Dead Man Walking

Transcription

Dead Man Walking
Dead Man Walking
USA 1995. Produktion: Working Title Films/ Havoc Inc. Produzenten: Jon Kilik, Tim Robbins, Rudd Simmons. Regie und Buch: Tim
Robbins, nach einem Buch von Helen Prejean. Kamera: Roger A. Deakins. Musik: David Robbiris. Schnitt: Lisa Zeno Churgin. Darsteller:
Susan Sarandon (Schwester Helen Prejean), Sean Penn (Matthew Poncelet), Robert Prosky (Hitton Barber), Raymond J. Berry (Earl
Delacroix), R. Lee Ermey (Clyde Percy), Celia Weston (Mary Beth Percy). 120 Min. Verleih: Pandora.
Dead Man- Walking ist der Ruf des Gefängniswärters, der dem Gang eines zum Tode Verurteilten zur Hinrichtung vorausgeht. „Dead Man
Walking" ist auch der Titel eines Buches, das die katholische Ordensschwester Helen Prejean über ihre Arbeit mit Häftlingen geschrieben
hat, die ihre Hinrichtung erwarten. Passagen dieses Buches und die intensive Beschäftigung des Autor-Regisseurs Tim Robbins mit den
Gedanken und Motiven von Schwester Helen haben zu diesem Film geführt, der die wohl vielseitigste Auseinandersetzung mit dem
Thema Todesstrafe ist, die es im amerikanischen Kino je gegeben hat. Robbins Film ist keine Polemik für oder gegen eine der
umstrittensten gesellschaftspolitischen Einrichtungen, sondern er ist eine Entdeckungsreise zu den unterschiedlichen Motiven, die das
Fühlen und Denken der mit dem Thema in Berührung kommenden Menschen beeinflussen. In seiner letzten Konsequenz - und das macht
ihn so bemerkenswert - ist er eine Reise in die Spiritualität.
Schwester Helen arbeitet in einem Distrikt mittelloser Farbiger in New Orleans, als sie einen Brief von einem zum Tode Verurteilten
bekommt, der um ihre Hilfe bittet. Es ist ein berechnender Schachzug des Häftlings Matthew Poncelet, der als Mittäter eines brutalen
Doppelmordes hingerichtet werden soll, vielleicht im letzten Augenblick noch eine Begnadigung zu -erwirken. Schwester Helen, die
keinerlei Erfahrung mit Häftlingen besitzt, fühlt sich aufgerufen, Matt mit ihrem Beistand zu dienen, ohne sich zunächst viel darum zu
kümmern, ob er ihn verdient. Für sie ist es nicht der Verbrecher, dem sie helfen möchte, sondern der Mensch, das Geschöpf Gottes.
Dennoch bedeutet es für sie einen ziemlichen Schock, als sie die Details der Tat erfährt, für die Matt verurteilt wurde: Ein blutjunges
Liebespaar war im Wald überfallen worden, das Mädchen wurde mehrfach auf blutigste Weise vergewaltigt, und beide wurden schließlich
erschossen. Der Mann, den Schwester Helen hinter Gittern antrifft, ist alles andere als ein reuevoller Gefangener. Er ist ein arroganter Typ,
der mit faschistischen und rassistischen Vorurteilen prahlt und sich ihr zunächst mit unverhohlener Respektlosigkeit nähert, allein darauf
versessen, Vorteile aus ihrer Unterstützung zuschlagen.
Von hier aus könnte der Film in eine von routinehafter Filmdramaturgie vorprogrammierte Richtung gehen. Doch Tim Robbins macht es
sich und seinem Publikum nicht so einfach. Er konfrontiert Schwester Helen (und den Zuschauer) mit beiden Aspekten der Todesstrafe,
mit der Unmenschlichkeit einer Prozedur, deren entpersönlichte technische Durchführung allein schon Zeugnis ablegt für ihre Problematik,
und mit den tiefen, fortwirkenden Verwundungen, die eine Tat wie die des Matthew Poncelet in den Familien der Opfer hinterlässt. Die
Eltern des ermordeten Mädchens glauben, in Schwester Helens Bemühen, auch ihre Situation und ihre Empfindungen kennen zu lernen,
eine Umkehr in Susan Sarandon als Schwester Helen ...deren Verhalten zu entdecken. Doch Schwester Helen hat nicht die Absicht, Matt
im Stich zu lassen. Es ist nicht nur ihre Berufung, sondern auch ihr menschliches Mitgefühl, das sie mit beiden verbindet, den Opfern und
dem Täter.
Die Figur des Matthew Poncelet ist eine Kompilation aus mehreren Todeskandidaten, denen Schwester Helen beigestanden hat und deren
Warten auf die Vollstreckung oder Aussetzung der Strafe sie in ihrem Buch beschreibt. Vornehmlich die Charakterzüge von zwei
Verurteilten aus Schwester Helens Buch finden sich in Poncelet vereint: Patrick Sonnier hatte sich von den Taten seiner Jugend
abgewandt, zeigte Reue und suchte Vergebung, weshalb er überhaupt nach einem religiösen Beistand verlangte; Robert Willie war ein
arroganter, mit Hakenkreuzen tätowierter Rassist. Poncelet ist zunächst mehr nach Willies Vorbild angelegt. Erst im Angesicht des Todes,
in seinen letzten Worten vor der tödlichen Injektion wendet er sich an die Hinterbliebenen seiner Opfer und bittet um Verzeihung. Es darf
angenommen werden, daß Robbins mit dieser Verquickung zweier tatsächlicher Charaktere nicht nur einen emotionalen Schlusseffekt
provozieren wollte, sondern Substantielleres im Sinn hatte. Robbins äußerte sich dazu in der „Los Angeles Times" (22.1.90): „Es scheint
mir eine ziemlich offenkundige Entscheidung zu sein, daß man den gewandelten, Vergebung suchenden sympathischen Täter nicht töten
sollte. Aus genau' diesem Grund haben wir ihn (Matt Poncelet) nicht unschuldig erscheinen lassen.
Was wir in diesem Film versuchen, ist nichts anderes, als die viel kompliziertere Frage zu stellen, ob irgendein Leben genommen werden
darf, selbst ein verachtenswertes." Die Ambivalenz, mit der Robbins die Kontroverse um die Todesstrafe angeht, mit der er den Zuschauer
von einem Argument ins andere, von einer Perspektive in die gegenteilige versetzt, findet in dieser Konzeption erst ihren eigentlichen
Kulminationspunkt. So klar die Fragestellung schließlich auf der Hand liegt, versteht er es, bis zu Poncelets letztem Atemzug zu
differenzieren. Während die Unwürdigkeit und Entsetzlichkeit der ganzen staatlich verordneten Exekutionsprozedur jeder menschlichen
Empfindung ins Gesicht schlägt, gestattet der' Film doch auch den Gedanken, daß es erst diese allerletzte Instanz der Verteidigung einer
sich gegen Gewalt und Verbrechen schützenden Gesellschaft ist, die Hochmut und Uneinsichtigkeit des Verurteilten zu Fall bringt.
In der Fixierung des Sterbenden auf die Augen der ihn bis zum letzten Moment begleitenden Schwester bringt Robbins aber auch zum
Ausdruck, daß deren Hilfe und Standfestigkeit ihren Anteil an der Katharsis der letzten Minuten haben. Dem entspricht auf der anderen
Seite, der Seite der Leidtragenden, der Versuch des Vaters des ermordeten Jungen, mit seinem Zorn und seinem Hass fertig zu werden. Die
Schlusseinstellung des Films zeigt durch ein Kirchenfenster Schwester Helen und ihn im Gebet. Explizit religiöse Bezüge wie dieser sind
in Robbins Film dünn gesät, aber wo sie vorkommen, sind sie kraftvoll und ohne jedes Pathos formuliert. In der Nüchternheit des
Inszenierungsstils fallen auch unaufwendige Hinweiszeichen ins Gewicht. Schon an seiner ersten Regiearbeit, dem satirischen „Bob
Roberts" (fd 29 823), fiel auf, daß Nüchternheit eine der herausragenden Tugenden des Filmemachers Tim Robbins ist. Viele Amerikaner
haben an „Dead Man Walking" das emotionale Engagement vermisst. Robbins Drehbuch, aber auch sein Stil weichen jeder billigen
Ergriffenheit aus. Statt dessen spielt er dem Zuschauer eine Fülle kleiner Bausteine zu, um die Vieldeutigkeit scheinbar sicherer
Erkenntnisse deutlich zu machen: „Eine große Story beschäftigt sich mit der Komplexität der Dinge und führt den Zuschauer auf beide
Seiten." (Robbins) Er montiert Szenen aus Schwester Helens Jugend, vor allem von der Zeremonie ihrer Ordensgelübde, in die
fortschreitende Handlung, ebenso Details des Verbrechens, an dem Matt beteiligt war; er lenkt den Blick des Zuschauers wie zufällig auf
Hinweiszeichen aus der Vergangenheit; 'er dreht ganze Szenenkomplexe in Grossaufnahmen der Gesichter. In den Örtlichkeitenbeschränkt er sich auf möglichst unspektakuläre Räume. Jede Ablenkung von dem geistigen Drama wird vermieden. Um so mehr
gewinnen kurze Blicke, kleine Gesten und Bewegungen an Gewicht, den Zuschauer allmählich damit vertraut machend, innere Reaktionen
aus Augen und sich wortlos bewegenden Lippen ablesen zu können. Es ist ein Stil, der (wenn auch vielleicht noch nicht ganz perfekt) das
Innere der Menschen nach außen kehrt. Damit setzt sich Robbins in Gegensatz zu allem, was heute zur Philosophie der Hollywood-Studios
gehört. Man kann nur hoffen, daß der Regievertrag, den er mit Polygram abgeschlossen hat, ihm Gelegenheit bietet, sich in diese Richtung
weiterzuentwickeln.
Franz Everschor
Den wahren Ereignissen frei nachgestaltete Geschichte einer katholischen Ordensschwester, die einem zum Tode Verurteilten
als religiöser Beistand dient. Keine Polemik für oder gegen die Todesstrafe, sondern eine mit äußerster künstlerischer Konzentration und
sparsamen filmischen Mitteln erzielte Bewusstmachung der geistigen und geistlichen Hilfsbedürftigkeit auf beiden Seiten, der des Täters
und der seiner Opfer. Der Versuch, der „Komplexität der Dinge" näher zu kommen, führt unmerklich in eine spirituelle Dimension, die
den Film von dem meisten unterscheidet, was heute aus Hollywood in unsere Kinos kommt. - Sehenswert ab 16. (Kinotipp der
katholischen Filmkritik)