Die Beteiligung des betreuenden Elternteils am Barunterhalt

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Die Beteiligung des betreuenden Elternteils am Barunterhalt
Die Beteiligung des betreuenden Elternteils am Barunterhalt
Von Vors. Richter am OLG a. D. HARALD SCHOLZ, Ratingen1
Ein Elternteil, der ein minderjähriges unverheiratetes Kind betreut, erfüllt seine Unterhaltspflicht in der
Regel durch die Pflege und Erziehung des Kindes (§ 1606 III S. 2 BGB). Der andere hat dagegen den
Barunterhalt aufzubringen. Er hat alle verfügbaren Mittel einzusetzen (§ 1603 II S. 1 BGB). Für seinen
eigenen Bedarf bleibt ihm nur der notwendige Selbstbehalt. Diese verschärfte Haftung scheidet jedoch
dann aus, wenn ein anderer unterhaltspflichtiger Verwandter vorhanden ist, der den Barunterhalt ohne
Beeinträchtigung seines eigenen angemessenen Selbstbehalts leisten kann (§ 1603 I, II S. 3 BGB).
Der unterhaltspflichtige Verwandte kann auch der betreuende Elternteil sein. Dieser hat sich darüber
hinaus am Barunterhalt zu beteiligen, wenn eine Ausnahme von der Regel des § 1606 III S. 2 BGB
gegeben ist, insbesondere wenn er über ein deutlich höheres Einkommen als der andere verfügt und
dessen Inanspruchnahme auf Kindesunterhalt zwar nicht zur Gefährdung des angemessenen
Selbstbehalts des Barunterhaltspflichtigen, wohl aber zu einem finanziellen Ungleichgewicht zwischen
den Eltern führen würde. Es stellt sich daher die Frage, wie sich § 1603 II S. 3 BGB zu § 1606 III S. 2
BGB verhält und unter welchen Umständen der betreuende Elternteil den anderen ganz oder teilweise
vom Barunterhalt zu entlasten hat.[1]
I. Der Barbedarf des minderjährigen Kindes
Das Maß des Unterhalts bestimmt sich nach der Lebensstellung des bedürftigen Kindes und damit
nach dem Einkommen der Eltern (§ 1610 I BGB). Verfügt nur ein Elternteil über Einkommen, kann
allein dieses für den Bedarf des Kindes maßgebend sein. Erzielt auch der andere Elternteil Einkünfte,
bemisst sich der Bedarf nach dem zusammengerechneten Einkommen der Eltern. Dies ist allgemein
anerkannt, wenn das Kind volljährig, auch privilegiert volljährig ist oder wenn es noch minderjährig ist,
aber beide Eltern mit ihm im Familienverband leben[2]. Dasselbe gilt, wenn die Eltern sich getrennt
haben und beide barunterhaltspflichtig sind, z. B. weil das Kind bei Pflegeeltern lebt. Wenn das
minderjährige Kind von einem Elternteil i. S. des § 1606 III S. 2 BGB betreut wird, soll sich dessen
Barbedarf dagegen nach weithin unbestrittener Auffassung allein nach den Einkünften des
barunterhaltspflichtigen Elternteils richten, während der andere Elternteil nur den Betreuungsbedarf
sicherstellt[3]. Dass halte ich nicht für überzeugend[4].
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M. E. wird hier nicht sauber zwischen dem Bedarf des minderjährigen Kindes und der
Leistungsfähigkeit des barunterhaltspflichtigen Elternteils unterschieden. Der Bedarf des Kindes sollte
generell nach dem zusammengerechneten Einkommen der Eltern bemessen werden. Denn ein Kind,
das bei einem Elternteil lebt, der Einkünfte erzielt, nimmt auch an dessen Lebensstellung teil[5]. Es
steht sich besser als ein Kind, das bei einem Elternteil ohne Einkommen wohnt. Dies ist evident, wenn
der betreuende Vater über ein hohes Einkommen verfügt, die Mutter dagegen angesichts ihrer
geringen Einkünfte nur Unterhalt nach der ersten Gruppe der Düsseldorfer Tabelle zahlen kann. In
einem solchen Fall muss der Vater den von der Mutter gezahlten Barunterhalt aufstocken, indem er z.
B. für das Kind bessere Kleidung kauft oder einen aufwändigeren Urlaub ermöglicht, als der karge
Barunterhalt zulassen würde. Das Kind ist also nicht allein auf den Barunterhalt des anderen
Elternteils angewiesen, den dieser im Rahmen seiner Leistungsfähigkeit, also nach Maßgabe seines
geringen Einkommens, schuldet[6]. Dies ändert nichts daran, dass der betreuende Elternteil, wie sich
aus § 1606 III S. 2 BGB ergibt, grundsätzlich keinen Barunterhalt zu zahlen hat; er beteiligt das Kind
an seinem Lebensstandard, indem er es „pflegt und erzieht" und ihm in seinem Haushalt besseren
Naturalunterhalt gewährt, als der nach der Düsseldorfer Tabelle geschuldete Barunterhalt erlauben
würde.
II. Die Voraussetzungen für die Beteiligung des betreuenden Elternteils am Barunterhalt
Kann der Barunterhaltspflichtige seinem Kind den geschuldeten Barunterhalt nicht ohne Gefährdung
seines notwendigen Selbstbehalts leisten, muss der betreuende Elternteil im Rahmen seiner
Leistungsfähigkeit einspringen; eine Ersatzhaftung der Großeltern kommt erst in Betracht, wenn auch
dieser Elternteil ganz oder teilweise leistungsunfähig ist[7]. Dies ergibt sich aus § 1606 II, III S. 1 BGB.
Verfügt der Vater eines zwölfjährigen Kindes z. B. über ein Erwerbseinkommen von 1.100 €, kann er
bei einem notwendigen Selbstbehalt von 890 € nur Kindesunterhalt i. H. von 210 € zahlen. Den
Fehlbetrag zum Tabellenunterhalt von 291 €, also 81 €, muss die betreuende Mutter aufbringen,
selbst wenn sie nur über ein Einkommen unterhalb ihres angemessenen Eigenbedarfs von 1.100 €
verfügt. Auch sie wird nur durch ihren notwendigen Selbstbehalt von 890 € bei Erwerbstätigkeit
geschützt.
Hier geht es jedoch nicht um den Schutz der Eltern durch ihren notwendigen Selbstbehalt, sondern
um folgende Fallgruppen:
- Der Barunterhaltspflichtige behält nach Zahlung des Kindesunterhalts zwar seinen notwendigen,
nicht aber seinen angemessenen Selbstbehalt, während dem betreuenden Elternteil ein höherer
Betrag verbleibt.
- Der angemessene Selbstbehalt des Barunterhaltspflichtigen ist zwar nicht gefährdet, jedoch verfügt
der andere Elternteil über ein höheres Einkommen.
Bei Gefährdung des angemessenen Selbstbehalts des Barunterhaltspflichtigen ist streitig, ob der
betreuende Elternteil schon dann den Barunterhalt ganz oder teilweise tragen muss, wenn und soweit
ihm sein eigener Selbstbehalt verbleibt[8], oder ob das Einkommen des Betreuenden wesentlich
höher sein und die alleinige Haftung des Barunterhaltspflichtigen ein erhebliches wirtschaftliches
Ungleichgewicht zwischen den Eltern zur Folge haben muss[9]. Lässt man mit der ersten Auffassung
die Gefährdung des angemessenen Selbstbehalts allein genügen, so kann dies dazu führen, dass
dem Betreuenden nach Beteiligung am Barunterhalt kaum mehr als dem anderen verbleibt. Dies wäre
z. B. der Fall, wenn sich für das zwölfjährige Kind bei einem Einkommen des Vaters von 1.200 € ein
Barunterhalt von 291 € ergibt. Verdient die betreuende Mutter demgegenüber 1.300 €, so müsste sie
nach der ersten Ansicht den Vater i. H. von 191 € entlasten, damit diesem der angemessene
Selbstbehalt von 1.100 € verbleibt. Dies hätte zur Folge, dass sie selbst trotz der Betreuung nur über
ein restliches Einkommen von 1.300 - 191 = 1.109 €, also nur über wenige Euro mehr als der Vater
verfügen würde. Dieses Ergebnis befriedigt nicht.
Gutdeutsch[10] hat deshalb vorgeschlagen, dem betreuenden Elternteil einen Selbstbehalt von 1.400
€ zuzüglich der Hälfte des Mehreinkommens zu belassen. Damit lehnt er sich an den Selbstbehalt an,
den der BGH dem volljährigen Kind beim Elternunterhalt[11] und wohl auch den Großeltern beim
Unterhalt der Enkel gewährt[12]. Darüber hinaus will Gutdeutsch das Einkommen des betreuenden
Elternteils um den zusätzlichen Barbedarf kürzen, der sich daraus ergibt, dass das Kind die
Lebensverhältnisse auch des Betreuenden teilt. Gerhardt[13] vertritt eine ähnliche Auffassung. Er will
dem betreuenden Elternteil einen Betrag belassen, der mindestens 300 € über dem angemessenen
Selbstbehalt liegt, den er mit 1.100 € ansetzt. Ich habe bisher gefordert, dass zwischen den
Einkünften der Eltern nach Deckung des Kindesunterhalts eine Differenz von wenigstens 500 €
bestehen müsse[14].
Es erscheint m. E. nicht angemessen, die Entlastung des Barunterhaltspflichtigen nur davon abhängig
zu machen, dass das Einkommen des betreuenden Elternteils einen festen, wenn auch erhöhten
Selbstbehalt von 1.400 € oder auch von 1.100 € zuzüglich 300 € übersteigt. Dies gilt auch dann, wenn
man mit Gutdeutsch diesen Selbstbehalt entsprechend der Rechtsprechung des BGH zum
Elternunterhalt um 50 % des Mehreinkommens erhöht. In einem solchen Fall darf nicht nur auf § 1603
I, II S. 3 BGB abgestellt werden, selbst wenn man mit Gutdeutsch den Betrag, den der betreuende
Elternteil zur Aufstockung des Barunterhalts auf den tatsächlichen Bedarf nach dem Einkommen
beider Eltern aufwenden muss, vorab von seinem Einkommen abzieht. Vielmehr ist auch § 1606 III S.
2 BGB anzuwenden. Nach dieser Vorschrift kann eine Ausnahme von der Regel, dass die
Kindesbetreuung als Leistung des vollen Unterhalts gilt, nur dann angenommen werden, wenn der
Barunterhaltspflichtige über ein deutlich geringeres Einkommen als der betreuende Elternteil verfügt
und seine Inanspruchnahme auf den (vollen) Barunterhalt nach der Tabelle zu einem finanziellen
Ungleichgewicht zwischen den beiderseitigen Einkünften führt. Diese Kriterien werden von der
Rechtsprechung[15] herangezogen,
FamRZ 2006 - Seite 1730
wenn zwar der angemessene Selbstbehalt des Barunterhaltspflichtigen durch Zahlung des
Tabellenunterhalts nicht gefährdet wird, dem anderen aber deutlich höhere Einkünfte zur Verfügung
stehen (2. Fallgruppe). Es spricht viel dafür, auf dieses finanzielle Ungleichgewicht auch dann
abzustellen, wenn der angemessene Selbstbehalt des Barunterhaltspflichtigen bei Leistung des
Tabellenunterhalts nicht gewahrt ist (1. Fallgruppe). Dies hat zudem den Vorteil, dass beide
Fallgruppen weitgehend gleich behandelt werden können. Das Argument, dass der Schuldner, dessen
angemessener Selbstbehalt nach Zahlung des Kindesunterhalts unterschritten wird, besonders
schutzbedürftig sei, überzeugt mich nicht. Richtig ist allein, dass ein finanzielles Ungleichgewicht bei
geringen Einkünften des Barunterhaltspflichtigen vor allem dann in Betracht kommen kann, wenn sein
angemessener Selbstbehalt nicht gewahrt bleibt. Dem tragen diese Ausführungen Rechnung.
Die Praxis hat sich bisher noch nicht darauf verständigen können, wann ein solches Ungleichgewicht
anzunehmen ist[16]. Man ist sich aber darüber einig, dass bei einem nur geringfügig höheren
Einkommen des Betreuenden eine Entlastung nicht in Betracht kommt. Häufig wird davon
gesprochen, dass das Einkommen des betreuenden Elternteils doppelt oder dreimal so hoch wie
dasjenige des barunterhaltspflichtigen sein müsse[17]. Unklar bleibt aber vielfach, ob bei diesem
Vergleich auf die Einkünfte vor oder nach Zahlung des Kindesunterhalts abzustellen ist. Ein Vergleich
des verbleibenden Einkommens nach Zahlung des Kindesunterhalts führt letztlich zu einer
allgemeinen Prüfung, ob das gewonnene Ergebnis dem Gericht billig erscheint. Welche Maßstäbe bei
dieser Prüfung anzulegen sind, ist bisher nicht geklärt. Es soll deshalb hier in Weiterführung meiner
früheren Ausführungen[18] der Versuch gemacht werden, die Gesichtspunkte, die für oder gegen eine
Entlastung des barunterhaltspflichtigen durch den betreuenden Elternteil sprechen, bereits in der
Unterhaltsberechnung zu berücksichtigen und dabei auf das gängige Instrumentarium des
Unterhaltsrechts (Bereinigung des Einkommens, Einkünfte aus nicht zumutbarer Erwerbstätigkeit,
Erhöhung des Selbstbehalts) abzustellen.
Meines Erachtens empfiehlt sich folgendes Vorgehen:
a) Das Einkommen beider Eltern ist wie üblich um Abzugsposten zu bereinigen, insbesondere um
berufsbedingte Aufwendungen und zu berücksichtigende Schulden. Zu den berufsbedingten
Aufwendungen gehören auch die effektiven Kosten, die dem Elternteil durch die Betreuung entstehen
und die ohne die Erwerbstätigkeit nicht erforderlich wären, z. B. die Kosten für eine Tagesmutter[19].
Schulden, die der betreuende Elternteil eingegangen ist, bevor er mit seiner Beteiligung am
Kindesunterhalt rechnen muss, z. B. vor einer Verschlechterung des Einkommens des anderen
Elternteils, werden eher berücksichtigt werden können als sonstige Verbindlichkeiten.
b) Das Einkommen ist nur nach Billigkeit anzusetzen, wenn und soweit es aus einer Erwerbstätigkeit
stammt, die dem betreuenden Elternteil wegen der Versorgung des Kindes nicht oder nur teilweise
zugemutet werden kann. Hier kann - ggf. auch neben dem Abzug effektiver Betreuungskosten - ein
Betreuungsbonus gewährt werden[20].
c) Das Einkommen des betreuenden Elternteils ist entsprechend dem Vorschlag von Gutdeutsch[21]
um den Betrag zu kürzen, den er aufwenden muss, um den vom Barunterhaltspflichtigen
geschuldeten Unterhalt auf das Maß anzuheben, das sich ergäbe, wenn der Unterhalt nach dem
zusammengerechneten Einkommen der Eltern bemessen würde (vgl. oben I.). Denn dieser
Aufstockungsbetrag darf für die Entlastung des anderen nicht als Einkommen herangezogen werden.
Er soll vielmehr dem Kind zugute kommen. Ist der betreuende Elternteil einem weiteren Kind aus einer
anderen Verbindung unterhaltspflichtig, ist sein Einkommen zusätzlich um den Tabellenunterhalt für
dieses Kind zu kürzen[22]. Muss der Elternteil für seinen bedürftigen (zweiten) Ehegatten aufkommen,
ist auch dieser Unterhalt - berechnet nach dem Halbteilungsgrundsatz unter Vorwegabzug häuslicher
Ersparnisse durch das Zusammenleben[23] - vom Einkommen abzusetzen.
d) Um das Missverhältnis zwischen den bereinigten Einkünften der Eltern zu erfassen, erscheint es
angezeigt, beim Betreuenden nicht von einem starren Selbstbehalt auszugehen, sondern ihm
mindestens einen Betrag i. H. des Einkommens des Barunterhaltspflichtigen zu belassen und dieses
um einen angemessenen Prozentsatz zu erhöhen. Bei höheren Einkünften sollte ihm auch von einem
etwaigen Mehrbetrag ein Teil verbleiben. Da der Betreuende bereits den Betreuungsunterhalt und
auch die Differenz zwischen dem tatsächlichem Bedarf und dem vom anderen geschuldeten
Barunterhalt leistet, ist er nur zu einem Unterhaltsbeitrag verpflichtet. Ich halte es für angemessen,
dass dem betreuenden Elternteil 150 % der Einkünfte des anderen zuzüglich 50 % des etwaigen
Mehreinkommens als variabler Entlastungsselbstbehalt verbleiben.
Wenn hier anders als nach der oben dargestellten Auffassung nur das Eineinhalbfache statt des
Doppelten oder Dreifachen des Einkommens des Barunterhaltspflichtigen als Entlastungsselbstbehalt
des betreuenden Elternteils angesetzt werden soll, so ist dies gerechtfertigt, weil bei der hier
vorgeschlagenen Berechnung auf das gemäß a) - c) bereinigte Einkommen des betreuenden
Elternteils abgestellt wird.
e) Der vom betreuenden Elternteil zu tragende Betrag des Barunterhalts, also der Entlastungsbetrag,
ist in der Weise zu ermitteln, dass die den jeweiligen Selbstbehalt übersteigenden Einkünfte der Eltern
zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. Dabei ist beim Barunterhaltspflichtigen der angemessene
Selbstbehalt von 1.100 €, beim betreuenden Elternteil der Entlastungsselbstbehalt von 150 % des
Einkommens des anderen zuzüglich 50 % der Differenz beider Einkünfte anzusetzen.
f) Die Berechnung darf nicht zu Bagatellbeträgen führen. Eine Entlastung des Barunterhaltspflichtigen
ist danach nur angezeigt, wenn sie 10 % des Unterhalts übersteigt, den er nach der Tabelle zu zahlen
hat.
g) Das Kindergeld wird nach Maßgabe des § 1612b BGB verrechnet. Meistens wird § 1612b V BGB
anzuwenden sein. Deshalb wird eine Verrechnung des Kindergeldes mit dem Barunterhalt in der
Regel ganz oder teilweise unterbleiben. Sollte
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§ 1612b I BGB in der Fassung des Entwurfs eines Unterhaltsabänderungsgesetzes[24] vom
Parlament verabschiedet werden, gilt das Gleiche, wenn und soweit der Barunterhaltspflichtige nicht
wenigstens den Mindestunterhalt nach § 1612a I S. 2, 3 BGB-E abzüglich des hälftigen Kindergeldes
zahlen kann.
h) Die hier vorgeschlagene Berechnung dient nur dazu, ein Ungleichgewicht zwischen den Eltern zu
vermeiden. Sie darf nicht dazu führen, die vorrangige Haftung der Eltern für den Kindesunterhalt in
Frage zu stellen und die nachrangigen Großeltern stärker als bisher zu Unterhaltsleistungen
heranzuziehen. Da ein minderjähriges Kind die Lebensstellung seiner Eltern teilt, muss es sich mit
einem geringeren Unterhalt begnügen, wenn weder der Vater noch die Mutter in der Lage sind, unter
Berücksichtigung ihres jeweiligen angemessenen Selbstbehalts von 1.100 € den nach ihrem
zusammengerechneten Einkommen berrechneten Unterhalt aufzubringen. Notfalls ist bis zur ersten
Einkommensgruppe der Tabelle herabzugruppieren. Eine Ersatzhaftung der Großeltern nach § 1603 II
S. 3 BGB kommt erst in Betracht, wenn beide Eltern auch diesen geringeren Unterhalt nicht zahlen
können. Dabei ist zu beachten, dass jedem Großelternteil ein angemessener Selbstbehalt von 1.400 €
zuzüglich der Hälfte des Mehreinkommens verbleiben muss[25]. Zudem muss jede
Unterhaltsberechnung, die auf Richtsätzen von Tabellen und Leitlinien beruht, am Schluss darauf
überprüft werden, ob das Ergebnis im konkreten Einzelfall billig und angemessen ist[26].
III. Beispiele
Die Berechnung soll an verschiedenen Beispielen erläutert werden:
Beispiel 1:
Die Mutter M hat ein Einkommen von 2.500 € und betreut ein zwölfjähriges Kind; dessen Vater V
verdient 1.200 €.
Barunterhalt des Kindes nach dem Einkommen des V gemäß 1/3 der Düsseldorfer Tabelle, Stand:
1.7.2005 [DT] (keine Höhergruppierung, weil sonst der notwendige Selbstbehalt nicht gewahrt wäre):
291 €.
Gesamtbedarf nach dem zusammengerechneten Einkommen der Eltern von 2.500 € + 1.200 € =
3.700 € gemäß DT 11/3: 524 €.
Barunterhaltsanteil (Aufstockungsbetrag) der M: 524 € - 291 € = 233 €.
Bereinigtes Einkommen der M: 2.500 € - 233 € = 2.267 €.
(Entlastungs-)Selbstbehalt der M: 1.200 € x 150 % = 1.800 € zuzüglich (2.267 € - 1.800 €): 2 = 2033
€.
Bei M für eine Entlastung verfügbar: 2.267 € - 2.033 = 234 €.
Bei V verfügbar: 1.200 € - 1.100 € = 100 €.
Bei beiden Eltern verfügbar: 234 € + 100 € = 334 €.
Anteil M: 291 € x 234 € : 334 € = 204 €. Ihr bleiben 2.500 € - 233 € - 204 € = 2.063 €, und damit mehr
als ihr (Entlastungs-)Selbstbehalt von 2.033 €.
Anteil V: 291 € x 100 € : 334 € = 87 €; ihm bleiben 1.113 € und damit mehr als sein angemessener
Selbstbehalt von 1.100 €. Keine Kindergeldverrechnung. V zahlt 87 € Kindesunterhalt.
Gutdeutsch gelangt zum selben Ergebnis, da V mehr als seinen angemessenen Selbstbehalt von
1.100 € behält und damit ein Fall des § 1603 II S. 3 BGB nicht vorliegt.
Beispiel 2:
M hat ein Einkommen von 2.000 € und betreut ein zwölfjähriges Kind; dessen Vater V verdient 1.200
€.
Barunterhalt des Kindes nach dem Einkommen des V (wie Beispiel 1): 291 €.
Gesamtbedarf nach dem zusammengerechneten Einkommen der Eltern von 2.000 € + 1.200 € =
3.200 € gemäß DT 9/3: 466 €.
Barunterhaltsanteil (Aufstockungsbetrag) der M: 466 € - 291 € = 175 €.
Bereinigtes Einkommen der M 2.000 € - 175 € = 1.825 €.
(Entlastungs-)Selbstbehalt der M: 1.200 € x 150 % = 1.800 € zuzüglich Mehreinkommen von (1.825 €
- 1.800 €) : 2 = 1.813 €.
Bei M für Entlastung verfügbar: 1.825 € - 1.813 € = 12 €.
V verfügt nach Zahlung des Barunterhalts nur über ein Einkommen von 1.200 € - 291 € = 909 €.
Gleichwohl kommt eine Entlastung nicht in Betracht, weil das Einkommen der M ihren
Entlastungsselbstbehalt nur um 12 € übersteigt und dieser Betrag weniger als 10 % des Barunterhalts
ausmacht. V zahlt daher 291 €. Keine Kindergeldverrechnung.
Nach Gutdeutsch bliebe der M nur ein angemessener Selbstbehalt von 1.400 € zuzüglich 50 % der
Differenz zwischen ihrem bereinigten Einkommen von 1.825 € und 1.400 €, also von 1.613 €. Da V
ohne Gefährdung seines angemessenen Selbstbehalts von 1.100 € nur 100 € zum Unterhalt von 291
€ beitragen kann, muss sie ihn um 191 € entlasten. V müsste 100 € zahlen. Keine
Kindergeldverrechnung.
Beispiel 3:
M hat ein Einkommen von 2.000 € und betreut ein zwölfjähriges Kind; dessen Vater V verdient 1.200
€.
M ist wegen der Kindesbetreuung die Erwerbstätigkeit teilweise nicht zuzumuten. Nach Billigkeit wird
ihr deshalb ein Betreuungsbonus von 200 € gewährt.
Barunterhalt des Kindes (wie Beispiel 1): 291 €.
Gesamtbedarf nach dem zusammengerechneten Einkommen der Eltern von 1.800 € + 1.200 € =
3.000 € gemäß DT 9/3: 466 €.
Barunterhaltsanteil der M (wie Beispiel 2): 175 €.
Bereinigtes Einkommen der M: 1.800 € - 175 € = 1.625 €.
Anrechnungsfrei bleiben jedoch mindestens 150 % des Einkommens des V, also 1.800 €. Bei einem
anrechenbaren Einkommen der M von nur 1.625 € scheidet eine Entlastung des V aus.
Nach Gutdeutsch bliebe der M nur ein angemessener Selbstbehalt von 1.400 € zuzüglich 50 % der
Differenz zwischen ihrem bereinigten Einkommen von 1.625 € und 1.400 €, also von 1.513 €. Da V
ohne Gefährdung seines angemessenen Selbstbehalts von 1.100 € nur 100 € zum Unterhalt von 291
€ beitragen kann, muss M ihn teilweise entlasten. Das ist ihr jedoch nur i. H. von 1.615 € - 1.513 € =
112 € möglich. V müsste 291 € - 112 € = 179 € zahlen. Keine Kindergeldverrechnung.
Beispiel 4:
M hat ein Einkommen von 2.400 € und betreut ein fünfjähriges Kind; dessen Vater V verdient 1.100 €.
M ist wegen der Kindesbetreuung die Erwerbstätigkeit nicht zuzumuten. Effektive Betreuungskosten
entstehen nicht, weil M zu Hause an einem Computerarbeitsplatz arbeitet. Nach Billigkeit wird ihr aber
ein Betreuungsbonus von 400 € gewährt.
Barunterhalt des Kindes nach dem Einkommen des V gemäß 1/1 der DT (keine Höhergruppierung,
weil sonst der notwendige Selbstbehalt nicht gewahrt wäre): 204 €.
Gesamtbedarf nach dem zusammengerechneten Einkommen der Eltern von 2.000 € + 1.100 € =
3.100 € gemäß DT 9/1: 327 €.
Barunterhaltsanteil (Aufstockungsbetrag) der M: 327 € - 204 € = 123 €.
Bereinigtes Einkommen der M: 2.000 € - 123 € = 1.877 €.
(Entlastungs-)Selbstbehalt der M: 1.100 € x 150 % = 1.650 € zuzüglich (1.877 € - 1.650 €) : 2 = 1.764
€.
Bei M für eine Entlastung verfügbar: 1.877 € - 1.764 € = 113 €.
Mit diesem Betrag muss sich M am Barunterhalt beteiligen, da V nur über seinen angemessenen
Selbstbehalt von 1.100 € verfügt. V zahlt also einen Barunterhalt von 204 € - 113 € = 91 €. Keine
Kindergeldverrechnung. V behält für sich 1.009 €.
M verbleiben 1.877 € - 113 € = 1.764 € und damit ihr Entlastungsselbstbehalt.
FamRZ 2006 - Seite 1732
Nach Gutdeutsch betrüge der Entlastungsselbstbehalt der M 1.400 € + (1.825 € - 1.400 €) : 2 = 1.613
€. M müsste sich also mit 1.877 € - 1.613 € = 264 € am Barunterhalt beteiligen. V müsste nur 27 € an
Unterhalt für sein Kind zahlen.
Beispiel 5:
M hat aus zumutbarer Erwerbstätigkeit ein Einkommen von 3.000 € und betreut ein 16-jähriges Kind;
dessen Vater V verdient 1.800 €.
Barunterhalt des Kindes nach dem Einkommen des V gemäß 6/3 DT (zweimalige Höhergruppierung):
393 €.
Gesamtbedarf nach dem zusammengerechneten Einkommen der Eltern von 3.000 € + 1.800 € =
4.800 € gemäß DT 13/3: 582 €.
Barunterhaltsanteil (Aufstockungsbetrag) der M: 582 € - 393 € = 189 €.
Bereinigtes Einkommen der Mutter 3.000 € - 189 € = 2.811 €. (Entlastungs-)Selbstbehalt der Mutter:
1.800 € x 150 % = 2.700 € zuzüglich (2.811 € - 2.700 €) : 2 = 2.756 €.
Bei M für eine Entlastung verfügbar: 2.811 € - 2.756 € = 55 €.
M muss sich rechnerisch nur im Verhältnis von 55 € zu (1.800 € - 1.100 € =) 700 €, d. h. mit rund 8 %,
also einem zu vernachlässigenden Minimalbetrag, am Barunterhalt beteiligen. Eine Entlastung des V
scheidet daher aus. Kindergeldverrechnung nach § 1612b I BGB. V zahlt daher 393 € - 77 € = 316 €.
Gutdeutsch müsste zu demselben Ergebnis kommen, da der angemessene Selbstbehalt des V von
1.100 € bei Leistung des Kindesunterhalts nicht gefährdet ist.
Die Beispiele zeigen, dass eine Entlastung des Barunterhaltspflichtigen in der Regel nur in Betracht
kommen wird, wenn er über ein Einkommen verfügt, das seinen angemessenen Selbstbehalt von
1.100 € geringfügig übersteigt. Sie belegen, dass die hier vertretene Auffassung vom variablen
Selbstbehalt des betreuenden Elternteils zu angemessenen Ergebnissen führt und den
Barunterhaltspflichtigen, wie es dem Sinn und Zweck des § 1606 III S. 2 BGB entspricht, nur bei
engen Einkommens- und Vermögensverhältnissen teilweise von seiner Unterhaltspflicht freistellt.
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Idee und wesentliche Vorarbeiten zu diesem Aufsatz stammen von Werner Gutdeutsch. Wir haben die
Problematik intensiv erörtert, konnten uns aber in einem zentralen Punkt nicht einigen. So gibt diese
Abhandlung unsere weitgehend übereinstimmende Auffassung, aber auch unsere Differenzen zu der von
Gutdeutsch in diesem Heft (FamRZ 2006, 1724), erörterten Frage wieder, unter welchen Umständen sich
der betreuende Elternteil am Barunterhalt zu beteiligen hat, falls der angemessene Selbstbehalt des
Barunterhaltspflichtigen bei Zahlung des Tabellenunterhalts gefährdet wäre.
BGH, NJW 1985, 1460; FamRZ 1981, 543 = NJW 1981, 1559.
BGH, FamRZ 2002, 536, 539, m. Anm. Büttner.
Vgl. dazu im Einzelnen Scholz, in: Schwab/Hahne (Hg.), Familienrecht im Brennpunkt, FamRZ-Buch 20,
2004, S. 105; so auch Gutdeutsch, FamRZ 2006, 1724, in diesem Heft.
BGH, FamRZ 1981, 543 = NJW 1981, 1559; vgl. auch OLG Karlsruhe, FamRZ 1993, 1116;
Göppinger/Wax/Kodal, Unterhaltsrecht, 8. Aufl., Rz. 1556.
BGH, FamRZ 1984, 39.
Wendl/Scholz, Das Unterhaltsrecht in der familienrichterlichen Praxis, 6. Aufl., § 2 Rz. 545.
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Göppinger/Wax/Kodal [Fn. 5], Rz. 1557; MünchKomm/Luthin, BGB, 4. Aufl., § 1606 Rz. 25;
Schwab/Borth, Handbuch des Scheidungsrechts, 5. Aufl., V Rz. 147; wohl auch OLG Hamm, FamRZ
1990, 303.
BGH, FamRZ 1991, 183; OLG Düsseldorf, FamRZ 1992, 92, 94; OLG Hamburg, FamRZ 1992, 541;
Wendl/Scholz [Fn. 7], § 2 Rz. 274; Scholz [Fn. 4], S. 110; Kalthoener/Büttner/Niepmann, Die
Rechtsprechung zur Höhe des Unterhalts, 9. Aufl., Rz. 899; unklar und wenig überzeugend OLG Hamm,
FamRZ 2006, 1628.
FamRZ 2006, 1724, in diesem Heft.
BGH, FamRZ 2002, 1698; FamRZ 2003, 1179, jeweils m. Anm. Klinkhammer.
BGH, FamRZ 2006, 26, m. Anm. Duderstadt; ob den Großeltern auch die Hälfte des Mehreinkommens
als (zusätzlicher) Selbstbehalt zusteht, ist vom BGH offen gelassen worden.
Gerhardt, in: Handbuch Fachanwalt Familienrecht, 5. Aufl., Rz. 6/177.
Scholz [Fn. 4], S. 110.
BGH, FamRZ 2002, 742, m. Anm. Büttner.
BGH, FamRZ 1991, 182, 183; FamRZ 2002, 742, m. Anm. Büttner.
Palandt/Diederichsen, BGB, 65. Aufl., § 1606 Rz. 18; Leitlinien des OLG Frankfurt 12.3, FamRZ 2005,
1329; Scholz [Fn. 4], S. 107 ff.
[Fn. 4], S. 107 ff.
Wendl/Scholz [Fn. 7], § 2 Rz. 275.
Wendl/Scholz [Fn. 7], § 2 Rz. 275a. Nach der neuesten Rechtsprechung des BGH, FamRZ 2006, 1597,
m. Anm. Born, soll allerdings beim Kindesunterhalt ein Betreuungsbonus nicht zulässig sein. Dies
schließt jedoch nicht aus, das Einkommen des betreuunden Elternteils analog § 1577 II BGB nur
teilweise anzurechnen.
FamRZ 2006, 1724.
Vgl. zum Unterhalt in der Patchwork-Familie Gutdeutsch, FamRZ 2006, 1724.
BGH, FamRZ 2004, 370, 372, m. Anm. Strohal, FamRZ 2004, 441; BGH, FamRZ 2004, 443, 445, m.
Anm. Schürmann (zum Ehegattenunterhalt, den das von einem Elternteil auf Unterhalt in Anspruch
genommene volljährige Kind schuldet).
BT-Drucks. 16/1830, vgl. FamRZ 2006, 670.
Vgl. oben Fn. 12.
BGH, FamRZ 2003, 363, 366; FamRZ 2005, 347, 355, m. Anm. Schilling und Graba.
Fundstelle:
FamRZ 2006, 1728
Schlagworte:
Bedarf, Berechnungsbeispiele, Haftungsanteil, Kindergeldanrechnung, Kindergeldverrechnung,
Kindesbetreuung, Kindesunterhalt, Minderjährigenunterhalt, Quote, Unterhalt, Unterhaltsberechnung,
Unterhaltsermittlung
Gesetze:
BGB § 1603, § 1606, § 1606 III, § 1612b, § 1612b V
DokNr:
20061728001