U1/U4 4c Wiedergutmachen - Forum Politische Bildung

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U1/U4 4c Wiedergutmachen - Forum Politische Bildung
WIEDER ENTEIGNUNG
GUT ZWANGSARBEIT
MACHEN? DIE VERGESSENEN OPFER
STUDIENVerlag
Innsbruck-Wien
ISBN 3-7065-1404-4
forumpolitischebildung (Hg.) Sonderband der Schriftenreihe Informationen zur Politischen Bildung
forumpolitischebildung (Hg.)
WIEDER GUT MACHEN?
RÜCKSTELLUNG UND ENTSCHÄDIGUNG
HISTORIKERKOMMISSION
GLOSSAR
ZEITTAFEL
LITERATUR ZUM THEMA
INTERNET-ADRESSEN ZUM THEMA
WIEDER
GUT
MACHEN?
ENTEIGNUNG ZWANGSARBEIT
ÖSTERREICH 1938-1945/1945-1999
ENTSCHÄDIGUNG RESTITUTION
WIEDER
GUT
MACHEN?
ENTEIGNUNG ZWANGSARBEIT
ÖSTERREICH 1938-1945/1945-1999
ENTSCHÄDIGUNG RESTITUTION
Herausgeber: Forum Politische Bildung
Konzeption und Textauswahl: Heidrun Schulze und Gudrun Wolfgruber
Redaktion: Gertraud Diendorfer
Sonderband
der Schriftenreihe Informationen zur Politischen Bildung
Herausgegeben vom Forum Politische Bildung
A-1050 Wien,
Rechte Wienzeile 97
Tel.: 0043/1/545 75 35-39
Fax: 0043/1/548 06 66
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StudienVerlag
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Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme
Wieder gut machen?
Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution
[hrsg. vom Forum Politische Bildung]. –
Innsbruck; Wien: Studien-Verl., 1999
(Informationen zur Politischen Bildung; Sonderb.)
ISBN 3-7065-1404-4
Umschlag und grafisches Konzept: Thomas Kussin
Grafische Ausführung: Rosmarie Ladner
Lektorat: Helga Gibs
Druck: Remaprint
Printed in Austria 1999
Trotz intensiver Bemühungen konnten bis jetzt nicht alle Inhaber von Text- und
Bildrechten ausfindig gemacht werden. Für entsprechende Hinweise ist der Verlag
dankbar. Sollten Urheberrechte verletzt worden sein, wird der Verlag nach Anmeldung
berechtigter Ansprüche dies entgelten.
Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
Inhalt
4 Einleitung
89 Rückstellung und Entschädigung
90 Brigitte Bailer-Galanda: Die Opfergruppen und
7 Enteignung
deren Entschädigung
97 Erste Anlaufstellen/Maßnahmen für Opfer des
8 Hans Witek: „Arisierungen“ in Wien.
Aspekte nationalsozialistischer Enteignungspolitik 1938–1940
21 Jonny Moser: Die Zentralstelle für jüdische
Auswanderung in Wien
27 Georg Scheuer: Delogiert, deportiert, ermordet
31 Abbildung: Ansuchen um eine
Geschäftsübernahme
Nationalsozialismus nach 1945
98 Helga Embacher: Der Kampf um die rechtliche
Anerkennung jüdischer Überlebender
103 Brigitte Bailer-Galanda: „Ohne den Staat weiter
113
124
33 Zwangsarbeit
34 Ulrich Herbert: Zwangsarbeiter im
131
132
„Dritten Reich“ – ein Überblick
46 Interview mit Florian Freund:
„Die Kriegswirtschaft wäre ohne
ZwangsarbeiterInnen zusammengebrochen“
134
139
damit zu belasten …“ Bemerkungen zur
österreichischen Rückstellungsgesetzgebung
Frank Stern: Rehabilitierung der Juden oder
materielle Wiedergutmachung – ein Vergleich
Interview mit Georg Graf: „Lücken in der
Gesetzgebung“
Der NS-Kunstraub
Interview mit Hannah Lessing: „
Bei uns werden alle berücksichtigt“
Nationalfonds der Republik Österreich für
Opfer des Nationalsozialismus
Robert Knight: „Ich bin dafür, die Sache in
die Länge zu ziehen“
55 Die vergessenen Opfer
56 Brigitte Bailer-Galanda:
Beinahe vergessene Opfer – Roma und Sinti
63 Brigitte Bailer-Galanda: Vertrieben und
nicht zurückgekehrt
65 Wolfgang Neugebauer: Zum Umgang mit
den Opfern der NS-Rassenhygiene nach 1945
71 Jana Müller: Kinder und Jugendliche als
Opfer der NS-Verfolgung
75 Martina Scheitenberger, Martina Jung:
81
85
86
87
Fürsorge – Arbeitshaus – KZ: Das Leben der
Betty Voss
Brigitte Bailer-Galanda: Die sogenannten
„U-Boote“ – überlebt im Verborgenen
Frauen im Widerstand
Die Verfolgung der Zeugen und Zeuginnen
Jehovas
Die Verfolgung Homosexueller während des
Nationalsozialismus
141 Historikerkommission
Interviews mit:
142 Clemens Jabloner:
„Wir liefern historische Fakten“
146 Karl Stuhlpfarrer: „Wir müssen tun, was schon
vor 30 Jahren hätte geschehen sollen“
151 Bertrand Perz: „Was jetzt passiert, wäre vor
15 Jahren noch undenkbar gewesen“
160 Die Archive öffnen sich: Die Erforschung der
Firmen- und Bankengeschichte während
der NS-Zeit
161 Glossar
178 Zeittafel
180 Literatur zum Thema
182 Internet-Adressen zum Thema
Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
Einleitung
„Wieder gut machen?“ – Der Titel der vorliegenden Publikation verweist auf die Problematik des Begriffs der „Wiedergutmachung“, also auf die prinzipielle Infragestellung der Möglichkeit, das während des Nationalsozialismus erlittene Leid, den Terror und die Verluste sowie psychische, physische und materielle Folgeschäden überhaupt „wiedergutmachen“ zu
können. Wenn in den Jahrzehnten nach Ende der NS-Herrschaft und auch in der aktuellen
Debatte von „Wiedergutmachung“ die Rede ist, so wird sie zudem meist eingeschränkt als
finanzielle bzw. materielle Leistungen für die Opfer nationalsozialistischer Verfolgung verstanden. Die Notwendigkeit eines Bemühens um die moralische Rehabilitierung der Opfer,
ihre Reintegration in und Unterstützung durch die österreichische Nachkriegsgesellschaft
wurde und wird demgegenüber weitgehend in den Hintergrund auch der aktuellen Debatte
über noch ausstehende Rückstellungen und Entschädigungen gerückt.
Ursachen für die aktuelle Debatte gibt es mehrere. Zum einen gibt es bei den jüngeren
Generationen eine größere Bereitschaft, sich mit dem Thema bzw. mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen, was auch mit der Distanz der Generationen zum Nationalsozialismus zusammenhängt. Zum anderen gibt es in Europa und weltweit aufgrund der
geänderten geopolitischen Situation seit längerem eine Diskussion über den Umgang mit
dem Nationalsozialismus. Beschleunigt wurde die Diskussion durch die rechtliche Möglichkeit, in den USA Sammelklagen gegenüber Firmen oder Banken einzureichen. Voraussetzung ist eine Geschäftsverbindung mit den USA, ein Umstand, der angesichts der zunehmenden Globalisierung immer mehr gegeben ist und den Opfern eine Möglichkeit eröffnet,
zu ihrem Recht zu kommen. Internationale Konferenzen wie die Londoner „Raubgoldkonferenz“ (1997) und die Washingtoner Konferenz über „Vermögenswerte aus der Ära des
Holocaust“ (1988) sowie die Einrichtung von Kommissionen wie der Bergier-Kommission in
der Schweiz zeigten Wege auf, sich dem Erbe der eigenen Geschichte zu stellen. Im September 1998 kam es auch in Österreich zum Beschluss, eine Historikerkommission einzurichten, die den Vermögensentzug und Vermögensvorenthalt auf dem Gebiet der Republik
Österreich zwischen 1938 und 1945 und die Rückstellungs- und Entschädigungspraxis der
Zweiten Republik untersuchen soll. Intention des vorliegenden Sonderbandes ist es nun, mit
den ausgewählten Texten, mit Interviews mit Mitgliedern der Historikerkommission und Hintergrundinformationen eine Möglichkeit zu bieten, sich über die aktuellen Debatten hinaus
eingehend mit den zur Diskussion gestellten Fragen auseinandersetzen, nachlesen und
informieren zu können. Vor allem aber auch, um zu vermitteln, warum diese Debatte und
warum konkrete Schritte notwendig und wichtig sind.
Notwendig nicht nur, weil die Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung mehr als fünfzig Jahre lang in ihrem Bemühen um Entschädigung und Rehabilitation überwiegend als BittstellerInnen behandelt oder überhaupt ignoriert wurden. So erhielten trotz zahlreicher Novellierungen des Opferfürsorgegesetzes sowie der Rückstellungsgesetze seit 1945 viele Opfergruppen bis zur Einrichtung des Nationalfonds der Republik Österreich im Jahr 1995 keine
oder nur eine unzureichende materielle Entschädigung, manche sind bis heute von der
Opferfürsorge nicht anerkannt. Diese Debatte ist aber auch wichtig für das gesellschaftliche
Bewusstsein Österreichs, weil die verzögerte Rückstellungspraxis und die lückenhafte Opfer-
4
Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
fürsorgegesetzgebung nach 1945 ein eindrückliches Beispiel sind für den Umgang Österreichs mit seiner Vergangenheit während des Nationalsozialismus. Viele Bereiche der NSHerrschaft, die gegenwärtig diskutiert und die auch in diesem Band thematisiert werden,
wurden zudem jahrzehntelang verdrängt.
Unser Themenschwerpunkt – Enteignung und Zwangsarbeit, rassistische, politische, religiöse Verfolgung während des Nationalsozialismus und die (nicht)erfolgte Rückstellung entzogenen Vermögens und Entschädigung der Opfer in Österreich nach 1945 – hat daher
das Anliegen, nicht nur das Ausmaß der nationalsozialistischen Beraubung und Verfolgung, sondern auch Kontinuitäten von Denkmustern im Umgang mit den Opfern in der
Zweiten Republik aufzuzeigen. So untersuchen einige der ausgewählten wissenschaftlichen
Texte, Interviews und ZeitzeugInnenberichte die nationalsozialistische Praxis und die verschiedenen Aspekte von Zwangsenteignungen, die unterschiedlichen Dimensionen von
Zwangsarbeit sowie die Erfahrungen der bislang „vergessenen Opfergruppen“, andere
thematisieren die Haltung der Republik Österreich gegenüber den Betroffenen im Bereich
der Opferfürsorge sowie in der Rückstellungspraxis. Ergänzt werden diese Texte durch
Interviews mit ExpertInnen, die im Bereich der Wissenschaft bzw. in ihrer Berufspraxis mit
diesen Fragestellungen konfrontiert sind.
Zentrale Aspekte der gegenwärtigen Diskussion und des Forschungsstandes werden in Interviews mit Mitgliedern der Historikerkommission thematisiert. Dadurch soll der Hintergrund
über das Wie und Warum der aktuellen Entwicklungen in Österreich, wie etwa die Einsetzung und die Arbeitsweise der von der Regierung beauftragten Historikerkommission
nachvollziehbar werden. Ein Anhang in Form eines umfangreichen Glossars, einer Zeittafel,
weiterführender Literaturhinweise und Internetadressen sollen den Charakter des Bandes als
Nachschlagewerk unterstreichen.
Wir haben uns für eine Zusammenstellung bereits publizierter Texte unter anderem deshalb entschieden, weil damit auch der bisherige Forschungsstand zu diesen Themen reflektiert werden soll; neue Forschungserkenntnisse sind allerdings in den nächsten Monaten und
Jahren zu erwarten (siehe auch die Literaturhinweise auf demnächst erscheinende Publikationen im Anhang). Eine solche Zusammenstellung bringt allerdings auch editorische Probleme
mit sich. Die ausgewählten Texte wurden vielfach durch Einleitungen oder Informationskästen
bzw. Kommentare ergänzt, teilweise auch aktualisiert; so ist zum Beispiel der Beitrag von
Wolfgang Neugebauer zum Opferfürsorgegesetz und den Sterilisationsopfern in Österreich
fast zur Gänze neu geschrieben worden. Notwendige Erläuterungen und Anmerkungen wurden im Glossar dargestellt, daher ist in den Texten, wenn der jeweilige Begriff zum ersten
Mal verwendet wird ein entsprechendes Verweiszeichen ➤ angebracht. Die alte Rechtschreibung wurde in den wieder abgedruckten Beiträgen beibehalten, ansonsten verwenden wir
die neue Schreibweise; dies entspricht somit der gegenwärtigen Übergangsphase, in der sowohl die alte als auch die neue Rechtschreibung nebeneinander verwendet werden. Die
Berücksichtigung der weiblichen und der männlichen Schreibweise konnte ebenfalls nicht
bei allen Textstellen und in einer einheitlichen Form umgesetzt werden.
Für die Unterstützung bei der Auswahl der Texte danken wir Mag. Elisabeth Morawek,
Leiterin der Gruppe Politische Bildung des Bundesministeriums für Unterricht, und Mag.
Sigrid Steininger, Gruppe Politische Bildung des Bundesministeriums für Unterricht. Besonderer Dank gilt weiters unseren InterviewpartnerInnen Dr. Florian Freund, Dr. Georg Graf,
Mag. Hannah Lessing, Dr. Clemens Jabloner, Dr. Bertrand Perz und Dr. Karl Stuhlpfarrer für
ihre Gesprächsbereitschaft, für Information und Beratung. Ferner danken wir für wertvolle
Unterstützung und Informationen Mag. Gerlinde Affenzeller, Dr. Brigitte Bailer-Galanda vom
Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes, Mag. Eva Blimlinger, Forschungskoordinatorin der Historikerkommission, Staatsanwalt Mag. Peter Hadler vom Bundesministerium für Justiz, Stefan A. Lütgenau, DDr. Oliver Rathkolb und Theo Venus von der Stiftung
Bruno Kreisky Archiv sowie Mag. Peter Schwarz von der Grünen Bildungswerkstatt.
Gertraud Diendorfer, Heidrun Schulze, Gudrun Wolfgruber
August 1999
Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
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„Arisierungen“
Delogierungen
Flucht und
Vertreibung
Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
Enteignung
Bereits in den ersten Tagen nationalsozialistischer Herrschaft in Österreich wurde mit umfangreichen Plünderungen, sog. „wilden ➤ Arisierungen“ von Besitz und Vermögen der
jüdischen Bevölkerung durch selbsternannte ➤ „Ariseure“ begonnen. Mit der Schaffung der
➤ „Vermögensverkehrsstelle“ als Kontroll- und Verwaltungsinstanz sollten die bereits durchgeführten Enteignungen im Nachhinein legalisiert sowie auch für weitere Vermögensentziehungen eine gesetzlich geregelte Basis geschaffen werden.
Der einheitliche Gebrauch des nationalsozialistischen (deshalb wird er in dem vorliegenden
Band unter Anführungszeichen gesetzt) Terminus „Arisierung“ für den gesamten Komplex der
Zwangsenteignungen von jüdischem Eigentum und Vermögen suggeriert, es habe sich um eine einheitliche wirtschaftliche und gesetzlich geregelte Praxis gehandelt. Die vorliegenden
Texte verweisen jedoch auf sehr unterschiedliche Praktiken, Intentionen, Interessen und Konsequenzen dieser systematischen Übernahme von jüdischem Eigentum. Dienten vor allem die
„wilden Arisierungen“ der Bereicherung von Privatpersonen, so ist insgesamt das österreichische Modell nationalsozialistischer Enteignungspolitik als Verbindung von Antisemitismus und
Wirtschaftspolitik zu begreifen. Neben der Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen von
Großindustrie, Banken, Gewerbetreibenden und NS-Wirtschaftsplanern verfolgte die nationalsozialistische Enteignungspolitik auch die systematische Verdrängung der jüdischen Bevölkerung aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens und in letzter Konsequenz aus Österreich
überhaupt. Der Erinnerungsbericht Georg Scheuers gibt ein drastisches Beispiel dafür, welche
Folgen etwa die „Arisierung“ von Wohnungen durch die Außerkraftsetzung des Mieterschutzes für die jüdische Bevölkerung darstellte. Auf Wohnungskündigung folgte Zwangsumsiedlung, Delogierung und schließlich Flucht oder Deportation. Dass die Praxis der materiellen
Bereicherung auch Hand in Hand ging mit Auswanderung und Deportation wird am Beispiel
der „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ deutlich. Diese sollte die lückenlose Erfassung
des gesamten jüdischen Vermögens sicherstellen. Über die Verschaffung von Einreisemöglichkeiten in überseeische Staaten unter totalem Vermögensentzug wohlhabender Juden und Jüdinnen wurde zu Beginn des NS-Regimes in Österreich die „erwünschte“ Auswanderung mittelloser Juden und Jüdinnen ermöglicht. Über das entzogene Vermögen wurden auch spätere
Deportationen in Konzentrationslager und damit die „Endlösung der Judenfrage“ mitfinanziert. Wieviel Vermögen tatsächlich geraubt und entzogen wurde, lässt sich vor allem aufgrund der in den ersten Monaten nach dem Anschluss in großem Ausmass durchgeführten
„wilden Arisierungen“ nachträglich nur in Ansätzen erfassen und ist daher bislang kaum erforscht. Auch über den Umfang der Rückstellungen geraubten jüdischen Vermögens oder des
Vermögens anderer während des Nationalsozialismus verfolgter Gruppen liegen noch keine
genauen Zahlen vor. Die Erforschung des gesamten Komplexes des Vermögensentzugs in
Österreich zwischen 1938 bis 1945 durch die eigens dafür eingesetzte Historikerkommission
(s. Kapitel „Historikerkommission“) wird jedoch in den nächsten Jahren zu neuen Ergebnissen
führen. Die folgenden Texte konzentrieren sich überwiegend auf die Darstellung von Zwangsenteignungen in Wien. Dies erklärt sich einerseits aus der Tatsache, dass der Großteil der
österreichischen Juden und Jüdinnen in Wien wohnhaft war, und zum anderen aus dem Modellcharakter, den die rasche Durchführung von „Arisierungen“ in Wien insgesamt erlangte.
Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
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„ A R I S I E R U N G E N ” I N W I E N . A S P E K T E N AT I O N A L S O Z I A L I S T I S C H E R E N T E I G N U N G S P O L I T I K 1 9 3 8 - 4 0
HANS WITEK
„Seit dem ‚Anschluß‘ herrscht offener Straßenterror. Rufe: ‚Juda verrecke!‘ und ‚Juden heraus!‘ hallten vom ersten Tage an durch die Straßen. Bald begannen die Demolierungen und
‚Requirierungen‘, d.h. Plünderungen jüdischer Geschäfte, die Erpressungen bei jüdischen
Geschäfts- und Privatleuten. In den Läden erschienen vierzehn- bis fünfzehnjährige Burschen, von etwa 20- bis 25jährigen SS-Männern angeführt, und ‚requirierten‘ Lebensmittel,
Schuhe, Anzüge, Stoffe usw. Häufig wurde die Beute mit Lastkraftwagen abtransportiert.
Auf diese Weise wurden z.B. fast sämtliche jüdischen Geschäfte der Innenstadt (Kärntner
Straße, Rotenturmstraße, Mariahilfer Straße, Am Graben usw.) heimgesucht. ‚Requiriert‘
wurden u.a. bis auf geringfügige Reste die großen Lager der Firmen Krupnik, Kleiderhaus
Gerstel, Teppichhaus Schein, Juwelengeschäft Scherr, Herrenkleidergeschäft Katz. Die Ausräumung des Warenhauses Schiffmann in der Taborstraße dauerte drei Tage. Arbeiter mit
Hakenkreuzbinden leerten die Lager, Männer im Braunhemd hielten die neugierige Menge
fern. Vor den jüdischen Läden, die trotz dieser Vorfälle offenzuhalten versuchten, brachte
man Plakate an, schmierte Inschriften auf das Pflaster, überpinselte die Schaufensterscheiben mit gröbsten Beschimpfungen. Die Polizei versagte jeden Schutz.“ 1
Mit diesen Worten beschreibt ein zeitgenössischer Bericht – „Der Terror gegen die Juden.
Das Schreckensregiment in Österreich“ – die Wiener Judenverfolgungen in den ersten
Monaten nationalsozialistischer Herrschaft 1938. Neben den Hinweisen, daß sich „kommissarische Verwalter“ Geschäfte und Betriebe jüdischer Eigentümer angeeignet hatten und
eine staatliche ➤ „Arisierungszentrale“ errichtet wurde, heißt es im Bericht weiter:
„Unter diesen Umständen zogen es natürlich viele jüdische Kaufleute vor, ihre Geschäfte
so rasch als möglich und unter großen Verlusten zu verschleudern. Die ‚Arisierung‘ macht
rasche Fortschritte. Von den in den ersten Wochen arisierten Unternehmen seien genannt:
Wiens größtes Warenhaus ‚Gerngroß‘, Kaufhaus Herzmansky, die Strumpfwarenfirma
Bernhard Schön, die 80 Läden in Wien unterhält, die Anker-Brotfabrik, die Glühbirnenfabriken Johann Kremenetzky und Albert Pregan. Seither sind Hunderte von jüdischen Geschäften ‚in arische Hände‘ übergegangen.“ 2
Diese Schilderungen verdeutlichen die politische und sozialökonomische Dynamik, den lokalen Kontext der wirtschaftlichen Enteignung des jüdischen Klein- und Großbürgertums in
der Wiener Privatwirtschaft,3 welche unmittelbar mit dem „Anschluß“ im März 1938 begann
und innerhalb eines Jahres von den zuständigen lokalen Staats-, Partei- und Wirtschaftsstellen organisiert und durchgeführt wurde. Alle Einzelfirmen, Personen- und Kapitalgesellschaften der gewerblichen Wirtschaft, deren Eigentümer oder Anteilseigner Juden waren, wurden
„zwangsarisiert“ oder liquidiert. Den betroffenen Industriellen, Unternehmern, Kaufleuten
und Handwerkern raubten diese Zwangsverkäufe und -liquidierungen ihre Unternehmen. Die
damit verbundene finanzielle Ausplünderung entzog ihnen die wirtschaftliche und soziale
Basis und zwang viele – meist unter totalem Vermögensverlust – zur Auswanderung.
Der Prozeß der „Entjudung der Wirtschaft“ umfaßte die Enteignung von gewerblichen Unternehmen, land- und forstwirtschaftlichen Betrieben, Privatbanken, Haus- und Grundbesitz.4
Die antisemitische Personalpolitik im öffentlichen Dienst und in der Privatwirtschaft führte
zur Entlassung von Beamten, Angestellten und Arbeitern; die rassistische Säuberung des industriellen Managementbereiches erzwang das berufliche Ende für Direktoren, Prokuristen,
Aufsichts- und Verwaltungsratsmitglieder in den Industrieunternehmen.
„Auch aus den freien Berufen der Sparten Presse, Literatur, Theater, Film, Musik, bildende
Künste, ebenso aus den Berufsorganisationen der Ärzte, Apotheker, Rechtsanwälte und Notare wurden alle Juden und ‚Mischlinge‘ bis Ende November 1938 restlos ausgeschieden
und verloren damit ihre Approbationen zur Berufsausübung an ihre arischen Konkurrenten.“ 5
In Wien lebte der größte Teil der österreichischen Juden – 170.000 Personen,6 was 1938
einem Anteil von zehn Prozent an der städtischen Gesamtbevölkerung entsprach; die
jüdische Gemeinde Wiens war die größte des „Großdeutschen Reiches“. Früher als im
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Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
Hans Witek
sogenannten „Altreich“, bereits Anfang 1939, war die ökonomische Entrechtung und Enteignung der Wiener Juden praktisch beendet. Wiener „Spezialisten“ konnten weniger erfahrenen „reichsdeutschen Kollegen“ Hinweise für die praktische Durchführung dieses
Raubzuges geben, Wien hatte in dieser Hinsicht Modellcharakter.
Es stellt sich die Frage, wer die „Arisierungen“ in Wien durchführte, welche unterschiedlichen Interessen dabei im Spiel waren. Grundsätzlich können vier Interessensgruppen differenziert werden: Zum einen die „kleinen Ariseure“, die sofort persönliche Vorteile realisieren wollten; zweitens mittelständische Interessen, die auf Ausschaltung von Konkurrenten
und Übernahme der besten Geschäfte und Betriebe zielten. Industrie und Banken, als dritte
Interessensgruppe, verfolgten Besitzerweiterungsstrategien. Diese waren verbunden mit der
von NS- und Wirtschaftsplanern angestrebten sozial- und wirtschaftspolitischen Strukturveränderung. Zwischen diesen Interessensgruppen bestand zwar der Minimalkonsens, daß
die Juden aus dem Wirtschaftsleben ausgeschlossen werden müssen, über die Frage der
Durchführung der Enteignung kam es zu Konflikten.
Gerhard Botz hat in seinen Forschungen zur NS-Sozialpolitik und Judenverfolgung in
Wien 1938 7 unter anderem darauf hingewiesen, daß der Wiener Antisemitismus neben
einer rassenideologischen auch eine ausgeprägte soziale und ökonomische Komponente
hatte und die antijüdischen Verfolgungsmaßnahmen konkret mit materiellen Interessen der
Täter verknüpft waren.
„Die Aggressivität gegen ‚den‘ Juden bedurfte hier keiner besonderen ‚theoretischen‘ Überhöhung, versprach sie doch eine Erfüllung ganz konkreter Interessen: die Beseitigung des
jüdischen Konkurrenten als Händler oder Warenhausbesitzer, als Rechtsanwalt oder Arzt,
die Erlangung einer Wohnung oder eines wertvollen Möbelstückes etc. Diese Art von Antisemitismus verstand jeder, der sich von der ‚Judenhatz‘ einen materiellen Vorteil erhoffte.“ 8
In Wien konnte das nationalsozialistische Regime an die politische Tradition des „Volksantisemitismus“ anknüpfen, jenes virulenten, ökonomisch, kulturell und religiös begründeten
Antisemitismus der Monarchie, der Ersten Republik und der austrofaschistischen Diktatur.9
Die in Wien für breite Teile der Bevölkerung vorhandenen sozialen und ökonomischen Probleme (Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit, unrentable Handels- und Gewerbebetriebe etc.) versuchte das nationalsozialistische Regime durch ein Konzept der Enteignung und Vertreibung einer stigmatisierten Gruppe zu lösen. Aus der Strategie der Ausgrenzung folgten,
nachdem die Auswanderung ab Herbst 1939 kaum mehr möglich war, Konzentration, Deportation und als letzter Schritt der industriell betriebene Massenmord an den Juden.
Neben den unmittelbaren Interessen der „Ariseure“ läßt sich aus den überlieferten Akten
auch die von NS- und Wirtschaftsplanern angestrebte sozial- und wirtschaftspolitische
Strukturveränderung rekonstruieren. Staatliche Institutionen strebten an, daß „jüdisches Vermögen nicht einfach geraubt und übereignet“ wird, sondern daß „die Arisierung mit einem
Modernisierungs- und Konzentrationsschub der rückständigen ‚ostmärkischen‘ Wirtschaft
verknüpft“ 10 würde.
Es gibt bis heute keine wissenschaftliche Gesamtdarstellung über die Zerstörung der wirtschaftlichen Existenz der Wiener Juden in den Jahren 1938 bis 1940 und deren vielfältige
Hintergründe. Bisher wurde diese Thematik nur partiell zum Gegenstand der Forschung gemacht.11 Firmengeschichtliche Darstellungen oder Branchenmonographien zur „Arisierungspolitik“ liegen nur vereinzelt vor.12
Ausgehend von diesem Forschungsstand können im vorliegenden Beitrag nur die wichtigsten Aspekte der Interdependenz von Nationalsozialismus, Ökonomie und Judenverfolgung
am Beispiel der antijüdischen Enteignungspolitik in der Wiener Privatwirtschaft 1938/39
skizziert werden. Ziel dieses Beitrages ist es, die staatliche Organisierung der NS-Enteignungspolitik und ihre spezifisch österreichische Entwicklung zu zeigen (I); einen kurzen
Überblick über die Methoden der Betriebsverwaltung und die Soziographie des „Kommissarsystems“ zu geben (II); typische Merkmale parteipolitischer „NS-Wiedergutmachung“
und protektionistischer Mittelstandspolitik herauszustellen (III); die Expansionsstrategien von
Banken und Industrieunternehmen und deren Realisierungen im Prozeß der Enteignung der
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Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
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„Lösung“
ökonomischer
und sozialer
Probleme durch
Enteignung und
Vertreibung
„Arisierungen“ in Wien
Juden zu skizzieren (IV); strukturpolitische Folgen, Zweck und Praxis der Betriebsliquidierungen zu beschreiben (V). Die folgende deskriptiv-analytische Darstellung ist eine Vorarbeit
zu einer größeren Studie zur nationalsozialistischen „Arisierungspolitik“ in Wien 1938 bis
1945.
I. Modell Wien: Organisierung der NS-Enteignungspolitik
Die nationalsozialistische Politik der „Arisierung“ im Bereich der Privatwirtschaft bedeutete
die Umstrukturierung der Eigentumsverhältnisse nach „rassischen“ Prinzipien. Industrie-, Handels- und Gewerbebetriebe, deren Eigentümer Juden waren oder an denen diese als Gesellschafter oder Aktionäre kapitalsmäßig beteiligt waren, wurden zwangsweise an „arische“
Einzelpersonen, Firmen, Banken etc. übertragen. Die Verträge über Eigentumsübertragungen
erfolgten häufig unter Druck bzw. unter Umständen, „die nur als direkte Nötigung bezeichnet werden können“. Eine freiwillige Übereinstimmung der Vertragspartner war unter diesen
Voraussetzungen nicht gegeben. „Die Eigentumsübertragungen waren nichts anderes als ein
Mittel der Enteignung zugunsten des Reiches oder der neuen Besitzer.“13
Bei Industrie- und Großhandelsfirmen, größeren Gewerbe- und Einzelhandelsbetrieben
wurden deren „Sach-“ und „Verkehrswert“ durch Wirtschaftsprüfungen, bei Kleinbetrieben
durch Schätzgutachten festgestellt. Dem ursprünglichen Eigentümer wurde ein Kaufpreis
zugestanden, „der erheblich unter dem Verkehrswert lag und zudem mit einer hohen
Ausgleichsabgabe an den Staat verbunden war, so daß in der Regel weniger als die Hälfte
des Betriebsvermögens vergütet wurde, der Staat aber von der Ausgleichsabgabe und der
Käufer von der erheblichen Differenz zwischen Verkehrswert und Kaufpreis profitierten.“ 14
Jedoch wurde der Kaufpreis nicht an die ehemaligen Besitzer ausbezahlt, sondern auf
➤ Sperrkonten überwiesen. Aus diesen Sperrguthaben entnahm die Finanzverwaltung Abgaben für die ➤ „Reichsfluchtsteuer“, ➤ „Judenvermögensabgabe“ etc. „Für eine bescheidene Lebensführung und für die Ausreise“ 15 wurden den Enteigneten Beträge freigegeben.
Zahlreiche staatliche Gesetze, Verordnungen und Erlässe – von der Ministerialbürokratie
des Reichswirtschafts- und -innenministeriums und der ➤ Vierjahresplanbehörde konzipiert
und erlassen – gaben der antijüdischen Enteignungspolitik ihre spezifische NS-Legalität und
stellten eine Verletzung des bürgerlichen Eigentumsbegriffs dar.16
Von der im April 1938 verordneten Vermögensanmeldung17 für Juden über die am 12.
November 1938 erlassene ➤ „Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen
Wirtschaftsleben“ 18 bis zur ➤ „Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens“ vom
3. Dezember 1938 19 regelte die NS-Bürokratie die Enteignungspolitik. Dieses NS-Gesetzeswerk auf dem Gebiet des Wirtschafts- und Vermögensrechtes war letztlich nichts
anderes als eine Politik staatlich legalisierter Beraubung.20 Neben der Privatwirtschaft und
der NSDAP war es der NS-Staat, der aus der Enteignung der Klein- und Großunternehmen
finanziellen Gewinn zog.21
Das „ostmärkische Modell“ der Enteignungspolitik war dieser reichsgesetzlichen Regelung 1938 in vielen Bereichen vorausgeeilt und wurde zum Vorbild für „reichsdeutsche“
Stellen. Die Zentralisierung der Enteignung und ihre verwaltungstechnische Organisation,
die „kommissarische Verwaltung“ der Unternehmen, die finanzpolitische Durchführung der
„Arisierung“, die Zwangsliquidierung der Geschäfte waren in der „Ostmark“ bereits die
übliche Praxis der Enteignungspolitik, die erst Anfang Dezember 1938 für das gesamte
Deutsche Reich vereinheitlicht wurde.22
„In dieser Entwicklung eines halben Jahres ist vieles komprimiert, was sich in Deutschland
auf Jahre verteilte. Man verfuhr in Österreich 1938 so ‚großzügig‘, wie man es vielleicht in
Deutschland 1933 getan hätte, wenn nicht die Rücksichtnahme auf das Ausland und das
nationale Bürgertum nötig gewesen und andere Probleme vordringlicher erschienen wären.
Insofern zeigt das österreichische Beispiel die Methoden nationalsozialistischer Machtergreifung – mindestens für den wirtschaftlichen Bereich – in ‚reinerer‘ Form als das deutsche.
Im Verlauf weniger Monate hatte Österreich das Altreich in der praktischen Verdrängung
10
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Hans Witek
der Juden aus der Wirtschaft mindestens eingeholt und in der Vorbereitung einer Zwangsarisierung überholt, was sich nach der ‚Kristallnacht‘ bestätigen sollte.“ 23
Als staatliche Zentralinstanz der Enteignungspolitik wurde am 18. Mai 1938 im österreichischen Ministerium für Wirtschaft und Arbeit (ehemals Ministerium für Handel und Verkehr)
die ➤ Vermögensverkehrsstelle (VVST) mit Hauptabteilungen für Wirtschaftssektoren, Finanzen und Planung gegründet.24 Ihr oblag die Kontrolle und Gesamtorganisation der „Entjudung der Wirtschaft“. Sie bestellte die „Kommissare“, „Treuhänder“ und „Abwickler“ für
die Unternehmen, koordinierte die gesamtwirtschaftliche Planungsarbeit der Enteignungen
im Rahmen der strukturpolitischen Vorgaben, genehmigte die „Kaufverträge“, setzte die
Kaufpreise für die zu „arisierenden“ Unternehmen nach Wirtschaftsprüfungs- und Schätzungsgutachten fest oder verordnete die Betriebsauflösung.
Als Leiter wurde der „Staatskommissar in der Privatwirtschaft“, ➤ Dipl. Ing. Walter Rafelsberger, Gauwirtschaftsberater der Wiener NSDAP, bestellt. Auf dem Gebiet der Planung
kooperierte die VVST mit der Abteilung III „Staat und Wirtschaft“ des Reichskommissars
➤ Bürckel und den Abteilungen und Referaten des Ministeriums für Wirtschaft und Arbeit
unter Leitung von ➤ Dr. Hans Fischböck.
Von seiten der Organisationen der gewerblichen Wirtschaft waren die zahlreichen „Arisierungskommissionen“ der Fachverbände und -gruppen, Innungen, Zünfte und Gilden als
Planungs-, Vorschlags- und Durchführungsstellen involviert; auf Parteiebene waren es die
Gau- und Kreiswirtschaftsämter, die neben der politischen Beurteilung der „Ariseure“ auch
lokale Aufsichts- und Organisationsarbeit leisteten.
Koordinations- und Genehmigungsstelle war ausschließlich die VVST, die ab November
1939 als „Abwicklungsstelle“ und später als „Referat III Entjudung“ bei der Reichsstatthalterei Wien bis zum Kriegsende 1945 weiterbestand.25 Zahlreiche Beamte, Funktionäre der
Partei und Wirtschaft, Vertreter der Innungen etc. bildeten jenen institutionellen Apparat,
der sich im Zuge der Enteignungspolitik als Normen und Verfahrensweisen setzende Instanz in der Enteignung von Juden 1938/39 herauskristallisiert und gefestigt hatte. Innerhalb dieses Apparates war man sich zwar in der Zielvorstellung der totalen „Entjudung der
Wiener Wirtschaft“ einig; über Ausmaß, Tempo und Methoden der Umverteilung kam es
zwischen Staat, Partei und Privatwirtschaft zu Konflikten. Der Streit der Interessensgruppen
hatte nicht nur einen machtpolitischen Charakter, sondern war auch untrennbar mit dem
Kampf um den „Anteil an der Beute“ verbunden: Einem an strukturellen und volkswirtschaftlichen Kriterien orientierten Konzept der Bürckel-Behörde standen die von den lokalen NSFührern vertretenen Versorgungsinteressen der ➤ „Alten Kämpfer“ und anderer NS-Anhänger gegenüber.
Den hegemonialen Anspruch in der Enteignung hatten sich lokale Parteiorganisationen
und Privatpersonen schon unmittelbar nach dem „Anschluß“ gesichert: Der exzessive Drang
nach individueller Bereicherung bei der Vertreibung der Juden aus der Wirtschaft zwang
Staatsstellen, durch nachträgliche Legalisierung die Dynamik zu kanalisieren. Die „Verstaatlichung“ der Enteignung und jenes spezifische „ostmärkische“ Gesetzes- und Verordnungswerk für die Legitimierung der antijüdischen Wirtschaftspolitik war wesentlich durch diese
„einheimische Anfangsoffensive“ determiniert.
II. Methoden der Betriebsverwaltung und Soziographie der „Kommissare“
„Jedenfalls, als ich meine Aufgabe hier übernahm, waren die Kommissare eingesetzt bzw.
hatten sich zum großen Teil eingesetzt. Ich stand von vornherein dieser ganzen Situation
mit einigem Mißtrauen gegenüber. (...) Es geht nicht an, daß hier eine neue Berufsgruppe
entsteht, für die es in einem geordneten Wirtschaftsleben auf die Dauer keine Beschäftigung geben kann. Der eine oder andere dieser Kommissare hat bereits ‚Mein‘ und ‚Dein‘
verwechselt. Dem Teil der Kommissare, der selbstlos und gewissenhaft seine Pflicht tat, spreche ich den Dank aus. (...) Wer versagte, hat seine Prüfung für Partei und Staat (...) nicht
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Die Vermögensverkehrsstelle –
„Verstaatlichung“
der Enteignung
„Arisierungen“ in Wien
„Wilde
Arisierungen“
bestanden, und es wird jeden einzelnen dann die Maßnahme treffen, die es ihm verständlich macht, daß man Revolution in einem anständigen Staat nicht mit Rucksackspartakisten
durchführt.“ 26
Mit diesen Drohungen versuchte der „Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich“, Joseph Bürckel, Anfang Juli 1938 die unkontrollierte, individuelle Bereicherung am Eigentum von Juden zu beenden.
Die Politik der Enteignung hatte in Wien mit der spontanen Aneignung von Geschäften
und gewerblichen Betrieben durch sogenannte „wilde Kommissare“, deren Gesamtzahl anfänglich laut Fischböck rund 25.000 betragen haben soll,27 begonnen. Angehörige lokaler
Parteistellen, SA-Leute, Mitglieder der nationalsozialistischen Betriebsorganisationszellen,
Kaufleute und Gewerbetreibende, die der NS-Handels- und Gewerbeorganisation angehörten, Angestellte und „Konjunkturritter“ hatten die Unternehmen besetzt, die Besitzer vertrieben oder deren geschäftlichen Einfluß beschränkt, ihre eigene politische und wirtschaftliche
Macht gesichert und ihre materiellen Interessen befriedigt. Die jüdischen Eigentümer hatten
somit keine Verfügungsgewalt über ihre Firmen. Im laufenden Prozeß der „Arisierung und
Liquidierung“ war auch ihr geschäftlicher Verhandlungsspielraum eingeschränkt worden
oder überhaupt nicht vorhanden.
Staatlicherseits war man gezwungen, nachträglich dieses System der „kommissarischen
Verwalter“ zu legalisieren. Durch Gesetze, Verordnungen und Erlässe versuchte man seit
Ende März 1938 die „Kommissarswirtschaft“ zu kontrollieren.28 Der ordnungsstaatlichen
Politik mit gesamtwirtschaftlicher Ausrichtung gelang es nur langsam, der Selbstherrlichkeit
der „Kommissare“ Grenzen zu ziehen, ein legales Bestellungsverfahren durchzusetzen,
Kontrollinstanzen zu errichten und die Zahl der „wilden Kommissare“ durch Entlassung
oder offizielle Weiterbestellung durch die VVST zu verringern.
Aber auch die von der VVST bestellten „Betriebs- und Geschäftsführer“ waren in den
ihnen anvertrauten Unternehmen kaum zu kontrollieren. Die gesetzlichen Richtlinien definierten zwar ihre Tätigkeit – Vorbereitung der „Arisierung“ oder Durchführung der
Firmenauflösung –, aber ihre Sonderstellung ermöglichte nur zu oft eine Verknüpfung ihres
Auftrages mit eigenen materiellen und sozialen Interessen.
Viele der „kommissarischen Verwalter“ betrachteten ihre Stellung als reinen Versorgungsposten, als Möglichkeit, ihre ökonomische Situation rasch zu verbessern. Als „Alte Kämpfer“ und „Illegale“ wurden sie von den diversen Parteistellen protegiert und für „kommissarische Verwaltungen“ bestimmt, wobei ihre fachliche Qualifikation nebensächlich war.
Der Sozialtypus des „Kommissars“ in Wien läßt sich annäherungsweise folgendermaßen
charakterisieren: Seine politische Zuverlässigkeit war durch die langjährige Zugehörigkeit
zur Partei oder einer ihrer Organisationen unter Beweis gestellt; seiner sozialen Herkunft
nach war er meist Angestellter oder kleiner Selbständiger, manchmal arbeitslos; fachlich
war er größtenteils unqualifiziert und branchenfremd. Vorwiegend wurde er als „Kommissar“ in Klein- und Mittelbetrieben, in Einzelhandelsgeschäften, seltener in Großunternehmen
der Industrie und des Handels tätig.29 Eine kleinere Gruppe von „Kommissaren“ rekrutierte
sich aus Wirtschaftsfachmännern: Rechtsanwälte, Bankangestellte, Gewerbetreibende oder
Kaufleute. Bei dieser Gruppe war die notwendige Qualifikation gegeben, politische Zuverlässigkeit verlangt, die Parteizugehörigkeit jedoch nicht unbedingt erforderlich.
Vor allem ab Herbst 1938 versuchte die VVST das Kriterium der fachlichen Qualifikation
bei der Kommissarsbestellung verstärkt zu berücksichtigen, nachdem den Organisationen
der gewerblichen Wirtschaft (vor allem den Zünften und Innungen) ein Vorschlags- und
Beurteilungsrecht bei der Bestellung durch die VVST eingeräumt wurde. Trotzdem blieb der
kaufmännisch unfähige „Kommissar“ weiterhin der dominierende Verwalter.
Das Spektrum seiner „Geschäftspraktiken“ reichte von Bestechlichkeit, Veruntreuung bis
zur maßlosen persönlichen Bereicherung. Die nur gegen eine verschwindend kleine
Gruppe dieser „neuen Wirtschaftsführer“ 1938/39 durchgeführten Verhaftungen und
Gerichtsverfahren beweisen, daß die Kritik an korrupten „Kommissaren“ vor allem deklamatorischen Charakter hatte.30
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Die hohe Fluktuation der „Kommissare“ – oft hatten Geschäfte und Betriebe innerhalb
weniger Monate mehrere verschiedene Verwalter – verweist auch auf Versuche staatlicher
Stellen, unfähige und korrupte „Kommissare“ auszutauschen. Für die betroffenen Unternehmen bedeutete die Abfolge verschiedener „Kommissare“ meist einen beschleunigten
Verbrauch der betrieblichen Ressourcen. In vielen Branchen verwaltete eine Person mehrere
Betriebe. Dadurch war eine „ordentliche“ Geschäftsführung eher zufällig und führte tendenziell zu Geschäfts- und Betriebsauflösungen. Manche „Kommissare“ konnten sich, unterstützt von örtlichen Parteistellen, durch gleichzeitige Verwaltung mehrerer Betriebe zeitweise eine gewisse Branchen- und Lokalhegemonie sichern.31
Im Februar 1939 begann die VVST für die noch bestehenden industriellen Unternehmen
und Großhandelsfirmen sogenannte „Treuhänder“ zu bestellen, welche deren „Arisierung“
oder Auflösung vorbereiteten oder durchführten. Sowohl fachliche Qualifikation als auch
politische Zuverlässigkeit versuchten die staatlichen Stellen dadurch zu erreichen, daß man
die beruflichen Erfahrungen stärker als bei den „Kommissaren“ berücksichtigte. So wurden
vor allem Rechtsanwälte, Bücherrevisoren, Wirtschaftsprüfer, Prokuristen und leitende Angestellte aus der Wirtschaft als „Treuhänder“ bestellt. Nur eine geringe Anzahl ehemaliger
„kommissarischer Verwalter“ befand sich unter den ausgewählten „Treuhändern“.
Für die Masse der zu bewältigenden Stillegungen im Handels- und Gewerbebereich
berief man „Abwickler“ mit ähnlichem beruflichen Hintergrund. Die Kontinuität der
„Mißwirtschaft“ zeigte sich aber auch bei den „Abwicklern“. Gerade die Tätigkeit der
Betriebsliquidierung bot ausreichend Möglichkeiten, eigene Interessen zu verfolgen. Die
Eigenmächtigkeiten der „Abwickler“ widersprachen der vorgesehenen staatlichen Konzeption der „bestmöglichen“ Verwertung der Warenlager und Betriebseinrichtungen.
III. „Alte Kämpfer“ und „alter Mittelstand“
Die Arisierungspraxis der VVST der ersten Monate war weniger gesamtwirtschaftlichen
Intentionen verpflichtet als vielmehr parteipolitischem Protektionismus: Mittelständischen
NSDAP-Mitgliedern, „besonders verdienten Parteigenossen“, „Alten Kämpfern“, meistens
ohne finanzielle Mittel und fachliche Kompetenz, wurden im Sinne einer „Wiedergutmachung“ (für „während der Systemzeit im Dienste der Bewegung erlittene Schäden“) Kleinbetriebe und Handelsgeschäfte zugewiesen.
„Die alten Parteigenossen haben selbstverständlich meist kein Geld. Der Kaufpreis wird
demnach kreditiert. Die Abtragung der Kaufschuld oder des in ihrer Höhe gewährten Kredits sowie etwaiger Zinsen geschieht in Raten aus den Betriebsmitteln (...) Weil nur schwer
die künftige Entwicklung eines Unternehmens vorauszusehen ist, wird der Kaufpreis wohl
regelmäßig möglichst niedrig bemessen. Der Unterschied gegenüber dem wirklichen Verkehrswert ist Schenkung, aber auch der Kaufpreis selbst trägt mehr oder minder den Charakter der Schenkung.“ 32
Weiters finanzierten Kreditaktionen kapitalschwachen Gewerbe- und Handelstreibenden,
vermögenslosen „Alten Kämpfern“ der NSDAP die „Arisierungen“. Im Zuge der Reichswirtschaftshilfe wurden „Arisierungskredite“ 33 gewährt; bis Ende 1938 wurden aus dem ➤ „Arisierungsfonds“ der VVST, 1939 aus jenem der Kontrollbank finanzielle Zuschüsse für minderbemittelte Parteigenossen geleistet,34 quasi nach dem Prinzip, „wonach also der Enteignete den Enteigner finanzieren half“.35 Eine weitere Möglichkeit, „Kaufpreis“ und ➤ „Auflage“ zu bezahlen, waren die von den Banken gewährten Privatkredite.
Im folgenden sollen am Beispiel der „Arisierungen“ von Wiener Kinos einige politische
und soziale Implikationen der NS-Enteignungspolitik, deren organisatorische und ökonomische Durchführung beschrieben werden.
„Die Arisierungskommission im Kinotheaterfach“, die von der VVST, Bürckel-Behörde, NSBetreuungsstelle und Reichsfilmkammer, Außenstelle Wien, gebildet wurde, vertrat „die Ansicht, daß das Abwandern jüdischer Kinotheaterbesitzer benützt werden muß, um einer
Vielzahl von schwerstens geschädigten Parteigenossen eine Lebensmöglichkeit zu bieten“,
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„Wiedergutmachung“ für
„Alte Kämpfer“
„Arisierungen“ in Wien
Mittelständische
Interessen
und faßte daher „die Arisierung als eine Sozialaktion auf“, wie es in einem Kommunique
Anfang Sommer 1938 hieß.36 Mit dieser an die Wiener Staats- und Parteistellen abgegebenen Erklärung wurde gegen die Absichten des „Reichstreuhänders für das Filmwesen“
Stellung genommen. Er wollte mit der neu gegründeten „Ostmärkischen Filmtheater GmbH,
Wien“ (vormals „KIBA GmbH“) ursprünglich sämtliche Kinobetriebe, die Juden gehört
hatten, übernehmen; das wurde aber von der VVST verhindert.37
Bis Ende 1938 wurden von der „Arisierungskommission“ Eigentumsübertragungen bei
ca. 90 Kinobetrieben mehrheitlich an Wiener NSDAP-Mitglieder bewilligt, von denen viele
bereits als „kommissarische Verwalter“ der Filmtheater von der Reichsfilmkammer-Außenstelle Wien seit März 1938 eingesetzt worden waren.
Die neuen Kinobesitzer waren in der Mehrzahl „Alte Kämpfer“, viele davon Teilnehmer
am NS-Putsch 1934, „32 Anwärter auf den ➤ Blutorden und 17 Ehrenzeichenträger“,38 denen im Rahmen der „NS-Wiedergutmachung“ 1938 materielle Existenzsicherung und sozialer Aufstieg gesichert wurde. Ihre Biographien waren geprägt von ökonomischen Krisen,
Arbeitslosigkeit und sozialer Deklassierung, unter anderem auch als Folge ihrer NS-Parteiaktivitäten und deren gerichtlicher Verfolgung vor 1938. Ihre politische Laufbahn fand „Abschluß und Erfüllung in der durch Einfluß und Protektion der Partei erworbenen individuellen Reproduktionsbasis“.39
Jenen NS-Parteigenossen, „die über wenig oder gar kein Kapital und keinerlei fachliche
Vorkenntnis“40 verfügten, wurden die Kaufpreise nach Schätzwerten des Betriebsinventars
berechnet, die „Arisierungsauflage“ erlassen, den meisten „Juliputschisten“ wurde durch eine
Kreditaktion aus dem „Arisierungsfonds“ der Kontrollbank die Übernahme und Weiterführung der Kinos ermöglicht.41
Ähnliche „Sozialprogramme“ im Sinne „nationalsozialistischer Wiedergutmachung“
verwirklichten die lokalen Staats- und Parteistellen bei der „Arisierung“ der Trafiken und
Lottokollekturen. Diese wurden an „Veteranen des Krieges der Arbeit und der Partei“42
vergeben.
Die Praxis der „Arisierung“ unter dem Vorzeichen der „Wiedergutmachung“ brachte den
Nepotismus am deutlichsten zum Vorschein, „denn die Arisierung war ihrer Natur nach eine
Quelle der Korruption“.43 Bei der übergroßen Anzahl der NSDAP-Mitglieder und „Alten
Kämpfer“, die ein gewerbliches Unternehmen „erwerben“ wollten, brauchte der einzelne
Protektion und Bestechung zur Ausschaltung der „arischen“ Mitkonkurrenten. Das „Prinzip
der politischen Klientel und Cliquen“44 war bei diesen „Arisierungstransaktionen“ dominierend. Nicht nur kleine Parteigenossen, sondern auch höchste Funktionäre bedienten sich
dieses Prinzips. „Was sich jedoch ansonsten auf diesem Gebiet durch kleinere und größere
Schiebungen und die bekannte ‚Wiener Freunderl- oder Vetternwirtschaft‘ getan hat, wird
derzeit kaum durch SS-gerichtliche Untersuchung feststellbar sein“, befürchteten hohe Parteistellen.45 Auch in Berlin wußte man über die „Wiener Zustände“ Bescheid. Himmler schrieb
im Herbst 1939 an ➤ Heydrich: „Außerdem müßten in Wien – am besten durch eine Kommission unter Führung eines höheren SS-Führers – die ganzen Arisierungsgeschäfte überholt
und durchgesehen werden. Wir müssen nach Kriegsschluß – wenn der Krieg nicht zu lange
dauert – ganz energisch durchgreifen.“46
Eine äußerst effizient praktizierte Enteignungsmethode mit mittelständischer Konzeption
war die Ausschaltung der Juden aus der Wiener Uhren- und Juwelenbranche. Planung und
Durchführung der „Arisierung“, der Auflösung und der „kommissarischen Verwaltung“ der
Gewerbebetriebe und Handelsgeschäfte dieses Wirtschaftszweiges wurden in engster Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Fachorganisationen und der VVST organisiert.
Schon unmittelbar nach dem „Anschluß“ war es durch Initiative der Innung zur Einsetzung
von „wilden Kommissaren“ in vielen Geschäften gekommen.47
Zentrale Instanz der Enteignungspolitik war die „Arisierungsstelle der Wiener Zunft der Juweliere und Uhrmacher und der Gilde des Uhren- und Juwelenfaches“. Die VVST genehmigte
als zuständige staatliche Behörde weitgehend die wirtschaftspolitischen Entscheidungen
dieses Gremiums nachträglich. Von den ca. 700 bestehenden Einzelhandelsgeschäften und
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Handwerksbetrieben wurde der Großteil aufgelöst. Zwecks Steuerung der Verwertung ihrer
Liquidationsmassen wurde im Sommer 1938 die „Einkaufs- und Treuhandgenossenschaft für
die Uhren- und Juwelenbranche“ gegründet, eine „im ganzen Deutschen Reich einzigartige
Institution“.48 Dem Vorstand und Aufsichtsrat dieser Genossenschaft gehörten mit Ausnahme
eines Vertreters der VVST nur leitende Zunft- und Innungsfunktionäre an.
„Die Genossenschaft setzt sich zusammen aus den Mitgliedern der Fachgruppen Juweliere
und Uhrenhändler, von denen nur diejenigen aufgenommen werden, die politisch und
charakterlich zuverlässig sind. An diese kann nach den Satzungen der Genossenschaft nur
der Verkauf von Juwelen und Uhren aus jüdischem Besitz erfolgen.“ 49
Im Frühjahr 1939 betrug der Mitgliederstand der Genossenschaft ca. 350 Juweliere und
Uhrmacher, die sich durch Bezahlung einer Genossenschaftseinlage von 50 RM am Abverkauf der sichergestellten Warenlager etc. beteiligen konnten.50
Bei der „Arisierung“ der größten Unternehmen wurde eine Methode angewandt, die sich
von der üblichen Praxis der VVST unterschied. Bei Geschäftsübernahme wurde „der Schätzwert des Unternehmens am Übernahmstag“ 51 als Kaufpreis festgesetzt. Als Schätzwert galt
der Wert des Warenlagers und der Betriebseinrichtungen. So stellte der „Generalabwickler“ für die Uhren- und Juwelenbranche im nachhinein folgendes fest: „Die Schätzungen der
Waren wurden zum Liquidationswerte vorgenommen. Diese lagen mitunter sogar unter
dem Materialwerte, was gerade in dieser Branche mit Hinblick auf die im Altreich
bestehenden Preise als unrichtig bezeichnet werden muß.“ 52 War in anderen Branchen in
der Regel zumindest der „Sachwert“ als „Kaufpreis“ vorgeschrieben, so zeigt diese Vorgangsweise, zu welchen Rahmenbedingungen in dieser Wirtschaftssparte „Geschäftsübernahmen“ vorgenommen wurden.
IV. Industrie und Banken
Die ersten nach dem „Anschluß“ eingeleiteten „Arisierungen“ im großindustriellen Bereich
wurden vom „Keppler-Büro“ getätigt. ➤ Göring bestellte Wilhelm Keppler am 19.3.1938
zum „Reichsbeauftragten für Österreich“. Die Arisierungspolitik des „Keppler-Büros“ zwischen März und Juni 1938, das sich im Rahmen des ➤ Vierjahresplanes „nur mit der Arisierung von Großunternehmen“53 beschäftigte, diente der Befriedigung der Expansionsinteressen reichsdeutscher Industrieunternehmen. Die bedeutendsten Transaktionen dieses Büros
waren die „Arisierung“ der „Hirtenberger Patronen- und Waffenfabrik“ durch Eingliederung in den Konzern der „Wilhelm Gustloff-Stiftung“ und die Ausgliederung der „Lenzinger
Zellstoff und Papierfabrik AG“ aus dem „Bunzl und Biach-Konzern“ und deren „Arisierung“
durch die „Thüringische Zellwolle AG“.54
Auch die Creditanstalt-Wiener Bankverein, um nur ein Beispiel aus dem Bereich der
Großbanken zu nennen, führte „Arisierungen“ von Industrieunternehmen durch. So stellt ein
Amtsvermerk der VVST fest: „Von den Aktien (der Schuhfabrik, d. V.) Del-Ka besitzen
24,6 % Creditanstalt-Wr.Bankverein, 66,7 % hat Creditanstalt-Wr.Bankverein aus dem Besitz der jüdischen Familie Klausner treuhändig erworben.“ 55
Die „Arisierungstätigkeit“ von Großbanken bestand aus Erwerbungen auf eigene Rechnung, der treuhändigen Verwaltung von Aktien, der Finanzierung von Käufen durch Gewährleistung von Krediten für ihre Kunden, der Bewertung von „Arisierungsobjekten“ sowie
der Suche und Vermittlung von Partnern, die an Käufen interessiert waren.
Auch private österreichische Firmen und Industrielle versuchten, am „Arisierungsmarkt“ ihre Geschäftsinteressen zu verwirklichen. Beispielhaft sei die „Arisierung“ der „Kuffnerschen
Brauerei, Preßhefe- und Spiritusfabrik“ im April 1938 durch die „Harmersche Gutsinhabung und Spiritusfabrik-KG“ erwähnt, welche der Firma den auch heute noch bekannten
Namen „Ottakringer Brauerei“ gab.56
Eine wichtige Rolle bei den „Arisierungen“ von Industriebetrieben nahm die seit 1941 bestehende „Österreichische Kontrollbank für Industrie und Handel“ ein. Im Oktober 1938
wurde per Erlaß Fischböcks eine eigene „Arisierungsabteilung“ eingerichtet.57 ➤ Walther
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„Arisierungen“ in Wien
Kastner, österreichischer Beamter der Reichsstatthalterei, Beauftragter Fischböcks in der
Kontrollbank und Leiter der „Arisierungsabteilung“, beschrieb rückblickend den Zweck dieser Maßnahmen:
„Das Ziel war eindeutig: Der rein parteipolitisch ausgerichteten Arisierung durch die Vermögensverkehrsstelle, die Parteimitgliedern Unternehmungen zum Liquidationswert günstig
zuschanzen wollte, sollte die Veräußerung von Großunternehmen entzogen werden. Für
die Arisierung im Wege der Kontrollbank wurde der Grundsatz aufgestellt, daß zwar die
jüdischen Veräußerer nur den Liquidationswert erhalten dürfen, da ihnen ja der weitere Betrieb ihres Unternehmens untersagt sei, die Erwerber jedoch den Verkehrswert zu zahlen
haben. Die Differenz zwischen diesen Werten nach Abzug der Bankaufwendungen war an
das Reich abzuführen.“ 58
Bis Ende 1942 wurden 102 industrielle Großunternehmen und Großhandelsfirmen, die
von der Abteilung treuhändig übernommen worden waren, an Einzelunternehmer, Firmen
und Banken weiterverkauft,59 darunter so bekannte Unternehmen wie die „Bunzl & Biach
AG“ und die „Montana AG für Bergbau, Industrie und Handel“. Als das „Arisierungsgeschäft“ beendet war, wurde die Kontrollbank Anfang 1943 von ihren Gesellschaftern (CA,
Länderbank, E.v. Nicolai & Co.) aufgelöst. „Ich hatte Zweifel“, schreibt Kastner, „ob der Nationalsozialismus den Weltkrieg gewinnen werde, für den Fall seines schlechten Ausganges
schien es aber zweckmäßig, die Kontrollbank nicht mehr als die für Arisierungen verantwortliche Rechtsperson aufrechtzuerhalten; ehemalige Gesellschafter konnten hierfür nicht in Anspruch genommen werden. (...) Die Abwicklung ergab einen Erlös, der das Grundkapital
überstieg. Der Arisierungsauftrag hatte sich als Regieträger günstig ausgewirkt.“60
Eine ähnliche „Sonderaufgabe“ hatte der „Wiener Giro- und Cassenverein“ 1938 von
Bürckel, Fischböck und der VVST übertragen bekommen: die kollektive „kommissarische
Verwaltung“ und die Auflösung von 77 kleinen und mittleren Privatbanken von insgesamt
85 Firmen jüdischer Eigentümer.61
Die „Flurbereinigung bei den Privatbankhäusern“,62 wie Fischböck die Liquidierung von 77
Firmen und die damit verbundene Konzentration in diesem Sektor nannte, war Ende 1938
abgeschlossen. „Arisiert“ wurden die finanz- und industriepolitisch wichtigsten Privatbankhäuser, darunter das „Bankhaus S.M. Rothschild“, das die Münchner Bank „Merck, Finck &
Co.“ kommissarisch verwaltet und 1940 an die Firma „E.v.Nicolai & Co.“ weitergegeben
hatte,63 weiters das Wiener Privatbankhaus „Ephrussi & Co.“, das vom langjährigen Mitgesellschafter und Prokuristen der Firma, C.A. Steinhäusser, „arisiert“ wurde.64
V. Modernisierung durch Firmenauflösungen
„Legalisierung“
der Arisierungen
Bürckels ökonomischen und politischen Richtlinien in der Enteignungspolitik lagen verschiedene Motive zugrunde. In bürokratischer Hinsicht sollte die Ausschaltung der Juden aus der
Privatwirtschaft nach staatlich verordneten Prinzipien erfolgen und die parteipolitischen und
privaten „Einzelaktionen“ verboten, in volkswirtschaftlicher Hinsicht eine Modernisierung
der Wiener Wirtschaftsstruktur im Zuge der Enteignung erreicht werden. Deswegen bestand die Planung, nur die „wertvollen“ Betriebe zu einem „angemessenen Kaufpreis“ in
„arische“ Hände überzuleiten; zudem sollten die staatlichen Finanzbedürfnisse im Zuge der
„Entjudung“ befriedigt und private „Arisierungsgewinne“ durch Auflagenzahlungen gemindert werden. Weiters sollte eine genaue Auswahl der Käufer nach fachlicher und politischer Qualifikation und nach Kreditbedürfnissen vorgenommen werden.65
Ein Ergebnis dieses Konzeptes resümierte Rafelsberger Anfang Februar 1939:
„Die Strukturwandlungen in der gewerblichen Wirtschaft durch die Entjudung bedeuten
einen Umschichtungsprozeß von ungeheurem Ausmaße … Der große Liquidationssatz und
die Umlagerungen (Standortverlegungen im Zuge der Arisierung) beseitigen in vielen Sparten die Übersetzung restlos und schaffen in den übrigen bessere Bedingungen. Eine restlose
Berufsbereinigung konnte nicht durchgeführt werden, da diese Planung den arischen Sektor
in der Wirtschaft nicht erfassen konnte.
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Für die Zukunft wurden durch die Planung zur Entjudung der gewerblichen Wirtschaft in
der Ostmark Voraussetzungen geschaffen, die nach Überwindung der durch diese ungeheuere Umschichtung aufgetretenen Hemmnisse sicherlich auch wesentlich zur Stärkung der
ostmärkischen Wirtschaft beitragen und somit der wirtschaftlichen Eingliederung der Ostmark in den großdeutschen Raum förderlich sind.“66
Der Hinweis Rafelsbergers, daß eine restlose „Berufsbereinigung“ nicht durchgeführt werden konnte, da der „arische“ Sektor der Wirtschaft 1938/39 nicht miteinbezogen wurde,
weist auf das übergeordnete Konzept der Modernisierung der Wiener Wirtschaftstruktur
hin. Die Wiener Juden konnten aufgrund ihrer Stigmatisierung und Entrechtung am leichtesten aus dem Wirtschaftsleben ausgeschaltet werden. Das war jedoch nur der erste
Schritt.67
Die nationalsozialistische Enteignungspolitik war daher im wesentlichen durch den Primat der Betriebsauflösung bestimmt. Die Stillegung der Klein- und Kleinstbetriebe in Handwerk und Einzelhandel 1938/39 konnte „einen Konzentrationsschub und eine Strukturverbesserung in der ohnehin gegenüber dem ‚Altreich‘ nachhinkenden Wirtschaft Wiens bewirken.“68
Das Orientierungsmuster der staatlichen Enteignungsplanung war der mittlere, der „gesunde“, lebensfähige und „arisierungswürdige“ Betrieb, eine Vorstellung, die den Kleinbetrieb
weitgehend ausschloß. Bis zu einem gewissen Grad entsprach diese Konzeption einer allgemeinen Mittelstandspolitik, welcher der Gedanke der Branchenbereinigung inhärent war.69
Die an der Gesamtplanung der Enteignung beteiligten Fachverbände und Organisationen
der gewerblichen Wirtschaft drängten auf Ausschaltung der „jüdischen Konkurrenz“:
„Das Bestreben der Innungen, Zünfte usw., aus Gründen der Beseitigung lästiger Konkurrenz die Auflösung jüdischer Geschäfte herbeizuführen, ist unverkennbar. Hier fehlt es
BETRIEBSAUFLÖSUNGEN IN WIEN
Gesamtstand
Betriebe 1938
davon Betriebe
von Juden
aufgelöst
arisiert
Handwerk in Wien
Glaser
Schlosser
Tischler
Tapezierer
Kleidermacher
Schuhmacher
Modewaren
Bäcker
Fotografen
Baugewerbe
Gast- und Schankgewerbe
Mieder- und Wäscheerzeuger
549
1.787
3.963
1.063
13.434
5.112
3.413
806
822
1.647
7.970
4.769
58
98
102
259
1.797
391
1.093
30
182
160
1.119
1.571
51
85
87
251
1.681
368
938
14
143
149
852
1.449
7
13
15
8
116
23
155
16
39
11
267
122
Einzelhandel in Wien
Nahrungs- und Genußmittel
Textil
Möbel
Eisenwaren
Drogeriewaren
Maschinen
Papier- und Galanteriewaren
15.163
3.642
313
863
1.849
187
1.494
2.609
2.630
159
304
713
68
458
2.419
2.163
107
251
557
54
419
190
467
52
53
156
14
39
Die folgende Statistik wurde zusammengestellt aus: AVA, Handelsministerium, Präs. Auskünfte 1938,
Karton 710; und: Der Staatskommissar in der Privatwirtschaft, Bericht über die Entjudung der Ostmark,
Wien 1.2.1939, s. 48f. (Die Statistik stellt eine Auswahl verschiedener Handwerks- und Einzelhandelsbranchen dar.)
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Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
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Oberstes Zíel:
Betriebsauflösungen
„Arisierungen“ in Wien
„ENTJUDUNG“ DER OSTMARK
Handwerk
Handel
Industrie
Privatbanken
Betriebe jüdischer
Eigentümer und Anteilseigner:
13.046
10.992
966
85
„arisiert“
liquidiert
1.689
11.357
1.870
9.112
719
247
8
77
Zusammengestellt nach: Der Staatskommissar in der Privatwirtschaft,
Bericht über die Entjudung der Ostmark, Wien 1. 2. 1939, S. 10.
Verbesserung der
Wettbewerbschancen des
„arischen“
Kaufmanns
an der Sachlichkeit des Urteils. Selbstverständlich sind manche Gewerbezweige weit
überbesetzt, so daß Liquidierungen erheblichen Umfangs zwingend notwendig sind. Dieser
Zustand darf aber nicht zur wahllosen Geschäftsauflösung führen.“ 70
So schrieb Wagner, Generalreferent Bürckels bei der VVST, in einem Rechenschaftsbericht im Herbst 1938. „Jedenfalls treibt der Konkurrenzneid üble Blüten.“ 71
Die Liquidierungspolitik der VVST kam den spezifischen mittelständischen Interessen entgegen. Die forcierte Verdrängung der Konkurrenten sollte die Wettbewerbschancen des
„arischen“ Kaufmanns und Gewerbetreibenden, dessen eigene ökonomische Basis durch
die Krise der dreißiger Jahre relativ instabil war, verbessern. Wenn ein Großteil der Gewerbetreibenden infolge Kapitalmangels selbst nicht mehr imstande war, seine wirtschaftliche
Situation zu verbessern, so wollte man wenigstens die Konkurrenz beseitigt wissen.
Der zeitliche und organisatorische Ablauf der Betriebsauflösungen variierte in seinem Umfang und seiner Intensität. Bedingt durch die Geschäftsplünderungen und „wilde Kommissarswirtschaft“ fand die erste große Schließungsaktion im Frühjahr 1938 statt, von der ca.
7000 Geschäfte betroffen waren.72 Durch behördlichen Konzessionsentzug wurden im
Spätsommer 1938 zahlreiche weitere Betriebe geschlossen. Die Anzahl der durch „kommissarische Verwalter“ durchgeführten Firmenliquidierungen bis zum November 1938 war
relativ gering, ungefähr ein Fünftel von ca. 26.000 Betrieben.73
Die Geschäftsplünderungen während des ➤ Novemberpogroms 1938, des „Tages und
der Nacht der langen Finger“,74 waren der Auftakt zur massenweisen Schließung von Betrieben. Bis Kriegsausbruch im September 1939 war der Prozeß der Firmenstillegungen
mehr oder weniger beendet.
In Wien wurden über 80 % der Betriebe und Geschäfte, die Juden gehört hatten, liquidiert; den geringsten Teil an Auflösungen gab es im Bereich der Industrie (26 %), während
der Handels- und der Handwerkssektor mit 83 % bzw. 87 % extrem hohe Schließungsraten
aufwiesen. Im Privatbankbereich wurden 91 % der Firmen aufgelöst.75 Differenziert man
nach Branchen im Handwerk und Einzelhandel, so wird nach offiziellen NS-Statistiken das
Ausmaß der Betriebsauflösungen deutlich sichtbar.
An der Verwertung der Warenlager, Betriebseinrichtungen und freiwerdenden Geschäftsräume meldete die Privatwirtschaft nachdrückliches Interesse an. In der Regel wurden vom
„Abwickler“ die Warenlager und sonstigen Vermögenswerte nach erfolgter Schätzung den
einzelnen Fachgruppen der gewerblichen Wirtschaft angeboten, welche sie zu niedrigen
Preisen an ihre Mitglieder weiterverkauften.76 Eine andere Verwertungsart ermöglichte
Kaufleuten und Unternehmen, bei günstigster Preislage direkt aus den Liquiditätsmassen
Einkäufe für ihre Geschäfte und Betriebe zu tätigen.77
Schlußbemerkung
Anläßlich einer Ausstellung der VVST im Sommer 1939 über die „Entjudung der ostmärkischen Wirtschaft“ präsentierte Rafelsberger die Ergebnisse des brutalen Vorgehens
gegen die österreichischen Juden. Von ca. 26.000 Unternehmen waren rund 5000
„arisiert“, über 21.000 zwangsweise aufgelöst worden. Die Interessensgruppen, die von
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Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
Hans Witek
den „Arisierungen“ und Stillegungen der Unternehmen profitierten, hatten ihre jeweiligen
Ziele zumindest zum Teil erreicht: Die „kleinen Ariseure“ hatten sich bereichert, die mittelständischen Betriebe waren lästige Konkurrenz losgeworden und konnten ihre Warenlager
billig aufstocken, Banken und Industrie ihre Expansionsbedürfnisse befriedigen und die NSund Wirtschaftsplaner ihr Konzept der Modernisierung durchführen.
Aus: Emmerich Tálos u.a. (Hrsg.):
NS-Herrschaft in Österreich, 1938-1945.
Verlag für Gesellschaftskritik, Wien 1988, S. 199-216.
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Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SOPADE), 5. Jg. 1938, Nr. 7 (Juli 1938), Reprintausgabe, Salzhausen-Frankfurt/M. 1980, S. 732 ff.; eine ähnliche Beschreibung
der Plünderung der Textilfirma „Gebrüder Schiffmann“ findet sich
bei G.E.R. Gedye, Die Bastionen fielen, Wien 1947, S. 291 f.; auch
die anderen im Zitat erwähnten Geschäftsplünderungen lassen
sich durch Akten belegen, vgl. Allgemeines Verwaltungsarchiv,
Wien (in Hinkunft: AVA), Bestand Vermögensverkehrsstelle (in
Hinkunft: VVST).
Ebenda, S. 738.
Zur Sozial- und Berufsstruktur der Wiener Juden gibt es bis heute
keine Untersuchungen.
Von insgesamt 56.000 Liegenschaften in Wien sollen ca. 8000 Juden gehört haben; wertmäßig sollen es 30 % gewesen sein. Vgl.
Karl Schubert, Die Entjudung der ostmärkischen Wirtschaft und
die Bemessung des Kaufpreises im Entjudungsverfahren, Welth.
Diss., Wien 1940, S. 72 ff.
Gerhard Botz, Stufen der Ausgliederung aus der Gesellschaft. Die
österreichischen Juden vom „Anschluß“ zum „Holocaust“. In: Zeitgeschichte, 14, H.9/10 (Juni/Juli 1987), S. 363.
Vgl. Gerhard Botz, Stufen der Ausgliederung, a.a.O., S. 360
Vgl. Gerhard Botz, Wohnungspolitik und Judendeportation in
Wien 1938-1945: Zur Funktion des Antisemitismus als Ersatz nationalsozialistischer Sozialpolitik, Wien 1975; G. Botz, Wien vom
„Anschluß“ zum Krieg: Nationalsozialistische Machtübernahme
und politisch-soziale Umgestaltung am Beispiel der Stadt Wien
1938/39, 2. Aufl., Wien 1980; vgl. Anm. 5.
Gerhard Botz, Wohnungspolitik und Judendeportation, S. 124.
Zur Tradition und Kontinuität des Wiener Antisemitismus vgl. Peter G. Pulzer, Die Entstehung des politischen Antisemitismus in
Deutschland und Österreich 1867-1914, Gütersloh 1966; Karl
Stuhlpfarrer, Antisemitismus, Rassenpolitik und Judenverfolgung
in Österreich nach dem Ersten Weltkrieg. In: Das österreichische
Judentum: Voraussetzungen und Geschichte, Wien 1974, S. 141164; Sylvia Maderegger, Die Juden im österreichischen Ständestaat
1934-1938, Wien 1973.
Susanne Heim, Götz Aly, Die Ökonomie der „Endlösung“. In:
Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik, Bd. 5, Berlin 1987, S. 21.
Zum Forschungsstand: Vgl. Gerhard Botz, „Arisierungen“ und nationalsozialistische Mittelstandspolitik in Wien 1938-1940. In: Wiener Geschichtsblätter, 29, 1 (1974), S. 122-136; G. Botz, Wien vom
„Anschluß“ zum Krieg, a.a.O., S. 328-342; Georg Weis, Arisierungen in Wien. In: Wien 1938. Forschungen und Beiträge zur Wiener
Stadtgeschichte, Wien 1978, Bd. 2, S. 183-190; Herbert Rosenkranz, Verfolgung und Selbstbehauptung. Die Juden in Österreich
1938-1945, Wien 1978, S. 60-71, und S. 126 ff., S. 165 ff.; Lieselotte
Wittek-Saltzberg, Die wirtschaftspolitischen Auswirkungen der
Okkupation Österreichs, phil. Diss. Wien 1970, S. 205-229; Helmut
Genschel, Die Verdrängung der Juden aus der Wirtschaft im Dritten Reich, Göttingen 1966, S. 160-166; zeitgenössische antisemitische Darstellung: Karl Schubert, Die Entjudung der ostmärkischen
Wirtschaft und die Bemessung des Kaufpreises im Entjudungsverfahren, Welth. Diss. Wien 1940.
Zur Liquidierung der Fa. „Grande Distillerie Damase Hobe &
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Cie.A.G.“, Wien; vgl. die Fallstudie: Michael Margules, Aufstieg
und Fall eines jüdischen Unternehmers in Wien, Diplomarbeit WU
Wien 1984; zur „Arisierung“ im Verlagswesen und im Buchhandel
vgl. Murray G. Hall, Österreichische Verlagsgeschichte 1918-1938,
Bd. 1: Geschichte des österreichischen Verlagswesens, Wien 1985,
S. 353-428.
OMGUS. Ermittlungen gegen die Deutsche Bank 1946/47, übersetzt u. bearbeitet von der Dokumentationsstelle zur NS-Politik
Hamburg, Nördlingen 1985, S. 165.
Karl Stuhlpfarrer, Antisemitismus, Rassenpolitik und Judenverfolgung in Österreich nach dem Ersten Weltkrieg. In: Das österreichische
Judentum, Hrsg. Anna Drabek u. a., Wien-München 1974, S. 155.
VVST, Karton 907, Rechtsakt 2231, Schreiben des Rechtsamts der
VVST an die Kreisleitung der NSDAP Baden, 2.9.1938.
Eine andere Position vertritt Jörg Friedrich: „Das Verbrechen des
Raubes wird in einer Form abgewickelt, die den Eigentumsbegriff
nicht beschädigt. Beschädigt werden sollen ja nur die jüdischen Eigentümer.“ Jörg Friedrich, Normierung und Legalisierung staatlicher Kriminalität. Zu den Aufgaben der Justiz im Dritten Reich. In:
Licht in den Schatten der Vergangenheit. Zur Enttabuisierung der
Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse, hrsg. v. Jörg Friedrich, Jörg
Wollenberg, Frankfurt/M., Berlin 1987, S. 58.
„Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden“
vom 26. 4. 1938, RGBL. I, 1938, S. 414 f.; jeder Jude mußte sein gesamtes Vermögen über 5000 RM anmelden und bewerten; weiters
war jede Veräußerung und Verpachtung eines gewerblichen,
land- und forstwirtschaftlichen Betriebes genehmigungspflichtig,
wenn ein Jude als Vertragsschließender beteiligt war. In Österreich war die VVST die Anmelde- und Genehmigungsbehörde.
„Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem Deutschen
Wirtschaftsleben“ vom 12.11.1938, RGBL I, 1938, S. 1580.
„Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens“ vom 3.
12. 1938, RGBL. I, 1938, S. 1709.
Vgl. A.J. van der Leeuw, Der Griff des Reiches nach dem Judenvermögen. In: Studies over Nederland in oorlogstijd, I, Gravenhage
1972, S. 211-237.
Vgl. Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden. Die
Gesamtgeschichte des Holocaust, Berlin 1980, S. 97.
Vgl. Verordnung v. 3.12.1938.
Helmut Genschel, Die Verdrängung der Juden, S. 166.
Vgl. Gesetzblatt f.d. Land Österreich, 1938, S. 406; Kundmachung
des Reichsstatthalters über die Errichtung einer Vermögensverkehrsstelle, 18. 5. 1938; AVA, Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich (in Hinkunft: Rk),
Karton 73, Ordner 144, (2160/00, Bd. 2), Geschäftsverteilungsplan
der VVST 1938.
Vgl. AVA, VVST, Karton 1379, Ministerium f. Wirtschaft und Arbeit, Zl. I- 15.545-1939, Internes Schreiben vom 14.11.1939, Übertragung der Zuständigkeiten im Entjudungsverfahren; VVST, Karton 1423, Schreiben von Dr. Kramer, Reichsstatthalterei Wien, an
Reichswirtschaftsminister vom 19.6.1940.
Wiener Zeitung, 3.6.1938, Nr. 181, S. 2.
Vgl. Institut für Zeitgeschichte München, Dok. PS 1449, Protokoll
einer Besprechung unter Görings Leitung im Reichsluftfahrtministerium, 14.10.1938.
Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
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Vgl. Jonny Moser, Das Unwesen der kommissarischen Leiter. Ein
Teilaspekt der Arisierungsgeschichte in Wien und im Burgenland.
In: Arbeiterbewegung, Faschismus, Nationalsozialismus, hrsg. v.
Helmut Konrad u.a., Wien 1983, S. 90.
Die zusammenfassende Charakterisierung des Sozialtypus der
„Kommissare“ geht aus einer Unzahl von Akten der VVST hervor.
Zu den wenigen Verhaftungen vgl. z.B. Bundesarchiv Koblenz, R
58/1080, Tagesrapporte Gestapo Wien, Oktober 1938-Jänner 1939.
Vgl. AVA, VVST, Karton 813, Bericht über die Tätigkeit des kommissarischen Verwalters L. Krabath, 6.2.1939; er verwaltete vier
Textilfirmen in Wien I., Rudolfsplatz und Umgebung.
AVA, VVST, Kt. 1408, Korrespondenz S-V, Aug. 1938-Juni 1940; Bericht über die Tätigkeit in der Ostmark von Reg. Rat. Wagner, 7. 9.
1938, S. 7 f.
Zur Reichswirtschaftshilfe vgl. Hans Kehrl, Krisenmanager im Dritten Reich, Düsseldorf 1973, S. 125 f.
Vgl. AVA, Rk, Karton 74, Ordner 145, (2160/00/1) Beschlußprotokolle über die Beiratsitzungen der VVST vom 28.9.1938 und vom
26.1.1939.
Herbert Rosenkranz, Verfolgung und Selbstbehauptung, a.a.O., S. 130.
AVA, Rk, Kt. 74, Ordner 146, (2160/14/2), Kommunique der Arisierungskommission, 7. Juli 1938.
Vgl. allgemein zu diesen Eigentumsveränderungen in der österreichischen Filmwirtschaft: Bundesarchiv Koblenz, R 55/785, „Ostmärkische Filmtheater-Betriebsges.m.b.H.“: Übernahme von jüdischen Filmtheatern in der Ostmark.
AVA, Rk, Kt. 74, Ordner 146, (2160/14/2), Schreiben der Reichsfilmkammer, Außenstelle Wien an Bürckel, 23.1.1939.
Christoph Schmidt, Zu den Motiven „Alter Kämpfer“ in der
NSDAP. In: Die Reihen fast geschlossen. Beiträge zur Geschichte
des Alltags unterm Nationalsozialismus, hrsg. von Detlev Peukert,
Jürgen Reulecke, Wuppertal 1981, S. 42.
Bundesarchiv Koblenz, R 55/785 fol. 23, Schreiben von Winkler an
das Reichsministerium f. Volksaufklärung und Propaganda,
23.8.1938.
Vgl. AVA, VVST, Karton 1374, Zl. D 6, Schreiben der VVST (Abwicklungsstelle) an Reichsstatthalterei Wien, 1. 10. 1940: „Im Laufe des Jahres 1939 wurden von der Österreichischen Kontrollbank
17 verdienten Parteigenossen (Angehörige der SS-Standarte 89)
zum Zweck der Erwerbung von Lichtspieltheatern Kredite gewährt.“
AVA, Rk, Karton 85, Ordner 167, (2205/15), Schreiben von Bürckel
an Göring, 7.12.1938.
Helmut Genschel, Die Verdrängung der Juden, a.a.O., S. 248.
Hans Mommsen, Ausnahmezustand als Herrschaftstechnik des NSRegimes. In: Hitler, Deutschland und die Mächte. Materialien zur
Außenpolitik des Dritten Reiches, hrsg. v. Manfred Funke, Düsseldorf 1977, S. 37.
Berlin Document Center, Personalakt Josef Fitzthum; Schreiben
von SS-Oberführer Kammerhofer an das SS-Gericht, 20.4.1940; Bericht von Tondock über die „Untersuchung sämtlicher in Wien von
SS-Angehörigen durchgeführten Arisierungen“, 8.3.1940; etc.; zit.
nach Radomir Luza, Österreich und die großdeutsche Idee in der
NS-Zeit, Wien, Köln, Graz 1977, S. 143 (Anm. 16.).
Bundesarchiv Koblenz, NS 19/807, Schreiben Himmlers an Heydrich,
20.9.1939.
Vgl. AVA, VVST, Karton 774, Zl. 3614-Abw/40, Aktenvermerk vom
Beauftragten der VVST (Abwicklungsstelle), Arbeitsgruppe Abwicklung, 24.6.1940.
AVA, VVST, Karton 918, RA 8973, Geschäftsbericht der Einkaufsund Treuhandgenossenschaft für die Uhren- und Juwelenbranche,
Wien I, über das Geschäftsjahr 1938, o. D.
AVA, Rk, Karton 105, Ordner 207 (2237/13), Aktenvermerk Ass.
Ernst vom 23.3.1939, betr. Tätigkeit der Einkaufs- und Treuhandgenossenschaft für die Uhren- und Juwelenbranche.
AVA, VVST, Karton 918, RA 8973, Geschäftsbericht der Einkaufsund Treuhandgenossenschaft für die Uhren- und Juwelenbranche,
Wien I, über das Geschäftsjahr 1938, o. D.
AVA, VVST, Karton 918, RA 8973, Anweisung betreffend die Rege-
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lung von Kaufpreis und Auflage der Betriebe der Juweliere und
Uhrmacher, von Rafelsberger, 15.3.1939.
AVA, VVST, Karton 771, Zl. 52-Abw./1939, Bericht des Abwicklers
für die jüdischen Einzelhandelsfirmen des Uhren- und Juwelenfaches an die VVST, 18.11.1939.
AVA, VVST, Karton 768, WS 1182, Schreiben von Staatsrat Eberhardt (Mitarbeiter Kepplers) an W. Schwarz, 6.4.1938.
Zur „Arisierung“ der Lenzinger Zellstoff- und Papierfabrik AG, vgl.
Der Kampf um Lenzing. Arisierung – Konkurs – Sanierung, hrsg.
von der Österreichischen Länderbank AG, Wien 1953, S. 3 f.; zur
„Arisierung“ der Hirtenberger Patronen- und Waffenfabrik vgl.
Franz Mathis, Big Business in Österreich. Österreichische Großunternehmungen in Kurzdarstellungen, Wien 1987, S. 148; Georg W.
F. Hallgarten, Joachim Radkau, Deutsche Industrie und Politik von
Bismarck bis in die Gegenwart, Frankfurt/M. 1986, S. 360.
AVA, VVST, Karton 1365/ Mappe Entjudungsfälle A-Z, Amtsvermerk vom 27.11.1939.
Vgl. AVA, VVST, Karton 648, St. 5092/ Band 2, Bericht der Deutschen Revisions- und Treuhand-Aktiengesellschaft, Zweigniederlassung Wien über die bei der Aktiengesellschaft Ignaz Kuffner &
Jakob Kuffner für Brauerei, Spiritus- und Preßhefe-Fabrikation
Ottakring-Döbling, Wien XVI, vorgenommene Sonderprüfung,
28.11.1938.
Vgl. AVA, Rk, Karton 75, Ordner 148, (2165/2/9), Erlaß des
Min.f.Wirt.u.Arb. an die Österreichische Kontrollbank für Industrie und Handel, 30.9.1938.
Walther Kastner, Mein Leben kein Traum, Wien 1982, S. 108.
Ebenda, S. 109.
Ebenda, S. 116 f.
Vgl. AVA, Rk, Karton 75, Ordner 148, (2165/2/5), Schreiben von
Bürckel an Reichswirtschaftsminister Funk, 8.7.1939.
Hans Fischböck, Das Bankwesen der Ostmark. In: Die Deutsche
Volkswirtschaft, Jg. 1940, Nr. 12, S. 384.
Neue Bankfirma übernimmt Rothschild Wien. In: Die Bank, 33. Jg.,
3.4.1940, Heft 14, S. 223.
Vgl. AVA, VVST, Karton 300, H. 5034, Schreiben Dr. Philippovich an
Finanzamt Innere Stadt West, 12.2.1942.
Vgl. Gerhard Botz, Wien vom „Anschluß“ zum Krieg, S. 331 ff.
Der Staatskommissar in der Privatwirtschaft, Bericht über die Entjudung der Ostmark, Wien 1. 2. 1939, S. 21.
Vgl. Heim/Aly, Die Ökonomie der „Endlösung“, a.a.O., S. 28 ff. Der
Zugriff auf „arische“ Klein- und Mittelbetriebe war erst im Rahmen des kriegswirtschaftlichen Konzentrationsprozesses gegeben,
als zahlreiche Betriebe geschlossen wurden, um Arbeitskräfte für
Großunternehmen freizumachen.
Gerhard Botz, Stufen der Ausgliederung der Juden, a.a.O., S. 365.
Vgl. Ludolf Herbst, Der totale Krieg und die Ordnung der Wirtschaft. Die Kriegswirtschaft im Spannungsfeld von Politik, Ideologie und Propaganda 1939-1945, Stuttgart 1982, S. 157.
AVA, VVST, Karton 1408, Korrespondenz S-V (August 1938-Juni
1940), Bericht über die Tätigkeit in der Ostmark ab 4. Juli 1938
von Reg. Rat. Wagner, 7.9.1938, S. 13.
Ebenda, S. 13.
Vgl. AVA, VVST, Karton 1370, Mappe Mörixbauer, Anlage zu
Schreiben des Stellvertretenden Gauleiters Scharizer an den Regierungspräsidenten Dr. Dellbrügge vom 25.4.1941.
Vgl. AVA, Handelsministerium, Nachlaß Fischböck, Karton 734,
Statistischer Bericht über die Tätigkeit der Vermögensverkehrsstelle vom 19.11.1938.
Institut für Zeitgeschichte München, Nürnberger Dokument PS
2237, Schreiben Bürckel an Göring vom 18.11.1938.
Vgl. Der Staatskommissar in der Privatwirtschaft, Bericht über die
Entjudung der Ostmark, Wien 1. 2. 1939, S. 10.
Vgl. AVA, VVST, Karton 771, Abw./79/1939, Schreiben der Wirtschaftskammer Wien, Unterabteilung Einzelhandel an die Vermögensverkehrsstelle vom 17.5.1939; vgl. auch Beschwerde der Wirtschaftsgruppe Einzelhandel über die Tätigkeit der Abwickler vom
9.5.1939.
Vgl. AVA, VVST, Karton 911, R.A. 3319, Sammelakt.
Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
D I E Z E N T R A L S T E L L E F Ü R J Ü D I S C H E A U S WA N D E R U N G I N W I E N
JONNY MOSER
Die ➤ Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Wien wurde im August 1938 errichtet,1
sie sollte eine rationellere Enteignung der auswanderungswilligen Juden erbringen und deren Ausreiseabfertigung verkürzen. Die Zentralstelle besorgte und verschaffte keine Einreisegenehmigungen in andere Länder, wie sie auch keine Schiffskarten verkaufte; sie war
realiter ein Paßamt, das sich mittels Abgaben von Juden selbst finanzierte. Die Zentralstelle
für jüdische Auswanderung war im Rothschild-Palais, Wien IV, Prinz Eugen-Straße 22, heute
Sitz der Arbeiterkammer für Wien, untergebracht.
Der Gedanke zur Gründung eines solchen Amtes war ➤ Eichmann, dem Gründer und ersten Leiter der Zentralstelle, sogleich nach dem „Anschluß“ gekommen. Er war ein sehr ambitiöser SS-Führer und aufmerksamer Beobachter, der rasch erkannte, wie man mit brutaler
Gewalt die Juden einschüchtern und andererseits durch schöne Versprechungen leicht erpressen konnte. Daneben hatte er die großen Möglichkeiten für eine schnellere Arisierung
wahrgenommen, die sich aus der Finanzierungsmethode der ➤ Gildemeester-Auswanderungs-Hilfsaktion ergaben. Und Eichmann bemerkte die administrativen Schwierigkeiten bei
der Paßbeschaffung der Juden, die sich einerseits für die Wiener Polizei ergaben, weil man
den Juden ein separates Paßamt in Wien V, Wehrgasse, geschaffen hatte, das mit zu wenig Beamten bestückt war. Manche auswanderungswilligen Juden waren tage-, ja wochenlang angestellt, ehe sie ihre Ausreisepapiere erhielten. Alle diese Vorgänge unter ein Dach
zu bringen, schien mit der Gründung der Zentralstelle für jüdische Auswanderung zu lösen
zu sein.
Dabei war Eichmann vom SD-Hauptamt lediglich nach Wien entsandt worden, um bei
den jüdischen Organisationen Archive, Bibliotheken und anderes einschlägige Material
über das Judentum und den Zionismus sicherzustellen. Eichmann war seit 1934 Referent in
der Abteilung „Judenangelegenheiten“ – Kurzbezeichnung II 112 – im SD-Hauptamt in Berlin, im Range eines SS-Führers. Diese Abteilung befaßte sich zu dieser Zeit rein theoretisch
mit dem Judentum und mit einer Lösung der „Judenfrage“ in Form der Auswanderung, die
nach dem „Anschluß“ die Formen einer Vertreibung annahm. Als SD-Führer hatte Eichmann
zur Zeit des „Anschlusses“ noch keine Exekutivgewalt bei der Vertreibung der Juden, diese
lag bei den Leitern des Judenreferates der ➤ Gestapo. Allerdings fand Eichmann hier in
Österreich freiere Betätigungsmöglichkeiten, zumal hier in Wien noch keine Kompetenzgrenzen fixiert worden waren und er zudem weder vom SD-Hauptamt noch vom Leiter des
SD-Oberabschnitts Österreich, Franz Stahlecker, in irgendeiner Form behindert worden
war.
Eichmann kontaktierte fleißig seine früheren Kampfgefährten aus der illegalen Zeit, traf
mit ihnen offiziell und gesellig zusammen und erhielt derart verhältnismäßig viele Informationen. Er stand in gutem Einvernehmen mit dem Judenreferat der Gestapo Wien und nahm
an den Aktionen gegen die jüdischen Organisationen aktiv teil. Seine Informationen über
das Judentum in Österreich, die er dem SD-Hauptamt übermittelte, erregten dort große Aufmerksamkeit, und die von ihm en masse nach Berlin gesandten Archivmaterialien gaben
der Abteilung für Judenangelegenheiten nunmehr einen besseren Einblick in das Judentum
und in den Zionismus.2
Bei der Hausdurchsuchung im ➤ Palästinaamt,3 das die Agenden der ➤ Jewish Agency
(politische Vertretung der Juden in Palästina) in Österreich wahrnahm und auch die Landeszentrale der zionistischen Verbände Österreichs beherbergte, ließ sich Eichmann die Vertreter der Zionisten Österreichs vorführen, um unter ihnen jenen auszuwählen, den er später
mit der Leitung dieses Amtes betrauen wollte. Und am 18. März 1938 nahm Eichmann bei
der Durchsuchung der Amtsräume der ➤ Israelitischen Kultusgemeinde in Wien teil. Bei
dieser Aktion wurden auch zwei Zahlungsbelege über eine Wahlfondsspende in der Höhe
von öS 800.000.- an die ➤ Vaterländische Front gefunden. Sie waren der formale Anlaß,
das Präsidium der Israelitischen Kultusgemeinde Wien festzunehmen, die Amtsräume zu
Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
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Raschere
„Arisierung“ durch
die GildemeesterAuswanderungsHilfsaktion
Terror und
Schikanen, um
Juden zur schnelleren Auswanderung zu zwingen
Die Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Wien
schließen und jede Amtstätigkeit vorläufig zu untersagen. Der wahre Grund für diese Maßnahmen war jedoch einzig und allein, die führungs- und vertretungslos gewordenen Juden
Wiens zu schikanieren und zu terrorisieren, um sie für eine schnellere Auswanderung gefügig zu machen.
Aber Eichmann benützte das Auffinden der beiden Spendenbelege für die Durchführung
der Schuschniggschen Volksbefragung am 13. März 1938 auch, um den Juden Wiens dieselbe Summe Geldes nochmals abzuverlangen: dieses Mal für die Volksabstimmung am
10. April 1938. Diese Vorgangsweise brachte Eichmann viel Ansehen beim Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich, ➤ Joseph Bürckel, ein,
sie wurde in den Wiener NS-Führungskreisen wie auch im SD-Hauptamt respektvoll registriert. Diese Wahlfondsspende der Israelitischen Kultusgemeinde Wien war für Schuschniggs beabsichtigte Volksbefragung aus tiefster österreichischer Überzeugung zur Verfügung gestellt worden. Der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, Staatsrat
Dr. Desider Friedmann, wurde am 10. März 1938 von ➤ Schuschnigg persönlich von seinem verzweifelten Entschluß, das Volk von Österreich am 13. März entscheiden zu lassen,
unterrichtet. Als Vorsitzender des Verbandes der Israelitischen Kultusgemeinden Österreichs
war sich Friedmann seiner Verantwortung für das Geschick der jüdischen Gemeinschaft in
Österreich vollauf bewußt, zumal die angesetzte Volksbefragung den letzten Rettungsversuch für den Weiterbestand eines unabhängigen und freien Österreich darstellte. Welcher
aufrechte Österreicher konnte zu diesem Zeitpunkt seine Hilfe versagen, wo zudem noch
klar war, daß der Weiterbestand oder Fall Österreichs mit der Lebensfrage der Österreicher jüdischer Konfession engstens verbunden war.
Der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, Dr. Desider Friedmann, und die
Vizepräsidenten, Oberbaurat Ing. Robert Stricker wie der Rat der Stadt Wien, Dr. Jakob
Ehrlich, wurden mit dem ersten Österreichertransport am 1. April 1938 in das Konzentrationslager Dachau verschickt.4
Der Amtsdirektor der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, Dr. Josef Löwenherz, wurde
von Eichmann zurückgehalten, er sollte nach Eichmanns Plan, wenn die Juden Wiens die
strafweise verfügte Kontribution von 550.000 Reichsmark aufgebracht hatten, wieder in
seine alte Position als Leiter der Kultusgemeinde eingesetzt werden.
Am 8. April 1938 richteten Amtsvorstand Emil Engel und Oberrabbiner Dr. Israel Taglicht
ein Schreiben an alle Kultussteuerträger der Gemeinde, worin sie auf die derzeitige prekäre finanzielle Lage der Kultusgemeinde hinwiesen und aufriefen, einen freiwilligen Zuschlag
in der Höhe von mindestens 50 % der bisherigen Kultussteuer zu bezahlen, zumal die Kultusgemeinde den Betrag von RM 550.000,- aufzubringen habe, ehe die Kultusgemeinde ihre Amtstätigkeit wieder aufnehmen könne. Es sind „überaus ernste und unausweichliche
Gründe“, die den Vorstand zu dieser Aufforderung an die Steuerträger zwängen, zumal
„von deren Erfüllung das künftige Geschick der Gemeinde und ihrer Angehörigen entscheidend beeinflußt werden wird“.5 Am Freitag, dem 15. April 1938, wurde von den Kanzeln
aller Wiener Synagogen ein Aufruf des Oberrabbiners Dr. Taglicht verlesen, in dem er an
die Gemeindemitglieder appellierte und „die Zahlung des geforderten Geldes als eine unabdingbare Notwendigkeit“, ja als eine „religiöse Pflicht“ bezeichnete.6 Das westliche Ausland wußte ganz genau, daß diese Zahlung der Israelitischen Kultusgemeinde Wien an
den Wahlfonds der Nationalsozialisten zu leisten war.7 Und in einem Brief am 23. April
1938 schreibt Eichmann an seinen Freund und Vorgesetzten Herbert Hagen: „Löwenherz
ist enthaftet. Er und Dr. Rottenberg vom Palästinaamt bekamen von mir den Auftrag, bis
zum 27. April ein genaues Aktionsprogramm betr. Kultusgemeinde und Zionistischen Landesverband für Österreich auszuarbeiten.“ Nebenbei bemerkte Eichmann: „RM 200.000,zahlten sie bereits. Engel muß weitere Eintreibungen vornehmen. ... Ende nächster Woche
wird die Kultusgemeinde und darauf der zionistische Landesverband aufgemacht.“ 8
Damit hatte Eichmann seiner Dienststelle vorgeführt, wie man mit Druck und Terror die
„Judenfrage“ lösen sollte. Er hatte in Österreich auch allen Unterabschnitten des Sicherheitsdienstes wie auch den Referenten der Abteilung Juden einen Überblick über diese Materie
22
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Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
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gegeben.9 Am 8. Mai 1938 meldet er seinem Freund Herbert Hagen nach Berlin: „Sämtliche jüdischen Organisationen in Österreich sind zur achttägigen Berichterstattung angehalten worden. Dieselben werden dem jeweiligen Sachbearbeiter II 112 übergeben. Am
Freitag der nächsten Woche erscheint die erste Nummer der zionistischen Rundschau (…)
und bin gerade bei der langweiligen Arbeit der Zensur. Die Zeitung geht Euch selbstverständlich auch zu. Es wird gewissermaßen ‚meine‘ Zeitung werden. Jedenfalls habe ich die
Herrschaften auf Trab gebracht, was Du mir glauben kannst. Sie arbeiten derzeit auch
schon sehr fleißig. Ich habe von der Kultusgemeinde (…) eine Auswanderungszahl von
20.000 mittellosen Juden für die Zeit vom 1. April 1938 bis 1. Mai 1938 verlangt (…) Morgen kontrolliere ich wieder den Laden der Kultusgemeinde (…) Ich habe sie hier vollständig
in der Hand, sie trauen sich keinen Schritt ohne vorherige Rückfrage bei mir zu machen.“ 10
Über die Lage der Lösung der „Judenfrage“ in Österreich berichtete er Hagen: „Die Lage
der Dinge ist jetzt folgende: Arisierung. Juden in der Wirtschaft usw. behandeln, laut Erlaß
Gauleiter Bürckels. Das weitaus schwierigere Kapitel, die Juden zur Auswanderung zu
bringen, ist Aufgabe des SD. Auf diese (…)“ ist alles ausgerichtet. Über seine persönliche
Situation war er im unklaren. Er meinte „als Abteilungsleiter auf einen Unterabschnitt“ zu
kommen, zumal die „Sache in Wien läuft“. Diese Arbeit hier zu verlassen, „täte mir ehrlich
leid, zumal ich sie gerne machte“, schrieb er Hagen, „aber Du wirst ja verstehen, daß ich
mit meinen 32 Jahren nicht gerne ‚zurückgehe‘.“ Und er hatte hier in Wien unter den NSund SD-Führern Fürsprecher: Er blieb also in Wien.11
In diesen Apriltagen 1938, als die Amtstätigkeit der Israelitischen Kultusgemeinde Wien
stillgelegt war und Eichmann seine Position im SD-Hauptamt festigte, bemühten sich verschiedene Personen jüdischer Abkunft, mit österreichischen Nationalsozialisten in Kontakt
zu kommen, um ihnen einen für sie faszinierenden Plan zur Lösung der „Judenfrage“ in
Österreich vorzutragen. Der Gedanke war der, die jüdische Auswanderung zu forcieren,
indem man sich gleichzeitig des Vermögens der auswandernden Juden bemächtigen könne. Vermögenden Juden sollten Einreisemöglichkeiten in überseeische Staaten verschafft
werden, worauf diese auf ihr gesamtes Vermögen zugunsten des Reichs verzichteten. Von
diesem Vermögen sollten fünf bis zehn Prozent einem Fonds, dem Auswanderungsfonds
zufließen, aus dem die Auswanderung mittelloser Juden bestritten würde. Eine Hilfsstelle
unter der Leitung einer geeigneten Person sollte geschaffen werden. Und dieser Mann fand
sich in der Person des Holländers Frank van Gheel Gildemeester, der sich immer schon
humanitären Aufgaben gewidmet und während der Zeit des ➤ Ständestaates inhaftierte
Nationalsozialisten betreut hatte. Über Mittelsmänner wurde dieser Plan dem Minister für
Arbeit und Wirtschaft, ➤ Dr. Hans Fischböck, vorgelegt und von ihm gutgeheißen. Gildemeester nahm unter der Bezeichnung Gildemeester-Auswanderungs-Hilfsaktion im April
1938 seine Arbeit auf. Zum Fondsführer des Auswanderungsfonds in der ➤ Vermögensverkehrsstelle des Ministeriums für Arbeit und Wirtschaft wurde SS-Obersturmführer Dkfm. Fritz
Kraus bestellt. Als juristischer Berater fungierte Dr. Erich Rajakowitsch.12
Wie diese Ausreisebeschaffung und Enteignung vor sich ging, soll am Beispiel der Familie Kuffner aufgezeigt werden. Die Besitzer der Ottakringer Brauerei, Moritz und Stefan
von Kuffner, waren unter dem Vorwand staatsfeindlicher Betätigung von der Gestapo festgenommen worden. Zur „Einstellung ihres Verfahrens“ kam es erst, als sie „das Einverständnis“ schriftlich abgaben, 35 % ihres Vermögens, das nach den Feststellungen des „staatlichen Treuhänders“ 9 Millionen Reichsmark betrug, dem Reich zu übergeben. Ihre Bankguthaben, Anteilscheine, Gemäldegalerie und Sternwarte waren nach dem „Anschluß“ beschlagnahmt worden. Es wurde daher an Zahlungsstatt der „ganze immobile Kuffnersche
Liegenschaftsbesitz“ im Werte von 2,5 Millionen Reichsmark übernommen. Als Empfänger
dieses Liegenschaftsbesitzes wurde von der Gestapo der Auswanderungsfonds Wien nominiert. Nach der Bezahlung der ➤ Reichsfluchtsteuer und aller anderen Abgaben verblieb
den Familienmitgliedern Kuffner lediglich ein namhafter Betrag auf einem ➤ Sperrkonto,
über den sie jedoch nie verfügen konnten. Für eine Ausreisegenehmigung hatten sie auf all
ihr Vermögen zu verzichten.13
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Ausreise
unter
Vermögensverzicht
Die Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Wien
Die Grenzen
werden
geschlossen
Eichmanns Idee
einer Zentralstelle
für jüdische
Auswanderung
Bis zum Sommer 1938 war Eichmanns Stellung in Österreich endgültig gefestigt. Er hatte
die Finanzierung der Gildemeester-Hilfsaktion genau verfolgt und stand mit Dr. Rajakowitsch und Dkfm. Kraus in engem Kontakt. Er hatte die ungeheuren Anstrengungen der
Israelitischen Kultusgemeinde gesehen, Einreisegenehmigungen von den amerikanischen
Hilfsorganisationen zu erhalten, und erkannte die begrenzten Möglichkeiten einer Palästinaauswanderung aufgrund des englischen ➤ Weißbuches. Die Konferenz von Evian zur
Lösung der Auswanderungsprobleme der jüdischen Flüchtlinge aus Österreich und Deutschland war gescheitert. So mancher lateinamerikanische Staat schloß erst jetzt seine Grenzen für Juden aus Österreich, und selbst die USA waren nicht geneigt, die deutsche Einwanderungsquote zu erhöhen. Die Schweiz schloß nun völlig ihre Grenzen gegenüber
österreichischen Juden. Ja, mehr noch, sie nahm Kontakt mit ➤ Himmler auf, um sich vor
weiteren jüdischen Einreisenden besser schützen zu können, und verlangte eine Kennzeichnung der Reisepässe der Juden mit einem „J“. Und in Wien ergaben sich infolge der einsetzenden antijüdischen Gesetzesflut, des Kennkartenzwangs und der Annahme des
Zusatzvornamens „Israel“ oder „Sara“ für die Polizeiämter viele zusätzliche Belastungen.
Zur Finanzierung der erhöhten Ansprüche an die Israelitische Kultusgemeinde Wien führte
Eichmann auch ein Gespräch mit verantwortlichen Leuten der Reichsbank. Von den Geldern, die die ausländischen Hilfsorganisationen der Israelitischen Kultusgemeinde Wien
zur Verfügung stellten, sollten Auswanderern die benötigten Devisen abgegeben werden,
sie hatten jedoch dafür den doppelten Kurswert zu bezahlen. Dieses Agio kam der Kultusgemeinde zur Erfüllung ihrer vielfachen sozialen Aufgaben zugute. Die Idee einer zentralen Stelle, von der die jüdischen Auswanderer schneller abgefertigt werden könnten, beschäftigte Eichmann immer mehr. Die Finanzierung dieser Zentralstelle sollte in Form einer
Auswanderungsabgabe erfolgen. Jeder auswandernde Jude hatte vor der Paßeinreichung
seine Bemessungsgrundlage berechnen zu lassen, die zwischen einem und zehn Prozent
des Vermögens betrug. Vermögenslose Juden hatten mindestens fünf Reichsmark zu bezahlen. Derart gelangte die Zentralstelle zu so vielen Geldern, daß sie später die Israelitische
Kultusgemeinde damit subventionierte und die Kosten des Abtransportes der Juden in die
Vernichtungslager bestritt. Allein 1939 gewährte die Zentralstelle für jüdische Auswanderung der Israelitischen Kultusgemeinde Wien eine Subvention von RM 977.000,-.14 Den
Gedanken der Schaffung einer Zentralstelle für jüdische Auswanderung trug Eichmann
schließlich seinem unmittelbaren Vorgesetzten, dem Chef des SD-Oberabschnittes Österreich, Dr. Franz Stahlecker, vor und fand dessen Zustimmung. Auch ➤ Heydrich war dafür,
wie auch die Stadt Wien und der Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs
mit dem Deutschen Reich diesem Plan zustimmten. Anfang August 1938 nahm die Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Wien, die offiziell dem SD-Oberabschnitt Österreich
unterstellt war, ihre Arbeit auf.15
Mit der Leitung der Zentralstelle für jüdische Auswanderung wurde Adolf Eichmann
betraut, der sofort seine Männer hierher holte. Es waren dies Theodor Dannekker, Rolf und
Hans Günther, Franz Novak, im Herbst 1938 wurde Alois Brunner eingestellt, ein Jahr
später folgte ihm Anton Brunner. Mit der Arbeitsaufnahme der Zentralstelle für jüdische Auswanderung wurde mittels Druck und Einschüchterung die erzwungene Auswanderung von
Juden wesentlich erhöht. Waren vom „Anschluß“ bis zum Juli 1938 rund 18.000 Juden vertrieben worden, so betrug diese Zahl für die Zeit August bis Oktober 1938 32.000, und
bis zum Juli 1939 flüchteten weitere 54.000 Juden aus Österreich. Ende November 1939
hatten insgesamt 126.445 Juden inklusive der im Oktober 1939 nach Nisko Deportierten
Österreich verlassen. In diesen eineinhalb Jahren haben amerikanische jüdische Hilfsorganisationen 1,6 Millionen Dollar für Auswanderungszwecke der Israelitischen Kultusgemeinde
zur Verfügung gestellt.16
In einem Artikel „Die Judenfrage – ein brennendes Problem“ berichtete der „Völkische
Beobachter“ (Wiener Ausgabe) am 13. Mai 1939, daß „nach zehnmonatiger Tätigkeit“
die Zentralstelle für jüdische Auswanderung stolz darauf sein könne, „insgesamt 99.672
Juden mosaischer Konfession“ zur Auswanderung gebracht zu haben.
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Die Zentralstelle für jüdische Auswanderung erregte schon sehr bald nach ihrer Gründung Aufmerksamkeit im Dritten Reich und genoß in NS-Kreisen größtes Ansehen. Bei der
Sitzung im Reichsluftfahrtministerium am 12. November 1938, zwei Tage nach dem ➤ Novemberpogrom, berichte Heydrich, daß die Zentralstelle für jüdische Auswanderung aus
„Österreich immerhin 50.000 Juden herausgebracht“ habe, „während im Altreich in der
gleichen Zeit nur 19.000 Juden“ ausgewandert seien. Dazu meinte ➤ Göring hämisch:
„Vor allen Dingen habt ihr mit den örtlichen Führern der grünen Grenze zusammengearbeitet. Das ist die Hauptsache.“17
Und Ministerialrat Bernhard Lösener vom Reichsministerium des Inneren sprach anerkennende Worte über die Zentralstelle für jüdische Auswanderung. „Unter seiner (Eichmanns)
Führung durchwanderte ich sämtliche Auswanderungseinrichtungen, die er in Wien
geschaffen hatte. (…) Die Korridore vor den unterschiedlichen Büros (…) waren gedrängt
voll von jüdischen Menschen (…) Frauen rissen ihre Kinder erschreckt beiseite, sobald sie
Eichmann sahen, der unbekümmert wie auf leerer Straße dahinging und alles beiseite
stieß, was da an menschlichem Unglück harrte (…) Im Büro der Synagogengemeinde (Kultusgemeinde) sprangen alle sofort hoch, als wir eintraten (…) Eichmann rief sie beim Namen auf, (…) gab ihre Aufgaben an,und sofort surrten sie wie dressierte Tiere ihre Angaben herunter. Der Ausdruck berechtigter Todesangst war auf jedem Gesicht zu lesen.“18
Göring schien trotz seiner skeptischen Worte an Heydrich von der Leistung der Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Wien überrascht und beeindruckt gewesen zu sein,
denn am 24. Jänner 1939 erteilte er Heydrich den Auftrag, in Berlin eine „Reichszentrale
für jüdische Auswanderung“ zu errichten.19 Sie wurde erst im Herbst 1939 gegründet und
im ➤ Reichssicherheitshauptamt eingebaut. Auch hier wurde Eichmann mit der Leitung betraut. Vorerst jedoch wurde am 26. Juli 1939 in Prag eine Zentralstelle für jüdische Auswanderung errichtet, die von Eichmann persönlich geleitet wurde. Und später, 1940, wurde nach der Besetzung der Niederlande selbst in Amsterdam eine Zentralstelle eingerichtet.
Unstimmigkeiten bei der Erfassung von arbeitsfähigen Männern zwischen der Israelitischen Kultusgemeinde und der Gildemeester-Auswanderungs-Hilfsaktion führten im September 1939 zu einer Registrierung aller in Österreich lebenden Juden im Sinne der ➤ Nürnberger Gesetze. Die erfaßten Personen mußten karteimäßig der Zentralstelle für jüdische
Auswanderung übergeben werden und ständig à jour gehalten werden. Daneben wurde
eine neuerliche Erfassung des jüdischen Vermögens bei den hier noch befindlichen Juden
durchgeführt.20 Damit war ein Weg aufgezeigt, den Eichmann und jede ihm unterstellte
Stelle bei der Endlösung der „Judenfrage“ vorerst beschritt. Die Juden, einmal zahlen-,
namens- und adressenmäßig erfaßt, ihre Vermögenswerte bekanntgegeben, waren leicht in
Vernichtungslager abzutransportieren.
In Österreich und in Mährisch-Ostrau versuchten Eichmann und Stahlecker auch die ersten Deportierungen, um Erfahrungen beim Abtransport größerer Menschenmengen zu bekommen. Während der Kämpfe in Polen, im September 1939, kamen sie auf den glorreichen Gedanken, selbst da ein Judenreservat einzurichten. Juden aus Wien und MährischOstrau wurden in je zwei Transporten dahin verschickt. Dafür wurde sogar in MährischOstrau kurzfristig eine Zentralstelle für jüdische Umsiedlung eingerichtet. Diese Art einer territorialen Lösung der „Judenfrage“ scheiterte an Hitlers Einspruch. Für ihn gab es nur eine
Entfernung der Juden aus dem Dritten Reich oder deren Vernichtung.
Mit der Ausweitung des Krieges verlor die Auswanderung der Juden immer mehr ihre Bedeutung. Nach dem Kommissarerlaß Hitlers im Juni 194121 erteilte Göring am 31. Juli
194122 den Auftrag, die Endlösung der „Judenfrage“ in Angriff zu nehmen. Die Vernichtung der im Reich verbliebenen und der in den besetzten Gebieten befindlichen Juden war
nun beschlossene Sache, die bei der berüchtigten ➤ „Wannsee-Konferenz“ 23 lediglich nur
mehr die staatliche Administration in diesen Prozeß einbezog. Die Zentralstellen für jüdische Auswanderung waren ausersehen, die Deportationen in die ➤ Vernichtungslager
durchzuführen. Aus den bei diesen Stellen aufliegenden Namenskarteien wurden die
Deportationslisten zusammengestellt, und aus den bis 1941 eingehobenen, aber für jeden
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Die Wiener
Zentralstelle als
Vorbild
Die Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Wien
zur Deportation bestimmten Juden zu bezahlenden Auswanderungs- bzw. Abwanderungsabgaben wurden die Kosten für den Abtransport bestritten.
Am Beispiel Wiens ersieht man, daß nach den großen Deportationsaktionen im Herbst
1942 die Aufgaben der Zentralstelle erfüllt waren. Die Zentralstelle übersiedelte aus dem
Rothschild-Palais in die jüdische Schule in Wien II, Castellezgasse 35, und wurde im März
1943 aufgelöst. Die Agenden für die hier verbliebenen restlichen Juden wurden der Gestapo übergeben. Der letzte Leiter der Wiener Zentralstelle, Alois Brunner, wurde nach Saloniki abkommandiert, um die Deportierung der griechischen Juden zu organisieren. Die Abteilung Eichmanns im Reichssicherheitshauptamt und Eichmanns Handlanger wurden die Exekutoren des Genozids an den Juden Europas.
Aus: Kurt Schmidt/Robert Streibel (Hrsg.):
Der Pogrom 1938. Judenverfolgung in Österreich und Deutschland,
Picus Verlag, Wien 1990, S. 96–100
1
2
3
4
5
6
7
8
9
Gerhard Botz: Wien vom „Anschluß“ zum Reich, Wien-München
1978, S. 252f.
Eichmann-Prozeß Jerusalem, Beweisdokument Nr. 1512; Herbert
Rosenkranz: Verfolgung und Selbstbehauptung. Die Juden in
Österreich 1938-1945, Wien - München 1978, S. 71.
Jewish Telegraphic Agency: Bulletin 186 v. 14.3.1938 ; Rosenkranz
(Anm. 2), S. 51.
Rosenkranz (Anm. 2), S. 49.
Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes: DÖW
1972 Siehe auch: J. Moser: Das Schicksal der Wiener Juden in den
März- und Apriltagen 1938, in: März 1938, Forschungen und
Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte II, Wien 1978, S. 175.
Widerstand und Verfolgung in Wien 1934-1945. Hrsg. Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes, Bd. III, Wien
1975, S. 229.
J. Moser (Anm. 5), S. 176.
Jewish Telegraphic Agency: Bd. IV, Nr. 16, 19.4.1938.
Eichmann-Prozeß Jerusalem, Beweisdokument Nr. 1515.
26
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11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
ebenda, Beweisdokument Nr. 1169 und Nr. 1513.
ebenda, Beweisdokument Nr. 1515.
ebenda.
Widerstand (Anm. 6), S. 235, Anm. 1.
ebenda, S. 235f Allg.Verwaltungsarchiv, Rk 209 (2240/4).
Report of the Vienna Jewish Community. Hrsg. Benjamin Murmelstein, Wien 1940, S. 140.
Botz (Anm. 1), S. 252f.
ebenda, S. 253f.
Nürnberger Dokument PS 1816.
Vierteljahreszeitschrift für Zeitgeschichte, Juli 1961, S. 292.
Nürnberger Dokument PS 710.
Jüdisches Nachrichtenblatt (Wien), 8. und 15.9.1939.
H. Jacobsen, Kommissarerlaß und Massenexekution sowjetischer
Kriegsgefangener, in: Anatomie des SS-Staates, dtv-Taschenbuchverlag, Nr. 463, München 1967, Bd. II, S. 143ff.
Robert M. W. Kempner: Eichmann und Komplizen, Zürich – Stuttgart – Wien 1961, S. 126ff.
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D E L O G I E R T, D E P O R T I E R T, E R M O R D E T
GEORG SCHEUER
Meine Eltern Heinrich und Alice Scheuer wurden am 1. August 1938 wegen „nichtarischer“ Herkunft aus ihrer Wohnung im Gemeindehaus Wien 3., Neulinggasse 39,
delogiert, dann „umgesiedelt“ und schließlich 1942 deportiert und ermordet.
Sie waren als junge Menschen zu Beginn des Jahrhunderts nach Wien gekommen,
meine Mutter aus Temesvar und mein Vater aus Schaffa bei Znaim (Südmähren). Vor dem
Ersten Weltkrieg hatten sie sich kennengelernt und geheiratet und wohnten bis 1925 im
3. Bezirk, in einer „Zinskaserne“, Matthäusgasse 12 (Zimmer, Küche, Kabinett, Klo und
Bassena am Gang mit anderen Wohnparteien). Hier wohnte schon meine Großmutter
Rosa Scheuer mit ihren Kindern, hier kam ich 1915 zur Welt und verbrachte meine ersten
zehn Lebensjahre.
Mein Vater war seit 1908 Redakteur des „K. k. Telegrafenbüros“ – nach dem „Umsturz“
„Amtliche Nachrichtenstelle“ – und somit Staatsangestellter. Ab 1918 waren meine Eltern
Mitglieder der SDAPÖ. 1925 übersiedelten wir in den 7. Bezirk, Neustiftgasse 54. Die
Wohnung war etwas größer, jedoch im obersten Stockwerk ohne Lift. 1931 bekamen wir
nach längerer Wartezeit die Gemeindewohnung in der Neulinggasse, aus der wir dann
1938 delogiert wurden. Zugleich wurde mein Vater nach dreißigjähriger Tätigkeit für den
österreichischen Staat entschädigungslos „beurlaubt“.
In der Neulinggasse wohnten wir zu viert, meine Eltern, meine Schwester und ich, sieben Jahre lang seit der Errichtung des Hauses. Es war 1930/31 unter dem Bürgermeister
Karl Seitz gebaut worden. Amtsführender Stadtrat war damals ➤ Hugo Breitner für Finanzen und ➤ Anton Weber für Wohnungswesen. Die Wohnung bestand aus einem Wohnzimmer, einem Schlafzimmer, zwei Kabinetten und einer kleinen Küche, in der wir eine
Duschnische eingebaut hatten, da ein Badezimmer nicht vorgesehen war. Vom Wohnzimmer ging ein kleiner Balkon auf den Innenhof. Ich sah meine Eltern 1938 zum letztenmal.
Meinen Vater am 11. März, wenige Stunden vor dem Einmarsch der Hitlertruppen („Anschluß“). Er war damals 53 Jahre alt, ich 22. Ich war einige Wochen vorher, nach der
von Bundeskanzler ➤ Schuschnigg verfügten politischen Generalamnestie, aus dem Zuchthaus Stein entlassen worden und in unsere Wohnung in die Neulinggasse 39 zurückgekehrt, wo ich im November 1936 wegen „roter“ Agitation und Propaganda verhaftet worden war. Ich war zu fünf Jahren Kerker verurteilt und am 19. Februar amnestiert und freigelassen worden. Mein Vater, der sich von mir politisch distanziert hatte, verhalf mir an
jenem 11. März 1938 zu einer rechtzeitigen Ausreise, Emigration. Meine Mutter, sie war
49 Jahre alt, begleitete mich mit einem letzten Autobus nach Znaim, wo uns die Nachricht
vom soeben begonnenen Überfall der Hitlertruppen auf Österreich überrumpelte. Trotz
dieses Ereignisses kehrte meine Mutter nach Wien in die Neulinggasse zurück. Beide Eltern waren überzeugt, daß ihnen als loyalen Staatsbürgern, meinem Vater insbesondere
als loyalem Staatsbeamten unter drei Regimen (Monarchie, Republik, Ständestaat), „nichts
passieren“ könne.
Im Juni 1938 erhielt mein Vater von einem Ferdinand Holzer, Obermagistratsrat des nun
von den Nazis verwalteten Wiener Magistrats, eine „Aufkündigung“, laut welcher unsere
Wohnung bis spätestens 1. August 1938, 12 Uhr mittags, „geräumt zu übergeben“ war.
Verzweifelt und vergeblich wehrten sich Heinrich und Alice Scheuer gegen das Unrecht.
Mein Vater erhob am 29. Juni 1938 Einspruch gegen die Kündigung in einem Schreiben
an die Nazibehörden (siehe Kasten S. 28).
Er erhielt daraufhin am 7. Juli 1938 von der ➤ Magistratsabteilung 21 eine „Ladung“ zu
einer „Verhandlung“ am 11. Juli 1938 im Zimmer 74, Verhandlungssaal VIII, 3. Stock, und
am folgenden Tag einen schriftlichen Bescheid: „Kündigung ist nunmehr rechtskräftig.“ Die
Wohnung wurde nun einem Michael Gilhofer neu vermietet.
Die „arischen“ Nachbarn verhielten sich, nach Aussage meiner Schwester, die noch
bis September 1938 in Wien weilte, zu diesen Vorgängen passiv, zum Teil jedoch
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Delogierung
aufgrund
„nichtarischer“
Herkunft
Vom Staat
entschädigungslos
„beurlaubt“
Vergebliche
Einsprüche gegen
die „Kündigung“
Passives Verhalten
„arischer“ Nachbarn
Delogiert, deportiert, ermordet
EINSPRUCH GEGEN DIE KÜNDIGUNG VOM 29.6.1938 AN DIE NAZIBEHÖRDE
„Ich habe heute die gerichtliche Verständigung erhalten, daß ich meine
Wohnung, 3., Neulinggasse 39, mit Ende Juli d. Js. zu räumen habe.
Ich bitte um gütige Rücknahme der Kündigung u.zw. mit folgender
Begründung.
Seit meiner Kindheit wohne ich in Wien bzw. sind meine Eltern, Großeltern
und Urgroßeltern nachweisbar in Österreich angesiedelt.
Mit meinem 18. Lebensjahr trat ich in den Staatsdienst, Amtliche Nachrichtenstelle. Während des Krieges, den ich wegen meines gelähmten Beines nicht
mitmachen konnte, war ich in der Redaktion der Amtlichen Nachrichtenstelle
so wie andere Kollegen bei der damals besonders verantwortungsvollen Kriegsberichterstattung mittätig.
Nach dem Kriege wurde ich Lokalberichterstatter und als solcher fast zwanzig
Jahre Kommunalreferent der Gemeinde Wien für die Amtliche Nachrichtenstelle, also sowohl für den Staat als auch für die Stadt amtlich tätig, meine
Pflichten stets korrekt und ordentlich erledigend.“
In einem zweiten Absatz fügte Heinrich Scheuer hinzu:
„Wenn es erlaubt ist, meine Bitte um Zurücknahme der Wohnungskündigung
auch mit privaten Gründen zu unterstützen, so wäre es u.a. der Umstand,
daß ich szt. 1931, als ich hier einzog, eine Mieterschutzwohnung, VII,
Neustiftgasse 54, die sehr billig war, dem Wohnungsamt zur Verfügung stellte,
daß ich gegenwärtig noch immer als aktiver, allerdings beurlaubter Staatsbeamter der in Liquidation befindlichen Amtlichen Nachrichtenstelle figuriere,
da mein Personalakt zur Behandlung im Bureau des Herrn Staatssekretärs
Dr. Wächter erliegt, daß ich also gar nicht weiß, wie sich mein künftiges
Schicksal gestalten werde, welche Höhe die Pension haben wird, also auch
nicht weiß, welche Wohnung ich mir werde nehmen können, wobei ja auch
nur eine Mittelwohnung wie bisher und im 1. Stockwerke wegen meines
Leidens in Betracht kommen kann, und ich ja noch für zwei unversorgte
Kinder sorgen muß.
Ich brauche wohl nicht besonders zu betonen, daß ich mich niemals politisch
betätigt habe und daß ich mit meinen Berufskollegen aus allen Zeitungen
ebenso gut ausgekommen bin wie hier im Hause mit allen Parteien, worüber
ich jederzeit in der Lage wäre, dies bestätigen zu lassen.
Aus all diesen Gründen wiederhole ich die Bitte, mein Ansuchen um
Rücknahme der Wohnungsaufkündigung einer geneigten Befürwortung den
in Betracht kommenden Stellen zu unterbreiten.“
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Georg Scheuer
bestürzt oder jedenfalls „korrekt“. Erwähnenswert ist eine Episode mit unserem damaligen
Nachbarn H. Bujak. Er war bis 1934 Redakteur der „Arbeiter-Zeitung“ gewesen, stand
dann den Revolutionären Sozialisten nahe, hatte aber auch Verbindung zu illegalen Nationalsozialisten. Er empfand den Sturz der ➤ Schuschnigg-Diktatur, die ihn brotlos gemacht
hatte, als Befreiung, wurde vom Jubelrausch des „Anschlusses“ mitgerissen und versicherte
seinem Journalistenkollegen Heinrich Scheuer, dem unter dem Schuschnigg-Regime der Titel eines „Regierungsrates“ verliehen worden war und der ihm, Bujak, in diesen vier Jahren Austrofaschismus gelegentlich Hilfe und Gelegenheitsarbeiten verschafft hatte, er,
Heinrich Scheuer, habe nach dem neuen Regimewechsel 1938 nichts zu befürchten: Er,
Bujak, habe Beziehungen zur illegalen NSDAP, und man könne auf seine Solidarität als
Wohnnachbar und Journalistenkollege rechnen. Dies war meines Erachtens ehrlich gemeint und entsprach seinem Charakter, wie ich ihn in den vorhergehenden Jahren seit
1934 kennengelernt hatte. Bujak war mutig, riskierte einiges im illegalen Untergrund gegen die Schuschnigg-Diktatur, und es zeugte auch von Mut, in den Tagen nach dem nazideutschen Einmarsch demonstrativ zum „Juden“ Scheuer rüberzukommen und diesem die
Hand zu schütteln. Heinrich Scheuer war von dieser Demonstration offensichtlich einigermaßen überrascht und reagierte mit betonter Zurückhaltung. Er hatte das Ausmaß der nun
hereinbrechenden Barbarei nicht vorhergesehen und war überfordert. Dies erklärt auch
die Lähmung in den folgenden Monaten, in welchen nichts Wirksames unternommen wurde, um eine Ausreise zu bewerkstelligen.
Meine Eltern mußten nun in eine winzige Wohnung im 5. Bezirk, Siebenbrunnengasse
65, übersiedeln. Hier konnten sie nur 20 Monate bleiben, bis zum 2. Jänner 1940. Sie
zogen dann in eine noch kleinere Wohnung im 3. Bezirk, Gärtnergasse 8. Hier war die
Bleibe 18 Monate bis zum 30. Juni 1941. Schließlich wurden sie am 1. Juli 1941 in das
Ghetto im 2. Bezirk, Czerningasse 12, gepfercht und nach zehn Monaten, am 20. Mai
1942, nach Minsk deportiert und in der Nähe dieser Stadt, in Mali-Trostinetz ermordet.
Ihre letzte Botschaft erreichte meine Schwester Rose Scheuer in London über das Internationale Rote Kreuz, datiert vom 24. Februar 1942, abgestempelt am 12. März.
Von sechzig Mietparteien des Hauses wurden zwölf von den Nazibehörden als „nichtarisch“ befunden. Alle mußten in den Monaten nach dem „Anschluß“ ihre Wohnung
räumen.
Als erster verließ Franz Beer (Stiege 4/Tür 15) im Mai 1938 seine Wohnung; sie wurde
am 3. Juni einem Leopold Bauer neu vermietet.
Der Buchsachverständige Jakob Antschel (Stg. 4/12) verwies in einem Beschwerdebrief
auf seine alte, kranke Mutter und auf seinen Bruder Dr. Maximilian Antschel: „Er war Offizier, Frontkämpfer, kriegsverwundet und ausgezeichnet (Kriegsdekorationen) und ist an den
Folgen des Krieges im Jahr 1931 gestorben.“ Es nützte ihm nichts. Seine Wohnung wurde
am 1.10.1938 einem Kurt Marschelke übergeben.
Dr. Eduard Eisler (Stg. 4/14) war Bundesbeamter, von ihm liegt kein Beschwerdebrief
vor. Seine Wohnung bekam im August ein Rudolf Kosnar.
Eduard Engel (Stg. 3/3) war Gewerkschaftssekretär. Er begnügte sich mit zwei Zeilen
Einspruch. Seine Wohnung bekam im August ein Hubert Lusun.
Dr. Hermann Gaschke (Stg. 1/6) war Rechtanwalt. Auch von ihm liegt kein Einspruch
vor. Seine Wohnung bekam am 29. Juli ein Rudolf Wessely.
Max Gewürz (Stg. 3/10) war Kaufmann. Er begnügte sich mit zwei Zeilen „Einwendungen“. Seine Wohnung bekam im November 1938 ein Dr. Karl Hofbauer.
Olga Kleebinder (Stg. 1/3) war anscheinend ohne Beruf. Es liegt nichts Näheres vor,
wer die Wohnung im Dezember bekam.
Professor Oskar Kreisky (Stg. 1/7), ein Onkel des späteren Bundeskanzlers, bemühte den
Rechtsanwalt Dr. Ignaz Berl und machte Einwendungen. Er mußte trotzdem im August ausziehen. Seine Wohnung bekam ein Johann Ableidinger.
Der Bankbeamte Dr. Otto Mandl (Stg. 4/6) bat um „Erstreckung des Kündigungstermines
auf Ende September“ und verwies auf seine beiden kleinen Kinder, vier Jahre und fünf
Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
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Zwangsübersiedlung
Delogiert, deportiert, ermordet
Wochen alt. Er hoffte, bis Ende September eine Ausreisemöglichkeit zu haben, und schrieb
am 1. Juli 1938: „Mit den kleinen Kindern wäre ein Umzug für die Frist unseres hiesigen
Aufenthaltes sehr schwierig und bitte ich daher um Verlängerung des Kündigungstermines.“
Dennoch wurde die Kündigung am 30. Juli für den 1. August bestätigt. Die Wohnung bekam ein Hubert Lusun.
Dr. Than (Stg. 4/5), ein Bankbeamter, bat, ihm die Wohnung wenigstens bis zum 30.
September mit seinen Kindern zu belassen. Seine Frau, Anna Nicoletta Than, präsentiert
sich als „Arierin“ und unterzeichnet „ergebenst“ mit „Heil Hitler!“
„Ich bewohne mit meiner Familie die Wohnung Nr. 5 des städtischen Hauses 3. Bezirk,
Neulinggasse 39, Stiege IV. Ich selbst bin Arierin, römisch-katholisch, meine Kinder, ein
dreizehnjähriger Bub und ein siebenjähriges Mädchen, sind Mischlinge. Mit unserem Pensionseinkommen von Reichsmark 182,- monatlich ist es sehr schwer, bei Aufrechterhalten
der Kündigung in der Zeit bis zum 31.7.38 eine andere Wohnung zu finden, und meine
Lage ist dadurch noch besonders erschwert, daß ich einen Nervenzusammenbruch erlitten
habe und infolge meines leidenden Zustandes (häufige Ohnmachtsanfälle) den Aufregungen einer Wohnungssuche und Übersiedlung nicht gewachsen bin.“ Sie wurde dennoch
am 25. August gekündigt, die Wohnung bekam eine Katharina Schredt.
Schließlich ersuchte auch Dr. Kolmann, Vertrauensarzt der Krankenkasse, vergeblich um
„Aufschub“. Seine Wohnung bekam ein Alfred Lugner.
Mit meinen Eltern Heinrich und Alice wurden damals ausnahmslos alle meine in Mitteleuropa verbliebenen Familienangehörigen von den Nazibehörden verhaftet, deportiert und
ermordet. So Heinrichs Schwester Lina und deren Mann Hermann Hahn in Stockerau, seine
Schwester Therese und deren Mann Moritz Kubin in Wien 7., Seidengasse, Heinrichs Bruder Julius Scheuer und Neffe Felix Hauser in Wien 3., Krieglergasse, Siegfried und Ernst
Scheuer in Mähren. Sie alle wurden mit Millionen Schicksalsgenossen im „Holocaust“ der
vierziger Jahre grausam vernichtet.
Und nun die immer wiederkehrende bohrende Frage: Mußte das so ablaufen? Meine
Mutter war nach dem „Anschluß“ im März 1938 mit mir bereits in der Tschechoslowakei.
Sie mußte keineswegs in das Nazireich zurückkehren. Sie hätte ihren Mann nachkommen
lassen können, wie ich es ihr in Znaim eindringlich riet, und mit ihm wie die beiden „Kinder“ Georg und Rose den Nazischergen entrinnen können.
Immer wieder hatte ich meinen Eltern damals und schon in den Jahren davor das Wesen des Faschismus und insbesondere des Nazifaschismus zu erklären versucht und ihnen
prophezeit: „Sie werden euch ausrotten.“ Hitler war ja schon seit 1933 in Deutschland
an der Macht und hatte seit 1924 in „Mein Kampf“ alles angekündigt. Tausendfach hatten wir die Sprechchöre gehört: „Juda verrecke!“ Meine Eltern hatten das nicht ernstgenommen.
Meine Mahnungen und Warnungen wurden in den Wind geschlagen, als dummes Gerede eines 23jährigen „Weltfremden“ abgetan. Ich wurde als „Spinner“ ausgegrenzt. Meine
Eltern, insbesondere mein Vater, vertrauten fest auf ihre „Bürgerrechte“, auf „Mieterschutz“,
auf „Ersparnisse“ und auf „Pensionsansprüche“. Sie nahmen die offen und zynisch
angekündigten Vernichtungspläne der Hitlerdiktatur nicht zur Kenntnis. Bis zur fristlosen Entlassung, Delogierung, Enteignung, Beraubung und Deportation. Es ist grausam, diesen Tatbestand auch 50 Jahre später festzuhalten. Aber es ist doch notwendig für die Nachgeborenen, einige Lehren daraus zu ziehen.
Aus: Herbert Exenberger u.a.: Kündigungsgrund „Nichtarier“.
Die Vertreibung jüdischer Mieter aus den Gemeindebauten in den Jahren 1938-1939.
Picus Verlag, Wien 1996, S. 194 – 200.
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Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
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ANSUCHEN UM EINE GESCHÄFTSÜBERNAHME
Hoch geehrter Herr Minister!
Gestatten Sie, dass ich in nachfolgender Angelegenheit an Sie herantrete
und um Ihre Unterstützung bitte.
Ich bewerbe mich im Arisierungsweg um die Firma Adolf Huppert,
I., Opernring 13 und lauft mein Gesuch (…) seit Wochen.
Es hat noch ein zweiter Bewerber eingereicht.
Dieses Geschäft soll die Basis für die Lebensexistenz meines Sohnes Hartmann
Decker sein (ill. Pg.). [d. h. illegaler Parteigenosse]
Sie, verehrter Herr Minister, kennen meine Lauterkeit, meine selbstlose
Tätigkeit durch 25 Jahre für das österreichische Bekleidungsgewerbe und
würden einige Wort von Ihrer Seite meinen Bestrebungen förderlich sein.
Mein betont nationaler Standpunkt während meiner Handelskammertätigkeit
(deutsch-österr. Ausschuss für Anschluss, resp. Zollunion) hat es mit sich
gebracht, dass ich durch Schuschnigg und besonders Bürgermeister Schmitz
zurückgestellt wurde und ich jede Mitarbeit einstellte.
Bin Parteimitglied seit Mai 1938.
Da in wenigen Tagen die Entscheidung in dieser Arisierungssache fallen muss,
wollte ich sie bitten, mich gütigst zu empfangen.
Heil Hitler!
Ihr ergebener Carl Decker 1
1 AVA, Handelsministerium, Präs., Auskünfte 1938,
Karton 707, Zl. 2417 – 1938,
Schreiben Kommerzialrat Carl Decker, 19.12.1938
Aus: Hans Safrian, Hans Witek: Und keiner war dabei.
Dokumente des alltäglichen Antisemitismus in Wien 1938.
Picus Verlag, Wien 1988, S. 109f.
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Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
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Zwangsarbeit im „Dritten Reich“
Ein Überblick
Dimensionen der Zwangsarbeit
in Österreich
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Zwangsarbeit
Zwangsarbeit wurde während des Nationalsozialismus in fast allen Bereichen der deutschen und der österreichischen Wirtschaft, sowohl in den großen Betrieben der Rüstungsindustrie wie auch im Baugewerbe, in der Landwirtschaft, in kleineren Gewerbebetrieben, im
Fremdenverkehr und in Haushalten geleistet.
Obwohl die Bedeutung der Zwangsarbeit für die nationalsozialistische Wirtschafts- und
Rüstungspolitik schon unmittelbar nach dem Krieg bekannt war, ist „Zwangsarbeit“ in der
Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit in Österreich erst in jüngster Zeit zum
Thema geworden.
Im gesamten Deutschen Reich waren es schätzungsweise mehr als 12 Millionen Menschen (siehe der Beitrag von Ulrich Herbert im vorliegenden Band), die – hauptsächlich
zwischen 1939 und 1945 – zwangsweise zur Arbeit eingesetzt wurden. Zwangsarbeit
wurde sowohl von Kriegsgefangenen, von zivilen ausländischen Arbeitskräften, von KZHäftlingen, von Roma und Sinti, ungarischen Juden und Jüdinnen und anderen diskriminierten und verfolgten Gruppen geleistet, von Männern ebenso wie von Frauen.
Die Arbeits- und Lebensbedingungen der ZwangsarbeiterInnen waren sehr unterschiedlich, sowohl hinsichtlich ihres Status und ihres Einsatzbereiches als auch hinsichtlich ihrer
nationalen Herkunft. Die zivilen ausländischen ZwangsarbeiterInnen etwa kamen aus mehr
als zwanzig Ländern, darunter aus Polen, der damaligen Sowjetunion, Frankreich, Italien,
Holland, Belgien, Griechenland. Die sogenannten „Westarbeiter“ und „Westarbeiterinnen“
standen in der rassistischen Hierarchie der Nationalsozialisten an oberster Stelle, Polen
und Polinnen, sogenannte „Ostarbeiter“ und „Ostarbeiterinnen“, Roma und Sinti, Juden
und Jüdinnen am Ende dieser Hierarchie.
Ulrich Herbert schildert in seinem Beitrag den Verlauf des Zwangsarbeitseinsatzes im
Deutschen Reich im Zusammenhang mit den kriegswirtschaftlichen Überlegungen der
Nationalsozialisten und geht dabei auch auf die unterschiedlichen Arbeits- und Lebensbedingungen von ZwangsarbeiterInnen ein.
Bis auf wenige Ausnahmen in Gestalt deutscher Firmen ist in Deutschland und Österreich
bis heute keine Entschädigung für Zwangsarbeit geleistet worden, entsprechende Anträge
ehemaliger ZwangsarbeiterInnen wurden auch von den Gerichten immer wieder abgelehnt.
Erst in der jüngsten Vergangenheit hat das Thema eine größere Öffentlichkeit gefunden.
Mehr als ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende zeichnet sich in beiden Ländern nun
möglicherweise eine Lösung der Entschädigungsfrage ab. Diskutiert werden allerdings
noch Höhe und Form der Auszahlungen und ob sich außer betroffenen Firmen auch der
deutsche bzw. der österreichische Staat an der Einrichtung von Fonds beteiligt.
Der Zeithistoriker Florian Freund skizziert im Interview die Dimension der Zwangsarbeit
für Österreich daher sowohl in historischer Perspektive als auch hinsichtlich der aktuellen
Debatte über Entschädigung für Zwangsarbeit.
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Z WA N G S A R B E I T E R I M „ D R I T T E N R E I C H “ – E I N Ü B E R B L I C K
ULRICH HERBERT
Die Heranziehung von Millionen von Arbeitskräften zur Zwangsarbeit während des Zweiten Weltkrieges war eines der wesentlichen Kennzeichen nationalsozialistischer Arbeitspolitik – in Deutschland selbst wie im ganzen von den Deutschen besetzten Europa. Allerdings
umfaßt der Begriff „Zwangsarbeiter“ eine Vielzahl von Personengruppen mit zum Teil sehr
verschiedenen Arbeitsverhältnissen. Ihnen allen war gemeinsam, daß es ihnen verwehrt
wurde, Arbeitsstelle und Arbeitgeber nach eigenem Willen auszusuchen oder zu verlassen
und daß sie besonderen gesetzlichen oder sonstigen behördlichen Bestimmungen unterlagen, welche sie in der Regel besonders schlechten sozialen Bedingungen unterwarfen und
ihnen rechtliche Einspruchsmöglichkeiten versagten.1 Dabei ist der Begriff „Zwangsarbeit“
vernünftigerweise deutlich abzusetzen von solchen Arbeitsverhältnissen, die zwar deutschen Reichsbürgern vorübergehend oder auf Dauer zugeordnet werden konnten, aber aufgrund der Gesamtwürdigung der Lebensumstände eher als Dienstverpflichtung denn als
Zwangsarbeit zu bewerten sind – der Reichsarbeitsdienst etwa, die Dienstverpflichtung zum
Bau der Autobahnen oder auch das „Landjahr“ für Mädchen.
Es hat sich hierbei bewährt, drei große, in bezug auf Status, Art und Weise der Rekrutierung, soziale Lage, Rechtsgrundlage der Beschäftigung, Dauer und Umstände des Arbeitsverhältnisses sehr unterschiedliche große Gruppen voneinander zu unterscheiden:
1. die ausländischen Zivilarbeiter und Kriegsgefangenen, die zwischen
1939 und 1945 zum Arbeitseinsatz nach Deutschland gebracht
und im Volksmund „Fremdarbeiter“ genannt wurden; 2
2. die Häftlinge der Konzentrationslager im Reichsgebiet sowie –
in geringerem Umfang – in den besetzten Gebieten vor allem Osteuropas; 3
3. die europäischen Juden, die in ihren Heimatländern, vor allem aber
nach ihrer Deportation für kürzere oder längere Zeit Zwangsarbeiten
verrichten mußten – in Gettos, Zwangsarbeitslagern oder KZ-Außenlagern.4
Nicht behandelt wird hier, abgesehen von den jüdischen Zwangsarbeitern, die Heranziehung von Bewohnern der von der Wehrmacht besetzten Länder zur Zwangsarbeit in diesen
Ländern außerhalb der Konzentrationslager. Hierüber ist nicht nur der Forschungsstand ausgesprochen disparat, es werden in den verschiedenen Ländern auch ganz unterschiedliche
Definitionen von „Zwangsarbeit“ verwendet, die von der zwangsweisen Arbeitsleistung in
KZ-ähnlichen Lagern bis zur Dienstverpflichtung von Unterstützungsempfängern durch die
einheimische Arbeitsverwaltung reichen.
I.
Rüstungswirtschaftliche Vorbereitungen auf den
Krieg – Mangel an
Arbeitskräften
Der nationalsozialistische „Ausländereinsatz“ zwischen 1939 und 1945 stellt den größten
Fall der massenhaften, zwangsweisen Verwendung von ausländischen Arbeitskräften in der
Geschichte seit dem Ende der Sklaverei im 19. Jahrhundert dar. Im Spätsommer 1944 waren auf dem Gebiet des „Großdeutschen Reichs“ 7,6 Mio. ausländische Zivilarbeiter und
Kriegsgefangene offiziell als beschäftigt gemeldet, die man größtenteils zwangsweise zum
Arbeitseinsatz ins Reich gebracht hatte. Sie stellten damit zu diesem Zeitpunkt etwa ein
Viertel aller in der gesamten Wirtschaft des Deutschen Reiches registrierten Arbeitskräfte.
Gleichwohl war der „Ausländer-Einsatz“ von der nationalsozialistischen Führung vor
Kriegsbeginn weder geplant noch vorbereitet worden.
Bei den rüstungswirtschaftlichen Vorbereitungen Deutschlands auf den Krieg gab es drei
große Engpässe – Devisen, bestimmte Rohstoffe und Arbeitskräfte. Für Devisen und Rohstoffe gab es eine Lösung: Nach dem Konzept der „Blitzkriege“ sollten die Ressourcen des
Reiches sukzessive durch die Vorräte der zu erobernden Länder erweitert werden. Dieses
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Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
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Ulrich Herbert
Konzept hatte sich in den Fällen Österreich und Tschechoslowakei bereits bewährt und sollte sich in den Jahren 1939 bis 1945 erneut bestätigen. Die Frage der Beschaffung von Arbeitskräften war schwieriger zu bewältigen, denn hier spielten außer wirtschaftlichen auch
sicherheitspolizeiliche und vor allem weltanschauliche Faktoren eine Rolle. Etwa 1,2 Mio.
Arbeitskräfte fehlten im „Großdeutschen Reich“, ein weiterer Anstieg dieses Bedarfs nach
Beginn des Krieges war zu erwarten.
Zwei Möglichkeiten standen zur Debatte: Entweder man beschäftigte – wie im Ersten
Weltkrieg – deutsche Frauen in großem Umfang in der Wirtschaft, oder man importierte
aus den zu erobernden Ländern Arbeitskräfte in großer Zahl. Beides aber stieß in der Regimeführung auf Ablehnung. Die Dienstverpflichtung deutscher Frauen während des Ersten
Weltkriegs hatte zu erheblicher innenpolitischer Destabilisierung und Unzufriedenheit geführt; zudem hätte sie einen eklatanten Verstoß gegen das frauen- und sozialpolitische Konzept der Nationalsozialisten dargestellt.5 Millionen von ausländischen Arbeitern, insbesondere von Polen, ins Reich zur Arbeit zu bringen, kollidierte vehement mit den völkischen
Prinzipien des Nationalsozialismus, wonach auch eine massenhafte Beschäftigung von
„Fremdvölkischen“ im Reich die „Blutreinheit“ des deutschen Volkes bedroht hätte.
Die Entscheidung fiel erst nach Kriegsbeginn; im Vergleich zweier Übel schien der Ausländereinsatz gegenüber der Dienstverpflichtung deutscher Frauen das geringere zu sein,
weil man hier die erwarteten Gefahren leichter repressiv eindämmen zu können glaubte.
Die etwa 300.000 in deutsche Hand gefallenen polnischen Kriegsgefangenen wurden
nun sehr schnell vorwiegend in landwirtschaftliche Betriebe zu Arbeit gebracht. Gleichzeitig begann eine Kampagne zur Anwerbung polnischer Arbeiter, die zunächst an die
langen Traditionen der Beschäftigung polnischer Landarbeiter in Deutschland anknüpfte,
aber nach kurzer Zeit zu immer schärferen Rekrutierungsmaßnahmen überging und seit
dem Frühjahr 1940 in eine regelrechte Menschenjagd im sogenannten ➤ „Generalgouvernement“ mündete, wo mit jahrgangsweisen Dienstverpflichtungen, kollektiven Repressionen,
Razzien, Umstellungen von Kinos, Schulen oder Kirchen Arbeitskräfte eingefangen wurden.
Bis zum Mai 1940 war auf diese Weise mehr als eine Million polnischer Arbeiter ins Reich
gebracht worden.
Gleichwohl empfand man den „Poleneinsatz“ in der Regimeführung nach wie vor als Verstoß gegen die „rassischen“ Prinzipien des Nationalsozialismus; den daraus erwachsenden
„volkspolitischen Gefahren“, so ➤ Himmler im Februar 1940, sei mit entsprechend scharfen
Maßnahmen entgegenzuwirken. Daraufhin wurde gegenüber den Polen ein umfangreiches
System von repressiven Bestimmungen entwickelt: Sie mußten in Barackenanlagen wohnen,
was sich allerdings auf dem Lande in der Praxis bald als undurchführbar erwies; sie erhielten geringere Löhne, durften öffentliche Einrichtungen (vom Schnellzug bis zur Badeanstalt)
nicht benutzen, den deutschen Gottesdienst nicht besuchen; sie mußten länger arbeiten als
Deutsche und waren verpflichtet, an der Kleidung ein Abzeichen – das „Polen-P“ – befestigt
zu tragen. Kontakt zu Deutschen außerhalb der Arbeit war verboten, geschlechtlicher Umgang mit deutschen Frauen wurde mit öffentlicher Hinrichtung des beteiligten Polen geahndet. Um „das deutsche Blut zu schützen“, war zudem bestimmt worden, daß mindestens
die Hälfte der zu rekrutierenden polnischen Zivilarbeiter Frauen zu sein hatten.6
Für die deutschen Behörden war der Modellversuch „Poleneinsatz“ insgesamt ein Erfolg:
Es gelang sowohl, binnen kurzer Zeit eine große Zahl von polnischen Arbeitern gegen
ihren Willen nach Deutschland zu bringen, als auch im Deutschen Reich eine nach „rassischen“ Kriterien hierarchisierte Zweiklassengesellschaft zu installieren.
Bereits im Mai 1940 aber war unübersehbar, daß auch die Rekrutierung der Polen den
Arbeitskräftebedarf der deutschen Wirtschaft nicht zu befriedigen vermochte. So wurden
denn schon während und alsbald nach dem „Frankreichfeldzug“ etwas mehr als 1 Mio.
französischer Kriegsgefangener als Arbeitskräfte ins Reich verbracht. Darüber hinaus begann in den verbündeten Ländern und besetzten Gebieten des Westens und Nordens eine
verstärkte Arbeiter-Werbung. Auch für diese Gruppen wurden jeweils besondere, allerdings
im Vergleich zu den Polen deutlich günstigere Vorschriften für Behandlung, Lohn, Unterkunft
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Der „Poleneinsatz“
als Modellfall
Zwangsarbeiter im „Dritten Reich“ – ein Überblick
Vom „Blitzkrieg“
zum
Abnutzungskrieg
Zwangsarbeitseinsatz zwischen
rassistischer
Ideologie und
kriegswirtschaftlichen Zielen
etc. erlassen, so daß ein vielfach gestaffeltes System der nationalen Hierarchisierung entstand, eine Stufenleiter, auf der die damals bereits so genannten „Gastarbeitnehmer“ aus
dem verbündeten Italien zusammen mit den Arbeitern aus Nord- und Westeuropa oben und
die Polen unten plaziert wurden.7
Der weit überwiegende Teil der ausländischen Zivilarbeiter und Kriegsgefangenen der
„Blitzkriegphase“ bis Sommer 1941 wurde in der Landwirtschaft beschäftigt. Bei den Industrieunternehmen spielten Ausländer zu dieser Zeit keine bedeutende Rolle; die Industrie
setzte vielmehr darauf, bald nach Abschluß der „Blitzkriege“ ihre deutschen Arbeiter vom
Militär zurückzuerhalten. Zugleich waren die ideologischen Vorbehalte gegen eine Ausweitung des Ausländereinsatzes bei Partei und Behörden so groß, daß festgelegt wurde, die
Zahl der Ausländer auf dem Stand vom Frühjahr 1941 – knapp 3 Mio. – einzufrieren. Dieses Konzept ging so lange auf, wie die Strategie kurzer, umfassender Feldzüge eine Umstellung auf einen langen Abnutzungskrieg nicht erforderte.
Seit dem Herbst 1941 aber entstand hier eine ganz neue Situation. Die deutschen Armeen
hatten vor Moskau ihren ersten Rückschlag erlebt, von einem „Blitzkrieg“ konnte nicht mehr
die Rede sein. Vielmehr mußte sich nun die deutsche Rüstungswirtschaft auf einen länger andauernden Abnutzungskrieg einstellen und ihre Kapazitäten erheblich vergrößern. Auch mit
heimkehrenden Soldaten war nicht mehr zu rechnen – im Gegenteil: Eine massive Einberufungswelle erfaßte jetzt die Belegschaften der bis dahin geschützten Rüstungsbetriebe. Durch
die nun einsetzenden intensiven Bemühungen um Arbeitskräfte aus den westeuropäischen
Ländern allein waren aber diese Lücken nicht mehr zu schließen. Nur der Einsatz von Arbeitskräften aus der Sowjetunion konnte eine weitere, wirksame Entlastung bringen.
Der Arbeitseinsatz sowjetischer Kriegsgefangener oder Zivilarbeiter im Reich aber war
vor Beginn des Krieges explizit ausgeschlossen worden. Dabei hatten sich nicht nur Parteiführung, ➤ Reichssicherheitshauptamt und ➤ SS aus „rassischen“ und sicherheitspolitischen
Gründen gegen jede Beschäftigung von Russen in Deutschland ausgesprochen. Vielmehr
war die Siegesgewißheit im überwiegenden Teil der an der Vorbereitung des Krieges beteiligten Stellen der Regimeführung und der Wirtschaft so groß, daß ein solcher Einsatz von
vornherein als nicht notwendig angesehen wurde, so daß anders als bei der Beschäftigung
von Polen diesmal die ideologischen Prinzipien des Regimes durchschlugen. Darüber hinaus
gab es auch in der deutschen Bevölkerung starke, durch die ersten Wochenschaubilder
vom Krieg in der Sowjetunion noch verschärfte Vorbehalte gegen einen „Russeneinsatz“.8
Da also keine kriegswirtschaftliche Notwendigkeit ihrer Beschäftigung im Reich zu bestehen schien, wurden die Millionen sowjetischer Kriegsgefangener in den Massenlagern im
Hinterland der deutschen Ostfront ihrem Schicksal überlassen. Mehr als die Hälfte der 3,3
Millionen bis Ende des Jahres 1941 in deutsche Hand geratenen sowjetischen Kriegsgefangenen verhungerte, erfror, starb vor Erschöpfung oder wurde umgebracht. Insgesamt kamen bis Kriegsende von den etwa 5,7 Mio. sowjetischen Kriegsgefangenen 3,5 Millionen
in deutschem Gewahrsam ums Leben.9
Als sich aber seit dem Spätsommer 1941 und verstärkt dann im Winter dieses Jahres die
militärische und damit auch die kriegswirtschaftliche Lage Deutschlands rapide wandelte,
entstand erneut ein ökonomischer Druck zur Beschäftigung auch der sowjetischen Gefangenen, der sich im November in entsprechenden Befehlen äußerte. Die Initiative dazu ging
diesmal von der Industrie, insbesondere vom Bergbau, aus, wo der Arbeitermangel bereits
bedrohliche Formen angenommen hatte.
Die überwiegende Mehrzahl der sowjetischen Gefangenen aber stand für einen Arbeitseinsatz gar nicht mehr zur Verfügung. Von den bis dahin mehr als 3 Mio. Gefangenen
kamen bis März 1942 nur 160.000 zum Arbeitseinsatz ins Reich. Daher mußte nun auch
hier in großem Stile auf die Rekrutierung sowjetischer Zivilarbeiter umgeschaltet werden.
Die Beschaffung von so vielen Arbeitskräften in so kurzer Zeit wie möglich wurde zur
vordringlichen Frage und zur Hauptaufgabe des im März neu eingesetzten „Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz“, ➤ Sauckel, der seine Aufgabe mit ebensoviel Effizienz wie schrankenloser Brutalität erfüllte. In knapp zweieinhalb Jahren wurden von den
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Einsatzstäben der Wehrmacht und der deutschen Arbeitsämter 2,5 Mio. Zivilisten aus der
Sowjetunion als Zwangsarbeiter ins Reich deportiert – 20.000 Menschen pro Woche.
Parallel zu der Entwicklung bei Beginn des „Poleneinsatzes“ wurde auch dieser kriegswirtschaftlich motivierte Verstoß gegen die ideologischen Prinzipien des Nationalsozialismus durch ein System umfassender Repression und Diskriminierung der sowjetischen Zivilarbeiter kompensiert, das die Bestimmungen gegenüber den Polen an Radikalität allerdings
noch weit übertraf.
Innerhalb des Reiches hatte sich mittlerweile ein regelrechter Lagerkosmos herausgebildet; an jeder Ecke in den großen Städten wie auf dem Lande fanden sich Ausländerlager.
Allein in einer Stadt wie Berlin gab es etwa 500, insgesamt mögen es im Reich mehr als
20.000 gewesen sein, und etwa 500.000 Deutsche waren in verschiedenen Funktionen,
vom Lagerleiter bis zum „Ausländerbeauftragten“ einer Fabrik, direkt in die Organisation
des „Ausländereinsatzes“ einbezogen.
Die Lebensbedingungen der einzelnen Ausländergruppen wurden durch eine strikte, bis
in Kleinigkeiten reglementierte nationale Hierarchie differenziert.10 Während die Arbeiter
aus den besetzten Westgebieten und den sog. befreundeten Ländern zwar überwiegend in
Lagern leben mußten, aber etwa dieselben Löhne und Lebensmittelrationen wie die Deutschen in vergleichbaren Stellungen erhielten und auch denselben Arbeitsbedingungen unterlagen, waren die Arbeiter aus dem Osten, vor allem die Russen, ganz erheblich schlechter gestellt. Die Rationen für die offiziell „Ostarbeiter“ genannten sowjetischen Zivilarbeiter
fielen so gering aus, daß sie oft schon wenige Wochen nach ihrer Ankunft völlig unterernährt und arbeitsunfähig waren.
Schon im Frühsommer 1942 berichteten zahlreiche Unternehmen, daß der „Russeneinsatz“ ganz unwirtschaftlich sei, weil eine effektive Beschäftigung nicht nur eine bessere
Verpflegung und ausreichende Ruhepausen, sondern auch dem Arbeitsvorgang entsprechende Anlernmaßnahmen für die Zwangsarbeiter voraussetze. Solche Maßnahmen hatten
bei den französischen Kriegsgefangenen dazu geführt, daß die Arbeitsleistungen nach relativ kurzer Zeit beinahe das Niveau der deutschen Arbeiter erreichten. Die Lage vor allem
der sowjetischen Zwangsarbeiter war allerdings von Betrieb zu Betrieb, von Lager zu Lager sehr unterschiedlich; in der Landwirtschaft ging es ihnen in der Regel erheblich besser
als in der Industrie, und auch dort waren die Unterschiede in der Behandlung und der
Ernährung eklatant, vor allem seit Ende 1942. Das aber verweist darauf, wie groß der
Handlungs- und Ermessensspielraum des einzelnen Unternehmens war. Es kann überhaupt
keine Rede davon sein, daß die schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiter
aus dem Osten allein auf die bindenden Vorschriften der Behörden zurückzuführen gewesen seien.
Zu wirksamen Verbesserungen der Lebensverhältnisse der „Ostarbeiter“ in breitem Maße
kam es allerdings erst nach der Niederlage in Stalingrad Anfang 1943; eine umfassende
Leistungssteigerungskampagne setzte ein, verbunden mit einer Bindung der Höhe der Lebensmittelration an die Arbeitsleistung, zugleich begannen umfangreiche Qualifizierungsmaßnahmen. Dadurch gelang es tatsächlich, die Arbeitsleistungen beträchtlich zu erhöhen.
Eine qualifizierte Beschäftigung mußte aber auch zwangsläufig Auswirkungen auf das Verhältnis der deutschen zu den ausländischen Arbeitern haben. So war denn schon in den
entsprechenden Vorschriften der Behörden alles getan worden, um die bevorzugte Stellung
der deutschen Arbeiter gegenüber den Ausländern, insbesondere aber den Russen, in allen
Bereichen durchzusetzen. Gegenüber den „Ostarbeitern“ hatten die Deutschen prinzipiell
eine Vorgesetztenstellung, in manchen Betrieben erhielten die deutschen Arbeiter, die die
„Ostarbeiter“ anlernen sollten, sogar die Funktion von Hilfspolizisten.
Was nun die Löhne betrifft, so gab es hierbei grob gesprochen ein vierfach gestaffeltes System. Die zivilen Arbeitskräfte aus allen Ländern außer den ehemals polnischen und sowjetischen Gebieten erhielten die gleichen Löhne wie die deutschen Arbeiter bzw. Arbeiterinnen
in vergleichbaren Funktionen – zumindest nominell. Es gibt vielfache Berichte darüber, daß
dies in der Praxis nicht immer so gehandhabt wurde, wie von den Behörden vorgeschrieben.
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Arbeits- und
Lebensbedingungen der ZwangsarbeiterInnen
Zwangsarbeiter im „Dritten Reich“ – ein Überblick
Das aber soll hier unberücksichtigt bleiben. Nominell die gleichen Löhne sollten auch polnische Arbeiter erhalten, allerdings mußten sie eine besondere 15prozentige Steuer, die „Polen-Abgabe“, zahlen – übrigens von den deutschen Arbeitsbehörden mit der bemerkenswerten Begründung eingeführt, dies diene zum Ausgleich dafür, daß die Polen ja nicht wie die
Deutschen zum Wehrdienst eingezogen würden. Die sowjetischen Arbeiter hingegen erhielten besonders festgelegte Löhne, die erheblich niedriger lagen als die der deutschen und anderen ausländischen Arbeiter – nominell etwa um 40 %, tatsächlich in den meisten Fällen
wohl noch tiefer. Von vielen Betrieben ist zudem bekannt, daß sie gar keine Löhne an die sowjetischen Zivilarbeiter auszahlten und diese für „Zivilgefangene“ hielten.
Der Ausländereinsatz gehörte in Deutschland mittlerweile wie selbstverständlich zum
Kriegsalltag, und angesichts der eigenen Sorgen war für die meisten Deutschen das Schicksal der ausländischen Arbeiter von durchaus geringem Interesse. Im Sommer 1944 befanden sich 7,6 Mio. ausländische Arbeitskräfte auf Arbeitsstellen im Reich: 5,7 Mio. Zivilarbeiter und knapp 2 Mio. Kriegsgefangene. 2,8 Mio. von ihnen stammten aus der Sowjetunion, 1,7 Mio. aus Polen, 1,3 Mio. aus Frankreich; insgesamt wurden zu dieser Zeit Menschen aus fast 20 europäischen Ländern im Reich zur Arbeit eingesetzt. Mehr als die Hälfte
der polnischen und sowjetischen Zivilarbeiter waren Frauen, im Durchschnitt unter 20 Jahre
alt – der durchschnittliche Zwangsarbeiter in Deutschland 1943 war eine 18jährige Schülerin aus Kiew. 26,5 % aller Beschäftigten im Reich waren damit Ausländer: in der Landwirtschaft 46 %, in der Industrie knapp 40 %, in der engeren Rüstungsindustrie etwa 50 %, in
einzelnen Betrieben mit hohem Anteil an Ungelernten bis zu 80 und 90 %.11
A U S L Ä N D I S C H E A R B E I T S K R Ä F T E I N D E R D E U T S C H E N K R I E G S W I R T S C H A F T 1 9 3 9 B I S 1 9 4 4 12
Landwirtschaft
Alle nichtlandwirtschaftlichen
Bereiche
Gesamtwirtschaft
1939
1940
1941
1942
1943
1944
Deutsche
Zivile Ausländer
Kriegsgefangene
Ausländer insg.
Ausl. in %
aller Beschäftigten
10.732.000
118.000
—
118.000
9.684.000
412.000
249.000
661.000
8.939.000
769.000
642.000
1.411.000
8.969.000
1.170.000
759.000
1.929.000
8.743.000
1.561.000
609.000
2.230.000
8.460.000
1.767.000
635.000
2.402.000
1,1
6,4
13,6
17,7
20,3
22,1
Deutsche
Zivile Ausländer
Kriegsgefangene
Ausländer insg.
Ausl. in %
aller Beschäftigten
28.382.000
183.000
—
183.000
25.207.000
391.000
99.000
490.000
24.273.000
984.000
674.000
1.659.000
22.568.000
1.475.000
730.000
2.205.000
21.324.000
3.276.000
954.000
4.230.000
20.144.000
3.528.000
1.196.000
4.724.000
0,6
1,9
6,4
8,9
16,5
18,9
Deutsche
Zivile Ausländer
Kriegsgefangene
Ausländer insg.
Ausl. in %
aller Beschäftigten
39.114.000
301.000
—
301.000
34.891.000
803.000
348.000
1.151.000
33.212.000
1.753.000
1.316.000
3.069.000
31.537.000
2.645.000
1.489.000
4.134.000
30.067.000
4.837.000
1.623.000
6.460.000
28.604.000
5.295.000
1.831.000
7.126.000
0,8
3,2
8,5
11.6
17,7
19,9
Nach: Der Arbeitseinsatz im (Groß-) Deutschen Reich, Jgg. 1939–1944, Stichtag jew. 1.5. d.J.
38
Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
Ulrich Herbert
Die Beschäftigung von ausländischen Zwangsarbeitern beschränkte sich durchaus nicht
allein auf Großbetriebe, sondern erstreckte sich, von der Verwaltung abgesehen, auf die
gesamte Wirtschaft – vom Kleinbauernhof über die Schlosserei mit sechs Arbeitern bis zur
Reichsbahn, den Kommunen und den großen Rüstungsbetrieben, aber auch vielen privaten
Haushalten, die eines der mehr als 200.000 überaus begehrten, weil billigen russischen
Dienstmädchen im Haushalt einsetzten.
II.
Seit Anfang 1944 aber zeigte sich, daß selbst solche in der Tat erheblichen Zahlen für den
Arbeiterbedarf insbesondere der großen Rüstungsprojekte des Reiches nicht mehr ausreichend waren, zumal infolge der militärischen Entwicklung die Arbeiterrekrutierung vor allem in der Sowjetunion zurückging und so die durch weitere Einberufungen immer größer
werdenden Arbeitskräftelücken nicht mehr ausgefüllt werden konnten. Daraufhin wandte
sich das Interesse zunehmend der einzigen Organisation zu, die noch über ein erhebliches
Potential an Arbeitskräften verfügte: der SS und den ihr unterstellten Konzentrationslagern.13
In den ersten Kriegsjahren hatte der Arbeitseinsatz von KZ-Häftlingen eine kriegswirtschaftliche Bedeutung nicht besessen. Zwar gab es bereits seit 1938 SS-eigene Wirtschaftsunternehmen – vor allem Steinbrüche, Ziegeleien und Ausbesserungswerkstätten –, und nahezu alle Häftlinge wurden in irgendeiner Form zur Zwangsarbeit herangezogen. Der Charakter der Arbeit als Strafe, „Erziehung“ oder „Rache“ blieb aber auch hier erhalten und
nahm gegenüber den in der politischen und rassischen Hierarchie der Nazis besonders tief
stehenden Gruppen bereits vor 1939 und verstärkt danach die Form der Vernichtung an.
Durch die Gründung von SS-eigenen Betrieben wie den „Deutschen Ausrüstungswerken“
und den „Deutschen Erd- und Steinwerken“ wurde zwar das Bestreben der SS sichtbar, die
Konzentrationslager zunehmend auch als ökonomischen Faktor zu nutzen, in der Praxis
aber blieb die wirtschaftliche Funktion der Zwangsarbeit der Häftlinge bis weit in die
Kriegsjahre hinein den politischen Zielsetzungen der Lagerhaft untergeordnet.14
Nach dem militärischen Rückschlag an der Ostfront im Herbst 1941 und der damit verbundenen Umorganisation der deutschen Rüstungsindustrie auf die Notwendigkeiten eines
langen Abnutzungskrieges wurden nun auch beim Reichsführer SS organisatorische Umstellungen vorgenommen, um die Produktion für die Rüstung – und nicht nur wie bisher in der
Bauwirtschaft, der Baustoffgewinnung und der Militärausrüstung – in den Konzentrationslagern zur vorrangigen Aufgabe zu machen. Tatsächlich waren jedoch weder die Konzentrationslager auf eine solche rapide Umstellung eingerichtet noch reichte der wirtschaftliche
Sachverstand in dem als neue Organisationszentrale der Konzentrationslager eingerichteten ➤ „Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt“ der SS (WVHA) aus, um eine Rüstungsfertigung in großem Stile aus dem Boden zu stampfen. Zudem waren die KZ-Wachmannschaften selbst aufgrund der jahrelang geübten Praxis, daß ein Menschenleben im KZ nichts
galt, nur schwer auf den Vorrang des Arbeitseinsatzes umzustellen. Das Wirtschafts- und
Verwaltungshauptamt der SS machte im April 1942 allen KZ-Kommandanten den Arbeitseinsatz der KZ-Häftlinge zur Hauptaufgabe: Tatsächlich aber starben von den 95.000 registrierten KZ-Häftlingen des 2. Halbjahres 1942 57.503, also mehr als 60 %. Der Wert der
KZ-Rüstungsproduktion im Jahre 1942 lag durchschnittlich bei etwa 0,002 % der Gesamtfertigung; für die gleiche Produktionsmenge bei der Karabinerfertigung benötigte ein Privatunternehmer nur 17 % der Arbeitskräfte wie der KZ-Betrieb Buchenwald.15
Erst im Frühjahr 1942 begann die SS damit, KZ-Häftlinge in umfangreicherem Maße für
Rüstungszwecke einzusetzen, insbesondere beim Aufbau des IG-Farben-Werkes bei Auschwitz.16 Allerdings waren die Häftlinge hier zunächst nur bei den Bauarbeiten beschäftigt
worden, während der Einsatz bei der Rüstungsfertigung erst ein Jahr später begann. Bei
den Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Interessengruppen innerhalb der
SS setzte sich der Gedanke der Strafe und Vernichtung gegenüber dem von Arbeit und
Produktivität weiterhin durch – vor allem deshalb, weil durch die Massendeportation
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Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
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39
„Vernichtung
durch Arbeit“ –
Zwangsarbeit von
KZ-Häftlingen
Zwangsarbeiter im „Dritten Reich“ – ein Überblick
Die SS „verleiht“
KZ-Häftlinge an
die Industrie
sowjetischer Arbeitskräfte nach Deutschland, die zu dieser Zeit einsetzte, ein kriegswirtschaftlicher Druck zur Beschäftigung von Konzentrationslager-Häftlingen nicht entstand.
Erst am 22. September 1942 entschied Hitler auf Vorschlag des Rüstungsministers Speer,
daß die SS ihre KZ-Häftlinge fortan der Industrie leihweise zur Verfügung stellen und die
Industrie ihrerseits die Häftlinge in den bestehenden Produktionsprozeß integrieren solle.
Dadurch wurde hier das Prinzip der Ausleihe von KZ-Häftlingen an die Privatindustrie festgeschrieben, das von nun an den Arbeitseinsatz der KZ-Häftlinge bestimmen sollte. Seit
dieser „Führerentscheidung“ wurde der Arbeitseinsatz von KZ-Häftlingen innerhalb bestehender Industriebetriebe verstärkt; dazu meldeten die Privatunternehmen ihren Arbeitskräftebedarf beim WVHA, von wo aus Unterkünfte und Sicherheitsbedingungen überprüft
und die Genehmigungen erteilt wurden. Dabei konnten in der Regel Firmenbeauftragte in
den Lagern selbst die geeignet erscheinenden Häftlinge aussuchen. Anschließend wurden
die Häftlinge in ein „Außenlager“ des Konzentrationslagers übergeführt, das meistens in
unmittelbarer Nähe der Arbeitsstelle errichtet wurde.17 Die Gebühren für die Überlassung
der Häftlinge, die die Firmen an die SS zu zahlen hatten, betrugen pro Tag 6,- RM für
Facharbeiter und 4,- RM für Hilfsarbeiter und Frauen. Gleichzeitig begannen auch die SSeigenen Wirtschaftsbetriebe im Reich verstärkt auf Rüstungsproduktion umzustellen; die
Deutschen Ausrüstungswerke (DAW) produzierten seit Ende 1942 bereits zum überwiegenden Teil für rüstungs- und kriegswichtige Zwecke, vor allem Instandsetzungsarbeiten.
Um den Rüstungseinsatz zu verstärken, lag das vorrangige Interesse des WVHA nur
darin, die Zahl der Häftlinge in möglichst kurzer Zeit rigoros zu vergrößern. Die Belegstärke aller Konzentrationslager stieg von 110.000 (September 1942) in sieben Monaten
auf 203.000 (April 1943). Im August 1944 war die Häftlingszahl bereits auf 524.268
angewachsen, Anfang 1945 auf über 700.000. Die Todesraten der Häftlinge waren nach
wie vor außerordentlich hoch und begannen erst seit dem Frühjahr 1943 zu sinken – von
10 % im Dezember 1942 auf 2,8 % im April 1943. Da aber die Häftlingszahlen so stark
gestiegen waren, sanken die absoluten Zahlen von Toten in weit geringerem Maße, als es
die Prozentzahlen suggerieren. Von Januar bis August 1943 starben wiederum über
60.000 Häftlinge in den Konzentrationslagern, die relative Sterblichkeit aber nahm ab.
Dies zeigt, daß den erhöhten Anforderungen von seiten der privaten und der SS-Industrie
stark erhöhte Einweisungszahlen entsprachen, nicht aber grundlegend veränderte Arbeitsund Lebensbedingungen der Häftlinge in den Lagern.18
Entsprechend lag die durchschnittliche Arbeitsfähigkeit – und damit die Lebensdauer –
des einzelnen Häftlings 1943/44 zwischen einem und zwei Jahren; allerdings mit großen
Unterschieden je nach Einsatzort und Gruppenzugehörigkeit der Häftlinge. Zur wirklichen
Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der KZ-Häftlinge kam es aber nur dann,
wenn durch berufsqualifizierten Einsatz oder nach Anlernzeiten auf qualifizierten Arbeitsplätzen die Arbeitskraft des einzelnen nicht oder nur schwer ersetzbar wurde.
Im Sommer 1943 waren von den 160.000 registrierten Gefangenen der WVHA-Lager etwa 15 % bei der Lagerinstandhaltung beschäftigt und 22 % als arbeitsunfähig gemeldet. Die
restlichen 63 %, also etwa 100.000, verteilten sich auf die Bauvorhaben der SS, die Wirtschaftsunternehmen der SS sowie die privaten Unternehmen. Noch für das Frühjahr 1944
ging das Rüstungsministerium lediglich von 32.000 tatsächlich eingesetzten KZ-Häftlingen in
der privaten Rüstungsindustrie im engeren Sinne aus. Am Ende des Jahres 1942 gab es innerhalb des Reichsgebiets 82 Außenlager der KZ, ein Jahr später 186. Im Sommer 1944 stieg
diese Zahl auf 341, bis Januar 1945 auf 662. Da die Zahlenangaben der SS und des SpeerMinisteriums zum Teil stark voneinander abweichen, sind exakte Bestimmungen schwierig.
III.
Gegenüber den deutschen Juden ist der Übergang zur systematischen Zwangsarbeit mit
dem Beginn des Jahres 1939 feststellbar. Juden, die Arbeitslosenunterstützung beantragten,
wurden nach entsprechendem Erlaß der deutschen Arbeitsverwaltung seither im
40
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Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
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„geschlossenen Arbeitseinsatz“ als Hilfsarbeiter eingesetzt; bis zum Sommer 1939 wuchs
die Zahl dieser – vorwiegend männlichen – jüdischen Zwangsarbeiter auf etwa 20.000
an, die insbesondere bei Straßenbauarbeiten, bei Meliorations-, Kanal- und Talsperrenprojekten sowie auf Müllplätzen, nach Kriegsbeginn auch bei kurzfristigen Schneeräumungsoder Ernteaktionen eingesetzt wurden. Im Laufe des Jahres 1940 wurde die Verpflichtung
zur Zwangsarbeit auf alle arbeitsfähigen deutschen Juden – Frauen wie Männer – ausgedehnt, unabhängig vom Empfang der Arbeitslosenunterstützung. Von nun an erfolgte der
Einsatz vorwiegend in der Industrie.19
Spätestens seit dem Frühjahr 1941 aber konkurrierten die Bestrebungen zur Zwangsarbeit der deutschen Juden in Rüstungsunternehmen im Reichsgebiet mit dem Ziel der deutschen Führung, die Juden aus Deutschland zu deportieren.
Auch für die – im Sommer 1941 etwa 50.000 – in Rüstungsbetrieben eingesetzten jüdischen Zwangsarbeiter boten die Arbeitsplätze, von denen viele als „rüstungswichtig“ eingestuft waren, keinen sicheren Schutz vor der Deportation, sondern lediglich eine nach der rüstungswirtschaftlichen Bedeutung ihrer Tätigkeit gestaffelte Verzögerung. Bemerkenswert
war in diesem Zusammenhang, daß die Deportationen auch von in kriegswichtigen Betrieben beschäftigten Juden mit Hinweisen begründet wurden, es stünden schließlich genug Polen bzw. Ukrainer als Ersatz zur Verfügung – und dies war der letztlich ausschlaggebende
Faktor bei der Entscheidung, die vorerst verschonten Berliner „Rüstungsjuden“ schließlich
doch zu deportieren. Am 27. Februar 1943 wurden die Berliner jüdischen Rüstungsarbeiter
an ihren Arbeitsplätzen ergriffen und zu den Deportationszügen gebracht. Ihre Arbeitsplätze in den Betrieben wurden durch ausländische Zivilarbeiter ersetzt. Am 5., 7. und 30.
März wurden die ersten Transporte mit den Berliner „Rüstungsjuden“ in Auschwitz registriert. Von den 2757 deportierten Juden aus diesen Transporten wurden 1689 sofort umgebracht. Im Sommer 1943 gab es innerhalb Deutschlands – von wenigen Einzelfällen abgesehen – keine Juden und also auch keine jüdischen Zwangsarbeiter mehr.
Ähnlich, wenngleich in zum Teil anderer zeitlicher Staffelung, entwickelte sich der
Zwangsarbeitseinsatz in den von Deutschland besetzten Ländern insbesondere Osteuropas.
Dies kann im einzelnen vor allem anhand des besetzten Polen nachvollzogen werden.
Im sogenannten „Generalgouvernement“ wurde der jüdische Arbeitszwang bereits im
Oktober 1939 verhängt. Danach mußten alle männlichen Juden zwischen 14 und 60 Jahren
Zwangsarbeit in dafür einzurichtenden Zwangsarbeitslagern leisten. Es war Aufgabe der
„Judenräte“, diese Arbeitskräfte entsprechend zu erfassen und einzuteilen. Einige Wochen
später wurde der Arbeitszwang auch auf alle jüdischen Frauen im Alter zwischen 14 und
60 Jahren ausgedehnt.20
Ursprünglich hatte allerdings die SS vorgesehen, alle Juden im „Generalgouvernement“
in großen Zwangsarbeitslagern zur Arbeit einzusetzen. Allerdings waren so viele Juden de
facto in freien Arbeitsverhältnissen tätig, daß eine schlagartige Umstellung auf Lagerhaft
schon organisatorisch kaum möglich erschien. Jedoch sollte der jüdische „Arbeitseinsatz“
zunehmend in Gettos konzentriert werden, deren Errichtung zu dieser Zeit noch nicht sehr
weit vorangeschritten war.
Etwas anders verlief die Entwicklung in denjenigen Teilen Polens, die ins Reichsgebiet eingegliedert worden waren. Hier gab es wegen der reichsrechtlichen Vorschriften keine generelle Regelung für die jüdische Zwangsarbeit. Die deutschen Maßnahmen zielten
zunächst auf die „Verschiebung“ von Polen, Juden und Zigeunern ins „Generalgouvernement“ zugunsten jener Volksdeutschen, die aus der Sowjetunion, Rumänien und anderen
Regionen kommend im „Reich“ angesiedelt werden sollten. De facto aber wurde der im
„Generalgouvernement“ geltende Arbeitszwang für Juden durch ortsgebundene Verfügungen auch in den annektierten Gebieten eingerichtet.
Die Arbeitsverwaltung im „Generalgouvernement“ legte bereits im Sommer 1940 fest,
daß jüdische Arbeitskräfte im freien Einsatz höchstens 80 % der üblichen Löhne erhalten
sollten, die Polen für eine entsprechende Tätigkeit erhielten. Viele deutsche Unternehmen
oder Institutionen entließen daraufhin ihre jüdischen Arbeitskräfte, denen sie zuvor oft
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Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
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41
Der „geschlossene
Arbeitseinsatz“
jüdischer ZwangsarbeiterInnen
Zwangsarbeit in
den besetzten
Gebieten Polens
und der Sowjetunion
Zwangsarbeiter im „Dritten Reich“ – ein Überblick
März 1942:
Auflösung der
Gettos und
Deportation in
Vernichtungslager
Die letzte Phase
des Krieges:
Zwangsarbeit in
unterirdischen
Rüstungsbetrieben
geringere oder gar keine Löhne bezahlt hatten. Das änderte sich aber mit dem Beginn der
systematischen „Endlösung“. Die Flucht in die „Shops“ genannten Arbeitsstellen in den Gettos und die schreckliche Lage der jüdischen Arbeiter, die fürchten mußten, bei nicht genügenden Arbeitsleistungen deportiert und ermordet zu werden, machte sie als Arbeitskräfte
zunehmend attraktiver. Die Einteilung in rüstungswichtige und weniger wichtige Fertigungsstätten wurde für die jüdischen Zwangsarbeiter immer mehr zur Entscheidung über Leben
und Tod.21
Mit der Umstellung auf den Primat des Arbeitseinsatzes seit Anfang 1942 verschärften
sich die Widersprüche: Im „Generalgouvernement“ begannen seit März 1942 die Auflösung der Gettos und die Deportationen der polnischen Juden in die ➤ Vernichtungslager.
Ein Teil von ihnen jedoch wurde in besondere, den SS- und Polizeiführern unterstehende
Arbeitslager gebracht, wo sie bei Bauvorhaben und in der Rüstungsproduktion eingesetzt
wurden.22 Dazu errichtete die SS in diesen Lagern eigene Wirtschaftsbetriebe, zum Teil aus
den verlagerten Betriebsanlagen ehemals jüdischer Betriebe. Durch diese Maßnahmen kam
es zu erheblichen Konflikten vor allem mit der an der Erhaltung „ihrer“ jüdischen Arbeitskräfte in den Gettowerkstätten interessierten Wehrmacht. Die SS war jedoch lediglich
bereit, den Rüstungsbetrieben die jüdischen Arbeitskräfte vorerst zu belassen, wenn die
Juden als KZ-Häftlinge unter der Regie der SS den Betrieben zum Arbeitseinsatz überlassen
würden.
Am 19. Juli 1942 ordnete Himmler an, alle polnischen Juden bis zum Ende des Jahres
1942 zu ermorden. Nur solche Juden, die rüstungswichtige Zwangsarbeit verrichteten, sollten vorerst am Leben gelassen werden. Allerdings sollten solche Produktionsstätten sukzessive in SS-Regie übergehen und in Zwangsarbeitslagern zusammengefaßt werden.
Daraufhin wurden von nun an Getto um Getto geräumt und die aufgebauten Produktionsstätten mit Zehntausenden von jüdischen Arbeitskräften stillgelegt, die Zwangsarbeiter in
die Vernichtungslager deportiert und ermordet. Selbst die von der SS noch im März 1943
aufgebaute „Ost-Industrie“, eine Dachgesellschaft, die die verschiedenen einzelnen Arbeitslager mit Rüstungsproduktion zusammenfaßte, wurde geschlossen, als diese Betriebe im
Herbst 1943 gerade ihre Produktion aufgenommen hatten. Sämtliche hier beschäftigten
17.000 Juden wurden aus den Fabriken herausgeholt und noch in den folgenden Tagen in
der Nähe von Lublin erschossen.23
In den besetzten Gebieten der Sowjetunion war die Lage nicht anders. Nach der ersten
Phase der Massenerschießungen in Sommer 1941 waren auch hier Juden in Arbeitskolonnen und Werkstätten beschäftigt worden. Aber auch in der Folgezeit und nach der kriegswirtschaftlichen Umstellung seit Anfang 1942 wurde die Praxis der Liquidationen ohne
Rücksicht auf wirtschaftliche Belange fortgesetzt.24
Erst seit Anfang 1944, als gegenüber den Juden das politische Hauptziel des Nationalsozialismus erreicht war, kam es aufgrund des sich dramatisch verschärfenden Arbeitskräftemangels in der letzten Kriegsphase zu einer Änderung, und jüdische Häftlinge wurden
auch im Reichsgebiet als Arbeitskräfte in SS-eigenen Betrieben, bei unterirdischen Betriebsverlagerungen und in Privatunternehmen, vor allem in der Großindustrie, eingesetzt. Bereits
im August 1943 war in der Führungsspitze des Regimes die Entscheidung gefallen, die
Herstellung der Raketenwaffe A 4, eine der sog. V-Waffen, mit Hilfe von KZ-Häftlingen in
unterirdischer Produktion durchführen zu lassen. Seit dem Jahreswechsel 1943/44 wurde
nun überall in Deutschland damit begonnen, rüstungswichtige Fertigungen in Untertagefabriken – meist Höhlen oder Bergstollen – zu verlagern, wo sie vor Bombenangriffen geschützt waren. Diese unter enormem Zeitdruck vorangetriebenen Projekte hatten schreckliche Auswirkungen für die hierbei eingesetzten KZ-Häftlinge.25 Gerade in der Aufbauphase
im Herbst und Winter 1943/44 waren die Todeszahlen immens. Leichte Ersetzbarkeit der
Häftlinge bei technisch überwiegend einfachen, aber körperlich schweren Arbeiten, hoher
Zeitdruck, mangelnde Ernährung und denkbar schlechte Lebensbedingungen waren die Ursachen für die hohen Todesraten, die erst zu sinken begannen, als das Wohnlager fertiggestellt und die Produktion aufgenommen worden war. Bis dahin jedoch waren die Häftlinge
42
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Ulrich Herbert
schon wenige Wochen nach ihrem Eintreffen „abgearbeitet“. Projekte dieser Art, zu denen
Zehntausende, ja Hunderttausende von Arbeitskräften in drei Tagesschichten gebraucht
wurden, waren nur noch mit KZ-Häftlingen durchführbar, denn allein die SS besaß noch Arbeitskraftreserven in solchen Größenordnungen. Aber auch die reichten zur Erfüllung der
gestellten Aufgaben bald nicht mehr aus, so daß im Frühjahr 1944 der Arbeitseinsatz auch
von Juden diskutiert wurde. Bis dahin war die Beschäftigung von Juden innerhalb des Reiches explizit verboten, schließlich galt es als Erfolg des Reichssicherheitshauptamtes der
SS, das Reich „judenfrei“ gemacht zu haben. Nun aber änderte sich dies: Offenbar ausgehend von einer Anfrage der besonders im militärischen Bauwesen eingesetzten Organisation Todt bestimmte Hitler im April 1944, für Rüstungsverlagerung und Großbunkerbau seien
„aus Ungarn die erforderlichen etwa 100.000 Mann durch Bereitstellung entsprechender
Judenkontingente aufzubringen“.26
Den Deutschen waren durch die Besetzung Ungarns im März 1944 etwa 765.000 Juden
in die Hände gefallen; am 15. April begann ihre Deportation, in deren Verlauf bis zum Juli
etwa 458.000 ungarische Juden nach Auschwitz gebracht wurden. Von diesen wurden etwa 350.000 Menschen sofort vergast und 108.000 besonders arbeitsfähig wirkende für
den Arbeitseinsatz im „Reich“ aussortiert. Nachdem der Zufluß von „Fremdarbeitern“ mittlerweile beinahe ganz zum Versiegen gekommen war, hatten immer mehr Firmen im Reich
bei den Arbeitsämtern, zum Teil auch direkt bei den Konzentrationslagern Häftlinge angefordert und waren nun auch einverstanden, jüdische Zwangsarbeiter aus der „Ungarnaktion“ zu beschäftigen. Die aus Auschwitz kommenden Häftlinge, darunter sehr viele Frauen,
wurden nun formal den Konzentrationslagern im „Reich“ unterstellt und auf die Firmen, die
KZ-Arbeiter angefordert hatten, verteilt.
Die Zahl der Arbeitskommandos der KZ-Stammlager wuchs seit dem Frühjahr 1944 rapide an, am Ende des Krieges existierten auf Reichsgebiet etwa 660 Außenlager; die Liste
der deutschen Unternehmen, die solche KZ-Außenlager einrichteten und KZ-Häftlinge einsetzten, wurde immer länger und umfaßte Hunderte von renommierten Firmen.27
Die Arbeits- und Lebensbedingungen der Häftlinge waren dabei in den verschiedenen Firmen sehr unterschiedlich. Insgesamt kann man – mit aller Vorsicht – jedoch davon ausgehen, daß diejenigen, die in der Produktion der Rüstungsbetriebe selbst beschäftigt wurden,
erheblich größere Überlebenschancen besaßen als diejenigen Häftlinge, die in den großen
Bauvorhaben und insbesondere beim Ausbau unterirdischer Produktionsstätten sowie bei
der Fertigung in den Höhlen und Stollen nach der Betriebsverlagerung eingesetzt wurden.
Insgesamt wird angesichts dieses knappen Überblicks deutlich, daß die deutsche Wirtschaft spätestens seit der Kriegswende im Winter 1941/42 alternativlos auf Zwangsarbeiter angewiesen war. Angesichts der erheblichen Fluktuation ist es vermutlich realistisch, von
insgesamt etwa 9,5 bis 10 Millionen ausländischen Zivilarbeitern und Kriegsgefangenen
auszugehen, die für längere oder kürzere Zeit in Deutschland als Zwangsarbeiter eingesetzt wurden. Die höchste Zahl der gleichzeitig eingesetzten „Fremdarbeiter“ wurde im
Sommer 1944 mit etwa 7,6 Millionen erreicht. Die Zahl der KZ-Häftlinge, die in Konzentrations-Stammlagern oder Außenlagern insgesamt zur Zwangsarbeit eingesetzt worden waren, ist seriös kaum schätzbar. Insgesamt sind zwischen 1939 und 1945 etwa 2,5 Millionen Häftlinge in Konzentrationslager des späteren Wirtschafts- und Verwaltungshauptamts
der SS eingeliefert worden; darunter etwa 15 % Deutsche und 85 % Ausländer; eine seriöse
Schätzung der Zahl der in diesen Jahren in den Lagern Gestorbenen geht von 836.000 bis
995.000 Toten aus. Hierin sind die Lager Majdanek und Auschwitz nicht enthalten; in beiden Lagern zusammen ist die Zahl der Toten auf etwa 1,1 Millionen berechnet worden, von
denen die weit überwiegende Mehrheit Juden waren. Unter den etwa 900.000 in den
Konzentrationslagern im Reichsgebiet Gestorbenen dürfte die Zahl der Juden bei etwa
300.000 bis 350.000 liegen; diejenige der Russen zwischen 200.000 und 250.000, die
der Polen unter 100.000 – wobei es sich um grobe Schätzungen handelt.28 Es ist davon
auszugehen, daß nahezu jeder KZ-Häftling während seiner Haftzeit für kurze oder lange
Zeit zur Zwangsarbeit eingesetzt worden ist, allerdings in sehr unterschiedlicher und sich
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Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
43
Ungarische Juden
und Jüdinnen
zwischen
Zwangsarbeit und
Vernichtung
Der Zwangsarbeitseinsatz in
Zahlen
Zwangsarbeiter im „Dritten Reich“ – ein Überblick
wandelnder Weise. Von den etwa 200.000 Häftlingen im April 1943 dürfte noch weniger
als die Hälfte im Rüstungsbereich eingesetzt gewesen sein. Am Ende des Jahres 1944 lag
die Gesamtzahl der KZ-Häftlinge bei etwa 600.000, von denen 480.000 tatsächlich als
„arbeitsfähig“ gemeldet waren. Nach Schätzungen des Wirtschafts- und Verwaltungshauptamts der SS wurden davon etwa 240.000 bei den unterirdischen Verlagerungen sowie bei den Bauvorhaben der Organisation Todt eingesetzt und ca. 230.000 in der Privatindustrie.29
Die Zahl derjenigen Juden, die vor oder nach ihrer Deportation zur Zwangsarbeit herangezogen wurden, ist nicht mit hinreichender Genauigkeit zu schätzen; zumal dies in den
einzelnen europäischen Ländern sehr unterschiedlich war. Im Sommer 1942 lag die Zahl
der in den Gettos und Zwangsarbeitslagern eingepferchten polnischen Juden bei etwa 1,5
Millionen; es ist gewiß nicht zu hoch gegriffen, wenn man davon ausgeht, daß von diesen
mindestens die Hälfte für einige Zeit zur Zwangsarbeit eingesetzt worden ist. Erheblich geringer war der Anteil derjenigen, die aus den verschiedenen europäischen Ländern in die
Lager des Ostens verschickt wurden und dort als „arbeitsfähig“ aussortiert worden waren;
ebensowenig gibt es für die Gebiete der Sowjetunion Zahlen, die uns auch nur einen
Annäherungswert ermöglichten.
Aus: Klaus Barwig, Günter Saathoff, Nicole Weyde (Hrsg.):
Entschädigung für NS-Zwangsarbeit. Rechtliche, historische und politische Aspekte,
Nomos Verlagsgesellschaft, Baden. Baden 1998, S. 17-32.
1
2
3
Im folgenden wird auf Einzelnachweise verzichtet, für detaillierte
Belege verweise ich auf die Spezialliteratur. Zur ersten Information vgl. den Artikel „Zwangsarbeit“ in Yisrael Gutman u.a.
(Hrsg.), Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden, 4 Bde., dt. Ausgabe Berlin 1993,
Sp. 160-1644.
Dazu ausführlich Ulrich Herbert, Fremdarbeiter. Politik und Praxis des „Ausländereinsatzes“ in der Kriegswirtschaft des Dritten
Reiches, Berlin, Bonn 1985; ders. (Hrsg.), Europa und der
„Reichseinsatz“. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und
KZ-Häftlinge in Deutschland 1938-1945, Essen 1991; Walter Naasner, Neue Machtzentren in der deutschen Kriegswirtschaft 19421945. Die Wirtschaftsorganisation der SS, das Amt des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz und das Reichsministerium für Bewaffnung und Munition/Reichsministerium für Rüstung und Kriegsproduktion im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, Boppard 1994; Edward L. Homze, Foreign Labor in
Nazi Germany, Princeton 1967; Literaturübersicht bei Hans-Ulrich
Ludewig, Zwangsarbeit im Zweiten Weltkrieg: Forschungsstand
und Ergebnisse regionaler und lokaler Fallstudien, in: AfS
31(1991), S. 558-577.
Dazu jetzt grundlegend: Karin Orth, Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Hamburg 1999; sowie Ulrich
Herbert/ Karin Orth/Christoph Dieckmann (Hrsg.), Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Entwicklung und Struktur,
Göttingen 1998; Yisrael Gutman/Avital Saf (Hrsg.), The Nazi Concentration Camps. Structure and Aims, The Image of the Prisoner, The Jews in the Camp, Proceedings of the fourth Yad Vashem International Historical Conference, Jerusalem 1980; Falk
Pingel, Häftlinge unter SS-Herrschaft. Widerstand, Selbstbehauptung und Vernichtung im Konzentrationslager, Hamburg 1978;
Wolfgang Sofsky, Die Ordnung des Terrors. Das Konzentrationslager, Frankfurt 1993; Johannes Tuchel, „Arbeit“ in den Konzentrationslagern im Deutschen Reich 1933-1939, in: Rudolf G. Ardelt/Hans Hautmann (Hrsg.), Arbeiterschaft und Nationalsozialismus, Wien, Zürich 1990, S. 455-467; sowie die Beiträge in der Se-
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rie „Dachauer Hefte“, Studien und Dokumente zur Geschichte
der nationalsozialistischen Konzentrationslager, hg. v. Wolfgang
Benz/Barbara Distel, München 1986 ff.; nach wie vor grundlegend, in vielem mittlerweile aber überholt ist Martin Broszat,
Nationalsozialistische Konzentrationslager 1933-1945, in: Hans
Buchheim u.a. (Hrsg.), Anatomie des SS-Staats, Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte, Bd. 2, Olten u.a. 1965, S. 11-133.
Ulrich Herbert, Arbeit und Vernichtung. Ökonomisches Interesse
und Primat der „Weltanschauung“ im Nationalsozialismus, in:
ders. (Hrsg.), Europa, S. 384-426; Götz Aly, „Endlösung“. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden, Frankfurt 1995; Thomas Sandkühler, „Endlösung“ in Galizien. Der Judenmord in Ostpolen und die Rettungsinitiativen von Berthold
Beitz 1941-1944, Bonn 1996; Dieter Pohl, Nationalsozialistische
Judenverfolgung in Ostgalizien 1941-1944. Organisation und
Durchführung eines staatlichen Massenverbrechens, München
1996; ders., Von der „Judenpolitik“ zum Judenmord. Der Distrikt
Lublin des Generalgouvernements 1939-1944, Frankfurt u.a.
1993; Uwe Dietrich Adam, Judenpolitik im Dritten Reich, Düsseldorf 1972.
Vgl. Rüdiger Hachtmann, Industriearbeiterinnen in der deutschen Kriegswirtschaft 1936-1944/45, in: Geschichte und Gesellschaft 19 (1993) S. 332-366.
Herbert, Fremdarbeiter, S. 67-95.
Vgl. Herbert, Fremdarbeiter, S. 96-131; zu den Italienern: Cesare
Bermani/Sergio Bologna/Brunello Mantelli, Proletarier der „Achse“. Sozialgeschichte der italienischen Fremdarbeiter in NSDeutschland 1937-1943; zu den Franzosen: Ulrich Herbert, Französische Kriegsgefangene und Zivilarbeiter im deutschen Arbeitseinsatz 1940-1942, in: La France et l´Allemagne en guerre. Sous la direction de Claude Carlier (et. al.), Paris 1990, S. 509-531; Bernd Zielinski, Staatskollaboration. Arbeitseinsatzpolitik in Frankreich unter deutscher Besatzung 1940-1944, Münster 1996; Yves Durand,
Vichy und der Reichseinsatz, in: Herbert, Europa, S. 184-199; Yves
Durand, La vie quotidienne des prisonniers de guerre dans les Stalags, les Oflags et les Kommandos 1939-1945, Paris 1987.
Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
Ulrich Herbert
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Herbert, Fremdarbeiter, S. 132-189; ders., Zwangsarbeit in
Deutschland: Sowjetische Zivilarbeiter und Kriegsgefangene
1941-1945, in: Peter Jahn/Reinhard Rürup (Hrsg.), Erobern und
Vernichten. Der Krieg gegen die Sowjetunion 1941-1945, Berlin
1991, S. 106-130; sowie die Darstellung bei Barbara Hopmann/
Mark Spoerer/ Birgit Weitz/Beate Brüninghaus, Zwangsarbeit bei
Daimler-Benz, Stuttgart 1994; sowie Hans Mommsen/Manfred
Grieger, Das Volkswagenwerk und seine Arbeiter im Dritten
Reich, Düsseldorf 1996.
Christian Streit, Keine Kameraden. Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen 1941-1945, Stuttgart 1978; Alfred
Streim, Die Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener im „Fall
Barbarossa“. Eine Dokumentation. Unter Berücksichtigung der
Unterlagen deutscher Strafverfolgungsbehörden und der Materialien der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur
Aufklärung von NS-Verbrechen. Heidelberg, Karlsruhe 1981; Karl
Hüser/Reinhard Otto, Das Stammlager 326 (VI K) Senne 19411945. Sowjetische Kriegsgefangene als Opfer des nationalsozialistischen Weltanschauungskrieges, Bielefeld 1992.
Zum Folgenden allg. Herbert, Fremdarbeiter, S. 190-236; Jill Stephenson, Triangle: Foreign Workers, German Civilians and the
Nazi Regime. War and Society in Württemberg, 1939-1945, in:
German Studies Review 15 (1992) S. 339-359; sowie v.a. die betriebsgeschichtlichen Untersuchungen Hopmann u.a., Zwangsarbeit bei Daimler-Benz; sowie Mommsen/Grieger, Volkswagenwerk; vgl. auch Klaus-Jürgen Siegfried, Das Leben der Zwangsarbeiter im Volkswagenwerk 1939-1945, Frankfurt/Main 1988;
ders., Rüstungsproduktion und Zwangsarbeit im Volkswagenwerk. Eine Dokumentation, Frankfurt/Main 1986; als Beispiel für
die mittlerweile sehr umfangreiche regionalgeschichtliche Literatur vgl. Andreas Heusler, Zwangsarbeit in der Münchner Kriegswirtschaft 1939-1945, München 1991.
Vgl. Herbert, Fremdarbeiter, S. 269 ff.
Nach: Der Arbeitseinsatz im (Groß-)Deutschen Reich, Jgg. 19391944, Stichtag jew. 1.5. d.J.
Vgl. die Literaturhinweise in Fn. 2, sowie Johannes Tuchel, Die
Inspektion der Konzentrationslager 1938-1945. Das System des
Terrors. Eine Dokumentation, Berlin 1994; ders., Konzentrationslager. Organisationsgeschichte und Funktion der „Inspektion der
Konzentrationslager“ 1934-1938, Boppard 1991; Klaus Drobisch/
Günther Wieland, System der NS-Konzentrationslager 1933-1939,
Berlin 1993; Gudrun Schwarz, Die nationalsozialistischen Lager,
Frankfurt 1996; Hermann Kaienburg (Hrsg.), Konzentrationslager und deutsche Wirtschaft 1939-1945, Opladen 1996; ders.,
„Vernichtung durch Arbeit“. Der Fall Neuengamme. Die Wirtschaftsbestrebungen der SS und ihre Auswirkungen auf die Existenzbedingungen der KZ-Gefangenen, Bonn 1990.
Zum Folgenden v.a. Orth, System; Herbert/Orth/Dieckmann, Konzentrationslager, Kap. „Arbeit“.
Vgl. Orth, System; Herbert, Arbeit und Vernichtung; darauf aufbauend, in der Interpretation aber einseitig Daniel Jonah Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche
und der Holocaust, dt. Ausgabe Berlin 1996, Kap. 10-12, S. 335384.
Vgl. Peter Hayes, Industry and Ideology. IG Farben in the Nazi
Era, Cambridge/New York 1987; ders., Die IG Farben und die
Zwangsarbeit von KZ-Häftlingen im Werk Auschwitz, in: Kaienburg, Konzentrationslager, S. 129-148; Robert Jan van Pelt/Debórah Dwork, Auschwitz, 1270 to the present, New Haven 1996.
Vgl. unter den zahlreichen Untersuchungen einzelner Konzentrationslager und Außenlager vor allem Florian Freund/Bertrand
Perz, Das KZ in der Serbenhalle. Zur Kriegsindustrie in Wiener
Neustadt, Wien 1987; Florian Freund, „Arbeitslager Zement“.
Das Konzentrationslager Ebensee und die Raketenrüstung, Wien 1989; Rainer Fröbe/Claus Füllberg-Stolberg u.a., Konzentrationslager in Hannover. KZ-Arbeit und Rüstungsindustrie in der
Spätphase des Zweiten Weltkriegs, 2 Bde., Hildesheim 1986; Bertrand Perz, Projekt Quarz: Steyr-Daimler-Puch und das Konzentrationslager Melk, Wien 1991; Isabell Sprenger, Groß-Rosen. Ein
Konzentrationslager in Schlesien, Köln u.a. 1996; Herwart Vor-
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länder (Hrsg.), Nationalsozialistische Konzentrationslager im
Dienst der totalen Kriegsführung. Sieben württembergische
Außenkommandos des Konzentrationslagers Natzweiler/Elsaß,
Stuttgart 1978; Gerd Wysocki, Arbeit für den Krieg. Herrschaftsmechanismen in der Rüstungsindustrie des „Dritten Reiches“.
Arbeitseinsatz, Sozialpolitik und staatspolizeiliche Repression
bei den Reichswerken „Hermann Göring“ im Salzgitter-Gebiet
1937/38 bis 1945, Braunschweig 1992; sowie Hopmann u.a.,
Zwangsarbeit bei Daimler-Benz, und Mommsen/Grieger, Volkswagenwerk.
Einzelnachweise bei Orth, System; Herbert, Arbeit und Vernichtung.
Dazu grundlegend Wolf Gruner, Der geschlossene Arbeitseinsatz
deutscher Juden: Zur Zwangsarbeit als Element der Verfolgung
1938-1943, Berlin 1997.
Vgl. Herbert, Arbeit und Vernichtung; Sandkühler, „Endlösung“;
Pohl, Judenverfolgung in Ostgalizien; ders., Von der „Judenpolitik“ zum Judenmord.
Vgl. Florian Freund/ Bertrand Perz/Karl Stuhlpfarrer, Das Getto in
Litzmannstadt (Lódz), in: „Unser einziger Weg ist Arbeit“: Das
Getto in Lódz, 1940-1944. Ausstellungskatalog des Jüdischen
Museums Frankfurt, Wien 1990, S. 17-31; Alfred Konieczny, Die
Zwangsarbeit der Juden in Schlesien im Rahmen der „Organisation Schmelt“, in: Sozialpolitik und Judenvernichtung. Gibt es eine
Ökonomie der Endlösung? (Beiträge zur nationalsozialistischen
Gesundheits- und Sozialpolitik, 5), Berlin 1987, S. 91-110.
Überblick über die neuere Holocaustforschung bei Ulrich Herbert
(Hrsg.), Nationalsozialistische Vernichtungspolitik 1939-1945.
Neuere Forschungen und Kontroversen, Frankfurt 1998.
Vgl. Sandkühler, Das Zwangsarbeitslager Lemberg-Janowska,
1941-1944, in: Herbert/Orth/Dieckmann (Hrsg.), Konzentrationslager.
Helge Grabitz/Wolfgang Scheffler, Letzte Spuren. Ghetto Warschau, SS-Arbeitslager Trawniki, Aktion Erntefest. Fotos und Dokumente über Opfer des Endlösungswahns im Spiegel der historischen Ereignisse, Berlin 1988.
Vgl. Christoph Dieckmann, Der Krieg und die Ermordung der litauischen Juden, in: Herbert (Hrsg.), Vernichtungspolitik, S. 292329; Artikel „Zwangsarbeit“ in: Enzyklopädie des Holocaust, Sp.
160-1644.
Florian Freund, Die Entscheidung zum Einsatz von KZ-Häftlingen
in der Raketenrüstung, in: Kaienburg, Konzentrationslager, S.
61-76; ders., Arbeitslager Zement; Freund/Perz, Das KZ in der
„Serbenhalle“; Rainer Fröbe, Der Arbeitseinsatz von KZ-Häftlingen und die Perspektive der Industrie 1943-1945, in: Herbert
(Hrsg.), Europa, S. 351-383; ders., „Wie bei den alten Ägyptern“.
Die Verlegung des Daimler-Benz-Flugmotorenwerks Genshagen
nach Obrigheim am Neckar 1944/45, in: Angelika Ebbinghaus
(Hrsg.), Das Daimler-Benz-Buch. Ein Rüstungskonzern im „Tausendjährigen Reich“, Nördlingen 1987, S. 392-417; Rainer Eisfeld,
Die unmenschliche Fabrik. V2-Produktion und KZ „MittelbauDora“, Erfurt 1993; ders., Mondsüchtig. Wernher von Braun und
die Geburt der Raumfahrt aus dem Geist der Barbarei, Reinbek
1996; Jens-Christian Wagner, Das Außenlagersystem des KZ Mittelbau-Dora, in: Herbert/Orth/Dieckmann (Hrsg.), Konzentrationslager; Edith Raim, Die Dachauer KZ-Außenkommandos Kaufering und Mühldorf. Rüstungsbauten und Zwangsarbeit im letzten Kriegsjahr 1944/45, Landsberg am Lech 1992.
Hitler am 6.7.1944, BA R 3/1509 (Besprechung mit Dorsch, Organisation Todt); vgl. Herbert, Arbeit und Vernichtung, S. 413.
Vgl. die (unvollständigen) Übersichten bei Schwarz, Die nationalsozialistischen Lager; und Martin Weinmann (Hrsg.), Das nationalsozialistische Lagersystem (Catalogue of Camps and Prisons in
Germany and German-Occupied Territories 1939-1945), Frankfurt
am Main 1990.
Orth, System, Kap. VII: „Bilanz der Opfer“; Wolfgang Benz
(Hrsg.), Dimensionen des Völkermords. Die Zahl der jüdischen
Opfer des Nationalsozialismus, München 1991.
Aussage Pohl, 25. 8. 1947, Trials of War Criminals, Bd. 5, Washington 1950, S. 445.
Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
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„Die Kriegswirtschaft wäre ohne ZwangsarbeiterInnen
zusammengebrochen“
Interview mit Florian Freund
Wie viele ZwangsarbeiterInnen waren in Österreich während des Nationalsozialismus beschäftigt?
Freund: Man muss hier zwischen verschiedenen Gruppen von ZwangsarbeiterInnen, die in
Österreich beschäftigt waren, unterscheiden: Es gab österreichische Juden und Jüdinnen in
Zwangsarbeitslagern von Ende 1938 bis 1941 und zum Teil auch bis 1945. Von dieser
Art der Zwangsarbeit waren ca. 20.000 Personen betroffen, die zumeist in kleineren
Lagern gearbeitet haben. Der größte Teil dieser Menschen wurde vermutlich in den Vernichtungslagern ermordet. Eine weitere Gruppe, die zur Zwangsarbeit herangezogen wurde, waren die österreichischen Roma und Sinti. Bisher habe ich 15 Lager von Roma und
Sinti identifizieren können, in denen sie Zwangsarbeit, vor allem für Baufirmen, geleistet
haben. Es wird aber noch einiger Forschungsanstrengungen bedürfen, um mehr herauszufinden. Darüber hinaus waren In- und AusländerInnen in sogenannten Arbeitserziehungslagern – auch dazu gibt es bis heute keine systematische Untersuchung. Die größte Gruppe von ZwangsarbeiterInnen waren zivile AusländerInnen, im Herbst 1944 waren es nach
den offiziellen NS-Statistiken 580.000 Menschen. Zu den ZwangsarbeiterInnen zählten
selbstverständlich auch KZ-Häftlinge, Ende 1944 waren es ca. 70.000 Menschen. Auch
Justizhäftlinge, vor allem jene, die aus politischen Gründen inhaftiert waren, wurden zu
Zwangsarbeit herangezogen. Hinzu kommen noch die Kriegsgefangenen verschiedener
Nationalitäten, insbesondere aber die polnischen, sowjetischen und italienischen Kriegsgefangenen. Auch darüber liegt bisher keine Forschungsarbeit vor. Im Herbst 1944 waren
es vermutlich einige 10.000 Kriegsgefangene, die als Zwangsarbeiter in Österreich eingesetzt wurden. Und schließlich sind hier die ca. 50.000 ungarischen Juden und Jüdinnen
zu nennen, die vor allem beim Bau des sogenannten Südostwalls, aber auch in landwirtschaftlichen und gewerblichen Betrieben gearbeitet haben. Allein im damaligen Gau Niederdonau waren sie in 75 Lagern untergebracht und haben bei 250 verschiedenen Arbeitgebern Zwangsarbeit verrichtet, in Wien waren sie auf 67 verschiedene Lager aufgeteilt
und haben in 105 Betrieben gearbeitet. Die Verhältnisse bei den ungarischen Juden und
Jüdinnen waren zum Teil ganz katastrophal. Ein Beispiel ist das Lager Felixdorf, das Ende
Dezember/Anfang Jänner 1945 eingerichtet wurde, dort verstarben 1865 von 2087 Gefangenen, die Todesursachen waren Unterernährung, Seuchen und Misshandlungen. Das
ist eine Todesrate, die bei weitem über der eines „normalen“ Konzentrationslagers liegt,
abgesehen natürlich von den Vernichtungslagern, in denen fast 100 Prozent der Häftlinge
ermordet wurden. Ein großer Teil der zu Kriegsende noch lebenden ungarischen Juden
und Jüdinnen wurde vor der Befreiung in Todesmärschen Richtung Mauthausen und von
dort weiter nach Gunskirchen getrieben. In Gunskirchen wurden ca. 15.000 bis 18.000
ungarische Juden und Jüdinnen von den Amerikanern befreit, die über die dort herrschenden Zustände völlig schockiert waren.
Insgesamt muss man für den Herbst 1944 von einer Zahl von 700.000 Menschen ausgehen, die Zwangsarbeit geleistet haben. Das ist allerdings nur eine Gesamtzahl zu einem
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Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
Interview mit Florian Freund
bestimmten Zeitpunkt. Dabei ist noch nicht die Fluktuation berücksichtigt, die es bei allen
Gruppen von ZwangsarbeiterInnen gegeben hat. Will man die Gesamtzahl der in Österreich beschäftigten ZwangsarbeiterInnen errechnen, so muß man zu den 700.000 im
Herbst 1944 jene dazuzählen, die noch bis 1945 nach Österreich kamen, außerdem die
Verstorbenen, Geflohenen oder auch jene, die in ihre Heimatländer zurückgeschickt wurden, weil sie krank wurden. Es wird noch eine wichtige Aufgabe der historischen Forschung sein, die Gesamtzahl zu ermitteln.
Aus welchen Ländern stammten die zivilen ausländischen ZwangsarbeiterInnen?
Die größte Gruppe, ungefähr 178.000 Menschen, waren sicherlich die sogenannten „Ostarbeiter“ und „Ostarbeiterinnen“. Die Nationalsozialisten haben immer darauf geachtet,
dass auch ein relativ hoher Anteil von Frauen mitdeportiert wird. Damit wollten sie erreichen, dass die Zwangsarbeiter unter sich bleiben und möglichst keine Kontakte der ausländischen Männer zu „deutschen“ Frauen entstehen. Aus diesem Grund hat man immer versucht, zwischen 30 und 50 Prozent Frauen zu deportieren. Diese Menschen stammten vor
allem aus der Ukraine, aus Russland, zum Teil auch aus Polen und aus Weißrussland. Die
genaue Herkunft lässt sich jedoch nach den NS-Statistiken nicht rekonstruieren, weil sie die
Nationalität der sogenannten „OstarbeiterInnen“ nicht erfassten. Aus dem ➤ Generalgouvernement, also dem Teil Polens, der nicht in das Deutsche Reich eingegliedert wurde und der
durch den Generalgouverneur Frank verwaltet war, und aus dem Bezirk Bialystok kamen
am Stichtag 30. September 1944 106.000 Menschen, aus dem Protektorat Böhmen und
Mähren, dem heutigen Tschechien, 61.000, außerdem waren zu diesem Zeitpunkt 57.000
Franzosen und Französinnen, 49.000 ItalienerInnen, 33.000 JugoslawInnen und andere
kleinere Nationalitätengruppen in Österreich. Aufschlußreich ist der Anteil ausländischer
Arbeitskräfte an der Gesamtzahl der Arbeitskräfte, der während des Krieges stetig angestiegen ist. Berücksichtigt man nur die Zahl der zivilen AusländerInnen, waren es im Durchschnitt 25 Prozent aller Beschäftigten. Berücksichtigt man alle Gruppen von ZwangsarbeiterInnen, kommt man auf ca. 30 bis 33 Prozent aller Beschäftigten, die am 30. September
1944 zwangsweise zu Arbeit eingesetzt wurden. Die entsprechenden Zahlen für die in den
einzelnen „Gauen“ eingesetzten zivilen ausländischen ZwangsarbeiterInnen sind für Niederdonau rund 32,3 Prozent, an zweiter Stelle lag die Steiermark mit 29,3 Prozent, danach Oberdonau mit 29,3 Prozent, Kärnten mit 28,7 Prozent, Salzburg mit 22,8 Prozent,
Tirol-Vorarlberg mit 22,2 Prozent und Wien mit 16,7 Prozent. In diesen Zahlen sind Kriegsgefangene, KZ-Häftlinge, ungarische Juden und Jüdinnen, Roma und Sinti und die anderen
Gruppen von Zwangsarbeitskräften noch nicht enthalten. Die Verteilung der zivilen ausländischen Zwangsarbeitskräfte in den einzelnen „Gauen“ macht deutlich, wo die Schwerpunkte der Rüstungswirtschaft lagen und wo der größte Arbeitskräftemangel bestand. Daher muß man davon ausgehen, dass dort, wo es schon einen hohen Anteil von zivilen ausländischen Arbeitskräften gab, auch der Anteil von Kriegsgefangenen, KZ-Häftlingen usw.
entsprechend höher war.
In welchen Bereichen der österreichischen Wirtschaft wurden zivile und andere
ZwangsarbeiterInnen eingesetzt?
Von den zivilen AusländerInnen war der größte Teil, nämlich ca. 35 Prozent aller zivilen
ausländischen Zwangsarbeitskräfte nach einer NS-Statistik vom 15. November 1943 in der
Landwirtschaft eingesetzt, weiters in allen kriegs- bzw. rüstungsrelevanten Bereichen, das
heißt im Maschinen-, Kessel-, Apparate- und Fahrzeugbau; darunter fallen Autofirmen ebenso wie die Luftfahrtindustrie, die Eisenbahnindustrie, das heißt die Lokomotivproduktion und
ähnliches, mit einem Anteil von 13,5 Prozent aller zivilen AusländerInnen im November
1943. Bau- und Nebengewerbe waren besonders wichtig, weil in der NS-Zeit sehr viele
neue Fabriken, neue Kraftwerke usw. gebaut wurden. Dort gab es einen ganz besonders
hohen Anteil von zivilen AusländerInnen und auch KZ-Häftlingen, für zivile ausländische
Zwangsarbeitskräfte liegt die Zahl bei ca. 12,8 Prozent. In der Eisen-, Stahl- und Metallwa-
Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
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Zwangsarbeit in Österreich
Z WA N G S A R B E I T E R U N D Z WA N G S A R B E I T E R I N N E N I N D E R „ O S T M A R K “ . E I N E Ü B E R S I C H T
1
Anzahl und Nationalität der zivilen AusländerInnen in der „Ostmark“
Polen
Italiener
Jugoslawen
Franzosen
Ungarn
Sowjets
Protektorat
25.4.1941 40.928
10.7.1942 62.568
15.11.1943 97.382
30.9.1944 106.023
15.298
32.802
17.800
49.078
20.594
35.345
35.131
33.916
589
2.592
62.303
57.628
8.258
12.335
12.018
10.759
538
45.803
153.310
178.596
n.erfaßt
37.677
66.553
61.738
25.4.1941
10.7.1942
15.11.1943
30.9.1944
25.4.1941
10.7.1942
15.11.1943
30.9.1944
Slowaken
Dänen
Niederländer
Belgier
Griechen
Rumänen
Bulgaren
22.180
23.799
n.erfaßt
13.213
575
444
n.erfaßt
415
895
2.096
3.411
3.651
926
2.467
4.237
17.949
n.erfaßt
n.erfaßt
n.erfaßt
10.481
n.erfaßt
n.erfaßt
n.erfaßt
2.978
3.414
n erfaßt
n.erfaßt
6.221
Schweizer
Sonstige
AusländerInnen in der
„Ostmark“ gesamt
684
n.erfaßt
n.erfaßt
861
13.851
44.536
75.445
27.133
12.8730
30.2464
52.7590
58.0640
Beschäftigte AusländerInnen in der Ostmark am 15.11.1943 2
(incl. „OstarbeiterInnen“, ohne Kriegsgefangene, auf Grund der Arbeitsbuchstatistik)
InländerInnen
AusländerInnen
In- und
AusländerInnen
AusländerInnen in Prozent aller Beschäftigten
Wien
Niederdonau
Oberdonau
Tirol/Vlbg
Salzburg
Kärnten
Steiermark
600.710
345.298
245.827
113.702
62.049
97.932
242.448
114.730
147.500
88.483
28.118
16.819
30.837
86.431
715.440
492.798
334.310
141.820
78.868
128.769
328.879
16,04%
29,93%
26,47%
19,83%
21,33%
23,95%
26,28%
Deutsches
Reich
Gesamt:
1,707.966
512.918
2,220.884
23,10%
19,70%
Beschäftigte AusländerInnen in der Ostmark am 30.9.1944 3
(incl. „OstarbeiterInnen“, ohne Kriegsgefangene, auf Grund der Arbeitsbuchstatistik)
InländerInnen
AusländerInnen
In- und
AusländerInnen
AusländerInnen in Prozent aller Beschäftigten
Wien
Niederdonau
Oberdonau
Tirol/Vlbg
Salzburg
Kärnten
Steiermark
579.824
336.184
242.249
110.386
63.633
95.123
244.504
116.226
160.116
100.373
31.577
18.841
38.378
101.485
696.050
496.300
342.622
141.963
82.474
133.501
345.989
16,70%
32,26%
29,30%
22,24%
22,84%
28,75%
29,33%
Deutsches
Reich
Gesamt:
1,671.903
566.996
2,238.899
25,32%
20,5%
1
Statistik zusammengestellt nach: Der Arbeitseinsatz
in der Ostmark (einschließlich der angegliederten sudetendeutschen Gebiete). Mitteilungen des Reichsarbeitsministeriums, Zweigstelle Österreich für Arbeitseinsatz und Arbeitslosenhilfe, Jg. 1939; Der Arbeit-
48
2
3
seinsatz im Großdeutschen Reich, Jg. 1940–1944.
Der Arbeitseinsatz im Großdeutschen Reich, Nr. 1,
31.1.1944, S. 5 ff
Der Arbeitseinsatz im Großdeutschen Reich, Nr. 9,
30.9.1944, S. 8 ff.
Quelle: Florian Freund
Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
Interview mit Florian Freund
renherstellung, also Kanonen-, Panzerfabrikation und ähnliches, waren 6 Prozent der zivilen AusländerInnen beschäftigt. In der Eisen- und Metallgewinnung – darunter fallen zum
Beispiel die „Hermann Göring Werke“, aus denen nach 1945 die VOEST hervorgegangen
ist, Böhler u.a. – waren es 3 Prozent, und bei der Reichsbahn, den heutigen ÖBB, waren zu
diesem Zeitpunkt 15.355 zivile AusländerInnen beschäftigt, also fast 3 Prozent aller zivilen
AusländerInnen. Zu diesem Zeitpunkt hat es etwa auch 8900 Dienstmädchen in Österreich
gegeben, die Zwangsarbeiterinnen waren, was auch eine ganz beachtliche Zahl ist. Auch
die Fremdenverkehrswirtschaft hat 7522 ZwangsarbeiterInnen beschäftigt, in erster Linie in
den Gauen Tirol-Vorarlberg und Salzburg.
Wieviele österreichische Firmen waren in die Zwangsarbeit involviert, welche
ökonomische Bedeutung hatte die Zwangsarbeit für den Staat und
für die einzelnen Firmen?
Es haben praktisch alle für die Rüstungswirtschaft relevanten Firmen in der einen oder
anderen Form ZwangsarbeiterInnen beschäftigt. So wäre zum Beispiel die gesamte Raketenrüstung, der Bau der sogenannten „Wunderwaffe“, ohne Zwangsarbeit, insbesondere
KZ-Zwangsarbeit unmöglich gewesen. Führend bei der Beschäftigung von ZwangsarbeiterInnen war ganz sicher Steyr-Daimler-Puch. Wie mein Kollege Bertrand Perz erforscht hat,
beschäftigte Steyr-Daimler-Puch im Herbst 1944 ca. 50.000 Personen, von denen der größte Teil zivile AusländerInnen waren. Zu diesen 50.000 sind zu diesem Zeitpunkt mindestens
noch 20.000 bis 30.000 KZ-Häftlinge dazuzuzählen, die in den Statistiken üblicherweise
nicht aufscheinen. Sie machten aber einen ganz erheblichen Anteil der Beschäftigten aus,
die direkt oder indirekt für die Steyr-Daimler-Puch gearbeitet haben. Bei den Baufirmen ist
es ganz ähnlich. Die Universale Bau AG zum Beispiel hat auch in großem Ausmaß KZ-Häftlinge beschäftigt, andere Baufirmen wiederum beschäftigten nur zivile AusländerInnen. Das
war von Firma zu Firma immer wieder unterschiedlich, vor allem auf Grund der Bauprojekte, in die die Firmen involviert waren. Die Firmen selbst haben während der gesamten NSZeit sozusagen um Arbeitskräfte gerauft. Den meisten Privatfirmen war es vermutlich lieber,
wenn es InländerInnen waren, weil sie sich dadurch die Probleme und Kosten ersparen
konnten, die z.B. die Überwachung, Separierung, Ernährung der ZwangsarbeiterInnen und
der Einfluß der SS bei der Beschäftigung von KZ-Häftlingen aus ihrer Sicht mit sich brachten. Aber inländische Arbeitskräfte hat es einfach nicht gegeben, weil ein großer Teil der
Männer zur Wehrmacht eingezogen war und das NS-Regime die Erwerbsarbeit von Frauen nicht unbedingt forcieren wollte. Letztlich waren die ZwangsarbeiterInnen die einzige
Möglichkeit, zusätzliche Arbeitskräfte zu bekommen, durch sie konnten die Firmen expandieren. Mehr Umsatz bedeutete mehr Gewinn, und ohne diese Arbeitskräfte hätten sie
weder Umsatz noch Gewinn machen können. Zwangsarbeit hatte also eine ganz große
Bedeutung für die einzelnen Firmen. Die gesamte Kriegswirtschaft wäre ohne den Einsatz
von ZwangsarbeiterInnen spätestens Ende 1941 zusammengebrochen. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich die ganzen ökonomischen Rahmenbedingungen auf Grund der Tatsache
verändert, dass man die Wirtschaft auf einen lange dauernden Krieg umstellen musste.
Insofern waren diese Menschen im wahrsten Sinne des Wortes gezwungen, zur Verlängerung des Krieges beizutragen.
Wie viele dieser ehemaligen ZwangsarbeiterInnen leben heute noch?
Wenn man eine Gesamtschätzung derer versucht, die heute noch leben, muss man sich an
den Zahlen orientieren, die die „Vereinigung der durch das Dritte Reich geschädigten
Polen“ durch sehr intensive Umfragen erhoben hat. Sie geht davon aus, dass heute noch
ca. 25.000 Polen und Polinnen leben, die als KZ-Häftlinge, Kriegsgefangene, zivile AusländerInnen oder einer der anderen Gruppen zugehörig in irgendeiner Weise Zwangsarbeit
in Österreich geleistet haben. Nimmt man an, dass bei anderen Nationalitäten die Überlebensrate ähnlich ist, dann kann man davon ausgehen, dass heute noch insgesamt ca.
100.000 ehemalige ZwangsarbeiterInnen leben. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die
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Zwangsarbeit in Österreich
Lebenserwartung in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion ganz unterschiedlich ist zur
Lebenserwartung in Polen, und diese ist wiederum völlig unterschiedlich zur Lebenserwartung in den westlichen Industrieländern. Diese Zahl ist also nur eine grobe Schätzung. Wir
wissen es noch nicht genau, und für die Frage der Entschädigungszahlungen ist es auch
nicht das Hauptproblem, außer, dass man die Gesamtkosten noch nicht genau abschätzen
kann. Aber wir wissen, unter welchen Bedingungen und unter welchem Grad von Zwang
die einzelnen Gruppen von Betroffenen in Österreich Zwangsarbeit geleistet haben, das ist
absolut eindeutig. Bei den zivilen AusländerInnen muss man differenzieren. Es sind nicht
alle Nationalitäten gleich behandelt worden. Angehörige mit dem Deutschen Reich verbündeter Nationen wurden besser behandelt, zum Beispiel KroatInnen, oder, solange Italien
mit dem Deutschen Reich verbündet war, auch die ItalienerInnen. Ab Herbst 1943, mit dem
Abschluss eines Waffenstillstands zwischen Italien und den Alliierten, änderte sich das radikal, und die ItalienerInnen wurden danach ganz besonders diskriminiert. Die sogenannten
„WestarbeiterInnen“, sprich HolländerInnen, Franzosen und Französinnen, ItalienerInnen,
DänInnen wurden grundsätzlich wesentlich besser behandelt als die sogenannten „OstarbeiterInnen“ oder Polen und Polinnen. Den Nationalsozialisten ist es gelungen, eine rassistisch hierarchisierte Gesellschaft aufzubauen, die im Sinne der Machthaber „sehr gut“
funktioniert hat. Sie hat unter aktiver Beteiligung eines Teils der Bevölkerung funktioniert, zumindest aber unter Billigung einer Mehrheit, ohne dass es notwendig war, sich selbst daran
zu aktiv zu beteiligen.
Haben ehemalige ZwangsarbeiterInnen in Österreich bisher Entschädigung erhalten?
Meines Wissens nicht. Es haben nur jene eine Entschädigung erhalten, die österreichische
StaatsbürgerInnen waren. Sie haben ihre Haftzeiten entschädigt bekommen, nicht aber die
Arbeitsleistung, die sie damals erbracht haben. Die zivilen AusländerInnen und auch alle
anderen Gruppen wurden von österreichischer Seite weder für die Haftzeiten noch für die
Arbeit entschädigt, die sie geleistet haben. Einige österreichische Firmen haben allerdings
nun die Bereitschaft bekundet, den ehemals bei ihnen beschäftigten ZwangsarbeiterInnen
eine Entschädigung zu zahlen.
Warum und auf Grund welcher Rechtslage wurden sie bisher nicht entschädigt?
Österreich hat sich erstens nie als Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches gesehen, was
formal auch dem Völkerrecht entspricht. Allerdings hat man auch keine moralische
Verpflichtung gesehen, die wird erst jetzt, zumindest verbal, übernommen, weil auch der
internationale Druck größer geworden ist. Ansonsten haben sich die Firmen ja nie rechtfertigen müssen. Ihre Antworten auf entsprechende Anfragen von ehemaligen ZwangsarbeiterInnen waren teilweise sehr zynisch. Zum Beispiel hat eine Baufirma auf die Anfrage
eines KZ-Häftlings geantwortet: „Wir haben ohnehin für Ihre Arbeitskraft an die SS
bezahlt, daher sehen wir uns außerstande, Ihnen etwas zu zahlen.“ So in dieser Art lauteten die Antworten von Firmen. Es hat im Grunde überhaupt kein Unrechtsbewusstsein gegeben, weder bei den Firmen noch in der Öffentlichkeit. Und ich befürchte, auch bei der
jetzigen Debatte wurde bisher viel zu wenig vermittelt, welches Unrecht diesen Menschen
angetan wurde.
Warum wird gerade jetzt die Frage nach der Verantwortung österreichischer Unternehmen und der Entschädigung von Zwangsarbeit gestellt?
Ich glaube, dass hier mehrere Faktoren ganz wesentlich sind: Erstens einmal die völlig veränderte politische Situation in Europa durch das Ende des Kalten Krieges, durch die
Ostöffnung, was ganz andere politische Kontakte möglich gemacht hat. Bis dahin lautete
die Begründung ja immer: „Bis zu einem Friedensvertrag wird mit diesen Ländern über
diese Fragen nicht verhandelt.“ Der zweite und meiner Meinung nach wichtigste Grund ist
die Möglichkeit, die das amerikanische Recht geboten hat, mit sogenannten class actions,
also ➤ Sammelklagen, gegen die Firmen vorzugehen. Das ist im Zusammenhang mit der
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internationalen Entwicklung der Globalisierung zu sehen. Es gibt kaum eine größere österreichische Firma, die nicht irgendetwas mit den USA zu tun hat. Sobald es eine Geschäftsverbindung gibt, kann eine solche Klage in den USA eingebracht werden. Das sind meiner Meinung nach die zentralen Gründe, warum die Entschädigungsfrage heute debattiert
wird. Der letzte Grund ist auch im Zusammenhang mit dem Generationswechsel zu sehen.
Die Kriegsgeneration ist heute in einem sehr hohen Alter, gleichzeitig ist aber eine jüngere
Generation nachgekommen, die einfach sagt: „Das ist Unrecht, darüber muss man reden,
und es muss – auch im Nachhinein und auch, wenn es nur symbolisch ist – entschädigt
werden.“ Das ist eine, wenn man so will, „zornige“ jüngere Generation, die keine großen
Rücksichten auf Empfindlichkeiten nimmt, auch nicht auf Empfindlichkeiten in Österreich.
Ich glaube, diese Gründe haben eigentlich erst bewirkt, dass auch in Österreich langsam
eine solche Diskussion vorankommt. Ich befürchte nur, vor den Wahlen im Herbst 1999
wird in dieser Hinsicht nichts mehr passieren, und nach den Wahlen wird alles wieder
offen sein.
Einige österreichische Unternehmen haben nun Forschungsteams eingesetzt,
die das Ausmaß von Vermögensentzug durch Zwangsarbeit erforschen sollen.
Werden die Ergebnisse dieser Teams eine Grundlage für künftige
Entschädigungsleistungen liefern?
Genau darum geht es. Ich glaube, die klügeren Firmenmanagements haben erkannt, dass
es besser ist, genau Bescheid zu wissen und nicht den Kopf in den Sand zu stecken. Es
muss garantiert sein, dass all diese Forschungsteams völlig unabhängig arbeiten und
dass ihre Ergebnisse ohne jeden Eingriff, ohne jede Einflussnahme von Seiten der Firmen
publiziert werden. Daher sind sehr interessante Ergebnisse zu erwarten. Für die Firmen
geht es darum, in irgendeiner Weise mit dieser Situation umzugehen. Für die heutigen
Firmen, zumindest für die großen Firmen, stellt sich das Problem, dass in der Regel der
Imageschaden, der durch die langwierigen Diskussionen über diese Fragen entsteht, viel
größer ist als das, was sie tatsächlich an Entschädigungen zahlen würden. Das ist das
Hauptmotiv für die Firmen. Die großen Firmen müssten eigentlich Interesse an einer einvernehmlichen Regelung dieser Fragen haben. Aber einige Firmen stecken halt den Kopf
in den Sand und lassen es auf Klagen ankommen. Das halte ich allerdings für keine sehr
kluge Strategie.
Welcher Unterschied besteht zwischen der von der Regierung eingesetzten
Historikerkommission und den von Firmen finanzierten Forschungsteams?
Zwischen den von Firmen finanzierten Forschungsteams und der Historikerkommission liegt
der Unterschied in der Dimension. Die Untersuchungen zu einzelnen Firmen behandeln
Spezialfragen, an deren Beispiel man allerdings sehr viel an allgemeinen Vorgängen auf
diesem Gebiet aufzeigen kann. Die österreichische Historikerkommission muss demgegenüber sehr viel umfassender an die Frage herangehen, weil auch Vorgänge betroffen sind,
mit denen die Firmen nur zum Teil etwas zu tun hatten, und die man in einem größeren
Zusammenhang sehen muss. Das betrifft jede Form von „Arisierung“, Enteignung von
Grundstücken, also Immobilien, Enteignung von betrieblichem Eigentum. Es betrifft genauso
Berufsverbote, es betrifft die nationalen Minderheiten und deren teilweise oder völlige Enteignung, wie zum Beispiel die Roma und Sinti. In einem allgemeineren Sinn betrifft das
auch die Zwangsarbeit. Von Seiten der Historikerkommission hat man ein Interesse daran,
zum Beispiel das Thema Zwangsarbeit in der Landwirtschaft aufzuarbeiten, weil klar ist,
dass kein noch so großer Gutsbetrieb ein eigenes Forschungsteam finanzieren kann. Das
ist natürlich eine staatliche Angelegenheit, ebenso wie die Erhebung österreichweiter Zahlen, die Analyse der damaligen Rechtsvorschriften und ihrer Umsetzung. Daher ist es meines Erachtens absolut notwendig, die Frage der Zwangsarbeit im Rahmen der Historikerkommission zu untersuchen.
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Zwangsarbeit in Österreich
Befinden sich die Historikerkommission und die Forschungsteams nicht in einem
Konflikt zwischen komplexen Erklärungsmodellen der historischen Forschung
einerseits und andererseits der Erwartung der Öffentlichkeit, dass es klare,
eindeutige Fakten und Zahlen geben wird?
Ich glaube, man muss beides verbinden, und es ist auch die Aufgabe der HistorikerInnen,
die für die Kommission arbeiten werden, dass sie sich eben nicht nur auf das eine oder
auf das andere beschränken. Es ist eine klassisch historische Arbeit gefordert, wobei natürlich ein Schwerpunkt auf der Recherche von sogenannten Fakten liegen wird: Wie hoch
war der Vermögensentzug da oder dort? Wie und wieviel wurde nach 1945 rückgestellt
und entschädigt? Es geht also um die berühmten „W-Fragen“ – wer, wie, wo, was, wann,
warum –, dazu gehören aber auch komplexe Analysen. Dieselben Fragen muss man für
die Zweite Republik untersuchen. Und da gehört wiederum beides dazu: Auf der einen
Seite steht die reine Faktizität – wieviel wurde denn eigentlich zurückgegeben? Und auf
der anderen Seite die Erklärung, warum wurde was zurückgegeben oder nicht zurückgegeben, warum wurde entschädigt und warum nicht. Das sind alles Fragen, die man
klären muss, und insofern findet diese Teilung zwischen Faktizität und Theorie eigentlich
nicht statt. Es soll eine solide historische Arbeit geleistet werden. Es ist allerdings eine sehr
eingeschränkte Fragestellung, die Frage des Vermögensentzugs ist nicht eine Geschichte
des Nationalsozialismus in Österreich, sondern sie ist ein Teil dieser Geschichte. Und ich
befürchte, dass alle anderen Bereiche der Geschichte des Nationalsozialismus in Österreich weiterhin eben nicht erforscht werden. Ich befürchte, dass man nach dem Endbericht
der Historikerkommission erst recht keine Forschungsprojekte zum Thema Nationalsozialismus mehr fördern wird. Es gibt aber noch viele offene Fragen, z.B. ist die ganze NS-Täterseite noch nicht erforscht. Es gibt hunderte ganz wichtige Fragen, die international bereits
diskutiert werden und die in Österreich seit Jahrzehnten in der Forschung blockiert sind,
weil es dafür keine Finanzierung gibt und weil die Widerstände in der Politik in den
letzten Jahrzehnten viel zu groß waren. Die Ausrede wird dann sein: „Jetzt haben wir eh
schon so viel Geld in eine Historikerkommission investiert, jetzt muss einmal etwas anderes
gemacht werden.“
Gibt es in der Bundesrepublik Deutschland schon Modelle für Entschädigungen für
ZwangsarbeiterInnen?
Dort wird diese Frage schon wesentlich konkreter verhandelt als bei uns. In Deutschland
sind zwei verschiedene Fonds in Diskussion, die man bis zum 1. September einrichten will.
Ein Fonds soll von Firmen finanziert werden und ist für die Personen gedacht, die bei
diesen Firmen Zwangsarbeit geleistet haben. Ein weiterer Fonds wird voraussichtlich von
der deutschen Regierung eingerichtet für die ehemaligen ZwangsarbeiterInnen, für die
keine Firmengelder vorhanden sind. Man verhandelt derzeit über die Höhe der Entschädigungssumme, die zwischen 5000 und 10.000 Mark liegen soll und die direkt an die
ehemaligen ZwangsarbeiterInnen ausbezahlt werden wird. Es gibt allerdings noch eine
Menge juridischer Probleme, weil die Firmen natürlich eine Konstruktion finden wollen, mit
der sie künftigen Klagen entgehen können.
Welche Möglichkeiten der finanziellen Entschädigung für Zwangsarbeiter –
Individualentschädigung, Globalentschädigung, eine symbolische Summe oder die
Auszahlung der Lohndifferenz – werden derzeit in Österreich diskutiert?
Es kann letztendlich ja nur um symbolische Summen gehen. Wie will man etwa eine
Zwangsarbeiterin entschädigen, die hier ein Kind bekommen hat, das ihr nach der Geburt
weggenommen wurde, das man mit Absicht in sogenannten Kinderheimen für „Ostarbeiterinnen“ verhungern oder sonst irgendwie zu Tode kommen hat lassen? Wie will man solche
Dinge entschädigen? Es kann immer nur um symbolische Summen gehen. Und ich glaube,
das sollte auf jeden Fall in Form einer Individualentschädigung geschehen, die direkt an
die einzelnen Betroffenen geht. Stellen Sie sich einmal vor, was es für ehemalige Zwangs-
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Interview mit Florian Freund
arbeiterInnen bedeutet, die heute in der Ukraine, in Polen oder anderswo im Elend leben
und fast keine Pensionen bekommen, wenn ihnen jetzt in Devisen eine bestimmte Summe
ausbezahlt wird. Dann können sie wenigstens jetzt, im hohen Alter, vernünftig leben. Das
sollte man auf jeden Fall machen und nicht zu lange warten, denn mit jeder Woche, die
man noch wartet, sterben wieder einige. Diese Strategie, alles in die Länge zu ziehen,
weil das billiger kommt – nach der alten Devise seit 1945, wie Robert Knight in seinem
Buch „Ich bin dafür, die Sache in die Länge zu ziehen …“ bereits nachgewiesen hat –,
empfinde ich als ziemlich schäbig.
Dr. Florian Freund ist Historiker, Univ.Lektor am Institut für
Zeitgeschichte der Universität Wien,
Forschungsschwerpunkte: Kriegswirtschaft, Zwangsarbeit,
Konzentrationslager, Verfolgung der österreichischen
Roma und Sinti im Nationalsozialismus
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Roma und Sinti
Sterilisationsopfer
„Euthanasie“-Opfer
„Asoziale“
Leben im Verborgenen
Frauen im Widerstand
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Die vergessenen Opfer
Das folgende Kapitel umfaßt Texte, die sich mit jenen Gruppen von Opfern des Nationalsozialismus auseinandersetzen, deren Erfahrungen und Leid lange Jahre in Österreich
tabuisiert wurden: die sogenannten U-Boote, Roma und Sinti sowie andere ethnische
Minderheiten, ZeugInnen Jehovas, Homosexuelle, Vertriebene, Opfer von Sterilisation und
➤ „Euthanasie“ sowie als „asozial“ Verfolgte.
Diese Gruppen wurden sowohl aus sogenannten rassischen oder politischen, religiösen
Gründen, aufgrund sexueller Orientierung oder „fehlender Anpassung“ diskriminiert und
verfolgt. Als Grundlage für ihre Verfolgung, Vertreibung und Ermordung dienten die
➤ „Nürnberger Rassengesetze“ von 1935, die 1938 auch für Österreich Gültigkeit erlangten, sowie die nationalsozialistische Erbgesundheitspolitik – am 1.1. 1940 trat in Österreich etwa das ➤ „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ in Kraft.
Die Biographie von Betty Voss verdeutlicht, welche entscheidende Rolle die Gesundheitsund Fürsorgeämter als verlängerter Arm der Verfolgungsbehörden einnahmen, bei der Initiierung von Entmündigungsverfahren und Zwangspsychiatrierung sowie der Einweisung in
Arbeitshäuser und Konzentrationslager.
Auch die Überstellung von Kindern und Jugendlichen in NS-Erziehungslager und NSErziehungsanstalten erfolgte vielfach durch Registratur und Beurteilung von Fürsorgerinnen.
In welchem Ausmaß Kinder und Jugendliche in derartigen Einrichtungen zu sogenannten
medizinischen Forschungszwecken herangezogen, Opfer von Zwangssterilisation und
„Euthanasie“ wurden, belegen die leidvollen Erfahrungen der ehemaligen „Kinder vom
Spiegelgrund“.
Während einige Texte im nachfolgenden Kapitel die Verfolgung während des Nationalsozialismus untersuchen, liegt der Schwerpunkt anderer Darstellungen auf dem Umgang
Österreichs mit den Opfern nach 1945. Diese Auswahl soll die Kontinuitäten von Vorurteilen und Ausgrenzung deutlich machen. Die Stigmatisierung von Roma und Sinti oder
sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen als „asozial“ und „arbeitsscheu“ wie auch die
Kriminalisierung von Homosexualität stellten keine nationalsozialistische Erfindung dar. Und
auch die Anerkennung bzw. Nichtanerkennung als Opfer nach 1945 erfolgte nicht aufgrund tatsächlicher Verfolgung und den psychischen und physischen Folgeschäden, sondern nach den weiterhin wirksamen Grundsätzen rassen- und erbbiologischer Ideologie der
NS-Zeit. Die Geschichte der ➤ Opferfürsorgegesetzgebung (siehe viertes Kapitel) verdeutlicht dies eindrücklich.
Über die Errichtung des ➤ Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus 1995 wurden diese bislang in der Opferfürsorgegesetzgebung entweder unberücksichtigten oder in unzureichendem Ausmaß berücksichtigten Opfergruppen als solche
anerkannt.
Die folgenden Texte mögen das Ausmaß und die Konsequenzen der Verfolgung veranschaulichen sowie das vielfach fortgesetzte Leid der ehemaligen Opfer durch ihre
langjährige Nichtanerkennung.
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BEINAHE VERGESSENE OPFER – ROMA UND SINTI
BRIGITTE BAILER-GALANDA
„Arbeitsscheu
und asozial“
„Lösung der
Zigeunerfrage“ –
Das Lager
Lackenbach
Die Verfolgung der Roma und Sinti durch das nationalsozialistische Regime wird bis heute
von einer breiteren Öffentlichkeit kaum, von der zeitgeschichtlichen Forschung nur nach
und nach zur Kenntnis genommen,1 obschon das Vorgehen der nationalsozialistischen Verfolger gegen die österreichischen „Zigeuner“ 2 in seinen Grundzügen der Verfolgung der Juden gleicht. Sofort nach dem „Anschluß“ 1938 erfolgten Schulbesuchs- und Berufsverbote,
aufgrund eines Runderlasses des Reichsführers SS und Chefs der deutschen Polizei Heinrich
➤ Himmler wurden alle „Zigeuner“ durch die Polizeibehörden registriert. 1939 setzten die
ersten umfangreichen Verhaftungsaktionen ein. Aufgrund einer Weisung des Reichskriminalamtes Berlin wurden Männer mit ihren Söhnen unter dem Vorwand, sie seien arbeitsscheu
und daher „asozial“, in verschiedene Konzentrationslager gebracht. Diese Etikettierung als
„arbeitsscheu und asozial“ bereitete den ehemaligen Häftlingen nach 1945 beträchtliche
Schwierigkeiten mit den Opferfürsorgebehörden. Im Juni 1939 wurden 440 Frauen aus
Wien, Niederösterreich und dem Burgenland ins neu errichtete Frauenkonzentrationslager
Ravensbrück eingewiesen.3 In den Konzentrationslagern wurden an den Roma und Sinti
Zwangssterilisationen und medizinische Experimente vorgenommen, an deren physischen
und psychischen Folgeschäden die Überlebenden bis heute leiden,4 auch wenn die Gutachter in Opferfürsorgefällen dies nicht wahrhaben wollen.5 Mit Runderlaß des ➤ Reichssicherheitshauptamtes vom 17. Oktober 1939 wurde angeordnet, daß die Roma und Sinti ihren
Aufenthaltsort ab Ende Oktober ohne polizeiliche Erlaubnis nicht mehr verlassen durften.6
Ende 1940 wurde die Ausgrenzung und Gettoisierung in eigenen Lagern vollzogen – neben zahlreichen kleineren Lagern vor allem im burgenländischen ➤ Lackenbach und im Vorort der Stadt Salzburg, Maxglan.7 Im November 1941 wurden 5007 österreichische „Zigeuner“, davon mehr als die Hälfte Kinder, ins Getto von Lodz deportiert und von dort aus wenig später in den Gaskammern von ➤ Chelmno (Kulmhof) getötet.8 Im Frühjahr 1943 wurden
tausende Roma und Sinti aus den von Deutschland besetzten Ländern, auch aus Österreich,
ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert und dort in der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 in den Gaskammern von Birkenau ermordet.9 Zuvor, 1942, waren die im Burgenland seßhaft gewesenen Familien zum Verkauf ihrer Grundstücke und Häuser gezwungen
worden, ihr Besitz wurde gleichsam ➤ „arisiert“, da – wie der Landrat in Oberwart in einem
Rundschreiben feststellte – „mit einer weiteren Lösung der Zigeunerfrage zu rechnen“ sei.10
Einen besonderen Stellenwert im Kampf der Roma und Sinti um volle Anerkennung als
Opfer des Nationalsozialismus nahm das burgenländische Lager Lackenbach ein. Offiziell
am 23. November 1940 gegründet,11 unterstand das Lager der Kriminalpolizeileitstelle
Wien. Die Lagerleitung oblag gleichfalls Beamten der Kriminalpolizei, die jedoch „aufgrund ihrer Funktion einen SS-Rang hatten“.12 Erster Kommandant war SS-Obersturmführer
Kohlroß, er starb bei der 1942 in Lackenbach ausgebrochenen Flecktyphusepidemie, sein
Stellvertreter war der später zur Waffen-SS einberufene Polizeibeamte Franz Langmüller,
der 1948 von einem Wiener Volksgericht wegen „Quälerei und Mißhandlung der Lagerinsassen“ verurteilt wurde.13 Das Lager selbst war in einem größeren Meierhof untergebracht, die Häftlinge mußten anfänglich in Ställen und später in rasch errichteten Baracken
hausen, wo keinerlei sanitäre Einrichtungen für die vielen hundert Menschen zur Verfügung
standen. Die Ernährungssituation war katastrophal. Im Sommer 1941 war der Lagerbrunnen ausgeschöpft, die Inhaftierten mußten ihr Trinkwasser dem nahegelegenen Bach entnehmen. Der Flecktyphusepidemie 1942 fielen zahlreiche Lagerinsassen zum Opfer. Alle
arbeitsfähigen Häftlinge, auch Kinder, wurden entweder an Bauern oder an Unternehmen
als Arbeitskräfte vermietet oder mußten im Lager selbst diverse Arbeiten verrichten. Den
Arbeitslohn erhielt die Lagerverwaltung, die davon den Insassen nur einen kleinen Teil als
„Taschengeld“ ausbezahlte, der Rest wurde für „Verköstigung und Unterbringung“ abgezogen. Bei Verstößen gegen die Lagerordnung wurden verschiedene Strafen verhängt: Einzelhaft im „Bunker“, Prügel, strafweises Knien für die Kinder oder auch Essensentzug. Erst als
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Brigitte Bailer-Galanda
SS-Untersturmführer Julius Brunner die Leitung des Lagers übernahm, wurde die Situation
der Häftlinge etwas besser.14
Die Überlebenden der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie hatten nach 1945
wieder mit denselben Vorurteilen und Vorbehalten zu kämpfen wie vor und während der
NS-Zeit. Sie waren und blieben die „Fremden“, deren Kultur und Lebensweise man
mißtrauisch und ablehnend gegenüberstand, die zu verstehen man sich – abseits romantischer Klischees – nicht die Mühe machte, obwohl zahlreiche Familien bereits seit mehreren
Generationen beispielsweise im Burgenland ansässig gewesen waren. Nur die Hälfte bis
zu zwei Drittel der Verschleppten kehrte im Burgenland in ihre Heimatgemeinden zurück.15
Ihre Familien- und Gruppenstrukturen, die in der Kultur der Roma und Sinti besondere Bedeutung besitzen, hatte der Nationalsozialismus in vielen Fällen zerstört. Bei den Behörden
und Ämtern waren sie nach wie vor Diskriminierungen ausgesetzt, nicht einmal die Ausdrucksweise hatte sich seit der NS-Zeit wesentlich geändert. Aus der „Zigeunerplage“ war
das „Zigeunerunwesen“ geworden. So stellte die Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit in Wien 1948 fest, „daß das Zigeunerunwesen in einigen Gegenden des Bundesgebietes wieder im Zunehmen begriffen“ sei „und sich bereits unangenehm bemerkbar“
mache. „Um auf die Bevölkerung Eindruck zu machen, sollen sich Zigeuner oftmals als KZler ausgeben. Soweit die Voraussetzungen nach der Ausländerpolizeiverordnung gegeben
erscheinen und die Möglichkeit einer Außerlandschaffung besteht, wäre gegen lästige Zigeuner mit der Erlassung eines Aufenthaltsverbotes vorzugehen und ihre Außerlandschaffung durchzuführen.“ 16 Bereits Tobias Portschy, burgenländischer Landeshauptmann nach
dem „Anschluß“, hatte 1938 die beste „Lösung der Zigeunerfrage“ in deren „freiwilliger
Abwanderung ins Ausland“ gesehen.17
Bezeichnend für die Haltung von Gemeinden und Behörden gegenüber den zurückgekehrten Roma und Sinti ist folgender Fall: Der burgenländische Landarbeiter I. H. wurde bereits im Juli 1938 in ein Konzentrationslager gebracht. Sein bescheidenes Haus wurde niedergerissen, die Möbelstücke verschwanden, das übriggebliebene Baumaterial gleichfalls.
Nach seiner Rückkehr verlangte H. von seiner Heimatgemeinde St. Margarethen im Wege
der ➤ Rückstellungsgesetzgebung Ersatz für sein verlorengegangenes Eigentum. Sein Antrag
wurde abgelehnt, in der Begründung des Rückstellungserkenntnisses wird ausgeführt: „Die
Gemeinde St. Margarethen als Antragsgegnerin beantragt Abweisung des Rückstellungsantrages und wendet ein, daß der Antragsteller ein Haus nicht besaß, sondern nur eine primitive Unterkunft in einem Erdloch bzw. einer Bretterbude. Desgleichen hätte der Antragsteller
niemals Möbel besessen. Außerdem sei die Aktion gegen die Zigeuner nicht von der Gemeinde St. Margarethen ausgegangen, sondern von einer Dienststelle der NSDAP. Schließlich hätte sich die Gemeinde aus dem Baumaterial des Antragstellers überhaupt nichts angeeignet. Außerdem sei dem Antragsteller von der Gemeinde eine Wohnung zur Verfügung
gestellt worden. Richtig ist, daß Zigeuner zum Kreise der politisch verfolgten Personen
zählen, und erwiesen ist, daß auch der Antragsteller aus der Zigeunersiedlung St. Margarethen von der ➤ SS in ein KZ verbracht wurde und daß bei dieser Verschleppung der Zigeuner die Siedlung in Brand aufging. (...) Durch die Auskunft des Amtes der burgenländischen Landesregierung steht fest, daß die in der Gemeinde St. Margarethen gegen Zigeuner getroffene Maßnahme keine Aktion seitens der Gemeinde darstellt, sondern auf Grund
der Anordnungen übergeordneter Parteien oder staatlicher Dienststellen zurückzuführen
sind. Durch die Aussage des Zeugen Paul Unger, der Bürgermeister bis zur Machtergreifung
des NS in St. Margarethen gewesen ist, ist erwiesen, daß Antragsteller (sic!) nur eine Hütte
hatte, die mit Holzläden bedeckt war. Durch diesen Zeugen ist aber auch erwiesen, daß
das wenige Material, das nach dem Brand des Zigeunerlagers übrig blieb, von den Ortsbewohnern als Lohn für die Beseitigung des Lagers in Empfang genommen wurde. Weiters ist
durch diesen Zeugen erwiesen, daß die Zigeuner eine Wohnungseinrichtung überhaupt
nicht besaßen, in einem Bett schlief nur der Zigeunerprimas. Diese Aussage wird von dem
Zeugen Karl Unger, der Bürgermeister während der nationalsozialistischen Aera gewesen
ist, bestätigt. (...) Lediglich der Zeuge Michael Barta gibt in seiner Aussage als Zeuge an,
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Von der
„Zigeunerplage“
im NS zum
„Zigeunerunwesen“
nach 1945
Beinahe vergessene Opfer – Roma und Sinti
Mangelnde
Aufklärung und
Angst vor
Umgang mit den
Behörden
daß er dem Antragsteller ein Haus in der Größe von 4 mal 4 m aufbauen half.“ 18 Die in
diesem Erkenntnis zum Ausdruck kommende offensichtlich hohe Glaubwürdigkeit, die Aussagen ehemaliger NS-Funktionäre seitens der Gerichte und Behörden der Zweiten Republik
zugebilligt wurde, findet sich auch in den Beweiswürdigungen der Opferfürsorgebehörden.
Viele der Roma und Sinti scheuten nach Kriegsende Bemühungen um Leistungen nach
dem ➤ Opferfürsorgegesetz, da sie – wie Erika Thurner wohl zu Recht vermutet – den Umgang mit Behörden fürchteten. Andererseits muß berücksichtigt werden, daß das Opferfürsorgegesetz vorwiegend nur jenen Menschen bekannt war, die sich in einem der Opferverbände organisiert hatten oder über Kontakt zu einem solchen Verband verfügten. Außerhalb der Publikationen der Verbände wurde in den Medien nur wenig über die Gesetzgebung zugunsten der Opfer berichtet. So könnten zahlreiche Anträge von Sinti und Roma
auch an mangelnder Information gescheitert sein. Doch jene, die den Gang zu den Behörden auf sich nahmen, sahen sich dort wieder mit Vorurteilen konfrontiert. So schreibt der
„Neue Mahnruf“, der sich ab Beginn der fünfziger Jahre der Anliegen der „Zigeuner“ annahm, 1953: „Die Zigeuner gelten als rassisch Verfolgte und haben daher den Anspruch
darauf, genau so behandelt zu werden wie alle anderen Personen, die aufgrund der
Opfer- und Entschädigungsgesetze irgendwelche Ansprüche stellen können. (...) Es sind uns
aber Fälle bekannt, (...) wo manche Behörden glauben, mit unbegründeten Ausflüchten berechtigte Ansprüche von Zigeunern abtun zu können, oder die Unkenntnis dieser Personen
dazu ausnützen, sie um Ansprüche bringen zu können.“ 19 Und als 1957 in Oberwart und
Pinkafeld Informationsabende des ➤ KZ-Verbandes über die Opferfürsorgegesetzgebung
stattfanden, mußte die Referentin „mit Erstaunen feststellen“, „daß die burgenländischen
Kameraden, die Zigeuner sind, sehr niedrige Renten beziehen und nicht jene Leistungen
gewährt werden, auf die nach dem Opferfürsorgegesetz Anspruch besteht“. 20 Auch im offiziellen Kommentar zum Opferfürsorgegesetz vom zuständigen Ministerialrat des Bundesministeriums für soziale Verwaltung, Dr. Burkhart Birti, findet sich im Stichwortverzeichnis
kein Hinweis auf die „Zigeuner“, auch bei den allgemeinen Erläuterungen zum Personenkreis der „rassisch“ Verfolgten werden sie nicht erwähnt. Erst bei den Erläuterungen zur
Haftentschädigung kommen auch die „Zigeuner“ vor, und es wird auf die oben erwähnten
Runderlässe des Reichsführers SS und des ➤ Reichssicherheitshauptamtes verwiesen.21
Roma und Sinti, die außer in Lackenbach noch in anderen Konzentrationslagern inhaftiert
gewesen waren, hatten bescheidene Chancen, einen ➤ Opferausweis oder eine ➤ Amtsbescheinigung nach Opferfürsorgegesetz zu erhalten, meist jedoch mußten sich diese Opfer
der rassistischen Verfolgung mit einem für sie ziemlich nutzlosen Opferausweis begnügen –
wie hätten sie einen Steuerabsetzbetrag nutzen sollen? Anträge auf Ausstellung einer Amtsbescheinigung hingegen scheiterten sehr oft daran, daß das Lager Lackenbach nicht als
Haftstätte gemäß Opferfürsorgegesetz anerkannt wurde. Bereits im November 1952 verfaßten ehemalige Häftlinge des Lagers eine Niederschrift über den Charakter des Lagers.
Der KZ-Verband nahm sich in der Folge der Anliegen der ehemaligen Lackenbacher an. In
einem Vermerk des Verbandes wurde darauf hingewiesen, daß die Opferfürsorgekommission sich in einer ihrer nächsten Sitzungen mit dem Problem befassen werde. „Von seiten unseres Verbandes wird alles unternommen werden, um die Anerkennung des Lagers Lackenbach durchzusetzen. Es ist uns aber bekannt, und das wollen wir nicht verschweigen, daß
das Finanzministerium und das Sozialministerium gegen die Anerkennung des Lagers
Lackenbach sind, da in diesem Lager vor allem Zigeuner in Haft waren und nach Meinung
der beiden Ministerien die Zigeuner eigentlich nicht als Opfer der Verfolgung zu betrachten
sind.“ 22 Diese übertrieben klingende Behauptung erfährt ihre Bestätigung jedoch in der
Wortwahl eines Bescheides des Sozialministeriums,23 mit dem der Antrag eines ehemaligen
Lackenbacher Häftlings auf Ausstellung einer Amtsbescheinigung abgelehnt worden war:
„Was hingegen den vom Beschwerdeführer behaupteten Haftcharakter seiner Anhaltung im
Lager Lackenbach betreffe, habe das belangte Bundesministerium durch Einsicht in die
betreffenden Akten des Bundesministeriums für Inneres (Generaldirektion für die öffentliche
Sicherheit) festgestellt, daß es sich im Falle des Beschwerdeführers keinesfalls um eine Haft
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Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
Brigitte Bailer-Galanda
im Sinne des Opferfürsorgegesetzes gehandelt haben könne. Insbesondere entspreche die
Behauptung des Beschwerdeführers, daß das Lager Lackenbach der ➤ Gestapo unterstellt
gewesen sei, nicht den Tatsachen. In Wahrheit habe es vielmehr der Kriminalpolizeileitstelle
unterstanden. In diesem Lager seien hauptsächlich arbeitslos herumziehende Zigeuner, die
eine Gefahr für das Eigentum dritter Personen darstellten, zusammengefaßt worden, um sie
einer geregelten Arbeit zuführen zu können. Sie seien demnach nicht nach Art von Häftlingen festgehalten, sondern im Einverständnis mit dem Arbeitsamt den Landwirten zur
Arbeitsleistung zugewiesen worden, wo man sie untertags verpflegt und im Stundenlohn
entlohnt habe. (...) Die Ordnung im Lager sei durch Stammesgenossen (‚Zigeunerkönige‘)
ausgeübt worden, welche die Lagerleitung (zwei Kriminalbeamte der Kripoleitstelle Wien)
zu unterstützen hatten. (...) Lackenbach sei somit kein Konzentrationslager, sondern ein
Arbeitslager gewesen.“ 24 Die hier vom Gerichtshof referierte Ausdrucksweise des Sozialministeriums ist insoferne mehr als bemerkenswert, als sie sich wörtlich mit der Denkschrift des
burgenländischen Gauleiters Dr. Tobias Portschy über die Zigeunerfrage deckt. Portschy
war darin nämlich zu dem Schluß gekommen: „In der großen Anzahl von fast 8000 Zigeunern als Nichtstuer, Arbeitsscheue, Lungerer und Verbrecher liegt die große Gefahr für die
Sicherheit des Eigentums und für den wirtschaftlichen Bestand unserer Landgemeinden.“ 25
Im Jahr 1958 kam die Frage nach dem Charakter des Lagers Lackenbach neuerlich vor
den Verwaltungsgerichtshof, als ein ehemaliger Insasse des Lagers Lackenbach einen
Bescheid des Amtes der burgenländischen Landesregierung anfocht. Der Beschwerdeführer
hatte 1952 die Ausstellung einer Amtsbescheinigung beantragt, da er sich infolge der
Haftbedingungen ein Herzleiden zugezogen hatte, „durch welches seine Arbeitsfähigkeit
weitgehend herabgesetzt worden sei“.26
Dieser Antrag war abgelehnt worden, da „die Voraussetzungen nach § 1 Abs. 1 lit. e OFG
im Hinblick auf das Ausmaß der vorliegenden Gesundheitsschädigung nicht gegeben seien
und die Anhaltung im ‚Arbeitslager Lackenbach‘ allein noch nicht anspruchsbegründend
sei.“ 27 Aufgrund der Berufung des Beschwerdeführers wurde ein ausführliches Ermittlungsverfahren durchgeführt. Neben ehemaligen Insassen des Lagers wurden vor allem Lagerverantwortliche aus der NS-Zeit als Zeugen einvernommen: die Lagerbewachungsorgane Josef
Leberl und Nikolaus Reinprecht, Josef Zenz, der für die Abrechnung der Arbeitsleistungen
der Lagerinsassen verantwortlich gewesen war, Roman Neugebauer und Josef Hajek, die
in der Lagerverwaltung tätig gewesen waren, Ignaz Schumeritsch, der für die „Durchführung eines Zigeunertransportes nach Lackenbach“ verantwortlich gewesen war, sowie
der Lackenbacher Bürgermeister der NS-Zeit, Matthias Hlavin, und der damalige Landrat in
Oberpullendorf, Dr. Friedrich Scheuerle. Außerdem berücksichtigte die Behörde das Strafverfahren gegen den ehemaligen stellvertretenden Lagerführer Langmüller und erhalten gebliebene Dokumente aus der NS-Zeit über das Lager. Letztendlich billigte die Behörde den
Aussagen der Funktionäre der NS-Zeit höhere Glaubwürdigkeit zu als den ehemaligen
Lagerinsassen. Insbesondere tauchte in den Aussagen der ehemaligen Lagerfunktionäre
stets wieder die Behauptung auf, die Häftlinge hätten Urlaub beanspruchen können und
sonntags zu Spaziergängen frei gehabt. Die ehemaligen Insassen des Lagers beschrieben
diese Spaziergänge zwar als organisierte Märsche in den Wald zur Sammlung von Brennholz, 28 doch das Argument des „Urlaubs“ wog in den Augen der Behörde schwer. Die
Behörde kam zu dem Schluß: „Die belangte Behörde nahm aufgrund der Angaben der
Zeugen Leberl, Neugebauer, Hajek und Hlavin als erwiesen an, daß die Lagerinsassen
gelegentlich Urlaub und insbesondere an Sonntagen und nach der Arbeitszeit auch Ausgang erhielten, wobei sie Kinos und Bekannte besuchen konnten. Wohl seien die Angaben
der ehemaligen Lagerinsassen über die Ausgangsmöglichkeiten vielfach widersprechend
gewesen, auch habe der Zeuge R. (ehemals Bewachungsorgan) angegeben, daß es
grundsätzlich keinen Ausgang oder Urlaub gegeben habe. Dem stünde aber die Aussage
des Zeugen Neugebauer als ehemaligem Wirtschaftsführer im Lager gegenüber, der mit
den Lagerverhältnissen aus eigener Wahrnehmung vertraut sei, weshalb im Hinblick auf
die gleichlautenden Angaben der Zeugen Leberl, Hajek und Hlavin den Angaben des
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Lackenbach „nur“
ein Arbeitslager?
Die „Glaubwürdigkeit“
ehemaliger
NS-Funktionäre
Beinahe vergessene Opfer – Roma und Sinti
Eingeschränkte
Entschädigung für
Sinti und Roma
Zeugen Reinprecht keine entscheidende Bedeutung beigemessen werde. Die Glaubwürdigkeit der Aussagen der ehemaligen Lagerinsassen sei durch das persönliche Interesse an der
Sache, welches auch Widersprüche mit den sonstigen Beweisergebnissen gezeitigt habe,
gekennzeichnet, während gegen die Aussagen des Zeugen Neugebauer – derzeit im Ökonomiereferat der Polizeidirektion Wien tätig – keine solchen Bedenken bestünden.“ 29 Daß
die ehemals für die Lagerverhältnisse Mitverantwortlichen gleichfalls schon aus Gründen
der Schuldabwehr geneigt sein mußten, die Zustände in Lackenbach in möglichst positivem
Licht erscheinen zu lassen, bedachte die Behörde offensichtlich nicht, während die Aussagen der ehemals betroffenen Roma und Sinti vorneweg als unglaubwürdig abgetan
wurden.30 Mit diesem Erkenntnis legte der Verwaltungsgerichtshof jedenfalls fest, daß es
sich bei der „Anhaltung“ in Lackenbach keinesfalls um eine Haft gehandelt habe.31 Daher
konnten einerseits aufgrund von Anhaltungen in Lackenbach auftretende Gesundheitsschäden von den ehemals Inhaftierten nicht geltend gemacht werden – es war ihnen also auf
diese Weise der Weg zu einer Amtsbescheinigung und damit zu Rentenfürsorge verschlossen –, andererseits konnten sie auch keine Haftentschädigung für die in Lackenbach zugebrachten Zeiten erhalten. Sie blieben von materiellen Leistungen des Opferfürsorgegesetzes
bis auf weiteres ausgeschlossen. Erst die ➤ 12. Novelle 1961 sah Entschädigungen – die
aber nur die Hälfte der Haftentschädigung ausmachten – für Freiheitsbeschränkungen vor.
Unter diesem Begriff wurde dann auch das Lager Lackenbach subsumiert.
Aufgrund der Nicht-Anerkennung des Lagers als Haftstätte kam es zu seltsamen Kapriolen
der Behördenentscheidungen. Franz S. aus Klagenfurt hatte sich von November 1939 bis
Mai 1945 als „Zigeuner“ in Haft befunden. In einem ersten Bescheid stellten die Kärntner
Behörden fest, „daß die Anhaltung des Beschwerdeführers wegen mehrmaliger Übertretung
des Verbotes des Umziehens nach Zigeunerart und nicht aus politischen bzw. rassischen
Gründen erfolgt sei“.32 Aufgrund seiner Berufung wurde Franz S. schließlich eine Entschädigung für die Zeit bis 30. September 1941 zuerkannt, für die Zeiten, die er in sogenannten
„Zigeunerlagern“, darunter auch Lackenbach, zubringen hatte müssen, jedoch nicht – eine
Entscheidung, die auch der Verwaltungsgerichtshof bestätigte. Folgt man dieser Logik, wäre
Franz S. ab Oktober 1941 quasi frei gewesen, denn die Haft endete mit September 1941!
Aufgrund langjähriger Bemühungen der Opferverbände und engagierter Historiker/innen
wurde das Opferfürsorgegesetz 1988 dahingehend geändert, daß nunmehr die ehemaligen Insassen von Lackenbach auch eine Amtsbescheinigung, und damit Rentenfürsorge erhalten können: „Opfern der politischen Verfolgung (…), die eine Freiheitsbeschränkung in
der Dauer von mindestens einem halben Jahr erlitten haben, ist an Stelle eines Opferausweises eine Amtsbescheinigung auszustellen.“ 33 Die Möglichkeit zur Erlangung eines Opferausweises infolge erlittener Freiheitsbeschränkungen war gleichfalls sehr spät in das
Opferfürsorgegesetz aufgenommen worden, und zwar mit der 23. Novelle aus 1975.34
Doch nicht nur in der Bewertung des Charakters von Lackenbach wurden weiterwirkende
Vorurteile der Beamten gegen Roma und Sinti deutlich. In manchen Fällen wurde sogar ihre
Verfolgung aus Gründen der Abstammung und damit die Anerkennung als Opfer im Sinne
des Opferfürsorgegesetzes verneint, wobei den „Zigeunern“ ihre auch vor 1938 an die
herrschenden gesellschaftlichen Normen und bürgerlichen Vorstellungen nicht angepaßte
Lebensweise zum Problem wurde. Zahlreiche Roma und Sinti waren wegen ihres nomadisierenden Lebens wegen Vagabondage, manche auch wegen geringfügigerer Eigentumsdelikte vorbestraft. Aus diesen Gründen waren Sinti und Roma in der nationalsozialistischen Zeit vielfach als sogenannte „Asoziale“ inhaftiert gewesen, und die Opferfürsorgebehörden schlossen sich in solchen Fällen dem von den Nationalsozialisten angeführten
Haftgrund an oder interpretierten diesen in die Verfolgung der Roma und Sinti zurück. Als
„Asoziale“ verfolgt gewesene Menschen haben jedoch bis heute (Stand: 1993) in Österreich keinen Anspruch auf Leistungen nach dem Opferfürsorgegesetz.35
J. P. war von 1941 bis 1945 in Lackenbach inhaftiert gewesen und hatte sich dort ein
Herzleiden, Rheumatismus und Erfrierungen zugezogen. Seine Anerkennung als Opfer
nach dem Opferfürsorgegesetz wurde von der Bezirkshauptmannschaft Oberwart jedoch
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abgelehnt, „da der Beschwerdeführer bereits vor der Verschickung in ein Konzentrationslager (sic!) wegen Eigentumsdelikten und Vagabundage vorbestraft gewesen sei, weshalb
angenommen werden müsse, daß die Inhaftierung nicht auf Grund der Abstammung allein
erfolgte“.36 J. P. betrieb nach dieser Ablehnung die Tilgung seiner Vorstrafen und stellte danach einen neuerlichen Antrag auf Ausstellung eines Opferausweises, der jedoch abermals
zurückgewiesen wurde, da seine seinerzeitige Ablehnung nicht wegen der damals noch ungetilgten Vorstrafen erfolgt sei: „Es sei im Bescheid lediglich davon gesprochen worden,
daß die Anhaltung des Berufungswerbers in Lackenbach im Hinblick auf seine Vorstrafen
wegen Asozialität und nicht aus Abstammungsgründen erfolgt sein dürfte.“ 37 Der Verwaltungsgerichtshof schloß sich dieser Auffassung an und wiederholte die Argumentation der
burgenländischen Behörden: „Auf diese Vorstrafen ist nur bei der Frage bedacht genommen worden, ob der Beschwerdeführer in der nationalsozialistischen Zeit aus rassischen
Gründen oder aus Gründen seiner ‚asozialen Einstellung‘ in das Lager Lackenbach gebracht wurde. In Bezug auf diese Frage spielt die Tilgung der Strafen naturgemäß keine
Rolle, weil es diesfalls auf die Verhältnisse in der nationalsozialistischen Zeit ankommt.“ 38 In
einem anderen Fall hob der Verwaltungsgerichtshof einen Bescheid des Landeshauptmanns
von Wien auf, worin die Wiener Behörden festgestellt hatten, auf Grund des Erlasses des
Reichsführers SS aus dem Jahre 1939 seien nur asoziale Zigeuner verhaftet und deportiert
worden. Die allgemeine Deportation von Zigeunern habe erst 1942 begonnen, so daß vorher keine zwingenden Gründe für ein Leben im Verborgenen gegeben gewesen seien und
der Antrag (U-Boot Juni 1939 bis Juni 1942) habe abgewiesen werden müssen.39
Versuche einzelner Sinti und Roma, über die Geltendmachung einer Einkommensminderung einen Opferausweis zu erhalten, scheiterten an deren schlechten Einkommensverhältnissen vor der Verfolgung beziehungsweise an deren Ausnützung als billige, nicht der Sozialversicherung gemeldete Aushilfsarbeitskräfte. Frau A. H. aus Oberpullendorf beispielsweise war 1934 bis 1938 als Hilfskraft in einer Gastwirtschaft beschäftigt, verlor diesen
Arbeitsplatz wegen „ihrer Zugehörigkeit zur Zigeunerrasse“.40 In der Folge wurde sie zu
keinem geregelten Arbeitsverhältnis mehr zugelassen „und habe daher durch mehr als
sechs Jahre aus Gründen der Abstammung einen völligen Einkommensverlust erlitten.“ 41
Trotz anderslautender Aussagen anderer Angestellter der Gastwirtschaft schenkten die
Behörden den Angaben des Gastwirtes und dessen Gattin Glauben, die angaben, A. H.
sei bei ihnen nur fallweise beschäftigt gewesen und das erst ab 1936, weshalb er sie nicht
zur Sozialversicherung angemeldet haben. Die Möglichkeit, daß der ehemalige Arbeitgeber der A. H. sich mit diesen Angaben mögliche nachträgliche Schwierigkeiten mit der Sozialversicherung habe ersparen wollen, zogen weder die Behörde noch der Verwaltungsgerichtshof in Erwägung. Die Aussage angesehener Bürger wog vor dem Gericht einfach
schwerer als die kleiner Angestellter oder gar einer „Zigeunerin“. Hier kam vermutlich zusätzlich der auch heute bekannte Umstand zum Tragen, daß Menschen aus niedrigen
sozialen Schichten schwerer zu ihrem Recht kommen können als wohlhabende oder gebildete – ein Problem, das wohl sehr viele der Roma und Sinti bis heute betrifft.
Auch zwangssterilisierte Roma und Sinti fanden keine Anerkennung ihres erlittenen
Gesundheitsschadens. So stellte ein Wiener Amtsarzt fest: „Der somatische Schaden, der
durch die Zwangssterilisation hervorgerufen wurde, ist geringfügig. Nach den Kriegsversehrtenstufen bedingt ja sogar der Verlust beider Hoden erst die Einstufung in die Versehrtenstufe II. Immerhin ist der soziale bzw. moralische Schaden für jemanden, der Wert
darauf legt, eine Familie zu gründen, ein derartiger, daß er für die Zwecke der Erlangung
des Opferausweises wohl der Versehrtenstufe III gleichgehalten werden könne. Doch muß
von vornherein der Bewerber darauf aufmerksam gemacht werden, daß Opferrentenansprüche daraus sich bei der derzeitigen Gesetzeslage schwer ableiten ließen.“ 42 Der Betroffene J. H. erhielt einen Opferausweis, sein Antrag auf Ausstellung einer Amtsbescheinigung
wurde jedoch vom Bundesministerium für soziale Verwaltung abgelehnt.43 Die aus einer
zwangsweisen Unfruchtbarmachung für Roma und Sinti resultierenden schwerwiegenden
sozialen und psychischen Probleme berücksichtigten die amtsärztlichen Gutachten nicht.
Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
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Die noch ausstehende Entschädigung
Beinahe vergessene Opfer – Roma und Sinti
Insgesamt konnte nur ein Bruchteil der rund 11.000 verfolgten Roma und Sinti Anerkennung als Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung finden. Laut Burggasser betrug die
Zahl der anerkannten Roma in Österreich nicht einmal ganz 1000 Personen! 44 Angst und
Scheu der Betroffenen vor der Konfrontation mit den Behörden haben dazu ebenso beigetragen wie Kontinuität von Vorurteilen und die daraus resultierende, ablehnende Haltung
der Behördenvertreter selbst.
Aus: Brigitte Bailer-Galanda: Wiedergutmachung kein Thema. Löcker Verlag, Wien 1993, S. 177-184.
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In diesem Zusammenhang muß auf die verdienstvolle Pionierarbeit durch Dr. Selma Steinmetz verwiesen werden, die wohl als erste in Österreich auf das Schicksal der Roma und Sinti in eigenen
Arbeiten aufmerksam machte: Selma Steinmetz, Österreichs Zigeuner im NS-Staat, Wien 1966; dies., Die Zigeuner, in: Widerstand und Verfolgung im Burgenland 1934-1945, hsg. v. Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Wien 1979, S
244ff. Seit Beginn der achtziger Jahre widmet sich vor allem Erika
Thurner dieser Thematik: Erika Thurner, Nationalsozialismus und
Zigeuner in Österreich, Salzburg 1983; dies., Kurzgeschichte des
nationalsozialistischen Zigeunerlagers in Lackenbach (1940-1945),
Eisenstadt 1984. Weiters erschienen einige Diplom- und Hausarbeiten zu diesem Thema: Claudia Mayerhofer, Die Zigeuner im
Burgenland, Hausarbeit, Universität Wien 1977; Herbert Michael
Burggasser, Österreichs Zigeuner – Schwerpunkt 1938 bis 1980. Ein
Minderheitenproblem, Hausarbeit Universität Wien 1980/81.
Der Begriff „Zigeuner“ wurde den Roma und Sinti von außen
zugeschrieben und wird vielfach in negativer Konnotierung verwendet. Das Wort „Roma“ heißt einfach „Mensch“. In Österreich
leben hauptsächlich die Stämme der Roma und Sinti.
Steinmetz, Die Zigeuner, a. a. O., S. 249f.
Thurner, Nationalsozialismus und Zigeuner in Österreich, a. a. O.,
S. 215ff.
Die Situation ist in der BRD keineswegs besser: Christiane Pross, Wiedergutmachung. Der Kleinkrieg gegen die Opfer, Frankfurt/Main
1988, S 273f.; Helga und Hermann Fischer-Hübner (Hrsg.), Die Kehrseite der „Wiedergutmachung“, Gerlingen 1990, S 163.
Erika Thurner, Nationalsozialismus und Zigeuner in Österreich, a.
a. O., S. 20.
Zur Geschichte des Lagers Maxglan siehe: Erika Thurner, Die Verfolgung der Zigeuner, in: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hsg.), Salzburg 1991, Bd. 2, S 474-521, bes.
498ff.; Barbara Rieger, „Zigeunerleben“ in Salzburg 1930-1943. Die
regionale Zigeunerverfolgung als Vorstufe zur planmäßigen Vernichtung in Auschwitz, unveröffentlichte Diplomarbeit an der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien, Wien 1990.
Vgl. „Unser einziger Weg ist Arbeit“. Das Ghetto in Lodz 19401944, eine Ausstellung des Jüdischen Museums Frankfurt am
Main, Wien 1990, S 186f.
Vgl. Auschwitz, Geschichte und Wirklichkeit des Vernichtungslagers, o. Hsg., Reinbek 1980, S 133.
DÖW Akt Nr. 11. 293.
Die ersten Eintragungen ins „Lagertagebuch“ erfolgten erst im
Jänner 1941. Steinmetz, Die Zigeuner, a. a.a O., S. 247.
a. a. O.
Vgl. dazu DÖW Akt Nr. 9626.
Steinmetz, a. a. O., S 248.
Thurner, Nationalsozialismus, a. a. O., S. 220.
Rundschreiben des Bundesministeriums für Inneres, Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit. Schreiben betreffend Zigeunerunwesen an alle Sicherheitsdirektionen und alle Bundespolizeibehörden, Zl. 84.426-4/48. Zitiert nach Thurner, a. a. O., Anhang XXVIII.
Denkschrift von Dr. Tobias Portschy betreffend die Zigeunerfrage,
August 1938, zitiert nach: Widerstand und Verfolgung im Burgenland, a. a. O., S. 257.
Abschrift des Erkenntnisses der Rückstellungskommission beim
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Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien vom 16. 6. 195, Zl. 63 Rk
1269/49. DÖW Akt Nr. 82.
Der neue Mahnruf, Nr. 4, April 1953.
Der neue Mahnruf. Nr. 7/8, Juli/August 1957.
Das Opferfürsorgegesetz in seiner derzeitigen Fassung und sonstige Vorschriften des Fürsorgerechts für die Opfer des Kampfes für
ein freies, demokratisches Österreich und die Opfer der politischen Verfolgung unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, erläutert von Dr. Burkhart Birkti, Sektionsrat im Bundesministerium für soziale Verwaltung, Wien 1958, S. 14, S. 215f.
Niederschrift ehemaliger Häftlinge des Lagers Lackenbach vom
30. 11. 1952, undatierter Vermerk des KZ-Verbandes „Lager Lackenbach“. DÖW Akt Nr. 82.
Referiert im Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 28. 1.
1954, Zl. 3001/52-6.
Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes, a. a. O. Der Bescheid
des BM für soziale Verwaltung wurde wohl gegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben,
da die Behörde keine Erhebungen über die tatsächlichen Zustände im Lager gepflogen hatte.
Zitiert nach: Widerstand und Verfolgung im Burgenland, a. a. O.,
S. 256.
Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs vom 27. 1. 1958, Zl.
2060/55-3.
a. a. O.
Vgl. DÖW Akt Nr. 82.
a. a. O.
Ähnliche Probleme gab es auch bei der Anerkennung des Lagers
Maxglan. Im Zuge eines Entschädigungsverfahrens in der Bundesrepublik Deutschland wurden die Antragsteller – ehemalige Insassen
des Lagers Maxglan – infolge beschönigender österreichischer Darstellungen sogar wegen Meineids angeklagt. Im Zuge des Meineidsverfahrens stellte sich jedoch die Richtigkeit der Angaben der
ehemaligen Häftlinge heraus. Vgl. dazu Rieger, a. a. O., S. 97-99.
Vgl. dazu auch das spätere Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs vom 9. 6. 1964 zu zehn Beschwerden ehemaliger Insassen
von Lackenbach, Zl. 2340 bis 2349/63.
Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs vom 17. 4. 1958, Zl.
1273/57-4.
BGBl. Nr. 197/1988, in Kraft ab 1. 5. 1988.
BGBl. Nr. 93/1975 vom 23. 1. 1975.
Siehe dazu das Kapitel III. 5. c) in: Brigitte Bailer, Man nannte sie
„asozial“, Wiedergutmachung kein Thema, Wien 1993, S. S 193197.
Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs vom 25. 3. 1954, Zl. 825/53-2.
a. a. O.
a. a. O.
Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs vom 18.5.1966, Zl. 39/65-4.
Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs vom 20.9.1966, Zl. 1703/64-6.
a. a. O.
DÖW Akt Nr. 20 000/h 568.
Zur Problematik der Sterilisierungen siehe das Kapitel „Die Opfer
der nationalsozialistischen Erbgesundheitspolitik“.
Herbert Michael Burggasser, Österreichs Zigeuner – Schwerpunkt
1938 bis 1980. Hausarbeit, Universität Wien 1980/81, S. 85.
Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
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VERTRIEBEN UND NICHT ZURÜCKGEKEHRT 1
BRIGITTE BAILER-GALANDA
Auch die Gruppe der jüdischen Vertriebenen zählt zu den „vergessenen Opfern“. Weder
bemühte sich die Republik, die Vertriebenen nach Österreich zurückzuholen und sie willkommen zu heißen noch wurden sie in der ➤ Opferfürsorgegesetzgebung angemessen berücksichtigt. Den Wenigen, die nach 1945 nach Österreich zurückkehrten, wurde vielmehr vorgeworfen, während des Krieges im Ausland „gut gelebt“ zu haben. Die (Nicht-) Berücksichtigung dieser Gruppe im Opferfürsorgegesetz wird in mehreren Texten des vorliegenden Bandes behandelt. An dieser Stelle soll geschildert werden, welche Folgen Vertreibung und Exil
tatsächlich für die Betroffenen hatten. Für eine ausführlichere Darstellung verweisen wir auf
die Bücher „Wiedergutmachung kein Thema“ von Brigitte Bailer-Galanda sowie „Neubeginn ohne Illusionen. Juden in Österreich nach 1945“ von Helga Embacher (Wien 1995).
Die Mehrheit der 1938/39 aus Österreich geflüchteten bzw. vertriebenen Menschen kehrte
auch nach Kriegsende nicht mehr in die Heimat zurück, andere wieder konnten Verfolgung
und Konzentrationslager überleben – oft als einzige ihrer Familie –, verließen jedoch nach
der Befreiung Österreich oder kehrten gar nicht mehr hierher zurück. Den im Ausland
lebenden Opfern wurden und werden in Österreich besonders massive Vorurteile entgegengebracht. Einerseits ließ man sie fühlen, daß ihre Rückkehr nicht eben erwünscht wäre, andererseits machte man ihnen im selben Atemzuge zum Vorwurf, daß sie eben nicht zurückgekehrt seien, ihre Heimat quasi im Stich gelassen hätten. Diese Argumentationslinie trat
besonders deutlich in den fünfziger Jahren hervor, als das ➤ „Committee for Jewish Claims
on Austria“ seine Verhandlungen um „Wiedergutmachung“ für diesen Personenkreis aufnahm und sich erste positive Verhandlungsergebnisse abzeichneten. Die in Österreich
lebenden Opfer, die zu diesem Zeitpunkt gleichfalls noch keine Entschädigung2 erhalten
hatten, beobachteten den Fortgang der Kontakte der Bundesregierung mit dem „Claims
Committee“ mit Mißtrauen. So schrieb das Organ der „ÖVP-Kameradschaft“ 1955: „Allerdings können wir uns des Eindrucks nicht erwehren, daß hier mancher gar nicht mehr die
Absicht hatte, österreichischen Boden zu betreten, seine Volksverbundenheit (!) also sehr
problematisch war, und trotzdem fordert er heute von Österreich Wiedergutmachung. Wir
können und wollen nun an der Tatsache der Wiedergutmachung für die Ausländer nichts
geändert haben. Wir wollen aber und verlangen kategorisch, daß die in Österreich Befindlichen und durch die Wiedergutmachungsgesetzgebung noch nicht Erfaßten, nunmehr endlich auch zu einer Abfertigung bzw. Versorgung kommen.“ 3
Diese Vorurteile gehen gänzlich an der subjektiven, aber auch objektiven Situation der
Nicht-Rückkehrer vorbei. Viele von ihnen sind auf sehr irrationale Weise nach wie vor an
Österreich gebunden, können jedoch nicht verwinden, was ihnen und ihrer Familie hier
nach dem März 1938 angetan wurde: Sie fürchten den in Österreich nach wie vor vorhandenen Antisemitismus, sie ertragen die mit Österreich verbundenen Erinnerungen nur
schwer. Trotzdem bleibt bei vielen dieser Menschen ein Gefühl der Entwurzelung, das eine
ehemalige Österreicherin, die seit Jahrzehnten in den USA lebt, so beschrieb: „Ich bin heute eine Frau ohne Heimat.“ 4 Andere wieder treibt eine unbestimmte Sehnsucht regelmäßig
nach Wien zurück, das sie jedoch wenige Wochen später ernüchtert wieder verlassen – bis
zum nächsten Mal.5 Eine als Jugendliche in das damalige Palästina geflüchtete Wienerin,
die heute mit ihrem Gatten nach wie vor in Israel lebt, erklärte der Verfasserin weinend: Es
sei schrecklich, in Wien sei alles vertraut, hier sei sie daheim, trotzdem könne sie hier nicht
mehr leben.
Diese Einzelschicksale werden auch von den mit Verfolgten befaßten Psychiatern und
Psychotherapeuten bestätigt. So wie viele der Überlebenden des Holocaust leiden auch so
manche der Nicht-Zurückgekehrten an „Überlebensschuld“, also unklaren Schuldgefühlen,
vielleicht doch nicht alles versucht zu haben, Familienmitgliedern oder Freunden zur Flucht
ins rettende Ausland zu helfen, oft auch ausgedrückt in der peinigenden Frage „Wieso
Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
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Vertrieben und nicht zurückgekehrt
habe ich überlebt und die anderen nicht?“ Besonders „entwurzelte Verfolgte leiden unter
ihrer unbefriedigenden Anpassung an die neue Umgebung, an ihrem niedrigen Sozialstatus und Lebensstandard, der an sich sogar höher sein kann als im Ursprungsland. Sie ziehen sich von ihrer Umgebung zurück, sind schlaflos, träumen von der Verfolgung und den
getöteten Angehörigen, entwickeln eine Menge von psychosomatischen Beschwerden. (...)
In einigen Fällen ist die reaktive Depression besonders gefärbt durch Schuldgefühle, die
sich zwanghaft an bestimmte Erinnerungen aus der Verfolgungszeit knüpfen, z. B. an den
Gedanken, für den Tod von Angehörigen verantwortlich zu sein.“ 6 Der deutsche Privatdozent Ulrich Venzlaff stellt fest: „Für die meisten bedeutete das Erlebnis jahrelanger Ächtung und Verfolgung oder der Entwurzelung durch Emigration eine einschneidende Kontinuitätsunterbrechung der Lebenslinie, einen nachhaltigen Bruch des seelischen Ordnungsgefüges.“ 7 Der bekannte US-Psychiater William G. Niederland berichtet über die Situation
der Vertriebenen: „Wem trotz haarsträubender Schwierigkeiten die Beschaffung der erforderlichen Dokumente und die Flucht ins Ausland gelang, dem wurde die Beziehungslosigkeit zur sprach-, kultur- und wesensfremden Umgebung zu einer neuen seelischen Belastung. Langwährende Entwurzelungsdepressionen stellten sich ein, in deren Gefolge nicht
wenige Selbstmord begingen. Viele andere kämpften Jahre hindurch mit Umstellungsdepressionen, die ihr Fußfassen in der fremden Umwelt weiter erschwerten und nicht selten
die Gründung einer neuen Lebensexistenz unmöglich machten. Der soziale Abstieg, die
Trennung von den Angehörigen, die Zerreißung enger Familienbande, das Gefühl der Heimatlosigkeit, die enormen Anpassungsschwierigkeiten innerer und äußerer Art, die keineswegs seltene Notwendigkeit, erstmals im Leben Wohlfahrtseinrichtungen in Anspruch zu
nehmen und Almosenempfänger zu werden, schließlich das zunehmende Durchsickern von
Nachrichten über Nazigreuel und den Verfolgungstod zurückgelassener naher Verwandter
und Freunde – all dies verstärkte die Depressionen und Ängste in so erheblichem Maße,
daß sich bei vielen der Ausgewanderten ernste Krankheitszustände seelischer und psychosomatischer (d. h. leibseelischer) Natur und Herkunft zu entwickeln begannen.“ 8 Die oft erst
im Pensionsalter auftretenden seelischen Leiden der Überlebenden und Vertriebenen führten
in Israel zur Gründung einer eigenen Institution „AMCHA“, die sich um therapeutische Hilfe
für diese Menschen bemüht. 9
Der durch die erzwungene Flucht oder „Auswanderung“ bedingte „Knick in der Lebenslinie“ 10 zieht die Folgen bis in die Gegenwart nach sich.
Aus: Brigitte Bailer-Galanda: Wiedergutmachung kein Thema,
Löcker Verlag, Wien 1993, S. 157ff
1
2
3
4
5
Zu den sozialversicherungsrechtlichen Problemen der Vertriebenen siehe das Kapitel „Sozialversicherungsrechtliche Probleme“,
in: Brigitte Bailer-Galanda, Wiedergutmachung kein Thema, Wien
1993, S. 239-245.
Mit Ausnahme der Haftentschädigung 1952.
Der Freiheitskämpfer, Nr. 121, November 1952.
Interview mit Frau M. S. DÖW-Projekt „Erzählte Geschichte“, Interviewabschrift Nr. 323. In diesem, aber auch in einer Reihe anderer Interviews kommt dieser Konflikt der Nicht-Rückkehrer
zwischen emotionaler Bindung an die Heimat und Ängsten angesichts erlittene Traumata deutlich zum Ausdruck. Vgl. dazu: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hrsg.),
Jüdische Schicksale, a. a. O., Kapitel „Leben nach dem Holocaust“.
Kapitel „Leben nach dem Holocaust“, a. a. O.
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6
7
8
9
10
Vgl. Walter Ritter von Baeyer, Heinz Zäfner, Karl Peter Kisker,
Psychiatrie der Verfolgten. Psychopathologische und gutachtliche
Erfahrungen an Opfern der nationalsozialistischen Verfolgung
und vergleichbaren Extrembelastungen, Berlin-Göttingen-Heidelberg 1964, S. 88.
Zitiert nach:; William G. Niederland, Folgen der Verfolgung: Das
Überlebenden-Syndrom Seelenmord, Frankfurt/M. 1980, S. 203.
Niederland, a. a. O., S. 16.
Vgl. die von Trautl Brandstaller gestaltete Dokumentation „Es vergißt sich nicht.“ Überlebende des Holocaust berichten, ORF 1990.
AMCHA hat auch ein Komitee in Österreich, 1080 Wien, Lange
Gasse 64/2/15.
Helga und Hermann Fischer-Hübner (Hrsg.), Die Kehrseite der
„Wiedergutmachung“. Das Leiden von NS-Verfolgten in den Entschädigungsverfahren, Gerlingen 1990.
Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
ZUM UMGANG MIT DEN OPFERN DER NS-RASSENHYGIENE NACH 1945 1
WOLFGANG NEUGEBAUER
Rassenhygiene – Zwangssterilisierung – Euthanasie
Nach den Rassenlehren der Nationalsozialisten waren nicht nur Juden, Roma und Sinti
(„Zigeuner“) sowie andere „rassisch“ oder ethnisch bestimmte Minderheiten „minderwertig“ und letztlich „lebensunwert“; im Interesse der Höherentwicklung der eigenen „Rasse“
sollten auch die „Minderwertigen“ des eigenen Volkes „ausgemerzt“ werden. Die Theorien
des Naturwissenschaftlers Charles Darwin vom Kampf ums Dasein und von der natürlichen
Auslese, vom Durchsetzen des Stärkeren (Anpassungsfähigeren) gegen den Schwächeren
wurden von Rassentheoretikern vom Tierreich auf die menschliche Gesellschaft übertragen.
Dieser „Sozialdarwinismus“ wurde zu einem Hauptinhalt der nationalsozialistischen Weltanschauung und nach der Machtergreifung 1933 mit barbarischer Konsequenz in die
Wirklichkeit umgesetzt. Für „unnütze Esser“ oder „Ballastexistenzen“ wie geistig oder körperlich Behinderte war im nationalsozialistischen Deutschland, das auch das menschliche
Leben einer erbarmungslosen Kosten-Nutzen-Rechnung unterwarf, kein Platz. Die „Minderwertigen“ sollten entweder durch Verhinderung der Fortpflanzung oder durch physische
Vernichtung ausgeschaltet werden. Die erste systematisch geplante und durchgeführte
Massenmordaktion des NS-Regimes richtete sich gegen die geistig und körperlich behinderten Menschen.2
Schon zu Beginn ihrer Herrschaft hatten die Nationalsozialisten mit dem Gesetz zur
Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. 7. 1933 als erste „rassenhygienische“ Maßnahme die Zwangssterilisierung der „Erbkranken“ (Schwachsinn, Schizophrenie, manischdepressives Irresein, Fallsucht, Veitstanz, Blindheit, Taubheit, schwere körperliche Mißbildungen, schwerer Alkoholismus) eingeführt, und nach Pseudoverfahren vor „Erbgesundheitsgerichten“ wurden an die 400.000 Menschen zwangsweise unfruchtbar gemacht.
Mehr als 1 % der Betroffenen, mindestens 5000, davon 90 % Frauen, starben an den Folgen
der Operation, die von den NS-Gesundheitsbehörden als harmloser Eingriff hingestellt
wurde.3 In Österreich, wo das Gesetz am 1. 1. 1940 in Kraft trat, wurden etwa 5000 Menschen zwangssterilisiert.4
Daß der Übergang von der „rassenbiologisch“ langfristig wirksam werdenden Zwangssterilisierung zur Ermordung im Jahr des Kriegsausbruchs 1939 erfolgte, war kein Zufall.
Mit der Eliminierung der geistig und körperlich Behinderten sollte der in den Augen der
Nazis vor sich gehenden „negativen Auslese“ durch den Krieg – Tod oder Verstümmelung
der Gesunden, Überleben der Kranken – entgegengewirkt werden. Unmittelbarer Anlaß für
die Massenmordaktion war die Notwendigkeit, Lazarettraum zu schaffen, Spitalspersonal
freizustellen, Nahrungsmittel, Medikamente u. dgl. einzusparen, also die sozialen Kosten
zugunsten der Kriegswirtschaft zu reduzieren.5 So wurde etwa die der Stadt Wien gehörende Anstalt in Ybbs an der Donau nach dem Abtransport von über 2000 Patienten zur Vernichtung in ein militärisches Reservelazarett umgewandelt.6
Die Nationalsozialisten begannen die zu Unrecht ➤ „Euthanasie“ (griechisch: schöner
Tod) oder „Gnadentod“ genannte Vernichtung des „lebensunwerten Lebens“ mit geistig
und körperlich behinderten Kindern. Aufgrund eines Geheimerlasses des Reichsinnenministeriums vom 18. August 1939 mußten alle Hebammen und Ärzte solche Kinder bis zu
drei (später: 17) Jahren den Gesundheitsämtern melden; nach einer (Pseudo-) „Begutachtung“ erfolgte – vielfach unter Täuschung der Eltern oder mit Zwang – die Einlieferung
der ausgesuchten Kinder in eine „Kinderfachabteilung“. In der in der Anstalt ➤ „Am
Steinhof“ untergebrachten Kinderklinik ➤ „Am Spiegelgrund“ wurden einige hundert Kinder mittels Gift, Injektion oder Aushungern von Ärzten und Pflegepersonal umgebracht.
Einzelne „Kinderfachabteilungen“ hatten Forschungsabteilungen, wo klinische Versuche,
diagnostische Experimente und anatomische Forschungen durchgeführt wurden. Solche
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Realisierung
sozialdarwinistischer
Ideen
Von der Zwangssterilisierung zur
„Euthanasie”
Die Kinderfachabteilung „Am
Spiegelgrund”
Zum Umgang mit den Opfern der NS-Rassenhygiene nach 1945
Die Ermordung
Geisteskranker
Die „Liquidierung“
sogenannter
„Asozialer”
der ärztlichen Ethik zutiefst widersprechenden Aktivitäten dürften auch am „Spiegelgrund“ stattgefunden haben.
Kurze Zeit nach der Einführung der „Kindereuthanasie“ begann das NS-Regime aufgrund
einer auf den 1. September 1939 rückdatierten „Ermächtigung“ des Führers Adolf Hitler,
die keinerlei Gesetzeskraft oder Legalität hatte, mit der „Euthanasie“ der erwachsenen geistig und körperlich Behinderten. Im Rahmen dieser von der „Kanzlei des Führers“ organisierten Tötungsaktion (nach der Adresse Berlin, Tiergartenstraße 4 ➤ „T4“ genannt) wurde
ein Großteil der Patienten der psychiatrischen Anstalten im Deutschen Reich in „Euthanasieanstalten“, u. a. nach Hartheim bei Eferding, abtransportiert und dort mit Giftgas getötet.
Die Angehörigen der Opfer wurden mit verfälschten Briefen und Totenscheinen zu täuschen
versucht. Vorher waren die Patienten von bezahlten „Gutachtern“, etwa 40-50, davon zwei
aus Wien (Dr. Erwin Jekelius und Dr. Hans Bertha), im Wege einer Fragebogenauswertung
für die „Euthanasie“ ausgewählt worden.
Im Zuge der Aktion „T4“ wurden ca. 18.000 Insassen österreichischer Anstalten nach ➤
Hartheim abtransportiert. Darunter waren auch Pfleglinge kleinerer Anstalten und – über
den Kreis der psychisch Kranken weit hinaus – Insassen von Pflegeheimen und Altersheimen einbezogen.
Mit Hitlers Befehl zum Abbruch der Aktion „T4“ vom 24. August 1941 kam die NSEuthanasie jedoch keineswegs vollständig zum Erliegen. Die Kindereuthanasie wurde weitergeführt, und in den Euthanasie-Anstalten wurden Häftlinge aus den Konzentrationslagern
vergast (Aktion 14f13). Als einzige Euthanasie-Anstalt blieb Hartheim, bis Dezember
1944, weiter in Betrieb, unter anderem wurden dort geisteskranke „Ostarbeiter“ vergast,
die keine Leistung mehr erbringen konnten.
In den einzelnen Anstalten wurde die Ermordung von Geisteskranken durch Verhungern,
Vergiften u. ä. fortgesetzt; vielfach entsprang diese der Initiative von Gauleitungen, Anstaltsleitungen oder einzelnen Ärzten. Ob eine zentrale Anweisung für diese ungeregelten
Mordaktionen vorlag, ist nicht klar. Viktor Brack, einer der Hauptverantwortlichen für die
„Euthanasie“-Aktion in der „Kanzlei des Führers“, prägte dafür die Bezeichnung „wilde
Euthanasie“. Aus wissenschaftlichen Untersuchungen geht hervor, daß seitens des Pflegepersonals zeitweise sogar mehr Patienten getötet wurden, als von oben angeordnet worden
war. Der Gesichtspunkt der „Pflegeaufwendigkeit“ war dabei von entscheidender Bedeutung: Je mehr ein Patient die Pfleger in Anspruch nahm, desto größer war seine Aussicht
auf Todesbeschleunigung.
Verlegungstransporte zwischen einzelnen Anstalten dienten zur Verschleierung des
raschen Sterbenlassens bzw. dessen Beschleunigung. Besonders gut dokumentiert ist das
Schicksal der im August 1943 aus Hamburg nach „Steinhof“ gebrachten 228 Frauen
und Mädchen, von denen 201 – meist nach beträchtlichen Gewichtsverlusten durch Hungern – umkamen. Zu den in Hartheim ermordeten 15.000 bis 18.000 ÖsterreicherInnen
kommen also einige weitere tausend Patienten hinzu, die in den Anstalten selbst ums Leben
gebracht wurden. Das heißt, daß die Größenordnung der österreichischen Euthanasieopfer
bei mindestens 25.000 liegt.
Die Absichten und Planungen der für die Gesundheits- und Sozialpolitik verantwortlichen
NS-Funktionäre in Staat, Partei und SS gingen weit über „Erbkranke“, Geisteskranke und
Behinderte hinaus; von den verbrecherischen Maßnahmen waren alle den Normen des
NS-Regimes nicht entsprechenden Menschen bedroht, insbesondere alle jene, die keine
Leistung für die „Volksgemeinschaft“ erbrachten oder erbringen konnten, die vom ökonomischen Standpunkt als „unnütze Esser“ angesehen wurden.7 Vor allem dem Chef des ➤ SD
und der Sipo Reinhard ➤ Heydrich, neben ➤ Himmler Hauptorganisator des NS-Terrors,
ging es um die „Ausmerzung“ aller den NS-Normen nicht entsprechenden sozialen Randgruppen und Minderheiten im deutschen Herrschaftsbereich. In seinem Auftrag wurde ein
„Gemeinschaftsfremdengesetz“ ausgearbeitet, in dem Zwangssterilisierung und Schutzhaft
für alle in den Augen der Nazis als „asozial“ Eingestufte vorgesehen waren. Die Liquidierung der „Gemeinschaftsfremden“, dazu wurden u. a. „Arbeitsscheue“ und „gewohnheits-
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Wolfgang Neugebauer
mäßige Schmarotzer“, „Landesverräter“, „Rassenschänder“, „sexuell Hemmungslose“, Süchtige, Trinker, Prostituierte, Abtreiberinnen, Straffällige gezählt, nach damaligen statistischen
Berechnungen etwa 2 % der Bevölkerung (1,6 Millionen Menschen), wurde hinsichtlich der
Jüngeren im Wege der „Kindereuthanasie“, die bis zum 17. Lebensjahr erstreckt wurde,
betrieben, zum größeren Teil erfolgte sie durch den ➤ SS- und Polizeiapparat, d. h. durch
Inhaftierung in Konzentrationslagern und „Vernichtung durch Arbeit“.8
Allein im Reichsgau Groß-Wien wurden im Zuge der 1939 begonnenen „Erbbiologischen Bestandsaufnahme“ 700.000 Personen als „asozial“ in Karteien erfaßt. Daß diese
Menschen als zukünftige Opfer nationalsozialistischer Rassenpolitik ins Auge gefaßt waren,
liegt in der Logik des NS-Systems. Manche Forscher (G. Aly, K. H. Roth, K. Dörner, D. Peukert)
nehmen an, daß eine Art „Endlösung der sozialen Frage“, also eine Ausrottung der gesamten, als „minderwertig“ angesehenen Unterschichten der Gesellschaft, geplant war. Den
mörderischen Ausmerzungstendenzen wurde vor allem mit der Hinaufsetzung der Altersgrenze bei der „Kindereuthanasie“ von drei auf 17 Jahre Rechnung getragen, wodurch
auch die Einbeziehung von verwahrlosten und schwer erziehbaren Kindern ermöglicht
wurde. „In der Tötungspraxis des ‚Reichsausschusses‘ spielten die Kriterien ‚soziales Verhalten‘ und ‚allgemeine Lebensbewährung‘ von Anfang an eine entscheidende Rolle“,
resümiert G. Aly. 9 Aus Schilderungen von Personen, die als Kinder oder Halbwüchsige den
Aufenthalt in der Jugendfürsorgeanstalt „Am Spiegelgrund“ (Pavillons 17 und 18) überlebten,10 wissen wir, daß die Todesdrohung – ausgesprochen oder unausgesprochen –
ständig im Raum stand. Zum einen gab es eine permanente Unterversorgung mit Nahrungsmitteln, die zu einer hohen Mortalitätsrate führte,11 zum anderen hing über jedem Patienten
das Damoklesschwert der „Euthanasierung“ durch Vergiften oder Abspritzen, die offenbar
auch als schärfste Strafe im Falle von Widersetzlichkeiten zur Anwendung kam.
Die Ausgrenzung der Opfer
Der Umgang mit der NS-Euthanasie und das Schicksal der Täter und Opfer nach 1945
sind eingebettet in die allgemeine gesellschaftliche und politische Entwicklung Nachkriegsösterreichs. In einer – freilich nur kurz währenden – antifaschistischen Periode 1945/46
wurden NS-Täter, darunter auch einige Verantwortliche der NS-Euthanasie, konsequent zur
Verantwortung gezogen.
Der antifaschistische Geist von 1945 flaute bald ab. In der Weltpolitik beendete der
Kalte Krieg zwischen Ost und West die Anti-Hitler-Koalition, Antikommunismus trat anstelle
des Antifaschismus. Die Nationalsozialisten, die sich ja immer schon als die Vorkämpfer
gegen den Bolschewismus aufgespielt hatten, wurden wieder aufgewertet. Die Maßnahmen
zur Entnazifizierung und Strafverfolgung waren nicht mehr politisch opportun. In Österreich
setzte ein Wettlauf aller Parteien um die ehemaligen Nationalsozialisten ein, die als
Wähler und Parteimitglieder gebraucht wurden. Bald standen diesen die Führungspositionen wieder offen.
Mehr als 690 000 Österreicher gehörten der NSDAP an; 1,2 Millionen Österreicher
dienten in der deutschen Wehrmacht. Diese sogenannte Kriegsgeneration war zahlenmäßig weitaus stärker als die Widerstandskämpfer und die überlebenden oder aus dem
Exil zurückgekehrten NS-Opfer und dominierte daher Politik und Gesellschaft in Nachkriegsösterreich.
Das offizielle Österreich wies im Sinne der „Opfertheorie“ von Anfang an und bis zu
Beginn der neunziger Jahre jede Schuld oder Mitverantwortung für die NS-Verbrechen von
sich und sah daher auch keine Verpflichtung zur „Wiedergutmachung“.12 Freiwillig habe
es aber Österreich übernommen, für die Opfer des Kampfes für ein freies und demokratisches Österreich und der NS-Verfolgung (bzw. deren Angehörige oder Hinterbliebene) zu
sorgen.13 Diesem Geist entsprang 1947 das ➤ „Opferfürsorgegesetz“ (OFG), wobei der
Kreis der anspruchsberechtigten Befürsorgten sehr eng gezogen und erst nach langwierigen Bemühungen erweitert wurde. Dabei wurde (und wird) zwischen „Opfern des
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„Wiedergutmachung“?
Zum Umgang mit den Opfern der NS-Rassenhygiene nach 1945
Aussichtslose
Anträge auf
Opferfürsorge
Kampfes um ein freies, demokratisches Österreich“ (§ 1, Abs.1), also Widerstandskämpfern, und „Opfern der politischen Verfolgung“ (§ 1, Abs. 2), das waren politisch, religiös,
national oder rassisch Verfolgte, unterschieden, wobei letztere eindeutig schlechter gestellt
wurden.14
Während für die Opfer der politischen und rassistischen Verfolgung sowohl in der Bundesrepublik Deutschland als auch in Österreich eine „Wiedergutmachung“ im Sinne einer
bescheidenen finanziellen Abgeltung für Haftzeiten, wirtschaftliche Schäden, Gesundheitsschädigungen u. dgl. sowie einer Anerkennung von Rentenansprüchen u. a. erfolgte und
damit auch eine gewisse politisch-moralische Anerkennung verbunden war, geschah für die
Opfer der nazistischen Zwangssterilisierung und Euthanasie bis 1995 überhaupt nichts.
Vom Gesetz war – zumindest nach Auffassung und in der Auslegung der zuständigen
Behörden und Gerichte – nichts vorgesehen, und dennoch geltend gemachte Ansprüche
wurden abgewiesen. Anerkennung und Entschädigung der Opfer der NS-Rassenhygiene
standen nie zur Diskussion, da die Betroffenen bzw. deren Hinterbliebene keine Verbände
wie die politisch und „rassisch“ Verfolgten hatten, die ihre Interessen dem Gesetzgeber und
der Regierung gegenüber vertreten hätten. Gleiches gilt im übrigen auch für vom NS-Regime verfolgte Homosexuelle, sogenannte „Asoziale“ und Kriminelle, die in einer unserer
Rechtsauffassung widersprechenden Weise hart bestraft wurden.
Lediglich einzelne Opfer der NS-Zwangssterilisierung und -Euthanasie versuchten, trotz
der nahezu aussichtslosen gesetzlichen Lage, Ansprüche bei den zuständigen Behörden
vorzubringen. Das ➤ DÖW hat für das Bundesland Wien den Bestand der Opferfürsorgeakten in der ➤ Magistratsabteilung 12, in der Größenordnung von über 100.000 Akten,
systematisch durchgearbeitet und darin etwa ein Dutzend Anträge von Sterilisierungs- und
Euthanasieopfern (bzw. von deren Hinterbliebenen) gefunden. Diese Anträge wurden von
den zuständigen Behörden, in erster Instanz der Landeshauptmann von Wien (MA 12), in
zweiter Instanz das Sozialministerium, abgelehnt.15 So heißt es in einem Bescheid des Sozialministeriums vom 26. Mai 1961, in der die Berufung der zwangssterilisierten Ludmilla
D. gegen den ablehnenden Bescheid des Landeshauptmannes von Wien zurückgewiesen
wurde:
„Eine als Folge der im Jahre 1943 durchgeführten Sterilisierung eingetretene Gesundheitsschädigung hätte nur dann einen Anspruch nach dem Opferfürsorgegesetz begründet,
wenn im konkreten Fall für die Anordnung dieser Operation nicht medizinische, sondern
politische Gründe maßgebend gewesen wären. Für eine solche Ausnahme konnten im vorliegenden Fall keine Anhaltspunkte gefunden werden, /…/. Auf Grund der Krankengeschichte der Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien ‚Am Steinhof’ ist vielmehr anzunehmen, daß die Unfruchtbarmachung ausschließlich wegen der unheilbaren Krankheit der
Berufungswerberin erfolgte.“ 16
Im Lichte dieses Bescheides erscheint die nazistische Zwangssterilisierung nicht als eine
konsequente Verwirklichung nationalsozialistischer rassenpolitischer und erbbiologischer
Auffassungen, sondern als eine durchaus legale medizinische Maßnahme des damaligen
Staates. Ein solches Verständnis steht freilich in eklatantem Widerspruch zu der im Zuge
der Aufhebung nationalsozialistischer Vorschriften und Gesetze erfolgten Außerkrafttretung
des ➤ „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ im Jahre 1945.
In einem anderen Ablehnungsbescheid des Sozialministeriums vom 22. Dezember 1958
wurde ausgeführt:
„Es ist unbestritten, daß die Berufungswerberin vor ihrer Sterilisation weder politisch
tätig war noch ihrer Religion, Abstammung oder Nationalität wegen von den nationalsozialistischen Behörden verfolgt worden ist. Sie wurde vielmehr anläßlich einer Einlieferung
in eine Heil- und Pflegeanstalt auf Grund der damals geltenden Bestimmungen zur Verhütung erbkranken Nachwuchses sterilisiert. Es handelt sich um keine Verfolgungsmaßnahme
im Sinn der angeführten Gesetzesstelle, weshalb spruchgemäß zu entscheiden war.“ 17
Nach diesen Grundsätzen wurde in allen ähnlich gearteten Fällen negativ für die Sterilisierungsopfer entschieden. Schließlich wurde zumindest in einem Fall das Verfahren vor
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den Verwaltungsgerichtshof gebracht. In einem Erkenntnis vom 21. Jänner 1964 wurde die
Beschwerde des zwangssterilisierten Johann W. gegen einen ablehnenden Bescheid des
Sozialministeriums als unbegründet abgewiesen und der schon dargelegten Rechtsauffassung des Sozialministeriums Recht gegeben.
Auch jüdische Euthanasieopfer wurden nicht als Opfer nationalsozialistischer Verfolgung
anerkannt. So heißt es in einem Berufungsbescheid des Sozialministeriums vom 20. November 1958 im Falle eines angeblich 1940 ins ➤ „Generalgouvernement“ verlegten Patienten
der Anstalt „Am Steinhof“:
„Bei der Schwere der Erkrankung und der festgestellten Diagnose ‚Progressive Paralyse
und cavernöse Phthise’ kann ungeachtet des Fehlens einer Krankengeschichte und damit
von Aufzeichnungen über das Fortschreiten der Krankheit nicht von einem Beweis in der
Richtung gesprochen werden, daß der Tod des Opfers aus einer anderen Ursache als in
dem schicksalsmäßigen Ablauf der festgestellten Leiden erfolgte.“ 18
In diesem Fall wurden die Lügengespinste des nazistischen Euthanasieapparates, der
eine Verlegung in das „Generalgouvernement“ vorgaukelte, für bare Münze genommen.
Zu diesem Zeitpunkt gab es – wie ein Blick in die Fachliteratur gezeigt hätte – keine Judendeportationen, wohl aber Abtransporte von Geisteskranken. Mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit war der Betreffende in der Euthanasieanstalt Hartheim vergast worden.
Aus diesen behördlichen und gerichtlichen Verfahren spricht ein völliges Unverständnis
für eine ganze Gruppe von Opfern des Nationalsozialismus. Bei einer strengen Auslegung
des damaligen Opferfürsorgegesetzes mag die Nichtberücksichtigung der Euthanasie- und
Sterilisierungsopfer vielleicht juristisch richtig gewesen sein. Man hätte jedoch bei einigem
guten Willen auch juristische Interpretationen finden können, die eine Einbeziehung dieser
Opfer ermöglicht hätten.
Späte Anerkennung
Mit dem wachsenden Abstand von 1945 verlor die Kriegsgeneration aus biologischen
Gründen an Bedeutung; für die nachwachsenden Generationen war die NS-Zeit kein Tabu
mehr, sie wurden seit den siebziger Jahren in Schulen und Universitäten im Rahmen der Zeitgeschichte und Politischen Bildung mit NS-Verbrechen, mit NS-Opfern und -Gegnern konfrontiert. Nicht zuletzt hat auch die internationale Kontroverse um die Kriegsvergangenheit
von Kurt Waldheim in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre in Österreich tiefgreifende Diskussionen und letztlich Veränderungen des historisch-politischen Bewußtseins herbeigeführt.
Die Opfertheorie konnte nicht mehr aufrechterhalten werden; immer mehr setzte sich die Erkenntnis der Mitverantwortung der Österreicher für den Nationalsozialismus und dessen Verbrechen durch. Der offizielle Durchbruch erfolgte durch die von Bundeskanzler Vranitzky namens der Bundesregierung im Juni 1991 im Nationalrat abgegebene Erklärung.
Diese Veränderungen im politisch-gesellschaftlichen Klima kamen letztlich auch den NSOpfern zugute. Als ich im Zuge eines Referates für ein Symposium der Österreichischen
Gesellschaft für Sozialanthropologie über Zwangssterilisierungen 1986 feststellen mußte,
daß die Zwangssterilisierten und Euthanasieopfer nicht als NS-Opfer anerkannt werden,19
habe ich mich in der Folge mehrmals und vergeblich an das Sozialministerium, an den
Bundeskanzler und an die Parlamentsklubs mit dem Ersuchen um Änderung dieses unhaltbaren Standpunktes gewandt und 1992 auch einen Vorschlag für eine Novellierung des
Opferfürsorgegesetzes vorgelegt. Das Sozialministerium und leider auch die Verbände der
NS-Opfer lehnten eine gesetzliche Änderung ab und verwiesen auf den Gnadenweg.20
Nach der Vranitzky-Erklärung von 1991 über die Mittäterschaft der Österreicher mußten
im Bereich der NS-Opfer auch Taten folgen: 1995 wurde einstimmig im Nationalrat das
Verfassungsgesetz über den ➤ Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus beschlossen, das erstmals auch die Opfer der rassenhygienischen Maßnahmen des NS-Regimes anerkannte. Nahezu zeitgleich wurde im Zuge einer Novellierung des Opferfürsorgegesetzes Behinderung als Verfolgungsgrund in das Gesetz auf-
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Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
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Ein Wandel im
historischpolitischen
Bewußtsein?
Nationalfonds/
Erweiterung des
Opferfürsorgegesetzes 1995
Zum Umgang mit den Opfern der NS-Rassenhygiene nach 1945
genommen.21 Doch auch danach wurden noch immer nicht alle Opfer des Nationalsozialismus als solche akzeptiert. Alois Kaufmann, der wie viele andere in der NS-Zeit als Kind
am „Spiegelgrund“ unter menschenunwürdigen Verhältnissen interniert war und dessen
Stigmatisierung als „Asozialer“ auch nach 1945 noch weiterwirkte, wurde zwar vom
Nationalfonds als NS-Opfer anerkannt, von der Opferfürsorge blieb er weiter ausgeschlossen. Erst infolge der internationalen Diskussion über die NS-Medizin in Österreich
und den Fall Gross ,22 die eine Bereinigung der österreichischen „Altlasten“ der Vergangenheitsbewältigung nötig machte, kamen die Kinder vom „Spiegelgrund“ zu ihrem Recht:
Alois Kaufmann und andere wurden von der Opferfürsorgebehörde als NS-Opfer anerkannt.23 Bei den Homosexuellen konnte sich die Republik Österreich bis heute nicht zu
diesem Schritt durchringen.
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Für Informationen und Beratung bin ich meiner Kollegin Mag. Dr.
Brigitte Bailer dankbar; siehe zur Thematik grundlegend: Brigitte
BAILER, Wiedergutmachung kein Thema. Österreich und die Opfer
des Nationalsozialismus, Wien 1993; weiters: dies., Die Opfergruppen und deren Entschädigung. Referat bei der Enquete des Grünen
Klubs im Parlament, 13. 6. 1997 (siehe nächstes Kapitel); Claudia
Andrea SPRING, Verdrängte Überlebende. NS-Zwangssterilisationen
und die legistische, medizinische und gesellschaftliche Ausgrenzung von zwangssterilisierten Menschen in der Zweiten Republik,
Dipl. Arb. Universität Wien, 1999; nicht mehr auf dem aktuellen
Stand: Wolfgang NEUGEBAUER, Das Opferfürsorgegesetz und die
Sterilisationsopfer in Österreich, in: Dokumentationsarchiv des
österreichischen Widerstandes (Hg.), Jahrbuch 1989, S. 144-150.
Vgl. dazu u. a.: Hans-Walter SCHMUHL, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung
„lebensunwerten Lebens“ 1890-1945, Göttingen 1987 (Kritische
Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 75).
Vgl. Gisela BOCK, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus.
Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik, Opladen 1986 (Schriften des Zentralinstituts für sozialwissenschaftliche Forschung der
Freien Universität Berlin, Bd. 48).
Horst SEIDLER, The Viennese Reichserbgesundheitsgericht, Wien o.
J., 7; Wolfgang NEUGEBAUER, Zwangssterilisierung und „Euthanasie“ in Österreich 1940-1945, in: Zeitgeschichte, 1/2 (1992), 17 ff.
Vgl. dazu u. a.: Gerhard BAADER, Die „Euthanasie“ im Dritten
Reich, in: Gerhard BAADER/Ulrich SCHULZ (Hg.), Medizin und
Nationalsozialismus. Tabuisierte Vergangenheit – Ungebrochene
Tradition? , 3. Aufl., Frankfurt (Main) 1987.
Wolfgang NEUGEBAUER, Von der Rassenhygiene zum Massenmord, in: Wien 1938, Wien 1988, 279.
Siehe dazu u. a.: Wolfgang AYASS, „Asoziale“ im Nationalsozialismus, Stuttgart 1995; Hans-Uwe OTTO/Heinz SÜNKER (Hg.),
Soziale Arbeit und Faschismus, Frankfurt am Main 1989; Klaus
SCHERER, „Asozial“ im Dritten Reich. Die vergessenen Verfolgten,
Münster 1990.
Siehe dazu ausführlich: Karl-Heinz ROTH (Hg.), Erfassung zur Vernichtung. Von der Sozialhygiene zum „Gesetz über Sterbehilfe“,
Berlin 1984.
Götz ALY, Medizin gegen Unbrauchbare, in: Aussonderung und
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Tod. Die klinische Hinrichtung der Unbrauchbaren, Berlin 1985, 37.
Siehe dazu: Alois KAUFMANN, Spiegelgrund Pavillon 18. Ein Kind
im NS-Erziehungsheim, Wien 1993; DÖW E 17 792, Aktenvermerk
von Rechtsanwalt Dr. Johannes Patzak über sein Gespräch mit
Friedrich Zawrel in der Strafvollzugsanstalt Stein, 24. 4. 1979.
Ausführlich dokumentiert bei: Michael WUNDER/Ingrid GENKEL/
Harald JENNER, Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten
mehr: Die Alsterdorfer Anstalten im Nationalsozialismus, Hamburg 1987, 225 ff.
Zur Problematik des Begriffs „Wiedergutmachung“ siehe: BAILER,
Wiedergutmachung, 12 f.
Maßnahmen der Republik Österreich zugunsten bestimmter
politisch, religiös oder abstammungsmäßig Verfolgter seit 1945,
hgg. vom Bundespressedienst, Wien 1988, 5 f.
Siehe dazu allgemein: BAILER, Wiedergutmachung.
NEUGEBAUER, a. a. O.
a. a. O., 148.
a. a. O.
a. a. O., 149.
a. a. O.
Siehe die diesbezüglichen Korrespondenzen und Unterlagen im
Besitz des Verfassers.
Novelle des Opferfürsorgegesetzes, BGBl. 433/1995; Bundesgesetz
über den Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des
Nationalsozialismus, BGBl. 432/95. Beide Gesetze wurden am 1. 6.
1995 vom Nationalrat beschlossen.
Die internationale Kritik an der Weiterverwendung des PernkopfAnatomieatlasses führte 1997/98 zu einer Untersuchung an der
Wiener Universität; siehe dazu: Senatsprojekt der Universität
Wien, Untersuchungen zur Anatomischen Wissenschaft in Wien
1938-1945, Wien 1998. Gegen den in die Kindereuthanasie involvierten Arzt Dr. Heinrich Gross wurde aufgrund von 1995 und
1997 erstatteten Anzeigen 1999 von der Staatsanwaltschaft Wien
Anklage wegen Mordes erhoben.
Anläßlich einer internationalen wissenschaftlichen Tagung zur
NS-Euthanasie im Psychiatrischen Krankenhaus der Stadt Wien im
Jänner 1998 wurden Gespräche mit dem zuständigen Wiener
Stadtrat Dr. Sepp Rieder geführt, der eine humane Lösung der
Rechtsproblematik ermöglichte.
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Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
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KINDER UND JUGENDLICHE ALS OPFER DER NS-VERFOLGUNG
JANA MÜLLER
Im NS-Staat wurden Kinder und Jugendliche systematisch im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie erzogen, gedrillt, mit Sport „ertüchtigt“, in der Hitler-Jugend und im ➤ Bund
Deutscher Mädel zusammengefaßt; die jüngeren waren ➤ „Jungmädel“ und „Pimpfe“. Es
genügte nicht, deutsch und arisch zu sein. Sie wurden ständig beobachtet und auf ihren
„Nutzen für die Volksgemeinschaft“ geprüft. Die arische Jugend hatte erbgesund und
leistungsfähig, gehorsam und angepaßt zu sein. Rassenhygiene, Erbgesundheitspflege,
eugenische Ausmerzung; der erbuntüchtige, minderwertige Mensch, ebenso der unangepaßte und gemeinschaftsfremde – das waren Schlagwörter und NS-Begriffe, die das
Schicksal auch der Jungen und Jüngsten mitbestimmten.
Kindereuthanasie
Unabhängig von der ➤ Euthanasieaktion ➤ „T4“,1 der Tötung von körperlich und geistig
Behinderten durch Gas in sechs großen Tötungsanstalten (darunter ➤ Hartheim bei Linz),
wurden im Rahmen der sogenannten Kindereuthanasie2 mindestens 37 3 „Kinderfachabteilungen“ eingerichtet. Sie unterstanden einem zuständigen „Reichsausschuß“; an diesen
wurde von den Anstaltsärzten Meldung über von ihnen als „lebensunwert“ eingeschätzte
Kinder („Reichsausschußkinder“) gemacht. Aus Berlin kam dann die Rückmeldung als
Ermächtigung bzw. Weisung zur Tötung. Die „Todesbeschleunigungen“ erfolgten meist mit
Medikamenten und durch Nahrungsentzug. In der „Ostmark“ gab es drei solche Kinderfachabteilungen: in Wien ➤ „Am Spiegelgrund“, in Graz-Feldhof und in Klagenfurt.4
NS-Erziehungsheime
Kinder und Jugendliche mußten auch in ihrem Verhalten, ihrer Handlungsweise den Ansprüchen der NS-Ideologie entsprechen. Die geringsten Abweichungen wurden registriert.
Wenn sie sich auflehnten, den Gehorsam verweigerten, wenn ein nicht entsprechender Lebenswandel vorlag, wurden sie als schwererziehbar, „asozial“ respektive „gemeinschaftsfremd“ eingestuft und in NS-Erziehungsheime eingewiesen, ebenso Kinder von „Volksschädlingen“, von Regimegegnern, aus „desolaten“ Familien usw.
Ein ganzes Netz von Kinder- und Jugendheimen, von Fürsorge- und Erziehungsanstalten
überzog das Deutsche Reich. Schon bestehende Heime wurden übernommen, NS-Erziehung, Drill und harte Strafen eingeführt. Es kam auch zur Gründung neuer Anstalten wie
z.B. des Erziehungsheimes am Wiener „Spiegelgrund“. Weitere, recht unterschiedliche Heime in Wien waren beispielsweise die „Juchgasse“ in Wien 3 oder die „Hohe Warte“; das
Zentralkinderheim und die ➤ Kinderübernahmestelle (KÜST) in der Lustkandlgasse scheinen
in den meisten Akten für den Raum Wien und darüber hinaus auf. Besonders die KÜST war
„Schalt- und Verteilerstelle“.
Für die Bundesländer sollen hier zwei Schicksale angeführt werden: In Kärnten wurde
die elfjährige Hermine Obweger 5 ihren Eltern, die Zeugen Jehovas („Bibelforscher“ 6)
waren, weggenommen und in das NS-Umerziehungsheim Feldkirchen-Waiern eingewiesen. Nachdem es den Eltern immer wieder gelungen war, mit ihrer Tochter in Kontakt zu
treten, wurde Hermine in ein weit entferntes Heim in München verlegt. In Oberösterreich
waren für Evelin Dietrich 7 und ihre Geschwister das Waisenhaus Steyr, das Fürsorgeheim
Gleink, das Heim Baumgartenberg (und Ende Februar 1945 sogar das inzwischen
geleerte Schloß Hartheim, nachdem alle Spuren entfernt worden waren) Stationen ihres
Leidensweges. Die Mutter war 1941 in das Frauen-KZ Ravensbrück gebracht worden,
wegen abfälliger Bemerkungen über Hitler. An alle Aufenthalte hat Evelin traumatische
Erinnerungen. (…)
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Kinder und Jugendliche als Opfer der NS-Verfolgung
Dr. Gross
Dr. Heinrich Gross, einer der Euthanasieärzte in der Kinderklinik am Wiener „Spiegelgrund“, machte nach 1945 wissenschaftliche Karriere; die Gehirne der ermordeten Kinder
waren für ihn Forschungsmaterial.
Anfang der fünfziger Jahre war ein Gerichtsurteil gegen ihn aufgehoben und das Verfahren eingestellt worden. Jetzt beschäftigt Dr. Gross erneut die österreichische Justiz. Jahrzehntelang war er bei den Gerichten als vielbeschäftigter Gerichtsgutachter ein- und ausgegangen. Besonders in den letzten Monaten wurde über ihn und die Vorgänge am „Spiegelgrund“ auch in internationalen Medien berichtet.
In einem ZDF-Bericht vom November 1998, der in Deutschland Aufsehen erregte, kam
auch Waltraud Häupl zu Wort. Sie hat ihre Schwester am „Spiegelgrund“ verloren. Erst
1997 erfuhr sie von den tatsächlichen Hintergründen des Todes der vierjährigen Annemarie im Jahre 1942. Sie begann zu recherchieren und erhielt einen überraschend gut erhaltenen Akt. Es steht fest, daß das Kind zu jenen Opfern gehört, deren Gehirne als Präparate
in der Pathologie des Psychiatrischen Krankenhauses noch heute gelagert sind.
Der Akt ist von besonderer Dichte und Aussagekraft. Er enthält mehrfach Unterschriften
von Dr. Gross und Dr. Illing sowie handschriftliche Vermerke von Dr. Gross. Sogar die Verabreichung von Luminal scheint einmal auf. Nach einem Krankenhausaufenthalt war vom
Amtsarzt ein Gutachten erstellt worden. Aus diesem geht hervor: „ … kräftiges, aber kleines Kind – keine Mißbildungen – Rachitis in Heilung – aufmerksam – das untersuchte Kind
eignet sich nicht zur Aufnahme in eine Anstalt für schwachsinnige Kinder – entwicklungsund erziehungsfähig – pflegebedürftig …“ Die vorgedruckte Frage „Schwachsinn?“ ist mit
nein beantwortet.
Das Kind wird am 6. 6. 1941 auf den „Spiegelgrund“ überstellt; nach der Aufnahme in
der „Kinderfachabteilung“ wird es von Dr. Gross erneut untersucht und photographiert; in
die Rubrik Diagnose wird Idiotie eingesetzt, Datum 6. 6. 1941. In der Kartei findet sich
immerhin die Bestätigung, daß das Mädchen „gut entwickelt und gut genährt“ ist. Da
sogar die Gewichtstabellen erhalten sind, ist systematische Unterernährung in der weiteren
Folge nachweisbar. Tagesberichte schildern den späteren Zustand: „… das Kind schreit,
näßt, spricht nicht, kann nicht gehen.“ Eine Eintragung fällt ganz aus diesem Rahmen,
bringt Schimmer von Menschlichkeit, geschrieben von einer Schwester: „Nur sehr schwer
ist dem Kinde ein Lächeln zu entlocken, umso mehr war ich erstaunt, als ich bei dem Spiel
‚Patsch Handerl z’samm‘ ein herzliches Lachen erreichen konnte und merkte, daß es Freude
am Spiel findet.“
Am 26. 9. 1942 ist Annemarie tot. Eine Meldung war an den Reichsausschuß gegangen; die Rückmeldung aus Berlin war fast immer das Todesurteil. Die geschwächten Kinder
wurden mit Luminal betäubt und der Kälte ausgesetzt, die Folge war der vermeintlich natürliche Tod durch Lungenentzündung. So auch bei Annemarie.
Zum Minensuchen noch gebraucht
Im Mai vergangenen Jahres erhielt Johann Gross eine Vorladung in das Landesgericht für
Strafsachen Wien. In Anwesenheit eines Arztes wurde er ausführlich über Vorgänge
befragt, die mehr als 50 Jahre zurückliegen. Es ging um die Voruntersuchung gegen Dr.
Heinrich Gross.
Johann G. besitzt ein außerordentlich gutes Erinnerungsvermögen. Auf Grund der Causa
Dr. Gross, der vermehrten Berichterstattung in den Medien und durch Veranstaltungen und
TV-Berichte über Themen wie „NS-Medizin“ oder „Vergessene NS-Opfer“ hat er sich mittlerweile seinen Erinnerungen gestellt und begonnen, sie niederzuschreiben.
Johann G. ist 1930 in Wien geboren, sein Vater war Teilinvalide, die Mutter verließ die
Familie. Er kam auf mehrere Pflegeplätze. Als er bei einer Pflegefamilie geborgen und
glücklich ist, wird er vom Vater zurückgeholt, offenbar wegen des Kindergeldes. Der Vater
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Jana Müller
ist Trinker und schlägt den Buben. In Pimpfuniform des ➤ Deutschen Jungvolks nimmt dieser
von einer Sammelaktion Reißaus und fährt spontan mit der Sammelbüchse (er braucht Geld
für Fahrt und Essen) zur geliebten Hedi-Tant‘ von der letzten Pflegestelle. Amtlich liest sich
das so: „Ist mit der Sammelbüchse der NSV, die er erbrochen hat, nach St. Pölten durchgegangen und wurde von der Kripo interniert.“ Er ist nun nicht mehr würdig, das „Ehrenkleid
der Jugend“ zu tragen, wird dem Zehnjährigen gesagt. Von da an ist sein Weg durch die
NS-Erziehungsheime vorgezeichnet.
Im Waisenhaus Mödling sind sadistische Erzieher am Werk, „Kleiderappelle“, „Nachtspiele“, Froschhüpfen, Robben, Drill und Schläge sind Alltag. Nach dem zweiten Fluchtversuch kommt es zu einem regelrechten Strafritual im leeren Schlafsaal, der Bub allein, die
Erzieher zu viert. Im Juli 1941 wird er schließlich in das Erziehungsheim am „Spiegelgrund“ überstellt. Im Anschluß an die Aufnahme lernt er Dr. Gross kennen, der u.a. seinen
Kopf vermißt. Er sollte ihm in Zukunft noch oft begegnen. Schon durch die Namensgleichheit blieb „Dr. Gross“ für immer im Gedächtnis haften.
Am „Spiegelgrund“ ist vieles anders. Nur Schwestern statt Erzieher, die Fenster sind vergittert und versperrt, auch jede Tür ist versperrt und muß immer erst geöffnet werden. Vieles
geht fast lautlos und für ihn unheimlich vor sich. Besonders unwürdig ist das Klosett, mit
einer Halbtür und somit einsehbar; jedes Mal mußte gemeldet werden, ob „klein“ oder
„groß“ zu erwarten war … Es kommt laut Akt zur ersten Flucht vom „Spiegelgrund“ am
16. 8. 1941. Er wird im Prater aufgegriffen und bereits nach zwei Tagen wieder zurückgebracht. Nach Schlägen von Dr. Krenek, dem Leiter des Erziehungsheimes, kommt er in
eine Einzelzelle in seinem Pavillon (Nr.7). Die erste „Speiinjektion“ durch Dr. Gross folgt. Er
glaubt tatsächlich, daß er stirbt, so schlimm ist es.
Im Pavillon 13 gehen die Kinder zur Schule. Im Februar 1942 hatte Johann G. ein grausiges Erlebnis. Kurz vor dem Pavillon 13 (d.h. direkt neben dem „Todespavillon“ 15 – Anmerkung der Verf.) zog ein Hausarbeiter einen zweirädrigen Karren an den Schulkindern
vorbei; darin lagen tote Kleinkinder, nackt und eigenartig verfärbt. Die Begleitschwester
nahm kaltblütig das Entsetzen der Kinder zur Kenntnis. Offenbar bemühte man sich nicht
um Geheimhaltung vor den Kindern, der Wagen war nicht einmal abgedeckt.
Nach einer weiteren Flucht wird er in den sogenannten Strafpavillon 11 verlegt. Einmal
wird er von vier Schwestern gleichzeitig verprügelt. In der Isolation des Kellers lernt er
Jugendliche kennen, älter als er, die offenbar einiges hinter sich haben, darunter einer, der
„lange Karl“, von dem er erfährt, daß es auch so etwas wie Auflehnung gegen Hitler gibt.
Bald darauf ist der „lange Karl“ nicht mehr da.
Immer wieder war Johann G. wochenlang im Keller, hinaus ging es nur zur Schule und
zum Schlafen im ersten Stock. Von Nr. 11 konnte er den gegenüberliegenden Pavillon, der
im ansteigenden Gelände höher gelegen war, sehr gut einsehen: Pavillon 17 der Euthanasieklinik. Oft sah er, wie die Bettchen mit den Kleinkindern über Nacht auf den Balkon gestellt wurden, der Kälte ausgesetzt, und hörte ihr Weinen und Wimmern. Er begriff nun,
was sich hier abspielte. Den Leichenkarren sah er mindestens noch einmal.
Einmal gelingt ihm sogar die Flucht aus der Einzelzelle. Es zieht ihn auf den Wiener
Naschmarkt und mehrmals nach Hasenleiten (im 11. Bezirk) in eine Barackensiedlung mit
„Randexistenzen“, für ihn sind es aber Lebenskünstler. Mit ihrer Hilfe verbringt er dort in
der Umgebung sogar einige Wochen, seine längste Zeit in Freiheit (Frühjahr/Sommer
1942). Nach Rückkehr auf den „Spiegelgrund“ bekam er weiterhin Injektionen in die
Hand, Schwefelinjektionen in den Oberschenkel; diese brannten fürchterlich, lähmten
teilweise und machten eine Fortbewegung unmöglich. Einmal bekam er kurz hintereinander
beide, da war man zu viert gekommen, davon zwei Ärzte, davon einer wiederum Dr.
Gross. Als nach der Injektion die Bewegungsstörung bereits einsetzte, meinte Dr. Gross zu
ihm, er könne jedenfalls zum Minensuchen noch gebraucht werden.
Johann G. dürfte zu den am häufigsten „entwichenen“ (Akt) Heiminsassen gehört haben.
Das verschaffte ihm bei den anderen einen gewissen Bekanntheitsgrad und eine Art
Respekt. Er galt auch als guter Schüler. Mit Dr. Gross verband ihn immer enger das gewis-
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Kinder und Jugendliche als Opfer der NS-Verfolgung
Bestrafungsritual
sermaßen gemeinsame Bestrafungsritual der Injektionen. Dr. Gross ist ihm unvergeßlich geblieben, und es könnte vermutet werden, daß auch umgekehrt dieser Heimbub dem NSArzt im Gedächtnis haften geblieben ist.
Die (mit Mödling) insgesamt elf Fluchten waren nicht vorrangig Ausdruck eines „Wandertriebes“; es war vor allem eine Kampfansage, sein Krieg, wie er selbst es nennt, gegen das
System, gegen die Demütigungen, von denen alle betroffen waren. Er verabscheute die
kriecherische Haltung, die sich viele aneigneten, um durchzukommen. Es war der eiserne
Wille, sich nicht brechen zu lassen.
Zuletzt will Heimleiter Krenek ihn nicht mehr „haben“. Im Frühsommer 1943 kommt er
zurück nach Mödling.
Alfred Grasel, Johann Gross, Waltraud Häupl, Anna Maierhofer und Franz Pulkert konnten
von der Verfasserin persönlich befragt werden. Das Gespräch mit Emil Blaschek führte
Anna Maierhofer. Alle Zeitzeugen leben in Wien.
Aus: Betrifft Widerstand 43/2 1999, S. 4–13.
1
2
Tarnbezeichnung für die beschriebene Euthanasieaktion nach der
Zentrale in Berlin, Tiergartenstraße 4 (Kanzlei des Führers).
Zielgruppe dieser speziellen Kindermordaktion waren Kinder,
die sich nicht in Anstaltspflege befanden – denn diese wurden
ohnehin im Zuge der Aktion „T4“ (...) erfaßt –, insbesondere
Neugeborene. Durch einen geheimen Runderlaß des Reichsministeriums des Inneren vom 18. 8. 1939 (...) wurden alle Hebammen und Ärzte verpflichtet, in den Kliniken alle Neugeborenen
mit schweren angeborenen Leiden (...) sowie alle Kinder bis zu
drei Jahren mit diesen Leiden den zuständigen Gesundheitsämtern mittels eines Formblattes zu melden. In: Wolfgang Neugebauer, Die Klinik „Am Spiegelgrund“ 1940-1945 – Eine „Kinderfachabteilung“ im Rahmen der NS-“Euthanasie“, in: Jahrbuch
74
3
4
5
6
7
des Vereins für Geschichte der Stadt Wien, Band 52/53, Wien
1996/97, S. 293.
Matthias Dahl, Endstation Spiegelgrund. Die Tötung behinderter
Kinder während des Nationalsozialismus am Beispiel einer Kinderfachabteilung in Wien 1940-1945, Erasmus, Wien 1998, S. 32.
Ebda., u.a. S. 29, 35, 41.
Geschichte der Familie Obweger aus: Geschichtsarchiv der Zeugen
Jehovas, Wien.
Die Zeugen Jehovas, die 1931 diesen Namen annahmen, wurden
in der NS-Zeit nach ihrer früheren Bezeichnung Erste oder Internationale Bibelforscher genannt.
Walter Kohl, Die Pyramiden von Hartheim, Edition Geschichte der
Heimat, Grünbach 1997, S. 390ff.
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FÜRSORGE – ARBEITSHAUS – KZ: DAS LEBEN DER BETTY VOSS
MARTINA SCHEITENBERGER /MARTINA JUNG
„Asozial“ 1
Der Nationalsozialismus verfolgte jede Lebensäußerung, die nicht dem sogenannten
„gesunden deutschen Volksempfinden“ entsprach.2 Soziale bzw. kulturelle Verhaltensweisen, die von der Norm des nationalsozialistischen Gesellschaftsmodells abwichen, wurden von der Bevölkerung bereitwillig denunziert und von den dafür zuständigen Behörden
kontrolliert und im Zweifelsfall korrigiert. Dazu griff das nationalsozialistische Regime auf
die bestehenden Einrichtungen wie Gesundheits- und Sozialämter (Fürsorgeämter) zurück,
die als verlängerter Arm der Verfolgungsbehörden weiter ausgebaut wurden. Diese Einrichtungen registrierten, erfaßten, beurteilten und gaben ihre Informationen an Polizei und
Gerichte weiter. Die Beurteilungen von Fürsorgerinnen konnten zu Entmündigungen,
Zwangssterilisation, Einweisungen in Arbeitshäuser und zu Konzentrationslagerhaft auf unbestimmte Zeit führen. Begriffe wie „asozial“ und „arbeitsscheu“ brandmarkten die Betroffenen, auch lange nach 1945.
In der Mehrzahl waren die Menschen, die als asozial eingestuft wurden, arm und abhängig von staatlicher Unterstützung, viele von ihnen hatten keinen festen Wohnsitz. Zu ihnen
zählten Bettler, Fürsorgeempfänger, Wohnungslose, Landstreicher, Alkoholiker, Straftäter,
Homosexuelle, unterhaltssäumige Väter, Prostituierte und „Zigeuner“.3 Sinti und Roma wurden auf Grund ihrer „zigeunerischen“ Lebensweise als „asozial“ eingestuft.4 In den Konzentrationslagern wurden diesen Gruppen drei verschiedene Winkel zugeordnet, zum Teil
willkürlich. Der schwarze Winkel mit einem A galt „Asozialen“, ein grüner Winkel „Kriminellen“, „männlichen Homosexuellen“5 wurde ein rosa Winkel zugewiesen.
Die Definition des Begriffes „asozial“ war derart dehnbar, daß ein Heilbronner Obermedizinalrat als Frühsymptome eines „asozialen“ Verhaltens bei Jugendlichen beispielsweise
Rauchen, Faulheit, Eigensinn, Trotz, Zerstörungslust, Schulschwänzen u.a. ansah.6
„Schließlich schien vielen gerade eine diffuse Kategorie geeignet, um im Namen des
‚Volksempfindens‘ alles darin zu sammeln, das sie störte.“7 In einem Handbuch über Erbkrankheiten aus dem Jahre 1937 verstieg sich ein Verfasser zu der Idee, die Definition von
„asozial“ dem „Volksempfinden“ überlassen zu wollen.8 Ein Gesetz, das die Verfolgung und
Inhaftierung von „Asozialen“ geregelt hätte, existierte nicht, jedoch wurden zahlreiche Erlässe und Verordnungen geschaffen, die der Verfolgung einen legalen Anstrich verliehen.9
Diese Politik führte im Nationalsozialismus nach Peukert „zur Ausblendung jeglicher Rechtsgarantie für Menschen mit abweichendem Verhalten“. Die Deklarierung als „asozial“ funktionierte als Vorstufe zu „ihrer Auslieferung an polizeiliche Allmacht, ja zur systematischen
Ausrottung, und als Legitimation für die Mißhandlungen, Morde und die allgemein hohe
Sterblichkeit in den Konzentrationslagern10 “. Die Entwicklung dahin vollzog sich allmählich
und begann nicht erst mit der Machtergreifung 1933. Schon zuvor wurden, verstärkt durch
die ökonomische Krise in den zwanziger Jahren, vermehrt Stimmen laut, die in der Gruppe
der „Unangepaßten“ eine Bedrohung sahen.11 Die Argumentation, daß die Menschen nach
ihrem Nutzen für die Gesellschaft beurteilt werden müßten, wurde im Laufe der dreißiger
Jahre immer häufiger formuliert. Daraus wurde abgeleitet, daß Infektionskrankheiten wie
Tuberkulose, die als Armenkrankheit galt, nicht als persönliches Leid für den Kranken,
sondern als „volksschädigend“ anzusehen seien.12 So konnte es einem Tuberkulosekranken
passieren, daß er in eine Bewahranstalt zur Zwangsarbeit eingewiesen wurde.13
Durch die tatkräftige Mithilfe zahlreicher Wissenschaftler erhielten „Reaktionen der sozialen Mehrheit auf abweichendes Verhalten (...) ihre biologische Legitimation“, indem diese
durch fragwürdige Untersuchungen nachzuweisen versuchten, daß das, „was Juden zu
Juden mache“, „Geisteskranke zu Geisteskranken“, „Zigeuner zu Zigeunern“ und „Asoziale
zu Asozialen“, in den Genen angelegt, erblich und somit unwiderruflich sei.14 Jegliche
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Gesundheits- und
Fürsorgeämter
als verlängerter
Arm der Verfolgungsbehörden
Fürsorge – Arbeitshaus – KZ: Das Leben der Betty Voss
„Rassenhygiene“
als Legitimation
für Verfolgung
und Vernichtung
Die „totale Erfassung“ durch
Polizei, Gesundheits- und Sozialbehörden
sozialen Aspekte wurden rigoros ausgeblendet oder verschleiert. Wissenschaftler machten
sich daran, ganze Familien nach ihren Erbanlagen, etwa nach „asozialen Anlagen“ wie
„Schwachsinnigkeit“, zu untersuchen. Rassenhygieniker, die auf eine lange Tradition zurückblicken konnten, lieferten im Nationalsozialismus die Argumente zu Verfolgung und Vernichtung von gesellschaftlichen Randgruppen. Ökonomische Ursachen für soziale Verelendung,
die Tatsache, daß viele Menschen in der Zeit der Weltwirtschaftskrise Ende der zwanziger
Jahre arbeitslos geworden waren, wurden ausgeblendet. Vor allem nachdem die Nationalsozialisten das Problem der Arbeitslosigkeit nach der Machtergreifung mit Beschäftigungsprogrammen scheinbar gelöst hatten, wurden Fürsorgeempfänger für ihre Lage verantwortlich gemacht und ihnen persönliche Unfähigkeit nachgesagt. Argumentiert wurde in die
Richtung, daß die sogenannten „Asozialen“ nicht imstande seien, ihr Leben eigenverantwortlich zu gestalten, und es entsprechend ihrer Veranlagung auch nie können würden.15
Das ➤ „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, das 1934 in Kraft getreten
war, bildete die logische Konsequenz aus dieser geistigen Haltung. Von dieser Zeit bis
1945 sind auf Grund dieses Gesetzes etwa 400.000 Zwangssterilisationen durchgeführt
worden.16 Der angeblich nachgewiesene erblich veranlagte „Schwachsinn“ eines Menschen hatte eine Zwangssterilisation zur Folge. Diese „Diagnose“ führte zu den meisten
Zwangssterilisationen.17 Während „wertvolle Frauen“ aus „erbgesunden Familien“ eine
Geburtenförderung erfahren sollten, setzte man bei den „minderwertigen Frauen“ ein
Gebärverbot durch. Zudem verbot das „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der
deutschen Ehre“ von 1935 Ehe und Geschlechtsverkehr zwischen Deutschen und Juden.
1942 wurde das Gesetz noch um den Begriff „Zigeuner“ erweitert.18 Bereits 1933 wurden
„sexuell Unangepaßte“, Prostituierte und Frauen, denen häufig wechselnder Geschlechtsverkehr nachgesagt wurde, registriert, verfolgt und später als „Asoziale“ in Konzentrationslager verschleppt.19
„Daß es dem Staat allein um Ordnung ging und nicht etwa um Moral, bewies sein zynisches Bestreben, Offiziere, Soldaten und sogar Zwangsarbeiter in den Konzentrationslagern kontrolliert mit Prostituierten zu ‚versorgen’. Faustregel eines KZ-Planers: zehn Frauen pro 3000 Arbeiter.“ 20
Frauen konnten bereits in die Mühlen der Ermittlungsbehörden geraten, wenn ein Verdacht bestand, daß sie „eigene Wege gingen“ oder sich „auf Rummelplätzen herumtrieben“.21 In Ermangelung von Beweisen wurde im Sinne des „Volksganzen“ entschieden und
nicht im Sinne der jeweiligen Person.22 Eine „ordentliche Frau“ sollte einen „krisenanfälligen Gelegenheitsverbrecher“ durch ihren Einfluß wieder auf die rechte Bahn rücken können. War aber eine „liederliche Frau“ mit einem „willensschwachen Mann“ verheiratet, so
konnte dieser Umstand nach dem Erbforscher Stumpfl „verheerende Auswirkungen auf den
Lebensweg“ des Mannes haben.23
Angestrebt wurde eine totale Erfassung zur konsequenten Repression allen abweichenden Verhaltens in den Bereichen Arbeit, Wohnen und Sexualität. Dazu dienten Gesetze,
Erlasse und Verordnungen. Polizei, Gesundheits- und Sozialbehörden führten die „Maßgaben“ aus, sie arbeiteten Hand in Hand und übertrafen zuweilen die verordneten Anforderungen.24
Ein weiteres Zwangsmittel zur Erfassung waren Entmündigungsverfahren durch die Erbgesundheitsgerichte, die bei angeblich nachgewiesenem „Schwachsinn“ Eheverbot und
Zwangssterilisation anordnen konnten. Die Sterilisationsverfahren galten vor allem Frauen,
insbesondere unverheirateten Müttern mit mehr als einem Kind.25 Der Sterilisation ging vielfach ein Entmündigungsverfahren voraus: „Das Verfahren war aus Sicht der Opfer nahezu
aussichtslos: Fürsorgerinnen und Pflegeämter beantragten die Entmündigung bei den Amtsgerichten mit der Begründung, der Betroffene sei ‚nicht fähig’, den ‚Sinn der Unfruchtbarmachung‘ zu erfassen.“ Daraufhin wurden amtliche Pfleger eingesetzt, die die Sterilisation
ihrer Mündel beantragten.26 Zur „Diagnose“ wurden „Intelligenzprüfbögen“ herangezogen,
die Fragen wie „Was ist der Unterschied zwischen einer Leiter und einer Treppe?“, „Was
ist Elektrizität?“ oder „Welche Schlacht hat Hindenburg geschlagen?“ enthielten.27
76
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Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
Martina Scheitenberger/Martina Jung
Die Situation für angeblich „Asoziale“ verschärfte sich im Laufe der dreißiger Jahre bis
hin zur Einweisung in ein Konzentrationslager auf unbestimmte Zeit. 1933 wurden große
Bettlerrazzien organisiert, die noch kurzfristige Haftzeiten für die Festgenommenen zur Folge hatten. Es konnte zusätzlich zur Haftzeit eine Zwangseinweisung in ein Arbeitshaus erfolgen. Dort mußten die Inhaftierten in der Regel ein Jahr verbringen, wurden danach aber
wieder auf freien Fuß gesetzt. Ab 1934 konnte die Arbeitshaushaft unbefristet verlängert
werden, die Unterbringung war nun „tendenziell lebenslänglich“.28 Frauen wurden vermehrt
ab 1936 in Arbeitshäuser eingewiesen. Die Begründung war zumeist „sittlicher Verfall“, auf
Grund dessen sie dem Staat finanziell zur Last fallen würden. Dabei konnte es sich lediglich
um Krankenhauskosten zur Behandlung von Geschlechtskrankheiten handeln.29
Im Zuge des Arbeitskräftemangels um 1937/38 strebte insbesondere die ➤ SS an, alle,
die auffällig geworden waren, wenn nötig mit Gewalt zur Arbeit zu zwingen. Ein Erlaß
über „die vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei“ ebnete der SS den
Weg, „Asoziale“ systematisch in Konzentrationslager zu verschleppen. Ab diesem Zeitpunkt hatten Polizei und ➤ Gestapo einen Zugriff auf angeblich „Arbeitsscheue“. Darauf
folgten Verhaftungswellen durch die Gestapo, die besonders diejenigen zu fürchten hatten,
die bereits in einem Arbeitshaus gewesen waren. Ihnen drohte eine Einweisung in ein KZ
als „Vorbeugehaft“.30
Wie sich so eine Verkettung von Ereignissen abspielen konnte, verdeutlicht die Biographie von Betty Voss, die die Auswirkungen der verschärften Verfolgung von Armen und
„Unangepaßten“ am eigenen Leibe zu spüren bekam.
„Zwischenstation“
Arbeitshaus
Das Konzentrationslager als
„Vorbeugehaft“
Betty Voss 31
In einem kleinen Dorf bei Magdeburg wurde Betty Voss am 25.11.1911 geboren. Sie war
die älteste von drei Geschwistern und wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf, ihre Mutter
war Landarbeiterin.
„Meine allererste Erinnerung an die Kindheit, da war ich fünf Jahre. Da war meine Mutter schwerkrank, und mein Vater hat im Steinbruch gearbeitet.“
Betty Voss berichtet in einem Interview, daß ihr Vater im Streit seine kranke Frau stieß,
daß diese fiel und an den Verletzungen starb. Das Gericht glaubte Betty Voss nicht, da sie
noch ein Kind war, ihr Vater wurde freigesprochen. Er heiratete bald wieder. Unter der
Stiefmutter, die die Kinder schlug, litt Betty Voss sehr.
„(...) und in der Schule, da durften wir uns nicht ausziehen, wenn der Schularzt kam, da
mußten wir sagen, wir sind gefallen!“
Die Mißhandlungen ließen sich bei einer Reihenuntersuchung in der Schule nicht verheimlichen. Wegen Kindesmißhandlung bekam die Stiefmutter eine Haftstrafe von zwei Jahren.
Nach deren Entlassung wurde die Situation für Betty Voss immer unerträglicher. Sie ging
1925, nachdem sie die Schule absolviert hatte, für drei Jahre zu einem Verwandten nach
Brandenburg, bei dem sie eine Ausbildung als Gärtnerin machte. Nach Abschluß der Ausbildung mußte sie zurück zu ihren Eltern. Das Verhältnis zwischen der Stiefmutter und Betty
Voss war unverändert schlecht. Sie fühlte sich von ihrer Stiefmutter vollkommen ausgenutzt,
weil sie beispielsweise ihren gesamten Lohn als Taglöhnerin zu Hause abzugeben hatte.
Deshalb verließ sie heimlich ihr Elternhaus, obwohl sie noch nicht volljährig war, und begab sich auf Wanderschaft.
„Ja, wir waren, ich war auf Tippelei, und im Frühjahr, im Sommer, habe ich mir beim
Bauern Arbeit gesucht, da hab’ ich den ganzen Sommer gearbeitet, das Geld habe ich mir
gespart, hab’ mir Zeug gekauft, und wenn es Herbst war, war nichts mehr zu machen, bin
ich weiter getippelt.“
In dieser Zeit freundete sie sich mit einem Landarbeiter an. Sie wurde schwanger. Noch
vor der Geburt ihres Kindes ertrank ihr Freund in einem See. Auf Grund der Schwangerschaft konnte sie bald nicht mehr arbeiten, sie wanderte weiter in Richtung Norden und
übernachtete in Obdachlosenheimen.
Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
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Obdachlosenasyl
– erste Kontakte
mit der Fürsorge
Fürsorge – Arbeitshaus – KZ: Das Leben der Betty Voss
Von der Zwangspsychiatrie ins
Arbeitshaus
„Ich bin ja immer in ein Obdachlosenasyl gegangen, ich bin nie in eine Herberge, wo
Männer waren. Es gab da Herbergen, da konnten Männer und Frauen, ich bin immer in
ein Obdachlosenasyl, da war ich am sichersten.“
Das Kind bekam Betty Voss in einer Gefängniszelle in Berlin am Alexanderplatz. Da sie
erst 20 Jahre alt war, schickte die Polizei sie zurück zu ihren Eltern, die sie als vermißt gemeldet hatten. Nach einem Jahr hielt es Betty Voss zu Hause nicht mehr aus und ging abermals auf Wanderschaft, diesmal nach Kiel.
„Erstens mal hab’ ich gefragt, wo hier ’ne Unterkunft ist für Frauen, da hat man mir gesagt, in der Gartenstraße bei Schwester Therese, und da bin ich hin, anstandshalber, um
nicht auf der Straße zu liegen und rumzutreiben (...) und gleich, oh die Therese, hat gleich
telephoniert, nach dem Gesundheitsamt: ‚Hier ist jetzt wieder eine Neue gekommen, wo
die herkommt, wissen wir nicht richtig (…).‘“
Daraufhin mußte sich Betty Voss auf Veranlassung des Gesundheitsamtes untersuchen lassen.
In dem Heim lernte sie ihren ersten Mann kennen, den sie 1933 heiratete. Sie bekam
zwei weitere Kinder, eine Tochter und einen Sohn. Die Familie lebte von der Unterstützung
durch das Fürsorgeamt. Die Arbeitslosigkeit des Mannes, seine Alkoholprobleme und die
permanenten Geldsorgen führten schnell zu Spannungen in der Ehe. Häufig mußte die Familie wegen ihrer Mietzahlungsrückstände die Wohnung wechseln. Betty Voss wusch für
Frauen aus der Nachbarschaft Wäsche und ging zeitweilig betteln, obwohl das verboten
war, um ihre Kinder zu ernähren.
„Da war ich gezwungen von Haus zu Haus, von Treppe zu Treppe, mit einem Kind an
der Hand und einem im Bauch betteln [zu] gehen.“
Zweimal in der Woche kam ein Mann vom Fürsorgeamt und kontrollierte die häuslichen
Verhältnisse. Bei einem dieser Besuche kam es zu einem Streit zwischen Betty Voss und
ihrem Mann, der sie tätlich angriff. Der Fürsorger forderte sie danach auf, sich scheiden zu
lassen. Sie weigerte sich. Kurze Zeit später bekam sie ihr drittes Kind. Als Betty Voss keine
Möglichkeit mehr sah, ihre Kinder zu ernähren, gab sie die beiden größeren Kinder in ein
katholisches Kinderheim. Obwohl sie regelmäßig Besuche im Heim machte, wurden die
Kinder ohne Benachrichtigung der Mutter in ein anderes Heim überwiesen. Die Behörden
leiteten ein Entmündigungsverfahren gegen Betty Voss ein. 1936 wurde sie entmündigt.
Voraus gingen eine medizinische Untersuchung und ein „Intelligenztest“.
„Professor Hallermann war in der Nervenklinik hier in Kiel der Höchste. Da hat er gesagt:
‚Frau Diederich, was ist denn der Unterschied zwischen Treppe und Leiter?‘ Und ich sag:
‚Aber Herr Doktor, auf der Leiter gehen Sie auf Sprossen und auf der Treppe auf Stufen.‘“
Nach der medizinischen Untersuchung: „ (...) dann sag ich: ‚Na, Herr Professor, wie ist
denn der Befund nach zwei Tage?‘ ‚Ach’, sagt der Kleine: ‚Da verstehst du nichts von, ist
o.B.‘ ‚Ach ja’, sag ich, ‚ohne Befund, nich’!‘“
Es folgte die Einweisung in eine Nervenklinik nach Schleswig, wo sie drei Jahre zwangsweise bleiben mußte.
„Und der Oberarzt Dr. Krei ( in Schleswig, d.V.), der hat zu mir gesagt: ‚Laß dich scheiden von dem Mann!‘ (...) Wir haben menschlich gesprochen, wir beiden, und er wußte,
mir fehlt nichts. Er hat gesagt, ihm sind die Hände gebunden, wenn’s nach ihm ginge, würde er mich rauslassen. Aber ich ginge gleich wieder nach Kiel, und dann würd‘ er sein Amt
los, nich. So hat er mir das dann erzählt, und ich sag: ‚Und scheiden laß ich mir nicht!’“
„Ach, und da hab ich dann gesessen bis 1939, fing dann der Krieg an. Da hab ich denn
gesagt: ‚Nun wird es Zeit, (...) Herr Oberarzt, ich laß mich scheiden, dann bin ich frei!‘“
1939 ließ sich Betty Voss von ihrem Mann, der inzwischen in Hannover wohnte, scheiden. Sie blieb weiter entmündigt und bekam deshalb nicht das Sorgerecht für ihre Kinder,
die sie auf Veranlassung der Familie ihres Mannes nicht sehen durfte. Sie sollte gleich nach
der Scheidung zurück in das Dorf fahren, aus dem sie stammte.
„Ich fahr nicht nach Hause, ich fahr wieder nach Kiel, bin ich wieder in Kiel, sehen sie
(vermutlich das Fürsorge- oder Gesundheitsamt, d.V.) mich wieder, ein Jahr Arbeitshaus,
Glückstadt.“
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Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
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Martina Scheitenberger/Martina Jung
Nach ihrer Ankunft in Kiel geriet Betty Voss erneut in die Erfassungsmühlen der städtischen Behörden, die sie zu einem Jahr Arbeitshaus verurteilten. Nach ihrer Entlassung
aus dem Arbeitshaus in Glückstadt arbeitete sie für längere Zeit bei einem Flugzeugersatzteilehersteller in der Rüstungsindustrie. Dort freundete sie sich mit einem holländischen
Zwangsarbeiter an. Die Beziehung war sehr gefährlich, da jeglicher Kontakt zwischen
Deutschen und Zwangsarbeitern streng untersagt war. Auf Grund der Meldung des Personalchefs der Fabrik, der insgesamt sieben Holländer und sieben Fabrikarbeiterinnen
wegen unerlaubter Kontakte denunzierte, wurde Betty Voss gemeinsam mit den anderen
verhaftet. Nach ein paar Tagen in einem Gefängnis brachte man sie mit den anderen
sechs Frauen am 3. Februar in das Konzentrationslager Ravensbrück. Die Begründung für
ihre Einweisung lautete „Herumtreiberei“. Ihr holländischer Freund wurde in das KZ
Neuengamme verschleppt und dort getötet. An die Ankunft in Ravensbrück erinnert sich
Betty Voss:
„Da war’n Raum, da saß’n SS-Mann, so breitbeinig, ‚Wat bist du für eine?‘ ‚Deutsche.‘
Klatsch, klatsch bumm, ha, ha, gleich rechts und links eine weg. (...) Da war so’n großer
Baderaum und hinten da in dem anderen Raum, da schrien sie alle. Da hab’ ich mal um
die Ecke geschielt, oh, da wurden die Haare abgeschnitten, alle, alle! Die haben mich dort
entehrt, die haben mich entmündigt, die haben mir die Haare abgeschnitten, die haben mir
doch entehrt da, die ganzen Jahr’ in Ravensbrück, und jetzt soll ich nichts dafür haben!“
Im KZ wies man ihr die Häftlingskategorie „Asozial“ zu. Sie bekam einen schwarzen
Winkel aus Stoff mit einem „A“ darauf und die Häftlingsnummer 16747. Die Lebensbedingungen waren katastrophal, täglich von Hunger begleitet.
„Ich hab mal Weißkohl geklaut. Wir haben alle Hunger gehabt. Wir haben die ganze
Woche nur Steckrüben in Wasser gekocht, kein Fleisch, wir haben keine Wurst, nichts, wir
haben immer nur trockenes Brot, so’n Stück, das mußte reichen, den ganzen Tag. Und da
kam denn ein Wagen mit Weißkohl. Und ich und noch eine mehr, ich sag: ‚Komm man
Friedel, wir ducken uns, sind ja klein, da können sie nicht so sehen, wenn es ein bißchen
schummrig ist!‘ Wir denn ruff auf den Auto. (...) Wir liefen da mit die Weißkohlköpfe los in
unseren Block. Erst war ich in Block 19 und denn in Block 23. Und wie wir denn da reinkamen, oh, ach, die haben uns ja überfallen, der Weißkohl, der war im Nu weg, so roh.
Und dann haben sie uns erwischt! Eine hat uns gesehen, und die hat uns verpfiffen. (...)
Strafrapport, dann mußten wir vorne nach n’ Revier. (...) Dann kam’n wir unten nach dem
Keller. Da war ein Holzblock, so ein schönes Ding, wissen Sie, haha! Und dann kriegten
wir ’ne weiße Leinenhose, ’ne nasse an! Und dann: ‚Leg dich mal auf den Bock.‘ Mit Gummiknüppel! ‚Zähle, zählst du die Schläge nicht, kriegst du einen mehr!‘“
Mit ihr wurden medizinische Versuche durchgeführt, am Oberarm operierte man ihr einen Muskel heraus. Sie berichtet, daß ihr in Ravensbrück auch Mittel gespritzt wurden, die
epileptische Anfälle hervorriefen.
Betty Voss arbeitete in den verschiedenen Arbeitskommandos des KZ:
„Und denn jedes Vierteljahr wurden 500 ausgesucht aus die Blocks. Ich habe mir ja
gleich zur Arbeit, das hieß ja Arbeitsvermehrung, um sieben Uhr, (...) gemeldet. Ich hab’
Straßenbau mitgemacht, ich hab’ die Küche rein mitgemacht, in de Schusterei mitgemacht,
ich hab’ Bäume mitgefällt, ich hab’ Sand mitgeschaufelt, ich hab’ Leichen mit verbrannt, in
unser eignes Krematorium.“
Betty Voss war bis zur Befreiung des KZ durch die Russen in Ravensbrück. Mit einigen anderen Frauen aus ihrer Häftlingsbaracke verließ sie zu Fuß das KZ in Richtung Mecklenburg.
„Ehe wir losgewandert sind, sind wir nach Oranienburg gegangen und haben uns einen
Zettel geben lassen, daß wir gesessen haben da drin, von dann bis dann, nich, in Ravensbrück.“
Im Berliner Rathaus gab sie den Schein ab, um Wiedergutmachungsansprüche geltend
zu machen. Dort ging die Bescheinigung verloren.
1946 heiratete Betty Voss ein zweites Mal. Die Ehe hielt jedoch nur kurz, da ihr Mann
erkrankte und in eine Nervenklinik nach Schleswig eingeliefert wurde. Sie ließ sich bald
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„Unerlaubte
Kontakte“
führen ins Konzentrationslager
Ravensbrück
Fürsorge – Arbeitshaus – KZ: Das Leben der Betty Voss
darauf scheiden. Drei Jahre später lernte sie Herrn Voss kennen. Gemeinsam mit ihm setzte
sie die Aufhebung ihrer Entmündigung von 1936 beim Vormundschaftsgericht durch.
„Und dann hab ich gesagt: ‚Ich möchte‘ jetzt endlich wieder frei sein, ich bin so lange
entehrt gewesen, von 1936 bis 1951, das ist ja wohl lange genug!‘ ‚Ja, woll’n wir mal
gucken!‘ Ich sag: ‚Oder muß ich noch mal erzählen, was der Unterschied zwischen Treppe
und Leiter (...)?’
Das dauerte 14 Tage, da kriegte ich meinen Bescheid, die Entmündigung ist aufgehoben.
Ich hab noch das Schreiben! Und 1951 haben wir geheiratet.“
Ihre Kinder sah Betty Voss erst, als diese schon 18 und 19 Jahre alt waren. Das Verhältnis zu ihnen beurteilte Betty Voss als sehr gespannt. Sowohl Tochter als auch Sohn werfen
der Mutter vor, daß sie in ein Heim mußten, und glauben nicht daran, daß ihre Mutter keine andere Möglichkeit sah. Am Stadtrand von Kiel lebte Betty Voss mit ihrem Mann in einer
kleinen Laube. 1991 starb sie mit 80 Jahren.
„Ich hab’ keine Worte mehr für die Menschen, ein Tier tut mir nichts, ein Tier belügt mir
nicht, aber können Sie noch einem Menschen trauen? Vorne lachen sie und hinten kratzen
sie, ja ist wahr, man muß ja Angst kriegen! – Nu ja – denkt von mir, was ihr wollt – ich
weiß es nicht, was ihr denkt.“
Aus: Claus Füllberg-Stolberg (Hrsg.):
Frauen im Konzentrationslager, Bergen-Belsen, Ravensbrück,
Edition Temmen, Bremen 1994, S. 299-305
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Die Verfolgtengruppe, die die Nationalsozialisten als „asozial“
einstuften, wird in der Literatur zu den Konzentrationslagern
häufig vernachlässigt oder nur am Rande erwähnt. Deshalb war es
uns besonders wichtig, die Biographie einer Frau aufzunehmen,
die als „Asoziale“ im KZ Ravensbrück inhaftiert war. Die der Biographie vorangestellte knappe Einführung soll hier lediglich einen
Überblick über diese Gruppe geben.
Vgl. Klaus Scherer: „Asozial“ im Dritten Reich. Die vergessenen
Verfolgten. Münster 1990, S. 9.
Vgl. Wolfgang Ayaß, Das Arbeitshaus Breitenau. Bettler, Landstreicher, Prostituierte, Zuhälter und Fürsorgeempfänger in der
Korrektions- und Landarmenanstalt Breitenau (1874-1949). Kassel
1992, S. 287. Siehe auch Scherer (1990), S. 50, 70.
Vgl. Scherer (1990), S. 50.
Männliche Homosexuelle wurden auf der Grundlage des § 175
StGB verfolgt und im Konzentrationslager als eine spezifische Gruppe mit einem rosa Winkel „markiert“. Weibliche Homosexuelle fielen nicht unter dieses Gesetz. Trotzdem wurden auch sie verfolgt
und in KZ verschleppt, „eine qualvolle Erfahrung, die der Mehrzahl
lesbischer Frauen glücklicherweise erspart blieb“. Claudia Schoppmann: Nationalsozialistische Sexualpolitik und weibliche Homosexualität. Pfaffenweiler 1991, S. 223. Vgl. ebd., S. 5, 214-226.
Vgl. Scherer (1990), S. 55.
Ebd., S. 52.
Ebd., S. 50.
Vgl. Ayaß (1992), S. 266-282. Siehe auch Scherer (1990), S. 29-35.
Detlef Peukert: Arbeitslager und Jugend-KZ: Die „Behandlung
Gemeinschaftsfremder“ im Dritten Reich. In: Ders./Jürgen
Reulecke (Hrsg.): Die Reihen fast geschlossen. Wuppertal 1981,
S. 413.
Vgl. Uwe Lohalm: Die Wohlfahrtskrise 1930-1933. Vom ökonomischen Notprogramm zur rassenhygienischen Neubestimmung. In:
Frank Bojahr/Walter Johe/Uwe Lohalm (Hrsg.): Zivilisation und
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Barbarei. Die widersprüchlichen Potentiale der Moderne. Hamburg 1991, S 193-225.
Vgl. Scherer (1990), S. 20f.
Vgl. ebd., S. 77.
Ebd., S. 21.
Vgl. ebd., S. 42, 63.
Vgl. Schoppmann (1991), S.67. Vgl. auch Scherer (1990), S. 10, 27.
Ebd., S. 68.
Ebd., S. 29.
Vgl. Gaby Zürn, A. ist ein Prostituiertentyp. Zur Ausgrenzung und
Vernichtung von Prostituierten und moralisch nicht-angepaßten
Frauen im nationalsozialistischen Hamburg. In: Verachtet – Verfolgt
– Vernichtet. Zu den „vergessenen“ Opfern des NS-Regimes. Hg. v.
der Projektgruppe für die „vergessenen“ Opfer des NS-Regimes.
Hamburg 1988, S 128-151; S. 129. Siehe auch Scherer (1990), S. 81.
Scherer (1990), S. 80. Vgl. auch den Beitrag von Schulz über Lagerbordelle: Christa Schulz, Weibliche Häftlinge aus Ravensbrück in
Bordellen der Männerkonzentrationslager, S 135-146, in: Claus
Füllberg-Stolberg u. a. (Hg.), Frauen in Konzentrationslagern: Bergen-Belsen, Ravensbrück, Bremen 1994.
Scherer (1990), S. 85.
Ebd.
Ebd., S. 45.
Vgl. Ayaß (1992), S. 291.
Vgl. Scherer (1990), S. 47.
Ebd., S. 95.
Vgl. ebd., S. 97.
Vgl. Ayaß (1992), S. 309.
Vgl. ebd., S. 264-287.
Vgl. ebd., S. 287-292.
Die folgenden Angaben und Zitate sind dem Filmprotokoll
„Schicksal bleibt stumm. Das Leben der Betty V.“ von Barbara von
Poschinger entnommen.
Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
DIE SOGENANNTEN „U-BOOTE“ – ÜBERLEBT IM VERBORGENEN
BRIGITTE BAILER-GALANDA
Das Schicksal des jüdischen Mädchens Anne Frank, das mit seinen Eltern und Freunden
der Familie in einem Hinterhaus in Amsterdam versteckt lebte, bis die Untergetauchten im
August 1944 verraten und verhaftet wurden, hat unzählige Leser in der ganzen Welt
gerührt. Doch auch in Wien konnten zahlreiche von der Deportation bedrohte Menschen
den Krieg als Untergetauchte, sogenannte „U-Boote“ überleben; ihre genaue Zahl konnte
bisher nicht zuverlässig eruiert werden.1 Sie organisierten sich nach 1945 kurzfristig im
sogenannten „U-Boot-Verband“ mit Sitz in Wien IX, Universitätsstraße 8/3.2 Sehr viele dieser Menschen hatten Jahre der Angst, oft eingeschlossen in winzigen Verstecken und zur
allermöglichsten Geräuschlosigkeit, oft infolgedessen auch beinahe Bewegungslosigkeit
verurteilt, hinter sich.3 Nach der Befreiung 1945 gelang es ihnen nur mit Mühe, sich wieder an das normale Leben zu gewöhnen, Kontakt mit Menschen aufzunehmen. Sie trugen
als Folge der ungeheuren Anspannung psychische Schäden davon, von denen sich manche auch später nicht mehr erholten. Herr N., der gemeinsam mit seinen beiden Geschwistern und seinen Eltern als Kleinkind in einem Wiener Keller überleben konnte, beschreibt
rückblickend seinen Vater bis 1938 als lebenstüchtigen Mann, dessen Tatkraft und Organisationstalent auch das Hauptverdienst für das Überleben der Familie in der NS-Zeit zukam. Nach der Befreiung 1945 war der Vater jedoch ein gebrochener Mann, der mit dem
Leben nicht mehr fertig wurde und dann seinerseits nur mit Hilfe der halbwüchsigen Kinder
und seiner schwerkranken Frau überleben konnte.4
Die Mehrheit dieser „U-Boote“ waren wohl jüdisch Verfolgte. Ab 1942/43 entzogen
sich auch österreichische Wehrmachtsangehörige, oft aus politischen Gründen, dem weiteren Kriegsdienst und tauchten unter. Sie erlebten das Kriegsende – soferne sie nicht verraten wurden – in ihren Verstecken, andere wiederum schlossen sich Partisanenverbänden
an.5
Das Opferfürsorgegesetz berücksichtigte das Leben im Verborgenen vor der ➤ 12. Novelle vom 22. März 1961 überhaupt nicht als eigenen anspruchsbegründenden Verfolgungstatbestand, obschon über die Tatsache des Lebens als „U-Boot“ bereits 1945 einiges bekannt war. So schrieb das „Neue Österreich“ im Mai 1945: „Doch nicht jedem lag es, sich
wehrlos wie ein Stück Vieh zur Schlachtbank treiben zu lassen. Und nicht jeder wollte
untätig zusehen, wie Freunde und Verwandte in den qualvollen Tod gehetzt wurden. Einige
der Gezeichneten rafften ihren letzten Mut zusammen, besprachen sich mit hilfsbereiten
Freunden und beschlossen, sich zu verstecken. Das waren dann die geheimnisvollen ‚Unterseeboote‘. Viele Hunderte gab es davon in Wien – natürlich nicht nur Juden, sondern auch
aus politischen Gründen Verfolgte und Gefährdete.“ 6 Die Diktion des Artikels muß als bemerkenswert gesehen werden – wenn schon einmal jüdische Opfer vorkamen, schwächte
man sofort ab.
Bis zur 12. Novelle standen ehemaligen „U-Booten“ keine Ansprüche aufgrund des Opferfürsorgegesetzes offen, es sei denn, sie konnten eine Einkommensschädigung um mehr
als die Hälfte für mindestens dreieinhalb Jahre nachweisen, was – wie oben gezeigt – nicht
leicht war. In diesem Falle konnten sie zumindest einen ➤ Opferausweis erhalten, nicht jedoch die ➤ Amtsbescheinigung. Die 12. Novelle nahm das Leben im Verborgenen dann als
entschädigungswürdigen Tatbestand in das Gesetz auf, wobei jedoch einfaches Untertauchen nicht ausreichend war – es mußte unter „menschenunwürdigen Bedingungen“ erfolgt
sein, als ob ein Leben in der Illegalität nicht an sich schon menschenunwürdig genug wäre.
In den Anweisungen des Bundesministeriums für soziale Verwaltung an die Ämter der Landesregierungen für die Durchführung der 12. Novelle heißt es dazu: „Der Begriff des Lebens im Verborgenen unter menschenunwürdigen Bedingungen ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der sich in Form einer generellen Weisung nicht genau umschreiben läßt, so daß
die entscheidende Behörde innerhalb des ihr gesetzlich zugestandenen Rahmens eine entsprechende Entscheidungsfreiheit hat. Es wird Sache der Behörde sein, in jedem einzelnen
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Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
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Kein
Anspruch auf
Opferfürsorge
Was sind
„menschenunwürdige
Bedingungen“?
Die sogenannten „U-Boote“
Falle nach Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes in freier
Beweiswürdigung zu beurteilen, ob die beiden Tatbestandsmerkmale des § 14 Abs. 2 lit. c
OFG erfüllt sind. Der Begriff ‚Leben im Verborgenen‘ wird dahin auszulegen sein, daß darunter nicht nur ein Leben unter falschen Namen und Verstecken, sondern überhaupt ein
Leben außerhalb der bürgerlichen Rechtsordnung zu verstehen sein wird. Das gleiche wird
auch für die Tarnung oder Verheimlichung anderer für die Verfolgungsvorgänge wichtiger
persönlicher Umstände wie z.B. Konfession und rassische Abstammung gelten. Das Tatbestandsmerkmal ‚unter menschenunwürdigen Bedingungen’ wird vorliegen, wenn nach dem
Verfolgten intensiv gefahndet wurde und er sich deshalb nur in wirklichen Verstecken aufhalten konnte und oft die Flucht ergreifen mußte. Ebenso wird als menschenunwürdig anzusehen sein, wenn z.B. ein Verfolgter durch erzwungene Tarnung seinen Beruf aufgeben und
einen anderen Beruf unter erniedrigenden und vielleicht ungesunden Bedingungen ausüben
mußte. Bei einem Leben in einem Versteck oder auf der Flucht (ständiges Wechseln des
Aufenthaltes, ohne an einem Ort aus verfolgungsbedingten Gründen länger verweilen zu
können) würden die Voraussetzungen des § 14 Abs. 2 lit. c OFG jedenfalls bejaht werden
können.“ 7
1965 sah sich das Bundesministerium für soziale Verwaltung genötigt, in einem Erlaß darauf hinzuweisen, daß „der Begriff ‚menschenunwürdige Bedingungen‘ vielfach zu eng ausgelegt wird“, und gesonderte neuerliche Erklärungen dazu zu liefern: „Der Verwaltungsgerichtshof hat dargelegt, daß unter ‚menschenunwürdig‘ nur etwas verstanden werden kann,
was über die Verhältnisse eines im Verborgenen lebenden Menschen hinausgeht, und auch
die Ansicht vertreten, daß es sich bei den menschenunwürdigen Bedingungen nicht um jene
Schwierigkeiten handeln kann, die das Leben im Verborgenen zwangsläufig mit sich bringt;
es müssen vielmehr noch besondere äußere Umstände hinzukommen, die das Leben im Verborgenen wesentlich erschweren, wie zum Beispiel das Leben in besonders unzulänglichen
Unterkünften oder unter besonders ungünstigen Versorgungsverhältnissen.“8
Im Klartext hieß dies, daß die über Jahre dauernde Angst vor Entdeckung, die Sorge um
die Verwandten oder Freunde, die enormen psychischen Belastungen infolge vielleicht
beengten Lebens auf kleinem Raum allein nicht „menschenunwürdig“ genug waren, um
einen Anspruch auf Entschädigung nach dem Opferfürsorgegesetz zu begründen, die
öS 350,- pro Monat des Lebens im Verborgenen ausmachte.9
Die Behörden, aber auch der Verwaltungsgerichtshof beurteilten die Anträge der Opfer
entsprechend den Durchführungsbestimmungen sehr engherzig. Der Wiener F. G. war im
Juni 1942 in Wien festgenommen und in das Sammellager Kleine Sperlgasse 2a gebracht
worden, von wo ihm jedoch die Flucht gelungen war. Bis Kriegsende hatte er unangemeldet in der Wohnung seiner späteren, nichtjüdischen Gattin gelebt. Nur zweimal hatte er
es wegen eines Arztbesuches gewagt, die Wohnung zu verlassen. Das Amt der Wiener
Landesregierung lehnte seinen Antrag auf Entschädigung mit der Begründung ab, daß er
„sich während des gesamten Zeitraumes in der Wohnung seiner nichtjüdischen Frau aufgehalten und nur ganz selten in deren Begleitung das Haus verlassen habe“.10 Das Bundesministerium für soziale Verwaltung korrigierte in diesem Fall im Berufungsverfahren die
Wiener Opferfürsorgebehörden.11
In einem anderen Fall lehnte sogar der Verwaltungsgerichtshof die Beschwerde eines
Mannes ab, der nach der Deportation seiner Mutter und seiner Schwester untergetaucht
war, jedoch teilweise seinen Lebensunterhalt mit Schwarzarbeiten in der Wiener Markthalle hatte verdienen können: „Wie er (der Berufungswerber, Anm. der Verf.) bei seiner Einvernahme am 15. Juli 1959 selbst angeführt habe, habe er während seines Lebens im Verborgenen durch Schwarzarbeit bei Fleischhauern seinen Lebensunterhalt verdient. Aus den
Angaben der Zeugen W. und D. gehe hervor, daß der Berufungswerber während der
angeführten Zeit bei diesen Personen und bei anderen Bekannten in der Wohnung
gewohnt hat. Aus seiner Beschäftigung müsse geschlossen werden, daß es ihm möglich
war, ohne jeweilige Behinderung seine Unterkunft zu verlassen und sich zu seiner Arbeitsstätte zu begeben. Besondere äußere Umstände, die das Leben im Verborgenen
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Brigitte Bailer-Galanda
wesentlich erschweren, wie z.B. das Leben in besonders unzulänglichen Unterkünften oder
unter besonders ungünstigen Versorgungsverhältnissen, seien vom Berufungswerber nicht
nachgewiesen worden. Daß er durch den Nichtbezug von Lebensmittelkarten Hunger
gelitten und deswegen unter menschenunwürdigen Bedingungen gelebt habe, könne
gleichfalls aufgrund seiner Angaben und der Angaben der Zeugen, daß die ihn verköstigt
hätten, nicht als erwiesen angenommen werden.12 Gleichfalls abgelehnt wurde die Beschwerde einer Wienerin, der es gelungen war, unter falscher Identität die NS-Herrschaft
zu überleben.13
Die Bedeutung dieser Nicht-Anerkennung als Opfer beschreibt Herr N., bezugnehmend
auf die verzweifelte Situation seines Vaters nach der Befreiung: „… aber richtig auf die
Beine hat man niemandem geholfen. (…) Und was mein Vater eigentlich gebraucht hat,
das war keine Wiedergutmachung, keine finanzielle Abgeltung. Er hat wieder respektiert
werden wollen als Mensch, er hat dort weiter machen wollen, wo er im 38er Jahr aufgehört hat, aber das hat es natürlich nicht gegeben. (…) Aber man hätte ihm wenigstens
das anerkennen sollen, daß er sieben Jahre seines Lebens praktisch in einem Kellerloch
versteckt war, diskriminiert war, sein Leben bedroht war, und das hat man eigentlich bis
zum Schluß nicht getan. (…) Wir haben dann nach Jahren, viele Jahre später, da war
mein Vater schon tot, einen Opferausweis bekommen.“ 14
Erst mit der 21. Novelle (!) zum Opferfürsorgegesetz vom 11. November 1970 wurde
die Situation verbessert: Die Novelle sah die Zuerkennung eines Opferausweises für das
Leben im Verborgenen vor, falls dieses Leben mindestens sechs Monate gedauert hatte
und auf dem Gebiet der Republik Österreich stattfand. Bezüglich der finanziellen Entschädigung blieb jedoch alles beim Alten, hier blieb die Zusatzbedingung „unter
menschenunwürdigen Bedingungen“ aufrecht. Der Abgeordnete Otto Skritek (SPÖ) verwies 1970 bei seiner Rede im Nationalrat zu dieser Novelle darauf, „daß uns beim ‚Leben im Verborgenen‘ immer Anne Frank einfallen muss“. Der ➤ KZ-Verband setzte in seiner Pressekorrespondenz dazu: „Hohes Haus! Nach dem österreichischen Opferfürsorgegesetz würde man für dieses Leben einer Anne Frank in Amsterdam höchstens einen
Opferausweis, aber für diesen Tatbestand keinerlei Entschädigung erhalten. Auch nicht
nach dieser Novelle!“ 15
In der am 26. April 1972 beschlossenen 22. Novelle wurde dann auch dieser Mißstand
behoben. Einerseits wurde die Klausel „auf dem Gebiet der Republik Österreich“ aus der
Anspruchsvoraussetzung für den Opferausweis gestrichen, ebenso die „menschenunwürdigen Bedingungen“ als Voraussetzung für die finanzielle Entschädigung. Skritek sagte dazu
im Nationalrat: „Ich möchte dem Herrn Minister besonders auch dafür danken, daß er ein
jahrelanges Anliegen betreffend die Bestimmungen bezüglich des Lebens im Verborgenen
wesentlich verbessert hat; das ist bei Gewährung des Opferausweises die Streichung der
Worte ‚Gebiet der Republik Österreich‘. Damit sind auch die besetzten Gebiete eingeschlossen, das heißt, daß Menschen, die damals aus Österreich flüchten mußten und in einem besetzten Gebiet im Verborgenen lebten, einen Opferausweis erhalten. Die zweite entscheidende Verbesserung betrifft die Streichung des Passus ‚menschenunwürdige Bedingungen‘ gleichfalls für den Personenkreis, der im Verborgenen lebte, als Bedingung für die Entschädigung. Es handelt sich hier um ein Anliegen, das immer wieder vorgebracht wurde.
Diese Frage wurde im Gesetz einschränkend behandelt, weil man fürchtete, daß eine Überprüfung schwer sei. Es ist klar, daß die Tatbestände heute natürlich auch nicht leicht feststellbar sind. Aber es ist doch sicherlich nicht möglich, daß man diesen Menschen nur deshalb
etwas vorenthält, weil Österreich fast 25 Jahre gebraucht hat, ihnen einen gesetzlichen Anspruch zu geben, und dann natürlich die Prüfung etwas schwieriger ist.“16
Nie geklärt werden kann wohl, wieviele der ehemaligen „U-Boote“ diese Gesetzesänderung überhaupt noch erlebten. Diese Geste des Gesetzgebers kam zu einem Zeitpunkt, wo mit wesentlichen Mehrkosten im Bereich der Opferfürsorge nicht mehr gerechnet
zu werden brauchte. Vor allem hatten die 350 Schilling im Vergleich zu 1961 bereits beträchtlich infolge der jährlichen Inflationsrate an Geldwert eingebüßt. Die Behandlung die-
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Finanzielle
Entschädigung
oder moralische
Rehabilitierung
der Opfer ?
Langes Warten
auf einen
gesetzlichen
Anspruch
Die sogenannten „U-Boote“
ser Opfer, die zu einem großen Teil bereits seit 1945 in Österreich lebten, bedürftig waren
und an schweren Folgen zu tragen hatten, mag als ein Beispiel für die Kleinlichkeit der Opferfürsorgegesetzgebung, aber auch der mit der Vollziehung befaßten Behörden gegenüber
den Opfern stehen.
Aus: Brigitte Bailer-Galanda: Wiedergutmachung kein Thema.
Löcker Verlag, Wien 1993, S. 145–149.
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Die Israelitische Kultusgemeinde Wien gab 1950 die Zahl der „UBoote“, die die NS-Zeit in Wien hatten überleben können, mit 378
Personen an, wobei hierbei wahrscheinlich nur Mitglieder der Kultusgemeinde berücksichtigt sind. Israelitische Kultusgemeinde,
Statistik der insgesamt nach Wien zurückgekehrten Juden, von
1945 bis 1950, Wien 1950, Institut für Zeitgeschichte, Wien, Nachlaß Albert Loewy; Gwyn Moser gibt die Zahl mit 619 an; dies., Jewish U-Boote in Austria 1938-1945, in: Simon Wiesenthal Center
Annual, Volume 2, New York 1985, S. 55. Siehe auch: Brigitte Ungar-Klein, Bei Freunden untergetaucht – U-Boote in Wien, in: Kurt
Schmid, Robert Streibel (Hrsg.), Der Pogrom 1938. Judenverfolgung in Österreich und Deutschland, Wien 1990, S. 87-92.
Schreiben des „U-Boot-Verbandes“ an Ministerialrat Dr. Sobek,
Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Bestand KZ-Verband, Mappe Schriftwechsel. Die Mitgliederkartei des
U-Boot-Verbandes befindet sich im Dokumentationsarchiv des
österreichischen Widerstandes.
Vgl. beispielsweise die Schilderungen in: Peter Kunze, Dorothea
Neff, Mut zum Leben, Wien 1983.
DÖW-Projekt „Erzählte Geschichte“, Interviewabschrift Nr. 647.
Zu den in Südkärnten operierenden slowenischen Partisanen siehe
unter anderem: Mirko Messner, Widerstand der Kärntner Slowenen, in: Spurensuche. Erzählte Geschichte der Kärntner Slowenen,
hrsg. v. Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes
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et. al., Wien 1990 (Erzählte Geschichte. Berichte von Widerstandskämpfern und Verfolgten. Band 4: Kärntner Slowenen); Hanns
Haas, Karl Stuhlpfarrer, Österreich und seine Slowenen, Wien 1977.
Neues Österreich, 5. 5. 1945.
Schreiben des Bundesministeriums für soziale Verwaltung an alle
Ämter der Landesregierungen (OF-Referate) vom 18. 12. 1962, Zl.
IV-105.047-20a/1962. DÖW Bibl. Nr. 1195.
Der neue Mahnruf, Nr. 11, November 1965.
Zum Vergleich: Das monatliche Durchschnittseinkommen eines Arbeiters betrug 1962 S 2420,-, das eines Angestellten oder Beamten
S 3740,-, Wirtschaftsstatistisches Handbuch 1964, hrsg. v. der Kammer für Arbeiter und Angestellte Wien, Wien 1965, S. 217.
Zitiert nach Bescheid des Bundesministeriums für soziale Verwaltung, Zl. IV-64.098-22/63. Privatbesitz Mag. Ungar-Klein.
a. a. O.
Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs vom 28. 6. 1967, Zl. 254/67-3.
Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs vom 29. 5. 1968, Zl.
365/68-3.
Die Entschädigung nach der 12. Novelle hat Familie N. erhalten.
DÖW-Projekt „Erzählte Geschichte“, Interviewabschrift Nr. 647.
Pressekorrespondenz des Bundesverbandes österreichischer Widerstandskämpfer und Opfer des Faschismus (KZ-Verband), Nr. 6,
12. 11. 1970.
Zitiert nach: Der sozialistische Kämpfer, Nr. 5-6, Mai – Juni 1972.
Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
F R A U E N I M W I D E R S TA N D
Während des Zweiten Weltkrieges entfaltete sich eine
militärische und politische Kampfform in einem bis dahin
in der Geschichte unbekannten Ausmaß: der Partisanenkrieg. Durch ihn gelang es, die Operationen der Deutschen Wehrmacht zu behindern, deren Truppenverbände
im Hinterland zu binden sowie Kriegsmaterial und Stützpunkte der Nazis zu vernichten. (…) Zwei Partisanenverbände mit mehreren Bataillons formierten sich in
Kärnten, während in der Steiermark bewaffnete Widerstandsgruppen im Industriegebiet um Leoben/Donawitz
sowie – unabhängig davon – im Gebiet der Koralpe operierten. Darüber hinaus gab es Partisanengruppen in
Österreich nur noch im Tiroler Ötztal und im Salzkammergut/Ausseerland.
In Kärnten hatte sich vor allem die slowenische Bevölkerung der partisanischen Befreiungsbewegung angeschlossen. Unter der NS-Herrschaft wurde die bereits vor
1938 ausgeprägt antislowenische Politik verschärft, die in
der „Bereinigung der volkspolitischen Frage“ (➤ Himmler), d.h. in der physischen Vertreibung und Vernichtung
der Kärntner Slowenen gipfeln sollte) (…) Mit der Einführung von Deutsch als Amtssprache, dem deutschsprachigen Unterricht an Kindergärten und Schulen, dem
Berufsverbot für slowenische Beamte, Lehrer, Ärzte, für
Teile der Priesterschaft leiteten die NS-Behörden die
Germanisierung ein. Hatte bis dahin ein Großteil der Slowenen defensiv reagiert, so änderte sich diese Haltung,
als im April 1942 einer Anordnung von Himmler zufolge
(25.8.1941) die zwangsweise Massenaussiedelung der Slowenen begann. Nach einem festgeleten Plan wurde die
➤ Gestapo beauftragt, die Betriebe und Bauernhöfe von
Kärntner Slowenen zu beschlagnahmen, einen „freiwilligen“ Verzicht auf ihr Eigentum zu verlangen oder sie mit
ihrer Verschleppung ins KZ zu bestrafen. Als Tausende
von ihnen in Lagern des „Altreichs“ verschwanden, sah
sich die zurückgebliebene slowenische Bevölkerung veranlaßt, Widerstand zu leisten. Im April 1941 hatte sich in
Slowenien/Jugoslawien als überparteiliche Organisation
die Befreiungsfront OF (Osvobodilna Fronta) gebildet.
Neben der Entfachung des Widerstandskampfes gehörte
zu deren Aufgaben die politische Aufklärungsarbeit,
Agitation und Propaganda sowie das Einfädeln von Verbindungen zur Bevölkerung. Immer mehr Kärntner Slowenen sympathisierten mit dieser Befreiungsbewegung,
unterstützten sie tatkräftig oder gingen selbst zu den
Partisanenverbänden über. (…)
Die Taktik der Partisanen, zumeist Einheimische, mit den
lokalen Gegebenheiten bestens vertraut, bestand darin,
den zahlenmäßigen und militärisch überlegenen Feind
im Schutz waldreicher und gebirgiger Gegenden durch
blitzartige, oft zur gleichen Zeit mit kleineren Trupps
durchgeführte Gefechte zu verwirren. Dadurch wurde
der Gegner gezwungen, größere Einheiten von der Front
abzuziehen oder neue Formationen in diesen Regionen
aufzustellen. Die Ausbreitung der Partisanen, die im
Frühjar 1944 die Drau überquert hatten und bis in die
Nähe von Klagenfurt/Celovec vorgestoßen waren, gab
Anlaß, das SS-Polizei-Regiment 13 nach Kärnten zu verlegen.
Um die Partisanen von der Bevölkerung zu isolieren,
hießen sie im NS-Sprachgebrauch „Banditen”. Bestimmte
Regionen wurden zum „Bandenkampfgebiet“ erklärt. Im
Leobner Raum brachte die Gestapo Steckbriefe der
Widerstandskämpfer mit einem Kopfgeld von 10.000 RM
an. Trotz dieser Maßnahmen halfen zunehmend mehr
Menschen den Partisanen. In der Gegend von Eisenkappel/Železna Kapla war diese Unterstützung besonders
hoch – nach Gendarmerieberichten 90 Prozent der ansässigen Bevölkerung.
Ohne die Mithilfe von Frauen, welche die Basisarbeit
leisteten, indem sie Nachrichten beschafften und die
Versorgung sicherstellten, wäre jede Guerillabewegung
von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. Im
Leobner Gebiet waren etliche Frauen in den Ämtern tätig
und konnten aufgrund ihrer Informationen die Partisanen vor den Razzien der Gestapo und der ➤ SS rechtzeitig warnen. Mit der Gründung der antifaschistischen
Frauenfront AFZˇ im März 1943 auf österreichischem
Boden gelang es, weitere Aktivistinnen für den Widerstandskampf zu gewinnen und in die politische Arbeit
einzubinden. (…)
Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
Aus: Karin Berger, Elisabeth Holzinger u.a. (Hrsg.):
Der Himmel ist blau. Kann sein.
Frauen im Widerstand Österreich 1938-1945,
Edition Spuren promedia Verlag,
Wien 1985, S. 162-163
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ZeugInnen Jehovas
D I E V E R F O L G U N G D E R Z E U G E N U N D Z E U G I N N E N J E H O VA S
Die Vereinigung der „Bibelforscher“ bzw. der „Zeugen
Jehovas“, wie sie sich ab 1931 nannten, wurde in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den USA gegründet. Mitte der Zwanziger Jahre gab es in Deutschland
bereits über 20.000, in Österreich über 500 bekennende
BibelforscherInnen. Die Bibelforscher-Vereinigung wurde
zunächst vor allem von der Kirche, dann auch von völkischer und von nationalsozialistischer Seite vehement
bekämpft. Kritisiert wurden vor allem folgende Grundzüge der Lehre: die Predigt vom nahenden „Untergang
der alten Welt und der sie tragenden Mächte Politik,
Kapital und Kirche“, die heftige Kritik an Papst und
Kirche, die Lehre von der Gleichheit der Rassen, das
Bekenntnis zur zionistischen Bewegung und die Feststellung, dass ChristInnen allein der göttlichen Obrigkeit und
nicht den staatlichen Regierungsgewalten Gehorsam
schuldeten. In einigen deutschen Bundesländern und
auch in Österreich ging man bereits vor der NS-Machtübernahme vor. So wurden während des Austrofaschismus unter Dollfuß ihre Zeitschriften, u.a. „Der Wachtturm“, zensuriert, ➤ Schuschnigg ließ die ZeugInnen
Jehovas am 17. Juni 1935 verbieten.
Die Verfolgung der ZeugInnen Jehovas im
Nationalsozialismus
Bereits wenige Wochen nach der Machtübernahme der
Nationalsozialisten in Deutschland wurden die ZeugInnen Jehovas in allen Bundesländern als erste Glaubensgemeinschaft verboten. Viele ZeugInnen führten jedoch
ihre Versammlungen und „Haus-zu-Haus“-Missionen fort
und widersetzten sich den nationalsozialistischen Vorschriften und Verhaltensregeln: So verweigerten sie den
Hitlergruß, nahmen nicht an nationalsozialistischen
„Wahlen“ und „Volksabstimmungen“ teil und verweigerten die Mitgliedschaft in NS-Zwangskörperschaften, etwa
in der ➤ Deutschen Arbeitsfront (DAF), was für viele
ZeugInnen zum Verlust ihres Arbeitsplatzes, ihrer Geschäfte und Wohnungen, zur Vernichtung ihrer gesamten wirtschaftlichen Existenz führte. Die im Staatsdienst
beschäftigten ZeugInnen Jehovas wurden nach dem
➤ „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 entlassen. Wenn ZeugInnen
nicht bereit waren, ihre Kinder in die „Hitlerjugend“ zu
geben, konnte das sogar zu Sorgerechtsentziehung und
Abnahme der Kinder führen. Bei der Gestapo wurde
1937 ein „Sonderreferat“ für das Vorgehen gegen die
ZeugInnen eingerichtet, NS-Sondergerichte verurteilten
in den sogenannten „Bibelforscherverfahren“ Tausende
von ihnen zu mehrmonatigen Gefängnisstrafen.
Trotz der verschärften Repressionen setzten weit mehr als
10.000 ZeugInnen Jehovas ihre Arbeit fort, indem sie ihre
Strukturen den Bedingungen der Illegalität anpassten.
Nach den im August und September 1936 stattfindenden
Massenverhaftungen übernahmen verstärkt die weiblichen Mitglieder die Untergrundarbeit. Eine zweite
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große Verhaftungswelle im Herbst 1937 führte schließlich
zur Zerschlagung der Untergrundorganisation im „Altreich“. Die österreichischen ZeugInnen konnten ihre
Missionsarbeit trotz mehrerer Verhaftungswellen noch bis
Juni 1940 fortsetzen. Die Verhafteten wurden wegen
„Zersetzung der Wehrkraft“ oder „Teilnahme an einer
wehrfeindlichen Verbindung“ zu mehreren Jahren Gefängnis bzw. Zuchthaus verurteilt und kamen anschließend in
ein Konzentrationslager. Zahlreiche ZeugInnen wurden
aber auch ohne Gerichtsverfahren unmittelbar in ein KZ
eingewiesen.
ZeugInnen Jehovas in den Konzentrationslagern
Die ZeugInnen Jehovas bildeten in den Konzentrationslagern eine geschlossene Gemeinschaft, die sich durch
ihren Gruppenkodex und starken Zusammenhalt von anderen Häftlingsgruppen unterschied. Bis zu Kriegsbeginn
stellten sie oftmals eine der größten Häftlingsgruppen
dar. Sie waren v.a. anfangs Schikanen und Mißhandlungen durch das ➤ SS-Wachpersonal ausgesetzt. Im KZ
Mauthausen starben im Winter 1939/40 mehr als 50 der
damals inhaftierten 143 Zeugen Jehovas. Nach Kriegsbeginn und der Einweisung anderer Gruppen in die Konzentrationslager verbesserte sich ihre Situation. Da sie
aus Glaubensgründen eine Flucht aus dem Lager prinzipiell ablehnten und die Arbeiten, die sich mit ihrem Glauben vereinbaren ließen, gewissenhaft verrichteten, wurden sie von der SS auch vermehrt in sogenannten „Vertrauensstellungen“ eingesetzt.
Von den 25.000 deutschen und österreichischen ZeugInnen Jehovas zu Beginn des Dritten Reiches wurden ungefähr 10.000 inhaftiert, davon über 2000 in Konzentrationslagern. Die Zahl der Todesopfer liegt bei 1200.
Damit wurden die ZeugInnen Jehovas von allen religiösweltanschaulichen Gruppen – nach den Angehörigen des
jüdischen Glaubens – am härtesten verfolgt. Dennoch
zählen sie zu den „vergessenen Opfern“, sie sind lange
Zeit weder im bundesdeutschen noch im österreichischen
Entschädigungsrecht als Verfolgte des Nationalsozialismus anerkannt worden. In Österreich haben sie durch
den 1995, also 50 Jahre nach Kriegsende, geschaffenen
➤ „Nationalfonds für die Opfer des Nationalsozialismus“
einen Anspruch auf eine einmalige Entschädigung er
halten.
Heidrun Schulze
Diese Zusammenfassung beruht wesentlich auf folgenden
Artikeln: Detlef Garbe: Widerstand aus dem Glauben.
Die Verfolgung der Zeugen Jehovas in Deutschland und
Österreich unter nationalsozialistischer Herrschaft.
Vortrag gehalten auf der Tagung „Zeugen Jehovas: Vergessene
Opfer des Nationalsozialismus?“, Wien am 29.1.1998;
Detlef Garbe: Kompromißlose Bekennerinnen. Selbstbehauptung
und Verweigerung von Bibelforscherinnen, in:
Christl Wickert (Hrsg.): Frauen gegen die Diktatur – Widerstand
und Verfolgung im nationalsozialistischen Deutschland,
Edition Hentrich, Berlin 1995, S. 52-73.
Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
Homosexuelle
D I E V E R F O L G U N G H O M O S E X U E L L E R W Ä H R E N D D E S N AT I O N A L S O Z I A L I S M U S
Verfolgung, Ausgrenzung und Kriminalisierung von
Männern und Frauen aufgrund sexueller gleichgeschlechtlicher Orientierung stellen keine Erfindung des
Nationalsozialismus dar. Vielmehr lassen sich Kontinuitäten strafrechtlicher Verfolgung sowohl für die Zeit vor
dem NS-Regime sowie lange Jahre danach, in Österreich
bis 1994, auffinden.
Während in Österreich nach dem Gesetz von 1852 für
„Unzucht wider die Natur“ (§129) Personen beiderlei Geschlechts zu Strafen von ein bis fünf Jahren Kerker verurteilt wurden, so stand nach dem preußischen Strafgesetzbuch von 1851 explizit nur noch die widernatürliche Unzucht zwischen Männern unter Strafe (§143). In Deutschland ging der §143 bei Gründung des Deutschen Reiches
1851 unverändert als § 175 in das neue Strafgesetzbuch
ein und war auch nach der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 weiterhin wirksam. In Österreich wurde
auch nach dem Anschluss 1938 und trotz einer weitgehenden Vereinheitlichung von Strafrecht und Rechtsbestimmungen weiterhin sowohl männliche als auch
weibliche Homosexualität unter Strafe gestellt.
Obwohl die Strafverfolgung von Frauen (§129) in Österreich weiterhin wirksam war, waren Männer in weitaus
stärkerem Maß einer Strafverfolgung ausgesetzt. Nach
1938 nahm die Zahl der in Wien aufgrund ihrer Homosexualität verurteilten Männer um 40% zu, die der Frauen verdoppelte sich, blieb aber weit unter der Zahl der
verurteilten Mörder. Die unterschiedliche Strafverfolgung
erklärt sich aus den gültigen Interpretationen der
Geschlechtscharaktere.
Während bei homosexuellen Männern vor allem die Zeugungskraft vergeudet würde, so würden durch die weibliche Homosexualität eine Steigerung erwünschter Geburten und damit die bevölkerungspolitischen Intentionen nicht ernsthaft gefährdet. Hinzukommt, dass nach
Auffassung der Juristen die männliche Sexualität (Penetration) als Norm gesetzt wurde.
Als Instrument der Bekämpfung erwiesen sich neben den
Justizbehörden vor allem SS und Polizei. Es blieb aber vielmehr im Ermessensspielraum der Gestapo, ob die Betreffenden dem Gericht übergeben, in „Schutzhaft“ genommen oder in ein Konzentrationslager eingewiesen wurden. Grundsätzlich fiel die Bekämpfung des „nichtpolitischen Verbrechertums“ der Kriminalpolizei zu, allerdings
wurde in Berlin 1934 von der Gestapo ein eigenes Sonderdezernat „Homosexualität“ eingerichtet und 1936 eine
„Reichszentrale für Bekämpfung der Homosexualität und
Abtreibung“. Nach diesem Vorbild wurde auch bei der
Wiener Gestapo ein Referat „Homosexualität und Abtreibung“ eingerichtet. Die Aufgabe dieser Referate bestand
vor allem in der Registrierung verdächtiger Personen.
Trotz verschärfter Verfolgung war die Haltung der Nationalsozialisten zur Homosexualität von Widersprüchen geprägt, nicht zuletzt von taktischen Überlegungen bestimmt, und wurde in gewissen NS-Kreisen sogar toleriert
oder ignoriert, wie etwa bei Ernst Röhm, SA-Stabschef
und Vertrauter Hitlers. In der männerbündischen Welt
der paramilitärischen Organisationen war latente oder
offene Homosexualität durchaus nicht unbekannt.
Unter der NS-Herrschaft wurden etwa 50.000 Männer
wegen Vergehen gegen den §175 gerichtlich verurteilt.
Die Zahl der aufgrund von Homosexualität in Konzentrationslagern internierten Personen ist nicht genau feststellbar, Schätzungen liegen bei etwa 5000 bis 15.000 Männern. In den Konzentrationslagern wurden männliche Homosexuelle als eigene Häftlingskategorie durch einen rosa
Winkel gekennzeichnet. Für homosexuelle Frauen gab es
keine derartige Kennzeichnung, vielfach wurden sie der
Gruppe der sogenannten „Asozialen“ zugeordnet. Aus
diesem Grund liegen keine Zahlen über aufgrund von Homosexualität in Konzentrationslagern inhaftierte Frauen
vor, wie auch insgesamt weibliche Homosexualität wesentlich stärker im Verborgenen gelebt wurde als männliche.
Viele der in den Lagern internierten Homosexuellen wurden ermordet. Jedoch kurz vor Kriegsende wurde ein Teil
der männlichen Homosexuellen freigelassen und zum
Frontdienst in der Wehrmacht eingezogen.
Die Verfolgung von Homosexuellen blieb allerdings auf
das Reich und die eingegliederten Gebiete beschränkt. Für
ein Vorgehen gegen Homosexuelle in den besetzten
Ländern gibt es keine Beweise, wie auch nicht von einer
systematischen Ermordung dieser Bevölkerungsgruppe
während des Nationalsozialismus gesprochen werden kann.
Nach 1945 blieb die NS-Ideologie weiterhin wirksam, so
dass auch in der Nachkriegszeit die Strafverfolgung noch
intensiver war als in den Jahren der Ersten Republik. Die
Kontinuität in der gesellschaftlichen Einstellung zu Homosexualität zeigt sich auch an der Entschädigungspraxis
nach 1945.
Sowohl in Österreich als auch in Deutschland wurde die
Rechtmäßigkeit der strafrechtlichen Verfolgung Homosexueller nicht in Frage gestellt. Für die homosexuellen
Opfer gab es bis in die neunziger Jahre weder eine ideelle
noch eine finanzielle Entschädigung.
Die Opferfürsorge schließt bis heute die Anerkennung
Homosexueller aus.
Seit 1995 besteht allerdings auch für diese so lange „vergessene“ Opfergruppe die Möglichkeit, über den Nationalfonds der Republik Österreich für die Opfer des Nationalsozialismus eine finanzielle Entschädigung zu erhalten.
Gudrun Wolfgruber
Diese Zusammenfassung beruht wesentlich auf folgenden
Publikationen: Claudia Schoppmann: Verbotene Verhältnisse.
Frauenliebe 1938-1945. Querverlag, Berlin 1999;
Albert Müller/Christian Fleck: „Unzucht wider die Natur“.
Gerichtliche Verfolgung der „Unzucht mit Personen gleichen
Geschlechts“ in Österreich von den 1930er bis zu den 1950er
Jahren. In: ÖZG 9, 1998, 3, S. 400-422; Eberhard Jäckel/Peter
Longerich/Julius Schoeps (Hrsg.): Enzyklopädie des Holocaust.
Die Verfolgung der europäischen Juden. 3 Bde., Piper, München/
Zürich 1995, Bd. II, Homosexualität, S. 622-623.
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Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
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Opferfürsorgegesetzgebung
Die Israelitische Kultusgemeinde
Rückstellungsgesetzgebung
Vergleich Österreich-Deutschland
Der Nationalfonds
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Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
Rückstellung und Entschädigung
In welchem Ausmaß den Opfern des Nationalsozialismus ihr zwischen 1938 und 1945
entzogenes und geraubtes Vermögen nach 1945 rückgestellt wurde, welche Gruppen für
ihre Verfolgung und Vertreibung entschädigt wurden und welche nicht, lässt sich heute noch
nicht eindeutig beantworten. Dieser Themenkomplex ist jedoch Untersuchungsgegenstand
der österreichischen Historikerkommission, so dass in den nächsten Jahren mit neuen
Erkenntnissen zu rechnen ist.
Beide Gesetzeskomplexe, sowohl die ➤ Rückstellungsgesetzgebung als auch das ➤ Opferfürsorgegesetz (OFG), das Entschädigungen für NS-Opfer primär nach dem Fürsorgeprinzip regelte, zeichnen sich durch eine unübersichtliche Vielzahl von Gesetzen und Gesetzesnovellen aus. Wichtig für die Einschätzung des tatsächlichen Ausmaßes der Rückstellungen
und Entschädigungen ist aber auch die bis heute kaum beleuchtete Rechtsprechung in
Fragen der Rückstellungen und der Entschädigungen, in der sich die Mängel und Lücken
der Gesetzgebung oftmals nachteilig für die Interessen der AntragstellerInnen, also der
Enteigneten und Verfolgten, auswirken.
Das folgende Kapitel soll einen ersten Überblick über die Geschichte der Entschädigung
und Rückstellung im innen- und außenpolitischen Kontext der Zweiten Republik bieten und
die wichtigsten Aspekte der Gesetzgebung näher beleuchten. Brigitte Bailer-Galanda skizziert in zwei Beiträgen die Grundzüge einerseits des Opferfürsorgegesetzes, andererseits
der Rückstellungsgesetzgebung und ihre jeweilige Praxis in der Zweiten Republik. Die Entstehungsgeschichte beider Gesetzeskomplexe, die zwar getrennt voneinander zu sehen
sind, sich aber in bestimmten Bereichen überschneiden, illustriert vor dem Hintergrund der
innenpolitischen Situation der ersten Nachkriegsjahrzehnte auch den Umgang Österreichs
mit seiner Vergangenheit.
Die Einrichtung des „Nationalfonds der Republik Österreich für die Opfer des Nationalsozialismus“ im Jahr 1995 führte zu einer wesentlichen Erweiterung des Kreises anspruchsberechtigter Personen in der Entschädigungsfrage.
Die wichtigsten Veränderungen gegenüber dem OFG – etwa die Berücksichtigung der
bislang „vergessenen Opfer“ (siehe dazu das vorhergehende Kapitel) –, die Ziele und
Tätigkeitsfelder des Fonds, das Ausmaß der bisher erfolgten Entschädigungszahlungen u.a.
werden in einem Gespräch mit Hannah Lessing, der Generalsekretärin des Nationalfonds,
thematisiert.
Georg Graf erläutert in einem Interview einige konkrete Probleme der komplexen Rückstellungsgesetzgebung und -praxis aus juristischer Perspektive.Welche Rolle die Aktivitäten
der „Opferverbände“ und der ➤ Israelitischen Kultusgemeinde bezüglich Rückstellungen
und Entschädigungen in den Nachkriegsjahrzehnten spielten, schildert Helga Embacher in
ihrem Beitrag. Dabei wird deutlich, dass eine „Hierarchie der Opfergruppen“, wie sie letztlich im Opferfürsorgegesetz festgeschrieben wurde, auch von den einzelnen Opfervertretungen aufgegriffen wurde und zu erheblichen Konflikten zwischen ihnen führte.
Der Aufsatz von Frank Stern widmet sich vor allem den außenpolitischen Faktoren bzw.
der Rolle der internationalen Öffentlichkeit in der Frage der „Wiedergutmachung“ für NSOpfer und zeichnet die Unterschiede und Gemeinsamkeiten des österreichischen und des
bundesdeutschen Weges der „Wiedergutmachung“ nach.
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Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
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DIE OPFERGRUPPEN UND DEREN ENTSCHÄDIGUNG
BRIGITTE BAILER-GALANDA
Die nur sehr zögerlich und vorwiegend unter alliiertem bzw. internationalem Druck zu Stande gekommenen Maßnahmen der Republik Österreich zu Gunsten der Opfer des Nationalsozialismus waren und sind auf eine ganze Reihe gesetzlicher Bestimmungen aufgesplittert,
wodurch es den Betroffenen sehr erschwert wurde, zu ihrem Recht zu gelangen. Gleichzeitig entschied sich der Gesetzgeber bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit gegen eine
Gleichbehandlung aller NS-Opfer, wodurch es zu grundlegenden Ungleichbehandlungen
und Diskriminierungen einer Gruppe von Verfolgten kam.1
Tatsächliche Entschädigung wurde nur in geringem Ausmaß geleistet; mit Ausnahme der
➤ Rückstellungsgesetzgebung sahen alle anderen Maßnahmen der Republik nur Pauschalentschädigungen bis zu einer bestimmten Schadenshöhe und in Abhängigkeit vom Einkommen des Antragstellers vor. D.h. wer das Glück hatte, sich nach 1945 neuerlich eine gute
Existenz aufzubauen zu können, wurde für seine Verluste in geringerem Ausmaß entschädigt
als jemand, dem dies nicht gelungen war. Damit finden wir bei der Frage der materiellen
Entschädigung (mit Ausnahme der Rückstellungsgesetzgebung) denselben prinzipiellen Fürsorgegedanken wie im ➤ Opferfürsorgegesetz, das Versorgungsrenten für in ihrer Erwerbsfähigkeit geschädigte Opfer vorsah. Dieser Grundzug der NS-Opfer-Gesetzgebung geht
zurück auf die Position Österreichs, das Land – sich selbst pauschaliter als Opfer des NSRegimes sehend – habe keine Verantwortung für die Verfolgung zu tragen und daher auch
keinerlei Verpflichtung zur Entschädigung oder „Wiedergutmachung“. Nur Motive der
humanitären Hilfe und soziale Überlegungen bewegten die Verantwortlichen, in Not geratenen Verfolgten Hilfestellung zu gewähren. So die offizielle Leseart.2
Probleme im Opferfürsorgegesetz
Österreichische
Staatsbürgerschaft als
Voraussetzung
Insbesondere das Opferfürsorgegesetz – neben den Rückstellungsgesetzen der zweite Eckpfeiler der so genannten „Wiedergutmachung“ 3 – sah eine Reihe von Trennlinien vor, nach
denen die NS-Opfer geteilt wurden. Die wesentliche Linie verlief zwischen Noch- oder Wieder-Österreichern auf der einen und ehemaligen Österreichern auf der anderen Seite. Die
Republik sah sich primär nur dazu veranlasst, für jene NS-Opfer zu sorgen, die nach wie
vor die österreichische Staatsbürgerschaft besaßen und damit im Falle ihrer Mittellosigkeit
oder Erwerbsunfähigkeit dem Staat ohnehin in der einen oder anderen Form zur Last fallen
könnten. So können fortlaufende Rentenleistungen aus dem Opferfürsorgegesetz nur von
Österreichern mit aufrechter österreichischer Staatsbürgerschaft bezogen werden.4
Menschen, die 1938 und danach aus Österreich flüchten mussten und anschließend eine
andere Staatsbürgerschaft angenommen haben, bleiben bis heute von den wesentlichen
Leistungen des Opferfürsorgegesetzes ausgeschlossen. Nur einzelne Entschädigungsleistungen (für Haft- bzw. Internierungszeiten, Leben im Verborgenen, Tragen des diskriminierenden Judensterns 5) können auch von ehemaligen Österreichern beansprucht werden. Die
Höhe der Entschädigung ist seit Anfang der sechziger Jahre gleich geblieben: S 860,- pro
Monat der Haft (entsprach damals der durchschnittlichen Invaliditätspension eines Arbeiters, lag aber deutlich unter der Alterspension, die sich für Arbeiter knapp über S 1.000,bewegte 6), S 350,- pro Monat der „Freiheitsbeschränkung“ oder des Lebens im Verborgenen, S 6.000,- für mindestens 6 Monate Tragens des Judensterns. Weiters konnten sie aus
den drei Hilfsfonds 7 Pauschalzahlungen im Falle von Berufs- und Einkommensschäden sowie einmalige Unterstützungszahlungen – abhängig von Alter und Gesundheitszustand –
erhalten.8 Wie weit diese Menschen in der Lage waren, ihre Existenz aus eigenem Erwerb
zu sichern, interessierte Österreich nicht mehr. Diese Sicherung wurde und wird nur
Menschen mit aufrechter österreichischer Staatsbürgerschaft zugestanden. Es dauerte darüber hinaus bis in die fünfziger Jahre, bis Pensionen – die auf Grund von vor 1938 erworbenen Versicherungszeiten angefallen waren – auch ins Ausland überwiesen wurden.9
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Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
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Brigitte Bailer-Galanda
Wieweit diese restriktive Haltung gegenüber den Vertriebenen – meist mit abwertendem
Unterton „Emigranten“ genannt – den beträchtlichen, dieser Verfolgtengruppe entgegengebrachten Vorurteilen oder schlicht Sparsamkeitserwägungen entsprach, ist auf Grund des
derzeitigen Forschungsstandes nicht abzuschätzen. Jedenfalls war damit die zahlenmäßig
größte Gruppe von Verfolgten weitgehend von Hilfe und Entschädigung ausgeschlossen,
ebenso jene Überlebenden, die nach 1945 Österreich verlassen hatten, weil sie das Leben
hier nicht mehr ertrugen. Die letzte Novelle zum Staatsbürgerschaftsgesetz ermöglicht es
ihnen nunmehr wohl, die österreichische Staatsbürgerschaft zusätzlich zu ihrer bisherigen
wieder zu erwerben und auf diese Weise antragsberechtigt zu werden,10 doch diese Maßnahme kommt äußerst spät. Die Republik musste nur mehr mit geringen daraus resultierenden Kosten rechnen.
Eine weitere wesentliche Trennlinie verläuft zwischen den Opfern des politischen Widerstandes und jenen der nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen. In der unmittelbaren
Nachkriegszeit war Unterstützung durch das Opferfürsorgegesetz ausschließlich Opfern des
politischen Widerstandes vorbehalten, die Opfer der rassistischen Verfolgung blieben zur
Gänze unberücksichtigt, außer es bestätigte ihnen jemand, sie seien vor 1938 politisch
aktiv gewesen.11 Mit dem 1947 verabschiedeten, in seinen Grundzügen bis heute geltenden
neuen Opferfürsorgegesetz änderte sich diese Situation nur geringfügig. Eine Amtsbescheinigung – die alleine zum fortlaufenden Rentenbezug ermächtigt – war jenen vorbehalten, die für ein unabhängiges Österreich „mit der Waffe in der Hand gekämpft oder sich
rückhaltlos in Wort oder Tat eingesetzt“ 12 hatten, d.h. de facto allen jenen, die aus
„politischen“ Gründen inhaftiert worden oder sonst wie zu Schaden gekommen waren. Für
die Verfolgungsopfer war nur ein ➤ Opferausweis vorgesehen, der abgesehen von einem
geringfügigen Steuerfreibetrag kaum Vorteile für die Betroffenen brachte. Erst nach und
nach, beginnend mit 1949, wurden auch die Verfolgungsopfer in den Kreis der Rentenanspruchsberechtigten aufgenommen, mussten jedoch bis in die sechziger Jahre hinauf
schwereren Schaden als Widerstandskämpfer erlitten haben.13 Die diskriminierende Unterscheidung ➤ Amtsbescheinigung und Opferausweis besteht allerdings bis heute. So wurde
zwar 1969 die erzwungene Flucht aus Österreich als Verfolgungstatbestand anerkannt,
berechtigt allerdings ebenso wie das Überleben im Verborgenen nur zum Bezug eines
Opferausweises.14
Aber auch der Widerstand gegen den Nationalsozialismus wird in sich weiter kategorisiert. Für die Opferfürsorge zählt nur ausdrücklich politische Aktivität gegen den Nationalsozialismus als Widerstand. Vorgeblich unpolitische oppositionelle Handlungen, obgleich
auch diese zu Inhaftierungen, KZ-Haft oder sogar Hinrichtung führen konnten, finden nur in
engen Grenzen Berücksichtigung. Aus Mitmenschlichkeit gesetzte Hilfsmaßnahmen für Verfolgte etwa zählten nur dann als Widerstand, wenn zu den Verfolgten keine verwandtschaftlichen oder freundschaftlichen Bindungen bestanden, wie die aus solchen Gründen
ins KZ Auschwitz verbrachte Ella Lingens erfahren musste.15 Wurde jemand wegen abfälliger Äußerungen über das NS-Regime oder Abhörens ausländischer Sender verurteilt, musste
er nach 1945 gegenüber der Behörde seine dahinter stehenden politischen Motive glaubhaft machen, wobei politisch meist im Sinne von parteipolitischer Orientierung begriffen
wurde. Frauen, die wegen verbotenen Umgangs mit „Fremdarbeitern“ oder Kriegsgefangenen verurteilt wurden, gelten nicht als Widerstandskämpferinnen.16
Und auch ein Franz Jägerstätter wurde nicht als Opfer politischen Widerstandes anerkannt.17
Wie insgesamt militärische Delikte – wie Fahnenflucht beispielsweise – nur selten im
Sinne des OFG anerkannt wurden, da – so die Begründung der Behörden – Desertion in
allen Armeen der Welt strafbar sei. Unberücksichtigt bleiben daher die historischen Gegebenheiten, wie die besondere Härte der nationalsozialistischen Militärgerichtsbarkeit, der
Charakter des deutschen Angriffskrieges, etc.18
Ebenso erkannten Gesetzgeber und Behörden nicht alle vom NS-Staat Verfolgten als anspruchsberechtigt an. Die von den Nationalsozialisten gesetzten Stigmatisierungen wirkten
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Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
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Amtsbescheinigung versus
Opferausweis
Kontinuität von
Stigmatisierungen
Die Opfergruppen und deren Entschädigung
Benachteiligung
unterer Einkommensschichten in
der Rechtsdurchsetzungsfähigkeit
nach 1945 in Entschädigungsfragen weiter. Trotzdem der rassistische Charakter der Verfolgung und Ermordung von Roma und Sinti 19 klar auf der Hand lag, wurden die Opfer der
ersten Verhaftungswellen 1939 im Sinne des damals angegebenen Haftgrundes als angeblich wegen ihrer „kriminellen“ Neigungen Inhaftierte oftmals von den OF-Behörden abgelehnt. Insgesamt waren Roma und Sinti als Antragsteller mit einer starken Vorurteilskontinuität konfrontiert, wodurch eine Durchsetzung ihrer Ansprüche deutlich erschwert und
oftmals verunmöglicht wurde. Diese jahrzehntelangen schlechten Erfahrungen führen dazu,
dass überlebende Opfer aus diesem Kreis sich scheuen, neuerliche Anträge, z.B. an den
➤ Nationalfonds, zu stellen und damit mögliche Entschädigungszahlungen versäumen. Auf
diese Weise wirkt die Diskriminierung der letzten Jahrzehnte verhängnisvoll weiter.
Bis 1995 waren drei Gruppen von Verfolgten gänzlich von jeder Entschädigungs- oder
Hilfeleistung ausgeschlossen:20
die Opfer der nationalsozialistischen „Erbgesundheitsgesetze“, d.h. der Zwangssterilisierungen und der so genannten ➤ „Euthanasie“,
die als sogenannte „Asoziale“ Verfolgten, d.h. mehrheitlich soziale Außenseiter bzw. Angehörige von Randgruppen, unangepasste Jugendliche etc.,
wegen ihrer sexuellen Neigung verfolgte Homosexuelle.
Deren Anerkennung als NS-Opfer standen weiterwirkende gesellschaftliche Vorurteile
entgegen, die auch vor den Vertretern der übrigen Opfer nicht Halt machten. So wehrten
sich die drei politischen Opferverbände stets gegen die Aufnahme dieses Personenkreises
in das Opferfürsorgegesetz. Erst der Nationalfonds schuf hier eine Abhilfe. Nur leben
heute nur mehr ganz wenige dieser ehemaligen Verfolgten oder aber haben nach Jahrzehnten der Ablehnung nicht den Mut oder die Energie, um eine Zahlung aus dem Fonds
anzusuchen.
Grundsätzlich anerkannten die OF-Behörden nach 1945 nicht den unterschiedlichen
Charakter einer republikanischen Strafbestimmung und nationalsozialistischer Unrechtspflege. So wurde Homosexuellen unter Hinweis auf die bis in die siebziger Jahre geltende
Strafbarkeit gleichgeschlechtlicher Beziehungen jede Entschädigung und auch die Anrechnung der Haftzeiten für die Pension verweigert.21 Die als angeblich „asozial“ verfolgten
Menschen sahen sich mit dem mehr oder weniger ausgesprochenen Vorwurf konfrontiert,
ihre Inhaftierung wäre wohl zu Recht erfolgt; Sterilisierung wurde als nicht typisch nationalsozialistische, sondern medizinische Maßnahme klassifiziert.
Doch auch für die anerkannten Gruppen saß der Teufel im Detail: Was hilft es jemandem, einen Steuerfreibetrag zu erhalten, der so wenig verdient, dass er beinahe keine
Lohnsteuer zu zahlen braucht? Wie soll jemand einen Einkommensschaden, d.h. Minderung des Einkommens um mehr als die Hälfte, geltend machen, der vor seiner Verfolgung
mehrheitlich unangemeldet gearbeitet hat? Wie soll ein burgenländischer Roma Ersatz für
untergegangenen Hausrat erhalten, wenn die Behörde meint, die „Zigeuner“ hätten sowieso keine Möbel gehabt? Hier lag eine ganze Reihe von Fallstricken vor allem für Antragsteller aus den unteren Einkommensschichten bereit. Diese Gruppen waren und sind aber
auch aus sozialen Gründen in ihrer Rechtsdurchsetzungsfähigkeit benachteiligt, da ihnen
Informationen ebenso fehlen wie die Möglichkeit, rechtskundlichen Beistand zu finden. Dies
ist aber wohl kein spezifisches Problem der Entschädigung, in diesem Fall jedoch besonders schmerzhaft für die Betroffenen.
Die materielle Entschädigung
Nur tatsächlich
noch vorhandenes
Gut kann rückgestellt werden
Etwas anders, aber deshalb nicht weniger problematisch, war die Situation im Bereich der
Entschädigung für entzogenes, d.h. geraubtes Eigentum. Hier herrschte der Grundsatz,
dass dem Staat Österreich aus dieser Rückgängigmachung der Beraubungen 1938 und danach möglichst keine Kosten erwachsen dürften.22 Damit war aber die Grenze der Rückstellung bereits abgesteckt. Rückgestellt werden konnte nur jener Besitz, der tatsächlich noch
vorhanden war. Nun war jedoch nach dem „Anschluss“ die überwältigende Mehrheit der
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„arisierten“ Betriebe zuerst ausgeraubt und anschließend im Sinne einer „Strukturbereinigung der Wirtschaft“ liquidiert worden,23 so dass für zahlreiche Geschädigte, vor allem
ehemalige Kleingewerbetreibende oder Handwerker, eine Wiederherstellung ihrer Existenz
im Wege der Rückstellung gar nicht in Frage kam. Erst 1958 konnten sie im Wege des
➤ „Kriegs- und Verfolgungssachschädengesetzes“ Pauschalentschädigungen für verloren
gegangenen Hausrat und Geschäftseinrichtungen erhalten. Diese Entschädigung wurde
jedoch nur bis zu einer bestimmten Höhe (Hausrat öS 15.000,-, Geschäftseinrichtungen
öS 20.000,-, in besonderen Härtefällen bis öS 50.000,-) und in Abhängigkeit vom Einkommen zum Zeitpunkt der Antragstellung (ab einem Jahreseinkommen von öS 72.000,- entfiel
die Entschädigung, das durchschnittliche Monatseinkommen eines Beamten betrug damals
rund öS 3.000,-) ausbezahlt ,24 sodass auch in diesem Bereich Entschädigung in Abhängigkeit von sozialer Bedürftigkeit geleistet wurde. Drei Jahre später wurde der ➤ Abgeltungsfonds errichtet, der die Abgeltung verfolgungsbedingter Verluste von Bankkonti, Wertpapieren und Bargeld sowie Verluste infolge diskriminierender Abgaben vorsah (Judenvermögensabgabe, ➤ Reichsfluchtsteuer). Kleinere Verluste wurden zur Gänze, größere mit
48,5 %, jedoch mindestens mit öS 47.250,- entschädigt.25 Zu diesem Fonds sowie zur
12. Novelle des Opferfürsorgegesetzes hatte die BRD auf Grund des Abkommens von Bad
➤ Kreuznach insgesamt 95 Millionen DM zugezahlt.26
Doch auch die Rückstellung noch vorhandenen Eigentums gestaltete sich problematisch,
insbesondere im Rahmen der unmittelbaren Auseinandersetzung zwischen dem geschädigten Eigentümer und dem Inhaber des Eigentums nach 1945, wie sie im 3. Rückstellungsgesetz 27 vorgesehen war. Der Beraubte befand sich von Anfang an in der ungünstigeren
Position. Er war entweder mittellos oder krank aus dem Konzentrationslager zurückgekehrt, sah sich – im selteneren Fall – nach seiner Heimkehr aus dem Zufluchtsland vor der
Notwendigkeit einer neuerlichen Existenzgründung oder musste seine Ansprüche vom Ausland aus durchzusetzen versuchen. Der gegenwärtige Inhaber, entweder der ➤ „Ariseur“
selbst oder dessen Nachfolger, konnte demgegenüber auf ein Netz von Kontakten und
meist auch ausreichend finanzielle Mittel zurückgreifen. Zurückgestellt musste nur werden,
wenn das geraubte Eigentum nicht eine grundlegende Umgestaltung erfahren hatte, d.h.
z.B. die Fabrik erneuert oder auf eine andere Produktion eingestellt worden war. Im
Übrigen hatte in vielen Fällen der geschädigte Eigentümer den Kaufpreis von 1938
zurückzuzahlen, von dem er allerdings nur in den seltensten Fällen tatsächlich etwas in die
Hand bekommen hatte. Das Geld hatte auf ➤ Sperrkonten gelegt werden müssen, davon
wurden ➤ Judenvermögensabgabe und ➤ Reichsfluchtsteuer abgezogen, Beträge, die in
der Judikatur der Rückstellungskommissionen allerdings als im Sinne der Beraubten verwendet gewertet wurden.28 Wollte nun der Rückstellungswerber seinen Betrieb oder sein
Haus zurückhaben, musste er nicht selten sogar einen Kredit aufnehmen, um sein Eigentum
quasi zurückkaufen zu können.29 Es verwundert daher nicht, dass zahlreiche der Verfahren
mit Vergleichen endeten, in denen die geschädigten Eigentümer mit Abschlagszahlungen
abgefunden wurden. Als ein Beispiel kann das Bärental des FPÖ-Obmannes gelten.
Dessen Besitzerin, eine nach 1945 in Israel lebende Frau aus Italien, war mit einigen
Jahreserträgen abgefunden worden.30
Außerdem dauerten die Verfahren unverhältnismäßig lange. Im Oktober 1954 waren
von insgesamt 34.539 angestrengten Rückstellungsverfahren noch 5181 Verfahren anhängig.31
Während in den vierziger Jahren auch Rückstellungsgesetze für Patente, Firmennamen,
Ansprüche aus Dienstverhältnissen in der Privatwirtschaft und für entzogenes Eigentum von
juristischen Personen verabschiedet wurden, 32 gelangte das bereits im Dritten Rückstellungsgesetz vom Gesetzgeber versprochene Gesetz der Rückstellung von Miet- und Bestandsrechten, also angemieteten Geschäftslokalen und Wohnungen, nicht über das Planungsstadium hinaus. D.h. Heimkehrer mussten in Not- und Massenquartieren unterkommen (1953
noch 800 Mitglieder der ➤ IKG 33), während in ihren ehemaligen Wohnungen nach wie vor
die „Ariseure“ oder deren Familien saßen.
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Beraubter contra
„Ariseur“
Unzureichende
und unterlassene
Entschädigung
Die Opfergruppen und deren Entschädigung
Das 1952 verabschiedete Beamtenentschädigungsgesetz sah Abgeltungszahlungen von
entgangenen Gehältern öffentlich Bediensteter vor, das 1953 auch ehemalige ÖsterreicherInnen einbezog. Die Entschädigungszahlungen stellten jedoch nur einen Bruchteil
des tatsächlich entgangenen Gehaltes dar.34
Nie entschädigt wurde die Arbeitsleistung der Zwangsarbeiter verschiedener Nationalitäten in der Privatwirtschaft und beim Aufbau der verstaatlichten Industrie. Vor allem die
Linzer Betriebe VOEST und OMV (früher Chemie Linz) entstanden als „Hermann GöringWerke“ vorwiegend durch die Arbeit von Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen.35 Während
österreichische Häftlinge zumindest Anspruch nach OFG hatten, gingen die übrigen Sklavenarbeiter bislang leer aus.
Überblick über die Entschädigungsleistungen Österreichs
Volle Entschädigung war die
Ausnahme
Die volle Entschädigung für erlittene Verluste stellte im Rahmen der österreichischen Gesetzgebung die absolute Ausnahme dar. Die meisten Leistungen waren mit einer Obergrenze
limitiert und zusätzlich von der sozialen Situation der Betroffenen zum Zeitpunkt der Antragstellung, wie beispielsweise bei der Entschädigung für verlorenen Hausrat und Geschäftseinrichtungen. Ebenso wurden verlorene Bankkonti u.ä. im Falle größerer Verluste nicht einmal zur Hälfte ersetzt. Wohnungen wurden überhaupt nicht zurückgegeben, sonstiges
Eigentum nur mit allen oben angeführten Einschränkungen der Rückstellungsgesetzgebung.
Interessant in diesem Zusammenhang sind weiters die Leistungen für entgangenes Einkommen. Öffentlich Bediensteten wurden zwar die Verfolgungszeiten für die Vorrückung angerechnet, die Entschädigungsbeträge beliefen sich jedoch nur auf einen Bruchteil der tatsächlichen finanziellen Einbußen. Nach dem Opferfürsorgegesetz erhielten die NS-Opfer
1961 im Falle einer Minderung des Einkommens um mindestens die Hälfte durch mindestens 3,5 Jahre eine einmalige Zahlung von öS 10.000,-.36 Vergleicht man das mit der Einkommenssituation von 1961, so waren das deutlich weniger als sieben Monate durchschnittlicher Pensionszahlung. Die durchschnittliche Alterspension eines Angestellten betrug
damals öS 1.500,-.37 Auf diese Entschädigung wurden aber noch alle anderen aus diesem
Titel erhaltenen Zahlungen aus dem Beamtenentschädigungsgesetz und dem 7. Rückstellungsgesetz (Abfertigungen, Kündigungsentschädigungen oder Betriebspensionen aus der
Privatwirtschaft) angerechnet, so dass man von einer Gesamtentschädigung für Einkommensverluste von maximal öS 10.000,- ausgehen kann.
Für eine erzwungene Unterbrechung der Berufsausbildung wurden 1961 gleichfalls nur
öS 6.000,- Pauschalentschädigung (also vier Monate durchschnittlicher Angestelltenpension) geleistet.38 Die ➤ Hilfsfonds, die sozusagen die Opferfürsorgeleistungen für ehemalige ÖsterreicherInnen kompensieren sollten, sahen gleichfalls nur vergleichsweise geringe Entschädigungsbeträge vor. Aus dem ersten Hilfsfonds 1956 39 betrug die höchste
Zahlung – d.h. für einen ehemaligen Verfolgten mit 70 % Minderung der Erwerbstätigkeit –
öS 30.000,-, das waren zu jener Zeit 16 durchschnittliche Monatsgehälter eines Arbeiters.40 Der zweite Hilfsfonds zahlte in den sechziger Jahren rund öS 14.000,- pro Person für
Berufs- und Ausbildungsschäden aus.41
Von einer tatsächlichen Entschädigung für das verlorene Einkommen kann also keinesfalls
die Rede sein.
Eine interessante Rechnung erstellte 1972 die Arbeitsgemeinschaft der Opferverbände,
zu der sich Sozialdemokratische Freiheitskämpfer, ÖVP-Kameradschaft und ➤ KZ-Verband
in den sechziger Jahren zusammengefunden haben. Die Arbeitsgemeinschaft forderte –
ergebnislos – von der Bundesregierung eine Abgeltung für die verfolgungsbedingte Minderung der Lebensverdienstsumme. Ausgehend vom Ausgleichszulagenrichtsatz, also der
Mindestpension, der damals öS 1.600,- pro Monat betrug, verlangten sie eine Entschädigung in der Höhe der Hälfte der Mindestpension pro Monat der Verfolgung. Für eine
siebenjährige Verfolgung (1938–1945) wären dies 1972 öS 68.000,- gewesen.42 Rechnet
man dies auf heutige Werte um, so gelangt man zu folgendem Ergebnis: 1997 beträgt die
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Brigitte Bailer-Galanda
Mindestpension laut Auskunft der Pensionsversicherungsanstalt öS 7.887,- für eine Einzelperson. Unter Zugrundelegung der – allerdings bescheidenen – Forderung der Opferverbände beliefe sich heute eine Entschädigung für die Verluste in der Lebensverdienstsumme
daher auf öS 331.254,-. Diese Summe relativiert wiederum die Auszahlungen nach dem
Nationalfonds, wobei jedoch der Wert des Fonds, der erstmals beinahe alle Gruppen von
Verfolgten umfasst, nicht geschmälert werden soll.
Insgesamt hat die Republik Österreich nach offiziellen Angaben des Bundespressedienstes von 1945 bis 1988 rund 8 Milliarden Schilling,43 unter Berücksichtigung des Nationalfonds und der weiteren Ausgaben der Opferfürsorge bis 1995 rund 11 Milliarden Schilling
für Leistungen an die NS-Opfer aufgewendet. Diese Zahl inkludiert alle Zahlungen nach
dem Opferfürsorgegesetz, die Hilfsfonds, das ➤ Kriegs- und Verfolgungssachschädengesetz
und den Abgeltungsfonds. Abzuziehen sind davon die von der Bundesrepublik Deutschland
eingebrachten 95 Millionen DM, also rund 600 Millionen Schilling nach damaligem Kurs.
Nicht berücksichtigt in dieser Zahl sind außerordentliche Versorgungsgenüsse für Beamte
(1988 rund 11 Millionen Schilling pro Jahr) sowie zusätzliche Leistungen für Verfolgte in
der Pensionsversicherung, worüber jedoch – entgegen anders lautender Politikerbehauptungen – laut Auskunft des Hauptverbandes der Sozialversicherungsträger keine gesonderte
Statistik verfügbar ist.
Zusammenfassung
Es kann also festgestellt werden, dass die Leistungen für die NS-Opfer weit hinter den
tatsächlichen Verlusten zurückbleiben. Darüber hinaus bestehen bis heute Mängel in der
Gesetzgebung, wie der erforderliche Nachweis der verfolgungsbedingten Kausalität eines
Gesundheitsschadens, der den wenigen heute noch lebenden Opfern nach wie vor beträchtliche Hürden in den Weg legt. Außerdem gibt es nach wie vor eine Reihe von Verfolgten, deren Leiden in der NS-Zeit nicht als Verfolgung anerkannt werden bzw. die keinen
Anspruch auf Entschädigung haben, wie beispielsweise die Deserteure aus der deutschen
Wehrmacht oder die nichtösterreichischen Zwangsarbeiter.
Doch nicht einmal Leistungen, die keine Kosten verursachen, wurden erbracht. Österreich
hat die Opfer des Nationalsozialismus gnadenhalber wieder aufgenommen, nie jedoch
tatsächliches Verständnis für die Situation der Überlebenden aufgebracht. Sie blieben
außerhalb der Solidarität der Kriegsgeneration, deren Angehörige als Mitläufer, Sympathisanten, Angepasste das NS-Regime erlebten. Hier bliebe abseits aller materiellen Leistungen
noch viel zu tun.
Mängel in der
Gesetzgebung
bestehen bis
heute
Der vorliegende Text wurde von Brigitte Bailer-Galanda im Rahmen einer
Enquete der GRÜNEN zum Thema „Die wirtschaftlichen Schäden der NS-Opfer“
am 17. Juni 1997 im Parlament vorgetragen. Der Text dieses Referates wurde
der Abteilung Politische Bildung des BMUK für die Dokumentation der
Tagung der ZeitzeugInnen 1998 „1938–1998.
Flucht – Migration – Asyl gestern und heute“ von Dr. Bailer-Galanda und
dem Grünen Parlamentsklub zur Verfügung gestellt.
Die bei der Enquete „Die wirtschaftlichen Schäden der NS-Opfer“
gehaltenen Referate werden von den GRÜNEN und
der GRÜNEN BILDUNGSWERKSTATT MINDERHEITEN publiziert und
können auch über diese bezogen werden.
1
2
Siehe dazu ausführlich: Brigitte Bailer, Wiedergutmachung kein
Thema. Österreich und die Opfer des Nationalsozialismus, Wien
1993.
Diese Grundposition findet sich kontinuierlich seit 1945. Noch
1988 wurde sie in einer offiziellen Darstellung vertreten: Bundespressedienst (Hrsg.), Maßnahmen der Republik Österreich zu Gunsten bestimmter politisch, religiös oder abstammungsmäßig Verfolgter seit 1945, Wien 1988 (Österreich Dokumentation).
3
Der Begriff der Wiedergutmachung im Sinne von „wieder gut machen“ wurde auch von deutschen Wissenschaftern in Frage gestellt:
Siehe z. B. Rolf Theis, Wiedergutmachung zwischen Moral und Interesse. Eine kritische Bestandsaufnahme der deutsch-israelischen
Regierungsverhandlungen, Frankfurt/M. 1989, S. 32; Ludolf Herbst,
Einleitung, in ders., Constantin Goschler (Hrsg.), Wiedergutmachung
in der Bundesrepublik Deutschland, München 1989 (Sondernummer
Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte), S. 8 ff.
Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
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23
Bundesgesetz über die Fürsorge für die Opfer des Kampfes um ein
freies, demokratisches Österreich und die Opfer politischer Verfolgungen (Opferfürsorgegesetz), BGBl. Nr. 183 vom 4.7.1947, § 1
Abs. 4.
§§ 13 c, 14 a, Opferfürsorgegesetz.
Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien (Hrsg.), Wirtschaftsstatistisches Handbuch 1961, Wien 1962, S. 87.
BGBl. Nr. 25 vom 18.1.1956; BGBl. Nr. 178 vom 13.6.1962; BGBl. Nr.
714 vom 13.12.1976.
Siehe dazu ausführlicher: Bailer, a. a. O., S. 157-163.
BGBl. Nr. 97/1954, siehe dazu auch: Dietmar Walch, Die jüdischen
Bemühungen um die materielle Wiedergutmachung durch die Republik Österreich, Wien 1971, S. 43 ff.; Bailer, a. a. O., S. 240 f.
Diese Möglichkeit wurde im Herbst 1993 geschaffen: Die Furche,
15.9.1994.
1. Durchführungserlass Zl. IV-8840/16/46 zum Gesetz vom
17.7.1945, StGBl. Nr. 90 und zur Verordnung des Staatsamtes für
soziale Verwaltung im Einvernehmen mit dem Staatsamt für Finanzen vom 31.10.1945, BGBl. Nr. 34/1946 (Opferfürsorgeverordnung), Sonderabdruck aus Heft 1/2 der „Amtlichen Nachrichten
des Bundesministeriums für soziale Verwaltung“, S.4. Ausführlich:
Bailer, a. a. O., S. 25 f.
§ 1 Abs. 1 Opferfürsorgegesetz.
Bailer, a. a. O., S. 141-145.
BGBl. Nr. 205 vom 22.5.1969.
Bailer, a. a. O., S. 53 f.
Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs vom 22.2.1965, Zl. 687/64.
DÖW Akt Nr. 13.454; Erna Putz, Franz Jägerstätter. „... besser die
Hände als der Wille gefesselt ...“, Linz-Passau 1987 (2. Aufl.), S. 278.
Bailer, a. a. O., S. 168.
Siehe dazu ausführlich: Barbara Rieger, „Zigeunerleben“ in Salzburg 1930-1943. Die regionale Zigeunerverfolgung als Vorstufe
zur planmäßigen Vernichtung in Auschwitz, Diplomarbeit an der
geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien, Wien
1990; Erika Thurner, Nationalsozialismus und Zigeuner in Österreich, Salzburg 1983; Bailer, a. a. O., S. 176-184.
Bailer, a. a. O., S. 185-197. Zur Situation der Opfer der nationalsozialistischen Rassenhygiene siehe auch Wolfgang Neugebauer, Das
Opferfürsorgegesetz und die Sterilisationsopfer in Österreich, in:
Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hrsg.),
Jahrbuch 1989, Wien 1989, S. 144-150.
Beantwortung der Anfrage der Abgeordneten Srb und Freunde
an den Bundesminister für Arbeit und Soziales betreffend die homosexuellen Opfer des Nationalsozialismus (Nr. 2474/J) vom
12.9.1988, Zl. 10.009/168-4/88.
Erläuternde Bemerkungen zu dem Gesetz über die Nichtigkeit
von Vermögensentziehung (3. Rückstellungsgesetz), 45. Sitzung
des Ministerrates, 12.11.1946. Archiv der Republik, BM für Unterricht, Ministerratsprotokolle, Karton 4.
Gertraud Fuchs, Die Vermögensverkehrsstelle als Arisierungsbehörde jüdischer Betriebe, Diplomarbeit am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Wirtschaftsuniversität Wien,
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Wien 1989, S. 166. Von den im Mai 1938 zum Zeitpunkt der Schaffung der Vermögensverkehrsstelle noch existierenden 26.000 jüdischen Betrieben waren nur 4353 zur Weiterführung vorgesehen.
BGBl. Nr. 127 vom 25.6.1958.
Fonds zur Abgeltung von Vermögensverlusten politisch Verfolgter, BGBl. Nr. 100 vom 22.3.1961.
Das Kreuznacher Abkommen umfaßte zwei Teile. Der erste beinhaltete Zahlungen der BRD für die Eingliederung der so genannten „Volksdeutschen“ in Österreich, der zweite sah Zahlungen der
BRD für die Maßnahmen zu Gunsten der NS-Opfer vor. Siehe dazu: Bailer, a.a. O., S. 96 ff. Der Text des Abkommens in BGBl. Nr.
283 vom 28.9.1962.
BGBl. Nr. 54/1947.
Juristisch fundierte Kritik an dieser Praxis siehe: Georg Graf, Arisierung und keine Wiedergutmachung. Kritische Anmerkungen
zur jüngeren österreichischen Rechtsgeschichte, in: P. Feyerabend,
C. Wegeler (Hrsg.), Philosophie – Psychoanalyse – Emigration,
Wien 1992, S. 73 ff.
Vgl. Die Gemeinde, Nr. 2, März 1948.
Profil, 9.6., 9.12.1986.
Statistik über den Stand der Rückstellungsverfahren von Ende Oktober 1954. Institut für Zeitgeschichte, Nachlaß Albert Löwy, Karton Rückstellung Statistiken.
BGBl. 143/1947, 164/1949, 199/1949, 207/1949.
Vereinigter Exekutivausschuss für jüdische Forderungen an Österreich, Memorandum über Ansprüche aus dem Titel entzogener
Wohnungen, 1.7.1953. Institut für Zeitgeschichte der Universität
Wien, Nachlaß Albert Löwy.
ÖVP-Kameradschaft der politisch Verfolgten (Hrsg.), Die Wiedergutmachung. Werden und Ergebnis der Entschädigungsgesetze
für politisch Verfolgte und gemaßregelte Beamte, Wien o.J.
(1952).
Florian Freund, Bertrand Perz, Fremdarbeiter und KZ-Häftlinge in
der „Ostmark“, in: Ulrich Herbert (Hrsg.), Europa und der
„Reichseinsatz“. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und
KZ-Häftlinge in Deutschland 1938-1945, Essen 1991, S. 317-350.
§ 14 b Opferfürsorgegesetz. Die Höhe der Entschädigung blieb
seither gleich, wurde also nicht valorisiert.
Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien (Hrsg.), Wirtschaftsstatistisches Handbuch 1961, Wien 1962, S. 87.
§ 14 a Opferfürsorgegesetz. Siehe auch Anmerkung 36.
BGBl. Nr. 25 vom 18.1.1956.
Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien (Hrsg.), Wirtschaftsstatistisches Handbuch 1964, Wien 1964, S. 217.
BGBl. Nr. 178 vom 13.6.1962.
PKZ, Pressekorrespondenz des Bundesverbandes österreichischer
Widerstandskämpfer und Opfer des Faschismus (KZ-Verband),
Nr. 3, 1.9.1972. Der Text wurde gleich lautend im Sozialistischen
Kämpfer (Bund Sozialistischer Freiheitskämpfer und Opfer des
Faschismus) sowie im Freiheitskämpfer (ÖVP-Kameradschaft der
politisch Verfolgten) veröffentlicht.
Errechnet anhand der Angaben in: Bundespressedienst, a.a.O.
Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
E R S T E A N L A U F S T E L L E N / M A S S N A H M E N F Ü R O P F E R D E S N AT I O N A L S O Z I A L I S M U S N A C H 1 9 4 5
Die Zuständigkeit der im Folgenden aufgelisteten behördlichen Stellen als erste Anlaufstellen für Opfer des
Nationalsozialismus richtet sich nach der Anerkennung
der einzelnen Opfergruppen in der ➤ Opferfürsorgegesetzgebung (vgl. Bailer-Galanda in diesem Band, S. 90).
Unmittelbar nach dem Kriegsende 1945 erfolgte von
staatlicher Seite ausschließlich eine Anerkennung und
Unterstützung der im Nationalsozialismus aus politischen
Gründen verfolgten Opfer und WiderstandskämpferInnen.
Den für Wien zuständigen Stellen und Ämtern des Magistrats der Stadt Wien entsprechen in den Bundesländern die jeweiligen Bezirkshauptmannschaften und
Sozialreferate der Bezirksämter der Länder.
Als Soforthilfe wurden im Juli 1945 von der Magistratsabteilung MA X/1 der Stadt Wien (1946 nach Umstrukturierung des Wiener Magistrats ➤ MA 12, Amt für Erwachsenen- und Familienfürsorge) für RückkehrerInnen aus Konzentrationslagern an den Wiener Bahnhöfen eigene Fürsorgestellen errichtet. In Zusammenarbeit mit den unmittelbar nach dem Krieg eingerichteten Fürsorgekommissionen, in denen hauptsächlich ehrenamtliche FürsorgerInnen tätig waren, erfolgte durch Unterstützung ausländischer Hilfsorganisationen die medizinische Erstversorgung,
die Vergabe von Lebensmitteln und Bekleidung. Die Unterbringung obdachloser Rückwanderer und Flüchtlinge
erfolgte in Zusammenarbeit mit dem Anstaltenamt der
Stadt Wien (MA 17), zumeist in Obdachlosenasylen sowie
Krankenhäusern. Im Juli 1945 wurde von der MA 12 eine
eigene Betreuungsstelle für die HeimkehrerInnen aus
Konzentrationslagern errichtet; im Oktober 1945 wurden
in den Fürsorgeämtern der einzelnen Gemeindebezirke
weitere Betreuungsstellen eröffnet. Gemäß des 1. Opferfürsorgegesetzes vom 17. Juli 1945 war eine Unterstützung
nur „Opfern des Kampfes um ein freies und demokratisches Österreich“ vorbehalten. Die Unterstützung erfolgte in Form von einmaligen Geld- und Sachleistungen, in
der Gewährung von Fürsorgedarlehen als einmalige Aufwendung zur Wiederherstellung wirtschaftlicher Selbständigkeit, vor allem für Angehörige der freien Berufe,
wie Ärzte, Dentisten etc. Auch die Möglichkeit für den
Erhalt einer Wohnung war an die Anerkennung nach
dem Opferfürsorgegesetz geknüpft. Wohnungszuweisungen an obdachlose Opfer erfolgten über das Wohnungsamt ➤ MA 52 der Stadt Wien. Die Richtlinien über
Wohnungsanmeldung und Wohnungsvergabe vom
25.4.1995 sahen eine Vergabe freier Wohnungen allerdings nur für Bombengeschädigte vor. Das Wohnungsanforderungsgesetz vom 1.9.1945 erweiterte die Gruppe
der anspruchsberechtigten WohnungswerberInnen, allerdings nur auf die Gruppe der aus politischen Gründen im
Nationalsozialismus Verfolgten. Nach dem 2. Opferfürsorgegesetz vom 2.9.1947 wurden entsprechend der Ausdehnung des Kreises fürsorgeanspruchsberechtigter Personen auch die Leistungen der MA 12 auf die Einrichtung
von Rentenkommissionen, die Ausdehnung der Rentenfürsorge und die Erstellung von ➤ Amtsbescheinungen und
➤ Opferausweisen erweitert. Im Wiener Wohnungsamt
wurde am 20.8.1947 ein eigenes Wiedergutmachungsreferat eröffnet, das die Zuteilung von Wohnungen für
nach dem OFG anerkannte Opfer vorsah. Sowohl Erhalt
einer Wohnung als auch der Erhalt eines Opferausweises
oder einer Amtsbescheinigung (mit folgendem Anspruch
auf eine Opferfürsorgerente) war von einem ärztlichen
Gutachten durch das Wiener Gesundheitsamt (1945: MA
II/2, 1946: ➤ MA 15) oder der Konstatierung sozialer
Bedürftigkeit durch die MA 12 abhängig.
Das Wiedergutmachungsreferat der ➤ Israelitischen
Kultusgemeinde
Wegen der Einschränkung der öffentlichen Opferfürsorge auf primär aus politischen Gründen Verfolgte, wandten sich nach dem Krieg die auf Grund ihrer Abstammung verfolgten Juden und Jüdinnen an die Israelitische
Kultusgemeinde (IKG), die ein eigenes Wiedergutmachungsreferat zur Betreuung der jüdischen Opfer errichtet hatte und vor allem über ausländische Hilfsaktionen
arbeitete (wie z.B. ➤ JOINT, ZWO-JA). In der IKG erfolgte
die Registrierung der Gemeindemitglieder sowie die Ausgabe von Jointpaketen, die medizinische Versorgung, die
Ausstellung von Deportationsbescheinigungen und Todeserklärungen für während des Nationalsozialismus umgekommene Gemeindemitglieder, die Ausstellung sonstiger Bestätigungen, die für Behörden und Ämter benötigt
wurden. Weitere Aufgaben waren die Rückführung jüdischer EmigrantInnen aus den Emigrationsländern nach
Österreich, die Beschaffung von Unterkünften und die
Beratung für RückkehrerInnen, Hilfe und Beratung bei
Wohnungs- und Arbeitssuche sowie die Unterbringung in
den eigenen Rückkehrerheimen der IKG: Wien II, Tempelgasse 3, und Wien II, Untere Augartenstraße 35. Ein internationaler Suchdienst forschte nach vermissten Personen
im In- und Ausland. Das Wiedergutmachungsreferat der
IKG war aber auch zuständig für Beratungen in allgemeinen Fragen der Wiedergutmachung, für die Erfassung des
ehemals entzogenen jüdischen Vermögens in Österreich,
für welches sich keine anspruchsberechtigten Personen
gemeldet hatten, für die Rückerlangung des der IKG entzogenen Vermögens sowie jenes jüdischer Vereine und
Stiftungen. Für Rückstellungsansprüche privater RückstellungswerberInnen war das Referat zwar nicht zuständig,
allerdings wurden über das Rechtsreferat der IKG eigene
Juristen zu Verfügung gestellt. Neben diesen Hilfsmaßnahmen lag eine weitere zentrale Aufgabe des Wiedergutmachungsreferates in der Planung und Forcierung
der Opferfürsorgegesetzgebung sowie in der Zusammenarbeit mit den Stellen der öffentlichen Fürsorge.
Heute sind folgende Stellen zuständig (eine Auswahl):
• Opferfürsorgereferat des Sozialamtes der Stadt Wien –
Magistratsabteilung MA 12: 1010 Wien, Schottenring 24
• Opferfürsorgestellen in den Sozialämtern der Bezirkshauptmannschaften, Bezirksämter in den einzelnen Bundesländern
• ➤ Nationalfonds der Republik Österreich für die Opfer des
Nationalsozialismus: 1010 Wien, Doblhoffgasse 3
• Israelitische Kultusgemeinde: 1010 Wien, Seitenstettengasse 4
Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
97
DER KAMPF UM DIE RECHTLICHE ANERKENNUNG JÜDISCHER ÜBERLEBENDER
HELGA EMBACHER
Gründung des
KZ-Verbandes
Hierarchie der
Opfergruppen
Ende Mai 1945 wurde in Wien die ➤ „Volkssolidarität“ gegründet, eine von den drei Parteien (SPÖ, ÖVP, KPÖ) beschickte Fürsorgeinstitution zur Betreuung der ehemals politisch
verfolgten Heimkehrer. „Nur“-Juden waren aber bis Anfang 1946 von dieser Betreuung
ausgeschlossen. Daneben entstanden in ganz Österreich zahlreiche kleinere Hilfskomitees
für politisch Verfolgte. In Wien rief Ministerialrat Dr. Franz Sobek den ➤ KZ-Verband, später
➤ „Bund der politisch Verfolgten“, ins Leben. Sobek wurde noch vor Kriegsende aus dem
KZ entlassen und gehörte der Widerstandsgruppe 05 an. Offiziell wurde der KZ-Verband
im März 1946 gegründet und wie die „Volkssolidarität“ von den drei Parteien paritätisch
beschickt. Der KZ-Verband verstand sich nicht mehr als karitative Hilfsorganisation, sondern
als politisches Instrument, als Wächter über die Demokratie, wozu von den Widerstandskämpfern entsprechende Positionen im Staat angestrebt und besetzt werden sollten.1 Manche stellten sich sogar eine Art „Kammer“, eine selbständige Macht im Staat vor.2 Da der
KZ-Verband eine politisch-moralische Instanz beim Wiederaufbau eines „Neuen Österreich“ sein wollte, stand nur ehemaligen „politischen“ Häftlingen3 die Mitgliedschaft offen.
Ausgeschlossen waren somit Zigeuner, Homosexuelle, Kriminelle, die Gruppe der sogenannten „Asozialen“ und jene Juden, die „nur“ aufgrund ihrer Abstammung verfolgt worden waren. Damit reproduzierte der KZ-Verband das Vorurteil von den „kriminellen KZlern“
und setzte auch die im KZ bestehende Hierarchie innerhalb der Häftlinge fort. Dies brachte
ihm den Vorwurf ein, auch nach 1945 am ➤ „Arierparagraphen“ festzuhalten.4 Beim „Jüdischen Komitee“ in Linz beschwerten sich 1947 auch jüdische Überlebende über diskriminierende Behandlungen beim Wiener „KZ-Verband“ in der Lothringerstraße.
„Im KZ-Verband wollten wir Auskunft haben, ob man uns Hilfe oder Rat erteilen kann.
Der dortige Leiter erklärte uns – es war im letzten Zimmer der Kanzlei –, daß man mit Geld
alles erreichen könne. Er sagte uns außerdem, daß ein politischer Häftling, der für die Freiheit Österreichs gekämpft hat, ihm tausendmal lieber sei als ein jüdischer Häftling, der alles
verloren hat.“5
Am 10. Februar 1946 konstituierte sich das „Aktionskomitee der jüdischen KZler“, später
„Verband der wegen ihrer Abstammung Verfolgten“, das bereits bei seiner Gründung
1670 Mitglieder zählte.6 Um die Anerkennung der jüdischen KZler als gleichberechtigte
Opfer durchzusetzen, versuchte es unter der Leitung des Kommunisten Akim Lewit,7 in den
„Bundesverband“ aufgenommen zu werden. Die Aufnahme erfolgte bereits am 14. Februar
1946 mit folgender Begründung: Da Juden wegen ihrer Abstammung verfolgt worden waren, hätten sie als politisch unzuverlässig gegolten und wären auch deshalb ins KZ gekommen.8 Um Österreichs Rolle als erstes Opfer Nazi-Deutschlands nicht zu gefährden, mußten
„rassisch Verfolgte“ offensichtlich zu aktiven Gegnern des Nationalsozialismus umdefiniert
werden. Dadurch konnten sie als Beweis eines österreichischen Widerstandes herangezogen werden, während gleichzeitig von der aktiven Rolle der ÖsterreicherInnen bei der Judenverfolgung abgelenkt wurde.9 Als nächstes strebte die ➤ Israelitische Kultusgemeinde eine
Reform des ➤ Opferfürsorgegesetzes an, da in der bis dahin gültigen Version in Punkt 21
des Abschnittes 1 ausdrücklich erklärt wurde, daß „rassisch Verfolgte“, die den Nachweis
eines aktiven Einsatzes für ein unabhängiges, demokratisches Österreich nicht aufbringen
konnten, ebenso wie alle anderen passiv zu Schaden gekommenen Österreicher nicht
berücksichtigt werden sollten und warten müßten, bis eine neue Regelung erfolgen würde.10
Das im Juli 1947 beschlossene und am 2. September 1947 in Kraft getretene neue Opferfürsorgegesetz erweiterte zwar den Kreis der Anspruchsberechtigten – auch die aufgrund
von „Abstammung, Religion und Nationalität“ erfolgte Verfolgung fand Berücksichtigung –,
doch wies es noch immer gravierende Mängel auf. So konnten Juden nur mittels einer
Gefälligkeitsbestätigung des KZ-Verbandes eine Amtsbescheinigung erhalten, die wiederum
als Voraussetzung zum Rentenbezug benötigt wurde.11 Das „Jüdische Aktionskomitee“
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Helga Embacher
empfand es auch als eine besondere Demütigung, „daß ‚politische‘ Häftlinge von der Art
des Auslandsradiohörers und unvorsichtigen Meckerers oder Bekämpfers der Arbeiterschaft
im und nach dem Februar 1934 und schließlich ‚Erduldens‘ einer sechsmonatigen ‚schweren‘ Haft in ➤ Wöllersdorf“12 als Opfer bzw. Widerstandskämpfer anerkannt wurden,
während beispielsweise Sternenträgern* die Aufnahme in den „Bundesverband“ versagt
blieb. (Anm. d. Red.: *Ab 1941 wurden Juden gezwungen, den gelben Stern zu tragen, was
die Einhaltung der antijüdischen Gesetze, wie z. B. das Benützen öffentlicher Verkehrsmittel,
das Betreten von Parkanlagen oder das Verlassen von Ghettos, garantierte. Erst 1961 erhielten „Sternenträger“ eine geringe Abgeltung für ihre Verfolgung.)
„Warum wird von den Abstammungsverfolgten überhaupt politischer Einsatz verlangt?
Wozu braucht ein abstammungsverfolgter KZler noch seine antifaschistische Gesinnung zu
beweisen?“13
Diese Frage stellte 1947 ein Referent bei einer Tagung des KZ-Verbandes in Graz.
Weiters interpretierte er das bestehende Opferfürsorgegesetz als Fortsetzung der KZ-Hierarchie. Seiner Meinung nach wollte die ➤ SS durch das Lagersystem „… bei allen nichtjüdischen Lagerinsassen den Eindruck einprägen, daß alle Juden (...) untereinander gleich
sind und eine Differenzierung nicht am Platz ist. Und die ➤ Gestapo hat dieses Ziel erreicht: bei apolitischen nichtjüdischen KZlern deswegen, weil dies den letzten gepaßt hat,
bei den politisch bewußten aber auch aus dem Grunde, weil auch sie dem ehernen Naturgesetz unterlegen waren, wonach das Milieu den Menschen formt. Die Folge davon war,
daß die sogenannten arischen Kameraden sich des Gefühls einer gewissen Überwertigkeit
nicht entledigen konnten, dies auf Kosten der jüdischen, auch der sogenannten politischen
KZler, die andauernd mit Minderwertigkeitskomplexen behaftet sein mußten. (...) Eine unsichtbare Mauer hat sich zwischen beiden künstlich aufgezogenen Welten aufgerichtet,
eine Scheidemauer, die von Buchenwald, Dachau, Flossenbürg, Sachsenhausen usw. bis
nach Wien ging. Und hinter dieser Mauer haben sich der KZ-Verband und die ‚Volkssolidarität‘ etabliert, die jedem sogenannten ‚rassisch‘ Verfolgten Einlaß verwehrten, hingegen
aber um so beflissener beim Spendensammeln im In- und Ausland auf den Solidaritätsgedanken aller Naziopfer pochten.“14
Konflikte
zwischen
„WiderstandskämpferInnen“
und „rassisch
Verfolgten“
Die Auflösung des KZ-Verbandes
Im September 1946 vereinigten sich der KZ-Verband und zahlreiche, auch in den Bundesländern bereits vorhandene Komitees zur Betreuung der KZ-Überlebenden zum „Bund der
politisch Verfolgten – Österreichischer Bundesverband“, weiterhin kurz „KZ-Verband“ genannt. Der Verband war ebenfalls überparteilich organisiert, und neben den Vertretern von
SPÖ, ÖVP und KPÖ schienen auch Vertreter der sogenannten „Abstammungsverfolgten“
auf. Aufgrund des vom Nationalrat beschlossenen Privilegierungsgesetzes galt der KZ-Verband als offizielle Interessenvertretung aller Opfer des Faschismus. Wie die Historikerin
Brigitte Bailer aufzeigte, beabsichtigte Innenminister ➤ Oskar Helmer damit die Kontrolle
der KZ-Verbände und letztendlich die Ausschaltung der Kommunisten. Doch auch dem
„Bundesverband“ war kein langes Leben beschieden. Am 8. März 1948 löste Helmer mit
Zustimmung der Regierungsparteien aus innenpolitischen Motiven den „Bund der politisch
Verfolgten“ auf.15 Da, gemessen an ihrer zahlenmäßigen Stärke, Kommunisten im
Widerstand überrepräsentiert waren, übten sie auch im KZ-Verband dominierende Funktionen aus. Im November 1947 war mit ➤ Dr. Altmann aber der letzte Kommunist aus der
Regierung ausgeschieden, und es mußte auf die KPÖ keine Rücksicht mehr genommen werden. Ein geeinter Verband von KZ-Überlebenden, der noch dazu für sich in Anspruch nehmen wollte, über die demokratische Entwicklung in Österreich zu wachen, hätte auch die
Koalitionspolitik, in der es bereits um die Integration der ehemaligen Nationalsozialisten
ging, in Frage gestellt.
Offiziell wurde die Auflösung des KZ-Verbandes mit Unstimmigkeiten im Wiener KZ-Verband gerechtfertigt, doch für „einfache“ Mitglieder und auch für Funktionäre erfolgte die
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Parteipolitische
Vereinnahmung
des KZ-Verbandes
Der Kampf der Israelitischen Kultusgemeinde
Ausgrenzung der
jüdischen Opfer
Auflösung vielfach unerwartet. ➤ Karl Mark, sozialistischer Abgeordneter und Generalsekretär des „Bundesverbandes“, berichtete über dessen unerwartetes Ende:
„Im Februar 1948 kam ich zu dem Haus, in dem unser Büro untergebracht war. Einige
Angestellte warteten schon davor. Ich hatte zwar meine Schlüssel, aber ich konnte nicht
hinein. Mein Büro war versiegelt. Das war auf Anweisung von Oskar Helmer geschehen.
Unter Mißachtung der gesetzlich fundierten Stellung des Bundes waren die Sekretariatsräume geschlossen worden und gleichzeitig jede weitere Tätigkeit unterbunden mit dem
fadenscheinigen Hinweis auf einen möglichen kommunistischen Mißbrauch, natürlich aber
wegen der von Helmers Linie abweichenden Haltung des Bundes. Diese Handlung setzte
meiner Tätigkeit im Bund politisch Verfolgter ein unerwartetes Ende.“16
Josef Ausweger,17 ÖVP-Mitglied und Präsident des Salzburger KZ-Verbandes, betonte
noch Ende März 1948 bei einer Versammlung, „daß gerade die Kommunisten sich im Lager vorbildlich verhalten haben“ und er weiterhin für einen überparteilichen Verband eintreten werde.18 Noch am 13. März schrieb das „Demokratische Volksblatt“, das Organ
der SPÖ Salzburg, „daß in Salzburg im Vergleich zu Wien in den Beschlüssen Einigkeit
bestehe und keine politischen Differenzen vorhanden wären“.19 Doch am 20. März riet
das Blatt SPÖ-Mitgliedern dann vom Besuch der Veranstaltungen des KZ-Verbandes ab,
denn „die Sozialisten würden die säuberliche Trennung von den Kommunisten, aber auch
von jenen begrüßen, die seinerzeit wegen ihrer austrofaschistischen Tätigkeit verfolgt
wurden“.20
Im Klima des Kalten Krieges vermochten sich die Überlebenden mit ihrem Wunsch nach
einem überparteilichen Verband gegen den zentralistisch, ihrer Meinung nach sehr undemokratisch gefaßten Regierungsbeschluß nicht durchzusetzen. Letztendlich gründete jede
Partei ihren eigenen KZ-Verband: die SPÖ den „Verband der sozialistischen Freiheitskämpfer“, die ÖVP die „Kameradschaft“, und der KPÖ blieb der KZ-Verband. Nur in Tirol wehrten sich die Überlebenden erfolgreich gegen eine Aufsplitterung.21 Jüdische Überlebende,
sofern sie keiner der drei Parteien beitreten wollten, blieben weiterhin unter sich. Der
➤ „Neue Weg“ kritisierte nicht nur die Politik der Regierung, sondern auch die Politik des
„Bundesverbandes“, in den Juden große Hoffnungen gesetzt hatten.22 Daß ehemalige KZHäftlinge sich den Interessen der Parteien unterwarfen und den KZ-Verband zu einem „Veteranenverein“ herabsinken ließen, löste beim Jüdischen Aktionskomitee „eine schwere Erbitterung“ aus und das Gefühl, „als Juden als Paria“ behandelt worden zu sein.23 Für den
„Neuen Weg“ entstand der Eindruck, daß den politischen Funktionären des KZ-Verbandes
nur an der Erfüllung ihrer Bedürfnisse gelegen war und sie in der Unterstützung der jüdischen Opfer versagt haben.
„Die zurückkehrenden ‚politischen‘ KZler haben ihre verlorenen Stellen in Amt und Arbeit
meist wiederbekommen, ja, dank ihrer Verbindung mit den politischen Parteien, bedeutend
verbessert. Was sie sonst noch zu verlangen haben, war die Entschädigung für Haftzeit
und sonstige Einbußen, war die Unterstützung der Hinterbliebenen von KZ-Kameraden und
schließlich die Pflege der Kameradschaft, der Erinnerung an das gemeinsame Erlebnis im
KZ. Diese bescheidenen Ziele entsprachen ganz dem Gedankengang und den Absichten
der politischen Parteien. Nach ihrer Auffassung war die Hitler-Invasion ein bedauerliches,
aber unvermeidliches Ereignis, die am Leben gebliebenen Opfer haben Anspruch auf
Almosen in moderner Form, auf eine gewisse, nicht weitgehende wirtschaftliche Hilfe
(früher einmal auf eine Werkelmannlizenz). Sonst sollten sie bei Heurigem und Wienermusik kameradschaftliche Geselligkeit pflegen, beim Begräbnis eines Kameraden mit der eigenen Fahne ausrücken usw. Das bedingte natürlich eine strenge Absonderung der NaziOpfer von den anderen Opfern.“24
Bei vielen Überlebenden wirkte primär die Zugehörigkeit zu einer politischen Partei und
weniger die gemeinsame Lagererfahrung identitätsstiftend. Österreichische WiderstandskämpferInnen, unter ihnen auch viele jüdischer Herkunft, träumten im KZ vom Aufbau eines
neuen Österreich, wozu sie sich nach ihrer Rückkehr auch tatkräftig zur Verfügung stellten.
Auch sie akzeptierten die von den Alliierten und österreichischen Politikern entworfene
100
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Helga Embacher
These von Österreich als erstem Opfer Hitler-Deutschlands. Trotz zahlreicher Widersprüche
übertrugen sie das eigene Leiden auf das der Nation. Als beispielsweise der Internationale
KZ-Verband ankündigte, bei einer Tagung im Mai 1946 auch eine Resolution über die
schleppend vor sich gehende Entnazifizierung und die Beteiligung von Österreichern am
Nationalsozialismus zu fassen, zog der „Verband der politisch Verfolgten für Oberösterreich“ seine angekündigte Teilnahme an der im Mai 1946 stattfindenden Tagung zurück.
Auch das Innenministerium wollte die Tagung verbieten, die letztendlich mit Hilfe des
oberösterreichischen Landeshauptmannes Gleißner doch noch durchgeführt werden konnte.
Ministerialrat Franz Sobek empfand vor allem die Kritik an Österreichs Mitverantwortung
am Nationalsozialismus und eine befürchtete Resolution an die UNO, in der vom Abzug
der Besatzungssoldaten abgeraten werden sollte, als Provokation. Er bat daher den
„Oberösterreichischen KZ-Verband um Bericht und um Vorschläge zu entsprechenden Maßnahmen gegen diese Leute, welche wahrscheinlich zum Großteil Kriminelle sind und in
unserem Lande als Partisanen leben und unser Land im Ausland schwer diskriminieren“.25
Als Reaktion darauf warf Simon Wiesenthal, damals Funktionär des Internationalen KZVerbandes, dem österreichischen KZ-Verband vor, daß „der Ausländerhaß, welcher ein
Bestandteil der Nazipropaganda war, in den Reihen des österreichischen KZ-Verbandes
noch nicht ausgerottet zu sein scheint“.26
Alleingelassen im Kampf um die „Wiedergutmachung“, mußte die Israelitische Kultusgemeinde 1949 auch den Ausschluß aus der Opferfürsorgekommission erleben. Bisher setzte
sich diese Kommission aus Vertretern der drei Parteien und aus Vertretern der Israelitischen
Kultusgemeinde oder „Abstammungsverfolgten“ zusammen, während bei der 1949 erfolgten Neubesetzung Sozialminister ➤ Karl Maisel, sozialistischer Abgeordneter und Buchenwald-Überlebender, anstelle der „Abstammungsverfolgten“ Vertreter der SPÖ nominierte.
Wie der „Neue Weg“ kritisierte, wären diese „weder von den Abstammungsverfolgten auf
demokratische Weise gewählt noch hierzu berufen worden und würden keinesfalls das Vertrauen der Gruppe genießen“.27
Im Kalten Krieg konnte die österreichische Regierung als anerkannter Partner der Westalliierten immer selbstbewußter agieren. Letzte Reste, die noch an Österreichs Mittäterrolle erinnerten, mußten entfernt werden. 1947 ➤ „arisierte“ das ➤ „Schwarze Kreuz“ in St. Florian
in Oberösterreich den jüdischen Friedhof, indem es das jüdische Denkmal zerschlagen
ließ.28 Bereits 1946 machte Heinrich Sobek einen Vorschlag zur christlichen Vereinnahmung des ➤ Vernichtungslagers Mauthausen. Ein „überdimensionales, in der Nacht leuchtendes Kreuz“ sollte am höchsten Punkt des ehemaligen Lagers errichtet werden.29 Auch als
1952 an der KZ-Gedenkstätte Mauthausen eine Gedenktafel enthüllt wurde, gedachte niemand der jüdischen Opfer, der größten Gruppe unter den Ermordeten.30 1954 sollten laut
einer Empfehlung des Innenministeriums die KZ-Friedhöfe in „Kriegerfriedhöfe“ umgewandelt und damit alle Opfer des Zweiten Weltkrieges auf dieselbe Stufe gestellt werden.31 Im
selben Jahr wurden in ➤ Ebensee jüdische Gräber exhumiert, und das dortige jüdische
Denkmal mit der Aufschrift „Dem deutschen Volk zur ewigen Schande“ wurde in die Luft
gesprengt, um den Fremdenverkehr nicht zu stören.32 In Linz fühlten sich jüdische Überlebende verletzt, als der KZ-Verband 1955 bei einer von ihm organisierten Trauerfeier in
Ebensee die Israelitische Kultusgemeinde Linz nicht eingeladen hatte, obwohl die Häftlinge
im Konzentrationslager Ebensee großteils Juden waren.33
Der Konflikt zwischen der Israelitischen Kultusgemeinde und den Lagergemeinschaften ist
bis heute ungelöst. Noch im Februar 1995 mußte die „Gemeinde“ an einer Aussendung
der „Österreichischen Lagergemeinschaft Auschwitz“ anläßlich des 50. Gedenktages der
Befreiung kritisieren, daß von ermordeten Österreichern, unter anderem Politikern, Künstlern, Journalisten oder Heimwehrfunktionären, gesprochen wurde, das Wort Jude oder
jüdisch aber peinlich vermieden wurde.34
Aus: Helga Embacher: Neubeginn ohne Illusionen.
Juden in Österreich nach 1945,
Picus Verlag, Wien 1995, S. 104-111.
Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
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Der Kampf der Israelitischen Kultusgemeinde
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Vgl. Salzburger Tagblatt. 18.1. 1946, S.6.
Interview mit Josef Nischelwitzer. Klagenfurt 1987.
Politisch Verfolgte trugen einen roten, Kriminelle einen grünen, sogenannte Asoziale einen schwarzen, Homosexuelle einen rosa und
Bibelforscher einen lila Winkel. Juden mußten unter ihrem Winkel
zudem ein gelbes Dreieck, das mit dem anderen Winkel einen Davidstern ergeben hat, tragen. Gruppen mit gleichartigen Winkeln
bildeten aber keine homogene Gruppe. So wurden z. B. als politische Häftlinge nicht nur aktive Gegner des Nationalsozialismus eingeliefert – das Erzählen eines Witzes oder die Freundschaft mit einem „Fremdarbeiter“ konnten bereits KZ-Haft mit einem roten
Winkel bedeuten. Langbein betonte auch, daß nicht alle „Roten“
ihre Funktionen im Geiste der Kameradschaft ausgeübt und nicht
alle „Grünen“ als Werkzeuge der SS gedient haben, vgl. Hermann
Langbein, Menschen in Auschwitz, Berlin/Wien 1980, S. 29.
Siehe Brief vom 8. Juni 1946 von Dipl.-Ing. Simon Wiesenthal an
Dr. Sobek, S. W-C., M -9/10, Yad Vashem/Jerusalem.
Beschwerdeprotokoll Linz am 1. 4. 1947, unterschrieben von Rosa
Murlakow. S. W-C, M-9, 79a, Yad Vashem/Jerusalem.
Vgl. Der neue Weg. Jüdisches Organ mit amtlichen Mitteilungen
der Israelitischen Kultusgemeinde Wien (DNW), 5/6, 15. Februar
1946.
Akim Lewit überlebte als jüdischer Häftling Buchenwald und wurde
auf der 1. Freien Versammlung der Österreicher ins Präsidium der
Organisation der österreichischen Überlebenden gewählt. Vgl. Erich
Fein/Karl Flanner, Rot-Weiß-Rot in Buchenwald, Wien 1987, S 246.
DNW, 1,2/1946, S. 13.
Siehe auch das „Rot-Weiß-Rot-Buch“. Gerechtigkeit für Österreich! Darstellungen. Dokumente und Nachweis zur Vorgeschichte
und Geschichte der Okkupation Österreichs (nach amtlichen Quellen). 1. Teil, Wien 1946. Das Buch stellt Österreich als Opfer des
nationalsozialistischen Aggressors dar, während die Judenverfolgung verschwiegen wurde.
Vgl. DNW, 6/Anfang April 1947, S. 6 und 21/Anfang November
1948, S.3.
Brigitte Bailer, Wiedergutmachung kein Thema. Österreich und
die Opfer des Nationalsozialismus, Wien 1993, S. 143.
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DNW, 21/Anfang November 1948, S.3.
DNW, 6/Anfang April 1947, S. 6.
Ebd., 6/1947, S. 6ff.
Vgl. Bailer, S. 45 ff.
Karl Mark, 75 Jahre Roter Hund. Lebenserinnerungen, Wien/Köln
1990, S. 169.
Innerhalb der ÖVP war Ausweger u. a. auch wegen einer gegen
ihn laufenden Pressekampagne, in der ihm Spendenleistungen an
die KPÖ vorgeworfen worden waren, sehr umstritten. 1949 schien
er als ÖVP-Mandatar im Landtag nicht mehr auf. Vgl. Dirninger
Christian, Die Arbeitgebervertretung im Bundesland Salzburg.
Festschrift für Rudolf Friese, Salzburg Dokumentation Nr. 84,
Schriftenreihe des Landespressebüros, Salzburg 1984, S 83
Salzburger Tagblatt, 24. März 1948, S.2.
Demokratisches Volksblatt, 13. März 1948, S. 2.
Ebd., 20. März 1948, S. 3.
Interview mit Heinz Mayer, Präsident des Bundes der Opfer des
politischen Freiheitskampfes in Tirol.
Vgl. DNW, 5/Anfang März 1948, S. 12.
Ebd., 21/Anfang November 1948, S. 3.
Ebd.
Brief vom 23. Mai 1946. Ministerialrat Dr. Franz Sobek an den Verband der politisch Verfolgten für Oberösterreich. S.W.C., M-9/10,
Yad Vashem/Jerusalem.
Brief vom 8. Juni 1946 von Dipl.-Ing. Simon Wiesenthal an Dr.
Sobek. S.W.C., M-9/10.
DNW, 18/Anfang Oktober 1949, S. 3.
Vgl. Bekanntgabe des jüdischen KZ-Verbandes. S.W.C., M-9/83
b/66 b sowie DNW, 22/Anfang Dezember 1947, S. 4.
Wiener Zeitung, 21. Juni 1946.
Vgl. Brief der Israelitischen Kultusgemeinde vom 9. Mai 1952,
Archiv der IKG Wien.
Vgl. Iskult, 35/1955, S. 12.
Vgl. ebd., 23/1955, S. 19.
Vgl. ebd., 35/1955.
Die Gemeinde, 3. Februar 1995 – 3. Adar 5755, sowie 5. April 1995
– 5. Nissan 5755.
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Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
„ O H N E D E N S TA AT W E I T E R D A M I T Z U B E L A S T E N . . . “
1
BRIGITTE BAILER-GALANDA
Bemerkungen zur österreichischen Rückstellungsgesetzgebung
Vorbemerkung
Die sogenannte „Wiedergutmachung“ nationalsozialistischen Unrechts, im eigentlichen Wortsinn des „Wieder-gut-Machens“ unmöglich,2 zerfällt in Österreich ebenso wie in der BRD in
zwei große Bereiche: die in erster Linie der Sicherung einer Mindestexistenz der Opfer
dienende Gesetzesmaterie (in Österreich ➤ Opferfürsorgegesetz, in der BRD ➤ Bundesentschädigungsgesetz) einerseits, und ➤ Gesetze zur Rückstellung entzogenen Eigentums und
Vermögens andererseits. Zu beiden Bereichen liegt bereits eine Reihe deutscher Publikationen vor, während die österreichische Forschung erst am Anfang steht.3 Der britische Historiker Robert Knight legte in seiner ausführlich kommentierten Edition von Auszügen der Kabinetts- und Ministerratsprotokolle der Nachkriegszeit eine erste, vor allem außenpolitische
Faktoren berücksichtigende Übersicht zur Genese der Rückstellungsgesetze vor.4 Der vorliegende Aufsatz versucht die innenpolitischen Gegebenheiten, die Desiderata der Rückstellungsgesetzgebung und die Auswirkung dieser Gesetze auf die Opfer in einem ersten
Ansatz zu erhellen. Darüber hinaus wären weiterführende Forschungen zu diesem Themenkreis sehr wünschenswert.
Die Rückstellungsgesetzgebung stellte – obschon eine ganze Reihe anderer Gruppen,
nicht zuletzt auch die Kirchen von dieser Gesetzgebung betroffen waren – für die öffentliche
Meinung ein vorwiegend jüdisches Problem dar, wodurch auch der vorliegende Aufsatz in
erster Linie die Schwierigkeiten jüdischer Opfer, ihr Eigentum zurückzuerhalten, beleuchtet.
Der nationalsozialistische Raubzug
Plünderungen, Enteignungen und die durch nationalsozialistische Verordnungen geregelten
Eigentumsentziehungen betrafen in erster Linie die aufgrund der ➤ Nürnberger Rassengesetze verfolgte Bevölkerung.5 Zum Umfang dieser Beraubungen liegen einige von Vertretern
der Opfer Anfang der fünfziger Jahre erstellte Statistiken vor, die den Wert des geraubten
Eigentums und Vermögens mit rund 312 Millionen Dollar (780 Millionen Reichsmark) angaben, unter Einrechnung der Einkommensverluste ergab sich sogar ein Verlust von rund
1,2 Milliarden Dollar.6 Statistiken der ➤ Vermögensverkehrsstelle weisen ein aufgrund der
Verordnung zur Anmeldung jüdischen Vermögens angemeldetes Vermögen von
2.041,828.000 RM auf, jüdisches Betriebsvermögen umfaßte ca. 321 Millionen RM.7 Die
zur Eindämmung der unkontrollierten ➤ „Arisierungen“ und damit zur Sicherung der daraus
resultierenden Gewinne für den NS-Staat im Mai 1938 geschaffene Vermögensverkehrsstelle übernahm in der Folge die Abwicklung der „ordnungsgemäßen“ „Arisierungen“.8 Der
überwiegende Teil der zu dieser Zeit noch bestehenden rund 26.000 jüdischen Betriebe
wurde liquidiert, nur 4353 sollten weitergeführt werden.9 Die in den Folgejahren verabschiedete Vielzahl antijüdischer Gesetze und Verordnungen beraubte die noch nicht geflüchteten Juden ihres gesamten Eigentums; selbst Radioapparate, Schiausrüstungen, Wollsachen, Elektrogeräte und anderes unterlagen nach und nach der Ablieferungspflicht.10
Unmittelbar nach dem „Anschluß“ erfolgte die Vertreibung der Juden aus ihren Wohnungen und deren zwangsweise Umsiedlung in Sammelwohnungen. Insgesamt wurden in
Wien schon bis Ende 1938 rund 44.000 der 70.000 Wohnungen mit jüdischen Mietern
auf diese Weise für „arische Volksgenossen“ frei gemacht. Gerhard Botz bezeichnet dies
zu Recht als „Ersatz nationalsozialistischer Sozialpolitik“.11
Im Laufe der NS-Herrschaft wurden noch weitere Bevölkerungsgruppen bzw. Institutionen
ihres Eigentums beraubt: politisch Verfolgte, Kärntner Slowenen, kirchliche Institutionen,
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Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
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103
Umfang der
Beraubung
„Ohne den Staat weiter damit zu belasten ...“
aufgelöste Vereine, österreichische Unternehmen, aber auch der österreichische Staat infolge seines Untergangs 1938. Trotzdem geht es wohl an der historischen Realität vorbei,
wenn der Abgeordnete Kolb im Nationalrat meinte, „erster Anspruchsberechtigter“ der
Rückstellungsgesetzgebung sei „die Republik Österreich selber“.12
Die Anfänge der Rückstellungsgesetzgebung
Gesetz über die
„Erfassung
arisierter
Vermögen“
Erstes Rückstellungsgesetz
Zweites Rückstellungsgesetz
Alliierte Planungen hatten sich bereits während des Krieges mit der Frage des durch den
nationalsozialistischen Staat entzogenen bzw. geraubten Eigentums befaßt. Die am 5. Jänner 1943 verabschiedete ➤ „Londoner Deklaration“ erklärte alle unter nationalsozialistischer Besetzung erfolgten Enteignungen und scheinlegalen Vermögensübertragungen für
ungültig.13
Obschon bereits Anfang Mai 1945 die Provisorische Staatsregierung ein ➤ „Gesetz über
die Erfassung arisierter und anderer im Zusammenhang mit der nationalsozialistischen
Machtübernahme entzogener Vermögenschaften“14 verabschiedet hatte, war die Frage der
individuellen Rückstellung entzogenen Eigentums innerhalb der politisch Verantwortlichen
nicht unbestritten. Die Sozialdemokraten verknüpften die Frage der Rückstellungen sofort
mit der Frage nach der Rückgabe des 1934 geraubten Vermögens ihrer Partei und der ihr
angeschlossenen Organisationen und hatten gleichzeitig, wie übrigens auch die KPÖ, offensichtliche Reserven gegen die Restaurierung „kapitalistischer“ Vermögen.15 Die Staatsregierung sah sich jedoch einerseits unter dem Druck des „Auslandes“, d. h. der Alliierten,
die von Österreich entschiedenes Vorgehen gegen die ehemaligen Nationalsozialisten und
zugunsten deren Opfer verlangten, andererseits aber stand sie auf dem Standpunkt, Österreich sei an den NS-Verbrechen unschuldig, habe daher keine Wiedergutmachung zu leisten – „Österreich hat aber nichts gut zu machen, weil es nichts verbrochen hat.“16 „Wiedergutmachung“ durfte aus der Sicht der österreichischen Politiker möglichst keine Kosten
verursachen. Dementsprechend entschloß man sich vorerst jene Fälle in Angriff zu nehmen,
in denen Naturalrestitution möglich schien.17
Im Mai 1946 verabschiedete der Nationalrat das ➤ „Bundesgesetz über die Nichtigerklärung von Vermögensübertragungen, die während der deutschen Besetzung Österreichs
erfolgt sind“ 18, und erkannte damit die in der „Londoner Deklaration“ normierten Prinzipien
an. Doch erst im Herbst 1946 folgte die Vermögensentziehungsanmeldeverordnung, die
die tatsächliche Anmeldung entzogenen Vermögens bis November desselben Jahres vorsah; die Anmeldepflicht lag dabei beim derzeitigen Inhaber dieses Eigentums, also in vielen Fällen beim ➤ „Ariseur“.19
Relativ einfach zu erledigen waren jene Fälle, in denen Eigentum aufgrund nationalsozialistischer Gesetze, insbesondere der ➤ 11. und ➤ 13. Verordnung zum Reichsbürgergesetz, und durch ➤ Gestapo-Maßnahmen entzogen worden war und sich nun in der
Verwaltung der Republik befand. Diese Fälle regelte das am 26. Juli 1946 verabschiedete
Erste ➤ Rückstellungsgesetz.20 Damit hatte aber auch schon die für die österreichischen
Maßnahmen zugunsten der NS-Opfer in der Folge typische Aufsplitterung in eine Reihe
von Einzelgesetzen ihren Anfang genommen.21 Dies erschwerte den Opfern selbst die
Übersicht und damit die Durchsetzung ihrer berechtigten Forderungen deutlich. Es dauerte
nochmals mehrere Monate, bis am 6. Februar 1947 der Nationalrat das Zweite Rückstellungsgesetz, betreffend die im Eigentum der Republik befindlichen entzogenen Vermögen,22 und das in der Folge wichtigste – und am heftigsten umstrittene – Dritte Rückstellungsgesetz, betreffend Rückstellung von in privater Hand befindlichen entzogenen Vermögen,23 verabschiedete. Wichtiger, wenn auch nicht unmittelbarer Pate für diese und die
folgenden Gesetze war „das Ausland“; wie das für die Erfassung entzogener Vermögen
geschaffene ➤ Bundesministerium für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung im Vortrag für den Ministerrat zum Ersten Rückstellungsgesetz begründete, sollte dieses Gesetz
verabschiedet werden, „um aber doch der Welt zu zeigen, daß seitens der Republik
Österreich das, was möglich ist, getan wird.“24
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Brigitte Bailer-Galanda
Das Dritte Rückstellungsgesetz
Dem Dritten Rückstellungsgesetz waren langwierige Diskussionen mit Vertretern der Opfer
vorangegangen. Im Frühjahr 1946 wurde ein von der Rechtsanwaltskammer erstellter
Entwurf veröffentlicht, der wegen deutlicher Bevorzugung der „Ariseure“ und Benachteiligung der Verfolgten auf die vehemente Kritik der ➤ Israelitischen Kultusgemeinde und des
➤ „Österreichischen Bundesverbandes ehemals politisch verfolgter Antifaschisten“ stieß.25
Der im Herbst 1946 dem Ministerrat vorgelegte Gesetzesentwurf für das Dritte Rückstellungsgesetz wies gleichfalls beträchtliche Mängel auf, indem nach wie vor der „Ariseur“
(im Gesetz „Erwerber“ genannt) gegenüber den Opfern (im Gesetz „geschädigter Eigentümer“) bessergestellt war. Im Ministerrat drängte Bundesminister Heinl auf eine baldige Beschlußfassung: „Wir können die Unterstützung des Auslandes nur finden, wenn dieses Gesetz in Kraft tritt.“26 Die Israelitische Kultusgemeinde und der „Österreichische Bundesverband ehemals politisch verfolgter Antifaschisten“ erarbeiteten ausführliche Stellungnahmen
zum Entwurf,27 die bereits auf Probleme hinwiesen, die später bei der Handhabung des
Gesetzes auftraten, wie beispielsweise die Verpflichtung des Opfers, dem „Erwerber“ den
➤ Kaufpreis wieder zurückzuzahlen.
In der Realität der Jahre 1938/1939 hatte kaum ein geschädigter Eigentümer je den
Kaufpreis tatsächlich erhalten, geschweige denn diesen auf seiner Flucht ins Ausland mitnehmen können. Diese Bestimmung wurde in der endgültigen Fassung wohl eingeschränkt,28 die grundlegende Bestimmung über Gegenleistungen an den Erwerber blieb jedoch erhalten.
Weiters erhoben die Betroffenen Forderungen zur Lösung des drängenden Problems der
enteigneten Wohnungen. Diesbezüglich vertröstete der Gesetzestext auf weitere, noch zu
erlassende Regelungen. Einen wichtigen Punkt sahen die Opfer in der Schaffung eines
„Wiedergutmachungsfonds“ aus dem erblos gebliebenen Vermögen – rund 65.000 Juden
aus Österreich waren dem Holocaust zum Opfer gefallen. Das dann verabschiedete Gesetz stellte die Errichtung eines Fonds auf der Grundlage einer noch zu erarbeitenden gesetzlichen Bestimmung in Aussicht. Letzte Diskussionen über den Entwurf fanden im Rahmen
einer Sachverständigenenquete am 23. Jänner 1947 im Nationalrat statt.29
Anläßlich der Beschlußfassung betonte der sozialistische Abgeordnete ➤ Dr. Tschadek
(1949-1952 selbst Justizminister), daß Österreich keinerlei Verpflichtung für untergegangenes oder an das Deutsche Reich gefallenes Vermögen übernehmen könne. Im übrigen
seien die meisten „Ariseure“ ohnehin „reichsdeutsche Geschäftsleute, reichsdeutsche
Krämer“ gewesen, die 1938 nach Wien gekommen seien, „um hier die jüdischen Geschäfte um einen Pappenstiel zu übernehmen“. 30 Weiters wiederholte Tschadek nochmals
jene Argumente zugunsten der „Erwerber“, die bereits im Vortrag an den Ministerrat im
Oktober 194631 vorgebracht worden waren: Viele hätten ja nur auf Bitten der Verfolgten
deren Eigentum übernommen, um ihnen den Weg ins rettende Ausland zu ermöglichen –
eine Argumentation, die in den ab 1948 einsetzenden Angriffen der „Erwerber“ gegen
das Dritte Rückstellungsgesetz in steter Regelmäßigkeit vorgebracht wurde. Insgesamt
zeigten sich die Betroffenen mit dem Gesetzestext zufrieden,32 die Legal Division bei den
US-Besatzungsbehörden empfahl, dem Gesetz trotz nach wie vor bestehender Mängel
nicht die Zustimmung zu verweigern.33
Bis 1949 wurden noch vier weitere, in der öffentlichen Diskussion nur wenig beachtete
Rückstellungsgesetze verabschiedet:
Viertes Rückstellungsgesetz zur Wiederherstellung gelöschter oder geänderter Firmen,34
Fünftes Rückstellungsgesetz zur Rückstellung entzogenen Vermögens juristischer Personen
(Aktiengesellschaften, Genossenschaften u. a.),35
Sechstes Rückstellungsgesetz zur Rückstellung von Patenten, Marken und Musterrechten,36
Siebentes Rückstellungsgesetz zur Geltendmachung entzogener oder nicht erfüllter Ansprüche aus Dienstverhältnissen in der Privatwirtschaft.37
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Mängel im
Dritten Rückstellungsgesetz
Das Problem der
enteigneten
Wohnungen
„Ohne den Staat weiter damit zu belasten ...“
Das Dritte Rückstellungsgesetz in der Praxis38
Benachteiligung
der Geschädigten
in der Rückstellungspraxis
Die Erleichterung der Verfolgtenverbände über die Verabschiedung des Dritten Rückstellungsgesetzes wich angesichts der Praxis der Rückstellungskommissionen, denen einzelne
Bestimmungen beträchtlichen Ermessensspielraum einräumten,39 bald der Enttäuschung und
Ernüchterung: „Was wir bisher in legislativer Hinsicht erreicht haben, ist zweifellos als Erfolg zu buchen. Zu bemängeln ist aber die Art der Handhabung der an sich guten Gesetze,
wogegen wir dauernd und mit unverminderter Kraft ankämpfen.“ 40
Es häuften sich Klagen, daß die Rückstellungskommissionen im Zweifel zugunsten des Erwerbers, also in vielen Fällen des „Ariseurs“, und damit zu Lasten des Verfolgten entschieden.41 Noch vor der Beschlußfassung im Nationalrat hatten Vertreter des ➤ World Jewish
Congress in einem Bericht an die US-Besatzungsmacht davor gewarnt, daß das Gesetz dazu neige, „to favor the interests of the present possessor over those of the legal owners“.42
Besonders die Praxis des mit der „Erfassung, Sicherung, Verwaltung und Verwertung von
(„arisierten“, Anm. d. Verf.) Vermögenschaften und Vermögensrechten“43 betrauten Bundesministeriums für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung bot häufig Anlaß zu
Kritik. Es mutet wie Zynismus an, daß gerade in diesem Ministerium überproportional viele
Nationalsozialisten mit Sonderverträgen oder als Konsulenten eine Anstellung gefunden
hatten.44 Vielleicht deshalb entschied das Ministerium bei der Bestellung öffentlicher
Verwalter für „arisiertes“ Eigentum oftmals zugunsten des „Ariseurs“, der damit bis zur Entscheidung der Rückstellungskommission die Verfügungsgewalt über das Eigentum des
Verfolgten behielt.45
In diesem Zusammenhang ist den Beschwerden über die unverhältnismäßig lange Dauer
der Rückstellungsverfahren,46 die nur zu oft in unnotwendigen Behördenwegen und -schikanen begründet lagen,47 besonderes Gewicht zuzumessen. Die geschädigten Eigentümer,
oftmals selbst aufgrund der Verfolgung weitgehend mittellos, mußten infolgedessen unverhältnismäßig lange auf die Möglichkeit der Wiederaufrichtung ihrer Existenz warten und
waren mit dem Risiko der Verschleppung oder Verschlechterung ihres Eigentums konfrontiert.48 Bis Ende Oktober 1954 waren von 34.539 bis dahin eingelangten Anträgen nach
dem Dritten Rückstellungsgesetz nach wie vor 5181 anhängig.49
Eines der größten Probleme stellte jedoch eine Bestimmung des Dritten Rückstellungsgesetzes dar, die vorsah, daß der Verfolgte „als Gegenleistung das rückzustellen“ habe, „was er
zu seiner freien Verfügung erhalten hat“. In jenen Fällen, in denen „bei einer Vermögensentziehung im übrigen die Regeln des redlichen Verkehrs eingehalten“ worden waren,
konnte „die Rückstellungskommission nach billigem Ermessen (...) bestimmen, ob und welcher Teil des vom Erwerber bezahlten, vom Eigentümer aber nicht zur freien Verfügung erhaltenen Kaufpreises dem Erwerber vom geschädigten Eigentümer zu ersetzen ist.“ 50 Diese
Bestimmung bedeutete in den meisten Fällen, daß der ehemals Verfolgte („geschädigte Eigentümer“) sein ihm zustehendes Eigentum de facto zurückkaufen mußte. Auch die Einschränkung der „freien Verfügung“, im Gesetz nicht näher definiert, wurde von den Rückstellungskommissionen unterschiedlich ausgelegt. In Einzelfällen wurde sogar angenommen, daß die vom Kaufpreis erlegte ➤ Reichsfluchtsteuer und Judenvermögensabgabe dem
Verfolgten zugute gekommen und daher an den „Erwerber“ zurückzuzahlen sei!51 In den allermeisten Fällen war der Kaufpreis auf einem ➤ Sperrkonto deponiert worden, von dem
der Verfolgte monatlich nur einen geringen Betrag hatte beheben können. Bei der Ausreise
waren nur 10 oder 20 Reichsmark als Bargeld mitzunehmen gestattet. Die auf den Konten
liegenden Beträge fielen spätestens mit der ➤ 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz aus
1941 an das Deutsche Reich.52 Der österreichische Staat, der jede Verantwortung für die
Verbrechen des NS-Regimes von sich wies, verweigerte über etliche Jahre die Entschädigung für diese diskriminierenden Abgaben. Den ehemaligen Verfolgten blieb also, wollten
sie ihr Eigentum zurückerhalten, nur der Weg der Kreditaufnahme.53 Konnte der Geschädigte den Kaufpreis nicht aufbringen, so forderte der „Erwerber“ den Verkauf des Eigentums,
um den Kaufpreis zurückzuerhalten. Im Wege der öffentlichen Versteigerung erhielt auf
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diesem Weg der „Ariseur“ in vielen Fällen – entgegen der Absicht des Rückstellungsgesetzes – das „arisierte“ Eigentum wieder zurück.54
Eine weitere wesentliche Problematik ergab sich daraus, daß das Dritte Rückstellungsgesetz den aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch abgeleiteten Begriff des „redlichen Erwerbers“
einführte, der die aus dem „arisierten“ Vermögen erwirtschafteten Gewinne einbehalten
durfte. Da aber der erste „Erwerber“ zumeist wußte, daß er von einem unter Zwang handelnden Verfolgten kaufte, definierte das Gesetz den „redlichen“ Erwerb dahingehend,
daß dafür zumindest die „Regeln des redlichen Verkehrs“ eingehalten worden waren. Graf
meint dazu in seiner juristischen Kritik des Gesetzes, diese Bestimmung habe „ein paradoxes Flair, genauso als ob bei einem Banküberfall dann die Regeln des redlichen Verkehrs eingehalten wären, wenn der Bankräuber den Bankkassier nicht mit ‚Du‘, sondern
höflich mit ‚Sie‘ anspricht.“ 55 In jedem Fall führte diese Bestimmung dazu, daß häufig der
„Erwerber“ die Gewinne der letzten Jahre für sich behalten konnte.
Eine Reihe von Ungerechtigkeiten bei der Durchführung des Rückstellungsgesetzes wären
vermeidbar gewesen, hätte Österreich zumindest in jenen Fällen Zahlungen an die ehemals
Verfolgten geleistet, in denen tatsächlich unschuldige „Erwerber“ (beispielsweise bei
Weiterverkauf an Dritte oder in den Fällen der für die Anlage des Truppenübungsplatzes
Allentsteig enteigneten Döllersheimer Bauern) vorhanden waren oder der Geschädigte aus
anderen Gründen keine Rückstellung seines Eigentums erlangen konnte. Solche Zahlungen
lehnte die Republik jedoch entschieden ab.
Der Widerstand gegen das Dritte Rückstellungsgesetz und Novellierungsversuche 56
Seitens der „Erwerber“, zumeist also der „Ariseure“ selbst, regte sich bereite 1948 heftiger Widerstand gegen das Gesetz. Sie konstituierten Ende 1948 einen ➤ „Verband der
Rückstellungsbetroffenen“, der in einer eigenen Zeitschrift, „Unser Recht“, gegen die angeblichen Ungerechtigkeiten des Dritten Rückstellungsgesetzes mobilisierte. Aus Sicht der
„Ariseure“ waren sie alle „redliche Erwerber“ gewesen, denen das Dritte Rückstellungsgesetz nicht den Schutz, der ihnen zukomme, gewähre.57 Gleichzeitig begannen zu dieser
Zeit bereits die Parlamentsparteien um die Stimmen der bei der Nationalratswahl 1949
wieder wahlberechtigten Nationalsozialisten zu konkurrieren, so daß die „Rückstellungsbetroffenen“ auf politische Unterstützung rechnen durften, die sich nach dem überraschenden Wahlerfolg des ➤ Verbandes der Unabhängigen (VdU) 1949 noch deutlich verstärkte,
verstand sich doch der VdU als Vertretung der „Ehemaligen“ im Nationalrat.58 Schützenhilfe erhielten „Rückstellungsbetroffene“ und VdU seit Ende 1948 seitens der ÖVP, die sich
bekanntlich unmittelbar um die Stimmen der „Ehemaligen“ bemühte, während die SPÖ die
Gründung des VdU als Sammelbecken für dieses Lager präferierte und letztlich auch
durchsetzte.
Im November 1948 berichtete die US-Legal Division von Bemühungen des Bundesministers für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung, ➤ Peter Krauland, 59 um eine Novellierung des Dritten Rückstellungsgesetzes, deren Absicht es sei, „to render that law largely
inoperative and to legalize possession by the aryanizers of the property“.60 Der Bericht
führte zwei wesentliche Punkte der beabsichtigten Änderung an: Der erste zielte auf die
Möglichkeit einer neuerlichen Verhandlung bereits erledigter Fälle zugunsten der „Ariseure“.
Der zweite wollte all jenen, die Österreich nach dem „Anschluß“ verlassen hatten und nicht
zurückgekehrt waren, die Rückstellung ihres Eigentums verweigern. Damit wäre die überwältigende Mehrheit aller Vertriebenen vom Dritten Rückstellungsgesetz ausgeschlossen
worden.61 Diese Bemühungen Kraulands dürften ebenso wie die im folgenden genannten
Novellierungsversuche am Widerstand der US-Besatzungsmacht und wohl auch der Briten
gescheitert sein.62
Vor und unmittelbar nach den Nationalratswahlen 1949 brachten Abgeordnete der
ÖVP Anträge auf Novellierung des Dritten Rückstellungsgesetzes zugunsten der „Erwerber“ ein,63 deren Inhalt von den „Rückstellungsbetroffenen“ enthusiastisch begrüßt wurde.64
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Der „redliche
Erwerber“
„Ohne den Staat weiter damit zu belasten ...“
Bundesgesetz
über den
„Härteausgleich“
in Rückstellungsverfahren
Bauern aus
Döllersheim
blieben entschädigungslos
US-Hochkommissär Keyes wies in einem Brief an Bundeskanzler ➤ Figl im März 1950
nachdrücklich darauf hin, daß die beabsichtigte Novellierung gegen den Artikel 44 des
Entwurfes zum ➤ Staatsvertrag – Artikel 26 im Staatsvertrag 1955 – verstoße.65 Außerdem
verweigerte die SPÖ-Fraktion die Zustimmung zu dieser Novelle und schlug stattdessen
die Schaffung eines „Härteausgleichs“ vor, der der „Bekämpfung und Beseitigung aller
Härten, die auf Hitler und die Nazi zurückzuführen sind“, dienen sollte.66 Noch in der letzten Sitzung des Nationalrates vor der Sommerpause brachten Abgeordnete der Regierungsparteien einen Antrag „betreffend ein Bundesgesetz über den Härteausgleich in
Rückstellungsfällen und die Errichtung eines Härteausgleichsfonds“ ein.67 Dieser Antrag
vermischte die Interessen verschiedener Opfergruppen mit jenen der „Ariseure“. Während
gegenüber dem Dritten Rückstellungsgesetz in Teil I und II des Entwurfs deutliche Verschlechterungen für die ehemals Verfolgten vorgesehen waren,68 wurde in Teil III ein „Härteausgleich“ u. a. für die „Erwerber“ vorgesehen, der unter anderem „gespeist werden
soll aus dem erblosen Eigentum, einer Abgabe vom Erlös rückgestellten Eigentums, dessen
Verkauf innerhalb eines fünfjährigen Zeitraumes nach der Rückstellung erfolgt“.69 Aus diesem Fonds sollten neben Geschädigten, die ihre Ansprüche aufgrund des Dritten und Siebenten Rückstellungsgesetzes nicht geltend machen konnten, auch „bestimmte besonders
berücksichtigungswürdige Gruppen rückstellungspflichtiger redlicher Erwerber“ entschädigt werden. Das hieß mit anderen Worten, daß sogenannte „redliche Erwerber“ „arisierten“ Eigentums aus dem Eigentum der von den Nationalsozialisten ermordeten Juden entschädigt hätten werden sollen! Weiters sah der Entwurf die Auszahlung von Entschädigungen für erlittene Haftzeiten vor und stellte damit die Erfüllung einer langjährigen Forderung
der Opferverbände in Aussicht.70
Die ➤ Israelitische Kultusgemeinde war nicht bereit, diesen neuerlichen Angriff auf die
Rechte ihrer geschädigten Mitglieder hinzunehmen, und führte im Konzerthaus eine Protestversammlung durch; US-Hochkommissär Keyes machte Bundeskanzler Figl in einem Schreiben vom 1. September 1950 nachdrücklich darauf aufmerksam, daß dieser Entwurf sowohl der Londoner Deklaration als auch dem Entwurf des Staatsvertrages widersprach.71
Der Ministerrat beschloß am 5. September, den Antrag zurückzustellen. 72
Doch die Frage einer Novellierung des Dritten Rückstellungsgesetzes blieb weiter auf der
politischen Tagesordnung. 1952 unternahm die Bundesregierung einen neuerlichen Versuch. Am 17. Juli dieses Jahres beschloß der Nationalrat ein Bundesgesetz „über den Ausgleich von Härten in Rückstellungsfällen (Wiedererwerbsgesetz)“.73 Der Text dieses Gesetzes war nach langwierigen Diskussionen aus dem Gesetzesentwurf 1950 hervorgegangen
und sah unter bestimmten Bedingungen die Möglichkeit des Wiedererwerbs bereits rückgestellten „arisierten“ Eigentums durch den „Ariseur“ vor. Heftige Kritik rief die Bestimmung
hervor, wonach bei Überschuldung des Eigentümers vor dem März 1938 keine Rückstellung zu erfolgen gehabt hätte und der „Ariseur“ daher bereits rückgestelltes Eigentum wiedererwerben hätte dürfen.74 Angesichts der katastrophalen wirtschaftlichen Situation Österreichs im Jahr 1938 und der infolge der antijüdischen Maßnahmen und Plünderungen noch
vor dem Verkauf ruinierten Geschäfte stellte diese Bestimmung eine dramatische Verschlechterung der Rückstellungsgesetzgebung dar.
Das Exekutivkomitee des ➤ Alliierten Rates beeinspruchte dieses Gesetz in seiner Sitzung
am 22. 8. 1952 einstimmig, so daß es keine Rechtskraft erlangte.75 Damit war der letzte
Versuch, die Bestimmungen des Dritten Rückstellungsgesetzes zu Lasten der ehemals Verfolgten zu unterlaufen, zu Fall gebracht worden. Entschädigungslos blieben damit aber
auch jene Bauern aus Döllersheim, dem heutigen Truppenübungsplatz Allentsteig, die von
NS-Behörden enteignet worden waren und die dafür „arisierten“ Grundbesitz erhalten hatten. Sie waren rückstellungspflichtig und zählten damit tatsächlich zu Verlierern der Gesetzgebung. Diese Notlage auf Kosten der ehemals Verfolgten lösen zu wollen, konnte allerdings nicht angehen. Hier wäre dem österreichischen Staat die Verpflichtung zugekommen,
aus staatlichen Mitteln solche Härten zu beseitigen.
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Die nicht erfolgte Rückstellung der Wohnungen 76
Nach dem „Anschluß“ 1938 wurden allein in Wien rund 60.000 Mietwohnungen ihren jüdischen Besitzern entzogen,77 zum Teil ohne formale Kündigung des Mietvertrages. Als
nach Kriegsende Verfolgte aus Konzentrationslagern oder dem Ausland zurückkehrten, verfügten sie über keinen Rechtsanspruch, ihre Wohnungen wieder zurückzuerhalten. Im Wege des Wohnungsanforderungsgesetzes78 in Verbindung mit dem Verbotsgesetz konnten
Wohnungen von Nationalsozialisten beschlagnahmt und über das Wohnungsamt wieder
vergeben werden. Angesichts des nahenden Kriegsendes waren zahlreiche Nationalsozialisten in den Westen geflüchtet, ihre leerstehenden Wohnungen wurden neuerlich vermietet.
Doch diese in den ersten Nachkriegsmonaten erfolgten Einweisungen führten bald zu Konflikten mit den nationalsozialistischen Vormietern, da diese nur wenig später mit Hilfe der
Gerichte, die die vorläufigen Einweisungen aus dem Jahr 1945 nicht anerkannten, die
Delogierung des eingewiesenen Verfolgten erzielen konnten. In anderen Fällen wiederum
konnte die Ehefrau des nationalsozialistischen Mieters nachweisen, nie Mitglied der NSDAP
gewesen zu sein, und auf diese Weise die Kündigung des Opfers erreichen.79 Anfang
1950 sah sich Justizminister Tschadek jedenfalls veranlaßt, die Gerichte aufzufordern, die
Delogierung von Opfern nicht länger zuzulassen.80
Bereits das Dritte Rückstellungsgesetz hatte eine Regelung für die Rückstellung entzogener
Miet- und Bestandsrechte, wovon neben Wohnungen auch Geschäftslokale betroffen gewesen wären, in Aussicht gestellt.81 Ein erster Entwurf kam 1947 über Ausschußberatungen
nicht hinaus und wurde angesichts der nahenden Wahlen 1949 wieder fallengelassen.82
Obschon Bundeskanzler Figl von US-Hochkommissär Keyes mehrmals aufgefordert wurde,
endlich ein Gesetz zur Wohnungsrückstellung zu verabschieden,83 zeigte sich die Bundesregierung in dieser Frage unnachgiebig. Bundesminister Tschadek bezeichnete 1950 ein
solches Gesetz als „eine absolute Gefahr“, da dadurch „eine unbedingte Beunruhigung
unter der Bevölkerung entstehen“ würde.84 Ein trotzdem in diesem Jahr dem Nationalrat zugegangener Entwurf wies zahlreiche Mängel und Einschränkungen auf, die von der Israelitischen Kultusgemeinde kritisiert wurden.85 In der folgenden Gesetzgebungsperiode wurde
ein neuerlicher, dem vorhergehenden ähnlicher und wiederum ungenügender Entwurf vorgelegt,86 der abermals nicht bis zur Behandlung im Nationalrat gedieh. Aufgrund dieses
Zögerns der Bundesregierung, hier in der unmittelbaren Konkurrenzsituation zwischen Opfern und Tätern zugunsten der Opfer zu entscheiden, mußten zahlreiche mittellose Rückkehrer, so sie nicht anderwärts Wohnraum erhalten konnten, über Jahre hinweg in Massenquartieren und anderen unzureichenden Unterkünften leben, während die „Ariseure“ ihre
ehemaligen Wohnungen nach wie vor innehatten. Ein Memorandum des ➤ „Claims Committee“ wies 1953 darauf hin, daß nach wie vor 800 Mitglieder der Israelitischen Kultusgemeinde in „unerträglichen Untermieten oder in Rückkehrerlagern oder sogar in Obdachlosenherbergen“ leben mußten.87 Der bereits erwähnte Jurist ➤ Dr. Walther Kastner, der nach
eigenen Angaben selbst in einer vormals einem Juden gehörenden Wohnung lebte,88 stellt
als Begründung für die Nicht-Verabschiedung dieses Gesetzes fest: „Diese Regelung hätte
der Interessenslage tatsächlich nicht entsprochen. Es ist zu bedenken, daß in Wien 1938
fast 200.000 Juden gewohnt hatten, aber gegenwärtig nur etwa 7000 Juden wieder in
Wien ansässig sind.“89 Wieviele aus Österreich vertriebene Menschen nicht zurückkehrten,
weil sie keine Möglichkeit sahen, hier wieder Wohnung und Existenz zu finden, wird sich
wohl nie feststellen lassen.
Weitere Maßnahmen
In der zweiten Hälfte der fünfziger und zu Anfang der sechziger Jahre wurde noch eine
Reihe von Gesetzen zur Erfüllung offener Entschädigungsforderungen vom Nationalrat verabschiedet. Anlaß dazu waren unter anderem die seit 1953 laufenden Verhandlungen des
„Committee for Jewish Claims on Austria“ mit der österreichischen Bundesregierung sowie
Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
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Massenquartiere
und
unzureichende
Unterkünfte
„Ohne den Staat weiter damit zu belasten ...“
„Kriegs- und
Verfolgungssachschädengesetz“
Erfassung des
„erblosen“
Vermögens
die Bestimmungen des Artikels 26 des Staatsvertrages, die die Republik zur Rückstellung
entzogenen Eigentums verpflichteten.90
Das Kriegs- und Verfolgungssachschädengesetz 91 1958 sah teilweisen Ersatz für Hausrat
und Wohnungseinrichtungen vor, die infolge von Kriegseinwirkungen oder politischer Verfolgung verloren gegangen waren. Entschädigung wurde aber nur bis zu einer gewissen
Höhe und abhängig vom Jahreseinkommen des Geschädigten geleistet. Auf diese Weise
war wiederum – so wie auch in der Opferfürsorgegesetzgebung und teilweise aufgrund
der „Billigkeitserwägungen“ im Dritten Rückstellungsgesetz – eine Verschränkung von Entschädigung und sozialer Bedürftigkeit vorgenommen worden. Gleichfalls 1958 verabschiedete der Nationalrat das Gesetz zur Entschädigung für vom Deutschen Reich eingezogene
Lebensversicherungen, dessen Anmeldefrist aber nur auf ein Jahr bemessen war,92 so daß
nicht in Österreich lebende Verfolgte oft erst zu spät davon erfuhren.93
Nachdem seit 1945 auf die Erfassung des erblos gebliebenen jüdischen Eigentums gedrängt worden war, die auch das Dritte Rückstellungsgesetz bereits in Aussicht gestellt
hatte, wurde im Auffangorganisationsgesetz 94 die Gründung von ➤ Sammelstellen zur Erfassung des erblosen Vermögens ermordeter Juden und politisch Verfolgter bestimmt.95
Erst am 22. März 1961 verabschiedete der Nationalrat das Gesetz über den „Fonds zur
Abgeltung von Vermögensverlusten politisch Verfolgter“.96 Mit Hilfe dieses Fonds sollten infolge nationalsozialistischer Verfolgung erlittene Verluste an Wertpapieren, Bankkonti und
Bargeld sowie Verluste infolge erzwungener Entrichtung diskriminierender Abgaben und
Steuern (Judenvermögensabgabe, Reichsfluchtsteuer) entschädigt werden. Kleinere Verluste
wurden zu 100 %, größere mit 48,5 %, jedoch mindestens mit öS 47.250,- entschädigt.97
Zusammenfassung
Da die Republik Österreich aus außenpolitischen Opportunitätserwägungen bis zur Regierungserklärung aus dem Juli 199198 jede Verantwortung für die Verbrechen des NS-Regimes
dem Deutschen Reich anlastete und für sich und seine Staatsbürger leugnete, wiesen die verantwortlichen Politiker seit Kriegsende jede Verpflichtung zu Entschädigungsleistungen und
„Wiedergutmachung“ strikt von sich. Daher wurde auch die Rückstellungsgesetzgebung auf
jene Schäden beschränkt, in denen eine Naturalrestitution möglich war. Vor allem im Dritten
Rückstellungsgesetz war aber der Rückzug des Staates aus der Verantwortung in mehrfacher
Hinsicht problematisch. Die Delegation an den unmittelbaren Konflikt zwischen dem „Erwerber“ und dem ehemals Verfolgten bedingte in vielen Fällen per se bereits ein Ungleichgewicht: Der zurückgekehrte „geschädigte Eigentümer“ war in vielen Fällen mittellos, benötigte
die Rückstellung zur Wiederaufrichtung seiner Existenz, verfügte jedoch gleichzeitig nicht
über jenes Beziehungsnetz, das dem „Erwerber“ zur Verfügung stand, den Anwaltskosten
und langwierige Verfahren lange nicht im selben Ausmaß belasteten. Darüber hinaus erzeugte die staatliche Absenz tatsächliche Ungerechtigkeiten für beide Seiten. Nicht mehr
auffindbares entzogenes Eigentum wurde nicht ersetzt – oder erst in den späten fünfziger
Jahren – , Käufer, die wirklich nicht über die Vorgeschichte ihres Besitzes informiert waren
und diesen später rückstellen mußten, gingen manches Mal dann entschädigungslos aus,
wie eben einige der aus dem Gebiet von Döllersheim abgesiedelten Bauern.
Aus: Zeitgeschichte, Nr.11/12, 1993, Studien Verlag, S. 367-381.
1
2
Erläuternde Bemerkungen zu dem Gesetz über die Nichtigkeit
von Vermögensentziehung (3. Rückstellungsgesetz), 45. Sitzung
des Ministerrates, 12. 11. 1946. Archiv der Republik, BM für Unterricht, Ministerratsprotokolle, Karton 4.
Zur Diskussion des Begriffes der „Wiedergutmachung“ siehe: Brigitte Bailer, Wiedergutmachung kein Thema. Österreich und die
110
3
4
Opfer des Nationalsozialismus, Wien 1993, S. 12 ff.
Siehe dazu auch die Literaturdiskussion in Bailer, a. a. O., 14 ff. sowie Literaturverzeichnis.
Robert Knight, „Ich bin dafür, die Sache in die Länge zu ziehen“.
Die Wortprotokolle der österreichischen Bundesregierung von 1945
bis 1952 über die Entschädigung der Juden, Frankfurt/M. 1988.
Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
Brigitte Bailer-Galanda
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Die „Nürnberger Gesetze“ betrafen neben den Mitgliedern der
Kultusgemeinden auch zahlreiche Menschen, die selbst keine jüdische Identität mehr hatten, sowie sogenannte „Mischlinge“, mit
Juden verheiratete Personen usw.
Dr. F. R. Bienenfeld, Dr. C. Kapralik, Draft Memorandum on Losses
of Austrian Jewry, 19. 5. 1953, Nachlaß Albert Loewy, Institut für
Zeitgeschichte der Universität Wien. Dieselbe Summe nennt
Gustav Jellinek, Die Geschichte der österreichischen Wiedergutmachung, in: Josef Fraenkel, The Jews of Austria. Essays on their
Life, History and Destruction, London 1967, S. 396.
Gertraud Fuchs, Die Vermögensverkehrsstelle als Arisierungsbehörde jüdischer Betriebe, Diplomarbeit am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Wirtschaftsuniversität Wien,
Wien 1989, S.18 ff., S. 166.
Zur Geschichte der Vermögensverkehrsstelle und Durchführung
der „Arisierungen“ siehe Gertraud Fuchs, a. a. O.
a. a. O., S. 166.
Siehe dazu unter anderen: Jonny Moser, Die Verfolgung der Juden,
in: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes
(Hrsg.), Widerstand und Verfolgung in Wien 1934-1945, Wien 1975,
Band 3, S. 195 ff.; Elisabeth Klamper, Die Situation der jüdischen
Bevölkerung in Wien vom Ausbruch bis zum Ende des Krieges, in:
Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hrsg.),
Jüdische Schicksale, Berichte von Verfolgten , Wien 1992, S. 164 ff.
Gerhard Botz, Wohnungspolitik und Judendeportationen in Wien
1938-1945. Zur Funktion des Antisemitismus als Ersatz nationalsozialistischer Sozialpolitik, Wien 1975, bes. S. 28; zur Vorgangsweise der Gemeinde Wien: Herbert Exenberger; Johann Koss, Brigitte
Ungar-Klein, „Kündigungsgrund Nichtarier“. Aus- und Umsiedlungen jüdischer Mieter aus Wiener kommunalen Wohnbauten in
den Jahren 1938/39, Projekt P 7835-HiS, Fonds zur Förderung der
wissenschaftlichen Forschung. Wien 1992.
Stenographisches Protokoll der 14. Sitzung des Nationalrates der
Republik Österreich, V. Gesetzgebungsperiode, 15. 5. 1946.
Knight, a. a. O., S. 263.
StGBI. Nr. 10, 10. 5. 1945.
Siehe beispielsweise Karl Renner in der 5. Kabinettsratssitzung
vom 10. 5. 1945, zitiert in: Knight, a. a. O., S. 83; Dr. Alfred Migsch,
Zur Versorgung der Opfer des Naziterrors. Es darf keine persönliche Bereicherung geben! Informationsdienst der Sozialistischen
Partei Österreichs, Sondernummer vom 5. Juni 1945; Kommunistische Partei Österreichs (Hrsg.), Rothschild greift nach Österreich,
o. J.
Der Abgeordnete Kolb als Berichterstatter zum Nichtigerklärungsgesetz, stenographisches Protokoll der 14. Sitzung des Nationalrates der Republik Österreich, V. Gesetzgebungsperiode, 15. 5. 1946.
Vgl. dazu das Memorandum der Staatskanzlei, Auswärtige Angelegenheiten: „Die außenpolitische und die völkerrechtliche Seite
der Ersatzansprüche der jüdischen Naziopfer“, abgedruckt in
Knight, a. a. O., insbes. S. 107.
BGBI. 106/1946.
Siehe dazu auch Gottfried Klein, 1938-1968. Dreißig Jahre: Vermögensentziehung und Rückstellung, in: Österreichische Juristenzeitung, 24. Jahrgang, 11. Februar 1969. Zur Entwicklung aus der
Sicht der Opfer siehe: Akim Lewit, Wiedergutmachung, in: Mahnruf für Freiheit und Menschenrecht. Organ des österreichischen
Bundesverbandes ehemals politisch verfolgter Antifaschisten, Nr.
1, 15. 11. 1946.
BGBI. 156/1946; siehe zu dieser Entwicklung auch Der neue Weg,
Nr. 41/42, 15. 11. 1946.
In Deutschland waren sowohl Entschädigung als auch Rückstellung – dort „Rückerstattung“ – kompakter zusammengefaßt.
Bundesgesetz über die Rückstellung entzogener Vermögen, die
sich im Eigentum der Republik Österreich befinden, BGBI. 53/1947.
Bundesgesetz über die Nichtigkeit von Vermögensentziehungen,
BGBI. 54/1947.
BM für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung, Vortrag an
den Ministerrat über die Rückstellung entzogener Vermögen, die
sich in Verwaltung des Bundes oder eines Bundeslandes befinden
(1. Rückstellungsgesetz), ZI. 11.447-1/1946. Vorgelegt bei der 26.
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Sitzung des Ministerrates am 18. 6. 1946. Archiv der Republik, BM
für Unterricht, Ministerratsprotokolle, Karton 3.
Der neue Weg, Nr. 13/14, 15. 4. 1946; Bericht des Präsidiums der
Israelitischen Kultusgemeinde Wien über die Tätigkeit in den
Jahren 1945-1948, Wien 1948, S. 21 f.; Mahnruf für Freiheit und
Menschenrecht, Nr. 2, 31. 1. 1947. Zur Geschichte des damals überparteilichen Bundesverbandes siehe Bailer, a. a. O., S. 45-52.
Knight, a. a. O., S. 153.
Vgl. Der neue Weg, Nr. 41/42, 15. 11. 1946; Nr. 45/46, 15. 12. 1946,
Nr. 2, Anfang Februar 1947; Schreiben Ministerialrat Dr. Franz
Sobek namens der Rechtskommission des Bundesverbandes vom
5. 12. 1946, Archiv der SPÖ, Korrespondenz des Bundes Sozialistischer Freiheitskämpfer und Opfer des Faschismus, Mappe I.
Paragraph 6 Abs. 1.
Bericht des Präsidiums der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, a.
a. O., S. 22.
Stenographisches Protokoll der 44. Sitzung des Nationalrates der
Republik Österreich, V. Gesetzgebungsperiode, 6. 2. 1947.
Vortrag für den Ministerrat zu dem Entwurf eines Bundesgesetzes
über die Nichtigkeit von Vermögensentziehungen (Drittes Rückstellungsgesetz), vorgelegt bei der 45. Sitzung des Ministerrates
am 12. 11. 1946. Archiv der Republik, BM für Unterricht, Ministerratsprotokolle, Karton 4.
Der neue Weg, Nr. 13, Mitte Juli 1948; Bericht des Präsidiums der
Israelitischen Kultusgemeinde Wien, a. a. O., S. 21 f.
Draft reply to Cable Ref. No. 93346, 6 March 1947. Institut für
Zeitgeschichte der Universität Wien, Nachlaß Albert Loewy, Karton Rückstellung 1947.
BGBI. 143/1947.
BGBI. 164/1949.
BGBI. 199/1949.
BGBI. 207/1949. Kurze, wenn auch mit Rücksicht auf die Biographie des Verfassers zu lesende Anmerkungen zu diesen und anderen Gesetzen finden sich in: Walther Kastner, Entziehung und
Rückstellung, in: Nationalsozialismus und Recht. Rechtssetzung
und Rechtswissenschaft in Österreich unter der Herrschaft des
Nationalsozialismus, Wien 1990, S. 191-225. Zur Person Kastners
siehe Fußnote 44.
Eine ausführliche Dokumentation der Problematik muß einem
größeren Forschungsprojekt vorbehalten bleiben.
Beispielsweise bei der Entscheidung, welche Erträge aus dem „arisierten“ Eigentum an die Verfolgten zurückzustellen seien und in
welchen Fällen der Verfolgte den Kaufpreis an den Erwerber
zurückzuzahlen habe.
Bericht des Präsidiums der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, a.
a. O., S. 21.
Vgl. Dr. Rudolf Braun, Die Rückstellung in Gesetzgebung und Praxis, in: Die Gemeinde, Nr. 2, März 1949.
Bericht von Abraham S. Hyman an The Commanding General,
United States Forces, Austria, vom 4. 2. 1947. Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, Nachlaß Albert Loewy, Karton
Rückstellung 1947.
Bundesgesetz vom 1. Februar 1946 über die Errichtung eines Bundesministeriums für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung,
BGBI. 56/1946.
Stenographisches Protokoll der 97. Sitzung des Nationalrates der
Republik Österreich, V. Gesetzgebungsperiode, 14. 12. 1948. Der
kommunistische Abgeordnete Honner führte einige markante
Fälle namentlich an. Auch Walther Kastner, als Prokurist der
Kontrollbank für die „Arisierung“ von Großbetrieben zuständig
gewesen, war nach dem Krieg als Fachmann für Rückstellungen
ins Krauland-Ministerium geholt worden. Siehe dazu ausführlicher: Bailer, a. a. O., S. 259.
Vgl. beispielsweise Der neue Weg, Nr. 15, Mitte August 1947; Nr.
20, November 1947; Nr. 22, Anfang Dezember 1947; Weltenwende
zu Vernunft und Menschlichkeit. Unabhängige demokratische
Zeitschrift, Oktober 1948.
Vgl. beispielsweise Der neue Weg, Nr. 23, Mitte Dezember 1947;
Die Gemeinde, Nr. 2, März 1948; Der sozialistische Kämpfer, Nr.
4/6, Juni 1950.
Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
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„Ohne den Staat weiter damit zu belasten ...“
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Vgl. beispielsweise stenographisches Protokoll der 38. Sitzung des
Nationalrates der Republik Österreich, VI. Gesetzgebungsperiode,
8. 12. 1950. Der Abgeordnete Dr. Scheff (ÖVP) kritisierte die umständlichen Vorbedingungen für die Erlangung eines Auszuges
aus dem Grundbuch, die die Dauer der Rückstellungsverfahren
unnötig verlängerten.
Dies kommt auch in Interviews mit Verfolgten oftmals zum Ausdruck. Vgl. das Interview mit „Otto Vogel“ in: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hrsg.), Jüdische Schicksale. Berichte von Verfolgten, S. 684 f.
Statistik über den Stand der Rückstellungsverfahren von Ende Oktober 1954. Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, Nachlaß Albert Loewy, Karton Rückstellung Statistiken.
Paragraph 6 Abs. 1 in Verbindung mit Paragraph 5 Abs. 2 des 3.
Rückstellungsgesetzes.
Juristisch fundierte Kritik an dieser Praxis siehe: Georg Graf,
Arisierung und keine Wiedergutmachung. Kritische Anmerkungen
zur jüngeren österreichischen Rechtsgeschichte, in: P. Muhr,
P. Feyerabend, C. Wegeler (Hrsg.), Philosophie – Psychoanalyse –
Emigration, Wien 1992, S. 73 ff.
Vgl. Fuchs, a. a. O., S. 201 ff.
Vgl. Die Gemeinde, Nr. 2, März 1948.
Bericht Dr. F. R. Bienenfeld vom Committee for Jewish Claims on
Austria, o. D. (1953), 9. Institut für Zeitgeschichte der Universität
Wien, Nachlaß Albert Loewy, ungeordneter Bestand.
Graf, a. a. O., S. 72.
Zu dieser Problematik siehe auch die Arbeit von Robert Knight, a.
a. O.
Vgl. beispielsweise „Wir klagen nicht an, sondern fordern Gerechtigkeit“, in: Unser Recht. Organ zur Wahrung der Interessen der
Rückstellungs-Betroffenen, Nr. 4, 1. Jg., Dezember 1948.
Vgl. dazu Bailer, a. a. O., S. 256 ff.
Ab Sommer 1950 verdichteten sich die Gerüchte um Mißbrauch
der Amtsgewalt und Parteienfinanzierung rund um Kraulands
Tätigkeit, die zu seiner Verhaftung und mehreren Prozessen führten, wobei Krauland selbst freigesprochen, seine Mitarbeiter
jedoch verurteilt wurden. Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Österreichische Gesellschaft für Quellenkunde (Hrsg.), Christlich-ständisch-autoritär. Mandatare im Ständestaat 1934-1938, Wien 1991, S. 133.
Vertraulicher Bericht der Legal Division, A. Loewy, H. L. Sultan,
vom 17. 11. 1948. Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien,
Nachlaß Albert Loewy, Karton Rückstellung 1949.
a. a. O.
Die Verifizierung dieser Vermutung bedingt noch weitergehende
Archivrecherchen.
Stenographisches Protokoll der 114. Sitzung des Nationalrates der
Republik Österreich, V. Gesetzgebungsperiode, 22. 6. 1949; der 3.
Sitzung des Nationalrates der Republik Österreich, VI. Gesetzgebungsperiode, 23. 11. 1949. Der Entwurf sah beispielsweise vor,
daß es nicht als Vermögensentziehung zu gelten habe, wenn der
in jüdischem Besitz befindliche Betrieb bereits vor dem März 1938
wirtschaftliche Schwierigkeiten gehabt hätte!
Unser Recht, Folge 16, September 1949.
Knight, a. a. O., S. 221 f.
Der sozialistische Kämpfer, Nr. 7/8, Juli/August 1950.
Stenographisches Protokoll der 30. Sitzung des Nationalrates der
Republik Österreich, VI. Gesetzgebungsperiode, 14. 7. 1950. Zu
den Details der Vorgangsweise siehe Knight, a. a. O., S. 227 f.
Knight nennt irrtümlich den 13. 7. als Einbringungstag.
Möglichkeit der Revision bereits erledigter Fälle, das Vorsehen einer Enteignungsmöglichkeit nach erfolgter Rückstellung u. a.
Knight, a. a. O.; Der sozialistische Kämpfer, Folge 7/8 Juli/August
1950.
Der sozialistische Kämpfer, ebda.
Zur Auseinandersetzung um die Haftentschädigung siehe Bailer,
a. a. O., S. 62-77.
Knight, a. a. O., S. 229 ff.
Knight, a. a. O., S. 232 ff.
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Stenographisches Protokoll der 96. Sitzung des Nationalrates der
Republik Österreich, VI. Gesetzgebungsperiode, 17. 7. 1952.
Details finden sich: Stenographisches Protokoll der 96. Sitzung
des Nationalrates, a. a. O., sowie Bericht (vermutlich der Legal
Division) über Restitution Legislation in Austria, o. D., Institut für
Zeitgeschichte der Universität Wien, Nachlaß Albert Loewy, ungeordneter Bestand.
Vertraulicher Bericht The Problem of Internal Restitution, o. D.,
Institut für Zeitgeschichte, a. a. O.
Bei dieser Frage muß auch der Wert der Wohnungen mitberücksichtigt werden, den diese nach heutigen Maßstäben darstellen,
sowie die Kosten, die den Verfolgten durch die neuerliche Notwendigkeit der Wohnraumbeschaffung nach 1945 erwuchsen.
Siehe Fußnote 11.
StGBI, 138/1945, vom 22. 8. 1945.
Siehe dazu unter anderen: Der sozialistische Kämpfer, Nr. 7/8,
Juli/August 1950.
Neues Österreich, 19. 1. 1950.
Paragraph 30 des 3. Rückstellungsgesetzes.
Bericht der Legal Division „Present status of Restitution Legislation in Austria“ vom 27. 10. 1948. Institut für Zeitgeschichte der
Universität Wien, Nachlaß Albert Loewy, ungeordneter Bestand.
Knight, a. a. O., S. 215 ff., S. 221 f., S. 236 f.
Knight, a. a. O., S. 233.
Dr. Rudolf Braun, Das 8. Rückstellungsgesetz. Bemerkungen zur
Regierungsvorlage. Institut für Zeitgeschichte der Universität
Wien, Nachlaß Albert Loewy, ungeordneter Bestand. Das Rückstellungsgesetz für Miet- und Bestandsrechte wurde vorerst als
5. Rückstellungsgesetz angekündigt, aufgrund des Aufschubs
wäre es das 8. Rückstellungsgesetz gewesen.
Schreiben des Rechtsbüros der Israelitischen Kultusgemeinde Wien
an das Bundesministerium für soziale Verwaltung, 13. 10. 1953.
Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, Nachlaß Albert
Loewy, ungeordneter Bestand.
Vereinigter Exekutivausschuß für jüdische Forderungen an Österreich, Memorandum über Ansprüche aus dem Titel entzogener
Wohnungen, 1. 7. 1953. Institut für Zeitgeschichte der Universität
Wien, Nachlaß Albert Loewy.
Gespräch der Autorin mit Dr. Walther Kastner, Tonbandprotokoll
im Privatbesitz von Dr. Gabriele Anderl.
Walther Kastner, Entziehung und Rückstellung, in: U. Davy et al.
(Hrsg.), Nationalsozialismus und Recht. Rechtssetzung und Rechtswissenschaft in Österreich unter der Herrschaft des Nationalsozialismus, Wien 1990, S. 196.
Siehe dazu Dietmar Walch, Die jüdischen Bemühungen um die
materielle Wiedergutmachung durch die Republik Österreich,
Wien 1971; Bailer, a. a. O., S. 77-93.
BGBI, 127/1958 vom 25. 6. 1958. Zur Vorgeschichte siehe Bailer, a.
a. O., S. 83 ff.
BGBI, 130/1958 vom 26. 6. 1958. Die Anmeldefrist endete mit 30.
6. 1959.
Vgl. Albert Sternfeld, Betrifft: Österreich. Von Österreich betroffen, Wien 1990, S. 206 ff.
BGBI, Nr. 73/1957 vom 13. 3. 1957.
Zur Tätigkeit der Sammelstellen siehe den Bericht von Dr. Georg
Weis, Sammelstelle A, B. Schlußbericht (1957-1969); Walch, a. a.
O., S. 111-138.
BGBI, Nr. 100/1961 vom 22. 3. 1961.
Maßnahmen der Republik Österreich zugunsten bestimmter
politisch, religiös und abstammungsmäßig Verfolgter seit 1945,
hrsg. v. Bundespressedienst, Wien 1986 (Österreich-Dokumentationen, 9). Zur Vorgeschichte des Fonds siehe Bailer, a. a. O. Zum
Vergleich des Geldwertes: die durchschnittliche Alterspension
eines Angestellten betrug 1961 S 1500.-.
Bundeskanzler Dr. Vranitzky erklärte vor dem Nationalrat, Österreich müsse sich „zur Mitverantwortung für das Leid, das zwar
nicht Österreich als Staat, wohl aber Bürger dieses Landes über
andere Menschen und Völker gebracht haben“, bekennen. Zitiert
nach: Salzburger Nachrichten, 9. 7. 1991.
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Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
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R E H A B I L I T I E R U N G D E R J U D E N O D E R M AT E R I E L L E W I E D E R G U T M A C H U N G – E I N V E R G L E I C H
FRANK STERN
Sechs Millionen Morde kann man nicht wiedergutmachen, Milliarden geraubten Vermögens nicht wirklich rückerstatten. Den Überlebenden ist nichts anzudienen, was ihrem Leben
ohne Hitler, ohne den Nationalsozialismus, ohne das deutsche Gas entsprechen könnte.
Insofern läuft der jahrzehntelange Disput über die sogenannte Wiedergutmachung im
Widerspruch zu zahlreichen Veröffentlichungen auf eine einfache Tatsache hinaus: Es kann
keine Wiedergutmachung für die Verbrechen des Dritten Reiches geben, genausowenig
wie die Vertreibung der Juden aus Spanien vor fünfhundert Jahren, die das Schicksal der
europäischen Judenheit für lange Jahrhunderte prägte, irgendwie durch nachträgliche Maßnahmen gelindert oder rückgängig gemacht werden könnte.
Die Einzigartigkeit der Verbrechen Nazi-Deutschlands an den Juden Europas entzieht
sich den vereinfachenden Kategorien juristischen Denkens. Ich möchte daher nicht den in
der Bundesrepublik üblichen Aufzählungen, wieviel D-Mark denn nun schon seit 1952 an
die Juden und den Staat Israel gezahlt worden seien, folgen oder den in Österreich
üblichen Zahlenreihen, wieviel Rückstellungsanträgen denn nun entsprochen worden sei.
Rückerstattung, Rückstellung und Entschädigungen sind nach 1945 in der Bundesrepublik
Deutschland und in Österreich nur zum Teil und nur gegen große Widerstände erfolgt.
Angesichts der historischen Dimensionen der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik
kann es hier bis heute nur materielle Annäherungen geben, und die Peinlichkeit von Argumentationsweisen, die Verfolgung, Raub und Massenmord mit Geldsummen aufrechnen,
möchte ich dahingestellt sein lassen. Worum es mir geht, ist die Frage, warum es weder in
der politischen Kultur Deutschlands noch der Österreichs nach 1945 etwas gegeben hat,
was man über materielle Leistungen hinaus als umfassende Rehabilitierung der Juden
bezeichnen kann.
Betrachten wir zunächst Überlegungen, wie sie im Hinblick auf diesen Problemkomplex
von jüdischer Seite seit Beginn der antijüdischen Politik des Dritten Reiches angestellt wurden. Daran anschließend möchte ich dann in zwei weiteren Punkten die konkrete Politik
der Rückstellung/-erstattung und der Wiedergutmachung nach 1945 sowie die „Kehrseite
der Wiedergutmachung“, die negativen individuellen Folgen für viele der Betroffenen, skizzieren. Dabei soll das Schwergewicht nicht auf den an Zahl zunehmenden Veröffentlichungen liegen, die mitunter minutiös den politischen, rechtlichen und diplomatischen Entscheidungsprozeß darstellen, der in der Bundesrepublik Deutschland im Unterschied zu Österreich bereits seit 1952 zu den sogenannten Wiedergutmachungsleistungen führte. Es ist oftmals ein Problem solcher entscheidungsorientierter Studien, daß sie weder die Konzeption
der Wiedergutmachung in Frage stellen noch die politisch-kulturellen Bedingungen des Umgangs der Nachkriegsdeutschen und Nachkriegsösterreicher mit jüdischer Vergangenheit
und Gegenwart berücksichtigen.1
Umfassende Rehabilitierung oder materielle Leistungen
Fragen der Reparationen, der Rückstellung/-erstattung, der Wiedergutmachung waren von
jüdischer Seite bereits vor 1939 Gegenstand von Überlegungen und wurden auf Treffen
jüdischer Repräsentanten in den Kriegsjahren zunehmend thematisiert. 1943 publizierte
Siegfried Moses, der 1949 der erste Staatskontrolleur (Ombudsmann) Israels wurde, eine
Schrift unter dem Titel „Die Wiedergutmachungsforderungen der Juden“, in der er die politische Arbeit zur Einflußnahme auf die Gestaltung der Entschädigungsregelung als vordringlich bezeichnete.2 Im Unterschied zu allen bekannten Formen von Wiedergutmachung
handle es sich, so Siegfried Moses, um eine grundlegend neue Frage, die aus dem Charakter des Nationalsozialismus und daraus resultiere, daß es „ein Krieg der Demokratie gegen
den Faschismus“ sei.3
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Wiedergutmachung – Ein Vergleich
Das „Londoner
Abkommen“ 1943
„Wiedergutmachung“ als
Prüfstein für die
Demokratisierung
Die Alliierten und auch zahlreiche Exilregierungen beschäftigten sich mit der Frage des
organisierten deutschen Raubzuges durch Europa. Rückerstattungen, Reparationen und Entschädigungen wurden in einem internationalen Abkommen Anfang 1943 in London zum
Gegenstand gemacht und begleiteten die Zerschlagung des Nationalsozialismus und die
Gestaltung der europäischen Nachkriegsordnung. Führende jüdische Persönlichkeiten
brachten im internationalen Rahmen das jüdische Interesse an Rückstellung/-erstattung und
Reparationen zum Ausdruck. In öffentlichen Aktivitäten und Kontakten zu alliierten und
deutschen Organen der sich herausbildenden jüdischen Gemeinden und Organisationen
war diese Frage ab 1945 ein ständiges, mit Vehemenz und Selbstverständlichkeit vorgetragenes Thema innerhalb der besetzten Reste des Dritten Reiches. Die deutschen und österreichischen Verwaltungsstellen sowie die Militärregierungen waren somit von Anfang an
mit diesen Forderungen konfrontiert. Unterschiedliche Verordnungen und Gesetze wurden
in den einzelnen Besatzungszonen erlassen, am weitestgehenden 1949 in der amerikanischen Zone in Deutschland, insgesamt aber ohne den berechtigten Forderungen der Juden
in ausreichender Weise zu entsprechen.4
Typischerweise wurden diese Gesetze, auch auf Bundesebene, in den folgenden Jahrzehnten ständig verändert, tausende Verfolgte fielen immer wieder durch die Maschen
dieser gesetzlichen Regelungen. In Österreich gab es noch zusätzliche Widerstände, da
„gerade die zahlreichen Rückstellungen von österreichischen ➤ ‚Ariseuren‘ an ehemalige
österreichische Juden die These der Opferrolle auf geradezu frappierende Weise widerlegen“ mußten.5 In den Nationalratsdebatten zum Rückstellungsgesetz war denn auch eher
zu vernehmen, daß Österreich nichts gutzumachen habe, ja daß im Gegenteil an Österreich viel gutzumachen sei. Argumentationen, die in Deutschland vornehmlich aus dem
nationalistisch-rechtsextremen Lager kamen, schienen in Österreich öffentlich konsensfähig.6
Im Oktober 1946 erschien in der Süddeutschen Zeitung ein Artikel mit dem Titel „Wo
bleibt die Wiedergutmachung?“, in dem es unter anderem hieß:
„Man sollte annehmen, daß die Wiedergutmachung an den von den Nazis seit 1933
verfolgten Juden als eine der vordringlichsten inneren Pflichten jedes einzelnen Deutschen
betrachtet wird. Leider aber ist es noch nicht zur Selbstverständlichkeit geworden, daß die
Opfer des politischen und gleichzeitig auch wirtschaftlichen Terrors der Jahre 1933-1945
entschädigt werden. (...) Für dieses Leid kann es eigentlich keine Wiedergutmachung
geben. Aber selbst das Erreichbare, das Menschenmögliche – es wird unterlassen (...). Was
aber niemals durch Beschlüsse der Staatsautorität allein erbracht werden kann, auch nicht
durch ein Wiedergutmachungsgesetz, ist die psychologische Bereitwilligkeit des deutschen
Durchschnittsmenschen zur Wiedergutmachung, in seinem Rahmen. Aber das Gefühl für
die Pflicht zur Wiedergutmachung ist noch nicht geboren. (...) Hier mangelt es am sittlichen
Gefühl, an dem aus dem Inneren kommenden Rechtsbewußtsein, zu sehr ist das Recht in
den Jahren der Hitlerdiktatur gebeugt worden. Die Frage der Wiedergutmachung an den
Juden wird zu einem tieferen deutschen Problem, nämlich, ob Deutschland wieder zu einem
Rechtsstaat wird. (...) Deutschland bemüht sich, das Vertrauen der Welt wiederzugewinnen.
Seine Bestrebungen zum wirtschaftlichen Neuaufbau nach einem totalen Zusammenbruch
finden die Achtung der Umwelt. Wenn dieses zurückkehrende Vertrauen und die allmählich
wiedergewonnene Achtung nicht beeinträchtigt, sondern zur Sympathie erhoben werden
sollen, dann muß auch der Frage der Wiedergutmachung an den Juden viel größeres
Augenmerk zugewendet werden als bisher. Nicht mit Unrecht darf man dieses Problem als
den Prüfstein der deutschen Demokratie bezeichnen.“ 7
Gegenüber allem späteren Verständnis von materieller Entschädigung und Wiedergutmachung ist die hier formulierte Position umfassender und grundsätzlicher. Der Inhalt
dessen, was bis heute als Wiedergutmachung verstanden wird, ist nicht mit dem ursprünglich damit verbundenen Inhalt auf jüdischer Seite identisch. Wiedergutmachung war eine
ethische, moralische, rechtliche, politische und materielle Forderung, die primär die umfassende Rehabilitierung der Juden in Deutschland zum Inhalt hatte. Die Wiedergutmachung, so verstanden, war von einer notwendigen grundlegenden Entnazifizierung und
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Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
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Frank Stern
Demokratisierung nicht zu trennen. Der ökonomische „Zeitgeist“, der bereits 1946 spürbar
war, reduzierte diesen Kontext in den Jahren nach der Gründung der Bundesrepublik auf
die materielle Seite zur moralischen Absicherung nicht etwa einer Rehabilitierung der
Juden, sondern ganz im Gegenteil zur außenpolitischen Rehabilitierung der Deutschen,
was ja ebenfalls in dem zitierten Artikel angeklungen war. Der Begriff Wiedergutmachung
bezog sich in der deutschen Diskussion schnell auf eine außenpolitische Dimension, indem
er materielle Leistungen an den Staat Israel einbezog und diese materielle Leistung mit
einem Deutschland zu erteilenden moralischen Kredit verband.
Dies war in Österreich so nicht der Fall. Im Nachkriegs-Österreich ging es um die „unmittelbare Abgeltung vermögenswerter Schäden aus der NS-Zeit, wie Rückgabe arisierten
Eigentums, Abgeltung von Verdienst und ähnlichem“.8 Daß hierbei außerordentlich restriktiv
verfahren wurde, ja die Rückstellung faktisch immer weiter zurückgedrängt wurde, lag nicht
zuletzt daran, daß die ersten ➤ Opferfürsorgegesetze von 1945 und 1947 Opfer des vornationalsozialistischen ➤ Ständestaates und des Nationalsozialismus gleichsetzten, die besondere Rolle der antijüdischen Maßnahmen verkannten und eine besondere Verpflichtung
gegenüber den Juden negierten. Im Herbst 1945 beklagten sich Wiener Juden, „daß sie
als ➤ Displaced Persons in Wien leben mußten, während ihre eigenen Häuser und Wohnungen immer noch von Nazis bewohnt würden“.9 Die österreichische Gesetzgebung bewegte sich insgesamt bis 1961 auf der Ebene der Entschädigungsgesetze der Bundesrepublik Deutschland.10 Eine Mitschuld des österreichischen Volkes, aus der sich eine Pflicht zur
Wiedergutmachung ergeben hätte, wurde definitiv abgelehnt.11 Robert Knight faßt dies
pointiert zusammen, wenn er betont: „Eine Bereitschaft, Wiedergutmachung zu zahlen, hätte
die ‚Opferthese‘ des österreichischen Staates unterminiert.“12 Antisemitische Kontinuitäten,
überwiegende Ablehnung der Rückerstattung jüdischen Eigentums und jüdischer Forderungen bei gleichzeitiger Verstaatlichung – wie es hieß – „herrenlosen Vermögens“ sowie die
sich verändernden internationalen Konstellationen paarten sich mit innenpolitischem Druck.
Bei den verschiedenen Gesetzen wurden nur allzuoft die Ariseure bevorzugt, wurde in den
Debatten nicht selten die „relative Anständigkeit“ der österreichischen Nutznießer jüdischen
Eigentums betont.13 Von einer weiterzufassenden Wiedergutmachungs-Konzeption war hier
überhaupt nicht die Rede. Diesen Bedeutungsunterschied gilt es, zunächst zu beachten.
Rehabilitierung von Deutschland/Österreich und die Verschleppung kollektiver und
individueller Entschädigung
Der außenpolitische Berater und Vertraute Adenauers, Herbert Blankenhorn, berichtet, daß
im Oktober/November 1949 Gespräche mit dem Kanzler stattgefunden hätten, „in
welcher Weise es möglich sein würde, das Verhältnis des deutschen Volkes zum jüdischen
Volk und zum Staat Israel auf eine neue Grundlage zu stellen“.14 Blankenhorn betont, „daß
der neue deutsche Staat in der Welt Vertrauen, Ansehen und Glaubwürdigkeit nur wiedergewinnen werde, wenn die Bundesregierung und das Bundesparlament (...) sich von der
Vergangenheit distanziert und durch eine eindrucksvolle materielle Wiedergutmachungsleistung dazu beiträgt, das unglaubliche Ausmaß an erlittener materieller Not zu erleichtern.
(...) Ein solcher Akt echter Wiedergutmachung sollte zur Überwindung der unvorstellbaren
Bitternis dienen, die das nationalsozialistische Verbrechen bei den Juden in aller Welt und
auch bei allen Gutgesinnten hervorgerufen hat. Er sollte ferner auch den Sinn haben, dem
deutschen Volk die Furchtbarkeit der Vergangenheit und die Notwendigkeit einer radikalen
Umkehr bewußt zu machen.“ 15
Das Motiv materiellen Abgeltens der Verbrechen des Dritten Reiches ist mehr als deutlich.
Zugleich konnte der Beraterstab des Bundeskanzlers hier bewußt an die Nöte des jungen
israelischen Staates anknüpfen, der vor schwierigen ökonomischen und sicherheitspolitischen
Problemen stand und an schnellen materiellen Hilfeleistungen interessiert war. Allerdings dauerte es zwei Jahre, bis zum September 1951, bis der Kanzler der Bundesrepublik Deutschland diesen Willensakt vollzog. Nun könnte man sagen, daß es für die junge Republik
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Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
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Wiedergutmachung – Ein Vergleich
Erste Verhandlungen zwischen
der BRD und
Israel 1951 –
„Globalentschädigung“
zwischen November 1949 und September 1951 Wichtigeres gab als die Wiedergutmachung, daß der ökonomische und politische Aufstieg seine ersten Früchte bringen mußte, daß
kein relevanter Druck in dieser Frage gegeben oder daß in der Bevölkerung keine ausreichende Basis für umfangreiche Wiedergutmachungsleistungen vorhanden war. Doch eine derartige Basis war auch 1951, während der Wiedergutmachungs-Verhandlungen, oder zum Zeitpunkt der Ratifizierung des ➤ Luxemburg-Abkommens 1952 nicht vorhanden. Wie ist also die
zeitliche Verzögerung zwischen Adenauers allgemeiner Bereitschaftserklärung und der politischen Umsetzung zu erklären, will man nicht einzig und allein das Zögern der israelischen Regierung, in Verhandlungen mit der deutschen Regierung zu treten, als Grund anführen.
Der erste Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, Hendrik van Dam,
übermittelte im Sommer 1950 der israelischen Regierung ein Gutachten zum „Problem der
Reparationen und Wiedergutmachung für Israel“, das zwar in der Folgezeit keine wichtige
Rolle spielte, aber zentrale Aspekte der deutschen Situation und der zeitlichen Verzögerung
charakterisierte:
„Die ‚Wiedergutmachung‘ – bevor sie zu einem schwierigen Problem des Rechtes wird – ist
ein Problem der Moral und der Politik. Das gilt für beide Teile, das deutsche Volk und das
jüdische Volk. (...) Die Erkenntnis der moralischen Pflicht, die besonders in den ersten Jahren
nach der Kapitulation empfunden wurde, besteht auch heute noch bei einer Anzahl maßgebender Deutscher. Jedoch wird die Neigung, hieraus Konsequenzen zu ziehen – vor allem
durch die Schaffung der notwendigen Gesetzgebung –, schwächer und schwächer. Die Zeit
arbeitet gegen die Wiedergutmachung, wie gegen die Verfolgung der Menschlichkeitsverbrecher und der Denazifizierung. Das in politische Handlung umzusetzende Gefühl der moralischen Verpflichtung erlahmt, wie auch die Besorgnis vor einer Kritik der Besatzungsmächte.
Es bleiben im wesentlichen die realistischen Gedankengänge politischer und wirtschaftlicher
Zweckmäßigkeit. (...) Der von politischen und wirtschaftlichen Motiven diktierte Wunsch, zu
einer Bereinigung des Wiedergutmachungskomplexes zu kommen, die unliebsame NaziErbschaft abzuschütteln, wird noch für eine beschränkte Zeitdauer eine Rolle spielen.“16
Van Dam hob hervor, daß im Rahmen der politischen Entwicklung das Werben um die Deutschen, die zunehmende Übertragung von Funktionen an die Bundesrepublik und die Ablehnung jeglicher Einmischung von außen durch die Deutschen die Verhandlungsposition von Verfolgtenorganisationen schwächten. Die Ost-West-Konfrontation wurde in allen Fragen der Politik spürbar, in der Haltung gegenüber Deutschland vollzog sich ein Bedeutungswandel. Dennoch bestand die amerikanische Seite auf den moralischen Implikationen. Van Dam betonte:
„Bei aller Würdigung der Konsequenzen der Politik der Westmächte gegenüber Deutschland (...) besteht dennoch ein Interesse der Vereinigten Staaten an der Durchführung der
Wiedergutmachung, wie das auch vom ➤ Hohen Kommissar John McCloy wiederholt erwähnt wurde. Ferner ist ein gewisses Alibi der amerikanischen Politik für das Aufgeben der
Denazifizierung und die Kollaborierung erwünscht. Ein derartiges Gegengewicht könnte
die Wiedergutmachung, insbesondere aber die Reparationsleistung für Israel sein.“17
Van Dam bezog sich auf wiederholte Äußerungen von McCloy, der 1950 die Wiedergutmachung als Prüfstein der Demokratie bezeichnet hatte. Ohne den amerikanischen Druck
auf die deutsche Bundesregierung würde es wahrscheinlich eine im materiellen Sinne letztendlich positive Entscheidung nicht gegeben haben. Einen derartig relevanten Druck hat es
von seiten der US-Behörden auf die österreichische Regierung nicht gegeben, obwohl der
US-Hochkommissar in Österreich, Geoffrey Keyes, mehrfach in Briefen an Bundeskanzler
➤ Leopold Figl das Problem der Rückerstattung und materiellen Absicherung der überlebenden Juden angesprochen hatte. In Zusammenhang mit dem Versuch der österreichischen
Regierung, ein sogenanntes „Härteausgleichsgesetz“ zugunsten der Ariseure zu verabschieden, schrieb Keyes am 1. September 1950 u. a., daß die geplante Maßnahme „begründete Zweifel aufwirft, ob Ihre [die österreichische] Regierung sich der internationalen
Reaktion bewußt ist, die durch solche Handlungen geschaffen wird. Sollten Sie sich dessen
bewußt sein, so muß angenommen werden, daß Ihre Regierung an der Berichtigung der
nationalsozialistischen Ungerechtigkeiten nicht mehr interessiert ist und nunmehr beabsichtigt,
116
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Frank Stern
einiges von der guten Arbeit, die sie seit 1945 geschaffen hat, rückgängig zu machen.“ 18
Daraufhin wurde der Gesetzesentwurf fallengelassen, eine umfassende Regelung kam
dennoch nicht zustande. Erst mit dem ➤ Staatsvertrag 1955 wurde teilweise den individuellen
Ansprüchen der Überlebenden und ihrer Kinder entsprochen. Man mag es als eine Spätwirkung des Anschlusses bezeichnen, daß nach einem völlig unzureichenden Beginn in Form
eines Hilfsfonds umfassendere Zahlungen an einzelne Personen erst erfolgten, nachdem die
Bundesrepublik Deutschland auf der Grundlage des Abkommens von Bad ➤ Kreuznach von
1961 größere Summen in einen österreichischen „Wiedergutmachungstopf“ zu zahlen begann. Eine globale Regelung, die den Staat Israel miteingeschlossen hätte, gab es auch
dann nicht. Der außenpolitische Druck, insbesondere von amerikanischer Seite, entsprach
nicht dem auf die Bundesrepublik Deutschland, die sich der Wiedergutmachung als eines
Instruments der Westintegration zu bedienen wußte. Abgesehen davon war Österreich
auch nicht im selben Ausmaß wie die junge Bundesrepublik Deutschland in der Konfrontation mit dem Kommunismus als wichtiger europäischer Junior-Partner vorgesehen. Die USA
und auch England und Frankreich machten sich für eine österreichische Wiedergutmachungsleistung unter anderem deshalb nicht stark, weil sie ein stabiles Österreich wollten,
und die Sowjetunion ihrerseits war mehr an einem neutralen Österreich interessiert.19
Im Juni 1950 war der Korea-Krieg ausgebrochen, die Konfrontation zwischen Ost und
West hatte sich verschärft. Adenauer, einen möglichen deutschen Militärbeitrag vor Augen,
drängte in einem Aide-Mémoire an die Hohen Kommissare auf eine „Revision des Besatzungsstatuts“.20 Letztendlich ging es der Bundesregierung um die Überwindung des Potsdamer Abkommens und zunehmend um die Rehabilitierung für die durch die Entnazifizierung
betroffenen Deutschen. Souveränität durch Westintegration und Wiederbewaffnung, was
die Rehabilitierung der Wehrmacht einschloß, waren Kernpunkte sowohl des sich entwickelnden Nationalbewußtseins als auch der offiziellen Regierungspolitik.
Zum Hintergrund des Problems der Wiedergutmachung gehört neben der außenpolitischen Dimension ebenso die innenpolitische Dynamik der Jahre 1948 bis 1952. Soziale
Unsicherheit und über 1,5 Millionen Arbeitslose beschäftigten die Öffentlichkeit. ➤ MarshallPlan und Umerziehung zur Demokratie bildeten eine merkwürdige Synthese im öffentlichen
Bewußtsein. Weder in Deutschland noch in Österreich gehörte eine „jüdische Frage“ zu
den zentralen Themen der Tagespolitik. In der Österreich-Politik der westlichen Alliierten
herrschte spätestens seit 1946 die „Fiktion, daß alle Österreicher unschuldig waren“.21 Und
was konnte mithin von einem „Opfer Hitlers“ als Wiedergutmachung erwartet werden?
Antisemitische Kontinuitäten und weit verbreitete Aversionen gegen die jüdischen Displaced
Persons bestimmten die privaten und halb-öffentlichen Diskurse mehr als das von manchen
Politikern – wobei dies in Deutschland eher der Fall war – zur Schau getragene schlechte
Gewissen. Die materiellen Nöte waren bestimmend, nicht die Notwendigkeit, die ➤ Arisierung im Rahmen eines Programms umfassender Demokratisierung rückgängig zu machen
oder gar globale Wiedergutmachung zu leisten.
Ralf Dahrendorf sprach im Rückblick von der damit zusammenhängenden „Ökonomisierung der verhaltensleitenden Wertvorstellungen durch die ganze deutsche Gesellschaft“.22
McCloy bemerkte für die Monate nach der Gründung der Bundesrepublik 1949, daß die
Bemühungen um eine Neuorientierung der Bevölkerung auf einige Schwierigkeiten, ja sogar Widerstand stießen. In Westdeutschland, so McCloy, wären Nationalismus und nationalistische Gruppen aktiver geworden als zur Zeit der Kontrolle durch die Militärregierung.
In einer Rede in Washington, Januar 1950, summierte McCloy unter den wichtigsten Aufgaben amerikanischer Politik in Deutschland, darauf zu bestehen, „daß die Opfer Hitlers
oder deren Erben gerecht und vorurteilslos behandelt werden“. Im Februar kam er in einer
Rede in Stuttgart ausführlich auf diesen Punkt zu sprechen und betonte, daß das Unrecht an
den Verfolgten „mit aller Gerechtigkeit anerkannt und vorbehaltlos in Ordnung gebracht
werden“ müsse.23 Dem entsprach auch die Haltung des US-Hochkommissars in Österreich.
Zugleich ergaben Umfragen durch die amerikanische Hochkommission (HICOG) einige
neue Fakten hinsichtlich vorhandener Vorurteile und nationalistischer Tendenzen. Betrachtet
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Ost-West-Konflikt
Demokratisierung
oder
„Normalisierung“?
Wiedergutmachung – Ein Vergleich
„Wiedergutmachung“ an den
ehemaligen
Nationalsozialisten
Ende des
Besatzungsstatuts
man einige der Umfrageergebnisse, so präsentiert sich folgendes Bild der öffentlichen
Meinung in hiermit zusammenhängenden Fragen im Übergang zu den fünfziger Jahren:
44 Prozent hielten einige Rassen für mehr geeignet zum Regieren als andere. 34 Prozent
hielten einige Rassen für minderwertiger als andere. 28 Prozent meinten, daß ein Jude,
dessen Eltern und Großeltern in Deutschland geboren und aufgewachsen waren, kein richtiger Deutscher sei. Die meisten Befragten, die eine deutsche Nationalität für Juden der
dritten Generation ablehnten, waren unter dreißig, Flüchtlinge und Vertriebene, unregelmäßige Kirchgänger der katholischen und der protestantischen Konfession und hatten niedriges Bildungsniveau sowie geringen sozialen Status.24
Derartige Umfrageergebnisse stellten mithin eine eindrucksvolle Bestätigung der nach
1949 zunächst vorhandenen Vermeidungsstrategie Adenauers und der österreichischen
Regierung dar, nämlich das Thema Juden nicht zu einem innenpolitischen Topos zu machen, die Diskussion darüber eben eher „in die Länge zu ziehen“.
Im Dezember 1950 erließ der Bundestag Richtlinien zum Abschluß der Entnazifizierung,
in denen es hieß: „Die Beendigung der Entnazifizierung soll die Periode der schematischen
Bewertung ganzer Personengruppen wegen ihrer Zugehörigkeit zu Organisationen oder
Einrichtungen der nationalsozialistischen Herrschaft abschließen.“25
Am 11. Mai 1951 beschloß der Bundestag das 131er Gesetz. Ca. 150.000 Beamte
und Angestellte, ehemalige Wehrmachts- und Arbeitsdienstangehörige erhielten ihre vollen
Versorgungsansprüche zurück und konnten erneut in den Staatsdienst eintreten. Bereits vorher war eine Lastenausgleichsregelung für die ca. 13 Millionen Vertriebenen beschlossen
worden. Im Juni berichtete Die Welt von einem „Wettrennen um die Beendigung der Entnazifizierung“,26 in dem es um die Wiedereinsetzung von Beamten ging. Entnazifizierungsakten wurden symbolisch verbrannt, das große Aufatmen begann. In Österreich wiederum
hatte man sich schon längst nonchalant von den alliierten Entnazifizierungsbestrebungen
verabschiedet. Bereits 1948 waren die „minderbelasteten“ Nazis amnestiert worden. 27
Lediglich die sowjetischen Besatzungsbehörden zeigten sich hier anfänglich hartnäckiger.
Aber wie in Deutschland konnte man ja schlicht die Zone wechseln. Bei den Wahlen
1948/49 in Westdeutschland und in Österreich ging es allen Parteien um die Stimmen der
Ehemaligen. Die Entnazifizierung war definitiv gescheitert, die Integration der vormaligen
Nazis in die beiden politischen Kulturen in vollem Gange. Kritik daran wurde zwar
geäußert, blieb letztlich aber wirkungslos. Derartige Entwicklungen beschäftigten die internationale Presse, beeinflußten Publikationen und Diskussionen zur Frage der Wiedergutmachung, bestimmend war jedoch längst die Ost-West-Konfrontation geworden. Die ➤ Containment-Politik entpuppte sich letztlich auch als eine Politik des Containment der Entnazifizierung und in Österreich ebenfalls der Wiedergutmachung.
Im März 1951 hatte die israelische Regierung in einer Note an die vier Siegermächte
Wiedergutmachungs-Forderungen formuliert.
Nach langem Zaudern erfolgte dann endlich die vielzitierte Erklärung des deutschen
Bundeskanzlers vom 27. September 1951, in der er Verhandlungen mit Israel anbot. Zuvor
hatten die Außenminister der drei Westmächte in Washington beschlossen, daß das Besatzungsstatut durch einen Generalvertrag abgelöst werden sollte, der parallel mit einem
Vertrag über einen deutschen Verteidigungsbeitrag in Kraft treten sollte. Wenige Tage nach
der Erklärung über die Bereitschaft zur Wiedergutmachung begannen die Verhandlungen
zwischen Bundeskanzler und Hohen Kommissaren über das Ende des Besatzungsstatuts.
Werfen wir einen Blick auf die Erklärung des deutschen Bundeskanzlers vom September
1951. Sie liest sich in all ihrer Kühle und Nichtbetroffenheit wie eine Pflichtübung, eine Reaktion auf die außenpolitischen Erfordernisse, da – so Adenauer – in der „Weltöffentlichkeit“
„Zweifel laut geworden“ seien, ob die Bundesrepublik „das Verhältnis der Juden zum deutschen Volke auf eine neue und gesunde Grundlage stellen“ wolle. Nicht etwa ein Schuldoder Verantwortungsbewußtsein, antisemitische Vorkommnisse und nationalistische Tendenzen bildeten den Auftakt der Erklärung, sondern außenpolitische Erwägungen. Adenauer
zitierte als positiven Beleg für die „Einstellung der Bundesrepublik zu ihren jüdischen Staats-
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Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
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bürgern“ den Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes, nach dem jeder, „insbesondere jeder Staatsbeamte“, „jede Form rassischer Diskriminierung von sich zu weisen“ habe. Daß
gerade zahlreiche ehemalige DPs staatenlos, mithin nicht Staatsbürger waren, blieb in allen
späteren Würdigungen dieser Rede unbeachtet. Adenauer erklärte für die Bundesregierung
die Bereitschaft, mit „Vertretern des Judentums und des Staates Israel (...) eine Lösung des
materiellen Wiedergutmachungsproblems herbeizuführen“.28 Die Aussagen dieser Erklärung
blieben relativ allgemein, dienten mehr der Exkulpierung der überwiegenden Mehrheit des
deutschen Volkes als dem konkreten Bekenntnis einer Schuld oder Verantwortung. Vom Völkermord und seinen Folgen kein Wort, die begangenen Verbrechen haben kein Subjekt, sind
allenfalls im Namen des deutschen Volkes begangen worden. Fehlende individuell Berechtigte auf der einen Seite, Kriegsopfer, Flüchtlinge, Vertriebene auf der anderen Seite. Derartige
Redeformen wird man in der gesamten Geschichte der Bundesrepublik finden. Liest man dagegen in den Bundestagsdebatten dieser Monate die außerordentlich konkreten Benennungen, wer welche Deutschen wo vertrieben hatte, wie es Flüchtlingen ging, vor allem aber
welch grausames Schicksal die deutschen Kriegsgefangenen erlitten, so wird der distanzierte
Charakter dieser Erklärung noch deutlicher. Diese Haltung deckte sich letztlich auch mit der
politischen und emotionalen Distanz in den Aussagen österreichischer Politiker.
So wie in der Phase unmittelbar nach dem Mai 1945 unter der Oberhoheit der Besatzungsmacht das Verhältnis von Deutschen und Juden und der Kampf gegen den Antisemitismus der Eingriffe von ➤ OMGUS bedurfte, existierte jetzt zwei Jahre nach der Gründung
der Bundesrepublik und sechs Monate nach der Note der Regierung des Staates Israel über
die Wiedergutmachung eine Art Moratorium zwischen Wiedergutmachungsfrage und
Souveränität durch Westintegration.
Eine analoge Entwicklung für Österreich ist nicht zu verzeichnen. Die Konzeption von
Österreich als „erstes Opfer Hitlers“, der Konsens über Österreichs Neutralität und die Verhandlungen über den Staatsvertrag verschoben einen wie auch immer formulierten Anspruch der überlebenden Juden auf Rehabilitierung oder des Staates Israel auf Rückstellung/-erstattung und Wiedergutmachung in den Bereich der Bedeutungslosigkeit. Das
österreichische schlechte Gewissen bedurfte keiner materiellen Tilgung, es war schlicht nicht
vorhanden, da es politisch nicht erforderlich war. Als Antwort auf Forderungen internationaler jüdischer Organisationen nach dem Abkommen mit der Bundesrepublik Deutschland
an Österreich antwortete die österreichische Regierung, Österreich sei als von Deutschen
besetztes Land staatsrechtlich nicht zu Leistungen verpflichtet und trage auch keine moralische Verantwortung, da die Verbrechen an den Juden von den Deutschen ausgegangen
seien.29 Erst nach einigem Druck von seiten des State Department in Washington und des
Foreign Office in London war die österreichische Regierung überhaupt zu Verhandlungen
bereit.30 Ein ➤ Committee for Jewish Claims on Austria wurde gegründet, aber Israel entzog
sich 1952 diesen Verhandlungen mit der voreiligen Erklärung, es habe keine Forderungen
gegenüber Österreich, und folgte damit der Politik der westlichen Alliierten.31 Die Erwägungen in Washington hinsichtlich der perspektivischen Stellung Österreichs in der damit
verbundenen Stabilität des Staates hatten sich durchgesetzt. Die These von „Österreich als
erstem Opfer“ war international in diesem Fall bestimmender als der berechtigte Anspruch,
den die Regierung des Staates Israel hätte geltend machen können. Zudem wollte die israelische Regierung offensichtlich nicht Probleme mit dem ökonomisch viel potenteren Vertragspartner Bundesrepublik schaffen, der ja mit dem Abkommen gerade eine generelle Verantwortung übernommen hatte. Dies alles schwächte die Position des Claims Committee.
Nahum Goldmann berichtet, daß Bundeskanzler ➤ Julius Raab beim ersten Treffen mit Vertretern des Claims Committee schlicht feststellte, daß „sich die Juden und Österreich in der
gleichen Lage befänden, beide seien Opfer des Nazismus“.32
Die Verhandlungen zogen sich zäh in die Länge, die Vorstellungen der österreichischen
Regierung widersprachen den Forderungen des Claims Committee, 1956 wurde endlich
ein Hilfsfonds zur Hilfeleistung für politisch Verfolgte, die im Ausland ihren Wohnsitz hatten,
eingerichtet. Im Juni 1959 kündigte Österreich in einem Schreiben an England, Frankreich
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Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
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Die österreichische
Opferthese und
die Verhandlungen
mit dem Claims
Committee
Wiedergutmachung – Ein Vergleich
„Wiedergutmachung“ und
Westintegration
und die USA die Einrichtung eines Fonds für Opfer des Nazi-Regimes an, die aus religiösen oder rassischen Gründen verfolgt worden waren. Allerdings verabschiedete der Nationalrat kein entsprechendes Budget.33 Erst 1961, als die Bundesrepublik Deutschland finanziell zu Hilfe eilte, erfolgte dies. Zahlungen an Israel hat es jedoch nicht gegeben.
Die DDR als zweiter Nachfolgestaat des Dritten Reiches wiederum entzog sich nach anfänglichen, aber unzureichenden Angeboten jeglicher Verpflichtung einer Wiedergutmachung und beschränkte sich auf höhere Pensionen und individuelle Sonderleistungen für die
Opfer des Faschismus. Auf die Forderungen Israels von 1951 hat die DDR nie reagiert.34
Vormals arisiertes Vermögen wurde im Rahmen der sozialistischen Gesellschaftspolitik verstaatlicht und bildet heute einen Kernpunkt der seit der Herstellung der Einheit Deutschlands
neu aufbrechenden Wiedergutmachungsproblematik. Dabei geht es um das sogenannte
dritte Drittel an Wiedergutmachung, das 1952 offen gelassen wurde.
Am 10. September 1952 war das Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland
einerseits sowie dem Staat Israel und der ➤ Conference on Jewish Material Claims against
Germany andererseits in Luxemburg unterzeichnet worden.35 Die politische Funktion der
„Vereinbarung mit dem Weltjudentum“ für Adenauer kommentiert dessen Biograph HansPeter Schwarz ironisch mit der Bemerkung: „Mit dem Heiligenschein des Wiedergutmachungsabkommens versehen, kann er sich im Frühjahr 1953 auf die ‚United States‘ begeben, um die erste Reise nach Amerika anzutreten.“ 36 Nach dem Selbstgefühl der Regierenden und auch der sozialdemokratischen Opposition hatte die Bundesrepublik die von USHochkommissar McCloy geforderte Feuerprobe bestanden. Die Wiedergutmachung und
der Kalte Krieg ermöglichten die Westintegration.
Für die Bundesrepublik Deutschland der fünfziger Jahre kann mithin als Motto der spätere
ironische Titel eines Theaterstückes von Rolf Schneider gelten: „Wiedergutmachung oder
Wie man einen verlorenen Krieg gewinnt.“ Nachsatz: Da Österreich ja keinen Krieg verloren zu haben scheint, benötigte es auch keine Wiedergutmachung zur Herstellung des
internationalen moralischen Kredits. Das hier treffende Motto wurde vor einigen Jahren in
einer ORF-Talkshow gegeben, als eine Beteiligte ausrief: „Wir sind alle unschuldige Täter.“ 37
Spricht man im Rückblick über Wiedergutmachung und den Kontext materieller Leistungen gegenüber den Juden, so stellt sich natürlich die Frage, inwieweit die Wiedergutmachung in der Tat eine Abkehr von antisemitischen Traditionen und ein neues Verhältnis zu
den Juden bedeutete, das auf einer unmißverständlichen Anerkennung der kollektiven
Schuld und Verantwortung basierte. Anders gesagt, hatte sie im öffentlichen Bewußtsein
der frühen fünfziger Jahre den Stellenwert, den sie Jahrzehnte später einzunehmen scheint?
1951 führte HICOG eine Umfrage durch, mit der „German Opinions on Jewish Restitution and Some Associated Issues“ ermittelt wurden:
„(...) a majority of the West German people disclaimed not only any general guilt for the
misdeeds of the Third Reich, but also any general responsibility of the German citizenry for
rectifying the wrongs that were committed in their name. (...) A large proportion of those who
voiced support for Jewish aid (...) were revealed on attitude-test queries to possess distinctly
unfavorable orientations toward the Jews. Taking the findings all together, the indication is
inescapable that despite the two out of three who professed approval of Jewish restitution, the
majority of West Germans appear to have the kind of adverse attitudes toward the Jews
which either make them outright opponents of restitution, or if verbally approving, highly
doubtful supporters of any measures that might be taken to actually implement such aid.“ 38
Die Wiedergutmachungsdebatte war hinsichtlich der inneren Einstellung der Bevölkerung
völlig konsequenzlos, bestätigte eher noch antisemitische Meinungen. Das wird durch die
Antworten auf die auf S. 125 dargestellte Frage der HICOG-Umfrage aufschlußreich bestätigt.
Weitere Umfrageergebnisse zeigten, daß die Zustimmung zur Unterstützung für Juden
keine Garantie für fehlenden Antisemitismus war. Immer wieder stößt man bei der Auswertung solcher Umfragen, bei der Analyse von Reaktionen auf Juden betreffende Geschehnisse auf diesen Zusammenhang. Die pro-jüdischen und philosemitischen Erklärungen
und Verhaltensweisen, soweit sie öffentlich sind, erfolgen oftmals über einer tieferen Schicht
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Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
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Frank Stern
MEINUNGSUMFRAGE DES FEDERAL GOVERNMENT 39
„As you know, the Federal Government is trying to provide for those who suffered damage through the war or
the Third Reich. Which of these groups should, in your opinion, receive such help and which should not?“
Should receive help
Should not
No opinion
War-widows and orphans
96%
1%
3%
People who suffered damage through bombing
93%
3%
4%
Refugees and Expellees
90%
6%
4%
Relatives of people executed because of participation in
attempt on Hitler’s life on July 20th, 1944
73%
13%
14%
Jews who suffered through Third Reich and war
68%
21%
11%
Quelle: HICIG, Report No. 113, 5.12.1951; vgl. Anna J. and Richard L. Merritt,
Public Opinion in Semisovereign Germany. The HICOG Surveys, 1949–1955, Urbana 1980, S 146f.
von Meinungen und Einstellungen, die ein Konglomerat von traditionellen und neuen antijüdischen oder antisemitischen Elementen darstellen. Das erklärt sowohl das Zögern der
Bundesregierung zu Beginn ihrer ersten Legislaturperiode in dieser Grundfrage des westdeutschen Selbstverständnisses als auch die dann folgende Vehemenz, mit der von der
Tribüne des Parlaments und für die internationale Öffentlichkeit, unter der oft Washington
und das Judentum verstanden wurden, ein philosemitisches Bekenntnis abgelegt wurde. Im
engeren Kreise sah das dann schon anders aus.
In einer der Sitzungen auf höchster Regierungsebene in Bonn, die in der Regel von
Adenauer geleitet wurden, bemerkte Bundesfinanzminister Fritz Schäffer (CSU): „Wenn die
Juden Geld wollen, sollen es die Juden selbst aufbringen, indem sie eine ausländische Anleihe
zeichnen.“40 Das „erste Opfer Hitlers“, die Republik Österreich, blickte hingegen eher nach
Bonn, von wo die Millionen kommen sollten; vor der Frage jüdischen Eigentums stand die
Frage deutschen Eigentums und der von den Deutschen ins Altreich heimgeführten österreichischen Werte. In völliger Verdrehung historischer Tatsachen wurde österreichisches Eigentum,
das – der Opferthese folgend – deutsch geworden war, jetzt dem arisierten Eigentum gleichgesetzt.41 Damit erschien Österreich auch materiell als Opfer Hitlers. Wenn überhaupt, so
dachte man in der Bevölkerung, war Wiedergutmachung an den Österreichern zu leisten.
In Westdeutschland zeigte die Tatsache, daß allenfalls elf Prozent der Bundesbürger das
Wiedergutmachungsabkommen befürworteten, ja 44 Prozent es rundheraus als überflüssig
bezeichneten, daß hier nicht die Glaubwürdigkeit des neuen Deutschland, sondern einzig
die der politischen Entscheidungsträger in einer zweifellos entscheidenden außenpolitischen Situation demonstriert worden war.42 Diese außenpolitische Demonstration hatte
jedoch ein innenpolitisch relativierendes Nachspiel. Als das Vertragswerk im Bundestag am
18. März 1953 ratifiziert wurde, stimmten von 358 Abgeordneten 238 mit Ja, 34 mit
Nein und 86 enthielten sich der Stimme. Die wesentliche Unterstützung erhielt die Gesetzesvorlage von der sozialdemokratischen Opposition, die geschlossen dafür stimmte, zahlreiche Abgeordnete der Regierungsparteien enthielten sich.
Die Bindung der gesamten Wiedergutmachungsthematik an die sich aus dem Kalten Krieg
ergebenden Bemühungen um eine Westintegration der Bundesrepublik fehlte in Österreich.
Hier hatten, wie die von Robert Knight herausgegebenen Protokolle der Sitzungen des österreichischen Bundeskabinetts so eindrucksvoll zeigen, fehlende Sensibilität und antisemitische
Kontinuität jegliche grundsätzliche Wiedergutmachungsregelung von vornherein verhindert.
Die Betonung der Opferrolle Österreichs diente den Legitimationsbestrebungen des nachnationalsozialistischen Staates und mündete in den Versuch, „das Opfer der österreichischen
Bevölkerung auf eine Ebene mit dem der Juden“ zu stellen.43 Ein Schuldbekenntnis im
Namen des österreichischen Volkes erfolgte erst zu Beginn der neunziger Jahre, nachdem
Waldheim-Affäre und öffentliche – auch internationale – Entrüstung über den immer spürbarer werdenden Antisemitismus eine regierungsamtliche Reaktion erforderlich machten.
Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
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Wiedergutmachung – Ein Vergleich
Die „Kehrseite der Wiedergutmachung“
Die Praxis der
„Wiedergutmachung“
Die geforderte Wiedergutmachung auf der Ebene der Rückerstattung und Entschädigung
wurde in den zurückliegenden Jahrzehnten zu einem komplizierten bürokratischen Zahlungsvorgang von seiten des Staates. Materielle Leistungen in diesem Rahmen halfen bei
der Überwindung sozialer Nöte, auch die teilweise Rückgabe oder Entschädigung arisierten Besitzes ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Die Art und Weise der bürokratischen
Abwicklung hatte aber auch – was hier nur angedeutet werden kann – ihre neuen jüdischen Opfer, die staatliche Bürokratie erneut ihre „Judenfrage“.
Anträge wurden verschleppt, administrative Schikanen eingebaut, die den Antragstellern
sowohl in Deutschland als auch in Österreich die Last der Anspruchsbegründung und der
konkreten Nachweise von Schäden auferlegten. Gesundheitsschäden, Minderung der
Erwerbstätigkeit mußten mit Gutachten bewiesen werden, der bloße Aufenthalt in Konzentrations- und Arbeitslagern galt nicht als ausreichend. Die Kausalität hatten und haben die
Betroffenen nachzuweisen.44 Und darüber kann auch die nahezu unüberschaubare Fülle
von Gesetzen und Gesetzesänderungen nicht hinwegtäuschen. Die zwei wichtigen Studien
von Christian Pross und Helga und Hermann Fischer-Hübner beschreiben denn auch detailliert die „Kehrseite der Wiedergutmachung“ in der Bundesrepublik Deutschland, eben den
„Kleinkrieg gegen die Opfer“.
„Nach oft jahrelangem Spießrutenlauf zwischen Paragraphen, Vorschriften, Gutachten
und Sachbearbeitern war mancher Verfolgte so eingeschüchtert, daß er sich mit jeder
noch so dürftigen Abfindung zufriedengab.“45 Zu oft stand den „staatlichen Unrechtshandlungen und ihren unübersehbaren Folgen (...) eine die Höhe des Schadenausgleichs begrenzende gesetzliche Regelung gegenüber. Niemand konnte mit einem nahezu vollen
Ausgleich des ihm angetanen staatlichen Unrechts rechnen, am wenigsten die, die persönliche Verluste und gesundheitliche Schäden erlitten hatten.“ Nicht wenige Antragsteller
empfanden diese erneute „Behandlung“ durch die Nachfolgebehörden des Dritten Reiches
als „Wiederholung des Verfolgungserlebnisses“.46 Nicht selten waren die Beamten, Juristen, Ärzte und Gutachter „die gleichen, die vor 1945 auch in öffentlichen Behörden,
Ämtern und Kliniken tätig waren. Die mit der Begutachtung beauftragten, teils beamteten
Ärzte waren oft nicht unbeteiligt an ➤ Euthanasiemaßnahmen und Zwangssterilisationen.“
Die Antragsteller waren entwürdigenden Prozeduren ausgesetzt, minutiöse Nachweise
und Zeugen wurden verlangt, nicht wenige Überlebende resignierten oder durchlebten
psychisch die Hölle der Lager erneut. Der Psychiater Kurt Eissler faßte dies 1963 in der
Frage zusammen: „Die Ermordung von wievielen seiner Kinder muß ein Mensch symptomfrei ertragen können, um eine normale Konstitution zu haben?“ 47 Die Diskriminierung der
Opfer wurde so mit anderen Mitteln fortgesetzt. Die Psychiaterin Barbara Vogt-Heyder
beschreibt die bundesdeutsche Wiedergutmachungspraxis folgendermaßen: „Es kommt zu
einer Neuauflage der Verfolgung. Opfer werden zu Bittstellern degradiert, und ihr schweres
Verfolgungsschicksal wird nicht verstanden und daher auch nicht entsprechend gewichtet
und gewürdigt.“ 48
Ist die sogenannte Wiedergutmachung nun ein beendigtes Kapitel deutscher und österreichischer Zeitgeschichte? Die Antwort muß verneint werden. Es hat Jahre gedauert, bis
schließlich überdeutlich geworden ist, daß eine Entschädigung für die Opfer des Nationalsozialismus noch lange nicht abzuschließen ist. Es sei nur an die Zehntausende zählenden
Zwangsarbeiter des Dritten Reiches im Altreich oder in Österreich oder an die Sinti und
Roma, die Homosexuellen und Zwangssterilisierten erinnert (...).49 Die materiellen Schäden,
die das Dritte Reich verursacht hat, sind nicht wiedergutzumachen, von den physischen und
psychischen Schäden an den direkten Opfern und den Nachfolgeschäden auch an den
Kindern der Überlebenden ganz zu schweigen.“ 50
Eine umfassende moralische, gesellschaftliche und kulturelle Rehabilitierung der Juden hat
es nach 1945 in keinem der drei Nachfolgestaaten des Dritten Reiches gegeben. Auch
dies ein später Erfolg Hitlers?
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Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
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Frank Stern
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Vgl. u. a. Ludolf Herbst/Constantin Goschler (Hrsg.), Wiedergutmachung in der Bundesrepublik Deutschland, München 1989,
darin insbesondere Walter Schwarz, Die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts durch die Bundesrepublik Deutschland.
Ein Überblick, S. 33-54, sowie den eher den Charakter eine Debatte
über Quellenauslegung tragenden Artikel: Kai von Jena, Versöhnung mit Israel? Die deutsch-israelischen Verhandlungen bis
zum Wiedergutmachungsabkommen von 1952, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 34 (1986), Heft 4, S. 457 f.; Constantin
Goschler, Wiedergutmachung. Westdeutschland und die Verfolgten des Nationalsozialismus 1945-1954, München 1992; Michael
Wolffsohn, Die Wiedergutmachung und der Westen – Tatsachen
und Legenden, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zu Das
Parlament, B 16-17/87, 18. 4. 1987, S. 19 f.; ders., Das deutsch-israelische Wiedergutmachungsabkommen von 1952 im internationalen Zusammenhang, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 36
(1988), S. 691 f. Eine in aller Kürze ausgezeichnete Darstellung der
amerikanischen Position findet sich bei Thomas Alan Schwartz,
America’s Germany. John McCloy and the Federal Republic of Germany, Cambridge 1991, S. 175 f. Für Österreich vgl. Gustav Jelinek,
Die Geschichte der österreichischen Wiedergutmachung, in: Josef
Fraenkel (Hrsg.), The Jews of Austria: Essays on their Life, History,
and Destruction, London 1967; Dietmar Walch, Die jüdischen
Bemühungen um die materiellen Wiedergutmachungen durch die
Republik Österreich (Veröffentlichungen des Historischen Instituts
der Universität Salzburg 1), Wien 1971; Robert Knight, Restitution
and Legitimacy in Post-War Austria 1945-1953, in: Leo Baeck Institute Yearbook XXXVI (1992), S. 413 f.
Vgl. Rolf Vogel (Hrsg.), Der deutsch-israelische Dialog. Dokumentation eines erregenden Kapitels deutscher Außenpolitik. Teil 1,
Politik, Bd. 1, München 1987, S. 3 f.
Ebd., S. 12.
Vgl. Walter Schwarz, Die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts, in: Herbst/Goschler, Wiedergutmachung in der Bundesrepublik Deutschland, S. 33 f. sowie Hans-Dieter Kreikamp, Zur
Entstehung des Entschädigungsgesetzes der amerikanischen Besatzungszone, in: ebd., S. 61 f.
Robert Knight (Hrsg.), „Ich bin dafür, die Sache in die Länge zu ziehen“ – Wortprotokolle der österreichischen Bundesregierung 194552 über die Entschädigung der Juden, Frankfurt/M. 1988, S. 43; vgl.
auch Rudolf Bienenfeld, Restitution and Compensation in Austria,
Association of Jewish Refugees in Great Britain, Bulletin VI, Dezember 1952, S. 1 f.
Vgl. Knight, „Ich bin dafür ...“, S. 44.
Süddeutsche Zeitung, 11.10.1946.
Vgl. den Beitrag von Brigitte Bailer-Galanda: Die Maßnahmen der
Republik Österreich für die Widerstandskämpfer und Opfer des Faschismus-Wiedergutmachung. In: Sebastian Meissl u.a. (Hrsg.), verdrängte Schuld, verfehlte Sühne. Entnazifizierung in Österreich
1945-1955, Wien 1986, S. 138. Zur Diskussion um den Begriff vgl.
Yeshayahu A. Jelinek, Israel und die Anfänge der Shilumim, in:
Herbst/Goschler, Wiedergutmachung in der Bundesrepublik
Deutschland, S. 119 f.
Thomas Albrich, Exodus durch Österreich. Die jüdischen Flüchtlinge
1945-1948, Innsbruck 1987, S. 94.
Vgl. hierzu Brigitte Bailer, Gleiches Recht für alle? Die Behandlung
von Opfern und Tätern des Nationalsozialismus durch die Republik
Österreich, in: Rolf Steininger (Hrsg.), Der Umgang mit dem Holocaust. Europa – USA – Israel. Wien/Köln/Weimar 1994, S. 183-197.
Vgl. hierzu Agnes Blänsdorf, Zur Konfrontation mit der NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik, der DDR und Österreich, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zu Das Parlament, B 16-17/87,
18.4.1987, S. 15 f.
Robert Knight, Restitution and Legitimacy in Post-War Austria
1945-1953, in: Leo Baeck Institute Year Book XXXVI (1992), S. 416.
Ebd., S. 426.
Zit. n. Vogel, Der deutsch-israelische Dialog, S. 18 f.
Herbert Blankenhorn, Verständnis und Verständigung. Blätter eines
politischen Tagebuchs 1949-1979, Frankfurt/M. 1980, S. 138.
Hendrik van Dam, zit. n. Vogel, Der deutsch-israelische Dialog, S.19f.
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Ebd., S. 25.
Zit. n. Knight, „Ich bin dafür ...“, S. 230.
Vgl. Bruce F. Pauley, The USA and the Jewish Question in Austria, in:
Leo Baeck Institute Year Book XXXVI (1992), S. 492.
Hans-Peter Schwarz, Adenauer. Der Aufstieg 1876-1952, Stuttgart
1986, Seite 840.
Der US-Diplomat Martin Herz, zit. n. Knight, „Ich bin dafür …“ S. 34.
Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland,
München 1965, S. 470 f.
John McCloy, Ansprachen des amerikanischen Hochkommissars für
Deutschland, Washington, D. C., 23. 1. 1950, Stuttgart, 6. 2. 1950.
Vgl. HICOG, Information Services Division, Opinion Survey Report
No. 1, 30. 12. 1949; vgl. Anna J. and Richard L. Merritt, Public
Opinion in Semisovereign Germany. The HICOG Surveys, 19491955, Urbana 1980, S. 53 f.
Zit. n. Klaus-Jörg Ruhl (Hrsg.), „Mein Gott, was soll aus Deutschland
werden?“ Die Adenauer-Ära 1949-1963, München 1985, S. 334.
Die Welt, 14. 6. 1951.
Vgl. Knight, „Ich bin dafür ...“, S. 50.
Verhandlungen des Deutschen Bundestages. Stenografische
Berichte. 1. Wahlperiode 1949-1953, Bonn 1949 f., S. 6697 f.
Vgl. Blänsdorf, S. 15, hier zit. n. Jelinek, S. 395 f.
Vgl. Pauley, S. 492.
Vgl. Nana Sagi, German Reparations. A History of the Negotiations,
Jerusalem 1980, S. 205.
Nahum Goldmann, Mein Leben als deutscher Jude, Frankfurt/M.
1980, S. 449.
Vgl. Sagi, S. 211.
Vgl. hierzu Angelika Timm, Der Streit um Restitution und Wiedergutmachung in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, in:
Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart (1992), Heft 10/11;
Blänsdorf, S. 16 f.
Vgl. Ron Zweig, German Reparations and the Jewish World: A
History of the Claims Conference, London 1987.
Hans-Peter Schwarz, S. 905.
Vgl. Ruth Wodak/Peter Nowak/Johanna Pelikan/Helmut Gruber/
Rudolf de Cillia/Richard Mitten, „Wir sind alle unschuldige Täter“ –
Diskurshistorische Studien zum Nachkriegsantisemitismus, Frankfurt/M. 1990, S. 266.
HICOG, Report No. 113, 5. 12. 1951; Vgl. Merritt, S. 146f.
Quelle: HICOG, Information Services Division, Opinion Survey
Report No. 113, 5. 12. 1951, NA.Rg. 260.
Zit. n. Jena, S. 472.
Vgl. Knight, „Post-War ...“, S. 424.
Vgl. Norbert Frei, Die deutsche Wiedergutmachungspolitik
gegenüber Israel im Urteil der öffentlichen Meinung der USA, in:
Herbst/Goschler, Wiedergutmachung in der Bundesrepublik
Deutschland, S. 215-230; Wolffsohn, Globalentschädigung für Israel
und die Juden? Adenauer und die Opposition in der Bundesregierung, in: ebd., S. 161-190.
Vgl. Knight, „Ich bin dafür ...“, S. 58.
Vgl. Brigitte Bailer-Galanda, Maßnahmen S. 144
Christian Pross, Wiedergutmachung. Der Kleinkrieg gegen die Opfer, Frankfurt/M. 1988, S. 294.
Helga und Hermann Fischer-Hübner (Hrsg.), Die Kehrseite der
„Wiedergutmachung“. Das Leiden von NS-Verfolgten in den Entschädigungsverfahren, Gerlingen 1990, S. 31.
So der Titel seines Aufsatzes in: Psyche 17 (1963), S. 241 f., Nachdruck in: Hans M. Lohmann (Hrsg.), Psychoanalyse und Nationalsozialismus. Beiträge zur Bearbeitung eines unbewältigten Traumas, Frankfurt/M. 1984.
Barbara Vogt-Heyder, Einige Gedanken zur deutschen Wiedergutmachung, in: Dierk Jülich (Hrsg.), Geschichte als Trauma. Festschrift
für Hans Keilson zu seinem 80. Geburtstag, Frankfurt/M. 1990, S. 65.
Vgl. hierzu Wiedergutmachung und Entschädigung für nationalsozialistisches Unrecht. Öffentliche Anhörung des Innenausschusses
des deutschen Bundestages am 24. Juni 1987, Bonn 1987.
Vgl. William G. Niederland, Folgen der Verfolgung: Das Überlebenden-Syndrom, Frankfurt/M. 1980.
Aus: Frank Stern, Rehabilitierung der Juden oder materielle Wiedergutmachung – ein Vergleich, in: Rolf Steininger
(Hrsg.), Der Umgang mit dem Holocaust. Europa – Israel – USA, Böhlau Verlag, Wien 1994, S. 167-182.
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Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
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„Lücken in der Gesetzgebung“
Interview mit Georg Graf
In welchem Ausmaß wurden bisher Fragen zu Enteignung und Rückstellung in
Österreich erforscht?
Graf: Die Fragen sind in sehr unterschiedlichem Ausmaß erforscht worden. Es hat in den
letzten Jahren sehr viel an historischer Forschung zu diesem Thema stattgefunden, die juristische Aufarbeitung der Gerichtsverfahren, die nach 1945 stattgefunden haben, steht
aber zu einem Großteil noch aus.
Aus welchen Gründen haben sich RechtshistorikerInnen bisher so wenig mit dem
Thema Enteignung – Rückstellung befaßt?
Das ist eine sehr schwierige Frage, die ich nicht konkret beantworten kann. Sicherlich war
es so, dass in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg viele Leute teilweise selbst von dieser
Thematik betroffen waren und daher kein sonderliches Interesse daran hatten sich damit zu
befassen. Irgendwie war man froh, dass die Sache „vorbei“ ist, und hat daher auch kaum
wissenschaftlichen Ehrgeiz entwickelt.
Bestand im Fall von allgemeinen Kriegsschäden, also von Bombenopfern,
von Plünderungen, Vertreibungen ein Anspruch auf Entschädigung?
Ja, es gab eigene Gesetze, wie zum Beispiel das ➤ „Kriegs- und Verfolgungs-Sachschädengesetz“ (KVSG) vom 25. Juni 1958 über die Gewährung von Entschädigungen für durch
Kriegseinwirkung oder durch politische Verfolgung erlittene Schäden an Hausrat und an zur
Berufsausübung erforderlichen Gegenständen. Dieses Gesetz behandelte NS-Opfer und
Kriegsopfer grundsätzlich gleich. Allerdings waren Personen, die über ein Jahreseinkommen von mehr als öS 72.000 verfügten, von Ansprüchen nach dem KSVG ausgeschlossen.
Insofern galt hier ebenso wie im ➤ Opferfürsorgegesetz (OFG) das Fürsorge- und nicht das
Entschädigungsprinzip.
Lässt sich auch etwas über die Praxis sagen? Wurde das Gesetz auch in Anspruch
genommen, wurden Ansprüche gestellt?
Es wurden Ansprüche gestellt, aber wie die konkrete Praxis ausgesehen hat, das wird einer
der Punkte sein, zu denen die Historikerkommission nähere Aufschlüsse oder nähere
Erkenntnisse erarbeiten wird.
Angesichts der Geschichte der Rückstellungen in der Zweiten Republik lässt sich
eindeutig ein Widerspruch zwischen der Aktivität des Gesetzgebers, d.h. der
Verabschiedung einer Vielzahl einschlägiger Gesetze, und den darauf basierenden
Behördenentscheidungen, die eher auf eine Unterbindung und Erschwernis
tatsächlicher Rückstellungen hinweisen, feststellen. Woraus erklärt sich diese
Diskrepanz zwischen Gesetz und Praxis, worin liegt diese begründet?
Dafür sind sehr viele Faktoren maßgebend. Zu differenzieren ist zwischen dem Bereich der
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Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
Interview mit Georg Graf
genuinen Rückstellung, das heißt Fällen, in denen sich zwei Privatpersonen gegenübergestanden haben, und dem Bereich, den man eher mit dem Begriff der Entschädigung bezeichnen könnte, zum Beispiel im Bereich des Sozialversicherungsrechts. Bei Letztgenannten war
es so, dass interessanter Weise die befassten Behörden oftmals die Einstellung vertreten haben, möglichst wenig bezahlen zu wollen. Da ist ein Sparsamkeitsgrundsatz in ganz absurdem Kontext verwendet worden. Was die Rückstellungen betrifft, muss man sagen, dass bereits die Gesetze selber Anlaß für Probleme gegeben haben. Es sind doch einige Fragen offengeblieben, die sich der Gesetzgeber hätte überlegen müssen. Einige Fragen sind im Gesetz
nicht gelöst gewesen und in der Folge haben dann die Richter oftmals Entscheidungen getroffen, die für den Rückstellungspflichtigen günstiger als für den Rückstellungswerber waren.1
Betrachtet man die Praxis, lässt sich dann tatsächlich von Rückstellungen sprechen ?
Ja, sicherlich. Wenn man sich die veröffentlichte Judikatur anschaut, wenn man mit Anwälten spricht, die damals involviert waren, haben natürlich Rückstellungen stattgefunden. Die
Frage ist nur, ob in dem Ausmaß, in dem Vermögensentziehungen stattgefunden haben,
wirklich auch Rückstellungen erfolgt sind oder ob es da Diskrepanzen gibt.
Worin liegt der Unterschied zwischen den ersten beiden Rückstellungsgesetzen vom
26.7.1946 und 6.2.1947 und dem 3. Rückstellungsgesetz vom Herbst 1947, das das
wichtigste, aber gleichzeitig auch das umstrittenste war?
Das ist eigentlich ein technischer Unterschied gewesen. Das 1. Rückstellungsgesetz regelte
jene Fälle, in denen Eigentum durch das Deutsche Reich aufgrund typischer nationalsozialistischer Gesetze, wie zum Beispiel der ➤ 11. und ➤ 13. Verordnung zum Reichsbürgergesetz,
entzogen worden war und sich nun in der Verwaltung der Republik Österreich befand. Das
2. Rückstellungsgesetz regelte Fälle entzogenen Eigentums, das sich nunmehr aufgrund Verfalls im Eigentum der Republik befand. Im 3. Rückstellungsgesetz, das war quasi das Generalrückstellungsgesetz, sind auch jene Sachen erfasst worden, die jetzt Privatpersonen innegehabt haben, das betraf etwa die ganzen entzogenen Unternehmen, und deswegen war
es das Gesetz, zu dem es dann die meisten Verfahren gegeben hat. Noch ein Unterschied
ist vielleicht für Nichtjuristen interessant: Beim 1. und 2. Rückstellungsgesetz hat die Rückstellung in Verwaltungsverfahren stattgefunden, das heißt, man hat sich an die Verwaltungsbehörde gewandt. Daher waren die Verfahren problemloser als die nach dem 3. Rückstellungsgesetz, weil jene vor Gericht abgewickelt wurden. Man hat wirklich gegen denjenigen, der „arisiert“, also Vermögen entzogen hat oder das entzogene Vermögen in seinem
Besitz gehabt hat, prozessieren müssen. Denn nach der Vermögensentziehungsanmeldeverordnung vom Herbst 1946 war jemand auch zur Vermögensanmeldung verpflichtet, der
nicht direkt Vermögen entzogen, sondern von jemandem käuflich erworben hat, der seinerseits das Vermögen entzogen hat.
Ein Grundsatz des 3. Rückstellungsgesetzes lautete, dass die Rückstellung zwischen
zwei Privaten nicht zu Lasten des Staates gehen dürfe. Hat dieser Rückzug des
Staates, etwa mit der Begründung, nicht Rechtsnachfolger des NS-Staates zu sein,
die Möglichkeit der Rückstellung in der Praxis erschwert?
Ja, weil dadurch bestimmte Probleme, die durch die Mitwirkung des Staates leichter lösbar
gewesen wären, nur sehr schwer lösbar geworden sind, vor allem in den häufigsten Fällen
von Vermögensentzug, in denen der Käufer nicht über direkte Gewaltanwendung den Besitz erzwungen hat, sondern bei denen ein Vertrag abgeschlossen wurde und der Käufer
viel zu wenig bezahlt hat. Der Verkäufer hat meistens einen Großteil des Geldes gar nicht
gesehen, weil dieser vom Deutschen Reich unter den verschiedensten Titeln, wie z.B.
➤ Reichsfluchtsteuer und Sühneabgabe eingezogen wurde; das war Geld, das an den
Staat geflossen ist. Und jetzt hat sich bei der Rückabwicklung natürlich die Frage gestellt,
wer den Schaden dieses verlorenen Geldes trägt. Der Staat hat sich dafür nicht verantwortlich erklärt, und so blieb nichts anderes übrig, als entweder dem Rückstellungswerber die
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Lücken in der Gesetzgebung
Kosten aufzuerlegen oder dem Rückstellungspflichtigen. Eigentlich ungerecht, weil der
➤ „Ariseur“ hat ja bezahlt, aber der Rückstellungswerber hat das Geld nie gesehen; in diesen
Fällen wäre sicher die Lösung leichter gewesen, wenn der Staat etwas bezahlt hätte.
Wie hat das dann in der Praxis ausgesehen, zu welchen Lasten ist es
in der Regel gegangen?
Das ist relativ uneinheitlich gehandhabt worden. Ich habe mir die veröffentlichte Judikatur
einmal angesehen, da haben sich eigentlich Entscheidungen in beide Richtungen gefunden.
Es hat welche gegeben, die eher den Rückstellungspflichtigen belastet haben, aber natürlich auch eine Reihe von Entscheidungen, die zu Lasten der Rückstellungswerber gegangen
sind.
Zum Zweck der Rückstellungen wurden eigene Kommissionen eingesetzt.
Wann und von wem wurden diese Kommissionen eingesetzt?
Welche Kommissionen gab es, und wie haben sie gearbeitet?
Bezüglich des 3. Rückstellungsgesetzes war das Verfahren dreistufig aufgebaut, das heißt,
es hat eine erste, zweite und dritte Instanz gegeben. Die dritte Instanz war die oberste
Rückstellungskommission beim Obersten Gerichtshof, und dadurch waren die Rückstellungsverfahren dem normalen Ablauf eines Zivilverfahrens wirklich sehr angenähert, weil es dort
auch dieses dreistufige Verfahren gibt. Im Gesetz selber hat es Regeln gegeben, die eine
bestimmte Anzahl von Richtern, aber auch Laienrichter vorgesehen haben. Man hat sich also um eine halbwegs ausgewogene Besetzung bemüht, doch es hat dann auch immer wieder Streitigkeiten darüber gegeben. Das wird auch einer der Punkte sein, den die Historikerkommission näher untersuchen wird.
Auf welcher Rechtsgrundlage sind diese Kommissionen verfahren?
Die Rechtsgrundlage waren teilweise die Rückstellungsgesetze und sonst subsidiär die allgemeinen Bestimmungen des österreichischen Außerstreitrechts.
Gab es personelle, strukturelle und organisatorische Kontinuitäten zwischen einerseits den einst zuständigen Behörden für die Enteignung und den mit der Rückstellung betrauten Stellen nach 1945, wenn man etwa an die ➤ Vermögensverkehrsstelle denkt, diverse Magistratsabteilungen oder das ➤ Krauland-Ministerium?
Das ist eine Frage, für deren Beantwortung sicher primär Historiker zuständig sind. Es gibt
aber einen sehr prominenten Fall, der diese Kontinuitäten recht gut verdeutlicht: Walther
➤ Kastner, der nach 1938 für die ➤ „Arisierungen“ in der Kontrollbank zuständig war und
nach 1945 in Form eines Konsulentenvertrages für das Krauland-Ministerium gearbeitet
hat. Die Pikanterie, die dann noch dazukommt, liegt allerdings darin, dass im Rahmen
einer großen Veranstaltung der Universität Wien Ende der achtziger Jahre, zu „Recht im
Nationalsozialismus“ Walther Kastner eingeladen wurde, einen Beitrag über Rückstellung
und Arisierung zu verfassen. Er hat dann natürlich ein sehr positives Bild gezeichnet. Das
ist ein Einzelfall, und man darf von Einzelfällen nicht generalisieren, aber wie ich von Kollegen gehört habe, hat es mehrere solche Fälle gegeben.
Betrachtet man die Details der Rückstellungspraxis: Wie wurde zum Beispiel bei
Firmen, die in ehemals jüdischem Besitz standen, verfahren? Die einen wurden
„arisiert“, ein Großteil wurde liquidiert oder durch stillen Boykott lahmgelegt,
aufgelöst. Gab es in solchen Fällen Entschädigungszahlungen?
Nein, das war ja eines der Probleme. Der Grundsatz der Rückstellungsverfahren war, daß
eben das, was heute noch vorhanden ist, zurückgegeben werden muss. Aber bei jüdischen
Unternehmen, bei denen die „Ariseure“ eine Stillegung oder Auflösung oftmals sinnvoller
fanden, etwa zur Ausschaltung der Konkurrenz, war nichts da, was zurückgegeben hätte
werden können. Da hat keine Rückstellung stattgefunden.
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Interview mit Georg Graf
Gab es in solchen Fällen Anträge von ehemaligen BesitzerInnen, die dann
abschlägig beurteilt wurden?
Nach der Logik der Gesetze konnten eigentlich gar keine Anträge mehr gestellt werden.
Man musste erst jemanden finden, der die Sache, die einem entzogen worden war, innegehabt hat, und den konnte man dann klagen. Der Inhalt der Klage war, das zurückzugeben,
was entzogen worden war. Das hat in den Fällen nicht gegriffen, in denen Unternehmen
nicht mehr da waren. Daher gab es gar niemanden mehr, an den sich ein jetzt möglicherweise aus dem Exil Zurückgekehrter hätte wenden können. Da hätte es nur über staatliche
Entschädigungszahlungen Abhilfe gegeben, aber die hat es in diesen Fällen nicht gegeben.
Wie wurde mit Gewinnen aus „arisierten“ und weitergeführten Betrieben verfahren?
An und für sich waren diese Gewinne herauszugeben, aber die Rechtsprechung hat schon
aufgrund gesetzlicher Vorgaben zwischen sogenannten „redlichen“ und „unredlichen Ariseuren“ differenziert. Zur Erklärung, was diese Unterscheidung bedeutet: Der „redliche Ariseur“ war nach der Rechtsprechung der, der ein Vermögen in einer Weise entzogen hat,
das ihn rückstellungspflichtig machte, der aber sonst die Regeln des „redlichen Verkehrs“,
wie es im Gesetz formuliert wurde, eingehalten hat. Die Gerichte haben darunter verstanden, dass der ehemalige Käufer ungefähr einen damals marktüblichen Preis bezahlt hat,
wobei der marktübliche Preis natürlich auch keine objektive Größe darstellte. Oder ob der
Käufer vielleicht vom Verkäufer frei ausgesucht und ihm nicht aufgezwungen wurde. Das
waren die Zugänge, mit denen man hier operiert hat, und wenn jemand in diesem Sinn
„redlich“ war, dann durfte er die Gewinne behalten.
Und wie sah das in der Praxis der Rückstellungen aus, gab es den Verfahren zufolge
überwiegend „redliche“ Erwerber, oder war das nur ein geringer Teil?
Darüber werden sich erst Aussagen treffen lassen, wenn wir die Akten wirklich untersucht
haben. Denn bisher lässt sich nur die veröffentlichte Judikatur beurteilen, aber die wird
oder wurde ja deswegen veröffentlicht, weil es da um Fälle gegangen ist, die schwierige
Rechtsfragen behandelt haben. Das ist aber nicht repräsentativ für die Frage, wie viele
waren „redliche“, wie viele waren „unredliche“ Erwerber. Man wird sich wirklich die Verfahren ansehen müssen, soweit sie noch dokumentiert sind.
Wie wurde in Bezug auf die Rückstellung von Wohnungen und die Aberkennung
des Mietrechtes verfahren? Es hat ja sehr lange Zeit keine entsprechende Regelung
für Wohnungsrückstellungen gegeben. Worin liegen die Gründe dafür?
Da hat es nie eine Regelung gegeben. Es war so, dass die Regierung zwar einen Gesetzesentwurf erstellt hat, der das Problem dieser entzogenen Mietrechte regeln sollte, nur hat
man sich dann nicht getraut oder ganz bewusst nicht dazu entschlossen, dieses Gesetz
auch durchzubringen. Denn das Problem lag darin, dass in den Wohnungen jetzt natürlich
wieder Leute wohnten, die man hätte hinauswerfen müssen. Das war ganz einfach ein zu
heißes Eisen, und daher ist hier keinerlei Wiedergutmachung oder Rückstellung erfolgt. Das
betrifft das Problem der Mietrechte. Wenn jemand natürlich eine Eigentumswohnung besessen hat oder ein Haus, das konnte er schon zurückbekommen. Aber wenn die Mietrechte
entzogen waren, dafür hat es keine gesetzliche Regelung gegeben. Das ist besonders tragisch oder sagen wir besonders schwierig, weil in Österreich die Position des Mieters eine
sehr starke ist. Nach dem Mietrechtsgesetz ist man in Österreich fast unkündbar und hat einen starken Schutz, was die Höhe des Mietzinses betrifft. Der Verlust solcher Mietrechte ist
daher für die betroffenen Leute schon schwerwiegend gewesen.
Sachwerte, Wohnungseinrichtungen, Schmuck – wurde das zurückgestellt?
Für die Praxis der Rückstellung stellte es ein enormes Problem dar, dass die Sachen nicht mehr
vorhanden oder nicht mehr auffindbar waren. Das heißt, da war auch wieder niemand zu finden, der sie innegehabt hat, und aus diesem Grund ist dann oftmals keine Rückstellung erfolgt.
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Lücken in der Gesetzgebung
Wie wurde in Fällen von Vermögensentzug aufgrund sogenannter
„wilder Arisierungen“ verfahren?
Die „wilden Arisierungen“ sind an und für sich auch wie andere Vermögensentziehungen
behandelt worden, nur bestand das Problem natürlich darin, dass hier oftmals die Beweislage eine schlechtere war.
Noch einmal eine Frage zur Rückstellung von Betrieben: Wurde der Betrieb in der
Regel zurückgestellt, oder haben sich ehemaliger „Verkäufer“ und „Käufer“ auf
eine finanzielle Summe geeinigt? Ist eine Entschädigung in Form von
Geldzahlungen geleistet worden, oder ging es tatsächlich um die Rückstellungen
an den ursprünglichen Besitzer?
Dazu muss man etwas weiter ausholen. Das 3. Rückstellungsgesetz hat die Möglichkeit vorgesehen, dass dann, wenn das Unternehmen sehr verändert wurde, der Anspruch des Rückstellungswerbers nur ein Geldanspruch sein konnte. Das heißt, dass er Anspruch auf eine
Entschädigung, aber nicht auf das Unternehmen selbst hatte. Jetzt war es natürlich eine
große Frage, und dazu gibt es auch einiges an Judikatur, wann das Unternehmen so verändert worden ist, dass es nicht mehr in natura zurückgestellt werden musste. Davon zu unterscheiden ist ein anderer Punkt: In vielen Fällen war es für den Rückstellungswerber natürlich
vernünftiger, zum Beispiel wenn er nicht nach Österreich zurückkehren wollte, einen Vergleich zu schließen und quasi eine Zahlung entgegenzunehmen. Doch inwieweit oder in
welchem Umfang Verfahren auf diese Weise durch Vergleich abgeschlossen wurden, wird
auch ein Punkt sein, der in der Historikerkommission genauer untersucht werden wird.
Der Terminus „redlicher Erwerb“ wurde bereits erwähnt, aber auch der Terminus der
„freien Verfügung“ kommt in Rückstellungsprozessen immer wieder vor.
Was ist darunter zu verstehen?
Vor allem ist es um das Problem gegangen, das wir schon angesprochen haben, nämlich um
die Frage der Gelder, die dem NS-Staat zugeflossen sind, wie beispielsweise Sühneabgabe
oder Reichsfluchtsteuer. Nach der Regelung zum Beispiel des 3. Rückstellungsgesetzes musste
der Rückstellungswerber nur jene Gelder zurückstellen, die ihm zur „freien Verfügung“ überlassen wurden. Der Begriff der „freien Verfügung“ bezieht sich rein formal darauf, ob der Erwerber den Kaufpreis zu irgendeinem Zeitpunkt bar auf die Hand erhalten hat; ob der danach faktisch frei darüber verfügen konnte, wurde als irrelevant angesehen. Jetzt hätte man
das natürlich so deuten können, dass wenn sich der NS-Staat das Geld geholt hat, der heutige Rückstellungswerber es nicht zur freien Verfügung bekommen hat. Da haben die Gerichte
eine gewisse Tendenz entwickelt, den Begriff „freie Verfügung“ sehr liberal auszulegen, und
es gibt Entscheidungen, denen zufolge Gelder, die sich der NS-Staat sofort als Reichsfluchtsteuer geholt hat, insofern zur freien Verfügung standen, als damit eine sichere Flucht ins
Ausland ermöglicht wurde. Das waren teilweise sehr zynische Argumentationen, aber man
wird sich anschauen müssen, inwieweit das repräsentative Entscheidungen sind.
Und was passiert in eindeutig nachgewiesenen Fällen von Enteignungen, wenn
aber der enteignete Besitzer zum Beispiel nicht mehr lebt, an wen ging dann das
geraubte Vermögen? Konnten die neuen Besitzer oder die Enteigner dann das
Vermögen legal behalten oder illegal durch Unterlassen von Selbstanzeige?
Naja, es ist so, dass auch die Erben rückstellungsberechtigt, also rückforderungsberechtigt
waren, allerdings nicht alle Erben. Die Menge der Personen, die nach österreichischem
ABGB erbberechtigt wären, ist größer als die, die nach dem 3. Rückstellungsgesetz anspruchsberechtigt waren. Um ein Beispiel zu geben: Ein Onkel des Erblassers ist nach ABGB
berechtigt, nach dem 3. Rückstellungsgesetz konnte er jedoch nur unter der Voraussetzung
Ansprüche geltend machen, wenn er in der Hausgemeinschaft des Erblassers lebte. Aber es
war doch ein recht weiter Kreis Anspruchsberechtigter, so dass mit dem Tod desjenigen,
dem Vermögen entzogen wurde, die Frage der Rückstellung nicht beendet war. Das Problem
128
Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
Interview mit Georg Graf
war natürlich, dass die Erben oftmals nicht auffindbar waren bzw. nicht gewusst haben,
dass hier wirklich Ansprüche zu stellen wären. Bezüglich solcher Vermögenschaften hat es
an und für sich gesetzliche Regelungen gegeben. Es ist vorgesehen gewesen, dass entzogenes Vermögen, das nicht zurückbegehrt wurde, in einen Fonds, zu den sogenannten ➤ Sammelstellen kommt. Diese Sammelstellen sind in den fünfziger Jahren eingerichtet worden, um
das gesamte Sammelstellenvermögen, das nicht beansprucht wurde, auf bedürftige Opfer
des Nationalsozialismus aufzuteilen. Das Problem oder die große Frage ist, inwieweit
tatsächlich alles entzogene und nicht zurückreklamierte Vermögen dort gelandet ist.
Und was passierte dann mit sogenanntem „erblosen“ Vermögen?
Idealerweise ist es zu den Sammelstellen gekommen und dann verteilt worden, das heißt,
das Vermögen wurde verwertet, und die Gelder sind dann ausbezahlt worden. Da hat es
ganz genaue Regelungen gegeben, wie etwa das ➤ 4. Rückstellungsgesetz vom Mai 1961
über die Erhebung von Ansprüchen der Auffangorganisationen auf Rückstellung von Vermögen nach der Rückstellungsgesetzgebung. In diesem Gesetz wurden den Sammelstellen
die Berechtigung gegeben, Ansprüche nach der Rückstellungsgesetzgebung, die von den
Betroffenen bisher nicht erhoben worden waren, geltend zu machen. Besonders wichtig ist
das Auffangorganisationsgesetz, weil aufgrund dieses Gesetzes die Sammelstellen gegründet wurden, die wiederum auf eine Verpflichtung im ➤ Staatsvertrag zurückgeführt wurden.
Weiters gab es das Gesetz über die Aufteilung der Mittel der Sammelstellen von 1962 und
schließlich das Sammelstellenabgeltungsgesetz aus 1966. Der Gesetzgeber war da nicht
unaktiv.
Wie umfangreich ist die Rückstellungsgesetzgebung, wie viele Gesetze sind es circa,
und in welchem Zeitraum sind sie verabschiedet worden?
Rückstellungsgesetze im engen Sinn gab es sieben Stück, aber wenn man alle Gesetze, die
in diesem Umfeld angesiedelt sind, zusammenzählt, wird man auf – ich würde sagen – 40
bis 50 Gesetze kommen. Im Arbeitsprogramm der Historikerkommission haben wir versucht, das möglichst umfassend darzustellen. Die Gesetzgebung reicht größtenteils bis in
die sechziger Jahre zurück. Es gibt aber auch noch entsprechende Gesetze aus den neunziger Jahren, zum Beispiel das ➤ Bundesgesetz vom 4.12.1998 über die Rückgabe von
Kunstgegenständen aus den österreichischen Bundesmuseen. Bestimmte Probleme wurden
eigentlich erst jetzt geregelt.
Angaben über das Ausmaß der Vermögensentziehung während des Nationalsozialismus sind meistens sehr vage oder differieren sehr stark. Lassen sich zum
heutigen Zeitpunkt eindeutige Aussagen treffen, oder sind erst die Ergebnisse der
Historikerkommission abzuwarten?
Die Historiker operieren mit Zahlen, die aber wirklich nur ganz grobe Schätzungen darstellen und furchtbar weit auseinander liegen. Eines der Ziele der Historikerkommission ist es,
hier zu genaueren Zahlen zu kommen. Ob das möglich sein wird, wird man sehen, weil
sich sehr schwierige Bewertungsfragen stellen. Ich muss sagen, ich glaube, dass man eher
skeptisch sein muss, dass man wirklich zu absoluten Zahlen wird kommen können.
Welche anderen gesellschaftlichen Gruppen, außer der jüdischen, wurden in
der NS-Zeit noch systematisch enteignet? Wurden sie in der Rückstellungsgesetzgebung berücksichtigt?
Ja, es hat andere Gruppen gegeben, beispielsweise politisch Verfolgte. Die Rückstellungsgesetze haben für alle gegolten. Das heißt für alle, denen Vermögen entzogen wurde, insoweit
hat es hier eine Gleichbehandlung gegeben. Es wird interessant sein, einmal näher zu untersuchen, ob vielleicht bestimmte Gruppen ihre Sachen schneller zurückbekommen haben als
andere. Beispielsweise hat die katholische Kirche, der ja auch sehr viel entzogen wurde, ihre
Sachen sehr schnell zurückbekommen.
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Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
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Lücken in der Gesetzgebung
Lässt sich aufgrund der heutigen Aktenlage ein einigermaßen vollständiges Bild der
Enteignungen und Rückstellungen von der Historikerkommission erforschen?
Wir sind optimistisch, dass das mit Hilfe moderner Forschungsmethoden möglich sein wird,
obwohl Akten, zum Beispiel Rückstellungsakten, in gewissem Umfang vernichtet wurden. Es
hat vielfach das Bewusstsein gefehlt, dass es sich um sehr wichtige Akten handelt, man hat
diese aufgrund von Platzmangel vernichtet, skartiert.
Die Aktenlage konzentriert sich auf Wien, oder wird man in anderen Bundesländern
auch suchen müssen?
Man wird überall suchen. Es gibt auch in den anderen Bundesländern Akten, aber der
Großteil des Vermögensentzugs hat sich in Wien abgespielt. Das dürften ungefähr 90 %
gewesen sein.
Lässt sich ungefähr sagen, welcher Prozentsatz von Akten skartiert wurde?
Das lässt sich noch nicht abschätzen. Das wird ein Aufgabengebiet der Historikerkommission sein.
Univ.-Prof. Dr. Georg Graf, Jurist, ist Professor am Institut für
österreichisches und europäisches Privatrecht an der Universität Salzburg
und ständiger Experte der Historikerkommission.
1
130
Vgl. Erika Weinzierl, Oliver Rathkolb/Siegfried Mattl/Rudolf E.
Ardelt: Richter und Gesellschaftspolitik. Symposion, Justiz und
Zeitgeschichte am 12./13. Oktober 1995 in Wien. Studienverlag,
Innsbruck 1997 (= Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann
Instituts für Geschichte und Gesellschaft Band 28).
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Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
DER NS-KUNSTRAUB
Der
Mauerbachfonds
Die Geschichte
enteigneter Kunstgegenstände
Während des Nationalsozialismus wurden rund 8000
Objekte, vorwiegend Kunstgegenstände, Bilder, Plastiken, Möbel, Teppiche und Geschirr aus jüdischem
Privatbesitz geraubt, deren frühere BesitzerInnen
bzw. ihre Nachkommen nach dem Krieg nicht mehr
eruiert werden konnten.
1956 hatten die Alliierten in Österreich sichergestellte
Kulturgüter der österreichischen Regierung mit der
Auflage übergeben, deren EigentümerInnen oder
ErbInnen ausfindig zu machen. Seither wurden rund
10.000 Objekte zurückerstattet.
Die restlichen 8000 Objekte wurden in der Kartause
Mauerbach untergebracht. Die Kartause, die nach
1945 als Obdachlosenasyl diente, wurde 1961 nach der
Auflösung des unter Kaiser Joseph II. gegründeten
Religionsfonds der Republik Österreich übereignet. Ab
1979 übernahm die Bundesgebäudeverwaltung die
bauliche Umgestaltung und Verwaltung. Seit 1994 ist
das Bundesdenkmalamt einziger Gebäudenutzer.
Aufgrund des von 1995 novellierten 2. Kunst- und
Kulturbereinigungsgesetzes wurde die ➤ Israelitische
Kultusgemeinde Österreich Eigentümerin des „Mauerbach-Schatzes“.
Dieser wurde am 29. und 30. Oktober 1996 im Museum für angewandte Kunst in Wien durch das Auktionshaus Christie’s versteigert.
Rund 155 Millionen Schilling wurden bei dieser
Auktion ersteigert. Dieser Erlös wird nun vom Bundesverband der Israelitischen Kultusgemeinden
Österreichs, der Arbeitsgemeinschaft der Opfer- und
➤ KZ-Verbände und Widerstandskämpfer Österreichs
an bedürftige Opfer des Nationalsozialismus und
deren Hinterbliebene verteilt. Davon wurden 12%
zur Verteilung an nicht-jüdische Opfer des NS-Regimes übernommen, unter der Voraussetzung, dass diese Personen bisher keine Leistungen aus dem Nationalfonds der Republik Österreich erhalten haben. Die
verbleibenden 88% wurden dem Zweck der Unterstützung bedürftiger jüdischer Überlebender im Inund Ausland gewidmet. Für diese Personen stellen
bereits von der Republik Österreich erhaltene Leistungen keinen Ausschließungsgrund für eine Berücksichtigung dar, ebensowenig die Zuerkennung
einer Leistung durch den Nationalfonds.
Unter dem Namen „Mauerbach-Fonds“ wird der für
bedürftige jüdische Überlebende und ihre Nachkommen bestimmte Erlös von einem Steering Committee
verwaltet, dem Vertreter des Central Committee of
Jews from Austria in Israel, des ➤ Committee for
Jewish Claims on Austria, der ➤ World Jewish Restitution Organisation und des ➤ World Jewish Congress
angehören.
Die Beschlagnahme zweier Bilder von Egon Schiele
während einer Ausstellung der Sammlung Leopold
Anfang Jänner 1998 in New York mit dem Verdacht
auf „Raubgut“ löste in Österreich eine heftige Debatte über den Verbleib von Kunstwerken, die zwischen 1938 und 1945 enteignet worden waren, in
österreichischen Museen aus.
Es wurde rasch deutlich, dass sich trotz der in der unmittelbaren Nachkriegszeit erlassenen Rückstellungsgesetze und auch teilweise erfolgter Rückstellungen
heute noch immer viele während der NS-Zeit enteignete Kunstgegenstände im Besitz österreichischer
Bundesmuseen befinden.
Um zu klären, auf welchem Weg diese Kunstschätze in
den Besitz des Bundes gelangten und wer die rechtmäßigen BesitzerInnen dieser Objekte sind, wurde von
der Bundesministerin für Unterricht und kulturelle
Angelegenheiten Elisabeth Gehrer im Februar 1998
eine Kommission für Provenienzforschung im Bundesdenkmalamt und in den Bundesmuseen eingerichtet.
Diese Kommission begann in den folgenden Monaten mit der Feststellung der Herkunft mehrerer
tausend Kunstgegenstände in den österreichischen
Bundesmuseen.
Ein im Dezember 1998 erlassenes Bundesgesetz sollte
die Rückgabe von Kunstgegenständen aus den österreichischen Bundesmuseen und Sammlungen regeln,
die entweder „im Zuge von Verfahren nach dem Ausfuhrverbotsgesetz zurückbehalten wurden und als
‚Schenkungen‘ oder ‚Widmungen‘ in den Besitz der
österreichischen Museen und Sammlungen eingegangen sind“, oder die „zwar rechtmäßig in das
Eigentum des Bundes gelangt sind, jedoch zuvor
Gegenstand eines Rechtsgeschäftes gewesen sind, das
nach den Bestimmungen des so genannten Nichtigkeitsgesetzes aus dem Jahre 1946 nichtig ist“, bzw.
„die trotz Durchführung von Rückstellungen nicht an
die ursprünglichen Eigentümer oder deren Rechtsnachfolger von Todes wegen zurückgegeben werden
konnten und als herrenloses Gut in das Eigentum des
Bundes übergegangen sind“.
Im Dezember 1998 wurde außerdem ein RückgabeBeirat eingesetzt, der den Wirtschaftsminister, den
Verteidigungsminister und die Kulturministerin in der
Frage der Rückstellung von Kunstobjekten an rechtmäßige BesitzerInnen bzw. deren ErbInnen zu beraten hat.
Im Februar 1999 legte der Beirat einen ersten Bericht
vor über im Bundesbesitz befindliche Kunstschätze der
Rothschild-Sammlung, die in der Folge zurückgestellt
wurden. Weitere Rückstellungen enteigneter Kunstobjekte sollen noch im Laufe des Jahres 1999 erfolgen.
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Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
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„Bei uns werden alle berücksichtigt“
Interview mit Hannah Lessing
Wie ist die Gründung des ➤ Nationalfonds zustande gekommen, auf wessen
Initiative und Betreiben hin?
Lessing: Geredet hat man schon lange darüber, aber plötzlich ist alles sehr rasch ins Laufen
gekommen. In einem Club 2, 1988, hat ➤ Albert Sternfeld gemeint, dass wir in zehn Jahren
immer noch kein Resultat haben werden. Man hat schon damals dauernd danach gefragt,
wann jetzt endlich etwas passiert. 1991 hat Franz Vranitzky in einer Rede von geplanten
Aktivitäten gesprochen, die Grünen haben 1992, 1993 ebenfalls Forderungen in dieser
Richtung gestellt. Sicher ist Sternfeld ein Faktor und ebenfalls die Friedensinitiative von
➤ Döllersheim, als man überlegt hat, wie es zu bewerkstelligen ist, dass man einfach allen
Opfern irgendwie hilft. Warum es dann plötzlich wirklich zu der Fünf-Parteien-Einigung gekommen ist, ist relativ unklar. Aber es waren dann im Parlament alle so weit, dass sie gesagt haben, jetzt machen wir das. Es haben sich nur die Grünen wegen der gesetzlich festgesetzten Höhe der Summe, die ausbezahlt werden soll, nicht einverstanden erklärt. Hinzu
kam noch, dass die Präambel zum Gesetz, in der die Mitschuld der Österreicher an NSVerbrechen anerkannt wurde, abgelehnt worden ist, hauptsächlich von der ÖVP.
Worin liegen die Zielsetzungen und zentralen Aufgaben des Fonds?
Durch die Errichtung des Nationalfonds soll die moralische Mitverantwortung und das Leid,
das den Menschen in Österreich durch den Nationalsozialismus zugefügt wurde, anerkannt
werden und den Opfern in besonderer Weise Hilfe zukommen, wobei wir natürlich wissen,
dass das zugefügte Leid nicht wieder gut gemacht werden kann. Das ist wirklich eine der
Hauptzielsetzungen des Fonds. Aus der Sicht der Mitarbeiter des Fonds war neben der materiellen Geste, die uns vom Gesetz vorgegeben ist, entscheidend, dass dieser Versöhnungsversuch wesentlich stärker im Vordergrund steht. Darum der Parteienverkehr, die Möglichkeit, bei
uns zu reden, zu weinen, zu brüllen, zu schreien, die Möglichkeit, uns immer anzutreffen, telefonisch, per Fax, persönlich. Ich habe auf meinen Dienstreisen Kontakt mit den Menschen
gesucht, bei Veranstaltungen mit mehr als 700 Leuten, das ist wirklich wichtig für uns. Ich
sag’s auch immer wieder in Vorträgen, dass ich meine, dass der Fonds von unserer Seite, von
den Mitarbeitern und auch nach der Auffassung von Nationalratspräsident Fischer, ein Versuch der Versöhnung ist. Und wir sind wirklich jeden Tag erstaunt, wie gut unsere Arbeit ankommt, wie die Leute reagieren, dass sie froh sind, dass man überhaupt mit ihnen spricht! Es
ist beschämend, aber so ist es. Und auf dieser Basis arbeiten wir heute weiter.
Für welche Opfergruppen ist der Fonds zuständig und für welche nicht?
Einerseits gibt es das Gesetz, das 70.000 Schilling pro Person für alle Opfer des Nationalsozialismus vorsieht, und andererseits, was aus diesem Gesetz gemacht worden ist auf der
menschlichen Ebene: der Versuch der Versöhnung, Brücken zu schlagen, den Leuten wirklich
zeigen, dass wir da sind, dass wir ihre Anliegen ernst nehmen. Im Gegensatz zur ➤ MA
12 1 sind bei uns alle Opfergruppen berücksichtigt, d.h. auch die Homosexuellen, die Zeu-
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Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
Interview mit Hannah Lessing
gen Jehovas und die sogenannten „Asozialen“. Das sind die großen Gruppen, die bei der
MA 12 nicht berücksichtigt sind. Bei den „Asozialen“ haben wir z.B. einen sehr schönen Erfolg gehabt: Wir haben im Nationalfonds die ehemaligen „Kinder vom ➤ Spiegelgrund” 2
anerkannt. Sie sind dann in der Folge auch von der MA 12 anerkannt worden. Diese Kinder bekommen heute eine Opferrente. Das einzige Problem, das ich noch sehe, ist, dass die
Opfer vielleicht noch nicht wirklich realisiert haben, ist, dass sie in der Opferfürsorge weiterhin nicht unter dem anerkannt sind, als was sie damals verfolgt wurden, nämlich als sogenannte „Asoziale“. Sie wurden jetzt unter die Gruppe der Behinderten gefaßt, was wirklich
absurd ist. Sie sind vielleicht behindert aus diesen „Heimen“ herausgekommen, nachdem sie
z.B. mit Schwefel gespritzt worden sind, aber sie sind damals als „Asoziale“ verfolgt und interniert worden. Ich weiß, dass es immer wieder an verschiedenen Opfervertretungen scheitert; besonders die Freiheitskämpfer sagen, „Asoziale sind eben Verbrecher“. Es ist ein Faktum, dass zwischen den Opfergruppen immer wieder solche Streitigkeiten bestehen, und ich
versuche mich so wenig wie möglich einzumischen. Aber in puncto Recht muß hier einfach
etwas geschehen. Hier geht es um wirkliche Opfer, die in Kinder-KZs waren. Denen muss
man helfen, und jetzt haben die meisten eben eine Opferrente. Das sind Opferrenten für Invalidität etc. Sie haben nicht nur die ➤ Amtsbescheinigung 3 für Emigration oder für Verfolgung, sondern es wurde anerkannt, dass der Spiegelgrund einem KZ gleichzustellen ist. Das
ist zwar wenig, trotzdem haben sie jetzt teilweise wirklich eine wesentliche Verbesserung ihrer Lebensqualität. Viele dieser Menschen haben es nie geschafft, ein wirkliches Leben aufzubauen, viele von ihnen waren später HilfsarbeiterInnen, sind heute fast alle MindestrentnerInnen. Ein weiterer Unterschied ist, dass die MA 12 die Witwen von Opfern immer schon
anerkannt hat. Wir haben das erst vor zwei Jahren gemacht, weil es bei uns immer es hieß:
nur direkt Betroffene. Ich habe das immer ein bißchen seltsam gefunden, denn ich möchte
nicht wissen, wie das ist, in einem kleinen Dorf zu leben, wenn der Mann damals etwa als
Widerstandskämpfer hingerichtet wurde und keine Lebensmittelkarten da waren. Aber im
Allgemeinen ist es eher so, dass bei uns mehr anerkannt ist als bei der MA 12. Das sind
ganz zwei verschiedene Einrichtungen. In der MA 12 bekommen erstens nur österreichische
Staatsbürger einen ➤ Opferausweis oder eine Amtsbescheinigung, und nur Amtsbescheinigungsbesitzer bekommen eine Opferrente. Die Opferfürsorge hat mehr als 40 Novellen erlebt, z.B. waren ➤ Shanghai und Mauritius lange Zeit nicht als ➤ Getto anerkannt usw. Das
Opferfürsorgegesetz ist ja immer stückerlweise erweitert worden.
Wer leistet die Arbeit des Fonds? Wie sieht die personelle Zusammensetzung aus?
Repräsentiert wird der Fonds von einem Kuratorium, das sind 21 Mitglieder, dem u.a. die
drei Nationalratspräsidenten, der Bundeskanzler, der Vizekanzler, der Außenminister, VertreterInnen der einzelnen Parlamentsfraktionen und anerkannte Persönlichkeiten des öffentlichen, kulturellen und wissenschaftlichen Lebens Österreichs angehören, sowie VertreterInnen der betroffenen Opfer (u.a. Erika Weinzierl, Paul Grosz, ehemaliger Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde, Superintendentin Gertraud Knoll und Weihbischof Helmut Krätzl).
Das Personal besteht aus einer Generalsekretärin, zwei Referentinnen, einer Juristin, einer
Büroleiterin, die das Sekretariat mit drei Sekretärinnen leitet, und sechs WerkstudentInnen.
Ihre Aufgabe liegt im Parteienverkehr sowie in der Bearbeitung und Prüfung der Fragebögen, die ich dann nur mehr überblicksmäßig kontrollieren muss.
Wie macht sich der Fonds seiner Zielgruppe bekannt, im In- und Ausland?
Wir haben keine Inserate geschaltet, sondern zum Glück in den Medien sehr gute Verbündete gefunden, es ist ja auch unter Anführungszeichen eine „schöne Geschichte, weil wir
sind sehr stolz auf das, was wir tun“ – spät, aber doch. Ich war viel im Fernsehen, und es
stand auch viel in den Zeitungen. Immer wieder zu bestimmten Anlässen, z.B. am 5. Mai,
aus Anlass des „Gedenktages gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer
des Nationalsozialismus“. Immer wieder haben sich dann doch ehemalige Opfer gemeldet.
Einerseits, weil sie vorher von uns nicht gewusst haben, oder andererseits, weil sie bisher
Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
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Bei uns werden alle berücksichtigt
N AT I O N A L F O N D S D E R R E P U B L I K Ö S T E R R E I C H F Ü R O P F E R D E S N AT I O N A L S O Z I A L I S M U S
Am 1. Juni 1995 wurde im Nationalrat das Bundesgesetz
über den Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus verabschiedet.
Repräsentiert wird der Nationalfonds von einem 21köpfigen Kuratorium, dem u.a. die drei Nationalratspräsidenten, der Bundeskanzler, der Vizekanzler, der Außenminister, Vertreter der einzelnen Parlamentsfraktionen
und anerkannte Persönlichkeiten aus dem öffentlichen,
kulturellen und wissenschaftlichen Leben sowie VertreterInnen der Betroffenen angehören.
Zur Generalsekretärin des Fonds wurde Frau Mag. Hannah Lessing ernannt, die in Zusammenarbeit mit weiteren
acht MitarbeiterInnen und mehreren WerkstudentInnen
die Aufgaben des Fonds, wie Bearbeitung der Anträge,
Öffentlichkeitsarbeit, Personenverkehr, Recherche etc.,
durchführt.
Das Ziel des Fonds liegt darin, die moralische Mitverantwortung Österreichs an den nationalsozialistischen
Verbrechen anzuerkennen und die besondere Verantwortung gegenüber den Opfern zum Ausdruck zu bringen.
Somit sind die Leistungen des Fonds vor allem auch als
moralische Geste zu verstehen.
Die Leistungen des Fonds – primär einmalige Geldleistungen zwischen 70.000 und 210.000 Schilling – werden
insbesondere an Personen im In- und Ausland vergeben,
die bisher keine oder nur eine völlig unzureichende
Leistung durch die Opferfürsorge erhalten, die in besonderer Weise der Hilfe bedürfen oder bei denen eine
Unterstützung aufgrund ihrer Lebenssituation, z.B. bei
Krankheit, gerechtfertigt erscheint. Dazu gehören Personen, die aus politischen Gründen, aus Gründen der
Abstammung, Religion, Nationalität, der sexuellen Orientierung, aufgrund einer körperlichen oder geistigen
Behinderung oder aufgrund des Vorwurfes der sogenannten „Asozialität“ verfolgt wurden, die auf andere
Weise Opfer typisch nationalsozialistischen Unrechts
geworden sind oder das Land verlassen haben, um einer
solchen Verfolgung durch das nationalsozialistische
Regime zu entgehen.
Bis 31. Dezember 1998 erfolgten rund 25.000 Auszahlungen an Opfer des Nationalsozialismus oder deren
Hinterbliebene.
Weiters kann der Fonds auch Projekte unterstützen,
die den Opfern des Nationalsozialismus zugute kommen
oder der wissenschaftlichen Erforschung des Nationalsozialismus und des Schicksals seiner Opfer dienen, an
das nationalsozialistische Unrecht erinnern oder das
Andenken der Opfer wahren.
nicht wollten oder kein Interesse hatten, doch dann haben sie sich trotzdem dafür entschieden. Im Ausland haben wir uns durch meine Reisen bekannt gemacht. Ich war bis jetzt in
Australien, Amerika, Israel, Frankreich und England. Da habe ich auch sehr viele Pressekonferenzen und Fernsehinterviews gegeben. In Israel war es ein Vorteil, dass ich Hebräisch
spreche und daher auch die Menschen überzeugen konnte, dass man uns „vertrauen“
kann. Die Vertrauensbasis ist für uns sehr wichtig.
Gibt es eine Zusammenarbeit mit anderen in- und ausländischen
Organisationen und Verbänden?
Ja, einerseits natürlich mit den Vertretungsbehörden, Botschaften und Konsulate helfen uns
sehr. Zu manchen Ländern ist der Kontakt besonders intensiv, zum Beispiel zu England und
zu Israel. Dort gibt es auch eine gute Sozialabteilung, und die kümmern sich um Staatsbürgerschaften und Pensionen und sind wirklich sehr bemüht, Amerika auch, also zu den drei
großen Ländern, wo heute noch viele betroffene Menschen leben. Im Inland arbeiten wir mit
allen Opfervertretungen zusammen, eben mit den verschiedenen Roma-Organisationen, mit
den ➤ KZ-Verbänden und Freiheitskämpfer-Verbänden, mit der ➤ Kultusgemeinde, mit den
ZeugInnen Jehovas usw. Wir sind natürlich sehr intensiv mit den verschiedenen Ämtern in
Kontakt, mit der ➤ MA 61,4 ➤ MA 85 und MA 12, die die Vorakten haben. Die Opfer sind
aber auch untereinander anscheinend sehr in Kontakt. Gerade in Südamerika haben wir eigentlich kaum recherchieren müssen, wir haben gleich am Anfang enorm viele Anfragen bekommen. Die Frage ist jetzt, ob wir glauben, dass noch irgendwo jemand sitzt, den wir nicht
gefunden haben. Wir haben aber etwa in Argentinien z.B. 400 Antragsteller, sie sind sowohl über die Botschaften als auch über die jüdischen Kultusgemeinden organisiert, es sind
ja hauptsächlich jüdische Opfer im Ausland. Dort wüssten die Konsulate und die Botschaften
vermutlich, wenn sie jemanden noch nicht gefunden hätten. Ein Land, das problematisch ist,
ist höchstwahrscheinlich England, weil dort zum Teil viele sehr kleine Kinder mit Kindertransporten hinübergekommen sind, die ihre Eltern im KZ verloren haben und von englischen
Familien aufgenommen wurden. Sie haben ihre österreichischen und ihre jüdischen Wurzeln
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Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
Interview mit Hannah Lessing
verloren. Sie werden sich in keiner jüdischen Zeitung angesprochen fühlen und erkennen,
dass es jetzt einen Fonds gibt, der für sie zuständig ist. Es kommt darauf an, in welchem
Bewusstsein diese Kinder aufgewachsen sind und ob sie von ihren Pflegeeltern darüber informiert wurden, dass sie jüdische Kinder sind, die geflohen und eigentlich Österreicher sind.
Wie man sie erreichen könnte, weiß ich bis heute nicht. Wir werden sicher jetzt einmal versuchen, mit der Pensionsversicherung Listen zu vergleichen. Wir haben jetzt noch AntragstellerInnen dazu bekommen, weil sich manche aufgrund des ➤ Mauerbach-Fonds an die Kultusgemeinde gewendet haben, die bisher bei uns nicht erfasst waren. Wir haben sie dann angeschrieben und gefragt, ob wir ihnen irgendwelche Unterlagen zukommen lassen können
usw. Da versuchen wir wirklich auch weiterhin aktiv zu bleiben.
Wie viele Anträge sind pro Jahr vom zur Verfügung stehenden Personal zu bearbeiten?
Im ersten Jahr, im Oktober 95, da haben wir 200 Anträge bearbeitet, aber im nächsten
Jahr waren es über 8000, je nach Budget eben. Im 96er Jahr haben wir 600 Millionen voll
ausgeschöpft mit über 8000 Anträgen, im 97er Jahr ebenfalls, 1998 haben wir 500 Millionen voll ausgeschöpft. Das waren 7000 Anträge.
Wie sieht der Kontakt zwischen den AntragstellerInnen und dem Fonds aus?
In den ersten Monaten haben wir zwei volle Postsäcke pro Tag erhalten – zehn Kilo schwer.
Wir haben an die 200 bis 300 Anträge pro Tag hereinbekommen. Daher haben wir im ersten Monat auch überhaupt niemandem bestätigen können, dass sein Antrag da ist. Wir haben von acht Uhr früh bis zwei Uhr nachts durchgearbeitet, weil wir auch nicht bereit waren,
jede Woche nur 100 Fragebögen auszuschicken. Wir hatten am Anfang 10.000 Adressen,
und an die haben wir innerhalb von einer Woche alle Fragebögen geschickt. Und so sind
sie dann auch zurückgekommen. Im ersten Jahr ein geringer Teil, 1996 und 1997 waren
dann die intensivsten Jahre. Das Geld ist aber trotzdem auch so bemessen worden, dass
man überlegt hat: Wie viele MitarbeiterInnen gibt es, wie viele Anträge könnt ihr bewältigen
bei dieser MitarbeiterInnenzahl? Wissend, dass wir nicht zwei Milliarden innerhalb eines
Jahres bekommen werden, hat man es einfach vernünftig aufgeteilt. 600 Millionen pro Jahr
ist nicht wenig. 1998 waren es 500 Millionen, und jetzt sind es 150 Millionen, weil natürlich weniger Anträge eintreffen. Nochmals zurück zum Kontakt mit den AntragstellerInnen:
Wie gesagt, je nachdem, wo sie leben oder ob sie gerade in Wien auf Urlaub sind, können
sie hierher kommen, viermal in der Woche von 9 bis 12, Montag bis Donnerstag. Meistens
erzählen sie einfach ihre Geschichte, der Fragebogen ist ja relativ schnell ausgefüllt, aber
wir haben die Erfahrung gemacht, dass die meisten Leute dann doch sehr gern eine halbe
Stunde bis Stunde einfach reden. Sie wollen reden, und sie kommen auch immer wieder, der
Kontakt ist rege. Diese Menschen brauchen einfach eine Anlaufstelle für ihre Sorgen, und wir
waren eben die erste Anlaufstelle, und wir sind bereit, diese Menschen mit all ihren Sorgen
und Krankheiten einfach so zu nehmen, wie sie sind, und wirklich da zu sein für sie. Denn
dieser Kontakt macht den Unterschied. Wir wollen jetzt z.B. eine Aktion starten, dass wir in
jedem Fragebogen die letzte Wohnadresse raussuchen, den Betroffenen dieses Haus fotografieren und das Foto schicken. Ich weiss, dass viele Leute immer noch von ihrem alten Haus
träumen. Es sind einfach so kleine Sachen, die kosten nicht viel, sind kein großer, nur ein
bißchen Mehraufwand und wieder eine Kontaktaufnahme. Wir sehen oft, dass Menschen,
denen wir geschrieben haben, sehr positiv reagieren und sich freuen, dass es nicht nur mit
den 70.000 Schilling endet, sondern, dass wir sie weiter informieren. Das ist der Kontakt,
der meiner Meinung nach sehr wichtig ist. Wir sind natürlich auch öfter damit konfrontiert,
dass wir etwas ausgelöst haben, das wir nicht kontrollieren und schon gar nicht heilen
können. In solchen Fällen versuchen wir irgendwie, die Leute dazu zu überreden, sich im
➤ ESRA6 oder im PSD 7 zu organisieren. Denn manchmal gibt es wirklich Zusammenbrüche.
ESRA ist für uns eine sehr wichtige Institution. Dort besteht die Möglichkeit zu Einzel- oder
Gruppentherapie auf Krankenschein, und es gibt mittlerweile eine eigene Gruppe für die
„Kinder vom Spiegelgrund“; wir machen dort auch unsere Supervision.
Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
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Bei uns werden alle berücksichtigt
Wie erfolgen Antragstellung auf etwaige Entschädigungszahlungen (Betreuung,
Fristen, Verfahrensdauer) und deren Bearbeitung?
Der Fragebogen ist relativ einfach auszufüllen. Die Betreuung erfolgt wie gesagt im Parteienverkehr oder telefonisch oder andernfalls durch die Botschaften oder Konsulate, die auch beim
Ausfüllen helfen. Einreichfristen gibt es keine. Die Verfahrensdauer hängt vom Alter und vom
Krankheitszustand der Antragsteller ab. Wir haben bis jetzt nach Altersgruppen ausbezahlt,
d.h. wenn zum Beispiel jetzt, wo wir den Geburtsjahrgang 1942 auszahlen, ein/e 1917 Geborene/r einreicht, wird sein/ihr Antrag natürlich sofort bearbeitet. Wenn wir alle Unterlagen
haben, wird er/sie in der nächsten Komiteesitzung bearbeitet. Komiteesitzungen gibt’s im Prinzip alle sechs Wochen, und dann dauert es meistens aufgrund der langwierigen Bankwege
noch einmal acht Wochen, bis der/die Antragsteller/in sein/ihr Geld erhält. Prinzipiell kann
die Frist jedoch sehr kurz sein. Aber es kann auch sein, dass ein/e 1944 Geborene/r im Dezember 1995 bei uns eingereicht hat, der/die gesund ist und kein Sozialfall und daher nicht
vorzuziehen ist. Er/sie kommt eben erst jetzt an die Reihe. Die Verfahrensdauer kann also datumabhängig sein oder auch nicht, je nachdem, ob wir die entsprechenden Dokumente finden. Wir haben teilweise Fälle, die seit einem Jahr in der Recherche sind. Das betrifft Menschen, die überhaupt keine Dokumente mehr haben, die aus Dörfern stammen, wo alle Archive zerstört worden sind, wo wir einfach nach Anhaltspunkten suchen, um diese Geschichte
plausibel zu rekonstruieren. Einen Fall, der nicht durchgehend dokumentierbar ist, versuchen
wir über intensive Recherchen zumindest plausibel zu machen. Falls kein Amt mehr Unterlagen
zur Verfügung hat, geben wir nicht auf, sondern wir machen die absurdesten Recherchen und
suchen mit den Antragstellern zusammen nach Anhaltspunkten, wo wir weitersuchen könnten.
Ein Beispiel für ausgefallene Recherchen: Wir konnten anhand der Jahrbücher des Wiener Eislaufvereins nachweisen, dass eine Dame damals dort aktives Mitglied war, also auch ihren
Wohnsitz in Wien hatte. Wir akzeptieren aber auch Straßenbahnkarten, die manche aufgehoben haben. Es sind hauptsächlich WerkstudentInnen, die diese Recherchen machen.
Worin liegen die speziellen Probleme in der Praxis der Bearbeitung von Anträgen?
Wenn ein/e Antragsteller/in auch nach mehrmaligen Rückfragen nicht bereit ist, uns mit Anhaltspunkten irgendwie entgegenzukommen, dann lehnen wir das nach einem Jahr oder
zwei Jahren ab. Manchmal kann eine Recherche schon ein, zwei Jahre laufen. Aber
irgendwann einmal muss der Akt fertig gemacht werden, weil es auch keinen Sinn hat,
wenn wir einfach keine Anhaltspunkte finden. Wir brauchen zum Beispiel den Namen der
Eltern oder den genauen Geburtsort, damit wir uns an die entsprechenden Archive wenden
können. Wenn man uns keine Geburtsdaten und Namen gibt, können wir nichts machen.
Und das ist nicht böswillig, wir können es einfach nicht. Schwierig ist es auch, wenn die Leute zu alt oder zu krank sind oder sich nicht mehr erinnern können. Ihre Kinder sind aber meistens sehr kooperativ. Häufig genügen auch zwei Zeugenaussagen, um eine Darstellung
plausibel zu machen. Es ist aber manchmal wirklich schwierig, denn wenn jemand 95 Jahre
alt ist, ist auch die Anzahl an ZeugInnen schon sehr gering. Aber es ist nicht so, dass wir in
solchen Fällen prinzipiell ablehnen oder abgelehnt haben. Von insgesamt 28.000 eingereichten Anträgen wurden bis jetzt 1600 abgelehnt. Wobei sehr viele dieser Ablehnungen
daraus resultieren, dass die Antragsteller gar nicht anspruchsberechtigt sind, wie jemand,
der/die 1965 geboren ist und mit Spätfolgen argumentiert, oder ein Wehrmachtssoldat, der
meint, er sei ein Opfer gewesen, oder jemand, dem man 1942 sein Motorrad geklaut hat.
Wird bei Zahlungen zwischen einzelnen Opfergruppen unterschieden?
Bei uns gibt es keine Unterscheidung zwischen den Opfergruppen. Bei mir gibt es kein rotes
J, keinen schwarzen oder roten Winkel. 70.000 Schilling für jeden, und wer Sozialfall ist,
kann bis zum Dreifachen bekommen. Der Sinn des Nationalfonds war, dass man dieses Mal
gesagt hat, es soll eine Direkthilfe sein, und daher ist das Geld nicht für Organisationen bestimmt. Es wird zwar durch Projekte, die wir unterstützen, auch etwas an Organisationen gezahlt, aber prinzipiell galt immer die Maxime der Individualzahlungen. Und ich glaube, auch
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Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
Interview mit Hannah Lessing
deswegen ist der Fonds so gut angekommen, weil das die erste Organisation ist, die wirklich
Individualzahlungen macht, wo das Geld wirklich zum Opfer direkt aufs Konto kommt. Österreich hat zwar viele Projekte unterstützt, in Israel Altersheime ausgebaut usw., aber das kam
nicht den einzelnen Opfern zugute. Wir haben aber von Anfang an wirklich immer betont,
dass es eine symbolische Geste für alle Opfer sein soll. Wir bewerten kein Leid, das ist auch
nicht möglich, etwa jenes derer, die im KZ waren, derer, die jetzt wieder die österreichische
Staatsbürgerschaft erhalten haben, die durch die Amtsbestätigung ihr Leid bescheinigt bekommen haben. Also ich finde es fürchterlich, und ich glaube auch nicht, dass man etwas
machen kann. Es ist nämlich aufgrund der Erfahrung, die wir hier gemacht haben, öfter zu
sehen gewesen, dass jemand, der das KZ zum Beispiel überlebt hat, recht gut damit umgehen kann und eigentlich dadurch sehr stark geworden ist, dass aber andere Menschen an
der Emigration zerbrochen sind. Man kann einfach nicht beurteilen, wer mehr gelitten hat.
Wie sieht das Verhältnis zwischen den Antragstellungen und den
tatsächlichen Zahlungen aus?
Insgesamt sind ca. 28.000 Fragebögen eingelangt, Zahlungen sind bis 25. April ca.
25.881 erfolgt. Ja, wir haben 30.000 Adressen im Computer. Es passiert auch, dass sich
einige Leute gemeldet haben, die keinen Anspruch haben, das wird sich erst herausstellen.
Wir sammeln einfach Adressen und bekommen immer wieder neue Namen.
Wie viele Opfer konnten bisher erfasst werden, wie viele Opfer sind Ihrer Einschätzung nach noch nicht vom Fonds erfasst? In welchem Ausmaß sind die Anträge
in den Jahren seit der Gründung des Nationalfonds 1995 zurückgegangen?
Erstens besteht die Frage, wen definieren wir jetzt als Opfer, welche Gruppen sind bisher
noch nicht berücksichtigt, welche sind noch nicht vom Gesetz gedeckt? Zum Beispiel gibt es
eine benachteiligte Gruppe, die wir vielleicht jetzt aufnehmen werden: alle aus Deutschland Geflohenen, die 1933 nach Österreich gekommen sind. Sie waren deutsche Staatsbürger, sind in ein deutschsprachiges Land geflohen und 1938 weiter vertrieben worden.
Diese Gruppe ist weder bei uns erfasst noch in der deutschen Opferfürsorge. Aber es ist
fast unmöglich einzuschätzen, wieviele dieser Menschen noch nicht erfasst sind. Einerseits
jene, die noch nicht vom Nationalfonds wissen, das, glaube ich, sind aber eher wenige, jene, die nicht wollen, das sind sicher noch ein paar, aber auch nicht viele, weil wir sehr viel
Überzeugungsarbeit geleistet haben. Wir haben uns nicht einfach damit zufriedengegeben
– „wer sich nicht meldet, will nicht“ –, sondern wir haben wirklich Aufrufe gemacht. Auch
im Fernsehen über „Hallo Austria, hallo Vienna“, dreimal bis jetzt. Wie viele nach dem
Gesetz Anspruchsberechtigte gar nicht eingereicht haben, ist relativ unklar, aber wir schätzen, dass es so um die 1000 sind. Wir haben am Anfang Hunderte von Anträgen pro Tag
erhalten, jetzt sind es ca. 20 in der Woche, das ist aber nicht wenig. Auch in Österreich
haben sich jetzt noch sehr viele Hinterbliebene gemeldet.
Wie sind die Zahlungen des Fonds zu verstehen, als Entschädigungsleistung, als
Wiedergutmachung, als fürsorgerische Maßnahme, als „moralische Geste“,
als „Tropfen auf dem heißen Stein“?
In unseren Papieren, Vorträgen usw. wird nie von Wiedergutmachung oder Entschädigung
gesprochen. Es ist eine symbolische, moralische Geste der Republik. Wir waren immer ehrlich und haben gesagt, es ist nicht als Entschädigung oder als Wiedergutmachung zu
sehen, weil auch nichts wieder gut gemacht werden kann und weil auch eine Million mir
meine Großmutter nicht aus Auschwitz zurückbringt. Es war das, was zu der Zeit an Budgetmitteln möglich war, um so viele Menschen wie möglich zu erreichen und ihnen doch
ein wenig zu helfen. Es gibt wirklich genügend Menschen, für die 70.000 Schilling wahnsinnig viel Geld ist. Und wenn jemand wirklich sozial bedürftig ist – wie zum Beispiel ein
Mann, der viele Jahre querschnittgelähmt ist, in einem Haus wohnt, in dem es keinen Aufzug gibt, und jetzt sind in Israel die Betreuungsstunden zurückgeschnitten worden und er
Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
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Bei uns werden alle berücksichtigt
wird nicht mehr betreut, er sitzt jetzt einfach nur mehr in seiner Wohnung und kann sich mit
dem, was er hat, keine Hilfe leisten –, jetzt unterstützen wir ihn als Sozialfall, um irgendwie
den Bau eines Aufzuges zu ermöglichen. Wenn ein Aufzug dort ist, dann ist seine Lebensqualität um 1000 Prozent gestiegen. Das sind eben die Sachen, die wir versuchen. Das ist
dann schon mehr als eine moralische Geste, aber es ist auf keinen Fall Wiedergutmachung
oder Entschädigung. Und natürlich ist es ein Tropfen auf dem heißen Stein, wenn man bedenkt, zu welchen Ergebnissen höchstwahrscheinlich die Historikerkommission kommen
wird, bezüglich dessen, was alles geraubt worden ist.
Wird der Nationalfonds in Zukunft mögliche Zahlungen an ehemalige ZwangsarbeiterInnen übernehmen?
Alles ist startbereit. Ich habe hier bereits Adressen von fast allen Überlebenden in Russland,
mit Angaben der Bauern, wo sie gearbeitet haben, von wann bis wann etc. Natürlich bin
ich mit der Organisation in der Russischen Föderation in Kontakt, ebenso mit der Ukraine.
Es ist uns jetzt mit Hilfe der Grünen und der Liberalen gelungen, das Gesetz zu ändern, so
dass wir von jedem Rechtsträger Geld annehmen dürfen, ohne vertraglich verpflichtet zu
sein, nur an die jeweiligen Opfergruppen, die er mir definiert, auszuzahlen. Allerdings
wird das unter Umständen Einzel- oder ➤ Sammelklagen gegen diese Firmen nicht verhindern können. Das ist meiner Meinung nach der größte Problempunkt. Ein weiterer entscheidender Grund für die Verzögerung liegt auch darin, dass jetzt Wahlzeit (Herbst 1999) ist.
Es ist nicht sehr populär, in Zeiten von Sparpaketen Milliarden von Schillingen an frühere
Zwangsarbeiter zu zahlen. Meiner Meinung nach wird die Regierung trotzdem einen
Großteil dessen zahlen müssen. Die Firmen werden nicht bis zu fünf Milliarden aufbringen
können. Ich rechne mit über 100.000 Überlebenden. Wenn jeder 35.000 Schilling
bekommt, dann haben wir 3,5 Milliarden, mit administrativen Kosten usw. kommen wir auf
4 Milliarden. Ich glaube nicht, dass die großen Firmen das allein aufbringen können. Die
kleinen Firmen schon gar nicht, es darf nicht existenzbedrohend sein für eine Firma, das
Ganze hat keinen Sinn, wenn dann Arbeitsplätze auf dem Spiel stehen.
Ein Großteil der ZwangsarbeiterInnen war in der Landwirtschaft tätig,
wer zahlt für diesen Bereich?
Zwar laufen die Klagen über die Landwirtschaftskammer, aber trotzdem wird der Staat
zahlen müssen. Und ich glaube, das ist sozusagen der Bremsfaktor. Ich versuche das jetzt in
der Öffentlichkeit so darzustellen, dass es kein Wahlkampfthema sein müsste, wenn man den
Fonds mit dieser Gesetzesänderung den Firmen als Instrument der Verteilung anbietet. Dann
wäre schon einmal ein Anfang gemacht. Ich kann die Schuld einer Firma nicht bemessem
und ich werde das auch nicht tun. Ich werde jedes Geld annehmen, und da bin ich mir nicht
zu schade und sage einfach: „Danke schön, ich werde es verteilen.“ Weil jeder Groschen,
den wir erhalten, kommt den Opfern zugute. Ob das jetzt die Schuld der Firma wett macht,
ist für mich nicht so wichtig. Der Fonds ist ein reines Verteilungsinstrument und eine Anlaufstelle für die Opfer. Und je mehr Geld ich habe, desto mehr kann ich den Opfern helfen.
Mag. Hannah Lessing ist Generalsekretärin des
„Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus“
1
2
3
Magistratsabteilung 12: Sozialamt der Stadt Wien, inkl. Opferfürsorgereferat; in den Bundesländern liegt die Zuständigkeit bei
den Sozialreferaten der einzelnen Bezirkshauptmannschaften bzw.
der Bezirksämtern; die Tätigkeit sowohl der MA 12 als auch der Sozialreferate der Länder basiert auf dem Opferfürsorgegesetz.
„Am Spiegelgrund”: Auf dem Gelände der Heil- und Pflegeanstalt
„Am Steinhof“ waren während der NS-Zeit drei Einrichtungen zur
Internierung von Kindern und Jugendlichen untergebracht; siehe
dazu den Artikel von Jana Müller, „Kinder und Jugendliche als
Opfer der NS-Verfolgung“, in diesem Band.
Vgl. den Text von Brigitte Bailer-Galanda, „Die Maßnahmen der Re-
138
4
5
6
7
publik Österreich für die Widerstandskämpfer und Opfer des
Faschismus – Wiedergutmachung“, in diesem Band.
Magistratsabteilung 61: Staatsbürgerschafts- und Personenstandsangelegenheiten.
Magistratsabteilung 8: Wiener Stadt- und Landesarchiv.
ESRA: Initiative zur psychosozialen, sozialtherapeutischen und soziokulturellen Integration; ein Beratungs- und Behandlungszentrum für
psychosoziale Probleme und Krankheitsbilder, die durch das Holocaustbzw. Entwurzelungs-Syndrom bedingt sind. Ambulanz/Beratung: 1020
Wien, Tempelgasse 5 A; Tageszentrum: 1020 Wien, Haidgasse 1.
PSD: Psychosozialer Dienst der Stadt Wien.
Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
Aus den Ministerratsprotokollen 1945–1952
„ICH BIN DAFÜR, DIE SACHE IN DIE LÄNGE ZU ZIEHEN“
ROBERT KNIGHT
Auszug aus dem Protokoll der 132. Ministerratssitzung vom 9. November 1948 (unter Verschluß
gehalten): Fonds aus erblosem Vermögen
Punkt 12 der TO, lit. a): Fonds für Judenvermögen.
BM Dr. Zimmermann berichtet anhand der Beilage C
über das Begehren amerikanischer Kreise nach Schaffung eines Fonds für verarmte jüdische Rückwanderer.
BK: „Wer will das Wort?”
BM Kraus: „Im Vortrag steht, daß ungeachtet der
nach der Verfassung geltenden Gleichberechtigung
diese Maßnahmen gelten sollen. Ich weiß aber nicht,
wie gerade jetzt eine Rasse besondere Privilegien bekommen soll. Andere, die nicht weggingen, bekommen keine Unterstützung, die Juden aber sollen eine
solche erhalten. Ich weiß, daß die Landwirtschaft bereits im Jahre 46 ein großes Aufbaugesetz sich geschaffen hat. Da aber die Juden Mittel und Fonds bekommen sollen, die wir selbst nicht bekommen, ist die
Verwirklichung dieser Gesetze bis jetzt noch nicht
möglich gewesen.1 Wichtige Aufgaben wie Instandsetzungen von Schulen und Spitälern usw. können wir
nicht aufgeben. Ich stimme diesem beabsichtigten
Projekt nicht zu.”
BM Übeleis: „Die Bundesbahnen haben 82 Mill. unbezahlte Rechnungen liegen.” 2
BM Dr. Krauland: „In Wien leben derzeit 9000 Juden.
Ihre Lage ist ärmlich. Die Angelegenheit ist außerdem
auch als staatspolitische zu werten. Daß ihnen geholfen
werden soll, soll nicht bestritten bleiben, wenn es
notwendig ist. Man muß aber auch auf den Eindruck
im In- und Ausland rechnen. Man muß auch mit dem
Einfluß der Juden in Amerika rechnen, und dieser Einfluß oder Eindruck muß erwogen werden. Ich will mit
meinen Ausführungen nur das Bild ergänzen.”
BM Dr. Kolb: „Von dem Reichtum hat Österreich
nichts und das Unrecht, das den Juden zugefügt wurde, hat Österreich nicht zugefügt. Österreich und das
Großdeutsche Reich, das ist ein Unterschied.” 3
➤ BM Helmer: „Was den Juden weggenommen wurde,
kann man nicht auf die Plattform ‚Großdeutsches
Reich‘ bringen. Ein Großteil fällt schon auf einen Teil
unserer lieben Mitbürger zurück. Das ist eine Feststellung, die den Tatsachen entspricht. Aber auf der anderen Seite muß ich sagen, daß das, was im Antrag steht,
richtig ist. Ich sehe überall nur jüdische Ausbreitung
wie bei der Ärzteschaft, beim Handel vor allem in Wien.
Eine Separataktion kann man aber nicht durchführen.
Die Sache ist aber auch eine politische. Auch den Nazis
ist im Jahre 1945 alles weggenommen worden, und wir
sehen jetzt Verhältnisse, daß sogar der nat. soz. Akademiker auf dem Oberbau arbeiten muß.”
BM Dr. Krauland: „Morgen fährt ➤ Trobe nach Amerika,
und da heißt es, was soll geschehen, welche Antwort
erhält er?”
BM Helmer: „Wir leben nicht mehr im Jahre 1945. Die
Engländer bekämpfen jetzt die Juden; die Amerikaner
haben auch ihre Verpflichtungen nicht eingehalten.
Schon die Grausamkeiten der Juden im PalästinaKrieg haben ihr Echo gefunden. Der Trobe ist auch
mit Vorsicht zu genießen. Ich wäre dafür, daß man die
Sache in die Länge zieht. Bedenken Sie, so müßte
man ihm sagen, wir müssen auf verschiedene Dinge
Rücksicht nehmen. Es gibt schon Leute, die das verstehen. Die Juden werden das selbst verstehen, da sie
im klaren darüber sind, daß viele gegen sie Stellung
nehmen. Man sollte ihm ganz einfach sagen, wir werden schon schauen.”
BM Dr. Krauland: „Der gleiche Antrag wurde schon
vor 1/2 Jahr eingebracht.”
BK: „Dem Antrag wird die Zustimmung im Ministerrat
nicht gegeben. Es ist schwer, woher wir die Mittel aufbringen sollen. Im Parlament den Antrag vorzubringen, hätte nur innen- und außenpolitische Schwierigkeiten zur Folge. Außerdem würde hier ein Gegensatz, eine schwere Lage zu den Nationalsozialisten
geschaffen werden. Auch ein Nein können wir uns
heute nicht leisten. Wir müssen sagen, daß wir momentan in Budgetberatungen stecken. Wir erklären,
lassen Sie uns Zeit, damit wir unser Budget in Ordnung bringen und sehen, wo und wie wir Ihnen
helfen können. Diese Erklärung können wir Trobe
geben, und dann muß man schauen, ob wir nicht in
Amerika mehr Mittel aufbringen können.”
Aus: Robert Knight: „Ich bin dafür, die Sache in die Länge zu
ziehen.“ Die Wortprotokolle der österreichischen
Bundesregierung 1945–1952 über die Entschädigung der Juden,
Athenäum Verlag, Frankfurt am Main 1988, S. 195–202
1
2
3
Vgl. BGBl. Nr. 175 vom 26. Juli 1946 über Beihilfen zum Wiederaufbau kriegsbeschädigter land- und forstwirtschaftlicher Betriebe (Landwirtschaftliches Wiederaufbaugesetz).
Außer dem von Trobe erwähnten Betrag von 400.000 Schilling ist dem Autor keine weitere finanzielle Unterstützung
der Kultusgemeinde durch die Regierung bekannt.
Der Budgetvoranschlag vom 27. Oktober sah Ausgaben von
6.089,422.100 Schilling und Einnahmen von 6.090,789.900
vor, so daß ein kleiner Überschuß von 1,347.800 Schilling
aufschien. Der außerordentliche Aufwand für Wiederaufbau
und Investitionen umfaßte Ausgaben von 1.422,250.300
Schilling. Aus dem ERP Counterpart Fonds wurden für die
erste Jahreshälfte 1949 1,7 Milliarden Schilling bereitgestellt, u. a. für die Elektrifizierung und andere Investitionen
der Bundesbahn eine Zuwendung von 218,930.000 Schilling.
Vgl. Kolbs Rede im Nationalrat zum Nichtigkeitserklärungsgesetz vom 15. Mai 1946.
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Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
139
Interviews mit
Mitgliedern der
Historikerkommission
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Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
Historikerkommission
Im Herbst 1998 wurde vom Bundeskanzler, dem Vizekanzler, den Präsidenten des Bundesrats und des Nationalrats eine Kommission eingesetzt mit dem Mandat, den Vermögensentzug auf dem Gebiet der Republik Österreich während der NS-Zeit sowie Rückstellungen bzw.
Entschädigungen der Republik Österreich seit 1945 zu untersuchen. Damit reagierte die
österreichische Regierung auf in- und ausländische Forderungen nach einer vollständigen Aufklärung über den tatsächlichen Umfang der Beraubung verschiedener Bevölkerungsgruppen,
insbesondere aber der jüdischen Bevölkerung, durch das nationalsozialistische Regime in
Österreich und über das Ausmaß und die Praxis der Rückstellungen in der Zweiten Republik.
Die seit dem Herbst 1996 durch ➤ Sammelklagen aus den USA geweckte internationale
Aufmerksamkeit bezüglich der Rolle zunächst der schweizerischen, dann auch der deutschen und der österreichischen Banken im Umgang mit ➤ „Raubgold“ und sogenannten
„nachrichtenlosen“ Bankkonten sowie der Konflikt um die rechtmäßigen EigentümerInnen
von Gemälden und anderen Kunstobjekten, die sich heute im Eigentum der Republik Österreich befinden, haben wesentlich dazu beigetragen, dass nun verschiedene staatliche Institutionen ihre Vergangenheit im Zusammenhang mit diesen Fragen erforschen lassen. So
überprüft etwa die Anfang 1998 beim Bundesministerium für Unterricht und kulturelle Angelegenheiten eingerichtete ➤ Kommission für Provenienzforschung die tatsächliche Herkunft
von in Bundesmuseen befindlichen Objekten; einige Objekte bzw. Teile von Sammlungen
wurden bereits an ihre rechtmäßigen BesitzerInnen bzw. ErbInnen zurückgestellt.
Neben der Frage des Vermögensentzugs durch die Enteignung von Firmen, Geschäften,
Wohnungen, Mobiliar, durch den Einzug von Bankkonten, den Verfall von Versicherungsund Pensionsleistungen etc. wird von der Kommission auch das Ausmaß der während des
Nationalsozialismus zum größten Teil von zivilen AusländerInnen geleisteten Zwangsarbeit
untersucht. Auch einige österreichische Unternehmen haben zur Untersuchung ihrer Firmengeschichte zwischen 1938 und 1945 Forschungsteams beauftragt.
Die österreichische Historikerkommission besteht aus sechs Mitgliedern und drei ständigen ExpertInnen: ao. Univ.-Prof. Dr. Clemens Jabloner, Mag. Dr. Brigitte Bailer-Galanda,
Gen.-Dir. Hon.-Prof. Dr. Lorenz Mikoletzky, Dr. Bertrand Perz, ao. Univ.-Prof. Dr. Roman
Sandgruber, Dr. Robert Knight, ao. Univ.-Prof. Dr. Georg Graf, o. Univ.-Prof. Dr. Karl Stuhlpfarrer, Prof. DDr. h.c. Alice Teichova. Rund zwanzig wissenschaftliche MitarbeiterInnen
werden für die konkrete Forschungsarbeit der nächsten zwei Jahre hinzugezogen.
Obwohl die Einsetzung einer Historikerkommission von vielen Seiten als notwendiger
Schritt zur vollständigen Aufklärung des Vermögensentzugs begrüßt wurde, hat sie aber
auch Kritik hervorgerufen, etwa hinsichtlich der Gewährleistung der Unabhängigkeit ihrer
Forschung und hinsichtlich dessen, ob konkrete Rückstellungen und Entschädigungen an die
Opfer von den Ergebnissen der wissenschaftlichen Erforschung abhängig gemacht – und
damit wieder um ein paar Jahre verzögert – werden sollen.
In Interviews mit Clemens Jabloner, dem Vorsitzenden der Historikerkommission, Bertrand
Perz, einem Mitglied der Kommission, und Karl Stuhlpfarrer, einem der drei ständigen ExpertInnen der Kommission, sollen sowohl die Aufgaben und Zielsetzungen der Historikerkommission dargestellt als auch die Problematik solcher Kommissionen diskutiert werden.
Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
141
„Wir liefern historische Fakten“
Interview mit Clemens Jabloner
Warum werden in Österreich heute – mehr als 50 Jahre nach dem Ende der
nationalsozialistischen Herrschaft – Fragen um Rückstellungen und Entschädigungsleistungen öffentlich diskutiert?
Jabloner: Das hat mehrere Gründe. Zum einen gibt es eine Bewusstseinsänderung, zumindest bei den meinungsbildenden Schichten in Österreich. Man will, dass das Land
möglichst unbelastet von seiner Vergangenheit in das nächste Jahrhundert gehen kann.
Außerdem gibt es neu erschlossene Quellen, ein neues Interesse an zeitgeschichtlicher
Forschung, und es gibt eine geänderte Einstellung auch bei den Opfergruppen. Insbesondere bei den vertriebenen und ausgeraubten Juden war es so, dass sie nach dem
Krieg oft einfach froh waren, überlebt zu haben, oder mit Österreich überhaupt nichts zu
tun haben wollten. Es ist jetzt erst die nächste Generation, die sich hier stärker artikulieren
kann.
Warum wurde die Historikerkommission eingesetzt?
Das Ziel der Historikerkommission ist es, den gesamten Komplex Vermögensentzug auf dem
Gebiet der Republik Österreich während der NS-Zeit sowie Rückstellungen bzw. Entschädigungen sowie wirtschaftliche und soziale Leistungen der Republik Österreich ab 1945 zu
erforschen und darüber zu berichten. Im Wesentlichen sind das drei große Themenbereiche, nämlich die Formen der Beraubung, besonders die ➤ „Arisierung“ zwischen 1938 und
1945, zweitens das Rückstellungswesen, also die Frage, was die Republik Österreich nach
1945 getan hat, um die Opfer zu entschädigen oder Vermögen rückzustellen, und drittens
als eigener Themenkomplex die Problematik der Zwangsarbeiter.
Um welche Opfergruppen geht es, wer war davon betroffen?
Die Opfergruppen sind vielfältiger, als es zunächst scheinen mag. Es sind in erster Linie die
Juden und Jüdinnen, Roma und Sinti, es sind die Slowenen und Sloweninnen in Österreich,
aber auch die Angehörigen bestimmter religiöser Gruppen wie die Zeugen Jehovas, Homosexuelle und weitere Gruppen, die ich jetzt vielleicht nicht vorstellig genannt habe, und
die Zwangsarbeiter.
Werden auch die „TäterInnen“, das heißt diejenigen, die vom Vermögensentzug
profitiert oder ihn durchgeführt haben, Gegenstand der Forschung sein?
Man muß klarstellen, dass die Historikerkommission kein Gericht ist. Sie untersucht nicht
Einzelfälle in dem Sinn, dass am Ende ein gerichtliches Urteil steht. Sie wird sich aber sehr
wohl auch mit der Frage auseinanderzusetzen haben, wer denn die Profiteure dieser Entzugsmaßnahmen waren, und wieviel von diesem Vermögen heute noch in den Händen der
Profiteure oder eben ihrer Nachfolger ist.
142
Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
Interview mit Clemens Jabloner
Wie sieht die Aktenlage aus, nachdem ja in den vergangenen Jahren beispielsweise
bei den zuständigen Gerichten Rückstellungsakten teilweise skartiert,
also vernichtet worden sind?
Ja, die Archivlage ist unübersichtlich. Das heißt, der erste Schritt des Forschungsprojekts besteht darin, zunächst einmal den Zustand und die Vollständigkeit der Archive zu überprüfen. Es kann durchaus sein, dass Gerichtsakten schon skartiert sind, besonders aus dem
Oberlandesgerichtssprengel Wien. Man wird erst sehen, ob es noch genug Akten gibt;
man kann aber zum Beispiel auch über sekundäre Quellen, etwa über Rechtsanwaltskanzleien, an Akten herankommen.
Wie ist der Archivzugang der Mitglieder und MitarbeiterInnen der Historikerkommission auf Länder- und Bundesebene geregelt?
Auf Bundesebene ist der Zugang zum Staatsarchiv voll gewährleistet, und das wird auch in
einem Gesetz Niederschlag finden, dem Bundesarchivgesetz.1 Wir sind davon geleitet,
dass bei allen anderen öffentlichen Archiven, besonders bei den Ländern und Städten, gleiche Einsichtsmöglichkeiten bestehen werden. Ein gewisses Problem sind private Archive.
Hier überlegen wir uns vor allem, diese Archive, beispielsweise Firmenarchive, Bankenarchive etc., besser unter Schutz zu stellen, damit keine Akten vernichtet werden können.2
Wir gehen aber grundsätzlich davon aus, dass man uns doch sehr entgegenkommen wird.
Für uns ist es auch wichtig, dass in vielen privaten Bereichen ja komplementäre historische
Forschungen schon in Gang sind. Das entbindet uns zwar nicht von der Verpflichtung zu
forschen, aber wir können zunächst diese Forschungsergebnisse überprüfen, und wenn sie
wissenschaftlich in Ordnung sind, kann man auf sie verweisen.
Wo bestehen forschungsmäßig die größten Lücken?
Das kann ich als Nichthistoriker nicht beantworten, weil es bereits Teil der wissenschaftlichen Arbeit ist, sich darüber einen Überblick zu verschaffen. Was man erst nach und nach
erkennt, ist, in welcher Weise das Naziregime auch ein wirtschaftliches Unternehmen war.
Diese Zusammenhänge sind nie richtig in den Blickpunkt gekommen. Der relativ kompliziert
organisierte Raub, die Ausbeutung – das soll durch die Forschungsarbeit der Historikerkommission klarer werden.
Worin liegt der Unterschied zwischen der Historikerkommission und den von
Ministerien oder Firmen eingesetzten Forschungsteams?
Die Historikerkommission hat einen sehr umfassenden Auftrag, der gewissermaßen alles
überwölbt. Die ➤ Provenienzkommission im Unterrichtsministerium beschäftigt sich im Speziellen mit Bildern, das Dorotheum beschäftigt sich mit seiner eigenen Geschichte, die Postsparkasse mit ihrer usw. Wir haben vor allem auch in den Blick zu nehmen, wie die Rechtslage nach 1945 in Österreich war. Uns interessieren weniger spektakuläre Einzelfälle, so
interessant und wichtig sie auch sein mögen, sondern uns interessiert der Blick auf den kleinen Mann, auf die kleine Frau, auf die vielen Namenlosen, die das wenige, was sie hatten, verloren haben und denen das dann nicht zurückgegeben wurde. Das ist eine andere
Art des Zugangs als der Zugang, das Schicksal eines berühmten Gemäldes zu erforschen.
Von Seiten der Politik ist mit dem Forschungsauftrag die Erwartung verbunden,
dass damit konkrete Entscheidungsgrundlagen für noch ausstehende
Rückstellungen und Entschädigungen geschaffen werden.
Das ist eine sehr ambivalente Sache. Die Historikerkommission bewegt sich auf einem
schmalen Grat. Man muss vor allem dem Vorwurf von Opferseite begegnen, ein weiteres
Instrument zur Verzögerung zu sein. Viele der Betroffenen sind ja schon sehr alt. Ich kann
nur bei jeder sich bietenden Gelegenheit betonen, dass man, um rechtspolitische Schritte
zu setzen, nicht die Ergebnisse der Historikerkommission abwarten muss. Natürlich wird
sich danach ein vollständigeres Bild ergeben, wird man manches sehen, was man jetzt
Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
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Wir liefern historische Fakten
noch nicht sieht. Aber vieles weiß man auch jetzt schon, als Beispiel haben wir immer die
Frage der Zwangsarbeit genannt. Es gibt aktuelle Forderungen, zum Beispiel des polnischen Zwangsarbeiterverbandes, und denen könnte man entsprechen, ohne dass man jetzt
die letzten Details weiß. Zumindest steht die Historikerkommission dem nicht entgegen. Wie
auch umgekehrt wir nicht von unserem Forschungsauftrag entbunden sind, wenn irgendwo
eine Vereinbarung über Entschädigungszahlungen erfolgt. Hier muss eine genaue Trennlinie
zwischen wissenschaftlicher Forschung und politischem Handeln gezogen werden.
Konkrete Entschädigungen hängen also nicht vom Endbericht der
Historikerkommission ab?
Nicht in dem Sinne, dass die politische Ebene sagen könnte, wir tun jetzt bis zum Jahr
2002 nichts und warten die Ergebnisse der Kommission ab. Es gibt kein Hindernis, in einen
ernsthaften Dialog mit den Opfergruppen einzutreten. Aber mit dem Endbericht der Kommission werden wir ein sicherlich klareres, vollständigeres Bild über den Vermögensentzug
und das Ausmaß von Rückstellungen und Entschädigungen in Österreich erhalten.
Sie haben bereits betont, dass die Rolle der Historikerkommission nicht die eines
Gerichts ist. Aber werden nicht trotzdem finanzielle Entschädigungen anhand des
Endberichts der Kommission diskutiert werden?
Nein, das wird überhaupt nicht diskutiert, sondern wir liefern historische Fakten, die bis zu
einem gewissen Grad für sich sprechen, und können damit vielleicht Entscheidungsprozesse
in Gang setzen. Aber es gehört nicht zu unserer Aufgabe, irgendwelche Empfehlungen
abzugeben.
Wie sehen Sie die Rolle der politisch Verantwortlichen in Fragen der Rückstellung
und Entschädigung?
Ich glaube, dass im Augenblick ein aufgeschlossenes Klima herrscht, dass das Interesse der
politischen Ebene nicht bloß ein vorgespiegeltes ist, um Zeit zu gewinnen, sondern ernst gemeint ist. Wenn ich nicht dieses Gefühl gehabt hätte, hätte ich den Vorsitz in der Historikerkommission auch nicht übernommen.
Kann man trotzdem von einem Spannungsfeld von Politik, Rechtsprechung und
historischer Forschung sprechen?
Rechtsprechung spielt hier weniger eine Rolle, weil es die heute in diesem Bereich nicht
gibt. Aber es gibt sicher ein Spannungsverhältnis zwischen politischer Entscheidung und
historischer Forschung und ein gewisses Dilemma, aus dem ich auch nicht heraushelfen
kann. Ich weiß, dass viele Opfer alt sind und auf die Klärung dieser Fragen warten. Wir
haben aber als wissenschaftliche Kommission einen gewissen Standard einzuhalten, und
gerade wenn ein so großer Themenkomplex bearbeitet werden soll, dauert das eine gewisse Zeit. Das geht nicht von heute auf morgen. Das ist ein gewisses Dilemma, mit dem
man leben muss.
Wann soll der Endbericht der Kommission vorliegen?
Er soll im Laufe des Jahres 2002 vorliegen, das heißt die Forschungen werden im Jahr
2001 fertig sein, und das Jahr 2002 dient dann der redaktionellen Bearbeitung und der
Abgabe des Endberichts. Die reine Forschungsdauer ist ca. zweieinhalb Jahre, was ohnehin nicht lang ist.
Kann man dann mit Vorliegen des Endberichts davon sprechen, dass die historische
Forschung zu diesem Themenkomplex abgeschlossen sein wird?
Das kann man in keiner Weise sagen. Der Forschungsgegenstand ist so weit gefasst, dass
auch die Historikerkommission eine wohlbegründete, aber letztlich auch pragmatische Entscheidung treffen musste und muss zugunsten gewisser Schwerpunkte. Es kann nicht alles
144
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Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
Interview mit Clemens Jabloner
und es kann nicht alles gleich tiefgehend erforscht werden. Auch nach der Historikerkommission wird es genug Raum geben für die historische Forschung. Außerdem ist die
Kommission auf den Vermögensaspekt beschränkt, wir beschäftigen uns also zum Beispiel
nicht mit der Frage der Gewaltausübung und nicht mit der Diskriminierung als solcher.
Welche Folgen wird Ihrer Meinung nach die Arbeit der Historikerkommission haben
– sowohl für die Opfer als auch im Umgang mit der Vergangenheit, mit der NS-Zeit?
Ich denke, dass wir vor allem einen Beitrag zur Aufklärung und zur Information leisten. Ich
erhoffe mir, dass daraus dann auch etwas gemacht wird, zum Beispiel für die Schulen, und
dass Akzente gesetzt werden für die zukünftige historische Forschung. Das sind die zentralen Punkte. Die rechtliche Ebene ist dann eine Frage der Politik. Ich denke, die Fakten
werden für sich sprechen und werden – wenn das auch entsprechend medial aufbereitet
wird – eine Zugkraft haben.
Univ.-Prof. Dr. Clemens Jabloner ist Präsident
des Verwaltungsgerichtshofes und Vorsitzender
der Historikerkommission
1
Das Interview mit ao. Univ.-Prof. Dr. Clemens Jabloner wurde im Mai
1999, noch vor der Behandlung der Gesetzes- bzw. Novellierungsvorschläge im Nationalrat geführt. Die Novellierung des Denkmalschutzgesetzes [Bundesgesetz vom 25. September 1923, BGBl. Nr. 533/1923,
betreffend Beschränkungen in der Verfügung über Gegenstände von
geschichtlicher, künstlerischer oder kultureller Bedeutung (Denkmalschutzgesetz – DMSG) in der Fassung der Bundesgesetze BGBl. Nr.
92/1959 (EGVG-Novelle), 167/1978, 406/1988 und 473/1900] wurde am
18. Juni 1999 mit den Stimmen der ÖVP und SPÖ in dritter Lesung angenommen und liegt derzeit im Bundesrat zur Beschlussfassung. Das
Bundesarchivgesetz wurde am 13. Juli 1999 mit den Stimmen aller
Parteien im Nationalrat beschlossen und liegt derzeit ebenfalls im
Bundesrat zur Beschlußssfassung. Im Bundesarchivgesetz wird erstmals die Archivierung von und der Zugang zu Archivgut des Bundes
per Gesetz geregelt. Der Zugang ist künftig 30 Jahre nach der letzten Bearbeitung der Akten möglich, in Ausnahmefällen nach 50 Jahren. Dies gilt grundsätzlich auch für Akten von Unternehmen mit
mindestens 50%iger Bundesbeteiligung. Die Archivierung und der
2
Zugang zu Archivgut bezüglich Landes-, Gemeinde- und Privatarchiven wird durch dieses Gesetz jedoch nicht geregelt.
In der Novelle zum Denkmalschutzgesetz war es für die Historikerkommission zentral, dass durch Verordnung – und nicht wie bisher
nur durch Bescheid – bestimmte Archivalien vorläufig unter Denkmalschutz gestellt und daher nicht vernichtet werden können. Diese Art der Unterschutzstellung darf nur für Archivalien erfolgen, die
bei Unternehmungen zu Zeiten angefallen sind, in denen diesen
Unternehmungen aufgrund Anzahl und/oder Art der Beschäftigten,
Umfang und/oder Art der Geschäftstätigkeit oder Beteiligung der
öffentlichen Hand besondere politische oder wirtschaftliche Bedeutung zukam und das Vorliegen der für die Unterschutzstellung erforderlichen Fakten aufgrund des wissenschaftlichen Erkenntnisstandes zumindest wahrscheinlich ist. Das öffentliche Interesse an
der Erhaltung dieser Archivalien gilt solange als gegeben, als das
Österreichische Staatsarchiv nicht auf Antrag einer Partei oder von
Amtswegen eine bescheidmäßige Entscheidung über das tatsächliche Vorliegen des öffentlichen Interesses getroffen hat.
Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
145
„Wir müssen tun, was schon vor 30 Jahren hätte
geschehen sollen“
Interview mit Karl Stuhlpfarrer
Warum werden in Österreich heute – mehr als 50 Jahre nach Ende der
nationalsozialistischen Herrschaft – wieder Diskussionen über Entschädigung und
Rückstellungen für NS-Opfer geführt?
Stuhlpfarrer: Erstens, weil nicht alles rückgestellt und in vielen Bereichen nicht entschädigt
wurde – die Mietenfrage1 ist dafür ein klassisches Beispiel. Zweitens sind diese Fragen
nicht vollständig aufgearbeitet worden, und jede Generation wirft die alten Fragen, die
nicht aufgearbeitet wurden, noch einmal auf.
Lassen sich die von den Regierungen bzw. Unternehmen Österreichs,
der Schweiz und Deutschlands eingesetzten Kommissionen und Forschungsteams
in ihrem Auftrag und in ihrer Arbeitsweise vergleichen, oder bestehen
national große Unterschiede?
Ein Unterschied ist, dass diese drei Staaten in unterschiedlicher Weise in den Massenmord
und die Beraubung von Juden und Angehörigen anderer Völker verwickelt waren. Der zweite
Unterschied ist, dass die historischen Ereignisse, die historischen Tatsachen in diesen drei
Ländern, wenn wir die DDR einmal beiseite lassen, in unterschiedlicher Weise geschichtskulturell verarbeitet worden sind, am intensivsten und mit den einträglichsten Wirkungen in
der Bundesrepublik Deutschland, sehr viel zögerlicher und lückenhafter in Österreich und in
der Schweiz, dort wurde die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit auch durch Mythenbildung verhindert: in Österreich durch den Opfermythos, in der Schweiz durch den Neutralitätsmythos. Und das Dritte ist, dass die schweizerische und die österreichische Historikerkommission ganz unterschiedliche Aufgaben haben. Die österreichische Kommission hat
eine sehr präzise und sehr eng gestellte Aufgabe. Die Schweiz hat zwar einen spezifischen
Ausgangspunkt, nämlich die Frage des ➤ Raubgoldes, gewählt. Darüber hinaus hat die
Schweizer Kommission aber den Auftrag, sozusagen den Gesamtkomplex der Geschichte
der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs und während der Nazi-Deutschland-Periode
aufzuarbeiten und dazu Stellung zu nehmen. Das halte ich für eine wichtige Sache – das ist
in Österreich nicht geschehen, es bleibt hier für die Forschung also noch vieles offen.
Der Auftrag an die österreichische Historikerkommission lautet, den Vermögensentzug
in Österreich während der NS-Zeit und Rückstellungen und Entschädigungen nach
1945 zu untersuchen. Welche Opfergruppen waren davon betroffen?
Es geht hauptsächlich um die jüdische Bevölkerung, die in Österreich gelebt hat, die als
jüdische Bevölkerung durch die ➤ Nürnberger Rassengesetze kategorisiert wurde, und es
geht um die Zwangsarbeiter. Das sind die beiden wichtigsten Gruppen, auch in der Anzahl
der betroffenen leidtragenden Personen. Dann geht es um kleinere Gruppen, die mehr oder
weniger stark betroffen sind. Eine relativ kleinere Gruppe ist zum Beispiel die slowenische
in Kärnten. Eine andere Gruppe, die auch relativ klein, aber besonders stark betroffen ist,
sind zum Beispiel die Roma.
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Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
Interview mit Karl Stuhlpfarrer
Warum wurden andere Gruppen von Geschädigten des Nationalsozialismus bzw.
des Zweiten Weltkriegs, zum Beispiel Bombenopfer oder die als Folge des Krieges
Vertriebenen, nicht in den Arbeitsauftrag der Kommission einbezogen?
Die Vertriebenen und die deutsch- und anderssprachigen Minderheiten hauptsächlich aus
den nord- und südosteuropäischen Nachbarstaaten Österreichs sind im Auftrag der Historikerkommission nicht enthalten, da er sich auf den Vermögensentzug in Österreich beschränkt. Er bezieht sich nicht auf den Vermögensentzug heute in Österreich lebender Personen, die außerhalb Österreichs durch Einwirkung der Nationalsozialisten Vermögensverluste erlitten haben. Deswegen ist die Frage der deutschsprachigen Minderheiten, die
aus den nord- und südosteuropäischen Nachbarstaaten Österreichs geflüchtet sind oder
vertrieben wurden – entweder noch von der ➤ SS oder dann nach Kriegsende von den
neuen Regimes in den ostmitteleuropäischen Ländern –, eine Frage, die vor allem in diesen
Ländern diskutiert werden sollte und muss. Das heißt nicht, dass das nicht Gegenstand der
historischen Forschung sein soll, aber es ist nicht Gegenstand des Auftrags der österreichischen Historikerkommission.
Hatten Bombenopfer und Vertriebene in Österreich Anspruch auf Entschädigung?
Was die Vertriebenen betrifft, ist das Grundproblem ein staats- und völkerrechtliches. Die
österreichische Bundesregierung ist jetzt bereit, Mitverantwortung von Österreichern an
NS-Verbrechen anzuerkennen. Sie ist jedoch nicht bereit, die seit 1945 eingenommene
Position aufzugeben, dass Österreich ab März 1938 als Staat nicht mehr existiert hat und
als solcher auch nicht am Krieg beteiligt war. Deswegen ist die Frage der Entschädigung
von Vertriebenen nicht Gegenstand der Überlegungen der Republik Österreich und ihrer
Repräsentanten. Seit 1945 ist viel dazu gesagt worden, um diesen Standpunkt zu untermauern. Man könnte auch einiges dagegen sagen, besonders was die Bundesländer
betrifft, die sich ja nicht – mit Ausnahme des Burgenlands und Vorarlbergs 2 – aufgelöst
haben. Die Frage der Vermögensverluste der deutsch- und anderssprachigen Vertriebenen
muß in einer anderen Weise diskutiert werden. Diese Frage kann man nicht an Österreich
adressieren. Bei der Historikerkommission geht es darum – und das ist die Hauptsache –,
wo die Vermögen geraubt worden sind. Das ist zum größten Teil eben hier in Österreich,
das heißt auf dem Gebiet des heutigen Österreich, und hier wiederum vor allem in Wien.
Das ist das Zentrum der Problematik, und das muss zuerst und in aller Intensität bearbeitet
werden – ohne dass man das andere vergisst. Das zweite ist die Frage der Bombenopfer.
Das ist ein schwieriges Problem, weil sich Bomben nicht um Schuldige und Unschuldige
kümmern, nicht um Kollaborateure und um Widerstandskämpfer, um das breiteste Spektrum
zu nennen. Bombenschäden sind eine Kriegsfolge, die nicht aus einer direkten, intentionalen Aktion des Naziregimes entstanden ist. Mittelbar natürlich schon, indem das Naziregime auf Kriege angewiesen war und durch den Krieg die Bomben evoziert hat. Es ist aber
keine direkte Aktion, wie etwa die Enteignungsaktion des Naziregimes als Staat, oder
auch das, was als geduldete Aktion unmittelbar nach der NS-Machtübernahme in Österreich im März 1938 geschehen ist. Das heißt nicht, dass man das nicht untersuchen soll,
jedoch nicht im Rahmen dieses Auftrags der Historikerkommission. Ein drittes Problem sind
die deutsch- und anderssprachigen Umsiedler im weitesten Sinn, z. B. jeden aus Südtirol.
Da ist es schon schwierig festzustellen, wo der Vermögensentzug stattgefunden hat, ob im
Ausland oder in Österreich. Auch das ist ein wichtiges, aber kein prioritäres Problem. Wir
haben eine bestimmte Zeit, eine bestimmte Kapazität an Forschern, eine bestimmte Summe
Geld. Da muss man ganz einfach eine Reihung treffen: Das Vorrangige macht man zuerst
und das andere, wie ich hoffe, danach.
Sie sind ständiger Experte der Historikerkommission. Was heißt das, und was ist
Ihre Aufgabe in der Kommission?
Ich möchte zunächst deutlich sagen, dass ich hier nicht für die Historikerkommission
spreche, sondern nur für mich persönlich. Ich gehe davon aus, dass ein Widerspruch
Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
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Was schon vor 30 Jahren hätte geschehen sollen
bestand zwischen der Auffassung der Auftraggeber, die Zahl der Kommissionsmitglieder
auf sechs zu beschränken, und der Notwendigkeit, ein breiteres Forschungsfeld abzudecken. Deswegen war die Historikerkommission der Auffassung, dass drei Experten hinzugezogen werden sollen – und das sind ein Jurist, eine Wirtschaftshistorikerin und ich.
Ich habe im Wesentlichen über drei Themen gearbeitet, die sich direkt mit den Forschungsfragen der Kommission beschäftigen. Das eine ist die Frage der Verfolgung und
Entrechtung der Juden, dann über die Kärntner Slowenen und über die Umsiedlung der
Südtiroler.
Was sind die Ziele, was ist das Erkenntnisinteresse der Kommission? Geht es in
erster Linie darum, den Umfang von Vermögensentziehung und Rückstellung zu
erfassen? Geht es um die Analyse des nationalsozialistischen Systems der
Bereicherung, oder geht es um die Perspektive der Opfer?
Hier gibt es zwei wichtige Aspekte. Der eine ist, den Umfang des Raubs festzustellen, wer
beraubt worden ist und durch wen, und schließlich auch festzustellen, ob die Rückgabe
des geraubten Vermögens oder die Entschädigung für alle diese Gruppen gleichmäßig
oder unterschiedlich gehandhabt wurde. Das ist, glaube ich, ein wichtiges Erkenntnisziel.
Das ist auch wichtig für die Einschätzung der gesellschaftlichen Situation von Beginn an
durch die ganze Zweite Republik. Und das Zweite ist meiner Meinung nach das Vermittlungsinteresse der Historikerkommission, und nicht nur der Kommission, sondern aller
Historiker, die zu diesem Themenbereich arbeiten. Das ist, wenn man so will, ein aufklärerischer Impetus: Deutlich zu machen, oder um es einmal umgekehrt zu sagen, unmöglich zu machen zu leugnen, dass die nationalsozialistische Beraubung und die Verzögerungen und Ungerechtigkeiten bei der Restitution geschehen sind. Das ist ja noch
immer nicht Allgemeingut, das ist in der österreichischen Geschichtskultur bislang nicht
verankert. Diese Geschichtskultur oder dieses kollektive Geschichtsbewusstsein zu verändern, ist immer auch eine Aufgabe der Geschichtswissenschaft und ihrer Vermittlungsanstrengungen.
Die Historikerkommission hat zunächst den Auftrag, den Themenkomplex
Vermögensentzug, Zwangsarbeit, Rückstellung und Entschädigung zu erforschen.
Es gibt von Seiten der Politik darüber hinaus die Erwartung, dass sie damit konkrete
und endgültige Entscheidungsgrundlagen für ausstehende Rückstellungen und
Entschädigungen schaffen könnte. Kann und will die Kommission das?
Die Historikerkommission wird keine Einzelfälle untersuchen, und wenn, nehmen wir an, die
Republik Österreich beispielsweise die Zwangsarbeiter entschädigen will, so würde ich
sagen, soll sie einen Gesetzesvorschlag als Regierungsvorlage oder Initiativantrag ins Parlament einbringen, in dem steht: Jeder, der Zwangsarbeit geleistet hat, ist zu entschädigen.
Dann geht es um die Definition dessen, was Zwangsarbeit heißt, um den Nachweis, dass
es in Österreich geschehen ist, und um die Summe, die bezahlt werden soll. Dafür braucht
man keine Historikerkommission, sondern so etwas wie eine Organisation, die das überprüft und auszahlt.
Konkrete Rückstellungen und Entschädigungen werden also nicht von den
HistorikerInnen bzw. von der Forschung der Historikerkommission abhängen?
Nicht als Einzelfälle. Aber es ist sicher eine Aufgabe der Historikerkommission, zur Frage
der Zwangsarbeiter zu differenzieren, was als Zwangsarbeit gewertet werden kann und
muss. Es wird auch ihre Aufgabe sein, in den einzelnen Projekten festzustellen, wie die
realen Lebens- und Arbeitsbedingungen dieser Arbeiter und Arbeiterinnen etwa in der
Industrie oder in der Landwirtschaft waren, und das wird sicher einen Beitrag zur
Entschädigungsfrage leisten. Aber von Seiten der Politik die grundsätzliche Bereitschaft auszudrücken: „Wir sind bereit, diesen Menschen eine Entschädigung zu zahlen“, das ist
immer möglich. Und das sollte auch möglichst bald geschehen.
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Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
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Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
Interview mit Karl Stuhlpfarrer
Wie sehen Sie die Rolle der politisch Verantwortlichen im Zusammenhang mit
Rückstellungen und Entschädigungszahlungen?
Das hängt davon ab, wie sie agieren. Wenn sie rückstellen und entschädigen, sehe ich ihre
Rolle positiv. Wenn sie es nicht vollständig tun, dann tun sie das, was die Republik seit
1945 getan hat.
Wie verortet sich die Historikerkommission in dem Spannungsfeld – einerseits
wissenschaftliche Forschung, andererseits ein politischer Auftrag? Entsteht daraus
nicht auch für die HistorikerInnen eine problematische Situation?
Als Wissenschaftler sehe ich das Problem in zwei Dingen. Das eine ist, dass die Kommission missbraucht werden kann, um etwas zu verzögern. Dagegen hat sich die Kommission
aber immer explizit ausgesprochen. Das zweite ist, dass die Frage der Analyse der NSPeriode in Österreich und ihres Fortwirkens nach 1945 natürlich in diesem eng gefassten
Forschungsauftrag nur teilweise dargestellt werden kann. Die Frage der Partizipation der
Österreicher, des Landes, die Frage der Transformation der Gesellschaft, der Fortdauer der
Ideologie wird nicht direkt durch die Kommission bearbeitet, ist aber mindestens ebenso
wichtig. Das ist kein Vorwurf – weder an die Kommission noch an die Auftraggeber. Ich
begreife diese Kommission wirklich als Chance, wichtige Fragen zu bearbeiten. Die Möglichkeit, dass sie von Politikern in anderer Weise instrumentalisiert werden kann, besteht
wie bei allen anderen Kommissionen und Unternehmungen dieser Art auch. Das eine ist
die Hinausschiebestrategie, das zweite ist, dass man sagt, es ist einseitig, weil es eben
primär die Vermögensverluste von Juden nach den Nürnberger Rassengesetzen betrifft. Das
dritte ist, dass es als Alibi für das Ausland benützt wird nach dem Motto: „Wir tun eh alles.
Wir haben jetzt eine Historikerkommission eingesetzt, und das genügt schon.“ So wie das
auch immer wieder im Laufe der Zeit nach 1945 passiert ist. Aber mit dem Risiko arbeitet
man immer. Wir haben ja jahrzehntelang unter forschungsmäßig schlechten Bedingungen
gearbeitet, und damals hat uns niemand zugehört. Zum Beispiel, als ich 1974 in dem Sammelband über das historische Judentum meinen ersten Artikel zu dieser Frage publiziert habe,3 da gab es eine große Pressekonferenz, ein riesiges Interesse, und das hat, glaube ich,
drei Tage gedauert, und dann war Schluss. Obwohl dieses Buch als Antwort auf eine Serie
in der Kronen Zeitung gedacht war, die Viktor Reimann geschrieben hat. Das war auch der
Grund, warum die Pressekonferenz so groß war, darüber hinaus war das öffentliche Interesse aber praktisch gleich Null. Und dann kam die Fernsehserie „Holocaust“, und es gab
wieder ein riesiges Interesse und große Emotionen, aber das dauerte nicht lange. Dann
kam das Gedenkjahr 1988 mit vielen Veranstaltungen und Diskussionen – da war das
öffentliche Interesse schon etwas größer und ausdauernder. Man muss es also immer wiederholen, man muss repetitiv vorgehen, wie Lernprozesse eben sind. Und manchmal wird
es gehört und manchmal nicht. Jetzt gibt es eine Chance, dass viel gehört wird, und diese
Chance muss man nützen.
Wie unabhängig können Kommissionen sein, die von der Regierung oder auch
von Firmen, von Banken und Konzernen eingesetzt werden? Können daraus
nicht auch Loyalitätskonflikte für die ForscherInnen entstehen?
Bei Firmen weiß ich es nicht oder noch nicht. Bei der Historikerkommission habe ich jedenfalls nicht größere Probleme mit Loyalitätskonflikten als als pragmatisierter Beamter oder
Universitätsprofessor. Und die habe ich bis jetzt immer ganz gut ausgehalten. Es hat mir
auch niemand etwas getan. Man kann in diesem Land kontrovers sein, ohne dass einem
gleich irgendetwas Dramatisches passiert. Das Übliche, was einem passieren kann, ist,
dass man nicht gehört wird. Nicht einmal ignorieren – das ist die Strategie des Landes
Österreich.
Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
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Was schon vor 30 Jahren hätte geschehen sollen
Welche Konsequenzen ergeben sich für die historische Forschung aus der
gegenwärtigen „Konjunktur“ der Zeitgeschichte durch die Einsetzung von
Kommissionen und Forschungsteams und durch den gestiegenen
Einfluss auf aktuelle gesellschaftspolitische Debatten?
Das sehe ich nicht nur positiv, denn das Geld, das jetzt in diese Kommission und, wie ich
schon oft genug gesagt habe, mit gutem Grund hineingeht, das fehlt woanders. Es werden
jetzt nicht mehr Zeitgeschichteprojekte gefördert werden als vorher. Der zweite Punkt ist,
dass durch die Aufgabenstellung ein bestimmtes Paradigma der Forschung forciert wird,
und alle anderen müssen sich sehr viel mehr anstrengen, um Fundraising zu betreiben und
Ähnliches. Es hat schon auch eine starke Sogwirkung, die andere Bereiche, also ich möchte
nicht sagen: schädigt, aber zumindest die notwendige Förderung verlangsamt.
Könnte man jetzt zugespitzt fragen: Wird die historische Forschung durch diese
Kommissionen monopolisiert und institutionalisiert?
Nein, das glaube ich nicht. Es gibt genügend Leute, die nicht in der Kommission sind, und
sogar die, die in der Kommission sind, arbeiten nicht nur an diesen Fragen weiter. Ich selbst
beschränke mich in meiner Forschung und Lehre in der Zukunft nicht nur auf den Gegenstand
des Auftrags der Kommission. Ich gebe zu, es wird ein gewisser Druck – also ich rede jetzt
von mir als Person – auf mir liegen, die Gewichtung zugunsten dieses einen Feldes zu verlagern. Es gibt aber genügend andere Leute, die auf anderen Feldern weiter arbeiten. Was ich
mir wünsche, ist, dass diese Leute gute Projekte kriegen, dass diejenigen, die im Ministerium
und anderswo dafür zuständig sind, begreifen, dass Zeitgeschichte etwas kostet. Vor allem
dann, wenn man die neuen Medien – ein Feld, das ich für mindestens ebenso wichtig halte –
berücksichtigt. Für mich ist das Dramatische, dass wir in der Situation sind, etwas machen zu
müssen, was schon vor 30 Jahren hätte geschehen sollen und hätte geschehen können, und
was damals nicht geschehen ist. Wir müssen etwas nachholen, und das lastet auf uns. Deswegen können wir andere Dinge nicht tun, die wir heute tun könnten, wenn das andere schon
geschehen wäre. Aber trotzdem muss es getan werden. Dieser time lag ist aber nicht nur ein
Problem der Forschung, sondern der Entwicklung des gesamtgesellschaftlichen Bewusstseins.
Welche Auswirkungen werden Ihrer Meinung nach die Arbeiten der
Historikerkommission auf den Umgang mit der Vergangenheit, auf das kollektive
Geschichtsbewusstsein und auf der anderen Seite für die Opfer des
Nationalsozialismus haben?
Was die Leidtragenden betrifft, hoffe ich, dass sie endlich ihre Vermögen restituiert bekommen, und dass sie entschädigt werden, auch wenn das nicht alles ist. Was die Historiker betrifft, hoffe ich, dass es nicht dabei bleibt, dass sie einen Endbericht schreiben, ihn publizieren
und sich dann verabschieden, sondern dass sie dann mit der Arbeit beginnen, die ebenso
wichtig ist, nämlich mit der Vermittlungsarbeit. Das läuft über die Medien und über die Institutionen der Sozialisation, also von der Schule über die Erwachsenenbildung, Lehrerfortbildung
usw. Und das ist ein langer und anstrengender Prozess. Aber ich bin zuversichtlich, dass das
gelingen wird, die Situation ist heute ja schon viel besser als vor zehn Jahren.
Univ.-Prof. Dr. Karl Stuhlpfarrer ist Historiker am Institut für Zeitgeschichte der
Universität Wien und ständiger Experte der Historikerkommission.
1
2
Zur Frage der noch während der NS-Zeit gekündigten jüdischen
MieterInnen und der nach 1945 nicht rückgestellten Mietwohnungen siehe Kapitel 1 und 4.
Im Zuge der Umstrukturierung der Verwaltung Österreichs nach
dem Anschluss im März 1938 wurden in der „Ostmark“ sieben
Reichsgaue errichtet, die mit wenigen Ausnahmen im Wesentlichen den Grenzen der bisherigen Bundesländer entsprachen: Das
Burgenland wurde geteilt, das nördliche Burgenland wurde in den
Gau „Niederdonau“, das südliche Burgenland in den Gau „Steier-
150
3
mark“ eingegliedert. Die Bundesländer Tirol und Vorarlberg wurden zum Gau „Tirol-Vorarlberg“ zusammengefasst. Der Gau „Niederdonau“ umfasste gegenüber dem Bundesland Niederösterreich
zusätzlich Teile der besetzten südmährischen Gebiete, jedoch nicht
Wien.
Karl Stuhlpfarrer, Antisemitismus, Rassenpolitik und Judenverfolgung in Österreich nach dem Ersten Weltkrieg, in: Das österreichische Judentum. Voraussetzungen und Geschichte, red. v.
Nikolaus Vielmetti, Wien/München 1974, S. 141-164.
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„Was jetzt passiert, wäre vor 15 Jahren noch
undenkbar gewesen“
Interview mit Bertrand Perz
Warum werden in Österreich heute, mehr als 50 Jahre nach Ende der
nationalsozialistischen Herrschaft, wieder Diskussionen um Entschädigungen
und Rückstellungen geführt?
Perz: Das hat viele Faktoren, innen- und außenpolitische und zeitliche, etwa die Generationenabfolge und damit verbunden die Nähe oder Distanz der Generationen zum Nationalsozialismus. Zur Vorgeschichte der Historikerkommission hat sicher sehr stark eine internationale Entwicklung außerhalb Österreichs beigetragen.Es gibt in Europa seit längerem eine
Diskussion über den Umgang mit dem Nationalsozialismus. Dazu kommt, dass seit 1989
diese Diskussion nicht mehr entlang des Ost-West-Konflikts abläuft, sondern dass man jetzt
offener diskutiert über Kollaboration, über den Umgang der einzelnen Staaten, seien es besetzte, neutrale oder am Nationalsozialismus beteiligte Länder, mit den jeweils involvierten
gesellschaftlichen Gruppen nach 1945. Das heißt, sowohl mit den Kollaborateuren als
auch mit den Leuten, die im Widerstand waren, und mit den Leuten, denen ihr Vermögen
geraubt wurde. Diese europaweite Diskussion, für die die Schweiz in den letzten Jahren ein
Paradebeispiel ist durch die Einsetzung von Historikerkommissionen und durch hitzige
öffentliche Debatten über ihre Vergangenheit, hängt auch mit den ➤ Sammelklagen zusammen. Dieses Rechtsinstrument, das es seit den sechziger Jahren in den Vereinigten Staaten
gibt und das die Möglichkeit bietet, dass mehrere Dutzend oder hunderte Personen eine
gemeinsame Klage einreichen können, wird seit zwei oder drei Jahren auf den Bereich der
Entschädigung für Holocaust-Opfer angewandt. Die Sammelklagen haben die generelle
Tendenz, nämlich die historische Debatte auf eine Rechtsfrage und auf eine ökonomische
Frage zu verschieben, enorm beschleunigt. Die ökonomische Frage bzw. der ökonomische
Druck mittels Rechtsstreit hat eine Debatte über die NS-Vergangenheit in einer Weise
erzwungen, wie sie vorher nie stattgefunden hat. Es gab sie zwar, aber sie war nie so tiefgehend, hat selten so weite Kreise der Gesellschaft erfasst wie jetzt. Der zweite Faktor ist
ein innenpolitischer: Im Fall der Historikerkommission war es so, dass die ➤ Israelitische
Kultusgemeinde eine Kommission zur Untersuchung der Enteignungen und Rückstellungen
gefordert und dabei aber sehr vorsichtig agiert hat, indem sie gesagt hat, es geht nicht um
Geld, sondern um Bewusstmachung. Und diese Forderung nach Aufklärung in Kombination
mit der für die Regierung sich überschlagenden Entwicklung seit dem Sommer 1998, als
plötzlich Sammelklagen gegen eine Reihe von österreichischen Unternehmen gerichtet
wurden, hat eine enorme Dynamik bekommen. Das sind auslösende Faktoren, aber natürlich stellt sich heute überhaupt die Frage des Verhältnisses zum Nationalsozialismus. Die
Generation, die jetzt klagt, sind Leute, die schon sehr alt sind, die nicht mehr beruflich aktiv
oder politische Entscheidungsträger, sondern die in Pension sind. Ich denke, das ist jetzt die
letzte Debatte, bevor es ein rein historisches Ereignis wird, bevor niemand mehr lebt, der
den Nationalsozialismus bewusst oder aktiv erlebt hat. Und schließlich gibt es auch eine
Dynamik, die aus den Reaktionen der jeweils betroffenen Länder entsteht und wie dieses
Thema dort diskutiert wird, das hat natürlich einen Verstärkungseffekt.
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Vor 15 Jahren noch undenkbar
Warum wurde die Historikerkommission eingesetzt?
Wie die Entscheidungsbildung in der Regierung und im Parlament im Detail verlaufen ist,
weiß ich nicht. Mit ausschlaggebend war sicherlich auch, dass die beklagten Unternehmen
zu den größten österreichischen Unternehmen gehören wie die VOEST oder die Bank Austria. Und da es bei den eingeklagten Summen nicht um Kleinigkeiten geht, waren vermutlich die Regierung und auch das Parlament, im Wesentlichen SPÖ und ÖVP, der Meinung,
dass man hier etwas tun muss. Dazu kam noch die Frage der Entschädigung für Zwangsarbeiter, vor allem ein polnischer Verband ehemaliger Zwangsarbeiter ist 1998 in dieser
Frage aktiv geworden. Und man hat dann einfach geschaut, wie andere Länder mit diesen
Forderungen umgehen. Ich glaube, es hätte in Österreich keine Historikerkommission gegeben, wenn es nicht in der Schweiz schon vorher eine solche Kommission gegeben hätte.
Da hat man gesehen, welche Möglichkeiten der Schadensbegrenzung es gibt, die Schweiz
war quasi dafür das Vorbild. Im November oder Dezember 1997 fand außerdem statt, die
➤ Londoner „Raubgold-Konferenz“, auf der schon eine Reihe involvierter Staaten Bericht
erstattet haben über ihre Rolle beim Handel mit Raubgold. Auch Österreich ist dort aufgetreten, hatte aber noch keinen Bericht vorzulegen. Im Dezember 1998 fand dann die
➤ Washingtoner Konferenz über geraubtes Gut bezüglich des Holocaust – „Holocaust Era
Assets“ – statt, und dort legten ungefähr 40 oder 50 Staaten Berichte vor. Das hat eine
enorme Dynamik bekommen, die auch mit den Sammelklagen zu tun hat und mit der Rolle
der Vereinigten Staaten in diesem ganzen Prozess, die manche Staaten loben, manche
tadeln, aber immer positiv verstärkend nach dem Motto „Alle sollen jetzt etwas tun, ihre
Vergangenheit aufarbeiten“. Auch in anderen Ländern gibt es inzwischen die Überlegung,
diese Fragen durch Kommissionen zu regeln und zu hoffen, dass die Kommissionen ein
Stück weit auch die Politik entlasten im Sinne von „Man tut ja etwas, und man gibt die
notwendige Expertise in Auftrag.“ Ich denke, diese internationale Dynamik hat auch für die
österreichische Entscheidung bezüglich einer Historikerkommission eine große Rolle
gespielt.
Welche Bedeutung hat der Status einer Kommission auf ihr Mandat und auf ihre
Kompetenzen im Vergleich zu herkömmlichen Forschungsprojekten?
Bei herkömmlichen Forschungsprojekten muss man grundsätzlich zwischen einer Antragsund einer Auftragsforschung unterscheiden. Die Arbeit der Kommission fällt in den Bereich
von Auftragsforschung, wenn man das Ganze jetzt nur auf der Forschungsebene sieht. Der
Unterschied zur herkömmlichen Forschung ist natürlich groß, Forschungen im historischen
Bereich sind letztlich immer an Universitäten oder ähnliche Forschungsinstitutionen angebunden und in der Regel Antragsforschungen, also selbst konzipierte und eingereichte
Projekte. Der zentrale Punkt bei der Antragsforschung ist die Einreichung und die Genehmigung des Projektes, das Endergebnis ist zunächst vergleichsweise weniger wichtig, à la
longue natürlich schon. Bei einer Historikerkommission ist das Ergebnis alles, eine Kommission wird zu einem bestimmten, klar definierten Ziel eingesetzt. Das ist reine Auftragsforschung. Ein zweiter, vielleicht noch wichtigerer Punkt ist das Verhältnis von Auftraggebern
und Auftragnehmern. Man muss dabei zwischen verschiedenen Kommissionen unterscheiden. Es gibt, auch in anderen Ländern, Kommissionen, die von Regierungen eingesetzt sind
oder von Parlamenten, es gibt aber wesentlich mehr Kommissionen, die von Firmen oder
von privaten Rechtsträgern eingesetzt werden, die speziell für diese Rechtsträger forschen.
Bezüglich der Frage der Abhängigkeit kann man natürlich sagen, dass jede Institution, die
eine Kommission einsetzt, damit bestimmte Interessen verbindet, das ist klar. Die Frage ist
nur, welche Interessen das konkret sind und was das für den Erkenntnisprozess der jeweiligen Kommission oder des Untersuchungsteams bedeutet. Da gibt es Unterschiede in Bezug
auf das Naheverhältnis zwischen Auftraggebern und Auftragnehmern, auf die Frage von
Abgrenzung, Freiheit, Spielräumen. Wenn wir eine Firma nehmen wie zum Beispiel die
Deutsche Bank oder eine andere Bank, die Historiker beauftragt, ihre Firmengeschichte
unter einem bestimmten Aspekt zu untersuchen, dann will sie damit natürlich einerseits eine
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Interview mit Bertrand Perz
Art Expertise haben und wissen, was damals wirklich geschehen ist, – woher sollen die heutigen Vorstandsmitglieder einer Bank das auch wissen? Dann geht es bei Unternehmen auch
sehr stark um Imagefragen, das gilt für die deutschen Unternehmen wie für die schweizerischen und auch für die österreichischen, die Forschungsteams eingesetzt haben. Ein Problem dabei ist, dass in dem Moment diejenigen, die diese Fragen erforschen, das sind in
erster Linie Historiker, aber auch Ökonomen und Juristen, enorm aufgewertet werden, weil
sie jetzt gefragt sind. Gleichzeitig kann es dann aber sehr schnell wieder eine Abwertung
der historischen Forschung geben, wenn eine Firma sagt: „Das Wichtigste für uns ist, dass
es nicht zu einem Prozess kommt, weil wir den nicht durchstehen.“ Ein Prozess dauert unter
Umständen fünf Jahre, das wäre für das Image eines Unternehmens so schädlich, dass nicht
der Prozess und die eventuellen Zahlungen das Problem sind, sondern der drohende Imageverlust. Daher versuchen manche Firmen jetzt, sich bereits im Vorfeld eines solchen Verfahrens zu vergleichen, ohne die historischen Ergebnisse abzuwarten. Die Rechtsabteilungen
sind gezwungen zu verhandeln, während gleichzeitig noch historische Untersuchungen
laufen. Auf dieser Ebene gibt es also sofort wieder die Entwertung der historischen Forschung, sie ist quasi nur auf einer Imageebene wichtig. Trotzdem ist es meiner Meinung
nach gut, dass die historischen Fakten auf den Tisch kommen. Das andere Problem ist die
Frage der Abhängigkeit. In dem Moment, wo eine Firma beklagt ist, ist das, was ein Team
von geschichtswissenschaftlich ausgebildeten Leuten herausfindet, unmittelbar rechtsrelevant. Als der „Goldbericht“, ein Zwischenbericht der ➤ Bergier-Kommission, veröffentlicht
wurde, hat sofort am nächsten Tag, ich glaube, es war Ed Fagan oder ein anderer Anwalt,
die Schweizer Nationalbank geklagt. In dem Moment ist man als Historiker natürlich nicht
mehr außerhalb dieses politischen Spiels, auch wenn man versucht, draußen zu bleiben. Es
könnte zum Beispiel durchaus sein, dass eine Firma sagt, sie möchte, dass ein Bericht erst
zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlicht wird. Damit muss man dann als Wissenschaftler
in irgendeiner Weise umgehen. Andererseits ist es auch ganz interessant zu beobachten,
dass die Firmen, vor allem die deutschen Firmen in der Regel sehr renommierte Wissenschaftler für diese Projekte engagieren, vor dem Hintergrund der Imageüberlegung, dass es
nämlich überhaupt nichts nützt, jemanden die Untersuchung machen zu lassen, der nur in
den Verdacht kommt, er könnte von der Firma abhängig sein, denn das wäre rausgeschmissenes Geld. Es geht also vielfach gar nicht um die unmittelbare Rechtsrelevanz, sondern es
geht vor allem um das Image. Und da ist es sehr wichtig zu signalisieren, dass man unabhängig forscht. Auf der Ebene von Regierungskommissionen ist das ein bisschen anders.
Die Schweiz hat zum Beispiel eine Kommission, die relativ unabhängig ist. Sie hat einen
großen Spielraum, weil es ein eigenes Gesetz gibt für diese Kommission und weil der
Rechtsrahmen so gesteckt ist, dass sie mehr oder weniger unabhängig von den Auftraggebern agieren kann. Das heißt natürlich nicht, dass es von den Auftraggebern her nicht
auch Überlegungen geben wird, wie man möglichen Schaden von der Schweiz abwälzen
kann. Aber unmittelbar auf die Forschungsergebnisse der Kommission hat die Bundesversammlung keinen Einfluss.
Sie sind nicht nur Mitglied der österreichischen Historikerkommission, sondern auch
Mitarbeiter der Bergier-Kommission. Welche Unterschiede gibt es zwischen den von
den Regierungen der Schweiz bzw. Österreichs eingesetzten Historikerkommissionen?
Wenn man die Historikerkommissionen in der Schweiz und in Österreich vergleicht, dann
ist sicher der auffälligste Unterschied, dass in der Schweiz die Kommission anders entstanden
ist als in Österreich. Das hat viele Gründe, zum einen gab es einen enormen Schock, in
der Schweiz, weil sie von ihrem Selbstverständnis her mit dem Nationalsozialismus nichts
zu tun hatte und plötzlich, auch von innen her, so massiv mit diesen Fragen konfrontiert
wurde. Die Schweiz wurde in einem unheimlichen Tempo von der Geschichte eingeholt,
wenngleich man auch sagen muss, dass die Schweiz schon in den letzten zehn Jahren begonnen hat, intensiver über ihr Selbstbild zu diskutieren. Aber der Schock war sicher groß,
und das ist auch mit als Grund anzusehen für die weitreichenden Kompetenzen, die der
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Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
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Bergier-Kommission per Gesetz eingeräumt wurden, zum Beispiel im uneingeschränkten Zugang zu allen Archiven, auch zu Privatarchiven, was ja rechtlich nicht ganz einfach ist.
Außerdem gibt es in der Schweiz einen klaren Auftraggeber: die Bundesversammlung, also
das Parlament. In Österreich ist der Auftraggeber demgegenüber ein kompliziertes Zwitterwesen zwischen Parlament und Regierung, bzw. Kanzler, Vizekanzler, Präsident des Nationalrates, Präsident des Bundesrates – also eine komplizierte Konstruktion, die im Parlament
budgetiert wird, gleichzeitig sind die Auftraggeber aber zum Teil in der Regierung. Außerdem gibt es keine eigene gesetzliche Regelung für die Kommission, sondern quasi nur ein
Mandat von Seiten der Auftraggeber. Wenn man das Procedere mit der Schweiz vergleicht, ist die Position der Kommission also etwas unklarer. Die Frage, wie abhängig eine
solche Kommission von den Auftraggebern ist, ist deshalb auch sofort gestellt worden.
Wenn man zum Beispiel das Schweizer Modell gewählt hätte, wäre eine derartige Diskussion vermeidbar gewesen.
Wie lassen sich die beiden Kommissionen in Bezug auf den
Forschungsauftrag vergleichen?
Als Mitarbeiter der Bergier-Kommission darf ich laut Vertrag über die Kommission keine
Auskünfte geben. Das heißt, ich darf zur Bergier-Kommission nicht öffentlich Stellung nehmen, weder zu ihrer internen Gebarung noch zu ihren Aktivitäten. Daran sieht man auch
schon das Verhältnis von Kommissionen und ihren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, dass
nämlich die Kommissionen versuchen, nach außen ein einheitliches Gesamtbild zu zeigen.
Im Unterschied zur „normalen“ historischen Forschung, wo man in Eigenverantwortung
publiziert und an die Öffentlichkeit geht und die Ergebnisse auf Tagungen präsentiert, ist in
diesem Fall der Forschungs- und Publikationsprozess sehr institutionalisiert. Das ist auch
verständlich, weil die Idee bzw. das Ziel ja die Beantwortung bestimmter vorgegebener
Fragen ist, und man kann diese Fragen intern nicht wirklich ausdiskutieren, wenn man
dabei sofort ständig von den Medien widergespiegelt wird. Damit käme man sofort auf
eine Ebene der Verbreitung von Informationen, die viel zu schnell ist für das wissenschaftliche Arbeiten.
Trotzdem kann ich etwas zum Unterschied der beiden Kommissionen sagen. Der offensichtlichste Unterschied ist die historische Ausgangssituation der beiden Länder, die Schweiz
war in der NS-Zeit ein neutraler Staat, aber auch eine zentrale Finanz- und Rüstungswirtschaftsdrehscheibe für das Dritte Reich und insoweit in seinen wirtschaftlichen Beziehungen
für den ganzen europäischen Raum, aber auch für den Handel mit den Alliierten, für die
Nachrichtenflüsse der Alliierten etc. in der NS-Zeit massgeblich. Daher ist das Forschungsfeld der Kommission in der Schweiz so angelegt, dass es letztlich um diese internationalen
Beziehungen geht, mit dem Schwerpunkt auf den wirtschaftlichen Beziehungen der
Schweiz zum Dritten Reich. Das ist sehr komplex, weil die Kapitalflüsse, der Goldhandel
etwa, zwischen den Alliierten und den Achsenmächten verlief. Dazu gehören auch Devisengeschäfte zwischen den neutralen und den nichtneutralen Ländern, und alles, was im
weiteren Sinne noch damit zusammenhängt, etwa die Flüchtlingspolitik der Schweiz, weil
daran auch wieder Geldfragen hängen, z.B. Lösegelderpressungen, wenn man Juden aus
dem Dritten Reich hat ausreisen lassen und dafür hohe Beträge in Devisen wollte. All diese
Dinge sind großteils über die Schweiz abgewickelt worden, und insofern ist das Untersuchungsfeld der Schweizer Kommission sehr weit gefasst.
Die österreichische Situation stellt sich demgegenüber ganz anders dar. Hier geht es ja
nicht unmittelbar um die Frage der Involvierung Österreichs in das Dritte Reich, die ist ja
offensichtlich, sondern es geht ganz stark um die Frage, wie in der Nachkriegszeit mit
dem, was in der NS-Zeit passiert ist, umgegangen wurde. Die Frage des Umgangs nach
1945 verweist aber natürlich auch auf die Zeit davor. Man muss feststellen, was nach wie
vor ausgeblendet wird, zuwenig bewusst ist bzw. von der Forschung bislang nicht bearbeitet worden ist. Der Hauptansatz ist die Geschichte der Zweiten Republik, und die NSZeit ist die Voraussetzung, um sie zu verstehen. Das ist einerseits eine eingeschränktere
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Fragestellung, weil es ja „nur“ um Vermögensentzug im ganz strengen Sinne geht, gleichzeitig ist es ein enorm weites Feld, weil damit wiederum sehr vieles zusammenhängt. Das
Problem dabei ist, dass die ganze Frage des Vermögensentzugs auf dem Gebiet der Republik Österreich von einem sozusagen „virtuellen Raum“ ausgeht, da Österreich als Staat damals nicht existiert hat, im Unterschied zur Schweiz, die ein klar definierter Nationalstaat
mit klaren Grenzen war, die sich seitdem nicht geändert haben. Allein diese Abgrenzungsgeschichte ist sehr kompliziert.
Die zentralen Fragestellungen der beiden Kommissionen sind also in diesem Sinne sehr unterschiedlich, letztlich geht es bei beiden aber ganz stark um ökonomische Perspektiven.
Die Umrechnung der NS-Zeit in Geldwerte – also was ist verloren gegangen, was wurde
jemandem genommen, was wurde nicht zurückgegeben – ist sicher eine neue Tendenz in
der historischen Forschung und im öffentlichen Interesse an der NS-Zeit. Es ist interessant,
dass das jetzt nach 50 Jahren das Hauptthema ist – forschungspolitisch muss man ja immer
auch fragen, was mit dieser eingeschränkten Fragestellung eigentlich verdeckt wird und
was nicht gefragt wird.
Steht die österreichische Historikerkommission vor bestimmten Problemen, sei es
die begrenzte zeitliche Dauer der Forschung oder auch der Archivzugang?
Die begrenzte zeitliche Forschungsdauer haben wir uns selbst gewählt. Es ist sinnvoll, auch
in der Erwartungshaltung der Öffentlichkeit und der Auftraggeber, so etwas nicht zu lange
hinzuziehen. Es gibt ja daneben auch noch die normalen Forschungseinrichtungen, und die
sollen weiterhin ihre Forschungen machen. Die Kommission kann nicht Ersatz für die Forschungseinrichtungen eines Landes werden, sondern sie kann nur auf einer bestimmten Ebene
versuchen, bestimmte Fragestellungen zu beantworten. Sie kann nicht die Untersuchung
aller möglichen Phänomene leisten, die sicherlich auch zu untersuchen wären, sondern sie
kann einzelne Fallstudien machen und einen Überblick über bestimmte Problemkomplexe
geben. Beispielsweise können wir nicht alle ➤ „Arisierungsfälle“, die es in Österreich gab,
untersuchen, was ja manchmal ein bisschen die Erwartung an die Kommission ist.
Ein zentrales Problem unserer Arbeit ist vielmehr die Archivsituation, weil zwar geregelt ist,
dass auf der Ebene der Bundesarchive alle Materialien, die wir brauchen, einsehbar sind.
Auf der Ebene der Länder wird das vermutlich auch ohne Probleme gehen, soweit der momentane Stand ist, vielleicht wird es mit dem einen oder anderen Bundesland etwas schwieriger sein, aber grundsätzlich wird es gehen. Das Problem sind vielmehr die privaten Archive, im Bereich der ➤ „Arisierung“ sind das zum Beispiel die Archive der Großbanken, die
dabei eine maßgebliche Rolle gespielt haben, also CA und Länderbank, die jetzt im Besitz
der Bank Austria sind. Wie weit da Bereitschaft besteht, uns Zugang zu ihren Akten zu gewähren, ist noch nicht klar. Ebenso bei den Sozialversicherungen, da geht es zum Beispiel
um Sozialversicherungsdaten der Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen, usw. Da sind
wir momentan vom guten Willen dieser Unternehmen abhängig, im Gegensatz zur
Schweiz, wo der Zugang eben gesetzlich gewährleistet ist. Das andere Problem, das man
natürlich in der Zeitgeschichtsforschung immer hat, ist, dass viele Akten weg sind, dass sich
jetzt zum Beispiel herausstellt, dass ein ganz erheblicher Teil der Akten der Rückstellungskommissionen weggeworfen wurde, bis in die jüngste Zeit herauf. Das ist schon ein gravierendes Problem von der Aktenlage her. In anderen Bereichen wird es dagegen nicht so
schwierig sein, etwa festzustellen, wie viele Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen hat
es wo gegeben, das lässt sich alles eruieren. Bei Fallstudien kann es allerdings auch Probleme geben mit der Aktenlage in lokalen und regionalen Archiven.
Wie geht man im Forschungsprozess mit der lückenhaften Quellenlage, z.B. bei
Rückstellungsakten, um?
Das kann ich im Detail noch nicht sagen. Die Rückstellungsfrage ist auch nicht mein Arbeitsfeld, dazu gibt es innerhalb der Kommission andere Experten und Expertinnen. Aber
grundsätzlich muss man natürlich viel Phantasie aufwenden, wie man trotz des Fehlens von
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Vor 15 Jahren noch undenkbar
Unterlagen über Einzelfälle zu Gesamteinschätzungen kommen kann. Man muss zum Beispiel nach Ersatzdaten suchen, wenn ich die Unterlagen der Rückstellungskommissionen
nicht habe, wird eine Analyse der konkreten Rückstellungspraxis in den Verfahren aber
trotzdem schwierig sein. Das heißt, wir werden auch vor der Situation stehen, dass bestimmte Fragen zwar vielleicht von den Randbereichen her, etwa durch das Archiv eines
beteiligten Anwalts, zu beleuchten sind, aber nicht von den zentralen Institutionen her. Das
kann durchaus passieren, und das wäre ja auch ein Ergebnis. Ich halte es aber grundsätzlich für wichtig, dass jetzt eine Diskussion über das Archivgesetz in Gang gekommen ist
und dass es eine Sensibilisierung gibt hinsichtlich des Umgangs mit Archivmaterial, dass
z.B. private Archive ihre Akten nicht einfach wegwerfen dürfen. Über das Bundesarchivgesetz werden erstmals klare Abgaberegelungen für Akten geschaffen, die es ja bis jetzt
nicht gab. Die Ministerien konnten mit ihren Akten ja mehr oder weniger nach eigenem
Gutdünken verfahren. Diese Fragen werden jetzt etwas besser geregelt, was ansich dem
normalen Standard eines demokratischen Rechtsstaates entspricht. Die Archivierung von
Behördenvorgängen hat ja letztlich mit Fragen der Demokratie und des Rechtsstaates zu
tun. Das gilt nicht nur für die NS-Zeit, sondern es geht grundsätzlich darum, dass auch
Vorgänge der Nachkriegszeit und auch das, was gegenwärtig passiert, systematisch dokumentiert wird, damit später bei politischen Diskussionen über bestimmte Phasen der jüngeren Zeit anhand von Akten und anderen Quellen auch klare Urteile, Perspektiven etc.
entwickelt werden können. Das halte ich für ganz wesentlich.
Worin liegt das spezifische Erkenntnisinteresse der Historikerkommission?
Geht es primär darum, den Umfang von Vermögensentzug und Rückstellungen zu
erfassen, oder geht es auch um eine Analyse des nationalsozialistischen Systems der
Bereicherung oder um die Perspektive der Opfer?
Der Auftrag der Kommission ist auf der einen Seite relativ offen. Es geht um den gesamten
Vermögensentzug auf dem Gebiet der Republik Österreich, das umfasst auch den Vermögensvorenthalt, d.h. Lohnvorenthalt gegenüber Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen, und Entschädigung und Rückstellung. Es ist eine Frage der Interpretation, was das im
Konkreten bedeutet. Wenn man es von der Diskussion im Vorfeld der Kommission aus betrachtet, stand auf der politischen Ebene sicher ganz stark im Vordergrund, dass man eine
Expertise zur Frage der „Arisierungen“ und der Zwangsarbeit wollte. Interessant ist, dass
man das nicht explizit in den Auftrag hineingeschrieben hat, vermutlich gab es da eine
gewisse Scheu zu schreiben, dass man wissen will, was Juden und in Österreich weggenommen worden ist. Man hat stattdessen eine sehr neutrale Formulierung gewählt. Insoweit war es für die Kommissionsmitglieder eine sehr ungewohnte Situation, dass die Politik
einen Rahmen vorgibt, der eigentlich sehr viel Interpretationsspielraum läßt. Den „gesamten Vermögensentzug“ zu untersuchen, ist natürlich enorm komplex, und daher ging es uns
hauptsächlich darum, die Grenzen dieses Themenkomplexes festzulegen, diese Frage von
den Grenzen her zu diskutieren. Fällt zum Beispiel auch ein Raubüberfall im Nationalsozialismus unter „Vermögensentzug“? Wie definiert man die territorialen Grenzen des „Gebietes der Republik Österreich“? Was ist zum Beispiel, wenn jemand mit einem Teil seines
Geldes nach Prag flüchtete, dort von der ➤ Gestapo verhaftet und ihm das Geld dort abgenommen wurde, und er wurde vielleicht sogar wieder nach Österreich deportiert oder
auch nicht. War das Vermögensentzug in Österreich oder nicht? Was ist, wenn Österreicher den Freihafen von Triest ausgeräumt und die Waren nach Österreich gebracht
haben, war das Vermögensentzug in Österreich oder nicht? Man kann also viele thematische Grenzen diskutieren. Ein anderer Punkt ist, dass man viel über den Charakter des
NS-Systems wissen muss, um die Komplexität der Beraubungsvorgänge überhaupt zu verstehen. Ich muss natürlich auch wissen, wie der Handlungsspielraum und der Erwartungshorizont der potentiellen Opfer gegenüber der Beraubung war. Wie haben sie sich verhalten, was wurde ihnen dann weggenommen und in welcher Weise? Zum Beispiel die Frage
der Entscheidung österreichischer Juden, zu emigrieren oder nicht, bei der ➤ Vermögens-
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Interview mit Bertrand Perz
verkehrsstelle oder dann später bei der ➤ Zentralstelle für jüdische Auswanderung das
ganze Vermögen anzugeben oder zu sagen, „Ich gebe nicht das ganze Vermögen an,
riskiere aber, dass ich nicht ausreisen darf, weil die NS-Behörden vermuten, ich habe
noch irgendwo was versteckt, und das rücke ich nicht heraus. Kann auch sein, ich habe
nichts mehr, aber das glauben sie mir nicht.“ Diese Überlegungen – wie verhalte ich mich,
wann gehe ich, wann ist der richtige Zeitpunkt, oder schicke ich nur meine Kinder ins Ausland und bleibe selbst da? – hängen in hohem Maße von der Einschätzung des Charakters des NS-Regimes durch die Opfer selbst ab. Das heißt, die Perspektive der Opfer und
ihre Erfahrungen spielen eine wesentliche Rolle zum Verständnis bestimmter Vorgänge der
Beraubung. Denn die Beraubungsinstitutionen entwickelten zwar einen systematischen
Plan der völligen Beraubung der jüdischen Bevölkerung, aber sie „reagierten“ natürlich
auch auf das Verhalten ihrer potentiellen Opfer, die beiden Seiten sind verschränkt miteinander. Das gilt ein Stück weit auch für die Zwangsarbeit, wenn vielleicht auch nicht in
dem starken Ausmaß, aber wenn man etwa die Reaktion des Regimes auf Schwangerschaften der „Ostarbeiterinnen“, nämlich die Einrichtung von „Ostarbeiterinnen-Entbindungsheimen“ betrachtet, oder die Frage von sexuellen Kontakten zwischen Deutschen
und Ausländern, also die sogenannten „Rassenschande“-Geschichten, Arbeitsflucht, Verweigerung, bei all diesen Fragen müssen immer auch die Erfahrungen und Reaktionen der
Betroffenen berücksichtigt werden und wie wiederum NS-Behörden auf das Verhalten der
Betroffenen reagierten. Das hat aber seine Grenzen, wir schreiben nicht die NS-Geschichte
im Sinne einer Systemanalyse und auch keine Erfahrungsgeschichte der Betroffenen in der
NS-Zeit. Vom Auftrag der Kommission her steht im Vordergrund die Frage, was wurde den
Leuten in welcher Weise weggenommen, und welche Form von Zwang wurde auf sie ausgeübt? Die Idee der Auftraggeber der Kommission ist sicherlich, ein relativ umfassendes
Bild auch von den Größenordnungen des Vermögensentzugs und der Zwangsarbeit zu
vermitteln. Es geht primär um „handfeste“ Daten, festzustellen, es gab so und so viele
Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen, so und so viele leben wahrscheinlich noch,
und was das bedeutet.
Was sagen Sie zu der von manchen Kollegen und Kolleginnen geäußerten Kritik,
solche Kommissionen würden nur positivistische Geschichtsschreibung 1 betreiben?
Ich stimme der Ansicht zu, dass die Projekte der Kommission methodisch nicht speziell innovativ sind, das ist aber auch nicht die Idee einer Kommissionsarbeit. Das ist ähnlich wie bei
Gerichtsgutachten. Wenn man Gerichtsgutachten erstellt, dann geht es nicht um methodisch
innovative Verfahren, sondern da geht es darum, mit den vorhandenen methodischen und
theoretischen Möglichkeiten unter bestimmten Voraussetzungen bestimmte Fragen zu beantworten. Dass das zum Teil auch dem Vorwurf entspricht, positivistisch zu sein, verstehe ich
ein Stück weit. Natürlich läßt die Fragestellung nach dem Vermögensentzug für einen
großen Teil der Fragen, die in der Zeitgeschichtsforschung auch gestellt werden, keinen
Platz, aber es ist eben schwierig, von der Politik zu erwarten, dass die Fragen noch einmal
anders gestellt werden. Das bedeutet ja nicht, dass man methodisch vollkommen naiv an
die Dinge herangehen muss.
Wozu werden die Ergebnisse, die im Rahmen der Historikerkommission erarbeitet
werden, letztlich dienen? Werden sie eine Grundlage für Entschädigungszahlungen
und Rückstellungen sein?
Von den vier Auftraggebern, also Bundeskanzler, Vizekanzler, Bundes- und Nationalratspräsident, her ist es sicher stark als politische Handlungsanleitung oder als Legitimation für
politisches Handeln intendiert. Man will eine Expertise haben, die politisches Handeln legitimiert, um nach außen zu vertreten, warum man dieses und jenes tut. Es geht aber auch
um eine Bewusstmachung bestimmter Vorgänge, die in Österreich während des Nationalsozialismus passiert sind, und die meines Erachtens nach viel zuwenig aufgearbeitet sind.
Es gibt immerhin bis heute kein Standardwerk und nicht einmal einen ordentlichen
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Überblick über das Thema „Arisierung“ in Österreich. Ein Problem in diesem Zusammenhang ist aber die Frage, ob die Kommission ein Alibi ist, um politisches Handeln zu verzögern, bis der Endbericht der Kommission vorliegt. Ein Stück weit haben Kommissionen
natürlich diesen Verzögerungseffekt. In dem Moment, wo ich eine Kommission beauftrage,
kann man ja auf der politischen Ebene sagen: „Wir tun ja etwas. Man kann uns nicht vorwerfen, wir tun nichts, es passiert ja eh was.“ Für mich war es deshalb ganz wichtig, und
das war auch in der Kommission die Meinung, explizit zu sagen, die Regierung, aber
auch das Parlament können vom jetzigen Kenntnisstand her schon bestimmte Dinge machen, zum Beispiel überlegen, einen Fonds für Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen
einzurichten, und sie können auch beginnen, an bestimmte Gruppen, wo die Sachlage
eindeutig ist, zu zahlen. Wenn wir draufkommen, man will jetzt drei Jahre überhaupt
nichts machen, und die Kommission ist nur dazu da, das drei Jahre lang hinauszuzögern,
dann wird es natürlich ziemlich schwierig für uns. In dem Fall müsste man sich überlegen,
ob man diese Arbeit weiter macht. Ich würde aber sagen, realistischerweise kann man
solche Entscheidungen vor den Nationalratswahlen im Oktober 1999 nicht erwarten, weil
diese wahrscheinlich eher von den Intervallen unmittelbar bevorstehender Wahlen abhängen als von der Frage der Finanzierbarkeit von Entschädigungen. Für die Politik sind diese
Milliarden ja nicht ein Problem als Summe an sich.
Welche Konsequenzen ergeben sich Ihrer Meinung nach aus der gegenwärtigen
Konjunktur der Zeitgeschichte, etwa durch den steigenden Einfluss von
Kommissionen, einerseits auf den Forschungsbereich und andererseits auf
gesellschaftlicher Ebene?
Für die Forschung unmittelbar ist es so, dass mehr Geld da ist als sonst, jetzt speziell für die
Zeitgeschichte. Langfristig besteht aber das Problem und die Gefahr, dass man nach dieser
Kommission sagt, jetzt haben wir so viel Geld für die NS-Forschung ausgegeben, jetzt ist
Schluss. Das hängt ein bisschen mit der Verwechslung von Kommission und Gericht zusammen, dass also die öffentlichen Zuschreibungen ganz stark dahin gehen, es handle sich
hier sozusagen um ein Gerichtsverfahren mit einem abschließenden Urteil. Die Geschichtswissenschaft will ja gerade nicht diesen Abschluss, sondern entwirft eine von vielen möglichen Perspektiven auf Vergangenheit. Das Gericht will demgegenüber aber den Abschluss
mit einem klaren Urteil und Konsequenzen. Das Urteil soll eindeutig sein und eben keine
anderen Perspektiven erlauben. Und diese Verwechslung zwischen Gericht und Geschichtswissenschaft kann auch dazu führen, dass man dann sagt: „Jetzt haben wir das eh erledigt, das ist jetzt festgeschrieben, und alle anderen Perspektiven sind sowieso nicht wichtig in Bezug auf den Nationalsozialismus, das fördern wir nicht mehr.“
Die Folgen für das kollektive Bewusstsein sind schwer einzuschätzen. Wenn man sich zum
Beispiel die Entwicklung in der Schweiz anschaut, kann man pessimistisch sein und sagen,
durch die Bergier-Kommission und durch die Volcker-Kommission gab es ein massives
Ansteigen des Antisemitismus, zumindest der öffentlichen antisemitischen Äußerungen mit den
klassischen Zuschreibungen: „Die Juden wollen unser Geld“, „die Ostküste“ oder die ganzen
Klischees, die dann immer kommen. Welche langfristigen Folgen das hat, ist wirklich schwer
zu sagen. Ein anderer Aspekt ist, dass diese ganze Debatte in der Schweiz in gewisser
Weise auch ein Ende dieser Schweiz-Zentriertheit befördert. Die Schweiz ist nicht mehr der
Sonderfall in der europäischen Landschaft, als der sie sich selbst jahrzehntelang gesehen hat.
Wie das in Österreich sein wird, ist schwer zu sagen. Ich finde es zumindest erstaunlich, dass
man mit der Einrichtung der Historikerkommission schon relativ weit weg ist vom langjährigen
offiziellen Opfermythos Österreichs. Was jetzt passiert, dass zum Beispiel über Zahlungen
öffentlich zumindest nachgedacht wird, das wäre vor 15 Jahren noch undenkbar gewesen.
Ob das politisch und gesellschaftlich in Österreich langfristig mehr Bewusstsein schafft in
Bezug auf die Vergangenheit, lässt sich noch nicht abschätzen. Das kann man zwar hoffen,
aber wenn man manche Reaktionen sieht, die auf die Frage der finanziellen Entschädigung
oder der Rückstellungen kommen, muss man da trotzdem auch skeptisch bleiben.
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Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
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Interview mit Bertrand Perz
Welche Bedeutung kann Ihrer Meinung nach die Arbeit der Historikerkommission
für die Opfer des Nationalsozialismus, für die Leidtragenden haben?
Das ist schwer zu sagen, weil es für einzelne Opfergruppen und für einzelne Personen
sicher sehr unterschiedlich ist. Es gibt einerseits die Gruppe von Personen, die nie etwas
bekommen hat und die auch auf Grund ihrer jetzigen sozioökonomischen Situation froh ist,
irgendwas zu bekommen und die es vielleicht wie ein unerwartetes „Geschenk“ sieht, jetzt
nach so vielen Jahren doch noch so etwas wie eine Entschädigung zu bekommen. Es gibt
aber auch Gruppen, für die der finanzielle Aspekt nicht wichtig ist, sondern die das als
symbolische Anerkennung sehen. Andere fühlen sich aber auch verhöhnt durch diese Überlegungen – „Wieviel ist an wen zu zahlen?“ –, weil ihr Leid ja nicht wieder gut zu machen,
nicht mit einer bestimmten Summe zu entschädigen ist. Und es gibt sicher auch Leute, die
nicht an diese Vergangenheit erinnert werden wollen und deshalb nichts mehr damit zu tun
haben wollen. Insofern kann man nicht pauschal von den Konsequenzen für die Opfer des
Nationalsozialismus sprechen. Grundsätzlich geht es bei der ganzen Diskussion aber nicht
um „Gnadenakte“ der Republik oder der Firmen. Einerseits geht es um Rechtsansprüche
von Menschen, denen etwas weggenommen bzw. vorenthalten wurde, andererseits um
eine Entschädigung für den Zwang und das ihnen zugefügte Leid.
Dr. Bertrand Perz ist Univ.-Lektor am
Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien und
Mitglied der Historikerkommission
1
Mit dieser Kritik ist eine Geschichtsschreibung gemeint,
die sich in erster Linie auf das Sammeln und Beschreiben
von Quellen/Daten beschränkt, ohne die Auswahl der Daten und die Daten selbst kritisch zu hinterfragen.
Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
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159
DIE ARCHIVE ÖFFNEN SICH
Die Erforschung der Firmen- und Bankengeschichte
während der NS-Zeit
Neben der Historikerkommission haben mittlerweile
auch einige österreichische Unternehmen mit der Erforschung ihrer Vergangenheit während der NS-Zeit begonnen. Österreichische Banken wie die P.S.K. und die Erste
Bank haben Forschungsteams beauftragt, die Konten
und Depots ehemaliger jüdischer KundInnen ausfindig
zu machen. Unternehmen wie die VA Stahl und VA Tech
als Nachfolgefirmen der verstaatlichten Industrie lassen
die Geschichte der „Hermann-Göring-Werke“, aus denen
die VOEST nach 1945 hervorgingen, und der bei ihnen
beschäftigten ZwangsarbeiterInnen erforschen, ebenso
zum Beispiel der Verbund und die Lenzing AG.
Einige Unternehmen haben auf die Ankündigung von
Sammelklagen hin eine baldige Entschädigungsregelung
für ehemalige ZwangsarbeiterInnen in Aussicht gestellt
bzw. versucht, auf dem Weg des Vergleichs eine Lösung
mit den Betroffenen zu finden.
Dass für die Unternehmen die wissenschaftliche Erforschung der Firmengeschichte in der NS-Zeit eng mit konkreten Zahlungen an die Opfer und deren Hinterbliebene verknüpft ist, zeigt sich am Beispiel der P.S.K., deren
Forschungsprojekt schon relativ weit fortgeschritten ist:
Im März 1998 wurde vom Vorstand der P.S.K. ein Historikerteam unter der Leitung von Univ.-Doz. DDr. Oliver
Rathkolb eingesetzt, das eine umfassende Dokumentation erstellen sollte als mögliche Entscheidungsgrundlage
für freiwillige Kompensationen für ehemalige KundInnen bzw. deren Nachkommen. Im Oktober 1998 wurde
160
ein erster Zwischenbericht im Internet veröffentlicht
(➤ Internet-Adressen S. 182), in dem die Unternehmensgeschichte des „Postsparkassenamts“ zwischen 1938 und
1945 und die nationalsozialistische Praxis der Vermögensberaubung und -kontrolle dargestellt wird.
Die Veröffentlichung einer Liste von rund 7000 namentlich aufgeführten Scheckkonten, Sparbüchern, Wertpapierdepots, die vom NS-Regime geplündert und kontrolliert wurden, soll zur Ausforschung von Anspruchsberechtigten führen. Bis jetzt wurden ca. 2000 Anträge
von Nachkommen oder anderen Verwandten der ehemaligen jüdischen KundInnen gestellt. Diese Anträge
werden ebenfalls vom Forschungsteam bearbeitet:
Scheckkonten und andere Vermögenswerte beim ehemaligen „Postsparkassenamt“ werden den AntragstellerInnen zugeordnet und die Höhe der Beträge sowohl
im März 1938 als auch im April 1945 recherchiert.
Um die de facto Enteignung zu verschleiern, plünderten
die NS-Behörden die Konten jüdischer Kunden nicht vollständig, sondern beließen kleine Restbeträge.
Die P.S.K. zahlt an berechtigte AntragstellerInnen, das
heißt Nachkommen oder andere Verwandte, einen Betrag in der Höhe des Kontostandes von April 1945 aus,
zumindest aber öS 1200.
Diese Auszahlungen sind in den Fällen, in denen die
Recherche abgeschlossen ist, bereits erfolgt.
Bis Ende 1999 sollen ein Endbericht und außerdem eine
umfassende Datenbank über die Konten, Sparbücher,
Depots und Schrankfächer und biographischen Daten
der vorwiegend jüdischen Opfer der nationalsozialistischen Beraubung erstellt werden.
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Glossar
Abgeltungsfondsgesetz
zwischen den Zonen und erlaubte
Frauen. 1940 –1942 standen die
Das am 22. März 1961 erlassene Bundie Aufnahme diplomatischer BezieKinderfachabteilung (am 24. 7.1940
desgesetz, womit Bundesmittel zur
hungen zu Regierungen der Vereineröffnet) und das JugenderzieBildung eines Fonds zur Abgeltung
ten Nationen.
hungsheim unter dem Namen „Wievon Vermögensverlusten politisch
ner städtische JugendfürsorgeanVerfolgter zur Verfügung gestellt Alte Kämpfer
stalt Am Spiegelgrund“ in einer adwerden, war aufgrund der ForderunViele der sogenannten „alten
ministrativen Einheit. 1942 erfolgte
gen des ➤ Claims Committee und eiKämpfer“ waren Soldaten, die sich
die Trennung in die „Heilpädagoginer Bestimmung des Staatsvertrages
nach dem Ende des Ersten Weltsche Klinik Am Spiegelgrund/Wiener
erlassen worden, konnte jedoch erst
kriegs Frontkämpferverbänden und
Nervenklinik für Kinder“ und das
nach Abschluß des ➤ Kreuznacher
später der NSDAP anschlossen. Als il„Wiener städtische Erziehungsheim
Abkommens mit der BRD im Juni
legale Parteigenossen nahmen viele
Am Spiegelgrund“. Viele der inhaf1961 in Kraft treten, weil es an die fider „alten Kämpfer“ am nationalsotierten Kinder und Jugendlichen
nanzielle Beteiligung der BRD gezialistischen Juliputsch 1934 teil. Die
wurden Opfer medizinischer Versuknüpft worden war. AnspruchsbeÜbernahme nationalsozialistischer
che, von Vergiftung, ➤„Euthanasie“
rechtigt waren „rassisch“ oder reliHerrschaft in Österreich stellte für
und Zwangssterilisation.
giös Verfolgte für erlittene Vermödie vielfach arbeitslosen und von sogensverluste an Bankkonten, Barzialer Deklassierung bedrohten, bis Am Steinhof
geld, Zahlungen diskriminierender
1938 auch gerichtlich verfolgten ille1907 eröffnete „Landes- und PflegeAbgaben ( ➤ Reichsfluchtsteuer u.a.).
galen Nationalsozialisten die Möganstalt für Geistes- und NervenkranKleinere Vermögensverluste (bis zu
lichkeit dar, über Protektion durch
ke für Wien und Niederösterreich“
47.250 Schilling) wurden zu 100 %
die Partei zu Ansehen und Vermöim 14. Wiener Gemeindebezirk. Sie
entschädigt, größere mit 48,5%, aber
gen zu gelangen. Sie wurden etwa
war damals die größte psychiatrische
mind. mit 47.250 Schilling.
bei ➤ „Arisierungen“ protegiert, in
Anstalt Europas und erlangte aufder Gewährung von „Arisierungsdargrund der modernen architektoniAlliierter Rat
lehen“ sowie in der Zuweisung von
schen Gestaltung Vorzeigecharakter.
bzw. Alliierter Kontrollrat: In DeutschKleinbetrieben und HandelsgesellDie bauliche Struktur in Form einzelland und in Österreich gebildetes Orschaften. Viele der „Alten Kämpfer“
ner Pavillons bestimmte das pflegerigan der Besatzungsmächte. In Österbereicherten sich als ➤ „Ariseure“.
sche Konzept. Die gesamte Anlage
reich wurde der Alliierte Rat auf der
umfaßte drei Anstaltsbereiche: eine
Grundlage des am 4. Juli 1945 von Altmann, Karl (1904 –1960)
Heilanstalt, eine Pflegeanstalt sowie
den Alliierten in London beschlosKPÖ-Politiker, 1945–1947 Bundesmiein Sanatorium. Das Sanatorium
senen 1. Kontrollabkommens über
nister für Elektrifizierung und Enerwurde 1921 in eine Lungenheilstätte
Österreich am 9. Juli 1945 eingerichgiewirtschaft, schied als letzter komumgewandelt. In der NS-Zeit wurden
tet. Der Rat, bestehend aus vier ➤
munistischer Politiker aus der Regiedie PatientInnen vielfach Opfer der
Hochkommissaren, übte oberste Rerung aus.
➤ Euthanasieaktion „T4“.
gierungsgewalt aus. Entscheidungen
mussten einstimmig getroffen wer- Am Spiegelgrund
Amtsbescheinigung
den, jede Besatzungsmacht hatte VeAuf dem Gelände der Heil- und PfleNach dem ➤ Opferfürsorgegesetz
torecht. Der Rat legte in der Deklarageanstalt ➤ „Am Steinhof“ in Wien
wurde die Amtsbescheinigung jenen
tion vom 9. Juli auch die Besatzungsbefanden sich in der NS-Zeit drei
Opfern des Nationalsozialismus auszonen fest. Das 2. KontrollabkomEinrichtungen, in denen Kinder und
gestellt, die aufgrund von Gutachten
men über Österreich vom 28. Juni
Jugendliche interniert wurden: eine
der zuständigen behördlichen Sozial1946 räumte der Provisorischen ReKinderfachabteilung, eine Jugendund Gesundheitsämter als fürsorgegierung größere Kompetenzen ein,
erziehungsanstalt und eine Arbeitsbedürftig anerkannt wurden. Primär
regelte den freizügigen Reiseverkehr
anstalt für „asoziale“ Mädchen und
war jedoch nach 1945 nur politischen
Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
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Glossar
Opfern des Nationalsozialismus der
Erhalt einer Amtsbescheinigung vorbehalten. Der Besitz einer Amtsbescheinigung ermöglichte den Bezug
einer Opferrente. ➤ Opferausweis.
die Enteignung von Häusern, Wohnungen, Grundstücken, Wertpapieren und Privatvermögen auch die systematische Verdrängung der jüdischen Bevölkerung aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens forciert
werden.
Arierparagraph
1933 erlassene Bestimmung, die die
Mitgliedschaft von „Nichtariern“, Arisierungsauflage
das heißt Juden und Jüdinnen, Sinti
Der ➤ „Ariseur“ hatte neben dem
und Roma und anderen Gruppen, in
festgesetzten ➤ Kaufpreis an den
deutschen Parteien, Verbänden, VerStaat eine „Arisierungsauflage“ als
einen etc. verbot. Vorläufer der ➤
Prämie für die günstigen KaufbedinNürnberger Rassengesetze.
gungen zu entrichten.
schweizerische
Flüchtlingspolitik.
Den Vorsitz der Kommission führt
der Schweizer Wirtschaftshistoriker
Jean-François Bergier, neben vier
weiteren schweizerischen Mitgliedern sind auch die internationalen
ExpertInnen Sybil Milton, Saul Friedlaender, Wladyslaw Bartoszewski
und Harold James Mitglieder der
Kommission. Die Kommission hat
weitreichende Befugnisse, etwa uneingeschränkten Aktenzugang zu
sämtlichen öffentlichen und privaten
Archiven in der Schweiz.
Ariseur
Arisierungsfonds
Blutorden
Die unmittelbar nach dem Anschluss
Zur Unterstützung nationalsozialistiDieser Orden, die höchste Auszeicheinsetzenden spontanen Enteignunscher Kaufwerber von zur „Arisienung im NS-Staat, wurde ab 1933
gen, die sogenannten „wilden Arisierung“ bestimmten Geschäfte und Beverliehen, zunächst nur an Teilnehrungen“ von Geschäften und getrieben wurde ein Fonds gegründet,
mer des Hitler-Putsches 1923, ab
werblichen Betrieben wurden durch
der den KaufwerberInnen „Arisie1938 auch an andere Parteimitglievielfach selbsternannte „Kommisrungskredite“ genehmigte. Finanziert
der, die für ihre Beteiligung an der
sare“ begonnen. Die planmäßige
wurden diese Kredite aus den GewinBewegung zumindest eine GefängDurchführung der Enteignungen
nen bereits enteigneten jüdischen
nisstrafe erhalten hatten.
sollten die Praxis der „wilden ArisieVermögens, durch die Differenz zwirungen“ im Nachhinein legalisieren
schen dem tatsächlichen ➤ Sachwert Breitner, Hugo (1873–1946)
und künftig kontrollieren. Die ➤ Vereines Betriebes und dem VerkaufsFinanzstadtrat im Roten Wien. Breitmögensverkehrsstelle (VVST) bewert, der dafür bezahlt wurde.
ner entwickelte eine eigene Finanzstellte neue, eigens dafür ausgeund Steuerpolitik, um ein von der sowählte „kommissarische Verwalter“. Auschwitz-Erlass
zialdemokratischen Stadtverwaltung
Ab Februar 1939 setzte die VVST für
Befehl Heinrich Himmlers vom 16.
entwickeltes umfassendes Sozialprodie noch bestehenden jüdischen
Dez. 1942, alle „Zigeuner“, die sich
gramm sicherzustellen. Die MaßnahUnternehmen sogenannte „Treuhännoch im „Reich“ befanden, in das
men lagen in der Umwandlung von
der“ ein, um deren ➤ „Arisierung“
Konzentrationslager Auschwitz-Birfixen indirekten Steuern in direkte
oder Auflösung vorzubereiten. Für
kenau zu deportieren und dort zu
Steuern nach sozialen Gesichtspunkdie zahlreichen Stillegungen von Beermorden. Ausgenommen werden
ten, einem weitgehenden Verzicht
trieben im Handels- und Gewerbebesollten davon die wenigen als „reinauf staatliche Kreditnahme, einer soreich berief die VVST sog. „Abwickrassig“ („arisch“) klassifizierten „Zizial gerechten Wohnbausteuer zur
ler“. Die Misswirtschaft der frühen
geuner“, sozial angepasst lebende
Entlastung proletarischer und klein„wilden Arisierungen“ zeigte sich
„Zigeuner“ und jene, die kriegswichbürgerlicher Schichten, der Einfühauch bei den „Abwicklern“, zumal
tig waren, entweder in der Wehrrung diverser Luxussteuern und dem
die Betriebsliquidierungen vielfach
macht oder als ZwangsarbeiterInnen
Verzicht auf Profit bei städtischen
die Möglichkeiten zu eigener Bereiin der Rüstungsindustrie. Sie sollten
Betrieben und Unternehmungen.
cherung boten.
jedoch zwangssterilisiert werden.
Bund der politisch Verfolgten –
Arisierung
Bergier-Kommission
Österreichischer Bundesverband
Der Terminus „Arisierung“ bezeichDie „Unabhängige ExpertenkommisIm September 1946 schlossen sich
net die Enteignung der gesamten
sion Schweiz – Zweiter Weltkrieg“
der ➤ KZ-Verband und zahlreiche,
jüdischen Bevölkerung. Nach planwurde im Dezember 1996 von der
auch in den Bundesländern tätige
losen, gesetzlich nicht geregelten
Bundesversammlung (dem ParlaKomitees zur Betreuung der KZ„wilden Arisierungen“ unmittelbar
ment) der Schweiz eingesetzt mit
Überlebenden zum „Bund der polinach
der
nationalsozialistischen
dem Auftrag, „Umfang und Schicksal
tisch Verfolgten“ zusammen. VertreMachtübernahme erfolgte die systeder vor, während und unmittelbar
ten waren Mitglieder der SPÖ, der
matische Enteignung von Geschäften
nach dem Zweiten Weltkrieg in die
ÖVP, der KPÖ und auch die sogeund Firmen über Zwangsverkauf, BeSchweiz gelangten Vermögenswernannten „Abstammungsverfolgten“.
triebsstillegungen oder den Entzug
te“ zu untersuchen. Das betrifft u.a.
Der „Bund politisch Verfolgter“ galt
von Gewerbekonzessionen durch die
den Goldhandel, Verflechtungen
als offizielle Interessenvertretung
Nationalsozialisten. Neben dem Ziel
schweizerischer Industrie- und Hanaller Opfer des Nationalsozialismus.
der Verdrängung der Juden und Jüdelsunternehmen mit der nationalAm 8. März 1948 löste Innenminister
dinnen aus der Wirtschaft sollte über
sozialistischen Wirtschaft und die
➤ Oskar Helmer den „Bund“ mit
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Glossar
Zustimmung der Regierungsparteien
auf. In der Folge entstanden drei
parteinahe Organisationen der politisch Verfolgten.
Bund Deutscher Mädel
Ab 1930 eigene Organisation der
➤ Hitlerjugend (HJ) für 14- bis
21-jährige Mädchen, wobei die 17bis 21-jährigen in der angegliederten
Organisation „Glaube und Schönheit“ erfasst waren. Der BDM diente
der sportlichen Ertüchtigung sowie
der ideologischen Schulung der
Mädchen zu künftigen Müttern
einer „genetisch gesunden“ Nachkommenschaft.
Bundesentschädigungsgesetz (BEG)
Das
BEG
der
Bundesrepublik
Deutschland wurde 1953 zunächst als
Bundesergänzungsgesetz
erlassen,
eine aufgrund erheblicher Mängel
notwendige Novellierung führte
1956 zum eigentlichen Bundesentschädigungsgesetz. Entschädigungsberechtigt sind nach dem BEG die
aus Gründen politischer Gegnerschaft, der Rasse, des Glaubens oder
der Weltanschauung Verfolgten des
Nationalsozialismus.
Wesentliche
Unterschiede zur österreichischen
➤ Opferfürsorgegesetzgebung sind
der Entschädigungs- und nicht der
Fürsorgegrundsatz, Entschädigung in
Form von Renten, wobei auch ein
Großteil der Vertriebenen Anspruch
auf Renten hat, während die aus
Österreich Vertriebenen nur einmalige Zahlungen aus den ➤ Hilfsfonds
erhielten. Insgesamt waren im Vergleich zu Österreich mehr Opfer anspruchsberechtigt, und sie erhielten
auch höhere Entschädigungen. Allerdings sind auch die Regelungen des
BEG sehr kompliziert und wurden
teilweise heftig kritisiert, z.B. dass
sich die Höhe der Rentenbezüge
nach dem früheren Einkommen der
Opfer richtete. Anträge konnten zudem nur bis zum 31.12. 1969 gestellt
werden, seitdem sind nur einmalige
Entschädigungszahlungen aus dem
1980 geschaffenen Härtefonds möglich. Ähnlich wie im österreichischen
OFG wurden einige Gruppen von
Verfolgten im BEG benachteiligt, wie
etwa Roma und Sinti, oder überhaupt davon ausgenommen wie
Homosexuelle,
Zwangssterilisierte,
„Euthanasieopfer“, „Asoziale“ und Bundesministerium für Vermögenskommunistische Widerstandskämpf- sicherung und Wirtschaftsplanung
erInnen, die nach 1945 in der KPD
➤ Krauland-Ministerium.
aktiv waren. Keine Entschädigung haben außerdem osteuropäische Über- Bürckel, Josef
lebende erhalten, sofern sie nicht bis
Gauleiter von Rheinland-Pfalz (späEnde 1965 in ein nichtkommunistiter Westmark), wurde am 13. März
sches Land emigrierten. Die große
1938 zum „Reichskommissar für die
Gruppe der ausländischen ZwangsarWiedervereinigung Österreichs mit
beiterInnen ist nach dem BEG ebendem Deutschen Reich“ ernannt (bis
falls nicht anspruchsberechtigt.
31. März 1940), gleichzeitig ab Mai
1939 „Reichsstatthalter der OstBundesgesetz über die Nichtigkeit von
mark“ und Gauleiter von Wien. Am
Rechtsgeschäften und sonstigen
2. August 1940 wurde er Leiter der
Rechtshandlungen, die während der
Zivilverwaltung in Lothringen. Sein
deutschen Besetzung Österreichs
Nachfolger wurde Baldur von Schierfolgt sind
rach (ab 1931 Reichsjugendführer
Das Gesetz vom 15. Mai 1946 erder HJ).
kannte gemäß der ➤ Londoner Deklaration von 1943 alle Rechtsge- Chelmno (Kulmhof)
schäfte und Rechtshandlungen beIn diesem Ort war das erste nationalzüglich Vermögensentzug und Entsozialistische Vernichtungslager und
zug von Vermögensrechten, die
wurde als Zentrum für die Ermordwährend der deutschen Besetzung
ung der Juden und Jüdinnen des 70
Österreichs ohne die „innere Zustimkm entfernten Gettos von Lodz konmung“ der Leidtragenden erfolgten,
zipiert. Nach heutigen Schätzungen
als nichtig. Die Geltendmachung der
wurden im Lager Chelmno 152.000
Ansprüche der Leidtragenden sollte
bis zu 300.000 Menschen ermordet,
in späteren Verordnungen geregelt
darunter Juden und Jüdinnen aus
werden. ➤ Rückstellungsgesetze.
den Gemeinden der Umgebung, deportierte Juden und Jüdinnen aus
Bundesgesetz über die Rückgabe
Österreich, Deutschland, der Tschevon Kunstgegenständen aus den
choslowakei sowie ab 1942 polnische
österreichischen Bundesmuseen
und sowjetische Kriegsgefangene.
und Sammlungen
Am 4. Dezember 1998 beschlossenes Claims Committee
Gesetz, das die Rückgabe von Kunst„Committee for Jewish Claims on
und Kulturgegenständen regelt, die
Austria“, eine 1952 in New York ge„im Zuge von Verfahren nach dem
gründete Dachorganisation der 23
Ausfuhrverbotsgesetz zurückbehalOrganisationen der ➤ Claims Confeten wurden und als ‚Schenkungen‘
rence und der Organisation vertrieoder ‚Widmungen‘ in den Besitz der
bener österreichischer Juden und
österreichischen Museen und SammJüdinnen, dem „ World Council of
lungen eingegangen sind“, die zwar
Jews from Austria“. Das Claims Comrechtmäßig in den Besitz der Museen
mittee setzte im Mai 1953 einen Exegelangten, die aber vorher „Gegenkutivausschuss unter Vorsitz von ➤
stand eines Rechtsgeschäftes geweNahum Goldmann ein, der die Versen sind, das nach den Bestimmunhandlungen mit der österreichischen
gen des so genannten NichtigkeitsRegierung führen sollte. Die zentragesetzes aus dem Jahre 1946 nichtig
len Forderungen des Claims Commitist“, und „Kunst- und Kulturgegentee waren die Beseitigung der Diskristände, die trotz Durchführung von
minierung der vertriebenen jüdiRückstellungen nicht an die urschen Bevölkerung, die individuelle
sprünglichen Eigentümer oder deren
Entschädigung für erlittene VermöRechtsnachfolger von Todes wegen
gensverluste, Regelungen bezüglich
zurückgegeben werden konnten und
des „erblosen Vermögens“ und der
als herrenloses Gut in das Eigentum
spezifischen Forderungen der ➤ Isrades Bundes übergegangen sind“.
elitischen Kultusgemeinde. Die VerFerner wurde die Einsetzung eines
handlungen begannen Ende Juni 1953
Rückgabe-Beirats veranlasst.
und zogen sich mit verschiedenen
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Glossar
Zwischenergebnissen bis 1960/61 hin.
Ein Ergebnis der jahrelangen Verhandlungen – die Ansprüche auf Entschädigung und Vermögensrückstellung wurden bereits im Artikel 26
des ➤ Staatsvertrages festgehalten –
war die Einrichtung von ➤ Sammelstellen zur Erfassung des „erblosen
Vermögens“ und die Einrichtung
eines ➤ Hilfsfonds.
Claims Conference
„Conference on Jewish Material
Claims Against Germany“, am 26.
Oktober 1951 in New York gegründete Dachorganisation verschiedener
internationaler jüdischer Organisationen, die unter dem Vorsitz
des WJC-Präsidenten ➤ Nahum Goldmann in den Jahren 1951/52 mit der
bundesdeutschen Regierung Verhandlungen über Entschädigungszahlungen an Israel und an einzelne
Opfer der NS-Verfolgung führte. Die
Verhandlungen führten zum ➤ Luxemburger Abkommen vom 10. September 1952. Seitdem besteht die
Claims Conference als Organisation
zur Sicherung von Geldern für die
Rehabilitation und Umsiedlung jüdischer Opfer des Naziterrors. Die
Claims Conference ist Mitglied der
1992 gegründeten ➤ World Jewish
Restitution Organization.
Class Action
➤ Sammelklage.
Containment-Politik
Eindämmungspolitik, 1946/47 vom
amerikanischen Diplomaten und
Berater G. F. Kennan entworfene
außenpolitische Strategie gegen die
Ausdehnung des sowjetischen Einflussbereiches durch westliche Bündnispolitik, Militär- und Wirtschaftshilfe, z.B. durch das Europäische
Wiederaufbau-Programm (ERP) und
die NATO.
Deutsche Arbeitsfront (DAF)
Am 10. Mai 1933 nach dem Verbot
der Gewerkschaften gegründete
Einheitsorganisation „aller schaffenden Deutschen“. Der Zusammenschluss von ArbeiterInnen, Angestellten und UnternehmerInnen in
einer einzigen Organisation sollte
eine reibungslose Umsetzung nationalsozialistischer Wirtschaftspolitik
164
und eine bessere Kontrolle über den
versitären Forschungseinrichtungen,
gesamten Produktionsprozess geHistorikerInnen,
ZeitzeugInnen,
währleisten. Aufgrund ihrer hohen
Schulen, Bereichen der ErwachseMitgliederzahl (ca. 23 Mio. Mitglienenbildung sowie der Veranstaltung
der) und der Mitgliedsbeiträge
von Tagungen, Symposien, Ausstelkonnte die DAF unter dem Reichsleilungen und der Publikation einer
ter Robert Ley auch eine Reihe von
eigenen Zeitschrift und SchriftenWirtschaftsunternehmen, u.a. Wohreihe hat das DÖW auch eine demonungsbau- und Siedlungsgesellschafkratiepolitische Funktion.
ten, Banken, Versicherungen, Druckereien, finanzieren.
Döllersheim
Zum Zwecke der Landbeschaffung
Deutsches Jungvolk
für einen eigenen TruppenübungsDas DJ als Teilorganisation der ➤ Hitplatz wurde im Dezember 1938 mit
lerjugend (HJ) erfasste die zehn- bis
der Entsiedelung von Ortschaften
14-jährigen Buben. Der Eintritt in
um das Gebiet von Döllersheim in
den DJ erfolgte schuljahrgangsweise
Niederösterreich begonnen. Im Aufam Geburtstag Hitlers. Nach der Betrag der „Deutschen Ansiedlungsendigung ihrer Dienstzeit im DJ wurgesellschaft“ sollten den ca. 7000
den die Buben (wiederum an Hitlers
AussiedlerInnen als Entschädigung
Geburtstag) in die eigentliche HJ
neue Wirtschaftshöfe in der Umgeüberwiesen.
bung, aber auch in anderen Reichsgebieten zugeteilt werden. Nach
Displaced Persons (DPs)
dem Krieg wurde der TruppenNach dem Zweiten Weltkrieg befanübungsplatz als deutsches Eigenden sich ca. 10 Millionen Menschen
tum angesehen und besetzt. Nach
auf der Flucht bzw. außerhalb ihrer
dem Abzug der Alliierten aus NieHeimatländer, z.B. in den befreiten
derösterreich forderten viele der
Konzentrationslagern; sie wurden
ehemals Ausgesiedelten entweder
als Displaced Persons bezeichnet. In
eine Entschädigung oder die MögÖsterreich waren es etwa eine Millilichkeit, wieder zurückzukehren.
on fremdsprachige und ca. 600.000
Die Rückstellungsfrage war insofern
deutschsprachige DPs, darunter die
problematisch, als es unterschiedliÜberlebenden der Konzentrationslache Gruppen von ehemaligen Eiger, die ausländischen Zwangsarbeigentümern gab: Familien, die sich
terInnen und die aus ihren Ländern
1938 geweigert hatten, ihren Besitz
vertriebenen und geflüchteten Menzu verkaufen, die keinen Kaufverschen. Sie wurden in großen Lagern
trag unterzeichneten und daher
untergebracht. Für die meisten DPs,
zwangsenteignet und vertrieben
auch für die jüdischen Überlebenwurden. Eine andere Gruppe eheden, waren die alliierten Besatmaliger DöllersheimerInnen hatte
zungsmächte und die ➤ UNRRA zu1938 unter Druck dem Verkauf zuständig, die die Versorgung und Vorgestimmt, war aber mit „arisierbereitung der Repatriierung der DPs
tem“ Besitz entschädigt worden,
übernahmen. Für deutschsprachige
der inzwischen zurückerstattet werDPs waren österreichische Behörden
den musste. Andere Döllersheimer
verantwortlich.
erhielten Besitz in Südböhmen und
Südmähren und wurden nach
Dokumentationsarchiv des österKriegsende von dort vertrieben.
reichischen Widerstandes (DÖW)
Nach langen Verhandlungen über
Das DÖW ist ein Archiv, dessen
eine landwirtschaftliche Nutzung
Schwerpunkte auf Widerstand und
des Truppenübungsplatzes sowie eiVerfolgung 1934–1945, Exil, NS-Verne Rückkehr der AussiedlerInnen
brechen (insbesondere Holocaust)
ging der Truppenübungsplatz in
sowie Rechtsextremismus nach 1945
den Besitz des österreichischen Bunliegen. Weiters ist das DÖW auch eidesheeres über.
ne Forschungseinrichtung für Projekte zu den genannten Schwer- Ebensee
punkten. Neben der ZusammenarDas Konzentrationslager Ebensee
beit mit universitären und außeruniwurde am 18. November 1943 als
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Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
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Glossar
Außenlager des KonzentrationslaBerlin gegründet. 1939 wurde EichGiftspritzen, aber auch durch Gas.
gers Mauthausen in Oberösterreich
mann Leiter des „UmsiedlerreferaInsgesamt wurden etwa 30 „Kindererrichtet, um KZ-Häftlinge beim Bau
tes“ in der ➤ Gestapo und spielte in
fachabteilungen“ geschaffen, wie
von Tunnels für die geplante unterder Folgezeit eine zentrale Rolle bei
etwa ➤ „Am Spiegelgrund“ in Wien,
irdische Verlagerung einer Raketender Vertreibung der Juden und Jüaber auch ehemalige Heil- und Pfleversuchsanlage als Zwangsarbeitsdinnen aus Polen. Nach dem Ausgeanstalten wurden zu Euthanasiekräfte einzusetzen. Die Häftlinge
wanderungsverbot für Juden und
anstalten umfunktioniert, wie etwa
kamen u.a. aus der Sowjetunion,
Jüdinnen 1941 übernahm Eichmanns
➤ Hartheim bei Linz.
aus Polen, Ungarn, Jugoslawien,
Büro die Organisation der DeportaFrankreich, Belgien, Luxemburg. Die
tionen in polnische Vernichtungsla- Euthanasieaktion „T4“
ersten jüdischen Häftlinge kamen
ger. Nach dem Krieg floh er mit Hilfe
Im Oktober 1939 befahl Hitler
im Juni 1944 nach Ebensee, ihre
des Vatikans nach Argentinien, wo
die Ausweitung der „Euthanasie-AkZahl nahm mit mehreren Gefangeer 1960 vom israelischen Geheimtion“ auf InsassInnen von Heil- und
nentransporten Anfang 1945 weiter
dienst aufgegriffen wurde. Nach eiPflegeanstalten im gesamten Reichszu. Sie hatten schlechtere Lebensbenem Prozess in Jerusalem wurde
gebiet. Das Programm wurde unter
dingungen als andere Häftlinge und
Eichmann am 1. 6.1962 gehängt.
der Bezeichnung „T4“ weitergedaher auch eine höhere Todesrate.
führt, benannt nach der Berliner
Die Forcierung des Tunnelausbaus ESRA
Adresse Tiergartenstraße 4, wo die
und die damit verbundene ÜberbeInitiative zur psychosozialen, soZentrale untergebracht war. Insgelegung des Lagers führten zu einer
zialtherapeutischen und soziokultusamt existierten sechs T4-Anstalten:
wesentlichen Verschlechterung der
rellen Integration. ESRA ist ein BeGrafenegg in Württemberg, BranBedingungen im Lager, allein im
handlungs- und Beratungszentrum
denburg und ➤ Hartheim bei Linz ab
April 1945 starben über 3000 Häftfür Menschen mit psychosozialen
Jänner 1940, Sonnenstein bei Pirna
linge. Am 5. Mai verließen der LaProblemen und Krankheitsbildern,
seit April 1940, Bernburg an der Saagerkommandant und die SS-Wachdie durch Erlebnisse während des
le ab September 1940 und Hadamar
mannschaften Ebensee, ihr Versuch,
Holocaust sowie durch Entwurzebei Limburg ab Jänner 1941. Die Pazuvor die noch lebenden Häftlinge
lung aufgrund von Flucht und VertientInnen dieser Anstalten wurden
durch einen Sprengsatz im Tunnel
treibung bedingt sind. Opfer des Nain Gaskammern mittels Kohlenmoumzubringen, schlug fehl, da sich
tionalsozialismus haben die Mögnoxid ermordet. Offiziell wurde nach
die Häftlinge weigerten, in den Tunlichkeit zu Einzel- und GruppentheBekanntwerden das T4-Programm
nel zu gehen. Das Lager Ebensee
rapien, ambulanter Beratung, mediam 3.8.1941 eingestellt. Die Ermorwurde am 6. Mai von amerikanizinischer und psychologischer Bedung durch Gas wurde nun von den
schen Truppen befreit.
treuung.
T4-Spezialisten in den ➤ Vernichtungslagern realisiert. Die Ermordung
Eichmann, Adolf (1906–1962)
Euthanasie
der HeiminsassInnen wurde aber
Bereits zu Zeiten des Verbots der NaAuf der Basis der ➤„Nürnberger
auch nach der offiziellen Beendigung
tionalsozialisten in Österreich schloß
Rassengesetze“ sowie des ➤ „Gesetdezentral weitergeführt bzw. wursich Eichmann 1933 der „Österreichizes zur Verhütung erbkranken Nachden viele der InsassInnen in Vernichschen Legion“, einer Einheit der ➤
wuchses“ wurde von den Nationaltungslager deportiert und ermordet.
SS für emigrierte Nationalsozialisten
sozialisten ein eigenes Programm
in Bayern, an. Nach militärischer
zur Vernichtung, wie sie es nannten, Figl, Leopold (1902–1965)
Ausbildung versah er seinen Dienst
„lebensunwertem Leben“ ausgearÖVP-Politiker, war von 1938–1943 im
im Lager Dachau. Eichmann war im
beitet. Der Begriff „lebensunwertes
KZ Dachau und 1944–1945 im KZ
Wesentlichen für die Vertreibung
Leben“ war ein sehr breit gefächerMauthausen inhaftiert, 1945 Landesder Juden und Jüdinnen aus Europa
ter: Er inkludierte geistig oder körhauptmann von Niederösterreich,
zuständig. Über die Gründung der
perlich behinderte Kinder und ErMitbegründer der ÖVP, Staatsse➤ „Zentralstelle für jüdische Auswachsene, politische GegnerInnen,
kretär der Provisorischen Regierung
wanderung“ in Wien im August 1938
sogenannte „Asoziale“ und „Arunter Karl Renner, 1945–1953 Bunwickelten Eichmann und sein Büro
beitsscheue“; all jene, die dem Ideal
deskanzler, 1953–1959 Bundesminidie Auswanderung der Juden und
der „deutschen Herrenrasse“ nicht
ster für Äußeres, Mitunterzeichner
Jüdinnen aus Europa ab. Entscheidenentsprachen, wurden in eigenen Andes
Staatsvertrages,
1959 –1961
de Schritte lagen in der Verschlechtestalten interniert, zwangssterilisiert
Erster Präsident des Nationalrats,
rung der wirtschaftlichen Lage für
oder in Konzentrationslager depor1962–1965 Landeshauptmann von
die jüdische Bevölkerung, zunehtiert. Ab 1939 wurde in eigenen
Niederösterreich.
menden Terroraktionen sowie der
Euthanasieanstalten mit der Tötung
Kontrolle der jüdischen Gemeinden
geistig und körperlich behinderter Fischböck, Hans
durch erzwungene Zusammenarbeit.
Kinder begonnen. Später folgte die
Nach dem „Anschluss“ im März 1938
Nach dem Wiener Vorbild wurden
unter „Sterbehilfe“ getarnte Tötung
Leiter des Ministeriums für Wirtweitere Auswanderungsstellen in
von InsassInnen von Heil- und Pfleschaft und Arbeit (ehemals MiniBöhmen und Mähren, Prag und
geanstalten mittels Injektionen,
sterium für Handel und Vekehr).
Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
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Glossar
Die Abteilungen und Referate des
ren wurden, durch das Bundesminiihre Handlungsspielräume. Die priMinisteriums arbeiteten eng mit
sterium für Vermögenssicherung und
märe Aufgabe lag in der Überwader ➤ Vermögensverkehrsstelle
Wirtschaftsplanung ➤ Krauland-Michung, Kontrolle und Ausforschung
(VVST) zusammen und wirkten an
nisterium.
politischer GegnerInnen des NS-Reder Planung der Ausschaltung der
gimes, demzufolge auch Kontrolle
jüdischen Bevölkerung aus der Gesetz über die Erfassung „arisierter“
über die Polizei und Organisation
österreichischen Wirtschaft ent- und anderer im Zusammenhang mit
der Konzentrationslager sowie Orscheidend mit.
der nationalsozialistischen Machtüberganisation von Terroraktionen gegen
nahme entzogener Vermögenschaften
Juden und Jüdinnen und andere
Generalamnestie für ehemalige
Das erste für Fragen der Rückstellun„Staatsfeinde“. 1939 wurde die GeNationalsozialistInnen
gen wichtige Gesetz wurde bereits
stapo mit der Sicherheitspolizei (SiDas vom ➤ Verband der Rückstelam 10. Mai 1945 erlassen. In § 2
po), dem ➤ Sicherheitsdienst (SD)
lungsbetroffenen heftig geforderte
wurde festgelegt, dass die Anmelzum ➤ Reichssicherheitshauptamt
Gesetz wurde am 14. März 1957 erdung entzogenen Vermögens durch
(RSHA) zusammengeschlossen, auch
lassen. Damit wurden u.a. das
die derzeitigen BesitzerInnen, also
die Grenzpolizei wurde ihrer LeiKriegsverbrechergesetz und noch
in vielen Fällen durch die ➤ „Ariseutung unterstellt. Sie übernahm entbestehende Berufsverbote für ehere“ selbst, zu erfolgen hatte. Zwar
scheidende Funktionen bei der
malige NationalsozialistInnen aufwar die Nichtanmeldung strafbar,
„Endlösung“ der Judenfrage. Die
gehoben und die Rückgabe von bedennoch war diese AnmelderegeGestapo operierte ohne gesetzliche
schlagnahmten Kleingärten und
lung für die enteigneten Opfer
Basis und Verordnungen, sondern
Möbeln möglich. NS-Opfer, die diese
zweifellos problematisch. Die Verführte ihre Maßnahmen im Zuge des
Kleingärten und Möbel – gegen eiordnung zur eigentlichen UmNS-Gesamtauftrags durch.
ne Miete – von der Stadt Wien besetzung dieses Gesetzes wurde erst
kommen hatten, mussten sie nun
ein Jahr später, erlassen.
Getto
wieder zurückgeben oder an die
Ursprünglich ein Stadtteil oder eine
ehemaligen NationalsozialistInnen Gesetz zur „Verhütung erbkranken
Straße, in der ausschließlich Juden
eine Ablöse zahlen.
Nachwuchses“ vom 14. Juli 1933
und Jüdinnen wohnten. Dieser BeDieses Gesetz, das in Österreich am
reich war von anderen Teilen einer
Generalgouvernement
1.1.1940 in Kraft trat, bildete die
Stadt abgegrenzt. Der Ausdruck
Das „Generalgouvernement für die
Grundlage für die vom NS-Regime
„Getto“ wurde in Venedig geprägt,
besetzten polnischen Gebiete“ wurdurchgeführte Zwangssterilisierung
wo 1516 die jüdische Bevölkerung
de am 26. Oktober 1939 als eigenvon sogenannten „Erbkranken“ (geigezwungen war, in ein abgeschlosseständiges Verwaltungsgebiet errichstig behinderte, schizophrene, an
nes Viertel, das „Getto Nuovo“, zu
tet und umfasste die Teile Polens, die
Epilepsie leidende, blinde und gehörziehen. Ziel war es, die Kontakte
von Deutschland besetzt, aber nicht
lose oder schwer körperlich behinderzwischen Juden und Christen und
unmittelbar dem „Reich“ angeschloste Menschen, aber auch Alkoholiker).
deren ökonomische Aktivitäten einsen worden waren. Generalgouverzuschränken. Davon zu unterscheineur war Hans Frank. Das General- Gesetz zur Wiederherstellung des
den sind allerdings die nationalsoziagouvernement war in die Distrikte Berufsbeamtentums
listischen Gettos in besetzten GebieKrakau, Warschau, Radom und Lublin
Aufgrund des Gesetzes vom 7. April
ten, die nicht als Wohngebiete konunterteilt. Im Sommer 1941, bei Be1933 konnten „nichtarische“, v.a.
zipiert wurden, sondern als Überginn des Angriffs auf die Sowjetunijüdische, und „politisch unzuvergangsstadium im Verlauf der „Endlöon, kam der Distrikt Galizien hinzu.
lässige“ BeamtInnen, z.B. ZeugInnen
sung der Judenfrage“. Juden und
Insgesamt lebten im GeneralgouverJehovas, aus dem Staatsdienst entJüdinnen wurden wie in Lagern innement zu diesem Zeitpunkt ca. 17
lassen werden.
terniert, bewacht und vom NS-RegiMillionen Menschen. Polen wurde
me in ihren Lebensgewohnheiten
von den Nationalsozialisten als Ar- Gestapo
kontrolliert und dominiert. Nach
beitskräftereservoir des Reiches beVon den Nationalsozialisten errichKriegsbeginn wurden in den größten
trachtet, zahlreiche Zwangsarbeitstete „Geheime Staatspolizei“, die
Städten Osteuropas Gettos errichtet,
lager wurden errichtet, in denen inszunächst nur in Preußen, später im
als Übergang bis zur Deportation in
besondere auch die jüdische Bevölganzen Reichsgebiet eingesetzt wurKonzentrationslager. Die meisten Bekerung Zwangsarbeit leisten musste.
de. 1933 erfolgte die offizielle GrünwohnerInnen der Gettos wurden in
dung, und ➤ Hermann Göring überVernichtungslagern ermordet, nur
Gesetz über die Bestellung von
nahm als Chef der politischen Polizei
ein kleiner Teil kam während der
öffentlichen Verwaltern und
die Zuständigkeit für die StaatspoliEndphase des Krieges in KonzentraAufsichtspersonen
zei. 1934 wurden innerhalb der Getions- oder Arbeitslager.
Das Gesetz vom 10. Mai 1945 regelte
stapo eigene Judenreferate gegründie Einsetzung von Verwaltern für
det. Im Laufe der NS-Herrschaft er- Gildemeester-Auswanderungsöffentliche Unternehmen, die Gelangte die Gestapo immer stärkeren Hilfsaktion
genstand von RückstellungsverfahEinfluss und erweiterte systematisch
Über die Möglichkeit der Ausreisebe-
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Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
Glossar
schaffung für die wohlhabende jüdische Bevölkerung sollte gleichzeitig
deren Enteignung und Verdrängung
aus dem Wirtschaftsleben forciert
werden. Durch die Ausreisebewilligung unter totalem Vermögensverlust wurde gleichzeitig auch die Ausreise mittelloser Juden und Jüdinnen
finanziert. Im April 1938 begann der
Holländer Frank van Gheel Gildemeester mit der Organisierung der Auswanderungsaktionen. Nach diesem
Vorbild gründete ➤ Adolf Eichmann
im August 1938 die ➤ „Zentralstelle
für jüdische Auswanderung“.
rung“ verantwortlich. Er gründete
die ➤ „Reichszentrale für jüdische
Auswanderung“ 1939 in Berlin nach
dem Vorbild ➤ Eichmanns in Wien
sowie eine Treuhandstelle zur Verwaltung entzogenen jüdischen Vermögens. Wegen Niederlagen der
Luftwaffe und zunehmenden Differenzen zu Hitler wurde Göring gegen Ende des Krieges aus allen
Ämtern und aus der NSDAP ausgeschlossen. Er wurde bei Prozessen
gegen Hauptkriegsverbrecher vor
dem Internationalen Militärtribunal
in Nürnberg zum Tode verurteilt.
Am Tag vor der Hinrichtung, am
15.10.1946, vergiftete er sich.
heitshauptamtes (RSHA). Er war eine
Schlüsselfigur bei der Planung und
Durchführung der antijüdischen Politik der Nationalsozialisten, ab 1934
Leiter der Gestapo in Preußen und
des SD, wo er eigene „Referate für
Judenangelegenheiten“ errichtete.
Auf der Basis von ➤ Gestapo und ➤
RSHA wurde er zum Vollstrecker der
nationalsozialistischen Judenpolitik.
Der Befehl zur Konzentrierung der
polnischen Juden und Jüdinnen und
die Errichtung von Judenräten 1939
erfolgte durch ihn. Weiters befehligte er Massendeportationen und Pogrome. Ob die Durchführung der
„Endlösung“ auch auf einen Befehl
Heydrichs zurückzuführen ist, ist umstritten. 1941 wurde er stellvertretender Reichsprotektor des Protektorats
Böhmen und Mähren. Er starb 1942
bei einem Anschlag tschechischer
WiderstandskämpferInnen in Prag.
Goldmann, Nahum (1894–1982)
Geboren in Litauen, kam 1900 mit
seinem Eltern nach Deutschland, wo Haager Landkriegsordnung (LKO)
er Rechts-, Geschichtswissenschaften
1907 erlassenes, zum internationalen
und Philosophie studierte, seit 1918
Völkergewohnheitsrecht zählendes
in der zionistischen Bewegung tätig,
Recht, das auch für das Deutsche
ab 1929 Herausgeber der „EnzyReich bis 1939 Geltung hatte. Die
klopaedia Judaica“. 1933 EmigratiLKO legt unter anderem die Behandon, 1935–1940 Vertreter der ➤ Jelung von Kriegsgefangenen im Hilfsfonds
wish Agency beim Völkerbund in
Kriegsfall fest und garantiert der BeDer „Fonds zur Hilfeleistung an poGenf, 1949–1978 Präsident des
völkerung eines besetzten Gebietes
litisch Verfolgte, die ihren Wohnsitz
➤ World Jewish Congress und in den
eine Reihe von Rechten, z. B. den
und ständigen Aufenthalt im Ausfünfziger Jahren Vorsitzender der
Schutz des Privateigentums, Verbot
land haben“ wurde am 18. Jänner
➤ Claims Conference und des
der Deportation der Bevölkerung
1956 beschlossen. Seine Einrichtung
➤ Claims Committee.
und Verbot der Zwangsarbeit.
war im Wesentlichen ein Ergebnis
der Verhandlungen des Claims ComGöring, Hermann (1893–1956)
Hartheim
mittee mit der österreichischen BunSchloss sich bereits 1922 der NSDAP
1889 von Fürst Camillo Heinrich Stardesregierung. Der mit 550 Mio.
an und wurde noch im selben Jahr
hemberg gegründetes Asyl für „arme
Schilling (zahlbar in elf Jahresraten
Chef der SA. Nach der Beteiligung
Schwach- und Blödsinnige“. Ab Feab 1955) dotierte Fonds sollte den
am missglückten Novemberputsch
bruar 1940 wurde die „Kinder- und
Opfern der nationalsozialistischen
der Nationalsozialisten 1923 floh er
Pflegeanstalt Hartheim“ in der Nähe
Verfolgung zugute kommen, die
nach Österreich, wo er sich bis 1927
von Linz in das ➤ Euthanasieproim bisherigen Opferfürsorgegesetz
aufhielt. 1928 wurde er Abgeordnegramm „T4“ der Nationalsozialisten
noch nicht berücksichtigt worden
ter der NSDAP im Deutschen Reichsaufgenommen, und es wurde mit der
waren, v.a. den jüdischen Vertriebetag,
1932
Reichstagspräsident,
Tötung von geistig oder körperlich
nen. Weitere Voraussetzung für eiReichskommissar für Luftfahrt und
behinderten Kindern begonnen.
ne einmalige Zuerkennung von
das preußische Innenministerium. Im
Aber auch als „asozial“ deklarierte
5000 bis 30.000 Schilling – je nach
April 1933 stieg er zum MinisterpräPersonen sowie andere InsassInnen
Schwere der Verfolgung bzw. der
sidenten und Innenminister Preußens
von Heil- und Pflegeanstalten, etwa
gesundheitlichen Schäden – waren
auf. Göring war aktiv am Aufbau der
vom ➤ „Steinhof“ in Wien, und ausder Besitz der österreichischen
➤ Gestapo beteiligt sowie Oberbegesonderte Häftlinge des KZs MautStaatsbürgerschaft am 13. März
fehlshaber der Luftwaffe. 1936 überhausen wurden nach Hartheim ge1938 bzw. der mindestens zehnnahm er die Verantwortung für die
bracht und mittels Giftgas getötet
jährige ständige Wohnsitz in Österwirtschaftliche Planung des „Reiund im Krematorium verbrannt.
reich vor dem 13. März 1938 und
ches“, den sog. ➤ Vierjahresplan.
die Antragstellung binnen eines
1939 wurde er von Hitler zu seinem Helmer, Oskar (1887–1963)
Jahres bis zum 11. Juni 1957. Der
Stellvertreter ernannt und ein Jahr
SPÖ-Politiker, 1945–1959 InnenminiFonds konnte seine Auszahlungen
später zum Reichsmarschall des
ster und stellvertretender Vorsitzenan ca. 30.000 AntragstellerInnen beGroßdeutschen Reiches erhoben. Als
der der SPÖ.
reits 1962 abschließen bzw. wurde
Zuständiger für die Wirtschaft des
nach der Ausweitung und AufLandes war er maßgeblich für die Be- Heydrich, Reinhard (1904–1942)
stockung als „Neuer Hilfsfonds“
schlagnahmung jüdischen VermöChef der Sicherheitspolizei (Sipo)
gemäß dem ➤ Kreuznacher Abkomgens sowie die geplante ➤ „Arisieund des SD, später des Reichssichermen bis 1964 weitergeführt.
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Glossar
Himmler, Heinrich (1900–1945)
den die verschiedenen Organisatiound der Gestapo unterstellt. Mit der
Reichsführer SS, Chef der ➤ Gestapo
nen einerseits nach Geschlecht und
Gründung der ➤ „Zentralstelle für
und der Waffen SS, ReichsinnenminiAlter und andererseits je nach
jüdische Auswanderung“ wurde die
ster von 1934-45. Er trat bereits in
Größe in Schar, Gefolgschaft,
IKG massiv für die Zwecke der ➤ SS
den frühen zwanziger Jahren in die
Stamm und Bann. Durch Auflösung
missbraucht. Am 1. November 1942
➤ SS ein, wurde 1929 deren Leiter
und Verbot aller anderen Jugendwurde die IKG durch den „Ältestenund 1934 stellvertretender Chef der
verbände – die katholischen Jugendrat“ ersetzt. Vor 1938 hatte die IKG
Gestapo. Als Reichsführer SS und
organisationen waren bis 1938 zuWien 200.000 Mitglieder, nach 1945
Chef der deutschen Polizei übte er
gelassen – wurde die NS-Jugendarlebten in Wien weniger als 5000 JuKontrolle über die gesamte Polizei
beit 1936 monopolisiert. Disziplinieden und Jüdinnen. 1945 wurde die
aus und erlangte Macht zum Ausbau
rung, körperliche Ertüchtigung soIKG rekonstituiert, bis 1949 wuchs
des Polizeiapparates und des Systems
wie die Aufzucht einer „Menschendie Mitgliederzahl auf ca. 11.000 an.
der Konzentrationslager. In seiner
reserve“ nach rassenpolitischen KriDie IKG richtete verschiedene Stellen
Funktion als „Reichskommissar für
terien waren die Erziehungsziele
für die überlebenden Opfer des
die Festigung des deutschen Volksder HJ. b) Die HJ umfaßte als TeilorNationalsozialismus ein, u.a. ein
tums“ 1939 war er maßgeblich an
ganisation der NS-Jugendverbände
Wohnungs-, ein Wanderungs-, ein
Plänen für die Vernichtung der jüdidie 14- bis 18-jährigen Burschen.
Gesundheits- und ein Wiedergutmaschen Bevölkerung sowie an der
Mit 18 Jahren wurden diese in die
chungsreferat.
Neuordnung des deutschen „LebensPartei bzw. ihre Gliederungen überraumes“, etwa durch Umsiedlungswiesen oder nach einem Jahr Jewish Agency (JA)
aktionen im besetzten Polen, betei„Reichsarbeitsdienst“ in die WehrSeit 1948 JA für Israel. Die JA wurde
ligt. Nach der Übernahme des Pomacht übernommen.
1921 als Organisation der Zionististens des Chefs der Sicherheitspolizei
schen Weltorganisation (ZWO) geund des SD nach ➤ Heydrichs Tod Hochkommissar/Hoher Kommissar
gründet, 1929 durch die Aufnahme
1942 war er maßgeblicher Motor in
Ab Juli 1945 stellten die vier Obervon Nichtzionisten erweitert. Die JA
der Durchführung der „Endlösung“.
befehlshaber der Besatzungsmächte
verstand sich als InteressenvertreSeine Stellung als ReichsinnenminiUSA, UdSSR, Großbritannien und
tung der in Palästina lebenden Juster 1943 und als Befehlshaber des
Frankreich als Hochkommissare den
den bei der britischen MandatsreErsatzheeres 1944 verweisen auf sei➤ Alliierten (Kontroll-)Rat in Östergierung und vor dem Völkerbund,
nen zunehmenden Machtzuwachs.
reich. Dieser trat unter wechselnab 1947 vor den Vereinten NatioDas Vertuschen des Massenmords sodem Vorsitz monatlich in Wien zunen. Waren bereits ab 1933 viele Juwie der Befehl zu seiner Einstellung
sammen.
den und Jüdinnen überwiegend aus
im November 1944 sollte erste FrieOst-, Südost- und Mitteleuropa in
densverhandlungen Himmlers mit International Refugee Organization
Palästina eingewandert, so versuchden Alliierten ermöglichen. Infolge- (IRO)
te die JA später über private Spendessen wurde er von Hitler aller ÄmDie internationale Flüchtlingsorganiden, Spenden von landwirtschaftliter enthoben. Nach dem Krieg versation übernahm am 1. Juli 1947 die
chen Siedlungen und Institutionen
suchte er unter falschem Namen zu
Aufsichtsfunktion der ➤ UNRRA beRettungsmaßnahmen für verfolgte
flüchten und wurde von britischen
züglich der ➤Displaced Persons, vereuropäische Juden und Jüdinnen zu
Soldaten gefasst. Am 23.5. beging er
waltete Spenden und organisierte
finanzieren. Ihre Tätigkeit reichte
Selbstmord, noch bevor er als Hauptdie Versorgung der DPs und ihre Anüber die Erstellung von Einreisevisa
kriegsverbrecher vor Gericht gestellt
siedlung in alten und neuen Heimatfür jüdische Kinder aus besetzten
werden konnte.
ländern.
Ländern Europas und die Finanzierung von Transporten bis zu ersten
Hitlerjugend
Israelitische Kultusgemeinde (Wien)
finanziellen Unterstützungen für Ima) Jugendorganisation der NSDAP,
Im Staatsgrundgesetz von 1867 wurmigrantInnen. Allerdings stellte die
entstanden 1926 aus dem „Jungde den jüdischen BürgerInnen erstvon den Briten festgesetzte Einwansturm Adolf Hitler“, einem 1922 gemals volle Glaubens- und Gewissensderungsquote (➤ englisches Weißgründeten Ableger der SA. Die HJ
freiheit gewährt. Zu den Hauptaufbuch) eine erhebliche Einschränkung
war zunächst nur für Knaben, ab
gaben der Kultusgemeinde zählten
für die Aufnahme von Verfolgten
1928 auch für Mädchen zugelassen.
religiöse und kulturelle Belange, die
dar. Nach der Gründung Israels (15.
Als Reichsjugendführer übernahm
Errichtung und Erhaltung von SynaMai 1948) wurde die JA in ZusamBaldur von Schirach 1931 den
gogen, die Versorgung Alter und
menarbeit mit der ZWO zum Binreichseinheitlichen Befehl über die
Kranker. Dafür erhielt sie das Recht,
deglied zwischen Israel und den in
Organisation der NS-Jugendvervon ihren Mitgliedern Steuern und
der Diaspora lebenden Juden und
bände. Die Organisationsstruktur
Gebühren einzuheben. Nach dem
Jüdinnen. Die ZWO-JA leistete finander HJ folgte dem militärischem
Anschluss vom 12. März 1938 wurde
zielle Unterstützung und förderte
Muster sowie der Ausrichtung nach
die Kultusgemeinde aufgelöst. Im
die soziale Integration, errichtete
einem hierarchischen Führer-GeMai 1938 wurde sie wiedergegrünAufnahmelager
und
hebräische
folgschaftsprinzip. Eingeteilt wurdet, war aber unmittelbar der SS
Schulen etc. Im In- und Ausland bie-
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Glossar
tet die ZWO-JA zahlreiche Kultur- Kaufpreis
Klärung der Rückstellungsverfahren
und Bildungsprogramme für Juden
Durch Prüfung der ➤ Vermögensverdie Vermögen zu verwalten und daund Jüdinnen in der Diaspora an.
kehrsstelle festgesetzter Preis für
nach deren Übergabe zu organisieden „Kauf“ jüdischer Geschäfte, der
ren. Krauland und einigen seiner
Joint Distribution Committee (JDC)
dem/der ursprünglichen EigentümeMitarbeiter wurde Ende der vierziEigentlich „American Jewish Joint
rIn zugestanden wurde. Dieser lag
ger Jahre vorgeworfen, RückstellunDistribution
Committee“,
kurz
allerdings erheblich unter dem Vergen zu hintertreiben bzw. sich selbst
„Joint“ genannt. Die Organisation
kehrswert und wurde auf Sperrkonzu bereichern, was 1954 zum sogewurde 1914 als überseeische Wohlten eingezahlt, d.h. die festgesetzte
nannten „Krauland-Prozess“ führte.
fahrtsorganisation gegründet und
Summe stand den ehemaligen EiDas Ministerium selbst wurde im Ankonzentrierte sich ab 1933 auf die
gentümerInnen nicht zu Verfügung.
schluss an die Neuwahlen 1949 aufUnterstützung der jüdischen Bevölgelöst, die Agenden der noch offekerung in Deutschland und in den Kinderübernahmsstelle (KÜST)
nen Rückstellungsfälle wurden dem
von Deutschland besetzten GebieDie KÜST wurde 1925 im Rahmen eiBundesministerium für Finanzen
ten Ost- und Westeuropas, etwa
nes groß angelegten Ausbaus der
übertragen.
durch Spenden für Kranken- und
Kinder- und Jugendfürsorge auf IniWaisenhäuser, Nahrungsmittel, für
tiative Julius Tandlers gegründet. Kreuznacher Abkommen
die Emigration und zum Teil auch
Die KÜST war eine zentrale SchaltDer „Vertrag zwischen der Republik
für den bewaffneten jüdischen Wistelle im Rahmen der Wiener JuÖsterreich und der Bundesrepublik
derstand. Nach dem Krieg war das
gendfürsorge. Neben der RegistrieDeutschland zur Regelung von SchäJDC die wichtigste jüdische Hilfsorrung aller der Fürsorge unterstellten
den der Vertriebenen, Umsiedler und
ganisation für jüdische ÜberlebenKinder und Jugendlichen diente die
Verfolgten, über weitere finanzielle
de. Es betreute die jüdischen ➤ DisAnstalt als Heim zur vorübergehenFragen und Fragen aus dem sozialen
placed Persons (DPs) in den Lagern
den Unterbringung von Kindern, die
Bereich (Finanz- und Ausgleichsin Deutschland, Österreich und anaus ihren Familien entfernt wurden.
vertrag)“ wurde im Juni 1961 zwideren europäischen Ländern, finanDie Unterbringung einer psycholoschen den beiden Staaten abgezierte Nahrungsmittel, Kleidung,
gischen Beobachtungsstation als
schlossen. Er sah u. a. vor, dass ÖsterBerufsausbildung und organisierte
Außenstelle der Kinderpsychologireich die nach 1945 Vertriebenen
nach der Ausrufung des Staates Israschen Forschungsstelle Universität
und UmsiedlerInnen deutscher Sprael im Mai 1948 den Transport jüdiWien führte zu einer engen Zusamche den österreichischen Staatsscher AuswanderInnen. Das JDC
menarbeit zwischen Fürsorge und
bürgerInnen im österreichischen
nahm auch an der ➤ Claims Confepsychologischer Wissenschaft. 1940
➤ Kriegs- und Verfolgungssachrence und dem ➤ Claims Committee
wurde die Beobachtungsstelle auf
schädengesetz gleichstellte. Dafür
teil.
den ➤ „Spiegelgrund“ verlegt.
leistete die Bundesrepublik Deutschland an Österreich eine Zahlung von
Judenvermögensabgabe
Kommission für Provenienzforschung
125 Mio. DM. In der Frage der EntNach der im April 1938 verordneten
Anfang 1998 von Kulturministerin
schädigung wurde die finanzielle
Vermögensanmeldung für Juden
Elisabeth Gehrer eingesetzte ArbeitsBeteiligung der Bundesrepublik mit
und Jüdinnen betreffend Vermögruppe im Bundesdenkmalamt und
95 Mio. DM am „Fonds zur Abgelgenswerte über 5000 RM mussten
in den Bundesmuseen, die die Hertung von Vermögensverlusten poli20 % des angemeldeten Vermögens
kunft
der
in
österreichischen
tisch Verfolgter“ (➤ Abgeltungsals von den Nazis so genannte JuBundesmuseen befindlichen geraubfonds) und am „Hilfsfonds zur Hilfedenvermögensabgabe an den NSten Kunstgegenstände erforschen
leistung an politisch Verfolgte, die
Staat gezahlt werden.
soll. ➤ Bundesgesetz über die Rückihren Wohnsitz und ständigen Aufgabe von Kunstgegenständen aus
enthalt im Ausland haben“ (➤ HilfsJungmädel (JM)
den österreichischen Bundesmuseen
fonds) festgelegt.
Teilorganisation in der ➤ HJ für zehnund Sammlungen.
bis 14-jährige Mädchen, deren OrKriegs- und Verfolgungssachganisation der des ➤ DJ (Deutsches Krauland-Ministerium
schädengesetz (KVSG)
Jungvolk) parallel lief.
Das „Bundesministerium für VermöBundesgesetz vom 25. Juni 1958
genssicherung und Wirtschaftsplaüber die Gewährung von EntschädiKastner, Walther (1902–1994)
nung“ unter dem zuständigen Minigungen für durch Kriegseinwirkung
Jurist, während der NS-Zeit u.a. in
ster Dr. Peter Krauland wurde 1945
oder durch politische Verfolgung erder Österr. Kontrollbank tätig und
eingerichtet und hatte u.a. die Auflittene Schäden an Hausrat und an
zuständig für Fragen im Zusammengabe der Erfassung, Sicherung, Verzur Berufsausübung erforderlichen
hang mit ➤ „Arisierungen“, nach
waltung und Verwertung ehemaGegenständen. Dieses Gesetz behandem Krieg von Bundesminister Krauligen NS-Vermögens und „arisierten“
delte NS-Opfer und Kriegsopfer
land als Berater für das ➤ MinisteriVermögens. Dazu gehörte die Bestelgrundsätzlich gleich. Allerdings waum für Vermögenssicherung und
lung von öffentlichen Verwaltern,
ren Personen, die über ein JahreseinWirtschaftsplanung engagiert.
deren Aufgabe es war, bis zur
kommen von mehr als 72.000 Schil-
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Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
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Glossar
ling verfügten, von Ansprüchen nach
dem KVSG ausgeschlossen. Insofern
galt hier ebenso wie im ➤ Opferfürsorgegesetz das Fürsorge- und nicht
das Entschädigungsprinzip.
KZ-Verband
Der Verband wurde im März 1946
von Ministerialrat Dr. Franz Sobek
in Wien gegründet und von den
drei Parteien ÖVP, SPÖ und KPÖ paritätisch beschickt. Später wurde er
in ➤ „Bund der politisch Verfolgten“ umbenannt. Die Mitgliedschaft stand zunächst nur den ehemaligen „politischen“ Häftlingen
offen. Dem Selbstverständnis nach
war er keine karitative, sondern in
erster Linie eine politische Organisation, deren Ziel es war, die Demokratie in Österreich langfristig zu
festigen und dazu ehemalige Widerstandskämpfer in entsprechende
politische Positionen zu bringen.
Der KZ-Verband stellte auch Bestätigungen aus, mit der ehemalige Verfolgte bei den entsprechenden Fürsorgestellen eine ➤ Amtsbescheinigung erhalten konnten.
Lager Lackenbach
Das burgenländische Lager wurde
am 23.11.1940 errichtet und unterstand der Kriminalpolizeistelle Wien.
Das Lager war vorwiegend zur Internierung als „asozial“ verfolgter Roma und Sinti errichtet worden. Die
arbeitsfähigen Häftlinge, darunter
auch Kinder, wurden an Bauern der
Umgebung oder an Unternehmen
als Arbeitskräfte vermietet. Die Unterbringung der Lagerhäftlinge erfolgte unter katastrophalen hygienischen Bedingungen, weshalb viele
der Internierten 1942 einer Flecktyphusepidemie zum Opfer fielen. Die
Wirksamkeit von Vorurteilen gegen
Roma und Sinti auch nach 1945 erschwerte deren Anerkennung in der
➤ Opferfürsorgegesetzgebung, und
auch das Lager Lackenbach wurde
lange Zeit nicht als Konzentrationslager anerkannt, sondern als „Arbeitslager“ bezeichnet.
Londoner Deklaration
„Inter-allied Declaration Against Acts
of Dispossession Committed in Territories Under Enemy Occupation or
Control“. Die Deklaration wurde am
170
5. Jänner 1943 von 17 Regierungen
des ➤ Zwei-Plus-Vier-Vertrags als Frieund dem französischen Nationalkodensvertrag wurde nicht realisiert.
mitee unterzeichnet. Mit dieser Erklärung behielten sich die Alliierten Luxemburger Abkommen
das Recht vor, Übertragungen von
Das am 10. September 1952 zwiVermögen, Rechten und Interessen,
schen der Bundesrepublik Deutschdie in Ländern unter deutscher Beland und Israel getroffene „Wiedersetzung oder in mit dem Deutschen
gutmachungsabkommen“ war das
Reich verbündeten Ländern vorgeErgebnis der zweijährigen Verhandnommen worden waren, für nichtig
lungen der ➤ „Claims Conference“
zu erklären. Gemeint waren in erster
mit der deutschen Bundesregierung.
Linie die von den Nationalsozialisten
Die Bundesrepublik Deutschland verdurchgeführten ➤ „Arisierungen“
pflichtete sich, 822 Mio. US-Dollar
und Geschäftsliquidierungen.
Entschädigung in zwölf Jahren zu
zahlen, davon 715 Mio. für AufbauLondoner „Raubgoldkonferenz“
leistungen an den Staat Israel und
An der Konferenz, die unter dem Pa107 Mio. für Opfer des Nationalsotronat der von den USA, Großbritanzialismus weltweit. Dieses Geld vernien und Frankreich 1946 eingesetzwaltete die „Claims Conference“.
ten „Tripartite Gold Commission“ zur
Rückgabe des „Nazi-Goldes“ an seine Magistratsabteilung – MA 12
rechtmäßigen BesitzerInnen stand,
Ab 1946 Magistratsabteilung für
nahmen Anfang Dezember 1997 VerErwachsenen- und Familienfürsorge,
treterInnen von Regierungen, Staatsehemaliges „Amt für Wohlfahrtsbanken und Opfergruppen aus 41
pflege“ der Stadt Wien (MA X/1),
Ländern teil. Ziel der Konferenz war
heute Sozialamt der Stadt Wien, inkl.
es, Herkunft und Verbleib des NaziOpferfürsorgereferat.
Raubgoldes sowie die bisher erfolgten Kompensationszahlungen an die Magistratsabteilung – MA 15
Opfer zu klären und über weitere
Gesundheitsamt der Stadt Wien,
Entschädigungen zu diskutieren.
nach 1945 für die Erstellung von medizinischen Gutachten im Rahmen
Londoner Schuldenabkommen
der Opferfürsorge zuständig.
Das am 27. Februar 1953 unterzeichnete Abkommen über deut- Magistratsabteilung – MA 21
sche Auslandsschulden war Ergebnis
1938 Wohnungsamt der Gemeinde
der Londoner Schuldenkonferenz
Wien.
1952, an der neben der Bundesrepublik Deutschland u.a. Belgien, Dä- Magistratsabteilung – MA 52
nemark, Frankreich, Griechenland,
Wohnungsamt der Gemeinde Wien,
Italien, Jugoslawien, Schweden, die
im Rahmen dessen 1947 ein eigenes
Schweiz, die USA teilnahmen. Das
„Wiedergutmachungsreferat“ errichSchuldenabkommen stellte die endtet wurde. Die Vergabe von Gemeingültige Regelung der Reparationsdewohnungen erfolgte über ein
frage bis zum Abschluß eines FriePunktesystem, entsprechend der Bedensvertrages zurück. Dazu heißt es
dürftigkeit der AntragstellerInnen.
in Artikel 5, Abs. 2: „Eine Prüfung
der aus dem Zweiten Weltkrieg Magistratsabteilung – MA 61
herrührenden Forderungen von
Amt der Stadt Wien für StaatsbürStaaten, die sich mit Deutschland im
gerschafts- und PersonenstandsangeKriegszustand befanden, oder delegenheiten.
ren Gebiet von Deutschland besetzt
war, und von Staatsangehörigen Magistratsabteilung – MA 8
dieser Staaten gegen das Reich und
Stadt- und Landesarchiv der Stadt
im Auftrag des Reichs handelnde
Wien im Wiener Rathaus.
Personen (...) wird bis zur endgültigen Regelung der Reparationsfrage Maisel, Karl (1890–1982)
zurückgestellt.“ Ein formeller FrieÜberlebender des KZ Buchenwald,
densvertrag wurde bis heute nicht
SPÖ-Politiker, 1945–1956 Bundesminiabgeschlossen, die ursprüngliche Idee
ster für soziale Verwaltung, 1948–59
Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
Glossar
Vizepräsident des ÖGB, 1956–1964
Präsident der Arbeiterkammer Wien.
Mark, Karl (1900–1991)
SPÖ-Politiker, im Ständestaat und
während des Nationalsozialismus
verfolgt und verhaftet, 1945–1966
Nationalratsabgeordneter, Generalsekretär des „Bundesverbandes politisch Verfolgter“.
Zweiten Weltkrieg wurden von der
britischen Besatzungsmacht jüdische
„illegale“ ImmigrantInnen aus der
Tschechoslowakei, aus Danzig und
Wien nach Mauritius deportiert. 212
Männer wurden zu den britischen
Streitkräften eingezogen, der Rest
der Flüchtlinge in einem Gefängnisgebäude und Baracken untergebracht. Die Flüchtlinge wurden
durch jüdische Organisationen und
die ➤ Jewish Agency (JA) unterstützt. Das Hauptziel der Flüchtlinge
lag in der Rückkehr nach Palästina,
wohin nach der Entlassung am
12.8.1945 ein Großteil immigrierte.
len Orientierung, aufgrund einer
körperlichen oder geistigen Behinderung oder des Vorwurfs sogenannter
„Asozialität“ Opfer nationalsozialistischer Verfolgung wurden. Neben
der einmaligen Auszahlung von Unterstützungsbeträgen
liegt
das
Hauptanliegen des Fonds vor allem
in einer symbolischen Geste. Die Leistungen des Fonds richten sich an
Personen, die bisher keine oder völlig unzureichende Leistungen durch
die ➤ Opferfürsorge erhalten haben,
in irgendeiner Weise bedürftig sind
oder bei denen aufgrund ihrer gegenwärtigen Lebenssituation eine
Unterstützung gerechtfertigt erscheint. Neben der Durchführung
und Verwaltung steht der Fonds in
enger Zusammenarbeit mit behördlichen Stellen und diversen Opferverbänden im In- und Ausland, um
möglichst viele anspruchsberechtigte
Personen erreichen zu können.
Marshall-Plan
Das amerikanische Hilfsprogramm für
Europa (ERP – European Recovery Program), benannt nach dem amerikanischen Außenminister George Marshall, wurde am 3.4.1948 vom USKongress verabschiedet und wegen Moskauer Deklaration
der Ablehnung der Mitarbeit von
Die Moskauer Deklaration der drei
Seiten der Ostblockländer auf 18
Alliierten USA, UdSSR und Großbriwestliche europäische Länder betannien vom 1. November 1943 hielt
schränkt, darunter auch die Bundesbezüglich Österreich fest, dass es
republik Deutschland und Österreich.
„das erste freie Land“ gewesen sei,
Die Marshallplan-Hilfe wurde als
das der „Angriffspolitik Hitlers zum
Hilfe zur Selbsthilfe verstanden, die
Opfer“ fiel, dass die Besetzung
teilnehmenden Länder verpflichteten
Österreichs durch Deutschland am Der neue Weg
sich zur Produktionssteigerung, Sta13. März 1938 „null und nichtig“ sei
Jüdische Zeitung „mit amtlichen
bilisierung der Währung, Liberalisieund dass nach dem Krieg „ein freies
Mitteilungen der Israelitischen Kulrung des Handels. Sie umfasste Krediunabhängiges Österreich wiederhertusgemeinde Wien“, erschien von
te und Sachlieferungen, v. a. in Form
gestellt“ werden solle. Gleichzeitig
1946–1949.
von Geschenken von Lebensmitteln
wurde Österreich in der Deklaration
und Rohstoffen, die im Inland zu
aber auch daran erinnert, dass es sei- Novemberpogrom
Marktpreisen verkauft werden sollner Verantwortung für „die TeilnahDie „Reichskristallnacht“ vom 9./10.
ten, der Erlös floss in einen eigenen
me am Kriege an der Seite HitlerNovember 1938 in ganz Deutschland
Fonds, aus dem wiederum günstige
Deutschlands“ nicht entrinnen könund Österreich bildete einen HöheKredite für die heimische Wirtschaft
ne. Von der österreichischen Nachpunkt antijüdischer Angriffe durch
gewährt werden konnten. Westeurokriegspolitik wurden jedoch vor aldie gesamte NSDAP. Vielfach wird
pa erhielt bis Ende 1951 von den USA
lem die „Opfer- und Nichtigkeitserder Pogrom als spontaner Ausbruch
insgesamt etwa 13 Mrd. Dollar.
klärungen“ der Deklaration als wedes Volkszorns dargestellt, doch ersentlich betrachtet. Sie dienten als
folgte er auf einen Aufruf Goebbels‘
Mauerbach-Fonds
Stichworte für die Aufrechterhaltung
zu Aktionen gegen Juden und JüDer Fonds wurde aufgrund des
des Opfermythos und für die Verdinnen. Die Zerschlagung von Schau„2. Kunst- und Kulturbereinigungshandlungsposition Österreichs befenstern jüdischer Geschäfte, die Zergesetzes über die Herausgabe und
züglich des ➤ Staatsvertrags. Die
störung und Niederbrennung von SyVerwertung ehemals herrenlosen
Formulierung von der Mitverantwornagogen, die Plünderung jüdischer
Kunst- und Kulturgutes, das sich im
tung Österreichs wurde demgegenGeschäfte waren nur der Auftakt zu
Eigentum des Bundes befindet“ vom
über auf Betreiben der österreichieiner weiteren Folge von Terrormaß13. Dezember 1985 errichtet. Der
schen Regierung vor Unterzeichnung
nahmen gegen die jüdische BevölkeFonds verwaltet den Erlös einer Aukdes Staatsvertrags aus der Präambel
rung. In Österreich begannen die antion vom Herbst 1996 von in der NSgestrichen.
tijüdischen Ausschreitungen erst am
Zeit geraubten Kunstwerken, deren
frühen Morgen des 10.11.1938. InsBesitzerInnen nicht mehr eruiert Nationalfonds der Republik Österreich
gesamt wurden im Anschluss an den
werden konnten. Die eingenomme- für die Opfer des Nationalsozialismus
Pogrom 30.000 Juden und Jüdinnen
ne Summe wird an bedürftige Opfer
Der Nationalfonds wurde auf Natioin Konzentrationslager gebracht, aus
des Nationalsozialismus und deren
nalratsbeschluss im Juni 1995 geÖsterreich wurden 4600 Juden und
Hinterbliebene verteilt.
gründet. Seit Oktober 1995 widmet
Jüdinnen nach Dachau deportiert.
sich der Fonds der Unterstützung jeMauritius
ner Menschen, die aus politischen 12. Novelle zum Opferfürsorgegesetz
Inselstaat im Indischen Ozean, rund
Gründen, Gründen der AbstamDie am 22. März 1961 erlassene No800 km östl. von Madagaskar. Im
mung, Religion, Nationalität, sexuelvelle stellte eine wesentliche Erwei-
Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
171
Glossar
terung des Kreises der anspruchsbe- Opferausweis
schwer, die Nachweise erlittener
rechtigten Opfer dar: Erstmals wurNach dem ➤ Opferfürsorgegesetz
Verfolgung zu erbringen. Zudem
den auch für Aufenthalte im Getto
anerkannte Opfer des Nationalsoziablieben viele Gruppen nach wie vor
oder Internierungslager, für die Verlismus erhielten über ein durch die
ausgeschlossen: Nicht anspruchsbepflichtung zum Tragen des JudenGesundheits- und Sozialämter erstellrechtigt waren Roma und Sinti (teilsternes und für den Verlust von Eintes Gutachten die Möglichkeit zum
weise), Homosexuelle, sogenannte
kommen und Unterbrechung von
Erhalt eines Opferausweises. Besitze„Asoziale“, „Euthanasie“-Opfer und
Berufsausbildungen – letztgenannrInnen eines solchen Ausweises sollandere Gruppen. Sie erhielten erst
tes galt allerdings nur für österten bei der Wohnungs- und Arbeitsdurch den 1995 geschaffenen ➤ Nareichische StaatsbürgerInnen – Entsuche von den behördlichen Stellen
tionalfonds eine Entschädigung,
schädigungen gezahlt.
bevorzugt behandelt werden. Durch
ebenso wie die jüdischen Vertriedie Ausgabe etwa von Fahrausweibenen, die bis dahin nur teilweise
Nürnberger Rassengesetze
sen und steuerliche Begünstigungen
und sehr gering entschädigt worden
Am 15. September 1935 wurden in
sollten die AusweisbesitzerInnen fiwaren.
Nürnberg auf einer Sondersitzung
nanziell unterstützt werden. Der Bedes Reichsparteitags zwei Verfassitz eines Opferausweises bedeutete Palästina-Amt
sungsgesetze verkündet, die die Basis
aber keinen Anspruch auf eine OpAuswanderungs-Organisation der ➤
für den völligen Ausschluss der jüdiferrente. ➤ Amtsbescheinigung.
Jewish Agency in Deutschland, die
schen Bevölkerung aus dem öffentliausschließlich die Auswanderung der
chen Leben und für die nachfolgende Opferfürsorgegesetz (OFG)
jüdischen Bevölkerung nach Palästiantijüdische Politik bildeten. Das
Das erste Opferfürsorgegesetz wurna durchführte. Das Palästina-Amt
„Gesetz zum Schutz des deutschen
de am 17. Juli 1945 beschlossen, als
kümmerte sich um die nötigen Visa
Blutes und der deutschen Ehre“
Opfer wurden zunächst nur österund den Transport der EmigrantInverbot u.a. Eheschließungen und
reichische
WiderstandskämpferInnen. Nach dem Novemberpogrom
außerehelichen Verkehr zwischen
nen angesehen, denen bei sozialer
1938 wurde das Amt unter stärkere
Juden/Jüdinnen und Deutschen. Das
Bedürftigkeit und gesundheitlichen
Kontrolle gestellt, konnte aber noch
„Reichsbürgergesetz“ legte fest, dass
Schäden bestimmte Fürsorgemaßbis Frühjahr 1941 weitgehend eigennur Deutsche oder Personen mit „artnahmen, Vergünstigungen bzw.
ständig arbeiten.
verwandtem Blut“ Bürger des Reichs
Renten zuerkannt wurden. Opfer
seien. Durch diese Gesetze verloren
rassistischer Verfolgung blieben Potsdamer Abkommen
die jüdische und andere „nichtdeutvom OFG ausgeschlossen, sofern sie
Das von den drei alliierten Mächten
sche“ Bevölkerungsgruppen, v.a.
keinen Nachweis eines aktiven Einin Berlin am 2. August 1945 unterauch Roma und Sinti, ihre politischen
satzes gegen das NS-Regime erbrinzeichnete Abkommen regelte u.a.
Rechte. Aufgrund des „Reichsbürgergen konnten. Das zweite OFG von
die militärische Besetzung Deutschgesetzes“ wurden zwischen Novem1947 sah auch Fürsorgemaßnahmen
lands und Österreichs, Entmilitariber 1935 und Juli 1943 13 weitere
für Opfer rassistischer Verfolgung
sierung, Entnazifizierung, VerfolVerordnungen u.a. über Berufsverbovor, anspruchsberechtigt waren aber
gung von Kriegsverbrechern, Repate für die jüdische Bevölkerung,
allgemein
nur
österreichische
rationszahlungen und die alliierte
Kennzeichnungspflicht jüdischer GeStaatsbürgerInnen (also nicht die
Kontrolle der deutschen und österschäfte, Verfall jüdischen Vermögens
Vielzahl der Vertriebenen, die eine
reichischen Wirtschaft. Gemäß dem
an das Deutsche Reich, erlassen. Die
andere Staatsbürgerschaft angeAbkommen konnte jede Besatsogenannten „Nürnberger Rassengenommen hatten), die mindestens
zungsmacht ihre Reparationsansetze“ erhielten am 28. Mai 1938
sechs Monate Haft in einem KZ oder
sprüche nur aus der von ihr besetzauch für Österreich Gültigkeit. Die 9.
ein Jahr Haft in einem Gefängnis
ten Zone befriedigen. Während die
Verordnung zum „Reichsbürgergeo.ä. nachweisen konnten. ZahlreiWestmächte gegenüber Österreich
setz“ vom 5. Mai 1939 führte eine
che Novellen erweiterten langsam
auf ihre Ansprüche mit Ausnahme
Reihe weiterer antijüdischer Gesetze
den Kreis der Anspruchsberechtigdes „deutschen Eigentums“ verzichin Österreich ein. Wichtig im Sinne eiten, z.B. wurde in der 7. Novelle
teten, übernahm die USIA („Verwalner nachträglichen „Legalisierung“
1952 erstmals nicht nur Fürsorge,
tung des sowjetischen Vermögens
und gleichzeitig der totalen Berausondern eine Haftentschädigung
in Österreich“) innerhalb der von
bung der jüdischen Bevölkerung
pro Monat gewährt, die 8. Novelle
ihr besetzten Zone fast die gesamte
durch das nationalsozialistische Regi1953 machte die Haftentschädigung
Erdölindustrie
und
die
DDSG
me waren die ➤ 11. und die ➤ 13.
nicht mehr vom Besitz der öster(Donaudampfschiffahrtsgesellschaf),
Verordnung zum Reichsbürgergesetz.
reichischen Staatsbürgerschaft abca. 300 Industriebetriebe, 150.000
hängig, die ➤ 12. Novelle stellte
ha Grundbesitz, Gewerbe- und HanOMGUS
noch einmal eine Erweiterung des
delsbetriebe. Gemäß dem StaatsverOffice of the Military Government
Kreises anspruchsberechtigter Persotrag wurden diese Vermögenswerte
for Germany, US-Zone of Occupation/
nen dar. Dennoch wies das OFG weispäter gegen eine Ablöse von 150
Control, Berlin; amerikanische Miterhin viele Mängel und UngerechMio. Dollar an Österreich übergelitärregierung in Deutschland
tigkeiten auf, oftmals war es
ben.
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Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
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Glossar
Raab, Julius (1891–1964)
ÖVP-Politiker, 1927–1934 Abgeordneter des Nationalrats, nö. Heimwehrführer, 1938 Handels- und Verkehrsminister, nach 1945 Mitbegründer der ÖVP und von 1952– 1960
ihr Bundesparteiobmann, 1953–1961
Bundeskanzler, Mitverhandler des
Staatsvertrags, Präsident der Bundeswirtschaftskammer, Mitbegründer der Sozialpartnerschaft.
Rafelsberger, Walter
„Staatskommissar in der Privatwirtschaft“ und Gauwirtschaftsberater.
Im Mai 1938 wurde er als Leiter der
➤ Vermögensverkehrsstelle (VVST)
zur planmäßigen Durchführung und
Organisierung der Zwangsenteignungen eingesetzt.
Raubgold
Bezeichnet das Gold, das der jüdischen Bevölkerung und anderen
Gruppen, wie etwa den Sinti und
Roma, während der NS-Zeit geraubt
wurde, u.a. durch Enteignung von
jüdischen Banken und Einziehung
von deren Vermögen, und durch das
den Ermordeten in den Konzentrationslagern herausgebrochene Zahngold, das in andere Goldbestände
eingeschmolzen wurde und so in
den internationalen Goldhandel
gelangte. ➤ Bergier-Kommission; ➤
Londoner „Raubgoldkonferenz“.
Reichseinheitliche Verordnung gegen
die „Tarnung jüdischer Gewerbebetriebe“ vom 22. 4. 1938 und Verordnung über die Anmeldung jüdischen
Vermögens vom 26. 4. 1938
Beide Verordnungen bildeten die legistische Grundlage für die Zwangsenteignung jüdischen Besitzes und
Vermögens.
Reichsfluchtsteuer
Betrag, der von Juden und Jüdinnen
für die Genehmigung der Ausreise
zu zahlen war. Die Reichsfluchtsteuer
wurde von der NS-Finanzverwaltung
von den jüdischen ➤ Sperrkonten
abgezogen.
Reichssicherheits-Hauptamt (RSHA)
Am 27. September 1939 wurden die
zentralen Ämter der Sicherheitspolizei (die 1936 aus ➤ Gestapo und Kripo neu organisiert worden war) und
des Sicherheitsdienstes der ➤ SS zum Sammelklage
RSHA zusammengefaßt. Chef des
Nach amerikanischem Recht können
RSHA wurde der bisherige Chef des
Forderungen zahlreicher Personen
SD ➤ Reinhard Heydrich. Sein Nachals „Klagen im Gruppeninteresse“
folger ab Anfang 1943 war der
(sogenannten „class actions“) gelÖsterreicher Ernst Kaltenbrunner.
tend gemacht werden. Dieses RechtsDas RSHA war hauptverantwortlich
instrument dient der Bündelung der
für Verfolgungen und Massenmorde,
Interessen vieler Einzelner und der
die Deportation hunderttausender
Vermeidung möglicherweise widerJuden und Jüdinnen in die ➤ Versprüchlicher Urteile in inhaltlich
nichtungslager.
gleich gelagerten Prozessen. Eine
Sammelklage kann von einzelnen
Rückstellungsgesetze
„class representatives“ stellvertreDie wichtigsten Gesetze zur Umsettend für die anderen Mitglieder der
zung des ➤ Bundesgesetzes über die
Gruppe eingebracht werden, u.a.
Nichtigkeit von Rechtsgeschäften
wenn die Anzahl der Betroffenen
sind das 1., das 2. und insbesondere
genügend groß ist, ihre Ansprüche in
das 3. Rückstellungsgesetz (RG). Das
rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht
1. RG vom 26. Juli 1946 betraf das
ähnlich gelagert sind, die von den
vom Deutschen Reich entzogene und
„class representatives“ erhobenen
nach 1945 in der Verwaltung der ReAnsprüche für die ganze „class“ typublik Österreich oder der Bundespisch sind und sie konkrete Gründe
länder befindliche Vermögen, das
für eine „class action“ anführen kön2. RG vom 6. Februar 1947 behandelnen. Im Einzelfall entscheidet der
te das im Eigentum der Republik beRichter über die Zulässigkeit einer
findliche entzogene Vermögen und
„class action“. Für „class members“
das 3. RG vom 6. Februar 1947 das in
ist das rechtliche Urteil bindend, im
privatem Besitz befindliche, zwiFalle eines gewonnenen Prozesses
schen 1938 und 1945 entzogene Verwird die Summe nach Abzug der Anmögen, und jene Fälle, die nicht
waltskosten quotenmäßig auf die
durch das 1. und 2. RG geregelt wer„class members“ verteilt.
den konnten. Der größte Teil der
Rückstellungsverfahren fiel unter das Sammelstellen
3. RG. Weitere Rückstellungsgesetze
Die Erfassung des „erblosen Vermöregelten die Rückstellung entzogegens“ und seine Verwendung für
ner Rechte, z.B. Gewerberechte, Andie Opfer des Nationalsozialismus
sprüche aus Dienstverhältnissen u.ä.
war eine wichtige Frage in den Verhandlungen des ➤ Claims Commit4. Rückstellungsanspruchsgesetz
tee und der österreichischen Bun„Bundesgesetz über die Erhebung
desregierung und wurde im Artikel
von Ansprüchen der Auffangorgani26, § 2 des ➤ Staatsvertrags geresationen auf Rückstellung von Vergelt. Entsprechend wurde am 13.
mögen nach den ➤ RückstellungsgeMärz 1957 das sogenannte „Aufsetzen“ vom Mai 1961. In diesem Gefangorganisationsgesetz“ erlassen,
setz wurde den ➤ Sammelstellen die
das die Einrichtung zweier SammelBerechtigung gegeben, Ansprüche
stellen für „erbloses jüdisches“ bzw.
nach der Rückstellung, die von den
(A) „erbloses nichtjüdisches VermöBerechtigten bisher nicht erhoben
gen“ (B) vorsah. Der zwischen 1938
worden waren, geltend zu machen.
und 1945 erfolgte Transfer in Österreich entzogenen Vermögens nach
Sach- und Verkehrswert
Deutschland wurde im ➤ KreuzIn der Arisierungspraxis wurde von
nacher Abkommen mit einer von
einer Treuhandstelle (bei Objekten
der BRD zu zahlenden Pauschalsumüber einem Wert von 100.000 RM
me von 6 Mio. DM geregelt. Das
durch eine „Kontrollbank“) ein Bevon beiden Sammelstellen insgetrieb zu einem Sachwert angekauft,
samt erfasste Vermögen (ca. 180
der nur einen Bruchteil des realen
Mio. Schilling) wurde nach einem
Wertes darstellte. Der Weiterverkauf
Gesetz vom 5. April 1962 zu 80 %
an „arische“ KäuferInnen erfolgte
auf Sammelstelle A, zu 20 % auf
zum deutlich höheren Verkaufswert.
Sammelstelle B aufgeteilt und an in
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173
Glossar
Österreich lebende individuelle AntragstellerInnen und gemeinnützige
Organisationen ausgezahlt.
den militärischen Nachrichtendienst,
die sog. „Abwehr“ zu erhalten. Im
September 1939 wurden unter Oberbefehl Heydrichs Gestapo und SD mit
der Gründung des ➤ Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) vereinigt.
tionalsozialistischen Regimes war die
SS das Hauptinstrument zur Ausübung von Terror, Massenmorden und
„Germanisierung“. Die 1925 gebildete Schutzstaffel war zunächst als Hitlers Leibgarde zuständig für Schutzund Sicherheitsaufgaben. Chef der
SS war ab 1929 ➤ Heinrich Himmler
(ab 1936 auch Chef der deutschen
Polizei). Die Waffen-SS, eine militärische Einheit der SS, führte während
des Krieges an der Front Massenerschießungen und Tötungen in Gaswägen durch. Ihr unterstanden auch
die Konzentrationslager. Die WaffenSS, eine militärische Einheit der SS,
führte während des Krieges an der
Front Massenerschießungen und Tötung in Gaswägen durch.
Sauckel, Fritz (1894–1946)
wurde 1923 Mitglied der NSDAP und
der SA, 1927 Gauleiter von Thüringen. Im März 1942 wurde Sauckel Shanghai
zum „Generalbevollmächtigten für
War bereits vor dem Zweiten Weltden Arbeitseinsatz“ ernannt. Er war
krieg ein chinesischer Hafen mit
verantwortlich für die Deportation
mehr als vier Mio. EinwohnerInnen.
von Millionen Menschen für den
Die internationalen Niederlassungen
Zwangsarbeitseinsatz im „Deutschen
in Shanghai wurden von elf Ländern,
Reich“. 1946 wurde er vom Nürnberdarunter die USA, Großbritannien
ger Militärgerichtshof zum Tode verund Japan, verwaltet. Nach dem
urteilt und gehängt.
➤ Novemberpogrom 1938 bot
Shanghai zahlreichen Emigranten ZuSchuschnigg, Kurt
flucht. Shanghai war weltweit der
Der christlichsoziale Politiker wurde
einzige Ort, zu dem man ohne Visum
nach der Ermordung von Engelbert
oder offizielle Dokumente gelangen
Dollfuß im Juli 1934 Bundeskanzler.
konnte. Mit Hilfe zweier bereits Staatsvertrag
Er versuchte die Prinzipien des
bestehender jüdischer Gemeinden in
Der am 15. Mai 1955 von der Sowjet➤ Ständestaates zu verwirklichen, inShanghai und des amerikanisch-jüdiunion, Großbritannien, den USA,
nenpolitisch drängte er den starken
schen ➤ „Joint“-Distribution ComFrankreich und Österreich unterEinfluß der Heimwehren zurück,
mittee wurden zwei große Flüchtzeichnete „Staatsvertrag betreffend
außenpolitisch konnte er dem Druck
lingslager für 3000 Personen errichdie Wiederherstellung eines unabdes nationalsozialistischen Deutschen
tet. Nach anfänglicher Integration
hängigen
und
demokratischen
Reiches wenig entgegensetzen.
und auch der wirtschaftlichen EtabÖsterreich“ behandelt im Artikel 26
lierung verschlechterten sich mit dem
die Ansprüche von Opfern nationalSchwarzes Kreuz, Österreichisches
Krieg im Pazifik auch die Lebensbesozialistischer Verfolgung auf Ver(ÖSK)
dingungen der Flüchtlinge, zumal die
mögensrückstellung und Wiederher1919 gegründete Kriegsgräberfüramerikanische Regierung private Unstellung ihrer Rechte bzw. auf Entsorge. Seine Aufgaben sind die Erterstützungen und Zuschüsse durch
schädigung, falls eine Rückstellung
richtung und Erhaltung von Soldaden „Joint“ verbot. Im Februar 1943
nicht möglich ist. Über die Interpretengräbern der Angehörigen aller
wurde von den Japanern ein Lager
tation dieses Artikels gingen aber in
Nationen, von Gräbern ziviler Opfer
nach nationalsozialistischem Vorbild,
den folgenden Jahren die Meinundes Bombenkriegs, der politischen
der sogenannte „Sperrbezirk“, ergen zwischen der österreichischen
Verfolgung und von Flüchtlingen.
richtet. Nach dem Krieg ging die
Regierung und den Organisationen
Das ÖSK wird fast ausschließlich über
Hälfte der in Shanghai lebenden
der
Überlebenden
auseinander.
Spenden finanziert.
Flüchtlinge nach Israel. Nach Wien
Außerdem wurde im Staatsvertrag
kehrten am 12.4.1949 269 ehemalige
festgelegt, dass das „erblose VermöSD
Flüchtlinge zurück.
gen“ zur Unterstützung der Opfer
Sicherheitsdienst des Reichsführers
der NS-Verfolgung verwendet wer➤ SS. Der SD war der Nachrichten- Sperrkonto
den solle. ➤ Sammelstellen.
dienst der NSDAP und eine wichtige
Der Kaufpreis, den ehemalige EiInstitution bei der Durchführung der
gentümerInnen „arisierter“ Betriebe Ständestaat
„Endlösung“. Der SD wurde 1931
zugestanden bekamen, wurde jeBezeichnung für die ständisch autovon ➤ Heinrich Himmler errichtet,
doch nicht an diese ausbezahlt.
ritäre Staatsform Österreichs zwidie Leitung unterstand ➤ Reinhard
Stattdessen wurde der Betrag auf
schen 1934 und 1938. Nach der AusHeydrich. Seine Aufgabe lag in der
ein Sperrkonto überwiesen, auf das
schaltung des Parlaments durch BunÜberwachung von „Feinden der
der/die ehemalige BesitzerIn keinen
deskanzler Engelbert Dollfuß im
Partei“. 1934 wurde der SD zum
Zugriff hatte. Von diesen SperrMärz 1933 wurden die demokratieinzigen Geheimdienst der NSDAP
konten entnahm die NS-Finanzverschen Einrichtungen der Verfassung
erklärt. Während der ➤ Gestapo
waltung Abgaben, wie etwa die ➤
schrittweise demontiert. Die Basis
primär Exekutivaufgaben zukamen,
Reichsfluchtsteuer und die Judenverdes Ständestaates bildete eine bekonzentrierte sich der SD auf die Formögensabgabe ( ➤ Sühneleistung).
rufsständische Verfassung und ein
mulierung der politischen und ideoEinparteiensystem, das weitgehend
logischen Zielsetzungen der SS. Die SS
von Mitgliedern der ChristlichsoziaSD-Führung versuchte auch über
„Schutzstaffel“; als Polizeitruppe der
len Partei und der Heimwehr getraAuslandsspionage Kontrolle über
NSDAP und später Elitegarde des nagen wurde.
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Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
Glossar
Sternfeld, Albert
Trobe, Harold
1925 in Wien geboren, kam er 1938
Direktor des ➤ Joint Distribution
mit einem Kindertransport nach EngCommittee. 1948 untersuchte er die
land, diente als junger Mann bei der
finanzielle und organisatorische Sibritischen und bei der israelischen
tuation der ➤ Israelitischen KultusLuftwaffe, war danach im Versichegemeinde Wien und schlug vor, dass
rungswesen tätig. Sternfeld kehrte
die Regierung der IKG ein Darlehen
1966 nach Österreich zurück. Seitdem
von 25 Mio. Schilling zum Auf- und
setzt er sich für die Entschädigung
Ausbau verschiedener Fürsorgeeinund Rehabilitierung der aus Österrichtungen geben solle.
reich vertriebenen jüdischen Bevölkerung ein. 1992 entwarf Sternfeld im Tschadek, Otto (1904–1969)
Auftrag der ➤ Israelitischen KultusSPÖ-Politiker, 1934 verhaftet, 1949–
gemeinde einen „Lösungsplan“ zum
1952 und 1956–1960 Bundesminister
Thema Entschädigung, der u.a. eine
für Justiz, 1960–1969 stellvertreteneinmalige individuelle Zahlung für
der Landeshauptmann von Niederalle Naziopfer und die Einrichtung
österreich.
eines „Solidaritätsfonds für Vertriebene“ vorsah. Sternfelds Idee des UNRRA
Solidaritätsfonds wurde – in eingeUnited Nations Relief and Rehabilitaschränkter Form – Grundlage für die
tion Administration. Die UN-Behörde
Errichtung des ➤ „Nationalfonds für
für Flüchtlinge und Staatsangehörige
die Opfer des Nationalsozialismus“
der Alliierten in den befreiten Länim Juni 1995.
dern Europas und des Fernen Ostens
wurde am 9. November von 44 StaaStiftung „Polnisch-Deutsche
ten der Vereinten Nationen gegrünAussöhnung“
det. Ihre Aufgabe war Hilfe für wirtDie Stiftung wurde entsprechend eischaftlich notleidende Länder und
ner Vereinbarung zwischen der poldie Betreuung und Rückführung von
nischen und der bundesdeutschen
➤ Displaced Persons nach dem Krieg.
Regierung am 16. Oktober 1991 in
Die UNRRA unterstand dem jeweiliPolen gegründet. Ziel der Stiftung
gen alliierten Militärkommando und
ist es, eine von der Bundesrepublik
war im Wesentlichen verantwortlich
zugestandene einmalige humanitäfür die Verwaltung der Lager, die mere Zahlung von 500 Mio. DM (in drei
dizinische und soziale Versorgung,
Teilzahlungen) an besonders betrofdie Organisation kultureller Aktivitäfene polnische Opfer des Nationalten und beruflicher Weiterbildung.
sozialismus zu verteilen. Darunter
Ihr unterstanden auch andere Wohlfallen ehemalige KZ-, Gefängnis-,
fahrtsorganisationen wie z.B. der ➤
Getto-Häftlinge, Häftlinge der soJoint. 1947 übernahm die ➤ IRO die
genannten Polenlager, ZwangsarBetreuung und Rückführung bzw.
beiterInnen, Waisenkinder, die zur
Emigration der Flüchtlinge. Die Büros
Zwangsarbeit gezwungen wurden,
der UNRRA in den europäischen LänPersonen, die als Kinder verfolgt, in
dern wurden Ende 1948 geschlossen.
KZs oder im Deutschen Reich von
ZwangsarbeiterInnen geboren wur- Vaterländische Front
den. Der überwiegende Teil der
1933 von Engelbert Dollfuß als SamSumme wurde bereits an ca.
melbewegung aller „vaterlandstreu530.000 AntragstellerInnen in Form
en“ ÖsterreicherInnen gegründet.
einmaliger und individueller ZahNach dem Verbot aller anderen polilungen von ca. 500-700 DM ausgetischen Parteien hatte die Vaterländizahlt. Auch in Russland, Weißrussche Front (VF) eine politische Monosland und der Ukraine wurden inpolstellung inne. Sie war in eine Zizwischen Stiftungen für „Verständivil- und eine Wehrfront gegliedert.
gung und Aussöhnung“ eingerichEntgegen den Bestrebungen von
tet, die in ähnlicher Weise arbeiten.
Dollfuß wurde die Vaterländische
Eine notwendige eigene Regelung
Front jedoch keine Massenbewefür die baltischen Länder und
gung und konnte die politischen
Moldawien steht noch aus.
GegnerInnen des ➤ Ständestaates
nicht für sich gewinnen.
Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
Verband der Rückstellungsbetroffenen
Der Verband wurde Ende 1948 gegründet, politisch unterstützt vom
VdU. Der Verband wandte sich vor
allem gegen das 3. Rückstellungsgesetz und verlangte für die Verluste,
die den heutigen BesitzerInnen
durch die Rückstellung entstehen
würden, die Schaffung eines Ausgleichsfonds.
Verband der Unabhängigen (VdU)
1949 in Salzburg gegründet, Sammelbecken für ehemalige Nationalsozialisten, Heimatvertriebene,
Heimkehrer, politisch Unzufriedene.
Erreichte bei den Wahlen 1949 auf
Anhieb knapp 12 % der WählerInnenstimmen. Der VdU ging später in
der 1956 gegründeten FPÖ auf.
Vermögensverkehrsstelle (VVST)
Die VVST wurde am 18. Mai 1938 im
österreichischen Ministerium für Arbeit und Wirtschaft gegründet. Ihr
oblagen die Kontrolle und die Gesamtorganisation der Zwangsenteignungen. Sie war neben der Bestellung von Treuhändern, Kommissaren
und Abwicklern für Unternehmen
für die Koordination der gesamtwirtschaftlichen Planung zuständig.
Sie kontrollierte Kaufverträge, setzte den Kaufpreis für zur ➤ „Arisierung“ bestimmte Unternehmen fest
und verordnete die Liquidierung
von Betrieben. Die VVST kooperierte
mit Referaten des Ministeriums für
Arbeit und Wirtschaft, mit NS-Wirtschaftsstellen
der
gewerblichen
Wirtschaft, mit gewerblichen Fachverbänden und der NSDAP. Nachdem ein Großteil der jüdischen Unternehmen bereits „arisiert“ oder
aufgelöst worden war, wurde die
VVST 1939 zur „Abwicklerstelle“ für
die Auflösung der restlichen Betriebe im Handels- und Gewerbebereich. Als „Referat III Entjudung“ der
Reichsstatthalterei Wien bestand die
VVST bis Kriegsende weiter.
Vernichtungslager
In den sogenannten Vernichtungslagern im besetzten Polen – Auschwitz-Birkenau (das teilweise auch ein
Konzentrationslager war), Chelmno,
Belzec, Sobibor, Treblinka – wurden
ab Ende 1941 alle ankommenden
Häftlinge im Rahmen der „Endlö-
175
Glossar
sung der Judenfrage“ in den Gas- 13. Verordnung zum Reichsbürgerkammern ermordet. In Konzentrati- gesetz
onslagern wurden v.a. die noch arDie 13. Verordnung vom 1. Juli 1943
beitsfähigen Häftlinge nicht sofort in
bestimmte, dass „strafbare Handlundie Gaskammern geschickt, sondern
gen“ von Juden und Jüdinnen von
zunächst zur Arbeit in SS-Betrieben
der Polizei geahndet würden und
und in Industrieunternehmen herandass das gesamte Vermögen von Jugezogen bzw. in andere Lager weiden und Jüdinnen nach ihrem Tod an
ter deportiert.
das Reich verfiel. Die Vermögensklausel legalisierte (nachträglich) den
Verordnung über den Einsatz des
völligen Vermögensentzug der jüdijüdischen Vermögens
schen Bevölkerung, die sich unter
Die Verordnung vom 3. Dezember
Umständen noch im Reich selbst be1938 legalisierte und reglementierte
fand.
im Nachhinein die Praxis der wilden
➤ „Arisierungen“. Sie regelte u.a. die Vierjahresplan
Zwangsveräußerung bzw. ZwangsAm 9. 9. 1936 verkündete Adolf Hitliquidierung von in jüdischem Besitz
ler einen Wirtschaftsplan, der auf die
befindlichen Gewerbe-, land- und
Intensivierung der Wirtschaftsproforstwirtschaftlichen Betrieben, die
duktion für den Krieg abzielte. Die
Einsetzung von Treuhändern, den
deutsche Wirtschaft sollte unabhänVerlust der Verfügungsrechte des Ingig von Rohstofflieferungen des Aushabers und seine Pflicht, die Kosten
landes werden. Mit dem „Anschluss“
für die treuhänderische Verwaltung
im März 1938 galt die Verwirklizu tragen.
chung des Vierjahresplanes auch für
Österreich.
Verordnung zur Ausschaltung der
Juden aus dem deutschen WirtVolcker-Kommission
schaftsleben
Aufgrund eines Memorandums zwiDiese Verordnung wurde am 12. Noschen der Schweizerischen Bankiervember 1938, also zwei Tage nach
vereinigung, der ➤ WJRO und dem
dem ➤ Novemberpogrom vom 9./10.
➤ WJC wurde im Mai 1996 ein „UnNovember, der sogenannten „Reichsabhängiges Personenkomitee“ („Inkristallnacht“ erlassen. Sie erweiterdependent Committee of Eminent
te die bereits erlassenen BerufsverPersons“) unter dem Vorsitz des
bote für Juden und Jüdinnen, wie
amerikanischen Bankexperten Paul
etwa das ➤ Gesetz zur WiederherA. Volcker eingerichtet. Ziel des
stellung des Berufsbeamtentums
Komitees ist die Erfassung der nachvom 7. April 1933, nun durch das
richtenlosen Bankkonten und anVerbot der Führung von Gewerbederer Vermögen von Opfern des
betrieben und Handelsgeschäften,
Nationalsozialismus bei Schweizer
der Ausübung der Funktion eines
Banken. In Zusammenarbeit mit dem
leitenden Angestellten oder BeVolcker-Komitee veröffentlichte die
triebsführers.
Bankiervereinigung die bereits bekannten nachrichtenlosen Bankkon11. Verordnung zum Reichsbürgerten in internationalen Zeitungen
gesetz
und im Internet mit einem Aufruf an
Die 11. Verordnung vom 25. Novemdie möglichen BesitzerInnen bzw.
ber 1941 besagte, dass Juden und
ErbInnen der BesitzerInnen.
Jüdinnen, die sich im Ausland aufhielten, ihre deutsche Staatsan- Volkssolidarität
gehörigkeit verlieren und staatenlos
Ende Mai/Anfang Juni 1945 in Wien
werden sollten und dass ihr gesamvon ÖVP, SPÖ und KPÖ gegründete
tes Vermögen an das Reich fallen
überparteiliche
Fürsorgeinstitution
sollte. Das betraf nach einem zusätzzur Betreuung der politisch verfolglichen Runderlass auch die zukünftig
ten Opfer. Die Mittel wurden v.a.
in die besetzten Gebiete, in Gettos
durch Spenden aufgebracht. Bis Anund Konzentrationslager deportierfang 1946 waren Juden und Jüdinnen
ten Juden und Jüdinnen.
von der Betreuung ausgeschlossen.
Der 17. Juni 1945 wurde zum „Tag
176
der Volkssolidarität“ erklärt, Haussammlungen wurden durchgeführt,
Veranstaltungen und Gedenkfeiern
sollten den Widerstandskampf und
die Leiden der KZ-Opfer würdigen.
Wannsee-Konferenz
Am 20. Jänner 1942 wurde in BerlinWannsee die Durchführung und Koordination der „Endlösung“ besprochen. Die Konferenz unter Teilnahme ➤ Adolf Eichmanns, ➤ Heinrich
Himmlers (Leiter des ➤ Reichssicherheitshauptamtes RSHA) und vieler
anderer prominenter NS-Politiker
markierte einen Wendepunkt in der
nationalsozialistischen Judenpolitik,
den Übergang zu systematischem
Massenmord.
Washingtoner Konferenz über
„Vermögenswerte aus der Ära des
Holocaust“
An der Anfang Dezember 1998 stattgefundenen Konferenz über „Holocaust Era Assets“ nahmen Delegationen aus 44 Ländern teil. Während
bezüglich ➤ Raubgold und entzogenen Versicherungswerten keine Einigung erzielt werden konnte, wurden
zum Thema Raubkunst elf Prinzipien
für die Restitution von Kunstwerken
festgelegt. Weitere Schwerpunkte
waren die Verständigung über die
Grundsätze der „Holocaust-Erziehung“, des Umgangs mit der NS-Vergangenheit und die historische Vermittlung.
Weber, Anton (1878–1950)
Stadtrat für Sozialpolitik und Wohnungswesen der Gemeinde Wien in
der Ersten Republik.
Weißbuch, englisches
White Paper of 1939 (auch bekannt
unter dem Namen MacDonald Weißbuch nach dem britischen Kolonialminister Malcolm MacDonald). Das
Weißbuch enthielt die Richtlinien
der britischen Palästina-Politik und
wurde am 17. Mai 1939 veröffentlicht. Auf Protest der Bevölkerung
Palästinas gegen die zunehmende
Zahl jüdischer Einwanderer seit 1933
wurde deren Zahl für einen Zeitraum
von fünf Jahren auf 15.000 begrenzt.
Die weitere Einwanderung sollte von
der Zustimmung der Araber abhängig gemacht werden. Die Richtlinien
Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
Glossar
sahen auch eine Beschränkung jüdischen Landbesitzes vor.
Wirtschafts-Verwaltungs-Hauptamt
(WVHA SS)
Die Zentralbehörde für wirtschaftliche Tätigkeiten der ➤ SS wurde am
1. Februar 1942 eingerichtet. Dem
WVHA SS wurde auch die Verwaltung der Konzentrationslager übertragen, um eine effiziente Organisation des Zwangsarbeitseinsatzes und
die Kontrolle über die wirtschaftliche
Ausbeutung von KZ-Häftlingen v.a.
in der Rüstungsindustrie zu gewährleisten. Firmen, die KZ-Häftlinge als
ZwangsarbeiterInnen beschäftigen
wollten, mussten beim WVHA SS einen Antrag stellen.
Wohnungsanforderungsgesetz vom
1.9.1945
Entsprechend der ➤ Opferfürsorgegesetzgebung wurde eine Wohnungsvergabe an den Opferstatus
gekoppelt. Die Vergabe erfolgte
über ein Punktesystem. Je nach sozialer, finanzieller Bedürftigkeit und
nach der Anerkennung im OFG wurden Punkte verteilt. Aus politischen
Gründen verfolgte Opfer des Nationalsozialismus erhielten die höchste
Punktezahl.
Wöllersdorf 1933–1938
Austrofaschistisches Anhaltelager in
Niederösterreich, in dem Sozialisten
und Nationalsozialisten inhaftiert
wurden.
Kriegsverbrechern ein. Unter Gold„Reiches“ sollten vermögenden Jumann spielte der WJC eine entscheiden und Jüdinnen Einreisemöglichdende Rolle in der Vorbereitung von
keiten in überseeische Staaten verReparations- und Rückstellungsverschafft werden. 5 bis 10% des enthandlungen mit der Bundesrepublik
eigneten Vermögens wurden in eiDeutschland in den fünfziger Jahren.
nem Auswanderungsfonds gesamIn den neunziger Jahren setzte sich
melt, aus dem die Auswanderung
der WJC in verschiedenen europäimittelloser Juden und Jüdinnen fischen Ländern für die Rückstellung
nanziert werden sollte. Nach dem
entzogenen jüdischen Vermögens
am 31. Juli 1941 verhängten Ausein, inzwischen wurden mehr als 20
wanderungsverbot war die ZentralKommissionen zur Erforschung des
stelle für Deportationen in ➤ VerUmgangs mit jüdischem Vermögen
nichtungslager zuständig. Aus dem
während der NS-Zeit von verschiedebis 1941 eingenommenen Vermönen Regierungen eingesetzt. Dem
gen, das zur weiteren Finanzierung
WJC gehören heute mehr als 100
der Auswanderung mittelloser Juden
Vereinigungen jüdischer Gemeinden
und Jüdinnen vorgesehen war, wurund Organisationen an, darunter
den nun die Kosten für ihren AbWorld Zionist Organization, ➤ Jewish
transport bestritten.
Agency, ➤ American Jewish Joint
Distribution Committee, B’nai B’rith Zwei-Plus-Vier-Vertrag
und Organisationen der ÜberlebenDer am 12. Sep. 1990 in Moskau von
den des Holocaust. Sitz des WJC ist
den Außenministern der BundesNew York.
republik Deutschland, der Deutschen
Demokratischen Republik, FrankWorld Jewish Restitution Organization
reichs, Großbritanniens, der Sowjet(WJRO)
union und der USA unterzeichnete
Die WJRO wurde 1992 als Dachorga„Vertrag über die abschließende
nisation für Fragen der Restitution
Regelung in bezug auf Deutschland“
von während der NS-Zeit entzogeregelt die Wiedervereinigung Deutschnem Vermögen gegründet. Ihr
lands, seine Grenzen, die Größe der
gehören unter anderem der ➤ World
Bundeswehr, den Abzug der sowjetiJewish Congress, B’nai B’rith, die
schen Streitkräfte und die Bündnis➤ Jewish Agency und verschiedene
zugehörigkeit. Das ursprüngliche Ziel,
Vereinigungen von Holocaust-Überdas auch im ➤ Londoner Schuldenlebenden an. Die WJRO engagiert
abkommen von 1953 angekündigt
sich sowohl in ost- als auch in westworden war, nämlich ein Friedenseuropäischen Staaten. Im Mai 1996
vertrag, wurde mit dem Zwei-Plusunterzeichnete die Schweizerische
Vier-Vertrag nicht erreicht. Daher
Bankiervereinigung ein Abkommen
wurde auch die Frage der Reparamit dem WJC und der WJRO über
tionszahlungen und der Entschädidie Einrichtung einer gemeinsamen
gungen für Zwangsarbeit, die für die
Kommission,
der
sogenannten
deutsche Bundesregierung Teil von
➤„Volcker-Kommission“, zur ErfasReparationszahlungen wären, nicht
sung der nachrichtenlosen Bankkonendgültig geregelt.
ten bei schweizerischen Banken.
World Jewish Congress (WJC)
Der WJC wurde – nach mehreren
Vorläuferkonferenzen ab 1919 – als
internationale Dachorganisation jüdischer Gemeinden und Organisationen 1936 in Genf von Rabbi Dr. Stephen Wise (Präsident des WJC von
1936-1949) und ➤ Dr. Nahum Gold- Zentralstelle für jüdische Ausmann (Präsident des WJC von 1949- wanderung
1977) gegründet. Während des NaDie in Wien im August 1938 unter
tionalsozialismus konzentrierte sich
der Leitung ➤ Adolf Eichmanns erder WJC auf die finanzielle und orrichtete „Zentralstelle für jüdische
ganisatorische Unterstützung der jüAuswanderung“ organisierte die sydischen Bevölkerung in Europa. Er
stematische Vertreibung der jüdiorganisierte die Emigration europäischen Bevölkerung. Über die Forciescher Juden und Jüdinnen und Aufrung der Auswanderung sollte
bauprogramme, vertrat die Interesgleichzeitig die Enteignung der aussen der jüdischen Überlebenden bei
wandernden Juden und Jüdinnen
Friedensverhandlungen und setzte
vollzogen werden. Unter totalem
sich für die Verfolgung von NSVermögensverzicht zugunsten des
Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
Das Glossar wurde teilweise unter
Bezugnahme auf folgende Nachschlage- und
Standardwerke erstellt: Wolfgang Benz/
Hermann Graml/Hermann Weiß (Hrsg.):
Enzyklopädie des Nationalsozialismus, DTV,
München 1998, 2. Aufl.; Brockhaus-Enzyklopädie
in 24 Bänden, Mannheim 1990, 19. völlig
neubearb. Aufl.; Israel Gutman/Eberhard
Jäckel/Peter Longerich/Julius H. Schoeps
(Hrsg.): Enzyklopädie des Holocaust.
Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden, Piper Verlag, München 1998,
2. Aufl.; Raul Hilberg: Die Vernichtung der
europäischen Juden, Fischer TB Verlag,
Frankfurt/M. 1990; Österreich-Lexikon in
2 Bänden, hrsg. v. Richard u. Maria Bamberger/
Ernst Bruckmüller/Karl Gutkas/Christian
Brandstätter Verlag, Wien 1995.
177
Zeittafel
Wichtige Gesetze und Entwicklungen im
Bereich der Rückstellung und Entschädigung
Mai 1945
Einrichtung des Bundesministeriums für Vermögenssicherung und
Wirtschaftsplanung
Ab Mai 1945
Einsetzung von Fürsorgekommissionen, die die Fürsorge für
Kriegs- und KZ-HeimkehrerInnen
übernehmen.
8. Mai 1945
Verbotsgesetz: Verbot der NSDAP
und ihrer Wehrverbände. Das Vermögen der NSDAP-Organisation
fällt an Österreich
10. Mai 1945
Gesetz über die Erfassung
➤ arisierter und anderer im Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Machtübernahme
entzogener Vermögenschaften
Mai 1945
Gesetz über die Bestellung von
öffentlichen Verwaltern und
öffentlichen Aufsichtspersonen
26. Juni 1945
Kriegsverbrechergesetz:
Bestrafung von Taten wider die
Menschlichkeit, das Kriegs- und
Völkerrecht bei Einziehung des
gesamten Vermögens im Falle
einer Verurteilung
17. Juli 1945
➤ Gesetz über die Fürsorge für
die Opfer des Kampfes um ein
freies, demokratisches Österreich
(1. Opferfürsorgegesetz), aufgrund dieses Gesetzes Gründung
eigener Betreuungs- und Unterbringungsstellen der MA X/1
(Amt für Wohlfahrtspflege, ab
178
1946: ➤ MA 12) für HeimkehrerInnen aus Konzentrationslagern
1. September 1945
Wohnungsanforderungsgesetz
15. Mai 1946
Bundesgesetz (BG) über die
Nichtigkeit von Rechtsgeschäften
und sonstigen Rechtshandlungen,
die während der deutschen Besetzung Österreichs erfolgt sind
16. Mai 1946
Gemeinderatsbeschluss über die
Neuorganisation der Fürsorgeämter: Jeder Gemeindebezirk
erhält ein eigenes Fürsorgeamt
26. Juli 1946
BG über die ➤ Rückstellung
entzogener Vermögen, die sich
in Verwaltung des Bundes oder
der Bundesländer befinden
(1. Rückstellungsgesetz)
6. Februar 1947
BG über die Rückstellung
entzogener Vermögen, die
sich im Eigentum der Republik
Österreich befinden
(2. Rückstellungsgesetz)
6. Februar 1947
BG über die Nichtigkeit von
Vermögensentziehungen
(3. Rückstellungsgesetz)
21. Mai 1947
BG betreffend die unter nationalsozialistischem Zwang geänderten
oder gelöschten Firmennamen
(4. Rückstellungsgesetz)
20. August 1947
Im Wiener Wohnungsamt
(➤ MA 52) wird ein Wiedergutmachungsreferat eingerichtet
September 1947
2. Opferfürsorgegesetz
22. Juni 1949
BG über die Rückstellung entzogenen Vermögens juristischer
Personen des Wirtschaftslebens,
die ihre Rechtspersönlichkeit
unter nationalsozialistischem
Zwang verloren haben
(5. Rückstellungsgesetz)
30. Juni 1949
BG über die Rückstellung
gewerblicher Schutzrechte
(6. Rückstellungsgesetz)
14. Juli 1949
BG über die Geltendmachung
entzogener oder nicht
erfüllter Ansprüche aus
Dienstverhältnissen in der
Privatwirtschaft (7. Rückstellungsgesetz)
10. September 1952
Luxemburger Abkommen
zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und Israel
Ende Juni 1953
Beginn der Verhandlungen
zwischen dem ➤ Claims
Committee und der österreichischen Bundesregierung über
Entschädigungszahlungen
29. Juni 1956
➤ Bundesentschädigungsgesetz der Bundesrepublik
Deutschland
13. März 1957
Gesetz über die Schaffung von
Auffangorganisationen
(Sammelstellen) gemäß Artikel
26 § 2 des Staatsvertrages
Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
Zeittafel
14. März 1957
Generalamnestie für ehemalige
NationalsozialistInnen
25. Juni 1958
Bundesgesetz über die Gewährung
von Entschädigungen für durch
Kriegseinwirkung oder durch
politische Verfolgung erlittene
Schäden an Hausrat und an zur
Berufsausübung erforderlichen
Gegenständen (Kriegs- und
Verfolgungssachschädengesetz –
KVSG)
26. Juni 1958
Versicherungsentschädigungsgesetz betreffend die Regelung
vom Deutschen Reiche eingezogener Ansprüche aus Lebensversicherungen
22. März 1961
Bundesgesetz, womit Bundesmittel zur Bildung eines Fonds
zur Abgeltung von Vermögensverlusten politisch Verfolgter
zur Verfügung gestellt werden
(Abgeltungsfondsgesetz)
22. März 1961
➤ 12. Novelle zum
Opferfürsorgegesetz
Juni 1961
➤ Kreuznacher Abkommen
zwischen der Republik Österreich und der Bundesrepublik
Deutschland
5. April 1962
Gesetz über die Aufteilung der
Mittel der ➤ „Sammelstellen“
27. Juni 1969
1. Kunst- und Kulturbereinigungsgesetz über die
Bereinigung der Eigentumsverhältnisse des im Gewahrsam
des Bundesdenkmalamtes befindlichen Kunst- und Kulturgutes
13. Dezember 1985
2. Kunst- und Kulturbereinigungsgesetz über die Herausgabe und Verwertung ehemals
herrenlosen Kunst- und Kulturgutes, das sich im Eigentum des
Bundes befindet
1. Juni 1995
Bundesgesetz zur Einrichtung
des ➤ Nationalfonds der Republik
Österreich für die Opfer des
Nationalsozialismus
Ende Oktober 1996
Die Versteigerung der Sammlung
Mauerbach bringt 122 Mio. Schil-
ling Nettoerlös, der in einen
Fonds zur Entschädigung von
sozial bedürftigen NS-Opfern
und deren Hinterbliebenen
fließt
30. November – 2. Dezember 1997
➤ Londoner „Raubgold-Konferenz“ über die Herkunft und
den Verbleib des „Nazi-Raubgoldes“ und den Umfang der
bisher erfolgten Rückstellung
Ende Dezember 1997/
Anfang Jänner 1998
Bei einer Ausstellung der Sammlung Leopold in New York
werden zwei Schiele-Bilder
unter dem Verdacht auf Raubkunst beschlagnahmt
Mitte Jänner 1998
Elisabeth Gehrer, Bundesministerin für Unterricht und kulturelle
Angelegenheiten und zuständig
für fast alle Bundesmuseen sowie
das Denkmalamt, erteilt die
mündliche Weisung, sämtliche
Materialien über die Nazi- und
Nachkriegszeit zu sichten. Beschluß der Bildung einer Kommission für Provenienzforschung
13. März 1998
Erste Sitzung der Kommission für
Provenienzforschung
März 1998
Die österreichische P.S.K. beauftragt ein Historikerteam, den
Vermögensentzug jüdischer
KundInnen im „Postsparkassenamt“ zu untersuchen
August 1998
Der US-Anwalt Ed Fagan kündigt
mögliche Sammelklagen gegen
österreichische Banken an
29. September 1998
Beschluss der Einsetzung einer
Historikerkommission, die den
Vermögensentzug und Vermögensvorenthalt auf dem Gebiet
der Republik Österreich zwischen
1938 und 1945 und die Rückstellungs- und Entschädigungspraxis
der Zweiten Republik untersuchen
soll
30. September 1998
Die „Vereinigung der durch das
Dritte Reich geschädigten Polen“
fordert von Österreich eine Entschädigung für die ehemaligen
polnischen ZwangsarbeiterInnen
in der „Ostmark“
Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
Oktober 1998
Ed Fagan kündigt eine Sammelklage ehemaliger ZwangsarbeiterInnen gegen die VOEST Alpine
Stahl und gegen Steyr-DaimlerPuch an
November 1998
Die VOEST-Alpine Stahl (VA Stahl)
beauftragt ein Forschungsteam
mit der Untersuchung der
Zwangsarbeits-Problematik und
der Unternehmensgeschichte
während der NS-Zeit
30. November – 2. Dezember 1998
➤ Washingtoner Konferenz über
„Vermögenswerte aus der Ära
des Holocaust“ beschließt elf
Prinzipien zur Rückstellung von
Raubkunst
4. Dezember 1998
Bundesgesetz über die Rückgabe
von Kunstgegenständen aus den
österreichischen Bundesmuseen
und Sammlungen
9. Dezember 1998
Einrichtung eines RückgabeBeirats für Kunstgegenstände,
der nichtrückgestellte Objekte an
die rechtmäßigen BesitzerInnen
rückstellen soll
20. Mai 1999
Der Gemeinderat der Stadt Wien
beschließt die Einrichtung einer
eigenen Kommission, die über die
Rückgabe von „arisierten“ und
heute im Besitz der Stadt befindlichen Kunst- und Kulturgegenständen beraten soll
1. Juli 1999
Der Bundesverband der Israelitischen Kultusgemeinden
Österreichs richtet eine Anlaufstelle für jüdische Opfer des
Nationalsozialismus und deren
Angehörige ein. Geplant ist
die Erfassung geraubten und
entzogenen Vermögens in einer
Datenbank
Juli 1999
Versteigerung der aus österreichischen Bundesmuseen
rückgestellten Gegenstände
der Sammlung Rothschild in
London
179
Literatur zum Thema
Alfred Ableitinger/Siegfried Beer/Eduard G.
Staudinger (Hrsg.), Österreich unter alliierter Besatzung 1945–1955, Böhlau Verlag, Wien 1998
Katholiken, Konservative, Legitimisten, 1992,
Band 3: Jüdische Schicksale. Berichte von Verfolgten,
1992
Thomas Albrich, Brichah. Fluchtwege durch
Österreich, Campus Verlag, Frankfurt/M. 1997
Helga Embacher/Margit Reiter, Gratwanderungen.
Die Beziehungen zwischen Österreich und Israel im
Schatten der Vergangenheit, Picus Verlag,
Wien 1998
Gabriele Anderl/Hubertus Czernin,
Das veruntreute Erbe. Der Kunstraub der Zweiten
Republik, Molden Verlag, Wien 1998
Gabriele Anderl/Walter Manoschek,
Gescheiterte Flucht. Der jüdische „Kladovo-Transport”
auf dem Weg nach Palästina 1939–1942,
Döcker Verlag, Wien 1993
Wolfgang Ayass, „Asoziale” im Nationalsozialismus,
Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1995
Avraham Barkai, Das Wirtschaftssystem des
Nationalsozialismus, Fischer TB Verlag,
Frankfurt/M. 1998
Peter Böhmer, Wer konnte, griff zu. „Arisierte”
Güter und NS-Vermögen im Krauland-Ministerium
(1945–1949), Böhlau Verlag, Wien 1999
Hubertus Czernin, Die Auslöschung.
Der Fall Thorsch, Molden Verlag, Wien 1998
Fallstudie der Enteignung des Bankhauses Thorsch
Matthias Dahl, Endstation Spiegelgrund.
Die Tötung behinderter Kinder während des Nationalsozialismus am Beispiel einer Kinderfachabteilung in
Wien 1940 –1945, Edition Erasmus, Wien 1998
Dokumentationsarchiv des österreichischen
Widerstandes (Hrsg.), Erzählte Geschichte.
Berichte von Männern und Frauen in Widerstand und
Verfolgung, Österreichischer Bundesverlag, Wien,
Band 1: Arbeiterbewegung, 1985, Band 2:
180
Helga und Hermann Fischer-Hübner, Die Kehrseite
der „Wiedergutmachung”. Das Leiden von NSVerfolgten in den Entschädigungsverfahren,
Bleicher Verlag, Gerlingen 1990
Hans Frankenthal, Verweigerte Rückkehr.
Erfahrungen nach dem Judenmord, Fischer TB Verlag,
Frankfurt/M. 1999
Erinnerungen eines ehemaligen jüdischen Zwangsarbeiters an Verfolgung und Nachkriegszeit in
Deutschland
Florian Freund, Arbeitslager Zement.
Das Konzentrationslager Ebensee und die
Raketenrüstung, Döcker Verlag, Wien 1991,
2. Aufl.
Florian Freund/Bertrand Perz: Das KZ in der
Serbenhalle. Zur Kriegsindustrie in Wiener Neustadt,
Döcker Verlag, Wien 1988
Grüner Parlamentsklub (Hrsg.), Die wirtschaftlichen
Schäden der jüdischen Bevölkerung während des
Nationalsozialismus, erscheint voraussichtlich im
Herbst 1999
Alois Kaufmann, Spiegelgrund Pavillon 18. Ein Kind
im NS-Erziehungsheim, Döcker Verlag, Wien 1993
Ernst Klee, „Euthanasie” im NS-Staat.
Die Vernichtung „lebensunwerten” Lebens,
Fischer TB Verlag, Frankfurt/M. 1997
Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
Robert Knight (Hrsg.), „Ich bin dafür, die Sache in
die Länge zu ziehen”. Wortprotokolle der
österreichischen Bundesregierung von 1945-1952
über die Entschädigung der Juden, Athenäum Verlag,
Frankfurt/M. 1988, vergriffen; erscheint voraussichtlich im Herbst 1999 als korrigierte Neuauflage
im Böhlau Verlag, Wien
Walter Kohl, Die Pyramiden von Hartheim.
„Euthanasie” in Oberösterreich, Edition der Heimat,
Grünbach 1997
Wolfgang Kos (Hrsg.), Inventur 45/55.
Österreich im ersten Jahrzehnt der Zweiten Republik,
Sonderzahl Verlag, Wien 1996
Jonny Moser, Demographie der jüdischen
Bevölkerung Österreichs 1938–1945, DÖW,
Wien 1999
Christine Oertel, Juden auf der Flucht durch Austria.
Jüdische Displaced Persons in der US-Besatzungszone
Österreichs, Eichbauer Verlag, Wien 1999
Bertrand Perz, Projekt Quarz. Steyr-Daimler-Puch
und das Konzentrationslager Melk, Döcker Verlag,
Wien 1991
Romani Rose (Hrsg.), „Den Rauch hatten wir täglich
vor Augen”. Der nationalsozialistische Völkermord
an den Sinti und Roma, Wunderhorn Verlag,
Heidelberg 1998
Margarethe Ruff, Um ihre Jugend betrogen.
Ukrainische Zwangsarbeiter/innen in Vorarlberg
1942-1945, Vorarlberger Autoren Gesellschaft,
Bregenz 1997, 2. aktual. Aufl.
Margarete Schütte-Lihotzky, Erinnerungen aus
dem Widerstand. Das kämpferische Leben einer
Architektin von 1938–1945, Promedia Verlag,
Wien, Neuauflage 1998
Friedrich Stadler/Peter Weibel (Hrsg.), Vertreibung
der Vernunft. The Cultural Exodus from Austria,
Springer Verlag, Wien/New York 1995,
2. erweiterte Aufl.
Ingrid Strobl, Die Angst kam erst danach.
Jüdische Frauen im Widerstand 1939–1945,
Fischer TB, Frankfurt/M. 1998
Ingrid Strobl, „Sag nie, du gehst den letzten Weg”.
Frauen im bewaffneten Widerstand gegen
Faschismus und deutsche Besatzung,
Fischer TB Verlag, Frankfurt/M. 1995
Szabolcs Szita, Verschleppt, verhungert, vernichtet.
Die Deportation von ungarischen Juden auf das
Gebiet des annektierten Österreich 1944–1945,
Eichbauer Verlag, Wien 1999
Emmerich Tálos/Wolfgang Neugebauer/Ernst
Hanisch (Hrsg.), NS-Herrschaft in Österreich 1938–
1945, Verlag für Gesellschaftskritik,
Wien 1988, vergriffen; eine völlig überarbeitete und
erweiterte Neuauflage erscheint voraussichtlich im
Frühjahr 2000
Wolfgang Wippermann, Wie die Zigeuner.
Antisemitismus und Antiziganismus im Vergleich,
Verlag Elefanten Press, Berlin 1997
Leon Zelman, Ein Leben nach dem Überleben,
aufgezeichnet von Armin Thurnher,
Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1995
Claudia Schoppmann, Verbotene Verhältnisse.
Frauenliebe 1938–1945, Querverlag,
Berlin 1999
Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
181
Internet-Adressen
www.derstandard.at
Im Standard-Archiv findet man unter den Stichworten
„Rückstellung“, „Raubkunst“ u. a. aktuelle Informationen und Artikelserien z.B. zum NS-Kunstraub.
www.nzz.ch/online/02-dossiers
Die Dossiers der Neuen Zürcher Zeitung bieten
eingehende Informationen über die Einsetzung und
Arbeit der Bergier-Kommission, die Schweiz im
Zweiten Weltkrieg etc.
www.historikerkommission.gv.at
Die Homepage der Österreichischen Historikerkommission informiert über das Arbeitsprogramm der
Kommission, über die Mitglieder der Kommission und
den aktuellen Tätigkeitsstand.
www.uek.ch
Auf der Homepage der „Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg“ können
Informationen zum Arbeitsprogramm, den Mitgliedern und die ersten Zwischenberichte abgerufen
werden.
www.wiesenthal.com
Die Homepage des Simon Wiesenthal Centers in
Los Angeles bietet u.a. eine Online-Tour durch das
Museum der Toleranz in L.A. und ein Multimedia
Learning Center mit Zeitungsartikeln, Bibliographien,
Glossar und einer Liste grundsätzlicher Fragen zum
Holocaust (in Englisch). Außerdem steht ein umfangreiches Online-Archiv von Originaldokumenten
aus der NS-Zeit zur Verfügung.
www.ushmm.org
Das Holocaust Memorial Museum bietet eine
Lernseite zum Thema Holocaust mit Begriffserklärungen und gibt Informationen zu den aktuellen Tätigkeiten mehrerer Dutzend Länder, darunter Österreich,
bezüglich der Frage geraubter Vermögen von
Holocaust-Opfern.
182
www.state.gov/www/regions/eur/holocaust/
hcac.html
Dokumentiert den Verlauf der Washingtoner
Konferenz über die „Vermögen der Holocaust-Ära“
mit Länderberichten, Entschließungen u.a.
user.berlin.de/˜berliner.geschichtswerkstatt
Die Homepage eines Projekts über Zwangsarbeit in
Deutschland bietet Literaturhinweise, ein Archiv
von Biographien ehemaliger ZwangsarbeiterInnen,
einen Pressespiegel zum Thema Entschädigung
für Zwangsarbeit und Links zu zahlreichen Gedenkstätten in Deutschland.
www.psk.co.at/report
Auf der Homepage der P.S.K. ist der erste
Zwischenbericht des Projekts zur Erfassung der
Vermögenswerte jüdischer KlientInnen der
österreichischen Postsparkasse abrufbar.
www.hagalil.com
Nachrichten aktuell – Judentum in Mitteleuropa.
Bietet Hinweise auf kulturelle Veranstaltungen,
Links zu aktuellen Zeitungsberichten und
Berichte aus einzelnen Ländern, darunter aus
Österreich.
members.vienna.at/kreisky/naziartloot
Auf der Homepage des Kreisky-Archivs kann
man einen Artikel zum „NS-Kunstraub in Österreich“
und eine Liste von während der NS-Zeit enteigneten
Kunstobjekten abrufen, die bis heute verschollen
sind.
www.gruene.at
Unter dem Stichwort „Kunstraub“ kann man die
parlamentarische Anfrage der Grünen zur Herkunft
von 241 enteigneten Kunstobjekten, die sich
im Besitz der Österreichischen Bundesmuseen
befinden, abrufen, und deren Beantwortung durch
Bundesministerin Gehrer.
Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
Informationen zur Politischen Bildung
Nr. 1
Osteuropa im Wandel (vergriffen)
Nr. 2
Flucht und Migration
Die neue Völkerwanderung (vergriffen)
Nr. 3
Wir und die anderen
Zur Konstruktion von Nation und Identität (vergriffen)
Nr. 4
EG-Europa
Fakten, Hintergründe, Zusammenhänge, 1992
Nr. 5
Mehr Europa?
Zwischen Integration und Renationalisierung, 1993
Nr. 6
Veränderung im Osten
Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, 1993
Nr. 7
Demokratie in der Krise?
Zum politischen System Österreichs, 1994
Nr. 8
ARBEITS-LOS
Veränderungen und Probleme in der Arbeitswelt,1994
Nr. 9
Jugend heute
Politikverständnis, Werthaltungen, Lebensrealitäten, 1995
Nr. 10 Politische Macht und Kontrolle. 1995/96
Nr. 11 Politik und Ökonomie
Wirtschaftspolitische Handlungsspielräume Österreichs, 1996
Nr. 12 Bildung – ein Wert?
Österreich im internationalen Vergleich, 1997
Nr. 13 Institutionen im Wandel 1997
Sonderband Wendepunkte und Kontinuitäten
Zäsuren der demokratischen Entwicklung in der österreichischen Geschichte
Nr. 14 Sozialpolitik im internationalen Vergleich 1998
Nr. 15 EU wird Europa?
Erweiterung – Vertiefung – Verfestigung 1998
Sonderband Justiz – Recht – Staat 1999
Sonderband Wieder gut machen?
Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung und Restitution 1999
Thema des nächsten Heftes
Nr. 16 Politik und neue Medien
Bestelladresse
➤ StudienVerlag
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A-1014 Wien
Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,
Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999
Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999
WIEDER ENTEIGNUNG
GUT ZWANGSARBEIT
MACHEN? DIE VERGESSENEN OPFER
STUDIENVerlag
Innsbruck-Wien
ISBN 3-7065-1404-4
forumpolitischebildung (Hg.) Sonderband der Schriftenreihe Informationen zur Politischen Bildung
forumpolitischebildung (Hg.)
WIEDER GUT MACHEN?
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ÖSTERREICH 1938-1945/1945-1999
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