1 Sommer 1978 in Mill Valley / Kalifornien Notizen aus dem

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1 Sommer 1978 in Mill Valley / Kalifornien Notizen aus dem
Sommer 1978
in Mill Valley / Kalifornien
Notizen aus dem Tagebuch
Die akademische Sommerpause 1978 verbringen wir in Mill Valley, einem Städtchen in der Nähe der
Golden Gate Bridge, die das Marin County mit San Francisco verbindet. Auf einer Anhöhe am Fuße
des Mount Tamalpais mieten wir ein komfortables Haus mit einem Obstgarten und Blick auf das
Städtchen und die Bay von San Francisco.
Der Herbst rückt näher und damit auch unsere Rückkehr in die Schweiz. Aber vorerst gibt es noch
allerhand zu tun.
The Pearl of the Alps
Gottlieb arbeitet hoch konzentriert an der letzten Version seines Buches Social Change, Stress and
Mental Health in the Pearl of the Alps und hämmert mit eiserner Disziplin auf die Schreibmaschine ein.
Der Verlag wartet auf das Manuskript. Es handelt sich um eine öko-anthropologische Studie, die den
rapide einsetzenden sozialen Wandel und dessen Einfluss auf die seelische Gesundheit der Bewohner
von Saas-Fee (Ferien- und Kurort in den Walliser Alpen der Schweiz) beschreibt, wo Gottlieb zwischen
1968 und 1970 als Dorf-Arzt die gesamte einheimische Bevölkerung und die zahlreichen Gäste
versorgte. Damit gewann er tiefe Einsichten in diese Welt, was ihm als Basis für die ökoanthropologische Studie diente.
Ich lasse meine eigene Arbeit liegen, eine Syngenetics Zeichnung auf 5 Laufmetern Büttenpapier,
und lektoriere nach bestem Wissen das englische Manuskript. In einem zweiten Schritt polieren Mrs.
und Mr. Daniels in Philadelphia, Berufskollegen von Gottlieb, das Manuskript und bringen es zu
linguistischer Perfektion. Ich bin begeistert über ihren Beitrag, ein Musterbeispiel eines klaren,
einfachen und eleganten Stils. Einmal mehr staune ich über die großartige Kulturleistung der
menschlichen Spezies, die gesprochene Sprache und Schriftsprache hervorgebracht hat, denen wir
Meisterwerke wie den Sonetten von Shakespeare oder den Roman Ulysses von James Joyce
verdanken, sowie die großartigen literarischen Werke anderer Hochkulturen. Millionen von Individuen
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und Völker haben über Jahrtausende ihren Beitrag geleistet, die menschliche Sprache in zahllosen
Varianten zu entwickeln und zu Hochblüten zu bringen. Teamworks im wahrsten Sinne des Wortes.
Genussvolle Erholung
Am Abend entspannen wir uns gerne im hot tub, einem geräumigen und mit dampfendem Wasser
gefüllten Holzzuber, der im Garten unter einem alten Apfelbaum steht. An seinen knorrigen Ästen
hängen rote Äpfelchen wie kleine Laternen direkt über unseren Köpfen. Vom Pazifik rollen weiße
Nebel her, kriechen über Hügel und Bäume hinweg und verdunsten in den blauen Himmel hinein.
Manchmal hüllen uns diese Nebelschwaden in einen dichten Schleier ein. Quer über den hot tub
legen wir ein Holzbrett und darauf einen Camembert aus Frankreich, geräucherte Austern und zwei
Gläser mit kühlem Cabernet Sauvignon aus dem nahen Napa Valley – alles Delikatessen, die wir
unten im malerischen Hafenstädtchen Sausalito einkaufen. Das Bad im dampfenden hot tub ist
Paradies auf Erden und das wonnige Gefühl, geborgen in einer Gebärmutter zu schweben.
Eines Abends sitzen wir wie gewohnt im dampfenden Wasser und realisieren plötzlich, dass wir uns aus
dem Haus ausgeschlossen haben. Zufälligerweise hängen Gottliebs Jeans an der Wäscheleine
neben uns. Er streift sie schnell über und rennt barfüßig durch die kühle Nacht den Hügel hinunter auf
die Suche nach freundlichen Nachbarn, die helfen oder die Polizei zu Hilfe rufen können. Er klingelt
und klopft an vielen Türen, bis schließlich eine alte Dame im ersten Stock das Fenster öffnet und
verwundert auf diesen spärlich bekleideten Fremden mit langen Haaren und Vollbart blickt, seinen
Ausführungen Glauben schenkt und die Polizei ruft. Gottlieb kehrt unterkühlt von seiner Mission zurück
und steigt schnell zurück in den hot tub, während wir auf die versprochene Hilfe warten. Nach einer
Weile erscheinen zwei junge Polizisten. Sie bleiben in diskretem Abstand stehen, um uns nicht in
Verlegenheit zu bringen, hören sich unsere Erklärungen an und öffnen die Tür mit einem Dietrich.
Dann verabschieden sie sich freundlich und verschwinden in der Nacht – vermutlich nicht ohne sich
köstlich zu amüsieren über diese naiven Fremden, die noch nicht begriffen haben, wie amerikanische
Türschlösser funktionieren. Wir steigen aus den Fluten, unsere Fingerbeeren sind völlig aufgeweicht
und sehen weißgrau gerippt aus wie die Finger der Wäscherinnen in vorindustriellen Zeiten.
Folksongs
Zur Abwechslung besuchen wir einen Workshop in Mill Valley, der in den lokalen Läden auf einem
Zettel angepriesen wurde. Mit einem guten Dutzend Einheimischer lernen wir alte kalifornische
Folksongs zu singen und auf der Gitarre zu begleiten. Unser Lehrer Nelson ist stolzer Vetter der
Sängerin Olivia Newton-John, die zu dieser Zeit als Superstar Triumphe feiert. Wir zupfen an unseren
Gitarren und röhren emotionstriefende Songs wie „It Never Rains In Southern California; it pours, man,
it pours!“ - Es regnet nie im Süden von Kalifornien; es gießt aus allen Kübeln, Mensch, es gießt aus
allen Kübeln! Wir haben einen Mordsspaß an den kreischenden Dissonanzen, die wir im Überschwang
der Gefühle häufig produzieren. Wen kümmert’s, dass unsere Country- & Popsongs wie preußische
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Militärmärsche klingen? Alles in allem sind diese Abendkurse eine höchst vergnügliche Sache und
eine Lektion in unkompliziertem Gemeinschaftsleben.
Ausflüge in Kalifornien
Wir wandern auf dem Mount Tamalpais und genießen den atemberaubenden Rundblick auf den
tiefblauen Pazifik, die Bay Area, die Golden Gate Bridge, die Oakland Bridge und San Francisco. Wir
besuchen den Cathedral Grove im Nationalpark Muir Woods und stehen voller Andacht vor den
Mammut- und Redwoodbäumen, die tausend Jahre alt sind und mehr und hoch über uns in den
Himmel hineinwachsen. Wir fotografieren die rot angestrichene Golden Gate Bridge, ein einmaliges
Kunstwerk, das Funktionalität und Ästhetik vollkommen vereint und heute zu den Weltwundern zählt.
Wir besuchen Robert Mondavis Weingut im Napa Valley und nehmen an einem déjeuner sur l’herbe
mit Jazzkonzert teil, das vom Pianisten Dave Brubeck und seinem Quartett gespielt wird. Brubecks
wunderbare Komposition Take Five (Mach mal fünf Minuten Pause) höre ich noch heute erklingen. In
Altamont besuchen wir ein Rockkonzert mit Bob Marley and the Wailers im Vorspann und den Rolling
Stones im Hauptprogramm. Es riecht nach Marihuana, Joints kreisen, die Stimmung ist fabelhaft,
während die Rolling Stones mit Mick Jagger I can‘t get no satisfaction und street fighting man singen.
Video Crash Kurs
In Corte Madera nehme ich an einem Crash Kurs teil, um die Grundtechniken der Videoproduktion
kennen zu lernen und später im neuen Psychiatriezentrum in der Schweiz das Videostudio für die
Supervision von Therapien aufzubauen. Unsere Gruppe bekommt die Aufgabe, ein Ballett
aufzuzeichnen mit einem Haupttänzer, der aussieht wie Adonis aus der griechischen Mythologie. Die
männlichen Teilnehmer reißen Witze, nicht ohne ein wenig neidisch zu sein, weil wir Frauen ihrer
Meinung nach die Kamera zu häufig und zu lange auf den apfelförmigen Hintern des Adonis richten.
In den Straßen von Corte Madera machen wir Interviews mit Passanten und lernen, während der
Aufnahmen keine Kommentare oder andere störende Geräusche zu machen. Das ist gar nicht so
leicht. Nach zwei Wochen erscheinen Tanz und Interviews im TV der Bay Area, und ich staune nicht
schlecht, wenn in den credits am Schluss der Reportage die Namen aller Kursteilnehmer aufgelistet
sind, inklusive meiner.
Einmal mehr bin ich beeindruckt über die unbürokratische Art und Weise, wie man sich in diesem
Land an die Möglichkeiten und Erfordernisse des Augenblicks anzupassen versteht. Kalifornien
offeriert potentiell kreativen und echt motivierten Menschen wirklich jede Menge Gelegenheiten, ihre
Talente zu entwickeln.
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Wir arbeiten hart und diszipliniert in diesem Sommer, nehmen uns jedoch immer wieder Zeit, um im
freien Geist der 1970er Jahre zu schwelgen, der das soziale Klima Kaliforniens prägt und schier
unendliche Möglichkeiten für kreativen Ausdruck bietet.
Ich würde am liebsten in Kalifornien bleiben
Leider ist dies nicht möglich, da Gottlieb vor unserer Abreise in die USA mit einem im Bau befindlichen
Spital einen verbindlichen Vertrag unterschrieben hat. Gottlieb will den Vertrag einhalten und die
Verantwortung als Chefarzt einer integrierten psychiatrischen Klinik und Poliklinik übernehmen. Er
plante dieses Pilotprojekt anfangs der 70er Jahre und legte es 1975 als ausgereiftes Konzept vor. Im
neuen Allgemeinspital, in dem wie üblich die verschiedenen Spezialgebiete der Medizin
untergebracht sind, hat er die einmalige Chance, ein offenes psychiatrisches Zentrum zu integrieren
und auf systemwissenschaftlicher Basis zu führen. Keine Universitätsklinik hat diesen Sprung gewagt
oder gewollt. Deren Strukturen sind schwerfällig und die etablierten Spezialisten zu rigide, um ein so
radikal neues Konzept umzusetzen. Dieser Sachverhalt hat historische Gründe.
Universitäre Kliniken und Polikliniken sind seit eh und je strukturell und funktionell voneinander
getrennt. Beide Institutionen haben ihre eigenen Chefärzte und Teams, die sich nicht selten
Territorialgefechte liefern – zum Nachteil der Patienten. Diese werden je nach Zustand und
Krankheitsbild von einer Institution in die andere verschoben und treffen dabei während einer
Krankheitsphase auf verschiedene Therapeuten und Pflegeteams. Diese sind in der Regel
psychoanalytisch orientiert oder betreiben Pharmako-Psychiatrie – meistens kombinieren sie beides.
Ihrer Meinung nach ist die Systemtherapie ein Neuling, der auf Distanz gehalten werden muss. Und
mit Sicherheit sind diese Institutionen aus Gründen der Territorialpolitik nicht bereit, Klinik und Poliklinik
als eine strukturelle und funktionelle Einheit zu organisieren.
Die Dinge sind, wie sie sind, und wir bereiten uns auf die Rückkehr in die Schweiz vor.
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