Download-Datum: 22.01.2014

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Download-Datum: 22.01.2014
"Avon *3. Akt* Gezeiten der Liebe"
(Download-Datum: 22.01.2014)
von anonyma0403 erstellt: 13.09.2012 letztes Update: 22.01.2014 Geschichte, Romanze, Familie / P6
Prolog
Seele des Menschen,
Wie gleichst du dem Wasser!
Schicksal des Menschen,
Wie gleichst du dem Wind!
J.W. v. Goethe
Avon ~ Gezeiten der Liebe
Prolog
Das leise Knarren der hölzernen Dielen begleitete ihre Schritte. Ein neuer Tag erwachte,
doch das imposante Sandschlösschen, in den Dünen Avons, lag noch in friedlichem
Schlaf.
Mit einer dampfenden Teetasse in der Hand lenkte Hollis ihre Schritte in Richtung der
großen Terrasse, die an das private Wohnzimmer angrenzte. Mit nackten Füßen tappte
sie über die nachtkühlen Holzplanken und lehnte sich dann gegen die Brüstung.
Träge färbten die ersten Sonnenstrahlen des Tages, den tiefblauen Nachthimmel in ein
warmes Licht. Die blonde Frau hatte dieses Schauspiel schon so viele Male beobachtet
und doch konnte - und wollte - sie sich daran nicht satt sehen.
Es war so wunderschön hier und dennoch hing der Himmel auch an diesem Ort nicht
voller Geigen. Wieder lag eine durchwachte Nacht hinter dem ehemaligen Colonel. Sie
fühlte sich wund. Nicht ihr Körper, aber ihre Seele hatte einige unangenehme
Abschürfungen erlitten. Und wohl auch den einen oder anderen tieferen Riss.
Die Aufregung um die plötzlichen Veränderungen im Leben der Geschwister Gwyn und
Taylor hatte sich gelegt und bot der Trauer um deren Eltern neuen Raum. Wie in siedend
heißen Wellen schien der Schmerz die Kinder zu überrollen und kein tröstendes Wort und
keine Geste brachte ihnen Linderung. Hollis wusste, dass nur die Zeit den Beiden helfen
würde, ihre neue Lebenssituation zu akzeptieren.
Wenigstens hatte das Jugendamt das Sandcastle als vorübergehendes Zuhause für Gwyn
und Taylor abgesegnet. Wenn auch der Begriff vorübergehend über ihnen schwebte wie
ein Damoklesschwert.
Doch trotz dem pulsierenden Leben, der vielen Arbeit und den Menschen, die Hollis Alltag
bereicherten, fühlte sie sich so einsam wie selten zuvor in ihrem Leben. Es fühlte sich an,
als hätte sie einen Teil ihrer Seele verloren.
Die Blonde hatte entschieden, dass ein gemeinsamer Weg mit Jethro ihr nicht gut tun
würde. Sie hatte versucht sich zu schützen, hatte die Erschöpfung, die Sorge und Angst
abschütteln wollen. Doch wie hatte sie annehmen können, dass ihr diese Dinge gelingen
würden, in dem sie eine andere Richtung als Gibbs einschlagen würde?
Immer wieder zog es ihre Gedanken und ihre Gefühle zu dem Grauhaarigen und je mehr
sie sich dagegen wehrte, desto tiefer wurden die Risse in ihrer Seele. Es fühlte sich
beinahe so an, als bräuchte sie seine Nähe um atmen zu können. Auch wenn jede
Begegnung sie schmerzte und ihr seinen Verrat vor Augen führte.
Aber er fehlte ihr so sehr. Nacht für Nacht lag sie wach und versuchte sich die vertrauten
Geräusche ihrer gemeinsamen Zeit vorzustellen. Diese für Gibbs so typischen Seufzer im
Schlaf, sein tiefer, gleichmäßiger Atem. Doch am Ende dröhnte nur das Ticken des
Weckers überlaut in ihren Ohren.
Hollis wusste nicht warum sie es sich und ihm so schwer machte. Vermutlich war sie
einfach nur stur! Es reichte eben nicht aus, dass er hier geblieben war. Seine halbherzigen
Versuche sie telefonisch zu erreichen, sein schmales Lächeln, als sie sich zufällig im Ort
über den Weg gelaufen waren. Sie erwartete mehr als das. Und sie war zu müde, um ein
solches Wagnis erneut einzugehen…
Noch immer sah man ihm die schwere Krankheit deutlich an. Er wirkte älter, verletzlicher.
Und doch hatte sie in seinem flüchtigen Blick etwas von dem alten Kampfgeist entdeckt.
Allein das hatte einigen ihrer wunden Seelenstücke Linderung gebracht.
„Du bist schon auf?“ riss Megs Stimme sie aus den Gedanken.
Hollis nickte nur, ohne den Blick von der aufgehenden Sonne zu nehmen und
schmunzelte leicht, als sie Megs leises Schnauben hörte. „Du brauchst mehr Schlaf, Holly!
Gestern Abend hast du bis nach 11 Uhr im Büro gesessen und hast Schreibkram erledigt.
Du bist die Nächste, die uns hier aus den Latschen kippt! Ach übrigens... Wo wir grad beim
Thema sind: Er kommt heute zum Mittagessen!“
Hollis schloss einen Moment lang die Augen, dann entgegnete sie mit ruhiger Stimme. „Er
ist Jacksons Sohn, Meg. Es ist ganz normal, dass er auch hier her kommt!“
„Ja! Dann könnt ihr vielleicht einen kleinen Spaziergang machen, oder... Ihr...“ plapperte
die Schlossbesitzerin munter drauf los, wurde aber von einem zornfunkelnden Blick ihrer
Nichte unterbrochen.
„Nein! Ihr braucht sowas gar nicht erst versuchen! Außerdem habe ich ohnehin keine
Zeit!“
Die Blonde wandte sich ab und ging in Richtung Terrassentür.
„Du bist zum Mittag nicht hier?“
„Nein, ich muss zum Steuerberater, deshalb habe ich mir auch die Nacht um die Ohren
geschlagen!“
Meg hielt ihre Nichte sanft am Arm fest, als diese an der Älteren vorbei ins Haus
verschwinden wollte. „Nicht so schnell. Du kannst nicht ewig vor ihm davonlaufen, mein
Schatz.“
Hollis rang mit sich, doch sie gab es auf die anderen von ihrem Schmerz überzeugen zu
wollen. Mit hängenden Schultern blieb sie neben ihrer Tante stehen.
„Was soll er tun, damit du dieses Theater beendest? Er ist hier geblieben und das obwohl
er es in DC, in seiner gewohnten Umgebung sicherlich leichter hätte. Jethro arbeitet an
sich und macht alles, was die Ärzte und Therapeuten verlangen. Nur um...“
„Nur um sich am Ende für den NCIS entscheiden zu können, Meg!“ Unterbrach Hollis mit
scharfem Tonfall. „Am Ende bin ich wieder allein, weil ihm das seichte Leben ohne die
ständige Gefahr zu langweilig ist... Oder warum auch immer?!“
Meg schüttelte den Kopf und wandte sich endgültig zum Gehen. „Ja, weil du ihn immer
wieder von Dir stößt, aus Angst ein bisschen was zu riskieren...“
Die ehemalige Agentin schnaubte und drängte sich an Meg vorbei ins Haus. Sie holte ihre
Laufschuhe und verließ das imposante Anwesen über die Vordertreppe.
Kapitel 1
Die frühen Morgenstunden waren an heißen Sommertagen, wie diesem 24. Juni, die
angenehmste Zeit. Langsam und vom Schlaf noch ein wenig steif, stieg Jethro die Stufen
seiner vorrübergehenden Unterkunft hinunter.
Das kleine Haus, in dem Meg und ihr Mann Hal gelebt hatten, bis sie sich den Traum ihres
Sandschlößchens hatten erfüllen können, lag mitten im Ort Avon auf den Outer Banks. Es
stand umringt von imposanten, mehrgeschossigen Holzhäusern, umschlossen von den
Seen und Wasserläufen, die dem kleinen Ort ein ganz besonderes Gesicht verliehen.
So belebt wie in diesen Tagen hatte der Silberfuchs den kleinen Ort allerdings noch nicht
kennen gelernt. Die Sommerferien waren angebrochen und mit ihnen hatten
Heerscharen von Urlaubern das idyllische Städtchen in Beschlag genommen.
Trotz der unendlichen Weite der Sandstrände wirkten diese in der unmittelbaren Nähe zu
den Ortschaften stets überlaufen. Allerdings zog es die meisten Touristen in der Regel an
die, dem Meer zugewandten, Seite des Landstriches, die entgegengesetzt zu Jethros
kleinem Häuschen lag..
Mit einem Becher Kaffee in der Hand und der Zeitung unterm Arm, überquerte der
Silberfuchs, auf eine Gehhilfe gestützt, die Rasenfläche hinter dem Haus. Gut verborgen
hinter einigen dichten Hecken, führte ein kleiner hölzerner Steg hinaus auf einen
verträumt daliegenden See, der über kleine Wasserwege hinaus zu der großen
Lagune Palmico Sound führte.
Jethro konnte nicht leugnen, dass er sich wie ein kleines Kind auf den Tag freute, an dem
er das alte Segelboot von Hal Flenders soweit restauriert hatte, dass er es an dieser Stelle
zu Wasser lassen konnte. Es hatte in etwa die gleichen Ausmaße wie seine Kelly und
dürfte es somit auf den Wasserwegen direkt bis in die Lagune schaffen.
Jeder Gedanke an die Kelly führte den Silberfuchs unwillkürlich zu Hollis und in diesen
Tagen sehnte er nichts mehr herbei, als gemeinsame Stunden mit der schönen Blonden.
Am liebsten bei der gemeinsamen Arbeit an dem alten Segelboot.
Und Gibbs konnte Hollis Hilfe wirklich brauchen, wenn er noch lange in diesem seichten
Tempo weiter arbeiten würde, könnten sie ihn allenfalls auf dem Kahn beerdigen. Der
Silberfuchs versuchte wirklich seine Ungeduld im Zaum zu halten, doch das langsame
Voranschreiten seiner Genesung, trieb ihn gelegentlich in regelrechte Verzweiflung.
Gute acht Wochen waren seit seinem Zusammenbruch und der Diagnose der
Lungenembolie vergangen. Zwar war er rein konditionell auf dem aufsteigenden Ast, so
dass er nicht mehr nach jeder Anstrengung gegen Schwindel und Übelkeit ankämpfen
musste, aber seine Hüfte machte ihm noch immer zu schaffen. Die
Schleimbeutelentzündung war scheinbar nicht nachhaltig in den Griff zu kriegen. Nun
hatte sein kauziger Physiotherapeut Otto zu einer Stoßwellentherapie geraten –
alternativ zu einer weiteren Operation, die Jethro um jeden Preis umgehen wollte.
Dennoch war das Leben seiner bunt zusammengewürfelten Familie allmählich zur Ruhe
gekommen, auch wenn sein Anteil daran im Augenblick unbefriedigend gering war.
Hin und wieder verpasste es ihm einen Stich, dass er weder wirklich zu den SandcastleBewohnern gehörte, noch zu seiner NCIS-Familie. Alle versuchten ihn an den
Geschehnissen und Entscheidungen teilhaben zu lassen, doch im Grunde beschränkte sich
seine Rolle auf die eines stillen Beobachters. Allerdings gab ihm dieser Umstand nur noch
mehr Antrieb an sich zu arbeiten und wenigstens einen dieser Bereiche seines Lebens
wieder ganz für sich zu erobern.
Jethro konnte Hollis verstehen. Er sah ein, dass er sie in den vergangenen sechs Monaten
sehr gefordert hatte und ihre Geduld mit ihm, und ihre Kraft sich immer wieder gegen
seine unsinnigen Macken zu stellen, erschöpft war. Aber er wollte sie zurück!
Mit jeder Faser seines Seins wollte er nichts anderes als wieder zu dieser schönen,
tapferen und mutigen Frau gehören, die ihm das Leben so wundervoll versüßen konnte.
Und er wollte ihr endlich das geben was sie verdient hatte. Er wollte sie auf Händen
tragen und ihr jeden Wunsch von den Augen ablesen.
Das klang gut. Das klang sogar sehr gut und vermutlich hätte Hollis ihn längst wieder
willkommen geheißen, wenn sie nicht wüsste, dass hinter den guten Vorsätzen die
festgefahrenen Ansichten eines Chauvinisten steckten, der zwar einen guten Willen
hatte, aber oft nicht aus seiner Haut heraus konnte.
Gibbs ließ sich in seinen Liegestuhl fallen und schloss für einen Moment die Augen. Er
liebte die Ruhe am Morgen, wenn die Touristen noch schliefen und das Lied der
Wasservögel das einzig dominierende Geräusch war.
Er musste heute noch eine Tasche packen. Mit einem Schmunzeln griff er nach seinem
Handy und vergewisserte sich, ob es auch aufgeladen war. Verwundert schaute er zur
Uhr und zuckte dann erstaunt mit den Schultern. An den meist Tagen hatte Abby ihn um
diese Zeit bereits das erste Mal angerufen.
Morgen früh würde er sich mit Amy auf den Weg nach DC machen, deren Mann Ennis vor
einigen Tagen seine Grundausbildung bei den Marines beendet hatte. Die feierliche
Zeremonie würde in fünf Tagen in Quantico stattfinden. Und obwohl es mitten in der
Saison war, würde Meg das Sandcastle für fünf Tage komplett schließen, damit sie alle bei
den Feierlichkeiten dabei sein konnten.
Seitdem Jethro seinem alten Team von seinem Besuch in DC erzählt hatte, schien seine
kleine Laborfledermaus keine Ruhe zu finden. An den vergangenen drei Tagen hatte Abby
stets in aller Frühe angerufen um sich nach seinem Befinden zu erkundigen, nach seinen
Plänen zu fragen und ihn daran zu erinnern, dass er möglicherweise noch die eine oder
andere Maschine Wäsche anstellen sollte. Sie sorgte sich wie eine Mutter um ihren Sohn,
der vor Kurzen aus dem vertrauten Elternhaus ausgezogen war.
Ein warmes Gefühl machte sich in dem Silberfuchs breit. Erst jetzt wurde ihm bewusst,
wie sehr er sie alle vermisste.
Zwei Tage würde er mit Amy und deren kleiner Tochter Julia allein in DC verbringen. Ennis
sollte in Quantico stationiert werden und seine Frau wollte sich bereits jetzt nach einem
geeigneten Zuhause für ihre kleine Familie umsehen. Die junge Frau haderte noch mit
sich, ob sie wirklich auf dem Stützpunkt leben wollte oder lieber in einem hübschen
Vorort von DC. Auf Gibbs Anmerkung, dass sie mit Ennis geringem Sold keine riesen
Sprünge würden machen können, hatte Amy nur verhalten reagiert und behauptet, dass
sie schließlich auch etwas verdienen könnte.
Meg und Jackson hatten sie bereits ins Gebet genommen und versucht Amy davon zu
überzeugen weiter im Sandcastle zu arbeiten. Natürlich wäre der Weg von Quantico nach
Avon weit, aber sie würde Geld sparen können. Das Leben in DC war nicht eben günstig –
und das in einem netten Vorort der Stadt schon gar nicht.
Doch Amy wollte bei ihrem Mann sein und hatte sich gut informiert. Ihre Argumente und
Pläne waren nicht vollkommen utopisch.
Jethro würde abwarten, was die kommenden Tage so mit sich bringen würden. Doch er
hielt große Stücke auf die junge Mutter. Sie würde ihren Weg gehen, da war der
Silberfuchs sich sicher.
Nachdem Gibbs eine Weile seinen Morgenkaffee und die Zeitung genossen hatte, riss ihn
das Geräusch eines sich nähernden Wagens aus den Gedanken. Amy hatte versprochen
ihm aus Nags Head diverse medizinische Unterlagen mitzubringen, die er in DC brauchen
würde.
Gibbs würde sich während seiner Zeit in DC einigen Untersuchungen unterziehen müssen.
Direktor Vance wollte eine genaue Einschätzung seiner aktuellen und künftigen
Leistungsfähigkeit. Wobei... Im Grunde wollte Leon nur wissen, ob er Jethros Arbeitsplatz
neu besetzen konnte oder nicht. Gibbs wollte und konnte sich aktuell weder dafür noch
dagegen entscheiden. Sollte es für ihn keine Zukunft mit Hollis geben, dann wäre der
NCIS alles was ihm noch bliebe. Selbst wenn er sich mit einem Schreibtisch-Job begnügen
müsste.
Je länger die Stunden des Schlafens zurück lagen umso beweglicher fühlte sich der
Silberfuchs Mit leichterem Gang als noch zuvor, verließ er seinen Platz auf dem Steg und
ging in Richtung der schmalen Straße. Laute, zornige Stimmen schlugen ihm entgegen.
Verwundert kniff der Silberfuchs die Augen zusammen und versuchte zu erkennen, wer
sich da so lautstark in die Haare gekriegt hatte.
Er beschleunigte seine Schritte als er Amy erkannte, die an ihrem Wagen stand und
kopfschüttelnd der lautstarken Schimpftirade eines Mannes folgte. Der Mann trug
Arbeitskleidung einer ortsansässigen Baufirma und schien die Fensterläden des Hauses
auf der anderen Straßenseite zu reparieren.
Gibbs versuchte zu verstehen worum es ging, und als er die ersten Satzfetzen auffing,
vermutete er, dass der fremde Mann Amys Schwiegervater sein musste. Die junge Frau
hatte also nicht übertrieben, wenn sie von Mr. Milano berichtet hatte.
„Sag ihm, dass er sich zum Teufel scheren kann! Seine Mutter hat ihn angefleht nicht zu
den Marines zu gehen, aber du kleine Schlampe hast...“
„Hey!“ Gibbs unterbrach den Mann mit einem strafenden Augenfunkeln und hatte sich
vor Amy gestellt, die blass und sichtlich beschämt an ihrem Wagen lehnte und wie
erstarrt schien. „Amy, hol Julia aus dem Wagen, sie weint!“ brummte Jethro leise aber
bestimmt und überquerte die Straße, ohne den Blick von Ennis Vater zu nehmen.
„Können Sie mir sagen, warum Sie das Mädchen dermaßen anschreien?“
„Das geht Sie einen Scheißdreck an! Was mischen Sie sich da ein, das ist eine
Familienangelegenheit!“
Der Silberfuchs zog die Augenbrauen hoch und schüttelte den Kopf. „Ich zähle Amy zu
meiner Familie und es gefällt mir gar nicht, wenn jemand sie so herablassend behandelt!“
Der Mann schmiss sein Werkzeug achtlos zu Boden und näherte sich Gibbs mit
zornfunkelnder Miene. „Dann sind Sie also der Dreckskerl, der meinem Jungen diesen
Marine-Mist ins Ohr gesetzt hat!“
Jethro atmete tief durch. „Nein, Mr. Milano, auf diesen Marine-Mist ist Ennis von ganz
allein gekommen. Ich habe ihm nur geholfen die richtigen Kontakte herzustellen.“
Mr. Milanos Kiefer malten, der Mann rang sichtlich mit sich. „Sagen Sie der kleinen
McNeill, dass sie und Ennis sich zum Teufel scheren sollen! Es ist mir egal, ob der Bengel
uns bei seiner Vereidigung dabei haben will. Ich habe ihm gesagt, dass ich die längste Zeit
einen Sohn hatte, wenn er sich für die Marines entscheidet. Er hat seine Mutter
unglücklich gemacht. Er war ein kluger Junge und hat alles verdorben. Verfluchter Bengel.
Aber was soll man erwarten wenn sich einer mit den McNeill-Schlampen einlässt! Die
Beiden können sehen wo sie bleiben...“
Gibbs hatte den Zorn des Mannes an sich abprallen lassen und blickte ihn nun schweigend
an. Dann sagte er leise: „Amy ist ein gutes, fleißiges Mädchen, Sir. Die drei sind eine
funktionierende Familie und sie haben es nicht verdient, dass Sie so von ihnen sprechen!
Sie haben doch nur dieses eine Kind. Dieses eine Enkelkind. Sie sind ein Idiot! Lassen Sie
Amy in Ruhe! Das Mädchen hat solche Vorwürfe nicht verdient!“
Gibbs ließ den Mann stehen ohne ihm weitere Beachtung zu schenken und ging hinüber
zu seinem Haus. Die Wut über die Dummheit von Ennis Vater nagte an ihm, doch er hielt
sie unter Verschluss.
Einen momentlang spähte er von der Veranda aus durch die Fliegentür in die kleine
Küche. Julia weinte lautstark und auch Amys Schultern schienen zu beben. Ja, vielleicht
hatte das Mädchen Recht, wenn sie eine gewisse Distanz zwischen sich und die
Großeltern von Julia bringen wollte.
Kapitel 2
Der Schweiß rann Jethro über das Gesicht, während er mit gleichmäßigen Bewegungen
die hölzerne Oberfläche von Hal's Boot abschmirgelte. Obwohl die Arbeit an dem Boot
nach wie vor verflucht anstrengend für den Silberfuchs war, so genoss er sie dennoch.
Endlich fühlte Gibbs sich wieder lebendig. Er konnte immer noch etwas verändern und
wenn es nur das Holz unter seinen Händen war.
Wie die meisten Häuser auf den Outer Banks, stand auch dieses auf Stelzen, sodass unter
dem eigentlichen Wohnbereich ein Freiraum entstand, den die Bewohner als
Lagermöglichkeit oder Werkstadt nutzen konnten. Letzteres hatte unter diesem Haus
seinen Wirkungsort gefunden.
Meg's verstorbener Mann wurde dem Silberfuchs immer sympathischer. Die Werkstatt
war mit allem bestückt, was das Bastlerherz höher schlagen ließ und so hatte Jethro
schnell entschieden, das hübsche Boot aus den Docks im Hafen, hierher bringen zu
lassen. Nun ruhte es, aufgebockt, unter einem robusten Sonnenseegel hinter dem kleinen
Haus, sodass der Grauhaarige sich daran austoben konnte, wann immer es ihm in den
Sinn kam. Es halft ihm dabei angestaute Energien, die sein angeschlagener Körper auf
andere Weise nicht in der Lage war loszuwerden, mit einem guten Gefühl abzubauen –
genau wie den Frust über seine verdammten Schwächen.
Mittlerweile war es später Nachmittag und im Grunde war es viel zu heiß für eine
derartige körperliche Betätigung. Doch Gibbs konnte es nicht lassen – das Boot zog ihn
geradezu magisch an, zudem verspürte er noch immer diese bohrende Wut im Bauch.
Ihm war es schleierhaft, wie man als Vater seinen eigenen Sohn dermaßen niederträchtig
behandeln konnte.
Es hatte eine Weile gedauert, bis Amy sich beruhigt hatte. Bislang hatten Ennis Eltern
jedes Zusammentreffen vermeiden können, umso mehr hatte Nelson Milanos Wut die
junge Frau kalt erwischt. Erst nach dem sie eine Weile schweigend auf dem Steg hinter
dem Haus gesessen und Amy die Füße ins Wasser hatte baumeln lassen, hatte die junge
Mutter zu ihrem sonst so herzlichen, sonnigen Gemüt zurückgefunden.
Der Vormittag war schnell dahin gegangen. Amy hatte einige erste Exposees von
Wohnungen und Häusern in ganz DC mitgebracht. Einen Großteil hatte Gibbs ohne viele
Worte direkt aussortiert, da die Häuser in unsicheren Gegenden lagen, alles andere
würden sie vor Ort entscheiden müssen.
Mit einem verhaltenen Tadel hatte die junge Mutter angemerkt, dass Jethros Blumen
dringend einmal Wasser benötigten.
Aus einer Laune heraus hatte Amy, kurz nach Gibbs Einzug, ihren Grünen Daumen spielen
lassen und allerhand Kübel mit leuchtenden Sommerblumen bestückt. Zuverlässig
kümmerte sie sich darum verblühte Pflanzen zu ersetzen, nur um das Gießen musste
Gibbs sich selber kümmern. Aber auch das überwachte die Brünette mit dem Schneid
eines Generals. Auch wenn Jethro es eigentlich nicht wollte, so konnte er nicht anders als
sich zu fragen, ob Kelly ihr ähneln würde. In seinen Vorstellungen wäre seine Tochter zu
einer fürsorglichen, liebevollen jungen Frau herangewachsen und an einigen Tagen
kostete es den Silberfuchs große Mühe, nicht zu viel von seiner väterlichen Zuneigung auf
Amy zu projizieren. Irgendwann würde sie sich womöglich mit ihren Eltern versöhnen und
nicht mehr an den alten Trottel denken, der ständig vergessen hatte ihre Blumen zu
gießen.
Gibbs wischte sich mit einem staubigen Lappen den Schweiß vom Gesicht, stützte sich
keuchend auf die Reling des Bootes und betrachtete kritisch sein Tagewerk..
Der Mast dieses Schmuckstücks ruhte in einem alten Lagerhaus im Hafen und wartete
darauf, wieder dem Ort seiner Bestimmung zugeführt zu werden. Doch bis das Boot
wieder seetauglich war, würde noch einige Zeit vergehen.
Schwer atmend, fuhr er mit den Fingerspitzen über die bearbeiteten Stellen und gab sich
seinen schönsten Erinnerungen an die Kelly hin. Und in jeder von ihnen spielte seine
wunderschöne Hollis die Hauptrolle. Wie so oft durchlebte der Silberfuchs noch einmal
die Abende, die er gemeinsam mit der CID-Agentin in seinem Keller verbracht hatte. Und
genau wie in den letzten Wochen, wurde er dabei ganz schwermütig.
Sie fehlte ihm so sehr, dass es ihm an einigen Tagen die Luft zum Atmen nahm. Dann
spürte er, wie die Verzweiflung an ihm nagte. Viele Male schon hatte er zu ihr gehen, und
sie schütteln wollen, bis sie endlich wieder zur Besinnung käme. Doch er hatte sein
Versprechen gegeben, sie nicht unter Druck zu setzen und ihre Entscheidungen zu
akzeptieren. Aber nun waren schon Wochen vergangen, seitdem er diese irrsinnigen
Anschuldigungen gegen Hollis ausgesprochen hatte, und dennoch gab es für sie kein
Einlenken.
Jethro wusste nicht, was er noch tun sollte. Er hatte sich, nach einigen durchwachten
Nächten gegen eine Heimkehr nach DC entschieden und war hier geblieben, weil er seine
Liebe retten wollte. Doch Hollis würdigte seine Entscheidung noch nicht einmal mit einer
kleinen Geste. Sie war gekränkt und zog sich von ihm zurück. Da er aber die Hoffnung
nicht aufgegeben hatte, sie würde sich irgendwann dazu durchringen können, ihm doch
noch eine Chance zu gewähren, verbrachte er die Abende im Haus und trainierte seinen
geschwächten Körper - soweit es ihm eben möglich war.
Zwar schauten Jack oder Amy täglich bei ihm vorbei und auch Gwyn vergaß ihn nie, aber
trotzdem fühlte er sich ausgegrenzt.
Sein Leben lang, wenn man einmal von den viel zu wenigen Jahren mit Shannon und Kelly
absah, hatte es ihm nichts ausgemacht allein zu sein. Doch nun, wo er von dem süßen
Leben im Zentrum einer großen, lebendigen Familie hatte kosten können, brachte ihn die
Einsamkeit mancher Tage schier um den Verstand.
Doch Gibbs war ein Kämpfer und so sagte er sich, dass er auch diese Phase seines Lebens
unbeschadet überwinden würde. Irgendwann würde der Tag anbrechen, an dem das
Blatt sich wenden würde. Der Tag, an dem Hollis endlich wieder mit ihm reden würde. Er
glaubte fest daran. Er musste einfach daran glauben.
Das Klingeln seines Handys riss den Silberfuchs aus den Gedanken.
„Gibbs!“ meldete er sich gewohnt brummig.
„Ich bin es, Junge!“ ertönte die Stimme seines Vaters. Konzentriert stieg Jethro über die
Leiter hinunter von dem Boot und betrat die Werkstatt. In einem kleinen Kühlschrank
fand er eine Flasche Wasser. Mit einem leisen Stöhnen ließ er sich zu Boden sinken und
presste sich die kühle Flasche gegen die Stirn, während er schweigend Jacks Redeschwall
lauschte.
„... Hollis meint, dass wir ihr einen Vertrauensvorschuss geben sollten, aber ich weiß
nicht, Junge. Rede doch mal mit dem Mädchen. Auf dich hört sie doch!“
Jethro schloss erschöpft die Augen und genoss den leichten Wind, der durch den kleinen,
dämmrigen Raum pfiff. „Dad, Gwyn ist ein gutes Mädchen. Sie wird sicherlich keine
Dummheiten machen. Ich bin Hollis Meinung.“
Jackson schnaubte empört. „Hast du die Jungen gesehen, die am Fishing Pier
rumhängen? Gepierct, trinken Dosenbier und rauchen Zigaretten und wer weiß was
noch.“
Der Silberfuchs nahm einen großen Schluck aus seiner Wasserflasche. „Ja, Dad, aber frag
mal Holly wo sie sich vor 30 Jahren rum getrieben hat. Damals hatten die Jungs definitiv
Pot dabei, und trotzdem ist aus ihr kein verlotterter Junkie geworden!“
Diesen Satz ließ Jackson jedoch unkommentiert. Jethro konnte Meg im Hintergrund
hören, die scheinbar auf seinen Vater einredete. Unwillkürlich massierte er sich das
schmerzende Bein, während er versuchte etwas zu verstehen.
„Meg will, dass du ihr auf den Zahn fühlst. Gwyn ist auf dem Weg zu dir. Mit dem Rad!“
Der Grauhaarige rollte mit den Augen. „Dad...“
„Ach, Junge, Herrgott! Du musst sie ja nicht fragen, ob sie Pot raucht, aber du kannst
doch wenigstens mal nach dem Bengel fragen, der sie da am helllichten Tag küsst.“
Jethro setzte sich ein wenig auf und runzelte die Stirn. „Was ist denn mit ihrem Freund
aus Halifax?“
Jackson lachte laut auf. „Na, wenn Taylor recht hat, dann ist mit dem schon lange Schluss
gewesen, bevor Nora und Eric...“
Gibbs fuhr sich mit einer Hand über das erhitzte Gesicht. „Schon gut, Dad. Ich werde
versuchen sie zum Reden zu bringen.“
„Gut! Und ach, Leroy...“ begann Jackson zögerlich.
„Ja?“
Der alte Silberfuchs räusperte sich energisch. „Gwyn ist übrigens sauer auf dich, weil du
Amy, aber nicht sie mit nach DC nimmst.“
Jethro schnaubte halb belustigt, halb genervt. „Meine Güte, nicht Amy fährt bei mir mit,
sondern ich bei Amy... Vielleicht ist es dann doch nicht so gut, wenn ich mit ihr rede, oder
Dad?“
„Ach, bei dir beruhigt sie sich ja immer schnell. Du machst das schon, Junge!“
„Na, schönen Dank auch...“, grollte der Grauhaarige mürrisch und beendete das Gespräch
grußlos.
Kraft schöpfend saß der Silberfuchs still da, bis er das leise Quietschen des alten
Damenrades hören konnte, mit dem Gwyn für Gewöhnlich unterwegs war. Er zeigte mit
keinerlei Regung, die vermuten ließ, dass er sie hatte kommen hören.
Er vernahm ihre Schritte, spürte ihren Blick und musste lächeln, als sie zögernd und
unverhohlen besorgt fragte: „Jethro? Bist du ok?“
Er blinzelte und nickte stumm. Ohne die Augen zu öffnen stellte er eine Gegenfrage: „Wie
lange willst du eigentlich noch in den schwarzen, langärmeligen Klamotten rumlaufen?
Und mit dem Schal um den Hals?“
Noch immer versetzte ihm ihr verändertes Äußeres einen Stich. Ihre einstmals so vollen,
caramellfarbenen Haare waren nun deutlich kürzer und pechschwarz. Genau wie ihre
Kleidung stets trist war. Nichts schien mehr von dem störrischen Mädchen übrig zu sein,
das während des letzten Weihnachtsfestes vor lauter rosarot jeden in seinem Umfeld
geblendet hatte. Nun gut, der Dickkopf und das aufbrausende Temperament waren noch
da, doch passte der stets geringschätzige Blick nicht zu ihrem so liebenswürdigen Wesen.
„Ich mag die Klamotten!“ murrte sie leise und ging rastlos durch die Werkstatt.
„Da draußen sind wenigstens 30 ° Grad, Gwyn!“ meinte Jethro ruhig.
Mit einem zornigen Aufschrei riss das Mädchen sich die schwarze Kapuzenjacke vom Leib,
schmiss sie Jethro vor die Füße und pfefferte den dicken grauen Schal hinterher.
„Was ist so toll daran Frankensteins Monster zu sehen?!“ giftete sie mit einem Funken
Hysterie in der Stimme. Ein sportliches, gelbes Tank Top mit der Aufschrift „out of
control“ strahlte ihm entgegen. Und dennoch, um ihr den Gefallen zu tun, ließ er seinen
Blick über die noch immer leicht geröteten Brandnarben an ihrem rechten Oberarm und
der Brust schweifen und wusste, auch ohne sie sehen zu können, dass die Narben an
Rücken, Schultern und Nacken genauso deutlich hervortraten. Er seufzte schwer. „Es tut
mir leid, Kleines. Wenn du dich mit Jacke und Schal wohler fühlst, ist es dein gutes Recht
sie zu tragen.“
Gwyn wandte sich ab und verschränkte die Arme vor der Brust. „Selbst du bist der
Meinung, dass es furchtbar aussieht!“
„Nein!“ sagte Gibbs in ruhigem Tonfall. „Aber ich kann sehen wie unwohl du dich fühlst
und wie schrecklich du die Narben findest.“
Minuten des Schweigens folgten, doch Gwyn verzichtete auf die Jacke und den Schal,
und wanderte weiter umher. Sie verließ die Werkstatt und betrachtete kritisch das Boot,
so als wäre sie von der Schifffahrtaufsichtsbehörde.
Mühsam kämpfte Jethro sich auf die Beine und folgte dem Mädchen humpelnd ins Freie,
wo er schwerfällig die Leiter erklomm, die am Rumpf des Bootes lehnte. „Komm mit!“
Ohne zu zögern, kletterte auch Gwyn auf das Boot und schaute sich interessiert um.
Erstaunt zog sie die Augenbrauen in die Höhe, als Gibbs ihr einen Schleifblock in die
Hände drückte.
Kapitel 3
Avon – 3
Schon seit einer Weile arbeiteten Gibbs und Gwyn schweigend nebeneinanderher. In
kräftigen, gleichmäßigen Strichen schmirgelte das Mädchen den alten Holzlack von den
Planken des Bootes. Sie ging dabei gründlich vor und setzte sofort alle Anweisungen von
dem Grauhaarigen um, was diesen mit beinahe väterlichem Stolz erfüllte. Aus dem alten
Radio klang Musik und hin und wieder die Stimme des Sprechers, ansonsten war es
ungewöhnlich still, an diesem sonnigen Spätnachmittag. Die Touristen schienen mal
wieder die Strände zu überschwemmen. Gut so...
Jethros Arme protestierten schon seit einer ganzen Weile gegen die anstrengende Arbeit,
sein Rücken und seine Hüfte brannten. Er sollte sich dringend eine Pause gönnen. Mit
einem leisen Ächzen legte er den Schleifblock zur Seite und humpelte in Richtung der
Wasserflaschen, die Gwyn auf das Boot geholt hatte.
Schwerfällig ließ er sich auf den Boden des Bootsdecks sinken und lehnte sich gegen die
hölzerne Reling.
„Was sind das für Leute, mit denen du dich am Fishing Pier triffst? Jack vermutet Sodom
und Gomorra. Von Pot über Dosenbier und Piercings vermutet er dort alles. Meg
mutmaßt zudem noch, dass ihr einen satanistischen Orden gründen wollt und bei
Vollmond anfangt den Mond anzuheulen.“
Mit einem sparsamen Schmunzeln schüttelte Gwyn den Kopf. „Keine Ahnung. Sie sind
einfach da und... wir albern einfach ein bisschen rum und... dann vergeht die Zeit
schneller.“
Sie verstummte und schaute auf die glitzernde Wasserfläche des Sees. Wasservögel
zogen ihre Kreise und der Wind entlockte den Schilfgräsern eine leise Melodie.
„Sie haben einfach Sorge, dass du etwas Unüberlegtes tun könntest. Dich in Gefahr
bringst.“ Gibbs schwieg eine Weile um ihr die Möglichkeit zu geben, etwas zu erwidern,
doch Gwyn schwieg weiter. „Ich habe ihnen gesagt, dass sie dir vertrauen sollen. Und
Hollis ist derselben Meinung.“
Das Mädchen nickte und fuhr mit den Fingern der freigelegten Holzmaserung nach.
„Jack meint, dass du enttäuscht wärst, weil dich niemand gefragt hat, ob du mit Amy und
mir nach DC kommen willst.“
Gwyn rollte mit den Augen. „Oh Mann! Jack ist so eine Plaudertasche! Kann er eigentlich
irgendwas für sich behalten?!“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust und tigerte mit
grimmigem Gesichtsausdruck auf und ab.
Jethro lachte amüsiert auf. „Ja, er hat sich nicht groß verändert, seitdem ich in deinem
Alter war. Aber er will nur dein Bestes, Gwyn. Wir alle wollen es für dich und Ty so einfach
wie möglich machen.“ Er musterte sie eingehend und suchte den Blickkontakt zu ihr.
Gibbs spürte, dass sie am liebsten weggesehen hätte, doch das jahrelange Training zahlte
sich aus: Er schaffte es spielend ihren Blick zu fesseln. „Jack würde dich nie verraten,
Gwyn. Er versucht nur alles richtig zu machen. So... so war er schon immer. Nur ist das
nicht immer das, was man sich wünscht…
Roll nicht mit den Augen! Ich weiß wovon ich rede. Aber mittlerweile stehe ich auf der
anderen Seite und kann ihn besser verstehen.“
Endlich gelang es dem Teenager den Blick abzuwenden. Nach einigem Zögern sagte sie
leise: „Ich bin nicht enttäuscht... Es ist nur...
Ich will hier weg, Jethro! Jeder kennt uns in diesem Kaff. Jeder bedauert die beiden
armen Waisen. Die Kinder vom Reverend und der netten Ärztin. Das ist zum kotzen! Ein
paar Tage in dieser riesigen Stadt... Manchmal... Es fühlt sich an, als ob hier nicht genug
Platz ist um richtig durchzuatmen.“
Ein wissendes Lächeln stahl sich auf Gibbs Gesicht und er nickte. „Wir fragen sie, ob du
mit uns kommen kannst. Vermutlich müssen wir das auch mit Mrs. Lewis besprechen.
Aber wir wollen mal sehen, ob das nicht klappt.“
Er entdeckte das kurze Aufblitzen in dem melancholischen Blick der Sechszehnjährigen,
als sie sich zu ihm umwandte. Mit deutlicher Erleichterung ließ Gwyn sich neben Jethro
nieder und griff nach dessen Hand. „Danke...“ murmelte sie leise. „Nicht nur für DC...
auch... auch dafür, dass du glaubst mir vertrauen zu können. Die Jung am Pier rauchen
Zigaretten und trinken heimlich Bier, aber... Ich habe nichts davon angerührt und ich
werde es auch nicht tun. Aber... ihnen ist es egal, ob meine Eltern tot sind. Wir sind
einfach nur zusammen und blödeln rum. Total oberflächlich und ohne Verpflichtungen.“
Jethro zuckte mit den Schultern. Obwohl ihm dieser Umgang für Gwyn keineswegs gefiel,
wusste er, dass sie selbst wieder zurück in ihr Leben finden musste. Und wenn es für
Gwyn dieser Weg sein sollte... „Ich will nur, dass du auf dich Acht gibst und... wenn
irgendwas aus dem Ruder läuft – irgendwas – dann sag es Jack oder mir. Ok?“
Gwyn hatte das Gefühl, dass Gibbs Blick sich bis in ihr Innerstes bohrte. Sie erschauderte
unmerklich und nickte. Erst im zweiten Augenblick wurde ihr die Bedeutung von Gibbs
Worten wirklich bewusst: Er würde für sie da sein, würde auf sie aufpassen. Sie war nicht
allein – auch wenn es sich häufig so anfühlte – sie musste nicht alles allein schaffen.
Schweigend saßen sie nebeneinander und hingen ihren Gedanken nach.
Gibbs kamen Gwyns Gefühle so bekannt vor. Als seine Mum krank geworden und
schließlich gestorben war, da hatte er sich genauso gefühlt. Das Leben in Stillwater war
kaum noch zu ertragen gewesen. Alle hatten Jack bewundert, der sich so liebevoll um die
schwerkranke Frau gekümmert hatte. Doch niemand hatte von den Nächten gewusst, in
denen der treusorgende Ehemann sich seine eigene Zuwendung bei anderen Frauen
gesucht hatte. Niemand hatte gewusst, dass Ann Gibbs ihren Jungen in diesen Nächten
stets besänftigt hatte. Sie hatte kaum mehr sprechen können, zu sehr hatte die Krankheit
ihren Körper aufgezehrt, und dennoch hatte sie es geschafft Verständnis für ihren
untreuen Ehemann aufzubringen und ihrem Sohn den ärgsten Zorn zu nehmen. Doch als
Ann nicht mehr bei ihnen war, da war alles zerbrochen und Jethro hatte nur einen
Ausweg gefunden: Raus aus der Kleinstadt. Weg, nur weg. Endlich wieder atmen können.
Ähnlich musste sich Gwyn fühlen. Doch einfach gehen konnte das Mädchen nicht, sie
würde ihren Bruder nicht allein lassen. Also flüchtete sie sich in die Gesellschaft rauer,
unvernünftiger Jugendlicher.
Jethro hoffte, dass es ihr half, wenn er sie immer wieder spüren lassen würde, dass sie
nicht allein war.
Und er wünschte, dass sie sich Hollis anvertrauen würde. Immerhin hatte die blonde Frau
Ähnliches erlebt. Auch sie hatte mit 18 Jahren als Waise dagestanden und hatte erst
wieder Fuß fassen müssen in einem vollkommen aus den Fugen geratenem Leben.
Hollis... Er fuhr sich mit einer Hand über das staubige, verschwitzte Gesicht und versuchte
mit aller Kraft die Gedanken von seinem Colonel weg zu lenken.
Er versuchte sich auf die Stimme des Radiosprechers zu konzentrieren, der das nächste
Lied ankündigte und die Leute aufforderte den Tag am Meer zu verbringen.
Mit geschlossenen Augen lauschte er den sanften Klängen des Liedes, doch bereits die
ersten Textzeilen katapultierten die schöne Blonde zurück in seine Gedanken.
I could stay awake just to hear you breathing
Watch you smile while you are sleeping
While you're far away and dreaming
I could spend my life in this sweet surrender
I could stay lost in this moment forever
Well, every moment spent with you
Is a moment I treasure
Gott, er hatte sie so gern beim Schlafen beobachtet. Das Licht, in ihrem kleinen Zimmer
unterm Dach des Sandschlösschen, das erste Licht des Tages... bläulich... sanft... und
wenn es heller wurde immer strahlender, goldener und wärmer. Hollis Haar hatte
geglänzt... ihre süßen Lippen leicht geöffnet und...
Gibbs presste die Kiefer aufeinander, versuchte weder zu denken, noch dem Lied zu
lauschen...
I don't wanna close my eyes
I don't wanna fall asleep
'Cause I'd miss you, baby
And I don't want to miss a thing
'Cause even when I dream of you
The sweetest dream would never do
I still miss you, baby
And I don't want to miss a thing
Doch es gelang ihm nicht.
Er erinnerte sich daran, wie Hollis sich in ihrem Kissen rekelte, wie sie sich träge küssten.
Die Sehnsucht schien ihn zu lähmen und ihn von innen heraus zu verglühen.
Neben ihm ertönte ein unwirsches Schnauben. Er öffnete blinzelnd die Augen und wurde
sich bewusst, dass er nicht allein hier war. Gwyn war auf die Beine gesprungen und
hinüber zum Radio gegangen. Mit einem Grollen verpasste sie den Radio einen unsanften
Hieb, es rauschte und knisterte.
„Ein beschissenes Mistlied!“ keifte sie mit belegter Stimme, als trotz ihrer Suche nach
einem neuen Sender, der Lokalsender auch auf den nächsten Frequenzen lief und immer
wieder diese Takte von Aerosmith erklangen. Endlich fand sie einen anderen Sender und
lachte laut auf als das perfekte Lied für ein radikales Kontrastprogramm ertönte. Pfeifend
ging sie mit wiegendem Schritt über das Deck, bevor sie mitsang:
„Always look on the bright side of Life...“
Schmunzelnd kam Gibbs auf die Beine und schüttelte den Kopf. Er griff nach ihren
Schleifblöcken, den Wasserflaschen und wandte sich der Leiter zu. Mit einer
Kopfbewegung deutete er den Mädchen an ihm zu folgen. Sie lachte und legte den Kopf
in den Nacken, als das Lied verklang und schaltete das Radio aus.
„Es hat Dad verrückt gemacht. Immer wenn ich ihn besonders auf die Palme bringen
wollte, habe ich Monty Python's Das Leben des Brain laufen lassen. Das konnte ihn rasend
machen...“
Ihr Lachen war verstummt und Gibbs sah die Tränen die sich in ihren Augen sammelten.
Er zog sie in eine väterliche Umarmung und strich ihr über den Rücken.
„Manchmal, wenn Dad in Gedanken war... dann hat er es vor sich hin gepfiffen und Ty
und ich haben ihn damit aufgezogen und...“ schluchzte sie leise und verbarg ihr Gesicht
an Gibbs Brust.
„Mum und Dad fehlen mir so.“
Sanft löste Gibbs sich von ihr und strich ihr die Tränen von der Wange. „Sie werden dir
dein Leben lang fehlen, Gwyn. Aber du schaffst das, da bin ich mir sicher.“
Kapitel 4
Mit langen kraftvollen Schritten lief die blonde Frau am Flutsaum entlang und genoss den
frischen Wind, der ihr um die Ohren pfiff. Obwohl es auch an diesem Morgen schon
sommerlich warm war, erfrischte die stetige Brise Hollis, während ihres Morgenlaufes.
Es war noch nicht einmal sechs Uhr und der Strand war menschenleer. Die
Reinigungsdienste hatten ihre Arbeit bereits verrichtet und die Hinterlassenschaften der
Touristen beseitigt, so dass es dem Frühaufsteher leicht fiel die ersten Stunden des
aufziehenden Tages zu genießen.
Hollis lief in leichtem Tempo und war nur mäßig außer Atem. Nur in den Momenten nach
dem Aufstehen, bevor der Alltag sie eingeholt hatte, schaffte die Blonde es sich wirklich
zu entspannen und ganz bei sich zu sein. Schon während sie lief, kreisten ihre Gedanken
um ihre momentane Lebenssituation. Immer wieder blieb die Blonde gedanklich an den
Menschen hängen, mit denen sie zusammenlebte.
Noch immer fiel es ihr schwer bei Gwyn den richtigen Ton anzuschlagen. Das Mädchen
zog sich in den meisten Stunden vollkommen in sich zurück. Lediglich mit Jethro und
Jackson schien sie offen zu sprechen und ein wenig aus sich herauszukommen. Selbst
Meg gegenüber verhielt Gwyn sich distanziert. Taylor hingegen hatte sich erstaunlich
schnell mit der neuen Situation angefreundet. Natürlich gab es immer wieder Momente,
in denen er sich seinem Verlust besonders bewusst wurde und in denen auch die Tränen
flossen, doch im Großen und Ganzen hatte der kleine Kerl das Sandschlösschen und
dessen Bewohner im Handumdrehen für sich erobert. Er war ein kleiner naseweiser
Charmeur, der sich, zur Belustigung der anwesenden Damen, einige der charmantesten
Verhaltensweisen von Jackson abgeguckt hatte und es spielend schaffte die Gäste um
den kleinen Finger zu wickeln.
Doch seine große Liebe schien Hollis zu sein. Täglich erwarteten die blonde Frau kleine
Aufmerksamkeiten – kleine Blumensträuße, die Taylor ,sehr zu Amys Leidwesen, aus den
üppig bepflanzten Kübeln auf den Terrassen pflückte, oder kindliche Zeichnungen und
Basteleien. Taylor versuchte inbrünstig sich in das Leben im Sandcastle zu integrieren und
war furchtbar bemüht es allen Recht zu machen.
Ein leiser Ruf riss Hollis aus ihren Gedanken. Sie stoppte und wirbelte herum. Ihr Herz
stolperte unwillkürlich, als sie entdeckte, wer dort nach ihr gerufen hatte. Einige Meter
entfernt stand Jethro in der seichten Brandung des ruhigen Meeres und schaute ihr mit
ernstem Gesicht entgegen.
Die Blonde wich einige Schritte zurück und betrachtete den Grauhaarigen abwartend. Sie
waren einander hin und wieder im Sandcastle oder im Ort über den Weg gelaufen, doch
so... Allein und auf neutralem Boden hatten sie sich seit Wochen nicht
gegenübergestanden.
„Jethro...“ murmelte Hollis und schluckte schwer, während sie ihn forschend musterte.
„Ist... ist das Schwimmen im Meer nicht zu... anstrengend?“ Die Frage hatte ihre Lippen
verlassen, bevor sie überhaupt hatte nachdenken können.
Er humpelte ihr entgegen. Mit einem leichten Schmunzeln schüttelte er den Kopf und
ging an Hollis vorbei, auf einen kleinen, im Sand liegenden, Stapel Kleidung und einem
Handtuch zu.
Gibbs trocknete sich rasch ab und schlüpfte in ein USMC – T-Shirt.
Hollis war ihm mit ihrem Blick gefolgt und fühlte sich eigenartig unbeholfen und linkisch.
Einer von ihnen sollte dringend irgendwas sagen... Etwas Unverfängliches. Nichts was mit
seinem körperlichen Zustand zu tun hatte. Auch nichts über Gwyn... Unverfänglich... Sie
seufzte kaum hörbar. Ihm so unverhofft zu begegnen, hatte nicht nur Hollis Lauf
gestoppt, sondern scheinbar auch ihre Gedanken. Ihr wollte einfach kein passendes
Gesprächsthema einfallen.
Warum hatte er sie nur auf sich aufmerksam gemacht? Warum musste ausgerechnet
heute Morgen das Unausweichliche passieren? Warum, verdammt, war sie nicht in
Richtung Salvo gelaufen, wie sie es sonst getan hatte?
„Hey Hol'!“ sagte er leise und legte sich das Handtuch um den Nacken.
Verstohlen musterte Hollis den Grauhaarigen. Er sah besser aus. Seine Beine wirkten
richtig muskulös und der kurze Blick, den sie auf seinen Oberkörper hatte werfen können,
hatte ihr verraten, dass er scheinbar wirklich auf dem Weg der Besserung war. Seine Haut
war sonnengebräunt und er wirkte entspannt. Gesund...
„Hey...“ entgegnete die Blonde leise. „Ich... ich hab nicht viel Zeit... Die Gäste und...“ Sie
deutete in Richtung Sandcastle, das weit entfernt undeutlich zu erkennen war.
„Es ist noch nicht einmal sechs Uhr und Frühstück serviert ihr um halb 8. Außerdem
übernehmen heute Amy und Gwyn, weil sie sich für die kommenden Tage verdrücken und
Euch mit der Arbeit allein lassen.“ Jethro lächelte sie gewinnend an.
Eindeutig das Erbe seines Vaters. Es war ein ansteckendes Lächeln – unwillkürlich
verzogen sich auch Hollis' Mundwinkel.
„Ach, Jethro... Ich hatte gehofft, diese Situation noch eine ganze Weile hinauszögern zu
können.“
Gibbs Gesichtsausdruck wurde ernst. „So?“
Sie hatte ihn verletzt, das war deutlich zu spüren. Doch sie spürte auch, dass dieses
Aufeinandertreffen nicht an ihr zehrte. Viel mehr war es ein gutes Gefühl wieder in seiner
Nähe zu sein. Auch wenn es sofort wieder ihre Schwäche hervorlockte. Das hatte er
schon immer gekonnt: Er hatte ihr schon immer das Gefühl gegeben, dass sich alles in
ihrem Leben zum Guten wenden würde, wenn sie ihm nur die Führung überließe. Es war
anstrengend dieser verlockenden Neigung nicht nachzugeben. Wie gern würde sie sich in
Jethros Arme sinken lassen, ihren Kopf an seine Brust lehnen und Kraft schöpfen.
Hollis räusperte sich. „Ich weiß nicht... Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Jethro. Möchtest
du jetzt über uns reden, oder...“
Sein Kopfschütteln unterbrach sie. Fragend schaute sie zu ihm auf und erkannte in seinen
Augen eine unglaubliche Sehnsucht. Es schien ihm genauso schwer zu fallen, wie ihr, hier
zu stehen und sie nicht zu berühren. Hollis unterdrückte den Wunsch einfach seine Hand
zu nehmen.
„Zuerst würde es mir schon reichen zu hören, ob es dir gut geht, Hol'. Ob ich irgendwas
tun kann, ob ihr Hilfe braucht im Sandcastle.“
Als sie etwas entgegnen wollte hob er jedoch eine Hand. „Ich weiß... die kommende
Woche bin ich in DC, aber dann... Der große Sommeransturm kommt erst und dass Meg
einige Tage komplett schließen will, macht es nicht leichter. Vielleicht kann ich Einkäufe
erledigen, wenn wir aus DC wieder kommen, oder...“ Nun unterbrach er sich selbst und
schüttelte wieder den Kopf. „Nein... Nein, eigentlich will ich nur wissen, ob es dir gut
geht, Hol'.“
Hollis legte den Kopf schräg, sie hatte einen Kloß im Hals. Was richtete er nur in ihr an?
„Ich bin ok, Jethro. Warum sollte ich es auch nicht sein...?“
Er nickte nachdenklich und schien mit sich zu ringen. „Was... was würdest du von einem...
einem Date halten?“
Hollis lachte überrascht auf. „Ein Date?“
Gibbs zuckte mit den Schultern. „Ja, nur du und ich. In DC.“
Sie nickte zögernd. „An was hast du gedacht?“ Obwohl sie seiner Nähe absichtlich so
lange aus dem Weg gegangen war, fühlte sich sein Vorstoß gut an. Beinahe zärtlich.
Intuitiv sperrte sie sich nicht gegen seinen Vorschlag, sondern ließ sich darauf ein.
„Vielleicht gehen wir zu einem der Sommerkonzerte in DC. Du magst doch Swing so gern,
oder? Oder das Freilichtkino im Jones Point Park. Was immer du willst, Holly.“
Wieder dieses zögerliche Nicken. „Ja, vielleicht wäre ein Date gar keine schlechte Idee.
Wir... Ich werde darüber nachdenken. Ok? Ich muss los!“
Hollis war sich sehr bewusst, dass sie sich mehr als albern benahm und dennoch
erleichterte sie jeder Meter, den sie zwischen sich und Jethro bringen konnte.
Allerdings... hatte er es wirklich verdient, dass sie ihn einfach so am Strand stehen ließ
und nahezu fluchtartig wegrannte?
Hollis seufzte: Dieser Mann schaffte sie.
Sie verließ den Strand und lief in gesteigertem Tempo zwischen den Dünen, auf einem
Weg aus Holzbohlen, entlang. Es war eine nette, verträumte Strecke, die vom offenen
Meer hin zur, dem Festland zugewandten Seite, der Banks führte. Das Landschaftsbild
veränderte sich und auch der Wind nahm ab.
Bevor sie auf Jethro getroffen war, hatte sie eigentlich vorgehabt ihre gewöhnliche
Laufzeit ein wenig zu reduzieren und bald zum Sandcastle zurückzukehren, doch nun
musste sie erst einmal einen klaren Kopf bekommen.
Was war nur los mit ihr? Sie vermisste ihn so sehr, dass es wehtat. Auch wenn das Leben
mit Jethro gelegentlich unbequem war, sie sich maßlos über seine Verbohrtheit ärgern
konnte, so waren die Wochen ohne ihn doch schwieriger gewesen, als jeder Moment, in
dem er sie zur Weißglut getrieben hatte.
Dazu kam noch ihr schlechtes Gewissen, weil sie ihn in dieser schweren Zeit einfach hatte
hängen lassen. Anstatt einem schwerkranken Mann eine bescheuerte Marotte
nachzusehen, hatte sie all ihre Anspannung und Hilflosigkeit ihm zugeschrieben und
Jethro zum Bösewicht Nr. 1 erklärt. Ja, Himmel, ja! Meg hatte Recht – wieder einmal. Sie
war in diesem Kapitel die Uneinsichtige. Wo war ihre Geduld geblieben? Wo ihr Mitgefühl
und ihre grenzenlose Liebe zu diesem Mann?
Hollis horchte in sich hinein. Nein, an Liebe mangelte es ihr nicht. Nur an Mut vielleicht.
Immerhin hatte Jethro ihr gezeigt wie wenig er ihr vertraute, wie groß seine eigene
Unsicherheit war, in dieser Beziehung. Dabei hatte sie ihm bereits alles gegeben. All ihre
Energie und Kraft hatte sie mit ihm geteilt. Ihre Zuversicht hatte nach seiner
Schussverletzung für sie beide reichen müssen. Und dennoch hatte er an ihr gezweifelt.
Erneut überdeckte der nagende Schmerz, den sein Verhalten in ihr ausgelöst hatte, die
Sehnsucht und die Liebe. Jethro hatte sie verletzt und der Riss heilte nun einmal nur sehr
langsam.
Ja, er war da geblieben und arbeitete hart an sich. Das rechnete sie ihm hoch an, aber es
linderte nicht das reißende Brennen, das an ihrer Seele nagte.
Hollis presste die Kiefer aufeinander und erhöhte noch einmal das Tempo.
Sie hätte mehr auf den Weg achten sollen, der durch Strandhafer und niedrigen Büschen
hindurch, in weitem Bogen zur Pension zurückführte. Einige Holzplanken waren marode
und uneben. Doch diese Einsicht kam zu spät: beinahe im selben Moment kam die schöne
Blonde ins Straucheln und verlor das Gleichgewicht.
Kapitel 5
Langsam fuhr die alte Frau mit ihrem klapprigen Damenrad über den hölzernen Weg
zwischen den Dünen. Endlich war sie wieder hier – Zuhause. Das war dieser Ort für sie
schon immer gewesen, ein Zuhause. Hier hatte sie ganz sie selbst sein können, hier hatte
sie lieben können. Hier hatte sie mit ihm zusammen sein können. Ein verträumtes Lächeln
schlich sich in die weichen Gesichtszüge der Frau. Ihr langes, ehemals kräftig braunes
Haar, war durchwoben von grauen beinahe weißen Strähnen. Doch sie störte sich nicht
an ihrem Alter und empfand ihr Spiegelbild nicht als Last.
Bald hatte sie den kleinen Pfad erreicht, der zu ihrem kleinen Häuschen führte, geschickt
lenkte sie ihr Rad von den Holzplanken hinunter und hinüber zu der kleinen Fischerhütte,
deren Veranda bis über das Ufer der großen Lagune ragte.
Sie hatte sich eine Lagune immer kleiner vorgestellt, übersichtlicher, doch tatsächlich war
der Pamlico Sound über 129 Kilometer lang und 48 Kilometer breit. Es war also kein
Wunder, dass Givanni da Verrazano es seiner Zeit für den pazifischen Ozean gehalten
hatte. Nur an besonders klaren Tagen hatten sie den fernen Küstenstrich erahnen
können. Vermutlich war es aber wirklich nur eine Ahnung. Sie schmunzelte bei der
Vorstellung wie sie mit ihrem Liebsten dagesessen hatte, in der untergehenden Sonne mit
dem Wunsch, die Zeit einfach einfrieren zu können.
Als die alte Frau bei ihrem Häuschen ankam, lehnte sie das Rad gegen den alten, leicht
maroden Zaun und nahm ihre Einkaufstasche aus dem Fahrradkorb. Ihre Knie schmerzten
leicht, doch das nahm sie kaum wahr. Ein warmes Gefühl durchströmte, wie immer wenn
sie hier ankam. Sie lachte laut auf. „Törichte alte Frau! Du warst doch nur eine Stunde fort
– zum Einkaufen!“
Unsichere Schritte auf ihrer Veranda ließen sie innehalten. Das Herz schlug der Frau bis
zum Hals. Langsam ließ sie ihre Einkaufstasche zu Boden sinken.
Sollte er tatsächlich noch einmal hergekommen sein? Sie spürte wie ihre Hände anfingen
zu zittern. Sie biss sich auf die Unterlippe.
„Ford?“ rief sie mit bebender Stimme.
„Hallo?“ erklang eine melodische Frauenstimme.
Die alte Dame schien in sich zusammenzusacken, doch nur für einen Sekundenbruchteil,
dann straffte sie ihre Schultern und lächelte der Blonden, die auf ihrer Veranda stand,
fragend entgegen.
„Oh Gott sei Dank!“ Mit einem Aufatmen ließ die Jüngere sich auf die zwei Treppenstufen
sinken. „Ich bin gelaufen und umgeknickt. Ich hab schon befürchtet niemanden hier
vorzufinden. Ich dachte das Haus wäre unbewohnt.“
Eilig ging die alte Frau ihrem unerwarteten Gast entgegen. „Sind Sie verletzt, meine
Liebe? Soll ich einen Krankenwagen rufen?“
Hollis schloss einen Moment die Augen. „Nein, nein, nicht nötig, aber wenn ich kurz
telefonieren könnte, damit mich jemand abholt.“ Sie deutete mit einem Augenrollen auf
ihren nackten Fuß, dessen Knöchel deutlich geschwollen war.
„Ach du meine Güte. Natürlich können Sie telefonieren. Meine Nichte hat darauf
bestanden mir ein Handy zu kaufen.“ Sie wühlte eilig in den Untiefen ihrer Einkaufstasche
und hielt dann triumphieren eines der typischen Senioren-Handys hoch. „Ich kann Sie
aber auch gern fahren.“ Die Frau lachte als sie Hollis Blick zu dem alten Damenrad folgte.
„Ich habe einen Wagen. Er steht nur ein paar Meter entfernt, dort hinten gibt es einen
Weg zwischen den Dünen hindurch. Es sind nicht mehr als hundert Meter. Denken Sie,
dass sie das schaffen werden?“
Hollis nickte erleichtert. „Ja, ganz sicher. Aber ich will Ihnen keine Umstände machen. Sie
haben doch sicher etwas vor, oder?! Ach, Entschuldigung – ich bin Hollis Mann.“
„Janis O'Roake. Janis!“ Anstatt Hollis die Hand zu reichen, gab Janis ihr eine kleine Tüte
Tiefkühlerbsen, die sie aus den Untiefen ihrer Tasche gezogen hatte. „Ich hole uns ein
Glas Eistee, ja?! Sie haben doch noch einen Moment, oder? Ich muss unbedingt erst
einmal zu Atem kommen! Ich war einkaufen.“
Die Blonde lächelte zustimmend und runzelte dann die Stirn. „Es ist noch nicht einmal
halb sieben. Haben Sie einen Lebensmittelmarkt überfallen, Janis?“
Das lebendige Lachen der Frau schallte Hollis entgegen. „Ich war auf dem Markt. Ich
konnte nicht mehr schlafen und weil ich weiß, dass der alte Drew Morris schon vor allen
anderen seinen Marktstand eröffnet... haben Sie gewusst, dass dieser alte Fuchs
neuerdings sein Gemüse auch tiefgefroren verkauft.“ Sie klang deutlich amüsiert. „Ihr
Päckchen Erbsen hat er mir geschenkt. Ein erster Versuch.“
Hollis schüttelte schmunzelnd den Kopf. Was für ein verrückter Morgen.
Ihr Knöchel schmerzte schon nicht mehr so sehr und war vermutlich nur verstaucht. Sie
ärgerte sich über ihre Unachtsamkeit und war nicht abgeneigt einfach Jethro die Schuld
daran zu geben. Aber es war albern – im Grunde konnte er ja nichts dafür, dass sie sich so
leicht ablenken ließ. Und dennoch – hätte er nicht auf sich aufmerksam gemacht...
„Eine Urlauberin sind Sie nicht, Hollis, oder?“
Sie schaute auf und schüttelte den Kopf. „Nein, meiner Tante gehört das Sandcastle. Ich
bin seit einigen Wochen hier um ihr ein wenig unter die Arme zu greifen. Und Sie? Leben
Sie hier? Ich hatte immer den Eindruck, dass ihr Haus leer stünde.“
Janis O'Roake reichte der Blonden ein Glas mit Eistee und setzte sich auf eine Holztruhe,
die an der Holzwand stand. „Ich verbringe seit... 45 Jahren jeden Sommer hier. Die letzten
beiden leider allein...“
Hollis legte den Kopf schräg und lächelte mitfühlend. „Das tut mir leid, Janis.“
Die Ältere zuckte mit den Schultern. „Es hatte irgendwann so kommen müssen.
Allerdings... Ich wüsste gern ob Ford wirklich tot ist.“ Janis lachte laut auf, als sie Hollis
verständnislosen Blick sah.
„Ford und ich waren nicht verheiratet. Er ist - war... meine große Liebe, allerdings war er
mit einer anderen Frau verheiratet und ich mit einem anderen Mann.“
Unwillkürlich wuchs der Drang in Hollis der alten Frau allerhand Fragen zu stellen. Hatte
Janis etwa über Jahre systematisch Ehebruch betrieben? Und wie konnte sie damit leben
nicht zu wissen ob der Mensch den sie liebt tot ist oder krank?
„Und Sie haben seit zwei Jahren nichts von ihren... Geliebten gehört?“ hakte die
ehemalige Agentin nach.
Janis nickte, ein Schatten huschte über ihre sonst so fröhlichen Gesichtszüge. „Sogar seit
drei Jahren... Wir hatten einen wundervollen letzten Sommer hier und dann... Er kam
einfach nicht wieder. Es ist dumm von mir, aber als ich vorhin ihre Schritte gehört habe...
Für einen Moment habe ich gedacht, es wäre Ford...“
„Das tut mir schrecklich leid, Janis.“ wisperte Hollis und versuchte den Kloß in ihrem Hals
hinunterzuschlucken.
„Ich habe ihn wirklich geliebt... und er mich. Ich bin ein echter Glückspilz!“ Janis zwinkerte
der blonden Frau aufmunternd zu. „Wir waren uns immer bewusst, dass am Ende
vermutlich einer allein zurückbleiben würde. Es ist ok – wir hatten viele wunderbare Jahre
zusammen. Wenn die Liebe an einem vorbeihuscht, sollte man zugreifen und sie nicht
mehr gehen lassen. Auch wenn es manchmal kaum zu ertragen ist...“
Die sanften braunen Augen der alten Frau schienen sich bis in Hollis Seele zu bohren.
Sekundenlang hielten sich die Frauen in gegenseitigem Blickkontakt gefangen, bevor
Janis sich erhob und Hollis das leere Glas abnahm. „Ich hole nur meine Schlüssel.“
Die Blonde nickte und zog sich am Geländer der Veranda hoch. Sie folgte Janis humpelnd
ins Haus und hielt den Beutel mit den Erbsen hoch. „Wohin damit?“
Die Ältere nahm ihr lachend den Beutel ab. „Wie es aussieht wird es heute Mittag
Erbseneintopf geben.“
Im Hinausgehen fiel Hollis Blick auf eine Leinwand, die auf einer Staffelei stand. Ihr Herz
stolperte leicht, als sie das Motiv erkannte. Ein Mann, der stolz und freudig an Deck eines
Segelbootes stand. Es war noch nicht ganz fertig gestellt, doch es war bezaubernd. Und
es konnte vermutlich jeder sein, doch in Hollis Augen war der Mann auf dem Boot ihr
Silberfuchs.
„Gefällt es Ihnen, Hollis?“
„Es erinnert mich an... jemanden.“ Sie räusperte sich energisch. „Es ist ein sehr schönes
Bild. Haben Sie es gezeichnet?“
Janis nickte und bedachte das Bild mit liebevollem Lächeln. „Ja. So hat es immer
ausgesehen, wenn Ford mit seiner Glimmer of Hope über den Palmico Sound gesegelt
kam. Das war stets der erste Blick, den ich nach rund zehn Monaten auf ihn hatte werfen
dürfen.“
Hollis lächelte kopfschüttelnd. „Er kam mit dem Boot?“
„Ford hat es sogar selbst gebaut.“
Nun lachte die Blonde laut auf.
Janis schmunzelte. „Finden Sie das so seltsam, Hollis?“
„Nein, nein! Entschuldigung, es ist nur... Ich kenne jemanden, der... Der ihrem Ford sehr
zu ähneln scheint.“
Neugierig betrachtete Janis ihre jüngere Besucherin, doch sie fragte nicht weiter nach.
Scheinbar waren Hollis Erinnerungen an diesen Mann nicht nur von Glück und Freude
erfüllt.
„Kommen Sie, Hollis! Ich bringe Sie nach Hause.“
Sanft griff Janis nach Hollis Arm und half der verletzten Frau die Stufen hinunter.
Es war immer wieder interessant, was das Leben für Begegnungen für einen bereithielt.
Kapitel 6
Mit langsamen Schritten humpelte Gibbs durch den kleinen Garten, der zu seinem
Häuschen in Avon gehörte. Sein Seesack stand am Fuße der Treppe und sein Blick
wanderte immer wieder zu seiner Armbanduhr. Er schmunzelte amüsiert. Wenn man mit
zwei jungen Damen und einem Baby auf Reisen gehen wollte, brauchte man Geduld. Dank
des ausufernden Trainings der letzten Wochen – Monate, hatte er mittlerweile
ausreichend davon.
Jethro freute sich auf die Stadt und jetzt, wo Hollis einem Treffen nicht von vornherein
abgeneigt zu sein schien, noch viel mehr. Es war eine spontane Idee gewesen, sie um ein
Date zu bitten – und bisher hatte er den Vorstoß nicht bereut. Hoffentlich gab sie ihnen
beiden diese Chance. Der Grauhaarige würde einiges dafür geben, einen schönen Abend
mit ihr verbringen zu können.
Doch zuerst einmal freute er sich darauf Abby und auch Tony davon zu überzeugen, dass
er sich auf dem Weg der Besserung befand. Die Erinnerungen an ihren Besuch, vor
einigen Wochen hier auf den Outer Banks, waren mehr als fadenscheinig. Er hatte noch
immer im Krankenhaus gelegen und es kaum geschafft sich aus eigener Kraft vorwärts zu
bewegen. Dazu kam seine schier greifbare Verzweiflung über das scheinbare Ende seiner
Beziehung zu Hollis.
Mittlerweile hatte Jethro eingesehen, dass er zu dem Zeitpunkt vermutlich wirklich mit
einem Bein in einer handfesten Depression gestanden hatte. Noch immer spürte er den
Nachhall dieser unglaublichen Starre, die sich über ihn gelegt hatte. Er hatte kaum den
Antrieb gefunden sich morgens zu waschen und anzuziehen. Wenn die
Krankenschwestern nicht auf ein Mindestmaß Körperhygiene und regelmäßige
Kleiderwechsel bestanden hätten, wäre er an den meisten Tagen einfach im Bett
geblieben, ohne auch nur einen Finger zu rühren. Vor allem, nachdem Gwyn entlassen
worden war und die Ärzte seine Medikamente umgestellt hatten, da hatte ihn der
finstere Schlund der Depression beinahe verschlungen.
Kein Wunder, dass Abby und DiNozzo ihn mit täglichen Kontrollanrufen terrorisierten und
auch Ducky immer wieder, mit aufgesetzt fröhlicher Stimme, seine Geschichten ins
Telefon schwadronierte. Vermutlich malten sie sich tagtäglich aus, wie er in einer
verlodderten Behausung vor sich hin vegetierte und sich von Bourbon und halbgaren
Steaks ernährte.
Gibbs schmunzelte bei dem Gedanken. Die Drei waren einfach zu ungeduldig mit ihm,
doch in der nächsten Zeit würde er sie davon überzeugen können, dass es ihm ehrlich gut
ging und die finsterste Zeit ein für alle Mal vorbei war.
Amy und Gwyn hatten sich gut mit Abby verstanden, als diese während ihres Besuchs im
Sandcastle gewohnt hatte. Jethro nahm sich vor, ein großes Barbecue zu veranstalten –
seine ganze Familie. Er würde vorher den Garten ein wenig in Ordnung bringen müssen,
aber dann konnten sie dem schönen Haus in der East Laurel Street endlich wieder Leben
einhauchen. In Gedanken hörte er schon ihre munteren Stimmen, leise Musik im
Hintergrund und viel heiteres Gelächter. Seine Familie...
Wenn nur Hollis ihn endlich wieder zurück nähme...
Mit einem Seufzen betrachtete Gibbs das Boot, das hinter dem Haus aufgebockt war. Er
hatte es mit schweren Tauen gesichert und immer wieder den Wetterbericht studiert. Es
sollte angenehm bleiben, doch ein Tornado konnte sich schnell zusammenbrauen – vor
allem in den Sommermonaten. Und dennoch hatte er sich dafür entschieden das Boot
hier zu behalten und es nicht in eines der Bootshäuser im Ort bringen zu lassen.
Hoffentlich war es die richtige Entscheidung.
Mit einer beinahe sanften Bewegung strich er über den Rumpf des Bootes und
schlenderte zurück in Richtung der Straße. Überrascht zog er die Augenbrauen hoch, als
er dort nicht auf seine Mädchen traf, sondern auf einen ihm unbekannten Mann, der mit
einem kleinen, quirligen Hund, undefinierbarer Rasse, über den Rasen auf ihn zu kam.
„Guten Morgen!“ grüßte der Fremde, woraufhin Gibbs ihn musterte und nur knapp
nickte.
„Kann ich Ihnen helfen?“ brummte der Silberfuchs.
Der Hund wedelte leise winselnd mit seinem Schwanz und ließ sich dann, um
Aufmerksamkeit heischend, auf den Rücken fallen.
„Ich habe gesehen, dass Sie das alte Boot in Ordnung bringen?!“
Gibbs brummte einen unartikulierten zustimmenden Laut.
„Machen sie das nur… zum Spaß, oder ist das eine Auftragsarbeit? Hätten Sie Interesse
an einem weiteren Boot?“
Der Grauhaarige zog fragend die Augenbrauen in die Höhe.
„Mein Vater teilte diese Leidenschaft mit Ihnen – er hat ständig an seinem Segelboot
herum gewerkelt. Nun liegt es in Engelhard im Hafen und wird vermutlich vollkommen
verwahrlosen. Ich habe zwei linke Hände... Vielleicht hätten Sie Interesse daran, es wieder
in Ordnung zu bringen?! Natürlich nicht ganz umsonst…“ erklärte sich der Mann und
reichte Jethro eine abgegriffene Visitenkarte. „Hier, das ist die Visitenkarte meiner Frau...
Meine Nummer steht auf der Rückseite. Vielleicht wollen Sie es sich ja mal ansehen. Also
dann, nichts für ungut... Schönen Tag noch!!“
Mit einem knappen Gruß ließ Gibbs die Karte in seine Hosentasche gleiten und
beobachtete schmunzelnd wie der ungestüme kleine Hund davon stob.
Nachdenklich blieb der Silberfuchs neben seinem Gepäck stehen. Das Restaurieren von
alten Booten wäre eine nette Beschäftigung, sofern er wirklich für eine längere Zeit hier
auf den Banks bleiben sollte. Irgendetwas musste er schließlich tun.
Jethro beschloss eine Weile darüber nachzudenken und herauszufinden, ob sich ein
solches Unterfangen auch finanziell tragen würde, oder ob er sich nur ein kostspieliges
Hobby anlachen würde.
Endlich fuhr Amys leicht betagter Van die Straße hinunter und hielt in Gibbs' Einfahrt. Mit
forschendem Blick stiegt Amy aus dem Wagen und musterte ihn mit hochgezogenen
Augenbrauen.
Jethro lächelte fragend und gab der jungen Frau einen Kuss auf die Wange, bevor er auch
Gwyn begrüßte, die ihn ebenso forschend musterte.
„Ok... Habe ich etwas verbrochen?“ hakte er nach, während er sein Gepäck und seine,
leider immer noch hin und wieder notwendigen, Gehhilfen in den Kofferraum hievte.
„Du hast Hollis getroffen?!“ warf Amy in den Raum.
Gibbs ging um den Wagen herum und öffnete die Tür zur Rücksitzbank. Julia schlief mit
einem seligen Lächeln auf den Lippen in ihrer Babyschale. Die Züge des Grauhaarigen
erhellten sich und er konnte nicht widerstehen – er beugte sich zu der schlafenden
Prinzessin und hauchte ihr einen zarten Kuss auf die Stirn. Dieses Baby war einfach
zauberhaft.
„Ja, ich bin geschwommen, sie ist gelaufen. Wir haben eine Pause eingelegt und ein paar
Worte miteinander gewechselt. Muss ich sowas jetzt bei Euch anmelden?“ lachte der
ehemalige Agent und machte es sich hinten im Wagen gemütlich. Er würde nicht weiter
auf diese Ausfragetaktik eingehen. Was genau sich zwischen ihm und Hollis entwickelte,
ging vorerst niemanden etwas an. „Kannst du noch mal bei Eddie anhalten, Amy?! Wir
brauchen noch Kaffee... Die Fahrt ist lang.“
Gwyn rollte mit den Augen und deutete auf drei Thermoskannen, die Meg fürsorglich in
den Wagen gelegt hatte – wie das Mädchen zu berichten wusste.
Jethro lachte ausgelassen. „Wenn mein Dad sie nicht schon an der Angel hätte... Meg
wäre wirklich eine zum heiraten!“ Er zwinkerte den beiden jungen Frauen zu, doch er
erntete nur einen tadelnden Blick von Amy.
„Willst du gar nicht wissen, warum wir beinahe eine Stunde nach der verabredeten Zeit
bei dir angekommen sind?“ fragte die Brünette in schnippischem Tonfall.
Gibbs zog die Augenbrauen hoch und suchte Amys Blick im Rückspiegel. Langsam rollten
sie los und die Dunkelhaarige richtete ihre Aufmerksamkeit nun auf die Straße, während
sie weiter sprach. „Hollis wurde von einer älteren Frau heimgebracht. Sie ist umgeknickt...
Sie war vollkommen durch den Wind und sauer und... Jedenfalls hat sie geschimpft wie
ein Rohrspatz und meist zielte es gegen dich. Also?! Was hast du wieder angestellt??“
Der Grauhaarige schüttelte irritiert den Kopf. „Ich habe... Ist es schlimm? Hat sie sich was
gebrochen? War sie beim Arzt?“ Jethro fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. Die
Vorstellung einer verletzten Hollis schnitt ihm ins Herz. Sie hatten sich doch so friedlich
getrennt. „Sollten wir unsere Abreise verschieben?“
Amy seufzte leise. „Es scheint nur verstaucht zu sein. Dr. Langdon hat versprochen später
noch nach ihr zu sehen. Sie kühlt ihren Fuß und verflucht dich. Es wird nicht weiter
schlimm sein. Aber womit hast du sie so sehr aus der Bahn geworfen?“
Noch einmal ging Gibbs jeden Moment ihres überraschenden Aufeinandertreffens durch,
doch er konnte sich nicht erklären, warum sie nun wieder einen Groll gegen ihn hegte. Er
schüttelte den Kopf und schluckte schwer. „Ich weiß es nicht... Ich habe sie nur um... um
ein Date gebeten... Sie gefragt, ob sie in DC mit mir ins Konzert gehen würde.“
Gwyn schlug die Hände zusammen und lächelte verzückt und auch Amys Blick wurde
weich. War es also wahr, es funkte langsam wieder.
„Hühner...“ grollte der Silberfuchs Augen rollend und schaute dann mit aufeinander
gepressten Lippen aus dem Fenster. Warum gab diese Frau ihm nur ständig die Schuld an
allem? Zur Hölle!! Ja, er hatte seine Fehler, aber er arbeitete doch an sich. Und wenn sie
nicht aufpasste und sich verletzte, dann lag das doch nicht an ihm! Verdammt…
Mit einem unzufriedenen Murren griff er, mit beinahe trotzigem Gesichtsausdruck, zu
einer der Thermoskannen und einem Becher. Das kräftige Aroma des starken
Heißgetränks schien ihn zu besänftigen. Er würde später im Sandcastle anrufen, vielleicht
würde er ja Glück haben und Hollis selbst sprechen können.
Kapitel 7
Es war ein belebendes Gefühl gewesen wieder in DC anzukommen. Gibbs hatte die
zurückliegenden Tage genossen – das Werkeln an Haus und Garten, die Gespräche über
den Gartenzaun hinweg mit den alten Nachbarn, den ersten Kaffee in „seinem“ Diner –
die bekannten Gesichter... Und nicht zuletzt das Wiedersehen mit seinem Team. Abby
waren die Tränen über die Wangen gelaufen, als er mit einem XXL Becher Caf-Pow! in
ihrem Labor aufgetaucht war. Tony hatte ohne viele Worte bewiesen, wie hervorragend
er auf Gibbs Platz zurechtgekommen war und auch Tim und Ziva schienen wohlauf.
Es war schön wieder Zuhause zu sein, wenn auch ohne die gewohnte Arbeit beim NCIS.
Ein Wehrmutstropfen, das musste Jethro zugeben.
Und es war schön seinen Mädchen die Stadt zeigen zu können. Amy, Julia und Gwyn
waren noch nie zuvor in der Hauptstadt gewesen und genossen die ganz privaten
Stadtführungen von Gibbs.
Genau wie die Stadt, hatten die drei Mädchen sein Haus erobert und dem sonst so stillen
Heim Leben eingehaucht. Oft fühlte sich Gibbs dieser Tage an alte Zeiten erinnert.
Er lächelte liebevoll, während er gedanklich die letzten vier Tage Revue passieren ließ. Ein
weiterer Höhepunkt der vergangenen Tage war sein Telefonat mit Hollis. Während er
nach ihrer Ankunft nur mit seinem Vater hatte sprechen können, war der Rückruf der
Blonden dann umso überraschender und schöner für ihn gewesen. Der erste Schritt den
Hol‘ von sich aus auf ihn zugegangen war.
Ihre Verletzung war nicht sehr schlimm – überdehnte Bänder, gestauchtes Gelenk. Mit ein
wenig Ruhe wäre das schnell vergessen, versicherte Hollis ihm. Und sie hatte endlich
seine Einladung angenommen – heute Abend würde es soweit sein. Im Jones Point Park
in Alexandria sollte am Abend ein Openair Blues-Festival stattfinden, dort würden sie
gemeinsam hingehen.
Jethro würde noch einkaufen gehen und sie mit einem Picknick überraschen. Er hatte
bereits eine Flasche Weißwein von Hollis Lieblingsmarke kalt gestellt. Den Rest würde er
später besorgen.
Er würde sie verwöhnen, ihr beweisen, dass es sich für sie lohnen würde, sich ein weiteres
Mal auf ihn einzulassen.
Die Stimme einer Krankenschwester riss den Silberfuchs aus seinen Gedanken. „Mr.
Gibbs? Ich habe grad einen Anruf aus der Radiologie bekommen. Sie hätten nun Zeit für
ihr MRT, soll ich Sie begleiten, oder finden Sie den Weg?“
„Ich denke ich war oft genug Gast bei denen... Ich komme zurecht. Danke!“ erwiderte der
Grauhaarige, während er sich von dem unbequemen Plastikstuhl hochstemmte.
Direktor Vance hatte auf eine genaue ärztliche Einschätzung von Jethros körperlichem
Zustand bestanden und hoffte auf eine detaillierte Prognose. Noch immer wurde Gibbs
als Supervisory Senior Agent beim NCIS geführt und entlohnt. Nun würde die Bürokratie
ihren Weg gehen müssen.
Bereits seit einer ganzen Weile wurde Gibbs von einer Untersuchung zur nächsten
geschickt. Lungenfunktionstests, Ultraschall und Belastungs-EKG lagen bereits hinter ihm,
nun folgten noch die Untersuchungen seiner Hüfte. Obwohl es für alle ziemlich
offensichtlich sein musste, dass er sehr weit entfernt davon war, wieder als Field Agent
arbeiten zu können.
Der Kardiologe hatte ihm die Wahl zwischen dem Ergometer und dem Laufband gelassen,
was bei Gibbs nur amüsiertes Gelächter ausgelöst hatte. Er hatte also die Wahl zwischen
Pest und Cholera gehabt. Er hatte sich für das Laufband und schnelles Gehen
entschieden, eine Bewegung die seiner neuen Hüfte wenigstens bekannt war. Und
dennoch war er binnen kürzester Zeit an seine Grenzen gestoßen. Allerdings schien sein
Herz vollkommen in Ordnung, was laut dem Weißkittel keine Selbstverständlichkeit war,
wenn man bedachte, dass der ehemalige Ermittler in weniger als sechs Monaten zwei
kardiogene Schocks erlitten hatte.
Auch seine Lungenfunktion war scheinbar im grünen Bereich, wenn man die
Ausgangssituation bedachte und den Umstand, dass sein linker Lungenflügel 25% seines
Volumens eingebüßt hatte.
Und dennoch hatten sowohl der Kardiologe als auch der Pneumologe ihn noch einmal
eindringlich darauf hingewiesen, dass eine Tätigkeit als Field Agent nahezu unerreichbar
für den Silberfuchs geworden war. Noch immer versetzte ihm diese Tatsache einen Stich.
Er würde sich wohl nur schwer daran gewöhnen können ein Dasein auf dem Abstellgleis
fristen zu müssen. Auch die scheinbar gottgeschickte Alternative zu seinem bisherigen
Berufsleben, die vor seiner Abreise von den Outer Banks plötzlich in Form eines weiteren
baufälligen Bootes aufgetaucht war, änderte nichts daran.
Er hatte die Radiologie beinahe erreicht, als eilige Schritte ihn einholten. Automatisch trat
der Grauhaarige zur Seite und erst das atemlose „Gott sei Dank. Gibbs!“ ließ ihn
aufschauen.
Vor ihm stand McGee mit hochrotem Kopf und schwer atmend.
„Tim?!“ Gibbs zog fragend die Augenbrauen hoch. „Ist etwas passiert?“
Der junge Agent stützte die Hände auf die Knie und deutete mit dem Kopf in die Richtung
aus der er gekommen war. „Wir brauchen Dich, Boss!“
Jethro runzelte die Stirn. „Wurde jemand verletzt? Tim! Um Himmelswillen, was ist los!“
„Ein kleines... Mädchen...“ keuchte der Jüngere und richtete sich auf. Energisch griff er
nach Gibbs Arm und dirigierte den Silberfuchs mit sich.
Der Grauhaarige keuchte, als seine Hüfte protestierte. „Verdammt, McGee! Langsam!
Was ist los?!“
Drängend blickte der Agent seinen Mentor an und ging ein Stück voraus, wobei er sich
immer wieder nach dem Grauhaarigen umschaute. „Cilla Hartnett... Die Enkelin von einem
JAG Anwalt - Simon Hartnett... Er sagt, dass er dich kennt und nun will er, dass du den
Entführer zum Reden bringst. Der Vater der Kleinen ist in Afghanistan stationiert. Der
Großvater und die Mutter...“
Gibbs schüttelte den Kopf. „Meine Güte, McGee! Fahr mal einen Gang zurück! Was ist mit
dem Mädchen?“
Tim schien nicht viel darauf zu geben, dass sein Boss gerade nicht im Dienst war. Wenn es
die Umstände verlangten, dehnte auch DiNozzo die Regeln – so hatte es den Anschein.
Während sie weiter durch die endlosen Gänge eilten berichtete der Agent dem
Grauhaarigen von ihrem aktuellen Fall. Am Abend des vergangenen Tages war die
Tochter eines Marines, nach einer Sportveranstaltung, vom Pausenhof ihrer Schule
entführt worden.
Zeugen hatten einen Mann beobachtet, der das Mädchen mit in seinem Wagen
genommen hatte und hatten die Schulleitung informiert. Wie sich herausgestellt hatte,
handelte es sich bei dem Mann um den Psychologen der Mutter. Ein aalglatter Typ in
weißem maßgeschneidertem Anzug. Das Team um DiNozzo hatte den Verdächtigen am
Morgen des heutigen Tages ausfindig machen können und mit ins Hauptquartier
genommen. Der Mann behauptete steif und fest mit der Entführung der kleinen Cilla
nichts zu tun zu haben – und das obwohl zwei Zeuginnen ihn zweifelsfrei erkannt hatten.
Der Großvater des Mädchens hatte nach Gibbs gefragt, den er laut eigenen Angaben aus
„Corps-Zeiten“ kannte, und dessen Ruf als Verhörspezialist weit bekannt gewesen war...
Ohne Vance Zustimmung hatte DiNozzo seinen Kollegen angewiesen nach dem
Silberfuchs zu suchen und ihn zum Navy Yard zu bringen.
Vollkommen außer Atem lehnte Gibbs sich gegen den dunklen Dodge, mit dem Tim den
Weg zum Bethesda zurückgelegt hatte.
„Simon Hartnett? Der Schwager meines CO hieß so… JAG Anwalt, ja?“ hakte Jethro nach
und schöpfte allmählich wieder Atem. Kurz blitzte das Bild von Shannon auf – verletzt
und hochschwanger, wie sie ihm weinend Vorwürfe machte. Ihre Stimme hallte in seinem
Kopf wieder. „Du… warst nicht da. Immer musst du gehen, obwohl… du hättest erst die
Tür fertigbauen müssen… ich konnte das Haus nicht abschließen… Er war in unserem
Haus und du warst nicht da!“ Der Silberfuchs kniff die Augen zusammen und schüttelte
leicht den Kopf. Die Erinnerung verblasste wieder.
Tim nickte „Ja, ein vor Kurzem pensionierter Admiral“, und schloss den Wagen auf. Dann
hielt er inne und musterte seinen ehemaligen Vorgesetzten skeptisch. „Denkst du, dass
du… naja, dass du so ein Verhör… hinkriegst?!“
Im ersten Moment hatte Gibbs dem Jüngeren einen vernichtenden Blick zuwerfen
wollen, weil dieser anscheinend dachte, er hätte sein Handwerk verlernt, doch dann hielt
er sich zurück und seufzte. „Wir werden es wohl auf einen Versuch ankommen lassen
müssen…“ Der Grauhaarige runzelte die Stirn und schaute an sich herab. „Allerdings
kann ich wohl schlecht in Jogginghose und Turnschuhen in den Verhörraum, oder?“
McGee schmunzelte leicht. „Du hast noch ein Poloshirt und eine Hose in deinem alten
Spint…“
Gibbs nickte und stieß einen unartikulierten Laut aus. „Na, dann wollen wir mal sehen ob
wir den Psycho-Doc nicht weich geklopft kriegen…“
Kapitel 8
Gemeinsam mit McGee stand Gibbs im Aufzug und musterte kritisch sein Äußeres in der
verspiegelten Wand des Aufzuges. Die Hose war deutlich zu weit, aber fürs Erste war es
besser als die Sportbekleidung, die er für den Untersuchungsmarathon in der Klinik
angezogen hatte. Bevor er noch darüber nachdenken konnte, was sein Verschwinden aus
dem Bethesda für Konsequenzen mit sich bringen würde, reichte McGee ihm sein iPhone.
Der Grauhaarige ließ seinen Blick darüber gleiten und rollte dann mit den Augen,
woraufhin der Jüngere sofort anfing zu berichten.
Schließlich unterbrach Jethro ihn:„Das Mädchen ist Diabetikerin, McGee? Das heißt, selbst
wenn der Mistkerl ihr nichts angetan hat oder... Selbst wenn sie jetzt noch am Leben ist,
haben wir nicht unbegrenzt Zeit?“
Tim nickte und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. „Cilla trägt eine Patch-Pumpe - ein
Gerät, das in regelmäßigem Rhythmus den Körper mit Insulin versorgt. Allerdings muss
der heute gewechselt werden – das Medikament ist nur ausreichend für drei Tage.“
Gibbs grollte missmutig und forderte Tim dann mit einem Kopfnicken auf fortzufahren.
„Ziva ist mit zwei Agents in der Wohnung des Verdächtigen und stellt alles auf den Kopf.
Zu dieser Entführung passt noch das Verschwinden drei weiterer Mädchen. Fornell war an
den Fällen dran und schickt uns die Unterlagen rüber. Sollte es Übereinstimmungen
geben kommt er mit seinem Team dazu.“ Die Aufzugtüren öffneten sich und entließen
die beiden Männer in die Büroetage des NCIS-Hauptquartiers. „Abby hat den Wagen, mit
dem das Mädchen verschleppt wurden sein soll, und sucht nach Spuren, die die Aussagen
der Frauen bestätigen“, fuhr McGee im Weitergehen fort.
Gibbs sah sich aufmerksam um. Alles wirkte vertraut und so erschreckend normal. Er
spürte regelrecht wie der Ermittler in ihm erwachte. Er begann gedanklich die einzelnen
Puzzleteile zu verschieben und sich den genauen Tathergang vorzustellen.
„Kannte das Mädchen den Mann? Hat sie sich gewehrt? Was haben die Zeugen
ausgesagt?“
Sie erreichten den Arbeitsbereich des Teams und wie selbstverständliche lehnte Gibbs
sich gegen seinen alten Schreibtisch, während sein Blick sich ungeduldig auf McGee
heftete und diesen zu erdolchen schien. Tim fuhr hastig fort und begann seinem PC die
Befehle einzutippen, die alle Informationen auf die großzügigen Flachbildschirme
übertrug.
„Das ist das Protokoll der Zeugenaussagen, Boss.“
Gibbs griff nach dem Dokument in McGees Hand und hielt es auf Armeslänge von sich.
„McGee…“ grollte er mürrisch.
„Der Mann schien ihr bekannt. Gewehrt hat sie sich laut den Aussagen nicht.“
Jethro atmete tief durch. Das altbekannte Gefühl eines Adrenalin gefluteten Körpers
machte sich breit. Die Schmerzen in seiner Hüfte und die Müdigkeit, die noch vor weniger
als einer Stunde seine Gedanken hatten träge werden lassen, waren verschwunden.
Schritte näherten sich, woraufhin der Silberfuchs aufschaute und sich einem
hochgewachsenen, aristokratisch wirkendem Mann und einer verängstigt drein
blickenden jungen Frau gegenüber fand.
„Rear Admiral Hartnett?“ hakte Jethro nach und erkannte den Anwalt des JAG-Corps im
selben Moment.
„Gunny...“ erwiderte der Mann und griff nach Gibbs Hand. „Gunny, mein kleines
Mädchen...“ Hartnett kniff die Augen zusammen und funkelte den Grauhaarigen dann
finster und entschlossen an. „Sie haben immer auf die Chance gewartet ihre Schuld zu
begleichen, Gibbs! Heute haben Sie die Gelegenheit. Bringen Sie dieses Dreckschwein
zum Reden!“
Jethro zog die Augenbrauen hoch und presste die Kiefer aufeinander. „Haben meine
Agents Ihnen gesagt, dass ich seit einem halben Jahr keinen Dienst mehr verrichtet habe,
Sir?“
„Aber Sie werden doch wohl nicht vergessen haben, wie man ein Verhör durchführt,
oder?!“ Die junge Frau legte dem pensionierte JAG-Anwalt eine Hand auf den Arm,
woraufhin der Ältere schier in sich zusammen zu sinken schien.
„Mein Schwiegervater wollte Ihnen danken, Agent Gibbs. Es ist nur so... Wir haben so
furchtbare Angst...“ ihre Stimme brach für den Moment, doch dann sammelte sie sich
und ergriff erneut das Wort, während Tränen in ihren Augen schimmerten. „Was will Dr.
Evans von Cilla? Warum tut er uns das an?“ Beinahe flehend starrte sie Gibbs an, wohl
wissend, dass es auf diese Frage noch keine Antwort gab.
„Ich weiß es nicht, Ma'am. Aber ich werde versuchen was ich kann, um meine Leute bei
der Suche nach ihrer Tochter zu unterstützen!“
Sein Blick fiel auf Tony, der ein wenig abseits stand und sich bislang im Hintergrund
gehalten hatte. „Entschuldigen Sie uns...“ murmelte Gibbs und nickte Tony zu, während
McGee einen der unerfahreneren Agents zu sich rief und diesen bat die Angehörigen des
Mädchens in einen ungenutzten Konferenzraum zu begleiten.
„Hey!“ sagte der Silberfuchs leise und musterte den Teamleiter prüfend. „Ist es ok für
dich, dass ich hier bin?“
Tony lächelte und Jethro erkannte die Spur Erleichterung in seinem Blick. „Ja, Boss.
Verdammt... Ich... ich komme an dem Mistkerl nicht weiter.“ Er raufte sich die Haare und
lehnte sich, wie zuvor schon Gibbs, gegen seinen Schreibtisch. Er gestand sich nicht gern
ein, dass er mit seinem Latein am Ende war, aber auch ein spezieller Special Agent musste
den Punkt kennen, an dem er sich Hilfe holte. „Der Mann behauptet steif und fest, dass
Cilla ihre Mum nach dem Baseball Spiel ihrer Schule verloren hat. Angeblich hat die Kleine
ihn erkannt und gebeten gemeinsam mit ihr ihre Mum zu suchen. Schließlich hätten sie
Mrs. Hartnett gefunden und diese hätte dann gemeinsam mit dem Kind das Schulgelände
verlassen. Angeblich war das Mädchen nie in seinem Wagen gewesen...“
„Weiß der Mann von den Aussagen der Zeugen?“ hakte Gibbs nach.
„Ja, ich habe ihn damit konfrontiert, doch er hat behauptet die Frauen würden lügen. In
den letzten Wochen war vor der Schule immer wieder ein Mann beobachtet wurden... Er
meint, dass es eine ganz normale Reaktion der Frauen wäre, zu Übertreibungen zu
neigen, sich Szenarien einzubilden, die ihre Ängste und Befürchtungen untermauern
würden. Zudem behauptet er, dass Mrs Hartnett sehr labil wäre und in den Zeiten, in
denen ihr Mann im Ausland stationiert ist, zu Angstzuständen neigt und zu damit
verbundenen Übersprungshandlungen. Seiner Meinung nach sollten wir uns nicht auf ihn,
sondern auf die Mutter der Kleinen konzentrieren.“
Der Silberfuchs musterte den Jüngeren erneut. „Und was denkst du, Tony? Hat er das
Mädchen?“
DiNozzo biss sich auf die Unterlippe und stierte Sekundenlang einen Punkt auf dem
Fußboden an, dann nickte er. „Ja, Boss! Ich denke, dass Evans die kleine Cilla hat.“
„Warum bist du dir so sicher? Weil es der einfachste Weg ist?“ bohrte Gibbs weiter.
Der Brünette schüttelte den Kopf. „Weil mein Instinkt es mir sagt!“
Der Grauhaarige nickte knapp. „Gut! Wo ist der Doktor?“
„Im Verhörraum!“
Gibbs ging leicht humpelnd in Richtung der Aufzüge. „Bring ihn in einen der
Konferenzräume!“
„Warum?“
Jethro wandte sich um und zuckte mit den Schultern. „Weil sonst binnen kürzester Zeit
ein Anwalt auf der Matte steht und ihm darüber informiert, dass er gehen kann, weil wir
nichts gegen ihn in der Hand haben. Abby soll Beweise liefern, die es rechtfertigen,
solange tue ich das, was er von dir verlangt hat. Ich werde mit ihm über seine Patientin
reden! Ihn auf unsere Seite ziehen!“
DiNozzo nickte und grinste schief. „Genau das hätte ich auch als nächstes gemacht, Boss.
Sehr gut! Du hast nichts verlernt!“ Unzufrieden mit sich selbst verpasste DiNozzo sich
eine deftige Kopfnuss. „Danke, Boss, Danke!“
Gibbs schmunzelte leicht und schüttelte den Kopf.
Während der Grauhaarige Kaffee in zwei Tassen füllte, eine Dose Zuckerwürfel und ein
Fläschchen mit Milch dazustellte, öffnete sich die Tür des Konferenzraumes.
„Ah, Dr. Evans.“ der Silberfuchs ging dem Mann entgegen und musterte ihn. Sofort
schrillten sämtliche Alarmglocken in seinem Inneren. „Es tut mir leid, dass wir Sie noch
nicht gehen lassen. Allerdings... Uns läuft die Zeit davon und... Der große Dienstweg ist
langatmig, vielleicht wären Sie bereit mir einige Auskünfte zu Mrs. Hartnetts geistigem
Zustand zu geben?“
Irritiert ließ der Mediziner seinen Blick durch den Raum schweifen, dann zuckte er mit den
Schultern und nickte mit selbstfälligem Gesichtsausdruck. „Haben Sie denn mittlerweile
Beweise dafür, dass Alice etwas mit Cillas Verschwinden zu tun hat?“
Gibbs deutete dem untersetzten Mann mit einem Kopfnicken an dem großen Tisch Platz
zu nehmen. „Kaffee?“
Der Psychologe nickte.
„Beweise wäre zu viel behauptet, aber es gibt den einen oder anderen Hinweis, dass die
Lösung in der Familie zu finden ist. Sie als Mrs. Hartnett behandelnder Psychologe haben
da natürlich einen besseren Überblick. Hielten Sie es denn für möglich, dass die Frau ihrer
Tochter etwas angetan haben könnte?“
Für den Bruchteil einer Sekunde zuckten die Mundwinkel des Mannes, ein zufriedener
Ausdruck erreichte seinen Blick.
Kapitel 9
Wie es schien fühlte sich Dr. Evans in der Rolle des Beraters viel zu wohl, als es für einen
Unschuldigen normal war. Ganz selbstverständlich, als hätte er noch nie etwas von der
ärztlichen Schweigepflicht gehört, stellte er den seelischen Zustand von Mrs Hartnett dar
und referierte über die verschiedenen Ausdrucksformen psychischer Krankheitsbilder.
Das Gespräch steuerte unweigerlich auf die Kindheit der Frau zu, in der laut des
Mediziners der Ursprung allen Übels zu finden war.
Der Mann in dem hellen maßgeschneiderten Anzug lachte überheblich. „Ja, Agent Gibbs,
es klingt wie ein Klischee, doch am Ende sind es häufig erlebte Traumata und Martyrien
aus Kindertagen, die den erwachsenen Geist, wenn auch nicht zerstören, aber doch
nachhaltig kränken und beeinflussen.“ Evans griff nach seiner Kaffeetasse, lehnte sich mit
gelassener Miene in seinem Stuhl zurück und schwenkte die heiße Flüssigkeit, während er
fortfuhr. „Alice hatte es als kleines Mädchen nicht leicht. Nach außen hin schien die
Familie intakt und,“ er zeichnete mit den Finger einer Hand Häkchen in die Luft, „normal.
Doch ein Blick hinter die Kulissen ließ diese Illusionen einstürzen.“
Jethro wog den Kopf hin und her. Er hoffte, dass irgendjemand, gern auch Evans selbst,
ihm irgendeinen Aufhänger liefern konnte. Irgendetwas womit er den Psychologen aus
der Reserve locken konnte. „Viele Leute hatten Probleme mit ihren Eltern. Das liefert
aber noch lange kein Motiv für ein Verbrechen am eigenen Kind. Wie würden Sie diese
Einschätzung rechtfertigen?“ Gibbs unterbrach den Mann jedoch, als dieser erneut das
Wort ergreifen wollte. „Ich meine… Bei allem Respekt, Doktor. Alice Hartnett macht auf
mich nicht den Eindruck, als wäre sie eine tickende Zeitbombe. Sicher, das mag naiv sein,
aber… nennen wir es Bauchgefühl. Natürlich zeigt mir die Erfahrung, dass es notwendig
ist in alle Richtungen zu ermitteln, aber… Mir scheint es nicht schlüssig.“
Wieder folgte eine Litanei der einzelnen Krankheitsbilder und Gibbs Geduld schrumpfte
allmählich zu einem winzigen, hochexplosiven Häufchen zusammen. Doch er wahrte das
Gesicht, wie schon so oft. Nach einer gefühlten Ewigkeit, die allerdings lediglich 30
Minuten darstellte, öffnete McGee die Tür und bat den Älteren zu einem kurzen Gespräch
unter vier Augen.
„Gott, McGee! Sag mir, dass ihr irgendwas habt. Ich brauche mehr als wage
Vermutungen!“ knurrte Jethro, dem die Anspannung, nun außer Sichtweite des
Verdächtigen, deutlich ins Gesicht geschrieben stand.
Der junge Agent hielt mit erleichtertem Grinsen eine Beweismitteltüte in die Höhe. „Diese
Kette trug Cilla gestern Nachmittag. Sie lag unter einer der hinteren Fußmatten von Evans
Wagen. Das Mädchen war in dem Auto, Gibbs! Abby hat winzige Partikel von
Fingernägeln und Haut finden können. Einige Haare. Der Abgleich wird eine Weile
dauern…“
Der Silberfuchs nahm McGee die Tüte mit der darin liegenden Kette ab und grollte leise.
„Sie hat 30 Minuten, bevor mir der Kragen platzt!“
„Ich werde es ihr sagen… Ähm, Boss!“ hielt Tim den ehemaligen Ermittler zurück, als
dieser sich bereits abwenden wollte, und zog sein Mobiltelefon aus der Hosentasche.
„Ziva und die Kollegen sind auf dem Weg zu Evans Elternhaus, das noch von dessen
Mutter bewohnt wird. In seiner Wohnung haben sie nichts Verdächtiges finden können.
Außer nahezu pedantische Ordnung und sterile Sauberkeit.“ Er reichte Gibbs das Handy,
auf dessen Display Bilder von linear geordneten Aktenordnern und Buchrücken zu sehen
waren. Ein weiteres Bild zeigte einen Kleiderschrank, in dem eine ähnliche Pedanterie, in
Form von nach Farben geordneten Hemden und Anzügen, abgebildet war.
Jethro zog die Augenbrauen hoch, während McGee meinte: „Sie schicken ein paar Kisten
mit persönlichen Notizen und so weiter zu Abby. Vielleicht… Wir bleiben dran, Boss.“
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, ließ der Silberfuchs den Jüngeren stehen.
Kaum hatte Jethro die Tür zu dem Konferenzraum geöffnet, wirkten seine Gesichtszüge
wieder ruhig und neutral. Das Sitzen bekam seiner Hüfte nicht und so stützte er sich auf
eine der Stuhllehnen und musterte seinen Gegenüber gründlich.
Der Mann hatte in Gibbs Abwesenheit damit begonnen, die Zuckerwürfel auf einer
Serviette in einer Art Schachbrettmuster zu ordnen. Der Grauhaarige rollte innerlich mit
den Augen. Vermutlich stimmte es, jeder zweite Psychologe hatte am meisten damit zu
tun sich selbst zu heilen.
„Sind Sie verletzt, Agent Gibbs? Sie humpeln.“ wollte Evans wissen ohne von seinem
Zuckerwürfelmuster aufzublicken.
Gibbs nickte. „Ja, ich habe zwei Kugeln abgekriegt. Halb so wild…“
Mit einer ruhigen Geste legte der Grauhaarige den Beweismittelbeutel auf den Tisch und
schob ihn langsam zu dem Mediziner herüber. „Das ist die Kette von Cilla Hartnett…
Unsere Forensikerin hat sie in Ihrem Wagen gefunden, Dr. Evans.“ Der Mann schaute
ruckartig auf. Verunsicherung erschien in seinem Blick, ein nervöses Flackern in seinen
Augen bestätigte den Grauhaarigen. „Wie kam das Schmuckstück dorthin?“
Um seiner Frage Nachdruck zu verleihen, beugte er sich ein klein wenig weiter vor und
spannte seine Nackenmuskeln an.
Evans lachte auf und schüttelte den Kopf. „Oh je. Die hatte ich vollkommen vergessen.
Ich habe die Kette gefunden, nachdem ich Cilla wohlbehalten in die Obhut ihrer Mutter
gegeben hatte. Da ich dieses Schmuckstück der jungen Dame kannte und wusste, dass es
ihr gehört, habe ich es an mich genommen und vorgehabt es Alice bei ihrer nächsten
Sitzung zurückzugeben. Es muss mir aus der Tasche gefallen sein.“ Evans glaubte
anscheinend wirklich, dass er für jede Frage nur die passende Antwort hervorzaubern
brauchte, und Gibbs ihm jedes Wort leichtfertig abnehmen würde.
Schweigend lehnte sich der ehemalige Ermittler an die Wand und musterte den
Verdächtigen nur mit nachdenklichem Blick. Minuten vergingen, ohne dass einer der
Beiden etwas sagte, doch es war unschwer zu erkennen, dass Evans sich zunehmend
unwohler fühlte.
Als der Psychologe erneut damit anfing die Zuckerwürfel zu ordnen, stieß Gibbs sich von
der Wand ab und umrundete den Tisch. Hinter dem untersetzten Psychologen blieb er
stehen, griff an diesem vorbei nach der Kaffeekanne, die nach wie vor in der Mitte des
Tisches stand, und goss schwungvoll die geleerte Tasse des Mannes voll. Der Kaffee
schwappte über den Rand.
„Hoppla…“ kommentierte der Silberfuchs diesen Fauxpas lapidar und griff nach dem
Zucker, wobei er das pedantische Muster zerstörte und ein Chaos aus Zuckerkristallen
hinterließ. Er ließ unbeeindruckt zwei Würfel in die Tasse fallen und erneut landeten
einige Spritzer der Flüssigkeit auf dem Tisch. Evans knirschte mit den Zähnen.
Mit einem leicht amüsiert klingenden Schnauben wandte der Silberfuchs sich ab und ging
hinüber zu dem kleinen Servierwagen, wo er nach einem Stapel Servietten griff.
Erneut beugte Jethro sich über den Psychologen, um den Kaffee aufzuwischen, wobei er
sich erneut so ungeschickt anstellte, dass eine vom Kaffee feuchte Serviette in den Schoß
des anderen Mannes fiel. Ruckartig sprang Evans auf, stieß Gibbs heftig an, der daraufhin
zurück taumelte und hart gegen die Wand prallte.
„Hey!“ erboste sich der ehemalige Ermittler und unterdrückte ein leises Aufstöhnen,
während er interessiert beobachtete wie der Verdächtige vollkommen übertrieben die
Makellosigkeit seiner Kleidung überprüfte.
„Übersprungshandlung…“, warf Gibbs in den Raum und umrundete den Tisch erneut. Ein
Detail aus McGees Aufzeichnungen war ihm eingefallen. Die Mutter des vermissten
Mädchens hatte möglicherweise eine traumatische Kindheit erlebt, das konnte er nicht
beurteilen, aber da gab es noch etwas anderes… „Sie hatten das Thema, denke ich, noch
einmal vertiefen wollen, Doktor. Wie könnte eine solche bei einem Menschen mit der
Neigung zu zwanghaftem Verhalten aussehen?“
Evans kniff die Augen zusammen. „Mrs. Hartnett leidet nicht unter zwangsorientiertem
Verhalten!“
Jethro zuckte mit den Schultern. „Nein, Alice Hartnett nicht. Sie leidet unter
Schlaflosigkeit und großer Sorge. Doch der Auslöser liegt vermutlich nicht in ihrer
Kindheit, sondern nur wenige Jahre zurück! Oder, Dr. Evans? Vermutlich haben diese
Ängste etwas damit zu tun, dass ihr Ehemann vor einigen Jahren in die Hände einiger
Taliban geraten ist und sie tagelang um sein Leben gebangt hatte. Ist es nicht so,
Doktor?!“
Jethro ließ die Handflächen auf die Tischplatte fallen. Seine Worte gewannen an Schärfe.
„Wenden wir uns doch einmal IHRER Kindheit zu, Dr. Evans! Was hat Ihr Vater mit Ihnen
gemacht? Ihr Vater war ein hochbezahlter Mediziner – er betrieb eine Privatklinik, nicht
wahr?! Hatte er eine Schwäche für kleine Jungs? Oder waren Sie ihm einfach nicht gut
genug? Was war es, Doktor, das sie zu einem solchen Bastard gemacht hat?!“
Dr. Evans stand wie vom Donner gerührt vor dem Tisch, seine Hände zitterten merklich,
sodass er sie zu Fäusten ballte. „Wie können Sie es wagen…“
Doch weiter kam der Mann nicht.
Schwungvoll wurde die Tür aufgestoßen. Der Psychologe zuckte zusammen und konnte
der Szenerie kaum folgen. Ein großer farbiger Mann hastete auf ihn zu. Grob wurde er an
die Wand gedrückt, seine Handgelenke in eisernem Griff, bevor das ratschende Geräusch
einrastender Handschellen ertönte.
„FBI! Ich nehme Sie fest wegen des Verdachts der Kindesentführung in wenigstens drei
Fällen!“, ertönte die kalte, unnachgiebige Stimme von Tobias Fornell, der dicht hinter
Agent Sacks, welcher Evans fest im Griff hielt, den Raum betreten hatte.
„Bringen Sie den Mistkerl in den Verhörraum, Ron! Wir bleiben auf dem Navy Yard!“
Tobias schaute hinüber zu Jethro, der das Schauspiel ohne jede Regung verfolgt hatte.
Etwas in der Art hatte er schon vermutet, wenn auch nicht damit zu rechnen war, dass
das FBI derart schnell zu Ergebnissen gekommen war. „Agent Gibbs, leisten Sie uns
Gesellschaft? Bringen wir den Bastard zum Reden!“, kam es von Fornell, der eine
einladende Geste Richtung Tür machte.
Kapitel 10
Auf dem Weg zu den Verhörräumen ließ Gibbs sich von seinem alten Freund Fornell
aufklären.
Eine Agentin aus seinem Team hatte unverzüglich versucht, Verbindungen zu den
anderen vermissten Mädchen der letzten Monate in DC und Umgebung zu finden. Mit
Erfolg!
Tobias reichte dem grauhaarigen NCIS – Ermittler eine braune Mappe. Die lachenden
Gesichter dreier hübscher blonder Mädchen strahlten Gibbs entgegen.
„Die Großmutter von Dorothee Hannings hat sich von Evans behandeln lassen, sowie die
Tante von Shawna McFollis. Zu dem dritten Kind fehlt uns noch die Verbindung, aber,
Gibbs, verdammt, ich glaube die werden wir noch finden!“
Gibbs seufzte schwer. „Seit wann sind die Mädchen verschwunden, Tobias?“
„Dorothee wurde am 23. März als vermisst gemeldet, als sie vom Cheerleader-Training
nicht nach Hause zurückkam. Shawna kurze Zeit später im April, Melissa im Mai...“
Jethro fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Diese Welt voller Gewalt und Leid war so
weit weg gewesen, dass er beinahe vergessen hatte, dass es sie gab. Männer und Frauen,
die plötzlich durchdrehten und ganze Familien zerstörten. Er sehnte sich zurück nach
Avon, wo seine größte Last Hollis' Sturkopf gewesen war.
„Alles ok, Gibbs?“ Der FBI-Agent musterte den Silberfuchs aufmerksam.
„Sicher...“ kam die Antwort einsilbig. „Wir müssen ihn zum Reden bringen. Vielleicht ist
es für Cilla noch nicht zu spät.“
Entschlossen wollte Gibbs in den Flur zu den Verhörräumen abbiegen, doch Fornell hielt
ihn zurück. „Ich kann das alleine machen, oder mit DiNozzo. Er braucht Sie eigentlich
nicht, Jethro. Sie haben wirklich das Beste aus dem Jungen herausgeholt... Er ist ein
verdammt guter Teamleiter!“
Der Hauch eines Lächelns und Stolz legte sich für den Bruchteil einer Sekunde auf Gibbs
Gesichtszüge, doch er schüttelte nur den Kopf. „Ich weiß, dass er es auch allein schaffen
würde. Aber... ich schulde Admiral Hartnett einen gefallen. Er hat mir vor... Gott, vor
beinahe dreißig Jahren mal den Arsch gerettet und ich hatte bis heute nie die Gelegenheit
mich zu revanchieren. Ich bringe das hier zu Ende!“
Zweifelnd musterte Tobias ihn, doch schließlich gingen die Männer gemeinsam weiter.
„Irgendwelche Wünsche, Gibbs? Guter Cop – böser Cop?!“
Jethro zuckte mit den Schultern. „Ich habe als der Gute angefangen und Sie haben sich
doch schon von Ihrer schlechten Seite gezeigt, oder Fornell?! Machen wir einfach da
weiter...“
Mit einem zustimmenden Nicken legte Fornell eine Hand auf die Türklinke zum
Verhörraum, als die Stimme von Tony sie zurückhielt. „Boss! Ich meine... ähm...“
„DiNozzo!“ fragte Gibbs leise und zog in einem Anflug von Ungeduld die Augenbrauen in
die Höhe.
„Abby hat die Proben aus Evans Wagen zweifelsfrei Cilla zu ordnen können! Er war es –
definitiv!“
Jethro nickte, Entschlossenheit erreichte seinen Blick. „Gut gemacht, Tony! Soll ich...
Möchtest du ihn in die Mangel nehmen?“ DiNozzo war ein verdammt guter Agent, doch
kaum schien Gibbs in der Nähe, fiel der Brünette wieder in die Rolle des Untergebenen.
Das war nicht Recht! Doch hier und jetzt fehlte Gibbs die Zeit dem Jüngeren das zu sagen.
Später! Diese Geste musste fürs Erste ausreichen.
DiNozzo lächelte und Stolz mischte sich in seinen Blick. „Nein, Boss! Der Dreckskerl
gehört Dir!“
Jethro schluckte – so also würde seine Abschiedsrevue aussehen. Also gut!
Gibbs straffte seine Schultern und folgte Fornell in den verspiegelten Raum.
~**~
Mit fahrigen Händen zerrte Hollis an dem Band, das ihr Haar zusammen hielt und löste
den eben geflochtenen Zopf wieder. Weich fielen ihre goldigen Locken über die
Schultern.
Stirnrunzelnd musterte die ehemalige Agentin ihre Kleidung, dann fluchte sie leise und
schlüpfte aus dem blauen, etwa knielangen Sommerkleid und griff nach einer
sandfarbenen Hose und einer grünen Bluse, die ihre Augen so wunderbar betonte.
Ein amüsiertes Lachen ertönte hinter ihr.
„So unentschlossen habe ich dich zum letzten Mal erlebt als du 18 Jahre alt warst und mit
John Th... Ach, lassen wir das. Mach Dich nicht verrückt, Holly! Er liebt dich doch
ohnehin!“
Die blonde Frau schnaubte leise. „Darum geht es doch nicht, Meg! Wir gehen in den
Stadtpark um ein Konzert anzuschauen. Nicht in die Oper. Wenn ich das Kleid anziehe...“
Meg trat hinter ihre Nichte, musterte deren Spiegelbild und griff dann nach einer
einfachen Perlenkette, die auf einem Tischchen neben ihr lag. „Hier, die ist nicht zu
pompös, aber doch elegant. Ich finde, dass man Perlen wunderbar tragen kann, auch
wenn man den Abend möglicherweise auf einem umgestürzten Baum sitzend und Blues
hörend verbringen wird.“
Hollis runzelte die Stirn. „Denkst du nicht, dass ich die Kette mit dem Blumenanhänger
tragen sollte?“
Die Ältere schüttelte energisch den Kopf. „Nein! Auf keinen Fall, Holly. Dafür ist es noch
viel zu früh! Es ist die Kette seiner Mutter...“
„Ja, vermutlich hast du Recht...“ Mit einem tiefen Seufzen ließ die Blonde sich auf das
Bett ihres Hotelzimmers fallen, während ihre Finger sich an den Perlen verspielten. „So,
nun bin ich viel zu früh fertig...“
Meg lachte amüsiert auf. „Ich sage doch, dass du mich an eine Teenie-Göre erinnerst!
Holst du Jethro ab?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, wir treffen uns im Park.“
„Ihr hättet Euch zum Essen treffen sollen und nicht zu einem Konzert irgendwo in einem
weitläufigem Stadtpark!“ Witzelte Hollis Tante, während sie das abgelegte Sommerkleid
auf einen Bügel hängte. „Wer von Euch humpelt wohl schneller?“
„Haha, Meg! Sehr witzig. Außerdem humpele ich nicht mehr. Ich renne vielleicht noch
keinen Marathon, aber ansonsten ist mein Fuß wieder vollkommen in Ordnung!“
„Wie habe ich nur jemals etwas anderes behaupten können?!“ lachte die Grauhaarige und
ging in Richtung Tür. „So, nun gehe ich mich auch mal aufhübschen. Mein Gibbs will mich
zum Essen ausführen! Ich will mal sehen ob er und Taylor schon wieder von ihrem
Zoobesuch zurück sind. Also dann, Holly. Ich wünsche dir einen wunderschönen Abend!
Und, versau es nicht wieder, mein Schatz!“
Hollis rollte mit den Augen. „Los, lass deinen Gibbs nicht warten!“
~**~
„Was soll das heißen – Er ist nicht zu der Untersuchung gekommen? - Ich habe ihn doch
selbst heute Morgen hierher gebracht!“ Irritiert versuchte Amy sich einen Reim darauf zu
machen, was die Schwester an der Information des Bethesda versuchte ihr zu sagen.
„Ja, Mr. Gibbs war auch beim Lungenfunktionstest, bei der kardiologischen
Untersuchung und beim Ultraschall, aber in der Radiologie ist er nicht angekommen.
Gegen 11 Uhr hat man ihn mit den Unterlagen losgeschickt, doch angekommen ist er
nicht.“
Suchend schaute Amy sich um und fuhr sich mit einer Hand durch die braunen Haare.
„Können Sie ihren Vater denn nicht über sein Handy erreichen, Miss?“
Amy runzelte die Stirn. „Meinen Va... Ach, ich... Nein, es ist ausgeschaltet.“ Ließ sie den
Irrtum unaufgeklärt. „Er wollte sich bei mir melden, wenn er abgeholt werden kann. Ich
dachte, dass vielleicht irgendeine Untersuchung nicht in Ordnung gewesen wäre und er...
Meine Güte, es ist mittlerweile 16:30 Uhr.“
Die Krankenschwester nickte mitfühlend. „Hat er Sie vielleicht nicht erreicht und einen
Freund gebeten ihn abzuholen?“
„Er würde nie einfach die Pläne über den Haufen werfen ohne mir Bescheid zugeben.
Außerdem lautet eine seiner eisernen Regeln: Sei immer erreichbar.“ Mit bebenden
Händen fischte Amy in ihrer Tasche nach dem Handy und spähte hinaus auf den Bereich
vor dem Haupteingang des Militärkrankenhauses, wo Gwyn mit Julia auf sie wartete. Die
Sorge nagte an ihr. Bitte keine neue Katastrophe! Schickte sie ein Stoßgebet gen Himmel.
Ausgerechnet heute...
Die junge Frau hatte Gibbs und Gwyn nur nach Hause bringen wollen. Abby wollte den
Abend mit der jungen Pastorentochter und deren Bruder verbringen, während Gibbs mit
Hollis zu einem Konzert gehen wollte. Und Amy würde heute endlich ihren Marine treffen
können. In weniger als zwei Stunden würde der Bus mit den frischgebackenen Privates
aus Parris Island in Quantico eintreffen. Sie hatte da sein wollen, wenn ihr Mann am
Stützpunkt ankam.
Erneut wählte sie Gibbs Nummer und erreichte nur wieder die Mailbox. Mit einem
unguten Gefühl wählte die junge Mutter als nächstes die Nummer der NCIS-Forensikern.
Abby meldete sich, kaum dass der erste Klingelton verhallt war.
„Hey! Ich habe kaum Zeit, Amy. Was gibt es denn? Wenn es wegen heute Abend ist... Sag
Gwyn, dass ich noch nicht weiß, wann...“
Amy unterbrach die quirlige Goth energisch. „Jethro ist verschwunden! Er hat sich nicht
gemeldet und so bin ich auf blauen Dunst ins Bethesda, aber er ist nicht hier. Er ist einfach
auf dem Weg von einer Untersuchung zur anderen verschwunden, Abby! Was soll ich
denn jetzt machen?“
Schweigen schlug der Brünetten entgegen. „Abby?“
„Moment, Kleines, Moment...“ murmelte die Forensikerin beschäftigt.
„Abby! Hast du nicht gehört? Jethro ist verschwunden!“ rief Amy aufgebracht und lief
hektisch vor dem Empfangstresen auf und ab.
„Diese verfluchten... Ich bringe ihn um!“ ertönte Abby Stimme erzürnt.
„Was? Ich verstehe nicht...“
Abby unterbrach die Jüngere mit zorniger Stimme. „Tim hat mich heute Morgen nach
Gibbs gefragt und ich habe ihm gesagt, dass mein Silberfuchs im Bethesda ist. Ich dachte
der verfluchte Mistkerl wollte nur ein wenig Smalltalk machen, aber...“
„Abby!“
„Gibbs ist hier, Amy! Es geht ihm gut. Noch...“ grollte Abby, während Amy deutlich das
Klappern ihrer Tastatur hören konnte. „Er verhört einen Verdächtigen! Das ist doch...“
„Er macht was? Er ist beim NCIS und arbeitet?“ Fassungslos und kopfschüttelnd verließ
Amy das Foyer der Klinik.
„Gibbs hat den Navy-Yard genau um 13:23 Uhr betreten! Ich verspreche Dir, dass hier
Köpfe rollen werden, Amy!“
„Oh ja!“ ertönte eine weitere – männliche - Stimme.
„Abby?“ fragte Amy erneut und hörte nur noch ein atemloses: „Direktor Vance, Sie sind
schon zurück?“ bevor das Gespräch abbrach.
Kapitel 11
Mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck steckte Tony das Handy in seine Tasche und
machte Anstalten seinen Arbeitsplatz zu verlassen.
„Was, DiNozzo? Sie dürfen mich ruhig einweihen!“ Hielt ihn Ron Sacks zurück. Die beiden
erfahrenen Agenten hatten noch einmal mit den Angehörigen der anderen Mädchen
gesprochen und versucht den Anfangsverdacht gegen Evans zu vertiefen. Zwei der
Familien hatten bestätigt im Kontakt zu dem Psychologen zu stehen oder gestanden zu
haben. Die Familie des dritten Mädchens, Melissa Baxter, war auf dem Weg in den Navy
Yard, während Abby dabei war den Wagen des Mannes noch einmal vollkommen auf
Links zu drehen. Allein der Hauch einer DNA eines der anderen Mädchen, würde die
Ermittler ein ganzes Stück weiterbringen.
„Das war Ziva. Evans Mutter hat ihnen einige Orte genannt, die in der Vergangenheit von
Evans eine Rolle gespielt haben. Es gab zwei weitere Häuser, in denen die Familie gelebt
hat und die nun leerstehen.
In einem ist die Tochter, Elisa, als Siebenjährige ums Leben gekommen. Evans Vater hat
den Verlust nie verwunden und war sein Lebtag unzufrieden mit seinem Sohn. Er hat
absoluten Gehorsam gefordert und –Zitat der Mutter – „Fehlverhalten seines Sohnes hart
sanktioniert“ – er verlangte nicht weniger als Perfektion…“
Der FBI-Agent lehnte sich seufzend zurück. „Ein Wahnsinniger wie aus dem Bilderbuch
also… Zwei Orte in denen der Mann die Kinder festhalten könnte?“ hakte er noch einmal
nach und erhob sich nun ebenfalls.
Tony schüttelte den Kopf. „Nein, sogar noch einen Dritten. Das Gebäude in dem vor
Jahren die Privatklinik von Evans Senior untergebracht war. Ziva ist auf dem Weg dorthin.
Die alte Villa liegt weit draußen auf dem Land, in Richtung Harrisbourg – sie werden
beinahe über eine Stunde brauchen um dort anzukommen, während eines der
Wohnhäuser in Reston, Virginia und das andere in South Laurel, Maryland liegt.“
Sacks nickte, verstaute seine Waffe im Holster und winkte eine junge FBI-Agentin zu sich,
die dem Gespräch eifrig gelauscht hatte. Sie schien sichtlich froh darüber, endlich etwas
zu tun zu bekommen. „Wir übernehmen South Laurel!“
„In Ordnung, dann schicke ich McGee nach Reston. Fornell und Gibbs sollen Evans mit
den neuen Infos konfrontieren, vielleicht können wir die Suche dann eingrenzen!“
Mit diesen Worten wandte der Teamchef des NCIS sich ab und eilte in Richtung
Verhörraum.
DiNozzo betrat den Observationsraum und erstarrte mitten in der Bewegung. Ein
ungutes Gefühl grub sich in seine Magengegend, als er erkannte wer dort vor dem
Venezianischen Spiegel stand. „Direktor… Abby… Ich…“ Weiter kam der Brünette nicht.
Die Forensikerin hatte die kurze Distanz zwischen ihnen schnell überwunden und
verpasste dem vollkommen überrumpelten Agenten eine saftige Ohrfeige.
„Was um alles in der Welt hast du dir dabei gedacht? Willst du ihn umbringen?“ fauchte
die Schwarzhaarige ihn zornig an. DiNozzo schluckte schwer und suchte den Blick seines
Vorgesetzten.
Vance hatte seinem neuen Supervisory Senior Agent den Rücken zugewandt, doch an
seiner angespannten Nackenmuskulatur war deutlich zu erkennen, dass es in dem
Dunkelhäutigen brodelte. „Agent DiNozzo… Hat dieser Fall Sie überfordert?“ ertönte die
scheinbar ruhige Frage des anderen.
Tony schluckte schwer und räusperte sich energisch. „Ich… Nein, Direktor, Sir: Es war nur
so, dass…“ Es war ganz einfach so, dass… dass es so wahnsinnig verlockend gewesen
war, dem Wunsch des Admirals nach zu kommen und Gibbs herzubeordern. Die
Verantwortung über jedes Handeln, alle Entscheidungen, alle Schritte, die im Zuge eines
Falls auf ihn zu gekommen waren, nachdem Gibbs so unerwartet ausgeschieden war… All
das einfach einmal abgeben und einfach nur wieder der ganz spezielle Special Agent
DiNozzo zu sein… Er schloss für den Moment die Augen. „Nein, Direktor, Sir. Admiral
Hartnett hat nach Gibbs verlangt und ich bin der Bitte nachgekommen, in dem Wissen,
dass es auch in Gibbs Sinne wäre. Sir, ich weiß, dass er noch nicht fit genug…“
Vance wirbelte herum. „Miss Sciuto hat mir anhand der Überwachungsvideos gezeigt,
dass Gibbs sich seit 13:23 Uhr auf dem Navy Yard befindet…“ Er warf einen Blick auf die
Wanduhr. „Es ist bereits 17:14 Uhr, DiNozzo! Sagen Sie mir nicht, dass Agent Gibbs seit
mehr als dreieinhalb Stunden, ohne Pause, im Verhör ist?!“
Tony schluckte und versuchte an Vance vorbei einen Blick auf den Silberfuchs erhaschen
zu können.
„Ist er??“ Vance erhob die Stimme und fesselte damit die Aufmerksamkeit des
dunkelhaarigen Agenten.
Tony presste die Lippen fest zusammen. „Ja, Sir. Er ist seit beinahe vier Stunden dabei
den Mann zu verhören, Sir.“
Erneut holte Abby aus. Ihre Faust traf Tonys Schulter, er wich vor ihr zurück. „Ich
unterbreche das Verhör, Direktor. Ich hole Gibbs da raus!“
„Das werden Sie nicht, DiNozzo! Ich werde das erledigen und Sie… Sie verhalten sich
ruhig, solange, bis ich nicht mehr den Drang verspüre Ihnen den Kopf abzureißen, Sie
verfluchter Hornochse!“ Bevor der Direktor den Raum verließ, wandte er sich noch einmal
zu seinem Mitarbeiter um. „Behandeln Sie Ihre Freunde immer so, Agent DiNozzo?“
Ein Techniker hielt den Direktor zurück. „Direktor, Sir! Wollen Sie wirklich gerade jetzt das
Verhör unterbrechen?“
Vance hielt inne. Stille breitete sich aus, sodass Evans Stimme überlaut durch den
Observationsraum hallte.
Der Mann lachte. „Wenn ich es Ihnen doch sage, Agent Gibbs! Ihre Forensikerin kann sich
noch soviel Mühe geben – sie wird keine DNA von diesen Mädchen in meinem Wagen
finden.“
Der Mann im hellen Anzug hatte sich vorgebeugt und auf zwei der vier vor ihm liegenden
Bilder gezeigt.
„Aber von Mellissa und Cilla schon, ja?“ polterte Fornell ungehalten. „Wollen Sie uns das
damit sagen?“
Wieder lachte Evans. „Überprüfen Sie denn gar nicht meine Kreditkartenabrechnungen?
An den Tagen, an denen die Mädchen, Shawna und Dorothee verschwunden sind, war
mein Auto in der Reparatur. Die elektrischen Fensterheber waren defekt – was im April
herausgefunden und im Mai behoben wurde. Sie werden keine Spuren finden, weil ich
einen Leihwagen hatte. Wie also, wollen Sie mir nachweisen, dass ich etwas mit dem
Verschwinden der beiden zu tun hatte.“
Gibbs schüttelte ungläubig den Kopf. „Wollen Sie uns weiß machen, dass Ihr Wagen
zufällig genau an den Tagen der Entführung in der Werkstatt war?“
„Nein, Agent Gibbs, das will ich nicht. Ich wollte Sie nur daraufhin weisen, dass ihre
Techniker sich die Arbeit sparen können. Es wäre Zeitverschwendung... Und es würde
Ihnen keinen Hinweis darauf bringen, wo Cilla sich aufhält. Wozu also?!“
Fornell beugte sich weit über den Tisch und zwang Evans den Blickkontakt zu halten. Der
Mann schien sich bestens zu amüsieren. „Soll das ein Geständnis werden, Evans?“
„Direktor!“ drängte Tony und zog damit die Aufmerksamkeit auf sich. „Evans Mutter hat
endlich ihr Schweigen gebrochen und Ziva Hinweise auf den möglichen Verbleib der
Kinder gegeben. Sacks, McGee und Ziva sind bereits auf dem Weg, aber wenn wir
wüssten, ob Cilla wirklich an einem der Ort ist, dann könnten wir schneller sein. Fornell
und Gibbs brauchen die Information. Wenn Evans damit konfrontiert wird...“
„Das sagen Sie erst jetzt, DiNozzo?!“ grollte Vance, griff an dem Techniker vorbei und
aktivierte die Gegensprechanlage. „Agent Gibbs, Agent Fornell, auf ein Wort bitte!“
Nacheinander verließen die Agents den Verhörraum. Gibbs lehnte sich gegen eine Wand
und massierte unwillkürlich sein schmerzendes Bein. Während der letzten halben Stunde
hatte er ständig seine Position verändern müssen. Schon längst wäre die nächste
Tabletteneinnahme nötig gewesen, doch er hatte nicht damit gerechnet solange
unterwegs zu sein. Die Schmerztabletten lagen in der Küche seines Hauses – damit
vollkommen unerreichbar.
Zudem war es ein unangenehm feucht warmer Tag und da konnte auch die Klimaanlage
nicht drüber hinweg täuschen. Der Grauhaarige war schweißgebadet und Tony erschrak,
als Gibbs seine Erschöpfung nicht länger verbarg.
„Verdammt, Boss... Ich hätte nicht...“
Ein sengender Blick aus den Augen seines ehemaligen Vorgesetzten ließ den Brünetten
verstummen.
„Leon!“, begann Gibbs leise und suchte den Blick des Direktors. „Ich bin mir sicher, dass
sie nicht sehr erfreut sind mich hier zu sehen, allerdings...“
„Ganz Recht, Gibbs! Ihr Verhalten ist wie eh und je von Unvernunft geprägt! Aber dafür
haben wir jetzt keine Zeit! DiNozzo wird Sie ablösen, wenn Sie jetzt schlapp machen zahlt
die Versicherung keinen Cent mehr und...“
„Nein, Leon, das wäre vollkommen falsch! Wir haben den Dreckskerl beinahe soweit!“
herrschte Jethro den anderen an.
„Wir haben einen Hinweis! Es gibt drei mögliche Orte, an denen die Kinder versteckt sein
könnten!“ warf DiNozzo eilig ein und berichtete von den neuen Informationen, woraufhin
Gibbs entschlossen nickte.
„Gut, dann werden wir den Mistkerl nun zum Reden bringen!“
Der ehemalige Agent mochte körperlich angeschlagen sein, aber seine Reaktionsfähigkeit
hatte er nicht eingebüßt. In einer einzigen fließenden Bewegung hatte er dem Mann vom
Sicherheitsdienst, der dicht neben ihm gestanden hatte, die Waffe aus dem Holster
gezogen und durchgeladen.
„Kommen Sie, Tobias, beschleunigen wir die Sache ein wenig!“ knurrte er entschlossen.
„Agent Gibbs!“ donnerte die Stimme des Direktors hinter ihm. „Wenn Sie es wagen mit
gezogener Waffe in den Verhörraum zu gehen, wird es ein Verfahren gegen Sie geben!
Sie verdammter Cowboy!“
Gibbs stöhnte leise auf. „Leon, die Kleine hat keine Zeit mehr. Außerdem ich bin müde...
Wenn Sie also ohnehin am Schreibtisch sitzen, um das Verfahren gegen mich einzuleiten,
dann kümmern Sie sich doch bitte auch gleich um meine Pensionierung! Nach dem hier
bin ich raus...“
Fornell unterdrückte ein amüsiertes Lachen und legte seine Hand auf die Türklinke,
während sein alter Freund sich die Waffe in den Hosenbund klemmte. „Bereit für den
letzten Akt, Agent Gibbs?!“
Der Silberfuchs nickte mit grimmig entschlossenem Gesichtsausdruck und wartete nicht
auf eine weitere Reaktion seines Vorgesetzten.
Kapitel 12
Ohne viele Worte eilte Tobias in den Raum. Evans zuckte merklich zusammen.
Während Gibbs neben der Tür stehen blieb, nahm Fornell am Tisch Platz und musterte
den Psychologen eingehend bevor er leise und mit ruhiger Stimme forderte: „Gestehen
Sie, dass Sie Melissa Baxter und Pricilla Hartnett mit ihrem privaten PKW verschleppt
haben, Dr. Evans?“
„Habe ich wirklich so schlecht geputzt, dass Sie in meinem Wagen noch Spuren von Melli
haben finden können, Agent Gibbs?“ Evans hatte seinen Blick auf Gibbs gelenkt und
ignorierte Fornell.
Jethro grollte kaum hörbar. „Beantworten Sie die Frage mit Ja oder Nein!“
„Verschleppt... Also wirklich, wir haben einen wirklich wunderschönen gemeinsamen Tag
verbracht... Die Mädchen und ich... Sie waren perfekt und sie haben es geliebt. Sie hätten
sehen sollen wie die Kleinen mit den Puppen...“
Gibbs hatte das Gefühl, dass all seine Nervenenden Feuer gefangen hätten. Fornell stieß
sich, nach einem kurzen Blickkontakt mit seinem Ermittlerkollegen, vom Tisch ab, zog
sein Jackett aus und warf es über die Kamera an der Wand, während Gibbs sich dem
venezianischen Spiegel zuwandte. „Das Verhör ist beendet, wir haben ein Geständnis!“
„Verstanden, Agent Gibbs!“ ertönte die Stimme des Technikers.
Als Fornell den Tisch, vor dem Evans saß mit einem Ruck zurückzog, gab es ein hässliches,
knirschendes Geräusch. Krachend prallte das Möbelstück gegen eine der Wände.
Gibbs setzte sich vor Evans auf einen Stuhl, so dicht, dass dieser seinen Atem spüren
musste, zog die Waffe und ließ deren Lauf nachdenklich über den Körper des anderen
Mannes gleiten. „Was meinen Sie, Fornell? Das Knie. Oder das Fußgelenk?“
„Wir könnten ihm auch erst einmal unsere Frage stellen, Gibbs. Es wird nicht helfen, wenn
Sie den gleichen Fehler machen, wie bei diesem Verhör, von dem... hmmm. Wie hieß der
Mann noch gleich, der ohnmächtig geworden ist, nachdem Sie ihm in den Knöchel
geschossen haben?“ Fornell wirkte gleichgültig und rieb sich gelangweilt über das Kinn,
so als würde er einem ermüdeten Wissenschaftsvortrag lauschen müssen.
Gibbs lachte daraufhin amüsiert auf. „Sie meinen diesen Franzosen, der... Ha... Ich denke
ich nehme das Knie.“ Er entsicherte die Waffe und zielte.
„Nein!“ kreischte der wahnsinnige Psychologe. „Das dürfen Sie nicht!“
Gibbs lachte freudlos auf und schüttelte den Kopf. „Ich hab nichts mehr zu verlieren,
Evans… Ein Grund warum die Kollegen mich gebeten haben Sie zum Reden zu bringen:
Ich habe es nicht mehr nötig mich an die Regeln zu halten! Ich bin ohnehin raus… aus
allem!“
Fornell nickte zustimmend: „Er war schon immer ein Hitzkopf, aber nun… Die Hüfte hin,
die Lunge auch, die Frau weg… Er hat definitiv nichts mehr zu verlieren, Sie
Schweinehund! Reden Sie! Wo ist Cilla, wo die anderen Mädchen?!“
„Sie!“ Der Psychologe musterte Tobias unsicher und zeigte dann mit bebender Hand auf
ihn. „Sie… sie könnten das hier niemals rechtfertigen! Sie müssen dafür den Kopf
hinhalten!“
Die beiden Agenten lachten hämisch. „Ich glaube in den juristischen Abteilungen unserer
Behörden gibt es für uns beide ein eigenes Formblatt, oder was meinen Sie, Jethro?!“
Der Grauhaarige gab einen zustimmenden Laut von sich und presste dem Mann in einer
schnellen, harten Bewegung den Lauf der Waffe gegen das Knie und wiederholte Fornells
Frage. „Wo sind die Mädchen? Wo ist Cilla?“
„Tot... Sicher schon tot...“ murmelte Evans mit einem letzten Hauch von Triumph, doch
ihm war anzumerken, dass er nervös war.
„Wo? Reston? South Laurel? Oder in dem ehemaligen Klinikgebäude ihres Vaters?“
„Woher wissen Sie...“, heulte der Mann plötzlich, während ihm der Schweiß über das
Gesicht lief und ein Zittern seinen korpulenten Körper zucken ließ.
Fornell beugte sich vor und wisperte leise: „Ihre Mummy hat Sie verraten, Evans!“
Der Mann riss die Augen auf und schluchzte dann laut über den Vertrauensbruch.
„Wo?“ Gibbs Stimme war ein einziges bedrohliches Grollen, während er den Lauf der
Waffe gegen das Knie des Mannes presste. Evans schrumpfte sichtlich in sich zusammen.
„In... in der Klinik... Sie sind... dort, aber... ich bin mir sicher, dass sie nicht mehr am Leben
ist... Sie...“, stammelte der Mann, bevor er weinend zusammensackte. Sein heroisches
Gebaren war endgültig verschwunden.
Der ehemalige NCIS Agent ließ die Waffe sinken und sicherte sie. Nur einen
Wimpernschlag später öffnete sich die Tür und die Männer vom Sicherheitsdienst kamen
dicht gefolgt von Direktor Vance in das kleine Zimmer.
Mit angewidertem Gesichtsausdruck musterte Vance den Mann und nahm Gibbs dann mit
ruhigen Handgriffen die Waffe aus den Händen.
„Bringen Sie den Mann weg!“ befahl Vance mit eisigem Tonfall und suchte Jethros Blick.
Stumm schienen sich die Männer mit ihren starren Blicken zu duellieren, bis Leon sich mit
einem unwirschen Schnauben abwandte.
Der Raum leerte sich und zurück blieben nur Gibbs und Fornell. Der Silberfuchs stützte die
Ellenbogen auf die Knie und verbarg das Gesicht in den Händen.
„Alles ok, Gibbs?“ Der FBI-Agent legte seinem alten Freund die Hand auf die Schulter.
„Sicher...“ murrte Jethro ohne sich groß zu bewegen. In den letzten Minuten hatte er
unter der Anspannung des Verhörs seine Schmerzen kaum gespürt, doch nun kehrten sie
zurück.
„War das Ihr Ernst? Sie geben auf?“ Tobias hatte sich einen Stuhl herangezogen und
setzte sich Gibbs gegenüber.
Jethro richtete sich mit einem leisen Stöhnen auf und nickte seufzend. „Probieren Sie es
aus, Tobias. Ein paar Wochen – Monate ohne diese Wahnsinnigen, ohne Mord und
Betrug... Man kann es lernen nachts wieder zu schlafen.“
„Aber...“ Fornell schüttelte den Kopf. „Was machen Sie den ganzen Tag? Wie geht die
verdammte Zeit um?“
Gibbs lachte und richtete sich auf. „Ich wohne im Augenblick in einem kleinen Haus auf
den Outer Banks. Hinter dem Haus ist ein Boot aufgebockt – ich kann mich damit
beschäftigen wann immer ich will. Ich kann mit einer Tasse Kaffee raus auf den Steg
gehen, der auf den See führt, an den das Grundstück angrenzt, meine Zeitung lesen oder
einfach nur dasitzen.“ Gibbs tippte sich mit dem Finger gegen die Stirn. „Ich hatte genug
Zeit alle unliebsamen Gedanken totzudenken. Bis heute waren nur noch Schatten von
dem hier übrig...“ Er machte eine ausladende Handbewegung. „Mit der Zeit entwickelt
man ausreichend Distanz. Es ist gut... Wirklich gut.“
Es war das erste Mal, dass der Grauschopf zugab, dass ihm sein neues Leben gefiel.
Warum hatte er das bislang nur nicht erkannt? Immer schien etwas zu fehlen, immer
schien diese Angst in seinem Nacken gesessen zu haben, die verhindert hatte, dass er
seine Tage genoss. Er brauchte diese Welt voller böser Taten nicht, um wirklich zu leben.
Es gab Erstaunlicherweise mehr als das Dasein eines Soldaten, Scharfschützen oder eben
eines Agenten.
Fornell musterte Gibbs kritisch amüsiert. „Ihre Pillen möchte ich nehmen, Gibbs! Und
morgen erzählen Sie mir, dass Sie zum Autogenen Training gehen oder lernen ihren
Namen zu tanzen!“
Der Grauhaarige lachte leise auf. „Sicher nicht!“
Fornell stand auf und reichte Jethro die Hand. „Kommen Sie. Ich bringe Sie nach Hause,
alter Mann!“
Die beiden Agenten hatten das NCIS – Hauptquartier verlassen ohne jemandem begegnet
zu sein. Gibbs wunderte sich darüber, dass weder Abby noch Ducky da waren um ihm die
Leviten zu lesen, aber vermutlich hatte jeder von Ihnen genug mit dem Fall zu tun.
Möglicherweise hatte der Direktor auch darauf bestanden, dass der Pathologe sich
ebenfalls sofort auf den Weg machte, um das Team vor Ort unterstützen zu können.
Sein Magen verknotete sich schier, als er an Duckys möglichen Einsatz dachte. An die
Eltern der Mädchen, die im Gebäude des NCIS saßen und auf Nachricht warteten. Mit
einem leisen Stöhnen ließ er sich auf den Beifahrersitz des geräumigen FBI-Wagens
sinken.
Zum ersten Mal in seinem Leben war er froh und dankbar dafür, einen Fall nicht selbst
abschließen zu müssen. Er konnte gehen und Tony die Verantwortung überlassen. Er
wollte mit niemandem tauschen – vor allem aber nicht mit den Eltern der vermissten
Kinder.
Unwillkürlich kam die Erinnerung an den Moment zurück, in dem er von Kellys Tod
erfahren hatte. Erneut spürte er diesen ohnmächtigen Schmerz, dessen Erinnerung
beinahe so schmerzlich war, wie der Augenblick in dem er ihn real gefühlt hatte. Der
Grauhaarige holte tief Luft, um die aufkeimende Übelkeit zu unterdrücken.
„Hey! Gibbs? Ist alles ok?“
Der Grauhaarige spürte Tobias' forschenden Blick auf sich und nickte erschöpft. „Ja, alles
Bestens. Fahren Sie, Tobias…“ Beschwichtigte er den anderen mit beinahe tonloser
Stimme und lenkte den Blick aus dem Fenster.
Sie verließen den Navy Yard. Das Stadtleben pulsierte um sie herum, verschlang sie für
den Moment, während Gibbs versuchte die Gedanken an verlorene Kinder, nicht an sich
heran zu lassen.
Er dachte an Amy, Gwyn und Taylor – an die kleine Julia. Sie warteten auf ihn. Sie würden
ihn tadeln, ihm brühwarm von ihrer großen Sorge um ihn erzählen. Vermutlich hatte
Gwyn sich vollkommen zurückgezogen. Er stellte sich das Mädchen vor, wie es im Garten
saß, auf der Bank, die nur über den schmalen Pfad zwischen den Rosen hindurch zu
erreichen war und jetzt im Sommer kaum einzusehen war. Dort würde sie ausharren, das
Gesicht hart und verkniffen, die Kopfhörer auf den Ohren. Sie würde sich abwenden und
ihn irgendwann anschreien. Dann würde er sich schuldig fühlen und versuchen sie zu
besänftigen.
Gibbs lächelte. Er hatte sich schon an all diese Dinge gewöhnt.
Taylor würde versuchen, alle blutrünstigen Theorien, die er sich ausgedacht hatte, auf
einmal zu berichten. Er würde nicht hören wollen, dass es kein Agenten-Abenteuer war,
das Gibbs davon abgehalten hatte wie verabredet nach Hause zu kommen.
Der kleine Kerl war wunderbar.
Amy würde versuchen ihn mit Missachtung zu strafen, mit eisigem Schweigen und
bohrenden Seitenblicken – für wenige Minuten. Dann würde sie in bester „Meg“-Manier
anfangen zu schimpfen wie ein Rohrspatz, nur um ihn im nächsten Moment zu
bemuttern. Sie würde ihn vermutlich bekochen und... Nein! Gibbs richtete sich auf, warf
einen Blick auf seine Uhr. Heute war ihr großer Tag. Und er hatte es versaut. Zu spät!
Und nicht nur ihrer – auch seiner. Hollis! Zu spät… Er war zu spät. Sie wartete bereits seit
einer halben Stunde auf ihn...
Gibbs fluchte leise und versuchte das Handy aus seiner Hosentasche zu ziehen. Seine
Hüfte protestierte heftig ob der unbedachten Bewegungen.
Er hatte das Handy im Krankenhaus abgeschaltet. Ungeduldig malträtierte er den
Startknopf.
„Alles ok, Gibbs?“
Der Grauhaarige presste die Kiefer aufeinander. „Nein!“
Endlich zeigte das Display eine Funktion. Die leisen Signale ertönten und klangen in Gibbs
Ohren wie ein Sperrfeuer.
Mit bebenden Fingern wählte er die Mailbox an. Drei Anrufe von Amy – besorgt und
wütend. Und dann Hollis Stimme, die nervös hinterfragte, ob sie sich im Treffpunkt geirrt
hatte.
Er verbarg sein Gesicht in der Hand und lauschte der letzten Nachricht.
„Du hast dich also wieder einmal für den NCIS entschieden, Jethro... Wieder alles
umsonst...“ Ihre Stimme brach. Genau wie sein Herz...
Gibbs ließ das Handy sinken. Sein Magen rebellierte, die Übelkeit verstärkte sich, genau
wie das Rauschen in seinen Ohren. Fornells wiederholte Nachfrage, ob er irgendwas
bräuchte, erreichte ihn nicht. Ohne etwas zu erkennen stierte der Grauhaarige nur aus
dem Fenster. Die vorbeifliegende Umgebung bereitete ihm Kopfschmerzen.
Als er eine Berührung an seinem Arm spürte, schaute Gibbs auf. „Wir sind da, Gibbs.“
Fornell zog alarmiert die Augenbrauen hoch. „Meine Güte, schlechte Nachrichten? Sie
sind ja weiß wie eine Wand!“
Jethro schüttelte den Kopf und fühlte sich unangenehm zittrig. Er wusste nicht, wie er es
schaffen sollte den Wagen zu verlassen.
„Na, dann kommen Sie, Gibbs!“
Wie bereits zuvor im Verhörraum des NCIS, reichte Fornell seinem Freund auch jetzt die
Hand. Der FBI-Ermittler spürte das Zittern des anderen. Sorge grub sich in seinen Blick.
„Kommen Sie, eine Pause wird das Beste sein. Hm?!“
Jethro kam auf die Beine und hielt sich an der geöffneten Wagentür fest. Die Umgebung
verschwamm vor seinem Blick. Wie von fern hörte er sich nähernde eilige Schritte,
Stimmengewirr. Furcht keimte in ihm auf. Die Situation kam ihm vor wie ein Deja vu. Noch
zu frisch war die Erinnerung an seinen Zusammenbruch vor einigen Wochen im
Sandcastle. Doch heute war es anders: Er hatte keine Schmerzen und er konnte atmen, er
bekam Luft. Gott sei Dank. Sein Blick klärte sich. Er erkannte Ducky, seinen Vater... Meg.
Er musste nur eine Weile ausruhen, das war alles.
Ein fester Griff um seine Oberarme hielt ihn aufrecht, nötigte ihn einen Schritt nach dem
anderen zu machen, half ihm sein Haus zu erreichen.
Auf der Treppe erkannte er Abby, die hinter Gwyn und Ty stand und jedem von ihnen eine
Hand auf die Schulter legte. Gwyn starrte ihn an, während der blonde Junge sich an die
Hand seiner Schwester klammerte. Ihre Blicke trafen sich.
„Ich bin ok, Gwyn. Alles ok...“ murmelte Gibbs leise, kaum hörbar.
Sie erreichten sein Sofa, dirigierten den erschöpften Mann hinauf.
Jethros Gesicht verzerrte sich vor Schmerzen.
„Hinlegen, mein Lieber. Dann wird es besser werden.“
Ertönte Duckys ruhige Stimme.
„Nur die verfluchte Hüfte, Duck. Ich bin ok, wirklich.“, wisperte Gibbs und suchte
blinzelnd nach dem Blick seines Freundes. „Was machst du hier? Ich... ich dachte du wärst
auch... Die Mädchen...“
Ducky schüttelte ernst den Kopf und schwieg, während er Gibbs Puls überprüfte. „Ok, du
scheinst wirklich nur mal wieder über deine Grenzen hinausgeschossen zu sein.
Danke!“, sagte er dann an Meg gewandt, die dem Mediziner ein Glas Wasser reichte und
Jethros Tabletten. „Vance hat so was erwartet. Er kennt dich lange genug, um dir
anzusehen, wann du am Ende bist. Er wollte die Versicherung umgehen und hat mich
hergeschickt um das Schlimmste zu verhindern! Komm, nimm deine Medikamente und
dann ruh dich aus! Alles andere hat Zeit bis morgen.“ Es war kein Vorwurf in der Stimme
des Älteren zu hören.
Jethro richtete sich mit Tobias Hilfe ein wenig auf und schluckte die verschiedenen Pillen,
die Ducky ihm verabreichte. Dann schaute er fragend in die Gesichter von Meg und
Jackson.
„Holly?“ Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
Sein Vater schüttelte traurig den Kopf, während in Megs Augen der Zorn funkelte.
„Warum, Jethro? Warum nur?!“ Die alte Frau wandte sich ab. „Ich muss mich um die
Kinder kümmern!“
Selbst wenn er es gewollt hätte, dem Grauhaarigen fehlte schlichtweg die Kraft, um sich
zu verteidigen. Seine Augen fielen zu und ein wirrer Traum griff nach ihm, zog ihn weit in
seine Vergangenheit.
Er erkannte Colonel Ryan und einen jungen Simon Hartnett. Sie befanden sich in einem
Verhörraum, der Colonel war zornig und ließ krachend seine Faust auf den Tisch fallen.
Jethro zuckte unwillkürlich zusammen. „Hat man Ihnen den Verstand geraubt, Sie
verfluchter Trottel?!“
Gibbs war überfordert. Was meinte Will Ryan. War es wegen Hollis?
„Verdammt, Jarhead. Was haben Sie nur wieder angestellt. Ich muss wissen was da los
war. Wir müssen ihren verdammten Hals retten, mein Junge. Kneifen Sie Ihre
Arschbacken zusammen und sagen Sie mir was passiert ist!“
Jethro versuchte seine Gedanken zu ordnen und hörte sich selbst stammeln:
„Hab alles… falsch gemacht, Sir. Hätte ich doch nur die verfluchte Tür…“
Nein, nein das war verkehrt. Es ging nicht um die Tür... Es ging um was anderes...
„Die Mädchen... die kleinen Mädchen – Er hat sie, Colonel... ich wollte doch nur helfen,
Sir“
Gibbs spürte eine Berührung und blinzelte. Will Ryan strich ihm mit einer väterlichen
Geste durch sein kurzes Haar und betrachtete ihn besorgt. „Junge, was bist du nur für
ein Unglücksrabe. Wie kriegen wir das nur wieder gerade gebogen?“
Jackson betrachtete seinen schlafenden Sohn, der sich durch einen unruhigen Schlaf
quälte. Der alte Mann setzte sich neben seinen Jungen auf den Couchtisch und strich ihm
durch die schweißnassen Haare. „Ach mein Junge, was bist du nur für ein Unglücksrabe.
Wie kriegen wir das nur wieder geradegebogen?“
Kapitel 13
Unschlüssig stand Abby am oberen Ende der Treppe in Gibbs Haus und lauschte auf die
Gespräche aus dem unteren Stockwerk. Sie wollte nichts lieber als die Treppe hinab zu
rennen und sich selbst von dem Zustand ihres Silberfuchses ein Bild machen. Duckys
ruhige Stimme besänftigte ihre innere Aufruhr jedoch ein wenig-
„In Ordnung, Jethro, du scheinst wirklich nur mal wieder über deine Grenzen
hinausgeschossen zu sein. Vance hat so was erwartet. Er kennt dich lange genug, um dir
anzusehen, wann du am Ende bist. Er wollte die Versicherung umgehen und hat mich
hergeschickt um das Schlimmste zu verhindern! Komm, nimm deine Medikamente und
dann ruh dich aus! Alles andere hat Zeit bis morgen.“
Seufzend schüttelte die Forensikerin den Kopf und ging den Flur entlang zu dem kleinen
Zimmer, in dem Gwyn für die Zeit ihres Besuchs untergebracht war. Sie klopfte leise und
steckte dann den Kopf zur Tür hinein. Die 16 jährige saß auf dem Bett, die Beine an den
Körper gezogen, die Stöpsel ihres MP3-Players in den Ohren und die Hand ihres Bruders in
ihren Händen.
Der blonde Junge schaute unsicher zu Abby auf, was dieser ein liebevolles Lächeln
entlockte. „Hey Ty… Alles klar, Kumpel?“
Sie durchquerte den Raum und ließ sich auf der Bettkante nieder. „Alles ok bei Euch?“
Taylor schaute nachdenklich zu Boden und warf dann seiner Schwester einen unsicheren
Blick zu. „Ich weiß nicht… Ist Jethro wieder krank?“
Abby strich dem Jungen mit einem beruhigenden Lächeln über das Haar. „Er hat ziemlich
hart gearbeitet heute und vergessen seine Medikamente zu nehmen. Mit ein wenig Ruhe
geht es ihm wieder gut. Morgen ist er wieder ganz der Alte. Ganz sicher, Ty!“
Gwyn schnaubte abschätzig und biss sich auf die Unterlippe. „Ist ihm eigentlich bewusst,
dass er… Gott! Was ist denn, wenn ihm wieder etwas zustößt?! Ich…“ Sie schüttelte
beinahe trotzig den Kopf und biss sich wieder fest auf die Lippe.
Mit einem Seufzen ließ sich die Goth neben die Geschwister sinken und legte dem
Mädchen mit dem rabenschwarzen Haar den Arm um die Schulter.
„Natürlich… Natürlich weiß unser Silberfuchs, dass wir uns um ihn sorgen. Aber… Die
Enkelin eines ehemaligen… Freundes war in Gefahr und er wollte… musste helfen die
Kleine zu finden. So ist Gibbs nun mal. Ein Marine eben…“
Gwyn stieß einen ungeduldigen Laut, irgendetwas zwischen Schnauben und
unterdrücktem Aufschrei, aus. „Ich habe dieses Marine-Getue so satt! Genau das hat mein
Dad immer über Mum gesagt. Der Ehrenkodex eines Marines… Ich kotze gleich! Die
eigene Familie kommt immer an zweiter Stelle… Gott, wie ich das hasse! Was müssen wir
denn tun, damit diese Scheiß-Marines merken, dass wir auch wichtig sind?“ Der Zorn
hatte ihr die Tränen in die Augen getrieben. Gwyn funkelte Abby zornig an, während
Taylor nur seinen Teddy fester an seine Brust presste.
Die NCIS-Forensikerin strich dem Mädchen über die kurzen Haare. Es tröstete Gwyn, dass
sie im Blick der netten Goth Verständnis erkennen konnte.
„Du hast ihn wirklich sehr gern, was?“ wisperte Abby leise und lächelte die Jüngere an.
„Ich auch… Wie könnte man auch nicht. Mein Gibbsman ist ein echt prima Kerl. Und
dieses,“ die Goth zeichnete mit den Fingern kleine Häkchen in die Luft, „WeltretterDing gehört einfach zu ihm, hm?! Wenn er nicht genau so wäre wie er ist, dann wäre er ja
auch nicht so genial.“
Gwyn wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und ließ den Kopf sinken, sodass
ihr Kinn auf den Knien zum Liegen kam. „Ihm darf nichts passieren, Abby. Ich kann das
hier nicht alleine…“
Liebevoll zog Abby das Mädchen an sich und wiegte sie sanft hin und her, während sie mit
einer Hand über Ty’s blonden Schopf strich. „Er lässt euch nicht im Stich, Gwyn. Auf
keinen Fall…“
Ein Anruf von Tony hatte Abby, kurz nach dem Gespräch mit Gwyn und Taylor, noch
einmal ins Hauptquartier des NCIS beordert. Mittlerweile hatte sich eine schwül-warme
Nacht wie eine Käseglocke über die Stadt gelegt. Müde nach dem langen Tag lenkte Abby
ihren Wagen durch die Straßen von Alexandria. Sie würde die Nacht in Gibbs Haus
verbringen und so noch einmal nach dem Rechten sehen. Vor allem aber wollte sich die
Goth davon überzeugen, dass es ihrem Silberfuchs gut ginge. Noch immer hatte sie die
Gestalt des gebrochenen, kranken Mannes vor sich. Ihr letzter Besuch auf den Outer
Banks steckte ihr noch in den Knochen, obwohl sie in den vergangenen Tagen selbst
erfahren hatte, dass Gibbs Zustand sich um ein Vielfaches gebessert hatte. Die Depression
schien er verwunden. Er strahlte eine innere Zufriedenheit und Ruhe aus, die sie bisher
noch nie bei ihrem väterlichen Freund gesehen hatte. Einzig wenn das Thema auf Hollis
gefallen war, dann hatte er sich zurück gezogen, diese altbekannte undurchdringliche
Miene aufgesetzt.
Meg hatte der Labortechnikerin am Abend von dem verpatzten Date der beiden
berichtet. Ein weiterer herber Tiefschlag für den ehemaligen Ermittler. Abby wusste nur
zu gut, wie winzig der Schritt war, den es brauchte um eine angeschlagene Seele zurück
in die Depression zu schicken. Aber das würde sie nicht zulassen. Notfalls würde sie mit
Hollis reden. Wieso war diese Frau nur so unglaublich stur?! Die Blonde kannte den
Silberfuchs doch mittlerweile lange genug. Was hatte sie davon ihn am langen Arm
verhungern zu lassen? So war Jethro Gibbs nun einmal!
Als die Forensikerin das Haus in der East Laurel Street erreichte, vergrub sie ihren Zorn. Es
würde ihrem Gibbsman nichts nützen, wenn sie hitzköpfig und mürrisch wäre. Ein Blick
zeigte ihr, dass das große Haus in nächtlichem Frieden dalag. Seine Bewohner schienen zu
schlafen. Auf leisen Sohlen schlich sie hinüber zur Eingangstür und öffnete diese
behutsam. Ein erfrischender Windhauch strich über ihre erhitzte Haut und machte
deutlich, dass einige der Fenster im Haus geöffnet waren.
Leise und kaum hörbar drang das Piepen der Tastentöne eines Handys zu ihr vor.
Stirnrunzelnd folgte die Schwarzhaarige diesem Geräusch und entdeckte die
weitgeöffnete Tür, die in den Garten führte. Im Licht des zunehmenden Mondes saß
Gibbs auf den Stufen der hölzernen Terrasse. Er hatte sich an das Geländer gelehnt und
die Beine lang ausgestreckt. Mit einem leisen Seufzen hob der Grauhaarige das Handy an
sein Ohr.
Abby kam sich vor wie ein Eindringling. Doch sie war von Natur aus sehr neugierig und
brachte es nicht über sich, dem Grauhaarigen die nötige Privatsphäre zu gönnen. Sie
ahnte, dass Jethro um diese Zeit nur Telefonate führen würde, die ihm wirklich auf der
Seele brannten. Vermutlich also würde er versuchen Hollis zu erreichen.
Ein unzufriedenes Grollen ertönte von Jethro. Dann sagte er leise:
„Ich hasse es mit einer Maschine sprechen zu müssen… Hol‘… Ich… Ich habe einen
Fehler gemacht, aber ich habe… die Zeit vergessen. Du kennst doch die Situation in
einem Verhörraum… Bitte… Holly! Was soll ich machen…“ Er schwieg eine Weile, fuhr
sich mit einer Hand durch die Haare und legte den Kopf in den Nacken. „Ich sollte mich
vermutlich einfach… Ach… Was soll’s… Es tut mir leid, Holly… Wahnsinnig leid…“
Abby Herz krampfte sich zusammen, als sie Gibbs so sah. Es passte einfach nicht zu dem
ehemaligen Teamchef, dass er vor jemandem – vor einer Frau – zu Kreuze kriechen
musste. Erneut keimte die Wut in Abby auf. Dass Hollis es überhaupt schaffen konnte ihn
soweit zu bringen! Was, verdammt noch mal, wollte diese sture Frau?
Ein ungehaltenes Fluchen ließ sie zusammenzucken. Gibbs war aufgestanden und lief nun
über den Rasen. Erneut nahm er das Telefon an sein Ohr, doch an seiner Haltung war
keine Spur mehr von Verzweiflung zu erkennen. Viel mehr sah Abby den alten
Kampfgeist, die grimmige Entschlossenheit in der Haltung ihres Silberfuchses.
„Nein!“ bellte Gibbs in sein Telefon. „ Ich habe es nicht nötig, mich zu entschuldigen. Ein
kleines, krankes Mädchen ist von einem Wahnsinnigen entführt wurden. Du hättest
genau das Gleiche getan, Hollis! Ich… Ich habe es satt so von dir behandelt zu werden!
Ich bin nicht der größte Bastard auf Erden! Das bin ich nicht, Hol‘. Verdammt!!“
Mit einem weiteren Fluch schmiss der Grauhaarige das Handy achtlos in den Garten und
humpelte dann wanken in Richtung eines Liegestuhls, der auf der frisch gemähten
Rasenfläche stand. Mit einem Ächzen ließ er sich darauf nieder, verschränkte die Arme
hinter dem Kopf und starrte in den Nachthimmel.
Abby schluckte schwer und wandte sich ab. Mit langsamen Schritten durchquerte sie die
Küche und öffnete die Kühlschranktür. Sie griff nach einer Flasche Cola, holte aus einem
der Schränke Gläser und nahm eine Tüte Barbecue-Cracker mit sich. Bevor sie das Haus
verließ, legte sie noch einmal alle Sachen aus der Hand und streifte sie sich ihre Stiefel ab.
Ihre Füße schienen erleichtert aufzuatmen.
Die Dunkelhaarige genoss das Gefühl der leicht warmen Holzdielen auf der Terrasse, das
sanfte Pieken des trockenen Grases. Sie spürte Gibbs Blick auf sich und lächelte.
„Abbs…“ Seine Stimme klang heiser und leicht belegt.
Liebeskummer, schoss es der Goth verwundert durch den Kopf. Sie stellte die Gläser und
die Lebensmittel auf den Boden und ließ sich dann auf der Kante des Liegestuhls nieder.
Mit einem wohligen Gefühl ließ Abby sich von Gibbs in dessen Arme ziehen, sodass ihr
Kopf an seiner Schulter zum Liegen kam.
„Ich habe gar nicht gewußt, dass ein Leroy Jethro Gibbs Liebeskummer haben kann wie
ein Teenie…“, murmelte sie leise und griff nach seiner Hand.
Gibbs seufzte schwer. „Ich auch nicht, Kleines… Ich auch nicht.“
Kapitel 14
Hollis hatte sich sorgfältig geschminkt, bevor sie an diesem Morgen ihr Hotelzimmer
verlassen hatte. Sie hatte in der Nacht kaum ein Auge zugetan. Schon wieder hatte Jethro
mit ihr gespielt. Er schien sie zu verhöhnen. Nein, nein, das tat er nicht, doch seine Art…
Es fühlte sich einfach so an, als wäre sie nicht wichtig genug um in seiner Welt einen der
vorderen Plätze ergattern zu können. Ja, vielleicht war sie zu engstirnig, vielleicht fehlt es
ihr an Empathie, doch sie hatte einfach mit der Arbeit als Agentin abgeschlossen. Sie
wollte nicht länger ständig nur die Gräueltaten der Irren dieser Welt im Kopf haben. Hollis
wollte endlich genießen, doch das klappte nicht, wenn der Mann an ihrer Seite, sie immer
wieder in ihre gedanklichen Abgründe führte.
Sie hatte sich das wunderbar blaue Sommerkleid angezogen, dass sie eigentlich schon am
Abend zuvor hatte anziehen wollen, war in ihre neuen, blau geblümten Ballerinas
geschlüpft und der Einladung ihrer neuen Bekannten gefolgt. Janis O’Roake, die alte
Dame, die ihr nach ihrem Sturz vor einigen Tagen geholfen hatte, hatte am Abend des
Vortages bei der ehemaligen CID Agentin angerufen und sie um ein Treffen gebeten.
Die alte Frau hatte Hollis zwei Tage nach ihrem ersten Kennenlernen einen Besuch
abgestattet, um sich nach der Verletzung der sympathischen Frau zu erkundigen. An
diesem Tag war das Gespräch auf die Reise der Sandcastle-Bewohner nach DC gefallen.
Lachend hatte Janis davon berichtet, dass sie selbst in dieser Zeit in dem kleinen Ort
Brandywine in Maryland sein würde, um einige ihrer Bilder in der kleinen Galerie einer
Bekannten auszustellen. Es wäre für Janis das erste Mal, dass sie Fremden ihre Bilder
zeigte. Janis hatte nervös gelacht und immer wieder beteuert, dass sie es nie für möglich
gehalten hätte, dass ihre Landschaftszeichnungen für irgendjemanden von Interesse sein
könnten.
Hollis hatte nur einige wenige Werke ihrer neuen Bekannten gesehen, während sie für die
kurze Zeit in deren Strandhaus gewesen war. Auf jedem Bild war ein Mann zu sehen
gewesen. Ford, Janis Partner. Stets hatte er ihr den Rücken zugewandt. Er ging fort und
ließ seine Liebe zurück. Das war der Eindruck gewesen, den Hollis damals von den Bildern
gehabt hatte. Und sie hatte nie Ford in den Zeichnungen gesehen… immer Jethro.
Die blonde Frau presste die Kiefer fest zusammen und zwang sich die Gedanken an ihre
enttäuschte Liebe ziehen zulassen. Doch Gibbs fehlte ihr so sehr, dass er es immer und
immer wieder schaffte sich in ihre Gedanken zu schleichen. Warum nur lief immer alles
schief zwischen ihnen beiden?
Seufzend lenke Hollis ihren Wagen an den Straßenrand. Sie ließ den Blick über die
Hauptstraße der kleinen Stadt gleiten und lächelte. Sie hatte gar nicht gewusst, dass es
hier einen solchen Ort gab. Wenn sie den Namen Brandywine hörte, dann dachte sie
immer an die blutrünstigen Erzählungen ihres uralten Geschichtslehrers aus der
Highschool und den Schlachten die am Brandywine Creek stattgefunden hatten. Doch
dieser Ort strahlte eine friedvolle Geschäftigkeit aus, fernab von schaurigen
Kriegsplätzen. Künstler aller Art hatten sich hier angesiedelt und dem Ort eine besondere
Note verliehen.
Die Blonde griff nach ihrer Handtasche und verließ den Wagen. Suchend schaute sie sich
um und beschloss dann einfach die Mainstreet hinauf und hinab zu bummeln, bis sie die
Galerie mit dem zauberhaften Namen „Fairytales“ gefunden hatte.
Es gefiel Hollis sehr an den bunten, einladenden Läden vorbei zu schlendern und hier und
da in Verzücken zu geraten, wenn sie besonders schöne Auslagen in den Schaufenstern
entdecken konnte. Von handgefertigter Keramik, über Glaskunst bis hin zu robuster
Töpferarbeit war alles zu finden.
Sie hielt inne, als sie an einem leicht zurückgesetzten Haus vorbeiging, dessen Vorgarten
so üppig blühte, dass es ihr schlicht die Sprache verschlug. Alle Arten von Blumen
schienen hier zu gedeihen, die Farben zogen sie in ihren Bann, die Düfte benebelten ihre
Sinne. Kurzentschlossen ging sie mitten hinein in das Blumenmeer und folgte dem
schmalen Weg, aus gepflasterten Bruchsteinen. Die Tür des kleinen, alten Hauses stand
weit offen. Ein Schild neben dem Eingang hieß den Gast willkommen und zeichnete das
kleine Geschäft als Gärtnerei und Floristikbetrieb aus.
Das alte verwitterte Haus diente nur als Durchgang. Viele der Fenster fehlten
vollkommen. Erstaunt stellte Hollis fest, dass es sich lediglich um die Außenmauern des
alten Hauses handelte. Ansonsten schien es vollkommen entkernt. Ein Blick nach oben
ließ Hollis erneut staunen. Der Großteil des Daches war verglast wurden. Der Besitzer
dieses Ladens hatte aus einem baufälligen Haus in Gewächshaus gemacht.
Bunte Keramikfliesen wanden sich in verschlungenen Pfaden durch den flachen, weiten
Raum, der genau wie der Vorgarten üppig bepflanzt worden war. An den nackten
Wänden hingen Schilder, die Erklärungen zu den einzelnen Pflanzen boten.
Sie erreichte das andere Ende des Hauses und stand in einem wunderbar weitläufigen
Garten. Das Summen der Bienen und Hummel erfüllte die Luft. Hollis seufzte und
schlenderte an den verschiedenen Beeten entlang und betrachtete die liebevolle
Gestaltung. Ein leicht schattiges Plätzchen fiel ihr dabei besonders ins Auge. Wunderbare
Blumen, mit zierlichen hellgrünen Stengeln fielen ihr ins Auge. Sie blühten in allen Farben
und wirkten wundervoll lebendig.
„Kann ich Ihnen helfen?“ erklang eine freundliche Frauenstimme dicht hinter Hollis.
„Oh, hallo?! Nein, ich schaue mich nur um. Allerdings… Diese Blumen…“ entgegnete die
Blonde und deutete auf das Beet vor sich.
„Ah, unser Anemonen-Beet. Gefällt es Ihnen?“ Die Frau trat näher und betrachtete
liebevoll die leuchtend bunten Pflanzen. Sie trug Jeans, an denen noch Spuren von
feuchter Erde hingen und ein Grasfleck am Knie von der Arbeit in einem der Beete zeugte.
Einige Strähnen der rotblonden Haare fielen ihr in das runde Gesicht.
Hollis nickte. „Ja, sehr sogar. Wäre es möglich ein oder zwei Pflanzen mitzunehmen? Oder
vielleicht drei. Diese mit der blauen Blüte und die gelben… Ach und diese mit dem
kräftigen Pink…“ Sie lachte laut auf und zuckte die Schultern. „Ich wollte eigentlich keine
Blumen kaufen…“
Die freundliche Gärtnerin fiel in Hollis Lachen ein. „Ich könnte Ihnen eine kleine Auswahl
der Anemonen zusammenstellen wenn Sie mögen. Sie sind einfach unwiderstehlich, nicht
wahr. Aber einen Garten in dem Sie die Pflanzen unterbringen können haben Sie schon,
oder?!“
Hollis nickte lächeln. „Ja… Ja ich denke schon.“ Sie tippte sich nachdenklich mit dem
Zeigefinger an die Unterlippe. „Sie haben nicht zufällig auch Rosen da? Ich weiß nicht
genau wie die Art heißt… Es ist so eine alte englische Sorte… Sie hat eine gefüllte Blüte,
ein kräftiges Aprikot und duftet ganz wundervoll…“
Die Gärtnerin spitzte nachdenklich die Lippen, dann nickte sie. „Ich habe zwei oder drei
Sorten da, die auf ihre Beschreibung zutreffen. Wenn es nun aber genau diese spezielle
Art sein muss, dann sollten sie sich an einen Rosenzüchter wenden.“
Hollis schüttelte den Kopf. „Nein, ich denke es ist nicht so wichtig, dass es genau dieselbe
ist. Solange sie schön ausschaut und diesen wunderbaren Rosenduft verströmt...“
„Kommen Sie...“
Noch während Hollis eine der wunderhübschen Rosen aussuchte fragte sie sich was sie
hier eigentlich machte. Für wen suchte sie diese Blumen aus? Sie hatte keinen Garten den
sie gestalten konnte. Sie hatte nur davon geträumt es zu tun. An langen Winternächten in
denen sie vor Sorge um Jethro beinahe umgekommen wäre. Da schien ihr der Gedanke
an den Sommer paradiesisch. Garten, Blumen und schöne gemeinsame Stunden in der
Sonne.
„Also? Was meinen Sie, wird es diese hier? Oder doch lieber eine von den gelben?“ hakte
die Rotblonde noch einmal nach.
„Nein... Nein, die Aprikotfarbene, denke ich...“ Hollis schluckte schwer. „Könnte ich die
Pflanzen später abholen?“
Sie bezahlte und ging den gewundenen Pfad zurück zur Straße. Unsicher griff sie nach
ihrem Handy, dass, seitdem sie eine Nachricht auf Jethros Mailbox hinterlassen hatte,
ausgestellt war.
Sie war drauf und dran es einzuschalten und auf Nachrichten zu überprüfen, als eine
Stimme ertönte und nach ihr rief.
Janis kam über die Straße gelaufen und breitete fröhlich die Arme aus. „Hollis! Wie schön
Sie zu sehen, meine Liebe! Hat der Blütenzauber Sie in seinen Bann gezogen?“
„Ja, allerdings!“ Lachte die Blonde und begrüßte ihre Bekannte herzlich. „Wie geht es
Ihnen?“
„Gut... Ja, doch, eigentlich geht es mir gut.“ Meinte Janis zögerlich. Hollis musterte sie
zweifelnd und folgte der Älteren dann in Richtung eines zweigeschossigen Hauses auf der
gegenüberliegenden Straßenseite. „Es ist eine wirklich nette Stadt. Überschwemmt vom
Kunsthandwerk.“
Janis nickte lächelnd. Der Schatten, der sich kurzzeitig über ihr freundliches Gesicht
gelegt hatte, war verschwunden. „Trinken Sie eine Tasse Tee mit mir?“
Hollis nickte zustimmend und betrat einen hübschen Raum, der eher einem Cafe glich,
denn einer Galerie.
„Ich hatte etwas anderes erwartet.“ Meinte sie lachend und entdeckte zeitgleich die
hübschen Landschaftsbilder, die sie zweifelsfrei Janis zuordnen konnte. Auch wenn sie
zuvor erst einige wenige ihrer Werke hatte betrachten können. Wunderbare
Landschaften und immer wieder die Gestalt des abgewandten Mannes. Hollis stand
mitten in dem kleinen Gastraum und versank in ihrer Gedankenwelt. Wie mochte es
Jethro wohl gehen? Er war sicher weit über seine Grenzen hinausgeschossen. Allein die
morgendlichen Untersuchungen müssen ihn beinahe an seine Grenzen gebracht haben...
Sie war froh, dass sie nicht, wie sie zuerst vorgehabt hatte, in seinem Haus auf seine
Rückkehr gewartet hatte. Sie ertrug das Bild eines geschwächten Gibbs' nicht mehr. Sie
wollte es vergessen. Wollte nicht mehr Nacht für Nacht von seinem Zusammenbruch
träumen müssen. Er war in unzähligen Nächten in ihren Armen gestorben. In ihren
Gedanken und Träumen war der Weg in die Klinik zu weit gewesen. Sein Warten zu lang...
„Hollis?“
Janis Stimme riss sie erneut aus den trüben Grübeleien. „Entschuldigung, Janis. Ihre
Bilder sind wundervoll und sie dominieren den Raum auf wirklich subtile Weise!“ Sie
zwinkerte der Älteren zu.
„Setzen wir uns doch, hm? Was halten sie von einem Platz an der Sonne?“
Hollis spürte, dass Janis ein wenig nervös war, doch sie überging diese Beobachtung und
folgte der Älteren hinaus in den Garten, der sich verwunschen an das Gebäude schmiegte.
Unter alten Obstbäumen standen kleine Tische, auf denen Vasen mit Wiesenblumen
standen. An einigen dieser Plätze saßen bereits Gäste, bei Kaffee, Tee oder einem
verführerischen Frühstück.
„Haben Sie einen besonderen Wunsch?“ Wollte Janis wissen, als eine Frau in Hollis Alter
vom Haus her auf sie zukam.
„Gibt es hier auch Kuchen?“ Wisperte Hollis und zwinkerte lächelnd.
Janis nickte verschmitzt. „Dazu lieber Tee oder Kaffee?“
„Tee. Schwarzen mit Vanille?“
Wieder nickte die alte Frau grinsend und gab ihre Wünsche an die Bedienung weiter.
„Das ist die Tochter einer alten Freundin. Sie hat Kunstgeschichte studiert und nachdem
sie keine Anstellung hatte finden können, eröffnete sie die Galerie. Aber allein durch die
ausgestellten Kunstwerke trug sich das Projekt nicht und so hat sie sich mit einer
Freundin zusammengetan und das Künstlercafe eröffnet. Nun haben sie ein regelmäßiges
Einkommen und sind zufrieden.“ Erklärte Janis kurz, bevor ihre Miene ernst wurde.
Sekundenlang betrachtete die alte Frau nur nachdenklich ihre ineinander gefalteten
Hände. Doch dann brach sie das Schweigen und schaute Hollis eindringlich aus ihren
blaugrauen Augen an.
„Ich bin mir nicht sicher ob es klug ist direkt mit der Tür ins Haus zu fallen und warum ich
mich ausgerechnet an Sie wende, Hollis. Vermutlich liegt es daran, dass Gerüchte
behaupten, Sie wären eine pensionierte Polizistin.“
Die Blonde runzelte die Stirn und beugte sich vor. „Haben Sie Probleme, Janis?“
„Sind Sie Polizistin, Hollis?“ Erwiderte die Ältere vorsichtig mit einer Gegenfrage.
„Pensionierte Agentin des Army-CID. Wie hilft Ihnen das weiter?“
Janis zuckte mit den Schultern. „Vielleicht gar nicht... Aber...ich wüsste nicht an wen ich
mich sonst wenden sollte. Die Kinder meines Bruders halten mich ohnehin für nicht mehr
ganz... Naja.“ Janis unterbrach sich, als Tee und Kuchen serviert wurden und fuhr dann
zögernd fort. „Ich... ich träume, Hollis. Ich träume von Ford. Ich hatte Ihnen doch von ihm
erzählt, oder?“
Hollis nickte, schwieg aber, um ihre Gegenüber nicht zu unterbrechen.
„Ich träume jede Nacht, dass er mit seinem Boot in einen Sturm gerät. Er schafft es nicht
ans Ufer zu gelangen, wird immer weiter von mir fortgerissen. Er ruft nach mir, aber ich
kann ihn kaum verstehen. Aber ich bin mir sicher, dass er mich braucht. Dass er nach mir
ruft.“ Sie lachte mit einer Spur Verzweiflung in der Stimme. „Ich weiß, dass es verrückt
klingt, aber... Ich glaube... Es fühlt sich so an, als wäre er da noch irgendwo. Als würde er
verzweifelt nach mir suchen.“
Kapitel 15
Langsam schlenderten die beiden Frauen nebeneinander durch den großen Garten, der
zu dem Künstlercafe „Fairytales“ gehörte. In einem Springbrunnen plätscherte das
Wasser. Kleine, steinerne Vögel saßen an dessen Rand und ein kleiner Kardinal ließ sich
nicht stören und badete ausgiebig in dem erfrischenden Nass. Hohe, alte Bäume
spendeten Schatten, der dieser Tage mehr als Willkommen war. Zwischen Hecken und
blühenden Stauden fand man, stilvoll in Szene gesetzt, phantasievolle Skulpturen.
Hollis hing ihren Gedanken nach, ließ die Geschichte, die sie soeben erfahren hatte noch
einmal Revue passieren, während Janis versuchte ihre Fassung wieder zu erlangen. Noch
immer bebten die Hände der Älteren und Hollis strich ihr behutsam über den schmalen
Rücken.
Janis und Ford hatten einander kennengelernt, als er längst verheiratet war. Doch die Ehe
des Mannes war keineswegs glücklich.
Janis hatte keine Details genannt und vielleicht galt diese Information der älteren Frau
auch nur als Gewissenserleichterung. Sie hatten über Jahrzehnte eine Beziehung im
Verborgenen geführt. Einmal im Jahr hatten die Liebenden sich auf den Outer Banks
getroffen und dort einige gemeinsame Wochen verbracht. Ein paar Wochen Urlaub im
Jahr. Unter dem Vorwand die Zeit mit seinem Segelboot auf dem Pamlico Sound zu
verbringen, war Ford in jedem Sommer vom Festland aus hinüber gesegelt, am Steg des
kleinen Hauses in den Dünen hatte er die Dawn of Hope festgemacht und sie hatten
einander wiedergefunden.
„Ich habe immer darauf gewartet, dass einmal der Tag kommen würde, an dem meine
Liebe zu Ford einfach verschwinden würde, aber…“
Ihre Stimme brach erneut. „Es tut mir leid… Ich habe noch nie… noch nie mit jemandem
über Ford gesprochen und… Ich habe gewusst, dass irgendwann der Tag kommen
würde, an dem einer von uns vergeblich auf den anderen wartet. Aber ich habe nicht
gewusst, dass es eine solche Qual sein würde. Vermutlich ist es wirklich nur der irrsinnige
Versuch die Tatsachen zu verleumden, aber… Was ist wenn Ford noch am Leben ist
und… und ich habe nicht mal nach ihm gesucht? Wenn ich ihn einfach allein lassen
würde?“
Hollis spürte wie ihre Augen feucht wurden. Unwillkürlich stellte sie sich ein Leben ohne
Jethro vor. Auch wenn sie ihn immer wieder von sich wies, so musste sie dennoch nicht
auf ihn verzichten. Sie wusste stets wo er war, wie es ihm ging und war sich seiner Liebe
sicher. All seine Bemühungen zeugten von der Liebe zu ihr und sie stieß ihn von sich,
anstatt dankbar für jede Sekunde zu sein. Was war sie nur für eine dumme Gans! Warum
nur legte sie jedes Handeln von ihm derart auf die Goldwaage?
Verstohlen wischte sie sich eine Träne aus dem Augenwinkel und lachte dann atemlos
auf, als sie sah, dass auch Janis unter Tränen grinste.
„Was sind wir nur für alberne Weibsbilder!“ Lachte Janis atemlos und mit erstickter
Stimme. „Haben… haben Sie etwas dagegen, wenn ich uns ein Glas Sekt bestelle, Hollis?
Ich… ich muss dringend meine Nerven beruhigen.“
Mit einem schiefen Lächeln hakte Hollis sich bei der Älteren unter.
Wenig später standen zwei Gläser vor den beiden Frauen. Sie prosteten einander zu und
tranken einen winzigen Schluck der prickelnden Flüssigkeit.
„Darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen?“ Ergriff die ältere Frau erneut das Wort.
„Ja, natürlich!“
„Sie scheinen ziemlich aufgewühlt und das nicht nur wegen dem was ich Ihnen erzählt
habe. Avon ist ein winziger Ort und es fliegen einem allerhand Gerüchte zu. Jedenfalls
habe ich gehört, dass ihr Lebensgefährte sehr krank ist und… Nun ja, es wurde
gemunkelt, dass ihre Tante das Sandcastle geschlossen hat, um Sie hier her nach DC
begleiten zu können… Um Ihnen beizustehen, weil…“
Amüsiert lachend unterbrach die blonde Frau ihre Gegenüber. „Nein, da war Nora Miller
auf dem ganz falschen Dampfer. Oder haben Sie mit Hetty Georgius gesprochen?“
Janis schlug sich eine Hand vor den Mund und errötete leicht. „Beide…“ Sie schlug die
Augen nieder und lächelte verlegen. „Sie sehen einfach heute Morgen sehr
mitgenommen aus, Hollis, und… Meine Fantasie geht gelegentlich mit mir durch.
Entschuldigung!“
„Keine Problem, Janis.“ Hollis griff über den Tisch nach der Hand der Älteren. „Nein, wir
sind aus einem schönen Anlass hier in DC. Kennen Sie Amy Milano? Ihr Mann Ennis hat
seine Grundausbildung bei den Marines hinter sich gebracht und Morgen wird er feierlich
vereidigt. Es gab großen Streit zwischen den McNeils, Amys Familie und den Milanos. Tja,
und wie es aussieht haben wir eindeutig Partei ergriffen. Etwas das meine Tante nie tun
wollte…“ Hollis seufzte mit einem leichten Schulter zucken. „Amy lebt und arbeitet mit
ihrer kleinen Tochter im Sandcastle. Sie gehören zur Familie, sie alle drei. Das ist alles,
deshalb sind wir hier… Und weil wir alle mal eine Pause brauchten. Das letzte halbe
Jahr… Es stimmt schon, Jethro ist sehr schwer verletzt wurden. Er war… ist auch
Bundesagent, allerdings arbeitet er für die Navy. Im Januar ist auf ihn geschossen wurden
und Anfang Mai hatte er als Folge davon eine schwere Lungenembolie.“
Sie schwieg einen Moment und trank einen Schluck von ihrem Sekt. „Und dann noch der
Unfall auf der Oregon Inlet… Die Eltern von Gwyn und Taylor sind dabei ums Leben
gekommen… Wir brauchten alle eine Auszeit. Natürlich gibt es finanzielle Einbußen,
wenn wir mitten in der Saison einfach eine Woche schließen, aber das ist immer noch
besser, als eine nächste Katastrophe. Meg und Jackson sind nicht mehr die Jüngsten und
die letzten Monate haben ihnen reichlich zugesetzt.“
Janis strich der Blonden über den Arm. Der Kummer hatte sich tief in Hollis hübsche
Gesichtszüge gegraben und Janis glaubte ihre Erschöpfung spüren zu können.
„Nach einer so schweren Zeit müssen Sie froh sein, um jede Sekunde, die Sie mit Ihrem
Partner verbringen können. Es tut mir leid, dass ich Sie nun mit meinen Sorgen belästige
und Sie um Ihre kostbaren gemeinsamen Stunden bringe.“
Betrübt schüttelte Hollis den Kopf. Janis hatte recht! Warum war sie nicht einfach
dankbar dafür, dass Jethro am Leben war? Warum konnte sie nicht einfach über seine
Macken hinwegsehen? „Sie halten mich nicht von ihm fern, das tue ich schon selbst.“
Verbitterung schwang in ihrer Stimme mit. „Er hat mich weggeschickt und ich bin
gegangen und nun… Himmel, Janis, ich weiß es auch nicht… Er bemüht sich so sehr um
eine Versöhnung, aber ich kann ihn nicht einfach so wieder in die Arme schließen und da
weiter machen wo es geendet hat! Jethro hat mir nicht vertraut und nun… Es kostet alles
doch schon genug Kraft – die große Pension, die Kinder, Amys Sorgen wegen der
Familienstreitigkeiten… Ich fürchte mich einfach vor noch mehr Ballast.“
Hollis biss sich gedanklich auf die Zunge. Was hatte sie dazu bewogen sich der beinahe
fremden Frau so zu offenbaren? Andererseits tat es gut mit jemandem reden zu können,
der nicht bis zur Halskrause mit drin steckte in dem Schlamassel. Es tat ihr gut, in Janis
ruhige Augen zu schauen, ihre Hand auf der eigenen zu spüren. Sie hatte schon lange
keine Freundin mehr gehabt, der sie sich so anvertraut hat. Vermutlich war Janis schon
längst keine Fremde mehr…
„Denken Sie wirklich, dass auch Jethro an ihrer Energie zehren wird? Meinen Sie nicht,
dass er Ihnen ganz im Gegenteil viel Kraft geben würde? Vielleicht wird vieles einfacher,
mit einer starken Schulter zum anlehnen, hm?“ Janis lächelte Kopfschüttelnd. „Ich sollte
keine Ratschläge erteilen, Hollis. Das war nicht meine Absicht. Aber Sie scheinen heute so
traurig…“
„Lassen… Lassen Sie uns das Thema wechseln, Janis! Bitte…“ Hollis holte tief Luft und
versuchte die bohrende und stechende Emotionsvielfalt wieder unter Kontrolle zu
bringen. „Wie kann ich Ihnen denn nun helfen, Janis? Sie haben mich doch sicherlich nicht
um ein Treffen gebeten, nur um sich den emotionalen Abfall von der Seele zu reden.“
Die Malerin lachte leise auf und holte ein kleines Heft mit allerhand Notizen hervor. „Nein,
obwohl es irgendwie eine reinigende Wirkung hat, oder?
Ich habe hier alles notiert, was ich über Ford weiß. Es ist nicht viel, wenn man bedenkt,
dass er der Mittelpunkt meines Lebens war. Aber wir hielten es beide für besser nicht
allzu viele Details aus dem Leben des anderen zu wissen. Es gab Jahre in denen wusste ich
nicht einmal in welcher Stadt er gelebt hat. Der Stammsitz seiner väterlichen Reederei
war in Gloucester, dort hat die Familie gelebt, bis der älteste Sohn die Geschäfte
übernommen hat. Frederick Campbell, doch dieser hat die Reederei verkauft. Ich weiß,
dass Ford mir erzählt hat, was sein Sohn danach gemacht hat… aber ich kann es einfach
nicht erinnern. Verflixt!“
Sie trank einen weiteren Schuck, während Hollis ihr aufmerksam lauschte und gedanklich
begann die Informationen zu ordnen.
„Zuletzt hatte die Familie in Mount Holly, North Carolina gelebt. Das liegt in der Nähe von
Charlotte, am Mount Island Lake. Ich habe versucht telefonisch etwas über den Verbleib
der Campbells herauszufinden, aber man sagte mir nur, dass sie 2008 die Stadt verlassen
haben und im Register nichts über ihren Verbleib zu finden ist.“
Hollis nickte und warf einen Blick auf Janis Notizen. „Wann haben Sie Ford denn zuletzt
gesehen?“
„Das war im Sommer 2009. Und nein, er hat keinen Umzug erwähnt.“
Wieder nickte die Blonde und zog das kleine Heft mit den ordentlich notierten Daten zu
sich. „Sie wollen herausfinden, was aus ihm geworden ist, ja?“
Janis nickte und Hollis erkannte das Hoffnungsvolle Funkeln in ihren wachen Augen. „Ja,
Hollis. Selbst wenn ich nur herausfinde, dass Ford gestorben ist, aber… Ich brauche
Gewissheit. Ich bin das Warten so leid…“
Kapitel 16
Gibbs zog sich ein T-Shirt über den Kopf, das sofort an seiner, noch vom Duschen,
feuchten Haut klebte und schaute sich suchend in seinem Badezimmer um. Er
schmunzelte, als sein Blick über das ganze Zeug glitt, dass seine Mädchen hier verteilt
hatten. So viele weibliche Spuren hatte es schon lange nicht mehr in seinem Haus
gegeben, von Babypflegeartikeln ganz zu schweigen.
Er griff nach einem kleinen Handtuch und wischte damit über den beschlagenen Spiegel.
Es war so schwül draußen, dass ein geöffnetes Fenster der Feuchtigkeit im Bad nichts
anhaben konnte. Sekundenlang betrachtete der Grauhaarige sein Spiegelbild. Er selbst
fand kaum noch Spuren von Krankheit und Schwäche in seinen Zügen. Seine Gesichtshaut
war sonnengebräunt und die Lachfalten überwogen erstaunlicherweise. Allerdings hatte
er eine Rasur bitter nötig. Graue, an manchen Stellen sogar weiße Stoppel bedeckten sein
Kinn und die Wangen, und ließen den Chefermittler beinahe furchteinflößend wirken.
„Wie ein Landstreicher.“ kam es Gibbs in den Sinn, und ohne zu zögern fischte er sein
Rasierzeug zwischen den Tagescremes und Gesichtswässerchen hervor.
Während er sein Werk nach der Rasur begutachtete, ertönte das Geräusch laufender
Kinderfüße auf der Treppe und weiter die Holzdielen im Obergeschoss entlang. Taylor
lachte quietschend vor Vergnügen, während Gwyn scheinbar hinter ihm her rannte und
ihn mit allen möglichen Flüchen belegte.
„Gwynni ist verliebt! Ohhh, Nathan, dein Motorrad ist ja cool. Baby, das ist eine 125er…
Aaaahhhh!!!“
„Wenn du nicht gleich deine vorlaute Klappe hältst, du kleiner Scheißer, dann…“
Mit einem schallenden Lachen öffnete Jethro die Badezimmertür. Taylor, der gerade vor
Gwyn Reißaus nehmen wollte, prallte gegen den Grauhaarigen und landete auf dem
Hintern. Noch immer lachend stellte Jethro sich vor den Jungen und schützte ihn vor
seiner Schwester, die mit hochrotem Kopf auf ihren Bruder losgehen wollte.
„Nathan? Ist das nicht der Junge von Fred und Mary Jensen? Ist der nicht noch…“ Gibbs
runzelte die Stirn und hielt die Hand in die Höhe um die mutmaßliche Größe des Jungen
anzuzeigen.
„Er ist 18, Gibbs!“ fauchte Gwyn und ihr Gesicht färbte sich prompt in ein noch tieferes
Rot.
Jethro zog die Augenbrauen hoch. Seit wann nannte sie ihn Gibbs? Sie hatte eindeutig
schon zu viel Zeit mit Abby verbracht! Allerdings… „18?! Er ist zwei Jahre älter als du,
Gwyn! Ich bin vielleicht nicht in Topform, aber wenn der Bengel dich anrührt, dann kann
es sein, dass ich vergesse was für ein netter Junge er ist! Oder jedenfalls war, als er noch
klein und niedlich gewesen ist. Und ein Motorrad hat er auch?“
Die Jugendliche stöhnte genervt auf und rollte mit den Augen. „Krieg du erst mal dein
Liebesleben auf die Reihe, dann schauen wir mal ob ich mir von dir irgendwelche
Vorschriften machen lasse!“ Mit einem Schnauben wandte sie sich ab, verschwand in
ihrem Zimmer und schmiss mit Wucht die Tür ins Schloss.
Jethro schnappte nach Luft und schaute der Pubertierenden völlig überrumpelt
hinterher. „Was war das?“
Taylor saß am Boden und kringelte sich vor Lachen. „Ach, das ist ganz normal. Das war
mit Daddy auch immer so.“ Der kleine Kerl grinste breit.
Jethro reichte dem Jungen eine Hand und zog ihn auf die Beine. Es tat gut zu sehen, dass
er sich mit den neuen Begebenheiten so gut arrangiert hatte. Gibbs war froh, dass es
Taylor bereits jetzt gelang, sich fröhlich an seine Eltern zu erinnern. Die Abende an denen
er weinend in seinem Bett lag gab es noch immer, aber dazwischen erfüllte sein
ausgelassenes Lachen das Haus.
„Na gut, dann lassen wir sie einfach bisschen schmollen. Aber wir behalten dieses
Techtelmechtel mit dem Nachbarbengel im Auge. Abgemacht, Kumpel?!“
Ty nickte mit gewichtiger Miene. „Jetzt muss ich wieder raus gehen. Amy braucht meine
Hilfe. Ich soll den Grill für Morgen schrubben!“
„Alles klar. Ich komme gleich und helfe Dir.“
Doch der blonde Junge schüttelte energisch den Kopf. „Auf gar keinen Fall! Amy hat
gesagt, dass sie dich notfalls ans Sofa bindet! Du sollst Pause machen. Sie sagt, dass die
Gartenarbeit für heute für dich beendet ist! Du darfst aber einkaufen gehen, meint sie.
Steaks für Morgen.“
Jethro lachte amüsiert auf. „So? Sagt sie das? Und ich dachte immer es gäbe nur einen
Colonel in der Familie…“
Während Taylor die Treppe wieder hinunter wirbelte, ging Jethro in sein Schlafzimmer,
um sich vollständig anzuziehen. Er tauschte die weite Jogginghose mit einer Jeans und
das einfache T-Shirt gegen ein Poloshirt.
Mit einem Seufzen ließ er sich auf die Bettkante sinken. Es hatte Spaß gemacht mit Amy
und den Kindern den Morgen im Garten zu verbringen. Sein Grundstück war vollkommen
verwildert gewesen, das Unkraut hatte eindeutig die Herrschaft errungen. Doch sie
hatten es am Morgen erfolgreich bekämpft. Allerdings spürte Jethro die Arbeit in jedem
Knochen. Er streckte sich lang auf dem Bett aus und verschränkte die Arme hinter dem
Kopf.
Seine Gedanken glitten zurück zu seinem letzten Fall. Eine Nachricht von Tony hatte den
Silberfuchs in der Nacht aus dem Schlaf gerissen. Cilla Hartnett war am Leben. Sie würde
noch eine Weile im Krankenhaus bleiben müssen, aber sie würde wieder ganz gesund
werden. Für die anderen Kinder kam alle Hilfe zu spät. Jethro kannte keine Details, er
wusste nicht, was der psychopathische Wahnsinnige ihnen angetan hatte und er war sich
auch nicht sicher, ob er es wirklich wissen wollte.
Er verdrängte den Gedanken an die verwaisten Eltern der Mädchen und konzentrierte
sich auf die fröhlichen Stimmen, die aus dem Garten her zu ihm herauf klangen. So wie es
sich anhörte waren Meg und Jackson hergekommen. Hoffnungsvoll lauschte der
Silberfuchs. Er hoffte auch Hollis Stimme ausmachen zu können, doch sie war
anscheinend nicht dabei. Es versetzte ihm einen Stich.
Mühsam rappelte er sich auf und fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht. Er würde
seinen alten Dodge heute Nachmittag einmal genauer unter die Lupe nehmen. Der
Wagen hatte lange gestanden, aber vielleicht sprang er ja an. Dann würde er ein wenig
mit ihm herumfahren und konnte auch gleich noch die Einkäufe erledigen.
So sehr er es genoss, dass es in seinem Haus wieder so lebendig zuging… Jetzt brauchte
er ein wenig Ruhe und Zeit mit sich allein.
Nachdem Hollis noch einige Stunden in dem weitläufigen Garten des kleinen Cafes in
Brandywine verbracht hatte, war der Weg zurück nach DC nun wie eine Reise in eine
andere Welt. Der Lärm und die schlechte Luft verursachten ihr Kopfweh, aber vermutlich
lag es nicht nur daran, sondern auch an dem viel zu winzigen Bildschirm von Janis
Netbook.
Hollis hatte selbst noch einmal mit der Stadtverwaltung von Fords letzen bekannten
Heimatort gesprochen, doch auch sie war nicht weitergekommen. Allerdings hatte die
Frau am Telefon einen Unfall erwähnt, der etwas mit dem Umzug der Familie zu tun
haben könnte. Doch auch weitere Nachfragen hatten keine Details ans Licht gefördert.
Nun wartete Hollis auf eine Antwort der Redaktion der Charlotte Post, da die regionalen
Nachrichten lediglich ein Jahr lang online abrufbar waren. Sie hoffte über Zeitungsartikel
aus dem Zeitraum vor zwei Jahren, irgendwelche neuen Vorinformationen zu bekommen.
Doch am besten wäre es wohl sich selbst auf dem Weg nach Charlotte zu machen.
Jedenfalls würde sie darüber nachdenken. Ein Gespräch mit alten Nachbarn brachte einen
häufig weiter.
Sie hatte beinahe das Viertel erreicht in dem das kleine Hotel sich befand, in dem Hollis,
Meg und Jackson für ihren Aufenthalt in DC untergebracht waren, als sie auf den
nächsten Stau zusteuerte. Sie hatte die Großstadt so satt. Fluchend hielt sie in der Reihe
der Fahrzeuge und griff in ihre Handtasche.
Sie hatte sich schon den ganzen Tag bei niemandem gemeldet, allerdings war sie sich
sicher, dass Meg ihr für heute den Rücken frei halten würde. Ihre Tante war am späten
Abend des vergangenen Tages noch in ihr Hotelzimmer gekommen und hatte sie
schlaflos angetroffen. Gemeinsam hatten sie eine Weile geschwiegen, bis Meg sich
schließlich erhoben hatte. „Ich glaube nicht, dass er es getan hat um dich zu kränken,
Holly.“
Was hätte Meg auch sagen sollen?
Mit einem Seufzen schaltete Hollis ihr Handy ein und ignorierte die Benachrichtigung der
Mailbox. Sie wählte die Nummer ihrer Tante. Megs Stimme war nur ein Flüstern, als sie
das Gespräch annahm. „ Jackson schläft, Holly. Was gibt es denn?“
Hollis spürte wie ihr Herz schneller schlug. Sie wartete beinahe unwillkürlich auf die
nächste Katastrophe. Die letzten Wochen waren einfach zu ruhig gewesen. „Ist alles in
Ordnung, Meg? Ist Jack krank?“
„Nein, nein, Kleines.“ Die Stimme ihrer Tante wurde weicher – ein Lächeln lag darin. „Wir
haben Urlaub, Holly.“
Die Blonde lehnte den Kopf gegen die Kopfstütze des Fahrersitzes und atmete tief aus.
„Himmel, Meg… Ich erwarte in jeder Sekunde, dass wieder etwas passiert.“ Sie nahm
ihre Sonnenbrille ab und legte sich für einen Moment den Unterarm über die Augen. „Ich
wollte eigentlich nur hören ob alles in Ordnung ist?“
„Natürlich ist alles in Ordnung bei uns, mein Schatz.“ Meg holte hörbar Luft und Hollis
ahnte eine Meg-typische Ansprache. „Du stehst vollkommen unter Strom! Ruh dich aus.
Ich weiß ja nicht was du bislang gemacht hast heute, aber sonderlich entspannt klingst du
nicht! Wir haben Urlaub, Holly! Nutz die Zeit um auszuruhen! Die Kinder sind mit Abby und
Tim zum bowlen gefahren. Amy trifft Ennis und Jethro wollte den ganzen Tag mit seinem
Wagen verbringen. In der East Laurel findest du sicher ein schattiges Plätzchen um die
Seele ein wenig baumeln zu lassen, Liebes!“
Das Letzte was Hollis heute noch gebrauchen konnte, war eine Begegnung mit Gibbs! Sie
rollte mit den Augen und ließ ihren Wagen langsam hinter den anderen her rollen.
„Ich weiß, was du denkst!“ Kam Meg ihrer Antwort zuvor. „Aber… Ach, meine Güte,
Hollis! Wenn du wirklich nicht mit ihm sprechen willst, dann verschwindest du sobald sein
Wagen vorfährt! Allerdings halte ich das für…“
„Schon gut, schon gut! Ich… ich werde darüber nachdenken, Meg!“ Es klang verlockend
einfach in das ruhige Haus in dem beschaulichen Stadtteil zu flüchten. Außerdem würden
die Pflanzen in ihrem Kofferraum sicherlich einiges dafür geben an die Sonne zu kommen
und gepflanzt zu werden.
Einer inneren Eingebung folgend, lenkte die Blonde ihren Wagen in Richtung Alexandria.
Meg hatte Recht. Sie konnte gehen wann immer sie wollte!
Langsam fuhr Hollis durch die ruhige, beschauliche East Laurel Street. Verwundert und
nichtsdestotrotz erleichtert stellte sie fest, dass vor Gibbs Haus kein einziges Auto stand.
Sollte sie wirklich das Glück haben sich ganz allein in den schönen verwilderten Garten
zurückziehen zu können?
Die Blonde atmete tief durch. Es war ein bisschen so, als käme sie nach einer langen Reise
nach Hause. Dieses Haus war ihr in zwischen so vertraut, dass sie es richtig gehend
vermisst hatte. Mit einem Lächeln auf den Lippen öffnete sie den Kofferraum und hob
zwei der fünf Blumen hinaus. Erstaunt stellte sie fest, dass jemand den schmalen Pfad,
der vom Vorgarten hinter das Haus führte, von Unkraut befreit hatte. Keine
tiefhängenden Äste schlugen einem mehr ins Gesicht und sogar die Hauswand schien
vom Grün, das die Zweige der wuchernden Büsche hinterlassen hatten, befreit worden zu
sein.
Neben der Terrasse stand eine alte Zinkwanne. Unwillkürlich fragte Hollis sich, ob diese
da schon immer gestanden hatte. Verwundert schaute sie sich um. Sie hatte erwartet erst
einmal in einem der Beete einen kompletten Kahlschlag machen zu müssen, aber hier
schienen eindeutig die Heinzelmännchen am Werk gewesen zu sein.
Schmunzelnd drehte sie die robuste Wanne um und legte das Ende des Gartenschlauches
hinein. Die freundliche Gärtnerin, dessen Namen Hollis schon wieder vergessen hatte, war
der Meinung, dass es den Pflanzen helfen würde sich bei diesem Wetter zu
akklimatisieren, wenn sie sich ordentlich mit Wasser vollsaugen könnten, bevor sie in die
Erde kämen.
Nach und nach holte die hübsche Blonde alle Pflanzen aus dem Wagen und gönnte ihren
Wurzeln ein erfrischendes Bad im kühlen Nass. Ihr wurde nur allzu bewusst, dass sie nun
seit Wochen – Monaten? – das erste Mal wieder ganz allein war. Im Sandcastle gab es
immer jemanden, der etwas brauchte oder einfach nur reden wollte. Mit einem Seufzen
schlenderte Hollis durch den Garten. Die Welt schien gut verborgen hinter den hoch
aufgeschossenen Bäumen, Büschen und Sträuchern. Mit einem Lächeln blieb sie vor dem
Rosenbeet stehen, das bei Jethro einen besonderen Stellenwert hatte. Er hatte einmal
angedeutet, dass Shannon es angelegt hatte. Einige der Rosenstöcke waren schon sehr
alt und nahmen einiges an Platz ein. Es war eine wunderschöne verträumte Ecke und
wenn Shannon eine leidenschaftliche Gärtnerin gewesen sein sollte, dann hätte ihr der
Anblick sicherlich das Herz aufgehen lassen.
Eine strahlendweiße Kletterrose hatte einen längst abgestorbenen Baum vollkommen
überwuchert, eine Rose mit tief roten, großen Blüten bot einen wundervollen Kontrast
dazu. In einer verspielten Art, schlängelten sich verschiedene Sorten Bodendeckerrosen,
in Gelb und zartem Rosa, zu Füßen ihrer großen Schwestern. Hollis wusste, dass diese
kleinen, weniger robusten Rosen von Jethro immer wieder erneuert wurden waren. Erst
im letzten Herbst hatten sie diese Pflanzen gemeinsam ausgesucht. Nur eine Ecke schien
verwaist. Das kraftvolle Aprikot, das im letzten Sommer das Farbspiel vervollständigt
hatte fehlte. Vorsichtig setzte Hollis einen Fuß in das Beet, um den schienbar leblosen
Rest der Pflanze genauer zu untersuchen.
Schulterzuckend verließ sie das Beet und wandte sich dem kleinen, unter allerhand Efeu,
gut verborgenem Gerätehäuschen zu. Sie griff nach Schaufel und Spaten und begann
damit vorsichtig die Erde vor dem kümmerlichen Rosenstock zu lockern. Sie würde ihn
nicht ausgraben. Vielleicht geschah ja ein Wunder und die Pflanze erholte sich noch
einmal. Zudem wollte sie nichts aus dem Garten entfernen, das vielleicht für Jethro eine
tiefere Bedeutung hatte. Wer weiß… Vielleicht hatte er seiner Frau diese Rose vor langer
Zeit geschenkt und nun…
Hollis stockte, als sie auf einen harten Widerstand in der weichen Erde traf. Sie schaufelte
die dunkle Erde an die Seite und runzelte die Stirn, als eine kleine Blechkiste zum
Vorschien kam.
Kapitel 17
Hollis war sich nicht sicher was genau sie dort ausgegraben hatte. Sie konnte nicht einmal
recht einschätzen ob die kleine Box dort mit Absicht platziert worden, oder ob sie
versehentlich in dem Beet gelandet war. Unschlüssig, was sie mit ihrem Fundstück
anstellen sollte, hatte Hollis es mitsamt der neuen Rose vor das Beet gestellt. Sie würde
eine Weile abwarten und vorerst die Anemonen pflanzen. Sie fand ein hübsches,
schattiges Plätzchen, dem es eindeutig an Farbe fehlte.
Nachdem sie mit ihrem Werk zufrieden war verließ sie den Garten und betrat das stille,
große Haus durch die Vordertür. Noch immer hängte der Schlüssel zu Gibbs Haus wie
selbstverständlich an ihrem Schlüsselbund.
Lächelnd betrachtete sie das geordnete Chaos, das in einem lebendigen Heim
unweigerlich herrschte. Es war schön so viel Leben hier zu spüren.
Auf dem Esstisch stand Amys Laptop. Da Hollis sich sicher war, dass die Jüngere nichts
dagegen haben würde, nahm sie ihn kurz entschlossen mit hinaus auf die Terrasse, wo
auch ihre Tasche stand, in der die Notizen und ein USB-Stick mit weiteren Informationen
zu Ford, lag.
Ein schwülwarmer Windhauch glitt über die hübsche Blonde hinweg, während sie sich
Notizen auf einem kleinen Block machte und versuchte die einzelnen Puzzleteile zu einem
Ganzen zusammenzufügen. Endlich hatte sie auch eine Antwort auf ihre Archiv-Anfrage
bei der Zeitung bekommen. Einer der Mitarbeiter hatte ihr die PDFs der zeitlich
entsprechenden Artikel zukommen lassen.
Voller Tatendrang stürzte die ehemalige Agentin sich auf die Artikel und überflog Seite
um Seite. Mit so viel Material hatte sie nicht gerechnet und nach einer halben Stunde des
Starrens auf den Bildschirm fingen ihre Augen an zu brennen. Sie lehnte sich zurück und
fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht.
Allmählich zog der Abend auf und brachte schwere Wolkentürme mit sich. Es war noch
immer unangenehm schwül und mittlerweile wirkte die Luft zäh und feucht. Kein
Windhauch schien mehr Erleichterung zu bringen.
Barfuß ging Hollis über die warmen Holzdielen und betrat die Küche. Mit einem leisen
Seufzen öffnete sie den Kühlschrank und griff nach der Wasserflasche, die in der Tür
stand. Einer Eingebung folgend öffnete sie das Eisfach des Kühlschrankes. Ein breites
Grinsen machte sich auf ihrem Gesicht breit. Eiscreme in allen Varianten. Sie wusste doch,
dass auf Amy Verlass war!
Mit einem Becher Fruchteis und einem Löffel bewaffnet, wandte sie sich wieder der
geöffneten Tür zu, wobei ihr Blick auf Jethros Lesebrille fiel, die auf einem schmalen
Regal, auf einem Stapel Papieren, lag. Neugierig schaute sie auf die verschiedenen
Tabellen und handschriftlichen Rechnungen. Sie hatte nicht den leisesten Schimmer was
Jethro sich dort notiert hatte, auf den ersten Blick sah es aus wie ein Finanzierungsplan,
doch sie hatte nicht das Recht einfach in seinen Unterlagen zu schnüffeln.
Seine Lesebrille jedoch… Die würde sie sich ausleihen. Es war schließlich niemand hier,
der ihre kleine körperliche Schwäche erleben konnte.
Obwohl Jethro die Fenster seines Dodge weit geöffnet hatte, war die Hitze in dem Wagen
beinahe unerträglich geworden. Sein Einkauf hatte länger gedauert als zuvor gedacht und
in der Zeit hatte sich das Auto in einen Backofen verwandelt. Der Schweiß drang ihm aus
jeder Pore und er verfluchte sich selbst, weil er nicht Amys verordnete Pause gehalten
hatte. Die Hitze setzte ihm zu und er war müde. Wobei die Müdigkeit wahrscheinlich
normal war, nach einer durchwachten Nacht.
Er näherte sich seinem Haus und stutzte. Sein Herz schlug hastig in seiner Brust, alle
Erschöpfung war vergessen. Hollis Wagen stand in der Auffahrt!
Leise, als befürchtete er sie zu verscheuchen, wenn er unnötigen Lärm verursachte,
schlich der Silberfuchs durch sein Wohnzimmer. Es war mucksmäuschenstill im Haus.
Doch dann sah er sie, durch die geöffnete Tür, die von der Küche in den Garten führte.
Seine Hollis saß am hölzernen Tisch und schien vertieft in einen Text vor ihr auf Amys
Laptop, während sie vollkommen gedankenversunken Eis von einem Löffel schleckte.
Allein bei dem Anblick ihrer, genüsslich um die Löffelspitze kreisenden Zunge, jagte eine
gewaltige Ladung Blut direkt in die südlicheren Gefilde des Grauhaarigen. Erstaunt über
Hollis Wirkung auf seinen Körper, keuchte er leise und legte eine Hand stützend an den
Türrahmen.
Die Blonde schaute auf und verschluckte sich beinahe an ihrem Eis. Sekundenlang
starrten sie einander einfach nur sprachlos an, dann räusperte sie sich und deutete mit
dem Löffel auf den Bildschirm. „Ich war auf der Suche nach einem ruhigen Plätzchen und
bin hier fündig geworden. Ich verschwinde wieder!“
Die Kälte in ihrer Stimme ließ Gibbs nur allzu schnell seine emotionslose Miene
wiederfinden.
„Du störst mich nicht!“ Er ging zu ihr hinüber und griff nach ihrem Wasserglas. Es war
schließlich sein Wasser! Neugierig beugte er sich über die verstreut herum liegenden
Papiere und entdeckte einen unvollständigen Steckbrief.
„Ford Campbell?“ Er lachte hämisch auf. „Erstellst du ein Profil für einen potentiellen
Lebensgefährten? Gehst du jetzt auf Nummer Sicher?“ Ihre ablehnende Haltung und die
vollkommen aus der Luft gegriffenen Schuldzuweisungen ihm gegenüber in den letzten
Wochen hatten ihn tiefer gekränkt, als erwartet. Und auch hier, hier in seinem Haus,
spielte sie nur wieder die Eisprinzessin und ließ ihn mit ihrer kalten Art auflaufen.
Unwillkürlich hatte er zu einem kleinen Gegenschlag ausgeholt, ungeachtet dessen, dass
er sie möglicherweise erneut verärgern könnte.
Hollis Miene blieb kühl, sie rollte gelangweilt mit den Augen. „Hast du mal einen Blick auf
das Geburtsjahr geworfen? Außerdem war das Profil ja auch schon bei dir ein Schuss in
den Ofen…“
„Ich kann das Geburtsjahr nicht erkennen…“ grollte Jethro mürrisch und überging ihren
letzten Kommentar, auch wenn er einen glühenden Stich hinter lassen hatte. Er war also
der klassische Griff ins Klo für sie gewesen… Gut zu wissen. „Meine Brille wirkt an dir
richtig sexy…“ knurrte er schnaubend und wandte sich ab.
Langsam humpelte er in die Küche um die Einkäufe zu verstauen. Was zum Teufel wollte
sie hier? Ihm nur immer und immer wieder einen Tritt in den Hintern verpassen?
Unwillkürlich wanderte sein Blick wieder hinaus und er sah, dass sie ihren Platz verlassen
hatte. Er trat zur Tür und spähte in den Garten. Als er sie vor dem Rosenbeet entdeckte,
kniff er die Augen zusammen. Sie hockte davor und hielt etwas in der Hand. Der
Grauhaarige schirmte seine Augen mit einer Hand vor der Sonne ab.
Als er erkannte was sie dort in den Händen hielt, stockte ihm zum zweiten Mal an diesem
Tag der Atem. Wenn er sich nicht täuschte hatte sie Kellys Zeitkapsel vor sich.
Zorn wallte glühend heiß in ihm auf. Was fiel Hollis eigentlich ein?!
So schnell sein müder Körper in der Lage war, hastete er über den Rasen. Mit einem
leisen Grollen beugte er sich hinunter zu der im Gras hockenden Frau und entriss ihr die
kleine Lunchbox.
„Was denkst du was du hier tust, Hollis?!“ herrschte er sie an, bevor er sich dem
Rosenbeet zuwandte und die kleine Schaufel zur Hand nahm. Mit einem leisen Stöhnen
ließ er sich auf die Knie sinken und begann hastig die bereits gelockerte Erde zur Seite zu
schaufeln.
Er spürte Hollis entsetzten Blick auf sich, hörte ihre unausgesprochenen Fragen überlaut
durch seinen Kopf hallen. Das hier ging sie nichts an. Niemand hatte das Recht Kellys
Geheimnisse zu verraten!
In den Stunden, in denen sie vor Sehnsucht nach ihm beinahe verging waren diese
schwierigen Momente, in denen er sich vollkommen vor ihr zurück zog, wie vergessen
gewesen. Doch hier, in diesem Augenblick, in dem sie wieder Kopf über in eine von
Jethros Tabuzonen gestürzt war, da fielen ihr die unzähligen Momente ein in denen es
beinahe unmöglich gewesen war das Richtige zu tun. Sie fürchtete diesen harten,
bitteren Ausdruck in seinen Augen, wusste sie doch nur zu genau, dass er sich nun wieder
zurückziehen würde.
Jethro Gibbs ließ es nicht zu, dass jemand seinen Seelenqualen zu nahe kam. Er würde
keinen Trost und keine Entschuldigung akzeptieren. Die Mauern, die er um sich errichtete,
waren zermürbend.
Allmählich fiel die erschrockene Starre von Hollis ab. Es würde
keinen Sinn haben hier zu bleiben. Vermutlich würde er als nächstes in seinem Keller
verschwinden und sie wie Luft behandeln. Eine eiskalte Faust schloss sich um ihr Herz.
Dieses Verhalten hatte sie schon so oft, so tief verletzt. Die Blonde warf dem
Grauhaarigen einen letzten Blick zu und wandte sich dann langsam ab.
Während dieser Sturm von Emotionen noch in ihm tobte, spürte der Grauhaarige, dass er
vollkommen irrational handelte. Was tat er hier? Warum fiel es ihm so schwer sich zu
erklären? Ihm war die neue Rose aufgefallen, die vor dem Beet in einem Plastikkübel
stand. Ihre Blüte glich der, die er zu Kellys Geburt gepflanzt hatte und sie duftete herrlich.
Wie es schien hatte Hollis längst bemerkt, dass eine Rose im Beet fehlte. Und sie war so
aufmerksam gewesen eine neue zu besorgen.
Gibbs wusste, dass Hollis Sturheit seiner in nichts nachstand. Warum machten sie
einander nur so sehr das Leben schwer?
Ohne sich dessen bewusst zu sein, hatte der Silberfuchs einen hilflosen und
unartikulierten Laut von sich gegeben. Hollis schaute unwillkürlich zurück. Er wirkte so
verloren dort zwischen den Rosen. Wie schwer musste es für diesen stolzen Mann sein,
sich ihr und allen anderen so geschwächt zu zeigen? Warum konnte sie seine Fehltritte
nicht einfach tolerieren und ihn für seine Tapferkeit und seine Stärke bewundern?
Noch immer hockte der Grauhaarige reglos in der dunkeln Erde, den Blick unverwandt auf
die kleine Box gerichtet. Dass ihr Fund ihn so in Rage brachte, hatte sie nicht ahnen
können und auf keinen Fall erwartet.
Sie gab sich einen Ruck, wappnete sich innerlich davor von ihm nur wieder Ablehnung zu
erfahren.
„Jethro?“ Ihre Hand legte sich sanft auf seine Schulter und erst jetzt bemerkte der
ehemalige Agent, dass er schon seit einer Weile reglos in dem Beet zwischen den Rosen
hocke, den Blick fest auf Kellys kleinen Schatz geheftet, den er noch immer in den
Händen hielt. „Ist alles in Ordnung?“ Die Sorge war ihr deutlich anzuhören.
Mit einem leisen Ächzen kämpfte der Silberfuchs sich aus dem Beet und setzte sich
kurzerhand auf den Rasen davor. Er legte die Arme auf die angewinkelten Knie und
suchte nach einer Erklärung.
„Ich…“ Er hielt Schulterzuckend die kleine Box hoch. „Kelly und ihre Freundin Maddie
haben sie hier vergraben. Vielleicht… ich bin ein wenig zu sentimental, aber… Und die
Rose… Die habe ich zu Kellys Geburt gepflanzt.“ Er ließ den Kopf hängen. Warum musste
es nur immer so schwierig sein?
Hollis seufzte leise. „Dein Leben ist ein Mienenfeld, Jethro.“ Wisperte sie mit bebender
Stimme. Er hatte sie nicht von sich gewiesen und suchte sogar ihren Blick.
Keine Ablehnung, nur eine leise Resignation war in seinem Blick zu erkennen. „Ja, das ist
es wohl.“
Vermutlich würde sie sich wieder einmal zu weit vor wagen, aber diese plötzliche
vertraute Nähe zwischen ihnen, ließ sie alle Vorsicht in den Wind schießen. „Wollen wir
Kellys Schatz wieder vergraben?“
Jethro schaute auf. Hollis hatte den Kopf schief gelegt und lächelte ihn zögernd an. Sie
war so hübsch, so bezaubernd. Er nickte stumm und quälte sich auf die Beine. Sie reichte
ihm eine Hand.
„Geht es dir gut, Jethro?“ Hollis musterte ihn prüfend und verfolgte seine schwerfälligen
Bewegungen forschend.
„Hey! Ich hatte vor acht Wochen eine Lungenembolie… Ich bin ein Held!“ Er schmunzelte
halbherzig, bevor sich wieder dieser müde Ausdruck in seinen Blick stahl. „Ich habe den
halben Tag damit verbracht mit den Mädchen und Ty im Garten zu arbeiten. Ich bin
vermutlich um dreißig Jahre gealtert.“
„Bist du dir sicher, dass du dir nicht zu viel zumutest?“ hakte sie zweifelnd nach und
verbarg ihr Erstaunen über seine Offenheit.
Jethro rollte schnaubend mit den Augen und deutete dann auf das Beet. „Also los! Die
Rose springt nicht von allein ins Beet.“
Hollis salutierte halbherzig, was Jethro mit einem amüsierten Blick quittierte. Hatte sein
Colonel am Ende etwa ihren Humor wiedergefunden?
Erneut hockte er sich in das Beet und grub noch ein wenig mehr Erde aus, sodass ein Loch
entstand in dem die Wurzel der Rose ausreichend Platz finden würde. Vorsichtig ließ
Hollis die Pflanze in das Loch gleiten und fluchte leise, als sie sich an einer der
hinterhältigen Dornen stach.
Behutsam griff Gibbs nach ihrer Hand. Ein kleiner Tropfen Blut glänzte auf ihrer
Fingerkuppe. Jethro fischte ein sauberes Taschentuch aus seiner Hosentasche und tupfte
das Blut weg. Er konnte nicht anders, alles in ihm schrie danach sie nicht loszulassen. Er
wollte wissen ob ihre seidige Haut noch immer wie ein warmer Sommerregen schmeckte.
Mit geschlossenen Augen presste er seine hungrigen Lippen auf die kleine pulsierende
Stelle an ihrem Handgelenk, während seine Finger sich zärtlich mit ihren verschränkten.
Kapitel 18
Hollis erstarrte förmlich. Gibbs Nähe vermochte sie beinahe zu erschlagen, seine
liebevolle Berührung schien ihren Körper zum Glühen zu bringen. Doch sie konnte den
Moment nicht recht genießen, ihre Gedanken rasten. Es stand viel zu viel zwischen ihnen,
als dass sie sich einfach in seine Arme werfen und vergessen konnte. Aber es fühlte sich
so verlockend an. Mit einem Schlag verblasste ihre Enttäuschung, ihre Kraftlosigkeit und
in ihren Gedanken kreisten nur die Erinnerungen an ihre zärtlichsten Momente.
Dieser Mann schaffte es die dunkelsten Gestalten das Fürchten zu lehren und doch
konnte er so liebevoll und sanft sein, dass sie förmlich unter seinen Händen zerfloss.
Sie spürte den Hauch seines schnellen heißen Atems auf ihrem Unterarm und
erschauerte. „Bitte, Jethro…“ wisperte sie, in einem letzten Versuch seinem Charme zu
entwischen und wandte ihre Finger aus den seinen. Sie sah wie er kurz die Augen schloss,
den Kopf hängen ließ, bevor er erneut ihren Blick suchte.
Sekundenlang schauten sie einander stumm an, bevor Hollis nach der Gartenschaufel griff
und mit bebenden Händen die Erde in das Pflanzloch schob. Der hoffnungsvolle Ausdruck
in seinen Augen, die ungewohnte Unsicherheit, hatte sich in ihre Netzhaut gebrannt. Sie
hatte nicht erwartet, dass er sich so schnell zurückziehen würde.
Hollis wandte Gibbs den Rücken zu, während sie darum kämpfte die Fassung zu wahren.
Er sollte nicht sehen, wie sehr er sie aus dem Konzept gebracht hatte.
Sie würde noch die Gartengeräte wegräumen und dann verschwinden. Das hätte sie
schon viel eher machen sollen!
Langsam ging Jethro auf das Haus zu, entfernte sich von Hollis, die diesen kleinen
magischen Moment zwischen ihnen mit einem Fausthieb zerstört hatte. Warum gab sie
ihnen keine Chance mehr? War er denn wirklich so abstoßend? So anstrengend?
Er war doch auf sie zugegangen, hatte ihr nicht den Kopf abgerissen, obwohl sie in
Shannons Garten herumgefuhrwerkt hatte. Wieder hatte er nur sich gedanklich getadelt
für die Unfähigkeit manche Dinge mit Gelassenheit hinzunehmen. Er hatte sich ihr erklärt,
sie nicht vor den Kopf gestoßen und dass obwohl sie einfach in seine Privatsphäre
eingedrungen war.
Doch sobald er ihr zu nahe kam, biss‘ sie um sich wie eine wütende Kobra!
Wenig später hatte Jethro sich seiner verschwitzten Klamotten entledigt und stand unter
der Dusche. Er hatte die Hände gegen die hellen Kacheln gestützt und genoss das Wasser,
das lauwarm über seinen Körper rann.
Wieder verloren sich seine Gedanken an Hollis. Er hoffte, dass sie gehen würde. Dass sie
fort sein würde, wenn er aus der Dusche käme. Der Grauhaarige konnte ohne sie leben,
aber nicht, solange sie in seiner Nähe war. Das hielt er nicht aus – zu groß war seine
Sehnsucht danach sie berühren zu dürfen. Er brauchte ihre Zuneigung, diese
kratzbürstige Art setze ihm zu.
Jethro schaltete das warme Wasser aus, sodass der Strahl nun kalt und prickelnd auf ihn
nieder ging. Er hob den Kopf und ließ das kühle Nass über sein erhitztes Gesicht perlen.
Als er sich einigermaßen erfrischt und gefasst fühlte, schaltete er auch das kalte Wasser
aus und verließ die Duschkabine.
In kurzen Shorts und einem weißen T-Shirt ging Jethro die Treppe hinunter. Durch die
geöffnete Hintertür hörte er ein tiefes Donnergrollen, dicht gefolgt von einem verdutzten
Aufschrei. Hollis war also nicht gefahren. Allerdings hatte ihr spitzer Schrei ihn
aufmerksam gemacht. Eilig lief er hinüber in Richtung Terrasse. Eine kräftige Windböe
wehte ins Haus und ließ die Notizen, die er auf ein Wandregal in der Küche gelegt hatte,
durch den Raum wirbeln. Während er sich ächzend bückte um die einzelnen Blätter
wieder aufzuheben, warf der Silberfuchs einen Blick hinaus, wo Hollis einer ähnlichen
Beschäftigung nachging. Allerdings wirbelten ihre Notizen durch den gesamten Garten
und schienen die ehemalige Ermittlerin necken zu wollen. Jethro folgte dem Schauspiel
schmunzelnd und lehnte sich mit vor der Brust verschränkten Armen in den Türrahmen.
Hollis Blick traf ihn. „Hey! Hilf mir doch mal!“
Mit einem leisen Schnauben stieß er sich vom Türrahmen ab und hob die ersten Blätter
auf, die rund um den kleinen Gartentisch auf dem hölzernen Boden der Terrasse lagen.
Der Wind frischte immer mehr auf. Wie warme Fönluft wehte es durch den Garten.
Stirnrunzelnd schaute Gibbs zu den Bäumen, kleine Blätter und Zweige wirbelten durch
die Luft. In der Ferne grollte der Donner tief und bedrohlich.
Gibbs ging Hollis entgegen und nahm ihr die Blätter ab, damit sie Amys Laptop ins Haus
bringen konnte. Eine kräftige Böe ließ den leeren Eisbecher hochwirbeln und Gibbs
drängte Hollis in Richtung Haus.
„Geh rein, Hol‘. Das scheint ungemütlich zu werden.“ Er musste die Stimme heben, um
gegen den Wind anzukommen, als auch schon die ersten großen Tropfen einen
Regenguss ankündigten. Wo kam nur dieses Wetter so plötzlich her?
Während Hollis ihre Unterlagen auf dem Esstisch verteilte und begann sie zu sortieren,
hastete Gibbs durch das Haus um die Fenster zu schließen. Als er wieder ins Wohnzimmer
kam, stand die blonde CID-Agentin in der Küche und setzte eine Kanne Kaffee auf. Genau
das Richtige, dachte Jethro, während er einen Blick aus dem Fenster warf und feststellte,
dass er sich insgeheim darüber freute, dass Hollis noch da war.
Sein Atem stockte allerdings, als sein Blick auf den gelben Dodge fiel, den er am
Straßenrand abgestellt hatte, da Hollis Wagen die Garageneinfahrt blockierte. „Oh
verdammt!“ knurrte er leise und trat näher ans Fenster. Äste brachen von der großen
Platane, die direkt vor dem Wagen stand, und trafen den empfindlichen Lack. Er atmete
tief durch, einen Lackschaden würde sein Dodge schon überstehen – trotzdem blutete
ihm das Herz, denn der Wagen hatte eine ganz besondere Bedeutung für ihn. Als starker
Hagel einsetzte wandte sich der ehemalige Ermittler allerdings ab.
Hollis stand unschlüssig im Wohnzimmer und folgte seinem Blick. „Oh Wahnsinn! Was für
ein Unwetter!“ murmelte sie leise, während Blitze über die beinahe schwarzen Wolken
zuckten. Jethro nickte nur und ging an ihr vorbei, hinüber zum Esstisch. Er griff nach
seiner Lesebrille und nahm Hollis Notizen zur Hand.
„An was arbeitest du? Ermittelst du etwa?“ Er bemühte sich jeden Sarkasmus aus seiner
Stimme zu verbannen, was ihm allerdings nur mäßig gelang.
Die Blonde seufzte leise und ging in die Küche. „Eine Freundin hat mich gebeten ihr zu
helfen herauszufinden was aus ihrer großen Liebe geworden ist.“
Jethro zog die Augenbrauen hoch. „Und? Ist es kompliziert?“
Hollis kam mit zwei Bechern Kaffee zurück und zuckte mit den Schultern. „Mal sehen. Ich
habe ja erst angefangen. Er ist vor einigen Jahren mit der Familie umgezogen und hat
keinen neuen Wohnsitz angegeben. Aber über seine Sozialversicherungsnummer sollte
sich was herausfinden lassen…“
Gibbs lachte leise. „Und wie willst du an diese Angaben rankommen, Hol? Du bist keine
Agentin mehr und der Mann keiner von den Army-Jungs, oder?!“
„Es gibt auch andere Wege, wenn die mich ins Leere führen kann ich immer noch Abby
oder Tim fragen, ob…“
Ein greller Blitz gefolgt von einem ohrenbetäubenden Donnerschlag ließen Hollis vor
Schreck zusammenzucken. Jethro schaute in Richtung Fenster. „Es hat sicherlich
irgendwo eingeschlagen…“ murmelte er leise.
Mit der Kaffeetasse in der Hand ging der Grauhaarige hinüber zu seinem Sofa und ließ
sich darauf nieder. Mit einem ungenierten Aufstöhnen streckte er sich der Länge nach
darauf aus und schloss die Augen. „Mach es dir gemütlich, bei dem Wetter kannst du
ohnehin nicht vor die Tür gehen!“
An den Sessel gelehnt musterte die Blonde ihn und stellte fest, dass sie eigentlich gar
nicht gehen wollte. Allerdings wollte sie sich dringend ein wenig frisch machen. Ihr
Sommerkleid schien feucht und sie fühlte sich klebrig und verschwitzt. Sie griff nach ihrer
Tasche und wandte sich der Tür zu.
„Ich hole mir ein paar frische Sachen aus dem Schrank, ja?“ fragte sie Irrsinnigerweise.
Denn es waren ja ihre Sachen, die noch in seinem Schlafzimmer lagen. Und dennoch hatte
sie das Gefühl fragen zu müssen, ob es für ihn ok war, wenn sie einfach allein durch sein
Haus ging.
Gibbs öffnete die Augen und musterte Hollis erstaunt. „Das hier ist doch auch dein
Zuhause, Hol‘.“ Erwiderte er ernst und leise.
Sie nickte nur stumm und verließ zögernd den Raum. War es das wirklich? Ihr Zuhause?
War es nicht viel mehr immer noch Shannons Heim? Seufzend verneinte sie diese
Gedankengänge lautlos. Jethro hatte Shannons Spuren verwischt. Er hatte die Kisten mit
ihren Sachen auf den Dachboden geräumt, hatte ihr gemeinsames Bett abgebaut und
allein für sie, Hollis, und sich ein neues gebaut und sie damit überrascht. Gemeinsam
hatten sie die Wände neu gestrichen, neue Teppiche ausgesucht, sogar eines der Bäder
nach Hollis Wünschen gefliest.
Jethro hatte Recht! Es war ihr Zuhause.
Seufzend stellte sie ihre Handtasche auf die weißgetünchte Kommode im Schlafzimmer
und zog sich das Kleid über den Kopf, bevor sie sich auf das Bett sinken ließ. Einen
Moment lang blieb sie so liegen, bis ihr einfiel, dass es vielleicht jetzt ein günstiger
Zeitpunkt war, um ihre Mailbox abzuhören.
Der Sturm ließ die Dachziegel klappern und immer wieder zerriss ohrenbetäubender
Donner die Stille. Mit klopfendem Herzen wählte die ehemalige Agentin ihre Mailbox an.
Jethro Stimme klang traurig und verzweifelt. „Ich hasse es mit einer Maschine sprechen
zu müssen… Hol‘… Ich… Ich habe einen Fehler gemacht, aber ich habe… die Zeit
vergessen. Du kennst doch die Situation in einem Verhörraum… Bitte… Holly! Was soll
ich machen… Ich sollte mich vermutlich einfach… Ach… Was soll’s… Es tut mir leid,
Holly… Wahnsinnig leid…“
Wieder ließ sich die Blonde auf die Bettkante sinken und verbarg das Gesicht in einer
Hand, während sie der zweiten Nachricht lauschte. „Nein!“ Im Gegensatz zur ersten
Nachricht klang Jethro nun wütend und dennoch schien seine Verzweiflung beinahe
greifbar. „Ich habe es nicht nötig, mich zu entschuldigen. Ein kleines, krankes Mädchen ist
von einem Wahnsinnigen entführt wurden. Du hättest genau das Gleiche getan, Hollis!
Ich… Ich habe es satt so von dir behandelt zu werden! Ich bin nicht der größte Bastard
auf Erden! Das bin ich nicht, Hol‘. Verdammt!!“
Langsam ließ sie das Telefon sinken und musste sich eingestehen, dass er Recht hatte. Er
war kein schlechter Mensch und sie konnte verstehen, dass es ihn schmerzen musste von
ihr wie ein Schwerverbrecher behandelt zu werden. Sie kannte sich ja selbst kaum
wieder…
Kapitel 19
Hollis hatte eine verwaschene Jeans und ein sportliches Trägertop in Gibbs Schrank
gefunden. Sie hatte sich kurz abgeduscht und war in die sauberen Sachen geschlüpft. Das
kühle Wasser war eine Wohltat gewesen, außerdem hatte die Blonde so Zeit gehabt, ihre
Gedanken zu ordnen. Langsam stieg sie nun die Stufen hinunter und wandte sich in
Richtung Wohnzimmer. Es würde sicherlich nicht schaden, wenn sie vor Jethro
eingestehen würde, dass sie sich unmöglich benahm.
Sein tiefer, ruhiger Atem verriet ihr allerdings, dass der Grauhaarige tatsächlich
eingeschlafen war. Er hatte erschöpft gewirkt, als sie ihn auf dem Sofa sitzend
zurückgelassen hatte, doch dass er so geschafft war, hatte sie nicht gedacht. Noch immer
versuchte er sich Schwäche nicht zu offensichtlich ansehen zu lassen. Auf dem Tisch lag
eine Schachtel Tabletten, die ihr nur zu deutlich vor Augen führte, dass er einfach nicht
mehr der Alte war.
Sie schob die Medikamente zur Seite und ließ sich auf dem flachen Tisch nieder, der
zwischen Couch und Sessel stand. Mit liebevollem Blick betrachtete sie den schlafenden
Mann. Er wirkte vollkommen gelöst, seine Lippen hatten sich zu einem leichten Lächeln
verzogen. Ein warmes Gefühl durchströmte sie bis in die letzte Faser ihres Körpers. Sie
liebte ihn, zweifellos.
„Du starrst mich an…“ Murmelte er mit schlaftrunkener Stimme, ohne die Augen zu
öffnen.
Sie lächelte sanft und noch bevor sie es verhindern konnte verließen die Worte ihre Kehle.
„Ich liebe Dich…“
Er riss die Augen auf und starrte sie ungläubig an. Der Silberfuchs war selten sprachlos,
doch nun fand er keine Worte um irgendetwas zu entgegnen. Hatte sie das ernst
gemeint? Er hatte nicht mehr daran geglaubt diese Worte noch einmal von ihr zu hören.
Hoffnung keimte erneut in ihm auf, doch er traute sich nicht, eine Reaktion zu zeigen.
Die Worte waren Hollis einfach so entwischt. Der Gedanke hatte sie hinterrücks
überfallen und war unwillkürlich laut geworden. Nun konnte sie die Flucht ergreifen und
alles noch komplizierter machen, oder sie blieb und ging das Wagnis ein…
Hollis schloss einen Moment lang die Augen und atmete tief durch. Ohne ihm in die
Augen zu schauen, griff sie nach seiner Hand und hielt sie einfach schweigend in der
ihren. Sanft strich sie über die weiche Haut seines Handrückens und konnte nicht
verhindern, dass ihr die Tränen in die Augen stiegen. Sie würde ihm eine Erklärung liefern
müssen…
Gibbs setzte sich auf, sodass sie einander direkt gegenüber saßen, ihre Knie zwischen
seinen. Zögernd hob er die zweite Hand und strich ihr mit einem Finger über den Arm.
„Hol‘…“, wisperte er, doch sie hob eine Hand und deutete ihm an still zu sein.
„Ich… Du hattest… ich weiß nicht genau… Ich habe vor dem Schwesternzimmer der
Intensivstation gestanden und… der Herzalarm ging los und ich wusste, dass es dein Bett
sein würde, zu dem plötzlich alle rannten. Ich dachte, ich würde durchdrehen. Ich dachte,
ich würde dich verlieren. Dann durfte ich kurz zu dir und du bekamst keine Luft… Blut lief
aus deinem Mund und…“
Hollis schüttelte den Kopf und wartete darauf, dass sie ihre Stimme wieder unter
Kontrolle kriegen würde. Sie hatte mit niemandem über diese Dinge gesprochen, nicht
einmal mit Meg. Doch diese Erinnerungen quälten sie noch heute. Wenn sie es tatsächlich
schaffte einzuschlafen, dann verfolgten sie diese Bilder.
„Ich durfte nicht bei dir bleiben… Jack hat mich gefunden, wir wollten irgendwo
hingehen… Ich weiß nicht mehr genau wohin. Wir haben uns in den Gängen verirrt und
plötzlich schoben sie ein Bett an uns vorbei, in dem lag unser kleiner Ty… Er sah so
verloren aus… Ganz allein…Er hat Jack gesehen und sich an ihn geklammert. Sie haben
uns gesagt, dass Eric und Nora…“
Ein leises Schluchzen stieg in ihr auf, während sie sich an Jethros Hände klammerte. Das
Gesicht des Grauhaarigen verriet kaum Emotionen, doch das hatte sie auch nicht
erwartet. „Gwyn lag auf der Intensivstation und wir haben Taylor sagen müssen, dass
seine Eltern tot sind… Einer von uns war immer bei den Kindern – Tag und Nacht. Und
nebenher musste das Sandcastle weiterlaufen und die Sozialarbeiterin… Du kennst sie
mittlerweile, aber… Sie wollten die Kinder erst nicht bei uns lassen, sondern eine
Pflegefamilie suchen…
Und ich war so müde… Ich wollte mir nur einen Kaffee holen, nur einen Kaffee und
dann… John Thaler… Er ist Großvater geworden und hat vor lauter Freude… Er hat mich
geküsst und du hast es gesehen…“
Sie kniff die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. „Ich habe es nicht gewollt,
Jethro. Ich hätte dir nie wehgetan, nie den Willen und die Energie gehabt um so etwas zu
tun.
Die Stunden bei dir waren meine Auszeit. Ich konnte alle anderen Probleme vor der Tür
lassen und einfach bei dir sein – Kraft tanken für die nächsten Stunden und dann… dann
hast du mir diese Auszeit genommen.“ Verbitterung schwang in ihrer Stimme mit.
Stumm hielten sie sich an den Händen.
Jethro kannte diese Details nicht, woher auch. Für ihn lag diese Zeit hinter einem grauen
Schleier. Er war so vollgepumpt gewesen mit Medikamenten, dass er kaum etwas von
dem mitbekommen hatte, was um ihn herum vor sich ging. Er hatte geahnt, dass die Tage
und Wochen die hinter ihnen lagen für alle ein hartes Los gewesen waren, doch von Hollis
zu hören, welch ein Schreckensszenario es wirklich gewesen war, hinterließ ein
beklemmendes Gefühl bei ihm.
Und dennoch schien es nur richtig, wenn er auch sein Verhalten erklären würde.
„Dieser Mediziner von der Intensiv hatte mir gerade gesagt, dass ich nie wieder als Field
Agent würde arbeiten können. Das hat mich einfach hinterrücks überfallen. Eigentlich war
das nur ein logischer Schluss, aber ich wollte es nicht wahrhaben. Ich wollte nicht alt und
nutzlos sein. Außerdem haben mich diese Schmerzen in meinem Bein wahnsinnig
gemacht. Ich habe einfach Rot gesehen. Ich wollte nur, dass du da bist… Mir sagst dass
alles gut wird.“ Der Grauhaarige schluckte schwer und zog ihre Hand an seinen Mund.
Sanft küsste er ihre schlanken Finger. „Und dann habe ich dich gesehen. Dich und
diesen… Ich dachte, du hättest dich mit ihm getroffen, du warst schon mehr als eine
Stunde zuvor gegangen. Ich wusste ja nichts von Gwyn und Taylor. Ich dachte, es würde
mich umbringen…“ Gibbs presste seine Stirn gegen ihre in einander verschränkten Hände
und rang um Fassung.
Als er aufsah bemerkte Hollis durch ihren eigenen Tränenschleier ein verräterisches
Schimmern in seinen Augen. Ohne zu zögern ließ sie sich in seine Arme sinken. Gibbs zog
sie an sich, sodass sie auf seinem Schoß saß und sich fest an ihn schmiegen konnte. Mit
einem erstickten, leisen Laut grub er eine Hand in ihre seidigen Haare und suchte mit
seinen Lippen ihren süßen Mund.
Hollis schmeckte die salzigen Tränen auf seinen Lippen, ihre oder seine, das mochte sie
nicht zu sagen. Doch es fühlte sich an wie eine Erlösung in seinen Armen weinen zu
können und Trost zu erfahren. Immer inniger wurden ihre Küsse, während ihrer beider
Atem hastig und holprig ging. Noch immer tobte der Sturm vor den Fenstern und in ihren
Herzen.
Atemlos löste Jethro sich von ihr, legte seine Stirn an ihre, seine Hand an ihre Wange. „Ich
will dich bei mir haben, Hol‘. Komm… Gehen wir nach oben, ja?!“
Die Blonde stahl sich einen weiteren süßen Kuss von seinen weichen Lippen und stand
dann auf. Sie reichte ihm die Hand, zog ihn auf die Füße und umfasste seine Mitte mit
ihren Armen. Eng umschlungen, Arm in Arm, wankten sie die Treppe hinauf – eingehüllt in
ihre wirbelnden Gefühle.
Ohne einander loszulassen, ohne die sehnsüchtigen Blicke abzuwenden, ließen sie sich
auf das Bett sinken. Liebevoll und behutsam ließ Jethro seine Hand unter ihr T-Shirt
gleiten. Sie fühlte sich so vertraut und doch so verlockend aufregend an.
Hollis tat es ihm gleich und ließ ihre Finger seinen Körper mit Zärtlichkeiten verwöhnen.
Sie erkannte, dass sich schon bald der Stoff seiner Shorts verräterisch spannte. Auf
einmal waren all ihr Stolz und Vorurteil nichtig.
Langsam befreiten sie einander von der störenden Kleidung und versanken erneut in den
Armen des anderen. Endlich erfuhren sie beide wieder die liebevollen Gesten, die sie so
lange Zeit vermisst hatten. Endlich konnten sie sich fallen lassen, sich befreien von den
Sorgen und Nöten der vergangenen Zeit. Es gab keinen größeren Trost als ihre
Berührungen und ihre Liebe.
Voller tiefer Ruhe nahm sie ihn in sich auf. Gemeinsam bewegten sie sich nur so viel, dass
die Lust unaufhörlich in seichten Wellen über ihre Körper glitt, während sie einander
hielten und liebkosten.
Gibbs hielt sein Gesicht an ihrer Halsbeuge verborgen und wisperte liebevolle Worte in ihr
Ohr, die ihre Seele einhüllten und sie wärmten. Sanft glitt ihre Hand seinen Rücken hinab,
zwischen seine Pobacken und tiefer. Mit den Fingerspitzen fuhr sie über seine
Innenschenkel und spürte wie er darauf reagierte.
Suchend glitt seine Hand über ihren Körper und fand ihre Brust. Mit verspielter Forderung
reizte er ihre zarten Knospen. Sanft aber bestimmt lenkten sie einander auf einen zarten
Höhepunkt hin. Es war als würden sie für kurze Zeit in einen Ozean eintauchen und unter
der Wasseroberfläche treiben.
Als es passierte und Hollis ihm dankbar zeigte, wie sehr sie es genossen hatte, war es so,
als bekäme Gibbs das erste Mal seit Wochen wieder Luft.
Sein Atem ging keuchend und angestrengt, doch in seinem Blick lagen Freude und Liebe.
Er betrachtete Hollis schönes Gesicht, während sie die Augen geschlossen hielt und
immer tiefer in ihre schwere Müdigkeit abdriftete.
„Müde…“ Wisperte sie leise, obwohl er es ihr längst angesehen hatte.
„Dann schlaf, Holly. Ich bin da…“
Jethro konnte den Blick nicht von ihr abwenden. Erst jetzt, wo ihre Miene entspannt war,
erinnerte er die angespannten harten Züge, die sich um ihren Mund gegraben hatten. Ihre
Erschöpfung hatte nicht viel mit der durchwachten letzten Nacht zu tun. Er wusste, dass
sie viel tiefer ging und schwor sich, dass er alles dafür tun würde, um die Schatten aus
ihrem Leben zu vertreiben.
Behutsam hüllte ihre nackten Körper in eine Decke und zog sie dichter an sich, so dass
Hollis halb auf ihm lag. Jethro verbarg sein Gesicht in der weichen Masse ihrer Haare und
konnte nicht verhindern, dass seine Gefühle ihn übermannten.
Ohne wirklich aufzuwachen, wandte Hollis sich in seinen Armen um. Mit einem tiefen
Seufzen bettete sie ihren Kopf auf seiner Brust, während ihre Finger sich unwillkürlich in
seinen Brusthaaren verspielten.
„Hier gehörst du hin, Hol‘. Hier zu mir…“, wisperte der Silberfuchs mit erstickter Stimme.
20 Kapitel
Während Jethro die Vorhänge zurückzog und die Fenster weit öffnete, um die frische
Morgenluft in das Zimmer zu lassen, blickte er immer wieder zum Bett und konnte sich
nicht satt sehen.
Hollis lag bäuchlings darauf, wunderbar nackt. Die Arme um eines der Kissen geschlungen
und ihr betörend geformter Po lag verführerisch da, während ihr angewinkeltes Bein
himmlische Einblicke gewährte.
Gibbs leckte sich unwillkürlich über die Lippen und wandte dann hastig den Blick ab, als er
das einsetzende Prickeln in seiner Lendengegend bemerkte.
Er wollte ihnen beiden erst ein Frühstück besorgen, dann… dann würde er nur zu gern
noch ein wenig von ihr kosten. Allerdings blieb nicht viel Zeit. Es war bereits mitten am
Vormittag und spätestens um 11:00 Uhr würden sie sich auf den Weg nach Quantico
machen müssen, um Ennis Vereidigung beizuwohnen.
Gibbs schlüpfte in Jeans und T-Shirt und verließ barfuß das Schlafzimmer. Noch immer
spürte er die Anstrengungen der vergangenen Tage in jeder Faser seines Körpers und
bewegte sich steif humpelnd, doch heute machte es ihm nichts aus – heute nicht.
Als seine Schritte auf der Treppe zu hören waren, erstarben die munteren Gespräche, die
aus dem unteren Stockwerk zu ihm herauf gedrungen waren. Er schmunzelte amüsiert
und wusste nur zu genau, dass ihnen allen Hollis Wagen in der Auffahrt aufgefallen war.
„Morgen.“, brummte der Grauhaarige nur und ließ sich nichts anmerken. Die Blicke von
Amy, Gwyn und Ty lagen erwartungsvoll auf ihm. Mit undurchdringlicher Miene ging er
am Frühstückstisch vorbei in die Küche und holte eine Tasse aus dem Schrank. Heiß und
dampfend ergoss sich der frische Kaffee in seinen Becher, mit einem zufriedenen Grollen
nahm der Silberfuchs einen ersten Schluck.
„Jethro?“ Erklang Amys Stimme und troff nur so vor Ungeduld und Neugierde.
„Hmmm?“ brummte er nur wieder und verließ die Küche. Im Türrahmen blieb er stehen
und musterte seine Rasselbande. Lächelnd betrachtete er die kleine Julia, die auf ihrer
weichen Krabbeldecke lag und glücklich grinsend sabberte. Ein kleiner Engel. Bei ihrem
Anblick ging ihm regelmäßig das Herz auf.
„Gibbs!“ kam es nun beinahe empört von Gwyn. Taylor kicherte hinter vorgehaltener
Hand.
„Die beiden sind ganz zappelig, weil Holly’s Auto vor der Tür steht…“ Der blonde Junge
versteckte sein grinsendes Gesicht hinter seinem Kakaobecher.
Gibbs zog die Augenbrauen hoch und warf den beiden jungen Frauen fragende Blicke zu.
„So?“
Gwyn stieß einen spitzen Schrei aus und trampelte mit den Füßen auf dem Boden. Jethro
lachte laut auf.
„Was machst du Knirps eigentlich hier? Solltest du nicht bei Meg und Jackson sein?“,
wollte der Silberfuchs gespielt streng von Taylor wissen.
„Hier her zu kommen war der kürzeste Weg, hat Abby gemeint. Und weil so ein Unwetter
war… Wir haben alle hier im Wohnzimmer gecampt. Das war total cool. Wusstest du
eigentlich wie viele Gruselgeschichten Abby ke…“
Gwyn schob mit einem Ruck ihren Stuhl zurück. „Dann gehe ich eben nachsehen ob sie in
deinem Bett liegt!“, rief die Dunkelhaarige aus und hastete in Richtung Treppe.
„Untersteh dich!“, polterte Gibbs los und jagte dem Mädchen hinterher - soweit ihm das
möglich war. Er war sich zwar mehr als sicher, dass die Pastorentochter ihn nur aus der
Reserve locken wollte und sein Zimmer niemals ohne Erlaubnis betreten würde. Dennoch
ließ er sich gerne auf diesen Spaß ein.
Sie ließ sich lachend von ihm einfangen. Mit sanfter Gewalt zog der Silberfuchs sie zurück
ins Esszimmer.
„Nun sag schon!“, drängte sie ungeduldig, woraufhin sich ein breites Grinsen auf die
Gesichtszüge des Älteren stahl und er ihr väterlich den Arm um die Schulter legte.
Jethro beugte sich ein wenig zu Gwyn, sodass er ihr die Worte leise ins Ohr flüstern
konnte. „Hollis ist wieder zu Hause, Kleines.“, wisperte er heiser. Der Teenager konnte
hören wie glücklich er darüber war und drückte sich an ihn.
Nun sprang auch Amy mit einem Triumphschrei auf, was ihre kleine Tochter fröhlich
quietschen ließ. Auch die junge Mutter ließ sich von dem Grauhaarigen in die Arme
schließen.
„Ich freue mich so, Jethro!“, meinte sie leise und strich ihrem Ziehvater voller Zuneigung
über den Oberarm.
„Wir sind wieder eine Familie, oder? Eine richtige Familie.“ Gwyns Stimme klang belegt.
Stirnrunzelnd zwang der Silberfuchs die Jüngere ihm in die Augen zusehen. Ihr
hoffnungsvoller Blick brachte ihre geheimsten Sehnsüchte zu Tage – Normalität und eine
feste Konstante in ihrem Leben. Mit einem Seufzen zog Gibbs das Mädchen wieder an
sich und küsste sie behutsam auf die kurzen, schwarzgefärbten Haare.
„Wir werden uns jedenfalls Mühe geben, ja?“
Ein verschmitztes Grinsen schlich sich in Jethros Miene. Misstrauisch schaute die 16
jährige zu ihm auf.
„Was?“ hakte sie kritisch nach.
„Ich hab mein Liebesleben wieder auf Reihe… Das war die Voraussetzung um dir
Vorschriften in Sachen Jungs machen zu dürfen!“
Gwyn baute sich voller Empörung vor dem Grauhaarigen auf. „Kommt gar nicht in Frage!!
Wenn du es wagst, dann… dann…“
Mittlerweilen war ihnen das aufbrausende Temperament der Jugendlichen nur zu
bekannt. Sie konnte aus dem Nichts plötzlich an die Decke gehen.
Amy stieß Gibbs in die Seite und warf ihm einen tadelnden Blick zu. Er provozierte das
Mädchen nur zu gern, allerdings brachte das Thema Jungs sie noch schneller in Rage als
alle anderen Sticheleien.
Der Silberfuchs hob abwehrend die Hände. „Ich verspreche, Gwyn, ich werde nichts tun,
was dich blamieren könnte. Aber ich kann nicht für Jackson sprechen…“
Amy rollte mit den Augen, als Gibbs lachend in der Küche verschwandt und Gwyn – die
Silberfüchse verfluchend – die Treppe hoch stürmte um in ihrem Zimmer zu
verschwinden.
„Oh man…“ stöhnte Amy genervt. „Musst du sie immer provozieren, Jethro? Das ist hier
mit Euch wie auf einem Mienenfeld. Macht so weiter und Hollis ist schneller wieder
verschwunden als Euch lieb ist!“
„Das mit dem Mienenfeld habe ich gestern auch schon zu hören gekriegt. Gewöhnt Euch
doch einfach daran!“, rief der Grauhaarige aus der Küche, während er ein Tablette mit
einigen Leckereien belud. „Ist Abby zur Arbeit gefahren?“ rief er fragend.
„Ja, aber heute Abend wollen sie alle herkommen!“ entgegnete Amy beiläufig.
Während er darauf wartete, dass der frisch gebrühte Kaffe durchlief, ging Gibbs hinaus in
den Garten. Er holte eine kleine Gartenschere aus dem Geräteschuppen und ging hinüber
zu seinem Rosenbeet. Gründlich betrachtete er die blühenden Schönheiten und schnitt
jeweils drei der tiefroten und weißen Rosen ab.
Gemächlich schlenderte er zurück zum Haus und betrachtete seinen Garten. Der Sturm
hatte seine Spuren hinterlassen, aber keine größeren Schäden verursacht. Anders als bei
seinen Nachbarn, wie der Silberfuchs erkannte. Dort war ein alter Baum auf die Garage
gestürzt. Das Heulen der Motorsäge war bereits zu hören und vermischte sich mit den
Flüchen von Mr. Hadley.
Als er die Küche wieder betrat, hatte sich die Kaffeemaschine bereits abgeschaltet.
Er hörte wie Amy und Taylor diskutierten. „Du wirst erst dein Frühstück aufessen, Ty. Leg
den verflixten Gameboy weg!“
„Ach man, Amy! Mir ist langweilig…“
Doch Amy war unerbittlich. Gibbs bewunderte die junge Frau für ihre hiebfeste
Konsequenz. „Keine Wiederrede, Kurzer!“
Ein lautes Poltern erklang, dicht gefolgt von einem unwirschen Schnauben. „Und was
hast du jetzt davon, dass du das Ding auf den Boden schmeißt?“ Amys Stimme hatte an
Schärfe gewonnen.
Gibbs warf einen Blick ins Esszimmer. „Taylor!“, tadelte er leise und bedachte den Jungen
mit einem strengen Blick. „Amy ist der Boss, Kumpel. Heb den Klimperkasten auf und leg
ihn ordentlich zur Seite, dann wird aufgegessen!“ Der Kleine würde eine Weile schmollen,
aber in der Regel hielt sich das nicht allzu lange.
Schmunzelnd füllte Gibbs eine kleine Vase mit Wasser, stellte die roten und eine weiße
Rose hinein und platzierte die Blumen auf dem Tablett.
Im Esszimmer machte er halt und stellte das Tablett ab. Dann beugte er sich zu Amy
hinunter und küsste sie auf die Wange. „Meine Große…“, murmelte er lächelnd und
reichte ihr eine der weißen Rosen. Die junge Frau errötete leicht und verpasste ihm einen
Klaps gegen den Oberarm.
„Danke…“, hauchte sie verlegen und schnupperte an der duftenden Blüte.
Gibbs griff nach Gwyns Teller auf dem noch einige Stücke Obst und ein angebissenes
Bagle mit Schokocreme lagen. Er stellte es zu den anderen Sachen auf das Tablett und
balancierte alles hinauf in die obere Etage.
Vor der Tür zu Gwyns Zimmer machte er erneut halt und stellte ihren Teller auf den
Boden, die zweite weiße Rose legte er daneben.
Zufrieden mit sich wandte er sich um und konnte es kaum noch erwarten zu Hollis zu
kommen.
Als er den Raum betrat war dieser verwaist. Jethro zog die Augenbrauen hoch und stellte
das Tablett auf einen der Nachtschränke. Doch schon im nächsten Moment hörte er wie
sich die Schlafzimmertür leise schloss. Lächelnd wandte er sich um.
Hollis trug ihr blaues Kleid vom Vortag und ein verführerisches Nichts darunter – was
Gibbs auf den ersten Blick erkannte.
„Ich war nur kurz im Bad…“ meinte seine schöne Partnerin leise und überwand die
wenigen Meter zwischen Ihnen. Sie küsste ihn sanft auf die Wange, woraufhin Gibbs sie
liebevoll in seine Arme zog.
„Guten Morgen, meine Schöne!“ murmelte der Silberfuchs, während er sich ihrem
verführerischen Mund näherte. Liebevoll küsste er sie und schob sie mit zärtlicher Gewalt
hinüber zu ihrem Bett. Sie landeten weich darauf und verwöhnten einander mit sanften
Liebkosungen.
„Ich habe Frühstück mitgebracht…“ wisperte Gibbs mit rauer Stimme und stöhnte im
nächsten Moment leise auf, als ihre Finger sich ihren Weg in seine Jeans gesucht hatten.
„Aber das… kann auch warten…“
Hollis lachte leise auf. „Keinen Appetit?“
„Doch, aber nicht auf Gebäck… Gott, Hol‘!“ keuchte er auf, als sich, auf ihre neckenden
Berührungen hin, die Muskeln seines Unterleibs unwillkürlich gespannt hatten.
Hollis war so entspannt wie schon seit Wochen nicht mehr auf gewacht und hatte eine
beinahe unbändige Lust empfunden. Sie wunderte sich darüber, aber warum sollte man
dieses wohlige Gefühl unbeachtet verkommen lassen? Sie fühlte sich so wunderbar leicht
und gelöst, als wäre alles Schlechte von ihr abgefallen.
Zielstrebig zog sie ihrem Geliebten das T-Shirt über den Kopf und ließ ihren Mund
spielerisch über dessen Brust gleiten. Hier und da neckte sie ihn ein wenig stärker und der
Grauhaarige gab sich ihr vollkommen hin. Es kam ihm so unwirklich vor, als wären die
vergangenen Wochen einfach nur ein böser Traum gewesen.
Er lüpfte seinen Hintern, damit die schöne Blonde ihn von der Jeans befreien konnte und
ließ geschehen, dass sich ihr lustversprechender Mund seinem intimsten Bereich näherte.
Er gab einen knurrenden Laut von sich und tastete nach ihr. „Los, Schöne, Hintern aufs
Bett!“
Sein Kommandoton jagte ihr einen heißkalten Schauer über den Rücken. Sie erfüllte ihm
seinen Wunsch und zuckte unwillkürlich zusammen, als seine Hand kräftig ihren
Innenschenkel packte.
Sie intensivierte ihre Liebkosungen, was Gibbs mit einem ungenierten Stöhnen quittierte.
Mit einem leisen Kichern unterbrach sich Hollis. „Nicht so laut, die Kinder…“
Jethro stöhnte gequält auf. „Dann lass uns lieber frühstücken!“ murrte er heiser und
reizte sie mit seinen Fingern, die sich blind unter ihrem Kleid einen Weg gesucht hatten.
Nun war es an ihr laut keuchend auf seine Fingerfertigkeit zu reagieren. Hastig
beschäftigte sie ihren Mund wieder an seiner Körpermitte und dämpfte somit geschickt
ihre Lustlaute.
Jethro biss sich auf die Lippe und bewegte beinahe unwillkürlich sein Becken vor.
Er spürte das Beben, das von Hollis Körper ausging und nährte seine eigene Lust daran. Er
wurde noch eine Spur erfinderischer bei seinem Fingerspiel.
Seine Geliebte schrie erstickt auf und das Vibrieren ihres Gaumens versetzte Gibbs einen
ungeahnt heftigen Impuls der Leidenschaft.
So angestachelt brachten sie einander immer näher an den Rand der Klippe, bevor sie
gemeinsam abstürzten.
Mit einem glücklichen Seufzen ließ die ehemalige Agentin sich neben ihrem
Lebensgefährten auf das Bett sinken. Keuchend stierten beide zur Zimmerdecke und
rangen nach Luft.
„Mein Gott… Hol‘… Was ist nur los mit dir?“ wollte Jethro breit grinsend wissen.
Hollis schmunzelte und wandte ihm mit fragendem Blick das Gesicht zu. „Was soll mit mir
sein?“
Der Grauhaarige lachte kopfschüttelnd auf und zog sie liebevoll in seine Arme.
21. Kapitel
Extra fürs Panderle und die liebe Goller. ;-) Frohe Weihnachten Euch beiden!!
Die letzten Tage hatten deutliche Spuren hinterlassen. Müde und steif hatte Jethro sich
auf die Lehne eines Gartenstuhls gestützt und lauschte den munteren Stimmen seiner
Lieben. Die Sonne suchte sich bereits ihren Weg - in wenigen Minuten würde der Tag der
aufziehenden Nacht weichen müssen.
Das Lachen der Männer hallte überlaut in die klare, laue Abendluft und ein Hauch von
teurem Bourbon lag in der Luft.
Zu Beginn ihres Barbecues war es Ennis, dem frischgebackenem Marine, sichtlich
befremdlich vorgekommen, seinen Einstieg beim US Marine Corps mit beinahe Fremden
zu feiern – im Grunde waren die Gäste ausschließlich Gibbs Bekannte und nicht die des
jungen Privates. Das hatte sich allerdings längst gelegt und nun stand einer
ausgelassenen Feier nichts mehr im Weg.
Zu ihrer aller Überraschung hatte am frühen Abend Ennis‘ Mutter verloren im Garten von
Gibbs Haus gestanden. Nach einigen Sekunden des Schweigens hatten sich Deana Milano
und ihr Sohn in die Arme geschlossen.
Jethro hatte bereits zuvor vermutet, dass es weniger an der stillen, zurückhaltenden Frau
lag, dass ein Keil zwischen die Kinder und ihre Familien getrieben wurde, sondern viel
mehr an dem aufbrausenden Ernest Milano – Ennis Vater.
Obwohl er nie viel Kontakt mit den Eltern von Amy und Ennis hatte, hatte sich nach
einigen wenigen Begegnungen bereits ein untrügliches Gefühl dafür in ihm breit
gemacht, dass dieser Bruch der Familie weder von dem stets freundlichen Calvin McNeil,
noch von Ennis Mutter ausgegangen war.
Das Auftauchen der unsicheren Schwarzhaarigen verdeutlichte diesen ersten Eindruck
nur.
Deanna hatte es nicht pünktlich zur Vereidigung ihres Jungen geschafft – und obwohl sie
einen Stau auf dem Highway vorgegeben hatte, vermutete Jethro andere Gründe. Und
nicht nur er: auch auf Ennis Gesicht waren für einige Sekunden Zweifel zu sehen gewesen.
Doch alle trüben Gedanken waren an diesem Abend wie fortgeweht. Es schien allen leicht
ums Herz. Sie genossen die geselligen Stunden in vollen Zügen.
Jethros Blick glitt über die Gesichter. Amy hielt die Hand ihres Mannes fest in der Ihren
und warf ihm wieder und wieder beinahe ungläubige Blick zu.
Das einstmals volle gelockte schwarze Haar des jungen Mannes war militärisch
kurzgeschoren und ließ ihn älter und fremd wirken. Amy unterhielt sich angeregt mit Tim
McGee, der auf der anderen Seite des Tisches saß. Deana Milano lachte mit Ziva über
Tony und Ennis, die anhand von Testosteron triefenden Sprüchen herausfinden wollten,
wessen italienische Vorfahren die größeren Machos gewesen waren. In regelmäßigen
Abständen rollte Amy mit den Augen und verpasste Ennis unter dem Tisch einen leichten
Tritt gegen das Schienbein, was er unbeachtet überging.
Jethro beobachtete das kleine Schauspiel amüsiert und mit einem Hauch Wehmut – der
Abend seiner Vereidigung war deutlich weniger amüsant gewesen. Er schüttelte kaum
merklich den Kopf, als wollte er die unschönen Erinnerungen loswerden. Kurz trafen sich
sein Blick mit dem von Jack – für den Sekundenbruchteil lag der alte Zwist wieder
zwischen ihnen, doch mit dem nächsten Wimpernschlag verschlang der Nebel des
Vergessens alle vergangenen Streitigkeiten. Die Blicke wurden weicher und die
neugewonnene Zuneigung zwischen Vater und Sohn schien beinahe greifbar.
Ein wenig entfernt saßen Abby und Gwyn zusammen im Gras und schienen ein
ernsthaftes Gespräch zuführen. Als der Silberfuchs den Blick seiner kleinen
Laborfledermaus auffing, zwinkerte diese ihm schmunzelnd zu.
Ducky und Jack lachten derweilen ausgelassen, während sie gemeinsamen in
Erinnerungen an längst vergangene Zeiten schwelgten.
Hollis und Meg saßen auf den Stufen der Veranda. Taylor hatte sich zwischen sie
gekuschelt, den Kopf auf Hollis Schoß gebettet, die nackten Füße auf Megs Beinen.
Mit einem liebevollen Lächeln schaute der Grauhaarige zu seiner Lebensgefährtin, ein
warmes Gefühl durchströmte ihn. Endlich hatten sie sich wieder versöhnt…
Als ein leises Geräusch aus dem Babyphone ertönte, griff Jethro danach und deutete Amy
sitzen zu bleiben. Er würde sich um Julia kümmern. Die junge Brünette hatte sich diesen
Abend mehr als verdient!
Im Vorbeigehen beugte Gibbs sich zu Hollis hinunter und hauchte einen sanften Kuss auf
ihr Haar und als seine Sinne ihren unverwechselbaren Duft auffingen, strömten die Bilder
der vergangenen zweisamen Stunden durch seine Gedanken. Die schöne Blonde schenkte
ihm ein glückliches Lächeln, während er dem Protestgeschrei der kleinen Julia folgte.
In der Küche machte der Silberfuchs Halt, holte eine kleine Nuckelflasche mit Milch aus
dem Kühlschrank und erwärmte diese in der Mikrowelle. Für gewöhnlich wurde Julia
noch von ihrer Mutter gestillt, doch für die Mahlzeiten, an denen Amy verhindert war,
gab es stets einen kleinen Vorrat an Milch im Kühl – oder Gefrierschrank.
Mit sicheren Handgriffen prüfte der Silberfuchs die Temperatur der weißlichen Flüssigkeit
und eilte dann in Richtung Obergeschoss, wo Julias Rufe allmählich lauter und empörter
geworden waren.
„Ich bin auf dem Weg, Kleines!“ brummte Gibbs bereits auf der Treppe und sofort wurde
aus den ungehaltenen Rufen ein wimmerndes Gurgeln und Glucksen.
Sanft hob er das Baby aus seinem kleinen Reisebett und wiegte sie in seinen Armen.
Obwohl Julia schon 6 Monate alt war und ein quietsch fideler Dreikäsehoch, erschien sie
dem Silberfuchs nach wie vor winzig und weckte im Handumdrehen seinen
Beschützerinstinkt.
Leise Schmeicheleien murmelnd, ließ der Silberfuchs sich in dem alten Schaukelstuhl
nieder, in dem er Jahre zuvor bereits sein eigenes Mädchen gefüttert und in den Schlaf
gewiegt hatte. Während Julia schmatzend ihre Lippen um den durchsichtigen Sauger
schloss und hastig begann zu trinken, ließ Gibbs seinen Blick durch das ehemalige
Kinderzimmer schweifen.
Gemeinsam mit Hollis hatte er im letzten Jahr auch diesen Raum renoviert und damit
auch Kellys letzte Spuren verwischt. Noch immer versetzte ihm dieser Gedanke einen
Stich. Er hatte seine Mädchen nicht aus seinem Leben verbannen wollen, doch der Zahn
der Zeit hatte an dem Haus genagt und einige Veränderungen unabdingbar gemacht.
Nun dominierten neutrale Farben das gemütliche Giebelzimmer. Jethro hatte einige der
schönsten seiner alten Möbel liebevoll hergerichtet und hineingestellt. Shannons alten
Schminktisch, den Schaukelstuhl, einen bodentiefen Spiegel mit einem reichverzierten
Rahmen und den alten Schreibtisch, den er schon als Jugendlicher aus der elterlichen
Scheune gerettet, und der seinem Großvater mütterlicherseits gehört hatte.
Schmunzelnd überblickte er das wohlgeordnete Durcheinander von Windeln und
Babykleidung. Es hatte Jahrzehnte gebraucht um das pulsierende Leben einer Familie in
dieses Haus zurück zu holen.
Sanft strich Gibbs dem Baby über die runde Wange, während es genussvoll trank.
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vermischten sich dieser Tage erstaunlich häufig.
Ein ehemaliger Kamerad, Graham Price, der gemeinsam mit Jethro in Kuwait stationiert
gewesen war, hatte heute ebenfalls der Vereidigung der jungen Marines beigewohnt.
Sein jüngster Sohn war in seine Fußstapfen getreten und ein Marine geworden. Vor
zwanzig Jahren war Price im Rang eines Corporal in Jethros Einheit gekommen.
Mittlerweile diente er als Master Sergeant und saß, aufgrund einer Rückenverletzung, in
einer der Schreibstuben des Corps. Der Mann war für die Unterbringungen der Soldaten
auf den Stützpunkten oder in deren Nähe zuständig. Er half den Marine-Familien bei den
Organisationen ihrer Umzüge, stellte Kontakte zu Schulen und potentiellen Arbeitgebern
für die Angehörigen her.
In Quantico hatte sich in den vergangenen Jahren einiges verändert. Es war gewachsen
und bot noch mehr Raum für Ausbildung und Logistik, was aber zeitgleich bedeutete,
dass mehr Marines und deren Familien in und um die Base untergebracht werden
mussten.
Eine Idee war in Jethros Gedanken gereift, und während es am Nachmittag vor dem
Barbecue noch einmal ruhig geworden war, hatte er seine Notizen der letzten Wochen
zur Hand genommen und war ins Grübeln geraten.
Julia hatte ihr Mahl beendet und kuschelte sich nun vertrauensvoll gegen Gibbs breite
Brust. Der Silberfuchs stellte das Fläschchen auf einen kleinen Tisch und legte sich das
Baby über die Schulter. Sanft strich er ihr über den Rücken und wanderte über die obere
Etage.
Am geöffneten Schafzimmerfenster, das in den Garten hinaus zeigte, blieb er stehen und
lauschte den munteren Stimmen. Als eine zaghafte Melodie erklang, verstummten die
Gespräche. Gibbs reckte den Hals und entdeckte Gwyn, die an den Stamm des alten
Nussbaumes saß und vorsichtig an den Saiten ihrer Gitarre zupfte.
Jackson stand in unmittelbarer Nähe und blickte auf die Jüngere herab.
Das Mädchen hatte nach dem Tod ihrer Eltern weder das Klavier noch ihre Gitarre
angerührt. Gibbs Senior musste das Instrument mit nach DC gebracht haben, überlegte
Jethro. Doch als die Jugendliche leise anfing zu singen, ließ der Silberfuchs alle Gedanken
ziehen und lauschte nur ihrer Stimme.
Es dauerte eine Weile bis er das Lied erkannte. Ein Lächeln schlich sich in seine Miene.
„Rodanthe“ von Emmylou Harris - eine Lobeshymne auf die Outer Banks. Gibbs war sich
sicher, dass Meg vor Freude und Rührung in diesem Moment vergehen würde. Die alte
Frau liebte ihre Heimat und dieses Lied umschrieb all seine wunderbare Faszination bis ins
Detail. Selbst ein hartgesottener Bastard wie Gibbs spürte ein klein wenig Heimweh nach
dem imposanten Haus in den Dünen. Trotz all der Schicksalsschläge die sie in den
vergangenen Monaten dort erlebt hatten, dominierte ein heiteres, leichtes Gefühl seine
Gedanken an das Sandcastle.
DC war im Laufe der Jahre seine Basis geworden, nie aber eine wirkliche Heimat, nicht
mehr, seitdem er ohne seine Familie hierher zurückgekehrt war. Vielleicht konnte er
wieder ein richtiges Zuhause finden. Vielleicht in Avon.
Leise Schritte rissen den ehemaligen Agenten aus den Gedanken. Die Stimmen seiner
Familie waren wieder lautgeworden, es wurde gelacht und er sah aus dem Augenwinkel,
wie Meg und Gwyn in enger Umarmung dastanden.
„Das hat sie ganz wunderbar gemacht.“ Ertönte Hollis Stimme im Flüsterton. Die Blonde
schaute ihrem Partner über die Schulter und lächelte als sie die geöffneten Lippen des
Babys entdeckte, das im Schlaf leicht angefangen hatte zu sabbern.
Jethro neigte den Kopf, sodass seine Wange an Hollis Kopf lehnte. „Gwyn hat eigentlich
ein gutes Gespür für die Menschen um sie herum… Und sie liebt Meg und zeigt ihr das
auf ihre eigene Art. Manchmal eben mit einem Lied.“
Hollis nickte. „Und du? Du bist schon den ganzen Abend so still.“
„Ist das was Neues?“ Er lachte leise und wandte sich Hollis zu.
Sie schüttelte lautlos lachend den Kopf. „Nein, du hast Recht. Aber du schienst häufig
sehr tief in Gedanken. Geht es dir gut?“
Sanft strich er der schönen Blonden über den Arm. „Ja, sehr sogar. Aber… Es werden
einige Veränderungen auf uns zu kommen, Hol‘.“
Mit fragender Miene legte Hollis den Kopf schief.
Seufzend nickte Gibbs in Richtung des kleinen Zimmers, in dem Julias Reisebettchen
stand. Gemeinsam gingen sie hinüber und Jethro reichte seiner Partnerin das kleine
Zauberwesen, damit diese es in das Bett legte. Sein Rücken machte ihm nach der Arbeit
der letzten Tage zu schaffen – nicht besorgniserregend, viel eher ein Zeichen dafür, dass
er nach den Niederschlägen der vergangenen Monate noch nicht wieder voll belastbar
war.
Schweigend und Hand in Hand gingen sie die Treppe hinunter. Während Hollis das
Nuckelfläschchen kurz durchspülte, holte Jethro zwei bauchige Weingläser aus einem der
Schränke und griff nach einer angebrochenen Flasche Rotwein, die bereits wieder in die
Küche geräumt worden war.
Wieder griff Jethro nach der Hand seiner Lebensgefährtin und führte sie an den
Feiernden vorbei in Richtung Rosenbeet. Sanft dirigierte er sie über den schmalen Pfad,
der zu der hölzernen, halbverborgenen Bank führte.
Schmunzelnd beobachteten sie eine Weile ihre Lieben und nippten an der vollmundigen
roten Flüssigkeit.
Tony hatte sich mit Gwyn auf die Stufen zur Terrasse gesetzt und ließ sich von ihr
scheinbar einige Griffe auf der Gitarre zeigen. Jethro hatte beinahe vergessen, dass auch
sein ehemaliger Field Agent eine musikalische Ader hatte. Er hatte den Bericht zu dem
Frosch-Fall gelesen, als Tony Undercover einen Straßenmusiker gemimt hatte.
„Also? Was hast du mit Veränderungen gemeint?“ hakte Hollis nach und drückte
aufmunternd seine Hand.
Gibbs schwenkte sein Weinglas und beobachtete die dunkle Flüssigkeit sekundenlang
schweigend.
„Ich habe Leon um meine Pensionierung gebeten. Ich werde mir irgendeine
Beschäftigung suchen müssen. Und… Ich habe eine Idee. Im Haus liegt ein Exposee von
einem ehemaligen Fischerhaus in Rodanthe – Wohnhaus mitsamt einem Bootshaus und
einer recht geräumigen Scheune, die ich als Werkstatt nutzen könnte…“
Hollis zog die Augenbrauen hoch und musterte ihren Geliebten forschend. Er hatte dem
NCIS endgültig den Rücken zugekehrt. Konnte das sein? Würde er wirklich soweit gehen
und einen Bürojob nicht mal in Betracht ziehen?
Doch bevor sie etwas entgegnen konnte, ergriff der Grauhaarige erneut das Wort. „Ich
will nicht nutzlos von einer Ecke in die andere geschoben werden, wie ein ausgedienter
Aktenschrank, Holly! Allerdings muss ich noch mehr über die finanziellen Aspekte in
Erfahrung bringen. Ich bin mir nicht sicher ob die Reparaturen und Restaurationen von
Holzbooten sich wirklich lohnen. Es muss nicht unbedingt viel überbleiben, aber am Ende
darf es mich auch nicht mehr kosten als es einbringt. Und das Haus… Es ist ebenerdig –
Barrierefrei.“
Hollis lachte leise auf. „Barrierefrei? Jethro?! Sind wir wirklich schon in dem Alter, in dem
wir darüber nachdenken wie wir eine Treppe zu meistern haben?“ empörte sie sich halb
amüsiert.
Gibbs blieb ernst und schüttelte den Kopf. „Irgendwann werden wir es sein, aber nein…
Es ging mir da eher um Meg und meinen Dad. Wie oft haben sie in den letzten vier
Wochen das Sandcastle verlassen, oder gar das untere Stockwerk? Ich glaube…“ Jethro
fuhr sich mit einer Hand durch das graue Haar. „Jack ist nicht fit, Holly. Er würde nie
etwas sagen, aber… Die Treppen machen ihm zu schaffen. Allerdings würde er sich lieber
an das Haus fesseln, als Meg auf den Gedanken zu bringen es für ihn zu verlassen.“
Sorgenfalten hatten sich bei den Worten ihres Partners auf Hollis Stirn gelegt. Jethro
hatte Recht, obwohl es ihr schwerfiel sich diese Dinge einzugestehen. „Denkst du
wirklich, dass… dass es wirklich schon soweit ist? Dass die beiden jetzt in das Alter
kommen, in dem…“
Mit einem leichten Lächeln zog der Silberfuchs seine Partnerin an sich und küsste sie
sanft. „Meg und Jackson sind so stur, dass sie vermutlich aus reiner Willenskraft 100 Jahre
alt werden können – aber warum sollen sie das nicht so bequem wie möglich, Hol‘?!“
Sie nickte nachdenklich. „Und das Sandcastle? Wenn Amy geht und Meg und Jackson
nicht mehr da leben…“
Jethro unterbrach Hollis sanft. „Soweit ist es ja noch nicht. Ich denke doch nur über
Alternativen nach. Außerdem haben Meg und Hal es jahrelang allein geschafft – während
Hal sogar noch in der einen oder anderen Saison zur See gefahren ist! Wenn wir zwei im
Sandcastle…“
Sprachlos und mit leicht geöffnetem Mund starrte die Blonde ihren Grauschopf an. „Wir
beide – im Sandschlösschen? Ist das dein Ernst?“
Gibbs zuckte mit den Schultern. „Warum nicht? Allerdings würde ich jeden Tag nach
Rodanthe fahren und an den Booten bauen. Mit einer Aushilfe könntest du es doch sicher
schaffen…“
„Halt den Mund!“ murrte Hollis und nahm einen tiefen Zug aus ihrem Glas.
Jethro zog die Augenbrauen in die Höhe. „Was ist an dem Gedanken falsch? Gwyn könnte
auch helfen und sich ein wenig Geld dazuverdienen und…“
„Pssst! Still jetzt, du Unhold!“ Mit einem tiefen Seufzen lehnte sich Hollis nun wieder
gegen Gibbs. „Veränderungen kann ich nicht ausstehen…“
Der ehemalige Agent lachte auf und hob sein Glas an die Lippen. Die Gedanken, die er sich
zu der weiteren Nutzung seines Hauses hier in DC gemacht hatte, würde er also vorerst
für sich behalten. Allerdings gefiel ihm die Idee, sein Haus zu räumen und Platz für junge
Marine Familien zu machen.
Sein Blick glitt zu Amy und Ennis – die Beiden passten gut hier her. Wenn das Corp sein
Haus nicht wollte – nicht zu seinen Bedingungen – dann würde er die beiden jungen Leute
bitten hier einzuziehen.
Zufrieden mit sich und seinen produktiven Gedanken wollte er Hollis an sich ziehen und
küssen, doch sie unterbrach sein Vorhaben.
„… aber wo wir grad bei Veränderungen sind: Was hältst du davon unsere Pläne für die
kommenden Tage über den Haufen zu werfen und zwei Nächte auf einem Hausboot zu
verbringen? Wir müssten allerdings bereits morgen früh losfahren. Ansonsten wäre es
komplett ausgebucht, bis weit in den Herbst hinein.“
22. Kapitel
Hollis und Jethro saßen auf der kleinen Veranda eines, für die Gegend bescheiden
wirkenden Hauses. Trotz aller Bescheidenheit besaß es immerhin drei Stockwerke und
großzügige Sprossenfenster, die einen ebenso großzügigen Blick auf die Nachbarschaft
ermöglichten.
Der Grauhaarige verkniff sein ein Grinsen und nippte an der winzigen, geblümten
Kaffeetasse, während er mit der anderen Hand die goldgerahmte Untertasse balancierte.
Allerdings war der Kaffee ausgesprochen gut, wenn auch in homöopathischen Dosen
serviert. Insgeheim fragte er sich wie oft er um einen Nachschlag bitten durfte, ohne dass
er unhöflich wirkte. Doch die Sorge verwarf er, als er das enthusiastische Funkeln in den
Augen der alten Dame entdeckte, die ihm gegenüber an dem filigranen, storchbeinigen
Tisch saß. Endlich würde die Frau die Möglichkeit kriegen sich all ihre Beobachtungen und
Vermutungen von der Seele zu plaudern. Wenn er darum bat, würde sie ihm eine
Badewanne voll Kaffee kochen, dessen war der Silberfuchs sich sicher.
Für einen Moment hatte Jethro geglaubt, dass Hollis Wunsch, mit ihm ein, zwei Tage auf
einem Hausboot zu verbringen, fernab der lärmenden Familie, nur mit der Aussicht auf
traute Zweisamkeit verbunden war. Doch binnen weniger Wimpernschläge war ihm ein
Licht aufgegangen: Charlotte, der Mountain Island Lake… Ford Campbell, die große Liebe
ihrer neuen Bekannten, Janis O’Roake...
Daher wehte also der Wind. Er hatte Hollis ein wenig getrietzt, indem er seine schnelle
Kombinationsgabe nicht sofort preisgegeben hatte. Jethro hatte laut überlegt ob eine
solange Autofahrt seinem geschundenen Körper gut tun würde, ob sich die weite Fahrt
denn lohnen würde – Hausboote zum mieten gab es schließlich auch an Orten, die nicht
sieben Stunden Fahrtzeit entfernt lagen.
Im ersten Moment hatte Hollis versucht ihn anhand der reizvollen Umgebung des
Mountain Island Lakes zu ködern, doch allzu lange hatte der Silberfuchs sie nicht
hinhalten können. Lachend hatte er sie in seine Arme gezogen und ihr seinen Verdacht
mitgeteilt. Erst hatte Hollis ihn ein wenig unsicher, wenn nicht gar beleidigt gemustert,
doch nach einem schwachen Hieb gegen seinen Oberarm, war sie grinsend
davongegangen und hatte etwas von Kofferpacken gemurmelt.
In aller Frühe waren sie bereits am folgenden Morgen aufgebrochen und hatten keine
Zeit verloren. Jackson würde sicher gern die Oberaufsicht führen, wenn das Haus in der
East Laurel für den nächsten unbestimmten Zeitraum geräumt wurde. Sie hatten gegen
Mittag ihre Unterkunft erreicht und auf der Suche nach dem zuletzt angegebenen
Wohnort von Mr. und Mrs. Campbell im Overlook Mountain Drive, bei einem Diner
gehalten und fettige Burger und Pommes gegessen.
Jethro freute sich schon auf die geruhsamen Stunden auf dem kleinen Hausboot. Da
hatte Hollis eine wirklich gute Idee gehabt. Ihm fehlte Schlaf, das spürte er in jeder Faser
seines Körpers, doch um nichts auf der Welt wollte er Hollis‘ wunderbar subtile Art der
Ermittlungen verpassen. Er nahm noch einen winzigen Schluck aus der blumigen Tasse
und hoffte, dass er den minimalistischen Henkel nicht abbrechen würde.
Seine Partnerin ging auf der Veranda entlang und plauderte munter mit Mrs. Brady, deren
graues Haar einen deutlichen, in der Sonne glänzenden, Lilastich hatte.
Myrtle W. Brady hatte ihr Herz an die üppig blühenden Hortensien verloren und Hollis,
der anscheinend in den letzten Wochen ein grüner Daumen gewachsen war, ließ sich
bereitwillig alles über diese Pflanzen erzählen.
Auf der Veranda gab es ein wahres Labyrinth von Pflanzkübeln und selbst der schmale
Weg durch den Vorgarten war mit etlichen Tontöpfen gesäumt. Eigentlich gefiel ihm
dieses bunt blühende Grünzeug recht gut, stellte der Silberfuchs fest.
„Kannten Sie die Campbells eigentlich näher, Myrtle?“ Griff die ehemalige CID-Agentin
den eigentlichen Grund ihres Besuchs noch einmal auf.
Nachdenklich wog Mrs. Brady den Kopf hin und her. „Nun ja, Ford und Victoria haben
gegenüber gewohnt und… Man bekommt – ob man will oder nicht - nun einmal viel mit,
wenn man nicht den Kopf in den Sand steckt.“
Wie auf Kommando nickten sowohl Hollis als auch Jethro mit scheinbar wissendem Blick
– keiner von ihnen hatte je mehr über die direkten Nachbarn gewusst als deren Namen.
„Können Sie sich erklären warum die Familie so eilig den Ort verlassen hat?“, hakte die
Blonde nach.
Erstaunt suchte die alte Dame den Blick ihrer Besucherin. „Aber sicher. Nach dem
Unfall… Sie haben davon gehört nehme ich an?“
Hollis und Gibbs tauschten einen schnellen Blick. Das einzige was sie in den archivierten
Zeitungsartikeln gefunden hatten, war die Erwähnung einer Frau im passenden Alter, die
bei einem Treppensturz ums Leben gekommen war. „Wir haben von einem Unfall gehört,
aber nicht was genau geschehen ist.“
Mit geheimnisvoller Miene beugte Myrtle sich vor. „Das ist ja gerade das merkwürdige,
meine Liebe. Überall heißt es sie sei die Treppe hinuntergefallen, aber… Wenn Sie mich
fragen…“ Mrs. Brady machte eine bedeutungsschwangere Pause und Hollis tat der
Älteren den Gefallen und warf ein scheinbar wissbegieriges „Ja?“ in den Raum.
„Ich denke ja, dass Ford sie umgebracht hat!“
Hollis schnappte nach Luft. Vor ihrem inneren Auge erschienen Bilder eines verzweifelten
Mannes, der versuchte einer freudlosen Ehe entfliehen zu können.
Jethro hatte sich aufgerichtet und seine Kaffeetasse auf den kleinen Tisch gestellt. „Wie
kommen Sie auf diese Behauptung, Ma’am?“, schlug der Grauhaarige ganz unwillkürlich
seinen Ermittler-Tonfall an.
Myrtle zuckte mit den Schultern und ließ ihren Blick zu dem verlassenen Haus wandern,
dessen Garten verwildert dalag. „Sie konnte aufbrausen wie eine Furie. Ich glaube… Also,
ich hatte den Eindruck, dass sie nicht nur mit Worten auf ihren Mann losging.“ Sie
schürzte abfällig die Lippen. „Diese Frau war… Sie war eine Stilikone und immer adrett
gekleidet. Sie tat immer vornehm und höflich. Sie grüßte nett, wenn wir uns sahen.
Aber… Wenn hin und wieder die Fenster offen standen und… Sie benahm sich nicht wie
eine treusorgende Mutter und Ehefrau, sondern wie ein General. Schlimmer… Sie schien
für die Familie kein freundliches Wort übrig zu haben.“
Mrs. Brady schüttelte betrübt den Kopf. „Wenn die Jungen mit ihren Frauen und Kindern
zu Besuch kamen – was allerdings nur sehr selten vorkam – dann konnte man Victoria
immer zetern hören. Manchmal habe ich den Kindern Kekse geschenkt, die armen
Gestalten konnten einem ja leidtun. Und immer reisten die jungen Männer mit ihren
Familien schnell wieder ab. Einmal, das muss im Frühjahr gewesen sein, kurz bevor
dieser… Unfall geschehen ist, da habe ich gehört, wie der älteste Sohn seinem Vater
zugesprochen hatte, er möge doch mit ihnen kommen. Doch Ford, die gute Seele… Er
wollte nicht weg gehen.“ Sie seufzte schwer. „Am Ende haben diese ständigen
Spannungen ihn wohl aufgezehrt. Er war verwirrt und kam häufig ungepflegt daher –
unrasiert und mit fleckiger Kleidung. Armer Mann… Hoffentlich findet er nun seinen
Frieden – wo auch immer er sein mag.“
Mit einem weiteren noch tieferen Seufzer erhob sie sich und warf Jethro einen
funkelnden Blick zu. „So! Und nun gönnen wir uns ein Schlückchen vom
Selbstgebrannten! Was meinen Sie?“
Gibbs musste sich auf die Zunge beißen, um nicht laut aufzulachen, doch ein Blick zu
Hollis ließ ihn die Heiterkeit hinunterschlucken.
Sie schüttelte unwirsch den Kopf und deutete kaum merklich in Richtung Wagen. Gibbs
musterte sie einen Momentlang aufmerksam, bevor er sich mit einem verneinenden
Kopfschütteln an Mrs. Brady wandte. „Danke, aber wir… wir haben noch etwas vor und
sollten uns allmählich verabschieden. Ohnehin haben wir schon viel zu viel von ihrer Zeit
und Gastfreundschaft in Anspruch genommen.“
„Gut, wenn Sie meinen… Nein, Moment! Ich habe vielleicht noch etwas, das Ihnen weiter
helfen könnte. Warten Sie, ich bin gleich zurück.“ Eilig hastete Myrtle durch den schmalen
Pfad, den die Tontöpfe auf der Veranda noch freigaben und verschwand im Haus.
Gibbs stand unterdessen auf und reichte seiner Partnerin die Hand, die sie schließlich
nahm und sich regelrecht an ihr hochzog. Verwundert und besorgt ließ Gibbs erneut
seinen Blick über Hollis schweifen. Doch bevor er sie fragen konnte was denn plötzlich
mit ihr los war, kam Mrs. Brady auch schon zurück und schwenkte beinahe triumphierend
einen Zettel durch die Luft.
„Das hätte ich doch beinahe vergessen. Vor gut einem halben Jahr hatte plötzlich eines
dieser Makler-Schilder im Vorgarten des Hauses gestanden. Ich habe vorsichtshalber mal
die Telefonnummer notiert… Nicht dass ich daran gezweifelt hätte, dass es nicht alles
seine Richtigkeit gehabt hätte, aber… Nun ja, Vorsicht ist die Mutter der Porzellan-Kiste,
nicht wahr!“ Die alte Frau lachte ausgelassen.
Jethro und Hollis tauschten verwunderte Blicke.
„Danke…“, meinte die blonde Ex-Ermittlerin und nahm die Notiz an sich. „Es wird Zeit für
uns. Sie haben uns sehr geholfen, Myrtle! Und danke für den Kaffee…“
Ein beinahe bekümmerter Ausdruck huschte über das Gesicht der alten Frau, doch das
Klingeln eines Telefons verwischte diesen Eindruck sofort. Mit einem knappen Gruß und
einer Entschuldigung hastete Mrs. Brady in ihr Haus.
Gibbs legte eine Visitenkarte mit seiner Telefonnummer auf den Tisch, und Hollis einen
Arm um die Taille und stellte fest, dass sie sich schwer gegen ihn lehnte.
„Was ist los?“, wollte er wissen, während er die tiefen Falten entdeckte, die sich um Hollis
Mund eingegraben hatten.
„Lass uns fahren, Jethro.“, wisperte sie leise und presste sich eine Hand auf den
Unterleib.
Voller Sorge half er seiner Freundin in den Wagen und setzte sich ans Steuer. „Sag mir
was los ist, verdammt noch mal!!“, forderte er unwirsch und fuhr hastig los.
„Ich hab heute Morgen meine Periode bekommen…“, murmelte Hollis mit tonloser
Stimme.
Gibbs warf ihr einen erstaunten Blick zu und stierte dann nachdenklich auf die Straße vor
sich. Er wusste, dass sie seit knapp zwei Jahren Medikamente nahm, wegen irgendeiner
„Frauensache“ die während der Periode starke Schmerzen verursachte. Er hatte
dummerweise damals bei Ducky nachgehakt um was für ein „Frauen-Ding“ – dessen
genaue Bezeichnung der Silberfuchs längst wieder vergessen hatte - es sich handeln
könnte. Den Monolog seines alten Freundes, der daraufhin folgte und unangenehm viel
mit wuchernden Schleimhäuten und befallenen Gebärmutterbändern zu tun gehabt
hatte, war dem Grauhaarigen im Gedächtnis geblieben. Dinge, die er niemals hatte
erfahren wollen. Doch noch viel genauer erinnerte er sich an Hollis, die gekrümmt auf
dem Bett gelegen hatte, sich hatte übergeben müssen und die sich vor Schwindel und
Schmerzen kaum auf den Beinen hatte halten können.
„Ich dachte du hättest das im Griff.“, murrte er leise, ohne den Blick von der Straße zu
wenden. Innerlich verfluchte er sich, weil er wieder einmal seine Sorge hinter seinem
ruppigen Verhalten verbarg.
„Scheinbar nicht!“ fauchte die Blonde, während sie nach vorn gekrümmt dasaß und sich
auf die Unterlippe biss.
„Soll ich einen Arzt oder eine Apotheke suchen?“ Gibbs bemühte sich um einen normalen,
besorgten Tonfall, doch er hörte selbst wie schroff er klang. Das wollte er gar nicht, doch
Hollis unter Schmerzen zu sehen, warf ihn vollkommen aus der Bahn.
„Nein!“, grollte sie beinahe tonlos und kniff die Augen zusammen.
Jethro nickte nur und fuhr noch ein wenig schneller.
„Wir sind gleich da, Hol‘!“ Endlich schaffte er es seine Stimme sanfter klingen zu lassen
und griff nach ihrer Hand. Hollis Finger schlossen sich energisch um die seinen. Er spürte
wie feucht ihre Handfläche war und ein Seitenblick verriet ihm, dass seiner schönen
Geliebten Schweißperlen auf der Stirn standen.
Staub und kleine Steinchen wirbelten auf, als der Grauhaarige den Wagen in der Nähe des
Bootsanlegers zum Stehen brachte. Er eilte um das Auto herum und öffnete Hollis die
Tür.
Die Erinnerung an den Tag vor etwas über zwei Jahren, als es der ehemaligen CID-Agentin
schon einmal so schlecht ging, traf ihn mit Wucht. Damals hatte es ihn vollkommen kalt
erwischt und auch heute fühlte er sich schlichtweg hilflos. Gibbs hatte keine Ahnung was
er tun konnte, damit es seiner Geliebten besser ging.
Als er mit bebenden Fingern versuchte das Türschloss des Bootshauses zu öffnen, legte
seine Partnerin ihm eine Hand an die Wange und suchte seinen Blick.
„Hey! Ich habe Medikamente dagegen… Eine Stunde Ruhe und alles ist vergessen.“ Sie
hatte versucht ihre Stimme so ruhig wie möglich klingen zu lassen, doch die Krämpfe
machten es ihr nicht leicht, einen festen Tonfall anzustimmen.
Jethro nickte nur und küsste sie behutsam auf die Stirn. „Hoffentlich, ich hab schon
immer eine ganz beschissene Krankenschwester abgegeben.“, murmelte er und führte
Hollis dann in Richtung ihres Bettes.
23. Kapitel
Hollis zuversichtliche Einschätzung, dass innerhalb einer Stunde der Spuk ein Ende haben
und es ihr wieder besser gehen würde, schlug fehl. Auf die Einnahme der Schmerzmittel
folgte ein heftiger Brechreiz, sodass keine lindernde Wirkung eintreten konnte.
Schließlich löste der ehemalige Ermittler zwei der Pillen in warmem Tee auf. Löffelweise
nahm Hollis diesen zu sich, ohne dass der Würgereiz sie erneut in die Knie zwang.
Wie ein Häufchen Elend lag die schöne Blonde auf dem breiten Bett und fiel, als die
Unterleibskrämpfe zu einem erträglichen Maß abgeklungen waren, in einen unruhigen
Schlaf. Gibbs hatte ihre Ruhepause genutzt und war – wie immer viel zu schnell – in den
kleinen Ort gefahren und hatte den dort ansässigen Apotheker mit seinem unerbittlichen
Blick dazu genötigt, das Lager der Apotheke nach einer Wärmflasche zu durchsuchen.
Vermutlich hielten die Mitarbeiter ihn für einen Irren – draußen hatte es etwas über
dreißig Grad und er verlangte vehement nach einer Wärmflasche, doch das war dem
Silberfuchs gleich. Er wusste, dass die Wärme seiner Partnerin helfen würde, also würde
er dafür sorgen, dass sie diese bekam!
Dankbar hatte Hollis die kleine Wärmequelle an sich genommen und wirkte schon etwas
entspannter. Was man von ihrem Partner nicht behaupten konnte.
Unruhig tigerte der Silberfuchs durch das Hausboot und über dessen Terrasse. Er hatte
das Gefühl, dass die Sorge ihn vollkommen verrückt werden ließ. Gibbs konnte nichts tun,
um seiner Partnerin die Situation zu erleichtern. Er war gezwungen daneben zu stehen
und darauf zu vertrauen, dass irgendwelche Medikamente Besserung brachten. Leise
fluchend griff er nach Hollis Notizen zu ihrer Suche nach Ford Campbell. Er sollte sich
sinnvoll beschäftigen, versuchen ihre Suche voranzutreiben, damit die weite Fahrt hierher
nicht vollkommen umsonst gewesen war.
Jethro griff nach einem Stift und seiner Lesebrille, dann begann er damit die neuen
Informationen, die das Gespräch mit Mrs. Brady gebracht hatte, zu ergänzen und wählte
die Nummer des Immobilienmaklers, welche von der alten Frau so sorgfältig notiert
wurden war. Was würden Ermittler nur ohne die Neugierde der Nachbarn machen. Gibbs
schmunzelte amüsiert und lauschte dem Rufton. Doch schließlich sprang nur die Mailbox
an, woraufhin Gibbs eine Nachricht hinterließ.
Im Anschluss las er noch einmal gründlich alles durch, was Hollis über Ford
zusammengesammelt hatte. Nachdenklich kreiste Gibbs die kurze Passage über das
Segelboot des Mannes ein. Ford war über Jahre hinweg immer von Engelhard über den
Pamlico Sound nach Avon gesegelt – stets mit dem gleichen Boot. Hastig überflog der
Silberfuchs die weiteren Absätze. Doch leider hatte Hollis nicht vermerkt, ob das Boot das
ganze Jahr dort vor Anker gelegen hatte, oder ob er es extra für diesen Turn in den Hafen
von Engelhard hatte bringen lassen.
Möglicherweise konnte Janis ihm dazu etwas sagen.
Kurzentschlossen wählte er die Nummer der Frau, nach wenigen Klingeltönen erklang
eine weiche, freundliche Stimme.
„Jethro Gibbs, NCI…“ Der Silberfuchs räusperte sich, während er sich innerlich selbst eine
Kopfnuss verpasste. „Ähm…. Mrs. O’Roake, ich unterstütze Hollis bei der Suche nach Mr.
Campbell und hätte noch eine Frage an Sie.“
Janis klang erstaunt. „Oh, ich hatte nicht erwartet, dass Sie auch… Soviel Mühe, nur weil
ich…“
Jethro lachte leise. „Machen Sie sich darüber keine Gedanken, Janis! Es geht um das Boot
ihres… Um das Boot von Mr. Campbell. Hat es all die Jahre in Engelhard gelegen oder hat
er es dorthin transportiert, wenn er sich mit ihnen auf den Banks getroffen hat?“
Ein nachdenkliches unartikuliertes Geräusch erklang. „Ich bin mir ehrlich gesagt nicht
ganz sicher. Ich glaube die ersten Jahre hat das Boot immer im Hafen von Engelhard
gelegen, aber ich weiß, dass er auf dem Mountain Island Lake auch gesegelt ist. Allerdings
weiß ich nicht, ob es dasselbe Boot war oder ob er ein zweites hat… hatte.“
Jethro nickte und machte einen weiteren Vermerk auf Hollis Unterlagen. „Das lässt sich
herausfinden. Haben Sie vielen Dank, Janis. Holly wird sich morgen sicher bei Ihnen
melden.“
Wie immer beendete der Silberfuchs auch dieses Gespräch ohne einen weiteren Gruß.
Seufzend stemmte er sich aus dem bequemen Korbstuhl auf und ging in die Küche. Mit
großen Schlucken trank er Wasser aus einem Glas und schaute dann durch die geöffnete
Tür in das angrenzende Schlafzimmer.
Er hätte noch ein wenig durch den Ort laufen, einige Leute zu der Familie Campbell
befragen können, doch sie hatten noch den gesamten morgigen Tag, um ihre Suche
voranzutreiben. Leise schlich der Silberfuchs hinüber zu dem großzügigen Bett, stieg aus
der Hose und seinem Poloshirt und ließ sich auf die Matratze sinken.
Behutsam, um seine Geliebte nicht zu wecken, streckte er sich aus und verschränkte die
Arme unter dem Kopf. Unwillkürlich glitten seine Gedanken zu den vergangenen
Monaten und er fragte sich, wie Hollis diese Zeit hatte überstehen können.
Obwohl Gibbs wusste, dass die schöne Blonde in wenigen Stunden wieder ganz die Alte
sein würde, brachte es ihn beinahe um den Verstand sie so zu sehen. Wie hatte sie es nur
geschafft all die Wochen an seiner Seite zu sein, ohne vollkommen zu entkräften? Immer
hatte Hollis genug Stärke bewiesen um seine Schwächen auffangen zu können. Ihre
Tapferkeit war einmalig.
Warum hatte er das zuvor nie erkannt? Warum hatte er ihre Nähe die ganze Zeit als
selbstverständlich hingenommen? Plötzlich war ihre Ablehnung so gut nachvollziehbar. Er
verstand nun, warum sie so viel Zeit und Distanz gebraucht hatte, um ihn am Ende doch
wieder zurückzunehmen, sich erneut auf eine Beziehung zu ihm einlassen zu können.
Jethro rollte sich auf die Seite und biss sich dabei auf die Lippe. Noch immer kosteten ihn
die einfachsten Dinge enorm viel Kraft und obwohl es Tag für Tag ein wenig besser
wurde, würde er nie wieder ganz der Alte werden. All das lastete Hollis sich nun erneut
auf und trotzdem schien ihre neuerblühte Liebe sie zuversichtlich und glücklich zu
stimmen.
Allein auf der Fahrt hierher nach Charlotte hatten sie viel miteinander gelacht und ihre
Zweisamkeit genossen wie selten zuvor. Ihre Nähe und Liebe war ein Geschenk und
unendlich wertvoll.
Die Blonde regte sich und wandte sich dem Grauhaarigen zu. Sie blinzelte und ein
liebevolles Lächeln umschmeichelte ihre süßen Lippen.
Ohne ihren Blickkontakt zu unterbrechen, schob Gibbs seine Hand zu ihr hinüber und
strich ihr eine widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht. Dann griff er nach ihrer Hand
und führte sie zu seinem Mund. Sanft küsste er die Knöchel ihrer eleganten Hände.
„Danke, Hol‘“ wisperte er mit leiser Stimme. „Danke, dass du für mich da gewesen bist,
als… Ich weiß nicht, ob ich dasselbe für dich tun könnte.“ Gab er zu und senkte den Blick
nun doch.
Ihre Finger strichen ihm zärtlich durch das Haar, glitten über seine Wange, seine Brust
und fanden schließlich seine freie Hand.
„Ich habe nicht darüber nachgedacht, ob es für mich eine Alterative gäbe, Jethro. Ich
wollte nur bei dir sein…“, erwiderte sie ohne jede Spur von Bitterkeit in der Stimme,
wofür er sie gleich noch weit mehr bewunderte.
Ihre Worte bewegten ihn und machten ihm deutlich, was für eine wunderbare Beziehung
sie geführt hatten. Eine Beziehung die er ohne zu hinterfragen beendet hatte. In diesem
Moment wusste er nur zu genau, wie sehr sie sein Misstrauen und seine Zweifel verletzt
haben mussten. Gibbs hatte endlich begriffen…
„Danke für… für die neue Chance, Holly.“
Er schluckte schwer, rückte näher zu ihr herüber und schloss die Arme um ihren zierlichen
Körper. Für den Moment schien seine Kehle wie zugeschnürt, doch ihre weiche Haut zu
küssen brachte Linderung.
Als Jethro glaubte sich wieder im Griff zu haben, schaute er auf und suchte erneut ihren
Blick. „Geht es dir besser?“
„Ja, morgen ist das wieder vergessen. Keine Sorge…“
Müde schmiegte der ehemalige Colonel sich gegen die Brust ihres Lebensgefährten und
genoss seine Wärme und die Geborgenheit, die seine Nähe ihr versprachen.
24. Kapitel
Schwerfällig stieg der Silberfuchs aus seinem gelben Dodge und hangelte nach seiner
verhassten Gehhilfe. Die anstrengenden Tage, die fremden Betten - all das forderte
nunmehr seinen Tribut. Unbeweglich, steif und mit schmerzender Hüfte, war Gibbs nach
einer unruhigen Nacht aus dem Bett gestiegen. Nach einer Tasse Kaffee auf der kleinen
Veranda des Hausbootes hatte er kurzerhand nach seinen Autoschlüsseln gegriffen und
ihre Unterkunft leise verlassen.
Gibbs beneidete Hollis um ihren tiefen und vor allem ruhigen Schlaf – er hatte nicht vor
sie eher als nötig diesem zu entreißen.
Der Grauhaarige war zu einem kleinen Supermarkt in der Nähe gefahren und hatte ihnen
ein gutes Frühstück besorgen wollen. Doch leider schien Murphys Gesetz überall zu
gelten: Der Ofen in dem Geschäft verweigerte just an diesem Morgen seine Dienste und
so blieb ihm nur die Wahl zwischen abgepacktem Brot oder Kuchen.
Da die angebotenen Waren nicht seinen Geschmack getroffen hatten, hatte der
Silberfuchs schlicht nach zwei verschiedenen Sorten Poptarts, einer Packung Cornflakes,
einem Becher Quark und einem Liter Milch gegriffen. Frühstück a` la Gibbs…
Er wusste, dass vom Vortag noch einige Erdbeeren da waren, die er in den Quark
schneiden würde –Hollis liebte frischen Früchtequark zum Frühstück. Und insgeheim
hatte Jethro ohnehin eine Vorliebe für die viel zu süßen Poptarts.
Schon jetzt, während er über den schmalen Anleger hinüber zu ihrem Hausboot ging,
konnte er sich, bei dem Gedanken an Hollis‘ tadelnden Blick, ein Schmunzeln nicht
verkneifen. Hollis hatte ein Faible für gesunde Ernährung und nur allzu häufig kollidierten
ihre jeweiligen Vorlieben hart miteinander.
Leise öffnete Jethro die Tür zu dem kleinen Wohnbereich und schlich hinüber zu der
Küchenzeile. Ein Geräusch ließ ihn aufhorchen.
Verhaltenes Schluchzen erklang aus dem Schlafzimmer, doch es klang nicht nach Hollis.
Gibbs runzelte die Stirn und schlich leise hinüber zur Tür, sodass er in den Raum spähen
konnte. Ein Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit.
Der Fernseher lief und zeigte eine Wüstenszene, eine Handvoll Männer und eine Frau
waren in der prallen Sonne an einigen Pfähle gefesselt und warteten auf ihren nahenden
Tod.
Gibbs musterte zu Hollis amüsiert, die auf dem Bett saß und wie gebannt dem Geschehen
auf dem Bildschirm folgte. Ohne ihren Blick von der Szene zu lösen flüsterte die Blonde
leise: „Sie haben Robin Hood neu verfilmt. Gott, ich habe es geliebt… Awww….“, rief sie
entzückt aus, was Gibbs auflachen ließ.
Doch ein energisches „Pssst!“ ließ ihn verstummen.
„Sag die Worte!“, kam es von der hübschen Dunkelhaarigen, die Amy ein wenig ähnlich
sah, woraufhin der unrasiert Kerl irritiert wissen wollte was genau er sagen sollte.
„Ich, Robin, nehme Marion…“, betete die Brünette ihm vor.
Erneut lachte Gibbs laut auf und schüttelte den Kopf. „Naja, wenn man ohnehin stirbt…“
Binnen Sekunden traf ihn ein Kissen hart am Kopf.
„Raus, du Banause! Das hier gehört zu meinem Wohlfühlprogramm! Ich hab mir das
verdient!!“, schimpfte Hollis, legte ihre Aufmerksamkeit allerdings sofort wieder auf die
Wüstenszene, ohne Gibbs Reaktion abzuwarten.
Die Stimme des Mannes, der Robin Hood darstellte, brach während seines Gelübdes
immer wieder, woraufhin Jethro endgültig das Weite suchte. Es überraschte ihn, dass
Hollis sich von dem Fernsehprogramm dermaßen fesseln ließ. Obwohl sie sich nun schon
seit Jahren kannten, schaffte seine Schöne es doch immer wieder ihn zu überraschen.
Liebevoll richtete Gibbs das Frühstück für sie beide her, kochte einen Tee für Hollis und
frischen Kaffee für sich. In einem der Küchenschränke fand er ein Tablett, das er belud
und ins angrenzende Schlafzimmer trug.
Vorsichtig stellte er es auf einem der Nachtschränke ab und hob den Blick als ein
verzweifelter Schrei, dicht gefolgt von dramatischer Musik erklang.
Der frisch vermählte Robin Hood rannte mit dem Bogen in der Hand über einen Platz und
sank neben der Brünetten, die am Boden lag, auf die Knie. Tränen schossen in die Augen
des Mannes.
Gibbs Augenbrauen schnellten in die Höhe. „Hat Sean Connery früher auch so viel geheult
in dem Film?“
Hollis musste unwillig lachen, auch wenn ihr beim Anblick der Szene die Tränen in die
Augen getreten waren. „Gisborne hat sie einfach umgebracht, Jethro! Das ist traurig…“
Die ehemalige Agentin erkannte, dass Jethro hart gegen ein kaum zu bändigendes
Auflachen ankämpfte und als sich dann tatsächlich eine Träne aus ihrem Augenwinkel
stahl, überrollte auch die schöne Blonde der Drang laut loszulachen. „Du… du weißt, dass
Sean Connery Robin Hood gespielt hat?“, gluckste die schöne Blonde.
Der Grauhaarige ließ sich neben sie auf die Matratze sinken und zog Hollis unter
schallendem Gelächter in die Arme. Schluchzend und lachend zugleich ließ sie ihren Kopf
auf seine Schulter sinken.
„Natürlich! Du bist nicht die erste Frau an meiner Seite, die ein Faible für Helden in
Strumpfhosen hat. Gott, Hollis! Ich liebe Dich…!“ lachte der Grauhaarige und küsste sie
liebevoll auf die Haare. „hast du Lust auf ein Frühstück a`la Gibbs?“
Der Blick der schönen Blonden glitt hinüber zu dem Tablett und forderte ein erneutes
Auflachen.
„Hey!“, empörte sich Gibbs, gefolgt von dem typischen Gesichtsausdruck, den er
aufsetzte, wenn er sich missverstanden fühlte. „Ich habe dir einen Erdbeerquark
gemacht!“
Sie rollte mit den Augen und nickte dann mit gewichtiger Miene. Sanft strich sie ihrem
Lebensgefährten über den Hinterkopf. „Eine Frau könnte sich keinen Besseren als dich
backen!“
„Lass das!“ murrte der Grauhaarige amüsiert, schlang die Arme um seine Freundin und
zog sie mit sich in eine liegende Position.
Mit einem herausfordernden Blick bedachte er sie und griff dann nach der Schale mit dem
Quark, während sein Gewicht auf ihr, sie tief in die Kissen zwang.
Mit einem Handgriff hatte der Silberfuchs das Tank-top, welches seine Freundin zum
Schlafen getragen hatte hinunter gezogen und deren Brüste entblößt.
„Jethro!“ empörte Hollis sich und versuchte sich aus seinem Griff zu befreien. Mit wenig
Erfolg.
Gibbs griff nach einer Erdbeere, die nicht im Quark gelandet war, und tauchte diese in die
cremige zartrosa Masse. Als die kühle Frucht die zarte Haut ihrer Brust traf, zuckte die
Blonde unwillkürlich zusammen.
„Erdbeerquark ist nicht unbedingt das, was ich zum Leben brauche. Aber von deinen
Brüsten schlecke ich ihn gern…“ murmelte Gibbs und senkte die Lippen auf ihre Haut.
Sanft leckte der Grauhaarige die Süßspeise von ihrem Dekolleté und ließ seinen Mund
weiter wandern, bis er ihre harten Brustwarzen gefunden hatte.
Er wusste, dass seine Lebensgefährtin auf jede Liebkosung ihrer süßen Knospen mit
ungeahnter Intensität reagierte und genoss ihre prompte Erregung. Liebevoll glitten
seine Hände über ihren Körper und verwöhnten sie mit Zärtlichkeiten.
Doch nach wenigen Augenblicken ließ er von ihr ab und stützte sich auf den Ellenbogen.
„Frühstück, Hol!“, meinte er bestimmt und erstickte jeden Kommentar ihrerseits, in dem
er seine Lippen zu einem liebevollen Kuss auf die Ihren legte. „Du bist viel zu dünn und
der letzte Tag hat dich eine Menge Energie gekostet. Jetzt bin ich damit dran auf dich
Acht zu geben, meine Schöne!“
Hollis seufzte leise. Ihr Verlangen nach Jethro mochte noch so groß sein. Sie würde nie
mit ihm schlafen, während sie ihre Tage hatte. Doch seine Berührungen hatte die Blonde
nur zu sehr genossen.
Während sie aßen, besprachen Hollis und Jethro wie sie den Tag nutzen konnten um an
weitere Informationen zu Ford Campbell zu gelangen. Sie einigten sich darauf, getrennte
Wege zu gehen. Während Gibbs sich im Hafen der Stadt nach Ford erkundigen wollte,
würde Hollis zum nahegelegenen Golfplatz fahren, auf dem Viktoria zu meist ihre Freizeit
verbracht hatte.
Nachdem beide geduscht und sich ausgiebig auf den kommenden Tag vorbereitet hatten,
verließen sie das Boot. Der Weg zum Hafen von Mount Holly war nicht weit. Als Hollis den
Wagen hielt wandte sie sich ihrem Geliebten zu und legte eine Hand an dessen Wange.
„Lauf nicht zu viel rum, Jethro. Und ruf an, wenn du fertig bist. Entweder beeile ich mich
dann zu dir zu kommen oder du nimmst ein Taxi zurück zum Hausboot. Mir gefällt nicht,
dass…“
Gibbs schüttelte mit einem nachsichtigen Lächeln den Kopf und legte der schönen
Blonden einen Finger an die Lippen. „Sei still! Ich bin jetzt dran mich um dich zu sorgen!“
Er beugte sich vor und küsste liebevoll ihre Lippen.
„Darf ich dich noch daran erinnern deine Tabletten einzunehmen?“, meinte Hollis mit
einem bestimmenden Tonfall.
„Nein, darfst du ni…“
Augenrollend unterbrach der Colonel ihn, doch ihr Tonfall blieb liebevoll. „Mach es dir
nicht unnötig schwer – es ist kein Zeichen von Schwäche wenn man Schmerzmittel
einnimmt.“
Gibsb wiegte den Kopf hin und her. „Da bin ich mir nicht ganz sicher…“, lachte der
Silberfuchs und küsste sie erneut. „Ich passe auf mich auf, Hol‘, und du auf dich! Bis
später, meine Schöne!“
Voller stiller Begeisterung und mit einem Hauch Sehnsucht ließ Jethro seinen Blick über
die, an den hölzernen Stegen befestigten, Boote des kleinen privaten Yachthafens von
Mount Holly gleiten. Die Sonne stand noch tief und ließ das ruhige Wasser des großen
Sees funkeln.
Auf einem der Stege, die weit auf den See hinaus ragten, arbeitete zu dieser frühen
Stunde bereits ein Mann.
Mit einem leisen Ächzen stützte sich der Silberfuchs auf seine Gehhilfen. Obwohl nach
einer Woche ohne Physio- und Stoßwellentherapie mit einem Rückschlag zu rechnen
gewesen war, frustrierte es den Grauhaarigen, dass die Schmerzen und die
Unbeweglichkeit in seinem Bein erneut zunahmen. Auch seinem Rücken schienen die
ungewohnten Matratzen seiner letzten Schlafplätze nicht recht zu gefallen. Die letzten
Tage hatten ihn mehrfach an seine Grenzen gebracht und nun bekam er die Quittung,
doch Jethro biss die Zähne zusammen. Er würde sich nicht von diesen verfluchten
Zipperlein kleinkriegen lassen!
Der unbekannte Mann hatte Gibbs bereits entdeckt und kam ihm mit fragendem Blick
entgegen.
„Kann ich Ihnen helfen, Sir?“ rief der Mann, während Jethro auf ihn zu humpelte.
„Das hoffe ich doch!“ erwiderte der Silberfuchs und konnte den Blick nicht von den
eleganten Bootsrümpfen lösen. Er brummte einen anerkennenden Laut, als er nun
endgültig dem Mann vor ihm seine Aufmerksamkeit schenkte.
„Ich bin auf der Suche nach einem Mann Namens Ford Campbell. Kennen Sie ihn zufällig?“
Der Arbeiter kniff die Augen zusammen und musterte Gibbs aufmerksam. „Warum ist das
wichtig, Sir?“
Gibbs spürte das Misstrauen des Jüngeren und entschied sich dazu ihm die Tatsachen
anzudeuten. „Eine alte Freundin von Mr. Campbell ist auf der Suche nach ihm. Sie sorgt
sich um seinen Verbleib. Die Familie scheint wie vom Erdboden verschluckt.“
Nachdenklich legte der Brünette eine Hand an sein Kinn und schien abzuwägen wie
vertrauenswürdig Jethro sein mochte. Schließlich nickte er und deutete hinüber zu
einigen Bootshäusern am anderen Ende der Anleger.
„Da hinten finden sie Matt Dillan. Fragen Sie ihn. Wenn einer was weiß, dann er.“
Mit einem knappen Gruß wandte der Mann sich ab und widmete sich erneut seinem
Tagewerk.
25. Kapitel
Sich aufmerksam umschauend durchquerte Hollis den großzügigen Salon des Pine Island
Golfclubs. Wie ihr von dem jungen Mann am Empfang gesagt wurde, saßen eine Handvoll
Frauen zusammen auf einer großzügigen Terrasse und genossen ihren Vormittagstee.
Die ehemalige Agentin musterte die Gesichter, während sie sich dem Tisch näherte. In
diesem Moment wurde ihr nur allzu deutlich, dass sie keine Agentin mehr war. Dieses
innere Zögern kannte die Blonde nicht von sich. Doch schließlich gewann die jahrelang
antrainierte Ruhe und Professionalität wieder die Oberhand und Hollis machte mit einem
Räuspern auf sich aufmerksam.
„Guten Morgen! Entschuldigen Sie bitte, dass ich Ihre Gespräche unterbreche.“ Grüßte
Hollis freundlich in die Runde und spürte die neugieren bisweilen misstrauischen Blicke
der anwesenden Damen. „Mein Name ist Hollis Mann. Mr. Malloy vom Empfang hat mich
zu Ihnen geschickt, da ich auf der Suche nach jemandem bin, der mit Victoria Campbell
bekannt war. Er meinte, dass ich bei Ihnen fündig werden würde.“
Eine Mittsechzigerin mit akkurater Kurzhaarfrisur erhob sich mit einer anmutigen
Bewegung und ließ ihren Blick kalt und verhalten über die jüngere Frau gleiten. „Und
warum sind Sie auf der Suche nach Freundinnen von Victoria?“
„Im Grunde bin ich auf der Suche nach Victorias Hinterbliebenen, doch die Familie
Campbell scheint wie vom Erdboden verschluckt.“, erklärte die Blonde ausführlicher,
während ihre Gegenüber nur missbilligend die Augenbrauen lüpfte.
„Vermutlich ist das Untertauchen der Familie ein Schuldeingeständnis.“ Meinte die Frau
nun Schulter zuckend und ließ sich erneut auf ihrem Stuhl nieder, wo sie kerzengerade
saß und Zustimmung heischend zu ihren Freundinnen schaute. Die anderen Damen
nickten nur. „Ich denke nicht, dass wir Ihnen weiterhelfen können!“
Der bestimmende Tonfall der Älteren erstaunte Hollis und machte ihr deutlich, dass sie
hier scheinbar an die falschen Frauen geraten war. Die Damen schwiegen sich aus, doch
es schien der Blonden eher so, als wollten sie ihr Wissen nicht teilen. Mit einem Seufzen
griff Hollis an einer der Damen vorbei und angelte nach einer der schweren
Papierservietten. Ohne auf die allgemeine Empörung zu achten schrieb sie ihre
Handynummer darauf und legte die Serviette zurück auf das weiße Tischtuch. „Für den
Fall, dass einer von Ihnen doch etwas einfallen sollte…“
Grußlos wandte Hollis sich um und verließ die Terrasse über einen schmalen Kiesweg, der
sich an dem imposanten Clubgebäude entlang schlängelte und zu dem angrenzenden
Parkplatz führte. Hollis musste schmunzeln. Gibbs gelber Dodge wirkte absolut fehl am
Platz zwischen all den Luxuskarossen.
Unzufriedenheit wollte sich in der ehemaligen Agentin breit machen, doch es hätte nichts
genutzt die Ladys weiter zu belagern. Im Rudel waren Menschen dieses Schlags nur
schwer zum Reden zu bringen. Doch sie hatte Zeit. Sie würde einfach warten, bis eine der
Frauen allein in Richtung ihres Wagens gehen würde und dann noch einmal versuchen ins
Gespräch zu kommen.
Auf einer einladenden Bank vor dem Clubhaus ließ die Blonde sich nieder. Hollis holte ihre
Sonnenbrille aus der Handtasche, wandte das Gesicht der Sonne zu und genoss die
warmen Strahlen auf ihrer Haut. Sie beneidete Jethro für die Gabe, bei dem kleinsten
Sonnenhauch sofort braun zu werden. Ihre Haut blieb lange blass, nur um am Ende rot zu
werden. Es war eine Schande!
Unsichere Schritte ließen die Blonde aufschauen. Sollte tatsächlich eine der Frauen in der
kurzen Zeit eingebrochen sein?
Blinzelnd schaute Hollis in die Richtung aus der die Schritte zu hören waren und lächelte
seicht, als eine dunkelhaarige Frau neben ihr Platz nahm. Sie hatte nicht am Tisch der
angeblichen Freundinnen von Mrs. Campbell gesessen, sondern einige Tische entfernt
und schien in eine Zeitschrift vertieft gewesen zu sein. Nicht so sehr wie es den Anschein
erweckt hatte, mutmaßte Hollis.
„Hi!“ sagte sie leise und freundlich. „Sie haben sich nach Victoria erkundigt. Darf ich
fragen warum?“
Die pensionierte Ermittlerin schob sich die Sonnenbrille in die Haare und erwiderte: „Ich
bin auf der Suche nach Ford Campbell. Doch leider scheint er sich in Luft aufgelöst zu
haben.“
Die andere nickte nachdenklich. „Entschuldigung. Mein Name ist Helen, Helen Fisher. Ich
habe Victoria gekannt.“
Die Blonde nickte und reichte Helen die Hand. „Hollis Mann. Waren Sie mit Victoria
befreundet?“
„Nein, im Grunde kannten wir uns kaum. Allerdings war ich am Tag vor ihrem Tod bei den
Campbells. Wir haben gemeinsam im Komitee für eine Wohltätigkeitsveranstaltung zu
Gunsten des hiesigen Krankenhauses mitgewirkt und ich hatte Victoria etwas
vorbeibringen wollen.“ Sie seufzte leise und runzelte die Stirn. „Einer ihrer Söhne fing
mich direkt im Vorgarten ab und entschuldigte seine Mutter. Sie sei krank und könne
keinen Besuch empfangen. Allerdings konnte ich sie hören… Es hatte nach einem
handfesten Streit geklungen. Sie hat mit allerhand sehr… unfeinen Worten um sich
geworfen, die ich nur ungern wiederholen würde. Der junge Mr. Campbell hatte sich
immer wieder dem Haus zu gewandt und mit ziemlich verzweifelter Miene um
Entschuldigung gebeten.“
Helen Fisher zuckte die Schultern, woraufhin Hollis ihr aufmunternd zu lächelte.
„Es hatte schon immer Gerüchte gegeben, die besagten, dass Ford seine Frau seit Jahren
mit einer Jüngeren betrog, aber…“ Helen unterbrach sich und musterte Hollis plötzlich
mit erschrockener Miene. „Sie sind aber nicht Fords junge Geliebte, oder?“
Hollis lachte leise. „Nein, das bin ich nicht.“
„Oh gut. Es hieß immer, dass die Ehe der beiden nicht sehr glücklich war. Und sobald man
sie gemeinsam in der Öffentlichkeit erlebte, konnte man die Distanz zwischen ihnen
spüren. Es muss furchtbar sein so zu leben“, schloss die Dunkelhaarige und erhob sich
zögernd von ihrem Platz.
„Vermutlich habe ich Ihnen nicht weiterhelfen können, aber das hätte sicher auch keine
der anderen. Niemand war wirklich eng mit Victoria befreundet, soweit ich das sagen
kann. Sie blieb für sich und ich wüsste nicht, dass Ford jemals im Club gewesen ist. Es tut
mir leid.“
Hollis war ebenfalls aufgestanden. „Jede Information bringt mich ein wenig weiter,
Helen. Vielen Dank, dass Sie mir gesagt haben was Sie wissen. Es sind die vielen kleinen
Puzzleteilchen aus denen das Gesamtbild entsteht. Danke!“
Nachdem Helen Fisher wieder zurück im Golfclub verschwunden war, ging Hollis hinüber
zu Jethros Wagen und stieg ein. Sie würde die Zeit nutzen und der Maklerin einen Besuch
abstatten. Sie hatte über die Telefon Rückwärtssuche die Adresse bekommen und würde
versuchen über diese an hoffentlich fundiertere Informationen zu gelangen.
Langsam ging Jethro an den Anlegern des kleinen Hafens vorbei und musterte die Boote
interessiert. Als er endlich die Bootshäuser erreicht hatte, stand bereits ein junger Mann
davor und musterte den Silberfuchs interessiert.
„Wollen Sie zu mir, Sir?“ fragte der Blonde höflich.
Jethro schätzte den Mann in Arbeitshosen und mit Holzlack an den Hemdsärmel auf etwa
Mitte zwanzig.
„Wenn Sie Matt Dillan sind, ja!“ erwiderte Gibbs ein wenig atemlos und lehnte sich gegen
die Wand neben der schmalen Tür, die scheinbar in eine Werkstatt führte.
Der Junge lächelte ihm freundlich entgegen und lud Gibbs mit einem Kopfnicken ein
hereinzukommen. Sofort umgab den Silberfuchs der Duft von Holz und Lack – ein Lächeln
schlich sich in die Züge des Grauhaarigen.
„Setzen Sie sich doch, Sir!“ bot Matt an und deutete auf einen Hocker, der vor einer
Werkbank stand.
Es blieb Gibbs nichts anderes übrig, als das Angebot anzunehmen, was sofort das heiß
glühende Gefühl von Frust in ihm aufsteigen ließ.
„Haben Sie etwas dagegen wenn ich kurz meine Arbeit beende? Ich lackiere grad die
Fensterrahmen der alten Lady, damit ich sie später einsetzen kann. Wenn ich die Arbeit
unterbreche, wird der Lack womöglich fleckig.“
Gibbs nickte und ließ den Blick durch die gut sortierte Werkstatt schweifen. Ein Kribbeln
erfasste seinen Körper und der Drang nach den Werkzeugen des Jüngeren zu greifen war
beinahe übermächtig. Trotz des anhaltenden Protests von Rücken und Hüfte stützte sich
Jethro erneut auf seine Gehhilfen und wanderte durch den Raum, der von dem Rumpf
eines mächtigen Bootes dominiert wurde. Die alte Lady wie Matt sie genannt hatte, war
gut und gerne doppelt so groß wie die Kelly und schien schon einige Jahre auf dem
Buckel zu haben.
Das dunkle Holz war kunstvoll verziert und wirkte wenig zeitgenössisch. Ihre Form war
weniger windschnittig als die der modernen Segler. Sie wirkte behäbig und erhaben.
Jethro schmunzelte, als er unwillkürlich meinte, dass dieses Schiff eine ungeheure
Arroganz ausstrahlte. Wenn er an seine Kelly dachte, dann fielen ihm ganz andere
Eigenschaften ein – verspielt, einladend, herzlich. So wie er mit Hal‘s Boot eine ruhige,
gesetzte Ausstrahlung gleich setzte.
„Ein eindrucksvolles Mädchen, ihre Lady.“, bemerkte Jethro, während er an den
Werktisch des jungen Bootsbauers trat und kritisch seinen Blick über die runden, hübsch
verzierten Rahmen gleiten ließ.
„Oh ja, sie flößt mir einen gehörigen Respekt ein.“, lachte der Jüngere ohne von seiner
Arbeit aufzusehen. Er senkte die Stimme als er weiter sprach: „Allerdings heißt sie Donna
Gracia und das ‚alt‘ habe ich vorhin natürlich nicht gesagt.“
Gibbs lachte amüsiert auf. „Sie leisten hervorragende Arbeit, Matt!“
Als Matt Dillan aufsah reichte der Silberfuchs ihm die Hand und stellte sich vor. „Jethro
Gibbs.“
„Meinen Namen kennen Sie ja, Mr. Gibbs. Was kann ich für Sie tun?“
Jethro legte den Kopf schräg und musterte den jungen Mann. Unwillkürlich versuchte er
sich vorzustellen an welcher Stelle dessen Leben mit dem von Ford Campbell verknüpft
war und vermutete das Naheliegendste: „Kennen Sie die ‚Glimmer of Hope‘?“
Matt, der gerade seinen Pinsel in ein Lösungsmittel getaucht hatte, hielt inne und suchte
Gibbs Blick. Trauer huschte über sein Gesicht und ließ den Jüngeren leise seufzen. „Nur
von einem Bild, Sir. Sie hat im Hafen von Engelhard gelegen – nicht hier.“
Jethro nickte. „Also kannten Sie Ford Campbell?“
„Sind Sie von der Polizei?“ entgegnete Matt Dillan mit einer Gegenfrage.
Gibbs runzelte die Stirn. „Wieso fragen Sie das?“
„Es gibt Leute die glauben, dass Ford seine Frau umgebracht hat. Mord verjährt nie
und…“ Der blonde Mann zuckte mit den Schultern und rieb mit einem weichen Tuch über
die Borsten seines Pinsels.
„Sind Sie derselben Meinung?“
„Sie haben meine Frage nicht beantwortet, Sir?!“
Gibbs lächelte knapp. „Nein, ich bin nicht von der Polizei. Eine Bekannte von Ford sucht
ihn verzweifelt und ich unterstütze lediglich ihre Suche.“
„Das muss Janis sein. Also die Frau, die auf der Suche nach Ford ist.“
Gibbs Augenbrauen schnellten in die Höhe, sein Herz schlug eine Nuance schneller.
„Wissen Sie, wo er ist, Matt?“
Der Jüngere presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. „Nein… nein, das
weiß ich nicht. Nachdem Tod von Victoria hat er Mount Holly verlassen. Er hat mir einen
letzten Brief geschickt, der in Engelhard abgestempelt wurden war. Das war im Sommer
2009. In dem Brief lag die Eigentumsurkunde dieser Bootshäuser, mit meinem Namen in
der Besitzerzeile… Obwohl er darum gebeten hatte, dass ich nicht nach ihm suche sollte,
habe ich versucht ihn ausfindig zu machen. Ich war mir sicher dieses Geschenk von ihm
nicht annehmen zu können, doch… Ich hab ihn nie finden können und meine damalige
Freundin – wir haben mittlerweile geheiratet - war der Meinung, dass ich die Werkstatt
und die beiden Bootshäuser unmöglich einfach verkommen lassen könnte. Und so habe
ich angefangen das zu tun, was Ford mir beigebracht hat…“
Matt holte einen zweiten Hocker hervor und reichte Jethro eine Tasse guten starken
Kaffee, bevor er anfing zu berichten wie alles so gekommen war.
Als Jugendlicher hatte Matt sich einer Bande von Kleindieben und Autoknackern
angeschlossen und den Fehler gemacht, sich an Fords Wagen zu vergreifen. Scheinbar
war der Junge nicht allzu talentiert, denn er hatte sich von Mr. Campbell erwischen
lassen. Ford hatte es vorgezogen Matt nicht anzuzeigen, stattdessen hatte er an das
Gewissen des Jungen appelliert und diesen tagtäglich zu einer Art Strafarbeit genötigt.
Unter Fords Aufsicht und Anweisung hatte Matt Tag für Tag dabei geholfen die Boote des
Segelclubs in Ordnung zu halten. Schließlich war aus der eigentlichen Bestrafung eine
Tätigkeit geworden, in der Matt seine Bestimmung gefunden hatte. Er hatte seinen
Schulabschluss nachgeholt und eine Schreinerlehre gemacht.
„Tja, wenn Ford nicht gewesen wäre…“ Matt seufzte schwer, während Gibbs wissend
nickte.
„Er scheint ein guter Mann zu sein. Das passt nicht recht zu dem Mann, der seine Frau
kaltblütig ermordet haben soll, oder?“, sprach Jethro seine Gedanken laut aus.
„Naja…“, meinte Matt leise und starrte nachdenklich in seinen Kaffeebecher. „Victoria
war sehr krank. Sie hatte irgendeine psychische Erkrankung, die der ganzen Familie das
Leben schwer gemacht hatte. Sie neigte dazu gewalttätig zu handeln, wenn es besonders
schlimm war. An anderen Tagen wiederum war sie eine nette, umgängliche Frau. Ford hat
sich beinahe fünfzig Jahre lang um Sie gekümmert, die einzige Auszeit die er sich gegönnt
hatte, waren die wenigen Wochen im Sommer, die Victoria bei ihrer Schwester in Quebec
verbrachte. Ich weiß nicht genau, warum er Victoria nie verlassen hat. Ich meine…
Natürlich ist die Ehe eine… Naja, man schmeißt das nicht einfach weg, aber er hat häufig
sehr gelitten, glaube ich.“ Der blonde Mann zuckte mit den Schultern und stand langsam
auf. „Vielleicht versuchen Sie es in Engelhard. Er würde seine Hope niemals allein lassen,
allerdings... Er hat auch Janis zurück gelassen.“
Ratlos griff der junge Mann erneut nach einem der Fensterrahmen der Donna Gracia und
bearbeitete das Holz noch einmal abschließend mit feinem Schmirgelpapier.
Jethro blieb noch eine Weile, um mit dem jungen Schreiner zu Fachsimpeln, Erfahrungen
auszutauschen und sich nach allerhand Dingen zu erkundigen, die ihm bezüglich seiner
eigenen Zukunft noch auf der Seele brannten. Schlussendlich hatte der Silberfuchs sich
noch einen Stift und ein Blatt Papier von dem Jüngeren geliehen und eine grobe Skizze
der Donna Gracia gezeichnet. Dieses anmutige Boot hatte es dem Silberfuchs angetan.
Matt Dillan hatte Jethro kurzerhand seine Emailadresse aufgeschrieben und den
Grauhaarigen gebeten ihm doch die seine zukommen zu lassen, damit er ihm Bilder von
der Donna Gracia schicken konnte, sobald diese wieder zu Wasser gelassen wurde. Und
eventuell eine Nachricht, für den Fall dass Jethro und Hollis Ford Campbell tatsächlich
finden würden.
26. Kapitel
Hallo Zusammen,
in der Hoffnung, dass hier noch irgendjemand mitliest... Nachdem ich meine
Verpflichtungen erfolgreich erledigt habe, habe ich mir in den vergangenen Wochen die
Zeit genommen diesen Avon-Teil zu beenden.
Es geht also nun ohne größere Unterbrechungen weiter.
herzliche Grüße
nyma
********************************
Gibbs ließ sich auf eine Bank sinken, die in der Nähe des Parkplatzes stand, auf dem er
Hollis erwarten würde. Während der Blick des Grauhaarigen über die anmutigen Boote
glitt, kam ihm der Abend von Ennis Vereidigung erneut in den Sinn. Sein Leben würde
eine 90° Wendung machen, sollten seine Pläne aufgehen. Allerdings erschien ihm der
Gedanke mittlerweile kaum mehr bedrohlich als vielmehr sehr verheißungsvoll. Die Zeit in
Matt Dillans Werkstatt hatte ihm das Herz aufgehen lassen. Jethro tat nur selten etwas
unbedachtes, doch es drängte ihn danach, zurück nach Avon zu reisen, um sich das Haus
in Rodanthe anschauen zu können. Viel mehr noch die dazu gehörenden Gebäude – das
Bootshaus, die Scheune. Es wäre ein Wink des Himmels, wenn dieses Objekt tatsächlich
seinen Vorstellungen entspräche.
Nachdenklich griff der Silberfuchs in die Tasche seiner dünnen Jacke und fischte eine
abgegriffene Visitenkarte heraus. An dem Nachmittag als er mit Amy und Gwyn nach DC
gefahren war, hatte er der Begegnung mit dem Mann, der sein Boot restaurieren lassen
wollte nur wenig Beachtung geschenkt, doch seit dem Gespräch mit Hollis hatte er
häufiger darüber nachgedacht. Entschlossenheit trat in den Blick des Grauhaarigen und
ohne seine Pläne noch länger zu zerdenken, griff er nach seinem Handy und wählte die
Nummer.
Der Rufton ging hin, doch als Gibbs schon beinahe auflegen wollte, meldete sich die
Stimme einer Frau. „Ja, hallo?“
„Jethro Gibbs. Vor einigen Tagen wurde mir diese Telefonnummer gegeben. Es ging um
ein Boot, das dringend eine Restauration nötig hat.“
Der Silberfuchs hörte wie die Frau am anderen Ende der Leitung nach Luft schnappte.
„Meine Güte, Ihr Anruf schickt der Himmel! Dieses Trumm von einem Boot blockiert seit
Tagen unsere gesamte Auffahrt. Die Bootsbauer scheinen ausgebucht bis auf den Letzten
dieser Tage und mein Mann legt eine schier unglaubliche Geduld an den Tag.“ Sie lachte
leise auf. „Entschuldigen Sie, aber ich finde einfach nicht denselben Spaß an Booten, wie
die Männer meiner Familie.“
Jethro schmunzelte stumm. „Da das Boot in ihrer Auffahrt steht dürfte es also nicht
übermäßig groß sein?“, hakte der Silberfuchs nach, darauf bedacht, dass auch sein Platz
vorerst nur recht begrenzt war.
„Sie misst knapp acht Meter. Warten Sie einen Moment. Mein Mann war so freundlich mir
eine Liste mit Stichpunkten zu schreiben, für den Fall dass endlich jemand anruft, der den
Kahn wieder in Ordnung bringen will.“
Der Grauhaarige amüsierte sich über das muntere Geplapper der Frau und wartete darauf
Näheres zu erfahren.
„Also, es handelt sich um einen 7,75 m langes R-Boot, einen Jollenkreuzer mit großer
Kajüte, in Vollholz und... Gott, nun kommt ein Haufen Abkürzungen und Maßeinheiten.
Himmel, es ist ein Holzboot, mit einem Mast und einem exorbitant Großem Segel, das
unsere gesamte Garage in Beschlag nimmt.“, resignierte die Frau und Gibbs konnte ihr
Augenrollen praktisch durch die Telefonleitung erahnen.
„Das reicht mir im Grunde schon zu wissen.“, erwidert der Grauhaarige in leicht
amüsiertem Tonfall. „Es geht lediglich um den Platz, von dem Rest kann ich mir gern
später ein Bild machen oder Sie sagen ihrem Mann, dass er mich zurück rufen soll.“
Die Frau schnaubte leise. „Auf keinen Fall! Sie haben mir grad ihre Zustimmung erteilt.
Sobald mein Mann einen Fuß über die Schwelle setzt, werde ich ihn dazu zwingen den
Wagen an den Bootsanhänger zu koppeln und das Ungetüm aus meinem Vorgarten zu
schaffen! Ich habe Sie an der Angel, Mister!“
Gibbs lachte laut auf. „Sie müssen sehr verzweifelt sein… Wie war Ihr Name doch
gleich?“
„Emily Brighton. Entschuldigen Sie, vor lauter Freude habe ich mich nicht vorgestellt!“
Gibbs schmunzelte. „Im Grunde steht Ihr Name auf der Visitenkarte, die ihr Mann mir
gegeben hat, Ma’am. Ich wollte nur sicher gehen, dass Sie nicht eine meiner Exfrauen
sind. Dieses Gespräch ist wie ein Dejavu…“
Nun war es an Mrs. Brighton laut aufzulachen. „Ich war bislang erst einmal verheiratet
und bin es immer noch. Tut mir leid!“
„Oh, sagen Sie das nicht – also, dass es Ihnen leid tut. Ihr Mann könnte das in den
falschen Hals kriegen und dann bin ich den Auftrag in Null-Komma-Nichts wieder los!“
Entgegnete Jethro grinsend. Scheinbar gehörte er doch noch nicht zum alten Eisen. Es
war lange her, dass er am Telefon so spontan mit einer Wildfremden geflirtet hatte.
Emily lachte ausgelassen. „Soweit wird es nicht kommen! Dafür werde ich sorgen…“
„Stimmt die Adresse auf ihrer Visitenkarte, Mrs. Brighton?“ fragte Jethro nachdenklich.
„Ich denke doch! Wir wohnen im Belhaven Drive in Roseville. Sie wollen das Monstrum
doch nicht hier abholen, oder?“ wollte sie verwundert wissen.
„Nein, das nicht unbedingt, allerdings bin ich morgen in Engelhard und wenn ich mich
nicht täusche dann liegt Roseville ganz in der Nähe, oder?“
„Tatsächlich?“ rief Emily Brighton überrascht aus.
„Vielleicht hätte ihr Mann ja ein wenig Zeit, sodass wir uns das Boot schon einmal vorab
gemeinsam anschauen können. Eventuell kann ich dann etwas über die Dauer der
Reparaturen sagen und die möglicherweise anfallenden Kosten. Es würde sich
anbieten…“, schlug Jethro vor und hoffte, dass Hollis Laptop auch von hier aus auf das
Internet zugreifen konnte, er hatte lediglich eine grobe Vorstellung von den anfallenden
Kosten und die bezogen sich auf seinen Lieblings-Baumarkt in DC.
„Das klingt vernünftig“, erwiderte Emily fröhlich, „allerdings spielt der Zeitfaktor keine
sehr große Rolle. Im Grunde möchte mein Mann seinem Vater nur einen Gefallen tun.
Mein Schwiegervater wünscht sich nichts sehnlicher als noch einmal mit dem Boot aufs
Meer fahren zu können. Mit diesem Boot. Allerdings ist er ein rüstiger Herr, es bleibt wohl
noch einige Zeit für diesen Ausflug.“
Nachdem sie sich auf eine ungefähre Uhrzeit geeinigt hatten, beendete Jethro das
Gespräch und stieß heftig die Luft aus, bevor er die Hände hinter dem Kopf verschränkte
und hinaus auf die schimmernde Wasseroberfläche des Sees stierte. Plötzlich nahmen
seine Ideen Gestalt an und Gibbs hoffte sehr sich nicht verrannt zu haben. Was war, wenn
auch weitere Stoßwellen- und Physiotherapiesitzungen seinem Bein keine Besserung
bringen, wenn seine Lunge nicht mitspielen oder sonst welche Spätfolgen seiner
Verletzungen auftauchen würden?
Vielleicht sollte er es einfach drauf ankommen lassen – er konnte nur weiter an sich
arbeiten und alles in seiner Macht stehende tun, um dem Gelingen dieser Hirngespinste
beizutragen.
Beinahe wäre er zusammen gezuckt, als eine Hand sich warm und sanft auf seine Schulter
legte.
Hollis beugte sich vor und küsste seine sonnengebräunte Wange. Sie lachte leise,
während sie hinter ihm stehen blieb. Ihre Hände glitten von seinen Schultern und trafen
sich vor seiner Brust und sie beugte sich vor und schnupperte an seinen Haaren. „Du
riechst nach deinem Keller und… Hmmm, na im Grunde riechst du nach einem Abend mit
der Kelly.“
Jethro lehnte seinen Kopf gegen ihre Arme und schmunzelte leicht. „Ich war in der
Werkstatt eines jungen Schreiners. Er restauriert Boote. Er macht seine Arbeit wirklich
gut.“
Hollis küsste ihn auf die Haare und umrundete die Bank, um sich neben ihren Geliebten
setzen zu können. „Hast du Erfolg gehabt?“
Gibbs zuckte mit den Schultern und legte dann einen Arm um Hollis. „Ich berichte dir
gleich davon, ja? Ich muss vorher unbedingt noch etwas Wichtiges erledigen…“ Ein
schmales Lächeln umschmeichelte seine Lippen, während er sich Hollis zuwandte, sodass
er ihr bequem in das schöne Gesicht schauen konnte.
Sie legte den Kopf schräg und schmunzelte fragend, wobei sich ein filigranes Netz zarter
Lachfältchen um ihre Augen grub. Jethro liebte die kleinen Grübchen, die mit jedem
Lächeln ihre Mundwinkel umschmeichelten. Am liebsten würde er sie den lieben langen
Tag betrachten und bestaunen wie ein wunderbares Kunstwerk. Doch seinen niederen
Instinkten reichten Blicke allein nicht aus und so beugte er sich hinüber zu seiner Schönen
und fesselte ihre Lippen mit den seinen.
Spielerisch umgarnten sich ihre Münder, bis aus dem seichten Taumel ein fordernder Tanz
wurde. Hollis öffnete ihre Lippen und sofort nahm der Silberfuchs diese Einladung an.
Ein leises Kichern, gefolgt von einem empörten „Das ist doch… vor allen Leuten! Also
wirklich – in dem Alter…“ ließ die beiden Verliebten innehalten. Gibbs lehnte seine Stirn
an die von Hollis, während sie beide in einen weiteren, zurückhaltenderen Kuss hinein
lachten. Schließlich lösten sie sich widerwillig von einander und spähten den empörten
Spaziergängern verstohlen hinterher. Zwei Leute in Jacksons und Megs Alter gingen
gemeinsam mit einem kleinen Jungen am Pier spazieren.
Jethro schlang die Arme um seinen Colonel und schmiegte sich an sie, während er ihrem
Bericht von dem Besuch im Golfclub lauschte. Schließlich war es an ihm, von den neuen
Informationen zu erzählen, die Matt Dillan ihm geliefert hatte.
Hollis seufzte schwer. „Denkst du es ist etwas dran an den Vermutungen, dass Ford seine
Frau umgebracht hat.“
„Ich weiß es nicht, Hol‘. Ein psychisch kranker Mensch ist eine große Belastung für alle…“
meinte er leise. „Ich muss aber noch etwas anderes mit dir besprechen…“ versuchte der
Silberfuchs das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.
„So?“ Hollis wandte sich leicht aus Jethros Umarmung, sodass sie ihm ins Gesicht sehen
konnte. Sein Tonfall hatte sie misstrauisch gemacht.
Mit einem so gibbs-typischen Schmunzeln küsste der Silberfuchs sie sanft. „Keine Sorge,
es ist nichts Schlimmes. Wir sollten morgen nach Engelhard fahren und versuchen dort
etwas zu finden, oder?“
Sie runzelte die Stirn und schüttelte unsicher den Kopf. „Ehrlich gesagt, zerbreche ich mir
schon den ganzen Morgen den Kopf darüber, wie wir den Heimweg gestalten wollen. Bist
du dir sicher, dass du fit genug bist für eine so weite Strecke?“
Gibbs lachte amüsiert. „Tja, Hol‘, haben wir eine andere Wahl? Wir können doch nicht
ewig hier bleiben, außerdem geht es mir gar nicht schlecht!“
Die Blonde rollte mit den Augen und stöhnte leise auf. „Deshalb brauchst du heute auch
zwei Gehhilfen, ja?!“
Jethro schnaubte ungeduldig und machte eine wegwischende Handbewegung. „Ich muss
die Strecke ja nicht laufen, oder?! Außerdem habe ich morgen einen Termin in Roseville!“
„Termin?“, echote Hollis mit hochgezogenen Augenbrauen.
„Ich habe dir doch von meinen Plänen erzählt, eventuell das Haus mit Scheune und
Bootshaus in Rodanthe zu kaufen, um dort Boote zu restaurieren.“ Begann Jethro leise
und lehnte sich wieder zurück, wobei er Hollis sanft, aber bestimmt erneut eng
umschlungen hielt.
„Ja, vielleicht und irgendwann, Jethro!“
Gibbs nickte und lachte leise. „Naja, irgendwann könnte jetzt sein… Ich habe am Tag
unserer Abreise nach DC eine spontane Anfrage bekommen. Ein Mann aus Roseville will
ein Boot restaurieren lassen. Roseville ist nur einige Meilen von Engelhard entfernt und
wir wollen dort ohnehin hinfahren… Wir könnten also gut einen Zwischenstopp einlegen,
damit ich mal einen Blick auf das Boot werfen kann.“
Innerlich wappnete Jethro sich gegen eine ablehnende Bemerkung seiner Partnerin, doch
zu seinem Erstaunen legte sie ihre Hand über die seine und drückte sie leicht. „Das ist
eine wunderbare Idee, aber versprich mir etwas, Gibbs!“
Fragend zog der Silberfuchs die Augenbrauen in die Höhe. „Hmm?“
„Übernimm dich nicht, nur weil du Gott und der Welt beweisen willst, dass du wieder
ganz der Alte bist! Einen Schritt nach dem anderen und wenn dieses Boot zu viel und zu
schwere Arbeit für dich bedeutet, dann wirst du es ablehnen und einen Schritt zurück
gehen. Ok?“ Die Blonde schüttelte den Kopf und küsste ihren Geliebten sanft auf die
Lippen. „Du bist unglaublich, weißt du das, Jethro Gibbs?“
„Ja, das sagen die Frauen mir andauernd!“ erwiderte Jethro lachend und fühlte sich
wunderbar befreit. Hollis stand hinter dem was er vor hatte – sein Fels in der Brandung.
„Danke, Hol‘.“ Wisperte er leise und sah seiner Geliebten fest in die strahlend grünen
Augen
28. Kapitel
28. Kapitel
Ausgelassen lief der quirlige Jack Russell Terrier durch den weitläufigen Park, der an die
zweigeschossigen Gebäude des Greengarden-Resorts angrenzte und verbellte hier und
da einige unwirkliche Schatten. Als die verwitterte Bank, halb verborgen durch einen
großen Rhododendron, in den Blick des Hundes kam, verzögerte dieser seinen Schritt und
hob achtsam den Kopf, was sein Herrchen zum Schmunzeln brachte. Der
hochgewachsene Mann ahnte was nun folgte: Mit einem freudigen Laut – irgendwo
zwischen fiepen und jaulen – hastete der kleine dreifarbige Hund los und brachte in
Windeseile die wenigen Meter zwischen sich und der Person auf der Bank hinter sich.
Nur einige Augenblicke später sprang das Tier auf die Bank und suchte die Nähe zu dem
alten Mann, der im Licht der Sonne dasaß und die Augen geschlossen hielt.
„Watson, mein Freund… Schön dich zu sehen.“, murmelte der Alte mit brüchiger,
verwaschener Stimme und begrüßte auch seinen zweiten Besucher, ohne sich zu diesem
umzudrehen. „Fred, du gibst wohl nie auf, mein Junge. Was?“
„Was sollte ich aufgeben, Dad? Meine Besuche bei Dir?“, entgegnete der Jüngere leise
und setzte sich ebenfalls auf die Bank. Sein Blick fiel auf die strahlendweiße Schwänin, die
nur wenige Meter entfernt im Gras hockte und ihre Gäste aufmerksam betrachtete,
allerdings ohne jede Spur von Scheu.
„Ich habe Bagels mitgebracht… Beinahe hätte Emmi mich damit erwischt. Hier…“ Er
reichte seinem Vater eine kleine Tüte. Sofort regte sich der Schwan und watschelte einige
Meter näher heran.
Der Alte nickte nur und hielt die Tüte ungeschickt zwischen seinem Körper und seiner
linken Hand, während er mit der rechten versuchte einige Stücken von dem Gebäck
abzubrechen. Sein Sohn verzichtete darauf seine Hilfe anzubieten – nur zu genau wusste
er wie die Reaktion des Älteren ausfallen würde, sollte die Lähmung seines linken Armes
Beachtung finden.
„Emmi glaubt du würdest dir den Tod holen, wenn du den halben Tag hier draußen auf
der Bank verbringst, Dad. Und mich würde sie dafür verantwortlich machen, weil ich dein
neues Hobby dank der Bagel-Versorgung auch noch unterstütze…“
Der Grauhaarige zuckte mit den Schultern und warf einige Krumen vor sich auf den
Erdboden. „Lieber erfriere ich, als dass ich mich von den Pflegerinnen einsperren lasse…
Außerdem ist es warm – die Sonne scheint.“
„Der Wind ist…“
Das unwirsche Schnauben seines Vaters ließ den Jüngeren verstummen. Er wusste, dass
Belehrungen dieser Art nur selten auf fruchtbaren Boden fielen. Mit einem Seufzen ließ er
den Blick schweifen und genoss die weite Sicht auf die Wasserkante des Pamlico Sounds,
die in weiter Entfernung zu erkennen war. Hinter einem künstlichen angelegten
Süßwassersee öffnete sich die Landschaft und zeigte die sanft geschwungenen Dünen
und Salzwiesen, die hinab führten an den Rand der großen Lagune. Weit entfernt waren
einige wenige Boote zu erkennen deren Segel sich im Wind blähten.
„Ich hatte dir versprochen mich um die Instandhaltung deines Bootes zu kümmern, Dad.
Ein Mann von den Banks will morgen zu uns kommen und sie sich anschauen. Ich bin auf
seine Arbeit aufmerksam geworden, als ich wegen… als ich vor zwei Wochen drüben in
Avon war…“
Der Kopf des Älteren zucke hoch und wandte sich zu seinem Sohn herum. „Ich habe dir
doch gesagt, dass du dich aus meinen Angelegenheiten heraushalten sollst! Was zum
Henker wolltest du in Avon?“
Die Stimme seines Vaters überschlug sich beinahe und ein kleiner Speichelfaden
entwischte ihm unbemerkt. Es schnitt Fred tief ins Herz seinen alten Herrn so zu sehen –
die letzten Jahre hatten seinem Vater schwer zugesetzt.
„Ich habe nur jemanden gesucht, der sich um das Boot kümmern würde. Auf den Outer
Banks gibt es einige gute Restauratoren…“
„Unsinn!“, spie der Alte zornig und machte eine ruckartige Bewegung, sodass ihm die
Tüte mit dem Brot entglitt und zu Boden fiel. Mit einem leisen Winseln presste der Jack
Russell sich an ihn, während die Schwänin ihn aus ihren klugen Augen scheinbar mahnend
anstarrte.
Fred bückte sich und sammelte die rausgefallenen Teigteilchen wieder ein und legte die
Tüte zurück auf die Bank. Er konnte nicht verstehen warum sein Vater sich dermaßen
gegen einen erneuten Kontakt zu der Frau die er in der Vergangenheit so sehr geliebt
hatte sträubte.
Fred kannte nicht jedes Detail der Affäre seines Vaters – wobei Affäre ein sehr
beschmutztes Wort war und in jenem Zusammenhang nicht passend schien. Ihm waren
durch Zufall einige hunderte Liebesbriefe in die Hände gefallen. Sie zogen sich über den
Zeitraum von Freds gesamten Leben und sprühten nur so vor Zuneigung und Liebe. Sie
hatten ordentlich, zu kleinen Päckchen gebunden, in einem Schrank an Bord des alten
Bootes seines Vaters gelegen. Er hatte nur wenige davon gelesen, doch er hatte nicht
sofort erkannt wer die Adressaten dieser sanftmütigen Zeilen gewesen waren. Im ersten
Moment hatte er geglaubt es wäre eine alte Korrespondenz zwischen seinen Eltern, doch
schließlich hatte er begriffen. Einige Vorkommnisse der Vergangenheit ergaben plötzlich
einen tieferen Sinn.
Schweigen harrten die beiden Männer auf der Bank aus. Erst als der Schwan sich
abwandte und, so anmutig wie es ihm nur möglich zu sein schien, zurück in den See
watete, löste sich auch der alte Mann aus seinen Gedanken. Mit unsicheren Bewegungen
brachte er seinen Gehstock in Position und stemmte sich mühsam aus der sitzenden
Position hoch. Freudig sprang der Hund auf und umkreiste die Männer voller Unruhe.
„Wirf ihr noch ein paar Brotkrumen zu, Junge. Den Rest gebe ich ihr morgen.“
Fred nickte nur und streute einige Brocken vor sich aus. Nachdenklich musterte er die
gefiederte Gefährtin seines Vaters. Für gewöhnlich hielt der Wasservogel sich immer weit
draußen auf dem See auf – nur wenn sein Vater hier auftauchte verließ das Tier sein
Refugium und suchte dessen Nähe.
Schulterzuckend wandte er sich ab und folgte dem Älteren über die verschlungenen
Pfade des Parks in Richtung der Seniorenwohnanlage. Wie sooft stellte Fred fest, dass
von der imposanten Erscheinung seines Vaters nur noch ein Schatten übrig geblieben war
und er fragte sich, was sie in der Vergangenheit nur anderes hätten tun können, um ihm
diese Qual zu ersparen. Seine Frau versuchte stets die Situation sachlich zu betrachten
und argumentierte, dass ein Schlaganfall keine emotionalen Ursachen hat, sondern auf
eine Durchblutungsstörung im Gehirn zurückzuführen wäre. Doch Fred war sich nicht
sicher, ob die Qualen, die sein Vater augenscheinlich durchlitt, nur von dem
zurückliegenden Schlaganfall herrührten. Er glaubte, dass diese Frau, nach der sein Vater
häufig im Schlaf rief und die er zu sehen geglaubt hatte, wenn er desorientiert und kaum
bei Bewusstsein gewesen war, irgendetwas damit zu tun hatte. Fred wusste kaum etwas
über dieses Kapitel im Leben seines Vaters. Er kannte den Älteren nur als den resoluten
und strengen Firmenchef einer großen Reederei und zugleich als treusorgenden,
aufopfernden Familienvater und Ehemann, der seine kranke Frau nach bestem Wissen
unterstützt hatte – so schwer dies auch häufig gefallen war.
Auch jetzt noch, wo die Erinnerungen an die schweren Zeiten ihrer Familie kaum mehr als
ein Nachklang waren, bewunderte Fred seinen Vater für dessen Geduld und Stärke.
„Was ist das für ein Mann? Hat er irgendeine Ahnung von Booten?“, riss die raue Stimme
des Älteren ihn aus den Gedanken.
Fred schmunzelte verhalten und nickte: „Er restaurierte ein Segelboot mit bloßen Händen
und ohne elektrische Geräte in seinem Vorgarten. Und er scheint diesen Job verdammt
gut zu machen – sonst hätte ich ihn kaum angesprochen.“
Der Alte war stehengeblieben und stützte sich schweratmend auf seinen Gehstock. Dann
schnaubte er kopfschüttelnd. „Warum tut der Mann das? Bezahlt er seinen Strom nicht?“
Fred lachte laut auf. „Ich habe keine Ahnung, Dad. Ich weiß nicht mal ob er irgendwelche
Referenzen vorweisen kann – keine außer einem Schulaufsatz von einem kleinen Jungen
aus seiner Nachbarschaft.“
„Um Gotteswillen!“, murrte der alte Mann und setzte keuchend seinen Weg fort.
„Er wird sich morgen Nachmittag mit mir treffen, Dad. Willst du ihn kennenlernen?“, bot
Fred schmunzelnd an.
Sein Vater schwieg eine ganze Weile, sodass Fred sich nicht sicher war, ob er noch eine
Antwort erhalten würde, doch dann murrte der Alte: „… und wenn ich ihn nur frage,
warum er jeden technischen Fortschritt torpediert! Wirklich ganz und gar ohne Strom?“
Fred zuckte grinsend die Schultern. „Vom Radio einmal abgesehen…“
**
North Carolina war wirklich einer der schönsten Bundesstaaten. Die Fahrt hinaus vom
Festland in Richtung Küste war wunderbar und führte durch eine abwechslungsreiche
Landschaft. Sanfte Hügel, schroffe Felsen im Wechselspiel mit weitläufigen Auen und
Seen. Und dann wieder Wälder, soweit das Auge reichte.
Nicht weitentfernt von ihrem Ziel, in der Nähe des beschaulichen Ortes Belhaven, saßen
Hollis und Jethro auf dem weitläufigen Holzdeck eines Restaurants und genossen nach
der langen Fahrt die wärmenden Sonnenstrahlen auf ihren Gesichtern. Mit einem
unverhohlenen Gähnen schob Gibbs sich die Sonnenbrille von den Augen und fuhr sich
mit einer Hand über das Gesicht.
„Müde vom Nichtstun…“, brummelte er und griff nach dem großen Krug Cola, um sein
Glas ein weiteres Mal zu befüllen. Das seichte Wasserplätschern des Flusses in der Nähe
wirkte einschläfernd und linderte das träge Gefühl kein Stück.
„Was hältst du davon nach dem Essen baden zu gehen?“, fragte Hollis verschmitzt
lächelnd, legte ihre Hand in den Nacken ihres Geliebten und strich sanft an dessen
Haaransatz entlang.
Genüsslich lehnte der Grauhaarige seinen Kopf zurück und rutschte etwas tiefer in seinen
Stuhl. Blinzelnd schaute er zu dem klaren türkisschimmernden Wasser hinüber und stellte
sich die belebende Frische auf seiner nackten Haut vor. Unwillkürlich sponn er diesen
Gedanken weiter und spürte in Gedanken bereits Hollis weichen Körper als klaren
Kontrast zu dem kalten Wasser, das vermutlich direkt aus den Bergen geflossen kam. Kalt
und klar. Ein Schaudern durchlief den Silberfuchs und er rekelte sich mit einem
genüsslichen Seufzen.
„Verlockender Einfall…“, grollte er mit tiefer Stimme, was seine Gefährtin zum Lachen
brachte.
„Einen Penny für deine Gedanken, Jethro!“, amüsierte die Blonde sich.
Jethro schwieg, doch sein Schmunzeln wurde noch eine Spur breiter. „Vielleicht, wenn du
Wort hältst und tatsächlich mit mir in den Fluss steigst… Aber – umsonst ist nicht mal der
Tod, meine Schöne.“, neckte er die hübsche Frau.
Hollis rückte ihren Stuhl ein wenig näher an den ihres Geliebten heran und beugte sich zu
ihm hinüber. Lockend glitt ihre Hand über seine Brust und wurde prompt von der seinen
eingefangen. Ohne die Augen zu öffnen führte der Grauhaarige ihre schlanken Finger zu
seinem Mund und küsste sie verspielt und ein wenig fordernd.
„Du denkst vermutlich gerade daran, dass wir vergessen haben unsere Badesachen
einzupacken, hm?“
Gibbs grummelte nur zustimmend und vertiefte das innige Spiel zwischen seinen Lippen
und ihren zarten Fingern.
„Das könnte interessant werden…“, stellte die Blonde fest und genoss Jethros liebevoll
verhaltenen Berührungen, die noch so viel mehr versprachen.
„Wäre es denn denkbar, dass wir…“, murmelte er leise und suchte nun ihren Blick.
Ein Lächeln stahl sich in Hollis Blick und sie schob die Sonnenbrille in ihre Haare. „Wenn
deine körperlichen Gebrechen das mitmachen… Meine haben sich bei Zeiten
verabschiedet.“
Langsam richtete Gibbs sich auf und legte seiner Freundin eine Hand an die Wange.
„Verstehe… Keine Scheu vor eiskaltem Gebirgswasser?“
Hollis biss sich keck auf die Unterlippe und lehnte sich ihm entgegen. „Du wirst zu
verhindern wissen, dass ich friere, oder hast du etwa vergessen wie…“
„Flusskrebse mit einer wunderbaren Limetten-Chillimarinade und dem extrascharfen Dip
für zwei Personen!“, flötete die füllige Bedienung und riss die beiden Turteltauben aus
ihrem neckenden Wortwechsel. „Brot bringe ich gleich – lasst es Euch schmecken!“
Ohne dem Geschehen um sich herum Beachtung zu schenken lehnte Jethro sich zu seiner
Geliebten und stahl sich einen innigen Kuss. „Ich nehme dich beim Wort, Hollis!“
29. Kapitel
Sekundenlang saß der Grauhaarige nur still dar und stierte auf den Teller, der vor ihm auf
dem Tisch stand. Plötzlich stieß er seinen heißen Atem in schier explosiver Hast aus. Seine
Nervenenden glühten unwillkürlich und er schloss für einen Moment die Augen um sich
zu sammeln. Mit einem leisen Seufzer lehnte er sein Besteck an den Tellerrand und
befeuchtete seine trockenen Lippen mit der Zungenspitze. Das Aroma des Chilis haftete
ihnen an, flutete seine Geschmacksknospen und ließ Gibbs die Röte in die Wangen
steigen.
„Zu scharf für dich, Marine?“, kicherte Hollis und knabberte genüsslich an einem weiteren
der köstlichen Schalentiere.
„Nicht die Mahlzeit, Colonel…“
Hollis lenkte ihre Aufmerksamkeit weg von den Leckereien vor sich auf dem Tisch, hin zu
ihrem Geliebten, dessen Atmung leicht erhöht wirkte.
„Geht es dir gut?“ hakte sie mit einem Anflug von Sorge nach, während sich das Bild einer
allergischen Reaktion in ihren Gedanken breit machte.
Doch das tiefe, kehlige Auflachen ihres Partners zerstreute ihre Befürchtungen.
„Sagen wir es so: Ich habe mich lange nicht so lebendig gefühlt.“ Sanft griff er nach ihrer
Hand und strich über ihren Handrücken. „Ich… vermisse dich.“
Die Fülle ihrer erotischen Reize schien den ehemaligen Ermittler in seiner
Ahnungslosigkeit kalt zu erwischen. Das luftige, dunkelblaue Sommerkleid war tief
dekolletiert und verhinderte lediglich durch ein schmales Band weitere Einblicke in ihre
wunderbar weiblichen Kurven. Sein Blick ruhte auf der weißen, seidigen Haut, auf den
sanften Erhebungen ihrer Brüste, die unschuldig hinter dem dunklen Stoff ausharrten und
auf seine liebevolle Zuwendung zu warten schienen.
Jethros Fingerspitzen ruhten an der kleinen Stelle ihres Handgelenkes, unter der ihr
Pulsschlag sich rhythmisch zu erahnen gab. Unwillkürlich passten ihre Herzen sich
einander an, als wären sie direkt miteinander verbunden. Der Blick der Blonden lag ruhig,
aber aufmerksam auf ihrem Geliebten – gerade so als könnte sie in seinem Gesicht lesen
wie in einem offenen Buch.
Der Wind verspielte sich in ihren Locken und ließ ihr schmales Gesicht noch weicher und
weiblicher wirken. Sie trug das Haar seit einer Weile kürzer, doch so wie heute war es
bislang noch nie um ihre Wangen getanzt. Es schien als würden die seidigen Spitzen sie
streicheln und sich im Tanz vor ihre Augen legen – als gäbe es geheime Momente, in
denen niemand das Recht hatte eine verführerische Distanz zu überbrücken.
Das Sonnenlicht ließ ihre unverhüllten Hautstellen in einem satten Goldton schimmern;
als funkelnder Kontrast erhoben sich nur die Perlmuttblätter ihres blütenförmigen
Kettenanhängers.
Erstaunt über ihre Wirkung auf ihn, spürte Jethro das einsetzende, verlangende Kribbeln.
Diese Erkenntnis raubte ihm schier den Atem.
Hollis verflocht ihre Finger mit den seinen und hatte ihre schmackhafte Mahlzeit fürs
Erste unterbrochen. Wieder einmal überraschte der Silberfuchs sie mit einer, bis heute
ungeahnten, sinnlichen Seite. Oh ja, es gab schon einige wundervoll sinnliche Momente
mit ihm, doch er war ein Meister der Selbstbeherrschung und zeigte sich nicht eben
häufig so spontan und emotional.
„Schon wieder würde ich einiges dafür geben, wenn mir deine Gedanken auf dem
Silbertablett serviert würden…“, wisperte sie mit atemloser – beinahe tonloser Stimme.
Er senkte den Blick und schloss die Augen, als wäre seine Geliebte in der Lage all seine
niederen Gedanken zu erkennen, durch einen einzigen Blick in seine Augen.
„Von einem Bad im Gebirgswasser…“, wisperte er kaum hörbar, während ein Lächeln
seine Lippen umspielte. Er schaffte es nicht seine Gedankenströme zu bändigen. Wieder
sah er seine Hollis vor sich – vollkommen bloß im eiskalten Wasser. Die Haut an ihrem
gesamten Körper gestrafft von der plötzlichen Kühle, die sie umgab. Ihre Brüste so fest
und voll, gierend nach Aufmerksamkeit und Wärme, die nur er ihr geben konnte.
Er stellte sich das leichte Beben ihrer Lippen vor, während die Strömung des fließenden
Gewässers sie in seine Arme trieb. Er stellte sich vor, wie er ihren zierlichen Körper in
seinen Armen hielt und wie er langsam und voller tiefe die Kälte des Wassers vertrieb und
zu einer winzigen Nebensächlichkeit schrumpfen ließ.
Es war als könnte er die Hitze spüren, mit der sie seine Körpermitte in sich aufnehmen
würde…
„Großer Gott, Jethro!“, wisperte Hollis heiser und im Aufschauen sah er wie sie schwer
schluckte.
Seine Erregung war augenscheinlich, sodass der Grauhaarige unbehaglich auf seinem
Stuhl herumrutschte, bevor er mit bebenden Händen nach dem Brot griff, das auf dem
Tisch stand und darauf wartete verzehrt zu werden.
Schweigend und langsam auf dem trockenen Brot herum kauend, fesselten die beiden
Liebenden einander mit ihren Blicken.
„Wir sollen vielleicht nach der Rechnung fragen, hm?“, kam es leise von Hollis, während
ihre Finger sich fordernd umgarnten und sie nicht in der Lage waren länger als nötig den
Blick vom anderen zu nehmen.
Gibbs nickte nur und trank einen großen Schluck Cola – sein Mund war entsetzlich
trocken - als die Kellnerin auch schon an ihrem Tisch aufkreuzte. „Schmeckt es Euch etwa
nicht?“, rief sie überrascht auf, als ihr Blick auf die halbvollen Teller fiel.
Ein Ruck ging durch Hollis, als sie durch diese Bemerkung unsanft in die Realität gerissen
wurde. „Mein… Mann fühlt sich nicht besonders. Zuviel Sonne… nach der langen Fahrt
und…“
„Ach Gottchen! Was machen wir denn nun? Soll ich besser einen Arzt holen?“
Gibbs Kopf schnellte herum, doch dann räusperte er sich und schüttelte verneinend den
Kopf. „Schon gut. Nur die Rechnung bitte!“
„In Ordnung. Wie ihr wollt.“
Kichernd wie Teenager verließen Gibbs und Hollis nur wenig später das Restaurant, wobei
der Grauhaarige einen Arm um seine schöne Freundin gelegt hatte und ihr sanft die
Führung überließ.
(wer wissen möchte wie es an dieser Stelle weitergeht: Avon * 29.1 Eiskalte
Leidenschaft: http://authors-note.jimdo.com/gibbs-hollis-mann/avon-3-akt-gezeiten-derliebe/avon-eiskalte-leidenschaft/ - Passwort gibt es auf Nachfrage)
Schwungvoll steuerte der Silberfuchs seinen Dodge auf einen freien Parkplatz in der Nähe
des Hafens in Engelhard. Noch immer fesselte die Realität gewordene Phantasie einer
nackten Hollis im kühlen Nass seine Aufmerksamkeit und auch die Wangen seiner
Freundin glühten nach wie vor in hellem Rot. Ihre tiefe Entspannung und die in ihr
ruhende Zufriedenheit gab nur zu deutlich Aufschluss auf den Ausgang ihres
vorangegangenen Liebesgeplänkels.
Doch Hollis schaute nicht auf, sondern biss sich auf die Unterlippe, während ihr Blick auf
dem Display ihres Handys ruhte.
„Was tust du da, meine Schöne?“
Sie winkte nur ab, als wollte sie eine lästige Fliege verscheuchen und hob das kleine Gerät
an ihr Ohr. Erstaunt betrachtete der Grauhaarige sie und lehnte sich im Fahrersitz zurück,
während eine erfrischende Brise durch die geöffneten Fenster glitt.
Erstaunt schmunzelte der Silberfuchs, als er das Telefonat verfolgte und suchte
schließlich Hollis Blick. „Du hast ein Zimmer gebucht? Ich hatte geglaubt, dass wir mit der
letzten Fähre zurück fahren wollten – nach Hause?!“
Die Blonde nickte und schaute endlich auf. „Das werden wir kaum schaffen, Jethro. Du
möchtest dir in Roseville noch ein Boot ansehen und ich möchte nicht ohne wenigstens
eine kleine Spur von Ford gefunden zu haben, wieder bei Janis auftauchen. Außerdem…
Ich genieße die Zeit ohne die Pension, die Kinder, die beiden Alten…“
Gibbs musterte seine Geliebte forschend, während diese seufzend den Blick abwandte,
nur um schließlich erneut das Wort zu ergreifen. „Ich hatte es mir anders vorgestellt.“
Ihre Stimme war leise und dünn.
„Was denn?“, hakte Jethro nach, obwohl er glaubte ahnen zu können, welche Richtung
dieses Gespräch einschlagen würde.
Hollis seufzte schwer, während Gibbs´ Hand sich sanft auf ihre Schulter legte und seine
Frage selbst beantwortete: „Die Verantwortung für eine Familie? Für zwei alte Menschen,
zwei Jugendliche und einen gebrechlichen Einsiedler?“
„Ich wollte ein Leben sowie… Naja, so wie es in den letzten Tagen gewesen ist. Ich wollte
dich und nicht noch einen langen Rattenschwanz Probleme und Verpflichtungen hinten
dran.“
Er sah, dass sie sich für ihre Worte und Gefühle schämte und wie sehr sie dieses
Eingeständnis aufwühlte. ( hier vll ne Bemerkung, dass es sie Überwindung gekostet hat
ihm das anzuvertrauen ) „Ich kann das sehr gut verstehen, Hollis. Es ist dein Recht so zu
fühlen!“
Die schöne Frau seufzte nur ein weiteres Mal schwer auf und zuckte die Schultern. „Ich
bin mir sicher, dass ich sie alle liebe, Jethro. Aber wenn es so wäre, warum… warum
empfinde ich es dann als Erleichterung, sie alle einfach zurück zu lassen?“
„Man muss sich an denen die man liebt erfreuen können, sonst kosten sie zuviel Kraft.“
Gibbs schwieg eine Weile, dann fügte er mit leiser Stimme hinzu: „Ich hoffe, dass ich
einiges davon wieder gut machen kann. Ich liebe Dich, Hollis!“
Haltsuchend ließ die Blonde sich gegen die Brust ihres Geliebten sinken und genoss es in
seinen Armen aufatmen zu können.
30. Kapitel
Gemeinsam hatten Hollis und Gibbs ihren Weg nach Engelhard fortgesetzt und schließlich
die kleine Hafenstadt erkundet. Sie waren durch den Hafen gelaufen und den Namen
eines jeden Segelbootes gelesen, hatten Passanten und Ladenbesitzer nach Ford
Campbell gefragt. Nur ein Mann, ein Bootsbesitzer, der gerade dabei gewesen war ein
Segel in seinem Kofferraum zu verstauen, meinte sich an ein Segelboot mit dem Namen
„Glimmer of Hope“ erinnern zu können. Laut den Angaben des Mannes hatte es bis vor
kurzem in einer Scheune außerhalb von Engelhard gestanden. Er hatte versprochen den
Besitzer der Scheune danach zu fragen und diesen dann darum zu bitten sich bei Hollis zu
melden.
Ungeduldig trommelte die Blonde nun mit ihren Fingern auf ihren Oberschenkel und
schaute murrend aus dem Autofenster, während Jethro es durch den winzigen Ort
Roseville lenkte, auf der Suche nach dem Haus der Familie Brighton.
„Was ärgert dich, Hol‘?“, wollte Jethro leise wissen und bog in den Belhaven Drive ein.
„Wie kann sich eine ganze Familie einfach so in Luft auflösen? Es ist zum verrückt
werden!“ ereiferte sich die ehemalige Agentin.
Gibbs zuckte nur ruhig mit den Schultern. „Anscheinend wollen sie nicht gefunden
werden – oder sie waren wirklich mit niemandem so eng befreundet, dass es sich gelohnt
hätte eine neue Anschrift zu hinterlassen. Und Ämter können Fehler machen…“
Hollis schnaubte und funkelte ihren Geliebten ungeduldig an. „Ach?! Das klingt ja gerade
so als würdest du mit einem Mal an Zufälle glauben!“
Jethro lachte laut auf und griff nach Hollis´ Hand. „Nein, sicher nicht. Aber das Leben
verläuft nun einmal nur selten in geregelten Bahnen, hm?! Wenn mich aktuell ein Fremder
suchen würde, hätte er es auch nicht leicht, oder? In Avon bin ich nicht gemeldet und in
DC nicht anzutreffen…“
„Aber dort gibt es einen Haufen Leute die genau wüssten wo du dich aufhältst!“,
entgegnete Hollis keineswegs besänftigt.
Gibbs nickte nur. „Ja, weil ich das Glück hatte auf Menschen zu treffen die es wert sind zu
erfahren wo ich stecke, Hollis. Gerade mit einer großen, soliden Familie im Hintergrund
werden die Kontakte nach außen hin vielleicht weniger vertieft. Mit wie vielen Leuten bist
du befreundet, die eine intakte Ehe führen und Kinder, Eltern und Geschwister im
direkten Umfeld haben?“
Nachdenklich biss Hollis sich auf die Lippen. „Aber die Familie Campbell ist nun einmal
nicht heil und intakt!“
Der Grauhaarige wiegte den Kopf nachdenklich hin und her. „Hm, vielleicht aber in ihrem
Rahmen eben doch. Niemand legt bestimmte Lebensmodelle fest, nach denen eine
Familie sich richten muss. Und gerade wenn es im Inneren der Familie brodelt…“
„Ja ja, schon gut!“, unterbrach Hollis ihren Partner und seufzte: „Ich würde mir nur
einfach wünschen Janis irgendetwas sagen zu können!“
Sanft strich Gibbs ihr über den Arm, während er den Wagen an den Straßenrand steuerte.
„Warum so pessimistisch, Hol‘? Eine offene Option haben wir ja noch und vielleicht ergibt
sich im Gespräch mit den Brightons ja auch noch etwas. Wir sind übrigens da.“, Jethro
beugte sich zu Hollis hinüber du stahl sich einen sanften Kuss. „Drück mir die Daumen,
ja?“
Lächelnd wandte die Blonde sich zu ihrem Silberfuchs um. „Du kriegst den Auftrag, Gibbs!
Ganz sicher.“
Gibbs lächelte still und legte den Kopf schräg. Dann atmete er tief durch. „Ich bin zu alt
um mich von sowas nervös machen zu lassen, oder?“
Hollis schüttelte lachend den Kopf. „DiNozzo würde sich einen Arm ausreißen, um dich
nervös zu erleben!“ Dann wurde sie wieder ernst und verschränkte ihre Finger mit seinen.
„Du planst einen neuen Start von dem du nicht recht weißt wo er hinführt und ob es so
gelingen wird, wie du es dir wünscht. Du wärst wohl kein Mensch, wenn du nicht ein
wenig unruhig wärst.“
Gibbs nickte und schaute aus dem Fenster hinüber zu dem Boot, das in der Auffahrt vor
einem hübschen weißen Holzhaus auf einem Anhänger stand. Eine Plane lag
zusammengefaltet auf dem Rasen des Vorgartens, anscheinend erwartete man ihn
bereits.
„Also dann…“, murmelte er und stieß die Fahrertür aus.
Kaum hatten sie die Grundstücksgrenze erreicht, da schoss laut bellend ein kleiner Hund
auf sie zu.
„Watson! Still!“, ertönte der Ruf eines Mannes, der dem Jack Russell hinterher eilte.
„Mr. Gibbs! Ich hatte wirklich nicht erwartet, dass sie sich bei uns melden würden!“,
begrüßte der hochgewachsene Brünette ihn und reichte dann Hollis die Hand. „Hi, ich
habe ihren… Mann…“
„Lebensgefährten.“, warf Hollis ein.
„…Lebensgefährten, ziemlich überfallen mit meiner Anfrage.“
Gibbs schmunzelte verhalten, während er den Hund streichelte, der sich vor ihm auf dem
Boden rekelte und leise wimmerte. „Im Grunde hat ihre Anfrage ganz gut gepasst, nur
war ich an dem Morgen etwas auf dem Sprung.“
„Das hatte ich mir gedacht. Kommen Sie, ich habe Kaffee gekocht.“ Der Brünette bat die
beiden auf die Veranda des Hauses und bot ihnen an Platz zu nehmen. „Meine Frau holt
gerade meinen Vater ab – er möchte sie gern kennen lernen. Er gibt sein Boot nicht gern
aus den Händen und würde vermutlich am liebsten alles selbst machen, aber das schafft
er wohl nicht mehr.“
„Wann war das Boot zuletzt auf dem Wasser?“, wollte der Grauhaarige wissen, während
er nach der Tasse mit dem dampfenden Kaffee griff. Große Kaffeebecher – der Mann
wurde ihm immer sympathischer.
„Das war im Sommer vor drei Jahren. Im darauffolgenden Winter starb meine Mutter und
mein Vater hatte einen Schlaganfall. Seitdem lag das Boot im Trockendock.“
Gibbs nickte nur, während sein Blick wieder über den Rumpf des Bootes glitt. Es war
solide gebaut und schien immer gut gepflegt worden zu sein.
„Kommen Sie, schauen Sie sich das Boot doch schon einmal an.“, forderte Fred die
beiden Besucher auf und ohne ihre Kaffeebecher abzustellen machten sie sich auf den
Weg.
„Hat das Boot denn Schaden genommen? Oder soll es wirklich nur wieder etwas
zurechtgemacht werden?“, hakte Gibbs nach, während er den hölzernen Rumpf musterte
und hier und da seine Finger entlang gleiten ließ. Der Holzlack blätterte an einigen Stellen
ab, doch im Großen und Ganzen machte das Boot einen guten Eindruck.
„Ich glaube sie braucht einfach ein wenig Aufmerksamkeit, aber fragen sie am besten
meinen Vater nach seinen Wünschen.“
Gibbs nickte nur und umrundete das Boot. Schließlich reichte er Hollis seine Tasse und
stieg auf den Hänger. Dicke Decken schützten das Holz vor den Spanngurten, die das
Boot am Hänger fixierten.
Jethro entdeckte eine leichte Beschädigung des Holzes, fuhr der Einkerbung mit den
Fingern nach und hob die Decke ein wenig an.
Als Hollis hinter ihm einen erstaunten Laut ausstieß, wandte Gibbs sich mit fragendem
Blick um. Auch Fred war näher gekommen und musterte das Boot interessiert.
„Ist irgendwas nicht in Ordnung?“
„Wie… wie ist der Name des Bootes?“, wandte Hollis sich an den Brünetten und konnte
die Aufregung nicht aus ihrer Stimme verbannen. In dem Moment, als Gibbs die Decke ein
wenig zur Seite geschoben hatte, war ein Teil des Namenszuges auf dem Rumpf des
Bootes sichtbar geworden.
„Glimmer of Hope… Wieso ist das wichtig?“
Hastig schlug Gibbs erneut die Decke zurück und stieß ein erstauntes „Oh“ aus.
„Aber ihr Name ist doch Brighton, oder?“, hakte Hollis irritiert nach.
„Ähm, nein. Meine Frau hat nach unserer Heirat ihren Mädchennamen behalten. Mein
Name ist Campbell. Aber warum ist das wichtig.“
Hollis schlug sich eine Hand vor den Mund und stöhnte leise auf, während Gibbs von dem
Anhänger kletterte und laut auflachte.
„Und entsprechend ist Ihr Vater Ford Campbell?“, setzte nun der Grauhaarige die
Befragung fort.
„Ja, so ist es. Aber nun wüsste ich wirklich zu gern warum das so wichtig ist!“,
entgegnete Fred Campbell irritiert.
Jethro schüttelte den Kopf und nickte in Richtung der Veranda. „Kommen Sie, wir sollten
uns setzen, ja?“
Man sah dem brünetten Mann die Verwunderung deutlich an, doch er folgte den beiden
ehemaligen Ermittlern und nahm gemeinsam mit ihnen in der Sitzgruppe auf der Veranda
Platz.
„Sagt Ihnen der Name Janis O’Roake etwas?“, wollte Hollis wissen und all ihre
Hoffnungen schienen bestätigt, als Freds Augen sich weiteten und ein vorsichtiges
Lächeln in seinen Blick trat.
„Sie kennen Janis?“, nun war es an ihm zu lachen. „Ich hatte mir vorgenommen Sie beide
nach ihr zu fragen – immerhin kommen Sie aus Avon und es ist ein kleiner Ort. Lebt Janis
noch?“
Erleichterung schlich sich in Hollis Blick. „Ja! Gott, ja, das tut sie und sie kommt noch
immer jeden Sommer nach Avon, in der Hoffnung Ford einmal wiederzusehen. Janis hat
versucht ihren Vater zu finden. Nachdem sie kein Glück hatte, bat sie mich es zu
versuchen.“ Sie schüttelte den Kopf und griff unwillkürlich nach Jethros Hand. „Jethro
und ich kommen gerade aus Mount Holly…“
Ein Schatten zog über Freds Gesicht. „Ja, dort hatten meine Eltern gelebt, nachdem mein
Vater sich aus der Firma zurückgezogen hatte. Bis zu Mums Tod…“
„Wir haben von der Tragödie gehört…“, entgegnete Hollis leise und wurde nachdenklich.
„Aber wenn Ihr Vater lebt, warum hat er nie versucht Kontakt zu Janis aufzunehmen?“
Fred presste die Lippen fest aufeinander und schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht. Ich
habe selbst versucht sie zu finden und war deshalb vor zwei Wochen in Avon, aber ich
wusste nur, dass sie Janis heißt und, dass sie sich über Jahrzehnte jeden Sommer auf den
Banks getroffen hatten. Zu wenig um Erfolg zu haben. Ich hatte angenommen, dass sie
vielleicht nicht mehr kommen würde und bin wieder abgereist, ohne länger auf eine
zufällige Begegnung zu warten. Aber…“
Bevor Fred fortfahren konnte, hielt der Wagen der Familie am Straßenrand.
31. Kapitel
Winter 2009
Langsam ging der stattliche Mittsiebziger den geschwungenen Weg durch den Vorgarten.
Ganz in Gedanken versunken blieb er vor der Treppe stehen und legte eine Hand auf das
hölzerne Geländer.
Das Gewicht der Zeitschrift über den Seegelsport spürte er nur zu deutlich in seiner Hand
und noch viel mehr den warmen Nachhall der liebevollen, geheimen Zeilen des Briefes,
den er zwischen die Seiten des Magazins gelegt hatte.
Es fühlte sich so an als stünde Janis neben ihm, als wäre sie an seiner Seite. Als wäre sie
bei ihm, um ihm Kraft zu geben für die kommenden Stunden, Tage oder Wochen –
solange wie es eben dieses Mal wieder dauern würde.
Ford wusste nicht, was er tun würde, wenn seine Kinder ihn nicht so gewissenhaft
unterstützen würden. Dieses Mal waren Fred und Emmi angereist, als es die ersten
Anzeichen eines beginnenden schizophrenen Schubes bei seiner Frau Victoria deutlich
wurden.
Es begann immer mit Kopfschmerzen und Depressionen, dann kamen die Stimmen und
mit ihnen die Panik, Verzweiflung oder die Aggressionen. Es gab Tage, an denen Victoria
ihre Medikamente nur unter Zwang einnahm und ihre eigenen Kinder beschuldigte sie
vergiften zu wollen.
Und dann kam ihr Hass, ihr grenzenloser Hass vor dem Ford sich so sehr fürchtete. Die
Drohungen und Beschimpfungen – und das schlimmste daran war, dass sie Recht hatte:
Er hatte Victoria nie geliebt, doch als junger Mann hatte er nichts von der Liebe
verstanden und wie sein Vater, nur an die Reederei gedacht. Er hatte die Tochter und
Erbin eines reichen Politikers geheiratet, um das Familienimperium wachsen lassen zu
können, ohne sich auf eine Fusion mit einer fremden Gesellschaft einlassen zu müssen.
Man musste Opfer bringen! – der Leitsatz seines Vaters.
Als er dann Janis kennenlernte und endlich erfuhr was wahre Liebe ist, da war bereits sein
erster Sohn auf der Welt und die ersten Anzeichen dafür, dass bei seiner Frau
irgendetwas nicht stimmte.
Von da an war sein Leben ein Taumel aus Sorge, Furcht und Krankheit – lediglich die Zeit
die er mit seiner großen Liebe auf den Outer Banks hatte verbringen können, machten
den Alltag noch erträglich.
Und eines Tages hatte Ford es nicht mehr ausgehalten und seine Frau um die Scheidung
gebeten. Er hatte ihr die Firma überlassen wollen, das Geld, die Häuser – einfach Alles.
Alles außer ihren gemeinsamen Söhnen. Und Victoria war durchgedreht. Ford gab ihr
Halt, war ihr sicherer Hafen, die Konstante in ihrem verwirrenden Leben – all das wollte er
ihr nehmen. Sie hatte ihn gezwungen zu bleiben, hatte dem Baby in ihren Armen ein
Messer an die Kehle gehalten und Ford damit in die Knie gezwungen. Nie wieder hatte
der Mann es gewagt den Gedanken an eine Trennung auch nur zu denken. Und nie
wieder hatte es einen Tag gegeben, an dem er ohne Angst um seine Kinder aus dem Haus
gegangen war.
Ford hatte für alles gesorgt. Victoria war nie allein im Haus, nie allein mit ihren Söhnen.
Doch nur ganz allmählich hatte es Auszeiten gegeben. Mit der richtigen Medikation
waren die Schübe nur noch in größeren Abständen gekommen und immer wieder war es
möglich sogar über einen Zeitraum von vielen Monaten ein ganz normales Leben zu
führen. Mit der Zeit hatten sowohl Ford, als auch seine Jungs es gelernt die Anzeichen der
Schizophrenie zu deuten.
50 Jahre… Janis hatte es in ihren Zeilen erwähnt, im folgenden Sommer wären es 50
Jahre, die sie nun das kleine Haus auf den Outer Banks besaßen. Bobby, sein
Erstgeborener, würde bald seinen 51. Geburtstag feiern. Fords Leben war vergangen,
ohne dass er es groß bemerkt hatte.
Ein Windhauch fegte durch den Vorgarten des imposanten Hauses. Ford schloss die
Augen und hörte in Gedanken das Kreischen der Möwen und das Rauschen des Meeres.
Es mochten vielleicht viele Jahre vergangen sein, doch sein Herz hungerte noch immer
mit jedem Schlag nach ihr. Nach Janis, seiner großen Liebe.
Ein plötzliches lautes Krachen ertönte und Ford schreckte auf. Schnell hastete er die
Stufen hinauf und betrat das Haus. Emily lief eilig durch die Eingangshalle und die Treppe
hinauf, die ins obere Stockwerk führte.
„Mum!“, ertönte die Stimme von Patrick, Emilys und Freds erwachsener Sohn.
„Ich komme schon, mein Schatz. Was ist denn passiert?“
Mit einem Seufzen hing Ford seinen Mantel auf und schaute hinauf, zur Galerie im oberen
Stockwerk. „Schon gut, Victoria. Ich komme!“, rief er laut, während sein Blick den seines
Enkels traf. „Komm, Pat. Du musst nicht bleiben, Junge. Du musst das nicht…“
„Schon gut, Grandpa. Ich bin kein Kind mehr…“, entgegnete der Jüngere, als sie sich auf
dem oberen Treppenabsatz gegenüberstanden.
„Deine Grandma halluziniert…“
„Ich weiß…“
Nickend ging Ford an seinem Enkel vorbei, nicht darauf achtend, dass er noch immer
seine Zeitschrift in den Händen hielt. Kurz bevor er das Zimmer seiner Frau erreicht hatte,
kam diese wankend, sich immer wieder umschauend aus dem Raum.
Ford versuchte sie festzuhalten, was Victoria dazu brachte laut aufzuschreien. Das Heft
fiel ihm aus der Hand und der Brief rutschte hervor. Unbeachtet lag er am Boden,
während Ford in sanften, ruhigen Worten auf seine Frau einsprach.
„Es ist niemand hier, Liebes. Keiner will dir was tun.“
„Du warst nicht da, ich habe gerufen und du bist nicht gekommen!“, schrie die Frau mit
schriller Stimme.
Ford fing den Blick seiner Schwiegertochter auf und deutete ihr sie allein zu lassen. Er
kam schon klar.
Emily nickte nur und wandte sich zum Gehen, nicht ohne zuvor Fords Zeitschrift vom
Boden aufzulesen - und den Brief, was ihrem Schwiegervater nicht entging.
Unwillkürlich versteifte er sich, was wiederum Victorias Aufmerksamkeit auf sich zog.
Ihr wirrer Blick flog von dem Schriftstück in Emilys Hand hin zu ihrem Mann. Dann flog ihr
Kopf herum und sie fing an zusammenhanglose Satzfetzen zu murmeln.
Ford versuchte sie zu unterbrechen, sie dazu zu bewegen in ihr Zimmer zurück zu gehen,
doch Victorias Stimme wurde immer schriller und lauter, bis sie ihren Mann schließlich von
sich stieß.
„Du hast doch keinen Grund mehr, du mieser Dreckskerl! Es ist doch nicht mehr da! Du
hast doch uns, Ford!“
„Schluss damit, Victoria!“, versuchte Ford mit Strenge die Situation wieder in den Griff zu
bekommen, doch anscheinend war dieses Zeichen vom Schattenleben ihres Mannes wie
ein rotes Tuch für Victoria und gab ihrem irrationalen Handeln einen Nährboden.
Wie eine Furie stürzte sie sich auf ihren Mann und verfluchte ihn. Schließlich gelang es
Patrick seine Großmutter mit schierer Körperkraft aus der Situation zu reißen. Er hatte
einfach die Arme um ihre Taille geschlungen und sie von Ford weggezogen. Plötzlich war
die alte Frau still.
Ford rauschte das Blut in den Ohren, sodass er beinahe ihre leise, schneidende Stimme
gar nicht gehört hätte.
„Sie war schwanger und du wolltest mich verlassen. Ich habe es dir angesehen, auch
wenn du dich nicht getraut hast es noch einmal laut auszusprechen. Sie haben mir gesagt,
dass ich das Problem lösen soll. Also habe ich es getan!!“ Sie lachte schrill auf und Ford
fühlte sich wie erstarrt.
Patrick lockerte den Griff, sodass Victoria nun dicht vor ihm stand, wich jedoch nicht von
ihrer Seite.
Unfähig irgendetwas zu sagen starrte Ford seine Frau nur an, die ihn mit irrem Lächeln
anstierte. „Ich bin zu der Adresse gefahren. Zu der Adresse, die ganz hinten in deinem
Büchlein steht – ohne Namen. Ich habe dort gewartet und als sie mit ihrem Fahrrad die
Straße überquert hat, habe ich Gas gegeben, Ford, genauso wie sie es mir gesagt haben.
Es war ganz leicht. Sie war schwanger. Man konnte es sehen…“
Ford spürte wie die Kälte in seine Glieder kroch. Wie hatte er es nur vergessen können?
Sein drittes Kind. Janis´ Kind.
„Ich wusste, dass es von dir war…“
„Nein, Victoria. Nein, das hast du nicht getan. Du hättest nicht…“
Mit zitternden Händen griff Ford nach dem Gelände, das die Galerie säumte, und kämpfte
darum nicht die Fassung zu verlieren.
„Warum hätte ich es nicht können sollen? Die Kinder waren in der Ski-Freizeit, du hast
dein Heer an Wachhunden über Silvester in den Urlaub geschickt und hast dich in der
Firma vergraben.“ Ihre Stimme klang so ruhig, dass es schien als wäre sie gesund, als
hätte keine Krankheit sie in ihren Fängen.
„Sie wäre beinahe gestorben. Victoria, du würdest doch keinen Menschen umbringen. Du
bist doch kein…“ Monster, wollte Ford sagen. Doch dann tauchte unwillkürlich das Bild
von Bobby mit dem scharfen Tranchiermesser an der winzigen Kehle vor seinem
inneren Auge auf und sein Herz gefror.
All die Jahre hatte Victoria mit der Schuld gelebt einen Menschen voller Willkür
schwerverletzt zu haben. Ein ungeborenes Kind auf dem Gewissen zu haben.
Mit weichen Knien wandte Ford sich ab und machte einen unsicheren Schritt, weg von
Victoria. Weg von der schrecklichen Wahrheit.
„Bleib hier!“, kreischte Victoria voller Zorn und versuchte die Hände ihres Enkels
abzuschütteln, die sich fest um ihre Schultern gespannt hatten.
„Komm, Granny, wir gehen in dein Zimmer und spielen noch ein wenig Backgammon.“
Ford bewunderte seinen Enkel für die Ruhe die er ausstrahlte. Doch er konnte nicht hier
bleiben. Er hielt Victorias Nähe nicht länger aus.
„Lass mich los, du dreckiger, kleiner…“
Ford erkannte die Unsicherheit im Blick seiner Schwiegertochter, die sichtbar hart darum
kämpfte, ihren Mutterinstinkt im Zaum zu halten. Es tat Ford leid, dass er ihnen keine
Hilfe sein konnte. Aber er hielt es nicht länger aus. Es fühlte sich an als würde er ersticken.
Er bekam einfach keine Luft…
Sich an der Wand abstützend, stieg Ford die Stufen hinab.
„Grandma!“ Patricks atemlose Stimme ließ Ford doch noch einmal aufschauen.
Victoria hatte sich aus dem starken Griff des jungen Mannes befreit und hastete auf die
Treppe zu.
„Du gehörst mir, Ford! Mir! Ich verlange, dass du da bleibst.“
Vollkommen von Sinnen stürzte Victoria hinter ihrem Mann her und verhedderte sich im
Saum ihres Morgenmantels. Es geschah wie in Zeitlupe und es war völlig unwillkürlich,
dass Ford zurückwich anstatt ihren Fall zu bremsen…
Roseville
Nachdenklich betrachtete Gibbs den alten Mann, der mit verschlossener Miene reglos auf
dem Rand des Bootsanhängers saß und einen Punkt am Boden vor sich fixierte.
Wie Fred Campbell es bereits vermutet hatte sträubte sein Vater sich dagegen auch nur
über Janis zu sprechen.
Emily Brighton seufzte schwer und warf ihrem Mann immer wieder tadelnde Blicke zu.
„Ich hatte dir gesagt, dass du dich da raus halten sollst, Fred! Pa hat alle Möglichkeiten
mit Janis in Kontakt zu treten und wenn er es – aus welchem Grund auch immer – nicht
möchte, dann solltest du das einfach akzeptieren. Und ihn nicht mit einer Nachricht von
ihr so in die Ecke drängen.“
Fred zuckte nur mit den Schultern. „Da hab ich es wohl verbockt, hm?“
Emily rollte mit den Augen, während es Gibbs sichtbar unangenehm war die Familie in
solche Streitigkeiten gestürzt zu haben. Doch mit Fords Wutausbruch, als dessen Sohn
ihm freudestrahlend von dem berichtet hatte, was er von Hollis wusste, hatte der
Silberfuchs nicht gerechnet.
Allerdings ging es hier auch um seine Zukunft und so verließ er wortlos die Veranda und
überquerte langsam die Rasenfläche auf dem Weg zu dem Boot und dessen Besitzer.
„Darf ich?“, fragte Jethro und deutete auf eine Stelle neben Ford.
„Bitte…“, brummte der Ältere nur ohne den Blick zu heben.
Nach einer ganzen Weile, in der die Männer nur schweigend dagesessen hatten ergriff
Ford noch einmal das Wort:
„Warum glaubt mein Sohn, dass Sie der Richtige sind um Hand an mein Boot legen zu
können?“
Jethro lachte auf und schüttelte den Kopf. „Das sollten Sie ihn besser selbst fragen, oder?
Wenn Sie wissen wollen ob mein handwerkliches Geschick dafür ausreicht, so lautet die
Antwort ja.“
Ford nickte nur und wandte sich nun seine Gesprächspartner zu. Kritisch musterte er den
Grauhaarigen. „Ich hatte Sie mir anders vorgestellt. Kennen Sie diese Ökotypen mit den
ungepflegten langen Haaren und den dreckigen Füßen…“ Die beiden Männer lachten
amüsiert ob dieser Vorstellung.
„Warum zum Teufel nutzen sie keine elektrischen Geräte? Wie bringt Sie das weiter?“,
wurde Ford nun konkret.
Nun war es an Jethro den Blick zu senken. Während ein verhaltenes Schmunzeln in seine
Züge schlich suchte er nach den passenden Worten. „Ich wollte nicht… zu schnell mit der
Arbeit fertig werden. ( außerdem spürt man das Holz so viel intensiver. ) “, erklärte er sein
Verhalten schlicht und spürte den forschenden Blick des anderen auf sich.
Ford nickte scheinbar wissend und entgegnete: „Ja, das ist ein guter Grund. Sind Sie denn
Schreiner von Beruf?“
„Nein. Ich bin… war Bundesagent.“
„FBI?“, hakte Ford nach.
„NCIS – ein Navy Cop.“, wiedersprach Gibbs und veränderte seine Sitzposition, da seine
Hüfte sich bemerkbar machte. Unwillkürlich begann er seinen Oberschenkel zu massieren
und spürte erneut Ford forschenden Blick auf sich.
„Was ist passiert?“, wollte der alte Mann ungeniert wissen, doch Gibbs nahm es ihm nicht
übel. Ford schien ein angenehmer Mensch zu sein.
„Auf mich ist geschossen worden.“
„Wurden Sie schwer verletzt?“
Gibbs seufzte. „Es hat ausgereicht für eine Dienstuntauglichkeit.“
„Tut mir leid. Ich bin zu neugierig.“ Ford stand auf und lief vor dem Boot auf und ab,
während er es nachdenklich musterte. „Was denken Sie wie lange Sie brauchen werden
um meine Kleine hier wieder fit zu kriegen, Jethro?“
Auch der Silberfuchs war aufgestanden. Nun musterte er zum wiederholten Male das
Seegelboot.
„Wann wollen Sie mit ihr in Seestechen, Ford?“
Der Ältere lachte leise. „Nun ja, wenn Sie wirklich ganz ohne elektrische Maschinen da ran
wollen… Ich bin nicht mehr der Jüngste.“
Gibbs fiel in das Lachen mit ein. „Solange wird es nicht dauern. Außerdem besitze ich eine
wirklich gute Sammlung gut funktionierender, elektrischer Werkzeuge. Sobald ich das
Boot bei mir habe und alle Materialien zügig geliefert werden… drei bis fünf Wochen.
Sofern es keine Probleme gibt, die ich bislang noch nicht absehen kann. Was sagen Sie?“
Ford reichte dem Silberfuchs die Hand. „Abgemacht! Sie haben zwei Monate, ok? Dann
kann ich vor den ersten Herbstwinden noch einmal rausfahren. Und was die Bezahlung
angeht…“
Gibbs unterbrach den Mann. „Sie werden nur die Materialkosten tragen müssen. Ihr Boot
ist ein erster Versuch und ich kann nicht zu 100% garantieren, dass ich den Termin wirklich
einhalten kann. Sie haben selbst bemerkt, dass ich noch nicht vollkommen fit bin.
Aber…“
„Schon gut. Ich bin überzeugt davon, dass Sie das hinkriegen, Jethro. Nur so ein Gefühl,
aber ich denke mein Sohn hatte den richtigen Riecher, als er Sie angesprochen hat. Wann
soll Fred das Boot zu Ihnen bringen?“
Die Männer besprachen alles Weitere und besiegelten dann ihre Absprachen per
Handschlag.
Ein erster Schritt in ein neues Leben. Gibbs schluckte schwer und suchte unwillkürlich
Hollis´ Blick, den sie lächelnd erwiderte.
Allem Anschein nach hatte sich die Stimmung wieder gehoben und der anfängliche
Dämpfer war beinahe wieder vergessen. Doch bevor Jethro sich gemeinsam mit Ford
wieder zu den anderen gesellen konnte, hielt der alte Mann ihn noch einmal auf.
„Einen Moment noch, bitte.“ Ford wandte den Blick ab und schien um Worte zu ringen.
„Es war sicherlich nicht einfach mich hier zu finden, aber… Ich wollte einfach mit meiner
Vergangenheit abschließen – alles zurücklassen. Verstehen Sie?“
Gibbs nickte und legte dem Älteren eine Hand auf den Arm. „Sie brauchen mir nichts
erklären, Ford.“
„Doch!“, widersprach Ford energisch und suchte nun doch den Blick des anderen
Mannes. „Ich liebe Janis, sehr sogar. Aber ich habe sie nicht verdient. Wegen mir hat sie
so viel Kummer gehabt und jetzt… Ich bin alt und krank. Ich werde nicht zu ihr
zurückkehren, um ihr zur Last zu fallen!“
Unwillkürlich flog Jethros Blick hinüber zu seiner Geliebten. Die Gedanken des alten
Mannes kamen ihm so bekannt vor. „Wenn das Ihre Entscheidung ist, Ford… Allerdings
weiß ich zufällig, dass Frauen damit nicht immer einverstanden sind.“
„Sagen Sie ihr, dass sie mich vergessen soll! Sagen Sie ihr das!!“
Jethro erkannte wie diese Worte den anderen quälten, doch er kannte auch das Gefühl
dahinter. In diesem Moment war er froh um Hollis´ sture Art, froh darum, dass er
rechtzeitig kapiert hatte, dass ein Leben ohne Hollis kein Leben war.
32. Kapitel
Eilig lief Frederick Campbell die endlosen Korridore des Pflegeheims entlang. Der Anruf
der Pflegerinnen hatte ihn vollkommen überrumpelt. Sie hatten darum gebeten, dass er
möglichst zeitnah in die Einrichtung kommen sollte.
Endlich hatte er den Trakt erreicht, in dem das Appartement seines Vaters untergebracht
war. Nelly Wilson, eine junge Pflegekraft trat ihm entgegen.
„Mr. Campbell! Es ist gut, dass Sie so schnell herkommen konnten. Ihren Dad geht es
nicht gut. Er hat leichte Temperatur, aber mehr Sorgen macht es uns, dass er nicht
aufstehen will. Er hatte sich den ganzen Vormittag nicht blicken lassen und auch Mr.
Abbot versetzt. Die Herren wollten Schach spielen… Haben Sie eine Ahnung was passiert
sein könnte?“
Noch während die junge Frau auf ihn einsprach hatte Fred die Tür zu den Räumen seines
Vaters erreicht. Sein Magen hatte sich zu einem harten Knoten verkrampft und eine
ungute Ahnung kroch in seinen Gedanken empor. „Ich befürchte er… Er ist einfach nur
traurig, Miss“, entgegnete er leise und legte mit einem Seufzen eine Hand an die
Türklinke. „Aber… Fieber hat er? Sagten Sie nicht so etwas?“
Die Pflegerin zuckte mit den Schultern. „Ich kann nicht genau sagen, ob das Gerät richtig
gemessen hat – Mr. Campbell wollte nicht, dass wir… Aber meine Kollegin hat nicht
locker gelassen“, die blonde Frau unterbrach sich und senkte den Blick. „So haben wir ihn
noch nie erlebt. Es tut mir sehr leid.“
Irritiert von der halben Beichte der Jüngeren wandte Fred sich ab und öffnete leise die
Tür. Es dauerte einen Momentlang, bis seine Augen sich an die Dunkelheit im dahinter
liegenden Zimmer gewöhnt hatten, doch dann trat er ein und ließ die Tür ins Schloss
fallen.
„Daddy?“, fragte er fragend in Richtung des Deckenberges, auf dem Bett. Stille hallte
zurück.
Zögerlich näherte Fred sich und ließ sich auf der Bettkante nieder. „Geht’s dir nicht gut,
Pa?“
Behutsam legte der Dunkelhaarige eine Hand auf die Erhöhung der Bettdecke und spürte
die dünne Schulter seines Vaters unter seinen Fingern.
„Ich will allein sein, Junge! Warum versteht das niemand?“, erklang Fords Stimme dumpf
und ungewohnt dünn. Er kehrte seinem Sohn den Rücken zu und hielt das Gesicht dicht
vor der Wand.
„Mr. Abbot vermisst dich“, lockte Fred mit leiser Stimme.
„Herrgott! Fang du nicht auch an mit mir zu reden, als wäre ich ein seniler Spinner! Gustav
wird es überleben, wenn wir das Schachspiel einmal ausfallen lassen. Ich bin nicht in der
Stimmung!“, brauste der alte Mann auf.
„Sag mir doch was los ist, Dad. Bist du krank?“ Der Körper seines Vaters fühlte sich wohl
erhitzt an, doch das war wohl nicht weiter verwunderlich. Unter dicken Decken in einem
verschlossenem, aufgeheiztem Raum, während draußen das Thermometer allmählich
wieder die 30°Grad Marke erklomm.
Ford reagierte nicht auf die Frage seines Sohnes, sondern brütete nur weiter stumm vor
sich hin.
Frederick war sich sicher, dass seinem Vater schlichtweg die Begegnung mit Jethro Gibbs
und dessen Lebensgefährtin nachhing. Emily hatte recht behalten: Dieser Überfall auf die
Privatsphäre seines Vaters war wie ein Fausthieb für den alten Mann gewesen.
Mit einem Seufzen stand Fred auf und durchquerte das kleine, behagliche Zimmer.
Schwungvoll und mit Nachdruck öffnete er die Vorhänge und die Terrassentüren. Ein
frischer Windhauch wehte von der Küste her über die Wiesen und brachte den herben
Duft des Meeres mit sich.
Der Dunkelhaarige hatte mit einer Reaktion seines Vaters gerechnet, doch es blieb still.
Besorgt ging Fred zurück zum Bett und zupfte leicht an der schweren Bettdecke. „Komm
schon, Pa. Wir machen dich ein bisschen frisch und du setzt dich raus, hm?“
Ein unwilliges Grollen erklang aus den Untiefen des Bettes.
„Ach, komm schon. Watson wartet bei Mr. Petterson, sie gehen im Park spazieren. Wenn
du mit rauskommst, dann kann ich ihn herholen. Was sagst du?“
Ohne auf die Frage zu antworten zog Ford die Decke ein Stück höher, sodass nur noch
seine Nasenspitze hinausschaute. „Mir ist kalt, Fred. Lass mich doch einfach, Junge.“
Es schnitt dem Jüngeren tief ins Herz seinen Vater so zu sehen. Voller Sorge ließ er sich
erneut auf die Bettkante sinken. „Rede mit mir, Dad. Was kann ich tun? Es tut mir leid,
dass du gestern so überfallen wurdest. Das habe ich nicht gewollt. Es war… ein Zufall. Ich
habe nicht gewusst, dass die beiden dich suchen. Und auch Jethro und Hollis haben nichts
geahnt.“
Mit einem tiefen Stöhnen wandte sich Ford nun doch um. Schwerfällig rollte er sich auf
den Rücken und suchte den Blick seines Sohnes. „Das weiß ich doch, Frederick. Keiner
von Euch wollte mir etwas Böses, aber… Warum… Nun habe ich wieder die Wahl. Es ist
als bräuchte ich nur die Hand ausstrecken und könnte glücklich sein. Aber das steht mir
nicht zu und…“
Ford brach ab und schloss mit gequältem Gesichtsausdruck die Augen. „Ich habe Janis‘
Kind auf dem Gewissen und Eure Mutter. Vielleicht wäre es niemals so schlimm geworden
mit Victoria, wenn sie nicht die ganze Zeit gewusst hätte, dass ich sie nicht so lieben kann,
wie sie es verdient hat. Du und Dein Bruder, Janis, Victoria – ihr alle hättet so viel
glücklicher leben können, wenn ich nicht so viele Fehler gemacht hätte.“
„Hör auf damit, Dad. Das ist doch nicht wahr. Du hast immer alles getan. Du warst Mum
die größte Stützte und ihre Krankheit wäre nicht anders verlaufen. Nichts davon ist deine
Schuld. Oh, Dad…“
Fred griff nach den Händen seines Vaters, die zu Fäusten geballt auf der Decke ruhten,
während Ford sichtlich mit sich rang.
„Bitte, Dad, verbiete dir nicht das Glück. Ich… ich glaube nicht, dass ich es ertragen kann
dabei zuzusehen, wie du… wie du dich und dein Leben einfach aufgibst.“ Mit bebenden
Händen strich Fred seinem Vater eine verirrte Strähne aus der Stirn. „Ich brauch dich…
Wir alle!“
Langsam lief Janis durch die Straßen des kleinen Fischerortes Engelhard und ließ ihn auf
sich wirken. Es war ein schöner Flecken Erde, den sie zuvor noch nie betreten hatte.
Hinter einer Häuserreihe öffnete sich das Hafenbecken und ließ den Blick frei auf etliche
Segel- und Fischerbote, die gut vertäut auf ihre nächste Ausfahrt warteten. In der
gesamten Lagune war es lediglich Segel- und Elektrobooten gestattet zu fahre. Der
Pamlico Sound galt als Naturschutzgebiet, und so fehlten hier in diesem Hafen die
schnittigen Sportboote und Luxusyachten vollkommen.
Janis war am gestrigen Abend aus allen Wolken gefallen, als sie von Hollis und deren
Lebensgefährten erfahren hatte, dass Ford lebte und dass sie mit ihm gesprochen hatten.
Seine Aussage, sie nicht sehen zu wollen, konnte Janis schlichtweg nicht glauben und
nach einer Nacht, in der sie schlaflos auf dem Steg hinter ihrem Haus gesessen und über
die glatte Fläche des Sounds geblickt hatte, hatte sie einen Entschluss gefasst.
Gelegentlich wollten Männer einfach zu ihrem Glück gezwungen werden! Jedenfalls hatte
Janis nicht vor bis in alle Ewigkeiten sehnsüchtige Bilder von Segelbooten zu zeichnen.
Solange hatten sie gewartet. Dieser sture, alte Mann!
Doch nun, wo sie die Stadt auf der anderen Seite der Lagune erreicht hatte, kamen ihr
Zweifel. War es richtig sich einfach über Fords Wunsch hinwegzusetzen und ihn
hinterrücks zu überfallen? Wäre es nicht angebracht seine Bitte hinzunehmen?
Doch was war mit ihren eigenen Sehnsüchten und Wünschen? Bedeuteten diese denn gar
nichts? Hatte sie sich nicht in all den Jahren, Jahrzehnten immer zurückgenommen? Jede
Hürde in ihrem Leben hatte sie allein meistern müssen, hatte immer nur an zweiter Stelle
gestanden und jetzt… Jetzt, wo sie endlich ihren Platz an Ford Seite einnehmen könnte,
da stieß er sie von sich?
Müde ließ Janis sich auf eine Bank am Pier sinken. Das Herz war ihr so schwer. Und die
Sehnsucht nach dem Mann, den sie so sehr liebte, größer denn je.
Nein! Nein, sie würde diese letzte Chance, die ihnen das Leben noch bot, nicht
verstreichen lassen. Sie würde um ihn kämpfen. Um diesen alten Dummkopf!