anstieg der
Bewilligungszahlen bis zum Ende
Berlin
256
des Jahres auszugehen ist“. SkruHamburg
251
pel, trotz des VerwaltungsgerichtsBremen
237
urteils weiterzumachen, dämpften
Baden-Württemberg
174
Werthebachs Experten mit dem
Bayern
163
Hinweis, der Spruch sei ja noch
Hessen
160
nicht rechtskräftig.
Rheinland-Pfalz
160
Und dann wirkt es gar wie eine
Aufforderung zum Rechtsbruch,
Niedersachsen
158
wenn im schönsten Juristendeutsch
Nordrhein-Westfalen
153
festgestellt wird, eine Aufhebung
Schleswig-Holstein
153
rechtskräftiger Urlaubsbescheide
Saarland
150
sei „selbst dann nicht zulässig,
Brandenburg
110
wenn man annimmt, dass die BeSachsen-Anhalt
108
scheide rechtswidrig sind“. Im
Thüringen
85
Klartext heißt das: Jeder Beamte,
Mecklenburg-Vorpommern
83
der noch in Sonderurlaub geschickt
Sachsen
68
wird, ist unwiderruflich Frühpensionär.
Stefan Berg
Stand 1998
ARIS
BEAMTE
t
Gesam
1,26 Millionen
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B U N D E S TAG S P R Ä S I D E N T
Störrisch normal
Wolfgang Thierse (SPD)
will Staatsmann und einfacher
Bürger zugleich sein. Das
macht ihm im Berliner Kiez und
in der Partei Probleme.
ARIS
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P. GLASER
D
ie Hochparterrewohnung in der
Diedenhofer Straße 7 wirkt von
außen wie die letzte Läusepension
Berlins. Die braunen Rollläden lassen sich
nicht mehr hochziehen, von den weißen
Gitterstäben vor den Fenstern des Nachbarzimmers blättert die Farbe.
Prenzlauer-Berg-Bewohner Thierse: „Ich weiß, wie es ist, wenn der Vermieter kündigt“
Das Mietshaus, schräg gegenüber vom
Wasserturm, dem Wahrzeichen vom Prenz- wählt, schulterte der Staatsmann im De- um den Kollwitzplatz. Deshalb tobt um
lauer Berg, zählt zu den letzten unsanier- zember vergangenen Jahres auf einem Thierses Wohnung seit Jahren ein Kleinten Häusern in den Straßen rund um den Markt eigenhändig den Weihnachtsbaum krieg: Er lehnte den Anschluss an die Zentralheizung ab, weil er sich zuvor selbst
etwas zu schick geratenen Kollwitzplatz. und schleppte ihn nach Hause.
Ein kleines Schild aus Aluminium zeigt an,
„Ich weiß, wie es ist, wenn einem der eine Gasetagenheizung hatte einbauen
dass die Bruchbude dennoch Politpromi- Vermieter kündigt“, ließ er potenzielle lassen. Sie wehrte sich gegen den Einbau
nenz beherbergt: „Abgeordnetenbüro Wähler im Wahlkampf gern wissen. Kaum schusssicheren Glases, als das BundeskriWolfgang Thierse SPD“.
hatte er das neue Amt angetreten, erklär- minalamt darauf drängte.
Weil es gegen den Mieter Thierse keine
Wo früher der Abschnittsbevollmäch- te er den Verzicht auf die Dienstvilla, die
tigte der Volkspolizei seine Vermerke Rita Süssmuth für 4,5 Millionen Mark hat- substanziellen Vorwürfe gibt, führt Alscher
nun die Moral ins Feld. Der Mieterschutz
schrieb, liest heute der zweite Mann des te aufpolieren lassen.
Staates die Briefe besorgter Bürger und
Im Kiez ist es wie in der Partei. Be- sei „bestimmt nicht für Leute gemacht, die
empfängt illustre Gäste wie Wirtschafts- scheidenheit wird eher als Schwäche aus- so viel Geld verdienen“. Der Bundestagsboss Hans-Olaf Henkel.
gelegt denn als Charakterstärke. Wer, wie präsident blockiere „billigen Wohnraum,
Gleich um die Ecke, in der Knaack- Thierse, „auf störrische Weise normal blei- der für weniger reiche Familien gedacht
ist“. Doch Thierse will bleiben – und nach
straße, sieht es nur wenig besser aus. Zwar ben will“, muss büßen.
ist die Fassade des denkMehrmals versuchte Dahlem kann er auch nicht mehr. Seine
malgeschützten BürgerHausbesitzerin Kerstin Dienstvilla hat er an die Familie des Bunhauses inzwischen saAlscher, 38, ihrem promi- despräsidenten Johannes Rau abgetreten.
In der Partei, die Solidarität predigt, in
niert, doch im Hausflur
nenten Mieter zu kündisind Farbschmierereien
gen; zuletzt, weil Thierse den eigenen Reihen jedoch allzu selten
beinahe der einzige Anangeblich in seiner Woh- praktiziert, wird über Thierse mitunter
strich. Im ersten Stock benung eine Untermieterin ähnlich abfällig geredet wie beim Häuserwohnt Thierse mit seiner
ungenehmigt aufgenom- kampf. „Wir haben gesagt“, plauderte
Familie eine Dreieinhalbmen hatte. Dabei nutzt SPD-Fraktionschef Peter Struck in einer
Zimmer-Wohnung. Sie
nur die derzeit im Aus- Talkshow respektlos, „als Präsident, der
sei das „gemütlich-chaoland lebende Schwester da oben sitzt, kann man nicht wie ein
tische Domizil eines
von Ehefrau Irmtraud Schluffi aussehen.“ Doch auch mit gePrivatgelehrten“, lästern
Thierse die Wohnung am stutztem Bart und neuem Anzug wirkt
Freunde; mitunter sei es
Kollwitzplatz als Postan- Thierse im Politikbetrieb wie ein russischer Intellektueller in der Emigration.
dort ziemlich schwer,
schrift.
zwischen den zahllosen
Das Familienunterneh- „Ich weiß doch“, sagte er in der Wahlnacht,
Büchern und Erbstücken
men Alscher war zu nachdem er seinen Wahlkreis wieder nicht
ein Plätzchen zu finDDR-Zeiten die einzige gewonnen hatte, „wie wenig Verlierer geden. Und aus diesem Amgroße private Ost-Berli- liebt werden.“
Auch an Thierses Ohren ist gedrungen,
biente will der studierte
ner Hausverwaltung und
Literaturwissenschaftler Thierse-Wohnhaus in Berlin
schon damals berüchtigt dass des Kanzlers Vasallen nach neuen Ostnicht weg.
für einen unsanften Um- talenten wie Potsdams Oberbürgermeister
Bescheidenheit ist bei Thierse Programm gang mit ihren Mietern. Inzwischen gehört Matthias Platzeck Ausschau halten. Im De– zuweilen auch Programmersatz. Büro Kerstin Alscher das Haus, in dem Familie zember muss ein SPD-Parteitag eine neue
und Wohnung sind ebenso Teil seines Thierse seit mehr als 20 Jahren wohnt. Wie Führung wählen. Soll Platzeck etwa ParteiSelbstversuchs, Repräsentant und Nor- viele Ostler hat auch der Bundestagspräsi- Vize werden?
Thierse, den es „nie sonderlich interesmalbürger zugleich zu sein. Auf viele jener dent noch den Mietvertrag aus Ostzeiten.
Statussymbole, die seine Vorgängerin im Sanierungen und Mieterhöhungen für sol- siert hat, ein richtiger Politiker zu werden“,
Amt so schätzte, verzichtet er. Der oberste che Wohnungen sind an strenge Auflagen will den Posten in der Partei jedoch nicht
kampflos räumen. „Ich werde wieder anOstler fliegt, wenn möglich, Linie und nicht gebunden.
mit der Flugbereitschaft, lässt sich im
Rund 500 Mark kalt zahlt Thierse für treten.“ Den Bundestagspräsidenten zu dePrenzlauer Berg nur sehr selten von seine Wohnung, eine niedrige Miete für das montieren, glaubt er, werde auch ein SoziLeibwächtern begleiten. Gerade frisch ge- zum In-Viertel avancierte Quartier rund aldemokrat nicht wagen.
Stefan Berg
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FOTOS: P. BRENNEKEN / TRIASS
Deutschland
Fußball-Mäzen Petersmann*, Petersmann-Domizil, Petersmann-Immobilie Kronskamp: Mit 60 Millionen Mark auf der Flucht
K R I M I N A L I TÄT
„Wen betrügen wir heute?“
Mit Luftgeschäften sollen Ganoven aus dem
Ruhrgebiet bei Sparkassen, Versicherungen und Leasingfirmen
einige hundert Millionen Mark abgezockt haben.
D
ie Herren orderten nur das Teuerste: erst Carpaccio vom nordfriesischen Rind, dann getrüffelten Hummer an frischen Blattsalaten und schließlich
Variationen vom Milchlamm. Dazu ließen
sie sich Mouton Rothschild Jahrgang 1945
eingießen, die Flasche zu 4600 Mark.
Die Gesellschaft im Sylter Lokal von
Sternenkoch Jörg Müller war ausgelassen
* Mit Mitgliedern des VfB Westhofen bei der Aufstiegsfeier des Vereins in die Verbandsliga am 21. Mai.
und laut. Zu später Stunde fächelten die
drei Herren ihren Damen mit Bündeln von
Tausendmarkscheinen Erfrischung zu.
Der Kaufmann Michael Krapohl und der
Versicherungsmakler Joachim Gladis müssen bis auf weiteres solchen Freuden entsagen. Die Krefelder Sonderkommission
(Soko) „Luft“ buchtete sie und ein gutes
dutzend Helfer, darunter Steuerberater
und Gerichtsvollzieher, zwei Wochen nach
dem Sylt-Trip ein. Bis auf einen sitzen alle
noch in Untersuchungshaft. Der Schil-
lerndste von ihnen, „Konsul“ Ingo Petersmann, ist mit schätzungsweise 60 Millionen
Mark auf der Flucht.
Lieferwagenweise sackten 100 Ermittler
unter Leitung des Bochumer Staatsanwalts
Hans-Joachim Koch am 10. August in 13
Städten im Ruhrgebiet und in den neuen
Bundesländern Geschäftsunterlagen ein.
Sichergestellt wurden zudem etliche Ferrari, Mercedes und Porsche GT3. Dazu ein
Hermès-Koffer mit Schmuck, darunter
mehrere Rolex Daytona, sowie ein halbes
Pfund Kokain.
Koch ermittelt wegen „Bandenbetrugs“
und staunt seither, wie leicht es ist, Millionen zu ergaunern: „Je größer die Summen,
desto einfacher wird es.“
Auf etwa eine halbe Milliarde Mark
schätzt die Dortmunder Kriminalpolizei
für Wirtschaftsstraftaten den Schaden,
den Krapohl, Petersmann & Co. angerichtet haben. Das Geschäftsprinzip der
Gauner war ganz simpel: Sie mach-
J. KOEHLER
ten mal gemeinsam, mal allein „Luftgeschäfte“ mit Scheinfirmen und frisierten
Bilanzen.
Besonders gern ließen sie sich über
Komplizen teure Baumaschinen oder Luxusfahrzeuge in Rechnung stellen und finanzierten diese über Banken oder Leasingfirmen. Manchmal soll auch Krapohl
als Leasingnehmer aufgetreten sein. Dann
lief die Refinanzierung über Banken. In jedem Fall ein glänzendes Geschäft – da es
die Fahrzeuge meistens gar nicht gab.
Im Juni dieses Jahres leaste beispielsweise die VIG-Petersmann GmbH von der
norddeutschen Industrie-Finanz-Leasing
GmbH & Co. zwei Powerscreen-Siebanlagen, wie sie für Kiesgruben gebraucht
werden. Preis: 762 120 Mark. Die Leasinggesellschaft überwies nach eigenen Angaben das Geld per Lastschrift an die Gallinat-Bank in Essen, dort hat Petersmann
ein Konto. Die Geräte mit den Seriennummern 721 5839 und 6 506 991 existieren
jedoch nur auf dem Papier.
Als Lieferant trat die ostdeutsche Firma
R. aus Schkeuditz auf. Die Rechnungen für
die Maschinen wurden praktischerweise
gleich im Krefelder Büro der AMK geschrieben, der gemeinsamen Firma von
Krapohl und seinem Kompagnon Wolfgang
Menne.
Eine der Leidtragenden solch krummer
Deals ist die Düsseldorfer BVH-Bank – sie
ist pleite. Der frühere Bankdirektor Paul H.
habe „unverantwortliche Kreditgeschäfte
betrieben“, klagt der Anwalt Rolf-Dietrich
Kaven, Mitarbeiter des BVH-Konkursabwicklers. Krapohl hatte Petersmann dort
eingeführt. Die Machenschaften aus dem
„Dunstkreis der Krapohl-Gruppe“ schätzt
der Jurist als „professionell perfide“ ein.
Bei ihren Luftgeschäften waren die Herren äußerst kreativ und tummelten sich
auch schon mal in der Modewelt. 1,7 Millionen Mark zahlte die BVH-Bank nach eigenen Angaben an „eine Gesellschaft im
Umfeld von Krapohl“ für die erfundene
Jeans-Firma Meeds.
Die Staatsanwälte gehen davon aus, dass
mehr als 50 Banken und Leasinggesellschaften von den Verdächtigen hereingelegt wurden. Darunter besonders viele
Volksbanken. Die erschienen als besonders
willige Opfer, da die Volksbanken als Kleinkrämer im Kreditgeschäft gelten und oftmals gern groß einsteigen möchten. Außerdem fehlt ihnen untereinander ein wirksames Meldesystem.
Mitarbeiter aus der Krefelder AMK-Zentrale sortierten in Ostdeutschland die
Volksbanken nach Postleitzahlen. Telefonisch sondierten sie, ob Interesse an
Leasinggeschäften im großen Stil bestünde.
Dann fuhren die Herren gen Osten, in
protzigen Autos aus dem Fundus von Krapohl. Gelegentlich ließen sie sich auch
chauffieren – weil das ihrer Meinung nach
einen besseren Eindruck auf die Ostdeutschen machte.
Zu den – später geplatzten – Verhandlungen über den Ankauf der Stadthalle
Cottbus mit der dortigen Volksbank ließ
Deutschland
CLAASEN / KÖLNER EXPRESS
sich Krapohl per Privatjet einfliegen. Als
Bei anderen Geschäften waren die
der Rückflug wegen einer heranziehenden Versicherer nicht so vorsichtig. „Er hat uns
Gewitterfront ausfallen musste, kaufte er leider nicht übergangen“, gesteht Victoriasich nach Informationen, die der Krefelder Sprecher Jakob Schmitz ein. Vor allem
Kripo vorliegen, schnell einen Audi A6 gefälschte Mietverträge seien so geschickt
TDI, um am selben Tag noch nach Hause gemacht worden, dass die Victoria darauf
zu düsen. Der silberne Audi im Wert von hereinfiel. Der Schaden, so fürchtet
65 000 Mark wurde danach nie wieder be- Schmitz, liege „im zweistelligen Millionutzt und stand bis zur Beschlagnahme am nenbereich“.
10. August angeblich unbezahlt auf dem
Die Aachener und Münchener VersicheFirmengelände der AMK herum.
rung hat den Eheleuten Petersmann drei
„Sie haben es verdammt clever ange- Darlehen über insgesamt 48 Millionen
stellt“, bescheinigt Heiko Leske von der Mark gegeben, 30 Millionen davon allein
Sparkasse in Leipzig, bei der Krapohl und für den Erwerb und die Sanierung der
Petersmann mit Betriebsmittelkrediten von Plattenbausiedlung Kronskamp bei
knapp zehn Millionen Mark in der Kreide Rostock. „Wir sind übel getäuscht worstehen sollen. Die vorgelegten Bilanzen den“, klagt auch hier der Leiter der Kreseien so gut gefälscht gewesen, dass nie- ditabteilung, Klaus-Peter Schmidt. Gemand Verdacht geschöpft habe.
fälschte Bilanzen seien „nicht zu erken„Wen betrügen wir heute?“ soll einer nen“ gewesen. Die Bankauskünfte seien
der Lieblingssprüche von Petersmann ge- auf Grund von gefälschten Angaben „suwesen sein, der sich seit ein paar Monaten per“ ausgefallen. Schmidt: „So einen Fall
mit dem gekauften Titel
hat es bei uns noch nie
eines Konsuls von Guinea
gegeben.“
Ecuatorial schmückt. Ein
Der Riesenschwindel
protziges Messingschild
mit den Luftgeschäften
weist an seiner bunkerarkonnte nur funktionietigen Villa nahe der Spielren, weil Petersmann und
bank Hohensyburg darKrapohl willige Helfer an
auf hin. Sein Pilotenkofden richtigen Stellen hatfer trägt neben den
ten. Den Bankdirektor H.
Schlössern die Aufschrift
und den Versicherungs„Diplomat“.
makler Joachim Gladis
Als die Fahnder am 10.
zum Beispiel, der nach
August das Haus durchInformationen der Kresuchten, rief Petersmann,
felder Kripo die Kontakder gerade in Ostdeutschte zu den Versicherungen
land neuen Geschäften
eingefädelt haben soll.
nachging, daheim an und
Oder den Steuerberater
war gewarnt. Ehe er sich
F., der die geschönten
absetzte, beschimpfte er
Bilanzen abzeichnete, sodie Soko-Beamten: Er sei
wie den ImmobilienKonsul und sein Haus exgutachter E. Und sogar
territoriales Gelände, die Kaufmann Krapohl
einen Gerichtsvollzieher,
Polizisten sollten gefälmit Spitznamen „Lucky
ligst verschwinden. Doch die hatten vorher Luke“, der die Polizeiaktion verriet, wenn
beim Auswärtigen Amt nachgefragt und er- auch so spät, dass die Ganoven davon
fahren, dass ein Honorarkonsul allenfalls in kaum Nutzen hatten.
dem Land geschützt ist, dessen Titel er geIngo Petersmann, der als Fußballerkauft hat.
Mäzen nur zu gern in der Zeitung stand,
Das flotte Leben mit Edelnutten, Spiel- „ärgert sich darüber, dass er als großer
bankbesuchen und teuren Sportwagen hat- Betrüger hingestellt wird“, berichtet sein
te seinen Preis. Außerdem musste Peters- Anwalt Siegfried Bönnen.
Der Honorarkonsul hat inzwischen über
mann im Monat bis zu 3,5 Millionen Mark
für Leasingraten zahlen, damit das filigra- den Advokaten angeboten, sich zu stellen,
ne Finanzgeschäft nicht zusammenstürz- aber nur, wenn ihm Haftverschonung gete. Obendrein unterstützte er als Sponsor währt werde. In diesem Fall werde er auch
mehrere Fußballamateurvereine und eine Kaution von fünf Millionen Mark mitträumte vom Einstieg beim derzeitigen bringen.
Das Geld würde fast schon reichen, um
Zweitligisten VfL Bochum.
Darum nutzte er auch sein eigenes Haus, den Mietern in der Plattenbausiedlung
um an frisches Geld zu kommen. Für 1,9 Kronskamp wieder ein normales Leben
Millionen Mark soll er die düstere Villa ge- zu ermöglichen. Dort gibt es vier Blocks
kauft haben, bei der Victoria Versicherung mit halb fertigen Wohnungen und Baulegte er ein Gutachten über 4,9 Millionen gerüste, über die randalierende Jugendliche
vor, um sein Haus zu beleihen. Der Victo- nachts klettern und die Mieter ängstigen.
ria erschien das zu hoch, sie schickte einen Petersmann hatte mit der Sanierung angeeigenen Gutachter, der aber auch noch auf fangen, aber die Handwerker nicht weiter
bezahlt.
die Summe von 3,3 Millionen Mark kam.
Barbara Schmid
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Deutschland
ZEITGESCHICHTE
Ein gern gesehener Agent
J. H. DARCHINGER
Bisher unbekannte schwedische Geheimakten über Willy Brandt im Stockholmer Exil zeigen:
Der junge Sozialist war ein geschätzter Informant – besonders bei den Amerikanern.
Kanzler Brandt (1972), Brandt-Pass aus Geheimdienst-Akten: Besonderes Interesse an engen Beziehungen zur Sowjetunion
60
schnittswähler noch erTheorie der CIA – passte
schrecken konnte. 1961
bestens ins Feindbild der
fanden 40 Prozent der
damaligen ChristdemoBundesbürger, dass Emikraten. Kommunistische
granten keine RegieExilanten, die ihn in
rungsposten besetzen
Schweden erlebt hatten,
sollten, und die Union
behaupteten hingegen, er
empfahl ihren Wahlredhabe für Engländer oder
nern den Einsatz des
Amerikaner spioniert.
Wortes „VaterlandsverDas Opfer der Kamparäter“ gegen den SPDgne blieb merkwürdig
Kanzlerkandidaten.
wortkarg über seine AgenDer CSU-Vorsitzende
tenkontakte. Was er daFranz Josef Strauß
mals wirklich für eine Rolmachte mit dem Exil
le spielte, ließ sich wähStimmung: „Eines wird
rend des Kalten Krieges
man Herrn Brandt franicht ernsthaft klären, die
gen dürfen: Was haben Anti-Brandt-Kampagne (1972)
Archive blieben geschlosSie zwölf Jahre lang
sen. Erst jetzt ist zum Beidraußen gemacht? Wir wissen, was wir spiel das Material des schwedischen Gedrinnen gemacht haben.“
heimdienstes Säpo aus jener Zeit zugängBesonders gelegen kamen den Brandt- lich. Das bis vor kurzem geheime BrandtBekämpfern die Verdächtigungen, der So- Dossier liegt nun dem SPIEGEL vor.
zialist habe in Stockholm für die GeheimDer Stockholmer Emigrant war kein
dienste der damaligen Gegner Deutschlands Agent, wie er im Buche steht, weder ein
gearbeitet. Brandt als Agent Moskaus – eine James Bond des Sozialismus noch ein finsAP
D
er junge Mann war erschöpft und
vom Regen durchnässt, als ihn der
schwedische Wachposten am 1. Juli
1940 um ein Uhr morgens an der Grenze zu
Norwegen entdeckte. Der Soldat hatte Mitleid, gab dem Flüchtling eine Jacke und
bereitete ihm ein Frühstück. Dann erst
brachte er ihn ins nahe gelegene Charlottenberg.
Der Mann nannte sich Willy Brandt. Seit
1933 lebte der Sozialist im Exil, meist in
Norwegen. Nach dem Überfall der Deutschen Wehrmacht auf das kleine Land
musste er ins neutrale Schweden fliehen.
Die Exilzeit Brandts, besonders die
Kriegsjahre in Schweden, gaben in der
Nachkriegs-Bundesrepublik immer wieder
Anlass für dunkle Gerüchte und finstere
Diffamierungen. Konrad Adenauer nannte
den Berliner Bürgermeister gezielt boshaft
„den Herrn Frahm“ – so hatte der Lübecker geheißen, bevor er in der Emigration den neuen Namen annahm.
Es war eine doppelte Anspielung auf
Brandts uneheliche Geburt und sein Exil –
beides damals etwas, was deutsche Durch-
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terer Spion – das belegen die Akten der
Säpo. Brandt arbeitete in Stockholm als
Journalist, sammelte Informationen aus allgemein zugänglichen Quellen wie den Zeitungen und wohl auch aus vertraulichen
Gesprächen mit anderen Exilanten.
Seine Berichte allerdings gingen an
Agenten alliierter Geheimdienste, und
Brandt muss in den meisten Fällen gewusst
haben, mit wem er es da zu tun hatte und
wozu seine Informationen benutzt wurden. Was er tat, war für Emigranten mit politischer Überzeugung nicht ungewöhnlich
und weder kriminell noch ehrenrührig.
Brandt-Gegner hatten immer wieder
mal von dem Stockholmer Geheimdienstdossier geraunt, dort fänden sich Hinweise
auf kompromittierende Kontakte Brandts
zum sowjetischen Geheimdienst NKWD
während der Schweden-Zeit.
Die drei Ordner mit der Signatur P 1738
belegen in der Tat, dass die Säpo 1941 gegen
Brandt wegen „geheimdienstlicher Tätigkeit“ ermittelte – allerdings für die Briten.
Vom NKWD ist in den Akten keine Rede.
Dennoch spricht manches dafür, dass
Brandt in Schweden engere Kontakte zu
den Sowjets hielt, als er selbst später einräumen mochte. In einem jetzt erschienenen
Buch behauptet ein Überläufer, er habe
Dokumente eingesehen, nach denen sich
Brandt 1942 neun Monate lang regelmäßig
mit NKWD-Residenten in Stockholm traf*.
Brandt hat angeblich angeboten, Artikel
sowjetischer Autoren in amerikanische Zeitungen zu lancieren und den Sowjets aus
Norwegen Informationen über Truppenbewegungen der Wehrmacht zu liefern.
Als die Säpo 1942 einige tschechische
NKWD-Agenten verhaftete, soll nach dem
Bericht des Überläufers der Emigrant Brandt
– wohl aus Sorge um seine Sicherheit – weitere geheime Zusammenkünfte abgelehnt
und darauf bestanden haben, sich nur noch
in der sowjetischen Gesandtschaft zu treffen.
Sowohl der Kölner Verfassungsschutz als
auch die Karlsruher Bundesanwaltschaft
halten den Überläufer grundsätzlich für
glaubwürdig. Und in schwedischen Archiven
findet sich in der Tat die Akte eines 1942 aufgedeckten tschechischen Agentenrings, der
für Sowjets und Engländer gleichermaßen
spionierte.Als die Säpo einem der Agenten,
dem ehemaligen Prager Theaterregisseur
Walter Taub, vorhielt, über Zahl und Auftrag
deutscher Divisionen in Dänemark berichtet zu haben, nannte dieser als Quelle für
seine Informationen Brandt.
Im Stockholm der Kriegszeit galt Brandt
als Mann mit einem guten Draht nach Moskau. So telegrafierte der US-Diplomat Herschel Johnson am 31. August 1943 aus
Stockholm, Brandt habe „enge Kontakte
zur sowjetischen Gesandtschaft“. Der junge Mann war damals Mitglied der Sozialis* Christopher Andrew, Wassili Mitrochin: „Das Schwarzbuch des KGB“. Propyläen Verlag, Berlin; 848 Seiten;
58 Mark.
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Deutschland
KEYSTONE
tischen Arbeiterpartei, einer Splittergruppe, der die Sozialdemokraten zu reformistisch, die Kommunisten zu doktrinär waren. In seinem Blick auf die stalinistische
Sowjetunion, räumte Brandt in späten Jahren ein, habe allerdings ein
„Mythos mitgeschwungen, der auf
Abstand nur noch schwer zu erklären ist“.
In Reden und Manuskripten aus
der Kriegszeit, die jüngst auftauchten, rechtfertigte der Emigrant zum
Beispiel den Hitler-Stalin-Pakt als
„territoriale Sicherheitsmaßnahme“. Er lobte den „großartigen Aufbau, der seit der russischen Revolution“ in der Sowjetunion stattgefunden habe. Seiner Partei empfahl
er: „Als Sozialisten haben wir ein
besonderes Interesse daran, mit der
Sowjetunion in engen freundschaftlichen Beziehungen zu stehen.“
Doch diese Bekenntnisse hinderten Brandt nicht, auch eng mit den
westlichen Alliierten zusammenzu- Brandt in Schweden (1944)*: Als Spion verhaftet
arbeiten. Das war damals nicht ungewöhnlich, da Hitler der gemeinsame erhalten. Sie lief nun über die ITF. Diese
Feind war und Brandt wie viele andere hatte sich, so der Brandt-Biograf Einhard
glaubte, die Verbündeten aus Ost und West Lorenz, an die norwegische Exilregierung
würden auch nach dem Sieg gut harmo- gewandt, um einen Kontaktmann in Stocknieren. Der umtriebige Emigrant begann holm zu finden.
zunächst als Mitarbeiter der Briten, die
„Wir sind einige Freunde, die laufend
den geschätzten Informanten später an die Material beschaffen können“, schrieb
Amerikaner weiterreichten.
Brandt der Londoner GewerkschaftszenMit dem britischen Geheimdienst SIS war trale im Juni 1941. Allerdings sei dafür eine
Brandt im Juli 1939 in Verbindung gekom- „gewisse Entschädigung“ nötig. SOE-Mann
men. Die Internationale Transportarbeiter- Richard Crossman war von den beigelegten
Föderation (ITF), eine militante Gewerk- Einschätzungen über Deutschland und
schaft, plante Sabotageaktionen gegen Norwegen angetan. Das Material sei „ausschwedische Eisenerzlieferungen an die Na- gezeichnet“, notierte er und zahlte den
zis. Obwohl zwischen Großbritannien und kleinen Betrag von 50 Kronen.
Deutschland noch Frieden herrschte, unEnde 1940 begann Brandt, für 150 Kronen
terstützte der SIS die Sabotagepläne. im Monat aus Stockholm, damals die AgenBrandt, seit 1937 auch Leiter der ITF-Grup- tenmetropole Europas, Berichte an die Prespe in Oslo, sollte an der Operation teilneh- seagentur Overseas News Agency (ONA)
men. Doch die Aktion kam nie zu Stande. in New York zu schicken. Die ONA, eine
Nach seiner Flucht aus Norwegen 1940 Tochtergesellschaft der Jewish Telegraph
ging Brandt direkt in die Dienste der Bri- Agency, berichtete vor allem über Gräuelten. Großbritanniens Premierminister Win- taten der Nazis im besetzten Europa.
ston Churchill hatte nach Kriegsbeginn
Seit April 1941 wurde die ONA vom
einen neuen Geheimdienst Special Opera- britischen Geheimdienst SIS finanziert.
tions Executive (SOE) gegründet, der „Eu- Churchills Großbritannien stand im Frühropa in Flammen setzen“ sollte.
jahr 1941 gegen das Dritte Reich allein;
Brandt arbeitete mit dem späteren öster- Frankreich war besiegt, Stalin paktierte
reichischen Bundeskanzler Bruno Kreisky noch mit Hitler. Der SIS versuchte deshalb,
für die SOE in deren sogenanntem Presse- die amerikanische Öffentlichkeit so zu bebüro. Das war „offene Nachrichtentä- einflussen, dass sie dem kriegswilligen UStigkeit“, gab SOE-Agentenführer Peter Ten- Präsidenten Franklin D. Roosevelt folgte.
nant später zu. Das Pressebüro wertete Mit der ONA vereinbarten die Briten eine
Zeitungen aus und befragte deutsche „Zusammenarbeit auf besondere Weise“:
Flüchtlinge. Die meisten Informationen gin- Die ONA setzte für die Briten Falschmelgen an die BBC und alliierte Schwarzsender dungen an amerikanische Zeitungen ab.
wie „Gustav Siegfried Eins“.
Brandts Mitarbeit bei der ONA bewegLange blieb Brandt nicht beim Presse- te sich in der Grauzone zwischen Spionabüro. Im Dezember 1940 erhielt er in ge und Journalismus. Manche Berichte hatStockholm die Akkreditierung Nummer ten Artikelform, meist handelte es sich je41 und durfte als Journalist arbeiten. Die
Verbindung zu den Briten blieb freilich * Mit Ehefrau Carlota und Tochter Ninja.
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Deutschland
doch um Meldungen, die so kaum für den
Druck in einer Zeitung bestimmt gewesen
sein können.
Brandt schrieb über die Versorgungslage
und mögliche Schwachstellen der schwedischen Wirtschaft, gab weiter, wie sowjetische Diplomaten das Verhältnis zwischen
Moskau und Berlin einschätzten („Russland wünsche kein Fortschreiten der deutschen Expansion“), schickte ausführliche
Analysen zur politischen Entwicklung in
Norwegen und notierte auch, was er über
Menschenrechtsverletzungen der Gestapo
erfuhr, etwa die Folter des norwegischen
Schriftstellers Ronald Fangen.
Nach 1945 legte Brandt großen Wert darauf, dass er mit „militärischen Nachrichten bei Gott nichts zu tun“ gehabt habe.
Einige seiner Berichte lassen daran allerdings zweifeln. Am 7. November 1940 beschrieb er detailliert, wie schwedische
Militärs ihre Chancen einschätzten, eine
Invasion der Deutschen abzuwehren: „Bei
dem qualifizierten Stand der schwedischen
Verteidigung hält man es für ausgeschlossen, dass die Deutschen eine Landungsaktion mit Erfolg durchführen könnten.“
Einige Wochen später hielt er fest, was er
über die Verteilung deutscher Truppen in
Dänemark und ihre Disziplin („sehr aufgelockert“) gehört hatte. Auf Jütland seien
die Hauptkontingente stationiert, notierte
er am 29. Januar 1941.
Viele Berichte Brandts an die ONA fing
der schwedische Geheimdienst Säpo ab.
Sie liegen heute im Stockholmer Reichsarchiv. Schweden fürchtete einen deutschen
Angriff und wollte unbedingt den Eindruck
vermeiden, in Aktivitäten gegen das Reich
verwickelt zu sein. Deutsche Emigranten
wurden deshalb immer stärker überwacht.
Der Säpo fiel Brandt erstmals am 30. September 1940 auf. Er wurde bei einer Razzia
in seinem Hotel in der Sturegatan kontrolliert.Verdacht schöpften die Geheimdienstler allerdings erst, als Brandt Weihnachten
1940 heimlich ins besetzte Norwegen reiste.
Die Säpo vermutete, dass er dort für die
Briten spionierte.
Anfang 1941 wurde eine Postkontrolle
verhängt. Am 28. März nahmen zwei SäpoBeamte Brandt wegen „Verdachts nachrichtendienstlicher Tätigkeit für England“
fest, schleppten aus seiner Wohnung fünf
Ordner mit Dokumenten und steckten eine
Schriftprobe seiner Schreibmaschine ein.
Vom 28. März, 17 Uhr, bis zum 3. April,
15 Uhr, blieb der Emigrant im sauberen
Polizeigefängnis („Es stank vor Sterilität“).
Einmal drohten ihm die Vernehmer gar mit
der Abschiebung ins Dritte Reich. Doch
die Säpo hatte erst fünf Briefe abgefangen,
und, wie die Verhörprotokolle zeigen,
Brandt wusste sich stets herauszureden.
Seine Informationen, so behauptete er,
habe er aus Zeitungen, oder sie entstammten „eigenen Überlegungen“.
Die Reise nach Norwegen habe er nur
unternommen, um seine Verlobte, die spä66
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tere erste Ehefrau Carlota, dort zu sehen
und „rein persönlich direkte Eindrücke zu
sammeln“. Nur ein Gerücht, so räumte er
ein, habe er an die norwegische Exilregierung weitergegeben. Bei Oslo hätten die
Deutschen ein Giftgaslager angelegt – was
die Norweger auch schon gehört hätten.
Glaubwürdig waren diese Ausreden
nicht. Brandt besaß inzwischen die norwegische Staatsangehörigkeit; die norwegische
Exil-Vertretung hatte seine Reise finanziert.
„Da ist es kaum anzunehmen“, so BrandtForscher Ralf Laumer, „dass der Antifaschist
Brandt Informationen zurückhielt, die Hitlers Drittem Reich schaden konnten.“ Belegen konnte die Säpo ihren Verdacht nicht.
Vergebens versuchten die Geheimdienstler,
zumindest über die ONA etwas herauszubekommen. Säpo-Chef Martin Lundqvist
fragte schließlich bei der schwedischen Zensurbehörde an, ob Brandts Briefe „die Neutralität Schwedens oder freundschaftliche
Verbindungen mit einer ausländischen
Macht“ – gemeint war das Dritte Reich – beschädigten. Die Zensoren fanden das nicht,
und die Säpo ließ Brandt frei.
Nachweisen konnte der Geheimdienst
Brandt auch später nichts, obwohl die Säpo
mehrfach auf seine Spuren stieß. So nahm
die Säpo die beiden Schweden fest, mit denen Brandt ein Pressebüro betrieb. Beide
gehörten zu einem britischen Sabotage-
kommando, das im Fall eines deutschen Angriffs auf Schweden aktiv werden sollte.
Viele der Berichte Brandts gingen in Kopie an den amerikanischen Geheimdienst
OSS. Die fanden Gefallen an dem Mann.
Unter den Emigranten, so ein OSS-Offizier, gehöre er „zu den Fähigsten und ist
derjenige, der am wahrscheinlichsten nach
dem Krieg eine Rolle spielen wird“.
Der erste Auftrag des OSS für Brandt
war, die sogenannte Marthe-Mission mit
vorzubereiten. Über die Schweiz sollten
deutsche Sozialisten ins Reich eingeschleust
werden, um dort Widerstandsnetze aufzubauen. 1944 gab das OSS den Plan jedoch
wegen geringer Erfolgsaussichten auf.
Brandt hielt sich wieder an seine
Spezialität, die Informationsbeschaffung.
Er sei „ein junger, aber offensichtlich kluger und gewissenhafter Beobachter der
deutschen Szene“, lobte der US-Gesandte
Johnson die politischen Lageeinschätzungen, die Brandt seit Spätsommer 1943 lieferte. Er war „bei den Engländern und
Amerikanern in Stockholm gern gesehen“,
erinnerte sich später Kreisky.
Nach dem Zweiten Weltkrieg war allerdings umstritten, was Brandt den Amerikanern erzählt und geraten hat. Im Wahljahr 1980 hielten ihm Unionspolitiker vor,
dass er einem Bericht Johnsons zufolge
1944 für einen Gebietsaustausch plädiert
habe. Brandt soll danach die Freie Stadt
Danzig und den sogenannten polnischen
Korridor für Deutschland verlangt und im
Gegenzug vorgeschlagen haben, Polen den
östlichen Teil Ostpreußens samt Königsberg abzutreten. Die Bevölkerung sollte
umgesiedelt werden.
Brandt stritt ab, sich derart geäußert zu
haben. 1986 hinterlegte er eine entsprechende Erklärung im Washingtoner National-Archiv, ein ungewöhnlicher Vorgang.
In der gleichen Akte findet sich freilich
auch ein Dokument, das an Brandts Version zweifeln lässt. Er hatte sich nämlich in
einer Broschüre für eine geschlossene deutsche Ostgrenze und einen Zugang Polens
zur Ostsee ausgesprochen – das bedeutete
nichts anderes als den umstrittenen Gebietsaustausch.
Im Herbst 1944 kühlte die Begeisterung
der Amerikaner für ihren Mitarbeiter wegen angeblicher Indiskretionen über den
deutschen Widerstand ab. Brandt hatte wenige Monate zuvor Adam von Trott zu
Solz, den außenpolitischen Kopf der Verschwörer gegen Hitler um Oberst Graf
Stauffenberg, in seiner Stockholmer Wohnung empfangen. Trott wollte die Alliierten
von der Forderung einer bedingungslosen
Kapitulation abbringen und deshalb mit
den Briten sprechen. Doch diese lehnten
Trotts Anliegen ab.
Nach dem gescheiterten Attentat auf
Hitler vom 20. Juli 1944 berichtete Brandt
am 12. September in einem Zeitungsartikel
von Trotts Besuch, beschrieb die Pläne der
Widerständler für Nachkriegsdeutschland
und nannte auch einige Namen. Von ihnen
waren allerdings zum Zeitpunkt der Veröffentlichung nur noch der Gewerkschafter
Wilhelm Leuschner und der ehemalige
Leipziger Oberbürgermeister Carl Goerdeler am Leben, die aber bereits zum Tode
verurteilt waren. Und die BBC hatte nach
dem Anschlag umfangreich über die Widerständler berichtet. Möglicherweise wiederholte Brandt nur, was die Briten bereits
gesendet hatten.
Dennoch war US-Diplomat Johnson entsetzt über den „großen Schaden“, den
Brandts Artikel angerichtet habe. Auch ein
Buch über den Anschlag – Brandt hatte an
dem Band mitgearbeitet – hielt Johnson für
eine „große Indiskretion, die dem Widerstand gegen Hitler schadet“. Den guten Eindruck, den Brandt bisher gemacht habe,
„müssen wir entsprechend korrigieren“.
Bei einigen US-Geheimdienstlern hielt
sich der schlechte Ruf über Jahrzehnte.
Mitte der sechziger Jahre, Brandt leitete
als Außenminister die neue Ostpolitik, gab
die CIA Spionageromane in Auftrag, um
die Agency nach dem Muster der JamesBond-Bücher so populär zu machen wie
den britischen MI6. CIA-Schreiber Howard
Hunt wählte die Geschichte eines sowjetischen Einflussagenten im Westen –
sein erkennbares Vorbild dafür war Willy
Brandt.
Axel Frohn, Klaus Wiegrefe
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K.-B. KARWASZ
V. LA VERDE / AGF
Italienischer Verteidigungsminister Scognamiglio, deutscher Kollege Scharping: „Vertrauensvolle Rüstungskooperation“ angemahnt
RÜSTUNG
Weinende Töchter
REUTERS
Die Entscheidung der Italiener, statt deutscher britischfranzösische Lenkflugkörper zu kaufen, erbost den
Verteidigungsminister. Fast 500 Millionen Mark stehen auf dem Spiel.
„Tornado“-Kampfflugzeug, „Storm Shadow“-Lenkflugkörper: „Mehr Sicherheit“
D
ie Anrede war vertraulich, der Tonfall nur zu Anfang diplomatisch.
„Lieber Carlo“, schrieb Verteidigungsminister Rudolf Scharping seinem
italienischen Amtskollegen Carlo Scognamiglio am 6. Mai, „unsere beiden Staaten
arbeiten seit vielen Jahren eng und erfolgreich im Verteidigungsbereich zusammen.
Dies schließt eine vertrauensvolle Rüstungskooperation ein.“
Dann war Schluss mit Floskeln. Fast beleidigt räsonierte Scharping über eine
„Entscheidung“ der Italiener, die er „nicht
nachvollziehen“ könne und „noch einmal
zu überprüfen“ rate. Anlass für die grobe
70
Kritik am Bündnispartner, mitten im NatoBombenkrieg gegen Serbien, war ein Luftwaffen-Projekt, bei dem Deutsche und Italiener ein gemeinsames Vorgehen vereinbart hatten: die Bestückung ihrer „Tornados“ mit einem Waffensystem, das die
Vernichtung gehärteter Punktziele – zum
Beispiel verbunkerter Gefechtsstände, militärischer Kommunikationszentralen oder
Einrichtungen der Luftverteidigung – aus
großen Entfernungen ermöglicht.
Ein von den Stäben beider Seiten erarbeitetes „Memorandum of Understanding“
hatte unterschriftsreif auf dem Tisch gelegen – doch zu Scharpings „Überraschung“
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zogen die Italiener den französisch-britischen Luft-Boden-Lenkflugkörper „Storm
Shadow“ des Herstellers Matra/BAe Dynamics (MBD) dem von der Münchner
DaimlerChrysler Aerospace AG (Dasa)Tochter Lenkflugkörpersysteme GmbH
(LFK) angebotenen „Taurus“ vor.
Das Nein aus Rom bringt nicht nur die
Dasa und die Bonner Rüstungsbeamten in
Schwierigkeiten, sondern zeigt auch, mit
welch harten Bandagen im
europäischen Rüstungsgeschäft getrickst und gekämpft
wird – in diesem Fall zu
Lasten der Bundeswehr und
damit des deutschen Steuerzahlers.
Bereits Ende der achtziger
Jahre stand eine Luft-BodenAbstands- und Präzisionswaffe auf der Wunschliste der
Luftwaffe ganz oben. Doch
die zu erwartenden Kosten
waren immens, diverse Bestrebungen
Anfang der neunziger Jahre, einen luftgestützten Marschflugkörper in internationaler Kooperation zu entwickeln, scheiterten.
Im Oktober 1996 erteilte der Verteidigungsausschuss des Bundestages dem Bundesministerium der Verteidigung den Auftrag, die bisherigen Pläne in ein mit Frankreich und Großbritannien abgestimmtes
Projekt zu überführen. Dort hatten British
Aerospace (BAe) und Matra das Unternehmen Matra/BAe Dynamics gegründet
und ihre Strategien in Sachen Marschflugkörper aufeinander abgestimmt.
Die Planer auf der Hardthöhe baten die
Dasa-Tochter LFK, Möglichkeiten einer
Zusammenarbeit mit MBD auszuloten.
Doch deren Manager zeigten wenig Neigung zum europäischen Miteinander.
Mehrfach, zuletzt am 9. April 1997, teilten
sie dem Verteidigungsausschuss mit, dass
eine Einigung wegen der unterschiedlichen
militärischen Anforderungen und Konzepte ausgeschlossen sei. Ohne die Oberhoheit
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über das Projekt, so wurde intern argumentiert, dürfe man
bestenfalls „Blechbiegearbeiten“ ausführen – ein Geschäft,
das nicht lohne.
In einem Schreiben vom
14. April 1997 erneuerte MBD
das Angebot, die deutsche
Industrie maßgeblich an der
Entwicklung der Marschflugkörper zu beteiligen und
deutsche HochtechnologieKomponenten wie Sensoren
und Gefechtsköpfe für alle
Flugkörper verwenden zu wollen. Eine Finte, weil technisch Dasa-Projekt „Taurus“: Schmerzlicher Wettbewerb
nicht machbar, behauptete die
LFK-Führung und zeigte sich weiterhin tigen – eine nicht hinreichend genaue
hartleibig.
Methode. Bei der LFK und im VerteidiDas Beharren auf der sogenannten Sys- gungsministerium wird dies vehement betemführerschaft bei Taurus hatte einen stritten. Selbstverständlich erfolge auch das
handfesten ökonomischen Grund: Ehema- „endgame“ mit einem hoch sensiblen Inlige Verkaufsschlager wie die Panzerab- frarotsuchkopf.
wehrwaffen „Hot“ und „Milan“ sowie die
Die Entscheidung der Italiener für Storm
Luftabwehrrakete „Roland“ laufen nicht Shadow ist bereits der zweite Schlag, den
mehr so recht, die LFK-Belegschaft die LFK in Sachen Taurus wegstecken
schrumpfte zwischen 1996 und 1999 von muss. Auch die an der Entwicklung betei1650 Beschäftigten auf etwa 1000.
ligten Schweden schieden aus. BegrünIm Mai 1997 geschah dann eine Art Wun- dung: kein Geld.
der, das die Interessen aller Beteiligten zu
Damit ist fraglich, ob der vereinbarte
berücksichtigen schien: MBD und LFK Festpreis für die Produktion, 1,2 Millionen
verkündeten eine „strategische Partner- Mark pro Flugkörper, noch realistisch ist.
schaft“. Die französisch-britische MBD Für den Auftraggeber Bundeswehr heißt
kaufte 30 Prozent der deutschen LFK, dies: Wenn das Gerät teurer wird als
mit einer Option zum Erwerb weiterer veranschlagt, gerät der Haushalt durchein19 Prozent.
ander; sollte das Projekt aber aus KostenIn einer Anhörung des Verteidigungs- gründen scheitern, wären bis zu 475 Milausschusses am 14. Mai 1997 erklärten Ver- lionen Mark Steuergelder in den Wind
treter beider Unternehmen, „mit den un- geschossen.
terschiedlichen Flugkörperkonzepten nicht
Für Matra/BAe Dynamics wäre ein
mehr gegeneinander antreten zu wollen, Scheitern von Taurus, trotz der 30-Prozentsondern künftig gemeinsam unter Nutzung Beteiligung an der LFK, kein Problem.
sämtlicher möglicher Synergie-Effekte“ Schließlich haben sich die Italiener mit
deren „Entwicklung, Produktion und Ver- Storm Shadow für ein Produkt aus dem
marktung“ zu betreiben.
Hause MBD entschieden.
Mehr noch: Auch bei einer späteren VerAuch die LFK-Konzernmutter Daimlermarktung wolle man „gemeinsam auftre- Chrysler kann mit einer Taurus-Pleite gut
ten und sich gegenseitig unterstützen“.
leben. Die bisher gezahlten rund 150 MilDie Parlamentarier waren zufrieden. lionen Mark Entwicklungsgelder aus Bonn
Der Bundestag bewilligte Anfang vergan- sind schon mal in der Firmenkasse, mehr
genen Jahres 475 Millionen Mark für die als 300 Millionen sind noch zu zahlen. Das
Taurus-Entwicklung.
bedeutet, sollte die Dasa mitsamt ihren
Nach der Ankündigung der Italiener, Rüstungstöchtern verkauft werden, eine
Storm Shadow von MBD zu kaufen, weht hübsche Mitgift für den Käufer.
der LFK wieder der raue Wind des WettUnd der könnte, nach Verkündung der
bewerbs um die Nase. Schmerzlich für die strategischen Partnerschaft mit den Briten
Münchner ist der Antwortbrief des italie- und den Franzosen, MBD heißen.
nischen Verteidigungsministers an Rudolf
So macht jeder seinen Schnitt, nur die
Scharping vom 9. Juni dieses Jahres. Darin bei der LFK mit Taurus befassten Manager
begründet Scognamiglio die Entscheidung und Ingenieure und deren Partner bei der
für Storm Shadow damit, dass der „mehr Bundeswehr sind traurig, weil sie ihren
Sicherheiten bietet und sich in einem fort- Marschflugkörper für das bessere Produkt
geschritteneren Entwicklungsstand befin- halten.
det“.
Ein Beamter der Rüstungsabteilung im
Eine Kritik, die Branchengerüchte zu Verteidigungsministerium kommentiert das
bestätigen scheint. Angeblich kann Taurus Firmen-Monopoly resigniert: „Die Konderzeit den Endanflug auf das Ziel nur zerne machen, was sie wollen. Und wenn
mit einer Kombination von Satelliten- was in die Hose geht, kommen ihre Töchsteuerung und Trägheitsnavigation bewäl- ter zu uns und weinen.“ Gunther Latsch
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Deutschland
INNERE SICHERHEIT
„Ein lukrativer Markt“
P. SEITZ / ZEITENSPIEGEL
Weil die Polizei aus Mangel an Geld und Personal die Sicherheit der Bürger nicht
mehr garantieren kann, haben private Sicherheitsfirmen Hochkonjunktur.
In der Branche arbeiten bereits 250 000 Menschen – genauso viele wie bei der Polizei.
Private Sicherheitsleute im Gefängnis*: Wachmann werden kann jeder
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DPA
S
eit Jahren ärgerte sich der Chef eines
norddeutschen Ingenieurbüros aus
der Baubranche, dass ein Konkurrent
ihm in letzter Minute immer mal wieder einen lukrativen Auftrag vor der Nase wegschnappte. Schließlich beauftragte der
Mann den Hamburger Privatdetektiv Mohammad Haroun, 57, der Sache nachzugehen. Haroun fand heraus, dass der Schwiegersohn eines Firmenangestellten bei der
Konkurrenz arbeitete.
Der aus dem Libanon stammende Detektiv stellte eine Falle. Als Abgesandter einer Baufirma aus Bahrein traf er sich auf
dem Frankfurter Flughafen mit dem Verdächtigen. Angeblich hatte der Mann aus
Bahrein einen Auftrag für dessen Firma
beim Bau eines Militärflughafens. Die beiden Herren wurden rasch einig. Ein paar
Tage später unterbreitete das Konkurrenzunternehmen dem vermeintlichen
Bahrein-Vertreter eine billigere Offerte.
Haroun hatte den Beweis, sein Auftraggeber zeigte den ungetreuen Mitarbeiter an.
Ein Routinefall für Harouns Wirtschaftsdetektei. Die Branche boomt. Überall dort, wo die Polizei – überlastet und
unterbesetzt – Lücken lässt, steigen private Profis ein. Die Zahl der Sicherheitsunternehmen in der Bundesrepublik stieg von
620 im Jahr 1984 auf 2000 anno 1998, der
Teilzeitbeschäftigte rund 250 000 Mitarbeiter hat – soviel wie bundesweit die Polizei.
Der Staat trägt seinen Teil zu der rasanten Entwicklung bei. „Wenn Kommunen
aus Kostengründen Personal sparen“, so
der Bonner Sicherheitsexperte Hans-Georg
Lützenkirchen, „schaffen sie erst jene Sicherheitsdefizite, die durch private Anbieter wieder ausgeglichen werden.“ So sieht
es auch der Vizepräsident des Bundeskriminalamtes (BKA), Bernhard Falk: Leere
Kassen und überlastete Polizeien hätten
einen „lukrativen Markt“ geschaffen.
Und eine Menge Probleme. Denn die
Privatsheriffs bewegen sich häufig in einer
juristischen Grauzone. Anders als die Polizei hindert sie niemand – Datenschutz
hin oder her –, an Fakten zu sammeln, was
sie kriegen können.
Die Rechercheure sind immer häufiger
Profis. Mit stattlichen Gehältern und Provisionen locken die Security-Unternehmen
Spitzenbeamte von Polizei, Bundeswehr,
Bundesnachrichtendienst und Verfassungsschutz in ihre Dienste.
BKA-Vize Falk befürchtet bereits
einen „illegitimen Transfer“ von
Know-how und Informationen.
Selbst ehemalige Minister haben keine Scheu, sich von Unternehmen einstellen zu lassen, gegen deren Branche sie in ihrer
Amtszeit gewettert hatten. So
stieg der einstige Hamburger Innensenator Werner Hackmann
(SPD) ein Jahr nach seinem
Rücktritt 1995 als DeutschlandChef beim internationalen Sicherheitskonzern ASD Securicor
ein. Prompt überreichte er seinem Nachfolger Hartmuth
Wrocklage eine detaillierte Liste,
welche Aufgaben sein ASD der
Polizei abnehmen könne.
Volker Foertsch, einst hochrangiger Abwehrexperte beim Bundesnachrichtendienst, arbeitet heute für die Frankfurter
Gesellschaft für Sicherheitsberatung KDM.
Sein Chef dort ist der Kriminaloberrat a. D.
und ehemalige Verfassungsschützer KlausDieter Matschke.
In der KDM-Firmenbroschüre finden sich
reihenweise ehemalige Spitzenkräfte vom
Bundeskriminalamt, aus Ministerien, vom
Verfassungsschutz und vom Militärischen
Abschirmdienst. KDM berät Firmen bei In-
Hamburger Innensenator Wrocklage*
Keine Berührungsängste
Umsatz von 1,4 auf 5,2 Milliarden Mark.
Wie viele Menschen in dem Gewerbe Lohn
und Brot finden, ist unklar. Der Bundesverband Deutscher Wach- und Sicherheitsunternehmer (BDWS) nennt 120 000
Beschäftigte, Tendenz steigend. Der Jurist
und Branchenkenner Rolf Stober dagegen
schätzt, dass die private Armee inklusive
* Oben: in der Justizvollzugsanstalt Mannheim; unten:
vor dem amerikanischen Generalkonsulat mit Beamten
des Bundesgrenzschutzes, 1998.
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W. WEBER
Deutschland
Wachleute, Gäste im Biergarten Großhesselohe (1994): „Das Image muss besser werden“
dustriespionage, Produktpiraterie, Mitarbeiterdiebstahl sowie bei Auslandsengagements und Erpressung. Die Abwehr von
Industriespionen ist längst ein oftmals überlebenswichtiger Produktionsfaktor. In
Deutschland werden nach Auskunft von
Matschke „nur 1600 Unternehmen als geheimschutzbedürftig vom Verfassungsschutz unterstützt“. Aber rund 30 000 Firmen seien potenzielle Ziele für Geheimdienste und ausländische Konkurrenten.
Wie der Anlagenhersteller für Windenergie Enercon in Aurich. Die EnerconLeute hatten eine neue Technik zur preisgünstigen Stromgewinnung entwickelt.
Doch bevor das Produkt serienreif war,
gab eine US-Firma das Verfahren als eigene Erfindung aus und ließ den US-Markt
für Enercon sperren. Die Manager des Unternehmens mutmaßen, dass ihr Fax-Verkehr überwacht und ausgewertet wurde.
Die Arbeitsgemeinschaft für Sicherheit
in der Wirtschaft, der namhafte deutsche
Wirtschaftsverbände angehören, schätzt
den Schaden, der deutschen Firmen jährlich durch Industriespionage entsteht, auf
etwa 20 Milliarden Mark. Der Deutsche Industrie- und Handelstag sponsert bereits einen „Anti-Spionage-Arbeitskreis“.
Kein Wunder, dass Wirtschaftsdetekteien ausgebucht sind. Private haben aus Sicht
der Unternehmen einige unschätzbare Vorteile gegenüber der Polizei: Sie können
schon im Vorfeld einer Straftat ermitteln,
sie sind verschwiegen – und ihre Arbeit
endet nicht an der nächsten Grenze.
Das Londoner Sicherheitsunternehmen
Control Risks, das 300 Angestellte beschäftigt, wirbt mit dem Hinweis, seine Mitarbeiter „ermitteln weltweit in Betrugsfällen, stellen verloren gegangene Vermögenswerte sicher, erbringen Beweismaterial bei Rechtsstreitigkeiten und recherchieren zur Abwehr feindlicher Übernahmen“.
Manchmal allerdings geht auch was daneben. So brachen 1997 die beiden britischen Privatdetektive Michael Flack und
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Bill Whybrow, zwei Ex-Polizisten ihrer Majestät, auf Zypern bei einer Pharmafirma
ein. Sie wurden erwischt und wanderten
für acht Monate ins Gefängnis. Ihr Auftraggeber, gaben die Schnüffler an, sei das
deutsche Chemie-Unternehmen Bayer. Für
1500 Mark Tagesgage pro Mann hätten sie
für die Leverkusener regelmäßig Konkurrenten in Großbritannien, Spanien, Italien, der Schweiz und Kanada ausspioniert.
Bayer bestreitet das. Richtig sei, dass die
Detektive für das Unternehmen auf Zypern gewesen seien, räumt Konzern-Sprecher Thomas Reinert ein. Um sich vor Industriespionage zu schützen, setze Bayer
selbstverständlich auch professionelle
Schnüffler ein. Aber: „Illegale Handlungen
werden weder billigend in Kauf genommen noch stillschweigend toleriert.“
Die meisten Privat-Polizisten verdienen
ihr Geld ohnehin mit weniger spektakulären Aufträgen: In adretten Uniformen
patrouillieren sie auf Bahnhöfen, in Einkaufszentren oder Stadtparks und Wohnvierteln. Dort verbreiten sie in Metropolen
wie Hamburg oder Frankfurt, Berlin oder
München jenes Gefühl von Sicherheit, das
die Polizei mangels Personal immer seltener zu vermitteln vermag.
Die vier Marktführer der Branche – die
schwedische Securitas, die Niedersächsische Wach- und Schließgesellschaft VSU in
Hannover, Kötter Security in Essen sowie
ASD Securicor in Hamburg – beschäftigen
im Werk- und Objektschutz 35 000 Mitarbeiter. Einer der wichtigsten Auftraggeber
ist inzwischen der Staat. Bauämter, Rathäuser, sogar Polizeipräsidien werden von
privaten Wachmännern beschützt. Kötter
Security bewacht im nordrhein-westfälischen Büren das Abschiebegefängnis, Raab
Karcher den Knast in Mannheim. Private
patrouillieren in militärischen Anlagen, gehen in Kernkraftwerken auf Streife und
kontrollieren die Passagiere am Flughafen.
Das Atom- und das Luftverkehrsgesetz
regeln, dass derart heikle Jobs nur von be-
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Deutschland
„Gefährlicher Zustand“
Der nordrhein-westfälische Innenminister Fritz Behrens will
die Arbeit von Hilfssheriffs gesetzlich regeln.
derung des Paragrafen im
SPIEGEL: Das klingt kompliStrafgesetzbuch vor, der den
gibt es nach inoffiziellen Berechnungen ziert.
Notwehrexzess behandelt. Die
so viele Privatsheriffs wie Polizisten. Was Behrens: Ist es aber nicht. Im
neue Formulierung könnte
die Beamten dürfen, ist streng geregelt, Strafgesetzbuch ist das Notlauten: „Ein professioneller
die privaten Konkurrenten unterliegen wehrrecht fixiert. Jeder BürNothelfer kann sich auf diese
nur der Gewerbeordnung.
ger kann, wenn er in eine für
Vorschrift nicht berufen.“ Wer
Behrens: Es ist höchste Zeit, dass die ihn oder andere bedrohliche
dann über die Stränge schlägt,
Tätigkeit der privaten Sicherheitsdienste, Situation gerät, sich wehren
muss mit Bestrafung rechnen.
die ja auch in die Freiheitsrechte der Bür- und sich dabei auf „Verwirger eingreift, gesetzlich geregelt wird. Sie rung, Furcht oder Schrecken“
SPIEGEL: Warum nicht umgehat ein ungeheures Ausmaß erreicht, und berufen …
kehrt ein Spezialgesetz, was
doch findet diese Tätigkeit fast im recht- SPIEGEL: … und geht straffrei Minister Behrens
die Privaten dürfen und was
lichen Niemandsland statt. Wir brauchen aus, wie der Privatpolizist.
sie nicht dürfen?
eine Gesamtkonzeption. Was dürfen Behrens: Das ist der Punkt. Unsere Poli- Behrens: Die von mir vorgeschlagene EinMitarbeiter von privaten Sicherheits- zisten müssen sich stets an den Grundsatz schränkung der Rechte hat gegenüber eidiensten im öffentlichen Bereich wie U- der Verhältnismäßigkeit halten. Sie dürfen ner Befugnisnorm den Vorteil, dass so
Bahn-Stationen, Bahnhöfen oder Laden- nicht übermäßig reagieren, beispielsweise auch nicht der Verdacht quasi staatlichen
passagen? Welche Aufgaben und Befug- nicht prügeln. So gesehen gehen die Ein- Handelns aufkommen kann.
nisse sollen sie haben? Das ist bislang griffsrechte der Privaten weiter als die der SPIEGEL: Auch beim Ausspähen eines Bürnicht ausreichend gesetzlich geregelt, das Polizei, was sehr problematisch ist.
gers oder einer Firma haben Private ermuss geändert werden, und zwar SPIEGEL: Also sollte der Gesetzgeber das hebliche Vorteile gegenüber der Polizei.
schnellstmöglich.
Notwehrrecht einschränken?
Behrens: Datenschutz ist ein ganz wunder
SPIEGEL: Und wie?
Behrens: Nein, aber Profi-Kräfte, ich sage Punkt. Hier ist, bis auf allgemeine BeBehrens: Zuallererst ist ganz wichtig zu mal: Hilfeleister, müssen rechtlich anders stimmungen, nichts geregelt. Wir wissen
definieren, was wir Juristen Zugangs- behandelt werden. Ich schlage eine Än- gar nicht, wie viele und welche Daten die
voraussetzung nennen, also
die Qualifikation der Bewerber …
SPIEGEL: … Hilfssheriff als
Lehrberuf?
Behrens: Ja. Die Ausbildung
ist viel zu kurz, eine Überwachung der Jobs durch die
Gewerbeaufsicht, wie es eigentlich vorgesehen ist, findet kaum statt. Wir müssen
Mindestanforderungen festschreiben, fachschulische
Ausbildungsgänge, effektive
Prüfungsverfahren. Gute Sicherheitsdienste schulen
schon heute ihre Mitarbeiter ständig weiter, aber es
gibt halt nicht nur gute. Für
diese Ausbildungsgänge ist
die Kultusministerkonferenz
zuständig, sie muss sich über
Unterrichtsinhalte einigen.
SPIEGEL: Und wie kann die
Politik die rechtliche Grauzone auflösen, in der die
Dienste arbeiten?
Behrens: Ich will, unter anderem, eine Änderung der
so genannten JedermannsRechte durchsetzen.
Privater Wachmann (in der Stuttgarter Marienpassage): „Schwarze Schafe aussortieren“
J. DIETRICH / NETZHAUT
SPIEGEL: Herr Minister, in Deutschland
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T. KLINK / ZEITENSPIEGEL
U. BAATZ / LAIF
Privaten erheben – wir wissen nur, dass
wir von denen nichts bekommen. Der
Datenaustausch ist nicht geregelt. Der Polizei müssen alle Daten zur Verfügung gestellt werden, das hat auch Schwerpunkt
einer Gesetzesänderung zu sein. Die
rechtliche Voraussetzung für die Durchführung von Ermittlungen und Observationen muss überprüft werden.
SPIEGEL: Wenn die Polizei auf Grund richterlicher Ermächtigung einen Lauschangriff startet, muss der Betroffene später
informiert werden. Wenn Private Wanzen einsetzen, erfährt davon niemand.
Behrens: Das ist ein gefährlicher Zustand,
der dringend geändert werden muss.
SPIEGEL: Große deutsche Sicherheitsunternehmen favorisieren ebenfalls feste
Normen und Vorschriften.
Behrens: Die haben natürlich ein Interesse daran, ihr Gewerbe aus dem Dunkelfeld herauszuholen. Und sie wollen klare Regeln, damit es keinen Zweifel an ihrer Tätigkeit gibt. Gleichzeitig können sie
auf diesem Wege schwarze Schafe aussortieren.
SPIEGEL: Ist die Polizei nicht selbst mit
schuld am Boom der privaten Schützer?
Behrens: Sie denken an mangelnde Präsenz? Es ist gar nicht zu leugnen, dass in
der Vergangenheit Fehler gemacht wurden. Tatsächlich hat es lange an der nötigen Präsenz auf der Straße gefehlt, weil
die Polizistenjobs an Schreibtischen oder
in Streifenwagen attraktiver
und auch besser bezahlt waren. Der Trend hat sich aber
längst umgekehrt: Wir haben
in Nordrhein-Westfalen 47 900
Polizisten, so viele wie noch
nie. Die Bezirksdienste sind
flächendeckend organisiert,
wir schicken die Beamten bewusst auf die Straße. Überall
gibt es Partnerschaften zwischen Polizei und anderen Institutionen. Dieses Prinzip hat
sich sehr bewährt.
SPIEGEL: Wann kommen die
neuen Regelungen?
Behrens: Derzeit diskutieren
wir Länderinnenminister mit
der Bundesregierung, eingeschaltet ist auch der Wirtschaftsminister. Er sieht die
Problematik immer noch lediglich unter dem gewerberechtlichen Aspekt und steht
mit dem Fuß auf der Bremse.
Wenn der Bund nicht bis Ende Oktober zu Potte gekommen ist, wird Nordrhein-Westfalen allein handeln und über
den Bundesrat initiativ werden. Interview: Georg Bönisch
Schießtraining bei Securitas: Bodyguards für 60 Mark pro Stunde
sonders geschultem Personal erledigt
werden dürfen. Doch ansonsten ist der
Zugang zum Sicherheitsgewerbe für fast
jedermann offen: Wachmann werden
kann praktisch jeder. Bis Ende 1994
reichte ein polizeiliches Führungszeugnis,
seither ist in der Gewerbeordnung zumindest eine Minimalausbildung vorgeschrieben: 24 Stunden Unterricht sollen
ausreichende Kenntnisse in Öffentlichem
Recht und Privatrecht, Straf- und Strafverfahrensrecht sowie Waffenrecht abdecken und ein bisschen Menschenkenntnis vermitteln.
„Das Image muss besser werden“, klagt
Ralf Brümmer vom Branchenführer Securitas. Der schwedische Sicherheitskonzern, der allein in Deutschland 15 000 Mitarbeiter hat, gilt weltweit als Nummer eins
der Branche, seit er die legendäre US-Detektei Pinkerton übernommen hat.
Die Firma, zu der seit 1998 auch Raab
Karcher gehört, kontrolliert Personen und
Gepäck am Berliner Flughafen Tegel, bewacht bundesweit S- und U-Bahnen,
schützt Atomkraftwerke und Kasernen.
„Kein Mitarbeiter geht in ein Objekt, ohne
zuvor entsprechend ausgebildet worden zu
sein“, beteuert Brümmer.
Das gelte besonders für den bewaffneten
Personenschutz. Ausgebildet und betreut
werden die Securitas-Bodyguards von dem
früheren Bundesgrenzschützer Dieter Fox,
einst Mitglied der legendären Anti-TerrorEinheit GSG 9. Für 60 bis 150 Mark pro
Stunde erhalte der Kunde nach Brümmers
Angaben einen Leibwächter, der überdurchschnittlich gut schießt und im Notfall
Angreifern mit filmreifen Autostunts entkommen kann.
Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) betrachtet die Entwicklung mit Argwohn. „Es
besteht die Gefahr, dass die grundlegende
Funktion des Staates, Sicherheit für seine
Bürger zu schaffen, mehr und mehr privaten Anbietern übertragen wird“, klagt
GdP-Sprecher Konrad Freiberg.
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Doch Hamburgs Innensenator Wrocklage hat damit keine Probleme: „Es muss vornehmlich darum gehen, gut ausgebildete
Polizeibeamte für polizeiliche Aufgaben
einzusetzen und sie von nichtpolizeilichen
Aufgaben zu entlasten, wenn Privatunternehmen diese rechtmäßig, qualitativ hochwertig, schneller und wirtschaftlicher wahrnehmen können.“ Der Staat habe zwar das
Gewaltmonopol, nicht aber das Monopol
auf die Gewährung der Sicherheit.
Die Kooperation ist mancherorts schon
weit gediehen. An der Verwaltungsfachhochschule in Altenholz bei Kiel etwa, wo
Polizisten zu Kommissaren ausgebildet
werden, können sich seit Mitte Februar sogar Angestellte privater Wachfirmen zu
Führungskräften der Sicherheitsbranche
schulen lassen. Das Studium dauert zwei
Jahre. Am Ende bekommt der Absolvent
ein Fachhochschulzeugnis. In Frankfurt
schloss die Polizei kürzlich einen Kooperationsvertrag mit dem BDWS als „beobachtender“ Partner.
Das BKA hat offenbar ebenfalls keine
Berührungsängste. Als dort vorvergangene
Woche die Entführung eines deutschen
Kaufmanns in Kolumbien auf der Tagesordnung stand, stellten die BKA-Beamten
ein paar Zivilisten mit dem lockeren Hinweis vor: „Das sind die Kollegen von Control Risks.“
Die Bundesregierung hat erkannt, wohin
der Trend läuft. Im Koalitionsvertrag ist
ausdrücklich festgehalten, das rot-grüne
Bündnis wolle die „Aufgaben und Befugnisse des Sicherheitsgewerbes gesetzlich
regeln“. Doch im Augenblick haben die
Regenten andere Sorgen. Sicherheitsfragen, klagt der SPD-Innenexperte Dieter
Wiefelspütz, seien derzeit „kein Thema“.
Jetzt will Nordrhein-Westfalen Druck
machen. „Wenn der Bund nicht bis Ende
Oktober zu Potte gekommen ist“, so
NRW-Innenminister Fritz Behrens, werde
sein Land im Bundesrat die Initiative ergreifen.
Andreas Ulrich
81
Werbeseite
Werbeseite
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Deutschland
Gerhard Schröder
1991
1992
1993
1994
POLITIKER
Häutungen im Zeitraffer
Die Münchner Fotografin Herlinde Koelbl hat seit 1991 jährlich einen ausgesuchten Kreis
von aufstrebenden Politikern und Managern in Bild und Ton festgehalten.
Ihre Arbeit dokumentiert die Deformierungen der Mächtigen durch die Macht.
P
olitiker sind auch nur Menschen.
Aber was für welche? Emotional verkrüppelt, kalt, berechnend und verlogen, karrieregeil, machtsüchtig, eitel und
hinterhältig – weiß doch jeder.
Aber dass sie selbst es auch wissen, ungeschützt darüber reden und ihre Bekenntnisse mit Bild- und Tondokumenten
auch noch zur Veröffentlichung freigeben
– das ist neu und ungewöhnlich.
Der Münchner Fotografin und Buchautorin Herlinde Koelbl, 59, ist dieses Kunststück gelungen. 15 aufstrebende Machtmenschen aus Politik und Wirtschaft, die
sie in der Zeit von 1991 bis 1999 einmal
jährlich fotografierte und ausfragte, ließen
bei ihr die gewohnte Vorsicht fahren. Sie
hatten den Mut oder die Tollkühnheit, ehrlich zu sein, obwohl sie wussten, dass ihnen
das schaden kann.
Nicht nur über den politischen Überlebenskampf redeten sie. Auch über Ehekrisen, Eifersucht und Partnerfrust, über KonJoschka Fischer
86
kurrenten und Verbündete, über Niederlagen und Triumphe, über Visionen und
Ängste, über Vater und Mutter, Kirche und
Gott – als säßen sie im Beichtstuhl.
Mit der Kamera wollte Koelbl dokumentieren, wie sehr sich die Mächtigen
im Lauf der Jahre verändern, wenn sie
ein wichtiges Amt haben – oder es verlieren. Aber auf den optischen Beleg ihrer
These allein verließ sie sich – zum Glück –
nicht. Neben ihrer Hasselblad (Baujahr
1978) brachte sie jedes Mal auch ein Tonbandgerät, eine Videokamera und viele
Fragen mit.
Das Ergebnis der Langzeit-Observation
legt sie jetzt vor. Es bestätigt die Befürch* Herlinde Koelbl: „Spuren der Macht“. Knesebeck Verlag, München; 390 Seiten; 98 Mark. ARD: „Spuren der
Macht – Die Verwandlung des Menschen durch das
Amt“, 29. September, 23.00 Uhr; West III: „Spuren der
Macht – Joschka Fischer“, 4. Oktober, 22.35 Uhr; „Spuren der Macht“ – Ausstellung im Kronprinzenpalais Unter den Linden, Berlin, 12. Oktober bis 16. November.
1991
1992
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tungen – allerdings weniger durch die
Bilder als durch die Interview-Texte, die
Koelbl aus den Ton- und Videobändern
destillierte*.
Gewiss ist es eindrucksvoll, im Zeitraffer zurückzuverfolgen, wie sich Mimik und
Gestik eines Prominenten im Lauf der
Jahre geändert haben. Ohne die begleitenden Gespräche und Geständnisse aber
wären die Bilder-Reihen banal: Jeder
Mensch, der älter wird, ändert sich –
mit und ohne Amt. Erst die Kombination
von Wort und Fotografie gibt dem Projekt
Tiefenschärfe und macht aus dem Bildband einen spannenden und aufregenden
Report über den Zustand der politischen
Klasse.
Menschlichkeit scheint in dem Gewerbe
Mangelware zu sein. Freundschaft, Solidarität, Zuneigung zählen nicht. „Was die
Politiker als Freundschaft ausgeben, ist
meistens Kumpanei auf Zeit“, gab Gerhard
Schröder noch als Ministerpräsident An1993
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1994
1995
fang 1994 zu Protokoll. Er sprach aus Erfahrung. Fairness? „Können Sie völlig abhaken“, bekannte die heutige CDU-Generalsekretärin Angela Merkel. Offenheit?
„Ich verstelle mich mehr.“
Wenn es hart auf hart geht, lernte Monika Hohlmeier, mittlerweile CSU-Kultusministerin in Bayern, ist „in der Politik
selbst unter persönlichen Freunden die eigene Sicherheit höherwertig“. Gemeint
war der Ministerpräsident Edmund Stoiber, der – obwohl ein treuer Vasall ihres Vaters Franz Josef Strauß und sogar Patenonkel eines ihrer Kinder – zu ihr und der
Familie auf Distanz gegangen war, als 1993
die Amigo-Affären ruchbar wurden.
Dass Macht eine Droge ist und eigentlich
unter das Betäubungsmittelgesetz fallen
müsste, weil sie schnell von denen Besitz
ergreift, die glauben, sie gefahrlos „ausüben“ zu können, haben alle erfahren,
auch wenn sie es anders nennen.
„Ein Rausch ist es nicht“, sagt die Kieler Ministerpräsidentin Heide Simonis,
„aber ein Lustgefühl.“ Monika Hohlmeier
spricht von der prickelnden „Erotik“, Entscheidungen fällen und Dinge verändern
zu können. Schröder findet nur „Spaß“
am Regieren – unter „Erotik“ verstehe er
etwas anderes, fügt er süffisant hinzu.
Aber fast immer, wenn sie über ihre Gefährdungen reden, geraten Vokabeln aus
dem Drogenbereich in ihre Sprache. „Ich
bin süchtig nach Selbstbestätigung“, bekennt Renate Schmidt, SPD-Oppositions-
1996
1997
führerin aus Bayern. Angela Merkel berichtete bereits im ersten Ministeramtsjahr,
sie habe im Urlaub schon nach zwei Tagen
„Entzugserscheinungen“.
Alle Geständnisse passen so gut ins Klischee vom „schmutzigen Geschäft“, dass
man fast schon wieder misstrauisch werden
muss. Politiker können auch mit Worten
posieren, wenn es um ihr Fortkommen
geht, und darum geht es fast immer. Die Attitüde der Selbstzerknirschung putzt in
Zeiten wachsender Polit-Verdrossenheit
ganz ungemein.
Vielleicht aber fanden sie es nicht nur
schmeichelhaft, sondern tatsächlich wohltuend, von einer bekannten und angesehenen Porträt-Fotografin so einfühlsam behandelt zu werden. Sie konnten sicher sein,
dass ihnen ihre Konfessionen nicht im aktuellen Tagesgeschäft um die Ohren fliegen
würden. Denn für die Dauer des Projekts
war Stillschweigen vereinbart. Und für die
Zeit danach galt nur das autorisierte Interview-Wort.
Merkel war zunächst misstrauisch. „Was
soll der Quatsch?“, fragte sie. „Das Buch
erscheint ja erst in acht Jahren, man muss
heute in der Presse auftauchen“ – da hatte sie ihre ersten Lektionen bereits gelernt.
Später aber merkte sie, dass ihr die jährliche Befragung wichtig geworden war.
„Ich musste also feststellen, dass ich offensichtlich doch eitel genug bin, Ihr Projekt interessant zu finden“, gestand sie der
Autorin zum Schluss.
1995
1996
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Anfangs wollte sich die Frau aus der
Uckermark „nicht vorstellen, dass mein
restliches Leben so ablaufen wird, wie
es jetzt abläuft“. Im siebten Amtsjahr
aber stellte sie fest, was alle irgendwann
einmal bemerken: „Ich bin nicht mehr so,
wie ich war.“
Privaten Gesprächen könne sie nicht
mehr lauschen, ohne das Gefühl zu bekommen, sie müsse leitend eingreifen – ein
typisches Machtsyndrom, über das fast alle
klagen. Auf den Bildern ist die Verwandlung vom kleinen Ossi-Mädchen zur Chefin der CDU-Zentrale gut zu verfolgen:
Anfangs guckt sie scheu von unten nach
oben in die Kamera. Zum Schluss reckt sie
das Kinn selbstbewusst nach oben.
Die Verbindung von Fotografie und Interview, die die Künstlerin auch bei früheren Arbeiten („Jüdische Portraits“ oder
„Wie Schriftsteller zu Werke gehen“) erfolgreich praktizierte, verschafft dem Betrachter eine Kontrollmöglichkeit, die er
beim bloßen Lesen der Texte nicht hat: Er
kann überprüfen, ob die verbale Attitüde
echt ist oder ob die Körpersprache etwas
ganz anderes ausdrückt.
Denn manchmal dementiert der Körper
die Worte. „Ich bin jetzt weniger verletzlich als früher“, verkündet Joschka Fischer,
nachdem sich seine Frau Claudia im August
1996 von ihm getrennt hat. Aber sein
Gesicht will gar nicht dazu passen. Wie
ein kleiner Vogel, der aus dem Nest gefallen ist, reckt er den wieder dünnen Hals
1997
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1998
1998
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Deutschland
Angela Merkel
1991
und blickt aus tiefen Augenhöhlen traurig
in die Kamera.
Auch bei Schröder passen Pose und Wort
nicht immer zusammen. Wenn er im Januar 1994 – rückblickend auf das für ihn verheerende Vorjahr – erklärt, er habe das
„Fernziel Bundeskanzleramt“ aufgegeben,
lohnt es sich, das dazugehörige Bild genauer zu betrachten. Da guckt einer ziemlich arrogant und finster entschlossen in
die Kamera. Von wegen Verzicht, sagt der
Blick. Euch werde ich es noch zeigen.
In Schröders Gesicht hat der Kampf um
die Macht kaum Spuren hinterlassen. Jedenfalls fallen sie auf den ersten Blick
kaum auf. Herlinde Koelbl entdeckte und
fotografierte dennoch eine bemerkenswerte Änderung.
Als die Fotografin den Ministerpräsidenten von Niedersachsen im Oktober
1991 das erste Mal traf, leuchteten seine
Augen. „Was ich von mir selbst erwarten
konnte, habe ich erreicht“, sagte er stolz.
„Das Land Niedersachsen muss mich jetzt
malen lassen, in Öl. Daran war ja gar nicht
zu denken, als ich anfing.“
Anfang 1999 aber, als feststand, dass
Deutschland ihn jetzt malen lassen muss,
war das Leuchten verschwunden. „Er ist
härter geworden, der Blick kälter“, registriert die Künstlerin.
Fischers plötzliche Verdünnung und
die damit einhergehende allmähliche Verfertigung des Staatsmanns beim (und
durch das) Reden ist das Glanzstück im
Monika Hohlmeier
88
1992
1993
„Macht“-Werk der Porträt-Künstlerin,
optisch wie verbal. Kein anderer Mitspieler hat derart spektakuläre Häutungen
durchgemacht und sie hinterher so wortgewaltig als Haupt- und Staatsaktion inszeniert wie er.
Feist und stiernackig, dem jungen Franz
Josef Strauß verblüffend ähnlich, und von
gleicher Beredsamkeit wie dieser, so baute er sich in den ersten Jahren vor der Fotografin auf. Anfangs versucht er noch, die
Hände schützend vor die Wölbungen des
Bauches zu legen. Aber als sie ihn im November 1995 darauf anspricht, breitet er
die Arme aus, legt sie hinter die Stuhllehne und posiert, breit und bräsig – ein
Machtmensch mit Bauch. „Politiker, das
sind die Menschen mit den schmalen Lippen“, höhnte er. „Weil man so viel wegstecken muss. Runterschlucken muss.“
Ein Jahr später sieht er selbst wie einer
aus. Und es wird Jahre dauern, bis der
Blick wieder fest und die Lippen wieder
voll geworden sind – im November 1998 ist
es so weit und die Verwandlung zum
Staatsmann vollendet. Da ist er Außenminister und wieder fest liiert.
Nicht die Macht ließ ihn dünn werden,
sondern die Ohnmacht, nichts ändern zu
können. Als seine Frau Claudia mit einem
anderen auf und davon ging, weil sie Kinder haben wollte, inszenierte Fischer die
Katastrophe als Katharsis: Die Journalisten
sollten sich mit seiner Abmagerung beschäftigen und ihn mit der Ehesache in
1991
1992
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Ruhe lassen – eine Zeit lang funktionierte
das Ablenkungsmanöver ganz gut.
Die Welt wenigstens zu erklären, wenn
man sie schon nicht verändern kann – das
war immer Fischers Leidenschaft. Der
plötzliche Tod des Vaters, dessen „nach
Fett riechende Arbeitstasche“ der Metzgers-Sohn aus dem Schlachthof holte, wird
im Gespräch mit Herlinde Koelbl zum Erweckungserlebnis: „Da sagte ich mir: Nein,
so nicht, so wirst du nicht enden. Damit
hatte ich mich endgültig entschlossen, die
mir vorgegebene Existenz hinter mir zu
lassen.“
Das unabwendbare Scheitern seiner Ehe
deutet Fischer retrospektiv zur DamaskusWende um – wortgewaltig und bilderreich,
wie die Bibel, in der er gern liest. „Es war
am Swimmingpool unseres Ferienhauses.
In dem Moment, wo mir klar war, es ist
vorbei, jetzt bist du allein, da fiel mir
der Himmel auf den Kopf, und gleichzeitig gab es ein riesiges Erdbeben. Ich
wusste, entweder nutzt du jetzt die
Chance, dein Leben völlig neu zu sortieren, oder du kommst unter die Räder
und säufst dich tot.“
Warum wird so einer Politiker? Und was
treibt einen Mann wie Schröder auf die
Rampe?
Dem Ministerpräsidenten Schröder, der
vorher Anwalt war, ist ein Satz entschlüpft,
der vermutlich für alle in der Zunft gilt:
„Wenn ich nicht Politiker wäre, würde ich
etwas machen, das auch mit Darstellung zu
1993
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1994
1994
1995
tun hat.“ Politik als großes Welttheater und
er – zugleich Regisseur und Hauptperson
– immer mittenmang. Das war und ist
Schröders Traum.
Nie vergisst er, den Leuten zu erklären,
dass er einer ist, der immer unter Wert gehandelt wurde und sich deshalb durchbeißen musste. „Ich musste mich von Anfang an selbst darum kümmern, dass ich
nicht zu kurz kam.“
Bei Fischer und Heide Simonis sind es
die übermächtigen Mütter, denen sie durch
die Flucht in die Öffentlichkeit zu entkommen suchten. „Vieles von dem, was ich
gemacht habe, habe ich sozusagen gegen
sie getan“, berichtet Fischer.
Sie sei, bekennt Simonis, ihr Leben lang
von der Mutter erdrückt und ungerecht
behandelt worden und eigentlich nur
deshalb in die Politik gegangen, um
„meiner Mutter zu zeigen, dass ich nicht
in der Gosse lande“, wie die es immer prophezeit hatte.
Dürfen Politiker so ehrlich sein? Oder ist
Offenheit nur eine besonders raffinierte
Form der Tarnung?
Heide Simonis war lange genug in Bonn,
um zu wissen, wie die Kumpanei zwischen
Medienleuten und Politikern funktioniert.
Je enger man aufeinander hockte und je
mehr man, auch privat, voneinander wusste, desto weniger stand darüber in den Zeitungen. „Dieses Getue, dass wir rückhaltlos offene Menschen seien, ist ein Teil des
Schutzschildes“, sagt sie deshalb. „Wer
1996
1997
wirklich offen wäre, würde sofort in ein
offenes Messer rennen.“
Mag sein, dass es so ist – aber Heide Simonis rennt, und zwar in jedes offene Messer. Geradezu selbstmörderisch rücksichtslos tischt sie ihre Selbstbezichtigungen auf: „Dass ich Niederlagen nur mit
Mühe verkrafte. Dass ich eine schlimme
Nervensäge sein kann. Vielleicht auch eine
gewisse Rücksichtslosigkeit und mit
Sicherheit ein grauenvolles Mundwerk“ –
alles Eigenschaften, die sie ihrer Mutter
verdanke.
Gegen sie wird ein ganzes Politikerleben
ins Feld geführt, sie ist der Aggressor, mit
dem die Tochter sich immer noch identifiziert. „Ich sehe in den Spiegel und sehe
meine Mutter.“ Das ist keine Attitüde, sondern die blanke Not. „Ich will Recht behalten, nicht nur Recht bekommen. Recht
haben“ – redet so ein Mensch, der vor den
Leuten schöntun will?
Mehrfach haben ihre Mitarbeiter sie beschworen, sie möge die allzu freimütigen
Passagen wieder aus den Interviews streichen. Nächstes Jahr sei Wahlkampf, und
man wisse nie, ob die Union die offenherzigen Bekenntnisse der Landesmutter nicht
gegen sie verwenden wird. Aber sie blieb
dabei: Es sei nun mal gesagt, und sie habe
es autorisiert.
Schröder bekam Bedenken, je weiter das
Koelbl-Projekt gedieh. Anfangs war er hellauf begeistert und erzählte überall stolz,
dass er für ihre Langzeit-Beobachtung aus1996
gewählt worden war, obwohl damals doch
Björn Engholm der Hoffnungsträger war.
Und in den ersten Jahren breitete er
auch sein Privatleben bereitwillig aus. Mal
prahlte er mit Ehefrau Hillu („Ich bin mit
der schönsten Frau verheiratet, die ein Politiker in diesem Land jemals hatte“), mal
verklärte er seine Ehekräche als andauernden Lernprozess („Was mich hoffen
lässt, ist gerade die Tatsache, dass gestritten wird“).
Als es dann aus und vorbei war, fand er,
dass seine Ehe „niemanden etwas angeht“.
Wenn ein Lebensentwurf scheitere, fügte
er hinzu, sei das „nicht, wie wenn man
eine Tasse Kaffee ausschüttet“, sondern
durchaus „ein schmerzhafter Prozess“.
Seitdem blockte er alle Fragen nach seinem Privatleben rigoros ab. Kein Wort
mehr über Hillu. Kein Wort über den
schnellen Wechsel zu Doris. „Verluste“
habe es „sicher“ gegeben, beim Aufstieg
nach oben. Aber: „Das ist ein Bereich, der
gehört nicht in die Öffentlichkeit.“
Und je näher die 98er Wahl und das
Kanzleramt rückten, desto mürrischer und
verschlossener wurde Schröder.
Ein Zeitungsartikel, so lamentierte er,
habe keine langfristige Wirkung: Die Leute würden ihn lesen und vergessen. Ein
Buch aber, das man in den Schrank stellen
und jederzeit wieder hervorholen könne,
das sei doch viel zu riskant.
Der Mann könnte Recht behalten.
Hartmut Palmer
1997
1998
H. KOELBL
1995
1998
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Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Wirtschaft
Trends
Verdacht in Frankfurt
D
ie Affäre um die Geldverschiebung russischer Milliarden
weitet sich nun nach Deutschland aus. Die Deutsche Bank
und die Dresdner Bank haben beim hessischen Generalstaatsanwalt in Frankfurt Verdachtsanzeigen erstattet, in denen sie
dubiose Finanztransfers von Firmen und Personen auflisten, die
bereits in den USA ins Visier der Geldwäsche-Ermittler geraten sind und die offenbar auch
über die beiden deutschen
Großbanken Gelder bewegten.
Auch in anderen Banken,
die Geschäftsbeziehungen mit
Russland unterhalten, forschen
Expertenteams systematisch
nach auffälligen Kontenbewegungen. Die Geldhäuser sind
verpflichtet, dem Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen
mitzuteilen, was sie unternehmen, um den Finanzplatz
Deutschland sauber zu halten –
Experten rechnen mit weiteren
Geldwäsche-Fällen. Nach Einschätzungen des Aufsichtsamts
ist Deutschland eine Dreh-
scheibe für russische Milliarden, die zwischen Osteuropa und
angloamerikanischen Instituten hin- und herfließen. Im
Mittelpunkt steht die Firma Benex Worldwide, die von dem
mutmaßlichen Moskauer Unterweltboss Semjon Mogiljewitsch
gegründet wurde (SPIEGEL 35/1999). Jetzt übernimmt die gemeinsame Finanzermittlungsgruppe von Bundeskriminalamt
und Zollfahndung (GFG) die Recherchen – am vergangenen
Freitag erhielten die Fahnder in Frankfurt ein Dossier mit den
verdächtigen Kontenbewegungen. Die GFG will zunächst bundesweit bei Staatsanwaltschaften und Landeskriminalämtern
weitere Erkenntnisse zur Russen-Connection sammeln.
P. LANGROCK / ZENIT
G E L D WÄ S C H E
Bankenmetropole Frankfurt
BERTELSMANN
Kampf in der Luft
„Keine
Waffengleichheit“
D
GAMMA / STUDIO X
ie britische Billig-Fluglinie Virgin
Express will von November an die
Flugpreise auch auf dem deutschen
Markt mit Dumping-Angeboten attackieren. Die Airline des Multi-Unternehmers Richard
Branson bietet dann
Tickets an, die bis
zu 70 Prozent unter
den Marktpreisen
liegen. Die Discount-Flieger starten zunächst zweimal täglich von Berlin-Schönefeld nach
London-Stansted
und einmal täglich
Branson
nach Brüssel sowie
Rom. Das One-Way-Ticket für die
Boeing-737-Maschinen nach London ist
zu Kampfpreisen ab 99 Mark zu haben.
Flugscheine nach Brüssel kosten 49
Mark, nach Rom 149 Mark. Alkoholfreie
Getränke werden spendiert, Menüs jedoch gibt es nicht. Branson rechnet fest
damit, „den Erfolg über die DumpingPreise einstreichen zu können“.
Bertelsmann-TV-Vorstand Michael
Dornemann, 53, über die Fusion von
Viacom und CBS
SPIEGEL: In den USA entsteht ein neuer
TV-Gigant. Gerät Bertelsmann durch
den Mega-Deal nicht unter Zugzwang?
Dornemann: Die Größe ist nicht das Entscheidende, sondern die Stellung in den
Einzelmärkten, und da ändert sich für
uns praktisch nichts.
SPIEGEL: Aber Sie haben auf dem USMarkt kaum Chancen. Ihr Konzern hat
weder TV-Sender noch ein
Studio.
Dornemann: Sicher wäre es
nicht unangenehm, direkt
an Filme zu kommen und
mit einem Network Verbindung zu haben, aber es
gibt keine strategische
Notwendigkeit dafür. Wir
sind in erster Linie ein europäisches Fernsehunternehmen. Langfristig kann Dornemann
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es im Rahmen von Allianzen natürlich
zu Verbindungen mit einem US-Network kommen. Aber im Moment gibt es
keine derartigen Gespräche.
SPIEGEL: Viacom/CBS will auch in Europa expandieren. Wie reagieren Sie?
Dornemann: Ich habe schon immer
gesagt, dass die Amerikaner irgendwann massiv bei uns eindringen werden. Es gibt keine Waffengleichheit,
weil sie den direkten Zugriff auf internationale Produktionen haben. Deshalb sollten sich auch die europäischen
Konzerne gegen die Amerikaner aufstellen. Es ist nicht sehr schön, wenn
ein Land den Entertainment-Bereich
der ganzen Welt beherrscht. Wir sind
gut positioniert, müssen aber noch
kräftig weiterwachsen.
SPIEGEL: Der neue
Konzern stört Sie
auch mit seinen
Online-Aktivitäten.
Dornemann: Im Internet sind wir
dank unserer Zusammenarbeit, vor
allem mit AOL,
dem neuen Unternehmen meilenweit
voraus.
W. v. BRAUCHITSCH
FLUGVERKEHR
93
Trends
ALLIANZ
er Wettbewerb zwischen Deutschlands größtem Versicherer Allianz
und den Banken wird härter. In insgesamt 30 deutschen Städten will die Allianz nun Geschäfte eröffnen, in denen
Investmentfonds verkauft werden sollen. „Wir haben da einigen Ehrgeiz“,
sagt Finanzvorstand Diethart Breipohl,
der zugesteht, dass bisher die Fondsgesellschaften der Banken die größeren
Vertriebserfolge hatten. Bereits Ende
September wird, so Breipohl, in Stuttgart das erste „Allianz Investmentforum“ in der Innenstadt eröffnet. Nach
dem Vorbild des amerikanischen Discountbrokers Charles Schwab sollen
nicht nur eigene Fonds, sondern auch
Produkte anderer in- und ausländischer
Fondsgesellschaften angeboten werden.
B E R AT E R
McKinsey-Manager
wechseln Fronten
I
J. H. DARCHINGER
n Frankfurt sorgt der Wechsel der drei
McKinsey-Partner Klaus Droste,
Michael Sautter und Stephan Leithner
in das Investmentbankgeschäft der
Deutschen Bank für Aufregung. Sautter,
einer der drei hochrangigen Mitarbeiter
der Unternehmensberatung, hat gerade
den Wettbewerber Dresdner Bank beraten. Im Auftrag des Vorstands hatten er
und sein Team in den vergangenen Monaten ausführlich alle Stärken und
Schwächen der Dresdner Bank untersucht. Die Studie war
der Anlass für Vorstandssprecher Bernhard Walter, Verhandlungen mit der Deutschen Bank über das
Massenkundengeschäft aufzunehmen.
Nun könnten bei den
Verhandlungen sensible Daten bei der
Henzler
Deutschen Bank landen, so die Angst bei der Dresdner
Bank. „Wir gehen davon aus, dass
Sautter sich professionell verhält“,
heißt es bei der Dresdner Bank. Es ist
den McKinsey-Beratern in einem Verhaltenskodex untersagt, Kundendaten
auszuplaudern. Auch für Herbert Henzler, Europa-Chef von McKinsey, ist der
Abgang der Mitarbeiter ein schwerer
Schlag. Droste sollte bei der Unternehmensberatung den Bereich Firmenzusammenschlüsse ausbauen.
94
Die Flop-Liste der Hypobank
W
eiter für Wir- des fehlt eine Baugenehmigung.Auch das
bel sorgt das Berliner Renommierprojekt „OberbaumCity“ unweit vom S-Bahnhof WarschauMilliardendebakel
der ehemaligen Hy- er Straße erwies sich als Millionengrab.
pobank. Bisher wei- Eine Banktochter kaufte dort 1992 von
gerten sich die Vor- der Treuhandanstalt das heruntergekomstände, die Liste der mene Industriegelände des Ex-DDRLampenkombinats „Narva“. Das denkPleite-Immobilien
zu veröffentlichen. malgeschützte Gelände musste gleich
Ein kürzlich vorge- nach dem Erwerb entseucht werden. Statt
Martini
legtes 120-seitiges der erhofften 240000 Quadratmeter beGutachten, erstellt von zwei Professoren kamen die Hypo-Banker nur 180 000
im Auftrag der Prüfungsfirma Wedit, Quadratmeter genehmigt. Von den seitenthüllt nun erstmals alle wichtigen her errichteten Gebäuden ist bislang nur
Immobilienprojekte und erlaubt so eine die Hälfte vermietet, für 20 Mark statt
kritische Bestandsaufnahme. Unter den der ursprünglich kalkulierten 30 Mark.
eingekauften Grundstücken findet sich Wie freizügig die Hypobank mit dem
das Gelände des Battelle-Instituts in Frankfurt, dort steht ein stillgelegter Forschungsreaktor. Von den rund
55 000 Quadratmetern,
die Hypo-Manager vor
zehn Jahren zum Preis
von je 2000 Mark kauften, können nach heutigem Stand nicht mal
ein Drittel bebaut
werden. Ein Mieter
für die Mammutfläche
ist nicht in Sicht.
Verspekuliert haben
sich die Banker offenbar auch mit einem Pro- Hypo-Immobilie in Berlin: Keine Besserung in Sicht
jekt im nahen Eschborn. Dort wollten die Hypo-Manager Geld ihrer Aktionäre und Kunden umeinen Büroturm mit 44000 Quadratme- ging, zeigt auch ein Beispiel aus dem
tern errichten. Doch die Gemeinde Münchner Vorort Poing. Für 950 Mark
bewilligte nur halb so viel. Als mitt- pro Quadratmeter kauften die Hypo-Maleres Desaster entpuppten sich zudem nager dort vor zehn Jahren massenweise
Großprojekte in Berlin. Um am Immo- Bauerwartungsland auf.
bilienboom in der neuen Hauptstadt mit- Um den Einstandspreis für die geplanten
zuverdienen, kauften die Hypo-Mana- Wohnungen inklusive Zinsen, Baukosten
ger Anfang der Neunziger gigantische und Erschließung wieder einzuspielen,
Flächen auf, zum Beispiel rund 140000 müssten die Banker fast 9000 Mark pro
Quadratmeter in einem drittklassigen Quadratmeter verlangen. Solche SumGewerbegebiet. Das einzige existierende men werden in München allenfalls im
Bürogebäude auf dem Areal im Stadt- feinen Bogenhausen bezahlt. Die Immoteil Lichtenberg steht seit drei Jahren bilienflops interessieren auch die
leer. Auch zwei andere Standorte in Münchner Staatsanwaltschaft. Seit DeBerlin bieten ein trostloses Bild. zember ermittelt die Behörde gegen ExGegenüber vom geplanten Großflug- Hypo-Chef Eberhard Martini, zwei seihafen Schönefeld sicherten sich die Bay- ner Ex-Kollegen und drei Wedit-Prüfer
ern 1991 für 100 Mark pro Quadratmeter wegen des Verdachts der Untreue und
unbebautes Ackerland, auf das locker Bilanzfälschung. Die Ermittler vermu150 Fußballplätze passen würden. Ob ten, dass Martini und seine Berater die
und wann der Mega-Airport gebaut wird, Anfang der Neunziger erworbenen
ist nach der geplatzten Privatisierung wie- Großprojekte in der 1997er-Bilanz des
der offen. Für gut die Hälfte des Gelän- Instituts viel zu hoch bewertet haben.
PENNY / IMAGES.DE
D
A F FÄ R E N
N. NORDMANN
Shops für Aktienfonds
d e r
s p i e g e l
3 7 / 1 9 9 9
Geld
Aktien großer Telefonanbieter
in Euro
45
65
150
160
40
55
130
35
120
45
110
30
90
35
70
25
80
25
20
1998
Sept.
1999 Quelle: Datastream
Jan.
Sept.
40
1998
Sept.
1999
Jan.
Sept.
TELEFON-AKTIEN
Herbe Kursrückschläge
I
n der Telekommunikationsbranche trennt sich, gut eineinhalb
Jahre nach der Freigabe des Marktes, nun auch bei den Aktien die Spreu vom Weizen. Während Allround-Anbieter (Mobilfunk, Festnetz, Internet) wie Mannesmann oder die Deutsche
Telekom in den vergangenen Monaten stetige Kursgewinne
realisieren konnten, haben viele kleine Konkurrenten herbe
Rückschläge hinnehmen müssen. So stürzte beispielsweise der
50
1998
Sept.
1999
Jan.
Sept.
15
1998
1999
Sept.
Jan.
Kurs von Mobilcom nach einem Höchststand von 155 auf knapp
65 Euro. Auch der einstige Börsenüberflieger Teldafax, der
noch Anfang des Jahres mit einem Kurs von über 60 Euro
glänzte, muss sich inzwischen mit deutlich niedrigeren Notierungen zufrieden geben. In der vergangenen Woche rutschte
Teldafax unter 18 Euro. Ein Grund für die rasante Talfahrt ist
der drastische Verfall der Preise im sogenannten Call-by-callGeschäft, auf das sich diese Unternehmen spezialisiert haben.
Hohe Mietleitungs- und Abrechnungspreise schmälern, vor
allem bei Firmen mit geringer eigener Infrastruktur, die Renditen. Außerdem ist die Übernahmephantasie, die einige Kurse noch Anfang des Jahres beflügelt hatte, nun verflogen.
J A PA N - F O N D S
13,20
Zahl der Online-Konten
Kleine Firmen, große Profite
geschätzt
in Deutschland
6,66
A
ktienfonds, die in japanische Nebenwerte investieren,
glänzen mit riesigen Zuwachsraten. Etliche Fonds haben
ihren Wert seit Jahresanfang sogar mehr als verdreifacht. Die
Fondsmanager stecken das Geld zumeist in junge Firmen, die
im Ausland kaum jemand kennt: den Einzelhändler Ryohin
Keikaku etwa, den Nahrungsmittelproduzenten Ito En oder
den Telefonbetreiber Hikari Tsushin. Solche Firmen stiegen
mitten in der Rezession wie „Phönix aus der Asche“, weiß
Barthold Sauveur vom Fondsanbieter Fleming. Denn eine
neue Managergeneration bestimme dort nun das Tempo, nicht
mehr reformunwillige Patriarchen. Das beliebte Senioritätsprinzip etwa, also die automatische Beförderung nach dem
Alter, sei abgeschafft, Sonderzahlungen, Spesenkonten und
Pensionsabfindungen würden oft vollständig gestrichen. Von
den Firmenbossen werde jetzt streng auf Kosten und Gewinne
geachtet. Das „neue Japan“, folgert Sauveur, sei wieder eine
Anlagealternative.
Japanische Small-Caps-Fonds seit Anfang 1999
auf DM-Basis, Stand 10.9.1999, Veränderung in Prozent
Invesco
GT Japan SMCOS.A
+246
Gartmore
Japan Smaller Comp.
+220
Morgan Grenfell
Japan Bullet
+224
Mercury
Mst. Japan Opp. A.
+210
Fleming
Flag Jap. SM.COMP.
+222
Credit Suisse
CS EQ. (LUX) S.C. Jap.
+194
Quelle: Datastream
d e r
Sept.
3,48
1,39
Millionen
1,80
Quelle: Gesellschaft für Bankpublizität
1995
1996
1997
1998
1999
BANKGEBÜHREN
Bonus im Internet
D
as Internet lässt die Preise für Bankgebühren purzeln. Die
Citibank etwa zahlt ihren Kunden nun für jede InternetTransaktion einen Bonus von 30 Pfennig. Statt wie früher Gebühren für das Girokonto zu kassieren, können die Kunden so
Guthaben bis zu 36 Mark jährlich ansammeln. Im Wettbewerb
verzichtet die Citibank zudem komplett auf Depotgebühren
und hat bei Wertpapierkäufen über das Internet die Mindestgebühren halbiert. Viele Direktbanken senkten ebenfalls die
Preise für Internet-Kunden. Bei der Comdirect können Wertpapiere um zehn Prozent günstiger über Computer als über
Telefon geordert werden. Die französische Direktbank Fimatex berechnet bei Aktienkäufen 0,19 Prozent des Kurswerts,
während viele Filialbanken immer noch ein Prozent des Transaktionspreises kassieren. Die Billig-Strategie könnte aufgehen.
In Großbritannien überzeugte die Internet-Bank egg.com in
nur zehn Monaten rund 600 000 Briten: Sie bietet Zinssätze
auf Guthaben bis über fünf Prozent.
s p i e g e l
3 7 / 1 9 9 9
95
Titel
Die Gerechtigkeitsfalle
Die Sozialausgaben steigen stetig, das System staatlicher Fürsorge ist außer Kontrolle geraten.
Dennoch wird die Forderung nach „mehr sozialer Gerechtigkeit“ immer lauter, linke
Sozialdemokraten fordern Steuererhöhungen. Der Kanzler dagegen will die Ansprüche an den
Staat zurückschrauben. Das alte Thema sorgt für neue Debatten – nicht nur in der SPD.
F
malverdiener schon heute über 30 Prozent seines Lohns allein an die Sozialkassen abführen, mit Steuern summiert sich
die Abgabenlast für einen mittleren Angestellten leicht auf fast 60 Prozent.
Bei einem Jahreseinkommen von 120 000
Mark heißt das: 19 500 Mark für die
Rente, rund 14 000 für die Krankenversicherung, 8000 Mark für die Absicherung
gegen Arbeitslosigkeit und Pflegebedürftigkeit.
Noch immer gilt die schlichte Erkenntnis von Ludwig Erhard, dass ein Staat seinen Bürgern nur das geben kann, was er
ihnen zuvor abgenommen hat. Und wenn
etwas das Wesen des Fürsorgestaats beschreibt, dann sein Bemühen, eben diesen
Zusammenhang kunstvoll zu verschleiern.
Welche Vergünstigungen er wem einräumt und wen er wie belastet, wo genau
die Verteilungsbürokratie neue Geldquellen erschließt und nach welchen
Kriterien sie eigentlich ihre Alimente vergibt, das ist kaum noch
jemandem einsichtig. Für viele
gleicht das Sozialsystem einem
Labyrinth, undurchschaubar in
seinen Verästelungen.
Wem ist schon bewusst, dass er
die Rentenkassen nicht nur über
seine Beiträge (und den sogenannten Arbeitgeberanteil) auffüllt, sondern dazu noch über beträchtliche Steuerabgaben? Jedes
Jahr überweist der Finanzminister einen „Bundeszuschuss“ an
die Rentenversicherungsträger –
1998 waren es 96 Milliarden
Mark, in diesem Jahr werden es
Sparpolitiker Eichel, Schröder: Endlich Klarheit?
120 Milliarden sein.
Wer weiß denn so genau, was sich hinVergeblich weisen Ökonomen seit Jahren darauf hin, dass die Sozialbeiträge al- ter solch merkwürdigen Begriffen wie
les andere als ein Geschenk sind, der Lohn „Bundeseisenbahnvermögen“ oder „Erbzuvor eben um diese Zuschüsse gekürzt lastentilgungsfonds“ verbirgt, die im Kleinwurde. Regelmäßig haben die fünf Wirt- gedruckten des Bundeshaushalts auftauschaftsweisen der Bundesregierung in chen und nur dem Zweck dienen, die Ausihren Jahresgutachten empfohlen, auf den gabenbilanz zu schönen und die SchulTaschenspielertrick zu verzichten und denlast kleinzurechnen?
Der deutsche Wohlfahrtsstaat hat sich zu
stattdessen den Bruttoverdienst entsprechend hochzusetzen. Der Vorschlag wurde einer gigantischen Beglückungsmaschine
bislang von den politisch Verantwortlichen entwickelt, die immer neue gesellschaftliche Gruppen erfasst und dabei in ihrem
noch nicht einmal diskutiert.
Schlagartig würde den Bürgern nämlich rastlosen Bemühen, Vergünstigungen und
klar, wie viel sie der Umverteilungsstaat in Sonderrechte möglichst gleichmäßig zu verWahrheit kostet: Demnach muss der Nor- teilen, immer größere Geldströme ansaugt
AP
ür jeden Arbeiter und Angestellten
in Deutschland endet der Monat mit
einem Betrug: Der Lohnzettel, ausgedruckt von einem unbestechlichen Computer in der Gehaltsbuchhaltung, ist ein
Dokument der Täuschung.
Nur scheinbar nämlich gibt das Papier
Auskunft, was man in den vergangenen vier
Wochen verdient hat und was der Staat einem davon genommen hat. Tatsächlich verschleiert es, was die Beschäftigten für
Krankheit, Rente, Pflege und die Absicherung gegen Arbeitslosigkeit zahlen müssen.
Der sogenannte Arbeitgeberanteil an
diesen Kosten, er beträgt immerhin 50 Prozent, wird nicht ausgewiesen – so als handele es sich um großzügige Zusatzleistungen, um eine Errungenschaft des Sozialstaates gewissermaßen, der die Lasten der
öffentlichen Fürsorge gerecht auf Beschäftigte und ihre Unternehmen verteilt.
96
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Die Umverteilungsmaschine
Was die öffentliche Hand an
Steuern ...
Steuereinnahmen 1998 in Milliarden Mark
Anteil von
Bund
Ländern
Gemeinden
Umsatzsteuer
250,0
Zinsabschlag- 1,4
steuer
5,5
5,3
12,0
116,5
128,0
reine Bundes-,
Mineralölsteuer,
Tabaksteuer u.a.
Länder-, und
Kfz-, Erbschaftsteuer
u.a
127,5
37,4
5,3
Gemeindesteuern
Gewerbesteuer,
Grundsteuer u.a.
69,4
Doch erstaunlich: Je mehr Geld die
Regierenden zum Wohle ihrer Bürger
ausgeben, desto größer werden deren
Zweifel, wie gerecht es in diesem Land
noch zugeht. Selbst die Frage, ob nun ein
Rückzug des Staates oder ein weiterer Ausbau mehr soziale Gerechtigkeit schafft,
lässt sich für die meisten nicht eindeutig
beantworten.
Sozial gerecht. Um keinen Begriff wird
derzeit so heftig gerungen wie um das
schillernde Wortpaar, das noch jede Partei
für sich reklamiert hat und das gerade in
seiner Kombination so wirkmächtig ist wie
kein anderer politischer Begriff. Denn dass
bei der Verteilung von Lasten und Wohltaten niemand zu kurz kommt, aber auch
niemand zu gut dasteht, das ist das zentrale
Versprechen jeder Politik.
Deutschland steckt in der Gerechtigkeitsfalle. Nur wer die Deutungshoheit erobert, was als sozial gerecht zu gelten hat,
hat Aussicht auf Politik- und Gestaltungsfähigkeit. Und wenn es noch eines Belegs
für die enge Koppelung zwischen der
Macht- und der Gerechtigkeitsfrage be-
Demonstration von Arbeitsloseninitiativen (in Berlin)
40,4
114,5
Sozialabgaben einnimmt...
...und wofür sie Geld ausgibt
Beitragseinnahmen der gesetzlichen
Sozialversicherungen 1998
in Milliarden Mark
114,5
Lohnund veranlagte
Einkommensteuer
... und
A. BASTIAN / CARO
– mit Hilfe eines Steuersystems, das ebenso wenig durchschaubar ist. Und wenn gar
nichts mehr geht, werden neue Schulden
gemacht – und die Kosten damit kommenden Generationen aufgebürdet.
Derzeit geht jede zweite Mark, die von
den Bundesbürgern erwirtschaftet wird,
durch die öffentliche Hand, wie die Staatsbürokratie gern genannt wird – alles in allem die gewaltige Summe von 1,9 Billionen
Mark und damit etwa so viel wie die Deutschen in den ersten zehn Jahren Bundesrepublik insgesamt erwirtschaftet haben.
Sonstiges
inkl. Zinslasten
356
269,4
Kapitalertragsteuer,
33,7 33,7 Körperschaftsteuer,
Gewerbesteuerumlage
Rentenversicherung
297,8
Krankenversicherung
Verkehr,
Nachrichtenwesen
47
Wohnungswesen,
Raumordnung 61
249,3
67,4
Wirtschaftsförderung
76
Steuern
insgesamt
833,0
Mrd. Mark
Arbeitslosenversicherung
Pflegeversicherung
31,3
Gesundheit, Sport
1882
Sozialbeiträge
insgesamt
681,2
Mrd. Mark
Verteidigung, öff.
Sicherheit, Justiz
101
Soziale
Sicherung
962
Mrd. Mark
79
86,2
Unfallversicherung 16,6
Ausgaben der
öffentlichen Hand
1996*
Bildung,
Wissenschaft,
Forschung
200
*jüngste verfügbare Daten;
die öffentliche Hand verfügt neben
Steuern und Sozialbeiträgen noch
über weitere Einnahmequellen und
nimmt überdies Kredite auf
GELDVERMÖGEN
FRIEDEL‘S LUFTAUFNAHMEN
Haushalte . . .
4,5 %
... mit Nettogeldvermögen*
von jeweils ...
über 200 000 Mark
... haben zusammen Geldvermögen von
Immobilien in Hamburg
559,6 Milliarden Mark
29,5 %
50000 bis unter 200 000 Mark
39,4 %
10000 bis unter 50 000 Mark
361,8
361,8
26,6 %
unter 10 000 Mark
11,7
Den Reichen nehmen, den Armen geben?
972,2
* Bruttogeldvermögen
abzüglich Schulden
HAUS- UND GRUNDBESIT Z
Haushalte . . .
5,0 %
. . . mit Haus- und Grundbesitz im
Verkehrswert von jeweils ...
350000 bis unter 700 000 Mark
22,1 %
100000 bis unter 350 000 Mark
52,6 %
unter 100 000 Mark
2705,1
1826,3
59,6
Quelle: Statistisches Bundesamt,
Stichprobenerhebung 1993
haben gar keinen Haus- und Grundbesitz
durft hätte, dann lieferte ihn der Ausgang
der jüngsten Wahlen.
Auch wenn nicht entschieden ist, ob man
die Stimmenverluste der Sozialdemokraten
nun als Abstimmung gegen die „Modernisierer“ oder gegen die „Traditionalisten“
zu werten hat – eines zumindest ist sicher:
Der Kurswechsel der rot-grünen Regierungsmannschaft sechs Monate nach der
Bundestagswahl hin zu einer Politik des
Sparens und Maßhaltens hat ein Terrain
freigegeben, das gerade die SPD wie selbstverständlich besetzt hielt.
Bis vor kurzem hatten die Sozialdemokraten den Bürgern noch das wohlige Gefühl gegeben, dass auch in Zukunft genug
98
2023,4 Mrd. Mark
über 700 000 Mark
16,8 %
3,5 %
. . . haben zusammen
Vermögenswerte von
Geld vorhanden sei, man müsse es nur innovativer und gerechter verteilen. Getreu
diesem Versprechen hoben sie das Kindergeld an, senkten die lästigen Zuzahlungen
bei Arzneimitteln und versprachen höhere Renten.
Doch seit ein paar Wochen klingt alles
ganz anders. Plötzlich tritt den Deutschen
abends in der „Tagesschau“ ein besorgt
blickender Finanzminister entgegen, der
„Wahrheit und Klarheit“ anmahnt. Mit einem Mal ist von Eigenverantwortung und
Sparsamkeit die Rede, von Risikobereitschaft und Selbstbeteiligung und davon,
dass die Sanierung des Staatshaushalts die
erste Bürgerpflicht sei. „Es gibt zu unserem
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Sparkurs keine, aber auch gar keine Alternative“, sagt der Kanzler.
Und selbst die goldene Grundregel allen
sozialpolitischen Handelns, dass nämlich
der Staat für mehr Ausgleich bei den Einkommen und Vermögen zu sorgen hat, soll
plötzlich nicht mehr bedingungslos gelten.
Die alte Position einer Arbeiterpartei, „von
den Reichen nehmen, um den Armen zu
geben“, könne nicht länger „die Politik
unserer modernen Gesellschaft sein“, gibt
SPD-Fraktionschef Peter Struck zu Protokoll. „Eine Gesellschaft lebt dynamischer,
wenn es Ungleichheiten gibt“, schiebt Wirtschaftsminister Werner Müller nach, das
sei nun mal „eine historische Tatsache“.
Politik paradox. Ausgerechnet die Sozialdemokraten, die doch das Bekenntnis
zum Fürsorgestaat gewissermaßen schon
im Namen führen, profilieren sich nun als
radikale Sparmeister und ziehen sich so
den Vorwurf zu, den sozialen Frieden zu
gefährden.
Die Gewerkschaften laufen Sturm gegen eine Regierung, die sie gerade mit einer acht Millionen Mark teuren Werbekampagne beim Machtwechsel unterstützt
haben. Die Union bekämpft die Politik von
Rot-Grün, die auffällige Ähnlichkeiten mit
der eigenen aufweist, als „unseriös“ und
„unsolide“, als „betrügerisch“, und empfiehlt sich als soziales Wärmekissen der
Nation. Und die Wähler?
Die verharren, so scheint es, in einer Art
Schockzustand. Aber was sollen die Bürger
Titel
durchgereicht“, also an Gut- und Besserverdienende, die mit ihren Bundesanleihen von der Staatsschuld profitieren.
Vor allem aber erweitert der Finanzminister den komplexen Begriff von der sozialen Gerechtigkeit um eine neue Dimension. Ihm geht es nicht nur darum, den
sozialen Ausgleich zwischen denen zu organisieren, die heute anspruchsberechtigt
sind, er hat auch all jene im Blick, bei denen die Schuldenlast irgendwann abgeladen wird. Dass wir unseren Wohlstand auf
Kosten der Nachkommen finanzieren, findet Eichel einfach unanständig. Er spare,
sagt der zweifache Vater, „vor allem um
der Zukunft unserer Kinder willen“.
Dem Minister geht es um die Gerechtigkeit zwischen den Generationen. Und
so schleicht sich, quasi durch die Hintertür,
eine Vokabel in die Spardebatte ein, die
EINKOMMEN
Von den rund 27,7 Millionen Einkommensteuerpflichtigen in Deutschland . . .
.. . haben
Quelle: Statistisches
Bundesamt,
Stand 1995
11,3 %
12,2 %
0,1%
jährliche Einkünfte von
über 1 Million Mark
0,2%
500 000 bis unter 1 Million
0,8%
250 000 bis unter 500 000
100 000 bis unter 250 000
75 000 bis unter 100 000
11,8 %
60 000 bis unter 75 000
11,2 %
13,1 %
50 000 bis unter 60 000
40 000 bis unter 50 000
11,3 %
9,2 %
10,1 %
8,7 %
30 000 bis unter 40 000
20 000 bis unter 30 000
10 000 bis unter 20 000
unter
eigentlich aus der Ökologie stammt:
„Nachhaltigkeit“. So wie die Umweltbewegung in den siebziger Jahren den verantwortungslosen Gebrauch von Wasser,
Luft und Bodenschätzen zum Thema
machte, so geht es nun um den schonenden
Umgang mit der Ressource Geld.
Offenbar besitzt die Analogie zwischen
Natur und Kapital derart viel Überzeugungskraft, dass sie mühelos die traditionellen Gegensätze zwischen Links und
Rechts überwindet: Die Idee einer nachhaltigen Finanzpolitik findet inzwischen
sowohl bei den Grünen als auch bei Wirtschaftslobbyisten wie dem Industriepräsidenten Hans-Olaf Henkel ihre Anhänger.
Nirgendwo zeigt sich so deutlich wie bei
der Rente, was Nachhaltigkeit eigentlich
heißen müsste. Finanziert wird das System
nach dem sogenannten Generationenver-
Arbeitnehmer (in einer Freiburger Pizza-Fabrik): Betrug auf dem Lohnzettel
W. VOLZ / BILDERBERG
auch von einem Sanierungsprogramm halten, das Gerhard Schröder emphatisch als
wahren Beitrag zur „sozialen Gerechtigkeit“ lobt, das jedoch ein nicht unbeträchtlicher Teil der eigenen Partei als Angriff auf eben diese Gerechtigkeit begreift.
Was aber ist soziale Gerechtigkeit?
Haben die Kritiker aus dem linken Lager
nicht Recht, die das nun vorgelegte Steuer- und Sparpaket als sozial unausgewogen ablehnen, weil es angeblich die Besserverdienenden schont, und die deshalb
mehr Steuern für Reiche fordern?
Ist es andererseits gerecht, wenn der
Staat seinen Bürgern so viel abnimmt, dass
sich für viele zusätzliche Arbeit gar nicht
mehr lohnt?
Und was ist von dem Argument zu halten, dass nur ein ausgeglichener Haushalt auf Dauer ein sozial gerechter Haushalt ist?
Hat der deutsche Steuer- und Sozialstaat
lediglich ein Einnahmeproblem (wie die
Linken meinen), das durch neue, möglicherweise einfallsreichere Steuerarten zu
beheben ist, oder krankt er in Wirklichkeit
an einem Ausgabeproblem (wie die Regierung glaubt)?
Für Hans Eichel ist die Antwort klar:
Nichts sei so ungerecht wie ein Staat, der
auf Pump lebt, findet er, „nichts trägt mehr
zur Umverteilung von unten nach oben
bei“ (siehe Gespräch Seite 110).
Die Zahlen, die der Finanzminister
nennt, sind eindrucksvoll: Für jede vierte
Mark, die er einzieht, erhält der Steuerzahler schon heute keine Leistung mehr,
weil sie dem Zinsdienst anheim fällt – das
sind 150 000 Mark pro Minute, 220 Millionen Mark am Tag, 80 Milliarden Mark im
Jahr. Und was den Sozialdemokraten Eichel besonders empört: Diese gewaltige
Geldsumme „wird direkt an die Banken
10 000 Mark
H. CHRISTOPH / DAS FOTOARCHIV
Pelzmesse in Frankfurt: „Eine Gesellschaft lebt dynamischer, wenn es Ungleichheiten gibt“
trag, einem „gigantischen Betrugsmanöver“, wie der Publizist Konrad Adam anmerkt, „das zu rechtfertigen keine Partei
mehr riskieren sollte“.
Denn ein Modell, bei dem die Jungen
den Lebensunterhalt der Alten bestreiten,
kann auf Dauer nicht funktionieren, wenn
in einer vergreisenden Gesellschaft immer
weniger Arbeitnehmer einzahlen, gleichzeitig aber die Zahl der Rentner steigt, die
auf ihre zugesagten Ansprüche bestehen –
wenn also immer mehr Geld von Jung zu
Alt umverteilt wird. Wie schwer dieser Tatbestand offenbar zu vermitteln ist, zeigen
die Proteste gegen den Plan von Arbeitsminister Walter Riester, die Renten in den
kommenden zwei Jahren nur entsprechend
der Inflationsrate steigen zu lassen. Bisher
folgten die Renten der – durchschnittlichen
– Erhöhung der Nettolöhne.
Zweifellos erscheint es angemessen, dass
die heutige Rentnergeneration am Zuwachs des allgemeinen Wohlstands teilhaben will. Gleichzeitig aber gilt es zu bedenken, dass die jetzigen Beitragszahler
noch eine zweite Last schultern müssen:
Damit auch ihr Auskommen im Alter gesichert ist, wird die Regierung den Jungen irgendeine Form der privaten Vorsorge aufbürden, sei es als „Zwangsrente“, sei es als
steuerlich begünstigtes Sparen. Im Sinne
eines gerechten Ausgleichs zwischen den
Generationen ist also beides vonnöten:
Verzicht bei den Jungen und bei den Alten.
100
SOZIALE STREITPUNKTE
in Eichels Sparpaket;
Milliarden
Einsparungen im Jahr 2000
Mark
Reduzierung von Sozialversicherungsbeiträgen für Arbeitslosenhilfebezieher
5,9
Rückzug aus der Wohngeldfinanzierung für Sozialhilfebezieher
(zu Lasten der Länder/Kommunen)
2,3
Verzicht auf reale Erhöhung von
Arbeitslosenhilfe und Arbeitslosengeld
1,8
Streichung der Arbeitslosenhilfe
für bestimmte Gruppen
1,0
Reale Nullrunde für Beamte
und Pensionäre
1,7
Verminderte Rentenanpassung
1,0
Kürzung der Alterssicherungszuschüsse für Landwirte
0,4
Jetzt rächt sich, dass die kollektiven Sicherungssysteme durch das Wirken der Sozialpolitiker mindestens so komplex geworden sind wie der Begriff der sozialen
Gerechtigkeit. Das macht es den Kritikern
so leicht, jede Kürzung im sozialen Netz
sofort als „Anschlag auf den sozialen Frieden“ zu diffamieren.
Zunächst bleibt festzuhalten: Für nichts
gibt der deutsche Staat mehr Geld aus als
d e r
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3 7 / 1 9 9 9
für die soziale Absicherung seiner Bürger,
und daran ändert auch Eichels Sparprogramm nichts – rund 1,3 Billionen Mark
waren es allein im vergangenen Jahr, das ist
sogar historisch ein Rekord.
Wer nun allerdings schärfer hinsieht,
stellt schnell fest, dass nur der kleinste Teil
des gewaltigen Sozialbudgets noch der Versorgung der Armen dient. Der weitaus
größte Teil fließt heute über unzählige Umwege und Transfertöpfe den sogenannten
Mittelschichten zu, Leuten also, die selbst
Sprachreisen in die Provence und GrappaSeminare an der Volkshochschule für förderungswürdige Sozialprojekte halten.
Neben die klassische Grundversorgung
im Alter, bei Krankheit und Arbeitslosigkeit sind großzügige Beihilfen zur Ausbildung, Kinderbetreuung, Wohnungsanmietung, Freizeitgestaltung und Vermögensbildung getreten. Der deutsche Sozialstaat
sorgt für kostenlose Eheberatung und vergünstigte Theaterbilletts ebenso wie für finanzielle Entschädigung bei schlechtem
Wetter und frostreichen Wintern.
Und auch mit der zweiten großen Fiktion des Wohlfahrtsstaats, dass vor seinen
Schranken alle gleich sind, ist es bei genauerem Hinsehen nicht gut bestellt.
So lässt sich fragen, wie es sich mit dem
Gleichheitsgebot verträgt, dass hoch begabten Kindern eine spezielle Eliteförderung in der Regel vorenthalten wird, Chancengleichheit bislang also vor allem so de-
Titel
sich hingesetzt und mit sieben anderen
Genossen ein Papier verfasst, das zum
Beispiele für die Auswirkung der
„Kurs halten“ aufruft gegen den „Neolirot-grünen Steuerreform
beralismus“.
Wie der aussieht, das weiß SkarpelisSperk genau, schließlich war ihre Tochter
Durchschnittsverdiener
ja vor zwei Jahren als Austauschschülerin
Kraftfahrzeug-Mechaniker,
in den USA: „Da wurde an der Schule
Frau nicht berufstätig
zu versteuerndes Einkommen: 60 000 Mark
dann für die Augenoperation eines Kindes
gesammelt, weil so etwas dort nicht von
Steuerschuld 1998 Ersparnis 2002
der Krankenversicherung bezahlt wird.“
9714 Mark 2106 Mark = – 21,7 %
Kein Wunder, dass bei Skarpelis-Sperk
mit 2 Kindern 3066 Mark = – 31,6 %
und den Ihren alle Warnlampen angehen,
„wenn sich der Vorsitzende der SPD für eiGeringverdienender Single
nen amerikanischen Weg ausspricht“, wie
Verkäuferin, halbe Stelle
es in dem Protestpapier heißt. „Wehret
zu versteuerndes Einkommen: 25000 Mark
den Anfängen“, sagt sie, und daher will sie
nun auch standhaft bleiben im Widerstand
Steuerschuld 1998 Ersparnis 2002
gegen das Sparprogramm der eigenen Re3418 Mark 904 Mark = – 26,4 %
gierung.
mit 1 Kind 1384 Mark = – 40,5 %
So bringt es die Volkswirtin schließlich
fertig, anderthalb Stunden über FinanzpoSpitzenverdiener
litik zu reden, ohne die schmutzigen WörIndustriemanager, Frau nicht berufstätig
ter Sparen und Schulden ein einziges Mal
zu versteuerndes Einkommen: 250 000 Mark
in den Mund zu nehmen. Wenn sie dann
Steuerschuld 1998 Ersparnis 2002
gefragt wird, wo sie denn Einsparmöglich86 766 Mark 4158 Mark = – 4,8 %
keiten sehe, fallen ihr nur Einwände ein.
Beim Verkehrsetat? Kaum möglich. Bei der
Abschreibungskünstler
Bildung? Auf keinen Fall. Im SozialhausArchitekt, verheiratet
halt? Um Gottes willen.
Und nicht einmal der VerteidigungsDurch Investitionen in Abschreibungsmodelle rechnet der Architekt sein Einhaushalt fällt ihr ein, jener Posten, der dem
kommen von 800 000 Mark 1998 auf
linken SPD-Flügel doch traditionell als geNull. Nach 1999 dürfen solche Verluseignet für Sparoperationen gilt.
te nur noch maximal bis zu 200 000
Einige Blocks entfernt sitzt der StaatsMark (Ledige: 100 000 Mark) voll, dasekretär Siegmar Mosdorf, und wer berüber nur bis zur Hälfte der positiven
greifen will, wie weit die Anschauungen
Einkünfte abgesetzt werden.
über das, was sozial gerecht heißt, selbst in
Steuerschuld 1998 Mehrbelastung 2002
der SPD auseinander liegen, der muss nur
0 Mark
+156638 Mark
in seinem Büro im Berliner Wirtschaftsministerium vorbeischauen, einem sachlichkühlen Raum im ehemaligen
Invalidenkrankenhaus mit
viel Stahl, Glas und abstrakter Kunst.
Wenn Mosdorf über die
Anforderungen an eine moderne Gesellschaft spricht,
dann denkt er ans Internet,
an das neue Großraumflugzeug von Airbus und den
Wandel in der Biotechnologie. Seine Leitbilder sind der
Facharbeiter und der junge
Entrepreneur, die „Produktionselite“, wie er sie nennt.
Und dass der Ingenieur bei
DaimlerChrysler oder der
Start-up-Gründer
schon
Obdachlosenspeisung in Berlin: „Wehret den Anfängen“
längst nicht mehr begreifen,
ern-SPD, im „Unterausschuss ERP-Wirt- „warum der Staat jedes private Risiko abschaftspläne“ und der „AG Weltwirt- sichert und für jedes Problem eine Lösung
schaft“. Und nun? Nun soll sie tatenlos zu- sucht“, davon ist der Staatssekretär zusehen, „wie die Gesellschaft auseinander tiefst überzeugt.
driftet“. Jetzt kommt einer wie WirtDen Vorwurf der Parteilinken, er wolle
schaftminister Müller daher und fordert für englische, ja gar amerikanische Vernoch mehr Dynamik – also, da muss sie hältnisse sorgen, kann Mosdorf gar nicht
doch wirklich lachen. Nein, diese SPD ist verstehen. Natürlich seien die Errunnicht mehr die ihre, und deshalb hat sie genschaften der Arbeiterbewegung eine
Entlastung für die Schwachen
DPA
finiert ist, dass man sehr wohl Kinder mit
Lernproblemen in einer stimulierenden
Umgebung aufwachsen lässt, nicht aber
überdurchschnittlich Intelligente.
Wie lässt es sich eigentlich rechtfertigen,
dass eine Rentnerin, die neun Kinder großgezogen hat und deshalb im Sinne der Rentenversicherung nie erwerbstätig war, heute rund 1700 Mark Pension bezieht, wo
doch ihre Kinder jeden Monat insgesamt
8000 Mark in die Rentenkasse einzahlen
und damit das Ruhegehalt von Ehepaaren
aufpolstern, die statt Nachwuchs großzuziehen lieber zwei Rentenanwartschaften
erworben haben?
Ist es gerecht, den Preis für Arbeit durch
Tarifvereinbarungen so hoch zu treiben,
dass zwar den Arbeitsplatzbesitzern gedient ist, den Arbeitssuchenden aber die
Rückkehr in einen Job erschwert wird, weil
es sich für Unternehmen nun einmal nicht
rechnet, neue Leute einzustellen? Muss
man, mit anderen Worten, nicht mehr Ungleichheit bei den Einkommen hinnehmen,
um im Gegenzug für mehr Gleichheit beim
Zugang zur Arbeit zu sorgen?
Keine Frage, das ganze System des Gebens und Nehmens hat sich übersteuert. Je
mehr der Staat versucht, es allen in allen
Lebenslagen recht zu machen, desto mehr
verheddert er sich in Widersprüche. Jedes
Bemühen, einem vermeintlichen Missstand
durch neue Sonderregeln beizukommen,
schafft weitere Ausnahmen und damit einen erneuten Handlungsbedarf. Am Ende
kommen die Experten in den Sachverständigenkommissionen und ökonomischen Beiräten stets zu dem selben traurigen Befund: Gerade die Allmachtsphantasie einer Politik, die glaubt, alles regeln zu
können, produziert nicht mehr Gerechtigkeit, sondern weniger.
Eine Reformdebatte ist überfällig – über
einen Rückzug des Staates und seiner
Steuerinstanzen, über einen gezielteren,
durchschaubaren und vor allem kräfteschonenden Einsatz seiner Mittel, über einen neuen, zeitgemäßeren Begriff von sozialer Gerechtigkeit eben. Es wäre zugleich
eine Debatte, wie viel Ungleichheit unvermeidlich, womöglich sogar erwünscht ist.
Der Disput ist unausweichlich und zumindest für die SPD nicht ohne Risiko. Sie
spaltet die Regierungspartei in zwei Lager.
Für linke Sozialdemokraten wie Sigrid
Skarpelis-Sperk ist klar, wo diese Debatte
zu beginnen und auch zu enden hat: auf
Seite neun des SPD-Grundsatzprogramms
aus dem Jahre 1989. „Gerechtigkeit erfordert mehr Gleichheit in der Verteilung von
Einkommen, Eigentum und Macht“, steht
dort, und diese Stelle hat sich die 54-jährige SPD-Bundestagsabgeordnete mit gelbem Marker dick angestrichen. Es ist der
Angelpunkt ihres Denkens, der Anker in
einer sich so gefährlich verändernden Welt.
Seit 20 Jahren hat die Finanzwissenschaftlerin tapfer die Stellung gehalten, im
Parteivorstand und im Präsidium der Bay-
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101
Titel
Gewinn vor Gemeinwohl
Erstmals haben Ökonomen den Staat wie ein Unternehmen betrachtet und eine
Bilanz der „Deutschland AG“ erstellt. Ergebnis: Das Land ist konkursreif.
J
B. BOSTELMANN / ARGUM
eder vernünftige Anleger würde weit weniger als der Mediziner, dessen
die Finger lassen von einer solch Studium lang und teuer ist. Und für ein
maroden Firma. Sie gibt ständig Fach wie Germanistik, das sich weder
mehr Geld aus, als sie einfür den Staat noch für den
nimmt. Sie hat keine AhStudenten rechne, müssten
nung, mit welchem ihrer
die Gebühren sogar abzahllosen Produkte sie Geschreckend hoch sein.
winne erwirtschaftet. Sie
Solche Ideen werden
war Ende des Geschäftsjahnicht
nur
Philologen
res 1998 mit 2375 Milliarden
schockieren. Ein UnternehMark maßlos überschuldet.
men Deutschland, das GeKurz: Die Firma ist so gut
winn vor Gemeinwohl stellt
wie pleite – wenn sie denn
– ist das wünschenswert?
eine echte Firma wäre.
„Die betriebswirtschaftliche
„Ein privates UnternehSicht funktioniert nur bis zu
men in der gleichen Situaeinem bestimmten Grad“,
tion müsste ein Konkursräumt der Berater Ederer
verfahren
beantragen“,
ein, „aber der Staat ist eben
heißt es knapp und vernichauch Wirtschaftsakteur.“
tend in dem Bericht, den
Und so untersuchen die
Peer Ederer und Philipp Ederer, Schuller
Autoren Geschäftsfeld für
Schuller diese Woche – pasGeschäftsfeld der „Deutschsend zum Beginn der Haushaltsdebat- land AG“. Sie dokumentieren die
te – vorlegen*.
Schieflage eines Unternehmens, das im
Ederer, ein Unternehmensberater, Grunde ein Sanierungsfall ist.
und Schuller,Vorstandsassistent bei der
Allein schon seine Struktur mit FiDeutschen Bank, beide 33, wagten ge- lialen in 16 Ländern, 439 Kreisen und
meinsam mit der Universität Witten- Städten sowie 14 561 Gemeinden sei inHerdecke einen erstaunlichen Versuch: effizient, ihre Größe und Finanzkraft
Sie taten so, als sei der Staat ein Unter- zu unterschiedlich. Undurchsichtige
nehmen, zerlegten ihn in acht Ge- Quersubventionen verhinderten, die Fischäftsfelder und erstellten – so gut es lialen wie Profit-Center zu betreiben.
ging – eine Bilanz, die Vermögen und
Die „gröbste Fehlleistung des MaKapital, Gewinne und Verluste ausweist. nagements“ stellt das Duo im größten
„Wir wollten einmal eine ganz neue Sektor fest – der sozialen Sicherung.
Perspektive aufzeigen“, erklärt der Jahrzehntelang hätten die Vorstände
Banker Schuller den Ansatz, „weil zu der Deutschland AG die Produktpaletoft in Schablonen diskutiert wird.“
te von der Frührente bis zur PflegeverWas dabei herauskam, ist nicht un- sicherung ausgeweitet, ohne darauf zu
bedingt politisch korrekt, ökonomisch achten, ob sie zu finanzieren ist.
aber aufschlussreich. Warum eigentlich,
Ist sie nicht, rechnen Ederer und
fragen die Autoren zum Beispiel, fi- Schuller vor: In einen 23-Jährigen hat
nanziert der Staat das Studium, obwohl die Deutschland AG 280 000 Mark inden Studenten später weit mehr Ertrag vestiert. Diesen Vorschuss hat er mit
aus ihrer Ausbildung in Form von Ein- Steuern und Abgaben zurückgezahlt,
kommen zufließt als dem Staat an Steu- wenn er 35 ist. Bis 55 erwirtschaftet er
ern? Diese Subventionspraxis sei „frag- ein Guthaben von 540 000 Mark, als
würdig“, monieren die Autoren.
Rentner zehrt er es wieder auf. Mit 72
Echte Studiengebühren müssten also ist das Konto aufgebraucht, von da an
her, ihre Höhe sollte sich nach den Er- legt der Staat nur drauf (siehe Grafik).
trägen richten, die mit dem jeweiligen
Die Finanzierungslücke, die durch
Fach zu erzielen sind. Der Jurist zahlt solche Ansprüche entsteht, summiert
sich allein 1999 auf 380 Milliarden
Mark. Ein Betrieb müsste dafür Rück* Peer Ederer, Philipp Schuller: „Geschäftsbericht
Deutschland AG“. Schäffer-Poeschel Verlag, Stutt- stellungen bilden, die Deutschland AG
aber „lebt vom Hand in den Mund“.
gart; 264 Seiten; 49,80 Mark.
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Lediglich im Sektor „Infrastruktur“
machen die Autoren ein „finanziell
äußerst attraktives Produkt“ aus, der
Straßenverkehr sei die „Cash-Cow“
der Deutschland AG. Dort gibt sie 32
Milliarden Mark aus und nimmt mit 119
Milliarden aus Mineralöl-, Kfz- und
Mehrwertsteuer fast viermal so viel ein.
Nicht nur hier hinkt freilich die Analogie zur Unternehmensbilanz. Die Gegenrechnung ist streng genommen
nicht zulässig, da der Staat Steuern
nicht zweckgebunden erheben darf.
Auch anderswo zeigen sich Grenzen
der Vergleichbarkeit: Die Autoren betrachten die rund 75 Millionen Staatsbürger als Aktionäre der Deutschland
AG – auch wenn diesen die Freiheit
fehlt, das Papier zu verkaufen und etwa
in die „USA Inc.“ zu investieren.
Dennoch fiel es ihnen leicht, Mitstreiter für die Idee zu begeistern. Wirtschaftsminister Werner Müller, gleichsam Vorstandsmitglied der Deutschland
AG, mahnt im „Brief an die Aktionäre“, dass „die Anspruchshaltung gegenüber dem Staat an die Grenzen der
Leistungsfähigkeit“ geführt habe. Und
die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft
KPMG hat die Bilanz geprüft.
Auch Werner Seifert, Chef der Deutschen Börse, hat mitgespielt. Aufs Parkett würde er die Deutschland AG nicht
bringen wollen: „Dafür müsste ihr Management noch einige Anstrengungen
unternehmen.“
Alexander Jung
DPA
großartige Sache. Dass die Staatsausgaben
für Soziales seit der Jahrhundertwende von
ehemals ein Prozent der Wirtschaftsleistung auf heute 35 gestiegen sind, dass die
Lebenserwartung eines Arbeiters nicht
mehr 45 Jahre, sondern 76 beträgt und die
Zahl der Urlaubstage sich verfünffacht hat
– all dies sei ein Grund, stolz zu sein.
„Aber wir können die Utopie der Sozialdemokratie nicht mit den traditionellen
Mitteln ins nächste Jahrtausend verlängern“, sagt der SPD-Liberale. „Wir müssen
dem Bürger mehr Luft zum Atmen lassen“, gerade dies sei Ausdruck von Gerechtigkeit.
Genau besehen ist der Streit über die
soziale Gerechtigkeit ja auch deshalb so
verwirrend, weil die Kontrahenten mit
großer Beharrlichkeit den Begriff so verwenden, als gebe es eine verbindliche Definition. Tatsächlich jedoch stecken in der
schönen Formel zwei ideengeschichtlich
(und weltanschaulich) höchst unterschiedliche Prinzipien:
Die Vorstellung nämlich, dass Gerechtigkeit im Kern Chancengleichheit meint, also
den ungehinderten Zugang jedes Bürgers
zu den bürgerlichen Freiheitsgütern und Institutionen, ohne Ansehen von Geburt, Rasse oder Geschlecht. Und das jüngere, auf die
französische Revolution zurückgehende
Ideal einer materiellen Gleichheit und damit
einer Gesellschaft, in der keiner zu wenig
bekommt aber auch keiner zu viel.
Es geht, verkürzt gesagt, um die Entscheidung für eine teilhabende Gerechtigkeit oder eine verteilende, um eine Gleichheit der Chancen oder eine Gleichheit der
Ergebnisse.
Dass der Staat für einen Ausgleich unter
den Bürgern zu sorgen hat, gilt seit der Antike als unumstritten. Bei Aristoteles findet sich zum ersten Mal der Begriff der
„distributiven Gerechtigkeit“, also der „Zuteilung von Ehre oder Geld oder anderen
Gütern“. Davon geschieden ist die sogenannte kommutative Gerechtigkeit, das
Demonstration gegen die Gesundheitsreform*: Staatliche Vor-, Für- und Nachsorge
heißt die Pflicht des Staates, für den Schutz
des Einzelnen und vor allem die Einhaltung von Verträgen zu sorgen, die schließlich zum Zivil- und Strafrecht führte.
Die austeilende Gerechtigkeit, die, wenn
man so will, das Sozialrecht begründet, hat
mit der modernen Vorstellung von Fürsor-
Bilanz des Lebens
Wie sich Einnahmen und Ausgaben des
Staates pro Bürger entwickeln
tausend Mark
500
400
300
200
100
–100
– 200
– 300
F OTO S : M . S C H R Ö D E R /A R G U S , U. S C H M I D T/J O K E R
Einnahmen
durch Einkommensteuer,
Sozialbeiträge
AUSGABEN für Schule,
Rente, Gesundheit,
Sozial- und Arbeitslosenhilfe
0
10
20
30
Lebensalter in Jahren
40
50
60
70
Quelle: Ederer, Schuller
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ge freilich nicht viel gemein. „Jedem das
Seine“, heißt zwar die klassische Definition, ein Gebot zur Linderung von Elend
und Armut ließ sich nach Ansicht der antiken Staatsphilosophen daraus aber nur
ableiten, wenn der Erhalt des Gemeinwesens gefährdet war, etwa durch Aufruhr
und Hungerrevolten.
Gaben an die Bedürftigen waren demzufolge die Ausnahme, die Steuerabgaben
dienten in den griechischen Stadtstaaten
vorzugsweise dem Krieg, dem Kultus und
der Verwaltung. Die Idee der Caritas, der
Mildtätigkeit, gesellte sich als Beweggrund
für soziales Handeln erst im Mittelalter unter dem Einfluss des Christentums hinzu.
Noch der Aufklärer Immanuel Kant wollte die Staatstätigkeit streng auf die Wahrung des inneren und äußeren Friedens beschränkt wissen. Dass sich der Staat auch
um soziale Belange zu kümmern habe, hielt
der Königsberger Philosoph für überflüssig,
ja geradezu schädlich: Jede Form von Paternalismus, so lehrte er, schränke die Freiheitsrechte des Einzelnen unzulässig ein.
Erst die Französische Revolution brachte eine neue, revolutionäre Idee von
* Am vergangenen Mittwoch in Wiesbaden.
103
DPA
Kur-Urlauber in Bad Füssing: Am Tropf staatlicher Wohlfahrt
Gleichheit hervor. Im wohlklingenden Fähigkeit abhob, den Staat also ausdrückDreiklang von Liberté, Egalité und Frater- lich von Ansprüchen freistellte.
Einen erneuten Umschwung in der Genité war diese Gleichheit schnell die alles
übertönende Posaune. An die Stelle eines rechtigkeitsdebatte brachte die „soziale
wohlweislich vage formulierten Glücks- Frage“ des 19. Jahrhunderts, Folge der stürversprechens trat ein Ideal materieller mischen Industrialisierung Europas und der
Gleichheit, das die Gesellschaft de facto damit verbundenen Verelendung breiter
auf eine Art Familienverbund zurück- Volksschichten. Diese Frage war zugleich
schraubt: Alle Menschen sind Brüder, und der Ausgangspunkt für die Geburt des mowehe dem, der da aus der Reihe tanzt. dernen Wohlfahrtsstaates, der seine Rolle
Wie nah Gleichheit und deren Karikatur, schon bald nicht mehr nur als Schutzeindie Gleichmacherei, beieinander liegen richtung gegen die unvorhersehbaren Lekönnen, zeigte die kurze Phase der Jako- bensrisiken verstand, wie ihn etwa Reichsbinerherrschaft. Die Welt der Männer im kanzler Otto von Bismarck entwarf.
Die modernen Sozialtheoretiker der
„Wohlfahrtsausschuss“, wie das oberste
Revolutionsgremium sinnreich hieß, war Nachkriegszeit zielten höher hinaus, auf
eine Welt ohne Hierarchie und ohne Un- ein Gemeinwesen, in dem alle Klassengeterschied, ihr Symbol war die Guillotine, gensätze und gesellschaftlichen Konflikte
die „Sichel der Gleichheit“, wie das Fall34,4
beil im Volksmund hieß.
34,0
Die Jakobiner schafften die Bordelle und
33,4
Spielhöllen ab, verfügten rigide Preisvor32,2
schriften, führten das zwangsweise Duzen
31,4
ein sowie einheitliche Kleidervorschriften
und ließen schließlich alle verfolgen, die
sich durch Bildung, Talent oder Vermögen
29,0
mangelnder „Bürgertugend“ verdächtig
machten. Ein Gleichheitsfanatismus, der
im Terror endete und in der
26,0
allgemeinen Erschöpfung
nach einem einjährigen
Blutrausch.
23,2
SOZIALLEISTUNGEN
Fortan dominierte, auch
im aufgeklärten Kontinental- 21,7
... in Prozent des Bruttoinlandsprodukts
europa, die Gleichheitsidee
des englischen Liberalismus,
ab 1990 Gesamtdie zwar allen Bürgern den
deutschland
gleichen Anspruch auf
Glück einräumte, dabei aber
70
75
80
85
90
95 97
auf Verdienst und eigene 1960 65
104
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auf ein Minimum reduziert sind und der
Staat für allgemeinen Wohlstand sorgt.
Und zunächst schien das ja auch gut zu
gehen: Vor allem die fünfziger und sechziger Jahre waren, nicht nur in Deutschland,
eine Zeit scheinbar ungebremsten Wachstums; und dass mit dem Wohlfahrtsstaat
auch der Schuldenstaat geboren wurde,
das blieb in der allgemeinen Euphorie weitgehend unbeachtet.
Selbst als sich die ersten Krisensymptome zeigten, galten Schulden kaum als ehrenrührig. Hatte nicht der amerikanische
Wirtschaftswissenschaftler John Kenneth
Galbraith das Missverhältnis von „öffentlicher Armut und privatem Reichtum“ beanstandet? Hatte nicht auch der britische
Ökonom John Maynard Keynes vom „deficit spending“ gesprochen, den Staat also
geradezu aufgefordert, in Zeiten der Rezession mit öffentlichen Ausgaben gegenzusteuern – eine Lehre, die vor allem bei
den SPD-Kanzlern Willy Brandt und Helmut Schmidt auf fruchtbaren Boden fiel.
Und so folgte ein Konjunkturprogramm
dem nächsten, doch geflissentlich übersahen die Genossen dabei den zweiten Teil
von Keynes, dass nämlich der Staat in guten Zeiten, wenn die Wirtschaft boomt,
sich wieder bescheiden soll.
Auch die Regierung unter Helmut Kohl
wurde nur in den ersten Jahren ihrem Anspruch gerecht, dass die Ordnung der
Staatsfinanzen eine „zutiefst sittliche Frage“ sei. Schon vor dem Mauerfall zog die
Schuldenkurve wieder stark an. Mit der
deutschen Einheit gab es dann endgültig
kein Halten mehr.
Und so ist der Wohlfahrtsstaat deutscher
Prägung zu einem Riesen geworden, der
Werbeseite
Werbeseite
fe oder kanadischer Flugzeuge.
Ist das ungerecht?
Kassiert und vergessen sind bei
jenen, die um die Seele der Sozialdemokratie bangen, auch die
Zuwendungen für den Normalverdiener. So behält eine Durchschnittsfamilie dank der bereits
verabschiedeten Steuerreform
bald schon 3000 Mark mehr jährlich, alles in allem müssen die Bezieher von kleinen und mittleren
Einkommen pro Jahr 36 Milliarden Mark weniger ans Finanzamt
abführen. Ist das ungerecht?
Wer in den Protestchor genauer hineinhört, muss mitunter den
Eindruck gewinnen, dass es den
linken Sozialprotektoren im Kern
gar nicht um die Details des Sparpakets geht – ihnen passt die
ganze Richtung nicht. Ein Rückzug des Staates und seiner Organe, wozu
vorzugsweise die Steuerbehörden zählen,
ist in ihrem politischen Weltbild nicht vorgesehen. Nicht von ungefähr kontern sie
jeden Vorschlag zur Steuersenkung mit der
Frage nach der „Gegenfinanzierung“, ein
Begriff, der übersetzt nur bedeutet, dass jedem Einnahmeverzicht eine Einnahmeerweiterung gegenüberstehen muss.
Denn der Verzicht auf Ausgaben und damit auf staatlich organisierte Wohlfahrt beM. DARCHINGER
seine Bürger zu erdrücken droht
– wenn nicht endlich gespart
wird.
Eichel will das Problem deshalb grundsätzlich angehen.
Doch die Bürger haben offenkundig Mühe, die Frage zu entscheiden, wie sie das Reformprogramm der Regierung nun
bewerten sollen, zumal die Kritiker ja immer nur die halbe Wahrheit präsentieren.
Da echauffieren sich die SPDLinken, dass die Unternehmen
bei der jetzt anstehenden Unternehmensteuerreform um acht
Milliarden Mark entlastet werden, während für Rentner und
Arbeitslose das Spardiktat gilt.
Doch die Entlastung ist nach
Rechnung des Instituts der deut- Eichel-Vorgänger Lafontaine: Nur für Bedürftige
schen Wirtschaft, die die verlängerte Abschreibungsdauer berücksichtigt, rückstellungen an den Fiskus abführen. Ist
tatsächlich geringer, nämlich rund sechs das ungerecht?
Da beklagen die Gewerkschafter,
Milliarden Mark. Und zudem verschweigen
die Hüter des Sozialen geflissentlich, dass weshalb die „Gewinner der Kohl-Ära“,
die bereits beschlossene Steuerreform die worunter sie alle Vermögensbesitzer verUnternehmen zusätzlich belastet, im Jahr stehen, zum Sanierungsprogramm nichts
2002 zum Beispiel mit 10,7 Milliarden beitragen. Sie unterschlagen, dass die ReMark. Bleibt unter dem Strich eine Mehr- gierung die Abschreibungsmöglichkeiten
belastung der Wirtschaft von 4,7 Milliarden für Gut- und Besserverdiener bereits deutMark. Zusätzlich müssen die Konzerne lich eingeschränkt hat, diese ganzen Steurund 16 Milliarden Mark aus ihren Strom- ersparmodelle in Form koreanischer Schif-
Staates, sich vom RegulieWas Chancengleichheit
rungswahn zu verabschieeigentlich meint, machte
den und damit mehr UnRawls an einem verblüfgleichheit in den Ergebnisfenden Gedankenexperisen zuzulassen, eine Form
ment deutlich. Stellen wir
wohlverstandener Gerechuns einen Urzustand vor,
tigkeit sein. Dass eine Zuempfahl er seinen Lesern,
nahme sozialer und ökonoin dem die Vertreter aller
mischer Unterschiede unter
sozialen Gruppen einen
bestimmten Bedingungen
Gesellschaftsvertrag ausein Vorteil für alle ist, hat
handeln. Nur wissen die
der US-amerikanische PhiRepräsentanten nicht, wen
losoph John Rawls ausführsie eigentlich vertreten –
lich dargelegt. Sein Hauptes könnte jeder sein. „Sie
werk, „Eine Theorie der
sollen also den Kuchen
Gerechtigkeit“, gilt seit der
schneiden“, wie Rawls-InVeröffentlichung im Jahre
terpret Hubertus Breuer
1971 als wohl einflussausführt, „ohne zu wissen,
reichstes Buch zu diesem
welches Stück sie anThema.
schließend bekommen.“
„Soziale und ökonomi- Reformer Mosdorf
In diesem Fall, so die
sche Ungleichheiten sind
Spekulation, werden die
zulässig“, heißt es in Rawls Theorie an zen- Unterhändler nicht nur fordern, dass alle
traler Stelle, „wenn sie erstens zum größ- Bürger gleiche Rechte haben und vor allem
ten zu erwartenden Vorteil für die am we- die Freiheit, einem in ihrem Sinne guten
nigsten Begünstigten führen, und wenn Leben nachzugehen. Sie werden auch verzweitens garantiert ist, dass gesellschaftli- langen, dass die Staatsverfassung den sozial
che Positionen allen unter Bedingungen Schwachen immer noch den größtmöglifairer Chancengleichheit offen stehen.“ Mit chen Vorteil im Vergleich zu anderen Sysanderen Worten: Die Vorteile, die aus ei- tem-Alternativen bringt. Und genau dies
nem Mehr an Ungleichheit erwachsen, dür- kann ja gerade in einer Gesellschaft gefen nicht in erster Linie nur den Stärkeren währleistet sein, die jedem genügend Anzugute kommen.
reize bietet, seinen Wohlstand zu steigern
MELDEPRESS
deutet ja auch den Verzicht auf Eingriffsmöglichkeiten der jeweils Regierenden.
Von Bismarck stammt der Satz, dass es ihm
darum gegangen sei, die „arbeitenden
Klassen zu bestechen“, eine sozialpolitische Aussage von zeitloser Gültigkeit.
Nichts, so scheint es, sichert zuverlässiger
Wählerstimmen als die Aussicht auf neue
Alimentationen. Und immer lassen sich
neue Gruppen entdecken, die der Für-, Voroder Nachsorge bedürfen.
Neben den Werftarbeitern, Landwirten
und Bergleuten dürfen längst auch die
Bierbrauer, die hessischen Bienenzüchter
oder die deutschen Tabakpflanzer auf geldwerten Beistand vertrauen.
Allein im staatlich regulierten Gesundheitswesen sind es mittlerweile über 70 Berufs- und Interessengruppen, die an die
Tröpfe öffentlicher Wohlfahrt gelegt wurden, darunter so bedeutende Verbände wie
die Vertreter der ambulanten Fußpflege
oder der Homöopathie.
Eine Politik, die sich dem Gleichheitsgebot im Sinne der Ergebnisgleichheit verpflichtet fühlt, kann gar nicht anders, als jedem, der auch nur eine vermeintliche Benachteilung anzuführen versteht, Kompensation zu gewähren. Und weil der alles
regulierende Wohlfahrtsstaat seine eigene
Vorgabe, die Gleichstellung aller mit allen,
nie erreicht, kommt er auch nie ans Ziel. So
gesehen kann gerade die Bereitschaft des
Einkommen einer einfachen Verkäuferin oder eines Hilfsarbeiters.
Warum eigentlich, fragt Riester, soll
jemand, der nicht arbeitet, „auf Kosten der Steuerzahler höhere Rentenanwartschaften erwerben, als jemand, der seine Beiträge vom Lohn
zahlen muss“?
Solche Argumente machen erkennbar Eindruck, zumal es sich unter den Steuerbürgern längst herumgesprochen hat, dass es mit der
Gerechtigkeit im deutschen Abgabenstaat nicht gut bestellt ist. Immer mehr Beitragszahler ächzen unter der Last eines Umverteilungsapparats, der das Plus bei den Bruttolöhnen seit Jahren in ein reales
Minus verwandelt und dem Wort
„Gerechtigkeitslücke“ eine ganz
neue Bedeutung gibt.
Kein Zweifel herrscht unter ExMutter mit Kindern: Im Alter für Nachwuchs bestraft
perten deshalb, dass – gerade unter
hilfe zu sparen. Bislang übernahm der dem Aspekt der Chancengleichheit – das
Staat nämlich für jeden dieser Arbeitslosen Steuersystem gründlich reformiert werden
auch die Rentenbeiträge, und zwar so, als muss. Es geht nicht darum, zusätzliche Sonwürde der noch gut verdienen. Künftig dersteuern für Reiche einzuführen,
hingegen werden nicht mehr 80, sondern wie es die Linken fordern. Vielmehr gilt
im ungünstigsten Fall weniger als 40 Pro- es, ein wirklich gerechtes Steuersystem zu
zent des letzten Bruttolohns als Basis ge- schaffen: eines, das alle Bürger mit
gleichen Einkommen auch wirklich gleich
nommen.
Sicher, auch dies wirkt auf den ersten behandelt und zudem für jeden verständBlick furchtbar ungerecht. Doch häufig war lich ist.
Doch bisher wagte keine Regierung,
dieser Wert, an dem sich der
eine
solche Reform ernsthaft anzugehen.
Rentenzuschuss bemisst,
1504
Die rot-grüne Koalition schaffte zu Jahsogar höher als das
geschätzt
resbeginn zwar rund 70 Ausnahmeregeln
1400
ab, doch für Windige und Findige bleiben
immer noch genügend Möglichkeiten, ihre
1299
Steuerlast zu drücken.
Die Debatte über die soziale Gerechtig1200
keit stellt das gesamte Sozial- und SteuerVERSCHULDUNG
system in Frage. Wer Gerechtigkeit allerdes Bundes in Milliarden Mark
dings allein in Mark und Pfennig misst,
einschließlich Sondervermögen
blendet aus, dass auch ein Rückzug des
1000
Staates einen Gewinn bedeutet: an Freiräumen, Innovationskraft, womöglich sogar
mehr Gemeinsinn – all dem, was üblicherweise mit Zivilgesellschaft verbunden wird.
Klar ist, dass in Zukunft nicht für jedes
800
private Risiko die Solidargemeinschaft ge687
rade stehen kann. Von Oskar Lafontaine
stammt die Überlegung, die Leistungen aus
der Arbeitslosenversicherung angesichts
600
der veränderten Arbeitswelt stärker nach
Quelle: BMF
der Bedürftigkeit zu bemessen. Denn nicht selten ist
Z
I
N
S
L
A
S
T
E
N
435
Arbeitslosigkeit nur eine
400
des Bundes in Milliarden Mark
100
selbstgewählte Phase zwi87,6
350
82,9
einschließlich Sondervermögen
78,7
schen zwei Jobs. Und war80
um in einem Land, in dem
60
allein die Geldvermögen in
200
den vergangenen sieben Jah34,2
40
29,2
ren um 63 Prozent zuge22,1
20
nommen haben, auch Besab 1999 Planung
serverdiener nicht auf die eigenen Reserven verwiesen
werden, ist nur noch schwer
1982
1985
1990
1995
1999
2002
einsichtig. Gerade ein mo-
108
K. MÜLLER / DAS FOTOARCHIV
und damit auch den Reichtum der Gesellschaft, was wiederum allen zugute kommt.
Keine Frage, dass Rawls Gerechtigkeitstheorem auch für das Sparen gilt: Wieder
sitzen die Vertreter aller sozialen Gruppen
zusammen, nur dass sie diesmal über
die Verteilung von Lasten zu verhandeln
haben.
Was aber geschieht, wenn eine Gruppe,
zu deren Ungunsten entschieden wird, gar
nicht mit am Tisch sitzt? Dann, so muss
man wohl schlussfolgern, verstoßen alle
Entscheidungen eklatant gegen das Gebot
sozialer Gerechtigkeit, und seien sie noch
so gut begründet. Diese Gruppe, über deren Kopf hinweg laufend entschieden wird,
bildet sogar rein rechnerisch die Mehrheit:
Es sind die Nachgeborenen, die Generationen ohne Stimmrecht.
Ob die Bürger sich mehrheitlich der Einsicht verschließen, dass nur ein Staat, der
Ausgaben und Einnahmen in einer soliden
Balance hält, auf Dauer ein gerechter Staat
ist – diese Frage ist längst noch nicht entschieden. Wer in diesen Tagen einmal die
Sparprediger Riester oder Eichel bei einem ihrer Wahlkampfauftritte erlebt hat,
der stellt jedenfalls erstaunt fest, dass der
anfängliche Protest gegen die Sanierungspläne schnell einer gewissen Nachdenklichkeit weicht.
Geradezu andächtig lauschen die rund
400 Betriebsräte und Gewerkschafter im
Kasino des Bayer-Werks in Uerdingen den
Ausführungen des Sozialministers zum
Sparprogramm, diesem Trommelfeuer aus
Haushaltsziffern und Steuerzahlen.
Natürlich muss er sich anraunzen lassen, wie er denn dazu komme, ausgerechnet bei den Empfängern von Arbeitslosen-
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Werbeseite
Werbeseite
Titel
Jan Fleischhauer, Ulrich Schäfer,
Harald Schumann
110
S P I E G E L - G E S P R ÄC H
„Nicht herumfummeln“
Bundesfinanzminister Hans Eichel über die Kritik
am Sparprogramm der Regierung, den Streit um soziale
Gerechtigkeit und den Vorwurf des Neoliberalismus
sparmodelle dem Fiskus entziehen konnten. Deshalb haben wir
auch viele dieser Schlupflöcher
gestopft.
SPIEGEL: Die Modernisierer Ihrer
Partei glauben, dass neu definiert werden muss, was im 21.
Jahrhundert sozial gerecht heißt.
Teilen Sie diese Ansicht?
Eichel: Ich kann mit den Begriffen Modernisierer und Traditionalisten nichts anfangen. Soziale Gerechtigkeit bleibt für
alle in der SPD ein Kernthema.
Wenn die Menschen nicht mehr
den Eindruck haben, dass es in
ihrem Land gerecht zugeht, dann
werden sie dem Staat nicht vertrauen.
SPIEGEL: Ihre parteiinternen Kritiker machen gegen das Sparpaket mit der Parole Front: „Kurs
halten statt Neoliberalismus“.
Sind Sie ein Neoliberaler?
Eichel: Einen solchen Vorwurf
kann nur erheben, wer nicht darüber nachdenkt, welches Ziel
der Sparkurs verfolgt. Unser
Programm ist doch eingebettet
in zahlreiche andere Maßnahmen. Wir haben eine Steuerreform verabschiedet, die die Steuersätze senkt und die Menschen
deutlich entlastet. Mit den Einnahmen aus der Öko-Steuer haben wir die Lohnnebenkosten
gesenkt, und wir erhöhen das Kindergeld
in nur zwei Jahren insgesamt um 50 Mark.
Wer, nur mit Blick auf das Sparpaket,
von einem Politikwechsel spricht, der redet
Unfug.
SPIEGEL: Auch Oskar Lafontaines früherer
Staatssekretär Heiner Flassbeck wirft Ihnen und Kanzler Gerhard Schröder vor,
Sie exekutierten einen neoliberalen Kurs so
scharf wie sonst nirgendwo auf der Welt.
Eichel: Da enthalte ich mich jeden Kommentars. Manchmal wünsche ich mir, dass
diejenigen, die zunächst die Wohltaten beschlossen haben, auch die Zumutungen des
Koalitionsvertrags hätten umsetzen müssen. Im Übrigen: Es war Oskar Lafontaine,
der Anfang des Jahres nach Brüssel gemeldet hat, Deutschland werde das Defizit
von jetzt 2,5 Prozent in vier Jahren auf ein
Prozent des Bruttoinlandsprodukts zurückführen. Es war Lafontaine, der zum ersten
M. DARCHINGER
derner Gerechtigkeitsbegriff, der es mit der
Chancengleichheit ernst meint, lässt alte
Vorschläge in neuem Licht erscheinen.
Dass niemand auf Grund seines Geschlechts, seiner Hautfarbe oder sexuellen
Neigung Nachteile erleiden darf, gilt heute als selbstverständlich. Doch der gleiche
Maßstab müsste eigentlich auch für die
Vorteile gelten, die jemand, ebenfalls ohne
eigenes Zutun, aus dem Vermögen der Eltern bezieht.
So summiert sich das gesamte Privatvermögen in Deutschland mittlerweile
auf den gewaltigen Betrag von 14,5 Billionen Mark; rund 30 Prozent davon befinden
sich nach der letzten Erhebung in der
Hand von nicht einmal fünf Prozent
der Haushalte – und damit sind auch
die Startchancen höchst unterschiedlich
verteilt.
Dem amerikanischen Börsenspekulanten Warren Buffett, einem der reichsten
Männer der Welt, wird die Idee zugeschrieben, am besten eine Erbschaftsteuer
von 100 Prozent zu erheben. Jeder solle es
allein nach oben schaffen, findet der Erzkapitalist, keiner sich auf dem Erfolg seiner
Vorfahren ausruhen dürfen.
Sicher, dies ist ein unrealistischer, wohl
auch nicht ganz ernst gemeinter Vorschlag.
Doch zumindest sollte man im Sinne der
Chancengleichheit auch hier zu Lande darüber nachdenken, warum der Lohn für harte Arbeit so viel höher besteuert wird als
das Geld, das einem Erben ohne Arbeit
zufällt
Und was spricht eigentlich gegen eine
Besteuerung sämtlicher Kursgewinne aus
Aktiengeschäften? Derzeit ist ausgerechnet
die entscheidende Quelle des neuen Reichtums von der Steuer ausgenommen. Lediglich bei Aktienverkäufen in den ersten
zwölf Monaten wird eine Abgabe fällig,
und dies auf Grund des Bankgeheimnisses
auch nur, wenn der Aktienbesitzer seine
Kursgewinne dem Finanzamt freiwillig
meldet.
Kein Vorschlag ist verkehrt, nur weil er
aus der vermeintlich falschen Ecke kommt.
Ob Erbschaftsteuer, Aktiensteuer oder eine
grundlegende Reform der sozialen Sicherungssysteme: Alles gehört auf den Prüfstand, wenn denn Einigkeit über den Kurs
herrscht, wenn also die Gesellschaft insgesamt bereit ist, ihrem Staat Selbstbeschränkung aufzuerlegen und sich gleichzeitig mit Forderungen an ihn zurückzuhalten.
Die Zeit drängt. Allzu viele ergebnislose Debatten über den „Standort Deutschland“ und die „soziale Frage“ kann sich
das Land nicht mehr leisten. „Wenn wir
jetzt keine Lösung für unsere Probleme
finden“, prophezeit düster der sächsische
Ministerpräsident und Ökonomieprofessor
Kurt Biedenkopf, „werden sich die Probleme ihre eigene Lösung suchen.“
Sanierer Eichel: „Wir werden durchhalten“
SPIEGEL: Wie würden Sie den Begriff der
sozialen Gerechtigkeit in einem Satz definieren?
Eichel: Das ist nicht möglich.
SPIEGEL: Na gut, dann versuchen Sie es in
drei oder vier Sätzen.
Eichel: Das Grundgesetz verpflichtet uns,
die Würde des Menschen zu wahren. Jeder
muss ein menschenwürdiges Dasein führen
können. Der Sozialstaat ist nicht dazu da,
Almosen zu verteilen, er ist vielmehr konstitutioneller Bestandteil unserer Demokratie, eingeführt nach dem Krieg, als es
uns richtig schlecht ging. Zudem müssen
wir Gewähr leisten, dass jeder nach seiner
Leistungsfähigkeit zum Unterhalt des Staates beiträgt, die Starken mehr, die Schwachen weniger. Es kann nicht so sein wie
am Ende der Kohl-Regierung, als die Normalverdiener die volle Steuerlast trugen,
Spitzenverdiener sich aber durch Steuerd e r
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H. HAITZINGER
Mal das strukturelle Defizit im Bundeshaushalt mit 30 Milliarden Mark beziffert
hat. Ohne einen rigiden Sparkurs wäre
auch er nicht zurechtgekommen.
SPIEGEL: Vergrößert Ihr Sparpaket nicht die
Kluft zwischen Arm und Reich?
Eichel: Das Gegenteil ist der Fall. Nur ein
Beispiel: Der Anteil des Arbeitsministeriums am Bundeshaushalt ist in den beiden vergangenen Jahren um 4 Prozentpunkte auf 35,5 Prozent gestiegen. Diese
Quote bleibt auch künftig unverändert.
Das bedeutet doch, dass wir die Schwerpunkte nicht zu Ungunsten des Sozialhaushalts verschieben. Dennoch gilt:
Wenn man den Haushalt sanieren will,
kommt man am größten Kostenblock nicht
vorbei.
SPIEGEL: Warum aber schäumt die Linke
reflexartig, wenn es ums Sparen geht?
Eichel: Manche meinen eben, man könne
Konsolidierungspolitik betreiben, ohne
dass jemand dies merkt. Was wir brauchen,
ist eine nachhaltige Politik, die die Generationengerechtigkeit im Blick hat. Alle
müssen sich fragen, wohin denn die Überschuldung führt: Am Ende ist der Staat
nicht mehr handlungsfähig, er kann nicht
mehr für die Schwächeren eintreten. Nichts
ist so unsozial wie ein überschuldeter
Staat, nichts trägt mehr zur Umverteilung
von unten nach oben bei.
SPIEGEL: Der Gegenvorschlag zum Sparen
lautet: Lasst uns die Steuern erhöhen.
Eichel: Wir sind nicht mit der Aussage in
den Wahlkampf gezogen, Steuern und
Staatsquote zu erhöhen. Der Koalitionsvertrag sieht das Gegenteil vor. Die SPD ist
nicht die Partei der Steuererhöhung, sondern der Steuergerechtigkeit.
SPIEGEL: Der Kanzler und Sie behaupten
stets, zum Sparkurs gebe es keine Alternative. Die Wähler sehen das offenbar anders, sie wählen diese Alternative sogar.
Eichel: Das ist wie in einem Unternehmen.
Wenn die Sanierung beginnt, ist die Stimmung erst einmal schlecht. Das ändert sich
aber, wenn die Erfolge greifen. Schon jetzt
befürwortet die überwältigende Mehrheit
in der Bevölkerung meinen Kurs, das sagen
alle Meinungsumfragen. Das erlebe ich
auch bei meinen Wahlkampfauftritten.
SPIEGEL: Warum läuft es denn so schlecht
für die Regierung?
Eichel: Den ganzen Sommer haben wir nur
über die Zumutungen des Sparpakets gesprochen, nicht aber über unsere sonstigen Verdienste. Das war ein schwerer Kommunikationsfehler.
SPIEGEL: Das können Sie bei den nächsten
Sparrunden besser machen. Wie viele magere Jahre werden denn noch kommen?
Eichel: Es geht nicht um magere Jahre.
Wir werden auch im nächsten Jahr
50 Milliarden Mark neuer Schulden aufnehmen müssen. Wer behauptet, dies sei
ein Crash-Kurs, hat wirklich keine Ahnung.
Wir führen die Neuverschuldung Jahr für
Jahr zurück, indem wir den Anstieg der
Rettungsaktion Rotstift
BUNTE
Ausgaben unter dem der Einnahmen lassen. Wenn wir das durchhalten, könnten
wir im Jahr 2006 zum ersten Mal seit langem wieder mehr Geld einnehmen als
ausgeben.
SPIEGEL: Einige Ökonomen glauben, das
Sparpaket würge die Konjunktur ab.
Eichel: Das ist nun wirklich witzig. Wer einen Verzicht auf das Sparpaket verlangt,
glaubt wohl, dass ich 30 Milliarden Mark
mehr ausgeben könnte. Aber die habe ich
doch gar nicht, die kann ich nicht mal
pumpen. Ansonsten wäre der Haushalt verfassungswidrig, weil die Neuverschuldung
die Investitionen übersteigt. Alle Prognosen sagen ein Konjunkturplus von 2,5 Prozent für das Jahr 2000 voraus. Wenn ich
nicht einmal bei diesem Wachstum mit dem
Sparen anfangen darf, dann ist dieser Staat
am Ende.
SPIEGEL: Schon jetzt hat die Regierung
keine Mehrheit im Bundesrat mehr. Wo
d e r
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wollen Sie denn den Ländern entgegenkommen?
Eichel: An den 30 Milliarden darf nicht herumgefummelt werden. Auch ohne die Länder können wir 70 bis 75 Prozent unseres
Sparpakets durchsetzen. Ich will aber, dass
wir uns alle zusammen verständigen.Wenn
die Länder uns hindern, das Paket wirklich
durchzusetzen, dann muss ich andere Maßnahmen im Haushalt ergreifen. Eine andere Wahl habe ich nicht. Diese Alternativen
können nur noch härter sein als das, was
wir vorgeschlagen haben.
SPIEGEL: Wollen Sie die Länder unter
Druck setzen?
Eichel: Das ist keine Erpressung, wie vielfach behauptet wird, das sind Tatsachen.
SPIEGEL: An was denken Sie?
Eichel: Das werden wir vorlegen, wenn es
nötig ist. Ich bin mir aber sicher, dass auch
die Länder dies zumindest ahnen. Eigene
Vorschläge haben sie bisher noch nicht vor111
Titel
mehr so stark steigen können wie die Nettolöhne.
Eichel: Sicher werden die Rentner nicht
von allen Steuersenkungen profitieren können, durch die die Nettolöhne der arbeitenden Generation steigen. Das wird nicht
gehen, jedenfalls nicht bei einer so forcierten Steuersenkungspolitik, wie wir sie
anstreben. Aber die Rente muss wieder
entsprechend der gesellschaftlichen Produktivitätsentwicklung steigen.
SPIEGEL: Fast überall in Europa wurde das
alte, umlagefinanzierte Rentensystem
durch neue Verfahren mit einer Kapitaldeckung ergänzt.
Eichel: Das ist auch richtig so, und so hat es
Arbeitsminister Walter Riester auch vorgeschlagen. Die Deutschen werden die
Rente der Zukunft nicht allein mit dem gesetzlichen Umlagesystem finanzieren können. Deshalb muss jeder in irgendeiner
Form privat vorsorgen, zum Beispiel durch
einen Investmentfonds.
SPIEGEL: Das heißt also, wir brauchen eine
Art Pflichtsparen. Ihr Kollege Riester
hatte eine solche Zwangsrente zunächst
vorgeschlagen, aber dann schnell wieder
M. DARCHINGER
gestellt. Wie auch? Die Länder haben doch
selbst ein Interesse an der Konsolidierung
der Bundesfinanzen. Wenn der Bund kein
Geld hat, kann er auch keines mehr geben. Legt man die Kriterien des Länderfinanzausgleichs an, dann befindet sich der
Bund in einer Haushaltsnotlage, so wie
Bremen oder das Saarland – dann müsste
er eigentlich Geld von den wohlhabenden
Ländern bekommen.
SPIEGEL: Wann wird Ihre Politik vom
Wähler denn honoriert werden?
Eichel: Erst einmal müssen wir dafür sorgen, dass wir selbst mit unserer verwirrenden Debatte aufhören. Das heißt natürlich nicht, dass die SPD nicht mehr diskutiert. Wenn aber große Teile der Partei nur
noch Stichworte für die Opposition liefern,
dann können wir keine Wahlen gewinnen.
SPIEGEL: Hat die SPD die Kraft, auf Kurs zu
bleiben, auch wenn sie eine Wahlniederlage nach der anderen einsteckt?
Eichel: Wir werden durchhalten. Ich bin
überzeugt, dass unsere Politik vor der
nächsten Wahl Erfolg hat und zu einer
deutlichen Belebung auch auf dem Arbeitsmarkt beiträgt. Wenn wir nachgäben,
Eichel (2. v. l.) beim SPIEGEL-Gespräch*: „Die Zeit des Durchmogelns ist vorbei“
hieße das doch, dass die Demokratie
zwangsläufig in die Staatsverschuldung
führt – und dass sie unfähig ist, ein solches
Problem zu lösen. Das kann nicht sein.
SPIEGEL: Sehr staatsmännisch gedacht.
Eichel: Wir haben alle unseren Eid nicht
auf das Wohlergehen unserer Parteien geleistet, sondern auf die Verfassung. Die verpflichtet uns dem Gemeinwohl. Ich bin zuversichtlich, dass wir die Menschen überzeugen können. Eines sagen mir doch alle,
denen ich begegne: Endlich spricht es mal
einer aus, dass es so nicht weitergehen
kann. Nur mit Ehrlichkeit und Verlässlichkeit haben wir eine Chance. Die Zeit des
Durchmogelns ist vorbei.
SPIEGEL: Zum Thema Ehrlichkeit gehört
aber auch, schon heute einzugestehen,
dass die Renten auch nach 2001 nicht
* Mit Redakteuren Christian Reiermann, Jan Fleischhauer und Ulrich Schäfer in Berlin.
112
d e r
aufgegeben, weil der Widerstand so groß
war.
Eichel: Wir brauchen private Vorsorge.
Durch unsere Steuerpolitik schaffen wir
gerade bei den unteren Einkommen den
Spielraum für private Vorsorge. Für diese
Leute wird es wichtig sein, dass sie zur Eigenvorsorge in der Lage sind, damit sie im
Alter ein Auskommen haben. Es erscheint
sinnvoll, die Eigenvorsorge nicht allein in
das Belieben jedes Einzelnen zu stellen.
SPIEGEL: Schon einmal ist ein SPD-Finanzminister an der eigenen Partei gescheitert:
Karl Schiller wollte 1972 gerade 2,5 Milliarden Mark sparen. Treten auch Sie zurück,
wenn Ihr Sparpaket am Ende scheitert?
Eichel: Darüber mache ich mir keine Gedanken, weil es zum Sparen keine Alternative gibt. Wir werden unser Ziel gemeinsam erreichen.
SPIEGEL: Herr Eichel, wir danken Ihnen für
dieses Gespräch.
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Werbeseite
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Wirtschaft
AP
VW-Vorsitzender Piëch*: „Das Scharmützel endet zehn zu eins“
KONZERNE
Jeder gegen jeden
Neue Sitten in Deutschlands Autoindustrie: Die einstige Harmonie ist einem ruppigen
Umgangston gewichen. Die neue Strategie der Konzerne, vom
Kleinwagen bis zur Nobel-Limousine alles anzubieten, führt zum Verdrängungskampf.
D
ie kleine Bösartigkeit war Jürgen
Schrempp nicht bös genug. Beim
Autosalon in Genf hatte eine Zeitung berichtet, der DaimlerChrysler-Vorsitzende habe über VW-Chef Ferdinand
Piëch gelästert: Mit dem würde er nicht
einmal in den Urlaub fahren.
Bei einem Treffen mit DaimlerChryslerManagern korrigierte Schrempp den
Spruch. In Wahrheit habe er sich noch deutlicher ausgedrückt: „Mit Herrn Piëch würde ich noch nicht einmal pinkeln gehen.“
Der Umgang unter Deutschlands Autobossen ist ruppig geworden. Die Herren
im dunklen Tuch bekämpfen sich wie selten zuvor, verbal und auf den Märkten.
Nachdem die Chefs von Mercedes-Benz,
BMW und VW jahrelang betonten, sie
kämpften vor allem gegen einen gemeinsamen Gegner, die japanischen Herausforderer, hat sich die Schlachtordnung geän* Mit Bentley-Studie am 9. März auf dem Genfer Autosalon.
114
dert. Unter den deutschen Herstellern
heißt es jetzt: Jeder gegen jeden.
Einem breiten Publikum vorgeführt wird
die neue Auseinandersetzung auf der Internationalen Automobilausstellung, die in
dieser Woche in Frankfurt beginnt. VW
startet seinen Angriff auf die Oberklasse
von Mercedes und BMW: Die Wolfsburger
präsentieren das Modell eines VW-Luxuswagens mit 10-Zylindermotor, der Ende
nächsten Jahres in einer neuen Fabrik in
Dresden montiert werden soll, und die Studie eines Bugatti mit 18-Zylindermotor.
Der DaimlerChrysler-Konzern führt den
Entwurf eines Kompaktwagens („Java“)
vor, mit dem Chrysler die Wolfsburger in
der Golf-Klasse angreifen soll, in die der
Konzern bereits mit der A-Klasse vorgedrungen ist. Zugleich attackieren die Stuttgarter ihren kleinen Nachbarn Porsche mit
dem Supersportwagen SLR.
BMW drängt ebenfalls in das bislang von
VW dominierte Geschäft mit den Kompaktwagen und investiert zehn Milliarden
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Mark in die Fabriken und die Entwicklung
neuer Kleinwagen bei der britischen Tochter Rover. Einen Sportwagen, den Z 8, der
ins Porsche-Segment drängt, haben die
Münchner schon fertig.
Vorbei die Zeiten, in denen es unter den
deutschen Herstellern eine relativ klare
Aufteilung der Märkte gab, VW für die Basis-Motorisierung stand, Mercedes-Benz
für das gediegene Dahingleiten, BMW für
sportlichere Modelle und Porsche für
Sportwagen pur.
Nun folgen die deutschen Hersteller einer Strategie, die ihre Chefs herunterbeten
wie eine neue Heilslehre: Jeder Konzern,
der den weltweiten Verdrängungskampf
bestehen wolle, müsse in allen Fahrzeugklassen vertreten sein, vom Mini bis zum
Superluxuswagen. Zudem müsse jeder
Konzern auch mehrere Marken unter seinem Dach vereinen wie VW mit Audi,
Bentley, Bugatti, Lamborghini, Seat und
koda oder DaimlerChrysler mit Mercedes-Benz, Chrysler, Dodge, Plymouth, Jeep
T. KLINK / ZEITENSPIEGEL
DaimlerChrysler-Vorsitzender Schrempp*: „Mit Herrn Piëch würde ich noch nicht einmal pinkeln gehen“
und Smart oder BMW mit Rover, Land Rover, Mini und MG, zu denen ab dem Jahr
2003 noch Rolls-Royce hinzukommt.
Doch je näher die Unternehmen der Verwirklichung ihrer Ideale kommen, umso
stärker wachsen die Zweifel, ob die
Strategie aufgehen kann – zumindest, ob
sie für alle drei aufgehen kann. Der Markt
wächst nicht so stark, wie die Unterneh* Mit A-Klasse im Werk Rastatt.
men neue Kapazitäten für zusätzliche Modelle aufbauen. Der Wettbewerb wird zum
Verdrängungskampf, bei dem sich schon
mancher heftige Blessuren holte. DaimlerChrysler und BMW mussten ihren Vorstoß ins Massengeschäft bislang teuer bezahlen. Die Stuttgarter erlebten imageschädigende Pannen bei der A-Klasse
und dem Smart. Den Münchnern bringt
das Geschäft mit Kompaktwagen der Tochter Rover Milliardenverluste ein. Der
BMW-Konzern hat durch die Übernahme
von Rover die eigene Zukunft aufs Spiel
gesetzt. Nachdem die Bayern 2,1 Milliarden
Mark für den Kauf von Rover bezahlt hatten, mussten sie bislang Verluste von 3,2
Milliarden Mark hinnehmen und zwei Kapitalerhöhungen von insgesamt 2 Milliarden finanzieren.
In diesem Jahr wird die britische Tochter nochmals über 1,8 Milliarden Mark Verlust erwirtschaften, und für das Jahr 2000
Die großen Drei
Aktienkurse:
1. Januar
1994 = 100
600
600
500
500
400
400
300
300
200
200
100
100
0
0
1994 1995 1996 1997 1998 1999
Geschäftsjahr 1998 Umsatz
in Milliarden Mark
1994 1995 1996 1997 1998 1999
1994 1995 1996 1997 1998 1999
63,13
257,74
134,24
vor Steuern in Milliarden Mark
Jahresergebnis
2,08
15,95
6,29
Beschäftigte
119900
441500
297900
in Millionen Stück
Autoabsatz
1,19
4,51
4,75
Umsatzrendite
3,3%
6,2%
4,7%
vor Steuern
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115
Wirtschaft
MOTOR-PRESSE-INTERNATIONAL
116
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Wiedeking weiß, dass dies keine Garantie
für die Zukunft ist. Aber es macht ihm
doch einen Heidenspaß, dass er VW, BMW
und sogar DaimlerChrysler in einem Wettbewerb deutlich abgehängt hat, der zumindest bei Shareholder-Value-Fan
Schrempp Priorität genießt: bei der Umsatzrendite. Hier ist Porsche mit gut 10 Prozent weltweit führend. Zweiter ist Honda
mit 8,3 Prozent. Die Japaner sind zwar
deutlich größer als Porsche, aber auch ein
Hersteller mit begrenzter Modellpalette.
Grundsätzliche Zweifel an ihrer
Strategie aber kommen angesichts
dieser Rendite-Rangfolge bei DaimlerChrysler (Platz drei), VW (Platz
sechs) und BMW (Rang acht) nicht
auf. Die Konzernchefs sind überzeugt, dass ihre Unternehmen nur
als Anbieter einer kompletten Modellpalette überleben können. Die Fehlschläge
sollen nur kurzfristige Rückschläge sein.
Jetzt wird erst mal nachgebessert.
Den dringendsten Bedarf dabei hat
DaimlerChrysler-Chef Schrempp. Die AKlasse ist inzwischen zwar zu einem Erfolgsmodell geworden, von dem in den ersten sieben Monaten 121000 Autos verkauft
wurden. Doch beim Smart reißt die Reihe
der Pannen nicht ab, und die Zukunft des
Kleinwagens bleibt ungewiss.
Mit dem französischen Konzern PSA
(Peugeot, Citroën) konnte sich DaimlerChrysler bislang nicht darüber einigen, ob
Smart die Plattform von Peugeot-Kleinwagen übernimmt und darauf eigene Modellvarianten baut. Die Franzosen wollten
die neue Kooperation schon auf der IAA
verkünden. Der DaimlerChrysler-Vorstand
entschied am vergangenen Mittwoch aber,
das Projekt sei noch nicht ausgegoren.
Eine andere Neuigkeit dagegen wurde
spruchreif: Das Smart-Center in Berlin
musste Konkurs anmelden. Für die Kunden
soll dies keine Folgen haben, weil DaimlerChrysler den Vertrieb selbst übernimmt.
Peinlich aber ist es allemal, und die Konkurrenten werden wieder Stoff für Lästereien haben.
Besonderes Vergnügen bereitet dies VWChef Piëch. Lächelnd kommentierte er das
Modell des geplanten Mercedes-Maybach
mit seinem 12-Zylindermotor: „Das wird
sicher nicht reichen.“ Zufrieden zieht der
VW-Vorsitzende dagegen Zwischenbilanz
beim Vergleich der Verkaufszahlen von
Golf und A-Klasse: „Das Scharmützel endet mit zehn zu eins.“
Mercedes-Chef Jürgen Hubbert revanchiert sich und lästert munter über die Luxuspläne von Volkswagen. Das notwendige Image für die Oberklasse könne man
„nicht durch den Zukauf von Marken oder
eine Vervielfachung der Zylinderzahlen erreichen“. Das Modell eines neuen Bentley
kommentierte der DaimlerChrysler-Vorstand mit dem Satz: „Der sieht aus wie ein
Breitmaulfrosch.“
Dietmar Hawranek
J. SCHICKE / ACTION PRESS
erwarten Analysten ein Minus von gut 800
Seit die Pläne von Mercedes-Benz und
Millionen Mark. Nur wenn die Marke BMW bekannt sind, Supersportwagen zu
BMW in den nächsten Jahren weiter Ge- bauen, schreckt auch Porsche-Vorsitzender
winne auf Rekordniveau einfährt, wenn Wendelin Wiedeking nicht vor einer Attacke
alle neuen Modelle erfolgreich starten und zurück. Über fusionierte Konzerne wie
die Autokonjunktur nicht einbricht, kann DaimlerChrysler sagt Wiedeking: „Wenn
der Konzern diese Durststrecke als eigen- Größe das entscheidende Kriterium wäre,
ständiger Hersteller durchstehen.
müssten die Dinosaurier heute noch leben.“
Der VW-Konzern fährt mit dem Bau ei- Und als BMW-Chef Joachim Milberg 500
nes eigenen Oberklassewagens zwar kei- Millionen Mark Subventionen bei der EU
nen derart riskanten Kurs wie BMW. Doch beantragte, um die maroden Rover-Fabriauch die Wolfsburger Pläne bergen große ken zu sanieren, schrieb der PorGefahren. Erfüllen sich die hoch gesteckten sche-Chef gar einen BeschwerAbsatzziele von jährlich 30 000 Oberklas- debrief an die EU-Kommission.
seautos der Marke Volkswagen nicht, könnte die für
knapp 400 Millionen Mark
errichtete Fabrik in Dresden
zur Investitionsruine werden.
Hat der neue VW für
100 000 bis 180 000 Mark dagegen Erfolg, geht dies sicher nicht nur zu Lasten von
Mercedes und BMW, sondern schadet der Konzernmarke Audi. Die Techniker
dort brauchten 15 Jahre, um
sich in der Oberklasse zu
etablieren, und sehen nun BMW Z 8, BMW-Chef Milberg: Riskante Strategie
argwöhnisch, wie sie vom
eigenen Mutterkonzern unter freundlichen
Wiedekings Kalkül ist klar. BMW könnBeschuss genommen werden.
te die Rover-Sanierung auch aus den eigeNicht minder riskant ist die von allen nen Gewinnen finanzieren. Wenn die
drei deutschen Herstellern geplante Ent- Münchner knapp eine halbe Milliarde Subwicklung von Super-Luxuslimousinen, die ventionen geschenkt bekommen, haben sie
zwischen 200 000 und 500 000 Mark kosten zusätzlichen Spielraum für Sportmodelle,
sollen. Für den Maybach von Mercedes, die Porsche Konkurrenz machen.
die Bentleys und Bugattis von VW und den
Bislang ist der Sportwagenbauer, der
Rolls-Royce von BMW werden sich unter mangels Masse nicht die gleiche Strategie
den Multimillionären dieser Welt ein paar wie DaimlerChrysler, BMW und VW
tausend Käufer finden. Doch weil alle drei verfolgen kann, noch am erfolgreichsten.
gleichzeitig um diese exklusive Klientel
800
werben, kommt möglicherweise keiner auf
ausreichend hohe Verkaufszahlen. Nicht
700
alle werden ihre Milliardeninvestitionen
wieder verdienen.
600
Entsprechend angespannt ist die Stim500
STUTTGART
mung zwischen den Chefs der deutschen
Autokonzerne. Bei den kleinen Seitenhie400
ben auf die Konkurrenten bleibt es längst
300
nicht mehr. Der VW-Vorsitzende gibt deutlich zu verstehen, dass er BMW für einen
200
Übernahmekandidaten hält, und verbreitet
100
öffentlich Beteiligungspläne.
Über solche Attacken kann man klagen
0
wie der langjährige BMW-Vorsitzende
1994 1995 1996 1997 1998 1999
und Aufsichtsratschef Eberhard von Kuenheim, der sich im Präsidium des Verbandes
Geschäftsjahr 1998/99 Umsatz
5,9*
in Milliarden Mark
der Automobilindustrie darüber beschwerte, dass die Schläge zunehmend unJahresergebnis
0,6*
ter die Gürtellinie gingen. Ändern wird
vor Steuern in Milliarden Mark
sich daran aber kaum etwas, denn seit die
Beschäftigte
8500*
deutschen Hersteller in allen Marktsegmenten miteinander konkurrieren, wächst
Autoabsatz 40000*
der Druck. Da kann selbst der kleinste,
in Stück
Porsche, nicht ruhig in der Nische verharUmsatzrendite
*
Zahlen
ren und sich des gegenwärtigen Erfolgs
10,2%*
geschätzt
vor Steuern
erfreuen.
Werbeseite
Werbeseite
J. H. DARCHINGER
Wirtschaft
Veba-Chef Hartmann: Abrupter Strategiewechsel
FUSIONEN
Geheimer Verkaufsplan
Erst fusionieren, dann verkaufen: Die Vorstände
von Veba und Viag wollen Unternehmen
mit fast 65 Milliarden Mark Umsatz losschlagen.
U
lrich Hartmann bilanzierte den
Stand ganz nüchtern: Die Chancen
für die geplante Fusion mit der
Viag, erklärte der Veba-Chef seinem Aufsichtsrat am vergangenen Mittwoch in Düsseldorf, „stehen 50 zu 50“.
Beide Konzerne hätten alles Notwendige für einen Erfolg des Mega-Deals getan. Nun, so Hartmann, liege es an der
bayerischen Landesregierung mit ihrem
Chef Edmund Stoiber, ob sie einen Teil
ihres 25-prozentigen Viag-Aktienpaketes
an die Veba verkaufe und damit ihr Einverständnis zu dem Zusammenschluss
gebe.
Das Warten auf die Entscheidung des
bayerischen Landesfürsten passt dem
Veba-Chef und seinem Viag-Kollegen Wilhelm Simson ganz und gar nicht ins Konzept. Denn die beiden 61-jährigen Manager
haben mit den einst so behäbigen Mischkonzernen aus Bayern und NordrheinWestfalen ebenso ehrgeizige wie radikale
Pläne.
Seit gut zwei Wochen liegt in ihren
Schubladen ein detailliert ausgearbeiteter
Fusionsplan, der nicht nur die beiden Konzerne, sondern die gesamte deutsche Industrielandschaft kräftig durcheinanderwirbeln könnte.
Das gut 20 Seiten starke Papier, das die
beiden Konzernlenker in einer zweitägigen Marathonverhandlung in einer alten
Villa der PreussenElektra an der „Schö118
nen Aussicht“ in Hamburg aushandelten,
ist mehr als der simple Plan, die beiden
Unternehmen aus München und Düsseldorf zusammenzuschweißen.
Im Kern läuft der Fusionsvertrag auf
eine der radikalsten Umstrukturierungen
hinaus, die zwei Konzerne dieser Größenordnung in Deutschland jemals umgesetzt
haben. Der Zusammenschluss, der Viag
und Veba mit einem Schlag zum drittgrößten deutschen Industriekonzern und zum
größten privaten europäischen Energieversorger katapultiert, soll sich langfristig
nämlich auf nur wenige Bereiche beschränken.
Lediglich Energie, Chemie und Teile der
Telekommunikation sollen künftig noch zu
den Kerngeschäftsfeldern gehören und weiter ausgebaut werden. Unzählige Unternehmen und Beteiligungen mit einem
Gesamtumsatz von knapp 65 Milliarden
Mark – fast die Hälfte des gesamten Konzernumsatzes –, so die Vereinbarung, sollen in den nächsten zwei bis drei Jahren
verkauft werden.
Was die beiden Manager schaffen wollen, ist ein schlanker, glitzernder Dienstleistungskonzern, der Haushalte und Unternehmen mit allen Basisleistungen wie
Strom, Wasser, Gas oder Telefon versorgt.
Im Zentrum soll denn auch eine mächtige
Stromtochter mit Sitz in München stehen.
Sie wird aus der PreussenElektra und den
Bayernwerken zusammengeschweißt und
Im Kern Energie
Kernbereiche und
wichtige Verkäufe
der Fusionspartner
Mitarbeiter: 116 774
Umsatz 1998: 83,7 Milliarden Mark
darunter:
PreussenElektra ....................15,9
Mitarbeiter: 85 694
Umsatz 1998: 49,1 Milliarden Mark
darunter:
Energie
Bayernwerk .............................11,1
Chemie
SKW Trostberg,
Goldschmidt ..............................6,6
Veba Oel...................................20,1
Degussa-Hüls ............................9,1
Telekommun
ikation, Umwandlung in AG
Viag Inte
rkom (45%)..................0,4
Gesamtumsätze der Verkäufe 1998
rund 65 Milliarden Mark, darunter:
Veba Telecom
(E-plus und andere)................3,6
TELEKOMMUNIKATION
Verpackung
MEMC, USA ...............................1,3
sonstige
Industrie
Stinnes ...................................26,5
Veba Electronics ......................7,5
Handel,
Logistik
Silizium
d e r
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Schmalbach-Lubeca,
Gerresheimer Glas .................5,8
Aluminium
VAW ............................................5,8
Klöckner & Co...........................9,5
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Wirtschaft
W. M. WEBER
Telekommunikation einzusteigen,
als Fehlinvestition heraus. Ebenso
wie die Bemühungen des bayerischen Kontrahenten, eine Handelssparte aufzubauen oder das
schwächelnde Verpackungsgeschäft durch kräftige Zukäufe zu
sanieren.
Solche Fehlschläge störten die
Manager jedoch nur wenig. „Die
üppig sprudelnden Monopolgewinne der Stromtöchter“, so ein
Viag-Manager, „ließen so manchen Milliardenflop schnell in Vergessenheit geraten.“ Unverdrossen verkündete das Management
„das Zeitalter der Konglomerate“.
Seit einigen Monaten hat sich das sorgenfreie Leben der Stromversorger geändert. Der gnadenlose Wettbewerb auf dem
deutschen Strommarkt lässt Preise und
Margen deutlich schneller fallen, als die
deutschen Energieunternehmen ursprünglich gedacht hatten. Außerdem versuchen
neben unzähligen kleinen Wettbewerbern
auch Stromgiganten wie die texanische Enron oder die französischen EDF auf dem
deutschen Markt Fuß zu fassen.
Mit Milliardeninvestitionen, frechen
Marketingaktionen und niedrigen Preisen
wollen sie den bisherigen Gebietsmonopolisten Kunden, Marktanteile und Kilowattstunden abjagen.
Für schwerfällige Gemischtwarenläden
wie Viag und Veba, die zusammen nur etwas mehr als ein Drittel der Strommenge
des französischen Staatskonzerns absetzen, könnte ein solcher Kampf verheerende Folgen haben. Entsprechend drücken
Simson und Hartmann aufs Tempo, verwerfen ihre Konzepte von gestern.
Sollten Stoiber und das Kartellamt zustimmen, haben die beiden Konzernchefs
einen ehrgeizigen Zeitplan ausgearbeitet.
In nur drei bis vier Monaten sollen alle
notwendigen Prüfungen und Detailverträge
ausgearbeitet sein. Bereits Anfang nächsten
Jahres sollen dann die Hauptversammlungen beider Unternehmen über den
Fusionsplan abstimmen. Geführt von einer
Doppelspitze Hartmann/Simson, so das
Ziel, könnte der neue Konzern dann vielleicht schon Mitte 2000 seine Arbeit aufnehmen.
Doch der bayerische Ministerpräsident
lässt sich bei seiner Entscheidung reichlich
Zeit. Angekratzt durch die Affäre um die
landeseigene Wohnungsbaugesellschaft,
will sich Stoiber beim Verkauf des ViagAktienpaketes nicht schon wieder mangelnde Sorgfalt vorwerfen lassen.
Vor Ende des Monats, ließ Stoiber
deshalb vergangene Woche die beiden
Manager wissen, sei nicht mit einer Entscheidung zu rechnen. Die Landesregierung prüfe zunächst noch weitere
Angebote – im Gespräch sind ausgerechnet die Hauptkonkurrenten RWE und
EDF.
Dinah Deckstein, Frank Dohmen
Viag-Chef Simson: Ehrgeiziger Zeitplan
damit den bisherigen Marktführer RWE
übertreffen.
Daneben wollen Hartmann und Simson
nach einer Übergangsfrist von etwa zwei
Jahren auch die Chemiesparten beider
Konzerne (Degussa-Hüls und SKW Trostberg) zu einem der führenden europäischen Hersteller von Chemieprodukten
verschmelzen.
Überleben soll in dem neuen Verbund
neben der energienahen Veba Oel auch die
bisher nicht sonderlich erfolgreiche ViagTelekommunikationstochter Interkom. Sie
wird nach derzeitigen Plänen einer strengen Kostenplanung unterworfen und bereits in den nächsten Monaten in eine eigenständige Aktiengesellschaft umgewandelt. Ein späterer Börsengang ist damit
nicht ausgeschlossen.
Für milliardenschwere Töchter wie die
Viag Aluminiumproduktion VAW, die VebaHandels- und Logistiktochter Stinnes, den
US-Silizium-Wafer-Hersteller MEMC, die
Veba-Elektroniksparte, die Beteiligung an
der Mobilfunktochter E-Plus, den Verpackungssektor der Viag oder den Stahlhändler Klöckner & Co. ist in dem fusionierten Konzern kein Platz mehr.
Für sie wollen Hartmann und Simson in
einem bisher wohl beispiellosen Ausverkauf neue Besitzer finden oder Börsengänge vorbereiten. Nur wenn diese
Schlankheitskur gelingt, hatte Hartmann
vergangene Woche im kleinen Kreis von
Managern erläutert, könne die Fusion auch
wirklich zu einem Erfolg werden.
Kurswechsel total: Jahrelang hatten beide Unternehmen eine völlig andere Strategie verfolgt. Mit Milliardenaufwand wurden sowohl in Düsseldorf als auch in München unzählige neue Geschäftsfelder aufgebaut und Beteiligungen hinzugekauft.
Die vielen unterschiedlichen Sparten, so
die Überlegung, sollten die Unternehmen
krisenunanfällig machen.
Doch viele der als zukunftsträchtig gefeierten Investitionen entpuppten sich
schon bald als wenig gewinnträchtig oder
gar als milliardenschwere Flops. So stellten
sich beispielsweise die Versuche der Veba,
mit Milliardenaufwand in die Chip-Herstellung, das Elektronikgeschäft oder in die
d e r
s p i e g e l
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121
Wirtschaft
Mr. Japan.com
Fast unbemerkt hat Masayoshi Son, Gründer der Firma
Softbank, den größten Internet-Konzern Asiens
aufgebaut. Damit ist sein Ehrgeiz noch lange nicht gestillt.
D
er Einhundert-Millionen-DollarDeal war fix eingefädelt: Bei Pizza
und Cola, auf dem Fußboden seines
Hotelzimmers im Silicon Valley hockend,
bot der freundliche Geschäftsmann aus
Tokio den jungen Gründern des damals
fast unbekannten amerikanischen Internet-Anbieters Yahoo sein Geld an. Eine
Beteiligung von 30 Prozent würde er gern
übernehmen.
Jerry Yang und David Filo – sie hatten
erst wenige Monate zuvor ihr Hochschulstudium beendet – konnten ihr Glück
kaum fassen. Sie hielten den Asiaten anfangs für völlig verrückt. Aber da sie
dringend Geld brauchten, willigten sie
schnell ein.
Das war im Frühjahr 1996. Inzwischen ist
Yahoo an der Wall Street mehr als 30 Milliarden Dollar wert. Und der risikofreudi-
ACTION PRESS
INTERNET
ge Investor aus Tokio, den im Silicon Valley jetzt niemand mehr für übergeschnappt
hält, stieg zu einem der reichsten Männer
Japans auf: Masayoshi Son, 42, Gründer
und Präsident der japanischen InternetFirma Softbank.
Der gewinnträchtige Einstieg in das amerikanische Zukunftsunternehmen Yahoo
war für Son nur der Anfang einer langen
Einkaufstour. Denn der rastlose Unternehmer, der Milliarden-Geschäfte noch immer am liebsten beim Imbiss oder übers Telefon abwickelt, hat Großes vor: Mit Hilfe
des Internet will er das größte Firmenkonglomerat der Welt aufbauen.
Sons Vorbild sind Japans einstige „Zaibatsu“ – die riesigen Firmenkolosse wie
Mitsui, Mitsubishi oder Sumitomo, die bis
Ende des Zweiten Weltkriegs jeweils noch
unter einem Dach vereint waren. Mit seinem „Zaibatsu“ Softbank will Son das Geschäft im Cyberspace beherrschen.
Während die Welt vor allem
Amerikaner wie Microsoft-Gründer Bill Gates als Helden des digitalen Zeitalters bestaunt, kauft der
Außenseiter aus Asien ein bemerkenswertes Imperium von InternetBeteiligungen zusammen – vom
Online-Broker bis zum Autohändler. In den USA kontrolliert er über
sein Aktienkapital 100 InternetNeugründungen, in Japan 20. Der
Boom der Internet-Aktien blähte
den Börsenwert seines Vermögens
auf rund 20 Milliarden Dollar.
Die Cyber-Welt horcht auf: Ausgerechnet von Japan aus, das die
digitale Revolution der neunziger
Jahre verschlief, will einer das Internet erobern? Haben die Unternehmen des Landes nicht genug
damit zu tun, von ihrer langjährigen Krise zu genesen? Und überhaupt: Wer ist Son?
Der Mann war schon immer ein
Außenseiter, und das erklärt auch,
warum er gerade während der Japan-Krise so steil aufstieg. Von den
uniformierten Firmenbossen des
Landes, die meist von heimischen
Elite-Universitäten stammen, unterscheidet sich der schmächtige
Mann mit der leisen Stimme schon
durch seine Herkunft: Er stammt
aus der in Japan diskriminierten
koreanischen Minderheit.
Seine Familie schlug sich mit
Schweinezucht und dem Betrieb
von Spielhöllen durch – ehrenwertere Jobs waren Koreanern in
Japan häufig verwehrt. Auf dem
Schulweg bewarfen Nachbarjungen Son mit Steinen.
Schon als Zehnjähriger büffelte
der Außenseiter wie besessen: Er
Softbank-Gründer Son
Als Kind mit Steinen beworfen
NYT
R. HOLMGREN / TIME MAGAZINE / INTER-TOPICS
Wertpapiere handeln, mit der Ladenkette Seven-Eleven Bücher.
Schon jetzt beherrscht Son in Japan rund zwei Drittel der OnlineDienstleistungen.
Dabei kommt dem Internet-Pionier der radikale Wandel zugute,
der das zweitgrößte Industrieland
neuerdings erfasst hat: In zehn Jahren, schätzt die Regierung in Tokio,
werde das Volumen des elektronischen Handels in Japan auf rund 50
Billionen Yen steigen (845 Milliarden Mark).
Vor allem der verkrustete Finanzsektor
des Landes zittert vor der Online-Revolution. Denn nach und nach reißt die Regierung bürokratische Schutzmauern um
Banken, Broker und Versicherer ein: Der
Branche droht ein Preiskampf, den am
Ende das Internet entscheiden dürfte. Dort
lauert Son bereits mit seinen Finanz-JointVentures in den Startlöchern.
Aber noch ist unklar, ob Mr. Japan.com
nicht vorzeitig die Puste ausgeht. Denn
Son finanziert seine rastlose Online-Shoppingtour vor allem mit riesigen Buchgewinnen, die ihm der Höhenflug der YahooAktie an der Wall Street beschert.
Doch die Blase könnte irgendwann
platzen, zumal Yahoo 1998 mit seinem eigentlichen Geschäft nur einen relativ
mickrigen Gewinn von 25,6 Millionen
Dollar einfuhr.
Son weiß, dass er mit dem Internet solides Geld verdienen muss. Um die schleppende Verbreitung des neuen Mediums in
Japan zu beschleunigen, plant er weitere
verwegene Investitionen: Mit der amerikanischen Hightech-Börse Nasdaq will Son
in Japan einen neuen Aktienmarkt gründen, der jungen Internet-Firmen den Zugang zum Kapital erleichtern soll. Die träge Tokioter Börse erschwert Jungunternehmern noch immer den Start.
Auch eine weitere Hürde für das Internet will Störenfried Son beseitigen: die hohen Telefongebühren, die der Fernmelderiese NTT den Internet-Nutzern abknöpft.
Mit Microsoft und dem japanischen Stromversorger Tokyo Electric will er künftig auf
eigenen Telefonnetzen Billiggebühren für
Netznutzer anbieten.
So flink wie im Silicon Valley kann Son
in Tokio allerdings nicht die Geschäftskultur aushebeln. Langjährige Beziehungen
zählen hier immer noch mehr als kurzfristige Profite.
Wohl nicht zufällig hievte Son Söhne
prominenter japanischer Unternehmer auf
die Chefsessel wichtiger Softbank-Firmen
– darunter auch den Spross eines früheren
NTT-Bosses.
Seine Vorbilder sind mittelalterliche japanische Kriegerfürsten, und seine Strategie reicht weit in die Zukunft: „In 300 Jahren“, sagt er, „wird sich der Umfang meiner Infrastruktur erst so richtig als Stärke
erweisen.“
Wieland Wagner
Geocities-Chef Bohnett, Yahoo-Gründer Yang: Mit japanischem Risikokapital nach oben
wollte den Wunsch seines Vaters erfüllen, rikanischen Geschäftsleuten ein neues
„in Japan die Nummer eins zu werden“. Mit Gemeinschaftsunternehmen in Tokio an16 ging er von der Schule ab, um im kali- kündigt.
fornischen Berkeley Englisch zu lernen und
Vorbei sind die Zeiten, als das Miti – das
später die Uni zu besuchen. In den USA mächtige Ministerium für Internationalen
legte Son auch seinen japanischen Namen Handel und Industrie – ihn empört aus
Yasumoto ab. Aber seinen Ehrgeiz, es den einem Beratergremium warf, weil Son
arroganten Japanern zu zeigen, behielt er. die nationalistische Hightech-Politik des
Jeden Tag zwang sich der paukwütige Ministeriums kritisierte. Nun ahnt selbst
Student, fünf Minuten über Erfindungen Premier Keizo Obuchi, dass Japan nur nach
nachzudenken. Das Grübeln half: Son ent- US-Rezepten Anschluss ans Internet finwarf ein Taschen-Übersetzungsgerät, das den kann: Regelmäßig lädt er Son zum
er von einem US-Professorenteam ent- Essen ein und lauscht dessen Visionen.
wickeln ließ.
Mit Yahoo besetzte Son ein sogenanntes
Damals probierte der Student erstmals Portal zum Internet, durch das die Netzdas Geschäftsprinzip, mit dem er als Un- Benutzer zu einzelnen Web-Seiten surfen.
ternehmer Milliarden verdient: Son schiebt Wie ein Torwächter will Son Internet-Kunneue Projekte an – die Ausführung über- den mit seiner Suchmaschine Yahoo vor
lässt er anderen.
allem zu eigenen Internet-Firmen lotsen:
Das Patent für die Erfindung verkaufte Mit dem US-Riesen Microsoft will er Autos
Son für eine Million Dollar an den japani- online verkaufen; mit E*Trade, dem drittschen Elektronikhersteller Sharp. Von dem größten Online-Broker der USA, will er
Geld baute er ab 1981 in Japan
die Software-Firma Softbank auf, 40
die auch heute noch 70 Prozent 35
Wie entfesselt
der Software in Japan vertreibt.
Kurs der Softbank-Aktie
Seinen ersten großen Vorstoß 30
in tausend Yen
ins Ausland wagte Son 1994: Für 25
rund 3,1 Millionen Dollar kaufte
20
er den US-Verlag für Computerzeitschriften Ziff-Davis. Mit der 15
Neuerwerbung wollte er erst den 10
Weltmarkt für solche Magazine
5
erobern. Doch das Internet überschattete bereits die Zukunft ge1995
1996
1997
1998
1999
druckter Medien. Also warf Son
sich auf das Internet – und setzte mit Yahoo auf einen der Gewinner.
Seitdem wendet der SoftbankChef stets dasselbe Erfolgsrezept Die wichtigsten Beteiligungen
an. Früh pumpt er Risikokapital
Softbank-Anteil
in kleine, aber aussichtsreiche kaYahoo! Internet-Suchmaschinen 26 %
lifornische Internet-Neugründungen wie etwa David Bohnetts
Yahoo! Japan
51 %
Geocities. Dann verfrachtet er
E*Trade Online-Wertpapierhandel 27 %
die Ideen seiner Partner als Joint
E*Trade Japan
58 %
Venture nach Japan.
So gründete Son schon 1996
E-loan Japan Online-Hypothekenhandel 60 %
Yahoo Japan mit einem StartkaGeocities Japan Internet-Club
60 %
pital von nur 3,5 Millionen
50 %
Dollar – inzwischen ist die Firma Digital Broadcasting TV-/Rundfunk
Services Japan
an der Börse rund 7,3 Milliarden
Dollar wert. Kaum ein Monat
Ziff-Davis Computer-Zeitschriften
70 %
und -Marketing
vergeht, ohne dass Son mit amed e r
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123
B. BEHNKE
Großbäcker Kamps: Die Prognosen müssen immer schneller korrigiert werden
UNTERNEHMER
Unschuld
verloren
Der Düsseldorfer Bäcker Heiner
Kamps entwickelt sich zum
Liebling der Börsianer. Doch mit
dem jüngsten Zukauf bringt
er die Branche gegen sich auf.
H
einer Kamps kann sich noch gut an
seine ersten Gehversuche in der
Welt der Aktienhändler und Broker
erinnern – denn die waren für den Bäckermeister aus Westfalen ziemlich frustrierend. „Ich habe mir den Mund fusselig
geredet“, sagt er, „aber keiner hat meine
Story verstanden.“
Immer wieder hörte Kamps das gleiche
Argument gegen seine Börsenpläne:
Bäckereien seien nun mal kein Wachstumsmarkt und eine „ziemlich verstaubte
Branche“, lästerten die Analysten. „Die
fanden das komisch“, ärgerte sich Kamps.
Das war vor zwei Jahren. Inzwischen ist
alles anders. Die einst so skeptischen Analysten loben Kamps, 44, als „Hecht im
Karpfenteich“, sie empfehlen seine Bäckeraktie zum Kauf und bescheinigen dem Börsenneuling eine weitsichtige Strategie: „An
der Geschichte gibt es keinen Haken“, versichert Jadwiga Bobrowska von der WestLB in Düsseldorf.
Vergangene Woche sorgte der Bäcker
und Börsenstar wieder für Schlagzeilen:
Zum 1. Januar 2000 übernimmt Kamps den
Backwarenkonzern Wendeln, der vor allem Supermärkte und Kaufhäuser mit
Schnittbrot („Lieken Urkorn“, „Golden
Toast“) beliefert. Mit der Übernahme der
Firma, die doppelt so viel Umsatz erwirtschaftet wie Kamps, katapultiert sich der
Düsseldorfer Aufsteiger mit einem Schlag
an die Spitze von Europas Backstuben.
124
Der Deal – Experten rechnen mit einem
Kaufpreis von gut einer Milliarde Mark –
ist der vorläufige Höhepunkt einer Karriere, wie sie sonst nur in der brodelnden Internet-Branche möglich ist. Innerhalb weniger Jahre schaffte Kamps den Sprung
vom einfachen Bäcker zum Multimillionär.
Nach der Lehrzeit und einigen Wanderjahren als Geselle hatte sich Kamps 1982
selbständig gemacht und eine kleine
Bäckerei in Düsseldorf übernommen. Zehn
Jahre später war daraus eine Kette mit 21
Filialen und 20 Millionen Mark Umsatz
geworden. „Ich war schuldenfrei, und für
die meisten Bäcker endet da der Ehrgeiz“,
meint der bullige Westfale.
Nicht bei Kamps. Er verkaufte seine Filialen an den amerikanischen Lebensmittelkonzern Borden, der damals in Europa
Fuß fassen wollte, und baute vier Jahre lang
als Manager das Deutschland-Geschäft der
Amerikaner aus. Als die US-Firma 1996 das
Interesse am deutschen Markt verlor, nutzte Kamps die Chance. Mit Hilfe einer Venture Capital Gesellschaft übernahm er die
Backstuben der Amerikaner, zu denen bereits die Ketten „Stefansbäck“, „Nur Hier“
und „Lecker Bäcker“ gehörten.
Die weitere Expansion war jedoch nur
über die Börse möglich. Als er endlich die
Super-Bäcker Kamps
10. Sept.
55,49
60
50
Kamps-Aktie
in Euro
40
Erster Börsentag
8. April 1998
30
8,36*
20
Quelle:
Datastream
10
1998
1999
*bereinigt um
Aktiensplit
AM J J A S O N D J F MA M J J A S
d e r
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zaudernden Analysten überzeugt hatte und
der Börsengang im April vergangenen Jahres 166 Millionen Mark in die Kassen spülte, entdeckte Kamps die Lust am FirmenShopping. Innerhalb von 15 Monaten kaufte er in Deutschland und Holland neun
Bäckereiketten mit insgesamt fast 700 Filialen auf – und mit fast jeder Übernahme
kletterte der Kurs der Bäckeraktie höher.
Gleichzeitig mussten die Prognosen, die
ursprünglich einen Umsatz von einer Milliarde Mark für das Jahr 2002 vorsahen,
immer schneller korrigiert werden. Jetzt
will Kamps die erste Milliarde schon 1999
erreichen. Allein durch die Übernahme von
Wendeln könnte der Umsatz nächstes Jahr
auf drei Milliarden Mark steigen.
Anders als Brillenkönig Günther Fielmann hatte Kamps bei seinen Beutezügen
jedoch nicht die Branche gegen sich aufgebracht. Viele Bäcker sahen in ihm einen
der Ihren, der sogar in der Harald-SchmidtShow auftreten durfte. Da Kamps nur bestehende Filialketten in den Ballungszentren aufgekauft hatte, waren für sie keine
neuen Konkurrenten aufgetaucht. Ihren
Hauptgegner sah die Zunft deshalb nach
wie vor in den Supermärkten.
Kamps habe sich „bisher sehr sauber
hochgearbeitet“, meint etwa Eberhard
Groebel, Hauptgeschäftsführer beim Zentralverband des Deutschen Bäckerhandwerks. „Am Markt hat sich durch die Strategie von Kamps bislang nichts Wesentliches verändert“, bilanzierte Bayerns
Oberbäcker Heinrich Traublinger.
Der Grund für so viel Gelassenheit ist
klar: Anders als Fielmann hat der Superbäcker die Branche bislang nicht in einen
ruinösen Preiskrieg gestürzt. Die Kostenvorteile, die er durch seine Einkaufsmacht
bei den Lieferanten erzielte, nutzte er lieber zur Verbesserung der Rendite.
In Berlin, wo die Filialketten Thoben
und Ostrowski einen erbitterten Kampf
führten und die Brötchenpreise bis auf fast
zehn Pfennig drückten, hatte Kamps nach
der Übernahme der beiden Widersacher
den Krieg kurzerhand beendet. „Jetzt herrschen hier wieder geordnete Verhältnisse“,
lobte ein Berliner Bäcker.
Doch nach dem Kauf des bei den
Handwerkern verhassten „Fabrikbäckers“
Wendeln schlägt die Stimmung um. „Damit“, sagt Bäckerfunktionär Traublinger,
„hat er seine Unschuld verloren.“ Jetzt,
glaubt auch Verbandsgeschäftsführer
Groebel, müsse „die Strategie von Kamps
völlig neu bewertet werden“. Denn künftig wird das Kamps-Brot auch im Supermarkt verkauft.
Der Großbäcker lässt sich von der Kritik nicht beirren. „Das Vorurteil, kleiner
Bäcker gleich guter Bäcker, ist doch längst
überholt.“ Und „allein vom Mythos des
überarbeiteten Selbständigen mit der Ehefrau hinterm Ladentisch“, glaubt der Multimillionär, „kann man auf Dauer schlecht
leben“.
Klaus-Peter Kerbusk
Werbeseite
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Medien
Trends
PRO SIEBEN
„Das Allerunterste“
Comedy-Star Wigald Boning, 32, über seine „Morning Show“ und den Angelschein
T. MÜLLER / AGENTUR FOCUS
SPIEGEL: 15 Monate lang haben Sie ausgesetzt. Jetzt planen Sie mit der „Morning Show“ Ihr Comeback. Ist Frühstücksfernsehen nicht weit unter Ihrem
Niveau?
Boning: Na klar – Frühstücksfernsehen ist
das Allerunterste, aber das macht die Aufgabe doch so spannend.
SPIEGEL: Haben Sie keine Probleme, so
früh aufzustehen?
Boning: Nein, ich hatte früher einen Angelschein, und beim Angeln ist man früh
wach. Jetzt angel ich zwar nicht mehr, stehe aber immer noch früh auf. Dann habe
ich irgendwann die letzten drei Wochen
des RTL-Frühstücksfernsehens unter Peter
Bartels gesehen. Seitdem komme ich nicht
mehr davon los.
Boning
C H E F R E DA K T E U R E
DEUTSCHER FILM
Neuer Job für Tornow
Weder hip noch erotisch
M
D
er deutsche Film wird im Ausland
„praktisch nicht wahrgenommen“,
die Branche beschäftigt sich vor allem
mit sich selbst und ihren „zahlreichen
Profilneurosen“. Zu diesem Ergebnis
kommt ein Gutachten der Kölner Unternehmensberatung HMR International
im Auftrag von Kulturstaatsminister
Michael Naumann. Der Umsatz mit
dem Export deutscher Kinofilme liegt
zur Zeit unter zehn Millionen Mark im
Jahr. Abgesehen von dem „einmaligen“
Sonderfall „Lola rennt“, mangele es
dem deutschen Film an „Aktualität,
Hipness, Erotik oder sonstigen Eigenschaften, die ihn als zeitgemäßes Produkt auszeichnen könnten“. Ähnlich
schwach seien auch die Bemühungen
der deutschen Filmwirtschaft, im Ausland für die eigenen Erzeugnisse zu
werben. So waren Besucher auf einer
amerikanischen Fachmesse mit überdimensionierten Gartenzwergen und
Weißwürsten begrüßt worden, und
beim deutschen Empfang auf dem Festival in Cannes „spielte eine Kapelle südosteuropäisch geprägte Jazzmusik, dazu
traten französische Artisten auf“.
PROKINO
DPA
it der früheren „taz“-Chefredakteurin und TV-Moderatorin Georgia Tornow, 51, will der Mainzer Verlag
für Wirtschaftsmedien (VFW) das Überleben des kränkelnden Wirtschaftsmagazins „Econy“ sichern.
Tornow soll im Januar die Leitung des
Blattes übernehmen
und in Berlin eine
neue Redaktion aufbauen. Einen „weibliTornow
chen Blick auf die
Wirtschaft“ erhofft sich Verlagsleiter
Michael Werner von seiner Neubesetzung, die die Auflage „mittelfristig“ von
heute etwas über 20 000 auf 80 000 bis
100 000 Exemplare steigern soll.
„Econy“ soll künftig monatlich erscheinen und deutlich mehr Service und
Nutzwert bieten. Tornow: „Wenn
das geschriebene Wort die Massen erreicht, kann das auch nicht falsch sein.“
VFW hatte das Magazin Anfang des
Jahres der Gründerin Gabriele Fischer
abgekauft und sieben Monate später
ihr und der Redaktion gekündigt.
Seitdem lässt der Verlag das Blatt
von einer behelfsmäßigen Redaktion
erstellen.
SPIEGEL: Aber die Boning-Fans liegen
doch um diese Uhrzeit alle im Bett – falls
es sie überhaupt noch gibt.
Boning: Keine Ahnung. Ich kenne sie nicht
alle persönlich. Aber man sollte sich nicht
nur nach den Lebensgewohnheiten anderer Menschen richten.
SPIEGEL: Die Quoten Ihrer ersten Sendungen waren eher mau. Was machen Sie,
falls die Sendung in drei Monaten abgesetzt wird?
Boning: Dann muss ich wohl wieder das
Morgenmagazin von ARD und ZDF sehen. Aber so schlimm sind die Quoten gar
nicht – und falls sie tatsächlich schlecht
werden sollten, rechnen wir sie uns natürlich schön. So wie alle anderen. Außerdem haben wir schlicht keine Zeit, groß
darüber nachzudenken.
SPIEGEL: Viele Fernsehmacher setzen zur
Zeit auf Comedy. Droht der Overkill?
Boning: Den gibt es bereits seit vielen Jahren. Aber ich habe mich diesem Genre
schon hingegeben, als es die große Comedy-Welle überhaupt noch nicht gab.
Soll ich jetzt etwa umschulen – auf EDV?
Franka Potente in „Lola rennt“
d e r
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129
Medien
JA H R TAU S E N D W E N D E
Regionalliga Nordost
erlin. Berlin. Berlin. Jetzt auch
B
die „Berliner Seiten“ der
„FAZ“. Jeden Tag sechs druckfrische Großformate über das Leben in
der deutschen Hauptstadt – und
auch nur dort dem Weltblatt beigelegt. Die kleine Zeitung in der
großen Zeitung gibt sich alle Mühe,
wie die große Zeitung auszusehen.
Von Anfang an tobt der Kampf um
den Aufstieg von der Regionalliga
Nordost in die Champions League.
Auch in der Regionalliga gibt es einen Aufmacher, eine Leitglosse plus
täglicher „Chronik“, lange Artikel
über „Frauen im Bezirk Tiergarten“
und den Bus der „257er-Linie“, eine
Rubrik namens „Termine“, kleine
Meldungen, einen Veranstaltungskalender, einen Schluss-Comic
(ganz in Schwarzweiß). Täglicher
Höhepunkt ist die „WebCam“, die
radikal zeitgenössische, irre schnell
hingetupfte Draufschau des Metropolen-Flaneurs aufs Geschehen mit
exakter Zeit- und Ortsangabe:
„18.15 Uhr, Friedrich-Ludwig-JahnSportpark“ hieß es etwa in der
Ausgabe vom 9. 9. 99. Und weiter:
„Warm und sonnig ist der Spätsommerabend, der im Menschen den
Wunsch weckt, sich sportlich zu
betätigen.“ 30 Zeilen später schließt
die virtuelle Liveübertragung mit
einem bedauernswerten Jogger,
dem „nichts anderes
übrig bleibt, als sich
aufzumachen zum nahe gelegenen Volkspark Humboldthain,
wo immer so viele
Hunde sind“.
Einen Tag zuvor hat
man uns einen richtigen Schrecken eingejagt: „21.35 Uhr,
U-Bahn, Linie 6. Alle
starren hin. Alle denken das Gleiche. Ihren Gesichtern ist es anzusehen. Ein Fahrgast, als wäre die Evolution zurückgedreht. Ein Grüner
Leguan. Da Grüne Leguane selten
die Stadt allein durchstreifen, ist der
Besitzer dabei.“ Es sind diese atemberaubende Präzision des Blicks,
diese literarische Verdichtung, die
den Standard des Berlin-Teils rasch
aufs Weltniveau schrauben werden.
Viel pralles Metropolenleben wartet
noch darauf, in die „Berliner Seiten“ der „FAZ“ gewebcamt zu werden. Wir sind gespannt. Ehrlich.
130
Mit Maus zu Moses
W
ährend die meisten zur Jahrtausendwende in die Zukunft
blicken, schaut die ARD mit einer
13-teiligen Sendereihe auf „2000 Jahre
Christentum“ zurück. Das Millenniumsprojekt der ARD wird schon seit drei
Jahren im großen Stil geplant. Vom
7. November an geht es jeden Sonntagnachmittag 45 Minuten lang um „Liebe,
Intrigen, Verfolgung, Eifersucht und Erlösung“. Die zweitausendjährige Vergangenheit des Christentums soll in einer Mischung aus Dokumentation und
nachgestellten Szenen präsentiert werden. Der „mediale Höhepunkt“ der
Millenniumsfeierlichkeiten der ARD
wird von einem gleichnamigen Buch be-
Sat-1-Talkshows: Ricky und Sonja
20
Michelangelos „Erschaffung der Sonne …“
gleitet. Unter „www.2000-Jahre-Christentum.de“ kann man schon jetzt Moses und Co. anklicken. Sechs Millionen
Mark kostet diese Reihe, mit der die
Geschichte des Christentums wieder
„in das Bewusstsein der Menschen“
gerückt werden soll, so der ARD-Redaktionsleiter Ulrich Harbecke.
Marktanteile in Prozent
15
10
5
0
23. 8.
30. 8. 31. 8. 1. 9. 2. 9. 3. 9.
QUOTEN
Nett ist nicht genug
W
as Ricky Harris, 37, für die Moderation einer Talkshow prädestiniere, meinte der „Evangelische Pressedienst“, werde nicht so recht klar. Den
Zuschauern wohl auch nicht: Die Marktanteile der Talkshow „Ricky!“, die sich
nach dem Willen des Senders Sat 1
6. 9. 7. 9. 8. 9.
durch Nettigkeit von den Brüllshows
der Konkurrenz abheben sollte, aber
nur durch besondere Einfallslosigkeit
und Naivität auffällt, liegen deutlich
unter denen von „Sonja“, der Talkshow, die vor „Ricky!“ läuft. Mit der
Freundlichkeit ist es bei „Ricky!“ inzwischen auch nicht mehr sehr weit
her. Das Freitagsthema dieser Woche:
„Lass das – du bist zu fett, um das zu
tragen“.
PROJEKTE
Rheinisches Revival
D
ie Bonner Republik ging zu Ende, der „Bericht aus Bonn“ nicht. Vorvergangenen Freitag offenbarte WDR-Intendant Fritz Pleitgen seinen verdutzten Verwaltungsräten bei einer Sitzung in Berlin, dass er die Traditionssendung wieder aufleben
lassen möchte. Sie soll, als „satirisch-ernste Alternative“ zum neuen „Bericht aus
Berlin“, voraussichtlich im Herbst im WDR-Fernsehen starten und „die Lage der Nation aus der Sicht der europäischen Großmächte Rheinland und Westfalen“ beschreiben. Mit diesem Comeback steigt der WDR in den Boom der Polit-Comedys ein. Als
Moderatoren plant Pleitgen die nordrhein-westfälischen Kabarettisten Jürgen Becker
und Rüdiger Hoffmann ein. Bei Quotenerfolg soll die 30-minütige Wochensendung,
deren echtes Vorbild unter Friedrich Nowottny bis zu zwölf Millionen Zuschauer zog,
im ersten Programm gezeigt werden.
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Fernsehen
Vo r s c h a u
Einschalten
Fußball
Dienstag, 20.15 Uhr, TM 3
Männer sind ja so einfühlend, wenn es
um Frauenthemen geht. Zumindest
heute Abend: Da werden die Finger
der Herren auf der Fernbedienung zu
einem Sender finden, auf dem sie vermutlich bisher nur aus Versehen gelandet sind: zum ehemaligen Frauensender TM 3. Mit den Millionen des
australischen Medienmoguls Murdoch
wird dort die Champions League übertragen: Heute sind die Partien Leverkusen – Lazio Rom und Feyenoord Rotterdam – Dortmund (23.00 Uhr in
leicht gekürzter Aufzeichnung) zu sehen. Am morgigen Mittwoch: Bayern –
PSV Eindhoven und (23.00 Uhr) Galatasaray Istanbul – Hertha. Nie war
Frauenfernsehen so interessant.
Keller in „Ein Vater im Alleingang“
seiner Frau und seiner kleinen Tochter
getrennt lebt. Doch dann wird sein
Kind schwer vergiftet. Dahinter steckt
eine Schmuggelaffäre mit Giftgas, das
von Marokko nach Deutschland gebracht wird. In dieses miese
Geschäft ist auch der BND
verwickelt. Manchmal geraten
die Dialoge allzu schnoddrig
und grüßen die Klischees, aber
wie der Held sein Kind rettet,
ist äußerst spannend inszeniert.
nicht gab – ein realer Scherz humorbegabter Beamter. Warum soll die Komödie hinter solcher Wirklichkeit zurückstehen? In dieser Posse (Buch: Jürgen
Pomorin, Regie: Jörg Grünler) geht es
hoch her: Der in der Abrechnungsstelle
tätige Herr Bienbusch (Harald Juhnke),
ein kleines, aber stets korrektes Licht
in der AA-Bürokratie, kommt durch allerlei Zufälle einem Spesenbetrug im
großen Stil auf die Schliche und lernt,
dass Mitmachen bekömmlicher ist als
Aufklärung. Der Zuschauer sieht Juhnke lieben, feiern, Champagner trinken
und singen. Also: Erst durch Spesen
was gewesen.
Brandwunden
Ein Vater im Alleingang
Mittwoch, 20.15 Uhr, Arte
Dienstag, 20.15 Uhr, Sat 1
Schaurig und informativ – diese französische Reportage
über den Kampf der Ärzte gegen Verbrennungen.
Der Schauspieler Mark Keller firmierte
bisher als Mann für hölzerne Härte
(„Alarm für Cobra 11“) und hölzernen
Animateurs-Charme („Sterne des Südens“). In diesem Thriller (Buch: Zsolt
Bács, Frank Isenthal, Regie: Diethard
Küster) versucht er sich im Fach des
sensiblen Helden – nicht ohne Erfolg.
Er spielt einen Sportreporter, der von
Die Spesenritter
Mittwoch, 20.15 Uhr, ARD
Im Auswärtigen Amt wurde
einst ein Diplomat in den Personalakten geführt, den es gar
„Spesenritter“-Darsteller Juhnke mit Margaret Williams
Ausschalten
Dr. Stefan Frank –
Der Arzt, dem die Frauen vertrauen
lia Kunz), in sein Leben tritt? Die Frauen vertrauen ihm, aber er auch ihnen?
Montag, 20.15 Uhr, RTL
… und der Sender RTL, denn die Serie
Ibiza ’99 – Gute Zeiten, sexy Zeiten
Montag, 22.10 Uhr, RTL II
hat sich in all dem Mull, welche die vielen Ärzte-Spiele auf den Zuschauer
Doku-Soap nennt sich dieser Blödsinn.
herabrieseln lassen, mit guter Quote
Da plantscht einem der Kragen.
behauptet. Von heute an gibt
es 16 neue Folgen mit Dr.
Frank und seiner weiblichen
Entourage, die den schönen
Arzt umtummelt. Auffällig am
Auftaktstück „Aus heiterem
Himmel“, bei dem es um den
plötzlichen Tod von Franks Vater geht, ist das Übermaß an
Verdruss und elegischen Posen,
das Frank-Darsteller Sigmar
Solbach an den Tag legt. Trägt
er so schwer am Joch der Serie, oder verzweifelt er, weil
nun noch eine Frau, seine vermutliche Halbschwester (Ceci- „Gute Zeiten, sexy Zeiten“-Szene
d e r
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Bärbel Schäfer
Mittwoch, 15.00 Uhr, RTL
„Ihr seid doch wie die Karnickel!“
Der Talk gemahnt den Mann an seine
Ursprünge, als er noch der Epoche
der Jäger und Rammler angehörte.
Die Versuchung – Der
Priester und das Mädchen
Mittwoch, 20.15 Uhr, Sat 1
Es ist wohl doch wahr, dass
der Papst nur deshalb am Zölibat festhält, damit TV-Movies wie dieses – die süße
Katja (Muriel Baumeister)
führt einen Priesterkandidaten (Johannes Brandrup) in
Versuchung – den Zuschauer
züchtigen. Denn es geht
reichlich rührselig zu in diesem Spiel um verbotene Liebe auf der Nordseeinsel
Amrum.
131
Medien
S AT I R E
„Absolut geschmacklos“
Nach der TV-Klamotte über das Sexualleben von Bundeskanzler Gerhard Schröder wird erregt
diskutiert: Was darf Satire und was nicht? Reibereien und Missverständnisse
zwischen Politikern und Humor-Arbeitern haben Tradition – seit Adenauers Zeiten.
U
DPA
Kurzum: Mit so viel Wucht ging es zurück Fernsehsendern, sondern anlässlich der
nerschöpflich ist der Ideenreichtum
der Boulevardpresse, wenn es gilt, ins Sommerloch, dass seit einer Woche eine Musikmesse Popkomm sogar mitten in der
dem konkurrierenden Privatfern- Welle der Empörung durchs Land schwappt. Kölner Innenstadt. Damals wurde der rapsehen neue Etiketten anzuhängen. Nach Auf allen Kanälen wird um Antwort auf fol- pende Kanzler mit den Lustklemmen am
„Schmuddel-TV“, „Ekel-Fernsehen“ und gende Fragen gerungen: Gilt das Tucholsky- Frauenbusen von 30 000 Zuschauern fre„Krawall-Talk“ heißt das Wort der Stunde Wort „Satire darf alles“ auch für das wür- netisch beklatscht.
dige Amt des Bundeskanzlers – und, wenn
Auch der zugehörige Song „FKK – Eve„Pfui-TV“.
rybody’s free to wear gar nichts“ wurde bePfui ist, wenn der Privatsender RTL 2 in nein, wo fängt Schröders Gürtellinie an?
Das Volk, so scheint es, plädiert in der reits 100 000mal verkauft – präsentiert von
seiner Erotik-Show „Peep“ eine gepiercte
Kanzler-Puppe zeigt, die mit Dildos und Mehrheit für Schonung. Bei einer Umfra- den öffentlich-rechtlichen Sendern HR und
Zoten jongliert und nebenbei noch eine ge für die RTL-Sendung „Stern-TV“ WDR, bei denen die morgendliche „GerdFrau erschießt. O-Ton: „Rasier das Ge- („Muss sich Gerhard Schröder das bieten Show“ des Stimmenimitators Elmar Brandt
strüpp aus den Achseln … fühl dich sexy, lassen?“) stellten sich 68 Prozent von der Renner ist.
105 000 Anrufern hinter den Kanzler. Un„Da hat das Kanzleramt die ganze Zeit
motherfucker.“
Dazu buchstabierte die neue Moderato- entschieden sind noch die Leser von gepennt“, sagt eine RTL-2-Mitarbeiterin,
rin Nadja ab del Farrag – berüchtigt unter „Bild“, wo gleich hunderte von Protest- „und jetzt sind wir die Blöden.“ Auch Sendem Pseudonym Naddel – eher harmlose briefen anlandeten. „Lieber ein Kanzler der-Sprecher Conrad Heberling klagt über
Fragen vom Teleprompter. „Haben Politi- mit Titten als ein Kanzler ohne Sitten“, die ungerechte Behandlung. „Hier wird mit
ker anderen Sex als normale Menschen?“ reimte ein Leser aus Rüsselsheim, ein an- zweierlei Maß gemessen.“
Wohl kaum. Aber sie haben andere Möglichkeiten,
sich aufzuregen, wenn sie
Sitte und Anstand in Gefahr
wähnen.
„Mit Erschrecken habe
ich die publizistische Entgleisung zur Kenntnis nehmen müssen“, klagte Regierungssprecher Uwe-Karsten
Heye in einem Brief an die
Gesellschafter des Fernsehsenders, darunter die CLTUfa und der Bauer-Verlag „Bild“-Schlagzeile
(„Praline“, „Playboy“), der Professionelle Empörung
bisher eher mit gedruckten
als gesendeten Brüsten Erfahrungen sam- derer empfahl zackig, der
deutschen Moderatorin sumelte.
Die Verantwortlichen für „dieses Mach- danesischer Herkunft „die
werk“ seien, so Heye, auf die „ethischen Aufenthaltsberechtigung zu
und ästhetischen Grenzen ihres Handelns entziehen“.
Dabei hat die längst abaufmerksam zu machen“. Die Hessische
Landesanstalt für privaten Rundfunk prüft geschworen. Anfang der Moderatorin Farrag: „Ich hab nur abgelesen“
sogar, ob sie eine Geldbuße gegen den Sen- Woche fand sie die KanzlerNummer noch lustig, ein paar Tage später
Was nutzt es: Nachdem der FKK-Song
der verhängen soll.
Auch die Fachblätter für Empörung rea- versicherte sie: „Ich hab nur abgelesen.“ Mitte vergangener Woche noch trotzig
über die RTL-2-Flure hallte, hat sich Gegierten prompt: „Tittenkanzler im TV“ er- Als hätte das jemand bezweifelt.
Auch beim Krawallo-Sender RTL 2 schäftsführer Josef Andorfer mittlerweile
regte sich die „B. Z.“ mit Sinn für rhetorische Kontinuität und wähnte gleich eine herrscht völlige Verwirrung. Zwar freut der geballen Kanzler-Power gebeugt und
„Peep-Mafia“ am Werk. Auch „Bild“ stieg man sich über die kostenlose Werbung für die Gummipuppen-Gaudi aus dem Probeherzt in den „Riesenkrach zwischen die nächste „Peep“-Show – wundert sich gramm genommen. Dass es sich der BerKanzler und Naddel“ ein und bestückte aber über das Ausmaß des Protests. telsmann-Chef Thomas Middelhoff (der
die Seiten ausgiebig mit Bildmaterial aus Schließlich lief das Video mit den „Spitting Gütersloher Medienriese ist an der CLTdem inkriminierten Video. Natürlich nur, Image“-Puppen, die in England gerade ih- Ufa beteiligt) nicht nehmen ließ, sich beim
damit sich die „Bild“-Leser eine Meinung rer Deftigkeit wegen heiß geliebt werden, Kanzler persönlich zu entschuldigen und
nicht nur ausschnittweise bei anderen die Sendung als „absolut geschmacklos“
bilden können.
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RTL-Comedy „Wie war ich, Doris?“*: Kanzlerproteste noch vor Sendebeginn
DPA
darf, ist eine der sensibelsten
und am schwierigsten zu entscheidenden journalistischen
Fragen.“
Bereits lange vor Schröders
Amtszeit war das Verhältnis
zwischen Politik- und Humorarbeitern von Missverständnissen und Streitereien geprägt. So
musste schon der Frohsinn von
Konrad Adenauer – trotz rheinischer Abstammung – als begrenzt gelten. In der Faschingsausgabe von 1954 schrieb die
„Süddeutsche Zeitung“ unter
ein Foto, das einen fröhlichen
Adenauer beim Telefonieren
zeigte: „Ein historischer Augenblick: Unser Fotograf konnte
CD-Cover der „Gerd-Show“: „Die Leute mögen das“
den Kanzler im Bilde festhalten,
zu bezeichnen, brachte die Stimmung bei als er aus Berlin die Nachricht erhielt, dass
eine Wiedervereinigung Deutschlands im
RTL 2 vollständig auf den Nullpunkt.
Auch den Gesellschaftern ist der Humor Augenblick nicht zu befürchten ist.“
Adenauer war not amused, der CDUvergangen. In einem Brief an Regierungssprecher Heye verwiesen CLT-Ufa-Chef Pressedienst sah gar „eine Verhöhnung der
Rolf Schmidt-Holtz und Bauer-Geschäfts- 18 Millionen Deutschen jenseits des Eiserführer Manfred Braun pikiert auf die „pro- nen Vorhangs und persönlich eine unqualigrammliche Freiheit“ des Senders. Zudem fizierte Diffamierung des Bundeskanzlers“.
Dünnhäutig reagierte mitunter auch
sei der Beitrag als Satire erkennbar gewesen. „Zu entscheiden, wie weit die gehen Schröders direkter Amtsvorgänger Helmut
Kohl. Über erfundene Gespräche mit an* Darsteller Anna Momber und Martin Zuhr.
deren Staatsoberhäuptern ärgerte sich der
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anfangs als „Birne“ veräppelte ganz besonders. So ließ der WDR 1985 beim
Deutschlandbesuch von US-Präsident Ronald Reagan zwei Stimmenimitatoren Kohl
und Reagan im Fernsehen reichlich platt
aneinander vorbeireden. Der falsche Reagan berichtete seinem „good friend Helmut“: „I will fly on to West-Berlin, fly over
Spandau Prison and greet Rudolf Hess.“
Die Bundesregierung verlangte von der
ARD eine offizielle Entschuldigung. Die
„angebliche Satire“ habe dem „Ansehen
der Bundesrepublik Deutschland geschadet“ und „unseren Gast beleidigt“.
Zehn Jahre später handelte sich das
WDR-Magazin „Monitor“ mit einem erfundenen Telefonat zwischen Kohl und Jelzin ähnlichen Ärger ein. In dem Dialog
aus der Feder des Kabarettisten Thomas
Freitag hatte Kohl seinem Saunafreund
Jelzin geraten, sich wegen des Tschetschenien-Krieges „etwas einfallen“ zu lassen. Der falsche Kohl: „Das macht keinen
guten Eindruck, das mit den vielen Toten
in Grosny.“
In einem Brief an den ARD-Vorsitzenden mokierte sich der echte Kanzler nach
der Ausstrahlung über den „Tiefpunkt der
Geschmacklosigkeit“. Indirekt drohte Kohl
gar mit rundfunkrechtlichen Konsequenzen: Um ihren Fortbestand zu rechtfertigen, müsse die ARD, bitte schön, „ihrer
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Medien
Mädels, Möpse, Marktanteile
Pfui-TV als Marktlücke: Der Privatkanal
RTL 2 pflegt sein Image als Schmuddelsender der Nation.
D
U. BAATZ / LAIF
ie gebräunte Brust freigelegt, den Knopf vom Handy
fest im Ohr verankert, sitzt
Jürgen Drews auf dem Ledersofa
und redet sich um Kopf und Kragen. „Mussolini war ja hochintelligent, aber auch irgendwie total
gaga“, sagt der gereifte Schlagersänger („Ein Bett im Kornfeld“) –
anschließend verbreitet er sich über
das Sexualleben der Silberfische
(„Die laufen durch ein Häufchen
Sperma“) und die Libido des Philosophen Friedrich Schlegel, um bei
der Selbsterkenntnis zu landen:
„Irgendwie hat mich diese ganze
Mallorca-Kacke nach oben gespült.“
Oben ist in diesem Fall das
Abendprogramm von RTL 2, der
Kanal, der sich mit Sex-Reportagen RTL-2-Show „Strip“*: „Radikale Erotik“
über „Busen, Bizeps, blanke Bodies“ oder „Playboys, Protzer, Par- deutungen. „Am Bora-Bora-Strand fintyhasen“ redlich um ein Image als den sich immer ein paar hilfsbereite
Schmuddelsender der Nation müht. Hände, die Körperkontakt suchen.“
Und für den der durch unzählige Auf- Und im Filmarchiv lagert immer noch
tritte in mallorquinischen Bierkellern manch gut abgehangener Soft-Porno,
gestählte Drews von Oktober an die mit dem sich das Programm gen MitAuszieh-Show „Strip“ moderieren ternacht billig abrunden lässt.
wird, in der Tänzer und Kandidaten
Für die nahe Zukunft plant RTL 2
nackt durchs Studio turnen.
noch ein Magazin namens „Sex for
Kein Kanal malträtiert die Ge- fun“ und die Comedy-Sendung „Sexschmacksnerven der Zuschauer so ge- Busters“, für die eine Sitten-Taskforce
zielt wie der Kleinsender aus München- in Lodenmänteln durch die Lande
Grünwald, an dem neben dem Bauer- streift. „Wenn wir Erotik machen, dann
Verlag auch der Filmhändler Herbert machen wir sie radikal“, sagt Tibursky,
Kloiber und die CLT-Ufa beteiligt sind. der sich mit Verweis auf die flachen
Vergangene Woche erreichte die Ent- Hierarchien im Sender nicht Unterhalrüstung einen neuen Höhepunkt, als tungschef nennen lassen will – „Tittenim Erotikmagazin „Peep“ eine Kanz- onkel“ sei aber okay.
lerpuppe mit gepierctem Busen auftrat
Während sich die Konkurrenz von
und eine Gummifrau penetrierte.
Kabel 1 mit schlichten Spielshows wie
„Jetzt wird die Naddel-Sendung dem „Glücksrad“ und Klassikern aus
Kult“, freut sich Jan Tibursky, der für Leo Kirchs Filmarchiv als familiendie Unterhaltungsprogramme zustän- taugliches Vollprogramm empfiehlt,
dig ist. Seit seinem Amtsantritt im Ok- zielt RTL 2 auf die Zuschauer von 14 bis
tober letzten Jahres hat sich die Bild- 49, bei denen der Marktanteil inzwischirmpräsenz von allem, was wippt, schen über sechs Prozent liegt.
enorm gesteigert.
Während der Geschäftsführer des
So führte Tibursky einen „erotischen Senders stolz auf die erzielten GewinStadtführer“ ein oder auch die Doku- ne verweist, erklärt Tittenonkel TiburSoap „Ibiza 99 – Gute Zeiten – Sexy sky – der im Nebenberuf an der BerZeiten“, für die urlaubende Twens liner Hochschule der Künste über
beim Eincremen und Anbaggern abge- TV-Dramaturgie doziert – den Sparfilmt werden, unterlegt mit einem zwang kurzerhand zum Trash-Faktor
Klangteppich aus dicht geknüpften An- und den Sender zur Speerspitze der
TV-Avantgarde. „Wir sind unangreif* Schlagersänger Jürgen Drews, Kandidatin, Pro- bar, weil wir uns selbst nicht ernst
gramm-Manager Jan Tibursky, Ramona Drews.
nehmen.“
Oliver Gehrs
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„Titanic“-Titelbild (4/1993)
40 000 Mark Schmerzensgeld erstritten
REX FEATURES
kulturellen und gesellschaftspolitischen
Verantwortung gerecht“ werden.
Dann war es zunächst ruhig an der Witze-Front. Kohl platzte erst wieder der Kragen, als das Männermagazin „Penthouse“
im Januar 1997 eine Karikatur mit seiner
splitternackten Ehefrau Hannelore veröffentlichte: Die Kanzlergattin, nur mit
Glacéhandschuhen und einer Perlenkette
bekleidet, posierte als Kühlerfigur seines
Dienstwagens. Das Ehepaar verklagte
„Penthouse“ auf 100 000 Mark Schmerzensgeld. Man einigte sich am Ende ebenso außergerichtlich wie diskret.
Milder gestimmt war Kohl, als das ostdeutsche Satiremagazin „Eulenspiegel“ ihn
1996 mit der ehemaligen DDR-Dissidentin
Bärbel Bohley auf dem Titelbild in Beischlafpose zeigte und fragte: „Kohls Neue
– Ist es mehr als Freundschaft?“
Während sich Kohl nicht weiter über die
Porno-Posse aufregte, sah die Bürgerrechtlerin durch die Fotomontage ihre Persönlichkeitsrechte verletzt. Sie verklagte
die Zeitschrift auf 100 000 Mark Schadensersatz. Der Rechtsstreit endete in einem
Vergleich vor dem Landgericht Hamburg:
Das Satiremagazin, das sich für die Montage auch eine Rüge des Presserats eingefangen hatte, zahlte 20 000 Mark an Bohley
und entschuldigte sich.
Bei Satire versteht auch die SPD keinen
Spaß. 1993 hatte das Humorblatt „Titanic“
unter der Überschrift „Sehr komisch, Herr
Engholm“ auf dem Titelbild Björn Engholms Gesicht in das Foto des toten Uwe
Barschel in der Badewanne montiert. Engholm erwies sich als „Mega-Dünnhaut und
Hyper-Mimöschen“ („taz“), stoppte per
einstweiliger Verfügung den Vertrieb des
Heftes und erstritt vor Gericht 40 000 Mark
Schmerzensgeld.
Die CDU-Oberen seien weitaus souveräner mit satirischen Angriffen – auch un-
Spottopfer Thatcher als „Spitting Image“-Puppe: In England heiß geliebt
ter die Gürtellinie – umgegangen, glaubt
ausgerechnet Alt-Kabarettist Dieter Hildebrandt, wenn auch mit leiser Enttäuschung. „Kohl reagierte einfach irgendwann nicht mehr.“
In Schröders Kanzleramt dagegen säßen
„die einzig Unprofessionellen“ in dem
multimedialen Spiel um Zoten und Quoten, meint Hildebrandt. Er sei „manchmal
neidisch“, wenn er heute sehe, wie manche
Comedy-Clowns mit nur kleinen Provokationen „ihre schönen Kampagnen
durchziehen“.
Dabei dürfe es keinerlei Verbote geben,
wie sie etwa in den fünfziger Jahren gefordert worden seien. Nachdem die deutsche Boulevardpresse 1957 die bevorstehende Scheidung des Schahs von Persien
und seiner Gattin Soraya genügend durchgekaut hatte, beschwerte sich der iranische
Regent beim Auswärtigen Amt.
Nach der Trennung drohte er gar mit
dem Abbruch aller diplomatischen Beziehungen, weil er seine Familie verunglimpft
sah. Eine hastig formulierte Strafrechtsnovelle schlug vor, Journalisten zu bestrafen, die das Privatleben von Staatsoberhäuptern „herabwürdigten“. Am Ende
lehnte der Bundestag die „Lex Soraya“
jedoch ab.
„Völlig zu Recht“, wie Hildebrandt
meint. Natürlich sei es „bedrohlich“ bis
„ekelhaft“, dem medialen Niveau-Absturz
zusehen zu müssen. „Aber zugelassen
muss es sein.“ Wer dürfe sich anmaßen,
Grenzen zu ziehen? „Geschmack spielt bei
Satire keine Rolle.“
Mit dieser Ansicht aber tut sich der
aktuelle Kanzler noch schwer. Schröder
hält das Gewerbe mittlerweile für mittelschwer versaut – dabei dürfte er an der
Comedy-Welle, die ihn seit Monaten überd e r
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rollt, nicht ganz unschuldig sein. Seine
Auftritte in der RTL-Soap „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“, auf der „Wetten,
dass … ?“-Couch und in sündhaft teurer
Garderobe für die Illustrierte „Gala“ empfanden viele Menschen als unangemessen
und vulgär. Möglicherweise hat auch die
Realsatire um US-Präsident Clinton und
Monica Lewinsky die Humoristen zusätzlich enthemmt und angespornt, die Wirklichkeit zu toppen.
Nun will Schröder die Gagschreiber, die
er provozierte, möglichst schnell wieder
loswerden. Gegen die eher harmlose RTLComedy „Wie war ich, Doris?“ protestierte er noch vor Sendebeginn, und beim Privatradio RTL 104.6 flog der Geschäftsführer, nachdem sich ein Radiomoderator als
Roman Herzog ausgegeben und ein Interview mit dem Kanzler geführt hatte.
Doch so ohne weiteres will die FunFraktion in den TV- und Hörfunk-Redaktionen die plötzliche Wandlung des Medienkanzlers zum ernsthaften Regierungschef nicht nachvollziehen. Zumal der
Kanzler als Objekt der Satire das erhält,
was ihm im politischen Tagesgeschäft zunehmend entzogen wird: Zuspruch.
Die öffentlich-rechtliche „Gerd-Show“
wird täglich von Millionen Radiohörern
verfolgt, eine umfangreiche Fangemeinde
versorgt sich im Handel und über das
Internet mit CDs und Tour-Terminen. Und
im privaten Radio NRW ulkt eine sogenannte Kanzler-WG vor einem Stammpublikum.
So wusste denn auch der von seinen
Journalistenkollegen vernommene Schröder-Imitator Elmar Brandt auf die Frage
nach seinem Schuldgefühl nicht allzu viel
zu sagen: „Die Leute mögen das einfach.“
Oliver Gehrs, Olaf Storbeck, Thomas Tuma
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Medien
TA L K S H OW S
Ins Abseits gestürmt
Für einen Rekord-Vertrag über 46 Millionen Mark wechselte der „ran“-Erfinder
Reinhold Beckmann vor einem Jahr von Sat 1 zur ARD zurück.
Doch die neue Lichtgestalt steht bisher eher im Schatten. Von Thomas Tuma
D
DPA
musste. Er versuchte, seinem alten
eutsche TV-Stars sind nicht
Arbeitgeber für den neuen die
immer leicht erreichbar.
Fußball-Bundesliga-Rechte abzuDie Erfolgreichen (Verona
jagen. Das wurde Beckmanns erste
Feldbusch aufwärts) kontaktiert
Niederlage, denn die Bundesliga
man ohnehin nur über ihre Manablieb bei Sat 1.
ger, Anwälte und PR-Berater. Die
Ein bisschen unangenehm war
Erfolglosen hocken dagegen allein
auch, dass irgendwann durchdrang,
zu Hause am Telefon, was man
wie viel Beckmann künftig kassiemitunter schnell bereut, weil sie
ren werde: rund 46 Millionen Mark
einem stundenlang ihr Herz ausfür vier ARD-Jahre, von denen er
schütten.
allerdings auch die Produktion beUnd dann gibt es noch jene, die
zahlen muss.
gerade absteigen. Bei denen melNDR-Programmdirektor Jürgen
det sich das persönliche SekretariKellermeier lächelte das Geld gern
at. Dann meldet sich zwei Tage gar
weg: „Allein, dass Beckmann Sat 1
niemand. Dann klingelt es plötzverlässt, ist schon ein Wert an sich“,
lich, der Star ist dran und sagt, dass
sagte er danach. Er meinte das Meer nichts sagen möchte. Man redet
dienecho über den tolldreisten
noch eine Weile belangloses Zeug
Wechsel, den enormen Werbewert
und legt auf.
des Neueinkaufs und das Wir-sind„Haben Sie Kinder?“, fragt
wieder-wer-Gefühl in der ARD, das
Reinhold Beckmann, 43. Lange
mit Geld nicht aufzuwiegen sei.
spricht er über seine beiden eigeKann man nicht? Aber wann ist ein
nen sowie die Wohnqualität verStar sein Geld wert?
schiedener Hamburger StadtvierDie Privaten dürfen antworten:
tel. Am Ende ist klar, dass er über
Wenn er sein Quotensoll erfüllt.
nichts anderes sprechen wird. „Ich
Beckmann hat keines, erfüllte es
hab einfach keinen Bock“, sagt er
aber dennoch nicht, seit er Anfang
– ohne klarzumachen, ob wenigsdes Jahres mit seiner Talkshow startens das zitiert werden darf.
tete. Talkshow? Ja, Talkshow. Und
Vor knapp zwei Jahren zeigte er
sie heißt natürlich „Beckmann“,
sich weitaus gesprächiger. Damals
obwohl er das anfangs zu dicke
war Beckmann überall präsent,
fand, wie er allen Blättern bis hin
denn er hatte gerade angekündigt,
zum „Weserkurier“ verriet.
dass er vom Sportchef-Posten bei
Werbung musste sein. Also warb
Sat 1 zur ARD wechseln werde.
der neue Stürmer-Star. Für BeckDas kam schon deshalb einer
mann, für „Beckmann“ und für die
Sensation gleich, weil bis dahin Moderator Beckmann*: „Ich hab einfach keinen Bock“
„Guinness-Show der Rekorde“, mit
die privaten bei den öffentlichrechtlichen Sendern die Stars ein- und weg- einfühlsame Reportagen zu drehen, bis er der er den ARD-Samstagabend umkremkauften. Beckmann war ein Star, zumin- als Sportchef zum Pay-TV-Kanal Premiere peln sollte. Aus der großen Konkurrenz für
Thomas Gottschalk und „Wetten, dass…?“
dest unter Fußballfans, weil er „ran“ er- kam und schließlich bei Sat 1 strandete.
Nach 30 Jahren „Sportschau“-Agonie wurde eine kleinlaute Kopie. Vor der vierfunden hatte. Nun könne er „ein Mister
ARD werden“, frohlockte der NDR-Inten- kam da einer in Jeansjacke und hatte ein- ten Show am 25. September ist der federfach Spaß an der Fußballshow. Beckmann führende Bayerische Rundfunk leicht nerdant Jobst Plog.
In „Bild am Sonntag“ erklärte der Star, versöhnte Beatgeneration mit Südkurve. vös, weil das Format bereits einen schweren
er wolle „nicht für immer in der Sport- Und weil der Nickelbrillen-Beau nicht nur Durchhänger hat. Quotenmäßig. Das war
schublade bleiben“. Im SPIEGEL ergänzte Günter Netzer, sondern auch Jimi Hendrix Beckmanns zweite Niederlage.
Seine montägliche Talkshow dümpelt
er: „Ich werde als freier Produzent und Mo- kannte, galt er bald als intellektueller Allesderator für das Erste tätig sein.“ Man er- könner. Die mediale neue Mitte. Beckmann derweil müde vor sich hin. Die Quote sei
„stabil“, sagt Kellermeier, was soviel heißt
fuhr, dass er Zigaretten schnorrt, Kontakt- war ganz oben, bevor es richtig losging.
Dann herrschte ein paar Monate Ruhe, wie: festgefahren zwischen Tiefparterre
linsen verabscheut und mal Grün gewählt
hat. Das Unübliche eben: Zivildienst, Aus- weil er seine Sat-1-Geschäfte abwickeln und Folterkeller. „Die Reichweite ist befriedigend“, also kaum ausreichend.
bildung als Elektro-Techniker, GermanistikDas ist Beckmanns dritte Niederlage, die
Studium und Ausputzer bei einem Piraten- * Mit der „Baywatch“-Nixe Carmen Electra in der
sein zweiter Redaktionsleiter Boris Starck
sender. Beim WDR fing er an, wunderbar- „Guinness-Show der Rekorde“ am 10. April.
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Medien
ACTION PRESS
gleich anfangs selber zog. Nicht nur,
(der erste wurde im März gefeuert)
weil Biolek auch um 23 Uhr seine
auch mit dem harten KonkurrenzGäste auch einfach so präsentiert.
programm zu erklären versucht:
Nur am Dienstag statt am Montag.
„Der späte Montagabend ist im
Leider lockt Biolek deutlich mehr
Fernsehen der deutsche SpießbürZuschauer an. Noch so eine Niederger-Abend geworden: In vielen
lage. Warum also macht Beckmann
Kanälen ist da immer mehr nackte
überhaupt eine Talkshow, und warHaut unterwegs.“
um macht er sie so schlecht?
Die vierte Niederlage kann auch
Weil sie schnell und billig ist und
Starck nicht erklären, weil er Beckdamit seine Gage steigt? Möglich.
mann hauptberuflich für einen tollen
Kleine Quakkelrunden gelten als beTypen hält: „Hier fragt der Falsche“,
liebtes Format für selbständige Stars
urteilte die „Berliner Zeitung“. Und
mit eigener Firma, die ihre Produkdie „Süddeutsche Zeitung“ nannte
tion selbst bezahlen müssen.
die Rede-Runden „entsetzlich töricht
Weil er eitel ist? Vielleicht. Imund vollkommen belanglos“. Ein
merhin strich er als „ran“-Chef irSalär von 500 Mark sei völlig „ange- Biolek, Gottschalk: Große Vorbilder
gendwann die Show-Treppe, auf der
messen“. Wann ist ein Star 46 MilBeckmann fragt ohnehin selten klar. Er er, seine Kollegen Jörg Wontorra oder Jolionen Mark wert? Die ARD muss dann
auch antworten: Wenn er ein qualitativ stellt etwas in den Raum, und da steht es hannes B. Kerner in die Studio-Arena einhochwertiges Produkt abliefert. Das Kon- dann herum. Bleiern mitunter. Oft nickt er marschierten, als seien sie die wahren Spiezept von „Beckmann“ ist, dass man keines reflexartig seine Gäste an wie diese lusti- ler-Trainer-Manager-Helden. Das ehrte ihn.
gen Dackel, die man sich früher in die
Oder glaubt er einfach, alles zu können?
hat, erst recht kein neues.
Talkshows werden heute von ein paar Heckscheibe stellte. Dazu sagt er: „Mhmh, 1994 versuchte er sich schon mal an einem
Designerstühlchen, viel Chrom und einer mhmh“ und schaut zugleich gehetzt wo- Talk-Format, das bei Sat 1 sinnigerweise
Sperrholz-Kulisse zusammengehalten, die anders hin. Auf die Uhr? Den Aufnahme- „No Sports“ genannt wurde. Ganz so, als
aussieht wie Backstein, weil das wie leiter? Ein Schafott? Man weiß es nicht so müsste man Beckmann selbst über Bande
schicke Maloche wirkt. Dazu gibt es ein genau, doch solche Bilder kann auch der als Sportsmann definieren. „No Sports“
Publikum, das bereits klatscht, wenn das netteste Kameramann nicht verhindern, wurde nach wenigen Folgen eingestellt.
„Wir haben ihn nicht als Zauberer einModel Tatjana Patitz von den 23 Haustie- wenn sie sich häufen.
Beckmann scheint sich nicht für seine gekauft“, sagt sein Chef Kellermeier nun.
ren in ihrer Malibu-Villa erzählt.
Garniert wird der Prominenten-Auflauf Gesprächspartner zu interessieren. Selbst Man müsse sich „darauf konzentrieren, seimit Einblendungen der Sorte: „Tatjana Pa- wenn er lachen will, kommt mitunter nur ne Formate weiter zu optimieren“ – und
titz: Im Kaufhaus entdeckt“. Später kommt unsicher-abwesendes Gegacker aus ihm neue zu suchen. In Zukunft soll Beckmann
noch: „Tatjana Patitz: 35 000 Mark Tages- heraus. Er hibbelt auf der Stuhlkante her- auch Olympia garnieren oder Fußball: den
gage“. Und dann: „Tatjana Patitz: Keine um, chronisch bereit, seinem Gast kum- DFB-Pokal etwa oder Länderspiele. Der
Angst vor Falten“. Neben ihr saßen das pelhaft auf die Hand, das Knie oder den ganz große Fußball gehört anderen: Sat 1
Sehr-Ex-Bond-Girl Ursula Andress und der Oberschenkel zu patschen. Aufzublühen hat die Bundesliga. Der kleine SpartenkaModelagentur-Chef Horst-Dieter Esch. Es scheint er erst, wenn er sein klatschendes nal TM 3 kaufte sich mit Hilfe des großen
ging nicht ums Thema „Schönheit“, son- Publikum überbrüllen darf wie eine joh- Rupert Murdoch die Champions League.
Die ARD kauft auch: Günter Netzer
dern um „Meinen amerikanischen Traum“. lende Fan-Meute. Dann badet er in einer
Bislang hing die Show an gedanklichen nicht mehr existierenden La-Ola-Welle der unterschrieb einen Vertrag, der ihm über
Klammern, die „Erfolg“, „Glück“ oder Begeisterung – als Mischung aus Kaffee- eine Million Mark verspricht, wenn er von
„Starke Frauen“ hießen. Man wartet noch fahrt-Einpeitscher, Profi-Fußballer und Alt- Zeit zu Zeit ein Spiel der Nationalelf besucht. Die ganz Schlauen rechneten vor, er
auf Themen wie „Starke Männer“, „Glück Pfadfinder.
Man kann Beckmann in Grund und Bo- bekäme pro Auftritt 100 000 Mark. Ist
& Erfolg“ oder auch „Gott & die Welt“.
Gott kam übrigens noch nicht. Die Re- den analysieren wie der früher die Vierer- Beckmann womöglich schon wieder unterdaktion hat sich sicher bemüht. Ist aber ketten bei den Verlierer-Mannschaften. bezahlt?
Irgendetwas ist furchtbar schief gelaufen
auch egal. Beckmann würde sich wahr- Und oft fällt einem dabei Alfred Biolek
scheinlich zu ihm rüberbeugen und rau- ein. Nicht nur, weil Beckmann den Ver- in den letzten Monaten, wenn man sich in
der „Beckmann“-Redaktion bereits
nen: „Mööönsch, sehen Sie gut aus in
über Verrisse freut, weil die wenigsIhrem Alter!“, „Wie issen das so als Gott.
Talk im Ersten Marktanteile in Prozent
tens bewiesen, dass der vermeintWann muss man da morgens aufstehen?“
liche „Mister ARD“ überhaupt
Oder: „Haben Sie Kinder?“
24
wahrgenommen wird.
Der neue ARD-Gott ist mitunter schlecht
Die neue Lichtgestalt ist noch
präpariert – auch bei Gast-Göttern. Bei 22
keine. Der Stürmer ist ins Abseits
Göttinnen wirkt sein burschikoser Holzgerannt, was auch an der ARD oder
hacker-Charme endgültig, als hätte sich ein 20
an der Redaktion liegen könnte. Er
Ballermann-Urlauber zu den Bayreuther 18
vom 22.6. bis 31.8.
Wiederwürde das sicher viel präziser erFestspielen verirrt – und zwar nicht ins zahholungen
16,1
16
klären, zumindest sucht er nach
lende Publikum, sondern auf die Bühne.
Antworten.
Frau Andress überfiel Beckmann mit der 14
Vergangene Woche hatte er
Frage, wie sie zu plastischer Chirurgie ste12,8
Franz Beckenbauer zu Gast, den er
he. Sie saß schon, glücklicherweise. Und 12
fragte: „Wie issen das, wenn man
zur Schauspielerin Nadja Tiller, damals 69,
ständig hört: Lichtgestalt?“ Der Kaisagte der Gastgeber: „Frau Tiller wird 70 10
ser antwortete: „Man hört nicht
Jahre! Sieht sie nicht zauberhaft aus?“ So
8
Quelle: AGS/GfK
hin.“ Beckmann lächelte. Abwebeleidigend kann nett gemeinte Servilität
Febr. März April Mai Juni Juli Aug. Sept.
send.
™
daherkommen.
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Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Medien
T V- S E R I E N
Adieu, du linkes Lügenmärchen
Protokoll eines Entzugsversuchs
nach 14 Jahren „Lindenstraße“. Von Nikolaus von Festenberg
P. BISCHOFF
Der Therapeut nickt. Und er beglückwünscht meine Freunde
und auch mich. Der Moment, den schweren Entzug anzutreten,
sei gut gewählt. Ein ehemaliger Herstellungsleiter habe öffentlich
den Qualitätsverlust beklagt. Außerdem sinke die Quote. Solche
Meldungen seien gut für unsere Motivation. Das Einzige, was
stört, ist der Rollkragenpullover, den unser Gruppenbetreuer
trägt: Er erinnert an den fiesen Mann von Mutter Beimer, an
Erich Schiller, diese irische Natter, die lügt und betrügt … die
„Lindenstraßen“-Sucht meldet sich.
Der Therapeut drückt auf das Tonband, und schon erklingt die
Erkennungsmelodie der Serie. Wir fassen uns an den Händen. Wir
widerstehen wie Odysseus den Sirenenklängen.Wir wollen die Serie abschütteln. Wir wollen Kulturmenschen auch am Sonntagabend werden, wir wollen Sloterdijk lesen oder nur noch „ML
Mona Lisa“ im ZDF angucken und darauf achten, wie sich echte
Betroffenheit anfühlt.
Der Therapeut teilt Filzstift und Papier aus. Jeder soll still für
sich aufschreiben, was sich in ihm an „Lindenstraßen“-Frust angesammelt hat. Der Blick schweift durchs Fenster in den Spätsommer. Dann kratzt der Stift übers Papier.
„Altlinke Verlogenheit“ steht da, dreimal dick unterstrichen. Da
tut sich die Geissendörfer-Truppe Folge für Folge dicke mit ihrer
„Lindenstraße“-Ensemble*: Fränkische Humorlosigkeit
Toleranz und Ausländerfreundlichkeit. Aber wie sich an Mary, der
err, es ist Zeit, time to say goodbye. Nach anderthalb Jahr- schwarzen Frau des Griechenwirts, zeigt, wird man als Fremder
zehnten nie wieder „Lindenstraße“ – noch ist es nicht be- erst dann zum Vollwertmitglied im Geissendörfer-Kosmos erhoschlossen, aber nach den jüngsten Querelen ist das er- ben, wenn man richtig politisiert ist: Mary hat begriffen, dass es
schütternde Finale durchaus vorstellbar geworden. Ein letzter des Ausländers erste Bürgerpflicht ist, Sammelaktionen gegen
Walzer mit Mutter Beimer, im Lokal „Casarotti“ auf die blüten- politische Unterdrückung zu veranstalten.
Die Türkenabteilung der Lindenstraße hat diesen Eindeutweiße Tischwäsche gekotzt und Harry Rowohlt, der in der Serie
den Penner gibt, weil Hans W. Geissendörfer altlinke Antiquitä- schungkurs noch vor sich. Da gibt es noch immer ein lächerliches
ten liebt, in die bärtige Gesichtshecke gebrüllt: Wir gucken nicht Familienoberhaupt, das den Siegeszug der westeuropäischen Liemehr Linde, wir lesen lieber „Pu der Bär“ im Original, überprü- besheirat nicht verstehen will und auf Vernunftehe besteht. Solcher Modernisierungswiderfen deine Übersetzungen oder schalten sonntags, 18.40
stand wird in Geissendörfers
Uhr, auf Arte. Hast du verstanden: Aarrttee!
Welt verfolgt. Ausländer dürfen
Entzug nach 14 Jahren – wie soll man das normaanders sein, aber bitte nicht so.
len Menschen nur erklären? Ihr, die es nie saht, wie
Mit den Italienern – wie unkönnt ihr’s begreifen? 719 Sonntage am Cliffhanger gelogisch, wie inkonsequent – hat
hangen, Kampagnen durchgestanden wider Atomdie Serie ihren faulen Erziestrom, wider den Autoverkehr, wider Ausländerhungsfrieden gemacht: Sie dürfeindlichkeit. Fremde Ehen scheitern sehen, mit den
fen Mamma mia sagen, Frauen
Betrogenen gelitten, Kinder verloren, den Sex der
betrügen, krumme Dinger drespäten Jahre observiert – wer davon los will, muss leihen, vor der Mafia kuschen – vor
den wie ein Junkie, der Abschied nimmt von seiner
Droge.
dem Toskana-Land hat selbst das
Also nichts mit Herr-es-ist-Zeit-Pathos. Stattdessen
linke Oberlehrertum Respekt.
die psychologische Betreuung in einer TherapiegrupDer Zorneskamm schwillt,
pe, in der „Lindenstraßen“-Abhängige im Kreis sitzen.
das Papier füllt sich. Die „Lin„Ich heiße Beimer, äh, nein Anke, und gucke seit
denstraße“ – zeigt sie nicht das
14 Jahren.“ Die Patientin ist erst 30 und war 16, als
68er-Denken in seiner regreMutter und Hans Beimer noch ein Paar waren.
diertesten und verstocktesten
Anke sagt, sie wolle los. Ihr Freund verstehe ihre
Form, bloß nichts dazulernen?
Abhängigkeit nicht. Und der kleine Sohn solle sich
Nie etwas von moderner Famispäter in der globalen Gesellschaft zurechtfinden und
lienforschung zur Kenntnis nehohne dieses verstaubte Alt-68er-Denken auskommen.
mend, presst Geissendörfer die
Anders werde aus ihm nie ein rechter Global Player.
Kinder der Serie nach seinem
Bilde, als seien sie wie er Pfarrerskinder, geformt durch stren* Oben: mit Annemarie Wendl, Hans W. Geissendörfer, Marie-Luise
Marjan, Joachim Hermann Luger; unten: mit Harry Rowohlt, Ute Mora. Serienszene*: Altlinke Antiquität
ge Väter, bedrängt durch ÖdiD. KRÜGER / WDR
H
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WDR
puskomplexe. Als sei Kampf um
lend? Ein typischer linker SchiFreiheit das Einzige, was das
zo, der lange Zeit im Jahr nicht
Verhältnis zwischen den Jungen
gerade als Armer im Ausland
und den Alten prägt.
lebt und Deutschland auf die soUnd dann – der Filzstift fliegt
zialen Finger sieht? Dazu diese
– diese penetrante Abwesenheit
fränkische Humorlosigkeit, die
der Medien in der „Lindenstraden Segnungen der aufgeklärten
ße“. Was kann denn der ZuMediengesellschaft – Ironie und
schauer dafür, dass die SerienFun – den Zugang zur „Lindenschreiber es dramaturgisch nicht
straße“ nur selten erlaubt.
schaffen, eine Zentralmacht im
So stand es alles auf dem PaLeben der Menschen zu zeigen:
pier. Mächtig, teutonisch schwer,
das Fernsehen. Das Irrealste an
würdig für Medientage der
dieser TV-Weekly ist doch, dass
Evangelischen Akademie zu
die Menschen nicht vor der Serienpaar Schiller, Mutter Beimer*: Glücklich im Gestern
Tutzing. Der Therapeut begann
Glotze hängen, sondern im Griedamit, die Klageliste Punkt für
chenlokal Beziehungsgespräche führen und in Wohnküchen bei- Punkt mit uns durchzuarbeiten. Als Ersatzdroge erlaubte er für
einander hocken, als gäbe es keine Erosion alles Sozialen.
gewisse Zeit „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“.
Je mehr sich der Ausstiegsbereite seine Gedanken macht, desWir haben dann noch Arte sehen geübt. Ein Stück weit gelernt,
to schwankender werden Gewissheiten. Wie stolz ist die Beimer- wie interessant es sein kann, wenn man auch mal nicht versteht,
Truppe auf ihren Spießerlook, die Trutschigkeit als linke Demo wi- was man sieht. Überhaupt, so begriffen wir, hinge die Optik viel
der den Konsumismus. Sofabesitzer, Trachtenträger (alte Kling, zu sehr an der Vordergründigkeit des bloß Sichtbaren. Die eijunger Kling), Boxershorts-Träger (der ölige Taxler Andy Zenker), gentliche Entdeckung der Moderne sei der Schock, der Riss in der
Wallewalle-Gewand-Geschädigte (die Eso-Arztgattin Tanja) – ver- Realität. Zum Abschied gab es Walter Benjamin und Niklas Luheinigt euch. Wider die Markenklamottenträger von „Gute Zeiten, mann und eine Bach-Platte von Glenn Gould.
schlechte Zeiten“ auf RTL. Wir, suggeriert die GeissendörferDoch dann kam wieder einer jeder Sonntage, an denen der
Truppe, sind glücklich im Gestern.
zweite Whisky nicht hielt, was der erste versprochen hatte. Die
Stärkstes Argument für die Entziehungswilligen aber ist der Va- „Zeit“ war ausgelesen, Benjamin – Ursprung des deutschen Trauter der Serie. Gehört dieser Strickmützenträger nicht zum Unan- erspiels – umnebelte die Stirn.
genehmsten, was 68 hervorgebracht hat? Den Vatermord predigend
Der Rückfall war unvermeidlich – und er war herrlich: Schiller,
und sich den eigenen Leuten gegenüber wie ein Pascha aufspie- die falsche Socke, wurde enttarnt. Die blöde Taube Beimer hatte
es endlich gerafft. Der Cliffhanger ragte herrlich schroff. Nein, so
* Bill Mockridge, Marie-Luise Marjan.
einfach lassen sich 14 Jahre auf Linde-Droge nicht abschütteln. ™
Werbeseite
Werbeseite
Gesellschaft
Szene
MODE
Spaß beim Hausputz
D
FREIZEIT
Kommunizierende
Klamotten
Schweigestunde für
Büromenschen
oderne Menschen verzichten auch
beim Waldspaziergang ungern auf
ihre elektronische Ausrüstung. Das
schränkt ihre Bewegungsfreiheit ein:
Beim Bücken nach einem Steinpilz fällt
schon mal das Handy ins Laub, oder die
Videokamera rutscht von der Schulter.
Der holländische Elektrokonzern
Philips will das Problem jetzt gelöst
haben – durch Integration sämtlicher
Gerätschaften. Sollten Fashion-Designer
auf Philips „Wearable
Electronics“ anspringen, gibt es zur Jahrtausendwende Windjacken mit eingebauten Kameras, Handys
oder Mikrofonen,
teilweise aus elektronisch empfänglichem
Stoff. Zielgruppe der
Millenniums-Montur:
Sportler, GeschäftsElektro-Jacke
leute, Jugendliche. Einen Nachteil allerdings haben die kommunizierenden Klamotten: Je mehr
Elektronik, desto besser die Kontrolle.
Trägt der Sprössling einen Anorak mit
integrierter Kamera und Positionierungssystem, können die Eltern zu Hause jeden seiner Schritte überwachen.
Die Hamburger Gondoliera Ina Mierig, 32, über venezianisch gesinnte
Hanseaten
SPIEGEL: Frau Mierig, Sie haben in Hamburg die erste Saison als Gondoliera
hinter sich. Sind die Hamburger begeisterte Gondelgäste geworden?
Mierig: Die Idee ist enorm gut angekommen, die Erwartungen der Gäste sind
allerdings manchmal erstaunlich.
SPIEGEL: Nämlich?
Mierig: Die Passagiere haben sehr präzi-
se Vorstellungen, was zu einer Gondelfahrt gehört. Häufig wird verlangt, dass
ich singe. In Venedig würde niemand
auf die Idee kommen, das Singen einzufordern oder mir Seemannskleidung
oder eine andere Ruderhaltung zu empfehlen. Dieser Hang zum Verbessern ist
offenbar eine deutsche Eigenart.
SPIEGEL: Was wünschen Sie sich von
Ihren Gästen?
Mierig: Dass sie die erholsame Stille genießen. Die meisten Leute staunen, wie
ruhig es in der Mitte der Stadt sein kann.
SPIEGEL: Sie möchten gehetzten Büromenschen eine Schweigestunde bieten?
Mierig: Das wäre mir am
liebsten. Ich will jedenfalls kein StadtrundfahrtEntertainer sein, der
Klatsch erzählt oder Auskunft darüber gibt, in
welcher Alster-Villa welcher Prominente wohnt.
Am Anfang scheinen die
meisten Gäste auf solche
Auskünfte zu warten, später entspannen sie sich,
lauschen auf die Geräusche und werden ruhig.
Leider oft erst am Ende
der einstündigen Fahrt.
Viele wissen wirklich gar
nicht, wie sie es anstellen
sollen, sich zu entspannen.
S. EICHEL
M
ELEKTRONIK
A. SIEBMANN
ie Hausarbeit ist trotz Feminismus überwiegend Sache der Frau geblieben –
mindestens dort, wo das Geld für eine Haushälterin nicht reicht. Weiblichen
Heimarbeitern, die kein Heimchen am Herd sein möchten und darum auf Schick
Wert legen, bietet die Modebranche jetzt perfekt sitzende Staub abwehrende Kopftücher und sexy Putzwestchen, mit denen man nach der Arbeit sogar noch
flanieren kann. Schon der Uralt-Ratgeber „Household
Engineering“ (1915) empfiehlt Frauen, sich beim Hausputz schick anzuziehen, „denn hübsche Kleidung wirkt
sich auf unsere Selbstachtung aus“. Weitere Ratschläge von Frauen für Frauen enthält Margaret Horsfields
neues Buch über die „Freuden der Hausarbeit“ („Der
letzte Dreck“, Rütten & Loening). Horsfield kommt zu
dem Schluss, dass es zwei Typen Hausfrauen gibt:
Schrubberinnen und Pfuscherinnen. Beide, weiß die
Autorin am Ende ihrer unterhaltsamen und informativen Kulturgeschichte des Saubermachens, handeln
noch heute „unlogisch wie eh und je“. Es gilt also für
die Schlampe und den Putzteufel gleichermaßen: Zieht
euch hübsch an dabei, dann habt ihr wenigstens Spaß! Buchcover, Kittelkleid von Vivienne Westwood
Mierig, Gondelgäste
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Seherinnen Ney, Hiber, Guttmann (x): „Es ist schmerzhaft zu sehen, wie der Teufel in Deutschland sein Spiel gewinnt“
RELIGION
Die Jungfrau von Marpingen
Weil drei Frauen behaupten, ihnen erscheine die Jungfrau Maria,
pilgern Gläubige aus aller Welt ins Saarland. Doch inzwischen wächst den
Seherinnen der Rummel über den Kopf. Von Bruno Schrep
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Schelle.Es wird ganz still. Jemand flüstert: der Menge, fühlt sich offenbar unsicher.
„Sie ist da.“ Aus der Ferne kräht ein Hahn. Ab und zu errötet sie.
Die meisten kennen die Frauen nur unDie drei Frauen, die jetzt von rund 5000
erwartungsvollen Menschen umringt wer- ter ihren Vornamen. Marion, Judith und
den, sind leicht zu unterscheiden. Die Christine werden von den Pilgern als Aus30-jährige Marion Guttmann aus Neunkir- erwählte verehrt: Die drei behaupten, ihchen wirkt feenhaft zart, fast zerbrechlich. nen erscheine die Jungfrau Maria.
„Ich sehe sie dreidimensional vor mir“,
Sie trägt einen hell geblümten Rock und
eine lila Bluse, hat die Hände vor der Brust verkündet Guttmann, „richtig als Person.“
gefaltet und lächelt entrückt. Sie scheint Maria habe wunderschöne schwarze Haare und himmelblaue Augen. Sie trage ein
ihre Umgebung kaum wahrzunehmen.
schlichtes weißes Gewand „und eiDie stämmige große Frau nenen Schleier, wo durchsichtig ist“.
ben ihr, die 35-jährige Judith Hi- Gressung
Oft sei auch das Jesuskind mit
ber aus Hierscheid, bewegt sich
dabei, ebenfalls ganz in Weiß,
dagegen schwerfällig, kämpft mit
dazu kämen noch verschiedene
ihrer Fülle. Sie spricht konzenEngel, unter anderem Raphael,
triert in ein Diktiergerät.
Michael und Gabriel, ein paar
Christine Ney, die Dritte, hüpft
Heilige sowie eine weiße Taube,
von einem Bein aufs andere. Die
die leuchtend über allem schwebe.
24-Jährige aus Ensdorf, klein und
Christine Ney will die Jungfrau
untersetzt, beobachtet hinter ihrer
zwar nur undeutlich wahrnehmen,
Brille nervös die Reaktionen in
E. GREIN
M
arpingen im Saarland, an einem
heißen Spätsommersonntag im
September. Seit dem Vormittag
pilgern Katholiken aus nah und fern zur
Marienkapelle im Härtelwald. Alte und
Junge. Gesunde und Kranke. Deutsche und
Ausländer.
Sie kraxeln den steilen Waldweg hinunter, vorbei an zahlreichen Absperrungen,
kampieren zwischen Bäumen oder auf einer mit Maulwurfshügeln übersäten Wiese.
Die meisten haben Klappstühle dabei, einige sind mit Kissen und Decken ausgerüstet. Ein paar Frauen halten kindergroße
Madonnenfiguren im Arm.
Zwischendrin werden Buttons, T-Shirts
und dicke Kerzen verkauft, dazu noch
Postkarten mit Bildern der Jungfrau Maria.
Auf denen steht: „Ich bin die Unbefleckt
Empfangene“.
Am Nachmittag kramen viele ihren Fotoapparat hervor. Um 17.10 Uhr ertönt eine
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Gesellschaft
FOTOS: W. BAUER
wie ein fernes verschwommenes Bild, dafür umso besser ihre
Stimme hören. Judith Hiber
sieht nichts, hört aber angeblich ebenfalls.
Damit viele Gläubige dabei
sein können, werden die Erscheinungen jeweils rechtzeitig
angekündigt. Offenbar mit
Rücksicht auf Arbeitnehmer
erscheint die Jungfrau vorzugsweise an Wochenenden.
Die himmlischen Botschaften werden mit Hilfe moderner
Technik übermittelt. Die drei
Frauen sprechen Marias Worte
abwechselnd auf einen kleinen
Kassettenrecorder nach, der
anschließend über Lautsprecher abgespielt wird.
Was die Jungfrau diesmal
mitzuteilen hat, immer wieder
unterbrochen vom schrillen
Schreien eines kranken Kindes,
lässt viele Pilger erschauern.
„Wacht endlich auf“, tönt es in
saarländischem Dialekt aus
dem Lautsprecher, „betet, betet und bekehrt euch.“ Und:
„Es ist schmerzhaft zu sehen,
wie der Teufel in Deutschland
sein Spiel gewinnt.“
Um diesen Sieg zu verhindern, müssten
die Menschen mehr beichten, mehr Rosenkränze beten, treu zum Papst stehen, endlich aufhören, ungeborene Kinder zu töten. „Nehmt die Gnadenflut an“, beschwört
die Stimme, „ich werde alles lenken.“
Viele Gläubige weinen, einige fallen einfach um. Vergebens versuchen Rettungssanitäter, sich zu den Ohnmächtigen
durchzukämpfen, niemand will seinen
Platz räumen. „Es ist nicht im Sinne der
Gottesmutter“, mahnt Judith über Mikrofon, „dass Kranke nicht rauskommen.“
Zehnmal schon zelebrierten die Frauen
bis zu diesem Sonntag öffentlich ihre Visionen, über hunderttausend reisten bereits ihretwegen ins Saarland. Busse aus
Belgien, Holland und Österreich verstopfen die Straßen – eine schwere Herausforderung für die katholische Amtskirche, deren offizielle Gottesdienste oft vor leeren
Bänken gefeiert werden.
Für den Marpinger Ortspfarrer Leo
Hoffmann war die Aufregung zu groß. Der
Geistliche, der es wagte, die Erscheinungen
anzuzweifeln, wurde darob übel angefeindet. Jetzt liegt er im Krankenhaus.
Der Trierer Bischof Hermann Josef Spital wollte die Sache aussitzen. Um in diesen
glaubensarmen Zeiten weder die Anhänger der kindlichen Marienfrömmigkeit noch
die Zweifler zu vergrätzen, entschloss er
sich erst nach langem Zögern zum Eingreifen. Er untersagte schließlich allen Priestern, von „Seherinnen“ oder „Erscheinungen“ zu sprechen, kündigte aber eine sorgfältige Prüfung der Phänomene an.
Deren Ausgang steht für die Pilger, dar- Hause fahren will. Als andere Gläubige sie
unter zahlreiche Priester, längst fest. zurückdrängen, auf die Verbotstafeln hin„Natürlich sind die Erscheinungen echt“, weisen, ziehen sie sich ebenfalls ihren Zorn
schwört der Badener Konrad Blatter, der zu. „Ihr betet dem Herrgott die Zehen ab“,
mit Gläubigen aus dem Schwarzwald ange- schleudert ihnen die Pilgerin entgegen,
reist ist und ein großes, schweres Wegkreuz „und habt selbst den Teufel im Leib.“
mitschleppt, das er keine Sekunde loslässt.
Viele sind jedoch zu schwach, um sich
Schon um vier Uhr früh sind die Pilger in aufzuregen: Behinderte und SchwerstFreiburg losgefahren, zur Morgenmesse wa- kranke, die sich oft mit letzter Energie und
ren sie bereits in Marpingen. Auch unter- mit Hilfe verzweifelter Angehöriger nach
wegs im Bus wurde fast ununterbrochen ge- Marpingen geschleppt haben. Kinder in
betet, wurden Marienlieder gesungen: Rollstühlen sind darunter, alte Frauen an
„Rose ohne Dornen, du von Gott erkoren.“ Krücken, Gelähmte, Amputierte. Wer spreMaria und Josef Waller aus Hessen kom- chen kann, stimmt in die Litaneien und
men schon zum dritten Mal. Sie mussten im Gesänge der Vorbeterin ein, die immer in
Auto schlafen. „Die Strapazen lohnen die gleiche Bitte münden: „O Maria hilf.“
sich“, versichert Frau Waller. Der
einzige Sohn, der vom rechten
Weg abgekommen sei, habe dank
Maria zum Glauben zurückgefunden – „wenn das kein Wunder ist“.
Misstrauisch sind dagegen die
Marpinger selbst. „Hier glaubt
kaum jemand dran“, versichert
Rentner Peter Wachter, fuchtelt
zornig mit seinem Stock. Das
Ganze sei „Humbug“, die Seherinnen seien schlicht „bekloppt“.
Viele Dörfler wurmt, dass keine
der Frauen aus ihrem Ort stammt.
Und sie sind sauer, dass der
Reibach mit den frommen Touris- Behälter mit Quellwasser: Manche lecken die Rohre ab
ten vor allem in den Nachbargemeinden gemacht wird: In Marpingen gibt es kein Hotel, keinen
Bahnhof, wenig Kneipen. An den
Tagen mit Marienerscheinungen
sind nur die Parkplätze überfüllt.
Die Pilgerströme stören auch
die Ruhe an der Naturquelle oberhalb der Marienkapelle, wo die
Marpinger seit Jahrzehnten unbehelligt beten, Wasser trinken oder
ein Schwätzchen halten. Weil die
Jungfrau Maria über Judith erklären ließ, bei dem Nass handle
es sich um heilendes „Gnadenwasser“, ist um die Quelle ein er- Gläubige mit Madonna: „Rose ohne Dornen“
bitterter Streit entbrannt.
Nach den ersten Erscheinungen stürmten
„Keine Schmerzen mehr“, wünscht sich
jeweils tausende den Kreuzweg von der Ka- Rosemarie aus Bad Honnef, schwer gehpelle zur Quelle hoch, um das Wasser in rie- behindert seit ihrer Geburt. Die 38-jährige
sige Plastikkanister oder leere Literflaschen Bürokauffrau, die noch nie zuvor an einer
abzufüllen oder an Ort und Stelle zu ver- Wallfahrt teilnahm, knüpft an die bekosten. Doch seit der Bürgermeister die schwerliche Reise heimliche Träume: endQuelle sperren ließ, weil Gutachter ge- lich einmal ohne fremde Hilfe zu gehen. In
sundheitsschädliche Keime fanden, spielen ihren Händen dreht sie einen Rosenkranz,
sich auf der Höhe bizarre Szenen ab.
den ihr ein Kind geschenkt hat.
Enttäuschte Pilger versuchen, die DichIm Rollstuhl sitzt auch die 21-jährige
tungen abzuschrauben oder zu zerstören, Nicole aus Fulda, sichtlich nervös. Das
schieben zentnerschwere Betonteile weg. spastisch gelähmte Mädchen, das geistig
Manche lecken die Rohre ab, einige warten total präsent, aber ansonsten völlig auf seistundenlang, ob nicht doch ein Tropfen ne Eltern angewiesen ist, suchte schon
kommt. Vor der geschlossenen Quelle bil- zweimal vergebens Linderung in Lourdes.
den sich lange Schlangen.
Jetzt wartet es sehnsüchtig auf ein Wunder
„Hinter der Schließung steckt der Anti- von Marpingen – eine Hoffnung, die gezielt
christ“, glaubt die Pilgerin Lydia Kreuz, die geweckt worden ist.
sich wütend an der Absperrung zu schaffen
Seherin Judith hat mehrfach, angeblich
macht, keinesfalls ohne Gnadenwasser nach im Namen Marias, eine verlockende Verd e r
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Gesellschaft
W. BAUER
THIRY + BONENBERGER
Zehn Tage nach dem Kindermärchen zu tausenden in ihrer Wohnung. Derzeit
heißung verkündet: „Meine Kinder, ich
sage euch: Ich werde Kranke heilen, see- ließ Berlin das Rheinische Infanterie-Regi- schreibt sie eine Messe, die demnächst urlisch und körperlich. Bringt die Kranken zu ment Nr. 4 in Marpingen einmarschieren. aufgeführt werden soll.
Marion Guttmann, die wohl tiefgläubigsmir ohne Aufhebens.“ Meldungen über Der Wald wurde mit Bajonetten geräumt,
Heilungen werden unter einer Adresse im die Ortschaft besetzt, Priester und Dorf- te der Seherinnen, riskiert für das MaKapellenweg gesammelt, inzwischen sollen bewohner wurden verhaftet, die Mädchen rienspektakel Beruf und Privatleben. Die
schon über ein dutzend eingegangen sein. kurzfristig in ein Erziehungsheim gesteckt. 30-Jährige mit den Haarspangen und dem
Nach ihren Erscheinungen werden die Es herrschte Kulturkampf, aus Marien- entwaffnend kindlichen Lächeln kündigte
schon Ende 1998 ihren Job als Service-Chedrei Frauen bestürmt. Eltern reißen die Ab- schwärmern wurden Märtyrer.
Obwohl Margaretha Kunz als Erwach- fin eines großen Hotels, um sich auf die Ersperrungen nieder, legen ihnen ihre behinderten Kinder in den Schoß. Rollstuhlfah- sene widerrief („Es war alles ohne Aus- scheinungen vorzubereiten. Maria habe
ihr, berichtete sie Freunden, ihr
rer lassen sich ganz nah an sie
Kommen schon seit zwei Jahren
heranschieben.
angekündigt, mittels „EinspreUm nicht erdrückt zu werden,
chungen“. Zuletzt erschien ihr
müssen Christine, Marion und
sogar Jesus: „Der war richtig gut
Judith von Leibwächtern gedrauf.“
schützt werden. Viel spricht daDass Freunde und Verwandte
für, dass ihre Frömmigkeit, ihre
bezweifeln, dass ihre Visionen
Einbildungskraft, vielleicht auch
himmlischen Ursprungs sind, ihr
ihre Eitelkeit missbraucht wird.
zum Arztbesuch raten, trifft die
Hinter den drei Frauen stesensible junge Frau ebenso wie
hen offenbar zwei Männer: der
die zunehmende Distanz ihres
pensionierte Priester Helmut
Ehemanns. Der, ein Ingenieur,
Maria Gressung aus Saarwellinbeichtete einem Bekannten, er
gen und der Herzweiler Regiesei Atheist und könne das stänrungsamtsrat Gottfried Schreidige „Mariengesäusel“ um sich
ner, im Saarbrücker Kultusmiherum kaum noch aushalten.
nisterium zuständig für die
Ihre gelegentliche UnsicherLehrerbesoldung.
heit, ob die schönen Bilder wirkDer 81-jährige Gressung, der Seherinnen, behindertes Kind: „Bringt die Kranken zu mir“
lich von außen kommen, versich bisher bei den Erscheinungen nie sehen ließ, ist Chef der stockkon- nahme eine einzige große Lüge“), hielt sich sucht die ehemalige Messdienerin krampfservativen „Marianischen Priesterbewe- die Legende bis heute. 1932 wurde die Ka- haft zu unterdrücken. Bei einem Widerruf,
gung“ in Deutschland, einer auf Marien- pelle gebaut. Versuche, Marpingen zum so fürchtet sie, würde sie zwischen alle
frömmigkeit und Traditionalismus fixier- Wallfahrtsort auszurufen, scheiterten an Fronten geraten und vor allem die Gläubiten Vereinigung. Er kennt die Seherinnen der katholischen Kirche selbst: Der zu- gen maßlos enttäuschen.
Solchen Anfechtungen ist Judith Hiber
schon lange, übt als ihr Beichtvater große ständige Bischof weigerte sich damals, die
zwar nicht ausgesetzt. Sie steht seit sieben
Macht über sie aus. Obgleich er jede Be- Visionen der Mädchen zu untersuchen.
Verabschiedet hatte sich die Erscheinung Jahren unter dem Einfluss von Pfarrer
teiligung bestreitet, klingen Marias Botschaften, als habe Gressung ihr ins Ohr ge- vor 123 Jahren mit dem Hinweis, sie käme Gressung, erledigt für ihn die Schreibwieder „in schwer bedrängter Zeit“ – eine arbeiten, gilt als seine glühendste Anhänflüstert.
Schreiner, ein hagerer katholischer Fun- Prophezeiung, die womöglich auf die Se- gerin. Doch ihre Stellung als Justizgehilfin
damentalist, steht dem Marpinger Kapel- herinnen selbst zutrifft. Denn die geraten am Saarbrücker Landgericht wackelt.
Richter weigern sich, die fromme
lenverein vor, hat zumindest Christine Ney zunehmend in Bedrängnis.
Je größer ihre Popularität wird, umso Schreibkraft bei Strafprozessen weiterhin
an Pfarrer Gressung vermittelt. Sein Leitspruch: „Wo für Maria eine Kapelle er- häufiger fragen Zweifler, was hinter den als Protokollführerin einzusetzen. „Wenn
richtet wird, baut der Teufel eine Hun- Visionen steckt: Autosuggestion? Hypnose? ein Angeklagter Stimmen hört“, begründet
Schauspielerei? Oder gar, wie der Kir- ein Kammervorsitzender seine Entscheidehütte daneben.“
Beide Männer eint der Ehrgeiz, aus dem chenkritiker Eugen Drewermann per Fern- dung, „lasse ich ihn ja auch auf seinen
verschlafenen Marpingen ein zweites diagnose vermutete, behandlungsbedürf- Geisteszustand untersuchen.“
Gerade ihr Berufsalltag soll Judith Hiber
Lourdes zu machen, einen von der Kirche tige sexuelle Störungen?
Nach dem 17. Oktober, für den die 13. ursprünglich veranlasst haben, sich ganz
anerkannten Wallfahrtsort, zu dem die
Mühseligen und Beladenen aus aller Welt und letzte Marienerscheinung angekündigt dem Glauben zuzuwenden. Was sie in Verpilgern. Nicht umsonst lässt Maria auch an ist, müssen sich die drei Frauen neu orien- handlungen hörte, insbesondere bei Prodiesem Sonntag verkünden: „Ich wünsche, tieren: sich entscheiden, ob sie als normale zessen um Sexualdelikte, habe sie in ihrem
dass an diesem Ort ein Heiligtum entsteht.“ Menschen weiterleben wollen oder als Hei- Urteil über den Verfall von Sitte und Moral
Dieser Wunsch ging allerdings schon ein- lige mit dem Risiko, bei der kirchlichen Prü- bestärkt: „Was leben wir in einer dreckigen
mal, vor über 120 Jahren, nicht in Erfüllung. fung als Betrügerinnen entlarvt zu werden. Welt.“ Einen Klosteraufenthalt brach sie jeSchon jetzt sind die Folgen
doch nach kurzer Zeit ab – vielAm 3. Juli 1876 erzählten die achtjährigen
leicht ein gutes Zeichen.
Marpinger Bauernmädchen Margaretha erheblich. Christine Ney etwa Schreiner
Den Seherinnen von 1876
Kunz, Susanna Leist und Katharina Huber- schmiss wegen der Erscheinungen
brachten ihre Visionen keinen Setus aufgeregt, sie hätten beim Heidelbeer- ihr Pädagogikstudium, Schwergen. Susanna Leist wurde nur 14
pflücken im Härtelwald eine weiße Gestalt punkt Musik, ist arbeitslos. Ihre
Jahre alt, die anderen mussten auf
gesehen, die Muttergottes. Kurz darauf pil- Hoffnung, eine im Eigenverlag
Betreiben ihrer Eltern und der Kirgerten täglich bis zu 5000 Gläubige in den produzierte CD mit selbst kompoche ins Kloster, starben dort mit
Wald – eine Provokation für den protes- nierten Marienliedern und SchlaMitte 30, Katharina Hubertus als
tantischen preußischen Staat, der hinter der gern durch die plötzliche PromiSchwester Hugolina, Margaretha
Marienverehrung in der katholischen nenz besser zu verkaufen, blieb
Illusion: Die Scheiben stapeln sich
Kunz als Schwester Olympia. ™
Grenzregion politischen Aufruhr witterte.
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Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Gesellschaft
SPIELZEUG
Garantiert
stubenrein
Spielzeughersteller trimmen
ihre Produkte mit ausgefeilter
Technik auf Menschenmaß:
Das sprechende US-Knuddeltier
Furby ist erst der Anfang.
S
sender über einen Sprachchip, auf dem
etwa 800 Wortgeräuschkombinationen gespeichert sind. „Uh, tei, koh-koh“ heißt
„Hoch noch mal“ und bedeutet „Ich will
auf den Arm“. „Kah-buh, kuu, doh“ heißt
„Mich nicht gesund“ und bedeutet „Es
geht mir nicht gut“. Kullert er aus Versehen
vom Sofa, kichert er: „Du, du, du“ oder
quakt „Wah!“, was laut Gebrauchsanweisung „Yeah!“ heißt.
Dabei muss es nicht bleiben: Die
Spielzeug-Ingenieure haben dem Elektronik-Tier ein Sprachlexikon einprogrammiert. Der Fabrikant Hasbro verspricht:
„Je länger Sie mit ihm spielen, desto mehr
lernt er, auch Deutsch“ – für den deutschen und lateinamerikanischen Markt gibt
es neuerdings Modelle mit furbisch-deutschen und furbisch-spanischen Sprachchips.
Doch können Furby-Besitzer auch die
Sprache ihres Spielzeugs lernen. Furbisch
ist einfach. Es besteht angeblich aus Versatzstücken von Chinesisch, Hebräisch,
Englisch, ein wenig Babybrabbeln und kommt
ohne Tempora, Deklinationen oder sonst wie
gestreckte und gebeugte
Wörter aus.
Allerdings ist es mit
der Lernfähigkeit, die
Hasbro für Furby reklamiert, in Wahrheit noch
nicht so weit her. Der
Furby-Chip kann nichts
verstehen, was nicht
schon gespeichert ist.
Man kann ihm also
noch so oft „Blödzwerg“ vorsagen, Furby
antwortet
höchstens
„Li-Kuu Mih-Mih Buh
Ih-Dey“ („Lärm sehr
nicht gut“).
Selbst für diese schwache Leistung braucht
Furby mehr Rechenleistung, als in der ersten
Mondlandefähre steckte. Weil die eingepflanzten Minirechner aber
immer noch kleiner und
billiger werden, taugen
Furbys der nächsten Generation vielleicht
tatsächlich zum Baby-Small-Talk. Erst in 40
Jahren aber, so schätzen Wissenschaftler,
könne man das Verhalten eines vierjährigen Kindes elektronisch simulieren. Immerhin: Der japanische Hersteller Another
One formt bereits echte Kleinkinder als
Stoffpuppenzwilling nach, inklusive implantierter Originalsprache.
Wie Kinder beanspruchen Furbys jede
Menge Aufmerksamkeit. Werden sie nicht
gestreichelt und gepflegt, arbeitet Furby
nur auf Sparflamme. Er regrediert dann
aufs erste Entwicklungsstadium: schlafen,
fressen, schlafen.
A REZU W E I T HOLZ
B. BEHNKE
chönheitspreise hätten E.T. und Alf
nie gewonnen, aber ihre niedliche
Hässlichkeit war wohl gerade der
Grund für ihren Erfolg. Gut für Furby.
Denn das Spielzeugtier aus den USA ist genauso scheußlich wie die beiden alten Medienmonster: Das Ding sieht aus wie die
Kreuzung aus einem fetten Uhu und einem Teppichrest.
die Zahl der Vorbestellungen längst die
Millionengrenze – und wächst weiter: Wegen dieser enormen Nachfrage werden Furbys derzeit sogar eigens aus den fernöstlichen Produktionsstätten eingeflogen. Hasbro erwartet in diesem Jahr einen FurbyUmsatz von mehr als 200 Millionen Dollar.
Aber auch andere Firmen setzen auf
derartiges Spielzeug. So entwickelte Sony
den mit Chips und Sensoren voll gestopften 2500-Dollar-Hund „Aibo“, der bellen
und apportieren kann, aber garantiert
stubenrein ist. Im März präsentierte Matsushita Electric Industrial den Prototyp einer
plaudernden Katze, die mit echten Mäusen
lieber ein Gespräch beginnt, als sie zu erlegen. Und die amerikanische Firma Jakks
Pacific liefert „World Wrestling Federation“-Aktionsfiguren, die schwitzen, wenn
sie sich tüchtig hauen.
Furbys dagegen sind friedlich und entsprechen dem Kindchenschema: Sie haben
große Plastikaugen, ein weiches Plastikfell
und einen kleinen gelben Plastikschnabel,
Kinder mit Furbys: Mehr Rechenleistung als in der ersten Mondlandefähre
Furby ist inzwischen tatsächlich so begehrt wie vor zwei Jahren das von Japan
aus verbreitete Tamagotchi. Wie der kleine asiatische Vorläufer ist Furby ein elektronisches Haustier, das ohne Impfpass mit
in den Urlaub fahren kann. Das 15 Zentimeter große Plüschknäuel lässt sich zudem
kraulen, es kann sogar sprechen; und wer
es für längere Zeit allein lassen muss, versetzt es in den Winterschlaf.
Ein sympathisch pflegeleichtes Ersatztier, von dem Hersteller Hasbro in den
USA allein im ersten Quartal 1999 drei Millionen auslieferte. In Deutschland, wo ein
Exemplar etwa 120 Mark kostet, übersteigt
156
der synchron wackelt, wenn sie brabbeln.
Dass der unansehnliche Furby sprechen
kann, ist der größte Clou des Spielzeugs –
auch wenn er beim Kauf noch ausschließlich furbisch parliert. Entwickelt wurden
Spielzeug und Kunstsprache von Dave
Hampton, einem Hobby-Linguisten und
Angestellten der Firma Tiger Electronics,
die im vergangenen Jahr vom zweitgrößten
amerikanischen Spielzeugkonzern Hasbro
aufgekauft worden war – allein der Furbys
wegen, denn sie versprachen dauerhaften
Erfolg.
Jeder Furby verfügt neben mehreren
Berührungssensoren und einem Infrarotd e r
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Sport
FUSSBALL
„Mal auf den Tisch hauen“
Erst nahm die Branche Thomas Häßler nicht ernst, dann geriet er in den Ruf eines Abzockers.
In der Beschaulichkeit des TSV 1860 München ist der Ballkünstler wieder aufgeblüht.
Künftig will er ein ganzer Kerl sein. Am Freitag hat er dazu Gelegenheit: Borussia Dortmund kommt.
160
DPA
I
n der „Menterschweige“, einem Gasthof unweit des Trainingsgeländes vom
TSV 1860 München, hat sich ein prominentes Ehepaar zur Mittagspause niedergelassen. Angela Häßler rührt noch im
Milchkaffee, als ihr Gatte, der Fußballprofi Thomas, unvermittelt aus seinem Stuhl
federt. „Ich muss jetzt los“, stammelt er
und steht bereits mitten im Raum.
Angela Häßler blickt für einen Moment
leicht entgeistert. Training ist erst in gut
einer Stunde. Doch seit ihr Mann vor acht
Wochen bei seinem neuen Arbeitgeber den
Dienst aufgenommen hat, will er bei den
Übungseinheiten stets der Erste sein – und
der Letzte, der den Rasen verlässt. Zum
Karriereausklang eine Entwicklung, die ihr
schwer imponiert: „Einfach zu süß“, sagt
sie, wie den Weltmeister von 1990 noch
mal der Ehrgeiz gepackt habe.
Für einen, der seine Fußballkunst ehedem in Turin und Rom dem Publikum darbot, kann der TSV 1860 sportlich zwar keine atemberaubende Adresse mehr sein.
Aber das war ja auch nicht der Grund des
Jobwechsels. Es galt, sich aus einem Missverständnis zu befreien, das Borussia Dortmund hieß – einem Gastspiel, von dem
Häßler, 33, heute sagt: „Ich wünschte, es
wäre nie passiert.“
In München befindet sich der Profi in
seelischer Rehabilitation. Unter Trainer
Werner Lorant genießt der fußballerische
Feinmechaniker Artenschutz: „Ich lasse ihn
machen, was er will.“ Wenn der 97-malige
Nationalspieler beim Training an der Grünwalder Straße aufkreuzt, stehen die Fans
klatschend Spalier. Die Lokalpresse entdeckte bei den „Blauen“ eine „Häßlermania“, weil im Fanshop des Vereins die Trikots mit der Nummer 10 und seinem Namenszug chronisch ausverkauft sind.
Die Zuneigung tut gut nach einem Jahr,
in dem sich bei Häßler nicht nur schwere
Zweifel an der eigenen sportlichen Qualität ins Gemüt senkten – am Ende geriet sogar der gute Leumund des braven Fußballers Häßler in Gefahr. „Icke“, der allseits
Beliebte, galt plötzlich als Abzocker. Verdient Millionen im Sitzen auf der Reservebank.
Am liebsten meiden die Häßlers das Thema Dortmund. Doch jetzt, wo am nächsten
Freitag die Borussia im Münchner Olympiastadion gastiert, kommt so manches wie-
Münchner Profi Häßler (gegen den SSV Ulm): Artenschutz für den Feinmechaniker
der hoch. Den jungen Trainer Michael Skibbe, der ja „nur ein Jahr älter“ sei als der
blockierte Spielmacher, haben sie nie ernst
genommen. Unverständlich sein Vorwurf,
Häßler sei nicht fit gewesen. Unverschämt
der Verweis, Häßler sei „ein talentierter
Spieler“, der seine Chance bekomme, sobald ein zur Stammformation zählender
Kollege eine Schwäche offenbare.
Alles Schmarrn, glaubt das Häßler-Duo.
Es fühlt sich als Opfer personellen Missmanagements. Die Dortmunder Vereinsführung habe seinerzeit nämlich erwartet,
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dass Andreas Möller die Borussia verlassen
werde. Thomas Häßler sollte den Mittelfeldmann ersetzen. Doch Möller blieb im
Westfälischen, und der Vertreter war
schlicht überflüssig. Und um den Platzhirsch Möller zu verdrängen, sei dessen
Lobby zu stark und Häßlers Ellenbogen
zu schmächtig gewesen.
Ihren Höhepunkt erreichte die Demontage, als „Bild“ ein Foto veröffentlichte,
auf dem Häßler Erfrischungsgetränke
durchs Westfalenstadion schleppte: „Ein
Weltstar nur noch ein Wasserträger?“
Und das ihm. Dem Icke. Dem Kleinen,
der Fußball-Deutschland fast wie ein Maskottchen ans Herz gewachsen war, weil er
wie kaum ein anderer den Typus des ehrlichen Kickers in einem abgefeimten Fußballgeschäft verkörperte. Das Herumschubsen soll ein Ende finden.
Häßler hat erkannt, dass ihn ein doppeltes Imageproblem plagt: Zuerst wurde
er nicht für voll genommen und dann als
Parasit verunglimpft. In Zukunft, das hat
sich Häßler selbst versprochen, will er ein
ganzer Kerl sein und „auch mal auf den
GES
Dass er „keine faire Chance“ hatte, erzürnt Angela Häßler, 31, bei aller Selbstbeherrschung noch heute. Sie ist eine resolute Frau, die ähnlich ambitioniert wie
Gaby Schuster ihrem Vermählten die Geschäfte führt.
Angeeignet hat sich die gelernte Kosmetikerin das nötige Fachwissen für Vertragsrecht nach dem Motto „Learning by
doing“. Auf ihr bisheriges Wirken blickt
sie zufrieden zurück: „An mir kommt
keiner vorbei.“ Akribisch hat sie daheim
die Faxe gesammelt, mit denen Borussias
Häßler-Ehefrau Angela
FIRO
„An mir kommt keiner vorbei“
Dortmunder Kontrahenten Skibbe, Häßler*: Opfer personellen Missmanagements
Manager Michael Meier den gebürtigen Berliner vor dessen Wechsel umschmeichelte.
Das Ende war weniger charmant. Drei
Millionen Mark Abfindung verlangte Angela Häßler vom Verein, sollte der Gatte einer
Vertragsauflösung zustimmen. Die Forderung wurde publik. Durchzusetzen war sie
auf die Schnelle auch nicht. Dafür stehen die
Häßlers jetzt als Abzocker-Pärchen da.
* Am 14. November 1998 beim Spiel Borussia Dortmund
gegen Schalke 04.
Tisch hauen“. Beim TSV 1860 soll die Metamorphose gelingen. Nach Dortmund war
der Fußballprofi allein gezogen, die Familie blieb im Elsaß; jetzt haben die Häßlers
ein Haus im ruhigen Münchner Stadtteil
Harlaching bezogen.
Thomas Häßler ist damit in ein Idyll
zurückgekehrt, das ihm schon beim Karlsruher SC Topleistungen und Seelenfrieden
ermöglichte. Icke ist bei den „Sechzigern“
sakrosankt, schlägt alle Eckbälle, schießt
alle Freistöße – und hat in Thomas Riedl einen persönlichen Adjutanten, der für ihn
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die Defensivarbeit erledigt. „Es ist“, sagt
Häßler, „wie ein Traum.“
Es läuft ja auch prima. Neulich ließ sich
Kollege Oliver Bierhoff, Kapitän der Nationalmannschaft, vernehmen, „so einen wie
den Thomas Häßler könnten wir schon gebrauchen“. Und dann kam jüngst noch diese Einladung zu einem Spiel der Weltauswahl in Kapstadt zu Ehren von Nelson Mandela. Häßler macht große Kinderaugen, als
er davon erzählt: „Ich habe ein Kopfballtor
geschossen“, sagt er und trommelt freudig
auf den Tisch: „Ist das nicht geil?“
Es sind solche Kleinigkeiten, die den
Neu-Münchner glauben machen, er sei
wieder auf dem Sprung nach ganz oben.
Dass er bei Juventus Turin scheiterte? Verdrängt. Dass er sich im Dortmunder Starensemble nicht zu behaupten vermochte?
Ausgesessen. Seine Lebensleistung heißt:
Köln, Karlsruhe, 1860 München – Icke, ein
Provinzkönig?
Dabei kann ihm, was die technischen
Fähigkeiten angeht, kaum einer das Wasser
reichen. Selbst bei Borussia Dortmund rissen sich die Kollegen um Häßler, wenn es
darum ging, Übungen der filigranen Art
wie Fußballtennis zu absolvieren. Am Ende
musste der Umworbene dann aber doch
staunend feststellen, dass er samstags wieder auf der Bank hockte, während andere,
weniger veranlagte, spielten.
Häßler hat es nie verstanden, dass sich
im Profi-Fußball nicht unbedingt die Besten durchsetzen, sondern die, die sich auch
abseits des Platzes gut verkaufen können.
Während Kollegen wie Bierhoff, Jürgen
Klinsmann oder Lothar Matthäus im Verlauf ihrer Karriere eine Aura der Unverwundbarkeit aufbauten, blieb Häßler stets
der dufte Kerl mit dem sonnigen Gemüt,
der immer die neuesten CDs und Videospiele dabei hatte – und nie maulte, wenn
ihm mal wieder einer den Platz streitig machen wollte.
Diese moderne Fußballwelt. Icke hat
nichts damit am Hut. Wenn nach Trainingsschluss die Kollegen im Biergarten der Vereinsgaststätte „Löwenstüberl“
zusammensitzen, dann haben fast alle
das Handy am Ohr. Er hat gar keines bei
sich. „Ich brauche diese Statussymbole
161
Sport
nicht.“ Dass er mit solchen
Ansichten im überdrehten
Profi-Zirkus fast schon ein
Auslaufmodell darstellt, ist
ihm nicht verborgen geblieben. Vielleicht, sagt er, „bin
ich ja zu naiv, aber dann bin
ich’s eben“.
Neulich war er es ganz bestimmt. Da meldeten die Zeitungen, Häßler sei bereits auf
dem Sprung in die Nationalmannschaft. Den Reportern
sagte er, das sehe er „als Bestätigung für meine Leistung“. Kurz darauf stellte sich
heraus, dass alles nur ein
Übermittlungsfehler war. Ribbeck denkt nicht daran, den
Techniker zurückzuholen.
Die Häßlers müssen also
noch warten. Wobei nicht
ganz klar ist, wem das schwerer fällt. Frau Angela sorgt
sich ums Finanzielle. Die
Zeit in Dortmund habe nachhaltig Schaden gebracht.
Nach dieser Episode war
„der Marktwert im Keller“.
Die Fußball-Europameisterschaft im nächsten Jahr
wurde deshalb zum Ziel erklärt.
P. SCHATZ / BONGARTS
Gut möglich, dass der Ma- Weitspringerin Tiedtke: Zündstoff für den gesamtdeutschen Sport
nagerin, die in der Branche
„Häßlerin“ genannt wird, das alsbaldiständigen Staatsanwaltschaft II in Berlin –
PROZESSE
ge Verfallsdatum ihres Mannes bewusst
und packen aus.
ist.
Die Delinquenten wissen: Wer redet, hat
In München hat sie – auch um vom Fußgute Chancen, verhältnismäßig billig daball Abstand zu gewinnen – ein neues Gevonzukommen – von Richtern festgesetzschäftsfeld eröffnet: Angela Häßler drängt
te Strafbefehle oder Einstellungen der Verins Musik-Gewerbe. „Not only boys“ heißt
fahren gegen Geldbuße sind die Regel. Wer
die Münchner Produktionsfirma, deren Geweiter leugnet, muss dagegen mit Anklage
schäftsführerin sie seit kurzem ist. Eingeund weit härterer Strafe rechnen.
Überraschende Redseligkeit
fädelt hat den Wechsel in die Popbranche
Die Kooperationsbereitschaft der Staatserleichtert die Aufarbeitung des
ihr Gatte Thomas. Seit Jahren schon ist er
anwaltschaft ist verständlich: Sie ermögDDR-Dopings: Täter hoffen,
an der Plattenfirma MTM, ebenfalls aus
licht, dass die Akten des letzten GroßverMünchen, beteiligt.
damit glimpflich davonzukommen. fahrens der Zentralen Ermittlungsstelle für
Doch auch in ihrem gemeinsamen EnRegierungs- und Vereinigungskriminalität
gagement für die Musik verraten die Eheer Brief kam von einem einstmals abgearbeitet ins Archiv wandern können.
leute ihre unterschiedliche Wertewelt. AnGewaltigen des DDR-Sports. „Sie Die Behörde schließt Ende September.
gela denkt streng absatzorientiert („Das
Auslöser der neuen Redseligkeit waren
werden sich vermutlich wundern“,
ist ja nicht nur Fun“). Demnächst erwartet las die ehemalige Schwimm-Weltrekord- die Urteile des Berliner Landgerichts wedie Quereinsteigerin ihren ersten Coup. lerin Karen König, „heute von mir Post zu gen vorsätzlicher Körperverletzung. Die
„Give“ heißt die Boygroup, die sie groß erhalten.“ Was dann folgte, war ein Ge- Strafkammer hatte zwei Ärzte und einen
rausbringen will. Schon bald kommt die ständnis und die Bitte um Verzeihung. Trainer des SC Dynamo Berlin Ende vererste Platte der Teenie-Combo auf den Horst Tausch, der in der Blütezeit des ost- gangenen Jahres zu Geldstrafen zwischen
Markt, der Videoclip des erhofften Hits ist deutschen Schwimmsports als Verbands- 7200 und 14 000 Mark verurteilt. Da
bereits abgedreht. Frau Häßler hegt kei- arzt diente, gab zu, seine Schützlinge ge- schwante den verstockten ehemaligen Kolnen Zweifel, dass ihr musikalisches Fast dopt zu haben. „Dieser dunkle Aspekt des legen, dass es ernst wird.
Food einschlägt: „Die Jungs sind einfach DDR-Leistungssports“, barmte Tausch vor
„Als wir erst einmal in die Phalanx einumwerfend.“
zwei Monaten, „bleibt für mich eine be- gebrochen waren“, sagt Oberstaatsanwalt
Gatte Thomas, dessen Plattensammlung drückende Lebenserfahrung.“
Rüdiger Hillebrand, „konnten wir das ge5000 Exemplare umfasst, kümmert sich inSo viel Reue verblüfft alle, die jüngst samte System sprengen.“ Selbst die obersdes um Bands aus dem Genre des melodi- solche Entschuldigungen erhielten, denn ten Chargen sprachen in Hillebrands Amtsschen Rock. Kein zukunftsträchtiger Markt zehn Jahre lang war Leugnen und Vertu- stube vor und plauderten jahrelang streng
im Zeitalter der elektronischen Musik. schen die Regel gewesen. Aber seit Anfang gehütete Geheimnisse aus: Horst Röder,
Aber da hält er es wie mit dem Fußball: dieses Jahres erscheinen Funktionäre, Ärz- der für alle Sommersportarten zuständi„Alles Liebhaberei.“
te und Trainer des DDR-Sports bei der zu- ge Vizepräsident des Deutschen TurnGerhard Pfeil
System
gesprengt
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TRANSIT
BONGARTS
Geldbuße kassierte, dürften
und Sportbundes der DDR
vom Deutschen Schwimm(DTSB), und sein Kollege
verband kaum noch zu halten
Thomas Köhler vom Wintersein. Innenminister Otto Schisport. Beide sollen mit Strafly, zuständig für den Sport,
befehlen, die Freiheitsstrafen
galt bisher beim Thema Dozur Bewährung zwischen
ping als unbeugsam.
zehn und zwölf Monaten vorAnklagen erhebt die Berlisehen, davonkommen. Das
ner Staatsanwaltschaft nur
sprach sich unter den insgenoch in aus ihrer Sicht besamt mehr als 1300 Beschulsonders schweren Fällen,
digten herum, die 5700 DDRetwa gegen den ehemaligen
Athleten mit der AnabolikaLeichtathletik-Trainer Jochen
Hausmarke Oral-Turinabol
Spenke. Der Berliner hatte
voll gestopft hatten.
einst die Kugelstoß-EuropaDietrich Hannemann, der
meisterin Heidi Krieger mit
Leiter des Sportmedizinimännlichen Hormonen geschen Dienstes, akzeptierte Trainer Tiedtke
mästet. Nach der Wende unnach der Beichte einen Strafbefehl über 45 000 Mark, der Verbandsarzt terzog sich Krieger einer Geschlechtsumder Gewichtheber, Hans-Henning Lathan, wandlung (SPIEGEL 1/1998).
Auch das Ehepaar Paul und Helga Börzahlte 20 000 Mark Geldbuße, um die Einner sowie Klaus Beer, einst beim Mielkestellung seines Verfahrens zu erreichen.
Auch prominente Mediziner, die ob ih- Club Dynamo Garanten für Leichtathlerer neuen Posten im vereinten Deutsch- tik-Goldmedaillen, sollen vor Gericht. Ein
land hartnäckig leugneten, können sich Prozess droht ferner dem langjährigen
neuerdings erinnern: Der Arzt Hans-Joa- Schwimm-Verbandsarzt Lothar Kipke, den
chim Wendler, einst beim SC Dynamo Ber- Verbandstrainern Wolfgang Richter und
lin und später für den Berliner Olympia- Jürgen Tanneberger sowie dem einstigen
stützpunkt tätig, soll nach seinen Aussa- Generalsekretär Egon Müller. Das Dopinggen ebenso mit einem Strafbefehl belegt Kollektiv soll dafür zur Rechenschaft gewerden wie sein Kollege Hartmut Riedel. zogen werden, jahrelang Mädchen AnaboDer Chef-Doper der DDR-Leichtathletik lika gegeben und damit die jungen Körper
wirkte später als Professor an der Uni zum Teil schwer geschädigt zu haben.
Sogar die obersten Verantwortlichen holt
Bayreuth.
So einfach die Aufarbeitung anmutet: die Vergangenheit ein: DTSB-Präsident
Für den gesamtdeutschen Sport birgt sie Manfred Ewald und den zuständigen Leiviel Zündstoff. Etliche der mit Bußen ter des Sportmedizinischen Dienstes, Manbestraften Betreuer, wie etwa die Leicht- fred Höppner. Beide sind jetzt angeklagt. 32
athletiktrainer Lutz Kühl und Werner Opfer haben Strafantrag gestellt, ein knapGoldmann, trainieren noch heute als An- pes Dutzend will als Nebenkläger zum Progestellte der vom Bund hoch subventio- zess zugelassen werden.
Nach dem Berliner Muster erledigen
nierten Verbände Spitzenathleten. Ihren
Arbeitgebern hatten sie versichert, mit den Staatsanwaltschaften in allen neuen LänDoping-Praktiken nichts zu tun zu haben dern derzeit im Eiltempo den Doping– und die glaubten das nur zu gern. Auch Komplex. Die Staatsanwaltschaft Neurupdas Verfahren gegen Jürgen Tiedtke, dem pin, zuständig für die Doping-Fälle in Brandie Staatsanwaltschaft unter anderem vor- denburg, hat über die Hälfte der einst 116
geworfen hatte, früher seine Tochter Susen Beschuldigten zu Zahlungen von Geldgedopt zu haben, wurde erst eingestellt, bußen aufgefordert. Sieben Haupttäter solnachdem er seine Geldbuße bezahlt hatte. len Strafbefehle bekommen.
Anders als in Brandenburg will die
Die Weitspringerin war bei der WM vor
Staatsanwaltschaft in Erfurt von den rund
drei Wochen Siebte geworden.
Viele früheren Dementis sind jetzt hin- 60 thüringischen Beschuldigten einige sofällig. Und Kräfte wie der Chef-Bundes- gar anklagen. Ermittelt wird weiterhin getrainer Winfried Leopold, der eine hohe gen den Bundestrainer Stephan Gneupel,
immer noch Betreuer des EisschnelllaufStars Gunda Niemann-Stirnemann.
Und auch so manche Äußerung von
Sportlern der DDR, die jede Doping-Einnahme verneint hatten, steht jetzt in einem anderen Licht. So erhielt der Verbandsarzt Tausch auf Grund seines Geständnisses zehn Monate Freiheitsstrafe auf
Bewährung – unter anderem weil er die
mehrmalige Olympiasiegerin Kristin Otto
gedopt habe. Die heutige ZDF-Moderatorin hat stets vehement abgestritten, wissentlich Anabolikapillen eingenommen zu
Schwimmerin Otto (1984)
haben.
„Dunkler Aspekt“
Udo Ludwig, Georg Mascolo
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Hürdenlauf im
Schlosspark
Im härtesten Reitsport der
Welt kämpfen die Deutschen gegen
den Abstieg. Jetzt sollen die
Turniere besser vermarktet werden.
A
usgerechnet am letzten Hindernis
schlug „Watermill Stream“ an, die
Stange hüpfte eine Unterarmlänge
hoch. Erschrocken schaute sich Bettina
Overesch um, „mir blieb fast das Herz stehen“. Doch dann fiel die Hindernisstange
in die Auflage zurück – ohne Fehler kam
die Reiterin auf ihrem Vollblutschimmel
ins Ziel und gewann 1997 im englischen
Burghley als erste Deutsche die MilitaryEuropameisterschaft.
Ihr Triumph war aber mehr als Glück.
Wie die Military-Stars aus Schweden, Australien oder Neuseeland lebt sie seit einigen Jahren in England, dem Mekka der
Geländereiterei. Jedes Wochenende laufen
dort so viele schwere Prüfungen wie in
Deutschland im ganzen Jahr. „Ein ideales
Training“, sagt Overesch, 36. „Wäre ich zu
Hause geblieben, hätte ich nie gewonnen.“
Unter den deutschen Military-Reitern ist
die zierliche Blondine eine Ausnahme. Hier
zu Lande wird der härteste Reitsport der
Welt fast nur von Amateuren betrieben.
Gegen die immer stärkeren ausländischen
Profis haben die Buschreiter (wie sie sich
selbst nennen) kaum noch eine Chance.
Jetzt droht ihnen sogar ihre bislang
schlimmste Niederlage. Die Military-Europameisterschaft, die diese Woche im niedersächsischen Heidedorf Luhmühlen
stattfindet, ist die letzte Chance, sich noch
für Sydney zu qualifizieren. Schneiden die
Buschreiter auch bei diesem Championat
wieder schlecht ab, darf die Reiternation
Deutschland – in Dressur und Springen
Weltspitze – erstmals keine Military-Mannschaft zu den Olympischen Spielen
schicken.
„Wir müssen eine Truppe von Profireitern aufbauen“, fordert Bundestrainer
Martin Plewa, 49, „sonst verlieren wir den
Anschluss.“ Doch bislang hat der gelernte
Gymnasiallehrer nur wenig Interessenten
gefunden. In Deutschland kann noch kaum
einer davon leben, mit Pferden über
Naturhindernisse zu hüpfen. Die Ausbildung eines Military-Pferdes dauert Jahre
und bringt nur geringe Siegprämien ein.
Sponsoren stecken ihr Geld lieber in den
Dressur- oder Springsport.
Aber warum sollten sich Geldgeber auch
für eine Sportart interessieren, die fast kein
Publikum hat? Die meisten Wettkämpfe
finden weit draußen in der Walachei statt.
164
Jedes Military-Championat,
auch Vielseitigkeitsprüfung genannt, ist ein Pferde-Mehrkampf, der den vierbeinigen
Athleten Höchstleistungen abverlangt. Die Pferde müssen
nicht nur eine präzise Dressur
zeigen und den üblichen Hindernisparcours für Springreiter bewältigen. Den Höhepunkt bildet jener bis zu
sieben Kilometer lange Hürdenlauf durchs Gelände, bei
dem die Rösser über meterdicke Baumstämme springen,
Mauern oder Gräben überwinden und durch knietiefe
Teiche galoppieren.
Doch vor dieser Geländeprüfung müssen die Pferde erst
einmal zeigen, wie konditionsstark sie sind. Dazu dient eine
Galopptour über die Rennbahn
sowie ein rund zehn Kilometer langer Dauerlauf – ein Relikt aus der Gründerzeit des
Military-Sports, als es darum
ging, möglichst zähe SoldatenMilitary in Luhmühlen*: Wettkampf in der Walachei
pferde zu finden.
Heutigen Military-Profireitern bringt
Nur Eingeweihte wissen, auf welchen Feldwegen man etwa zum Turnier in Cavertitz diese Kavallerie-Tradition nur Nachteile.
Der Ausdauertest vor dem Geländesprin(bei Dresden) gelangt.
„Von den wenigen Fans, die bereit sind, gen geht an die Substanz der Tiere, die
mit Gummistiefeln mehrere Kilometer Buschpferde verkraften deshalb höchstens
durch unwegsames Gelände zu marschie- zwei bis drei schwere Prüfungen im Jahr.
ren“, meint Military-Chef Plewa, „können Gäbe es hingegen nur noch reine Gelänwir aber künftig nicht mehr leben, dafür ist deprüfungen, könnten die Buschreiter beiunser Sport einfach zu teuer.“ Allein der nahe so oft antreten wie die SpringproAufbau einer Hindernisstrecke kostet leicht fis. „Nicht mehr zeitgemäß“ findet es
auch Springreiter-Papst Paul Schockemöhmehrere zehntausend Mark.
Notgedrungen bemühen sich die Veran- le, die Pferde vor dem anstrengenden
stalter deshalb, die Military besser an den Geländespringen „erst einmal müde zu
Mann zu bringen. Für die Europameister- reiten“.
Die Ausdauerprüfungen sind zudem der
schaft in Luhmühlen beispielsweise wurde
die Geländestrecke eigens so gebaut, dass Grund dafür, dass sich ein Military-Cham16 der 28 Hindernisse von einem zentralen pionat wie jetzt die EM in Luhmühlen über
Grashügel aus einsehbar sind – nur unter vier Tage hinzieht. „Viele Zuschauer finden
dieser Bedingung war die ARD zur Live- es natürlich langweilig, so lange auf die
Siegerehrung zu warten“, gibt Overesch
Übertragung in der Sportschau bereit.
Pfingsten wagten sich die Buschreiter zu. In ein paar Jahren, glaubt die Europamit ihren Pferden sogar in die Stadt – mit meisterin, werde es keine langen Prüfunerstaunlichem Erfolg. An die 15 000 Zu- gen mehr geben: „Wir gehören zum Unschauer schauten zu, wie die hochblütigen terhaltungsgewerbe und müssen dem PuRösser im Wiesbadener Schlosspark über blikum spannende Darbietungen zeigen.“
Welch ein Spektakel ein Military-WettEichenstämme und Hecken hinwegflogen.
Die gleichzeitig auf dem feudalen Gelände kampf sein kann, zeigt sich alljährlich im
reitenden Spring-Asse waren verdutzt, als englischen Badminton. Das Superturnier
ist das größte Pferdesport-Ereignis der
sie plötzlich vor leeren Rängen antraten.
Für den Besucherrekord bei der Mili- Welt. Bis zu 250 000 Zuschauer pilgern in
tary sorgte eine geschickte Dramaturgie. den Park des Duke of Beaufort. Über
Die letzten sieben Hindernisse der Gelän- Großbildleinwände flimmern die spektadestrecke waren direkt vor der Tribüne er- kulärsten Ritte.
In ihrer Begeisterung lassen sich die
richtet worden, so dass die Zuschauer das
Finale hautnah erleben konnten. Vor allem Engländer auch durch die jüngste Serie
aber hatten die Veranstalter eine extrem von Todesstürzen nicht erschüttern. Bezeitraubende Teilprüfung der Vielseitigkeit reits vier Profireiter wurden in dieser Saison von ihren Tieren zerquetscht, als dieeinfach weggelassen – den Ausdauertest.
se im Gelände strauchelten. Alle Pferde
* 1997 mit Andrew Nicholson aus Neuseeland.
blieben unverletzt.
Olaf Stampf
JTP
M I L I TA RY
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FOTOS: JÜRGENS OST UND EUROPA PHOTO (li. o.); AP (li. u.); AP (re.o.); AKG (re. u.)
XII. Das Jahrhundert des geteilten Deutschland – 40 Jahre DDR:
1. Die Ära Ulbricht (37/1999); 2. Die Ära Honecker (38/1999)
Ulbricht (1971); Mauer-Reparatur nach Anschlag (1962); Käuferschlange (1960); Mai-Parade (1959 im Berliner Lustgarten)
Das Jahrhundert des geteilten
Deutschland – 40 Jahre DDR
Die Ära Ulbricht
Er herrschte wie ein misslauniger Monarch: Mit seinen
Säuberungen schaltete er Gegner aus und schreckte Kritiker ab –
so überstand der Stalinist Arbeiteraufstand und Tauwetter.
Die Ära Ulbricht erzwang ein Vierteljahrhundert Friedhofsruhe im
Land. Dem eingemauerten Volk blieb nur Hoffen und Harren.
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Das Jahrhundert des geteilten Deutschland – 40 Jahre DDR: Die Ära Ulbricht
Der verschlagene Biedermann
JÜRGENS OST UND EUROPA PHOTO
Spiegel des 20. Jahrhunderts
Von Günter Kunert
Landesherr Ulbricht, Ehefrau Lotte*: Unter dem Zuchtmeister begann die Dressur einer Bevölkerung
E
igentlich eine groteske Gestalt, mit einem Falsett in sächsischem Dialekt
ausgerüstet, das man in den eigenen
vier Wänden nachzuahmen versuchte. Im
Freien bewegte er sich in einem bodenlangen Mantel, langsam und unbeholfen, so
dass man sofort auf eine schusssichere Auspolsterung schloss. Erprobte er sich in Volkstümlichkeit, etwa mit Gemahlin Lotte beim
Tischtennis im Garten oder im Gespräch
mit einem (ausgesuchten) Kumpel, war ihm
leicht sein Unbehagen anzumerken.
Richtig wohl fühlte er sich anscheinend
nur auf dem Podium vor der Parteielite, wo
er seine physische Standfestigkeit durch
stundenlange Reden beweisen konnte. Ohnehin, glaube ich, galt als einziges Befähigungskriterium für die gehobene Parteikarriere die Fähigkeit, endlose Tiraden absondern zu können.
Wer war dieser Walter Ulbricht, der sich
so offenkundig den Ausspruch des preußischen Soldatenkönigs zu eigen gemacht
hatte: „Wenn ihr mich schon nicht liebt,
sollt ihr mich wenigstens fürchten!“ Das ist
ihm fraglos gelungen. Er war verhasst. Be178
sonders bei den Ost-Berlinern, da er eine
Kavalkade sächsischer Funktionäre nach
sich zog und zu Amtsträgern ernannte, „die
fünfte Besatzungsmacht“ geheißen.
Ihn umrankten keine heiteren Legenden
wie den Gegenspieler und Rosenfreund
Adenauer, sondern böse Witze, auf Grund deren Weiterverbreitung man nach Bautzen expediert werden konnte. Gleich ihm waren die
Funktionäre der DDR überempfindlich und witterten
überall Unrat. Was sie als
„Humor“ bezeichneten, war
durch die Definition, dieser
sei eine „Produktivkraft“, zu
einem traurigen Ereignis verkommen.
Unvergesslich eine Versammlung des Schriftstellerverbandes, auf der sich eine
* Oben: am 1. Mai 1968 in Berlin; unten: in sowjetischer Uniform als Propagandist beim Stalingrad-Einsatz 1942.
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Staatsanwältin den Fragen von Genossen
und Kollegen der schreibenden Zunft stellte. Ein einziger, nämlich Jurek Becker, verlangte zu wissen, warum man für einen
politischen Witz in den Knast komme.
Peinliches Schweigen wegen der obszönen
Erkundigung. Dann die Erläuterung: Nicht der Witz als
solcher bilde das strafwürdige Delikt, sondern die implizierte Staatsverleumdung
und Herabwürdigung führender Genossen! So komisch, obgleich unfreiwillig,
ging es manchmal im Narrenparadies zu.
Ulbricht fehlte es an Attraktivität, der Bevölkerung
an Konsumgütern, dem Staat
an Öffentlichkeit. Woran es
hingegen keineswegs mangelte, war die latente Besorgnis der Bürger, sich mit
einem falschen Wort, einer
falschen Reaktion verdächtig zu machen.
Frontbesucher Ulbricht*
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ehrliche, das Wegspringen über die Menschen und ihre Sorgen, das Drohen und
Prahlen – das erst hat uns so weit gebracht,
und daran, lieber Walter, hast du die meiste Schuld, und das willst du nicht eingestehen, dass es ohne alledem keinen 17.
Juni gegeben hätte. Es geht nicht gerecht
zu,Walter.Wer dir zu Munde redet und immer hübsch artig ist, der kann sich viel er-
kämpfe wäre Ulbricht mit seinen Partnern
gewiss schlimmer umgesprungen.
Die Russen schlugen für ihn den Aufstand nieder. Wer sich in die Berliner Innenstadt verirrte, konnte leicht von einer
Kugel getroffen werden. Man beschleunigte den Schritt, sobald man Schüsse hörte,
und manche rannten gleich bis zum Kurfürstendamm – auf Nimmerwiedersehen.
ULLSTEIN BILDERDIENST
Mit Gründung der DDR und Ulbricht
als ihrem Zuchtmeister hob an, was die
Historiker heute „Sowjetisierung“ nennen:
die Dressur einer Bevölkerung. Dieser Vorgang erfasste alle Bereiche, nicht allein die
politischen. Der Parteidoktrin zufolge existierten sowieso keine unpolitischen Bereiche. Alles, so der Tenor, sei politisch zu sehen und politisch zu verstehen. Man agierte nach dem Prinzip: Wenn es in Moskau
regnet, spannt man in Ost-Berlin den
Schirm auf.
Und es regnete ziemlich häufig in Moskau. Von der Sowjetunion lernen heißt
siegen lernen. Und darum wurden die
exorbitanten „Größen“ sowjetischen Erfindergeistes zu verbindlichen Vorbildern
erhoben. Was war schon Einstein gegen
Lomonossow, den Gelehrten des 18. Jahrhunderts, der den Hubschrauber erfunden
hatte, den Fallschirm und möglicherweise
sogar die Kaffeemühle: Die Liste seiner Innovationen war lang. Oder Lyssenko, der
geniale Genetiker, der auf Anweisung Stalins die Vererbbarkeit erworbener Eigenschaften zum Gesetz erklärte.
War doch Stalin selbst der allergrößte
Wissenschaftler, als Philosoph, als Philologe, als Stratege, als geistiger Weiterentwickler seiner Vorgänger Marx, Engels und
Lenin. Im Sozialismus russischer wie deutscher Prägung waren überhaupt nur überdimensionale Geister vorhanden. Oder
ihre zu liquidierenden Kritiker.
Auch in dieser Hinsicht war der große
Ulbricht ein Meister seines Meisters. Seine Stärke bestand darin, jeglichen Widerspruch, von Opposition ganz zu schweigen, in seiner Führungsriege auszuschalten. Als getreuer Gefolgsmann besaß er
die Rückendeckung Moskaus. Dort hatte
er während des Exils Proben seines Könnens liefern können: Von den einstmals
ins Zentrum der Weltrevolution emigrierten deutschen Kommunisten war ein erbärmliches, gehorsames Häuflein übrig
geblieben: die skrupellosesten Befehlsempfänger.
Nur einmal geriet Ulbrichts Position in
Gefahr – am 17. Juni 1953, als das Volk aufstand und der Sturm losbrach. Unversehens fand er sich in seinem ansonsten gehorsamen Politbüro in der Minderheit.
Doch es erfolgte keine Abstimmung, die
vermutlich Ulbricht gestürzt haben würde. Es kam ausschließlich zu moralischen
Appellen an einen Mann, dem nichts wichtiger war als die eigene Person. Welche erschütternde Naivität bewies die Politbürokandidatin Elli Schmidt, indem sie ihren
Walter zu ermahnen suchte:
„Der ganze Geist, der in unserer Partei
eingerissen ist, das Schnellfertige, das Un-
Berliner, Sowjetpanzer am 17. Juni 1953: Widerstand für immer gebrochen
lauben. Honecker, zum Beispiel, das liebe
Kind. Aber wer dir nicht zu Munde redet,
der bekommt keine Hilfe und kann sich
totarbeiten, und es wird nicht anerkannt.
Und wehe gar, es passiert ihm ein Fehler!“
In Ulbrichts Augen war nur einer fehlerlos: er selbst. Die Taktik des obersten
Dienstherrn bestand darin, die Verantwortung zu delegieren. Die Untergebenen
hatten alles falsch organisiert, hatten die
befohlene Normerhöhung für die Arbeiter
den Betroffenen nicht schlüssig genug erläutert, hatten die Verschlechterung der
Lage nicht eindeutig genug dem Klassenfeind zugeordnet. Ulbricht war aus dem
Schneider.
Und er halfterte alle Politbüromitglieder ab, die keine Nachbeter waren. Freilich:
Ohne Stalins Tod am 5. März 1953 und
die daraus entspringenden Diadochen-
Über eine Million hatten schon die kalte
Heimat verlassen, nun stieg der Flüchtlingspegel erneut an.
Ich habe sogar den Verdacht, dass dieser
Schwund Ulbricht möglicherweise aus strategischen Gründen recht gewesen ist. Denn
die Verbliebenen – dem Kürzel DDR zufolge „Der Dumme Rest“ – hatten sich als
die eher passiven, eher zum Untertanentum neigenden Einwohner erwiesen. Falls
das Ulbrichts Rechnung war, ist sie tatsächlich aufgegangen, denn zu weiteren umfassenderen Widerständen ist es nach dem
17. Juni 1953 nie mehr gekommen.
Nach diesem Tage musste die Partei
gründlich gesäubert werden. Zu viele Genossen hatten es an Wachsamkeit fehlen
lassen; sie standen entweder der Revolte
hilflos gegenüber oder hatten sogar ein gewisses Verständnis für den Unmut der Ar-
„Es geht nicht gerecht zu, Walter. Wer dir zu Munde redet und immer hübsch
artig ist, der kann sich viel erlauben. Honecker, zum Beispiel, das liebe Kind.“
SED-Spitzenpolitikerin Elli Schmidt, im Politbüro 1953
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beiter, von denen höhere Leistungen für
weniger Äquivalente abgefordert wurden.
Die „leuchtende Zukunft“ sah einigermaßen düster aus: 71 Prozent aller Parteisekretäre auf Kreisebenen wurden ins
ideologische und damit auch ins berufliche
Abseits verbannt. „Unter den neugewählten Leitungen“, lesen wir in Klaus Schroeders „SED-Staat“, „stieg interessanterweise der Anteil ehemaliger NSDAP-Mitglieder an.“ Kein Wunder, denn die mussten sich durch besondere Ergebenheit und
Disziplin rehabilitieren.
Die alten Genossen verfrachtete man in
Schmollwinkel, wo sie ihren Träumen und
Utopien von der Freiheit des Einzelnen als
Voraussetzung für die Freiheit aller nachhängen konnten. Neue Gesichter tauchten
in den Massenorganisationen auf, neue
„Clerks“, und weil erhöhte Wachsamkeit
angesagt war, wucherte überall das Misstrauen. Das Ministerium für Staatssicherheit blühte und gedieh unkrautartig. Ulbrichts geheime Leitlinie, das Misstrauen,
durchdrang unaufhaltsam die Gesellschaft.
Man wusste niemals, mit wem man es bei
Gesprächen zu tun hatte.
Der DDR-Mensch wurde privatistischer.
Die große Politik verlor an Interesse, wichtiger wurde, ob der „Konsum“ um die Ecke
eine Ladung Obst erhalten hatte oder wo
man einen Zentner Zement herbekam.
Ulbricht hatte zwar den 17. Juni überlebt, doch schon drei Jahre später zeigte es
sich, dass mit des Geschickes Mächten kein
ew’ger Bund zu flechten war und man auf
die „Subjekte der Geschichte“ nicht bauen kann. Unerwartet ließ Anfang 1956 in
Moskau Chruschtschow die Katze „Personenkult“ aus dem Sack. Da half kein Regenschirmaufspannen mehr. Plötzlich war
Stalin zur Unperson degradiert worden,
und jeder seiner Knechte stritt ab, mit ihm
jemals etwas zu tun gehabt zu haben. Stalin? Wer war das?
Chruschtschows „Geheimrede“ auf dem
20. Parteitag erschien in der Westpresse
und bewegte die Gemüter. Auf einmal öffneten ehemalige Moskauer Exilanten im
Schriftstellerverband den Mund, und
heraus kam die jahrzehntelang aufgestaute Angst.
Dann brachen in Polen, bei „unserem
Brudervolk“, Streiks aus, und die DDR
verwehrte sogleich dem Bazillus das Eindringen. Polnische Journalisten und Dramaturgen waren in unseren ideologisch
einwandfreien Redaktionen und Verlagen
unerwünscht. Unter der Hand jedoch grassierten aus dem Polnischen übersetzte Texte in Abschriften, etwa Adam Wazyks „Gedicht vom Menschen“. Und die mutige
Zeitschrift „Sonntag“ druckte eine Erzäh-
JÜRGENS OST U. EUROPA PHOTO (l.); W. BEDAU / DER SPIEGEL / XXP (li.M.)
Spiegel des 20. Jahrhunderts
Das Jahrhundert des geteilten Deutschland – 40 Jahre DDR: Die Ära Ulbricht
Mit Mao und Stalin in Moskau (1949)
lung von Andrzejewski über den Kampf
einer Theatertruppe gegen die Zensur.
Schließlich fanden sich auch in Ost-Berlin einige Don Quixotes – bereit, gegen
die stalinistischen Windmühlenflügel anzugehen. Man traf sich donnerstags im
„Club der Kulturschaffenden“ unter dem
Vorsitz von Fritz J. Raddatz (der im rechten Moment seiner Verhaftung entkam)
und von Wolfgang Harich, einer etwas
schillernden Persönlichkeit. Wir waren
Traumtänzer. Und Ulbricht, der alte Fuchs,
wusste das genau.
Und er wusste fernerhin, dass, im Gegensatz zu Polen, zwischen seinen Intellektuellen und seiner Arbeiterklasse keine
Gemeinsamkeit denkbar war. So fiel es ihm
leicht, die paar kritischen Köpfe, Walter
Janka, Wolfgang Harich, die „Sonntag“Redakteure Heinz Zöger und Gustav Just,
vor Gericht zu bringen und sie des Umsturzversuches anklagen zu lassen. Zum
Schauen (und Hören) bestellt wurden in
den Gerichtssaal prominente Künstler, auf
dass sie die Mär von der Unerschütterlichkeit der Staatsmacht und der Erbärmlichkeit ihrer Feinde verbreiteten.
Auf Polen folgte noch im gleichen Jahr
Ungarn: Diesmal schon eine Art Befreiungskrieg gegen die sowjetische Besatzungsmacht, ein „Ereignis“ ganz anderer
Dimension, das übrigens ein letztes Mal
die Parteimitglieder zu einer müden Solidarität mit dem Interventen veranlasste.
Nur äußerst mühsam ließ sich die heile
Welt des Sozialismus propagandistisch aufrechterhalten. Mit welchen Wortschöpfungen und sprachlichen Windungen die Realität umgangen wurde – just das verlieh
der DDR jene seltsame Kulissenhaftigkeit.
Von der „Sozialistischen Menschengemeinschaft“ bis zum „Winkelement“ für
Papierfähnchen bildete sich eine Sprachebene aus, die kaum noch eine Beziehung
Mit Bauern in Schwerin (1957)
zu den tristen Tatsachen hatte. Ulbrichts
Meisterleistung in dieser Hinsicht war jene
Formel, die den Sieg über den Westen auf
nahezu magische Weise beschwor: „Überholen, ohne einzuholen!“ So was musste
einem erst einmal einfallen.
Ideologie rangierte stets vor fachlichem
Wissen. Überliefert ist der Besuch Ulbrichts in einer Ortschaft, es soll Weimar
gewesen sein, wo ihm das Modell städtischer Neubebauung gezeigt werden sollte.
Da alle Stadtplaner der DDR wussten,
dass der „große Gelehrte WU“ an die
Modelle Hand anzulegen pflegte, um die
Bauten umzustellen, hatten diesmal die
Architekten ihre Modellbauten von unten
an der Schauplatte festgeschraubt. Ulbricht kam, sah und griff sogleich nach
einem Hochhaus, doch das widerstand
ihm. Nach einem erstaunten „Nanu?!“
und einigem Gerüttel wandte sich der Bauherr des zweiten deutschen Staates an den
Chefarchitekten und sagte: „Sie sind entlassen, ja?!“
Am meisten geschmerzt hat ihn wohl
das Phänomen, das er sich vermutlich nur
durch Subversion erklären konnte. Als der
Fernsehturm am Berliner Alexanderplatz
fertig gebaut war und die riesige Aluminiumkugel des unter der Spitze gelegenen
Restaurants von der Sonne beleuchtet wurde, reflektierte die Kugel das Licht in
Kreuzform. Über diese Peinlichkeit amüsierte sich ganz Ost-Berlin. Ansonsten wurden einem ja auch nicht allzu viele Amüsements geboten.
Man entzog sich so weit wie möglich der
Gesellschaft und ihren pseudologischen
Ansprüchen. So ward der Nischenhäusler
geboren. Nach meist desinteressiert abgeleisteter Arbeit wandte man sich dem Fernsehapparat zu und dem „Adlershofer Wodka“. Zwar kam das Fernsehprogramm
ebenfalls aus Adlershof, wurde jedoch kei-
„Du, der Meier hat sich das Leben genommen!“ –
„Na ja, jeder haut eben ab, so gut er kann.“
DDR-Spott zur Ulbricht-Zeit
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JÜRGENS OST UND EUROPA PHOTO
Mit Thälmann-Pionieren (1963)
neswegs im selben Maße frequentiert wie der gleichnamige Schnaps.
Obwohl man in den „Kaufhallen“ häufig vor ärmlich bestückten Regalen stand, war
die Alkoholabteilung stets gut
versorgt. Wohl hatte Ulbricht
die „Zehn Gebote der sozialistischen Moral“ verkündet,
ein sozialistischer Moses, doch
man lebte sich in individueller
Hinsicht aus.
Die „Zehn Gebote“ galten
nur in der Öffentlichkeit, privatim ließ man sich gehen.
Wer seine Frau loswerden
wollte, benötigte keine Axt.
Man wurde umstandslos geschieden und musste für seine
Ehemalige nur eine kurze
Weile einen dürftigen Unterhalt zahlen. Denn schließlich
sollte die Frau wieder dahin,
wo sie hingehörte: an die
Maschine.
Da diese zweite Dimension
der Existenz um sich griff
und der gebeutelte „neue
Mensch“ in seinem Betrieb
das Maul hielt, wuchs proportional dazu die ÜberwaAm Dresdner Stadtbaumodell (1953)
chung durch offizielle und
Ulbricht-Auftritte: „Der große Gelehrte WU“
inoffizielle Mitarbeiter der
Geheimpolizei. Dem Rückzug
in die Nische folgte der Spitzel auf dem „Kulturschaffenden“ sollten in Arbeiterund Bauernkollektiven integriert werden,
Fuße.
Der Anstieg der Spitzelmenge entsprach da hatte man sie unter Aufsicht und gleichdem Zurückweichen der Individuen in zeitig neutralisiert. Wahrscheinlich stammscheinbare Freiräume. Inwieweit die Stasi te die Idee von Ulbrichts Grauer Eminenz,
durch Gerüchte ausstreute, überall präsent seinem Sekretär Otto Gotsche. Der nun
zu sein, oder ob der DDR-Bürger nach den war ein Hauptvertreter des „sozialistischen
Jahrzehnten der Repression bereits par- Realismus“ und schrieb ein Buch nach dem
tiell einem Verfolgungswahn erlegen war, anderen.
Erzeugnisse dieser Art erlebten gewaltiist im Nachhinein kaum aufklärbar.
Ulbricht misstraute den Intellektuellen ge Auflagen. Aber keineswegs weil im „Leund Schriftstellern nicht nur – er verab- seland DDR“ die Käufer nach derlei Proscheute sie. Um die unsicheren Kantonis- dukten gierten, sondern weil Betriebsten zu disziplinieren, zettelte er eine Be- büchereien, Massenorganisationen, Instiwegung an, den „Bitterfelder Weg“. Die tutionen über entsprechende Etats zum
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Ankauf der Unleserlichkeiten
verfügten. Es gab Empfehlungslisten, nach denen sich
die Bibliotheken zu richten
hatten; ja, das Kulturministerium reichte diese Listen sogar ins „sozialistische Ausland“ weiter, damit man dort
die gelobten Werke übersetze. Zudem wurden die Aktivisten oder durch einen ungewöhnlichen Fleiß auffällig
gewordene Personen mit diesen Büchern überschüttet.Vor
allem in den Schulen waren
sie Pflichtlektüre und Grundlage für Aufsatzthemen.
Die Verbreitung von Literatur wurde mehr oder minder
offen gelenkt. Den Autoren
gestand man, je nach ihrem
politischen Bewusstseinsstand
und ihrer propagandistischen
Wichtigkeit, unterschiedliche
Auflagenhöhen zu. Manchmal
mischten sich die Verantwortlichen direkt ins „Literaturgeschehen“ ein. So versandte
das „Büro Ulbricht“, dem ja
Gotsche vorstand, Briefe an
Redaktionen mit der Aufforderung, das letzte Werk Gotsches positiv zu rezensieren.
Wenige Schriftsteller, etwa
Franz Fühmann, nahmen den
„Bitterfelder Weg“ ernst. Der Mehrzahl
der Skribenten bot er die Gelegenheit
für Sinekuren, Stipendien, Aufträge, finanzielle Unterstützung eben. Doch wie
alle propagandistisch groß aufgezogenen
Unternehmen misslang auch dies. Mit
Stanislaw Jerzy Lec gesagt: „Schon wieder
scheiterte eine Wirklichkeit an den
Träumen.“
Vermutlich bedingte der absolutistische
Aufbau des Regimes die ständigen Pleiten
und Pannen: In den obersten Entscheidungsgremien wurde die Realität nur noch
märchenhaft wahrgenommen und verursachte obskure Anordnungen und Befehle
HÖHNE / POHL / SÄCHSISCHE LANDESBIBLIOTHEK
Beim Tischtennisspiel (um 1953)
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JÜRGENS OST UND EUROPA PHOTO
Ulbricht-Sekretär Gotsche*
Graue Eminenz im Leseland
– als Reaktion auf gefälschte Vollzugsmeldungen, verlogene Berichte, erfundene Statistiken. Denn die Untergebenen, in Kenntnis katastrophaler Wirtschaftsdaten, ja,
überhaupt der gesamten Misere, wagten
nicht, die ganze Wahrheit nach oben zu
melden, da man ihnen die Schuld für ökonomisches Versagen zugeschanzt hätte. Das
System als solches war tabu. Daher wurden
regelmäßig Minister oder Sekretäre ausgewechselt, Direktoren oder „Leitungskader“, was natürlich am trostlosen Verlauf
dieser sozialistischen „Mission Impossible“
keinen Deut änderte.
Bis auf die abhängigen Satrapen glaubte keiner der Regierung Ulbricht ein Wort.
Dennoch waren die Leute überrascht, als
sie am 13. August 1961 an der Sektorengrenze plötzlich auf Stacheldraht und
Wachposten trafen. Hatte der „Große Gelehrte“ nicht gerade eben noch erklärt, niemand denke daran, in Berlin eine Mauer zu
errichten?
Der Schock für die Bevölkerung war
nachhaltig. Die Folge: Wut, Verzweiflung,
Resignation. Nun hockte man, wie es
schien, für immer und ewig in einem
höchst ungemütlichen Zauberberg, den zu
verlassen man entweder halb oder ganz
tot sein musste. Selbstverständlich wurde
der Handstreich als glorreicher Sieg über
den Klassenfeind hingestellt. Und die verachteten Intellektuellen und Schriftsteller
wurden zusammengetrommelt, auf dass
sie als Multiplikatoren „unseren“ Menschen die frohe Botschaft überzeugend
vermittelten.
Nun, Kollegen und Genossen, so tönte es
von oben herab, sind wir unter uns und
können daher liberaler, toleranter, freundschaftlicher mit Dichtern und Künstlern
umgehen. Wer das als bare Münze nahm,
musste geistig beschränkt gewesen sein.
Man ahnte, dass ab sofort, da es keine Alternative mehr gab, man dem dümmsten
Funktionär ausgeliefert sein würde.
Erinnern wir uns der kühnen und
manchmal grausig-komischen Aktionen,
* Bei Mitgliedern von Betriebskampfgruppen 1961.
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Brecht-Aufsatzes „Über die Widerstandskraft der Vernunft“ und weil er das Elitäre gepflegt habe; Günter Kunert wegen
zweier „feindlicher“ Fernsehfilme und einiger kleiner Sprüche, von denen einer so
ging: „Als unnötigen Luxus / Herzustellen
verbot, was die Leute / Lampe nennen, /
König Tharos von Xantos, der / von Geburt
Blinde.“
Das hatte der blinde König schnell kapiert und rächte sich durch Diffamierung
und Boykott. Ich wurde zur Unperson und
durfte, ohne weitere Einnahmen, die Suppe auslöffeln. Ulbricht war rachsüchtig.
Als Wolfgang Langhoff, Intendant des
Deutschen Theaters, „Wilhelm Tell“ inszenierte, erkannte sich Ulbricht sogleich in
Geßler wieder. Langhoff, öffentlich angeklagt, musste sich von seiner Inszenierung
distanzieren. Und wenn es Ulbricht möglich gewesen wäre – er hätte Schiller durch
Mielke „zersetzen“ lassen.
Kaum hatten sich die wilden Wogen des
VI. Parteitages einigermaßen geglättet, da
setzte 1965 Lehrling Honecker auf dem 11.
ZK-Plenum einen neuen Kulturkampf in
Gang: gegen schädliche Tendenzen in Filmen, Theaterstücken, Fernsehsendungen
und in der Literatur. Die Bevölkerung müsse vor „Skeptizismus und Unmoral“ geschützt werden. Ulbricht setzte noch eins
drauf, indem er erklärte: „Einige Kulturschaffende haben die große schöpferische
Freiheit, die in unserer Gesellschaftsordnung für die Schriftsteller und Künstler besteht, so verstanden, dass die Organe der
Gesellschaft auf jede Leitungstätigkeit
verzichten und Freiheit für Nihilismus,
Halbanarchismus, Pornografie oder andere Methoden der amerikanischen Lebensweise gewähren.“ Was für fabulöse Definitionen des Freiheitsbegriffs in einem einzigen Satz!
Nach diesem Rundumschlag breitete
sich Friedhofsruhe aus. Die Medien, die
Kulturvermittler, igelten sich ein. Das ohnehin dürftige „Geistesleben“ erstarb.
Konstitutiv für die sechziger Jahre wurde
das Datschen-Wesen. Mir will es heute so
vorkommen, als habe jedermann aus der
Künstlergilde irgendwo eine Laube besessen, ein „buen retiro“, als Ausgleich für
die Unerträglichkeit des politischen Rummels, als Zuflucht vor den ständigen „Kampagnen“, „unserem“ Staat sein Bestes zu
geben, mit ebendiesem Staat identisch zu
werden.
Durch die moderne Form der Leibeigenschaft, der unaufhebbaren Bindung an
die DDR-Scholle, gewann der Westen eine
beinahe paradiesische Aura. Noch der letzte Pofel von Woolworth trug den Glanz
der unerreichbaren Freiheit als Markenzeichen mit sich.
Mit wie viel handwerklicher Innigkeit
bastelte man aus leeren Chiantiflaschen
Tischlampensockel. Und erst der unsterbliche Klospüler aus dem „Bauhaus“! Bekam man doch in der DDR nur Plastikspüler mit einer Lebensgarantie von vier
Wochen. Und mit wie viel verlogener Liebe wurde die Tante aus Charlot-
J. G. JUNG / DER SPIEGEL / XXP
A. CZECHATZ / ULLSTEIN BILDERDIENST / DER SPIEGEL / XXP
doch noch die Absperrung zu überwinden:
an die Tunnelbauten, an die Versteckten
in Autohecks, aus denen man die Benzintanks ausgebaut hatte, um mit einem
Flüchtling und einem letzten Liter Treibstoff die „Friedensgrenze“ zu überqueren,
oder an die Ballonfahrer, die „mit dem
Wind nach Westen“ segelten. Der bitterste
Witz war ein Kurzdialog: „Du, der Meier
hat sich das Leben genommen!“ Antwort:
„Na ja, jeder haut eben ab, so gut er kann.“
Der Mauerbau war die Zäsur. Es war
das massive Eingeständnis des Versagens.
Ein Konsens mit der Bevölkerung war nicht
mehr denkbar. Und die DDR verwandelte
sich mehr und mehr in ein Potemkinsches
Dorf mit Hauptakteuren und vielen Statisten, die alle an der Inszenierung des
Schwanks „Sieger der Geschichte“ mitwirkten.
War nach dem Mauerbau eine Phase vorgeblicher Liberalität in Sachen Kultur eingetreten, wurden Monate später
die Zügel erneut angezogen. Nachdem
Chruschtschow sich gegen die Künstler ereifert hatte („Bilder wie mit Eselsschwänzen gemalt!“), kühlte das Klima in der
DDR rasch ab.
Auf dem VI. Parteitag der SED 1963 in
Ost-Berlin wurden vier Schriftsteller durch
die Inquisition symbolisch hingerichtet:
Stephan Hermlin, weil er in der „Akademie der Künste“ renitente Jungdichter hatte auftreten lassen; Peter Hacks wegen seines Theaterstückes „Die Sorgen und die
Macht“; Peter Huchel wegen eines alten
West-Berliner vor Anti-Ulbricht-Plakat im August 1961, Mauerbau: Glorreicher Sieg über den Klassenfeind?
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Spiegel des 20. Jahrhunderts
Das Jahrhundert des geteilten Deutschland – 40 Jahre DDR: Die Ära Ulbricht
samkeit“ ließe sich mit
tenburg empfangen oder
der Variante „Erfindung
der Cousin aus Wanneder Langsamkeit“ als
Eickel, sobald sie, die EinMotto für den DDR-Bürkaufstüten in den Fäusten,
ger und sein Daseinsaus den Grenzkontrollgeprinzip anwenden. Der
bäuden den Wartenden
Bürger verharrte im Warentgegentraten.
testand: zwölf Jahre für
Ich bin sicher, die DDR
ein Telefon, zehn Jahre
hätte ohne die Paketlawifür ein Auto, ein Dezennen aus der Bundesrepunium für eine Wohnung,
blik und ohne die Milliardie man nach weiteren
de von Franz Josef Strauß
Wartejahren mit einer
keine 40 Jahre existieren
Schrankwand ausstaffiekönnen. Haben wir nicht
ren konnte.
schon vergessen, dass in
Man wartete vor seiner
der HO ein Kilo Kaffee 80
Majestät, dem Kellner, um
Mark gekostet hat? Und
platziert zu werden. Nie
dass eine Verkäuferin ein
hat man vernommen, ein
minimales Salär erhielt,
Gast habe den Mut aufgeein Rentner eine Summe,
bracht, sich frank und frei
die zum Leben nicht ausan einen leeren Tisch zu
reichte?
setzen. Solche Tatkraft
Ja, es wurde ernsthaft
war den Leuten ausgetriedarüber spekuliert, ob der
ben worden. Was eigentMangel nicht beabsichtigt
lich hätte schon geschehen
gewesen sei, sozusagen
können? Dass der Kellner
als Herrschaftsinstrument
die Polizei gerufen und
eingesetzt würde. Menden Ungebärdigen wegen
schen, die stundenlang vor
DDR-Belegschaft (1971)*: Tausend kleine Dinge versprochen
Renitenz hätte verhaften
Läden anstünden oder
lassen? Im Unterbewusstdauernd auf Materialsusein des auf seine Platzieche für notwendige Reparung Angewiesenen muss
raturen wären, hätten
ein solches Szenario beeben keine Kraft und Lust
fürchtet worden sein.
mehr fürs politisch widerUm ein einziges Mal
setzliche Räsonnement.
die Wolga hinunterzuWohl wurde vorsichtig
schippern, begab man sich
gemeckert, doch es kam
nächtlicherweile mit einicht einmal mehr zum
nem Campingstuhl zum
passiven Widerstand. Und
„Haus des Reisens“, dem
nachdem die KriminalisieTourismus-Monopolisten,
rung des Westfernsehens
wo einmal im Jahr Ausstillschweigend beendet
landstrips verkauft wurworden war, durfte der
den. Morgens um vier
vom schönen neuen Lesetzte man sich zu der
ben Erschöpfte sich nun
Schlange Gleichgeduldiguten Gewissens die geger und dachte an Onkel
nerelle Schizophrenie erStraßencafé in Ost-Berlin (1967): Vom Kellner gnädig platziert
Max aus Solingen, der unlauben: mit der Physis im
Osten zu leben und mit der Psyche im rung lautete: „Das muss selbst der Holz- gehindert die Welt durchbummelte. Und
fäller im Erzgebirge verstehen!“ Auch der weil man Zeit im Übermaß hatte, berechWesten.
nete man noch zusätzlich die Dauer, bis
Der Wettlauf zwischen dem armen TV- war nur eine Schimäre.
Und außerdem kontrollierte ja die man selbst als Rentner in den Westen reiHasen der SED und dem bundesdeutschen
TV-Igel war von Anfang an entschieden. Führungsclique in Wandlitz die Sendun- sen durfte. Hoffen und Harren wäre das
Wie Gesundbeter veranstaltete die Partei gen, um bei Missfallen telefonisch dem treffliche Motto des „Volkes der DDR“
immer aufs Neue Konferenzen, auf denen jeweiligen Chef vom Dienst im Sender gewesen.
Täuschung und Vortäuschung bestimmdie verängstigten und indolenten Redak- ihren Unmut auszudrücken. Sie hatten
teure und Dramaturgen aufgefordert wur- alles im Griff auf dem sinkenden Schiff, ten die Methoden. Um Warenfülle zu sugden, bei der Programmgestaltung mehr wie sie glaubten. Der Titel von Sten Na- gerieren, erfand Ulbricht den Slogan von
Kühnheit an den Tag zu legen. Insbeson- dolnys Roman „Die Entdeckung der Lang- den „Tausend kleinen Dingen“, die ab sofort den Verbrauchern zur Verfügung stedere die „heitere Muse“ sei zu pflegen, ein
Geschöpf, dessen Unterhaltungskünste auf * Arbeiterinnen des VEB Gummiwerk Elbe (Elbit) in hen sollten. Besuchte man die Kaufhalle
am Alexanderplatz, wurde man mit dieser
niedrigstem Niveau abliefen. Eine Forde- Wittenberg.
K. KLINGNER
Spiegel des 20. Jahrhunderts
Das Jahrhundert des geteilten Deutschland – 40 Jahre DDR: Die Ära Ulbricht
„Aus manchem Auftreten geht hervor, dass sich Genosse
Walter Ulbricht gern auf einer Stufe mit Marx, Engels und Lenin sieht.“
Das SED-Politbüro an Leonid Breschnew im Januar 1971
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Ehepaare Honecker, Ulbricht (1969): Neue Sprachregelung, alte Linie
Parole begrüßt, aber der Gruß hielt nicht,
was er versprach.
Denn inzwischen hatte sich klammheimlich die mittelalterliche Tauschwirtschaft
durchgesetzt.Wer über Ware verfügte, durfte mit Gegengaben rechnen. Insofern wurde massenweise Ware verschoben. Arbeiter bestahlen die ihnen „gehörenden“ Betriebe und privatisierten „Volkseigentum“
auf Deibel komm raus. Betriebsleiter betrieben vor allem verbotenerweise Vorratswirtschaft, damit, falls Lieferungen anderer
Hersteller ausfielen, die Produktion aufrechterhalten werden konnte.
Vermutlich ignorierten die Behörden
derlei Treiben, weil sonst die Stimmung
mieser und der Konsum noch mäßiger gewesen wäre. Kein Datschen-Erbauer wurde
jemals gefragt, woher er denn das Zement
fürs Fundament habe, woher das Bauholz,
die Ziegel, die Dachpappe, die Kabel. Wer
sich in seinem Schrebergarten selbst einmauerte und ansonsten die Klappe hielt,
blieb weitestgehend von Repressalien der
staatlichen Organe verschont. So ging es
im sozialistischen Biedermeier zu.
Ulbrichts Selbstverständnis beschreibt
ein Vorgang, den mir eine Defa-Schauspielerin erzählte. Bei einem Staatsempfang im Roten Rathaus in Berlin, zu dem
auch wohlgelittene Künstler geladen waren, tanzte die Aktrice mit dem mächtigsten Mann im Staate und fragte ihn dabei
in aller Unschuld, ob er sich nicht wie ein
König vorkomme. Ulbricht bestätigte das
schmunzelnd, fügte jedoch mit falscher Bescheidenheit hinzu, schließlich habe er sich
seine Position selbst erarbeitet. Will man
Intrigantentum, Machtmissbrauch und
Gewissenlosigkeit als Eigenleistung akzeptieren, dann war der sächsische Provinzler fraglos zum „König“ eines recht
bescheidenen Reiches aufgestiegen.
Bewundernswert immerhin, wie lange er
sich auf seinem Posten gehalten hat. Gegen
die bedrohliche „Aufweichung“ aus dem
Süden, gegen den „Prager Frühling“ war er
ausreichend gewappnet. Mielke hatte mittlerweile Heerscharen von offiziellen und
inoffiziellen Agenten aufgestellt, wie sie
vorher keinem anderen Staat dienstbar gewesen sind. War die Technik der DDR-Industrieproduktion vorgestrig, bei Mielke
war die Technik auf dem neuesten Stand.
Jene Bürger, die sich in Prag anonym und
abgewandten Gesichts über Alexander
Dub‡ek positiv geäußert hatten, wurden
durch Stimm-Identifikation dingfest gemacht; man konnte ihren Dialekt bis in die
winzigste Region eingrenzen und brauchte
nur noch bei der Volkspolizei nachzufragen,
welcher „Bürger“ kürzlich in Prag gewesen
war. Man praktizierte George Orwell, ohne
seinen Namen zu kennen.
Aber der Monarch sollte nicht mehr lange regieren. Das „liebe Kind“ Honecker
erwies sich als Vatermörder, natürlich mit
Moskauer Billigung. Ein Witz, vielleicht
LITERATUR
Walter Janka: „Schwierigkeiten mit der Wahrheit“.
Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 1990; 128 Seiten – Der frühere Leiter des Aufbau-Verlags beschreibt am eigenen Fall die Intellektuellen-Verfolgung unter Ulbricht.
Norman M. Naimark: „Die Russen in Deutschland. Die
sowjetische Besatzungszone 1945 bis 1949“. Ullstein
Verlag, Berlin 1997; 685 Seiten – Beschreibung der ersten Nachkriegsjahre, in denen die Sowjetunion aus
ihrem Besatzungsgebiet ein „Bruderland“ formte.
Volker Handloik / Harald Hauswald (Hrsg.):
„Die DDR wird 50“. Aufbau-Verlag, Berlin 1998;
248 Seiten – Texte und Fotos aus einem untergegangenen Staat.
Stefan Heym: „5 Tage im Juni“. Fischer Taschenbuch
Verlag, Frankfurt 1999; 264 Seiten – Schlüsselroman
zum 17. Juni 1953, in der DDR nicht gedruckt, obwohl
als „beste und gerechteste Darstellung der damaligen
Ereignisse“ (Stephan Hermlin) gewürdigt.
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vom Büro zur Desinformation gläubiger Genossen
in Umlauf gesetzt, läutete
den Abgang ein. Ulbricht,
so wurde kolportiert, habe
während einer Politbürositzung wütend verlautbart, er verbitte sich die
üblen Nachreden über seinen Geisteszustand, wobei
er, zur Bestätigung seiner
energischen Haltung, mit
den Knöcheln auf den
Tisch klopfte. Atemlose
Stille. Dann drehte sich
Ulbricht zur Tür um und
rief: „Herein!“
Mit Honecker tauchten
die alten Illusionen wieder
auf, nun werde alles leichter und menschlicher. Die
„Kulturschaffenden“ wurden gestreichelt und gepriesen und überhörten
den Nachsatz von Honeckers Deklamation: Es gebe keine Tabus
für Kunst und Literatur! Wenn man von
einem festen sozialistischen Standpunkt
ausgehe … Der bekannte Pferdefuß. Wer
den „festen Standpunkt“ definieren würde, war klar. Die Parteilinie hatte sich kaum
geändert, bloß die Sprachregelung.
Der Verfall der Städte nahm seinen
unaufhaltsamen Fortgang, die Wirtschaft
kollabierte sacht vor sich hin, Biermann
wurde ausgebürgert, danach ein unerwartetes Aufflackern von Protest, und dann
begab sich die DDR in ein durch Westmark-Milliardenschulden hinausgezögertes Koma.
Von Ulbricht war längst keine Rede
mehr. Seine Porträts wurden geschwind abgehängt und durch die des Nachfolgers ersetzt – nach dem klassischen sowjetischen
Brauch, dessen Anstößigkeit niemand
mehr wahrnahm.
P. PEITSCH
Spiegel des 20. Jahrhunderts
Das Jahrhundert des geteilten Deutschland – 40 Jahre DDR: Die Ära Ulbricht
Der Autor
Günter Kunert, 70, hat
die DDR als unbequemer Chronist beschrieben und 1979
verlassen. Der Lyriker und Prosa-Autor
(„Erwachsenenspiele“)
lebt in Schleswig-Holstein.
Klaus Schroeder: „Der SED-Staat. Partei, Staat und
Gesellschaft 1949 – 1990“. Carl Hanser Verlag, München 1998; 782 Seiten – Geschichte der DDR, ihrer
Organe und Akteure.
Hermann Weber / Ulrich Mählert (Hrsg.): „Terror.
Stalinistische Parteisäuberungen 1936 – 1953“. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 1998; 620 Seiten – Chronik der kommunistischen Selbstdezimierung durch Schauprozesse und tödlichen Genossenstreit.
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Das Jahrhundert des geteilten Deutschland – 40 Jahre DDR: Die Ära Ulbricht
PORTRÄTS
Lob für Stalins Güte
unter nicht selten Ulbricht-Widersacher, auf Nimmerwiedersehen abzuholen pflegten.
Insgeheim muss dem „gespaltenen
Dichter“ (so der Titel einer Becher-Ausgabe) vor seinem brutalen Exilgefährten gegraust haben. Jedenfalls hatte
er sich testamentarisch ein „betontes
Nicht-Staatsbegräbnis“ ausgebeten.
Doch wie zum Hohn verordnete Walter Ulbricht ihm auf dem Friedhof
schwülen Pomp, mit Orden, Militär und
Studenten im Gleichschritt. Alexander
Abusch, ideologischer Widersacher und
Nachfolger Bechers, durfte tönen: „Er
war unser.“
Hilde Benjamin
Die Einpeitscherin
Wegen ihres Einsatzes als junge Anwältin für die Kommunistische Partei
Ende der zwanziger Jahre hieß sie die
„Rote Hilde“ und war beliebt. Der
Name blieb an ihr haften, wenn auch
als Schimpfwort: Hilde Benjamin, eine
bürgerliche Studierte mit gepflegten
Umgangsformen, hatte sich zu Ulbrichts prominentester Juristin gewandelt. So stand sie für die blutigen Abrechnungen mit wirklichen und vermeintlichen Systemgegnern.
Hilde Benjamins jüdischer Ehemann,
Bruder des Philosophen Walter Benjamin, war 1942 im Konzentrationslager
Mauthausen ermordet worden. Nun
wurde sie selbst Leitfigur einer „terroristischen Strafjustiz“ (Rudolf Wassermann). Als Vizepräsidentin des Obersten Gerichts der DDR leitete sie in
den stalinistischen Jahren der DDR
Schauprozesse, gelegentlich sogar im
Theater, verhängte mit eifernder
Stimmlage brutale Strafen, sprach Todesurteile.
Von 1953 bis 1967 war Hilde Benjamin Justizministerin. Zu den von ihr
vollzogenen Änderungen des DDRRechts gehörten auch populäre Neuerungen, etwa im Familienrecht. Doch
ihren Ruf besiegelte die Gleichschaltung der Justiz: Keiner dürfe Richter
bleiben, „der nicht Parteigänger des
revolutionären Klassenkampfes“ sei.
Das überwachte die gefürchtete
Funktionärin teils persönlich im
Gerichtssaal.
Beim fanatischen Durchsetzen ihrer Version von sozialistischem Recht ließ Hilde Benjamin sich nicht beirren: „Hasstiraden“, sagte sie, „zeigen, dass
wir Recht haben.“ Aber nicht
nur beim Klassenfeind stieß das
System Benjamin auf Ablehnung. Für viele in der DDR verkörperte die Einpeitscherin mit
der deutschtümelnden Flechtkranzfrisur den rechthaberischen Unrechtsstaat.
Dessen
Zusammenbruch
musste sie nicht mehr erleben –
Hilde Benjamin starb 87-jährig
im April 1989. Grimmiger
Nachtritt der (Ost-)„Berliner
Zeitung“: „Man hätte ihr gerne
noch ein paar Monate gegönnt.“
Christian Habbe
ULLSTEIN BILDERDIENST
Spiegel des 20. Jahrhunderts
Das intellektuelle Europa westlich der Elbe war
beeindruckt von
dem Mann: ein
expressionistischer
Schriftsteller, dessen Werk gelegentlich sogar von Thomas Mann gelobt
wurde („Ein großes
Buch!“); ein dich- Becher (um 1950)
tender Kulturfunktionär, der „das Recht der Andersdenkenden“ forderte und auch noch die
DDR-Hymne mit dem Reizpostulat
„Deutschland, einig Vaterland“ getextet
hatte. Das machte gespannt: Johannes
Robert Becher (1891 bis 1958) gab jenen
Optimisten Nahrung, die in Ostdeutschland ein antinazistisches Projekt entstehen sahen.
Doch der Poet im Amt enttäuschte
viele Hoffnungen. Vorwürfe von Opportunismus und Feigheit überschatteten seine Bilanz als DDR-Kulturminister von 1954 bis 1958. Tatsächlich hatte
Staatsästhet Becher, der feudal mit Seeblick wohnte und auch das West-Berliner Nachtleben zu schätzen wusste,
stets kunstvoll die Balance zur wirklichen Macht gehalten – und das hieß
kuschen.
Auf Wagemut folgte Selbstkritik
nebst sinistrer Agitprop. Der Politiker,
der Reformkommunisten wie Georg
Lukács oder Wolfgang Harich gestützt
hatte, war sich nicht zu schade, bei
Bedarf Stalins „Güte“ zu rühmen und
seinen Chef peinlich zu lobpreisen
(„Walter Ulbricht – ein deutscher Arbeitersohn“).
Diese Ängstlichkeit erklärten sich
Mitstreiter aus den traumatischen Erfahrungen Bechers beim Überleben im
Moskauer Emigranten-Hotel „Lux“,
aus dem Stalins Geheimpolizisten
frühmorgens deutsche Genossen, dar-
VERLAGSGRUPPE AUFBAU-VERLAG
Johannes R. Becher
Der gespaltene Dichter
Benjamin (1950)
DIE THEMENBLÖCKE IN DER ÜBERSICHT: I. DAS JAHRHUNDERT DER IMPERIEN; II. … DER ENTDECKUNGEN;
III. … DER KRIEGE; IV. … DER BEFREIUNG; V. … DER MEDIZIN; VI. … DER ELEKTRONIK
UND DER KOMMUNIKATION; VII. … DES GETEILTEN DEUTSCHLAND: 50 JAHRE BUNDESREPUBLIK;
VIII. … DES SOZIALEN WANDELS; IX. … DES KAPITALISMUS; X. … DES KOMMUNISMUS; XI. … DES FASCHISMUS;
XII. DAS JAHRHUNDERT DES GETEILTEN DEUTSCHLAND: 40 JAHRE DDR; XIII. … DER MASSENKULTUR
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Ausland
Panorama
RUSSLAND
Ruf nach dem
Notstand
DPA
ach der verheerenden Explosion in
der Nacht zum Donnerstag in einem
Moskauer Wohnhaus wird der Ruf nach
einem Notstandsregime immer lauter –
bei dem mutmaßlichen Terroranschlag
kamen 90 Menschen ums Leben, 180
wurden verletzt. Der Ausnahmezustand
käme dem Kreml möglicherweise gerade recht, fürchtet Wladimir Issakow,
Chef der Rechtsabteilung des Parlaments:
In dieser Zeit dürfte nicht gewählt werden. Somit könnte Boris Jelzin, wegen
Korruptionsverdachts unter Druck geraten, die für Dezember geplanten DumaWahlen und möglicherweise auch die Zerstörtes Moskauer Wohnhaus
für nächsten Sommer angesetzten Präsidentenwahlen aussetzen. Ein entsprechender Ukas müsste Seit 1995 hat es in Russland über 40 Sprengstoffanschläge allein
lediglich vom Föderationsrat bestätigt werden. Selbst libera- gegen Wohnhäuser gegeben, in Moskau war es seit Jahresbeginn
le Politiker wie „Jabloko“-Chef Grigorij Jawlinski plädieren bereits die vierte Explosion. Wie üblich wurde kein einziger Fall
inzwischen für die Ausrufung des Notstands – zumindest in geklärt, Spuren zu den tschetschenischen Rebellen ließen sich
bislang nicht nachweisen. Da Kreml und Armeeführung eine unTeilen des Kaukasus, „zur politischen Unterstützung unserer Soldaten“. Für viele gilt als ausgemacht, dass die in abhängige Berichterstattung vom Kriegsschauplatz Dagestan inDagestan kämpfenden Islamisten hinter dem Anschlag zwischen unterbunden haben, fällt die Schuldzuweisung an die
„islamischen Terroristen“ jedoch auf fruchtbaren Boden.
stehen.
Gut ausgerüstet für wirksame Operationen im russischen Hinterland sind die kaukasischen Freischärler inzwischen tatsächlich – dabei mitgeholfen haben allerdings mehrere russische
Banken und sogar Russlands Armee. Seit Juni stoppte der Geheimdienst nach Auskunft eines Spezialisten in verschiedenen
Kasernen fünf Lieferungen von Sprengstoff, Waffen und Munition für Tschetschenien. Kurz vor Beginn des neuen Krieges
fing die Abwehr noch einen Transport mit 3200 Geschossen für
den Raketenwerfer „Grad“ ab, wenig später zwei Wagen mit
300 Panzerfäusten. Noch mysteriöser: Zwei der mit Verschlüsselungstechnik versehenen Satellitentelefone, mit denen die
Rebellen des Feldkommandeurs Schamil Bassajew gegenwärtig ihre Kämpfe gegen die Russen koordinieren, sollen in Moskau angemeldet sein – auf den Namen des Jelzin-Freunds und
Milliardärs Boris Beresowski.
„Grad“-Raketenwerfer der russischen Armee in Dagestan
Furcht vor Rache
P
olitiker des Saddam-Regimes haben
die Zahl ihrer Auslandsreisen drastisch eingeschränkt – sie fürchten, jenseits der Grenze völkerrechtlich belangt
zu werden. Tarik Asis, Vertrauter und
Sprachrohr des Diktators, blieb vorige
Woche überraschend einer internationalen Konferenz in Rom fern. Der Vizepremier, der im Vatikan zudem die Modalitäten für den geplanten Papstbesuch
im Irak besprechen wollte, schickte den
erheben – Duri habe die LiKonferenzteilnehmern seine
quidierung von mehreren tauRede per Videoband zu. Die
send Menschen zu verantworReise nach Rom sei zu unsiten. Saddams Halbbruder
cher, da ihn irakische OpposiBarsan al-Takriti dagegen hat
tionelle und linke Italiener weBagdad notgedrungen den
gen Völkermords vor Gericht
Rücken gekehrt – er liegt im
bringen wollten. Vizepräsident
Zwist mit dem Diktator. Der
Issat Ibrahim al-Duri, zur
frühere Geheimdienstchef
Leukämie-Behandlung in
und Uno-Botschafter in Genf
Wien, ist von Saddam Hussetzte sich in die Schweiz ab,
sein aus demselben Grund
Barsan al-Takriti
ist nun aber in Reichweite der
nach Bagdad zurückbeordert
Opposition: Deshalb ist er untergetaucht
worden. Österreichs Grüne und der linund soll in den Vereinigten Arabischen
ke Flügel der SPÖ hatten sich bemüht,
Emiraten um Asyl gebeten haben.
gegen ihn eine Anklage à la Pinochet zu
AP
IRAK
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AFP / DPA
N
Panorama
GRIECHENLAND/TÜRKEI
„Breiiger Mischmasch“
S
eismologen befürchten, dass den Erdstößen in der Türkei und
Griechenland bald weitere Beben folgen könnten. Zwar bestehe zwischen beiden Katastrophen kein unmittelbarer Zusammenhang, doch deute die Häufung auf eine „Zunahme seismischer
Aktivität“ entlang eines Gürtels, der von Afghanistan bis Italien
reicht. Nach dem Beben, das Dienstag voriger Woche die Region
nördlich von Athen erschütterte, wurden bis zum Wochenende
über 100 Tote geborgen; der Erdstoß von Izmit in der Türkei hatte drei Wochen zuvor mehr als 15 000 Menschenleben gefordert.
Beide Länder, so der schwedische Erdbebenforscher Ronald
Arvidsson, ruhten auf einem „breiigen, zersplitterten Mischmasch“.
Eingeschlossen und bedrängt von der afrikanischen, arabischen
und eurasischen Kontinentalplatte, drehe sich die geologische Masse unter der Ägäis seit Jahrtausenden entgegen dem Uhrzeigersinn
und deformiere sich an ihren Rändern selbst.
Eine Art Domino-Effekt in westlicher Richtung stellten die Seismografen entlang der nordanatolischen Verwerfung fest: Insgesamt zehn schwere Beben haben die Türkei seit 1939 erschüttert;
jedes einzelne gab Spannung an die nächste geologische Schwachstelle weiter. Sowohl Athen als auch Istanbul stehen auf seismisch
besonders aktivem Boden. Für die türkische Metropole, so die
Suche nach Erdbebenopfern in Athen
FRANKREICH
Jagdfieber
AFP / DPA
N
Jägerprotest im südfranzösischen Auch
FÄ R Ö E R
Separatisten im Atlantik
ach ihrem Sensationserfolg bei den
Europawahlen (6,8 Prozent, sechs
Abgeordnete) entwickelt sich die französische Jägerpartei CPNT zum
Schreckgespenst. Der vom Jagd-Fundi
Jean Saint-Josse geführte Verein, der anfangs nur die von Brüssel verordneten
Schonzeiten für Wild kippen wollte, ist
inzwischen ein Hort der MaastrichtGegner und verstört vor allem die Sozialistenpartei. Die von rechts und links
umgarnten Jäger verfügen über einen
NordAtlantischer
Ozean
Vestmanna
D
ie baumlose Inselgruppe auf halbem Wege zwischen Großbritannien und Island strebt in die Unabhängigkeit. Bis Jahresende soll ein Vertrag
über die Abspaltung der autonomen
Region von Dänemark ausgehandelt
werden, über den die 45 000 Einwohner
kommendes Frühjahr abstimmen wollen. In Umfragen zeichnet sich bereits
eine Mehrheit für den Weg in die staatliche Souveränität ab: Nur 13 Prozent
halten das seit 1948 gültige Selbstverwaltungsabkommen mit Kopenhagen
198
Klaksvík
Tórshavn
FÄ R Ö E R- I N S E L N
Tvöroyri
DÄNEMARK
20 km
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Anhang von etwa 50 000 Mitgliedern
und haben vor allem in kleinen Gemeinden das Sagen. Vorige Woche eröffnete Saint-Josse die Hatz auf seine Erzfeinde, die Grünen („Sie faseln von einer jungfräulichen Natur, die nur in
ihren Hirnen existiert“) – er will sie bei
den Kantonal- und Kommunalwahlen
2001 zur Strecke bringen. Der Oberjäger
droht auch schon dem sozialistischen
Premier Lionel Jospin, dessen Wahlkreis
bei Toulouse im CPNT-Revier liegt.
Nehme der Ministerpräsident und mutmaßliche Kandidat fürs Präsidentenamt
im Jahr 2002 die Jäger nicht vor der EU
in Schutz, werde „es ernst für ihn“.
noch für zeitgemäß. Den Nachfahren
keltischer Ureinwohner und der Wikinger, die die Inselgruppe im neunten
Jahrhundert besiedelten, geht es ökonomisch blendend: Dank guter Erlöse in
der Fischindustrie, dem wichtigsten Exportzweig, verzeichnet die Außenhandelsbilanz einen kräftigen Überschuss;
Löhne und Gehälter stiegen 1998 um bis
zu 16 Prozent. Für die Zukunft erhoffen
die Färöer Einnahmen aus Ölvorkommen im Nordatlantik. Die Dänen scheinen der abtrünnigen Nordregion keine
Steine in den Weg legen zu wollen: 68
Prozent billigen ihren Vettern auf der
atlantischen Inselgruppe das Recht auf
Unabhängigkeit zu.
Ausland
Forscher, sei die Wahrscheinlichkeit eines großen Bebens derzeit höher als
für Athen; eine zeitliche Prognose jedoch unmöglich. Diplomatisch haben
die Katastrophen von Izmit und Athen
das Klima zwischen den Nachbarn verbessert. „Die Natur hat unsere Völker
gelehrt, dass wir ein gemeinsames
Schicksal haben“, so der türkische
Ministerpräsident Bülent Ecevit. Der
griechische Premier Kostas Simitis bewertete die gegenseitige Hilfe als „Beweis von Freundschaft und Solidarität“.
Erdbeben in Griechenland
500 km
Eurasische Platte
Istanbul
Izmit
GRIECHENLAND
Ankara
Hauptbewegungsrichtung
TÜRKEI
Athen
Anatolische Platte
AP
Epizentrum
Afrikanische Platte
ZYPERN
Arabische Platte
PA K I S TA N
Aufstand gegen den
Premier
S
BÜCHER
Raketen-Deal
Weder Paprika
noch Gulasch
N
ordkoreas Diktator Kim Jong Il, 57,
will offenbar darauf verzichten, erneut eine Rakete über dem Japanischen
Meer zu testen. Westliche Beobachter
hatten den Abschuss eines zweiten, verbesserten „Taepodong“-Geschosses für
Donnerstag voriger Woche erwartet,
zum Feiertag der nordkoreanischen
Staatsgründung. US-amerikanische Satellitenfotos lassen jedoch erkennen,
dass die Nordkoreaner bislang nicht
einmal das Hauptstück der Rakete zur
Abschussrampe transportiert haben. Für
den Fall, dass das stalinistische Regime
in Pjöngjang keine neuen Tests durchführe, würden die USA, Südkorea und
Japan weitere Hilfsmittel für die marode nordkoreanische Wirtschaft bereitstellen, deuteten Sicherheitsexperten in
Tokio an. Japan könnte auch die vor
einem Jahr wegen der militärischen
Drohgebärden Pjöngjangs verhängten
Sanktionen lockern und die Nahrungsmittellieferungen wieder aufnehmen.
W
enn Paul Lendvai, 70, der unermüdliche Beobachter Osteuropas,
zur Schreibmaschine greift, dann hat er
in der Regel Spannendes zu erzählen.
In seinem neuesten Werk „Die Ungarn“
räumt Lendvai auf mit dem verzerrten
Ungarnbild der Westeuropäer von Puszta, Paprika und Gulasch. Das Buch handelt vom Freiheitskampf der Magyaren
gegen das Haus Habsburg, beleuchtet
das verdrängte Kapitel der Judenvernichtung unter Horthy, reflektiert die
Ereignisse im Revolutionsjahr 1956 und
das beschwerliche Alltagsleben danach.
Doch beim denkwürdigen Jahr 1989, als
die Regierung in Budapest für tausende
DDR-Flüchtlinge den Eisernen Vorhang
aufriss, hört die Zeitenreise abrupt auf.
Das erstaunt bei einem Autor, der sich
als langjähriger Intendant von Radio
Österreich International gerade mit seinen scharfzüngigen
Analysen einen
Namen machte.
Die schriftstellerische Stärke des gebürtigen Budapesters lag stets darin,
dem deutschen Leser das Alltagsleben der Menschen
in Osteuropa näher
zu bringen und den
tief verwurzelten
Lebenspessimismus
seiner eigenen Landsleute zu erklären,
die noch heute glauben, trotz Nato-Mitgliedschaft und EU-Kandidatur das
„einsamste Volk auf der Welt“ zu sein
(Nationaldichter Petöfi).
Einen eindrucksvollen Exkurs zu Lichtund Schattengestalten der ungarischen
Geschichte liefert das letzte Kapitel des
Buchs: Nur wenige dürften wissen, dass
Arthur Koestler ungarisch träumte und
auf deutsch schrieb; dass Filmstar Tony
Curtis in seiner Jugend kein Wort Englisch sprach und Andy Grove, den das
US-Magazin „Time“ auf Grund seiner
Erfindung des Computerchips Intel 1997
zum Mann des Jahres kürte, als András
Gróf 1956 aus Ungarn in die Vereinigten
Staaten flüchtete, um sich buchstäblich
vom Tellerwäscher zum Multimillionär
hochzuarbeiten. Lendvais Werk ist eine
gut dosierte Mischung geschichtlicher
Fakten, politischer Wertungen und kultureller Anekdoten.
tungsausgaben senkt und die Staatseinnahmen erhöht. Sharif versucht die Proteste mit der Anwendung von Anti-Terror-Gesetzen abzuwürgen, er ließ bereits mehrere hundert Demonstranten
verhaften. „Ein Totalangriff auf die Bürgerrechte“, empörte sich die größte Oppositionspartei Pakistan People’s Party.
Die Streiks würden fortgesetzt, „bis
Herr Sharif sein Amt niederlegt“, drohte PPP-Chefin Benazir Bhutto, 46. Der
Sturz des Premiers ist nicht leicht zu
bewerkstelligen; seine Pakistan Muslim
Liga besitzt im Parlament die Mehrheit,
dem Staatspräsidenten aber und dem
Obersten Gericht fehlt die nötige Macht
zum Eingreifen. Bei einem Abgang Sharifs befürchten Beobachter eine
Machtübernahme fundamentalistischer
Gruppen wie der Jamiat-e-Ulema-e-Islam, Pakistans führender islamistischer
Partei.
AP
AFP / DPA
treiks und Demonstrationen setzen
Premier Nawaz Sharif, 49, unter
Druck. Während die Händler wegen der
geplanten 15-prozentigen Umsatzsteuer
auf die Straße gehen, sind Opposition
und Armee über den schmählichen
Rückzug nach dem jüngsten KaschmirKonflikt mit Indien erbost. Die Militäroperation (800 Millionen Dollar Kosten)
brachte das Land auch finanziell weiter
ins Trudeln – Pakistans Auslandsschulden sind auf 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts geklettert. Der Internationale Währungsfonds aber will einen
Kredit von 1,6 Milliarden Dollar nur
freigeben, wenn die Regierung ihre Rüs-
NORDKOREA
Premier Sharif, Demonstranten der Pakistan People’s Party in Lahore
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Paul Lendvai: „Die Ungarn. Sieger in Niederlagen“.
C. Bertelsmann, München; 336 Seiten; 44,90 Mark.
199
Ausland
OSTTIMOR
„Das Volk wird vernichtet“
Der Westen will keinen neuen Genozid dulden – das Beispiel Kosovo verpflichtet.
Bill Clinton bat Kanzler Gerhard Schröder, auf Indonesiens
Präsidenten Habibie mäßigend einzuwirken. Sonst drohen Wirtschaftssanktionen.
200
die Verhängung des Kriegsrechts durch
Präsident Bacharuddin Jusuf Habibie, 63,
verschaffte den Mordbrennern erst recht
freie Hand für ihre Säuberungen. Das
Chaos zu beenden, rechtfertigte Armeesprecher General Sudrajat die Untätigkeit
AP
schen durch Terror und Aushungerung –
rund ein Viertel der heutigen Bevölkerung.
Derzeit sind mehr als 200 000 Melanesen
auf der Flucht. Über 60 000 halten sich
schon in westtimoresischen Lagern auf –
eine weitere Parallele zum Kosovo.
Der Westen, nach
seinem entschiedenen
Einschreiten
gegen
Serbenführer Slobodan Milo∆eviƒ moralisch gefordert, favorisiert auch diesmal
eine internationale
Eingreiftruppe – die
Lösung des OsttimorProblems, heißt es in
New York, habe Modellcharakter für die
Dritte Welt. Es sei jedoch „dringend anzuraten“, mahnte UnoGeneralsekretär Kofi
Annan, „dass die indoArmeechef Wiranto
AFP / DPA
K
rampfhaft umklammerten die
Flüchtlinge ihre Habseligkeiten und
rannten zu den mit laufenden Motoren wartenden Flugzeugen. Als die
Frachtmaschinen der australischen Luftwaffe endlich vom Flughafen Dili abhoben, entschwebten sie durch schwarze
Rauchwolken.
Das Zentrum der osttimoresischen
Hauptstadt stand in Flammen. Pro-indonesische Milizen liefen, nach Bekanntgabe
des Unabhängigkeitsreferendums am vorvergangenen Wochenende, Amok. Ganze
Ladenzeilen gingen in Flammen auf, ebenso die Universität, das Fernmeldegebäude
und die Residenz von Bischof Carlos Filipe Ximenes Belo. Der Friedensnobelpreisträger selbst konnte, getarnt als Passagier „Louis Rochetta“, nach Darwin ausgeflogen werden.
Dili war in kürzester Zeit eine Geisterstadt. Wer nicht in die Berge floh, wurde
massakriert. Oder er wurde, wenn er Glück
hatte, mit vorgehaltener Waffe auf Lastwagen verladen und nach Westtimor deportiert – über Landstraßen, die mit den
aufgepfählten Köpfen von Befürwortern
der Unabhängigkeit gesäumt waren.
Als halbwegs sicher galt zunächst noch
das Gelände der Uno-Mission in Osttimor (Unamet), wo hinter Stacheldraht
hunderte auf Schutz vor den entfesselten Schlächtern hofften. Im provisorischen Lazarett des Gebäudes gebar am
Dienstagmorgen um 3.45 Uhr, während
in den Straßen unablässig automatische
Waffen ratterten, eine Osttimoresin einen Sohn, den sie Pedro Unamet nannte –
nach jener Organisation, die Osttimors
Weg in die Selbständigkeit überwachen
sollte und nun ohnmächtig den von Jakartas Generälen inszenierten Terror
erlebt.
78,5 Prozent der rund 440 000 osttimoresischen Wähler haben sich gegen einen Verbleib als 27. indonesische Provinz
ausgesprochen. Doch die militanten Verlierer der Abstimmung reagieren radikal
bis zum Äußersten: Sie wollen die arme
Inselhälfte höchstens als menschenleere
Tabula rasa aufgeben.
Die Vereinten Nationen erlebten ein
Fiasko. Die Tragödie war vorauszusehen
gewesen, doch die Völkergemeinschaft versagte im Katastrophenmanagement. Und
Präsident Habibie
der Militärs, sei schließlich „nicht
so einfach wie das Spülen einer
Toilette“.
Auch das mutmaßliche Oberhaupt des künftigen Kleinstaates
musste flüchten. José Alexandre
Gusmão, 53, Ex-Chef der osttimoresischen Guerrilla Falintil, wurde
am Dienstag in Jakarta aus siebenjähriger Haft entlassen. Weil
die indonesische Polizei seine Sicherheit nicht garantieren wollte,
schlüpfte er sofort in der britischen
Botschaft unter. „Ich kann zwar
wieder die Luft der Freiheit atmen“, sagte Gusmão, „doch das
Volk, das ich führen soll, wird gerade vernichtet.“
Osttimor ist der neueste Schauplatz eines Völkermords, ein Kosovo in den Tropen. Seit Indonesien die einstige portugiesische Kolonie 1975 mit Billigung der USA
besetzte, starben dort 200 000 Men- Pro-indonesische Banden in Dili: Zynischer Machtkampf
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Flüchtlingstransport nach Westtimor: „Ein Krieg wäre ein großer Fehler“
Clinton und Tony Blair, in ihrem Eifer auffallend gedämpft sind. Sie stellen Jakarta
„schwere wirtschaftliche Konsequenzen“
in Aussicht.
Washington will eine Blauhelm-Mission
bislang nur logistisch unterstützen; Indonesiens Stabilität ist den USA wichtiger als
die Freiheit Osttimors. Großbritannien entsandte einstweilen den Zerstörer HMS
FOTOS: AP
nesische Regierung einer Entsendung zustimmt“.
Denn Indonesien ist nicht Serbien: Zu
bedeutend ist das Land weltweit als Handelspartner, zu schwer das politische Gewicht des 209-Millionen-Staates in Südostasien, zu gut gerüstet seine 476 000Mann-Streitkräfte. Außerdem kungeln die
Westmächte traditionell mit Jakarta.
Helmut Schmidts Regierung genehmigte Lizenzen für den Hubschrauberbau und
half beim Aufbau einer Anti-Terror-Einheit. Nachfolger Helmut Kohl unterhielt
stets ausgezeichnete Beziehungen zum damaligen Präsidenten Suharto, obwohl der
als korrupt verschrieen war.
Kohl urlaubte mit seinem „lieben
Freund“ auf der Privatinsel Bira Kecil, besuchte ihn am Krankenbett – und Bonn
verkaufte dem Indonesier 39 Schiffe der
ehemaligen DDR-Marine. Fast immer begleitete eine Korona deutscher Wirtschaftsbosse den Kanzler nach Indonesien.
Zahlreiche Offiziere Suhartos wurden
an der Führungsakademie der Bundeswehr
ausgebildet, der Kommandeur der AntiTerror-Truppe Kopassandha und Suhartos
Schwiegersohn Prabowo Subianto bei der
GSG 9. Von 1991 bis 1993 leistete Bonn
eine „Polizeihilfe“ in Höhe von 2,2 Millionen Mark.
Die Eliteeinheit Kopassus wiederum,
maßgeblich beteiligt an der jahrzehntelangen Unterdrückung der Osttimoresen, wurde noch Mitte der neunziger Jahre von
amerikanischen und australischen Spezialisten geschult. Kein Wunder, dass die
Chefmoralisten des Kosovo-Kriegs, Bill
der politischen Eliten Jakartas – auf Kosten der Bevölkerung
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„Glasgow“, Frankreich am Freitag die
Fregatte „Vendemaire“.
Australien, nur 500 Kilometer von Osttimor entfernt, verlegte 500 Soldaten in die
Gewässer vor der Insel und erhöhte seine
Eingreifreserve, die wohl eine bewaffnete
Intervention anführen dürfte, auf 4500
Mann. Doch Außenminister Alexander
Downer stellte klar: „Ein Krieg gegen die
viertbevölkerungsreichste Nation der Welt
wäre ein großer Fehler.“
Auch die Bundesregierung zaudert. Entwicklungshilfeministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul preschte zwar Anfang voriger
Woche vor und forderte den unverzüglichen Einsatz einer internationalen oder regionalen Friedenstruppe. Joschka Fischer
und Gerhard Schröder schoben die Verantwortung weiter: „Da sind doch Australien
und Neuseeland viel näher dran.“
Bis zum Wochenende glühten die diplomatischen Drähte. Clinton beriet mit seinen Kollegen in London, Canberra und
Berlin und bat den Bundeskanzler, auf den
Mann in Jakarta einzuwirken. Daraufhin
redete Schröder dem fließend deutsch
sprechenden, in Aachen zum Ingenieur
ausgebildeten Habibie ins Gewissen, „dass
das in Osttimor nicht so weitergehen
kann“. Blauhelme verbat sich der Präsident erst vehement, als Schröder jedoch
nachhakte, schränkte er ein: „Noch nicht.“
Fischer drohte unterdessen, ganz im Sinne Clintons, seinem indonesischen Counterpart Ali Alatas mit einer „Störung des
Finanzflusses“, falls das Militär weiterhin
die blutige Säuberung Osttimors dulde.
Das Kalkül der westlichen Politiker:
π Eine von Jakarta nicht akzeptierte Intervention könnte zu einer Solidarisie201
rung der Asean-Staaten mit Indonesien
führen, zu einem Konflikt „Weiß gegen
Gelb“;
π Habibie, als Verlierer der jüngsten Parlamentswahlen geschwächt und Rücktrittsgerüchte dementierend, könnte von
der Armee weggeputscht werden, ihr
Gefangener ist er ohnehin. Die innenpolitische Schlüsselfigur ist inzwischen
Armeechef Wiranto;
π China würde gegen ein Uno-Mandat
sein Veto einlegen, um einem Präzedenzfall für ausländische Einmischung
in Tibet oder Taiwan vorzubeugen.
Also ist ökonomischer Druck der vorläufige gemeinsame Nenner. Noch diesen
Monat wird die nächste Tranche eines Kredits des Internationalen Währungsfonds
(IWF) an Indonesien in Höhe von 460 Millionen Dollar fällig. Der IWF droht mit
Aussetzung, falls das Morden weitergeht.
Die Börse reagierte ohnehin schon. Vorige
Woche fiel die indonesische Rupiah um 14
Prozent – erst 1997 hatte die Asienkrise zu
einem Kaufkraftverlust von rund 80 Prozent geführt und zu sozialen Unruhen.
„Der fürchterliche Zynismus ist“, sagt
Sidney Jones von der Menschenrechtsgruppe Human Rights Watch, „dass in Osttimor nur ein Machtkampf der politischen
Eliten Jakartas ausgetragen wird – auf
Kosten der Bevölkerung.“
Einflussreiche Generäle waren entrüstet,
als Habibie zu Jahresbeginn ohne ihr Einverständnis verkündete, Osttimor könne
über seine Zukunft selbst entscheiden.Weil
Papua-Stämme in Irian Jaya und radikale
Muslime in der Provinz Aceh ebenfalls die
Unabhängigkeit fordern, fürchten sie eine
Balkanisierung des Riesenreichs.
Deshalb lassen die Militärs jetzt den nationalistischen Mob von der Leine: In Jakarta stürmten 300 Studenten die australische Botschaft und hissten die rot-weiße indonesische Flagge. In Osttimor fackelten
Banden die Häuser von Politikern und Separatisten ab, massakrierten Priester und
Caritas-Mitarbeiter, beschossen ausländische Diplomaten und stürmten am Freitag
das Unamet-Gelände. Auch der Vater des
Freiheitshelden Gusmão soll ums Leben
gekommen sein.
Annan will in diesem Klima der tabulosen Gewalt allerdings nicht allein auf die
Kapitalbremse vertrauen. Er wies Fischer
darauf hin, dass es möglicherweise doch
einen Hebel für eine militärische Intervention gäbe, gegen den auch China keine
formalen Argumente vorbringen könnte.
Wenn Osttimor als bereits eigenständiges
Staatsgebiet definiert werde und nicht als
Teil Indonesiens, so Annan, könnten die
Repräsentanten des Landes einem solchen
Einmarsch zustimmen. Der Haken: Politiker wie Gusmão sind noch lange nicht gewählt – erst muss die Beratende Volksversammlung in Jakarta den Volksentscheid
billigen.
Rüdiger Falksohn,
Jürgen Hogrefe, Jürgen Kremb
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Ausland
UNGARN
Ball verkehrt
in Budapest
Den zehnten Jahrestag der Öffnung von Ungarns Grenze feierten
Politiker, die 1989 nicht
dabei waren. Die Drahtzieher von
einst meckerten derweil im Off.
D
REUTERS
rei fesche Männer schlendern
lächelnd über den Burgberg von
Buda. Von Kameramännern umzingelt, von Leibwächtern freigesperrt wie
Boxer auf dem Weg zum Ring, sehen Gerhard Schröder, Viktor Orbán und Viktor
Klima dennoch befreit aus. Als hätten sie
das Schlimmste schon hinter sich. Die Reden drunten im Budapester Parlament sind
Weltgeschichte – der Sozialist Viktor Klima
stand im Sold einer Wiener Mineralölfirma; der Sozialdemokrat Gerhard Schröder
engagierte sich gegen britische Soldaten in
der Lüneburger Heide und kämpfte für einen Machtwechsel in Niedersachsen; und
der Jungliberale Viktor Orbán, ein Student
von 26 Jahren, hatte gerade gefordert, die
Sowjets sollten aus Ungarn verschwinden.
Jene, die wirklich mitschrieben am
Drehbuch vom Ende des Kalten Kriegs,
sitzen nun beim Festakt in Budapest
schweigend im Parkett. Oder sie sind gleich
zu Hause geblieben wie Österreichs konservativer Ex-Außenminister Alois Mock.
Auch Alt-Bundeskanzler Helmut Kohl verzichtete – ohne Einladung der ungarischen
Regierung wollte er nicht als Gast seines
Nachfolgers Schröder zwischen Petra Bläss
(PDS) und Markus Meckel (SPD) einfaches deutsches Delegationsmitglied werden dürfen.
Immerhin, Ungarns Reformsozialisten
Miklós Németh und Gyula Horn, Bau-
Kanzler Klima, Orbán, Schröder: Die Feschen vom Burgberg
ihnen schwer gefallen. Seltsam papieren
klangen die Elogen. Von einem „Feiertag
für die mitteleuropäischen Nationen“
sprach Orbán, Ungarns Premier; von einer
„Entscheidung mit historischen Ausmaßen“ Gerhard Schröder; und vom Aufbruch zu einem „Europa ohne Trennlinie“
Österreichs Bundeskanzler Klima.
Gemeint war in allen Fällen der Tag, an
dem die Nachkriegsordnung zerbrach. Am
10. September 1989, exakt zehn Jahre vor
dem Staatsakt in Budapest, öffnete Ungarn
für tausende DDR-Bürger das Tor zum Westen. Das war mehr als eine humanitäre Geste. Es war der Bruch mit den Verbündeten
in Ost-Berlin und also mit Moskau – der
Anfang vom Ende des Kalten Kriegs.
Die drei Feschen vom Burgberg aber befanden sich damals noch im Schatten der
meister der deutsch-ungarischen Annäherung in den Achtzigern, sind in letzter Minute noch dazugebeten worden. Und so
vernehmen sie denn mit eisigen Mienen,
wie der junge Premier Viktor Orbán fabuliert, „die Vorsehung“ sei für den Sieg der
Wahrheit im Krieg der Blöcke verantwortlich.
War es nicht Németh, der als Premier
schon Anfang 1989 bei Gorbatschow in
Moskau testete, was passieren würde, wenn
Ungarn einen Sonderweg ginge? War es
nicht Horn, der als Außenminister die gut
funktionierenden Kanäle nach Bonn nutzte, um Fühlung aufzunehmen und schließlich den Bruch mit den Warschauer-PaktVerbündeten zu riskieren, indem er dafür
eintrat, die Fluchtwilligen aus der DDR
laufen zu lassen?
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Vorbei, vergessen. In Budapest wird
Ball verkehrt getanzt. Ungarns Reformsozialisten und ihre christ-liberalen Freunde aus Deutschland stehen im Abseits,
während die Marktliberalen um Orbán
und der SPD-Kanzler Schröder im
Blitzlichtgewitter die Ernte einfahren. Die
SPD, so tuschelt’s am Rand unter alten Gulasch-Kommunisten, „stand damals links
von uns“.
Ein Ereignis – der Jahrestag der Grenzöffnung –, zwei Bühnen: Hans-Dietrich
Genscher verlässt Ungarns Hauptstadt, als
Gerhard Schröder eintrifft. Genscher hat
sich schon am Vortag im kleinen Kreis feiern lassen und muss nun leider weg: „Ein
wichtiger Termin in Leipzig“, sagt der
Außenminister a. D. Dabei lächelt er
sphinxhaft wie eh und entflieht mit wehender Elefantenkrawatte.
Er kennt seine treuen Sozialisten, Spezis
von einst, mit denen er und Kohl, Teltschik,
Späth und Strauß lange vor der Grenzöffnung die Sezession vom Warschauer
Pakt angebahnt haben.
Er weiß aber auch, dass der neue Premier Orbán das nicht gern hört und deswegen nicht nur ihn – Genscher – und
Kohl, sondern auch Horn und Németh von
Rederecht und Lunchtafel beim Staatsakt
fern hält.
Also flieht Genscher und lässt ein
Schock schmollender ungarischer Altkommunisten zurück. In ihrer Ehre sind sie gekränkt, wirklich hart aufgeschlagen sind
sie aber auch nach dem Sturz der sozialistischen Regierung 1998 nicht.
István Horváth, ehemals Botschafter in
Bonn, war bei der Privatisierung des staatlichen Telefonanbieters Matav zu Gunsten der Telekom behilflich und hat nun
dort sein Auskommen. Auch beim Verkauf
der ungarischen Außenhandelsbank an
die Bayerische Landesbank war er im
Spiel – nun sitzt dort an Schalter eins der
Ex-Finanzminister Péter Medgyessy.
Man arrangiert sich, Ungarn ist der Musterschüler unter den EU-Beitrittskandidaten: bei den ausländischen Direktinvestitionen an erster Stelle, 5,1 Prozent
Wirtschaftswachstum 1998. Trotzdem, und
trotz der Verdienste um die Demokratisierung in Osteuropa, gibt es noch immer
keinen Termin für die Aufnahme in die EU.
Er finde, sagt Premier Orbán in seiner
Rede, „dass dieser unsichtbare Zaun nicht
in die europäische Ordnung gehört“.
Es bleibt dies der einzige scharfe Ton
beim Staatsakt in Budapest. Strahlendes
Einvernehmen eint die Regierungschefs
wieder beim Schlendern über den Burgberg. Keiner ist sauer. Am Ende muss der
Wein dafür büßen.
Beim Rundgang übers Winzerfest, die
Gläser sind schon erhoben, bricht es aus
Klima, dem Österreicher, heraus: „too
sweet“, murrt er. Und überantwortet Graf
Degenfelds sortentypischen Tokajer umgehend dem Spuckkübel.
Walter Mayr
203
Ausland
SERBIEN
„Das ist unser Unglück“
Patriarch Pavle, Oberhaupt der serbisch-orthodoxen Kirche,
über die Notwendigkeit eines Regimewechsels
scher Seite ein schmutziger Krieg geführt
goslawischen Präsidenten Slobodan Mi- wurde, heißt nicht, dass andere einen sollo∆eviƒ zum Rücktritt auf, weil er das Volk chen nicht auch führten. Ich habe 34 Jahins Verderben stürze. Warum hat die or- re im Kosovo gelebt. Ein Teil der albanithodoxe Kirche so lange mit der Verurtei- schen Bevölkerung hat die ethnische Säuberung des Kosovo von
lung des serbischen Reden Serben seit Jahrgimes gewartet?
zehnten vorbereitet. Wir
Patriarch Pavle: Wir haben
Serben wollten Gleichbeseit 1992 bereits dreimal
rechtigung und Demovergeblich eine Regierung
kratie, aber diese Albaner
der Nationalen Rettung
wollten dominieren.
gefordert. Doch jetzt ist
Milo∆eviƒ als KriegsverSPIEGEL: Es waren dann
brecher angeklagt. Die inaber doch serbische Solternationale Gemeinschaft
daten, die hunderttausenlehnt jedes Gespräch mit
de von Albanern in die
ihm ab, das Volk ist Geisel
Flucht trieben und Masseines Regimes. Aber wir
saker begingen.
können doch nicht hinter
Patriarch Pavle: Jeder
einem eisernen Vorhang
Krieg wird von Verbreverharren wie einst Russchen begleitet. Es soll
land. Deshalb fordern wir,
Gottes Waage überlassen
dass Milo∆eviƒ auf fried- Kirchenführer Pavle
bleiben, wer die größeren
liche Weise anderen erFrevel verübte.
möglicht, das Volk aus dem Unglück zu SPIEGEL: Welche Schuld trägt Milo∆eviƒ ?
führen, in welchem es sich befindet.
Patriarch Pavle: Er versäumte es, rechtzeiSPIEGEL: Bislang gibt es keine Anzeichen tig nach einer Lösung zu suchen. Das
für einen friedlichen Abgang Milo∆eviƒs Christentum erlaubt keinen Eroberungsund seiner herrschenden Sozialisten. Ist da krieg, aber einen Verteidigungskrieg. Als
gewaltloser Widerstand nicht eine Illusion? die Nato die Bombardierung Serbiens anPatriarch Pavle: Ein Bürgerkrieg oder ein kündigte, hätte die Situation ernsthaft anaBlutbad müssen in jedem Fall vermieden lysiert werden müssen. Am Ende der Bomwerden. Dies wäre fatal, sonst kommt die bardierung mussten wir dennoch den
Nato noch hierher, um uns Frieden um je- Rückzug unserer Streitkräfte unterschreiden Preis zu bescheren. Ich befürworte ben. Wo bleibt da der Verstand?
eine Übergangsregierung, die dringende SPIEGEL: Auch die orthodoxe Kirche hat
Wirtschaftsreformen veranlasst und demo- sich seit dem Zerfall Jugoslawiens der
kratische Wahlen vorbereitet.
Propaganda des Regimes lange untergeSPIEGEL: Sie haben sich bislang nicht, wie ordnet. Der Bevölkerung wurde weisgevon der Opposition gehofft, an die Spitze macht, es gehe nicht nur um die Verteidider landesweiten Demonstrationen ge- gung des Serbentums, sondern auch um
stellt. War die Zerstrittenheit der Opposi- eine Bedrohung des orthodoxen Glaubens
durch die katholische Kirche und den
tion der Grund für Ihr Fernbleiben?
Patriarch Pavle: Schon Apostel Paulus sag- Islam.
te, in einem Organismus befinden sich vie- Patriarch Pavle: Ich betrachte die Vorgänle Organe. Nur wenn all diese zusammen- ge, die zum Zerfall Jugoslawiens führten,
arbeiten, wird der ganze Organismus ge- als Bürgerkrieg und nicht als Glaubensstärkt. Daran sollte sich unsere zerrissene krieg. Mir wurde wiederholt vorgeworfen,
Opposition ein Beispiel nehmen. Jeder ich sei ein Vertreter Großserbiens. Meine
sieht nur sich selbst, jeder möchte Präsi- Antwort ist: Wenn sich ein Großserbien
dent werden: Das ist unser Unglück.
nur durch Verbrechen verwirklichen lässt,
SPIEGEL: Die Serben verübten im Kosovo dann verzichte ich darauf. Wenn ein
schlimme Verbrechen. Warum wurden die- kleines Serbien nur durch Verbrechen
se von der orthodoxen Kirche erst jetzt zu halten ist, bin ich auch dagegen. Und
wenn ich der einzige Serbe auf der Welt
verurteilt?
Patriarch Pavle: Verbrechen will ich nicht wäre und nur durch Verbrechen am Lerechtfertigen. Doch für die Welt sind die ben bleiben könnte, lehnte ich auch dies
Serben an allem schuld. Dass von serbi- ab.
Interview: Renate Flottau
AP
SPIEGEL: Eure Heiligkeit, Sie fordern den ju-
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Werbeseite
Werbeseite
Ausland
Hafen von Kaliningrad mit wieder aufgebautem Dom, Sowjettruppen beim Sturm auf die Festung Königsberg (1945): „Vielleicht schaffen wir
KALININGRAD
„Bald ist uns Berlin näher“
Selbstzweifel und Zukunftsängste plagen Russlands isolierten Vorposten an der Ostsee,
das Gebiet um das frühere Königsberg. Gerüchte über Pläne Moskaus,
die Exklave verkaufen zu wollen, schüren die Ungewissheit. Die Jungen zieht es nach Europa.
G
estandene Ostpreußen lassen sich
nicht so leicht unterkriegen, Ursula Trautmann schon gar nicht. Als
16-Jährige musste sie im Februar 1945,
kurz vor Kriegsende, vor den Russen fliehen. Vor drei Jahren kehrte die gelernte
Landwirtin aus dem Hunsrück in ihre
Heimat zurück – in ein weitgehend verludertes und versumpftes Land, das als
„Gebiet Kaliningrad“, das nördliche Ostpreußen um das frühere Königsberg, nunmehr zu Russland gehörte. Und das gerade die Zwangsabgeschiedenheit von 50
Jahren militärischer Sperrzone abgeschüttelt hatte.
Ursula Trautmann brachte 70 Milchkühe
mit. Dazu den verwegenen Anspruch, unweit von Polessk (Labiau), im tiefsten sowjetischen Mief, „ein Stückchen von Ostpreußen so zu erhalten, wie es früher mal
war“. Dafür hat sie finanziell bluten und
manche Illusionen abhaken müssen. Denn
die Russen zockten die verrückte deutsche Marjell gnadenlos ab, stahlen ihr
das bei einer Kolchose untergebrachte
Vieh, zerschlugen die importierte Milchabfüllanlage.
206
Doch die schwer sehbehinderte Diabetikerin gab nicht auf. Jetzt hat sie für sündhaft teures Geld gleich neben dem einstigen
Gut ihres Onkels das verwahrloste Gebäude des Annenhofs gekauft, zwei Kilometer
vom Kurischen Haff entfernt inmitten von
Storchenkolonien. Es war das erste Mal,
dass in Kaliningrad eine Deutsche mit Zustimmung Moskaus ganz offiziell russisches
Staatseigentum erwerben durfte. „Ich nehme doch auch nichts mit, sondern will nur
beim Aufbau hier helfen“, sagt die 70-Jährige, „dieses Land braucht Menschen, die das
Leben bejahen; auch die Stadt Königsberg
wird immer fröhlicher.“
Bunter und vitaler ist Russlands westlicher Vorposten an der Ostsee in den letzten Jahren ganz gewiss geworden. Aber
auch politisch unruhiger. Kaliningrad, wie
Königsberg heute heißt, wird geplagt von
Selbstzweifeln und Zukunftsängsten. Denn
dieses Gebiet mit knapp einer Million Einwohnern auf einem Schnipsel von bloß
15 000 Quadratkilometern ist seit dem Auseinanderbrechen des Sowjetimperiums
eine russische Insel weit von Russland
entfernt.
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Bis Berlin sind es von der Stadt am Pregel nur 550 Kilometer, nach Moskau doppelt so viele. Außerdem ist die Exklave umgeben von Staaten, die in die Europäische
Union und Nato drängen. Das mag beim
Baltikum noch 10 oder 15 Jahre dauern.
Nur: Was wird danach aus dem eingeschlossenen Kaliningrad?
Fällt der Norden Ostpreußens dann wie
ein reifer Apfel Polen oder Litauen zu?
Wird Russland seinen Klotz an der Ostsee
verscherbeln wie einst den Vasallen DDR?
Oder findet die Region gleichsam über eine
weiche EU-Assoziation selbst ihren Weg
nach Westen?
„Die Jungen hier wollen alle nach Europa, die Alten haben Angst“, sagt Wadim
Weichselberger, Besitzer der Imbiss-Stube
am Prospekt Mira gegenüber der Königin-Luise-Gedächtniskirche, seit Sowjetzeiten ein Puppentheater. Die Entscheidung über diese politische Frage liege indes nicht bei den Kaliningradern, räsoniert
der aus Usbekistan vertriebene Russlanddeutsche, „vielleicht schaffen wir einmal als vierter baltischer Staat den EUAnschluss“.
FOTOS: I. SAREMBO (li.); KEYSTONE (re.)
mal als vierter baltischer Staat den Anschluss an die Europäische Union“
Das wird dauern. Noch immer steht der
Gründervater des Sowjetstaates ehern auf
seinem Podest am Platz des Sieges unweit
des alten Nordbahnhofs mit dem Säulenportal. Missmutig blickt Lenin auf die Zeichen der neuen Zeit: auf westliche Werbesprüche und Konsumverlockungen; auf die
Busse mit deutschen Nostalgietouristen;
auf Plakatwände mit dem Konkurrenzkampf der Bierbrauereien (die einheimische trägt wieder den alten deutschen Namen „Ostmark“); auf ein Transparent, das
den Erweckungsbesuch des deutschen Pastors Wegner ankündigt („Christus für die
ganze Welt“).
Kaliningrad sei heute „die fortschrittlichste“ aller Regionen Russlands, sagt der
Herr der „Gebietsmacht“, Leonid Gorbenko, 60. Seit drei Jahren amtiert der gebürtige Ukrainer und frühere Chef des
Fischereihafens als Gouverneur – bullig,
kumpelhaft, bieder. Ins Amt gehievt wurde er mit den Stimmen der Kommunisten,
von denen er sich danach politisch rasch
abseilte. Sechs Ikonen schmücken Gorbenkos Arbeitszimmer, und Blickfang auf
seinem Schreibtisch ist ein Kreuz im Bernsteinblock.
Den Fortschritt definiert der Gouverneur
mit geschönten Wirtschaftsdaten (siehe Interview Seite 211), die freilich sein lokaler
Geheimdienstchef unlängst öffentlich bezweifelt hat. „Leider sind wir verwundbarer als jede andere russische Region“,
beschrieb Konteradmiral Gennadij Moschkow in der „Kaliningradskaja prawda“ die
Schwachstellen der Ostseeprovinz: Zusammenbruch der Staatsbetriebe und der
Landwirtschaft, Rückgang der Industrie-
produktion seit 1990 auf ein Viertel, Halbierung der Getreideernte und Fleischproduktion, zunehmende Abhängigkeit von
importierten Lebensmitteln und Energieträgern, horrende Arbeitslosenzahlen und
wachsende soziale Spannungen.
Der Gouverneur gerät in Wallung, wird
er mit dieser Analyse seines Chefspions
konfrontiert („Wo war denn der Admiral,
als alles auseinander fiel?“). Doch er gesteht ein, dass es vor allem den Rentnern
mies geht. Von denen gibt es in der einstigen Militärfestung etwa 200 000, und die
meisten schlagen sich mit 350 Rubel (etwa
25 Mark) im Monat durch. „Das ist unsere
Schande“, sagt Gorbenko.
Schweden
Klaipeda
(Memel)
Russland
Lettland
Gewiss: Im Vergleich zu den umliegenden baltischen Staaten und Polen ist Kaliningrad ein Armenhaus, für die „Frankfurter Allgemeine“ gar der „Ostsee-Slum“.
Doch die Stadt boomt, quillt über von
West-Autos, die Läden sind voll mit kaufkräftigen Kunden, in Restaurants und Discos vergnügt sich das junge Volk.
Die Schattenseiten dieses Booms haben
Russlands westlichster Hafenstadt allerdings ein paar makabre Spitzenplätze
verschafft: Kaliningrad hat pro Einwohner
die meisten HIV-Infizierten, HepatitisErkrankten und Krebstoten in der Russischen Föderation, die meisten Prostituierten und die höchste Scheidungsrate. Eine
„führende Rolle“ kann die Ostseeprovinz auch beim Bierkonsum und beim
Schmuggel von Zigaretten, Rauschgift oder
Gebrauchtwagen aus dem Westen beanspruchen.
„Aufreibend und prickelnd“ sei das
Leben in dieser Stadt, sagt Louise Wolfram. Ihr Mann ist Pastor der evangelisch-lutherischen Gemeinde Kaliningrads.
Die zählt mal gerade 1200 Seelen, hat
aber seit April ein protziges neues Gemeindezentrum. Machtvoll wie eine Ordensburg steht der rote Backsteinbau
mit den hohen, bunt verglasten Fenstern
und den auseinander gezogenen beiden
Türmen am Ende des Prospekt Mira auf
dem Gelände des ehemaligen Luisenfriedhofs.
Vergebens hatten sich die Lutheraner
zuvor bei der Gebietsadministration um
die Rückgabe des notdürftig wieder hergerichteten Doms oder einer der anderen
sechs noch erhaltenen Kirchen bemüht.
Der Neubau, finanziert überwiegend von
der deutschen Evangelischen Kirche der
Union, kostete 2,2 Millionen Mark.
Propst Erhard Wolfram freut sich über
eine „wachsende Gemeinde“. Deren
Kern sind hauptsächlich Russlanddeutsche, die aus den zentralasiatischen Repu-
Die russische Exklave
Kaliningrad
Litauen
Polen
0
Belorussland
L I T A U E N
Kurische
Nehrung
Ostsee
Polessk
(Labiau)
Frisches
Haff
d e r
Kaliningrad
(Königsberg)
40
M e m el
Kurisches
Haff
Baltijsk
(Pillau)
20
Kilometer
Sowjetsk
(Tilsit)
K a l i n i n g r a d
Pregel
Tschernjachowsk
(Insterburg)
Jasnaja
Poljana
(Trakehnen)
P O L E N
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Ausland
Verstümmelt bis unter die Grasnarbe
Ostpreußen, jahrzehntelang als militärisches Sperrgebiet ein Land des Schweigens, könnte
Russlands Vorhut auf dem Weg nach Europa werden. Von Arno Surminski
E
I. SAREMBO
TELEPRESS
inst fuhren die Postkutschen von St. Petersburg über Berlin
nach Paris. Machten sie auf
halbem Wege im preußischen Königsberg Station,
konnten die Reisenden,
wenn sie in der Abenddämmerung vom Schloss zur
Dominsel wanderten, eiSurminski
nem zierlichen Männlein
begegnen, das sein Lebtag nie die Stadt
verlassen und doch eine weltumspannende Philosophie erdacht hatte. Heute steht
sein Denkmal auf einem leeren Platz der
Stadt Kaliningrad. Kant ist die letzte
Brücke, die das alte Königsberg mit dem
neuen Kaliningrad verbindet, verehrt
auch von denen, die es nach 1945 aus den
Weiten Russlands zum westlichsten Vorposten der Sowjetunion verschlug.
Die verbindende Funktion, die der
nordöstliche Zipfel Preußens einst hatte,
ist mit den Katastrophen des 20. Jahrhunderts verloren gegangen. Preußisch- Enthüllung des Kant-Denkmals (1992)
Litauen wurde zum Grenzland, es war Letzte Brücke zum alten Königsberg
Schlachtfeld im Ersten Weltkrieg und Aufmarschgebiet für das barbarische Unter- was aus ihren Kindheitserinnerungen genehmen Barbarossa im Zweiten. 1945 ge- worden war. Sie hatten die Erwartung,
schah diesem Land und seiner Stadt et- wenigstens eine unveränderte Landschaft
was Sonderbares: Sie tauchten unter, vorzufinden, aber ihnen begegnete eine
wurden zu weißen Flecken auf den Kar- verwüstete Stadt und ein Land, dessen
Verstümmelungen bis unter die Grasten, eine Terra incognita.
Die Stadt verlor ihren Namen, Kali- narbe reichten: Dörfer vom Erdboden
ningrad wurde zum militärischen Sperr- verschwunden, unbestellte Felder, eine
gebiet, fast ein halbes Jahrhundert durf- versteppte Landschaft mit armseligen
te kein Reisender die verbotene Stadt Viehherden, begleitet von Papirossy
betreten. Die Bernsteinsucher an den rauchenden Reitern.
Geblieben sind ein paar Eichen- und
Küsten des Samlandes und der Kurischen Nehrung trugen andere Namen, Lindenalleen, die letzten Anknüpfungsdie kurischen Fischer verschlug es zum punkte für strapazierte Erinnerungen.
westlichen Ufer des Baltischen Meeres Das Gebiet Kaliningrad bietet einen erschreckenden Kontrast zu dem im Nornach Ostholstein.
Nirgends war der Eiserne Vorhang so den angrenzenden Litauen und den aneisern wie im nördlichen Ostpreußen. sehnlichen Regionen Ermland und MaWährend zu den jetzt polnischen Provin- suren im polnischen Süden. Nicht die
zen des deutschen Ostens bald Briefkon- Zerstörung Königsbergs im Sommer 1944
takte möglich wurden, alte und neue Be- ist bemerkenswert – dergleichen geschah
wohner sich begegneten und näher ka- vielen Städten –, sondern der trostlose
men, war Kaliningrad bis zur politischen Zustand von heute, der den Besucher
Wende in Osteuropa ein Land des glauben lässt, der Krieg sei vorgestern zu
Schweigens. Die untergegangene Insel Ende gegangen.
Frage an den Taxifahrer, der in einem
tauchte 1990 auf, die ersten Besucher, die
sie betreten durften, erschraken. Die alten Mercedes, den er beim Abzug der
meisten von ihnen waren im nördlichen russischen Truppen in Magdeburg erworOstpreußen geboren und wollten sehen, ben hat, westliche Touristen spazieren
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fährt: „Warum muss das so sein?“ Wladimir weiß eine plausible Erklärung: „Wenn
Stadt und Land 50 Jahre dem Militär
gehören, sehen sie so aus, wie sie aussehen; das Militär kann eben nichts
anderes.“
Die Auflösung der Sowjetunion machte
Kaliningrad zu einer russischen Exklave.
Nach 1990 begannen die Spekulationen,
was aus der westlichen Insel Russlands
in einer nicht gerade russlandfreundlichen
Umgebung werden sollte. Polen kann
sich eine Wiedervereinigung des nördlichen mit dem südlichen Ostpreußen unter dem polnischen Adler durchaus vorstellen. Litauen glaubt, alte Rechte an
Preußisch-Litauen zu haben; vor 150
Jahren sprach ein Drittel der Bewohner
dieses Gebietes Litauisch.
Auch die deutsche Seite zerbricht sich
den Kopf über die Zukunft Kaliningrads.
Die Politik hält sich wohltuend zurück,
wohl wissend, dass jedes laute Denken zu
Irritationen bei Polen, Litauern und Russen führen müsste. Die meisten Heimweh-Touristen, die nach dem Auftauchen
der untergegangenen Insel Nordostpreußen besuchten, kehrten enttäuscht
heim und schlossen diese Schublade der
Erinnerungen für immer. Einige können
den traurigen Zustand nicht ertragen. Mit
rührender Anhänglichkeit spenden sie für
Kaliningrader Waisen- und Krankenhäuser, schaffen Kleidung und Medikamente
in die Stadt ihrer Kindheit, um sie wieder
herzurichten und ansehnlich zu machen.
Arno Surminski, 65, gebürtiger Ostpreuße und Schriftsteller („Sommer vierundvierzig“), lebt in Hamburg.
FOTOS: P. KASSIN
I. SAREMBO
Gelegentlich hat die Hilfs- und Spendebereitschaft auch einen politischen
Hintergedanken. Es gibt eine kleine
Heim-ins-Reich-Bewegung, die sich nicht
damit begnügt, Steine für den Dombau
zu sammeln, sondern es schon gern sähe,
wenn über dem Dom wieder die deutsche Fahne wehte. Als Umweg zu diesem
Ziel ist die Ansiedlung von Russlanddeutschen in die Wege geleitet worden.
Die Deutschen aus Kasachstan sollten
nicht nur aller Welt zeigen, was deutsche
Tüchtigkeit zu bewerkstelligen vermag,
sie sollten auch die offenkundige „Überfremdung“ nach und nach in eine deutsche Mehrheit umkehren.
Diese Umtriebe haben die Stimmung
umschlagen lassen. Das nationale Denken, das auch in Russland an Boden gewinnt, verbietet jeden Ausverkauf der
Kriegseroberung Kaliningrad, an wen
auch immer.
„Soll Kaliningrad wieder deutsch werden?“, fragt der Redakteur des örtlichen
Radiosenders. Es ist eine listige Frage.
„Nein, nie wieder deutsch, einen Geist
kann man nicht kaufen“, erkläre ich.
„Und wie soll es weitergehen?“, fragt
er. Vergesst alles Nationale, kommt nach
Europa. Wenn Polen und Litauen der
EU beitreten, könnte auch Kaliningrad als russische Vorhut ein Teil Europas
werden. Preußisch-Litauen wieder eine
Brücke. Die Reisenden, die auf einer
bisher nur angedachten Autobahn von
St. Petersburg über Tallinn, Riga, Königsberg und Stettin nach Europa fahren, machen Rast in der Stadt am Pregel
und besuchen das Denkmal des kleinen Mannes mit den großen Gedanken.
Aber bis dahin ist es noch ein weiter
Weg.
bliken es einstigen Sowjetacht Jahren nicht abgelöst
reichs flüchten mussten.
wurde. Der Admiral, desAn die 10 000 haben sich
sen Kreuzer und U-Boote
unterdessen in Russlands
vor der Samlandküste in
westlichster Ecke eingeBaltijsk (Pillau) liegen, rerichtet. Die meisten von
sidiert im Gebäude der alihnen wollen dort bleiten preußischen Oberpostben und nicht weiter westdirektion. Dort befand sich
wärts nach Deutschland
der Gefechtsstand des „Festrecken, weil sie russitungskommandanten“, Gesche Ehepartner haben
neral Otto Lasch, als Staund die deutsche Sprache
lins Rote Armee im April
nur bruchstückhaft be- Pastor Wolfram
1945 zum Sturm auf Köherrschen.
nigsberg ansetzte.
Die Evangelischen in
Allerdings räumt der
ihrem schönen neuen GeFlottenchef ein, dass die
meindezentrum sehen ein
mit der Regermanisieweites Missionsfeld. Sie
rungsfurcht verknüpfte
wollen sich jetzt an der
Frage, ob Moskau womögArmenspeisung in der
lich einmal zur Tilgung seiStadt beteiligen, „damit die
ner Auslandsschulden den
Bevölkerung sieht“, so des
Verkauf von Kaliningrad
Pastors rigorose Gefährtin,
offerieren könnte, „eine
„dass wir nicht nur in der
beunruhigende Wirkung
eigenen Suppe schwimfür das Gebiet hat“. Einige
men“. Louise Wolfram ist
„Amtsträger“, grummelt
gebürtige Königsbergerin.
der Admiral, spielten dieSie glaubt, dass die von der
ses Thema von Zeit zu Zeit
Kirche angebotene humaunnötig hoch.
nitäre Hilfe willkommen
Da hat der Militär wohl
ist. Doch es darf auch nicht
den Gouverneur im Fadenzu viel sein, denn gerakreuz. Gorbenko belebt
de für Deutsche sei die Ar- Heimkehrerin Trautmann
die Diskussion um die Zubeit in Kaliningrad „eine
kunft der Ostseeprovinz
Art Gratwanderung; die Russen haben bisweilen mit apokalyptischen ÄußerunAngst, wir wollten hier wieder die Kralle gen, um von Moskau neue Subventionen
drauflegen“.
zu erstreiten. Denn mit den FördermitDas Thema Regermanisierungsängste ist teln hapert es seit dem Zerfall der Sowjet„wie eine Welle, die sich hebt und senkt“, union, der in der „Sonderwirtschaftszone“
sagt gelassen der Admiral Wladimir Jego- Kaliningrad vor allem die einseitig für
row, 60, Chef der russischen Baltischen Militär und Weltraumtechnik produzieFlotte und neben dem Oberkommandie- renden Staatsunternehmen in den Kollaps
renden Boris Jelzin der einzige Befehls- trieb.
haber in Russland, der in den letzten
Die Zukunftszweifel wurzeln auch in
einem Gerücht, das nie überzeugend dementiert wurde. Michail Gorbatschow, so
Kurische Nehrung
verlautete aus russischen wie deutschen
Strapazierte Erinnerungen
Polit-Quellen, habe 1991 Bundeskanzler
Helmut Kohl den Verkauf von Kaliningrad
für 70 Milliarden Mark angedient. Jelzin
habe diese Offerte später erneuert. Der
Altkanzler, um Auskunft ersucht, lässt ausrichten, er sei „nicht bereit, zu diesem Thema etwas zu sagen“. Sein ehemaliger
Chefdiplomat Hans-Dietrich Genscher
hält das Ganze für eine „völlig freie Erfindung“.
Admiral Jegorow, vielleicht Kaliningrads
nächster Gouverneur, ist da vorsichtiger:
„In absehbarer Zeit“, sagt der feingeistige
Militär, sei keine Veränderung des Gebietsstatus erkennbar, „und die Anwesenheit unserer Flotte ist der beruhigende Faktor“.
So beruhigend allerdings nun auch wieder nicht, denn die Flotte hat Versorgungsund Zahlungsprobleme. „Ein ärmliches
Ostseekommando, umzingelt von NatoLändern“, lautete unlängst das deprimierende Urteil einer russischen Komman209
Ausland
deurstagung über Kaliningrads eingeschränkte Verteidigungsbereitschaft. So
steht die Baltische Flotte bei kommunalen
Diensten, Energie- und Lebensmittellieferanten mit über einer Milliarde Rubel (derzeit etwa 72 Millionen Mark) in der Kreide – unter anderem auch deshalb, weil
Moskau im vergangenen Jahr nicht einmal
ein Prozent der versprochenen Budgetmittel überwiesen hat. Von sonderlichem
Interesse an einem Hochpäppeln der bedrängten Exklave zeugt das nicht.
„Wir hatten schon schlimmere Zeiten“,
spielt Admiral Jegorow die Schwierigkeiten
herunter. Die Flotte versorge sich nunmehr
zu 70 Prozent selbst aus den ihr gehörenden drei Landwirtschaftssowchosen mit
den höchsten Produktivitätsziffern im Gebiet. Im Übrigen sei die Personalstärke bei
den Truppen in einem Umbau radikal abgesenkt worden auf eine Gesamtzahl von
jetzt 25000 Mann, das Gerede von der „Militärzitadelle Kaliningrad“, voll gestopft
mit Atomraketen, schlicht ein Märchen.
„Diese Präsenz genügt, um die Interessen
Russlands zu garantieren“, sinniert Jegorow, „noch mehr militärische Macht konnte auch die Sowjetunion nicht vorm Verfall
bewahren; entscheidend ist die Vernunft
der Politiker.“
Von denen glaubt der an seinem Comeback arbeitende Ex-Gouverneur Jurij Matotschkin, ein Mann ohne ideologische
Scheuklappen, „dass Berlin uns bald näher
ist als Moskau“. Wie Matotschkin sieht
auch Stephan Stein, rühriger Vertreter der
deutschen Wirtschaft und speziell der
Hamburger Handelskammer, die Chance
Kaliningrads, „sich zu einem wirtschaftlichen und logistischen Knotenpunkt zwischen der EU, Russland und den übrigen
Anrainern zu entwickeln“.
Allerdings blockiert Russlands politische
Instabilität das Engagement westlicher Investoren. Immerhin hat sich jetzt sogar
BMW auf das Wagnis eingelassen, mit
Awtotor in Kaliningrad aus 1300 Einzelteilen für den russischen Markt die 5er Limousine zu montieren.
Dabei ist der Norden Ostpreußens, einst
Deutschlands Kornkammer, eine reiche
Region. Es gibt Erdöl dort und 95 Prozent
der weltweit geförderten Bernsteinvorkommen. Und über die grandiose Kurische Nehrung fand schon der Wissenschaftler und Weltenbummler Wilhelm von
Humboldt, man müsse sie wie Spanien
und Italien gesehen haben, soll „einem
nicht ein wunderbares Bild in der Seele
fehlen“.
„Wenn jeder ein bisschen hilft, geht es
schneller mit dem Aufbau“, verbreitet die
Ostpreußen-Heimkehrerin Ursula Trautmann unbeirrbaren Optimismus. Den Annenhof will sie in ein Prunkstück verwandeln und dann mit den russischen Nachbarn eine große Sause feiern: „Es ist doch
völlig egal, wer hier regiert – es ist und
bleibt Ostpreußen.“
Olaf Ihlau
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L. JAKUTIN
Baltische Russland-Flotte: „Keine Angst vor Regermanisierung“
„Untrennbarer Teil Russlands“
SPIEGEL: Herr Gouverneur, auf dem Territorium des Gebiets Kaliningrad sind noch
manche Spuren der deutschen Vergangenheit auszumachen. Wie lebt es sich in einer
Stadt, die nach einem großen Bolschewiken benannt ist?
Gorbenko: Als ein Mensch, der sich für die
Geschichte interessiert, bin ich gegen eine
Änderung historischer Namen. Wir waren
kaum geboren, als die Stadt nach dem sowjetischen Staatspräsidenten Kalinin benannt wurde. Ich möchte so eine Entscheidung den nachfolgenden Generationen
überlassen. Jetzt gibt es Wichtigeres zu tun.
SPIEGEL: Zum Beispiel?
Gorbenko: Wir müssen das Gebiet zu einem prosperierenden Territorium entwickeln. Besonders dringend ist, dass wir
jetzt Gasleitungen verlegen in Ortschaften, die noch nicht an das Energienetz angeschlossen sind. Immerhin haben wir aber
die Schdanow-Straße jetzt wieder in
Brahmsstraße umbenannt.
SPIEGEL: Mit dem alten Königsberg hat die
Stadt freilich kaum noch etwas gemein.
Gorbenko: Ich kam 1956 in das Gebiet. Ich
kann mich noch an den damaligen Zustand
erinnern, an die Ruinen. Von Königsberg
sind nur vier Prozent erhalten geblieben,
der Rest wurde zerstört, und zwar im
Krieg. Dass hernach noch das Schloss gesprengt wurde, tut mir weh.
SPIEGEL: Was ist für Sie aus der deutschen
Geschichte wert, in die Zukunft übernommen zu werden?
Gorbenko: Russland und Deutschland sollten immer in einer Allianz stehen, das ist
zunächst mal meine Überzeugung. Mir gefällt sehr, dass wir jetzt das Gedenken an
Immanuel Kant weiterpflegen und ein Museum für diesen großen Philosophen eingerichtet haben.
Ich möchte auch die Traditionen der Universität wieder beleben, der Albertina.
A. SCHABUNIN
Kaliningrad-Gouverneur Leonid Gorbenko
über die Zukunft von Moskaus Ostseeprovinz
Admiral Jegorow, Gouverneur Gorbenko
„Von Königsberg vier Prozent erhalten“
Außerdem wünsche ich mir die deutsche
Teilnahme an einer Wiederherstellung der
Stadttore.
SPIEGEL: Furcht vor einer Regermanisierung des Kaliningrader Gebiets, wie sie
zeitweise wegen des Zuzugs von Russlanddeutschen bestand, haben Sie nicht?
Gorbenko: Ich habe keine Angst vor Regermanisierung. Ich habe ja auch keine Angst
vor dem Islam.
SPIEGEL: Irritiert Sie das Aufkreuzen deutscher Rechtsextremisten im Kaliningrader
Gebiet mit dem Ziel, russlanddeutsche Zuwanderer einzuspannen?
Gorbenko: Das wollen wir lieber in unserer
Seele schlummern lassen, wir passen da
schon auf.
SPIEGEL: Was ist derzeit Ihre größte Sorge?
Gorbenko: Für einen pragmatischen Politiker ist das der Lebensstandard der Leute,
wie überall in Russland, und die Lebensqualität. Mit der Krise in Russland ist alles
noch schwieriger geworden. Aber im Vergleich zu den anderen 88 Regionen Russlands können wir uns nicht beklagen.
SPIEGEL: Worauf gründen sich solch optimistische Töne?
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Gorbenko: Unsere Industriebetriebe arbeiten jetzt zu 80 bis 90 Prozent im Vergleich
mit 1996. Über eine große neue Werft haben wir Verträge in Deutschland abgeschlossen, ein Kontrakt wurde sogar in der
Handelskammer Hamburg unterschrieben.
SPIEGEL: Allerdings hat Ihr Sicherheitschef,
Admiral Gennadij Moschkow, unlängst in
der „Kaliningradskaja prawda“ dargelegt,
es stünde ganz schlecht um das Kaliningrader Gebiet: Die Industrieproduktion sei
seit 1990 fast zum Erliegen gekommen.
Gorbenko: Sie sollten den Admiral fragen,
wo er war, als alles auseinander fiel. Ich arbeite hier erst zweieinhalb Jahre als Gouverneur, er arbeitet schon viel länger in seiner Funktion. Er hat mit eigenen Augen zugesehen, wie das alles zusammenbrach.Wo
war er denn damals? Es war eine seiner
Pflichten, die Zerstörung zu verhindern.
SPIEGEL: Wie hätte sich denn der Zusammenbruch der sowjetischen Staatswirtschaft verhindern lassen?
Gorbenko: Voriges Jahr war ich in Deutschland. Wir besuchten eine ehemalige Kolchose in der ehemaligen DDR, 40 Kilometer entfernt von Berlin. Was mir gefiel:
Da ist nichts zerstört, sondern die Kolchose ist in eine Genossenschaft umgewandelt
worden. Da wurde alles auf deutsche Art
gemacht, jeder bekam ein Grundstück, die
Kühe sind im Kollektiveigentum verblieben, auch der Schweinebestand, die Geflügelfarm. Das Unternehmen beliefert
jetzt Krankenhäuser und Schulen. Wir hätten das genauso machen können. Wo war
der Admiral da? Sprechen wir nicht mehr
über ihn.
SPIEGEL: Die Umstellung eines Staatsbetriebs auf die Privatwirtschaft …
Gorbenko: … betreiben wir jetzt mit Verspätung. Wo das möglich ist, tun wir auch
dasselbe wie Sie. Wir haben circa 30 kooperative Betriebe gegründet. Die Zahl der
privaten Landwirte stieg um 1500 in einem
Jahr. Jetzt versorgen wir uns selbst zu 50
Prozent mit Lebensmitteln …
SPIEGEL: … Ostpreußen war einmal eine
Kornkammer.
Gorbenko: … früher mussten wir sogar
85 Prozent der Nahrungsmittel einführen. Futtergetreide, Schweinefleisch, Eier,
Milchprodukte, auch Kartoffeln produzieren wir jetzt zu 100 Prozent selbst. Natürlich werden Kiwi importiert, Bananen und
Wassermelonen, Snickers, Twix, Mars.
SPIEGEL: Halten Sie langfristig einen Sonderstatus der Kaliningrader Exklave in der
EU für erstrebenswert?
Gorbenko: Nach der russischen Verfassung
müssen wir die Beziehungen zu unseren
Nachbarn in Übereinstimmung mit dem
Außenministerium in Moskau entwickeln.
Aber wir betrachten uns als ein Territorium, das die EU mit Russland verbinden
kann. Wir wollen Offshore-Zonen, freie
Zollzonen.
SPIEGEL: Das Kaliningrader Gebiet ist bald
eine Insel, umgeben von EU-Staaten.
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Ausland
Gorbenko: Deshalb rede ich nicht von Inte-
Gorbenko: Das war in Berlin, da habe ich
auf eine entsprechende Journalisten-Frage zurückgefragt: Warum geht es hier nur
um das Gebiet Kaliningrad? Warum geht es
nicht um das Gebiet Memel? Um Gdansk?
Denn Kaliningrad besteht nicht völlig aus
deutschen Mauern, vielleicht ein Viertel,
wenn nicht ein Fünftel ist davon noch da.
SPIEGEL: Anlass für diese Diskussion waren
Gerüchte, Gorbatschow habe dem Kanzler
Kohl angeboten, Kaliningrad für 70 Milliarden Mark zu kaufen.
Gorbenko: Es gab viele solcher Gerüchte,
verbreitet von Politikern in den Nachbarländern oder auf der Ebene kleiner Parteien. Offiziell kenne ich kein derartiges Statement. In Gorbatschows Zweiplus-Vier-Vertrag von 1990 geht es um das
Territorium der Bundesrepublik, und da
kommt das Kaliningrader Gebiet nicht
vor. Der Vertrag betrifft die Unverletzlichkeit der Grenzen in den Nachkriegsjahren. Da kann man sich eben auch an manches andere erinnern. Die Geschichte
Europas ist die Geschichte der
Grenzen Europas.
SPIEGEL: Solche ständig wiederkehrenden Gerüchte müssen doch die
Bevölkerung hier beunruhigen.
Gorbenko: Ich habe mir von unserem russischen Außenministerium
die Unterlagen zusammenstellen
lassen, die dokumentieren, warum
dieses Gebiet als ein untrennbarer
Teil Russlands gilt. Darauf verweise ich unsere ältere Generation.
Aber solange internationale Beziehungen bestehen, werden wir zu
einer Zusammenarbeit finden, und
es wird nichts geben, was uns auseinander bringt.Wir sind Anhänger
einer Vernunftpolitik.
Kartoffelernte bei Kaliningrad: „Auf deutsche Art“
SPIEGEL: Haben Sie mitunter das
Gefühl, Kaliningrad sei manchem
SPIEGEL: Die Läden in Kaliningrad sind voll in Moskau lästig, sozusagen ein Klotz am
mit Importwaren, die Regale der Geschäf- Bein?
te gefüllt. Doch wie kann hier eine Rent- Gorbenko: Vielleicht für faule Leute, nicht
nerin mit 350 Rubel im Monat leben? Die für die Repräsentanten des Staates. Einige
sind in der Wechselstube 25 Mark wert.
Politiker meinen: Je kleiner ein Staat ist,
Gorbenko: Das ist unser Leid und unsere desto regierbarer ist er. Ich kann diese AufSchande. Wir nehmen das wahr. Das Ren- fassung nicht teilen. Ja, ein kleiner Betrieb
tenniveau beleidigt unsere ältere Genera- kann leichter verwaltet werden, aber er hat
tion, und zwar ungebührend. Wir versu- weniger Kapazität. Ein größerer Staat ist
chen zumindest, gezielt Hilfe zu leisten für schwerer zu regieren, aber er hat entspredie weniger gut Situierten, die Kriegsteil- chend mehr Möglichkeiten, mehr Leistung
nehmer, die Alten, die Kranken und allein zu bringen. Russland hat im Fernen Osten
stehenden Mütter oder Leute, die ihre den Hafen Port Arthur an China abgegeben.
Ist Russland dadurch reicher geworden?
Habe verloren haben.
Gewiss: Das Rentenniveau ist niedrig. Aber SPIEGEL: Deutschland ist immer reicher geimmerhin kriegen die Leute ihre Rente bei worden, je kleiner es wurde.
uns noch regelmäßig und pünktlich. Auch Gorbenko: Ich denke nicht so. Deutschland
Lehrern und Ärzten werden die Lohnaus- hat aber nach dem Krieg nachgedacht, welzahlungen nicht gestundet.
chen Weg man einschlagen muss. Unser
SPIEGEL: Vor zwei Jahren stießen Sie selbst Präsident Jelzin sagt, dass gerade der deuteine Diskussion in den Lokalblättern an, sche Föderalismus, eine gewisse Selbstänman müsse damit rechnen, dass Moskau digkeit der Regionen gegenüber der Zenirgendwann einmal Kaliningrad verkaufen trale, für Russland passt. Das ist auch meikönne, um die riesigen Schulden aus So- ne Meinung.
wjetzeiten zu begleichen.
Interview: Olaf Ihlau, Fritjof Meyer
I. SAREMBO
gration, sondern lieber von Kooperation
mit der EU, und zwar im Produktionsbereich. Wir haben 1336 Joint Ventures mit
ausländischen Firmen. 30 davon arbeiten
gut, unter anderem auch deutsch-russische
Gemeinschaftsunternehmen.
SPIEGEL: Ist unser Eindruck richtig, dass die
ältere Generation Angst vor der Zukunft
hat, während die Jungen sehr offen nach
Europa schauen, auch zum einstigen
Kriegsgegner Deutschland?
Gorbenko: Ich habe Respekt vor der älteren
Generation, und die respektiert auch die
Interessen der nachfolgenden Generation.
Jeder Krieg wird doch mit einem Frieden
abgeschlossen. Russland hat mit allen
gekämpft, mit Japan, Afghanistan, der Türkei, Italien, Rumänien, Frankreich, England, den USA. Das ist doch auch längst
überwunden. Wann immer Deutschland
und Russland aber in Frieden miteinander
gelebt haben, ist es beiden Seiten wohl ergangen.
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Ausland
G R O S S B R I TA N N I E N
Tag für Tag unglaubliche Wunder
Verrottende Krankenhäuser, lange Wartelisten, chronische Geldknappheit –
der Zustand des Gesundheitswesens ist unerfreulich, es wird dennoch hoch geschätzt.
N
ur eines scheint das staatliche Gesundheitswesen des Vereinigten Königreichs im Überfluss zu produzieren – Horrorgeschichten. Die von Amy
King zum Beispiel: Ihr Enkel David fand
die 103-Jährige bewusstlos in ihrer Londoner Wohnung und rief eine Ambulanz. Die
kam auch sofort, doch von der Einlieferung ins North-Middlesex-Krankenhaus bis
zur Verlegung auf eine Station vergingen 28
Stunden.
Die verbrachte die herzschwache Greisin zitternd und weinend auf einer Krankentrage, mit der sie in immer neue Ecken
und Flure der Notaufnahme abgeschoben wurde, schlimmstenfalls der Neugier,
bestenfalls dem Mitleid der Putzfrauen
ausgesetzt.
Oder die von Ian Weir, 38. Dem Diabetiker, Vater von zwei Kindern, sollte ein
Bypass gelegt werden. Weil er wusste, dass
ihm kaum noch Zeit blieb, schrieb er einen
Brief an Premier Tony Blair und erinnerte
ihn damit an all die schönen Wahlkampfversprechen zur Reform des Gesundheitswesens.
Weir starb nach sieben Monaten Wartezeit. Briten mit mehr Glück müssen sich
derzeit gut zwölf Monate bis zu ihren
Herzoperationen gedulden. Dass der Eingriff auch wirklich innerhalb eines Jahres
erfolgt, ist allerdings trotz einschlägiger
Verpflichtungen der Krankenhäuser nicht
garantiert: Mehr als die Hälfte der Hospitäler lassen in Einzelfällen sogar Wartezeiten bis zu 18 Monaten zu.
Wer in Großbritannien krank wird, muss
sich in große Geduld fassen: Derzeit warten 1 094 300 Briten auf einen Platz im
Krankenhaus. Ende August hatte sich allein
in London eine Schlange von 82 344 Patienten gebildet, die bereits länger als drei
Monate auf ihren ersten Termin bei einem
Facharzt warten. Hinter den
endlosen Wartezeiten verbirgt sich ein starres System
der Rationierung medizinischer Versorgung.
Patienten
wird
eine
notwendige Dialyse verweigert. Ärzte knausern mit
Kernspintomografien, weil
das Jahresbudget bereits ver-
216
braucht ist. Senioren, die auf einen Hüftersatz warten, wird eine so niedrige Priorität eingeräumt, dass sich das Problem
nicht selten auf biologische Weise regelt.
Manche Rentner belasten ihre Häuser lieber mit neuen Hypotheken, um die Operation privat zu bezahlen.
Kein Wunder, dass Patienten zuweilen
ausrasten: Ende August griff ein Vater, der
seinen Sohn wieder einmal vergebens in
die Kinderarzt-Praxis eines West-Londoner Krankenhauses gebracht hatte, vier
Krankenpfleger an. Erfolg:
Der Mann steht wegen Körperverletzung vor Gericht,
einer der Pfleger fällt wegen
eines gebrochenen Arms für
Wochen aus.
Der zuständige LabourStaatsminister John Denham
gibt resigniert zu, Großbritannien sei „noch Lichtjahre“ von einem schnellen
Krankenservice entfernt. Immerhin, Sprecher des Gesundheitsministeriums sind
Premier Blair*
PA / DPA
* Beim Blutdruckmessen in einer
Schwesternschule in Cardiff Anfang
Februar.
Krankenzimmer im Hospital in Bedford: Durchhalten im Chaos
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schon froh darüber, dass die große Mehrzahl der Facharzt-Patienten innerhalb eines halben Jahres, die der KrankenhausPatienten innerhalb eines Jahres behandelt wird.
Leider unter größtenteils unwürdigen
Umständen. Im renommierten Londoner
St. Thomas’s Hospital, das zu Beginn des
12. Jahrhunderts gegründet worden war
und in dem Florence Nightingale im
19. Jahrhundert die Schwesternausbildung
revolutionierte, liegen durchschnittlich
28 Patienten in einem Zimmer; die Privatsphäre auch Schwerkranker wird allenfalls durch Vorhänge gewahrt.
Von den Wänden der chaotisch zusammengestückelten Gebäude blättert der
Putz. Für die Wochenenden kann sich das
Krankenhaus schon lange keinen Reinigungsdienst mehr leisten. Rollstühle sind
Mangelware, und selbst die wenigen vorhandenen werden von Pflegern versteckt,
um bei Bedarf einen parat zu haben.
Durchhaltevermögen in diesem Chaos
ist die wichtigste Eigenschaft, ohne die
kein Arzt, keine Schwester, kein Verwal-
M. MEYER / NETWORK
tungsangestellter seinen Beruf ausfüllen
könnte.
Und doch produziert das britische
Gesundheitswesen Tag für Tag ein unglaubliches Wunder: Die Patienten sind
mit dem System grundsätzlich zufrieden.
Der National Health Service (NHS), der
jedem Bürger kostenlose Behandlung
verspricht und der aus Steuermitteln zentral finanziert wird, sei der „Neid der
ganzen Welt“, behaupten Politiker aller
Couleur bis auf den heutigen Tag.
Die Gleichheit vor
dem Arzt wird im noch
immer von Klassengegensätzen gezeichneten
Großbritannien als unverzichtbare soziale Errungenschaft angesehen. Gesundheitsminister Frank Dobson kann
ohne Protestgeschrei
verkünden: „Unser Gesundheitswesen ist die
populärste Einrichtung
des Landes, der größte
Erfolg der Labour Party
und ein wahrer Leuchtturm für die Welt.“
Trotz allen Zorns über
lange Wartezeiten, über
verrottende Krankenhäuser und andere Widrigkeiten sind die Briten derzeit nicht bereit, ihren NHS gegen
ein anders organisiertes
und dadurch womöglich
großzügiger ausgestattetes Gesundheitswesen
einzutauschen. Nur drei
Prozent der Befragten gaben in einer Umfrage an, dass sie eine notwendige Behandlung aus finanziellen Gründen nicht
erhalten konnten – etwa, weil eine als zu
aufwendig betrachtete Therapie nicht über
das NHS erhältlich gewesen wäre. In den
USA, wo private Krankenversicherung die
vorherrschende Form der Gesundheitsfürsorge darstellt, mussten 53 Prozent der
Amerikaner schon mal aus finanziellen
Gründen auf eine bestimmte Behandlung
verzichten.
44 Prozent der Briten erklärten, ihre Familienärzte seien sogar abends und an Wochenenden zu Hausbesuchen erschienen.
Dagegen wusste nur ein Prozent aller USBürger von einem solchen Service zu berichten. Lediglich 14 Prozent der Briten
halten das staatliche Gesundheitswesen für
unhaltbar und würden es lieber durch ein
anderes System ersetzen. Immerhin: 12,4
Prozent haben eine private Versicherung
abgeschlossen.
Wie andere westliche Industriestaaten
auch steht Großbritannien vor dem Paradox, dass eine immer gesündere Gesellschaft immer mehr Mittel aufwendet, um
d e r
noch gesünder zu werden. Allein in der
letzten Dekade stiegen die Ausgaben des
NHS von 23 Milliarden Pfund auf heute
48 Milliarden Pfund an, etwa 144 Milliarden Mark.
Und genau wie in anderen Staaten wird
diese Kostenspirale durch eine ausufernde
Diagnostik angetrieben: Immer genauere
Tests und Untersuchungen führen zu immer aufwendigeren Therapien, wobei allerdings die Diskrepanz zwischen dem gigantischen Aufwand und den tatsächlichen
Gesundheitsfortschritten der Bevölkerung
zunehmend deutlicher wird.
Doch während die Kostensteigerungen
in den USA mit ihren privaten, in Deutschland mit dem Mischsystem aus privaten
und gesetzlichen Versicherungen kaum
noch finanzierbar sind, mag in Großbritannien kaum jemand von einer Existenzkrise des Gesundheitswesens sprechen. Der
Konsens für ein staatlich finanziertes Gesundheitswesen bleibt unangetastet.
Hatte der konservative Parteichef Winston Churchill bei der Gründung des NHS
vor 51 Jahren noch über die „sozialistische
Extravaganz“ des neuen Systems gelästert,
konnte es nicht einmal die überzeugte
Marktwirtschaftlerin Thatcher riskieren,
das Gesundheitswesen wieder zu privatisieren. Ihr derzeitiger Nachfolger, Oppositionschef William Hague, verschmäht sogar
eine teure privatärztliche Behandlung und
lässt sich kostenlos durch die öffentliche
Hand kurieren.
Und das geschieht weitaus kostengünstiger als in anderen Ländern: Insgesamt gaben die Briten 1997 für die Wiederherstellung ihrer Gesundheit 52,3 Milliarden
Pfund (156,9 Milliarden Mark) privat und
über den NHS aus – 6,7 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts. Den Deutschen war
ihre Gesundheit 10,4, den Amerikanern sogar 14 Prozent wert. Pro Kopf waren das in
Großbritannien 889 Pfund (2667 Mark), in
Deutschland mit 4902 Mark fast das Doppelte, in den USA sogar 7491 Mark.
Doch die dramatischen Kostenunterschiede spiegeln sich längst nicht in allen
Gesundheitsstatistiken wider. So liegt die
Lebenserwartung britischer Männer mit
74,5 Jahren sogar noch über der von Männern in Deutschland (73,2) und in den USA
(73). Auch die Britinnen leben, wenn auch
knapp, länger als deutsche oder US-amerikanische Frauen. Ihre Lebenserwartung
liegt bei 79,8, die deutscher Frauen bei
79,7, die amerikanischer bei 79 Jahren.
Bei der Kindersterblichkeit hält das
Vereinigte Königreich mit 6,2 Toten auf 1000
Lebendgeburten einen Mittelplatz zwischen Deutschland (5,6) und den USA (7,2).
Für England und Wales allein genommen, fallen viele Zahlen sogar deutlich besser aus als in den Vergleichsländern. An
Lungentumoren sterben in Deutschland
jährlich 68 Männer pro 100 000 Einwohner
der Altersgruppe von 35 bis 64, in England
und Wales nur 50; bei Schlaganfällen von
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217
Ausland
ren auf den Intensivstationen aller Londoner Krankenhäuser zusammen nur noch
zwei Betten verfügbar.
Dennoch wird es wohl keine deutlichen
oder schnellen Erfolge im Kampf gegen die
Wartezeiten geben. Im Gegenteil: Allgemeinärzte in den Krankenhäusern, die
über das NHS höchstens 61 000 Pfund
(183 000 Mark) verdienen, wollen immer
größere Freiräume erkämpfen, um durch
private Behandlungen ihre Gehälter aufzubessern.
Viele Reformer schlagen deshalb eine höhere Kostenbeteiligung der Patienten vor, um den
NHS besser auszustatten. Bisher
müssen die Briten lediglich eine
Rezeptgebühr von 5,80 Pfund sowie Zuschüsse zu Brillen und
Zahnersatz zahlen.
Solche Vorschläge rühren bei
Labour an dunkelste Erinnerungen. Als 1951, drei Jahre nachdem
die kostenlose Behandlung eingeführt worden war, dem NHS zum
ersten Mal Finanzprobleme drohten, musste Labour Selbstbeteiligungen einführen. Der damalige
Gesundheitsminister Aneurin Bevan, Gründer des staatlichen Gesundheitswesens, trat aus Protest zurück.Wenig später verlor Labour die Wahlen.
Deshalb wollen die Genossen auch heute im Zweifel lieber mit den Defiziten ihres Systems leben. Schon Bevan, einer der
wenigen Labour-Helden, die von Traditionalisten wie Modernisierern gleichermaßen gefeiert werden, hatte gewusst, dass
chronischer Geldmangel bei der medizinischen Versorgung auch durch den großzügigsten Staat nicht behoben werden kann:
„Die Erwartungen der Patienten werden
die Leistungsfähigkeit des Systems immer
übertreffen.“
Hans Hoyng
PA / DPA
Männern im Alter zwischen 45 und 64 Jah- des Gesundheitswesens verknüpft ist, und
ren belaufen sich die Todesraten auf 43 in deshalb kämpft er für andere Umstände.
Deutschland und 38 in England und Wales. Obwohl sich New Labour in den ersten
Nur durchweg schlechte Zahlen in den me- Jahren in manchen Bereichen an die Spardizinisch unterversorgten Regionen von vorgaben ihrer konservativen Vorgänger
Schottland und Nordirland verdüstern die gehalten hat, will Blair jetzt 20 Milliarden
insgesamt erstaunliche Statistik des so ver- Pfund (60 Milliarden Mark) zusätzlich für
rufenen britischen NHS.
das NHS ausgeben. Nur ein geringer Teil
Bei der Behandlung erkrankter Herz- davon soll für Gehaltsaufbesserungen vor
kranzgefäße indes zeigen die Zahlen im allem der unterbezahlten KrankenschwesVergleich zu Deutschland und
den Vereinigten Staaten erheblichen Nachholbedarf für das Inselreich. An Herzinfarkten sterben im Alter zwischen 45 und 64
Jahren in den USA 196, in
Deutschland 184, in Großbritannien aber 243 Männer pro 100 000
Einwohner.
Im Ausland genießt Britanniens
staatliche Zuteilungsmedizin einen denkbar schlechten Ruf. Helmut Kohl nutzte das Modell im
vorigen Wahlkampf, um Stimmung für das deutsche Gesundheitswesen zu machen. „Niemals“
würde Deutschland, so der damalige Unionskanzler, „ein System Krankenhauspatient in London*: Mitleid der Putzfrau
akzeptieren, das gerade älteren
Menschen den Zugang zu moderner Me- tern und Pfleger (Höchstgehalt: 28 240
dizin verwehrt“.
Pfund jährlich) ausgegeben werden. NeuBritanniens Politiker würden solche einstellungen sollen dagegen helfen, die
Alarmrufe nicht einmal verstehen. In einer Wartelisten zu verkürzen.
Grundsatzerklärung der Labour-Regierung
Die sind lange überfällig. Angetrieben
heißt es ohne falsche Bescheidenheit: „Der durch die Regierung, arbeiteten die britidurch Steuern finanzierte NHS ist der schen Krankenhäuser im vorigen Winter
fairste und wirksamste Weg zur Gesund- etwa so hart am Rande ihrer Kapazität,
heitsversorgung der gesamten Bevölke- dass eine Grippewelle von nicht einmal
rung. Die Systeme in anderen Ländern kos- besonders schweren Ausmaßen das ganze
ten mehr, sind weniger gerecht und bieten System bedrohte. An einzelnen Tagen waallenfalls geringen zusätzlichen Nutzen.“
Dennoch weiß auch Tony Blair, dass das * Im Gang des Whittington Hospitals, wo er stundenlang
Ansehen seiner Regierung eng mit der im- auf die Untersuchung des behandelnden Arztes warten
mer wieder versprochenen Modernisierung musste.
USA
Immer bergan
Er war Spitzensportler und
Erfolgsautor. Jetzt ist der
demokratische Präsidentschaftsbewerber Bill Bradley
parteiinterner Rivale von Al Gore.
US-Senat gewählt. Drei Amtszeiten lang
vertrat er dort seine Wahlheimat New Jersey und machte sich einen Namen als Wirtschaftsexperte und Vorkämpfer für die
Rechte der Schwarzen.
Bradley verblüffte seine Kollegen öfter
auch durch wenig parteikonformes Verhalten: Zwar befürwortete er die legale Abtreibung, focht gegen die Diskriminierung
von Schwulen und Lesben und für schärfere Waffengesetze; aber er bewilligte immerhin Gelder für Nicaraguas Contras.
Ausscheidungen in den bevölkerungsreichsten Bundesstaaten New York und
Kalifornien, sind die alles entscheidende
Hürde im Nominierungsmarathon. Auch
könnte sich noch ein weiterer Star fürs
Rennen melden: Hollywood-Schauspieler
Warren Beatty, 62.
Die Kosten für Anzeigen, Broschüren
und Werbespots machen die Wahlkampagne zum aufwendigen Millionenspiel. Zwar
verfügt Bradley über finanzstarke Freunde
aus der Sport- und Unterhaltungsbranche.
REUTERS
D
Bewerber Bradley, Ehefrau in Crystal City: „Erneuerung des amerikanischen Traums“
Aber als bitterer Kritiker der von Lobbyisten bezahlten Wahlkämpfe will er sich
für seine Kampagne auf das gesetzlich festgelegte Spenden-Limit von 1000 Dollar Direktzuwendungen pro Gönner beschränken. Dennoch haben seine Fans rund
13 Millionen Dollar lockergemacht – genug, um die Gore-Fraktion, die bisher rund
17 Millionen Dollar gesammelt hat, das
Fürchten zu lehren.
Trotzdem, sagt Ehefrau Ernestine Schlant Bradley mit unverkennbar bayerischem Akzent, es werde „noch ein sehr
langes Rennen“ werden. Und
was noch wichtiger ist: „Es geht
immer bergauf.“
Dass eine gebürtige Deutsche First Lady werden könnte,
hält sie nicht für einen Nachteil: „Als Einwanderer bin ich
doch die wirklich urtypische
Amerikanerin.“
Auch die Nachbarn von
Vize Gore, Präsident Clinton: „Mit besten Manieren“
der Taylor Street sehen das
höchste Amt der Vereinigten Staaten zu. Paar als Bewohner im Weißen Haus.
Bradleys Freunde in Crystal City „Bradley schafft es“, brummt Henry
schwören, ihr Bill sei ein „feiner Kerl“ und Bryant, 82, auf der Veranda von Nummer
ganz klar der richtige Präsidentschafts- 41 und beugt sich verschwörerisch aus seikandidat; doch der Ex-Senator muss vor nem Schaukelstuhl: „Wie nannten ihn
allem noch die demokratischen Partei- seine Teamkameraden, als er noch Basgänger in New Hampshire und Iowa von ketball bei den New Yorker Knicks spielseinen Zielen überzeugen. Diese Vorwah- te? Jawohl, sie nannten ihn ,Mister
len Anfang nächsten Jahres, gefolgt von President‘.“
Stefan Simons
Nach 18 Jahren in der Gesetzgebungsmaschinerie zog Bradley sich 1996 aus der
„kaputten Politik“ zurück, wie er es nannte. Er scheffelte Millionenhonorare als Unternehmensberater. Nebenbei schrieb er
seine Memoiren und Bücher über Steuerreform und Basketball, betätigte sich als
Fernseh-Kommentator.
Jetzt marschiert „der Mann auf dem
Sprung“ („Time“) zielstrebig auf das
GAMMA / STUDIO X
ie Häuser entlang der Taylor Street
strahlen in properem Beige, in
Blassblau oder Schweinchenrosa,
die Fenster sind geputzt und die US-Flaggen gehisst. Das satte Grün der Vorgärten
ist bürstenkurz getrimmt wie das Haupthaar eines US-Marine: Crystal City, Missouri, 4088 Einwohner, drei Schulen, drei
Kneipen und eine Meile mit Tankstellen,
Supermärkten und Fast-Food-Hallen, ist
eine zeitlose Inszenierung der amerikanischen Idylle.
Hierhin, zu seinen Wurzeln, ist der große
Sohn der Stadt zurückgekehrt. Auf dem
Schulhof seiner High School, flankiert von
der aus Passau stammenden Ehefrau Ernestine, verkündet Bill Bradley, 56, vor
Wimpel schwenkenden Mitbürgern: „Ich
trete an, um Präsident der Vereinigten
Staaten zu werden, ich will die Erneuerung des amerikanischen Traums.“
Anfang des Jahres war der Hüne von
1,96 Metern noch ein mitleidig belächelter
Außenseiter. Seitdem hat er sich in den
Meinungsumfragen immer dichter an
Vizepräsident Al Gore herangearbeitet.
Viele Demokraten sind sicher, dass ihre
Partei mit dem integren Bradley bessere
Chancen bei den Wahlen am 7. November
2000 hätte als mit dem in acht skandalträchtigen Jahren verbrauchten Vizepräsidenten Al Gore.
Wichtiger noch für die stetig steigende
Popularität des zweiten demokratischen
Mitbewerbers ist jedoch seine Erfolgsvita.
„Amerikaner wählen keinen Normalsterblichen in das höchste Amt“, schreibt
die „Washington Post“. Neben dem brillanten Mann aus Missouri verblasst der
dröge Stellvertreter Bill Clintons fast zum
Mann ohne Eigenschaften.
Als Al Gore Ende der sechziger Jahre in
Harvard nur als „Student mit den besten
Manieren“ auffiel, war Bradley schon ein
nationales Idol: An der Elite-Universität Princeton und in Oxford glänzte er
mit sportlichen und akademischen Bestleistungen; 1964, in Tokio, führte er das
US-Basketball-Team zum Sieg über die
Sowjet-Mannschaft und holte olympisches
Gold.
Dann wechselte Bradley mit Erfolg zum
Profi-Sport. Er gewann zweimal die Meisterschaft mit den „New York Knicks“ und
begann schließlich seine dritte Laufbahn:
1978 wurde er für die Demokraten in den
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JARDAI / MODUS
Ausland
Präsident Prodi mit Mitgliedern der neuen EU-Kommission: „Es kommt darauf an, die Lasten gerecht zu verteilen“
E U R O PA
„Das kann keiner kalkulieren“
Der designierte Kommissar Günter Verheugen über die Kosten der EU-Erweiterung und die
unterschiedlichen Chancen der mittel- und osteuropäischen Beitrittsanwärter
220
SPIEGEL: Mit einem für die EU-Erweiterung
zuständigen Deutschen wird Berlin in besonderer Weise in die Pflicht genommen,
vor allem bei den Kosten.
Verheugen: Ich hörte die Aussage, die OstErweiterung ist ein deutsches Baby, und
ihr müsst dafür bezahlen, noch im vergangenen Jahr in Paris und anderswo in aller
Kälte. Hier hat sich etwas verändert.
SPIEGEL: Der geltende Finanzrahmen der
EU reicht nur bis 2006. Danach, wenn die
M. URBAN
SPIEGEL: Herr Verheugen, Alt-Bundespräsident Roman Herzog sagt, die Deutschen seien selbstverliebt mit Berlin beschäftigt, Brüssel aber sei wichtiger, das
Amt eines EU-Kommissars gewichtiger
als das eines Bundesministers. Das gefällt
Ihnen?
Verheugen: Ja, mit einer Einschränkung:
Das Amt des Kommissars ist sicherlich
nicht gewichtiger als das jedes Bundesministers. Für mich ist es die Krönung meiner
politischen Laufbahn. Ich bin leidenschaftlicher Europäer, war aber tief geprägt
von dem Vorurteil, dass Europa vor allem
eine unbewegliche Bürokratie ist.
SPIEGEL: Das haben Sie mit Ihrem NochChef Gerhard Schröder gemeinsam.
Verheugen: Wir beide haben spätestens
während der deutschen EU-Präsidentschaft
gelernt, dass dies nicht so ist. Herzog hat
Recht. Die Gewichte der Politik werden
sich in den nächsten Jahren noch stärker
von den Nationalstaaten weg hin nach
Brüssel verlagern.
SPIEGEL: Hatten Sie wirklich nur ein Vorurteil?
Verheugen: Ja. Die Kritik muss in erster Linie an den Mitgliedstaaten geübt werden,
die nicht zulassen mögen, dass die europäischen Institutionen stärker sind. Und
die sich nicht darauf verständigen, wohin
wir eigentlich mit diesem Europa wollen.
Verheugen beim SPIEGEL-Gespräch
„Ich bin leidenschaftlicher Europäer“
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ärmeren Oststaaten erst mal Vollmitglieder sind, wird es richtig teuer.
Verheugen: Die finanzielle Vorausschau
sieht 22 Milliarden Euro für die Vorbeitrittshilfen und 54 Milliarden Euro für erweiterungsbedingte Kosten nach dem Beitritt
vor. Ob die fällig werden, kann noch keiner
sagen. Dieser Betrag reicht in jedem Fall.
Was die nächste finanzielle Vorausschau
für die Zeit nach 2006 bringt, wenn die Beitritte wahrscheinlich vollzogen sind, wage
ich nicht vorherzusehen. Das kann keiner
heute kalkulieren. Dann allerdings kommt
es darauf an, die Lasten gerecht zu verteilen. Rabatte, wie sie jetzt die Briten bekommen, kann es nicht mehr geben.
SPIEGEL: Das ist ja das Abenteuerliche an
dieser ganzen Ost-Erweiterung. Sie zucken
mit den Achseln und sagen, über die wirklichen Kosten wissen wir nichts. Sie und
Romano Prodi gehen 2004 in Ruhestand.
Was danach kommt, schert Sie nicht mehr.
Verheugen: Nein. Die Kosten werden beherrschbar bleiben, weil jede Volkswirtschaft nur eine begrenzte Absorptionsfähigkeit hat und weil die Strukturmaßnahmen sich rentieren werden, das heißt,
es steigen auch die Einnahmen.
SPIEGEL: Und beim Umweltschutz?
Verheugen: Hier werden die EU-Standards
von keinem Land bis zum Beitrittstermin
erreicht. Die EU rechnet mit 120 Milliarden
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Ausland
REUTERS
Euro an Umweltkosten im
SPIEGEL: Tschechien wird
Osten, berechnet auf die
nicht in der ersten Beitrittsnächsten 20 Jahre. Ich halte
gruppe sein?
das für weit unterschätzt.
Verheugen: Ob der Beitritt
Das wird, selbst bei einem
in Gruppen vollzogen wird,
anderen Preisniveau, sehr
weiß noch keiner. Es kann
viel teurer. Die Alt-Mitglieauch individuelle Beitritte
der müssen akzeptieren,
geben. Im Augenblick hadass die neuen Mitglieder
ben alle noch dieselben
noch eine Zeitlang zu niedChancen.
rigeren Umweltstandards
SPIEGEL: Die Tschechen laproduzieren dürfen und so
gen mal vorne.
gewisse WettbewerbsvorteiVerheugen: Nein, das war
le haben.
Fassade. Die frühere tschechische Regierung des
SPIEGEL: Wie lange?
Václav Klaus war wirklich
Verheugen: Ich warne zwar
der Meinung, dass die EU
vor dem süßen Gift der Prags Premier Klaus (1997)
der Tschechischen Republik
Übergangsfristen.Wenn wir
wesentliche Bereiche lange aus dem ge- beitritt und nicht umgekehrt. Deshalb hat
meinsamen Binnenmarkt herausnehmen, sie die Verhandlungen nicht sonderlich
haben wir keine wirkliche EU-Erweite- ernst genommen. Klaus wollte nicht mehr
rung, sondern Teilmitgliedschaften. Das als eine Freihandelszone und nicht wirklich
will ich nicht. Im Umweltbereich aber wird volle EU-Mitgliedschaft. Jetzt haben wir
es mindestens für ein paar Jahre ohne in Prag eine sozialdemokratische MinderÜbergangsfristen nicht gehen, weil das heitsregierung, die wirklich die volle Integration will. Die tschechische Regierung
Geld nicht aufgebracht werden kann.
SPIEGEL: Polen und Ungarn fordern auch weiß, dass sie noch Zeit braucht. Deshalb
beim freien Kapitalverkehr Übergangsfris- redet sie nicht über Daten und verlangt
ten von 18 Jahren bis zur Freigabe des auch keine.
Bodenerwerbs.
SPIEGEL: Unwillen über den EU-Beitritt
Verheugen: Wenn wir die Freiheit des Ka- und seine schmerzhaften Vorleistungen
pitalverkehrs auch herausnehmen, bleibt wächst auch in Polen oder Slowenien.
vom Binnenmarkt fast gar nichts mehr Verheugen: Die Eliten dieser Länder sind
übrig. Investitionskapital aus anderen Län- für diesen Integrationsprozess, selbst wenn
dern kommt dann nicht. Niemand ist ver- er Opfer kostet. Wie lange aber hält die
pflichtet, Boden zu verkaufen. Ich werde Zustimmung der Öffentlichkeit an? Das ist
mein Dilemma: Mache ich zu schnell, kriege ich Probleme in den Mitgliedstaaten,
„Die Gewichte der Politik
weil dann die Bedingungen aufgeweicht
werden sich noch stärker nach
wären. Mache ich zu langsam, kriege ich
Brüssel verlagern“
Probleme bei den Kandidaten.
SPIEGEL: London und Paris machen außernicht mit der Absicht verhandeln, hier dem Druck, jetzt auch Beitrittsverhandüberhaupt Übergangsfristen zuzulassen.
lungen mit Rumänien und Bulgarien zu beSPIEGEL: Aus Angst vor billigen Arbeits- ginnen, obwohl sich diese Entwicklungskräften aus Polen verlangt auch der Westen länder eindeutig nicht qualifiziert haben.
lange Übergangsfristen beim freien Perso- Verheugen: Ich habe den Willen der Mitnenverkehr.
gliedstaaten zu berücksichtigen, die ja
Verheugen: In der deutschen Bundesregie- letztlich über die Erweiterung entscheiden
rung gibt es Vorstellungen, man könne das müssen. Ich kann damit leben, wenn man
bis zu 18 Jahren ausdehnen. Ich rate dazu, beim Gipfel in Helsinki sagt: Wir fangen an,
sehr rational dann zu entscheiden, wenn mit der zweiten Gruppe geschlossen zu
man absehen kann, ob es wirklich zu ei- verhandeln, differenzieren aber dann entnem unbeherrschbaren Zustrom auf die sprechend den Gegebenheiten.
Arbeitsmärkte kommt. Ich sehe das nicht. SPIEGEL: Verhandlungen machen nur Sinn,
Ich weiß aber, dass es ohne Fristen beim wenn man zu einem vernünftigen ZeitPersonenverkehr weder in Deutschland punkt zum Abschluss kommen will. Die
noch in Österreich die Zustimmung zur EU gerät unter Verhandlungsdruck.
Ost-Erweiterung gibt. Während des Über- Verheugen: Nein, nein. Man muss nur ehrgangs könnte man den Zuzug von Ar- lich bleiben und Rumänien und Bulgarien
beitskräften über Quoten regeln.
sagen, dass sie nicht genauso schnell fertig
SPIEGEL: Welche Länder treten denn als sein werden wie Lettland oder Malta.
erste bei und wann?
SPIEGEL: Wie groß ist die Gefahr, dass man
Verheugen: Wir verhandeln jetzt schon mit dann auch beim Beitritt selbst beide Augen
sechs Staaten – Polen, Tschechien, Ungarn, zudrückt und Länder aufnimmt, die nicht
Slowenien, Estland und Zypern. Die Grup- reif sind?
pe ist noch dicht zusammen. Aber die Verheugen: Das darf nicht sein. Wenn die
dicksten Brocken kommen in den Ver- EU-Regierungschefs meinen sollten, sohandlungen erst noch.
ziale, finanzielle und ökonomische Folgen
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interessieren uns nicht, uns ist außenpoli- ein mittelfristiges Energiekonzept ohne die
tische Stabilität wichtiger und wir machen tickenden Zeitbomben. Das wird die EU
das jetzt, werden sie es nicht ganz leicht ha- mitfinanzieren müssen, auch über Darleben. Sie bekommen es mit einer Kommis- hen. Man kann nicht sagen, das Geld haben
sion zu tun, die sich querlegt: Augenblick wir nicht. Und dann passiert ein zweites
mal, dies ist ein Bissen, an dem wir er- Tschernobyl. Keiner, der dann noch lebt,
sticken können.
würde diese Kurzsichtigkeit begreifen.
SPIEGEL: Auch die Kandidaten machen SPIEGEL: Kann eine EU, der bald 20 und
Druck. Der polnische Wirtschaftsminister mehr Staaten mit über 400 Millionen Mensagt im SPIEGEL: 2003 sind wir drin.
schen angehören, überhaupt noch funkVerheugen: Ich begrüße sehr, dass sich die tionieren?
Polen so ein anspruchsvolles Ziel setzen. Verheugen: Es ist ja jetzt schon sehr schwieDarüber wollen wir reden, wenn die rig, die Entscheidungsprozesse zu fünfschwierigen Kapitel zu verhandeln sind. zehnt sind bereits außerordentlich mühPolen kann sich immer darauf verlassen, sam. Die EU kann künftig nur funktioniedass der größte Partner in der EU – jeden- ren, wenn wir wegkommen vom Vetorecht
falls in der Tendenz – die polnischen In- der Mitgliedstaaten und übergehen zur
tentionen unterstützt. Und wenn Deutsch- Mehrheitsentscheidung als Regel und daland das tut, macht Frankreich das vermutlich auch.
Weil Polen im Erweiterungsprozess für Deutschland das wichtigste Land
ist, sollte sich Deutschland
in Polen so stark wie möglich engagieren.
SPIEGEL: Der polnische
Wirtschaftsminister sagt
auch, seine Bauern dürfen
nicht diskriminiert werden,
sie müssen alle Subventionen bekommen, die die anderen EU-Bauern auch erhalten.
Verheugen: Der Berliner
Beschluss ist vollkommen
klar: Die Agenda 2000 Verheugen, SPIEGEL-Redakteure*: „Voll auf Prodis Linie“
sieht
Einkommensausgleichszahlungen an die Bauern der Bei- von nur Bestimmungen mit Verfassungstrittsländer nicht vor. Diese Direktzahlun- charakter und Entscheidungen über den
gen gehen an die Landwirte der Alt-EU, Einsatz militärischer Mittel und die finanweil sie Einkommensverluste erleiden, ziellen Verpflichtungen ausnehmen.
wenn jetzt Brüssel die garantierten Ab- SPIEGEL: Wo endet für Sie Europa? Die
nahmepreise für Agrarprodukte in Rich- Ukrainer wollen in die EU, Kroatien, Bostung Weltmarkt-Preisniveau senkt. Die pol- nien und Serbien auch.
nischen Bauern aber produzieren unter Verheugen: Die EU wird sich erweitern um
Weltmarktpreis und können daher keine die Staaten, die jetzt im ErweiterungsproAusgleichszahlungen bekommen.
zess sind und möglicherweise einige weniSPIEGEL: Die Polen sagen, bis wir in der EU ge andere, wie zum Beispiel die Schweiz.
sind, liegen wir auf Weltmarkt-Preisniveau. Für alle anderen, die sozusagen EU-ErVerheugen: Das stimmt nicht, die Zah- wartungsland sind, wird es eine andere
len geben das jedenfalls im Augenblick Heranführungsstrategie geben müssen, die
zunächst nicht auf Vollmitgliedschaft annicht her.
SPIEGEL: Teurer als geplant wird wohl auch gelegt ist. Zunächst sollte die regionale
das Problem der hoch gefährlichen Atom- politische und wirtschaftliche Integration
meiler bei den Ländern der zweiten Bei- vorangetrieben werden, auch institutionell
angekoppelt an die EU. Es ergäbe sich dann
trittswelle?
Verheugen: Ich will es zur Voraussetzung eine echte Assoziierung, nicht mehr und
für die Aufnahme von Beitrittsverhandlun- nicht weniger. Erst danach kann die volle
gen machen, dass bis zum Gipfel in Helsinki Mitgliedschaft anvisiert werden.
im Dezember ein für die EU hinnehmbarer SPIEGEL: Wie verstehen Sie sich inzwischen
verbindlicher Plan vorliegt, wann diese acht mit Ihrem neuen Chef? Sie haben Prodi
nicht nachrüstbaren Blöcke in Litauen, Bul- vorgeworfen, bei der Kandidatenauswahl
garien und der Slowakei abgeschaltet wer- eine „Blutspur“ durch Europa zu ziehen.
den. In allen drei Ländern ist diese Frage Verheugen: Das war ein ironisch gemeinter
außerordentlich umstritten. Aber hier blei- Hinweis, den er nicht in den falschen Hals
be ich absolut kompromisslos. Ich verlange gekriegt hat. Ich bin voll auf Prodis Linie.
SPIEGEL: Herr Verheugen, wir danken Ihnen
* Martin Doerry und Dirk Koch.
für dieses Gespräch.
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M. URBAN
Ausland
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Ausland
ALPEN
Das unheimliche
Scharnier Europas
Im Massiv des Montblanc hat sich die Gebirgswelt radikal
verändert. Der Brand im Tunnel hat Chamonix und das Aostatal
von seinen Nachbarn abgeschnitten. Die Bewohner
fürchten Schlimmes: Der höchste Berg Europas ist nicht mehr stabil.
Br
e
228
auf dem Gletscher eine Eis- und Schneelawine aus. „Sie raste mit einer Geschwindigkeit von 360 Stundenkilometern in das
Val Veny am Südfuß des Montblanc hinab“, erläutert Hans-Rudolf Keusen, ein
Geologe und Gerichtsgutachter aus dem
schweizerischen Bern. Keusen schätzt, dass
insgesamt zehn Millionen Tonnen Fels, Eis
und Schnee in rasender Bewegung waren,
„ein Ereignis, wie ich es bis dahin nicht
gekannt habe“.
Für die Bergführer von Courmayeur,
dem Hauptort am Ende des Aostatals, steht
der alpine Schauplatz seither auf dem
Kopf. „Die Route am Brenvasporn ist unmöglich geworden – zu gefährlich. Und die
anderen Ostwandtouren sind es auch“, sagt
Edy Grange im Bergführerbüro. Sogar die
Jahreszeiten scheinen sich verkehrt zu haben. „Man kann die Brenvaflanke jetzt bestenfalls
Barriere
Petit Dru (3733 m)
im Winter angehen, wenn
Montblanc
hoffentlich alles gefroren
Chamonix
ist“, so Grange.
Auf Courmayeur, zu
FRANKREICH
dem das gemütliche EnArve
Seilbahn
trèves mit seinem rauen alpinen Charme gehört, fällt
Montblanc-Tunnel
aber auch der Schatten ei11,6 Kilometer lang
Les Houches
nes anderen, noch größeRefuge des
ren Unglücks. Man lebt
Cosmiques
hier vom Tourismus, aber
GéantGletscher
nicht mehr wie gewohnt,
Brenvasporn
jedenfalls nicht mehr wie
Montblanc
vor dem verheerenden
Aiguille
(4807 m)
des Toules
Brand im Straßentunnel
(3534 m)
des Montblanc, bei dem im
nv
aMärz dieses Jahres 40
Gl
et
Menschen umkamen.
sch
Entrèves
er
Plötzlich sind die Gebirgler von ihren französiCoury
n
schen Nachbarn im Normayeur
e Mont
V
den des Massivs getrennt.
l
Chétif
Der einzige Weg nach
ITALIEN a
Chamonix führt über die
Gletscher, wie zur Zeit des
englischen Alpenpioniers
Adolphus W. Moore, der
3km
1865 erstmals den Brenvasporn bezwang.
V
D
er Hubschrauberpilot Ezio Oliva
muss aufpassen. Nebel steigen aus
dem Becken des Brenvagletschers
am Montblanc. Senkrecht darüber sieht
man ein Stück Himmel und die Ostwand
des Berges, die hier aufragt wie ein einziger unerhörter Abgrund.
Oliva ist in Entrèves gestartet, einem
Dorf im oberen Aostatal, in dem sich Steingebäude mit grauen Schindeldächern aus
Granit eng aneinander schmiegen. Man
huldigt hier dem Eindeutigen und Bodenständigen, auch einem amüsanten Divertimento ist man in der Heimat der Polenta
nicht abgeneigt.
In diesem Sommer aber sind die freundlichen Gesichter im Tal rar geworden, ergeben Nahaufnahmen des Alltäglichen ein
anderes Bild.
„Wir hatten immer viele Besucher, jetzt
ist es fast leer. Molto triste“, sagt Esterina
Vaudois, Besitzerin des ehrwürdigen Restaurants „Maison de Filippo“. Gut sei nur,
dass im Herbst wieder der Stammgast Juan
Carlos, König von Spanien, in der Gegend
auf die Jagd nach Gämsen gehe, begleitet
von einem Freund, dem Grafen Cinzano.
Damit Entrèves und den Herren nichts
geschieht, ist Oliva in die wilde und einsame Welt des Brenvakessels geflogen. Er
muss eine Felsenpyramide und eine Wand
darüber kontrollieren, aus der zwei Millionen Kubikmeter Gestein herausgebrochen sind. Sie stürzten auf die chaotische
Oberfläche des Gletschers hinab, aus dem
Eistürme aufragen wie Vampirzähne.
Oliva hält Abstand zu der finsteren
Flucht über ihm, weil Steinschlag den Helikopter treffen könnte. Hier, am so genannten Brenvasporn, hat die Regionalregierung von Aosta ein Frühwarnsystem installieren lassen. Es besteht aus Spiegeln,
die von einer Spezialkamera mit Infrarotlicht abgetastet werden. Die Kamera befindet sich fünf Kilometer entfernt auf dem
Mont Chétif, dem Skiberg von Entrèves.
Bei dem Bergsturz am 18. Januar 1997
waren zwei Skiläufer am Mont Chétif getötet worden. Denn die Felsmassen, die damals vom Brenvasporn prasselten, lösten
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Direktor Tropiano fällt es jetzt noch
schwer, den Schock des Tunnelfeuers zu
bewältigen. „Das Fett der Margarine
brannte heiß wie Öl, die Temperaturen
mussten 1300 Grad erreicht haben“, sagt er.
Sein Haar ist so weiß geworden wie der
Schnee des Montblanc selber. „Es war eine
halluzinative Szene. Alles war verbrannt
und geschmolzen, Lastwagen und Autos
konnte man nur grob unterscheiden.“
Tropiano ist ein aufmerksamer, sehr zuvorkommender Beamter, dessen Lebenslauf dramaturgisch genau auf das Amt am
Tunnel zugeschnitten war. Er war schon
im Juli 1965 bei der Einweihung dabei, damals als Verkehrseinweiser. Nun sitzt er in
einem modernen Glasbüro am Tunnel-Vorplatz, gleich vis-à-vis des Schnelllokals
„Autogrill“. Sein Blick schweift in die Gegenrichtung zu der Tunnelpforte, über der
sich die Schutthalde des Brenvagletschers
auftürmt wie eine Ruine.
„Der Tunnel ist zwischen den Fluchträumen 18 und 22 einen Kilometer lang zerstört“, erklärt Tropiano, „sogar der Boden
hat sich aufgelöst.“ Das will etwas heißen,
denn die Röhre besaß eine Betonschale,
FOTOS: J. HAGENMULLER / HOAQUI (gr.); AP ( kl.)
derwelt archaischer Urängste, die alle
Autofahrer in dem Tunnel gespürt haben.
Die Betreibergesellschaften haben sich
das Bauwerk einträchtig bis zur Mitte hin
geteilt und die Mautgelder auch. „Das war
wie bei einem Ehevertrag ,comunanza dei
beni‘, also mit Gütergemeinschaft“, erläutert Michele Tropiano, der Direktor des italienischen Abschnitts.
Doch eine Ausnahme bildeten der
Grenzverlauf und damit die Hoheitsrechte. Die Grenze verläuft unweit von Entrèves über den Granitzacken der Aiguille
des Toules. Darunter verläuft die Unglücksstrecke. Italien ist demnach juristisch
nur Herr über ein Drittel des Tunnels, in
dessen Eingeweiden ein Kühllastzug aus
Belgien Feuer fing und mit ihm 19 Tonnen
Mehl und Margarine.
Weil es an Kilometer 6,5 zu dem Brand
kam, in Tropianos Tunnelhälfte, aber noch
vor der Grenze unter der Aiguille des
Toules, ermittelt die Staatsanwaltschaft
Hochsavoyens im französischen Bonneville.
Sehr zum Entsetzen der italienischen Tunnelgesellschaft, denn die Staatsanwälte haben vor, noch im September das Feuer im
Montblanc-Massiv, ausgebrannte Tunnelröhre unter dem Géant-Gletscher: Die Staatsanwaltschaft will das Feuer neu entfachen
Die Menschen haben sich auf beiden
Seiten des Gebirges früh mit den Mechanismen der Massenzivilisation vertraut gemacht und sich ihnen ergeben. Vor allem
aber hat man den Montblanc mit den Stahlkabeln von Seilbahnen eingeschnürt wie
einen Rollbraten. Dann wurde die 11,6 Kilometer lange Tunnelröhre angelegt, die
sich allerdings nicht unter dem Monarchen
der Berge, sondern östlich von ihm unter
dem Géant-Gletscher erstreckt – 1300
Meter unter dem Eis, in einer engen Son-
Tunnel erneut anzufachen: mit einem baugleichen 40-Tonnen-Volvo und wieder mit
19 Tonnen Mehl und Margarine, die ein
Raub der Flammen werden sollen.
Der aufwendige Ortstermin hat in Aosta
wilde Spekulationen ausgelöst. Es ist die
Rede davon, dass im Brandmüll des Tunnels, in dem 10 Autos und 25 Lastwagen
verglühten, Reste von Heroin entdeckt
wurden. Ein Gerücht besagt, dass unter
dem Mehl des originalen „Frigo-Volvo“
Heroinbeutel gestapelt waren.
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die 40 Zentimeter bis zwei Meter dick war,
je nach der Ausbildung des Felsenhintergrunds.
So schlimm war das Zerstörungswerk,
dass die Franzosen nur mit Bulldozern auf
ihrem Hoheitsgebiet vorankamen. Bis Mitte Juni war die Kripo mit der Totenbergung beschäftigt, und erst Ende Juli gelang es, die letzten Lastwagen aus dem
Tunnel zu hieven, durch den jährlich 15
Millionen Tonnen Fracht befördert wurden. Das entspricht der Hälfte des Waren229
AESOPE
oder auch nicht.“ Andere haben sich
schlicht in der Adresse geirrt, zum
Beispiel die Familie von Carsten
Heinze auf der Heimfahrt aus den
Ferien nach Kopenhagen.
Heinze lehnt am Heck seines zitronengelben Suzuki-Wagon. „Wir
hörten von einem Tunnel, in dem es
vor ein paar Monaten gebrannt hat.
Aber wir dachten, das sei der Tunnel am Großen St. Bernhard. Man
kann ja nicht alles wissen.“
Am Anfang der Serpentinen befindet sich die Großtankstelle des
Piazzale della Funivia. Sie ist das
Reich des Pächters Piero Ceseracciu,
der in diesem Weltwinkel schon viele Katastrophen erlebt hat. Sein Umsatz ist um 85 Prozent eingebrochen, von acht Mitarbeitern hat er
nur noch einen, und der fegt meistens nur den Asphalt zwischen den
verwaisten Zapfsäulen. „Das merkt
man an der Autostrada bis nach
Mailand und Turin“, sagt er, „hier
sind immerhin bis zu 4000 Lastwagen am Tag vorbeigefahren.“
Auch die Reisebusse aus Frankreich fehlen, die durch den Montblanc-Tunnel ins Italienische gerollt waren. „Die haben gehalten, um den Berg anzusehen und dann hier zu essen“, erzählt
Giorgio Gialdrone, dessen Brasserie für
dicke, dampfende Spaghetti bekannt ist.
„Ohne den Verkehr ist es schöner, aber
auch trauriger geworden. Wir hatten schon
in der Hochsaison 20 Prozent weniger Gäste, wie soll das erst im Winter werden?“
Das südliche Montblanc-Massiv ist eine
Welt dramatisch komponierter Bilder, der
Kargheit und elementaren Kraft. Die neue
Zeit ohne die „Tir“, wie in Italien Lastwagen auf Grund des alten Zollkürzels genannt werden, kommt vielen wie die
Zurückgewinnung eines Paradieses vor.
Überall, die Tankstellen ausgenommen,
hängen Poster mit der Forderung „Sagt
nein zu den Lkw“. Eine Unterschriftensammlung hat bisher 30 000 Eintragungen
gegen die Rückkehr der Schwergewichte
ergeben.
Bei 1,8 Millionen Fahrzeugen, darunter
800 000 Tir, die jährlich den Tunnel pas-
FOTOS: FOURMY / REA / LAIF (li.); M. MATZEL / DAS FOTOARCHIV
austauschs zwischen Frankreich
und Italien.
Der Durchstich am Montblanc
werde erst im Herbst nächsten Jahres wieder befahrbar sein, heißt es
im jüngsten Bericht der Regierungen in Rom und Paris zur Tunnelkatastrophe. Doch das klingt optimistisch, je länger man Direktor Tropiano zuhört: „Es gibt noch viele
Giftstoffe dort drinnen, alles ist mit
fingerdickem Ruß bedeckt. Es gibt
Chlorverbindungen. Alles muss erst
dekontaminiert werden. Dazu sucht
man in ganz Europa Experten.“
Wer bei dem Desaster nicht gerettet werden konnte, war der Tunnelangestellte Pierlucio Tinazzi. Er
war mit einem weißen BMW-Motorrad der Sicherheitsabteilung in
den Rauch gefahren, um Fliehende
herauszuholen, die ihm entgegentaumelten. Er selber starb im Notraum 22, zusammen mit einem Feuerwehrmann aus Frankreich.
Vor kurzem sind 200 Angehörige
verschiedener Motorradclubs mit
ihren Ducatis und Gold Wings zum Bergsturz am Petit Dru: Als Erdbeben registriert
Vorplatz gebraust, um Tinazzis zu
gedenken. Die Präsidentin der Tunnelge- teil gefunden worden. Anhand eines Gesellschaft, Bianca Vetrino, war eigens aus genabdrucks – Manno trug Kronen im
Rom gekommen, um eine Plakette zu ent- Oberkiefer – gelang es, die Überreste dem
hüllen. Wie eine Phalanx reihten sich die Vermissten zuzuschreiben. Manno war am
Biker vor dem großen Stahlbogen des Tun- 24. März um 10.50 Uhr auf der ChamonixSeite in den Tunnel eingefahren.
neleingangs auf.
Dort beseitigt man die letzten Wracks.
Doch die Feier begann gleich wieder mit
einem unheildrohenden Zeichen: Aus der Asche rieselt aus den grauschwarzen GeBrenvaflanke kam ein dumpfes und lang rippen von zwei Lastwagen, als sie von eianhaltendes Grollen. Beim großen Berg- nem Autokran auf einen Tieflader gehosturz hat sich die Lawine bis an den Hang ben werden. „Der da war vielleicht ein
zum Tunneleingang geschoben, fegten Volvo oder Mercedes“, meint ein Techniker
Schnee und Eis über die Serpentinen, die der Bergungsfirma Montblanc Manutention, „der andere erinnert mich an einen
sich nach Entrèves hinabwinden.
Beklemmend war auch die Arbeit, die Daf.“ Die Trümmer kommen in einen Hander deutsche Zahnarzt Dieter Mittmann gar an der Route nationale 205, wo sie als
zu verrichten hatte. Mittmann betreibt eine Beweismittel gelagert werden. In ChamoPraxis in Saint-Pierre bei Aosta, einer Som- nix nennt man das Gebäude neben einem
merfrische mit Schloss und Apfelkulturen, Schrottplatz „Museum des Todes“.
Am Eingang oberhalb Entrèves marwie sie für diese Gegend typisch sind.
Erst jetzt hat er den letzten Toten iden- schieren unterdessen „turisti del macabro“
tifiziert, den Lkw-Fahrer Stefano Manno. auf. Sechs Motorradfahrer aus Marienberg
Von ihm waren nur ein paar verbrannte im Erzgebirge sind extra hierhergekomZähne und ein verbranntes Unterkiefer- men: „Wir wollen sehen, was es hier gibt
Umleitung von Lastwagen ins Departement Savoyen, Restaurantbesitzerin Vaudois: Eine geschäftliche Katastrophe
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Ausland
M. MATZEL / DAS FOTOARCHIV
sierten, verwundert das wenig. Die Ski- gen, für ihn ein Generaldebakel. „Die In- Bobbahn entlangführte, für Skateboarder
pisten am Mont Chétif seien im Winter dustrieführer liebten hier die familiäre freigegeben, die nun auf der steilen Lkwschwarz geworden, auf den Firnen des Atmosphäre“, bekundet Castaldi, „erst Rollbahn zu Tal brettern.
„Wie eine Pyramide, von einem innern
Montblanc sei es eine Fron gewesen, sind einige mit dem Helikopter hergeflogeheimnisvollen Lichte durchzogen“, so
Schnee für das Teewasser der Bergsteiger gen, nun aber nicht mehr.“
zu schmelzen. Carlo Pinelli, Chef einer
Weiter im Tal des schäumenden Ge- hat Goethe am 4. November 1779, bei seiUmweltgruppe namens „Mountain Wil- birgsflusses der Arve hat die Raststätten- ner nächtlichen Ankunft in Chamonix, den
derness“: „Der Schnee enthielt Rußparti- besitzerin Ghislaine Passard eine Art Ge- Montblanc beschrieben. Inzwischen rutscht
kel, das Schmelzwasser war ungenießbar.“ werkschaft der Tunnelgeschädigten ge- dem Massiv aber auch hier der Sockel weg
Auch die Wanderer im Val Veny sind gründet. Sie setzt sich für die Schaffung wie auf der Ostseite am Brenvasporn.
Am spitzen Dreieck des Petit Dru (3733
froh, dass das Lärmecho nicht mehr zu ih- neuer Arbeitsplätze ein, weil mehrere
nen schallt. „Wegen des Smogs haben so- Großtankstellen schließen mussten, so Meter), der kühnsten Berggestalt von Chagar die Schmetterlinge das Hochtal gemie- etwa die Dieselstation von Elf in der Fe- monix, ist ein großer Teil der Westwand
den, jetzt aber sind sie zurückgekehrt“, riengemeinde Les Houches. Die Raststätte weggebrochen. In Zürich wurde der Bergsagt Vittorio Levi, ein Manager aus Mai- war ein bevorzugter Stopp für Brummi- sturz als Beben der Stärke 2,5 auf der
land, der in Courmayeur ein Haus besitzt. Fahrer aus Belgien, Deutschland, England Richterskala registriert.
Schwierige Anstiege, die „directe amériAm Glasgebäude der Firma Grivel, dem und natürlich Nordfrankreich. Die Fahrt
größten Unternehmen im oberen Aosta- aus der Normandie hierher dauerte zehn caine“ und die Linie der französischen Altal, spiegelt sich der Montblanc wider. Stunden. Die Trucker tankten auf und aßen pinistin Catherine Destivelle, wurden von
„Wie man sieht, ist die Luft sauber, vorher dann Steak frites mit Grilltomate. Auch der Granitlawine ausradiert. „Ich kam mir
lag der Smog nur 200 Meter über dem Tal- Ghislaine Passard hat 90 Prozent der Kund- vor wie auf einer Großbaustelle, mächtige
Platten über mir bewegten
boden“, meint Betta Gobsich, ruckartig verbreiterbi, die Besitzerin des beten sich Felsrisse vor meirühmten Herstellers von
nen Augen.“ So beschreibt
Steigeisen und Eisäxten in
der Sibirier Walerij BabaEntrèves.
now die neue Wand, die er
Dabei ist auch die Stahlals erster Kletterer durchschmiede von der Tunnelstiegen hat, ein Abenteuer,
schließung betroffen. 90
das vier Tage dauerte.
Prozent der alpinen ZaIn Chamonix galt der
ckenware wird im Ausland
Mann aus Omsk als verabgesetzt, Frankreich ist
schollen. Helikopter suchein Hauptabnehmer. „Unten ihn, doch da hatte er
ser Importeur sitzt drüben
sich bereits abgeseilt. „Ich
in Chamonix. Er muss nun
gehe da nicht mehr hinein
per Fax bestellen wie unund empfehle es auch niesere Kunden in Korea, Jamandem“, lautet sein Fapan und Australien“, so
zit. Bescheiden lebt BabaBetta Gobbi.
now mit seiner Frau auf
Der kleine Grenzverkehr
dem Campingplatz von
ist auch auf anderer Ebene Motorradfahrer bei der Gedenkfeier für Tinazzi: Grollen vom Berg
Chamonix.
zum Erliegen gekommen.
Sogar Berghütten sind im MontblancDie 15 Zahnärzte in Chamonix leiden, weil schaft eingebüßt. „Die Regierung lässt uns
ihre italienische Klientel den mehrstündi- hängen, dabei hilft sie etwa den Landwir- Massiv in Schräglage geraten, weil sich
der Felsenuntergrund verschoben hat. Die
gen Umweg über den Großen St. Bernhard ten bei jeder Schweinepest“, klagt sie.
und die nachfolgenden Pässe Col de la
In Chamonix, das stets eine Hochburg ultramoderne Refuge des Cosmiques zum
Forclaz und Col des Montets scheut.
der Gaullisten war, hat Bürgermeister Beispiel muss mit langen Stahlstäben
Da ein Drittel der italienischen Dentisten Michel Charlet die politische Zukunft auf im Fels gesichert werden. Eine Biwakkeine staatliche Zulassung besitzt, wirkte einen Tunnel ohne Lastwagen verpfändet. hütte nahe der Brenvawand wurde gedie Zahnarztdichte von Chamonix magne- Die bewegen sich, zur Erleichterung der schlossen, weil die Schieflage so bedrohtisch auf die Patienten im Aostatal. Eine Chamoniarden, nun zum Tunnel von Fré- lich ist.
Der Geologe Keusen macht die weltvierköpfige Familie, die vom Zahnarztbe- jus im Departement Savoyen und verstopweite Erwärmung für das Wackeln des
such in Chamonix kam, war im Montblanc- fen dort Straßen und Städte.
Tunnel verbrannt. „Nun kommen nur noch
Bei den Europawahlen gab es in Cha- Montblanc verantwortlich. Die Null-Graddie Leute, die dringend behandelt werden monix einen Erdrutschsieg der Grünen, Grenze steige immer höher an, Eis, das die
müssen“, meint der Zahnarzt René Del- und der neue Held der selbst ernannten Flanken und Schuttmassen zusammenhalgove, „das ist Besorgnis erregend“.
„Welthauptstadt des Alpinismus“ ist aus- te, löse sich auf. Keusen erkennt „Zeichen
Von den reichen Italienern, den Indus- gerechnet „Dany le Rouge“, Frankreichs des sich destabilisierenden Gebirges“.
Nichts ist am Scharnier Europas, dem
triellen aus Mailand und Turin, die in Cour- heimlicher Grünen-Chef Daniel Cohnmayeur Chalets von der Größe deutscher Bendit. Der hat die Idee, den transalpinen Montblanc, wie es früher einmal war. Auch
Mehrfamilienhäuser besitzen, ist in Cha- Lkw-Verkehr auf Eisenbahnzüge umzu- die Statik der Loyalitäten ist nicht länger
monix das Spielkasino „Le Royal“ abhän- setzen, zur Kampfsache erklärt und selbst festgezimmert.
Wenn die Staatsanwaltschaft Hochgig, ein Prachtbau, der zu Ehren des Kai- den Gaullisten Charlet zur Sache der Grüsers Napoleon III. erbaut wurde.
nen bekehrt. Charlet erhofft sich für das savoyens ihren Test mit dem zweiten MarSpielbankchef Jean-Raymond Castaldi Touristenzentrum eine neue Blüte: „So ru- garine-Laster vornimmt, will Direktor Troblickt sinnend auf einen Jeton im Wert von hig und schön muss es 1924 gewesen sein, piano aus Protest den italienischen Tunnel25 000 Dollar. Der Umsatz an den Rou- als in Chamonix die erste Winterolympia- eingang blockieren. Er befürchtet, dass bei
lette- und Black-Jack-Tischen ist seit dem de ausgetragen wurde.“ Er hat die Zu- einem neuen Brand die Röhre ganz verloTunnelfeuer um 90 Prozent zurückgegan- fahrtstraße zum Tunnel, an der damals die ren geht.
Joachim Hoelzgen
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PA L Ä S T I N A
Mit Schleier ins
Wasser
Die Palästinenser setzen auf
Tourismus – sogar der
Gaza-Streifen soll ein Ferienparadies werden. Doch der
Islam erweist sich als hinderlich.
F
ausi Nimir, 64, ist eigentlich ein Mann
des Militärs. Der Oberst der Palästinensischen Befreiungsarmee war mit
Arafat im Exil und focht an dessen Seite für
die palästinensische Sache. Doch nun geht Badende Palästinenserinnen: „Wir wollen das Tor
es um den Aufbau des Palästinenser-Staates, und da braucht
Arafat ihn in ziviler Funktion.
Jetzt leitet der groß gewachsene
Oberst die Ferienanlage „Stadt
der Blumen“ am Strand von
Gaza. Statt Schulterklappen
trägt er den Titel „GeneralManager“. Seine Visitenkarte
schmückt eine Palmeninsel im
Ozean.
Das ist ein bisschen dick aufgetragen. Denn mit einer tropischen Idylle teilt Nimirs neues
Einsatzgebiet bisher allenfalls
die Temperaturen. Zwar hat das
80-Zimmer-Hotel einen ge- Strand von Gaza: „Reiches Erbe“
pflegten Sandstrand und den
angeblich größten Swimmingpool in Gaza. teres Land, und schon am 1. Oktober könDoch ansonsten verströmt das mit Hilfe nen die Palästinenser mit dem Bau eines
der Weltbank finanzierte Staatshotel eher Seehafens in Gaza beginnen.
sozialistischen Charme.
Mit dem Slogan „Palestine – The Holy
Arafat, dessen Hauptquartier gleich ne- Land“ touren Arafats Palästinenser derbenan liegt, bringt hier die Delegationen zeit weltweit über die Messen. „Heilige
seiner Staatsgäste unter. Als Urlauber kom- und Propheten haben uns ein reiches Erbe
men bisher vorwiegend Palästinenser mit hinterlassen“, schwärmt Abdullah Hidisraelischem Pass. Doch künftig sollen sich schasi, Vize des Tourismusministers.
mit ihnen auch westliche Touristen sonTatsächlich liegen viele Sehenswürdignen. „Wir wollen das Tor nach Europa öff- keiten im Palästinensergebiet: Betlehem
nen“, sagt Arafats Manager und fügt mit der Geburtskirche, eine der größten
schnell noch hinzu: „Wir haben wunder- Attraktionen der Christenheit. Oder die
bare Strände.“
Wüstenoase Jericho, die inzwischen nicht
Das mag sein. Aber Gaza als Ferienpa- nur eine Seilbahn österreichischen Fabriradies? Der 45 Kilometer lange und bis kats zum „Berg der Versuchung“ zu bieten
zu 13 Kilometer breite Streifen, einer der hat, sondern sogar ein florierendes Spielam dichtesten bevölkerten Flecken der kasino.
Welt, stand bisher für Flüchtlingselend und
Gaza könne „eines Tages in einer Reihe
politisches Pulverfass. Zudem ist er Heim- stehen mit Eilat und Akaba am Roten
stätte der extremistischen Bewegung Meer“, glaubt Axel Burmeister von der
Hamas.
Gesellschaft für Technische ZusammenarDoch die Palästinenser meinen es ernst. beit (GTZ), der die Palästinenser beim Auf„Der Tourismus ist das Öl Palästinas“, sagt bau des Tourismus berät.
ihr Präsident, der selber nie Urlaub macht.
Doch fünf Jahre nach dem Start der AuIm Feriengeschäft sehen Experten das tonomieverwaltung ist die Wirklichkeit
größte ökonomische Potenzial für den noch weit von den schönen Urlaubsträukünftigen Staat, der nach der Unterzeich- men entfernt. Nach wie vor fließt nur ein
nung des veränderten Wye-Abkommens Bruchteil der Einnahmen aus dem Touriszwischen Israelis und Palästinensern nun musgeschäft im Heiligen Land in die Kasnäher gerückt ist. Israel räumt danach wei- sen der Palästinenser. Sind einige der zehn
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nach Europa öffnen“
Gaza-Hotels bisweilen ausgebucht, liegt
das vor allem an den internationalen Delegationen, die aus Solidarität nach Gaza
pilgern wie früher westliche Polit-Touristen
ins geteilte Berlin.
An den Strand gehen diese Besucher jedoch kaum. Selbst die einzigen europäischen Badegäste im Hotel „Blumen-Stadt“
an diesem Morgen stammen quasi aus
Gaza – es ist die Frau des russischen Botschafters und einer der russischen Hubschrauberpiloten Arafats.
Im „Touristen-Club Seemöwe“ am
Nordstrand von Gaza tummeln sich gerade mal ein halbes Dutzend Kinder und junge Paare am Swimmingpool. „Alles Einheimische“, sagt der Besitzer Abd al-Karim Sabawi. Der ehemalige politische
Flüchtling machte ein Vermögen in der
Viehzucht Australiens, bevor er in seine
palästinensische Heimat zurückkehrte:
„Als wir 1994 Gaza zurückbekamen, hielt
ich es für meine Pflicht, jetzt in Palästina
zu investieren.“ Sabawi baute einen Club
mit Pool, Freiluftkino und Operettenhaus.
Doch auf internationale Gäste wartet er
bisher vergebens.
Dass sich die Investoren fast alle wieder
zurückzogen, die Bürgermeister Aun Saadi al-Schawa 1994 „die Tür einrannten“,
hängt vor allem mit der politischen Lage
zusammen. Noch immer gelangt man in
die Palästinensergebiete nur über Militärsperren der Israelis – der „erste Feind der
Touristen“, wie Vizeminister Hidschasi die
Check-Points nennt. Sie vermitteln den
Eindruck einer ständigen Sicherheitsgefahr. Deshalb kommen viele Besucher nur
zu Tagesausflügen und schlafen lieber in israelischen Betten.
„Wir sind hier eigentlich ein großes Freiluftgefängnis“, sagt Bürgermeister Schawa
bitter. Der Grenzübergang „Eres“ nach
Gaza erinnert Deutsche an Marienborn.
Der Unterschied ist nur, dass man in die
DDR wenigstens mit dem Auto fahren
konnte. In Eres dagegen gibt es für Mietwagen wegen der israelischen Nummernd e r
schilder keinen Transit. So marschieren Besucher einen Kilometer zu Fuß auf die
andere Seite.
Selbst den brandneuen Gaza-Airport,
Prunkstück moderner orientalischer Architektur, kontrollieren die Israelis. Ihre
Checks, zu denen Passagiere mit Sonderbussen gefahren werden, können Stunden
dauern. Außer der rumänischen Tarom
fliegt bislang keine europäische Linie den
Arafat-Airport an.
Dennoch sind am mangelnden Touristenstrom nach Palästina nicht nur die Israelis schuld. Hausgemachte Gründe tragen
zur Misere bei.
So hemmt Gazas stark islamisch geprägte Gesellschaft den Urlaubsspaß.
Selbst am Strand sind die einheimischen
Frauen tief verhüllt. Wenn sie baden, dann
mitsamt Schleier.
Als Sabawi seinen Pool in der „Seemöwe“ eröffnete, gab es Proteste. „Doch
dann machte ich den Traditionalisten klar,
dass das hier Sport ist und nichts mit Religion zu tun hat.“ Inzwischen gibt es sogar
einen Badetag für religiöse Frauen, die tief
verschleiert ankommen und dann im Bikini ins Wasser hüpfen. Sabawi: „Sie sollten
mal sehen, wie die das genießen.“ Im geplanten Feriendorf will er „spezielle Bikini-Zonen“ für Europäer einrichten.
Noch heikler ist es beim Alkohol, für religiöse Muslime ein strenges Tabu. Ein
leckerer Weißwein zum Fisch? Fehlanzeige. Ein kühles Bier im Gaza-Beach-Hotel?
Keine Chance.
Wem laue Abende bei Milchshake und
Mangosaft nicht ausreichen, muss schon
ein Ortskundiger sein, um die ein, zwei
verschwiegenen Plätze mit Alkoholausschank zu finden. Oder er sollte jemanden
kennen, der ihn in die reich bestückte Bar
des UN-Beach-Clubs mitnimmt.
Trotz internationaler Hilfsgelder, die den
Palästinensern reichlich zufließen, fehlt es
in der touristischen Infrastruktur noch immer an Wesentlichem. Es gibt zu wenig
einladende Hotels mit Badeplätzen, keine
geregelten Transportdienste oder Touristenbüros.Verschmutztes Wasser ist in Gaza
nach wie vor ein Problem.
Die Sehenswürdigkeiten einer der ältesten Städte der Welt sind für Reisende bisher kaum erschlossen: etwa die „Große
Omari Moschee“ oder „Paschas Palast“,
der Napoleon 1799 als Quartier diente. Es
gibt noch nicht mal Stadtpläne in Englisch.
Gerade ist der erste palästinensische Reiseführer erschienen. Doch er enthält keinerlei Hinweise, wie man die historischen
Stätten überhaupt findet.
Als Ursache für die Mängel nennt der
Archäologe und palästinensische Tourismusexperte Adel Jahja vor allem Unfähigkeit und Korruption in den Behörden, die
den Tourismus kontrollieren. Privatgeschäfte würden behindert: „Wir planen für
das Jahr 2000, als würde es in 2000 Jahren
stattfinden.“
Annette Großbongardt
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Ausland
J A PA N
Des Kaisers
alte Garde
Ein aristokratischer Elitezirkel
kämpft in Tokio für den
Erhalt höfischer Traditionen.
SYGMA
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T. WAGNER / SABA
V
om 34. Stock des KasumigasekiHochhauses in Tokio blickt Clubmanager Nagahide Kuroda, 76, auf
das Regierungsviertel herab. Dort schalten
und walten Minister, mächtige Bürokraten
und Abgeordnete. Würde Kuroda sie in seinen exklusiven Zirkel aufnehmen? Der alte
Herr schüttelt höflich den Kopf.
Mögen die da unten sich noch so wichtig nehmen – hier oben herrschen eigene Clubchefs Bojo, Kuroda, Matsudaira: „Das sind wir unseren Ahnen schuldig“
Gesetze. Kuroda leitet Japans wohl ältesten
und elitärsten Privatclub Kasumi Kaikan, Adel abschaffen – außer dem Kaiser und Tradition“ (Kuroda) um den Erhalt langsam verblassender Rituale.
den diskreten Treffpunkt des ehemaligen dessen engerer Familie.
So eilten sie zur Stelle, als Tenno HiroHochadels.
Anders als der deutsche Adel, der nach
Tausende bürgerlicher Landsleute strö- dem Ersten Weltkrieg allein seine Stan- hito 1989 beerdigt wurde, als dessen Sohn
men täglich in die Büros und Geschäfte desprivilegien verlor, mussten Japans Akihito 1990 offiziell den Thron bestieg
des Gebäudes. Kaum einer ahnt etwas von Blaublüter auch ihre stolzen Titel ablegen. und als Kronprinz Naruhito 1993 seine Geder Existenz des Kasumi Kaikan, den sogar Ihr früheres Clubhaus entweihten die US- mahlin Masako ehelichte. Wer sonst könnKaiser Akihito bisweilen beehrt. Nur wer Besatzer als Offizierskasino. Doch am bit- te den Majestäten zum Beispiel helfen, gemännlicher Nachfahre eines Adelsge- tersten traf sie das Los, nun in bürgerli- treu der Überlieferung die Gewänder zu
schlechts ist, darf an der Bar seinen Whis- chen Berufen Geld verdienen zu müssen. schnüren?
Um für solche Anlässe in Übung zu bleikey schlürfen, eine Partie an einem der
Über dieses demütigende Kapitel
sechs Billardtische spielen – den Kaiser- schweigt man vornehm. Keiner der Aristo- ben, verwandeln die distinguierten Herren
palast dabei stets im Blick – oder in der Bi- kraten käme auf die Idee, Pläne für eine ihre Etage mehrmals pro Jahr in einen farbliothek schmökern. Selbst Premierminis- Restauration alter Standesprivilegien zu benprächtigen Miniatur-Hof.Auf alten Holzter Keizo Obuchi hat keinen Zutritt.
schmieden. Sie bewegt eine größere Sorge: instrumenten spielen sie dann höfische
Weisen, Vorsteher Bojo singt mit seinen
Auf einer schwarzledernen
Standesgenossen 31-silbige Verse, die er
Couch, zwischen kostbaren
am Neujahrsfest auch dem Tenno vorträgt.
Gemälden, Porzellanvasen und
Und in der einstigen Kaiserstadt Kyoto
gebundenen Familienchroniwetteifern die freiwilligen Hilfstruppen des
ken, plaudert Kuroda mit seiKaisertums regelmäßig beim Kemari, einen Vorstandskollegen Yasushi
nem altertümlichen Fußballspiel: In schweMatsudaira und Toshikane
ren Kimonos und steifen Hüten kicken sie
Bojo, beide 72, über die VerBälle, die den Boden nicht berühren dürgangenheit. Jeder kennt hier
fen, durch die Luft.
den Stammbaum des anderen:
Dass die ergrauten Höflinge ihre BräuKuroda ist Sohn eines Hofmarche über Japans trüben Nachkriegsalltag
schalls des früheren Kaisers
hinwegretten konnten, verdanken sie eiHirohito, Matsudaira Abkömmnem Handel mit der Immobilienfirma Mitling eines Krieger-Fürsten und
sui. Die wollte 1968 Tokios erstes HochBojo ein ehemaliger Hofadliger.
haus bauen, und der verarmte Adel brauchNatürlich gilt es im Kasumi Kaiser Akihito*: Demütigendes Kapitel
te Geld. Also willigte er ein, das alte ClubKaikan als würdelos, mit der eigenen Abkunft zu prahlen. Aber insgeheim dass auch Nippons ehrwürdige Hofkultur haus abreißen und dort den KasumigasekiTurm errichten zu lassen. Das Grundstück
haben sich wohl auch Kuroda, Matsudaira aussterben könnte.
und Bojo schon gefragt, wie es ihnen erDenn die 930 Mitglieder des Kasumi und der 34. Stock gehören weiter dem
gangen wäre, wenn das Kaiserreich Japan Kaikan sind durchschnittlich 60 Jahre alt. Club, auch verdient er mit an den Büroden Zweiten Weltkrieg gewonnen hätte. Im bizarren Wettlauf mit der Zeit wollen mieten.
So stieg Japans Adel, der vor 52 Jahren
Wahrscheinlich würden sie ihr Land heu- sie deshalb ihre Werte den Nachkommen
te als mächtige Berater mitregieren.
vererben. „Das sind wir unseren Ahnen so tief gesunken war, zumindest räumlich und finanziell wieder auf. Und auch
Doch es kam bekanntlich anders. Japan schuldig“, sagt Kuroda.
verlor den Krieg, und die siegreichen AmeRegelmäßig leiht der Club Kunstwerke die höfische Tradition gibt der Clubmanarikaner zwangen den Tenno 1946, öffentlich an staatliche Museen aus. Unablässig ger noch nicht verloren: „Was viele Jahrseinem gottgleichen Status zu entsagen. bemühen sich die „lebenden Zeugen der hunderte überlebte“, hofft Nagahide Kuroda, „stirbt nicht einfach in JahrzehnEin Jahr später musste Japan eine demoten.“
kratische Verfassung annehmen und den * Bei seiner Inthronisierung am 12. November 1990.
Wieland Wagner
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Kultur
Szene
KUNSTHANDEL
Florierende NS-Kunst
A
ie Reaktionen blieben, bis auf wenige Leserbriefe in der regionalen
Presse, weitgehend aus. Erstaunlicherweise. Denn die „Galerie für
gegenständliche Kunst“ im schwäbischen Kirchheim unter Teck stellt
Skulpturen, Reliefs und Grafiken Arno Brekers aus. Wie kaum ein anderer gilt Breker (1900 bis 1991) als Paradebeispiel eines willigen NaziKünstlers: Mit seinen überdimensionalen Menschenmonstren gab er
dem Hitler-Faschismus skulpturale Gesichter. Doch statt Beschwerden
stapeln sich beim Galeristen Siegfried Nöhring, 42, die Aufträge, Brekersche Kitschskulpturen nachgießen zu lassen. Erst im vergangenen Dezember hatte Nöhring, im Hauptberuf Zahnarzt, seinen Kunsthandel
eröffnet. Und seit der Breker-Ausstellung, schwärmt er, kämen „Kunstfreunde aus ganz Deutschland, aus Schweden und Italien“. Für den Galeriebetreiber nicht abwegig: „Wo sonst“, fragt er, „bekommt man schon
einen Breker zu sehen?“ Anstößig findet er seine Verkaufsschau nicht,
politische Verstrickungen, meint er, dürfe man Künstlern nicht anlasten.
Obwohl Breker gerade dank seiner umstrittenen Vita einen Vorteil mitbringe: „Der Name ist weltbekannt, und die Werke sind trotzdem noch
bezahlbar“ – zwischen 2400 und 8500 Mark kostet der Nachguss einer
Skulptur. Wegen der anhaltenden Nachfrage will Nöhring
Nöhring („Man muss ans Geschäft denken“) die Schau verlängern.
AU T O R E N
GOETHE-INSTITUTE
Magischer Erfolg
„Irgendwo versandet“
ls in Großbritannien kürzlich der
dritte Band von Joanne Rowlings
„Harry Potter“-Geschichten erschien,
durften die Buchhändler das Werk erst
nach Schulschluss verkaufen – weil die
Lehrer fürchteten, die Schüler könnten
kollektiv die Schule schwänzen, um so
früh wie möglich an das begehrte Werk
heranzukommen. Und tatsächlich: Die
erste Auflage von „Harry Potter und der
Gefangene von Askaban“ (jetzt im
Hamburger Carlsen Verlag auch auf deutsch erschienen) war nach wenigen Stunden verkauft.
Damit setzte sich eine
der größten Erfolgsgeschichten des Jahrzehnts
auf dem britischen
Buchmarkt fort – ein Erfolg, der für die vor
kurzem noch völlig unRowling
bekannte Autorin Rowling, 33, die größte Überraschung ist.
Die allein erziehende, arbeitslose Mutter hatte die kurzen Zeiten, in denen
ihre Tochter schlief, genutzt, um die Geschichte vom verwaisten Zaubererjungen Harry aufzuschreiben. Auf die Eigenständigkeit dieser Figur führen Potter-Exegeten den Erfolg der Reihe bei
Kindern zurück – ein kleiner Zauberer
als Vorbild in einer verworrenen Welt.
V
orbei sind die Jubelfeiern zum
Goethe-Jahr, die Unsicherheit über
die Zukunft der Goethe-Institute (Jahresetat: 360 Millionen Mark) dauert an:
Nachdem vergangene Woche die
angekündigte Schließung von bis
zu 18 ausländischen Goethe-Instituten für Unruhe sorgte, soll
jetzt erst einmal eine Unternehmensberatung nach weiteren
Einsparmöglichkeiten suchen.
Darauf haben sich Goethe-Instituts-Präsident Hilmar Hoffmann
und Bundeskanzler Gerhard
Schröder verständigt. „Wahrscheinlich nur zehn“ Institute
müsste er dichtmachen, prognostiziert Hoffmann. Seinen Rücktritt, den er einst für den Fall
weiterer Etatkürzungen angekündigt hatte, schließt Hoffmann, 74, „unter diesen Umständen aus“.
Derweil wird an einigen Instituts-Standorten an die Zeit nach
einer Kürzung oder gar Streichung der staatlichen Zuwendungen gedacht: So propagiert
der Turiner Bürgermeister Valentino Castellani „ein europäisches
Kulturinstitut in allen großen
Städten“ – Goethe-Institut, British Council und das Centre cul- Hoffmann
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turel français sollten unter einem Dach
zusammenarbeiten. Ähnliche Vorschläge des Goethe-Instituts waren bisher
bei den EU-Partnern auf wenig Gegenliebe gestoßen. „Man macht vernünftige
Vorschläge“, sinniert Hoffmann, „und
die versanden dann irgendwo im Beamtenapparat.“
DPA
T. KLINK / ZEITENSPIEGEL
D
243
Szene
L I T E R AT U R
KUNST
Krimkrieg in Liverpool
Rausch im Rohzustand
Beryl Bainbridge: „Master Georgie“. Aus dem Englischen von Charlotte Breuer. Europa Verlag, Hamburg;
224 Seiten; 38 Mark.
244
E
VG BILD-KUNST, BONN 1999
r war ein später Rebell: Erst 1942,
mit 41 Jahren, traute sich der
Weinhändler Jean Dubuffet (1901
bis 1985), sein Geschäft in Paris zu
verpachten, um sich ganz der Kunst
zu widmen. Zuvor hatte er sich
schon mehrmals als Maler versucht,
einst sogar ein Studium begonnen –
und es, angewidert vom akademischen Kulturbetrieb, wieder abgebrochen. Lieber spielte er Marionettentheater oder schrieb Gedichte. Von Selbstzweifeln geplagt,
kehrte der Viel-Kreative jedoch immer wieder in die vertraute Welt
des Weins zurück – bis er endgültig
sicher war, dass die Kunst „das
höchste Stadium des Rausches“
biete. Dubuffet begeisterte sich für
die ursprüngliche Malerei von Kindern und Geisteskranken, für die er
den Begriff „Art Brut“, Kunst im
Rohzustand, prägte. Er selbst kleisterte Sand, Kieselsteine oder Glassplitter auf die Leinwand und ritzte
strichmännchenartige Giganten hinein. Seinen humorvoll provokativen
Un-Stil verstand er als gemalte Kritik an elitärer Hochkultur. Nur:
Bald gehörte Dubuffet selbst zum
anerkannten Kunst-Establishment.
So experimentierte er aufs Neue,
Dubuffet-Zeichnung „Selbstporträt II“ (1966)
Kino in Kürze
„L. A. without a Map“. Richard, ein
junger Bestattungsunternehmer,
verliebt sich in Barbara, eine angehende Hollywood-Schauspielerin (sprich: Kellnerin); er verlässt
seine Heimat Schottland und reist
der Dame nach – bis Los Angeles.
Dort bekommt er Ärger mit Barbaras eifersüchtigen (Ex-)Liebhabern, gerissenen Produzenten und,
logisch, mit Barbara selbst. Mika
Kaurismäki, Bruder des finnischen
Regie-Melancholikers Aki Kaurismäki, hat diese charmant über- Kaurismäki-Film „L. A. without a Map“
drehte Liebeskomödie mit leichter
Hand, unverbrauchten Darstellern (allen barer schottischer Akzent die deutsche
voran Vinessa Shaw, der Hobby-Hure Do- Synchronisation kaum überleben dürfte.
mino aus „Eyes Wide Shut“) und der in
finnischen Filmen offenbar unvermeidli- „Ein neuer Tag im Paradies“ ist ein Film von
chen Rockband Leningrad Cowboys insze- Larry Clark, der mit „Kids“ einen spektaniert. Nebenbei parodiert er Hitchcocks kulären Trip durch die von Sex und Drogen
„Vertigo“ und lässt Johnny Depp in seiner besessene Jugend New Yorks ablieferte.
besten Rolle als „Dead Man“ wiederaufer- Auch diesmal geht es um verlorene Seestehen. Schade nur, dass Richards wunder- len: Ein alternder Dieb (großartig: James
TIME
A
ls Russen und Türken aufeinander
schlugen, im Krimkrieg (1853/54 bis
1856), waren auf türkischer Seite auch
die Engländer von der Partie. Florence
Nightingale erblühte dabei zum Vorbild
des Gutmenschen und der legendäre
„Angriff der Leichten Brigade“, eine
Katastrophe, zu patriotischer Poesie.
Auch in Beryl Bainbridges Roman
„Master Georgie“ zieht ein Trüppchen
Engländer in den Krimkrieg. Florence
Nightingale schwebt ihnen allerdings
nicht über den Weg, und von der
„Leichten Brigade“ bleiben nur ein
paar verstörte Rösser übrig. Die Engländer, eine Frau und drei Männer, erleben
den Krieg als sinnloses Chaos.
Beryl Bainbridge, 64 und wie die Beatles
aus Liverpool stammend, ist in Britanniens schreibender Frauenriege eine exzentrische Sonderklasse: winzig von Gestalt und dämonisch von
Witz, unerbittlich recherchierend, mit einer
auf Präzision und Andeutungen reduzierten
Sprache und einem
Blick, der überall das
Chaos sieht. Die vier,
die Bainbridge auf die
Krim schickt, sind auch
in Liverpool zu Hause
und daheim ein offenbar
gutbürgerlicher Verein:
Master Georgie ist Chirurg und Fotograf, sein Schwager Potter ein Intellektueller, der junge Pompey schluckt Feuer
und fotografiert dito; und Myrtle, ein
Findelkind, wuchs in Georgies Familie
als Quasi-Schwester auf. Auf der Krim
wird, rückblickend, auch Liverpool zur
Krim, zum Chaos. In sechs, als FotoPlatten deklarierten Kapiteln lässt Bainbridge die drei Georgie-Begleiter in IchForm erzählen. Drei Perspektiven tun
sich auf und damit Blicke auf die Wirrnis
hinter der viktorianischen Fassade, auf
ein Puzzle aus Lügen, Betrug, Finsternis
– spannend wie ein Krimi.
Geschichte birgt Geschichten. Bainbridge hatte schon das eisige Ende des
Südpol-Forschers Scott zum Roman gemacht, auch den Untergang der „Titanic“ (deutsch: „Nachtlicht“). Und vor
vielen Jahren ließ sie einen jungen
Österreicher in England einen Urlaub erleben; Romantitel: „Young Adolf“. Der
schrieb mal: „Die Eier des Kolumbus liegen zu hunderttausenden herum.“
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Kultur
wurde bunter, plakativer. Sein bevorzugtes Motiv blieb aber lange das Gleiche: die menschliche Figur. Das Saarland Museum in Saarbrücken, das sich
jetzt nach 18-monatiger Renovierungspause mit einer umfangreichen Dubuffet-Retrospektive zurückmeldet (bis 14.
November), zeigt die verschiedenen
Werk-Phasen des Franzosen – und belegt so auch dessen stetiges Schwanken
zwischen Ernst („Malerei ist wirksamer
als Worte“) und Selbstironie: Trete er
vor ein Bild, sagte er einmal, sei das so,
als gehe er zu einem Zauberer und lasse
sich in eine Maus verwandeln.
BUCHMARKT
Die New Yorker Autorin Melissa Bank, 38,
deren in den USA erfolgreicher Episodenroman „Wie Frauen fischen und jagen“ gerade in Deutschland
erschienen ist (Diana
Verlag), über Singles
und die Suche nach
dem Mann fürs Leben
M. WITT
VG BILD-KUNST, BONN 1999
Dubuffet-Bild „Pisser nach rechts“ (1961)
Woods) und seine Gefährtin (Melanie Griffith) nehmen ein schmuddeliges TeenagerPärchen unter ihre Fittiche und lehren es
das Saufen, Stehlen und Fixen. Eine Ersatzfamilie ohne Zukunft, doch auf seine
chaotisch-zärtliche Art schafft es Clark, die
Träume der Loser auf die Leinwand zu heben, ohne sie lächerlich zu machen.
„Alles aus Liebe – Call it Love“. Eddie und
Maureen, deren IQ mühelos von ihrem Promillepegel übertroffen wird, prügeln und
küssen sich und flüstern sich rührende
Dämlichkeiten ins Ohr. Das halten sie für
Liebe. Leider tut der Film das auch. „Alles
aus Liebe“, geschrieben vom IndependentRegisseur John Cassavetes („Gloria“) und
nach seinem Tod verfilmt von Sohn Nick,
will einer Rinnstein-Leidenschaft huldigen,
die selbst zehn Jahre Trennung – der psychotische Eddie (Sean Penn) muss in den
Knast – übersteht. Nur hat Cassavetes Jr.
von der Liebe ungefähr so viel Ahnung wie
vom Filmemachen – entschieden zu wenig.
Am Rande
„O Gott, ich möchte
verheiratet sein“
SPIEGEL: Frau Bank, zu Ihren Lesungen
kommen vor allem allein stehende
Frauen. Wächst dieses Publikum?
Bank: Ja, das ist eine Folge der Frauenbewegung. Frauen haben keinen Druck
mehr, einen Ehemann finden zu müssen, weil sie heute finanziell unabhängig sind. Daher gibt es in meiner Generation eine gewisse Konfusion darüber,
was man mit Männern überhaupt noch
anfangen soll.
SPIEGEL: Aber es geht in Frauenbüchern
oft darum, wie man einen Mann angelt.
Bank: Die Sache ist ambivalent, denn
die meisten Frauen haben ihr Leben
lang die Vorstellung gehabt, irgendwann
Mutter und Ehefrau zu sein. Wenn sie in
den Dreißigern sind, wollen sie an die
Realisierung dieser Vision gehen und
stellen fest, dass dies schwierig ist.
SPIEGEL: Weshalb?
Bank: Wenn Singles sich von außen betrachten, denken sie: O Gott, ich möchte wirklich verheiratet sein. Innen sieht
es ganz anders aus. Ob unbewusst oder
nicht – viele haben sich dafür entschieden, allein zu leben.
SPIEGEL: Und aus welchem Grund?
Bank: Weil Männer immer noch dominieren wollen. Immer mehr Frauen akzeptieren das aber nicht.
SPIEGEL: In Ihrem Buch plagt sich die
Ich-Erzählerin Jane mit einem Ratgeber
herum zum Thema, wie man den richtigen Mann findet. Wie erklären Sie sich,
dass diese „How to“-Bücher tatsächlich
einen riesigen Markt haben?
Bank: Frauen und Männer sind heute
gleichzeitig Jäger und Gejagte. Die neuen Jagdregeln sind in der Versuchsphase,
daher sind beide Geschlechter verunsichert.
SPIEGEL: Es gibt aber kein Buch „Wie
Männer fischen und jagen“.
Bank: Weil Männer nie die Schuld bei
sich suchen. Wenn eine Frau beim Tennis den Ball verschlägt, sagt sie: „Es tut
mir leid.“ Der Mann dagegen schimpft
seinen Schläger aus.
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FC Fidelio
I
n toto, das behauptet
jedenfalls der Deutsche Bühnenverein,
treibe es mehr deutsche
Menschen in Theater
und Opernhäuser als in
die Stadien der FußballBundesliga. Fest steht
immerhin, dass heute
auf den Brettern oft ein
höherer Unterhaltungswert erkämpft
wird als auf dem Rasen, etwa bei Länderspielen der Kulturnation Deutschland. Außerdem dauern fast alle
Opern länger als 90 Minuten; der Konsument kriegt somit mehr fürs Geld.
Also – 1:0 für „Fidelio“. Aber: Muss
das immer so bleiben: Waden gegen
Kehlen, Lattenschüsse gegen Koloraturen? Wäre es nicht wünschenswert,
wenn sich Ball und Ballerinen zum
Gesamtkunstwerk einen würden?
Sie werden, und zwar schon diese
Woche. Am Freitag „kommt es live
zum ultimativen Steilpass des Staatstheaters Cottbus in die Welt des Fußballs“, verspricht eine gemeinsame
Presseerklärung des FC Energie Cottbus und des ortsansässigen Musentempels. Das geht los mit der Premiere der (durch das Tagebuch von
Lothar Matthäus inspirierten) KickerShow „Lothar rennt“, bei der die Elf
des lokalen Zweitligisten samt Trainer mitspielen und Jörg Steinberg,
der frühere Stürmer des SSV Köpenick 08, Regie führen wird, und findet seinen Höhepunkt, wenn die
Philharmoniker des Staatstheaters
künftig „vor einem wichtigen Heimspiel die Energie-Hymne auf dem
grünen Rasen live intonieren“.
Leute, das ist erst der Anpfiff für
ungeahnte Kombinationen! Ist der
schöne Oliver Bierhoff nicht der
ideale Werbeträger für den Schwanenritter Lohengrin? Könnte nicht,
zumindest bei indisponierten Stimmbändern, René Kollo auch im Tor seinen Mann stehen? Warum nicht die
Logenbrüder des Münchner Nationaltheaters künftig geschlossen zur
Bayern-Elf karren, warum nicht die
Radaubrüder aus den Südkurven
zum Arioso ins Parkett laden? Verblüfft würden die neuen Besucher
die Ohren spitzen und feststellen:
Auch unter den Kickern gibt es Maulhelden, und auch in der Oper wird
schwer gefoult.
245
Kultur
H O L LY W O O D
Indiana Jones in Auschwitz
Vor fünf Jahren startete Steven Spielberg sein Shoah-Projekt: Video-Interviews mit 50 000
Überlebenden des Völkermords an den Juden. Inzwischen ist die Sammlung weitgehend
abgeschlossen, der dokumentarische Wert des Materials wird von Historikern als dünn beurteilt.
Doch das Archiv entwickelt sich zur Goldgrube für seine Besitzer. Von Henryk M. Broder
JAD WASCHEM
E
Jüdische Nazi-Opfer*: „Die Juden müssen anfangen, Lehrer zu sein“
Memorial Museum in Washington und leitete dessen Forschungsinstitut, bis er 1997
von Spielberg als Generaldirektor für die
Shoah-Stiftung angeworben wurde.
Seitdem traten Spielberg, der erfolgreichste Filmregisseur aller Zeiten („Indiana Jones“, „E.T.“, „Jurassic Park“), und
Berenbaum als funktionales Doppelpack
auf. Spielberg gab dem Vorhaben die Prominenz und den Glanz, die fürs „Fundraising“, die Finanzierung durch Spenden, gebraucht wurden, Berenbaum sorgte für ein
Minimum an akademischer Reputation,
ohne die eine Produktion dieser Art auch
in Hollywood nicht auskommt.
So wurden im Laufe von knapp fünf Jahren weltweit über 50 000 Interviews mit
Holocaust-Überlebenden aufgenommen –
SHOAH-FOUNDATION
SHOAH-FOUNDATION
mit Hilfe von 240 festen Mitarbeitern der
Stiftung, rund 3500 Interviewern und über
4000 unbezahlten Freiwilligen, die bei der
Organisation des Mammutprojekts halfen.
Dabei wurden je nach Angaben 45 bis 70
Millionen Dollar ausgegeben, weitere 50
Millionen Dollar werden gebraucht, um
das gesammelte Material auszuwerten und
so aufzubereiten, dass eine „Grundlage für
die Erziehung zur Toleranz für die ganze
Welt“ geschaffen wird, wie es ohne jede
falsche Bescheidenheit auf der Website der
Shoah-Stiftung heißt.
Damit hat Spielberg nicht nur die Verantwortung dafür übernommen, dass die
Holocaust-Leugner als Lügner entlarvt
werden, er gibt dem Holocaust post festum
auch einen Sinn, indem er ihn als „erzie-
* Ungarische Juden im Mai 1944 bei der Ankunft im
Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau.
SHOAH-FOUNDATION
in Bild sagt alles: Man sieht zwei
Männer, die Sektgläser in der Hand
halten und irgendwas feiern. Der
Mann links im Bild hat ein Hemd an, das
um den Bauch herum etwas spannt, der
Mann rechts im Bild trägt eine offene
Sportjacke, Sonnenbrille und eine Schirmmütze. Er wirkt lässiger und souveräner
als der Mann im Hemd, der sich leicht nach
vorne beugt und verlegen lächelt.
Zwischen den beiden sieht man auf einem Tisch eine große rechteckige Torte,
die mit hellem Zuckerguss überzogen ist.
Und auf dem Zuckerguss steht in großen
dunklen Buchstaben ein Wort: SHOAH.
Das ist der hebräische Begriff für den
Tod von sechs Millionen Juden, Synonym
für „Holocaust“. Doch für Michael Berenbaum, links, und Steven Spielberg, rechts,
ist es etwas anderes: Markenzeichen für
ein Unternehmen, das den Massenmord
multimedial vermarktet, die Übernahme
des Holocaust durch Hollywood, die Verknüpfung von Show Business und Shoah
Business.
Sogar das Copyright an dem Foto gehört
der „Shoah Visual History Foundation“,
die Spielberg 1994 als private Stiftung ins
Leben rief, nachdem er „Schindlers Liste“
gedreht hatte, wobei ihm sowohl seine eigene jüdische Identität wie die Tatsache
bewusst wurde, dass die Nazis ein größeres Blutbad an den Juden in Europa unternommen hatten. Die Grundidee war, in
einem „Rennen gegen die Zeit“ so viele
Überlebende des Holocaust wie möglich
zu befragen, damit deren Lebensgeschichten und Erinnerungen der Nachwelt erhalten bleiben, „etwas zu schaffen, das die
Leugner des Holocaust Lügen straft“.
Michael Berenbaum dagegen, gelernter
Philosoph und Theologe, hatte mit dem
Thema schon länger beruflich zu tun: Er
war „Project Director“ für das Holocaust
Überlebende in Zeugenaufnahmen, Video-Cover: „Grundlage für die Erziehung zur Toleranz“
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M. LENGEMANN
herisches Mittel“ einsetzt. Denn wer möchte nicht, dass es in der Welt toleranter zugeht? Die einfache Frage, ob der Holocaust
ein Ergebnis mangelnder Toleranz war
oder, im Gegenteil, durch zu viel Toleranz
gegenüber den Nazis erst möglich wurde,
wird gar nicht erst gestellt. Sie passt nicht
in das Weltbild eines Zauberers, der in allen seinen Filmen am Ende das Gute über
das Böse siegen lässt.
Spielberg, obwohl in Amerika geboren
und in relativer Sicherheit aufgewachsen,
zählt sich mittlerweile ebenfalls zu den Holocaust-Überlebenden: „Vor 54 Jahren hätte ich in Buchenwald sein können. Ich wäre
nach Buchenwald gekommen, und ich hätte den Holocaust nicht überlebt … auch ich
wäre durch den Kamin gegangen“, halluzinierte Spielberg im November 1998 in einem Gespräch mit dem „Stern“, nachdem
er aus der Hand von Roman Herzog das
Bundesverdienstkreuz bekommen hatte
und es gar nicht fassen konnte: „Nur einen
Augenblick später bekomme ich den
höchsten deutschen Orden. Das zeigt, wie
viel wir geschafft haben: Deutschland ist
heute ein Ort geworden, an dem ihr mich
ehrt und nicht umbringt.“
Im Februar 1999 kam Spielberg wieder
nach Berlin, um eine „Goldene Kamera“
für sein Lebenswerk entgegenzunehmen.
Einen Tag nach der großen „Hör Zu“-Gala
im Konzerthaus am Gendarmenmarkt gab
die Shoah Foundation an gleicher Stelle
ein Fundraising-Dinner für rund 500 geladene Gäste, die pro Kopf 1000 Mark Eintritt bezahlt hatten, um „A wonderful evening with Steven Spielberg and his friends“
erleben zu dürfen, darunter auch Peter
Maffay, der an die Seite von Spielberg trat,
damit „Dinge, die im Dritten Reich geschehen sind, sich nie wiederholen“.
Diesmal gab es keine „Shoah-Torte“.
Dafür leuchtete über dem Portal mit der
breiten Freitreppe und den hohen Säulen
ein Schriftzug aus Neonröhren: „Shoah
Foundation“, die Ordner trugen Sticker mit
dem Aufdruck „Shoah Security“, Anrufer
wurden mit den Worten „Organisationsbüro Shoah“ begrüßt. Und während Spielberg im lockeren Plauderton berichtete, die
Shoah habe seinem Leben einen neuen
Sinn gegeben, wurde im Foyer des Konzerthauses ein „Ethnic Buffet“ aufgebaut,
links eine koschere Salatbar, rechts eine
lange Theke mit unkoscheren Schweinerei-
„Deutschland ist heute ein Ort geworden, an dem ihr mich ehrt“
PWE KINOARCHIV
Spielberg in Berlin, mit Berenbaum und „Shoah-Torte“ (Ausriss)
A. SAHIHI
Film-Szene aus „Schindlers Liste“ (1994): „Spielberg, der große Geschichtenerzähler, rettet die Überlebenden vor dem Vergessen“
Zurück zur Zukunft
Da kann es nur ein Wink der Vorsehung
sein, dass die Zentrale der Shoah Foundation ihren Sitz genau an der Schnittstelle
zwischen dem Gestern und dem Morgen
hat, direkt neben dem Gelände, auf dem
der Film „Back to the Future“ gedreht
wurde. Am Rande der Universal Studios in
Hollywood steht ein Ensemble von Baracken, das wie ein kleines Arbeitslager
aussieht. Es gibt kein Schild, keinen Hinweis darauf, dass hier ein einmaliges historisches Projekt verwaltet wird. Ein Ma248
schendrahtzaun soll unerwünschte Gäste
vom Gelände fern halten.
„Hi, ich heiße Carol und bin ein Kind
von Holocaust-Überlebenden“, begrüßt
eine attraktive Blondine den angemeldeten
Besucher. Carol Stulberg wurde „vor etwa
50 Jahren“ in Hannover geboren und kam
mit ihren Eltern als Kleinkind in die USA.
Um „bei der ,Shoah‘“, wie sie es sagt, mitzuarbeiten, hat sie eine Karriere als
Schmuckdesignerin aufgegeben. „Ich fühle mich glücklich und privilegiert, dass ich
diese Arbeit machen darf, für mehr Toleranz und für eine bessere Welt.“
Eine Aufgabe, die nicht nur ehrenvoll,
sondern auch mit unkalkulierbaren Risiken verbunden ist. „Machen Sie keine Fotos, auf denen zu sehen wäre, wo wir sind.
Wir wollen den Nazis keine Wegbeschreibung geben.“ Bis jetzt sei noch nichts passiert, aber man könne nicht vorsichtig genug sein.
Im Eingangsbereich hängen zehn Uhren, welche die jeweilige Ortszeit von Los
Angeles über New York, Buenos Aires,
Frankfurt am Main, Prag, London und Jerusalem bis St. Petersburg und Sydney anzeigen. Dazu eine große Wandtafel mit
dem „Collection Status“, der wie eine Börsenbilanz laufend aktualisiert wird. Seit
die Shoah-Foundation im Sommer 1994
ihre Arbeit aufgenommen hat, sind genau
50 023 Interviews in 57 Ländern und 32
Sprachen aufgenommen worden. Die Gesamtdauer der Bänder beträgt 115965 Stunden, es würde 13 Jahre, 3 Monate und 19
Tage dauern, wenn sich eine Person alle
Aufnahmen ansehen würde, „ohne zu essen, zu schlafen oder aufs Klo zu gehen“,
wie Carol ergänzend bemerkt.
Die Gesamtlänge der Videobänder liegt
bei 32 154 Meilen (51 751 km), während die
Erde nur einen Umfang von 24 900 Meilen
(40 075 km) hat. Für jedes Land wird die
dazugehörige Zahl der Interviews angezeigt. In den USA waren es 19 368, in Israel 8064, in Polen 1385, in Deutschland 658,
in Moldawien 348, in Costa Rica 19 und in
Finnland eines. Ein Resümee buchhalterischen Fleißes, das irgendwie an die nach
Ländern sortierten Deportationslisten erinnert.
„Was wir hier haben, sind 50 000 Bücher
ohne Titel, ohne Inhaltsverzeichnis, ohne
Seitenzahlen und ohne Index“, sagt Lee
Wind, ein Fachmann für Computer-Technologie und einer der etwa drei Dutzend „Katalogisierer“, die das Material „erfassen“. Lee führt ein Interview
vor, das bereits digital bearbeitet wurde, die Aussage eines Überlebenden
aus dem Lager P¬aszów bei Krakau.
Das Zwei-Stunden-Video wurde in 46
Kapitel eingeteilt, jedes Kapitel hat
eine Überschrift und eine Zusammenfassung bekommen.
„Wir können sehr spezifisch werden“, sagt Lee und fährt mit der Maus
von einer Kapitelüberschrift zur nächsten: „Essen in den Lagern, Abtreibung
in den Lagern, Tötungen in den Lagern, Erlebnisse beim Todesmarsch,
Forscher Kendrick: „Kostbar wie das Cola-Rezept“ Verlust der Angehörigen.“ Der StichA. SAHIHI
en, womit auch kulinarisch multikulturelle
Vielfalt und Toleranz demonstriert wurden,
und eine Klezmer-Kapelle mit dem Namen
„Die Schwindler“ da weiter machte, wo
Peter Maffay gerade aufgehört hatte.
Die Juden, verkündete der Filmemacher
anschließend in Interviews, „müssen aufhören, Opfer zu sein, sie müssen anfangen,
Lehrer zu sein“, während die Deutschen,
die immer noch in einem „Bewusstsein von
Schuld und Scham“ leben und „am liebsten ihr Deutschsein verleugnen“ würden,
wieder zu sich selbst finden sollten. „Es
ist, als müsse erst jemand von außen kommen, der alte Junge aus Amerika, um nebenbei auch den deutschen Krampf zu lösen“, jubelte die „Welt“ und gab bei der
Gelegenheit bekannt, bei seinem nächsten
Besuch in Deutschland würde Spielberg
gerne die Kollegin Leni Riefenstahl kennen
lernen.
„Spielberg ist eine wichtige kulturelle
Macht in der heutigen Welt“, sagt Michael
Berenbaum, die Stimme seines Herren, „er
weiß, dass man die Vergangenheit nicht ändern kann. Er will keine alten Rechnungen
begleichen. Es geht ihm um die Gestaltung
der Zukunft. Das ist seine Botschaft. Wenn
ich Deutscher wäre, würde ich das als befreiend empfinden.“
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Werbeseite
Werbeseite
Kultur
SHOAH-FOUNDATION
wortkatalog umfasse inzwischen rund FU Berlin und schrieb ihre Abschlussar11 000 Begriffe, ein guter Katalogisierer beit über die Deportation der deutschen
brauche etwa drei Arbeitstage, um ein In- Juden. Als die Shoah-Foundation Kataloterview von zwei Stunden Dauer zu erfas- gisierer suchte, schickte sie eine Bewersen, „manchmal mehr, manchmal weniger, bung nach L. A. und wurde angenommen.
je nach Gegenstand“.
Inzwischen ist sie „Cataloguing Content
Bis jetzt seien erst 2600 Interviews aus- Manager“, Leiterin der Abteilung, in der
gewertet worden. Wenn eines Tages alle die Interviews ausgewertet werden. Dabei
50 000 Interviews bearbeitet wären, könn- setzt sie auf die Methode „trial and error“,
ten zu jedem Stichwort beliebig viele Versuch und Irrtum. Es sei nicht ihre AufStatements abgerufen werden, zuerst von gabe, „Fakten zu checken, nachzuprüfen,
fünf Museen und Archiven in den USA, was richtig ist, was falsch“. „Unsere Sammdie mit dem Zentralrechner namens „Bob- lung ist auch neues Material. Es ist ein rieby“ der Shoah Foundation verbunden siges historisches Reservoir, das noch gar
wären, später auch von anderen „Usern“ nicht angezapft wurde.“ Im übrigen sei
mit Internetzugang. Vorher müssten nur „oral history“, mündliche Überlieferung
die Zugangsmodalitäten geklärt werden.
historischer Ereignisse, „ein sehr umstrit„Es ist phantastisch, hier zu arbeiten, tenes Gelände“, und weil dem so ist, „soll
eine großartige Erfahrung“, sagt Michael der Verbraucher entscheiden, wer die
Engel, Associate Executive Director der Wahrheit sagt, wer nicht“.
Shoah Foundation, 1955 in
Bei der Verlagerung des
Kanada geboren; er produHolocaust in den Cyberzierte TV-Commercials für
space, wo es schon zahllose
Budweiser und Pepsi, bevor
Webcams, Mailing Lists und
er von Spielberg als ProdukChatrooms für alle denkbationsmanager eingestellt wurren Bedürfnisse und Interesde. „Wir sind um die ganze
sen gibt, kommt es also nicht
Welt gefahren und haben Hoauf Tatsachen, sondern auf
locaust-Überlebende gefragt,
die Wünsche der Verbrauwas sie erlebt haben. Und nun
cher an. Und wie die Fans
nehmen wir die Geschichten,
von Star Wars oder Lara
die wir gesammelt haben, und
Croft „interaktiv“ mit ihren
bringen sie wieder in alle
Helden kommunizieren könWelt – als Filme, Bücher, CDnen, ist inzwischen auch der
Roms, was immer wir daraus
Holocaust zu einem vernetzmachen können.“
ten Abenteuerspielplatz geUrsprünglich sollte das
worden, bei dem die „User“
Material nur den großen Hosich ihr Programm selbst zulocaust-Museen zur Verfüsammenstellen können.
gung gestellt werden, aber Mitarbeiterin Stulberg
Der Historiker Gregory
dann habe man gemerkt,
Kendrick, 46, der zwei Jahre
„dass es noch andere Wege gibt, um mehr für die Shoah Foundation als Berater arMenschen zu erreichen. Wir bringen es zu beitete, spricht von einem „Holocaust für
den Leuten, statt dass die Leute es sich ir- jedermann“ und vom Primat der Technogendwo holen müssen“. Schon bald wür- logie über den Inhalt. „Das Motto war: Wir
den „pädagogische Produkte“ hergestellt machen etwas, das noch nie gemacht wurwerden, „in verschiedenen Sprachen, für de, nur weil wir in der Lage sind, es zu maverschiedene Altersgruppen, wir wissen chen.“ Man habe, erinnert er sich, allen
heute noch gar nicht, was alles machbar ist, Ernstes überlegt, auf dem Gelände von Uniwir haben die Technik dafür entwickelt, es versal einen Shoah-Pavillon zu bauen, in
ist unser Patent“.
dem die Besucher des Themenparks AusDank einer „cutting edge technology“, sagen von Holocaust-Überlebenden abrudie speziell für die Shoah-Kollektion ent- fen könnten – nach einem Besuch der
wickelt wurde, wird es möglich sein, von Bucht, wo der „Weiße Hai“ gedreht wurde,
Auschwitz nach Majdanek und von Treb- oder des Hauses, in dem Hitchcocks „Psylinka nach Groß-Rosen zu surfen, ohne cho“ entstanden ist. Die Interview-Sammsich den Strapazen einer Reise im Vieh- lung sei für die Foundation so wertvoll wie
waggon unterziehen zu müssen. Man wird das „Originalrezept für Coca Cola“: Rohganz kommod die irrsten Geschichten vom material, aus dem sich Filme, Bücher und
Leben und Sterben hören können, es wird Videoclips herstellen lassen.
etwas für jeden Geschmack dabei sein, erSharon Gillerman, 39, die mit einer Arzählt von Zeugen, die alles am eigenen beit über deutsche Juden in der Weimarer
Leib erlebt haben und nun andere an ihren Republik promoviert hat, war ebenfalls fast
Erlebnissen teilhaben lassen.
zwei Jahre bei der Shoah Foundation beAuch Karen Jungblut, 1964 im hessischen schäftigt. „Sie wussten, sie brauchten ein
Hofgeismar geboren, hatte schon früh den paar Historiker, aber sie mochten uns nicht.
Wunsch, „die ganze Sache von der Über- Wir störten nur den Betrieb.“
lebenden-Seite zu sehen“. Mit 15 fuhr sie
Das Shoah-Projekt sei nicht von Anfang
nach Israel, studierte später Politik an der an als „Quellenmaterial für historische For250
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Werbeseite
Werbeseite
FOTOS: A. SAHIHI
schung“ gedacht gewesen, sondern nur als
eine Sammlung von Familiensouvenirs,
„um jedem Überlebenden die Möglichkeit
zu geben, seinen Kindern und Enkeln seine Geschichte zu erzählen“.
Einmal, erzählt Gillerman, habe Spielberg einen Toast ausgesprochen: „To the
second rescue!“ – auf die zweite Rettung!
„Er hat sich vollkommen mit Oskar
Schindler identifiziert. Schindler hat über
eintausend Juden gerettet, und er, Spielberg, rettet die Überlebenden vor dem Vergessen.“
Chris Kenway, 49, der wie Sharon Gillerman über deutsche Geschichte promoviert hat und zwei Jahre als Historiker bei
der Shoah Foundation angestellt war, kann
sich an eine ähnliche Situation erinnern.
„Eines Tages kam Spielberg zu uns und
sagte: ,Mit diesem Projekt verhindern wir
einen zweiten Holocaust!‘“ Er habe es
vollkommen ernst gemeint, so wie die
Technologie-Experten es vollkommen
ernst meinten, als sie ein „dreidimensionales Hologramm konstruieren wollten,
eine begehbare KZ-Baracke als virtuelle
Realität“.
„Womit wir es hier zu tun haben, ist
Personenkult, wobei Geschichte als Vehikel
benutzt wird“, sagt Marc Fisher von der
„Washington Post“, der sich mehrmals
kritisch mit der Shoah Foundation beschäftigt hat.
Interaktive Shoah-CD: „Mit diesem Projekt verhindern wir einen zweiten Holocaust“
Spielberg, meint er, sei „ein perfekter
Handwerker und ein großer Geschichtenerzähler“, nur sei er sich seiner Grenzen
nicht bewusst: „The Holocaust is history,
not his story.“
Dass die Erinnerung an den Holocaust
inzwischen von Hollywood aus gemanagt
wird, habe mit dem Verhältnis der Amerikaner zur Geschichte zu tun. „Herkules
ist eine Gestalt aus einem Abenteuerfilm.
Moses ebenso. Die meisten Amerikaner
kennen die Geschichte der Zehn Gebote
und der Bibel vor allem als eine spannen-
de Kino-Geschichte… Wenn Sie herumfragen, wie Moses ausgesehen hat, werden
die meisten Befragten antworten: so wie
Charlton Heston.“
Spielberg und seine PR-Helfer haben es
zudem geschafft, ein grobes Missverständnis fest im öffentlichen Bewusstsein zu etablieren: dass er der erste und der einzige
sei, der die Zeugnisse von Überlebenden
einsammelt, unter Einsatz aller Ressourcen, wenige Minuten vor zwölf.
„Wir kennen über 200 Oral-History-Projekte überall in der Welt“, sagt Joan Rin-
Kultur
gelheim, Leiterin des Oral-History-Departments am Holocaust Memorial Museum in Washington, „Spielberg ist weder
der Erste noch der Einzige, der so etwas
macht, nur hat noch niemand 50 000 Interviews in fünf Jahren gesammelt.“
In ihrer Abteilung liegen 5800 Interviews, Audio- und Videobänder, die mit jüdischen und nicht-jüdischen Überlebenden
aufgenommen wurden, darunter Homosexuellen, Zeugen Jehovas, Sinti und Roma,
polnischen Katholiken und politisch Verfolgten.
Das Holocaust Memorial Museum in
Washington ist eines von fünf Depots, denen die Shoah Foundation Zugang zu
ihrem Material versprochen hat. Mit diesen
„Partnerships“, die deklamatorischen Charakter haben, macht die Shoah Foundation
vor allem Werbung für sich, will ihre Seriösität unter Beweis stellen.
Faktische Fehler
Jehuda Bauer, 1926 in Prag geboren und
neben Saul Friedländer und Raul Hilberg
der Historiker des Holocaust, betrachtet
das Shoah-Projekt von Jerusalem aus wie
ein richtiger Regisseur die Aufführung einer Laienspielschar – mit ironischer Gelassenheit: „Ich bin offiziell einer der Berater, aber man hat mich noch niemals um
Rat gefragt.“
Als die Shoah Foundation in Israel in
Zeitungsanzeigen Interviewer suchte, hat
er bei den dreitägigen Trainingsseminaren
Vorträge gehalten und dabei versucht,
Basiswissen zu vermitteln. „Es haben
sich Massen von Menschen gemeldet, Studenten, Hausfrauen, die waren alle neugierig, aber nicht qualifiziert. Sie wussten,
dass eine Shoah stattgefunden hat und dass
die Deutschen schlecht waren, das war
schon alles.“
Bauer schätzt, dass von den 50 000 Interviews, die gemacht wurden, „etwa 10
Prozent wertvoll sind und 90 Prozent nutzlos“. Er vergleicht das Projekt mit einem
„Glücksspiel“, bei dem eines von zehn Losen gewinnt. „Diese 5000 Interviews wären
nicht zu Stande gekommen, wenn nicht
auch die anderen gemacht worden wären.“
Als positives Beispiel zitiert Bauer die
Aussage eines 90-jährigen Mannes, der sich
an alles klar und genau erinnern konnte.
„Erinnerung kann mit der Zeit auch besser
werden. Seitdem er in Israel angekommen
ist, hat er nichts gemacht oder erlebt, was
für ihn wichtig war. Die Jahre bis 1945 waren für ihn die wichtigste Zeit in seinem
Leben. Wir haben seine Aussagen mit Dokumenten verglichen und festgestellt: Es
hat alles gestimmt.“
In anderen Fällen kam es vor, dass „der
Interviewte Tatsachen und Phantasie vermischte“; was nicht bedeutet, dass der Be-
fragte log. „Er glaubte fest daran, dass es
so war“, wie im Falle einer AuschwitzÜberlebenden, die vom Frauenlager aus
die Schreie der Vergasten gehört hatte.
„Sie konnte die Schreie nicht hören, das
ging nicht, aber sie war sich ganz sicher.“
Um solche „faktischen Fehler“ festzustellen, „müsste man jede Zeugenaussage
überprüfen, was wahr ist, was vermutlich
wahr, was vermutlich unwahr ist, was bestimmt unwahr ist. Das können nur Historiker leisten, dazu ist Spielberg mit seiner
Truppe nicht in der Lage.“
Warum überlassen dann Institutionen
wie Yad Vashem, dessen Forschungszentrum Bauer leitet, Spielberg das Feld? Bauer: „Ganz einfach. Wir haben kein Geld,
Spielberg hat Geld. Wir haben ihm vorgeschlagen, für diese Arbeit eine akademische Basis zu schaffen, eine Kooperation,
er wollte nicht. Ihn interessieren nur Sachen für den Sofortgebrauch, was nächstes
Jahr passieren wird, interessiert ihn nicht.
Es muss morgen früh sein.“
Bauer ist überzeugt, dass Spielberg an
der Katalogisierung des Materials scheitern wird. „Dann wird alles zu uns kommen, und wir werden die Arbeit weiter
führen. Das wird zwei bis drei Generationen dauern.“
In Yad Vashem werden seit 40 Jahren
Dokumente und Oral-History-Zeugnisse
gesammelt. Im Archiv der Gedenkstätte
Werbeseite
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Kultur
Shoah-Videoraum: 50 000 Bücher ohne Inhaltsverzeichnis, ohne Index, ohne Titel
256
Hälfte des Materials inzwischen katalogisiert.
Anders als bei der Shoah Foundation
werden hier die Interviewer wochenlang
für ihre Arbeit geschult; die Katalogisierer
sind gelernte Historiker, die „psychologische Wahrheiten“ von „historischen Tatsachen“ unterscheiden können. „Wir versuchen nicht, die Überlebenden zu Historikern zu machen.“
Das „Fortunoff Video Archive“, so benannt nach einem Mäzen, der eine Stiftung
eingerichtet hat, die jährlich 50 000 Dollar
Zinsen einbringt, ist eine der fünf Institutionen, mit denen Spielberg eine „Part-
nership“ erklärt hat. Aus Hartmans Sicht
stellt sich die Lage ein wenig anders dar.
Man habe sich von Anfang an bemüht,
Spielberg mit Expertenrat beizustehen.
„Wir hatten Bedenken, wie sich die Quantität des Projekts auf die Qualität der Interviews auswirken würde, und richtig problematisch wurde es, als die Shoah Foundation begann, sich als eine pädagogische
Einrichtung zu begreifen.“ Doch Spielberg
lehnt es „bis heute ab, mit anderen Organisationen zu kooperieren, die auch mit Projekten der Zeugnissicherung befasst sind“.
Hartman formuliert seine Kritik auf eine
altmodisch dezente Art, indem er sie in
A. SAHIHI
liegen rund 33000 Zeugenaussagen, schriftliche Erinnerungen, Tonband- und Videoaufnahmen, insgesamt „etwa 55 Millionen
Seiten von Dokumentationen“, die erst
zum Teil ausgewertet worden sind, weil es
an Geld und Personal mangelt.
Während Forscher aus aller Welt nach
Yad Vashem kommen, bleiben Sponsoren,
anders als bei Spielberg, der Gedenkstätte
fern. Denn Yad Vashem liegt nicht am Rande von Hollywood und schmeißt auch keine Gala-Benefiz-Partys, deren Besucher
viel Geld für das Vergnügen ausgeben dürfen, einen Abend im selben Raum mit einem leibhaftigen Star zu verbringen, der
ihnen ein „Ethnic Buffet“ servieren lässt
und den Begriff Shoah in ein Logo für gute
Laune verwandelt.
„Es kann sein, Spielberg glaubt, es gäbe
so etwas wie ,before Spielberg‘ und ,after
Spielberg‘ bei der Beschäftigung mit der
Shoah. Für ihn bedeutet das Wort nicht,
was es für mich bedeutet, ich verbinde damit keine Partys, keine Neonlichter und
keine Glasur auf einem Kuchen“, sagt
Geoffrey Hartman, 1929 in Frankfurt/Main
geboren, der 1938 als Neunjähriger mit einem „Kindertransport“ nach England
flüchten konnte.
Hartman, der immer noch gern Deutsch
spricht, ist Professor für Englisch und vergleichende Literaturwissenschaft an der
Universität Yale und leitet seit 1981 das
„Fortunoff Video Archive for Holocaust
Testimonies“, eine Unterabteilung der Yale
University Library in New Haven. Er hat
mit einem kleinen Stab von Helfern in
20 Jahren rund 4000 Interviews mit Überlebenden aufgenommen und etwa die
Tafel der aufgenommenen Zeugenaussagen: „90 Prozent der Interviews sind nutzlos“
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FOTOS: A. SAHIHI
Lob einbettet. Die von der Shoah Foundation gemachten Interviews „enthalten in
jedem Fall interessante Informationen und
zeigen Porträts bemerkenswerter Menschen“, doch liege „ihr historischer Wert in
der Bestätigung des Bekannten“. Viele
Überlebende würden „das Vorgefallene
mit Gehörtem oder Gelesenem vermengen“. In einer Sensationsgesellschaft entstehe fast „zwangsläufig der Trend, diese
Videos effektiv zu vermarkten“.
Damit hat die Shoah Foundation längst
begonnen.
1995 wurde das erste „pädagogische Produkt“ in Angriff genommen, der Film „Survivors of the Holocaust“. Der Erstling wurde 1996 von Turner Broadcasting System
im Fernsehen gezeigt – gesponsort von der
Chrysler Corporation und präsentiert vom
Chrysler Vice President Arthur C. Liebler
(„… damit sich solche Grausamkeiten nie
wiederholen …“) – und anschließend als
Video auf den Markt gebracht.
Der Film setzt weniger den Überlebenden des Holocaust als Spielberg und seiner
Foundation ein Denkmal. In einem 18 Minuten langen Vorspann wird die Arbeit der
Foundation vom Schauspieler und Spielberg-Freund Ben Kingsley vorgestellt:
„Zum ersten Mal in der Geschichte werden
wir in der Lage sein, uns durch tausende
von Stunden von Zeugenberichten zu navigieren. Eine revolutionäre ComputerTechnologie wird Menschen jeden Alters
überall in der Welt in die Lage versetzen,
mit der Vergangenheit zu interagieren, wie
das bisher noch nie der Fall war.“ Dann
unterhalten sich Spielberg und Kingsley miteinander, während
Spielberg am Computer
spielt und von einer
„emotionalen Technologie“ spricht.
Der eigentliche Film ist
dann nur noch 52 Minuten lang und enthält
Statements von nicht weniger als 40 Zeitzeugen,
lauter „sound bites“.
Kaum ein Bild steht länger als drei bis fünf Sekunden, es wird ständig
hin- und hergefahren,
überblendet und mit
historischem Material Managerin Jungblut
unter- und zwischengeschnitten, das nicht immer mit den Originaltönen zu tun hat.
Die optische Rutschpartie wird mit
kitschigen Effekten angereichert. Eine
Überlebende erzählt, sie habe sich im KZ
gewünscht, ein Vogel zu sein, denn „die
Vögel waren frei, und ich war es nicht“,
da flattern plötzlich Vögel über den
Bildschirm; doppelt genäht hält besser.
Kurz wird die Hinrichtung eines NS-Verbrechers gezeigt, und gleich darauf tanzen jüdische Einwanderer in Palästina auf
der Straße.
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Hollywood von der Stange
Das Ende des Films ist Hollywood von
der Stange: Sol Liber, ein Überlebender, im
Kreise seiner Familie, mit Frau, Kindern
und Enkeln, erklärt sich zum Sieger der
Geschichte: „So habe ich Hitler überlistet …“ Ganz zum Schluss kommt wieder
Spielberg ins Bild und sagt, diese Berichte
seien ein Beispiel dafür, „wie Geschichte
und kulturelle Toleranz gelehrt und gelernt
werden können“.
Inzwischen wird das Video von „amazon.com“ für 16,99 statt 19,90 Dollar angeboten. Auf der Hülle heißt es, die „Nettoerlöse“ aus dem Verkauf kämen der
Shoah Foundation zugute. Wer weiß, wie
„Netto-Erlöse“ in der Unterhaltungsindustrie berechnet werden, kann sich vorstellen, wie viel am Ende rüberkommt.
Doch das ehrgeizigste und am heftigsten promotete „pädagogische Projekt“ ist
eine interaktive CD-Rom, die bereits im
September 1996 auf der Homepage der
Foundation als ideal für Schulen angekündigt wurde, „da die Schüler wirklich durch eine KZ-Baracke gehen, dabei
verschiedene Menschen sehen, die sie
anklicken können, um ihre Lebensgeschichte zu hören“.
Zwei Jahre später wurde die fertige CDRom von Spielberg persönlich der Öffentlichkeit vorgestellt, am 11. September 1998
vor Schülern des Sophie-Charlotte-Gymnasiums in Berlin. Einen Monat darauf,
am 22. Oktober, führte Spielberg die CDRom an einer Schule für schwer erziehbare Kinder an der Lower East Side in New
York vor.
Das Ereignis wurde von deutschen wie
von amerikanischen Zeitungen gebührend
gewürdigt, vor allem der Einfall, als Moderatoren aus dem Off die Filmstars Winona Ryder und Leonardo DiCaprio einzusetzen, um junge Leute zu ködern, die
sich sonst für Geschichte nicht interessieren würden.
Der „interaktive“ Kick besteht darin,
dass vier Überlebende wahlweise angeklickt werden können, die Episoden aus
der Vorkriegszeit, der Kriegszeit und der
Nachkriegszeit erzählen und dazwischen
Infos zu Stichworten („SS“, „Adolf Hitler“, „Auschwitz“) angeboten werden.
Doch auch im Shoah-Business sind
große Namen nicht alles. Die Premiere
wurde nachträglich zur „pre-publication“
erklärt, die CD-Rom wegen „38 faktischer
Fehler“, wie Michael Berenbaum in einem
schwachen Moment zugab, zur Nachbesserung zurückgezogen.
Freilich auch die nachgebesserte Fassung
ist nicht fehlerfrei. Dass die Stadt Kassel in
die Nähe von Bielefeld verlegt wird, ist
von Los Angeles aus gesehen ein kleines
Versehen. Dass bei manchen Bildern die
Bildlegenden nicht stimmen, wiegt schon
schwerer. Dass die Zahl der in Auschwitz
ermordeten Menschen mal mit 1,1 und mal
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A. SAHIHI
Kultur
Shoah-Hauptquartier in Los Angeles: „Viele fragen sich, warum sie einem Mann Geld geben sollen, der selber so viel hat“
Der deutsche Ableger der Shoah Founmit 1,6 Millionen angegeben wird, mag eine
dation wurde am 4. Juni 1997 als eine „GeArt von Intelligenztest sein.
Dass die Zahl der ermordeten Zigeuner sellschaft mit beschränkter Haftung“ in das
auf „100 000 bis 200 000“ herunterge- Handelsregister beim Amtsgericht Frankschrieben wird, zeugt von massiver Ig- furt am Main eingetragen und vom Finoranz. Dass Palästina eine britische „Ko- nanzamt als „gemeinnützig“ anerkannt.
lonie“ war, die von den Briten 1948 an die „Zweck der Gesellschaft“, heißt es unter
Vereinten Nationen „übergeben“ wurde, dem Rubrum „Gegenstand des Unternehbestätigt nur die alte Regel: Knapp dane- mens“, ist „die Förderung der Volksbildung, insbesondere der Volksbildung im
ben ist auch vorbei.
Die CD-Rom ist der ganze Stolz der Zusammenhang mit der weltweiten AufShoah Foundation, sie „bringt Studenten klärung über den Holocaust“.
Die deutsche Shoah GmbH funktioniert
dazu, sich mit Rassismus, Hass und Antisemitismus zu beschäftigen, mit dem Ziel, als eine Sammelstelle für das kalifornische
Toleranz zu verbreiten“. Und was den Mutterunternehmen, ein Ansaugrohr für
USA gut tut, das ist für Deutschland gera- Bilder, Töne und Spenden, nicht nur um
dezu eine Notwendigkeit. „Wir wollen Er- weltweit „Aufklärung über den Holocaust“
ziehungsarbeit leisten“, sagt Ahavia zu leisten, sondern auch „um eine MögScheindlin, die Vizepräsidentin der Stif- lichkeit zu schaffen, mittels der Berichte
tung, „eine Botschaft der Toleranz und des mehr Toleranz zu lehren“, wie es in einer
von der Shoah GmbH verbreiteten WerZusammenlebens ist unser Ziel.“
Ahavia Scheindlin, 1945 in Philadelphia beschrift mühsam holpert.
Das Kleingedruckte zum weltweiten Togeboren, arbeitet seit Februar 1998 für die
Shoah Foundation und führt seit November leranz-, Lehr- und Genozid-Aufklärungs1998 das Berliner Büro der Organisation. Programm steht freilich woanders: in
den Erklärungen, die den
Die studierte Politologin
Interviewten abgenommen
(„Ich habe meine Abschlusswerden.
arbeit über Marx geschrieDa heißt es zwar, dass
ben“) hat in den USA als
ihre Aussagen „ausschließSpendeneintreiberin für die
lich zu historischen und
Demokratische Partei und
pädagogischen Zwecken
für die amerikanischen
Museen und anderen geFreunde von „Peace Now“
meinnützigen Vereinigungearbeitet. Ihre derzeitige
gen zur Verfügung gestellt
Mission in Deutschland verwerden“, doch zugleich besteht sie als eine Art Dienst
hält sich die Shoah GmbH
am Volk, ein Mix aus Erziealle übrigen und weiteren
hung, Therapie und SeelsorVerwertungsoptionen vor.
ge: „Wir sind hier, um Dis„Spielberg raubt den Überkussionen anzuregen, um die
lebenden ihre LebensgeMenschen zu erziehen. Der
schichten, als Dank bekomHolocaust geht nicht nur die
men sie einen von ihm unJuden als Opfer etwas an. Die
terzeichneten Brief und
Beschäftigung mit diesem
fühlen sich noch geehrt“,
Thema wird den Deutschen
sagt eine junge Berlinerin,
helfen, gesünder zu werden,
die einige Interviews geihren Mangel an Selbstbewusstsein zu überwinden.“ Ex-Mitarbeiterin Gilermann führt hat und aus Angst vor
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Konsequenzen nicht genannt werden
möchte. Denn auch sie hat, wie alle Interviewer, eine Erklärung unterschrieben, in
der es heißt: „Als wesentlicher Teil meiner
Pflichten verpflichte ich mich, sämtliche
Informationen, die mir im Zusammenhang
mit meiner Tätigkeit für die Stiftung bekannt werden, geheim zu halten und nicht
den Medien oder irgendjemandem sonst
gegenüber zu veröffentlichen …“
Der Hollywoodisierung des Holocaust
folgt dessen heimliche Privatisierung durch
die Firma Spielberg & Partner in der „Hall
of Fame“ der Geschichte.
„Steven Spielberg ist jetzt schon unsterblich“, sagte noch im Februar 1999
Michael Berenbaum, ohne zu ahnen, dass
der Unsterbliche ihn bald darauf feuern
würde, „er will nur noch Gutes tun. Für
viele Menschen ist Philanthropie der Weg
zur Unsterblichkeit. Für Steven ist Philanthropie eine Möglichkeit, der Welt das
zurückzugeben, was er bekommen hat.“
Doch Spielbergs Demut und Bescheidenheit halten ihn nicht davon ab, immer
wieder zu zeigen, wem die „Shoah“ wirklich gehört. Alle Projekte und Produkte
der Foundation tragen den Vermerk: „Steven Spielberg in Association with Survivors
of the Shoah Visual History Foundation
presents …“, was so viel bedeutet wie:
„Steven Spielberg präsentiert in Verbindung mit Steven Spielberg …“ Der „Master Teacher“ („Chicago Tribune“) hat bei
allem das erste und das letzte Wort.
„Es gibt eine heftige Konkurrenz unter
den verschiedenen Holocaust-Projekten in
den USA“, sagt Geoffrey Hartman, „alle
sind auf Sponsoren angewiesen, die erst
überzeugt werden müssen.“ Im Falle der
Shoah Foundation, die sich ebenfalls aus
Spenden finanziert, sei Spielberg zwar das
prominente Zugpferd, aber auch ein Handicap für die Organisation. „Viele fragen
sich, warum sie einem Mann Geld geben
sollen, der selber so viel hat.“
Unter den „Top 40 Entertainers“ des
US-Magazins „Forbes“ für das Jahr 1998
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Kultur
angelegt, sondern auch gleich eine Lizenz
zum Gelddrucken erfunden. Wer immer
authentische Originaltöne für Dokumentationen über den Holocaust, über die
Raubzüge der Nazis, über das Leben in
Osteuropa vor dem Krieg und die Mühen
des Überlebens nach dem Krieg brauchen
wird, der kommt am Archiv der Shoah
Foundation nicht vorbei.
Und wie bei allen Projekten der angewandten Selbstlosigkeit, bei denen es darum geht, die Welt zu verändern, dem
Guten zum Siege und dem Bösen zum
Untergang zu verhelfen, stellt sich
auch hier die Frage: Wer kassiert die
Kohle?
Kaum vorzustellen, dass einer, der
175 Millionen Dollar brutto im Jahr
verdient und dessen Vermögen auf 1,6
Milliarden Dollar geschätzt wird, auf
ein paar zusätzliche Tantiemen aus
sein könnte. Andererseits: Im Showbusiness gilt wie in jedem anderen Geschäft die Regel: Wer viel hat, will noch
mehr.
Und dann gibt es das gewachsene
Selbsterhaltungsinteresse eines Apparats, der expandieren muss, wenn er
Shoah-Vertreter Engel: Globales Happy End
nicht stagnieren will. Die Shoah Foundem würde die Welt etwas, das sie umsonst dation beschäftigt etwa 150 Mitarbeiter in
bekommt, nicht schätzen.“ Deswegen sol- Los Angeles und unterhält Büros in Israel,
len sich nicht nur Personen, sondern auch Deutschland, Rumänien, Ungarn, Polen,
Stiftungen, Regierungen und große Firmen Russland und der Ukraine.
an den Kosten beteiligen. „Alle sollen zusammenkommen und sagen: Wir machen
Bündnis für die Shoah
es, weil wir etwas bewirken wollen, und
das ist uns was wert.“
„Die Jungs da drüben in L. A. sind knallUnd um den langen Weg zu einer bes- harte Geschäftsleute“, sagt Beate Wedeseren Welt, zu einem globalen Happy End, kind, ehemalige Chefredakteurin der
ein wenig zu verkürzen, bietet die Foun- „Bunten“, voller Bewunderung.
dation seit kurzem „bevorzugten Zugang“
Seit sie Spielberg im November 1998 gezu ihrem visuellen Geschichtsarchiv an. troffen hat, ist der Holocaust für sie „ein
Obwohl erst etwa fünf Prozent des Mate- Thema“, mit Spielberg zu arbeiten, „hat
rials katalogisiert und ausgewertet wurden, mir einen Horizont eröffnet, den ich exkönnen sich Menschen und Organisatio- trem interessant finde“. Sie habe daran
nen jetzt schon in der Asservatenkammer mitgearbeitet, dass er eine „Goldene Kades Holocaust bedienen. Sie müssen vorher mera“ bekommt und bei der Gelegenheit
nur einen Antrag ausfüllen, in dem ihnen auch gleich die Organisation der Shoahauch die Bedingungen und Kosten des Vor- Benefiz-Gala übernommen.
aus-Zugangs erklärt werden.
Beate Wedekind ist die VerbindungsJede Arbeitsstunde wird mit 25 Dollar frau zwischen dem Springer Verlag und
berechnet. Für jedes Interview, das zur An- der Shoah GmbH, die mietfrei ein paar
sicht vorgelegt wird, müssen 15 Dollar be- Räume in einem Springer-Haus nutzen
zahlt werden. Die Video-Kopie eines In- darf. Springer trägt auch alle Bürokosterviews kostet 35 Dollar plus Versand- ten, vom Aktendeckel bis zur Telefonrechnung, die bei der Shoah GmbH ankosten.
Doch das sind Peanuts verglichen mit fallen.
Und weil die Aussöhnung zwischen den
den Lizenzgebühren, die anfallen, wenn
ein Produzent Material für einen Film Deutschen und ihrer Geschichte auf der eihaben möchte: 45 Dollar pro Sekunde, nen und den Juden auf der anderen Seite
das macht 450 Dollar für einen Zehn-Se- für Axel Springer immer ein Anliegen war,
kunden-Clip oder satte 2700 Dollar für hat der Springer Verlag zusammen mit den
eine Minute Holocaust-Horror aus erster Verlagen Bertelsmann und Burda Ende
Hand. Um Antragsteller, die weniger edle 1998 die Initiative „Partners in Tolerance“
Ziele verfolgen, abzuschrecken, müssen gegründet – „zu Gunsten der Shoah
die Lizenzgebühren im Voraus bezahlt Foundation“.
Völlig berauscht von der Vorstellung, an
werden.
Damit hat die Shoah Foundation nicht der Seite von Spielberg dafür zu sorgen,
nur eine gigantische Holocaust-Data-Bank dass sich der Holocaust nicht wiederholt,
D. ROSENTHAL
steht Spielberg mit 175 Millionen Dollar
Einkommen auf Platz 3 der Liste. Im gleichen Jahr lag das Budget der Shoah Foundation, laut Michael Engel, bei etwa 18 Millionen Dollar. Spielberg könnte also mühelos die Betriebskosten der Foundation
übernehmen – und würde dabei sogar noch
Steuern sparen.
„Steven möchte nicht, dass es so aussieht, als wäre die Foundation sein privates
Hobby“, sagt Ahavia Scheindlin, „außer-
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A. SAHIHI
Kultur
Spielberg-Forum am Berliner Gendarmenmarkt: „Ethnisches Buffet“ mit koscherer Salatbar und unkoscheren Schweinereien
traten weitere Medienunternehmen (Ehapa, Kirch Gruppe, Sebaldus) und Prominente (Thomas Gottschalk, Ilona Christen, Uschi Glas) dem Bündnis bei, und
schon am 10. Februar 1999 konnte die
Initiative eine „erfolgreiche Bilanz“ vermelden: 2,6 Millionen Mark. Zusammen
mit den Einnahmen aus der Benefiz-Gala
verfügt die deutsche Shoah GmbH damit
über knapp drei Millionen Mark, die
nun in Aufklärungsarbeit und Toleranzerziehung in Deutschland investiert werden
sollen.
Natürlich wurde in Deutschland über
den Holocaust schon geredet, bevor sich
Spielberg seiner angenommen hat, nur
nicht richtig, meint Ahavia Scheindlin, die
Geschäftsführerin der deutschen Shoah
GmbH: „Zuerst waren es die Täter, dann
die Kinder der Täter, dann die Kinder der
Kinder. Alle waren zu sehr emotional in die
Geschichte verwickelt, niemand hatte die
Distanz, die man braucht, wenn man junge Menschen mit ihrer Geschichte vertraut
machen will, damit sie daraus für die Zukunft lernen.“
Genau dies möchte die Shoah GmbH
leisten, sagt Ahavia Scheindlin: „Wer,
wenn nicht wir, wäre besser in der Lage,
den Deutschen klar zu machen, was sie angestellt haben? Man kann doch nicht erwarten, dass sie sich selbst helfen.“
Eine Art von Ablasshandel also, aber mit
Hilfe „modernster Kommunikationsmittel“, wie Beate Wedekind betont. „Es gibt
264
Shoah-Ex-Generaldirektor Berenbaum
Handel mit Überlebenden
die Wannseevilla, und es gibt Museen, aber
das ist alles nicht massentauglich.“ Anders
sehe die Sache aus, „wenn sich diese drei
großen Verlage zusammentun“ und gemeinsam Projekte starten wie eine deutsche CD-Rom für den Gebrauch an deutschen Schulen. „Parallel dazu“ werde man
sich „Gedanken machen, was andere Kommunikationsmittel sind, die man nutzen
kann, die eigenen Medien, das Fernsehen,
was auch immer …“
Das Shoah-Business, diesmal als amerikanisch-deutsche Koproduktion, steht erst
am Anfang eines mächtigen Booms. Kurz
bevor Michael Berenbaum als Generaldirektor der Foundation gefeuert wurde – er
macht als Berater weiter und schweigt über
die Gründe der Trennung –, hatte er noch
eine Vision. Mit Hilfe des Shoah-Materials
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könnte beinah jede deutsche Kommune
ihre jüdische Vorkriegsgemeinde „rekonstruieren“ – durch die Aussagen der Überlebenden.
Schneller als erwartet scheint die Idee
Gestalt anzunehmen. In Dresden möchte
man „diese Zeitzeugnisse sehr gern haben,
um sie der entsprechenden Nutzung zur
Verfügung stellen zu können“, wie es der
Direktor der Landesbibliothek im schönsten Behördendeutsch artikuliert. Nur die
geschätzten Kosten von etwa einer halben
Million Mark machen den Verantwortlichen zur Zeit noch Sorgen.
Wenn auch dieses Pilotprojekt klappt,
werden andere Gemeinden folgen, und die
Shoah Foundation wird jeder Stadt, die es
sich leisten kann, ein paar Holocaust-Überlebende zur Ansicht überlassen, zugleich
mit der tröstlichen Botschaft, dass es doch
möglich war zu überleben, wenn man sich
nicht zu dumm angestellt hat.
„In Deutschland bringt man unserer Arbeit enorm viel Verständnis und Aufmerksamkeit entgegen“, freut sich Ahavia
Scheindlin. In den nächsten Jahren möchte die professionelle Fundraiserin 30 Millionen Dollar für die Shoah Foundation in
Deutschland einsammeln, bei privaten
Spendern, Stiftungen, Unternehmen und
öffentlichen Kassen.
„Wir gehören hierher, so sehr wie wir
nach Kalifornien gehören. Und wir bleiben hier, bis die Menschheit gelernt hat, in
Toleranz zusammenzuleben.“
™
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T. RABSCH
Überlebenskünstler Jünger (1996): „Wir lassen doch allmählich die Moderne hinter uns“
INTELLEKTUELLE
Duell der Orakel
Beide sahen sich als Ausnahmegestalt: Carl Schmitt, „Kronjurist“
des Dritten Reiches, und Ernst Jünger. Im Briefwechsel
der konservativen Vordenker spiegeln sich deutsche Miseren.
268
Berlin, den prominenten Jünger schließlich zu sich nach Hause ein. So begann Mitte 1930 ein unter Kennern schon legendäres Gipfelgespräch: Über 50 Jahre lang, so
zeigt es nun ihre Korrespondenz, haben
die beiden Einzelgänger einander auf sehr
DEUTSCHES LITERATURARCHIV MARBACH
W
eshalb kannten die Herren sich
eigentlich nicht schon lange? Waren sie einander im mondänen
Berlin der späten zwanziger Jahre gar absichtlich aus dem Weg gegangen?
Irgendwann mussten sie doch aufeinander treffen, der geschniegelte Abenteurer
und rechte Wortschütze Ernst Jünger (1895
bis 1998), Verfasser des autobiografischen
Kriegs-Bestsellers „In Stahlgewittern“, und
der streitbare katholische Jurist Carl
Schmitt (1888 bis 1985), der „Politische
Theologie“ und „Verfassungslehre“ in Begriffsdichtung verwandeln konnte. Beide
spähten ja in die politische Zukunft, beide
zogen Risiko, Autorität und Entscheidung
der gemächlichen Demokratie vor. Auch
an literarischer Phantasie waren die hochgebildeten Versailles-Gegner ebenbürtig.
In lockerem Ton lud Schmitt, seit 1928
Professor an der Handelshochschule in
deutsche Art intellektuell begleitet, bestärkt und belauert*.
So bezog Jünger gleich strategisch Posten: „Aus dem, was Sie … sagen, sehe ich,
daß es einen Punkt gibt, von dem aus wir
uns … durchaus verständigen können.“ An
Schmitts Buch „Der Begriff des Politischen“, das den nackten Gegensatz von
Freund und Feind zum entscheidenden
Axiom jeder Macht erhob, lobte der Prosaist hochnäsig „die vollkommene Sicherheit, Kaltblütigkeit und Bösartigkeit“ und
schloss martialisch: „Ihnen ist eine besondere kriegstechnische Erfindung gelungen:
eine Mine, die lautlos explodiert.“
Doch die Imponiergesten verpufften
schnell. Kollegial tauschten beide MachtAnalytiker bald Buchtipps und Werkstattberichte. „Was ich beabsichtige, ist [,] jedes
Ethos aus dem Arbeitsbegriff herauszubringen“, erläuterte Jünger seine geplante
Schrift „Der Arbeiter“. Schmitt, der den
„Kultur-Schleim des 19. Jahrhunderts“
samt dem Humanitätsdenken genauso verachtete, konnte nur zustimmen.
Selbst Hitlers Machtergreifung 1933
störte ihren Kontakt nicht, auch wenn nun
die Wege sich trennten. Schmitt trat in die
Partei ein und hoffte, juristischer Tonangeber des neuen Staates zu werden, der
in seinen Augen endlich nicht nur legal,
sondern auch legitim die Macht ausübte.
Jünger hingegen war aus dem braunen Berlin nach Goslar abgewandert; seine Briefe
an den „Sehr verehrten Herrn Staatsrat“
erzählten meist von entlegener Lektüre.
Nur einmal nannte er die NSDAP-Schnüffler keck ein „Hohes Inquisitionstribunal“.
Wenige Tage nachdem Hitler 1934 seine
Gegner aus der SA hatte ermorden lassen,
peilte Jünger von der Urlaubsinsel Sylt aus
die Weltlage: „Wir lassen doch allmählich
die Moderne hinter uns – jeder neue Akt
wird irgendwie spannender.“ Er ahnte
nicht, dass Schmitt, der „von Haus zu
Haus“ zu grüßen pflegte und nun auch
Patenonkel von Jüngers Sohn Carl Alexander war, über einem Artikel saß, der die
Mordaktion stützen sollte: „Der Führer
schützt das Recht“.
Kein Wort verlor Jünger darüber, und er
schwieg auch, als der „Kronjurist“ gut zwei
Jahre später von der Nazi-Führung kaltgestellt wurde. Stattdessen übte er sich als Visionär: „Wir stehen jetzt im 22.
Jahre des Weltkrieges, der damit vielleicht zum Drittel hinter
uns liegt.“
Doch für Prophetentöne hatte Schmitt keinen Jünger nötig.
So gab er lieber eine alte okkultistische Deutung des Alphabets
zum Besten oder schwärmte
über einen Ausflug ins „Moselnest“ Nennig, „wo das schöns-
Jünger, Schmitt (1941): Grüße „von Haus zu Haus“
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* Ernst Jünger, Carl Schmitt: „Briefe 1930 1983“. Hrsg., kommentiert und mit einem
Nachwort von Helmuth Kiesel. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart; 896 Seiten; 78 Mark.
Werbeseite
Werbeseite
Kultur
te antike Mosaik der Erde … versteckt
liegt“.
Als Jünger im Oktober 1938 von seinem
neuen Wohnort Überlingen meldete, das
Patenkind verkrieche sich immer, wenn
Flieger herandröhnten, nahm Schmitt die
Gelegenheit zur Global-Diagnose wahr:
„Carl Alexander fühlt wahrscheinlich
schon, daß wir Erdbodenkriecher durch
die Flugzeuge um eine Dimension herabgedrückt werden und unser Erdboden sich
dadurch, daß über ihm ein Luftverkehrsnetz gespannt ist, eigentlich in eine Art
Meeresboden verwandelt.“
Derlei Feinsinn behagte beiden, vor allem jetzt, wo jeder auf seine Art isoliert
war. „Der Weltgeist gibt uns doch viel zu
sehen“, munkelte Jünger, als der deutsche
Einmarsch in Polen begonnen hatte. Und
auch Schmitt neckte die braunen Zensoren
– etwa im September 1940:
Schmitt den unmusikalischen Jünger zu
reizen, wenn er seinen Glückwunsch mit
dem Karfreitags-Trostwort aus Wagners
„Parsifal“ schloss („Du weinest – sieh, es
lacht die Aue“)?
Der Unmut staute sich nicht nur, weil
Schmitt nach einer Internierung durch die
Alliierten geächtet im westfälischen Plet-
Vorigen Dienstag war ich in der Premiere
des neuen Films „Jud Süss“. Ich empfehle
Ihnen sehr, sich das anzusehen. Er ist
überaus aufschlußreich, in vielen Hinsichten, wenn auch vielleicht nicht so, wie seine Urheber es beabsichtigten.
Allerdings hatte Jünger, seit 1939 wieder
Soldat, aus eigener Anschauung der Kriegsschrecken bald mehr zu bieten.
Heute meldete mir meine Ordonanz zum
Frühstück den Beginn des Krieges mit Rußland; ich nahm das auf „als wenn man
so’n Butterbrot ißt“, wie mein Großvater,
der Knabenlehrer, zu sagen pflegte. Es
scheint mir überhaupt, als ob ich rapide
aus dem Historischen heraustrete; Scho-
Schmitt lästerte, Jünger habe
„weder ein Fenster noch
eine Tür zum Mitmenschen“
Bestseller
Belletristik
1 (1) Donna Leon Nobiltà
Diogenes; 39,90 Mark
2 (5) Isabel Allende Fortunas Tochter
Suhrkamp; 49,80 Mark
3 (2) John Irving Witwe für ein Jahr
Diogenes; 49,90 Mark
4 (4) Günter Grass Mein Jahrhundert
Steidl; 48 Mark
5 (3) Henning Mankell
Die falsche Fährte Zsolnay; 45 Mark
6 (6) Henning Mankell
Die fünfte Frau Zsolnay; 39,80 Mark
7 (11) Johannes Mario Simmel Liebe ist
die letzte Brücke Droemer; 44,90 Mark
8 (7) Walter Moers Die 131/2 Leben des
Käpt’n Blaubär Eichborn; 49,80 Mark
9 (10) Birgit Vanderbeke Ich sehe was,
was du nicht siehst Fest; 29,80 Mark
10 (8) John Grisham Der Verrat
Hoffmann und Campe; 44,90 Mark
penhauer hatte doch recht, wenn er dieses
Element einem ständig rotierenden Kaleidoskope mit einer geringen Zahl von Figuren verglich.
Schmitt, in Egozentrik ungern Zweiter,
mochte über so viel Dünkel doch den Kopf
schütteln. Sicher grüßte er als „Ihr alter
und unveränderlicher“, aber insgesamt sah
er sich gegenüber dem erschreckend munteren Rivalen im Hintertreffen. Als er 1943
auch noch ausgebombt wurde, klangen die
Lektüre-Funde aus Edgar Allan Poe oder
Nikolaus Lenau („Trotz vieler Verschmiertheiten eine echte Antenne“) nur
noch wie klägliche Lebenszeichen.
Zu Jüngers 50. Geburtstag fabelte
Schmitt im März 1945 hintersinnig, er würde dem Jubilar so gern „eine große,
27(!)bändige Enzyklopädie aus den Jahren
um 1780 ,Du Naufrage‘ („über den Schiffbruch“) besorgen, die ein ungeheures Material zu Ihrem Thema enthält“. Hieß das
insgeheim, auch der andere habe mal einen „Schiffbruch“ verdient? Und glaubte
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11 (12) Paulo Coelho Der Alchimist
Diogenes; 32 Mark
12 (–) Martha Grimes
Die Frau im Pelzmantel
Goldmann; 44 Mark
Krimi-Star läßt
wieder sterben:
Inspektor Jury enträtselt
einen mysteriösen Mord
13 (9) Marianne Fredriksson Simon
W. Krüger; 39,80 Mark
14 (13) Maeve Binchy Ein Haus in
Irland Droemer; 39,90 Mark
15 (14) Terry Brooks Star Wars –
Episode 1: Die dunkle Bedrohung
Blanvalet; 29,90 Mark
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tenberg lebte. Bei dem Staatsdenker, der
nur abseits der Öffentlichkeit als „Don Capisco“ einige treue Schüler um sich sammeln konnte, lösten die Nachkriegserfolge
des Briefpartners blanken Neid aus.
Als sich Jüngers utopischer Roman
„Heliopolis“ 1949 überraschend gut verkaufte, begann Schmitt in seinem privaten
Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich
ermittelt vom Fachmagazin „Buchreport“
Sachbücher
1 (1) Sigrid Damm Christiane und
Goethe Insel; 49,80 Mark
Ich bin aber auch berechtigt, Ihnen in der
Sache Rat zu erteilen; ich habe das angesichts der folgenschwersten Entscheidung
Ihres Lebens nachgewiesen … Wären Sie
aber in der Sache meinem Rat und Beispiel
gefolgt, so würden Sie heute vielleicht nicht
mehr am Leben sein, aber berechtigt zum
Urteil in letzter Instanz über mich. Wäre ich
damals Ihrem Rat und Beispiel gefolgt, so
würde ich heute gewiss nicht mehr am Leben sein, weder physisch, noch sonst.
2 (2) Waris Dirie Wüstenblume
Schneekluth; 39,80 Mark
3 (–) Marcel
Reich-Ranicki
Mein Leben
DVA; 49,80 Mark
Kritiker-Star als
Außenseiter: ein
Leben zwischen
Grauen und Glück
4 (3) Corinne Hofmann
Die weiße Massai A1; 39,80 Mark
5 (5) Dale Carnegie
Sorge dich nicht, lebe!
Scherz; 46 Mark
6 (4) Ruth Picardie Es wird mir fehlen,
das Leben Wunderlich; 29,80 Mark
7 (7) Tahar Ben Jelloun Papa, was ist
ein Fremder? Rowohlt Berlin; 29,80 Mark
8 (6) Klaus Bednarz Ballade vom
Baikalsee Europa; 39,80 Mark
9 (8) Daniel Goeudevert Mit Träumen
beginnt die Realität
Rowohlt Berlin; 39,80 Mark
10 (11) Bodo Schäfer Der Weg zur
finanziellen Freiheit Campus; 39,80 Mark
11 (9) Jon Krakauer In eisige Höhen
Malik; 39,80 Mark
12 (14) Jon Krakauer Auf den Gipfeln
der Welt Malik; 39,80 Mark
13 (10) Guido Knopp Kanzler – Die
Mächtigen der Republik
C. Bertelsmann; 46,90 Mark
14 (13) Gary Kinder Das Goldschiff
Malik; 39,80 Mark
15 (12) Peter Kelder Die Fünf „Tibeter“
Integral; 22 Mark
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„Glossarium“ über die „entsetzliche Sparsamkeit der ihre Einfälle restlos verwertenden Vollmonade“ namens Jünger zu
grollen. „Weder ein Fenster noch eine Tür
zum Mitmenschen“ habe dieser Mann,
dazu „die ärmste, engste Stimme, die ich in
meinem Leben gehört habe“.
Mit ausgelöst hatte den Wutanfall, dass
im „Heliopolis“-Roman „Parsen“ vorkamen – eine Chiffre für die Juden. Schmitt,
seit langem unbelehrbar antisemitisch, fing
an zu kritteln, blieb, obwohl „freundschaftlich gewarnt“, hartnäckig und bekam
plötzlich von Jünger, dem Jüngeren, in Sachen Antisemitismus eine Predigt:
Diese Abrechnung mit seinem fatalen
Schritt von 1933 brachte Schmitt in Wut.
„Ist das nicht die Rabulistik eines Ich-verrückten Rechthabers? Nachwirkung seines
Mescalin-Experiments?“, notierte er. An
Jünger schrieb er nur: „Capisco et obmutesco“ („Ich begreife und verstumme“);
der antwortete „In alter, durch Meinungen – auch durch die Ihre (über den Unterzeichneten) – nicht zu erschütternder
Freundschaft“.
Doch Herzlichkeit kam nun kaum mehr
auf. Zwar schmeichelten beide verknöcherten Fahrensleute einander bald
wieder mit Ehrentiteln wie „Vor-Weiser“
(Jünger über Schmitt, 1957), tauschten Geburtstagsgrüße aus und lästerten über das
Sündenbock-Bedürfnis der Nachkriegsdeutschen. Aber für einen intellektuellen
Dialog waren die Orakel-Onkel längst zu
alt und festgefahren. Es blieben Veteranensprüche: „Die Zahl der Zeitgenossen,
mit denen noch ein Gespräch sich lohnt,
vermindert sich rapid, besonders in
Deutschland“, schrieb Jünger etwa 1972.
Endlich überlegten die Greise gar gemeinsam, ob ihre Korrespondenz nach
Klassikerart druckreif gemacht werden solle.Was nun erschienen ist – auf fast 900 Seiten, breit und nicht sehr präzise kommentiert –, hätte wohl auch sie stutzig gemacht,
so sicher haben der verpanzerte „Anarch“
(Jünger über Jünger) und der verstockte
„Chaopolit“ (Schmitt über Schmitt) einander durchschaut.
Trotzdem oder gerade deshalb führt ihr
langwieriges Kräftemessen zu keinem Ziel.
Noch in einem Glückwunsch von 1983
raunte Jünger dem Älteren zu: „Gehen Sie
mir weiterhin voran.“ Wohin, darüber hatte er sich mit Bedacht von jeher ausgeschwiegen.
Johannes Saltzwedel
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Knallen muss es auf der Bühne
Intendant Klaus Bachler über seinen Start am Wiener
Burgtheater, aufgeblasene Theaterkrawalle und seinen Vorgänger Claus Peymann
SPIEGEL: Herr Bachler, der Schriftsteller
Thomas Bernhard schrieb einmal, wer als
Intendant des Burgtheaters antrete, sei automatisch ein toter Mann. Wie fühlen Sie
sich?
Bachler: Höchst lebendig, danke der Nachfrage. Es rührt mich, dass Sie sich solche
Sorgen machen.
SPIEGEL: Kränkt es Sie, dass in der Presse,
in der österreichischen zumal, so getan
wird, als käme nach dem großen Claus nun
der kleine Klaus?
Bachler: Schauen Sie mich an. Ich bin doch
groß genug, oder? Man hat hier viele Vorgänger, da ist Claus Peymann nur einer, an
dem man sich messen lassen muss, und
nicht unbedingt der Größte. In Wirklichkeit
ärgert mich etwas ganz anderes, nämlich,
dass immer weniger wichtig wird, was eigentlich im Theater selbst passiert. Statt
dessen werden die Außenwirkung, der Effekt für die Medien, die Public Relations
das Beherrschende.
SPIEGEL: Trotzdem trauern schon jetzt viele den Krawallzeiten mit Peymann hinterher. Muss nicht heutzutage jeder Theaterdirektor auf dem Medienklavier spielen?
Bachler: Ich trete mit der Behauptung an,
dass man das nicht muss. Man muss natürlich klar und manchmal zugespitzt argumentieren. Aber bisher war es doch oft so,
dass der Stellvertreterkampf nach außen
den Theatern selber eher geschadet hat.
Der Knall, den der Direktor vor einer Premiere auslöst, nimmt die Energie weg für
den Knall, der eigentlich auf der Bühne
zünden müsste. Im übrigen mache ich diesen Job so, wie es meinem Charakter entspricht. Ich kann mich da nicht an meinem
Vorgänger orientieren.
SPIEGEL: Ihr Vorgänger startete 1986 mit
vier eigenen Inszenierungen: Er nahm die
Burg im Sturm. Mit welchem Programm
wollen Sie, der nicht selber Regie führende Theaterchef, nun loslegen?
274
P. RIGAUD / ANZENBERGER
Bachler, 48, wurde im österreichischen
Judenburg geboren und lernte am Wiener
Max-Reinhardt-Seminar das Schauspielhandwerk. Nach Engagements unter anderem in Hamburg und Berlin
wechselte er 1987 ins Theater-Management, leitete 1991 bis 1996 die Wiener
Festwochen und seit 1996 die Wiener
Volksoper. In dieser Woche eröffnet
Bachler seine erste Saison als Chef des
Burgtheaters.
Burgtheater-Intendant Bachler: „Ich bin doch groß genug“
Bachler: Egal, ob als Leiter der Wiener Festwochen, als Intendant der Wiener Volksoper oder jetzt als Direktor des Burgtheaters: Ich musste bei jeder Station völlig neu
anfangen, und genau das will ich auch jetzt
wieder tun. Um dem Wiener Publikum die
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Regisseure und Schauspieler vorzustellen,
mit denen wir eine kontinuierliche Arbeit
planen, stemmen wir nun in dichter Folge
erst mal fünf Premieren auf die Bühne …
SPIEGEL: … mit Regisseuren wie Andreas
Kriegenburg – er inszeniert Wedekinds
Werbeseite
Werbeseite
Kultur
FOTOS: R. WERNER
Selbstbewusstsein sagen, ich
„Lulu“ –, Martin Kusej und
bin der Einzige für diesen
dem Rumänen Silviu PurcaPosten, der rumgelaufen ist,
rete. Die Eröffnung der neuin relativ jungem Alter, mit
en Burg mit „Die Tochter der
relativ viel Erfahrung. Und
Luft“ von Enzensberger
zufällig bin ich Österreicher.
nach Calderón de la Barca
präsentiert aber nicht AnSPIEGEL: Das Burgtheater gilt
drea Breth, die Sie jetzt an
bis heute als eine der wichWien binden wollen, sontigsten Bühnen. Fürchten Sie
dern Frank Castorf. Die erste
nicht, dass sich die TheaterPanne?
Gemeinde bald mehr dafür
interessiert, was in Berlin los
Bachler: Erkrankungen komist? Spielt nicht künftig dort
men im Theateralltag vor.
die Musik?
Nachdem Andrea Breth die
Inszenierung nicht machen
Bachler: Die Musik spielt nie
konnte, waren die Schauda, wo man glaubt, dass sie
spieler und wir der Meinung,
spielt. Aus Berlin höre ich
dass nicht eine Übernahme,
bisher nur ein paar dumpfe
sondern ein extrem anderer
Töne. Da geht es doch nur
künstlerischer Neubeginn
um Fragen wie: Haut der
die Produktion ermöglichen
Peymann vom Berliner Enkann. Und wir sind glücklich,
semble dem Castorf an der
Castorf dafür gewonnen zu Schauspielerin Harfouch*: „Wo sollen die besten Leute sonst arbeiten?“ Volksbühne eine rein? Ich
haben – für mich ein tolles
finde es verkommen, dass die
Beispiel, wie man mit solchen Krisen im SPIEGEL: Das führt dann dazu, dass die Wie- Herumhackerei aufeinander für viele TheaTheater umgehen sollte.
ner Presse jedem Direktor vorrechnet, wie terleute zum Hauptsport geworden ist. Mir
SPIEGEL: Man könnte den Fall auch als Ex- viele spielfreie Abende, sogenannte missfällt diese abgrundtiefe Eifersüchtelei,
und ich wünsche mir so etwas Altmodiempel für eine neue Beliebigkeit werten. Schließtage, er benötigt. Ist das legitim?
Nicht umsonst gilt Ihr Burgtheater man- Bachler: Ich finde es entsetzlich und eine sches wie Standesbewusstsein.
chen Fachleuten schon als „Hamburg II“. Degeneration, dass die Kulturjournalisten SPIEGEL: Und um das durchzusetzen, sind
So sehr ähnelt Ihr Programm den Konzep- in Österreich zu Wirtschaftsjournalisten Sie vom Schauspielerberuf zum Manageten von Frank Baumbauer am Deutschen geworden sind. Es ist doch auch ein Irr- ment übergewechselt?
Schauspielhaus.
sinn, dass Sie über die Festspiele in Salz- Bachler: Ich war so einer, der sich immer
Bachler: Überhaupt nicht. Der eine oder burg und anderswo nur noch Zahlen lesen. eingemischt hat. Schon als Schauspieler
andere Künstler arbeitet sowohl in Ham- Die Feuilletonisten sollen sich um die In- war ich der Ensemblesprecher, der immer
burg als auch in Wien, aber unser Pro- halte und um die Kunst kümmern. Das ist in die Direktion gestürmt ist und gesagt
gramm ist vor allem ein spielerisch emo- ihre Aufgabe. Aber es ist natürlich we- hat: So geht es nicht. Und als ich 1987 am
tionales und nicht ein literarisch didakti- sentlich skandalträchtiger zu sagen, das Schiller-Theater in Berlin schon wieder alsches. Wo sollen die besten Leute denn ar- Theater haut Geld zum Fenster raus, als len sagte, wie man es machen soll, sagte
beiten, wenn nicht hier. Wien ist nun mal sich ernsthaft mit der Kunst auseinander der damalige Intendant Heribert Sasse:
Dann machen Sie es doch selber. So wurdie letzte Stadt, in der das Theater eine zu setzen.
gesellschaftliche Rolle spielt.
SPIEGEL: Die Journalisten kümmern sich de ich künstlerischer Direktor.
SPIEGEL: Und warum ist das so? Weil die nicht nur um die Kasse, sondern auch um SPIEGEL: Diese Tätigkeit hat dem Haus
Österreicher die Kultur wichtiger neh- Nationalitäten. Glauben Sie, dass Sie die- nicht wirklich gut getan: Sechs Jahre spämen als zum Beispiel Engländer oder Deut- sen Posten auch bekommen hätten, wenn ter wurde das Schiller-Theater dichtgeSie nicht Österreicher wären?
sche?
macht.
Bachler: Weil Kultur das Einzige ist, was Bachler: Das muss ich glauben. Wie soll Bachler: In die Schließung hat es das
man hier hat. Deshalb wünschen sich die ich sonst arbeiten? Ich kann mit ruhigem nachfolgende Vierer-Direktorium getrieÖsterreicher, dass die Kultur so wichtig
ben. Zu Sasses und meiner Zeit war das
* Bei einer Probe zu „Die Tochter der Luft“.
sein soll, wie sie sie nehmen.
Schiller-Theater ein von der Kritik unge-
liebtes, aber toll besuchtes
Haus.
SPIEGEL: Mittlerweile zählt
man Sie gemeinsam mit Tom
Stromberg und Frank Baumbauer zum Typus des modernen, nicht selber Regie
führenden Theatermanagers.
Sind Sie mit dieser Einschätzung glücklich?
Bachler: Ich bin kein Typ der
Zukunft, sondern ein Typ
der Gegenwart. Intendant
sein hat nichts mit einem anderen Beruf zu tun. Als Intendant hat man ein libidinöses Verhältnis zu bedeutenden Künstlern. Ich treffe
doch alle Entscheidungen gegen das Management. Denn
Management heißt: Gewinn
bringend arbeiten. Und das
tun wir nicht. Um es hochfahrend auszudrücken: Ich
will das Haus nicht aus finanziellen, sondern aus geistig-atmosphärischen Gründen füllen.
SPIEGEL: Und deshalb haben
Sie auch Klaus Maria Brandauer als Cyrano de Bergerac engagiert. Da wird das
Haus bis zum obersten Stehplatz geistig und atmosphärisch gefüllt sein.
Bachler: Auch diese Ent- Proben-Szene aus „Lulu“*: „Unser Programm ist vor allem ein spielerisch emotionales“
scheidung hat mehr mit
Emotion als mit Management zu tun. Der am Burgtheater hatten in den fünfziger ser Zeit selbst ein wenig berühmt zu
Mann ist ein Kaliber. Er war karenziert, Jahren die Hälfte der Schauspieler nur sein?
aber immer Mitglied des Burgtheaters und Halbjahresverträge, sonst hätten Paula Bachler: Es gibt diese schöne Geschichte
kehrt jetzt richtigerweise zurück.
Wessely und der Ewald Balser nicht in je- vom Burgtheater-Direktor, der am Ende seiSPIEGEL: Viele Ihrer Intendantenkollegen dem zweiten Film aus dieser Zeit mitspie- ner Amtszeit vom Pförtner mit Blumen verklagen darüber, dass man mit Schauspielern len können. Und zurück zum Theater fin- abschiedet wird. Drei Tage später möchte er
wie Brandauer oder Corinna Harfouch, die den die Schauspieler schon von selbst: Po- noch mal ins Haus, weil er seinen Schirm
dauernd vor der Filmkamera stehen, kaum pulär wird man beim Film, wirklich vergessen hat – doch der Pförtner weist ihn
berühmt wird man nur auf der Bühne.
ab, weil er schließlich nicht mehr Direktor
ordentliches Theater machen könne.
Bachler: Ich finde es absurd, dass man SPIEGEL: Ihr Vertrag läuft erst einmal sei. Ich hoffe also darauf, dass ich meinen
Schauspielern vorwirft, dass sie für Film bis 2005. Erhoffen Sie sich, am Ende die- Schirm nicht vergesse.
und Fernsehen arbeiten. Das ist ihr gutes
Interview: Wolfgang Höbel,
Joachim Kronsbein
Recht, und neu ist es auch nicht. Hier * Mit Natali Seelig und Franz J. Csencsits.
Kultur
L I T E R AT U R
Die Steine der Liebenden
M. WELLERSHOFF / DER SPIEGEL
Die Norwegerin Linn Ullmann hat die berühmtesten Eltern Skandinaviens: die Schauspielerin
Liv Ullmann und den Regisseur Ingmar Bergman. Nun macht sie mit ihrem ersten
Roman „Die Lügnerin“ von sich reden, einer turbulenten, raffiniert konstruierten Familiensaga.
Autorin Ullmann: Auf die scheinbare Harmlosigkeit fallen Schatten
W
er lügt, setzt sich eine Maske auf
– die aber auf genau das verweist,
was sie eigentlich verbergen soll.
Julie zum Beispiel. Sie glaubt, dass ihr
Mann Aleksander sie betrügt. Um die
Wahrheit herauszufinden, belügt sie ihn:
Sie habe eine Nacht mit einem anderen
Mann verbracht. Aleksander steht auf, zerschlägt den Badezimmerspiegel, kehrt ins
Ehebett zurück und sagt: „Mir ist vor un278
gefähr einem Jahr eine Frau begegnet, ich
hatte zu viel getrunken, ich bin mit ihr
nach Hause gegangen, es hat mir nichts bedeutet.“ Vera Lund sei ihr Name gewesen.
Aber es gibt keine Vera Lund in Oslo und
auch nicht im nahe gelegenen Bærum.Vielleicht hat also Aleksander die Geschichte
vom Ehebruch erfunden, um quitt zu sein
mit Julie. „Quitt“, sagt Julie, „hat in unserer Ehe immer eine große Rolle gespielt.“
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Oder: Aleksander hatte wirklich eine Affäre, aber die Frau trug einen anderen Namen.
Die Wahrheit in dem Lügenstrickwerk
dieser Ehe ist: Julie und Aleksander erfinden sich Masken, weil sie sich ohne diese
nackt fühlen würden, weil sie die Leere
zwischen sich drapieren müssen. Selbst
wenn der Preis dafür ist, dass sie beide füreinander unerreichbar sind.
Natürlich könnte auch diese Wahrheit
eine Lüge sein. Denn die Szene einer Ehe
wird von Julies jüngerer Schwester Karin
geschildert, die von sich sagt: „Ich habe
immer gelogen, als stehe mein Leben auf
dem Spiel.“
Karin ist die Erzählerin des Buches „Die
Lügnerin“. Es ist der Debütroman der
Osloer Schriftstellerin Linn Ullmann, 33,
der jetzt auf Deutsch herauskommt*. Als
der amerikanische Literaturagent Andrew
Wylie im vergangenen Jahr auf der Frankfurter Buchmesse den Verlagen der Welt
die Rechte dafür anbot, wurde „Die Lügnerin“ eines der begehrtesten Werke – obwohl der Roman zu der Zeit noch nicht
einmal in Norwegen veröffentlicht war.
Aber die Eltern der Autorin kannte jeder: die Schauspielerin Liv Ullmann und
den schwedischen Regisseur Ingmar Bergman. Nun wird das Buch in 19 Sprachen
übersetzt. Für Deutschland erhielt Droemer Knaur den Zuschlag, für „beträchtlich
weniger als eine Million Mark“, sagt der
Droemer-Verleger Hans-Peter Übleis.
„Der Name hat wohl geholfen“, gibt
Linn Ullmann zögernd zu. Denn natürlich
möchte sie, dass sie und ihr Werk unabhängig von ihren Eltern beurteilt werden,
dass sie auch mit einem anderen Namen
hätte bestehen können. Schon deshalb
dreht sie allen, die in dem Roman nach
neuen biografischen Details des skandinavischen Glamourpaares suchen, eine lange Nase: Mutter und Vater kommen vor,
aber verfremdet und aufgeteilt auf verschiedenste Figuren. Wie auch Ullmann
Aspekte ihrer selbst in dem Roman verstreut hat: Sie heißt mit zweitem Namen
Karin, hat aber, wie Julie, jung geheiratet
und bei der Führerscheinprüfung versagt.
„In der Literatur geht es um die Phantasie,
ums Erfinden“, sagt Ullmann. „Wer nur
* Linn Ullmann: „Die Lügnerin“. Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs. Verlag Droemer Knaur, München; 320 Seiten; 38 Mark.
ACTION PRESS
nach meinen Eltern und mir sucht, der
begreift das Ganze nicht.“
Was schade wäre, weil das Ganze ein
einfallsreich zusammengesetztes Mosaik
ist und daher mehr als die Summe seiner
fünf Kapitel. Vordergründig erzählt Ullmann die Geschichte einer norwegischen
Familie. Der Großvater Rikard Blom wandert Anfang der dreißiger Jahre nach New
York aus, die Großmutter June kehrt mit
ihrer Tochter Anni und ihrer Schwester Selma nach Oslo zurück. Anni heiratet, bekommt die beiden Töchter Julie und Karin,
wird geschieden. Hinter der Familiensaga
verbirgt sich jedoch ein unsentimentaler
Blick auf den Zustand menschlicher Beziehungen: Die Lage ist schlecht, und so ist
es vermutlich immer gewesen.
Der Roman beginnt, nach einem Prolog,
mit Karins ironischer Beschreibung der
Hochzeit ihrer älteren Schwester. Allerhand kuriose Gestalten schreiten und
schlurfen auf die Kirche zu. Tante Edel und
ihr 54-jähriger Sohn Fritz zum Beispiel, die
eine Bäckerei betreiben. Fritz wollte mal
ausziehen aus dem Haus seiner Mutter, hat
es aber nur acht Tage allein ausgehalten.
Edel und Fritz sind die Glücklichsten auf
der Hochzeitsgesellschaft.
Liv Ullmann, Tochter Linn (1977)
Männer verzaubernde Schönheit
Tante Selma ist „die zornigste alte Dame
der Welt“, und wo sie redet, da überlebt
kein Lächeln mehr. Selma hasst Menschen,
spätestens, seit ihre Schwester June ihr Rikard Blom weggeheiratet hat, den einzigen Mann, den Selma je liebte. Zu ihrer
Nichte Anni, der Mutter von Karin und Julie, die in dunkelgrünen Stöckelpumps die
Gäste empfängt, sagt sie: „Je älter du wirst,
umso abstoßender wirst du. Du bist keine
von denen, die mit Stil altern.“
Immerhin ist Tante Selma die Einzige,
die niemandem etwas vorspielen muss,
noch nicht einmal sich selbst. Die meisten
anderen Romanfiguren sind in Täuschungen und Selbsttäuschungen verstrickt, die
privates Glück herstellen und zementieren
sollen – es aber verhindern.
Das erste Kapitel des Romans ist eine
turbulente, bunte Komödie. Doch auf die
Fröhlichkeit und scheinbare Harmlosigkeit
fallen Schatten: Anni wurde von ihrem
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Kultur
F. HJERLING / ACTION PRESS
Mann verlassen, er zog Ingeborg vor, und keit ist ein Zustand der ÜbersensibilisieAnni hat eigentlich nie verstanden warum. rung“, sagt Ullmann, „Wahrnehmungen
Julies Ehemann Aleksander ist ein spießi- und Gedanken scheinen lauter, drängender
ger Langeweiler. Die schöne Trauzeugin und greller zu sein.“ Und so bestimmt dieVal Bryn zerstört Ehen, um sich ihrer se- ses Halbwachsein, das Lauschen, Denken,
xuellen Macht zu vergewissern.
Phantasieren und flirrende Assoziieren
Elliptisch, von einer Figur zur nächsten auch die literarische Form des Buches.
wandernd, die eine in der anderen reflekAls sie an der New York University
tierend, zwischen Jahrzehnten hin- und Literatur studierte und auch als sie später
herwechselnd, tastet Ullmann sich an ihre Literaturkritikerin und Kolumnistin der
Hauptpersonen heran – wie eine Jazzim- Osloer Zeitung „Dagbladet“ war, sei sie
provisation, in der das Grundthema variiert gerade an „Struktur, Stil und Komposiwird. Reales wechselt sich mit Surrealem tion“ von Romanen interessiert gewesen,
ab, auf leise Passagen folgen laute.
erzählt Ullmann: „Es reicht nicht aus, nur
Karin präsentiert sich mal als einfühlsame eine gute Geschichte zu haben.“ Sie selbst
Schwester, mal als ungebremste Verführerin, sei nicht besonders gut darin, von A nach
deren Opfer lächerlich sind, Karikaturen. Z zu erzählen. Auch ihre ZeitungskolumEin Liebhaber wird ohne seine Cowboy- nen, die sie weiterhin alle drei Wochen abstiefel zu einer Makrele.
liefert, sind oft eher imEine knallige Metapher,
pressionistisch als strinwie ein zu hoher Ton auf
gent argumentativ.
der Trompete, der noch
Der „Lügnerin“ vorschriller wirkt, weil die
ausgegangen waren vor
Melodie eigentlich traurig
fünf Jahren einige Kurzist. „In den alten Bilgeschichten. Sehr interdungsromanen waren die
essant, befand ihr Verleverführten Frauen schager und riet ihr, sie wegblonenhaft geschildert“,
zuwerfen – bis auf eine,
sagt Ullmann dazu, „ich
die von einer Hochzeit
habe die Sache mal umhandelte. Von der wiegedreht.“ Und moderniderum blieb nur das
siert: Die Frauen sind
Motiv der Lügnerin. Ullstark, die Männer schwach
mann machte sich Noti– der Tendenz nach jezen, recherchierte die hisdenfalls, denn alle Persotorischen Hintergründe
nen sind ambivalent. Die
und nahm sich schließlich
männlichste Figur ist eine
ein Jahr frei von ihrem
Frau, Karin. „Orlando“,
Redakteursjob.
Virginia Woolfs grandioWenn sie ihren Sohn,
ser Androgynen-Roman,
der aus einer geschiedeist eines von Ullmanns Linn Ullmann, Vater Bergman*
nen frühen Ehe stammt,
Lieblingsbüchern.
in die Schule gebracht
Nach und nach demontiert Ullmann alle hatte, begann sie zu schreiben. Wenn er
ihre Figuren. Sie schält die Schichten der mittags nach Hause kam, wurde aus der
Lebenslügen ab, bis sie, ganz unten, auf Schriftstellerin wieder die Mutter. Diesen
den Grund trifft: Sprachlosigkeit, Traurig- Rhythmus hat sie beibehalten, jetzt arbeikeit, Unmöglichkeit. Es ist ausgerechnet tet sie am zweiten Buch – und die einder langweilige Aleksander, der eben doch jährige Beurlaubung streckt sich ins dritnicht so langweilig ist, an dem entlang sie te Jahr.
Liv Ullmann hatte von ihrer Tochter als
zur tiefsten Ebene des Unglücks vordringt.
Ullmann hat sich für die Schlüsselszene Schriftstellerin gesprochen, bevor übervon einem Gemälde der schwedischen Ma- haupt jemand wusste, dass die an einem
lerin Lena Cronquist inspirieren lassen, das, Roman schrieb. Sie soll zufrieden gewesen
so freundlich in den Farben, so unfreundlich sein mit dem Resultat, auch wenn sie
in der Anmutung ist: Eine nackte Frau liegt als naiv-egoistische, Männer verzaubernneben ihrem schlafenden Mann im Bett, de Schönheit Anni auftaucht. Die träumt
von jener Weltkarriere als Schauspieleumzingelt von schwarzen Felsbrocken.
Bei Ullmann liest sich das so: Schlaf- rin, die Liv Ullmann sich tatsächlich erlos wälzt sich Aleksander neben Julie, spielt hat.
Auch Ingmar Bergman hat sich wiederwährend er überlegt, wie er die Steine wegschaffen kann, die zwischen ihnen liegen entdeckt: Nicht jedoch in dem Vater, der
und auf dem Boden und auf dem Schrank: mit Karin ins Kino geht – obwohl, wenn
„Man kann nicht überall Steine herumlie- der Regisseur seine jüngste Tochter Linn in
gen haben, wenn man schlafen will, denkt den Sommerferien besuchte, die beiden
genau das getan haben. Nein, er fühlte sich
er. Das geht ganz einfach nicht.“
„Bevor du schläfst“ lautet der Original- in der zynischen und bösartigen Tante
titel von Ullmanns Roman. „Schlaflosig- Selma angemessen porträtiert. „Und meine Mutter“, sagt Ullmann, „sah das ge* Bei Linn Ullmanns Hochzeit 1989.
nauso.“
Marianne Wellershoff
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Werbeseite
Werbeseite
Kultur
Andrej Tarkowski und Grusel-Sentenzen
wie „Die Wahrheit ist eine Lüge“ geradezu ideal, um alle trüben Vorurteile gegen
Venedig, die alljährliche Feier der hohen
Kino-Kunst, aufs Niederschmetterndste zu
belegen. Verblüffenderweise aber schafften es beide nicht in den Wettbewerb, sondern wurden in eine Nebenreihe verbannt.
In Venedig nämlich sollte diesmal alles
jünger, leichter, lebendiger sein; dafür hatten sich die Veranstalter des traditionsreichsten internationalen Filmfests extra
einen neuen Festivalleiter ausgeguckt. Alberto Barbera, 49, Filmkritiker und zuvor
Organisator eines kleineren Kinospektakels in Turin, hatte für die diesjährigen 56.
Venedig-Festspiele eine geradezu radikale
Kur versprochen. Statt die üblichen Autorenfilmer mit ihren jüngsten Werken sozusagen automatisch einzuladen, gelobte er
„Neugier auf junge Talente“, die Kandidaten für den Hauptpreis wollte er „mit extremer Offenheit, aber ohne Kompromisse“ aussuchen und die Zahl der Wettbewerbsteilnehmer reduzieren.
Der Cineast Barbera hat gute Arbeit geleistet (so traurig es ist, dass bei seiner Vorauswahl sämtliche deutsche Kandidaten
auf der Strecke blieben); die 18 um den
Goldenen Löwen konkurrierenden Hauptfilme zeichneten sich dieses Jahr nach Meinung fast aller Venedig-Veteranen durch
ungewohnt hohes Niveau aus – und doch
musste Barbera erleben, dass zumindest
die italienischen Medien die große KinoKunst ein wenig vernachlässigten. Die
TV-Anstalten und Zeitungsleute des Gastgeberlandes ballerten sich in schöner Einmütigkeit auf das Hauptthema von Venedig ’99 ein: Wie viel Sex braucht, verträgt
und erduldet der Kinomensch?
Schon die Eröffnung mit Stanley Kubricks Nachlass-Werk „Eyes Wide Shut“
KINO
Lasst uns über Sex reden
Venedig, das Fest der hohen Film-Kunst, sollte sich unter neuer
Leitung jünger und strenger präsentieren – doch alles
drehte sich um die Frage: Wie viel Nacktheit verträgt das Kino?
D
das Elend sich abbilden lässt am Ende unseres Jahrhunderts!
Der Italiener Giuseppe Bertolucci (der
Bruder von Bernardo) und der Deutsche
Fred Kelemen reisten zum Filmfestival in
Venedig mit Werken an, die ihre Verschmocktheit bereits im Titel vor sich hertragen. Sowohl „Il dolce rumore della vita“
(Der süße Lärm des Lebens) wie „Abendland“ sind mit hölzernen Anleihen bei
REUTERS
ie Welt ist schlecht, und das Kino ist
manchmal die reinste Geisterbahn.
Da schwanken verlorene Gestalten
durch knietiefes Wasser und ein immerfort
verdüstertes Europa, ein Findelkind liegt
blutüberströmt im Waschbecken einer Zugtoilette, und verlotterte Unglücksmenschen
streunen ohne Arbeit und Hoffnung umher. Jedes Bild brüllt den Betrachter an:
Sieh her, wie bedeutungsvoll und kostbar
PR-Auftritt für Pornofilm
AP
Lustvolles Spiel am Lido
„Eyes Wide Shut“-Stars Kidman, Cruise: Tun sie das, was alle Eheleute miteinander tun?
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konnte da als Einstimmung herhalten: Tom
Cruise und Nicole Kidman spazierten über
den Lido, und die Fachleute debattierten
noch mal über die eher keusche Darstellung erotischer Ausschweifung – und darüber, ob die beiden auch vor der Kamera
taten, was Eheleute in aller Welt mitunter
miteinander tun.
Der Koreaner Jang Sun Woo zeigte dann
in seinem Wettbewerbsfilm „Lies“ (Lügen)
FOTOS: ROPI
Kiarostami-Wettbewerbsbeitrag „Der Wind wird uns tragen“, US-Star Griffith*: Kino-Welten prallen ungefedert aufeinander
auf sehr elegisch-elegante Weise, was eine
18-jährige Jungfrau und ein gut doppelt so
alter Bildhauer treiben, wenn sie sich in
eine sadomasochistische Affäre stürzen.
Der keineswegs allzu provokante Film, so
hieß es bald, habe den Vatikan zu Protesten
bei der Festivalleitung veranlasst.
Weiteren Stoff zum Thema lieferte,
gleichfalls im Wettbewerb, der Belgier
Frédéric Fonteyne mit „Une liaison pornographique“ (Eine pornografische Liebschaft): Ein Paar (Nathalie Baye und Sergi
Lopez) findet zueinander, weil sich beide
für eine bestimmte Sex-Praktik begeistern.
Nur, und darin besteht der Witz des Films,
erfährt der Zuschauer nie, um welch sensationelle Variante es eigentlich geht. Sobald die beiden, einander mehr und mehr
verfallend, zur Sache kommen, schlägt der
Regisseur den neugierigen Gaffern im
Kinosaal die Tür vor der Nase zu.
Egal, Sex ist immer ein toller Empörungsgrund: Ordentlich pornografisch ging
es zu in „Guardami“ (Sieh mich an). Der
Film des Italieners Davide Ferrario lief
zwar nur in einer Nebenreihe, dafür benutzt er die (wie die Beteiligten beteuern,
irgendwie dokumentarische) Story einer
lebensgefährlich erkrankten Porno-Königin dazu, weibliche und männliche Geschlechtsorgane in Aktion abzubilden.
„Guardami“ ist bescheuert, kein Zweifel
– ob er aber dumm genug ist, um zu rechtfertigen, dass sich Schauspielerinnen wie
Valeria Bruni Tedeschi und Francesca Neri
in Venedig öffentlich über die Darstellung
weiblicher Nacktheit im Gegenwartskino
erregten, ist fraglich. Zumal sich Michelle
Hunziker, schöne Ehefrau von Eros Ramazzotti und nebenbei auch ein bisschen
Schauspielerin, von den Zeitungen als
Sprecherin der Empörten zitieren ließ:
Dergleichen würde sie Mann und Kindern
nie antun. Haben wir Frau Hunziker nicht
gerade auf sturzpeinlichen Nacktfotos in
„Max“ posieren gesehen?
Natürlich darf man das ganze venezianische Sex-Palaver durchaus als schönen
Spaß werten, bei dem alle Beteiligten lustvoll mitspielten. Schon der diesjährige
Festival-Trailer versuchte schließlich, erotischen Reiz und wunderbare Kino-Impressionen zu verknüpfen: Der Spot lässt
die mit dem Zeichenstift leicht verfremdete Schauspielerin Asia Argento nackt in
ein Schwimmbecken springen, wo sie lauter legendären Helden wie Ingrid Bergman, Greta Garbo und Jean-Paul Belmondo begegnet – das Kinofestival als TauchAusflug zu sagenhaften Schätzen.
Aber die sind immer rar. Wie weit ist es
etwa mit der neuen Kargheit her, die im
Mai dazu geführt hatte, dass in Cannes
fast ausschließlich Laiendarsteller mit
Schauspielerpreisen bedacht wurden, und
die den dänischen „Dogma 95“-Puristen
zu weltweiter Berühmtheit verhalf? In
Venedig präsentierte der Amerikaner
Harmony Korine das Verwirrspiel „Julien
Donkey-Boy“, das mit dem „Dogma“-Zertifikat geadelt ist: Man sieht einen jungen Schizophrenen (Ewen Bremmer aus
„Trainspotting“), und man sieht den deutschen Filmemacher Werner Herzog in
der Rolle eines Familienpatriarchen, der
einem Haushalt von komplett Verrückten
vorsteht. Freundliche Betrachter nannten
Korines bunt-verwackeltes Panoptikum
einen „echten Experimentalfilm“, in Wahrheit ist es schon fast eine Bankrotterklärung für Dogma: Schließlich ging es
den Dogma-Mitstreitern ursprünglich nicht
um das Zubereiten kunstsaurer Bildsalate, sondern um ein genaueres Abbild der
Realität.
Genauigkeit, Klarheit und eine nur
manchmal nervenzehrende Gelassenheit
demonstrierten in Venedig vor allem die
Virtuosen des klugen Exotenkinos: der
Iraner Abbas Kiarostami und die Chine* Im Film „Crazy in Alabama“.
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sen Zhang Yimou und Zhang Yuan. Kiarostamis „Der Wind wird uns tragen“
schildert den Ausflug einiger Hauptstadtmenschen aus Teheran zu einem Dorf im
iranischen Teil Kurdistans und setzt die
schiere Beobachtung an die Stelle einer
Erzählfabel. Zu sehen sind Städter, die sich
von einem kleinen Jungen durch eine rätselhafte Welt führen lassen und zwischendurch mit dem Handy auf einen
Hügel stürmen.
Yimou lässt eine 13-jährige Aushilfslehrerin aus der chinesischen Provinz in die
Großstadt aufbrechen, um einen ihrer
Schüler zurückzuholen; die Strenge und
Geduld, die er in „Nicht einer weniger“ beweist, zeichnet auch den Film „Siebzehn
Jahre“ seines Landsmannes Yuan aus: die
Geschichte einer Schwestermörderin, die
nach 17 Jahren im Gefängnis zu ihren
Eltern zurückkehrt.
So staunenswert der Rhythmus und die
Erzählkunst dieser Filme aus fernen Welten
sind, so nutzlos wäre der Wunsch, ihre Tugenden aufs Kino der westlichen Welt zu
übertragen. Den Zauber von Venedig
macht eher aus, wie ungefedert hier Welten aufeinander prallen – wobei der Rummel naturgemäß nicht den Asketen und
Träumern aus China oder Iran gilt, sondern den allzeit von Fotografen belagerten
Stars wie Antonio Banderas, Melanie Griffith und Catherine Deneuve.
Selbst die Kunst-Begutachter am Lido
diskutierten nicht allein über die schauspielerischen Vorzüge der Glamour-Diven,
sondern auch (und besonders leidenschaftlich) darüber, ob und in welchem
Maß Griffith und Deneuve die Arbeit von
Schönheitschirurgen in Anspruch genommen haben: Auch in solchen Momenten, in
denen der – sexistisch gesteuerte – Blick
pralle Lippen und hohe Wangenknochen
nach Spuren von Collagen-Einlagen absucht, verwandelt sich das Kino wieder in
eine Geisterbahn.
Wolfgang Höbel
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Werbeseite
Werbeseite
Wissenschaft
SOVFOTO
Prisma
Russische Antarktisstation
A N TA R K T I S
Russischer Rückzug
vom Südpol
S
eit nahezu einem Jahrzehnt darbt die russische Wissenschaft.
Die Gehälter sind knapp, für Investitionen fehlt das Geld. Zu
einem Opfer der chronischen Unterversorgung droht nun auch
Russlands Südpolforschung zu werden. Über 200 Techniker,
Geologen und Gletscherforscher arbeiteten einst während des
antarktischen Sommers auf der Station Molodjoschnaja. Im
ehemaligen russischen Hauptquartier, gelegen am Ostrand der
südpolaren Eiskappe, motten derzeit Experten die gesamte Sta-
tion ein. Ein ähnliches Schicksal droht auch der Küsten-Basis
Mirnyj, bislang Ausgangspunkt für die Versorgung der Forschungsstation Wostok. Vor 42 Jahren wurde sie auf einem fünf
Kilometer dicken Eispanzer gebaut, direkt über einem riesigen
See, dessen Wassermassen samt der darin womöglich enthaltenen Lebensformen seit einer Million Jahren nicht mit der Außenwelt in Berührung gekommen sind. Russische Techniker haben
eine Bohrung kurz vor der Seeoberfläche gestoppt; noch ist ungeklärt, wie sich steril Wasser entnehmen lässt. Ob russische Forscher daran teilnehmen werden, steht dahin. Die Hälfte der
Wostok-Wissenschaftler ist bereits abgezogen, weil alle Lebensmittel und aller Treibstoff per Schlittentreck durch die polare Eiswüste herangeschafft werden müssen. Bei der Versorgung
der Wostok-Basis, die außerhalb der Reichweite russischer Versorgungsflugzeuge liegt, sind die Russen nun auf Mithilfe von
Antarktisforschern anderer Nationen angewiesen.
FREIZEIT
AU T O M O B I L E
Fliegendes Ei
Finger statt Schlüssel
E
ine „lautlos schwebende“
Aussichtsplattform für bis zu
80 Personen planen die Schweizer Architekten Robert Häfelfinger und Giuseppe Gerster. Ein
eiförmiger Heliumballon mit
Passagierabteil im unteren Bereich soll, an einem Seil gehalten, über lokalen Großveranstaltungen, etwa dem Münchner
Oktoberfest oder dem Formel-1Grand-Prix von Monaco, in die
Höhe steigen. Der 28 Meter
breite und 56 Meter hohe Ballon
kann am Schlepptau von einem
Hubschrauber zum jeweiligen
Einsatzort gezogen werden. Am
Seil wäre eine Steighöhe von
etwa 1000 Metern technisch realisierbar. Doch die schönste Aussicht, so die „Exposphere“-Erfinder, lasse sich etwa 300 Meter
über dem Erdboden genießen.
Aus noch größerer Höhe erscheinen Oktoberfestbesucher
oder Rennwagen zu klein.
„Exposphere“-Ballon über New York (Montage)
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W
ie Fahnder der Kriminalpolizei
sollen Automobile künftig Fingerabdrücke identifizieren können. Die
Entwickler der Autozuliefersparte von
Siemens arbeiten
derzeit an einem
Startsensor, der vom
Fahrer nur angetippt
werden muss. In Sekundenbruchteilen
analysiert ein optisches Erkennungsfeld im Armaturenbrett die Hautstruktur auf der
Startsensor
Fingerkuppe. Nur
wenn sie mit derjenigen des Fahrzeugbesitzers oder einer anderen autorisierten Person übereinstimmt, startet die
Bordelektronik den Motor. Das System
könnte die aktuellen Wegfahrsperren
weiter verbessern, da es auch den Autodiebstahl durch Zündschlüsselklau ausschließt. Nach Angaben des Herstellers
soll der Fingersensor in spätestens zwei
Jahren serienreif sein.
285
Prisma
Computer
AU K T I O N E N
Babys, Nieren und die Wahrheit im Angebot
I
AP
mmer häufiger muss das kalifornische Online-Auktionshaus eBay
in das Treiben auf seiner Webseite
eingreifen. Dass dort Hitlers „Mein
Kampf“ in der Originalausgabe von
1933 feilgeboten wird, mochte die
Betreiberin Meg Whitman noch
hinnehmen, nicht aber die Offerten „verkaufe eine Niere“ und
„ungeborenes Baby, abzugeben
von zwei Jurastudenten aus Chicago“ (der Intelligenzquotient der Eltern konnte angefordert werden).
Während für ein weiteres inseriertes Kind 109 000 Dollar geboten
eBay-Chefin Whitman
wurden, war ein Patient sogar bereit, für die Niere 5,7 Millionen
Dollar zu zahlen. eBay schritt ein,
unterband den obskuren Handel
und erklärte, die Angebote seien
wohl nichts als üble Scherze. Neben diesen sittenwidrigen Offerten
lockten die Online-Auktionen in
letzter Zeit noch mit anderen skurrilen Inseraten. Im April bot ein
Händler 16 Kommunikations-Ingenieure zum Verkauf an. Bedingung:
Die Männer seien nur als Gruppe
ins kalifornische Silicon Valley erhältlich. Im Juni machte die „Kolumnen schreibende Küchenschabe Bernie“ ein besonders verlockendes Angebot: Zum Verkauf
stand die Wahrheit. Das höchste
Gebot betrug 565 Dollar.
VIDEOSPIELE
Uni-Personal
im Computer-Stress
Digital-Kamera „DC215 Zoom“
KAMERAS
Megapixel für unterwegs
W
er bislang eine Digital-Kamera erstehen wollte, stand vor der Wahl:
Entweder er investierte über 1500 Mark
für ein Gerät mit über zwei Millionen
Bildpunkten, oder er bekam für wenig
Geld eine sehr viel schlechtere Auflösung. Doch langsam bessert sich die
Qualität auch im unteren Preissegment.
Eine Kamera mit einer Million Bildpunkten stellt Kodak mit der „DC215
Zoom“ vor. Das 800 Mark teure Gerät
hat ein Weitwinkel-Zoom-Objektiv mit
einer Brennweite von 29 bis 58 Millimetern. Auf einer vier Megabyte CompactFlash-Karte kann die Kamera maximal
zwölf Bilder im Format 1152 mal 864
Pixel speichern. Für eine schnelle Übertragung auf den Laptop liefert Kodak
für 30 Mark zusätzlich einen PCMCIAAdapter.
286
80 %
D
er in die Jahre gekommene Taschen-Spielcomputer „Game Boy“
von Nintendo soll im Sommer nächsten
Jahres als „Game Boy Advance“ eine
Renaissance erleben. Der Rechner wird
voraussichtlich mit einem 32-Bit-Prozessor von ARM ausgestattet sein. Zentrale Neuheit aber ist die OnlineSchnittstelle, mit der sich die Geräte
übers Internet verbinden lassen. In Japan kommt im April zunächst ein Adapter für die aktuellen „Game Boy Color“-Geräte in den Handel, mit dem
mehrere „Game Boys“ übers Handy in
Kontakt treten können. Das größte Problem der neuen Netz-Spielgeräte sieht
ein Pressesprecher von Nintendo bei
den Telefonkosten. Weil Kinder keine
Kreditkarten besitzen, sei noch unklar,
wer die Telefonrechnung begleicht.
60 %
40 %
20 %
0%
Taschen-Spielcomputer „Game Boy“
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unter
35
45
55
65 Jahre
35 Jahre bis 44 bis 54 bis 64 und älter
HOCHSCHULEN
Frust durch PC
D
GAMMA / STUDIO X
F. SCHUMANN / DER SPIEGEL
Game Boy geht online
ie technologische Vorhut, Speerspitze des Intellekts, überfordert
von Computern? Das „Higher Education Research Institute“ in Los Angeles
hat rund 34 000 Hochschulangehörige
zu ihrer beruflichen Situation befragt.
Fast 70 Prozent gaben an, dass ihnen
der Druck, wissenschaftliche Arbeiten
zu veröffentlichen, und die Pflicht, Studenten zu unterrichten, weniger zu
schaffen macht als die Komplexität der
PC-Technik. Am wenigsten beeindruckt
zeigten sich in dieser Hinsicht jüngere
Mitarbeiter. Trotz des Stressfaktors
Technik waren aber auch unter den älteren Befragten neun von zehn Universitätsangehörige der Meinung, dass der
Einsatz von Computern die Lern-Leistung der Studenten steigere.
Werbeseite
Werbeseite
AFP / DPA
Technik
US-Soldaten bei digitalem Manöver, jugoslawische Flugabwehr gegen Nato-Luftangriffe: Mit unsichtbaren Waffensystemen wird eine Nation
M I L I TÄ R T E C H N I K
„Die Fronten sind überall“
Im Kosovo-Krieg gelang es US-Militärs offenbar, fiktive Flugzeuge in die Zielcomputer
der serbischen Flugabwehr zu zaubern – ein Vorspiel zum Krieg der Zukunft? Die weltweiten
Datennetze könnten zum Schlachtfeld werden. Mit Hilfe von Computer-Viren und
geheimen Zugangscodes lässt sich die digital gesteuerte Infrastruktur des Gegners attackieren.
E
lf Wochen feuerte die serbische Flugabwehr. Doch die Raketen explodierten meist im Leeren. Nur zwei Flugzeuge – einen Tarnkappenjet vom Typ F117A und einen F-16-Jagdbomber – verlor
die Nato im Kosovo-Krieg durch Abschuss.
Eine der Ursachen für die erstaunlich
geringe Trefferzahl der jugoslawischen Abwehr wird nun deutlich: Im Krieg auf dem
Balkan wurde offenbar erstmals eine Waffe eingesetzt, welche die künftige Kriegsführung total umkrempeln dürfte.
Viele der serbischen Raketen trafen
durchaus ihr Ziel – doch dieses erwies sich
als Phantom. Denn US-Elektronikexperten hatten die Computer der jugoslawischen Flugabwehrsysteme manipuliert: Die
Radaroffiziere sahen auf ihren Monitoren
feindliche Flugzeuge aufblitzen, wo in
Wahrheit nur leerer Himmel war.
Die Einspeisung der virtuellen Ziele, so
berichtet das US-Fachblatt „Aviation Week
288
& Space Technology“, sei einfach gewesen. Auch hätten die USA im Kosovo-Krieg
„mit Hilfe ihrer Computernetze die Stromversorgung und die Kommunikationswege“ des Gegners lahm legen können, behauptet einer der Experten, die im USVerteidigungsministerium derzeit unter
strenger Geheimhaltung den jüngsten Balkan-Krieg analysieren.
Er wird, so viel scheint sicher, als eine
Art Vorspiel einer neuen Kriegsführung in
die Geschichte eingehen, die unter den
Strategen RMA genannt wird. Das Kürzel
steht für „Revolution in Military Affairs“.
Mit der Umwälzung streben die Militärs
einen Krieg an, der ohne Sprengstoff und
Bomben („War by other means“ – WBO)
ausgefochten wird, wenn möglich ohne
Tote („zero death“). Zum unblutigen
Schlachtfeld werden die weltweit gespannten Datennetze mit all ihren Verzweigungsästen.
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Sieger der neuartigen Waffengänge ist,
wer sich die Kontrolle über möglichst viele Informationen verschafft. Der Verlierer
ist der Informationsüberlegenheit seines
Gegners ausgeliefert.
Die Vorbereitungen auf den Cyber-Krieg
laufen auf Hochtouren. Das Tempo wird,
anders als zu Zeiten des Kalten Krieges,
nicht von den Militärs und deren Waffennarren vorgegeben. Die Informationskrieger hecheln hinter der Hard- und Software
her, die im letzten Jahrzehnt von den Experten in den Computerfirmen, Halbleiterlabors und Denkfabriken der freien
Wirtschaft ausgetüftelt wurden.
Der amerikanische Auslandsgeheimdienst CIA hat in seinem Hauptquartier in
Langley (Virginia) vor drei Jahren eine
Stabsstelle eingerichtet, deren Mitarbeiter
sich ausschließlich um den Informationskrieg („Information Warfare“ – IW) kümmern. Auch die supergeheime National Se-
REUTERS
paralysiert, ohne dass ein einziger Soldat ins Feld geschickt werden muss
lysieren können, ohne dass ein einziger Soldat an die Front geschickt werden muss.
Was sich wie Science-Fiction-Thriller
liest, ist häufig schon Realität, wie der amerikanische Militär- und Geheimdienstjournalist John Adams in seinem neuesten
Buch „The Next World War“ deutlich
macht. In diesem fiktiven Großkrieg sind
laut Untertitel „die Computer die Waffen“
und „die Fronten überall“.
Die Voraussetzungen für eine neue Form
von Krieg sind bereits vorhanden: Dieselben Netze, durch die sich Banküberweisungen, persönliche E-Mails, Einsatzpläne für Vertreterkolonnen oder Hotelreservierungen befördern lassen, eignen sich
auch zum Versand von Desinformationen
sowie von Daten, die Kraftwerke, Flugkontrolle oder Bankenverkehr lahm legen
D. BURNETT / CONTACT / AGENTUR FOCUS
curity Agency (NSA), die Amerikas Abhöreinrichtungen in aller Welt betreibt,
mischt auf diesem Gebiet mit.
In einem 1996 erschienenen Report werden die Aufgaben der Geheimdienste definiert: Sie sollen den Vereinigten Staaten
„die globale Informationsüberlegenheit“
verschaffen. Hilfe dabei erhalten die CIAund NSA-Trupps durch Kollegen in neuen
Sonderabteilungen, die inzwischen bei allen Waffengattungen der US-Streitkräfte
und auch bei der Bundespolizeibehörde
FBI ihren Dienst aufgenommen haben.
Vor einigen Jahren noch, sagt der amerikanische Experte für Informationstechnik, Howard Frank, habe „niemand die
Möglichkeiten und Auswirkungen eines Informationskrieges ernst genommen“. Nun
sind tausende von Info-Spezialisten damit
beschäftigt, die USA für einen digitalen
Waffengang zu rüsten, aber auch Frühwarnsysteme und Abwehrmechanismen
gegen IW-Angreifer zu entwickeln.
Regelmäßig testet die neue Kaste der
Cyber-Krieger in Simulationsübungen und
Kriegsspielen ihre Kenntnisse. Nur gelegentlich sickern Einzelheiten über den Verlauf der im Computer ausgefochtenen
„War Games“ an die Öffentlichkeit.
Zu den Quellen zählen etwa Studien, die
der US-Kongress von unabhängigen Gremien oder angesehenen Denkfabriken
durchführen lässt. Auch eine Reihe von
Büchern über das neue Kapitel der Militärgeschichte ist inzwischen erschienen.
Es geht darin um stumme und unsichtbare
Waffensysteme, die eine ganze Nation para-
und so eine Wirtschaft kollabieren lassen
können. Das Elektron als kleinster Baustein der Datenverarbeitung, sagt John
Deutch, ehemals Direktor der CIA, „ist
die ultimative Präzisionswaffe“.
Angreifen und manipulieren lassen sich
die elektronischen Telekommunikationssysteme vielfach heute schon, so etwa
durch:
π Viren – Programm-Codes, die Datensätze manipulieren und sich selbständig
vermehren; bekannt sind derzeit knapp
17 000 Viren, fünf Prozent von ihnen gelten als potenziell gefährlich;
π Würmer – Programme, die geheime Daten wie Passwörter oder Codes ausspähen und dem Absender melden;
π Logische Bomben – Software, die unter
bestimmten Konstellationen zum Beispiel große Datensätze zerstört;
π Falltüren – in Software eingebaute Geheimzugänge, die ein Eindringen in das
System unter Umgehung gängiger Sicherheitsvorkehrungen erlauben;
π Elektromagnetische Pulse (EMP) – energiestarke, sehr kurzwellige Strahlung,
die elektronische Anlagen in Bruchteilen
von Sekunden zerstören kann, selbst
wenn diese ausgeschaltet sind.
Dass die Vereinigten Staaten als derzeit
einzige militärische Supermacht und technisch fortgeschrittenste Nation zugleich
auch besonders verwundbar ist, zeigte ein
Kriegsspiel, das Amerikas höchste Militärs
vorletzten Sommer anberaumten.
Aufgabe eines feindlichen „Red Team“
war es, im Verlaufe des Unternehmens mit
dem Codenamen „Eligible Receiver“ (Befugter Empfänger) die Fähigkeit der USStreitkräfte und der politischen Führung
zu testen, einem massiven „Cyber-Angriff“
zu widerstehen.
Die roten Hacker waren gehalten, nur
solche Techniken und Informationen zu
nutzen, die öffentlich zugänglich waren,
etwa im Internet von jedermann abrufbar.
Nach drei Monaten hatten die Hacker es
geschafft: Amerikas Fähigkeit zur Führung
eines Krieges war lahm gelegt.
Offenbar geschockt vom Ausmaß der
eigenen Verwundbarkeit, verfügten die
US-Verteidigungsministerium: „80 bis 100 Hacker-Angriffe pro Tag“
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Technik
R. FURSA / IMAGES.DE
REUTERS
Die Modernisierung wurde so rasch be- knipsen, die das Telefonnetz ausschalten
Kriegsspielstrategen die höchste Geheimhaltungsstufe über die Ergebnisse der Nie- trieben, dass die Spezialisten für den und das Verkehrssystem lahm legen“, bederlage. Aus Sorge, dass die aufgezeigten Schutz gegen unbefugte Zugriffe nicht mit- teuert Clarke. Jeder Angriff auf den „ameSchwachstellen nicht behoben würden, halten konnten. Ergebnis: „Die amerika- rikanischen Cyberspace“ sei ein Angriff
ließen einige Mitspieler Einzelheiten nischen Verteidigungssysteme wurden ge- auf die Vereinigten Staaten, „so als landegen Cyber-Angriffe zunehmend verwund- ten Soldaten an der Küste von New Jerdurchsickern.
„Mit bemerkenswerter Leichtigkeit“, bar“, so das Fazit einer Studie, die das Na- sey“.
Doch noch ist die Gefahr von Attacken
so berichtet Buchautor Adams, gelang tional Research Council im Auftrag des USes den Hackern, „die gesamte Logistik Kongresses erstellte. Seit einigen Monaten aus dem Ausland gering. Denn gegenüber
durcheinander zu wirbeln“: Eine Jet- steht der 298 Seiten umfassende Report im potenziellen Gegnern wie etwa der darniederliegenden Ex-Weltmacht Russland
Staffel hatte Raketen angefordert – die Internet.
und der aufstrebenden RegionalHacker klinkten sich ins Nachmacht China genießen die Compuschubnetz ein und änderten den
ter-Nationen des Westens und ihre
Bestellzettel; Folge: Statt der beasiatischen Zuarbeiter wie Japan,
stellten Luft-Boden-Raketen wären
Taiwan oder Indien eine gewaltige
im Ernstfall Scheinwerfer angelieInfo-Übermacht.
fert worden.
Als Russland beispielsweise bei
In einer anderen Spielsituation
IBM und Siemens 100 Großrechner
warteten hunderte von Soldaten
für den zivilen Einsatz bestellte,
stundenlang auf einem Flugplatz,
machte die CIA schnell als tatsächvon dem aus sie mit Zivilflugzeulichen Empfänger das Moskauer
gen ins Einsatzgebiet geflogen werVerteidigungsministerium aus. Die
den sollten. Die TransportanfordeSoftware wurde daraufhin mit alrung war ordnungsgemäß erteilt,
lerlei Fallen, Viren und Logischen
doch die vom roten Hackerteam
Bomben gespickt und ausgeliefert.
umgeleiteten Jets waren längst zu
Vor dem Einsatz nahmen Expereinem anderen Einsatzort unter- Jet-Start von Flugzeugträger: Scheinwerfer statt Raketen
ten des russischen Geheimdienstes
wegs.
Im Gegensatz zu den Militärs, denen FAPSI, Pendant zur amerikanischen NSA,
Solche Spiele werden vor realem Hintergrund ersonnen: Die Anzahl der Versu- beigebracht wird, das Unkalkulierbare zu die Großlieferung aus dem Westen unter
che von Hackern, in die Datenbanken des erwarten und sich darauf einzustellen, ha- die Lupe. Ob es ihnen gelang, alle unerUS-Verteidigungsministeriums einzudrin- ben Amerikas Unternehmer und Politiker wünschte digitale Fracht zu tilgen, ist ungen, belaufe sich, so der stellvertretende häufig Schwierigkeiten, die unsichtbaren gewiss.
Nachhaltig prägte dieser Betrug die
US-Verteidigungsminister John Hamre, auf Angriffe auf die Computer der Nation
ernst zu nehmen.
russische Haltung gegenüber Amerikas
„80 bis 100 pro Tag“.
Wenn Richard Clarke, von Clinton be- InfoKriegern, die aus Moskaus Sicht geFür Surfveteranen sind die Computer
im Fünfeckbau am Ufer des Potomac eine rufener Terrorismus-Experte im Weißen gen Ende der neunziger Jahre damit bebeliebte Spielwiese. 95 Prozent der „nicht Haus, amerikanischen Konzernbossen die gannen, die russische Kommunikationsgeheimen“ militärischen Kommunikation Gefahr eines Cyberwars erläutert, „dann technik unter ihre Kontrolle zu bringen –
laufen über öffentliche Datennetze. Zu glauben die, ich würde von einem 14-jähri- mal im Zuge der Privatisierung russischer
großen Teilen besteht die Welt im Pentagon gen Hacker reden, der ihnen ihre Web-Sei- Hightech-Firmen mit westlichen Krediten,
mittlerweile aus marktgängiger Hard- und te kaputt macht“. Dabei gehe es ihm um mal durch die Lieferung weiterer
„Leute, die in einer Stadt das Licht aus- Großrechner und Server, vor allem aber
Software.
durch die verstärkte Lieferung von Personalcomputern.
Im Januar 1995 war jeder vierte der 1,2
Millionen russischen Computer in Russland
hergestellt; ein Jahr später waren vier Millionen Computer in Betrieb, von denen
fast keiner mehr aus russischen Fabriken
stammte. „Sämtliche Geräte, die wir inzwischen für unsere Infrastruktur einsetzen“, sagt der russische Sicherheitsexperte Witalij Zygitschko, „sind westlichen Ursprungs. Und niemand weiß, was in ihnen
wirklich verborgen ist.“
Sie könnten die Grundlage jener „Informationswaffen“ bilden, mit denen die
russischen „Informations- und Telekommunikations-Systeme penetriert werden
können, um Informationen zu stehlen, zu
deformieren oder zu zerstören“, heißt es in
einem 60 Seiten umfassenden Dokument,
das dem amerikanischen Autor Adams vom
FAPSI übersandt wurde.
Ein- und Angriffe auf „automatisierte
oder kritische Technologien“, befürchten
die Geheimdienstler, könnten schließlich
„Russlands wirtschaftlichen, politischen,
Kommandozentrale des Energiekonzerns Gazprom in Moskau: Mit Leichtigkeit lahm legen?
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Werbeseite
Werbeseite
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TIERE
Lächelnde Killer
TV-Star, verspielter
Menschenfreund und Lebensretter
– der Delfin gilt als Publikumsliebling unter den Wildtieren. Jetzt
gerät das Bild ins Wanken.
A
lles begann mit dem Fund der
Mordopfer. Tierärzte und Biologen
hatten tote Schweinswale gefunden, gestrandet im Moray Firth, einer
Bucht im Nordosten Schottlands.
Ben Wilson, Meeresbiologe an der Universität von Aberdeen, untersuchte die Ka-
ABERDEEN UNIVERSITY
technischen und ökologischen Interessen
schweren Schaden zufügen“.
Was können die Info-Krieger wirklich?
Das im Unklaren zu lassen, ist schon Teil
der Schlacht um die Informationshoheit.
Die NSA betrachtet jedes Bit auf der Welt
als ihr Operationsgebiet. Auf jede Datei
sucht sie sich das Zugriffsrecht zu sichern.
Strenge Exportrichtlinien verbieten
amerikanischen Softwarefirmen, wirkungsvolle Verschlüsselungsprogramme
auf den Weltmarkt zu bringen.
Ohne viel Aufhebens haben sich die
großen Softwarekonzerne mit den Begehrlichkeiten der Infowar-Strategen arrangiert. So baut die Firma Lotus in die
Exportversion ihrer „Notes“-Software, die
in vielen Konzernen den internen E-MailAustausch verwaltet, eine Art Sollbruchstelle in den Code ein.
Der Schlüssel, der Firmengeheimnisse
vor neugierigen Blicken schützen soll, ist
zweigeteilt: Fremde Eindringlinge müssten
einen PC jahrzehntelang knobeln lassen,
um eine verschlüsselte Nachricht zu entziffern; die NSA jedoch kennt einen Teil
des Schlüssels, und den exportgenehmigten
Rest, so vermuten Kryptologen, können
ihre Spezialrechner innerhalb von Minuten
oder Sekunden knacken.
Vorletzte Woche geriet auch Microsoft
ins Zwielicht. Als ein Sicherheitsspezialist
die neueste Version des Betriebssystems
„Windows NT“ unter die Lupe nahm, das
auf Millionen von Rechnern weltweit den
Datenverkehr regelt, stieß er auf das verdächtige Kürzel „_NSAKEY“ in einem
Programmteil, der für die Einbindung von
Verschlüsselungstechnik in das Betriebssystem verantwortlich ist.
Wozu der bis vor kurzem unbekannte
Zweitschlüssel mit dem verdächtigen Namen dient, konnte der Konzern nur gewunden erläutern. Es handele sich um einen Reserveschlüssel für den Fall des „Verlusts des Primärschlüssels“, sei aber unter
Microsofts Kontrolle und „zu keinem Zeitpunkt Institutionen oder Behörden bekannt gegeben“ worden.
Kryptologen zweifeln an dieser Lesart.
Heftig tobt im Internet die Diskussion über
die Tragweite der Entdeckung. Wäre der
„_NSAKEY“ doch im Besitz des Supergeheimdienstes – so meinen einige –, könnten die NSA-Experten womöglich manipulierte Software als Microsoftprodukt
ausgeben und so den Geheimnisschutz
nach Belieben aushebeln.
„Haltlose Spekulationen“, erklärt der
Gates-Konzern. „Microsofts Erklärungen
sind weder logisch noch befriedigend“,
findet dagegen SPD-Technologiexperte
Jörg Tauss. Schriftlich forderte er die Minister für Inneres, Wirtschaft, Forschung
und Justiz auf, zu prüfen, ob man es angesichts der undurchsichtigen Lage verantworten könne, in „sicherheitsrelevanten Bereichen noch Microsoft-Systeme
einzusetzen.“ Rainer Paul, Jürgen Scriba
Getöteter Schweinswal, „Delfintherapie“ für
daver. Die Tiere hatten gebrochene Rippen, innere Blutungen und Prellungen am
ganzen Leib. Bei einigen hatten die Rippen
die Lungenflügel zerfetzt. Alles deutete auf
äußere Gewalteinwirkung hin.
Waren die Wale mit Fischerbooten kollidiert oder in Netze geraten? Dazu, so fanden die Forscher schnell heraus, passte das
Verletzungsmuster nicht.
Verräterisch schienen ihnen vor allem
charakteristische, dreieckige Wunden in
der Haut einiger Opfer. Sie lagen auf einer
Linie und gingen in parallel verlaufende,
oberflächliche Kratzer über. Wilson tippte
auf Biss-Spuren und vermaß den Abstand
der Wunden.
Das Ergebnis erlaubte kaum einen Zweifel: Den passenden Kiefer hat einzig der
Große Tümmler, bekannt als Hauptdarsteller der Kinder-Serie „Flipper“. Im
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Wissenschaft
den Lippen, der Schiffbrüchige rettet und
Schwimmer vor Haien beschützt, wird vielerorts Profit geschlagen. Kommerzielle Organisationen karren Touristen vor die Küste Floridas, wo sie mit Delfinen schwimmen können. Allein der Anblick eines Delfins, so eine Werbebroschüre, komme einer
Erleuchtung gleich.
Auf den Bahamas verspricht das „Delphines Centre“ zahlungskräftigen Kunden
Begegnungen mit wilden Delfinen. „Die
Liebe und hohe Intelligenz dieser Tiere verändern die Menschen“, schwärmen die Anbieter. Im israelischen Eilat und in Florida
soll die „Delfintherapie“ behinderten Kindern helfen.
„Wir haben so ein positives Bild von Delfinen“, sagt Dale Dunn, Veterinär aus Washington, „dass uns Gewalt unter diesen
Tieren total verstört.“ Bislang gibt es zwar
cken auf Jungtiere und Schweinswale, die
mit purer Mordlust nicht viel zu tun haben.
Möglicherweise töten männliche Delfine
den Nachwuchs anderer Männchen, um die
Weitergabe des eigenen Erbguts zu gewährleisten. Große Tümmler kalben in
der Regel nur alle zwei bis vier Jahre und
bleiben in der Zwischenzeit sexuell inaktiv.
Verliert ein Weibchen sein Junges, ist es
meist schon nach wenigen Tagen wieder zur
Paarung bereit.
Für ein fortpflanzungswilliges DelfinMännchen könnte der Mord an einem fremden Jungtier somit die einzige Möglichkeit
sein, die eigenen Gene weiterzugeben, zumal in einer so kleinen Population wie der
im Moray Firth, wo die Anzahl geschlechtsreifer Weibchen gering ist.
Solche Fälle von Kindstötung sind im
Tierreich nicht unbekannt. Auch Schim-
D. ATLAN / GAMMA / STUDIO X
Moray Firth leben die einzigen Großen
Tümmler der Nordsee, eine Population von
rund 130 Tieren. „Mein Gott“, dachte Delfinforscher Wilson, „die Tiere, die ich seit
zehn Jahren erforsche, bringen Schweinswale um!“
Wenig später wurden die Wissenschaftler selbst Zeugen, wie eine Gruppe von
Delfinen Jagd auf einen Schweinswal
machte. Die Delfine rammten das kleinere Tier und griffen es wiederholt brutal an,
bis es aus dem Blickfeld der Beobachter
verschwand.
Die Verwirrung um diese scheinbar
grundlose Mordlust wuchs, als die schottischen Biologen auch die ähnlich verstümmelten Leichen von Delfinkälbern am
Strand fanden. Später musste Wilson vom
Boot aus sogar fast eine Stunde lang zusehen, wie ein erwachsener Delfin ein of-
behindertes Kind (in Florida): Scheinbar grundlose Mordlust
fenbar bereits totes Jungtier immer wieder
heftig auf die Wasseroberfläche schlug.
„Das sind die ersten Berichte von Kindsmord unter Meeressäugetieren“, schrieb
Wilson vergangenes Jahr in einem britischen Fachblatt. Inzwischen häufen sich die
Beweise für den Infantizid. Vor der Küste
Virginias entdeckten US-Veterinäre mehrere verendete Delfinkinder mit Prellungen
und Rippenbrüchen. Eins von ihnen zeigte
außerdem die typischen Biss-Spuren.
Das von TV-Serien und Reiseveranstaltern propagierte Bild des gutmütigen Delfins wankt seither. Die „New York Times“
erklärte den Delfin gar zum blutrünstigen
Killer, „weit entfernt vom glücklichen,
friedfertigen Wesen, das die Menschen zu
kennen glauben“.
Aus dem Mythos vom intelligenten,
hilfsbereiten Flipper mit dem Lächeln auf
keine gesicherten Hinweise darauf, dass
Menschen von Delfinen angegriffen werden. Dennoch warnt Dunn: „Wilde Delfine verdienen denselben Respekt wie andere wilde Tiere.“
Für den Biologen Thomas Orthmann
vom Institut für Meereskunde der Universität Kiel ist die Aufregung um die „Killerdelfine“ indes kaum verständlich. „Meeresbiologen wissen schon länger um das
Gesamtspektrum der Verhaltensäußerungen dieser Tiere“, so Orthmann. „Für uns
sind diese Erkenntnisse nicht neu und auch
nicht überraschend.“
Das scheinbar freundliche Grinsen der
Tiere lasse leicht vergessen, dass es sich
um frei und wild lebende Tiere handelt,
die auf der Grundlage evolutionär geprägter Verhaltensmuster agieren. So gibt es
wissenschaftliche Erklärungen für die Attad e r
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pansen oder Löwen töten gelegentlich den
Nachwuchs anderer Männchen. „Vom Killerschimpansen hat deswegen noch niemand gesprochen“, sagt Biologe Orthmann, „dabei stehen uns die Primaten
entwicklungsgeschichtlich viel näher als
die Delfine.“
Dass häufig auch Schweinswale angegriffen werden, könnte mit dem Infantizid
zusammenhängen. Da sie etwa so groß sind
wie die getöteten Delfinkälber, wäre es
möglich, dass die Delfine das Töten von
Jungtieren erproben.
„Aus menschlicher Sicht erscheint das
schrecklich und brutal“, räumt Orthmann
ein, „trotzdem kann es dafür eine pragmatische Erklärung geben.“ Letztlich sei
der Delfin, trotz aller Eigenschaften, die
ihm der Mensch andichte, „auch nur ein
Tier“.
Julia Koch
293
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
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Technik
S P I E G E L - G E S P R ÄC H
„Das Auto ist ein Container“
Automobildesigner Giorgetto Giugiaro über die Uniformität moderner Karosserien, die Protzlust der
Autofahrer und die Notwendigkeit strengerer Gesetze zur Eindämmung der Blechlawine
Giorgetto Giugiaro
zählt zu den erfolgreichsten Automobildesignern der Welt. Giugiaro, 61, entwarf den ersten VW-Golf, aber auch
Exoten für Ferrari und Maserati. Schon
als junger Kunststudent hatte er eine
Vorliebe für Autoskizzen entwickelt
und damit das Interesse des Fiat-Chefkonstrukteurs Dante Giacosa geweckt,
der den gerade 17-Jährigen 1955 als
Designer einstellte. 1967 machte sich
Giugiaro, Enkel eines Piemonteser
Freskenmalers, selbständig und verlegte sich auf Großserienfahrzeuge. In
seiner Firma Italdesign wurden mittlerweile über 80 später in Massen produzierte Autos entworfen.
296
worfene VW Golf wurde zum Vorbild moderner Massenautos. Sind Sie der Schuldige für das monotone Einheitsdesign auf
den Straßen?
Giugiaro: Der Vorwurf ist verständlich, aber
ungerecht. Als Autodesigner können Sie
keine Skulpturen nur fürs Auge machen.
Die Architektur des Automobils ist enormen technischen und ökonomischen Zwängen unterworfen.
SPIEGEL: Der deutsche
Designer Luigi Colani
behauptete, Sie hätten
die „Schuhschachtel
auf Rädern“ erfunden.
Giugiaro: Ich gehe noch
weiter: Das Auto ist ein
Container. Sehen Sie,
der Container verkörpert die maximale Rationalität der Raumnutzung – das ist
logisch. Machen Sie einfach nur
eine Kugel und einen Würfel mit
dem gleichen Durchmesser. Der Würfel bietet mehr Platz. Genauso ist das
mit den Autos. Je rundlicher sie sind,
desto enger sind sie. Colani, der sich mehr
als Bildhauer versteht, denkt nur an sich
und vergisst diese anderen Kriterien.
SPIEGEL: Diesen Kriterien folgend haben
Architekten und Designer die Welt weitgehend verschachtelt. Die Städte sind übersät mit Schachtelhäusern, die Straßen verstopft mit Schachtelautos.
Giugiaro: Das sehen Sie zu undifferenziert.
Schauen wir uns doch selbst an. Sie und
ich, wir haben keine völlig verschieden geformten Nasen, Münder, aber die Proportionen sind ein wenig anders. Dennoch
wird es uns nicht gelingen, nur auf Grund
dieser Proportionen zu unterscheiden, wer
der Schönere ist. Auch bei den Autos, die
alle gleich erscheinen, sind diese Unterschiede vorhanden.
SPIEGEL: Wie konnte der von Ihnen entworfene Fiat Panda, mit dem Sie das rationale Schachtelprinzip auf die Spitze getrieben haben, zum Kultauto werden?
Giugiaro: Der Panda ist der totale Container, seine Form fast schon militärisch. Im
Militärwesen ist man sehr rational. Der
Panda-Fahrer sieht genau darin einen Wert.
Er lehnt unnütze Barockismen ab und begreift die Einfachheit als Schönheit.
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SPIEGEL: Ihre Vorfahren waren Freskenmaler in Kathedralen und Schlössern. Was
würde ein Michelangelo zum heutigen Gebrauchsdesign sagen?
Giugiaro: Er wäre schockiert. Denn er könnte die Gründe für die Evolution der For-
AUTO, MOTOR UND SPORT
L. VITALE / GRAZIA NERI
SPIEGEL: Herr Giugiaro, der von Ihnen ent-
Neue Bugatti-Studie von Giugiaro
„Freiheit wird zur Verrücktheit“
men nicht sofort nachvollziehen. Ein Bildhauer bekam damals Aufträge von einer
Elite schwerreicher Menschen. Er musste
sich um die Masse der Menschen, die nicht
einmal ein Pferd hatten, um von Florenz
nach Bologna zu reiten, nicht kümmern.
Genau das müssen Designer heute tun. Das
ist der Grund für Formen, die Sie als monoton und langweilig empfinden.
SPIEGEL: Als Autodesigner würde Michelangelo scheitern?
Giugiaro: Ja. Es sei denn, er würde alles, was
ihn ausmacht, was ihn einzigartig macht,
ablegen.
SPIEGEL: Würden Sie lieber als Bildhauer in
einem vergangenen Jahrhundert leben?
Giugiaro: Unglücklicherweise bin ich in diesem Jahrhundert geboren. Natürlich bedaure ich es zuweilen, nicht die Freiheiten
eines Renaissancemalers zu haben. Ich
gehe gern in eine Kunstausstellung und
trenne mich in Gedanken völlig von den
Zwängen meines Berufsfelds – Computern,
Fließbändern, Produktionstechniken.
SPIEGEL: Die unmittelbaren Vorgänger der
Autodesigner haben doch im Prinzip viel
schönere und komfortablere Fahrzeuge geschaffen, die hohen, geräumigen Kutschen.
Giugiaro: Auch die folgten rationalen Anforderungen. Die Straßen waren holprig,
voller Schlaglöcher. Darum brauchte man
enorm große Räder. Doch so konnte es
nicht weitergehen. Als die Geschwindigkeiten zunahmen, musste der Schwerpunkt
immer weiter abgesenkt werden.
SPIEGEL: Eine Fehlentwicklung?
Giugiaro: In gewisser Hinsicht, ja. Heute sitzen die meisten Autofahrer so tief wie
früher nur in Rennwagen, auch wenn sie
gar nicht schnell mit ihren Autos fahren.
Nehmen Sie die Amerikaner. Die lieben
seit jeher flache Autos mit sportlichem Erscheinungsbild, obwohl ihre Tempolimits
zu den strengsten der Welt gehören.
SPIEGEL: Neuerdings wachsen
die Autos doch wieder in die
Höhe, manche so sehr, dass sie
bei Testmanövern umkippen.
Entwickelt sich das Auto
zurück?
Giugiaro: Nein. Solche
Autos brauchen nur anspruchsvollere Fahrwerke, im Zweifelsfall
elektronische Systeme, wie sie ja bereits
eingeführt wurden.
Das kriegt man technisch in den Griff. Es
bleibt aber ein psychologisches Problem: Je
höher ich sitze, umso
stärker spüre ich die Seitenneigung des Fahrzeugs und
bekomme Angst. Das ist die Schattenseite
des größeren Komforts beim Einsteigen,
des angenehmeren Raumgefühls.
SPIEGEL: Was ist die wichtigste Eigenschaft
des Automobils?
Giugiaro: Die einfache Bedienbarkeit, der
Komfort. Die bedeutendsten Verbesserungen des jüngeren Autodesigns sind der ebene Wagenboden und die hohe Sitzposition.
In einem engen, niedrigen Sportwagen ist
die Lebensqualität am schlechtesten. Lebensqualität hängt nicht nur von der Ästhetik ab. Sie wird davon bestimmt, wie ich
wirklich in dem Gerät lebe, das ich benutze. Auch die Möbeldesigner konzipieren
oft viel zu niedrige Sofas, die gut aussehen,
aber den Erfordernissen des menschlichen
Körpers überhaupt nicht entsprechen.
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M. NYARY / AUTO BILD
C. PIEPENBURG / AUTO BILD
Technik
Giugiaro-Entwürfe VW Golf (1974), Fiat Panda (1980): „Michelangelo wäre schockiert“
SPIEGEL: Mit Ihren Argumenten der reinen
Ländern, was wünschen sie sich zuallererst? Sie wollen Autos.
SPIEGEL: Bevorzugen Sie selbst auch Protzkarossen?
Giugiaro: Als junger Mann wollte ich auch
einen unkomfortablen, flachen Sportwagen, gegen jede Vernunft. Das ist ein ganz
infantiler Reiz. Heute, glaube ich, bin ich
etwas reifer. Da legt sich das.
SPIEGEL: Was für ein Auto fahren Sie
heute?
Giugiaro: Einen Seat Ibiza Cupra …
SPIEGEL: … das Topmodell mit Turbolader
und 180 PS, immerhin. Das Automobil hat
sich jeder Form von Aufklärung erfolgreich
widersetzt. Ist es seine Aggressivität, die
den Menschen so fasziniert?
Giugiaro: Das Auto ist ein Produkt, das
Stärke ausstrahlt. Das ist eine ganz wichtige Komponente. Allerdings müssen Sie als
Designer auf eines achten: Je höher die
Preisklasse, in der das Produkt angesiedelt
ist, umso weniger darf diese Ausstrahlung
offensichtlich werden. Weiter unten, bei
billigeren Autos, können Sie sich mehr Frivolitäten erlauben.
SPIEGEL: Welche Psychologie steckt hinter
der Geländewagenmode?
Giugiaro: Die Psychologie der Kraft, der
Gewalt. Hier geht es um reinen Exhibitionismus. Ich sehe übrigens viele Frauen in
Geländewagen. Zierliche Frauen kaufen einen bulligen Geländewagen, um sich die
Stärke des Mannes anzueignen. Sie fahren
damit in die Stadt, parken demonstrativ
auf dem Gehsteig. Die Psychologie des
Geländewagens lässt sich leicht durchschauen. Er ist ein Spielzeug der Selbstdarstellung.
SPIEGEL: Energiekrisen und der Verkehrsinfarkt konnten die Urinstinkte des Automobilisten offensichtlich nicht verändern.
Übermotorisierte Statussymbole dominieren auch in diesem Jahr wieder die Frankfurter IAA. Mercedes stellt einen Sportwagen mit über 500 PS aus.
Giugiaro: Das Auto ist etwas sehr Nützliches, aber die Freiheit, die es dem Menschen gibt, wird zur Verrücktheit, wenn
der Gesetzgeber nicht eingreift. Es wäre
absolut sinnvoll, etwa die Länge der Autos
auf vier Meter zu begrenzen. Vier Meter –
und stopp! Oder das Gewicht auf
1200 Kilogramm. Dann natürlich
auch den Verbrauch und die Motorleistung. Aber die Menschen
wollen das nicht.
SPIEGEL: Auch Sie schüren die Lust
am Unsinn. Im Auftrag von VW haben Sie inzwischen die dritte Bugatti-Studie entworfen, ein Monsterauto mit 18 Zylindern.
Giugiaro: Sicher. Das Auto ist die
ständige Demonstration des Menschen gegen Restriktionen. Das
kann und darf ein Autodesigner
nicht ignorieren.
SPIEGEL: Der größte Feind des Designers, behaupten Sie, sei das Marketing. Einmal sagten Sie, Sie würden die Marketing-Leute regelrecht
hassen. Was haben die Ihnen denn
getan?
Giugiaro: Der Zwist zwischen Marketing und Design ist ein uralter
Machtkampf. Die Marketing-Leute
sind selbst völlig unfähig, ein Auto
zu entwerfen, sie wollen uns DeP. VANN
Vernunft könnte man das Auto auch gleich
abschaffen. Es verbraucht zu viel Energie,
zu viel Platz, verstopft die Städte …
Giugiaro: Das Auto hat überlebt, weil es
weit über seine Transportleistung hinaus
ein menschliches Grundbedürfnis befriedigt, den Wunsch nach Selbstdarstellung.
Wer kein prächtiges Haus hat, keine schönen Bilder, keine schönen Möbel, der kann
mit seinem Auto auf die Straße hinausfahren und sich fühlen wie ein wichtiger Manager. Das Auto, das eigentlich einem erheblich reicheren Menschen zusteht, kann
sich im Zweifelsfall auch der Ärmere leisten. Das Haus niemals.
SPIEGEL: Das Auto hat überlebt, weil die
Menschen damit angeben wollen?
Giugiaro: Zweifellos ist das einer der wichtigsten Gründe. Große, teure Autos werden
in erstaunlich großer Zahl verkauft. Viele
Menschen verschulden sich dafür. Das
Auto ist das bedeutendste Wohlstandssymbol der Welt. Und dadurch wurde es
auch ein zentraler Wirtschaftsfaktor. Die
Menschen in den nicht industrialisierten
Zukunftsstudie von Alfa Romeo (1954): Flügel oder Kuckucksuhr?
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L. VITALE / GRAZIA NERI
DPA
signern aber alles vorschreiben,
SPIEGEL: Wie würde Ihr Konzept
weil sie glauben, alles analysiert
funktionieren?
zu haben, alles zu begreifen. Zu
Giugiaro: Ein privater oder öfdominantes Marketing erstickt
fentlicher Betreiber verteilt die
die Kreativität. Den VW Golf
einzelnen Autos in der Stadt wie
hätte ich nach reinen MarketingEinkaufswagen im Supermarkt.
Vorgaben nie so gemacht. Das
Wer will, kann sich dann mit
gilt auch für andere erfolgreiche
der Scheckkarte ein Fahrzeug
Autos, etwa den Fiat Punto.
schnappen und so weit fahren,
wie er möchte. Dort lässt er es
SPIEGEL: Japanische und koreafür den nächsten stehen. Man
nische Hersteller, für die Sie zuwürde es benutzen wie einen
weilen auch arbeiten, bringen
Omnibus.
vorwiegend Autos im Null-Design auf den Markt. Bestimmen
SPIEGEL: Und Sie glauben, da
in Fernost die Marketing-Leute
würden die Leute einfach mitalles?
machen?
Giugiaro: Nicht alles, aber sie doGiugiaro: Nicht freiwillig. Die
minieren dort sehr. Das Markestädtischen Behörden müssten
ting, heißt es, grenzt die Risiken
die Straßen für andere Autos
ein. Und die fernöstlichen Hersperren. Nur mit gesetzlichem
steller fürchten nichts so wie das
Druck haben intelligentere ProRisiko. Darum kopieren sie auch
dukte eine Chance. Die aktuelso viel. Die Toyota-Luxusmarke
len Gesetze geben nahezu abLexus folgt zum Beispiel Mersolute Freiheit. Keiner verbietet
cedes. Das kann man ganz deutIhnen, ein Auto mit 40 Zylindern
lich sehen.
zu bauen und zu fahren.
SPIEGEL: Vorausgesetzt, dass der
SPIEGEL: Fordern Sie den autoMut zum Risiko nicht ganz verritären Staat, die Öko-Diktatur?
schwindet, wie wird sich das
Giugiaro: Zwang ist durchaus etAuto im Laufe der kommenden
was Gutes. Ohne Zwang gibt es
zehn Jahre verändern?
keine intelligenten Lösungen.
Frei zu sein ist nicht so schön.
Giugiaro: Äußerlich wird sich da
nicht so viel tun. Die Qualität
SPIEGEL: Das Auto in seiner heuim Detail wird noch einmal
tigen Konzeption ist also ein Irrdrastisch verbessert werden. Raketenmann*: „Der Wunsch ist ungebrochen“
tum, hervorgerufen durch zu
Das zeichnet sich heute schon
große Freiheit?
ab. Die Passungen werden immer genauer. enormem Entwicklungsaufwand erreichen Giugiaro: Der Fehler besteht darin, dass
Das Auto wird sein wie eine perfekte Uhr. sie Geschwindigkeiten weit über 200 Stun- nicht weit genug gedacht wurde. Das ProSPIEGEL: Das klingt ja nicht sehr berau- denkilometer, obwohl man fast nirgends blem sind die Proportionen, die nicht stimschend. Früher hatten die Designer Visio- so schnell fahren kann, meist nicht einmal men. Man kann auch anders herum argunen von Autos, die aussahen wie Flug- darf. Das ist im Prinzip eine Dummheit. Ein mentieren: Die Straßen in den Städten sind
geräte. Und Sie bieten uns eine Kuckucks- Autozug, der 300 oder mehr erreicht, wäre schlicht zu klein für die Verkehrsmittel, die
wir benutzen.
eine gute Lösung.
uhr auf Rädern an?
Giugiaro: Sicher, das waren tolle Entwürfe. SPIEGEL: Dazu bräuchte man viel kleinere SPIEGEL: Die Städte werden wir nicht mehr
Als ich in den fünfziger Jahren bei Fiat an- Autos. Aber die kommen beim Kunden verändern können.
fing, habe ich immer diese amerikanischen nicht an. Das zeigt die mühsame Marktein- Giugiaro: Deswegen sage ich ja, wir brauZeitschriften verschlungen. Die waren vol- führung des Smart. Auch Sie haben einmal chen dort andere Verkehrsmittel. Wenn wir
ler beflügelter Zukunftsautos. Und wenn ein ähnliches Fahrzeug entworfen, das City- diese Verkehrsmittel im Moment noch
Sie sich heute umsehen: Nichts, aber auch auto „Biga“ mit Elektromotor.Woran schei- hässlich oder langweilig finden, kann ich
gar nichts davon hat sich durchgesetzt. Der tern solche Fahrzeuge?
nur sagen: Habt etwas Geduld!
Wunsch, mit dem persönlichen Verkehrs- Giugiaro: Sie scheitern am Versuch, sie in- SPIEGEL: Herr Giugiaro, wir danken Ihnen
mittel vom Boden abzuheben und zu flie- dividuell zu verkaufen. Solche Fahrzeuge für dieses Gespräch.
gen, ist natürlich ungebrochen.
sehen grundsätzlich nicht
SPIEGEL: Sie haben sogar schon über eine gut aus und taugen desArt Düsen-Rucksack nachgedacht, mit dem halb auch nicht für den
man durch die Lüfte pest.
Privatbesitz. Man kann
Giugiaro: Das wäre der Gipfel der Freiheit sich nicht damit identifi– eine Welt voller Menschen, die herum- zieren. Ehe ich mir einen
schwirren wie die Vögel. Technisch ist das Biga kaufe, werde ich
durchaus denkbar.
mich doch fragen: O weh,
SPIEGEL: Bis dahin sind allerdings noch was mache ich damit bloß
etliche Probleme am Boden zu lösen. für eine Figur? So klappt
Die Straßen ersticken in Autos. Manche das nie.
Verkehrsexperten haben bereits über
Mischformen von Schienen- und Straßen- * Oben: bei der Eröffnung der
verkehr nachgedacht. Liegt hier die Lö- Olympischen Sommerspiele in
Los Angeles 1984; unten: Christisung?
an Wüst und Jürgen Petermann
Giugiaro: Vielleicht. Klar ist, dass die Auto- im Ausstellungsraum von Italmobile heute falsch qualifiziert sind. Mit design.
Giugiaro (r.), SPIEGEL-Redakteure*: „Vier Meter und stopp“
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Wissenschaft
Form der Malaria. Übertragen durch den
Stich der Anopheles-Mücke, durchläuft er
MEDIZIN
im menschlichen Körper einen komplizierten Vermehrungszyklus, an dessen
Ende er die charakteristischen Fieberschübe auslöst.
Seine Wandlungsfähigkeit ließ den Erreger
bisher immer wieder als Sieger über
Ein Antibiotikum eröffnet neue Perspektiven in der Malariadie Kunst der Pharmakologen triumphieTherapie. Um es zum Medikament fortzuentwickeln, gründeten ren. Kleinste Veränderungen im Erbgut
brachten neue Parasitenstämme hervor –
die Entdecker in Gießen ein Pharma-Unternehmen.
unempfindlich gegen bewährte chemische Attacken. Auch das gängige Malaria-Medikament Chloroquin
schlägt inzwischen bei vielen Stämmen nicht mehr an.
Dringlich macht die Suche nach
neuen Wirkstoffen vor allem die
wachsende Zahl von Infektionen.
Zwei bis drei Millionen Menschen
sterben jährlich an dem heimtückischen Wechselfieber.
Die Gießener jedoch haben eine
Schwachstelle der Plasmodien aufgespürt. Bei der Herstellung lebenswichtiger Moleküle leistet sich der
Parasit offenbar einen extravaganten Stoffwechselweg. Erst seit kurzer Zeit bekannt, könnte er dem Erreger nun zum Verhängnis werden.
Alle Zellen, ob bei Tieren, Pflanzen oder Bakterien, bilden eine bestimmte Kohlenstoffverbindung namens Isopren. Aus dieser wiederum
werden unverzichtbare Naturstoffe
wie Cholesterin hergestellt. Bis vor
einigen Jahren war nur ein einziger
Weg bekannt, der zur Bildung dieser
Ausgangsstoffe führt.
Dass es noch einen zweiten SynMalaria-Überträger Anopheles-Mücke: Immer neue Triumphe über die Kunst der Pharmakologen theseweg gibt, haben Michel Rohmer von der Universität Straßburg
in paar bunte Kugeln, verbunden ten sich die Erfolge ein – viel zu schnell, um und Duilio Arigoni von der ETH Zürich
durch kurze Metallstäbe – auf den etwa Geld aus der Industrie zu beantragen. vor sechs Jahren an verschiedenen MikroIn Experimenten der Gießener Forscher organismen, Algen und höheren Pflanzen
ersten Blick sieht die Konstruktion
auf Hassan Jomaas Schreibtisch nicht sehr erwies sich Fosmidomycin als tödliche Waf- bewiesen. Diese stellen Isopren aus andeeindrucksvoll aus. Dennoch ist das farben- fe im Kampf gegen den Parasiten ren Grundbausteinen her als Mensch und
frohe Atommodell der ganze Stolz des im Plasmodium falciparum. Der Einzeller ist Tier. Und sie nutzen dabei gänzlich andeLibanon geborenen Mediziners – und zu- der Erreger einer besonders schweren re Enzyme.
Diese Entdeckung war der Startpunkt
gleich Grundlage einer Biotechnologie-Firfür Jomaa: Er stieß im Plasmodien-Erbgut
ma, die er vor kurzem gegründet hat.
auf das Gen für ein bestimmtes Enzym,
Die Substanz, deren molekularen Aufdas nur in dem neu entdeckten Stoffwechbau die Kugeln und Stäbe zeigen, ist ein
selweg vorkommt. Nicht nur Bakterien und
Antibiotikum und heißt Fosmidomycin.
Pflanzen, folgerte der Mediziner, auch PaDie Substanz, so hoffen Jomaa und seine
rasiten wie der Malaria-Erreger scheinen
Kollegen an der Universität Gießen, könnden alternativen Weg zu gehen.
te die Malaria-Therapie grundlegend verKönnte man das Enzym lahm legen,
ändern – falls es gelingt, das Geld für die
so Jomaas Überlegung, käme der StoffWeiterentwicklung aufzubringen.
wechsel des Erregers zum Erliegen, er
Trotz verheißungsvoller Ergebnisse sind
wäre besiegt. „Wir wussten einfach, dass
die erhofften Fördermittel – etwa von der
es funktionieren würde“, erinnert sich
Weltgesundheitsorganisation WHO – bisJomaa.
lang ausgeblieben. Unvermittelt sahen sich
Was fehlte, war ein geeigneter Stoff zur
Jomaa und sein Team mit den Tücken prakgezielten Hemmung des Enzyms. Die
tischer Betriebswirtschaft konfrontiert.
Gießener Forscher durchforsteten FachliParadoxerweise entstanden die finanziteratur und Datenbanken und wurden fünellen Engpässe gerade deshalb, weil es mit
dig: Fosmidomycin, ein bereits in den siebder Forschung so rasch voranging. Schon Malaria-Forscher Jomaa
nach wenigen Monaten Laborarbeit stell- „Ich wusste einfach, dass es funktioniert“ ziger Jahren von einem japanischen UnOSF / OKAPIA
Sieg über das Wechselfieber?
B. BOSTELMANN / ARGUM
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ternehmen entwickelter Wirkstoff, schien Bekämpfung längst nicht ausgeschöpft.
ein aussichtsreicher Kandidat zu sein.
Die Erreger anderer InfektionskrankUrsprünglich hatte der in Osaka ansäs- heiten, etwa Tuberkulose oder Toxoplassige Konzern Fujisawa Pharmaceuticals ein mose, scheinen verwundbar wie die PlasMittel gegen bakterielle Infektionen auf modien.
den Markt bringen wollen. Klinische StuAngesichts dieser Möglichkeiten waren
dien an Menschen wurden zwar durchge- die Malaria-Forscher überrascht von den
führt. Doch zur Zulassung kam es nie. Zu Schwierigkeiten, denen sie sich bei der Fiviele andere Antibiotika waren billiger und nanzierung des Projekts gegenüber sahen.
wirkungsvoller als Fosmidomycin.
Zwar gehört Jomaas Team zu den zehn
Unbeachtet verstaubten die Fläschchen Forschergruppen, die die WHO im Rahmit der Substanz seither in den Regalen der men ihres Programms „Roll-Back-MalaPharma-Firma – bis die Forscher aus Gießen ria“ für eine Förderung in Betracht gezosie im Labor nachkochten und ihr Potenzial gen hat. „Allerdings waren die daran
als Malaria-Medikament testeten.
geknüpften Bedingungen für uns nicht
Stolz konnte Jomaa jetzt im Fachblatt akzeptabel“, erklärt Ewald Beck, ein Mit„Science“ verkünden, dass sich seine Pro- autor der „Science“-Arbeit. „Wir hätten
phezeiung bestätigt hat: Plasmodien, die in auf die Rechte an der Entdeckung verZellkultur mit Fosmidomycin behandelt zichten müssen.“
wurden, starben nach kurzer Zeit ab. SoBis jetzt hat die Universität Gießen das
gar Stämme, die gegen alle bekannten Me- Projekt finanziell unterstützt. Zum Teil
dikamente gewappnet sind, streckten an- steuerten die beteiligten Wissenschaftler
gesichts des Enzymhemmers die Waffen.
auch private Mittel bei. „Und wenn es eiAuch im Tierversuch zeigte Fosmi- nen Jackpot gibt, spielen wir Lotto“, bedomycin die erhoffte Wirkung. Mit dem richtet Beck.
Malaria-Erreger infizierte
Mäuse, die das Medikament
erhielten, wurden wieder
völlig gesund. Selbst in
späten Krankheitsstadien
schlug die Therapie noch
an.
Die Freude über den Erfolg ist trotzdem verhalten.
Für die weiterführenden
Versuche, die jetzt nötig
wären, fehlt der kleinen Arbeitsgruppe das Geld. Wenn
die Studien durchgeführt
werden könnten, schätzt Jomaa, wäre Fosmidomycin in
etwa zwei Jahren zulassungsreif. Erste klinische
Tests sind im Senegal ge- Malaria-Kranke in Angola: Jährlich drei Millionen Tote
plant.
Dabei kommt den Pharma-Entwicklern
Mit ihrer neu gegründeten Firma Jomaa
besonders zugute, dass Fosmidomycin Pharmaka GmbH haben sich die Biochenicht unbekannt ist: Schon vor 20 Jahren miker ihre Idee einer Malaria-Therapie pahatte Fujisawa bewiesen, dass die Substanz tentieren lassen. Die Suche nach einem fikaum Nebenwirkungen hat. Denn die be- nanzstarken Partner hat das kleine Untersondere Eleganz der Therapie liegt darin, nehmen selbst in die Hand genommen –
dass sie in einen Stoffwechselweg eingreift, bisher mit mäßigem Erfolg.
der beim Menschen gar nicht vorhanden
„Anfangs sind wir ziemlich naiv an die
ist. „Auf dieser Grundlage können wir her- Sache herangegangen“, erzählt Junguntervorragende Medikamente entwickeln“, nehmer Jomaa. „Wir dachten, wenn wir
schwärmt Jomaa.
den Banken sagen: ‚Wir wollen die Welt
Die Forscher arbeiten noch an abge- retten, und ihr könnt dabei sein‘, wären sie
wandelten Formen des Wirkstoffs, die schon überzeugt.“ Mittlerweile haben die
langsamer ausgeschieden werden. Um zu Wissenschaftler dazugelernt. Für den hesverhindern, dass sich auch gegen Fosmi- sischen Gründungswettbewerb „Sciencedomycin Resistenzen bilden, müsse die 4Life“ stellten sie ihren ersten BusinessSubstanz außerdem mit einem anderen Plan auf. „Ich wusste bis dahin gar nicht,
Wirkstoff kombiniert werden. „Ein Kom- was das ist“, sagt Jomaa.
binationspräparat ist zwar teurer“, räumt
Verhandlungen mit größeren Firmen
Jomaa ein, „aber es bewahrt uns davor, in und privaten Kapitalanlegern kommen
ein paar Jahren wieder mit einem wertlo- langsam in Gang. Jomaa ist zuversichtlich,
sen Medikament dazustehen.“
sein Projekt bald mit einem passenden InDas Potenzial der Enzymhemmung ist vestor weiterführen zu können. Bis dahin
nach Jomaas Einschätzung mit der Malaria- wird Lotto gespielt.
Julia Koch
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GUTHER / SIPA
Wissenschaft
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Chronik
SAMSTAG, 4. 9.
MACHTWORT Bayerns Ministerpräsident
Edmund Stoiber (CSU) entlässt seinen
Justizminister Alfred Sauter. Doch der
von Affären geschüttelte Politiker will
erst gehen, wenn der Landtag zustimmt.
NAHER OSTEN PLO-Chef Jassir Arafat und
Israels Ministerpräsident Ehud Barak unterzeichnen ein Zusatzabkommen zum
Wye-Vertrag, das als Durchbruch bei den
Nahost-Friedensgesprächen gefeiert wird.
SONNTAG, 5. 9.
SCHLAPPE Die SPD ist der Verlierer der
Landtagswahlen in Brandenburg und im
Saarland. In beiden Ländern geht die absolute Mehrheit verloren. Das Saarland
wird künftig von der CDU allein regiert.
4. bis 10. September
KRITIK Trotz der SPD-Wahlniederlagen
will Bundeskanzler Gerhard Schröder an
seinem Sparkurs festhalten. Die ParteiLinke fordert einen Kurswechsel.
DIENSTAG, 7. 9.
UNABHÄNGIGKEIT Indonesien verhängt
das Kriegsrecht über Ost-Timor. Wenige
Tage vorher sprachen sich 80 Prozent
der Wahlberechtigten für die Unabhängigkeit von Indonesien aus.
FUSION Der US-Medienkonzern Viacom
übernimmt CBS. Die Fusion gilt als größte der Medienbranche.
ERDBEBEN Bei einem schweren Erdbeben
in Athen kommen mindestens 97 Menschen ums Leben. Über 6000 Gebäude im
Norden der griechischen Hauptstadt werden stark beschädigt.
KOSOVO Russische Soldaten der Kosovo-
Friedenstruppe Kfor erschießen drei Serben, die eine Gruppe Albaner überfielen.
Vier Bergsteiger
starteten vergangenen Donnerstag zur Besteigung der EigerNordwand. Nach
30 Stunden erreichten sie den
Gipfel. Das Fernsehen war live
dabei – auch
nachts im Biwak.
MITTWOCH, 8. 9.
REDEN Bundespräsident Johannes Rau
SPIEGEL TV
REPORTAGE
Mit Vollgas durch die „Grüne Hölle“ –
die Bleifuß-Freaks vom Nürburgring
Geschwindigkeit ist ihre Leidenschaft. Jedes Wochenende rasen hunderte von
Amateur-Rennfahrern mit tiefer gelegten
Alltagsautos und getunten Motorrädern
über den Nürburgring, die gefährlichste
Rennstrecke der Welt. Offiziell gilt hier
die Straßenverkehrsordnung, doch kaum
einer hält sich daran. Neben unzähligen
Blechschäden registrierte die Polizei in
diesem Jahr schon mehr als 50 Verletzte
und drei Tote.
DONNERSTAG
22.05 – 23.00 UHR VOX
EXTRA
Die Busch-Rambos: Unterwegs mit einem
Box-Wanderzirkus im australischen Outback
fordert eine Stärkung der Bürgergesellschaft. Gemeinsam mit seinen Amtsvorgängern Roman Herzog, Richard von
Weizsäcker und Walter Scheel spricht
er sich für mehr Eigenverantwortlichkeit des Einzelnen und weniger
Staat aus.
SPORT Die deutsche FußballNationalelf schlägt Nordirland mit
4:0 und hat damit die Qualifikation für die Europameisterschaft
so gut wie sicher.
„Desert Sands“-Teilnehmer
SPIEGEL TV
DONNERSTAG, 9. 9.
NEUBESETZUNG Teile der SPD-Bun-
destagsfraktion sind empört, dass
Kanzler Schröder den saarländischen Ministerpräsidenten Reinhard Klimmt zum Verkehrsminister ernennen will. Klimmt gilt als
Gegner von Schröders Sparplänen.
Rund 90 Kamele, eine Truppe Faustkämpfer und etwa 3000 Zuschauer treffen
sich zur Wüstenkirmes „Desert Sands
2000“.
SAMSTAG
22.35 – 0.40 UHR VOX
SPECIAL
EHEN Tausende von Paaren geben
SPIEGEL TV
sich im Schnapszahl-Fieber das
Jawort. Bei einer Massenhochzeit
in Chemnitz trauen sich gleich 98
Paare. Die 99. Braut scheiterte an
deutscher Bürokratie: Die Papiere
ihres Mannes waren unvollständig.
Hollywood und der Krieg – wie Starregisseur John Ford den D-Day drehte
FREITAG, 10. 9.
MANÖVER China startet groß angelegte Militärübungen. Mit den
Seemanövern will die Pekinger
Führung offenbar demonstrieren,
dass sie Taiwan auch mit Waffengewalt zurückerobern könnte.
MEDIEN Nikolaus Brender, 50, TV-
DPA
MONTAG, 6. 9.
MONTAG
23.00 – 23.30 UHR SAT 1
SPIEGEL TV
BERLIN Das SPD-Präsidium schlägt Bun-
desverkehrsminister Franz Müntefering
als künftigen „Generalsekretär“ vor.
SPIEGEL TV
Programmchef des WDR, wird
neuer ZDF-Chefredakteur. Nächstes Jahr soll er den 63-jährigen
Klaus Bresser ablösen.
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Eine Dokumentation mit Original-Farbmaterial von der Invasion in der Normandie und Interviews über die Dreharbeiten am D-Day.
SONNTAG
21.55 – 22.45 UHR RTL
SPIEGEL TV
MAGAZIN
Die
bayerisch-kanadische AmigoConnection – Aufstieg und Fall des
Strauß-Spezis Karlheinz Schreiber;
„Ecstasy“ bis zum Exzess – die Drogenszene auf der spanischen Party-Insel
Ibiza; Westernheld auf Abwegen – wie
der amerikanische Schauspieler John
Wayne Geheimagent werden wollte.
309
Register
Walther Reyer, 77. Als es noch männlich
war, männlich zu sein, und als die Bretter
noch die Welt bedeuteten, war er der Mann
für alle Jahreszeiten. Von den Tiroler Bergen her hatte er, Mitte der fünfziger Jahre,
ein anderes Hochgebirge erklommen, das
Wiener Burgtheater, spielte da, nobel
und dramatisch, die klassischen jungen
Helden und Liebhaber, geriet als fescher
Graf in die „Sissi“Filme und als romantischer Maharadscha
in Fritz Langs „Indisches Grabmal“
und den „Tiger von
Eschnapur“. In Salzburg war er ein „Jedermann“, wie es
keinen andern gab,
aber an der Wiener
Burg, seiner „großen, unerfüllten Liebe“,
gingen für ihn zunehmend die Lichter aus.
Er blieb ihr Mitglied, über 40 Jahre lang,
und als er vorzeitig, für einen ruhebedürftigen Direktor, seine Garderobe räumen
musste, raunte er: „In diesen Räumen sind
viele Dinge geschehen, die werden ihm
keine Ruhe lassen.“ Walther Reyer retirierte nach Tirol, spielte ein bisschen im
TV-Zirkus mit und starb am 5. September
in seiner Heimat.
borene Regisseur gehörte zu den leisen
Verstörern und Provokateuren der Bühne. Sein illusionsloser Blick, der gemütliches Einvernehmen
mit den Verhältnissen nie aufkommen
ließ, brachte ihm in
der DDR die üblichen Demütigungen
und Schikanen ein –
nach einer LorcaInszenierung wurde
ein Parteiverfahren gegen ihn eingeleitet.
König wurde in die Provinz verbannt.
Er ließ sich dadurch nicht verbiegen, inszenierte etwa in Anklam einen eisig erstarrten Marivaux und wurde 1983 ausgebürgert. Er arbeitete in Düsseldorf und
München und stieß 1987/88 zur Berliner
Schaubühne, wo er, eine seiner glücklichsten Erfahrungen, Heiner Müllers „Philoktet“ erarbeitete. Seine große Liebe
gehörte dem Verzweiflungsvirtuosen Samuel Beckett. Zu seiner letzten Inszenierung, Becketts „Warten auf Godot“ in
Leipzig, schrieb König ins Programmheft:
„Als junger Regisseur wollte ich die Welt,
mindestens aber den Sozialismus verbessern. An Beckett scheiterte meine Verän310
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S. ROTHWEILER
Herbert König, 55. Der in Magdeburg ge-
Allen Funt, 84. Mit dem Start der Radiosendung „Candid Microphone“ 1947, die
ein Jahr später als „Candid Camera“ ins
Fernsehen kam, begann auch seine Erfolgsstory. Als Erfinder und Moderator der in
den sechziger Jahren unter den erfolgreichsten amerikanischen TV-Shows rangierenden Ulk-Sendung war Funt ein gemachter
Mann. Das Prinzip der „Ehrlichen Kamera“,
die 1961 von Chris Howland als „Vorsicht
Kamera“ auch in Deutschland eingeführt
wurde, bestand darin, die Reaktion von
Leuten, später vor allem von Prominenten,
auf für sie unvorhergesehene Streiche oder
Ärgernisse vorzuführen. Wenn ein derart
Überraschter mit offenem Mund staunte,
tauchte Funt mit seinem Slogan auf: „Bitte
lächeln, Sie sind vor der ‚Ehrlichen Kamera‘.“ Die Idee, Leute aufzunehmen, wenn
sie sich unbeobachtet fühlen, kam Funt, als
er während des Zweiten Weltkriegs die
Nachrichten der Soldaten an ihre Familien weitergeben sollte. Er fand es viel spannender aufzuzeichnen,
was die Soldaten vor
Beginn der Sendung
spontan und ungehemmt von sich gaben.
Allen Funt starb am 5.
September in Pebble
Beach (Kalifornien).
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AP
DPA
Alfredo Kraus, 71. Noch vor wenigen
Jahren gab der Tenor umjubelte Solokonzerte und mutete sich Tourneen zu wie
ein 30-Jähriger. Nur
sein unnachahmliches
helles Timbre und die
belcanteske Stimmführung
bewiesen
dann, dass er aus besseren Zeiten der Gesangskunst stammte:
Schon 1956 hatte der
in Las Palmas/Gran
Canaria geborene Sänger in Kairo debütiert,
wurde als Spezialist
für elegante lyrische Rollen im italienischen und französischen Fach – etwa als
Alfredo in Verdis „La Traviata“, Massenets
„Werther“ oder Gounods „Faust“ – rasch
anerkannt und war spätestens seit seinem
Erscheinen an der New Yorker Met 1964
ein Weltstar. „Ein Sänger ist wie ein Gewichtheber“, sagte er gern. Deshalb beschränkte er sich auf nur zwölf Rollen und
hielt mit seiner Stimme Haus – so sorgsam, dass er an guten Tagen das hohe Es
meisterte. Alfredo Kraus starb am vergangenen Freitag in Madrid an Krebs.
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DPA
derungwut.“ Herbert König, der zuckerkrank war, starb am 3. September an Herzversagen.
gestorben
Werbeseite
Werbeseite
Personalien
AFP / DPA
AP
Suzana Werner, 22, brasilianisches Model und TV-Moderatorin, deren lang währende
und Image fördernde Verbindung mit dem brasilianischen
Fußballidol Ronaldo Nazario
de Lima, 22, vor zwei Monaten endete, hat eine neue Idee
zur Selbstvermarktung. Sie
sei bereit, gestand sie der Zeitung „Extra“, sich nackt fotografieren zu lassen, aber nur
„gegen viel Geld“. Nach zwei
Freunden in ihrem Leben sei
sie „tief enttäuscht von der
Liebe“. Der eine Freund Werner, Ronaldo
„starb, der andere brachte es
nicht“. Seither fühlt sie sich „leer“ und zieht jetzt das Alleinsein vor. Wenn sie früher die meiste Zeit mit dem Fußballstar verbrachte, widmet sie sich jetzt lieber der Arbeit.
Tatsächlich hat sie bereits mehrere Angebote zu Nacktaufnahmen erhalten, gesteht sie. „Ich bin noch nicht bereit“, sagt
die Schöne, aber bei einem Angebot „deutlich über 500 000
Dollar“ könnten die Hüllen
schon fallen.
Werner
H. SCHNAARS
ne entschieden ist, in denen Lasarenko Unterschlagung von Staatsgeldern und Geldwäsche vorgeworfen werden. In einer Presseerklärung wehrte sich Lasarenko gegen
die Vorwürfe. Er sei Opfer einer politischen
Intrige, im Gegenteil habe er „in seiner
Heimat um eine allmähliche Reform zur
Verbesserung des Wirtschaftsklimas gekämpft“. Während seiner einjährigen
Amtszeit als ukrainischer Ministerpräsident waren Lasarenkos Reichtum und Einfluss so dramatisch gewachsen, dass der
ukrainische Staatspräsident ihn 1997 seines Postens enthob.
Walter Momper, 54, abgeschlagener Spitzenkandidat der SPD im Berliner Wahlkampf, zeigte Entschlussfreudigkeit im
Kleinen. Bei einer öffentlichen Diskussion
mit dem Politgrafiker Klaus Staeck, 61, in
einer Galerie in Berlin Mitte redeten die
Momper, Staeck
beiden weit über die geplante Zeit. Abrupt
unterbrach Staeck die Debatte und fragte
aufgeregt in die Runde, ob es noch eine
Chance für seinen letzten Zug nach Heidelberg gebe, der in 15 Minuten vom Bahnhof Zoo abfahre. Spontan sprang Momper
auf: „Komm mit, ich schaffe das.“ Ohne jedes Abschiedswort verließen die beiden
überstürzt die Galerie und ließen ein verblüfftes Publikum zurück. Momper hatte
nicht zu viel versprochen, er brachte
Staeck noch rechtzeitig an den Zug.
NYT
TRANSPARENT
Pawel Lasarenko, 46, ehemaliger Ministerpräsident der Ukraine, hat wenig Freude an einer protzigen Immobilie im nördlichen Kalifornien, die selbst für den dort
allenthalben gezeigten Reichtum Maßstäbe setzt. Zum 41-Zimmer-Haus auf einem
sieben Hektar großen Grundstück gehören
zwei Hubschrauber-Landeplätze, fünf Hundezwinger und ein scheunengroßer Tanzsaal. Natürlich sind die Türklinken vergoldet. Das Anwesen wurde einst von Hollywood-Star Eddie Murphy bewohnt und
vor einem Jahr für 6,75 Millionen Dollar
verkauft – in bar. Zwar hat sich Lasarenkos
Familie in dem Anwesen einquartiert, er
selbst aber muss ihm fernbleiben. US-Bundesbeamte
halten den Ukrainer in Untersuchungshaft, bis über
Auslieferungsanträge aus
der Schweiz und der Ukrai-
Lasarenko, Lasarenko-Anwesen in Kalifornien
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Monica Lewinsky, 26, Ex-Praktikantin im
Weißen Haus, verlegt sich aufs Kunsthandwerk, um ihre Schulden abzutragen.
Die einstige Clinton-Geliebte hat allein
durch Rechtshändel nach ihrer Affäre mit
dem US-Präsidenten einen Schuldenberg
von über zwei Millionen Dollar aufgehäuft.
Den will sie etwas abtragen durch den Ver-
CDU-Dame eine gelbe Bluse,
der CSU-Herr eine gelbe
Krawatte. „Macht ihr hier
alle in Gelb für den Westerwelle?“, juxte der Fraktionschef in Anspielung auf die
FDP-Farbe Gelb und das miserable Abschneiden der Liberalen in beiden Ländern
weit unter der Fünfprozenthürde. Angela Merkel, der
Struck bereits diverse Komplimente zu ihrer aparten Erscheinung gemacht hatte,
nahm die Frage des SPDFraktionschefs denn auch
völlig unpolitisch: „Ist doch
’ne gute Farbe, oder?“
Struck, nun wieder ganz Galan: „Ja, und mit diesem
schönen schwarzen Stoff steht Ihnen das
auch sehr gut.“ Das sei „kein Schwarz“,
widersprach die CDU-Generalin, „das ist
Blau“, und hielt dem SPD-Mann den Ärmel
ihres Kostüms hin. Der legte, wie zur Stoffprobe, seine Rechte auf den hingehaltenen
Unterarm. Das war der Moment des CSUGeneralsekretärs, der das Struck-Geturtel
trocken kommentierte:„Schaut her, jetzt
ist er schon farbenblind geworden.“
kauf von selbst entworfenen
Handtaschen. Die Produkte
der Handtaschendesignerin
kosten zwischen 70 und 130
Dollar. Ein eingenähtes Etikett verspricht: „Made especially for you by Monica“.
Die Taschen „für die romantische, die künstlerische, die
konservative und die trendige“ Frau sind über das Internet zu ordern und enthalten
eine wichtige Botschaft:
„Dry clean“ – chemisch reinigen, eine Anweisung, die
sie im Falle ihres mit Präsidentensperma befleckten
Kleides auf Anraten von Linda Tripp ignorierte.
Lewinsky-Handtaschen
Willi Lemke, 53, SPD-Bildungssenator in
Bremen und ehemaliger Manager von Werder, macht von seinen Bundesliga-Erfahrungen listigen Gebrauch. Vor Journalisten
erläuterte Lemke sein Personalkonzept für
die Schulen. Die überalterten Lehrerkollegien der Hansestadt, so der Senator, bedürften der Auffrischung. Zur Begründung
des an sich Selbstverständlichen führte
Lemke klangvolle und weniger bekannte
Spieler-Namen aus der wechselvollen Werder-Geschichte der achtziger und neunziger Jahre an: „Man kann in der Bundesliga nicht nur mit Burgsmüller und Kostedde spielen,
sondern braucht auch einen
Dabrowski oder einen
Frings, denen im Team ganz
bestimmte Aufgaben übertragen werden“, so der
Senator. „Die jungen Spieler
profitieren dann von den Erfahrungen der Burgsmüllers
und Eilts und wachsen in die
Mannschaft hinein.“ Kurzum: „Es kommt eben auf die
Mischung an; nicht nur bei
Werder, auch in der Schule.“
Bei seinen Senatskollegen
hat Lemke mit solchen Redensarten bereits Erfolg. Denen habe er, so sagt er, für
das neue Schuljahr 20 zusätzliche Lehrerstellen abgeluchst. Und die Grauschädel
an den bremischen Erziehungsstätten sind
auch nicht unglücklich über den Vergleich
mit Spitzenfußballern.
F. OSSENBRINK
Rupert Murdoch, 68, australisch-amerikanischer Medienmogul, ist dem Oberhaupt Tibets, dem Dalai Lama, auf die
Füße getreten: Die stecken laut Murdoch in
Gucci-Schuhen, in denen der „politische
alte Mönch herumschlurft“. Seine Beobachtungen legte der chinafreundliche Tycoon, der es abgelehnt hatte, die chinakritischen Memoiren des einstigen britischen
Gouverneurs von Hongkong, Chris Patten,
zu drucken, in einem Interview mit dem
amerikanischen Magazin „Vanity Fair“
imaginären „Zynikern“ in den Mund.
Trotzdem kritisierten ihn Menschenrechtsaktivisten für seine Äußerung. Auch auf
dem amerikanischen Markt könnte sich
Murdoch, dessen asiatischer Sender „Star
TV“ heikle innenpolitische Themen, inklusive Tibet, schon mal weglässt, mit seinen Mutmaßungen über Schuhgeschmack
und Gangart des Dalai Lama geschadet
haben: Das charismatische Auftreten des
Friedensnobelpreisträgers hat in den USA
einen Buddhismus-Boom ausgelöst.
Merkel, Struck
Peter Struck, 56, Chef der SPD-Bundestagsfraktion, hatte beim Zusammentritt der
ersten „Berliner Runde“ zu den Wahlen
in Brandenburg und im Saarland ein Problem mit der Farbpalette. Die Generalsekretäre Angela Merkel, 45, (CDU) und
Thomas Goppel (CSU) trugen Gelb: die
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313
Hohlspiegel
Rückspiegel
Aus dem Fragebogen der „Woche“ mit der
„Peep“-Moderatorin und Lebensgefährtin
von Schlagersänger Dieter Bohlen, Nadja
ab del Farrag: „Wer sind für Sie die drei
klügsten Köpfe unserer Zeit?“ Antwort
Farrag: „Bill Gates, Dieter Bohlen, Stephen Hawking.“
Zitate
Aus einer Mitteilung der Pressestelle des
Schleswig-Holsteinischen Landtags: „Zwischen Schleswig-Holstein und Polen gibt es
seit langem ganz unterschiedliche Verbindungen. Da ist etwa der Nord-Ostseekanal.“
Aus dem „Main-Echo“
Aus dem „Südkurier“ in Konstanz: „ Der
junge Mann (Lord Frederick Windsor
–Red.), der als Urenkel von König George
V. auf Platz 28 der Thronfolge rangiert,
erklärte nach einem Bericht der ‚Sunday
Times‘, er habe inzwischen vom Kokain
die Nase voll: ‚Ich werde mich ganz auf
mein Studium konzentrieren.‘“
Aus der „Waiblinger Kreiszeitung“
Aus dem Videotext des österreichischen
Rundfunks ORF: „Das Auto ist so nützlich, dass es jeder haben will, und 90 Prozent allen Pkw-Verkehrs geht per Auto vor
sich, auch die Hälfte des öffentlichen Verkehrs.“
Aus der „Wuppertaler Rundschau“
Bildunterschrift im Berliner „Tagesspiegel“: „Verprügelt vom Ehemann. 75,7 Prozent der Opfer sind Frauen, in gut 86 Prozent waren Männer die Täter.“
Aus der „Leonberger Kreiszeitung“: „Unter dem Motto ‚Mit Mose unterwegs‘ erlebten die Jungscharler lebendige Abenteuer auf den Spuren des Volkes Israel. So
erlebten sie hautnah, wie hart die Sklavenarbeit in der Diaspora war.“
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Der Präsident des Deutschen
Fußball-Bundes (DFB), Egidius Braun,
in der „Südwest Presse“ zu
dem SPIEGEL-Interview mit DFBTrainer Uli Stielike über seine
Differenzen mit Teamchef
Erich Ribbeck „Fußball – ‚Die Gewehre
sind geladen‘“ (Nr. 35/1999):
DFB-Präsident Egidius Braun hat Uli Stielike, Assistent von Teamchef Erich Ribbeck, wegen dessen Äußerungen in einem
SPIEGEL-Interview gerüffelt. „Ich musste
mich leider damit beschäftigen. Ich halte es
für den völlig falschen Zeitpunkt, auf diese Art und Weise solche Kritik auszusprechen. Das war nicht klug von Uli Stielike“,
kritisierte Braun. Außerdem sei es nicht
die Sprache des Deutschen Fußball-Bundes, von „geladenen Gewehren“ zu reden.
„So etwas sagt man nicht. Ich werde mit
Uli Stielike über diese Äußerungen noch
sprechen“, kündigte Braun an. Ob es für
Stielike Konsequenzen geben werde, ließ
der DFB-Präsident offen: „Ich kämpfe jeden Tag für das Ansehen des deutschen
Fußballs, und ich erwarte von anderen, das
ebenfalls zu tun.“
Die „Saarbrücker Zeitung“ zu der vom
damaligen saarländischen Ministerpräsidenten Oskar Lafontaine (SPD)
im Jahr 1994 durchgesetzten Verschärfung
des saarländischen Pressegesetzes, die der
designierte saarländische CDU-Ministerpräsident Peter Müller („persönlicher
Rachefeldzug Lafontaines“)
wieder rückgängig machen will:
Rund zwei Jahre zuvor hatte Oskar Lafontaine im Gewand des französischen
,,Sonnenkönigs“ die Titelseite des Hamburger Nachrichtenmagazins DER SPIEGEL geziert. Damit begann 1992 die sogenannte Pensionsaffäre, in der aufgedeckt
wurde, dass Lafontaine zusätzlich zu seinem Gehalt als Ministerpräsident auch
noch ein Ruhegehalt (Ausgleichszahlungen) als Ex-Oberbürgermeister von Saarbrücken erhielt. Kurze Zeit später kam die
,,Rotlichtaffäre“. Die ,,Geschichten des O.“
erschienen erneut zuerst im SPIEGEL. Es
ging um angeblich kompromittierende Lafontaine-Fotos, mit denen der Saarbrücker
Ex-Rotlichtkönig Hugo Lacour dem damaligen Ministerpräsidenten gedroht haben soll. In den entsprechenden Recherchen kam zwar nicht viel heraus; das Fass
war aus Sicht Lafontaines jedoch offenbar
übergelaufen. Er prägte den Begriff der
„Schweinejournalisten“ – und im Mai 1994
wurde das Pressegesetz an der Saar geändert. Dazu hieß es aus Reihen von SPDMitgliedern: ,,Oskar wollte das so, dann
wird es so gemacht!“
d e r
s p i e g e l
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