Begründung

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Begründung
Johannes König
Pflegeversicherung
Der Deutsche Bundestag hat die Petition am 17.06.2010 abschließend beraten und
beschlossen:
Das Petitionsverfahren abzuschließen, weil dem Anliegen nicht entsprochen werden
konnte.
Begründung
Mit der Petition wird gefordert, dass alle Bürger, die in Deutschland Beiträge in die
Pflegeversicherung eingezahlt und bei Eintritt von Pflegebedürftigkeit Anspruch auf
die in Deutschland üblichen Leistungen haben, diese Leistungen auch in allen Ländern der Europäischen Union von den deutschen Pflegekassen gewährt bekommen.
Insbesondere wird gerügt, dass die Pflegeversicherung nur das Pflegegeld, aber
nicht die dem Wert nach höheren Pflegesachleistungen in andere Länder der Europäischen Union (EU) exportiert. Hierin wird ein Verstoß gegen EU-Recht gesehen,
insbesondere gegen den Grundsatz der Freizügigkeit der Wohnsitzwahl in Europa.
Die entsprechenden Bestimmungen im Elften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) seien
willkürlich und sachlich nicht begründet.
Zu den Einzelheiten des Vorbringens wird auf die vom Petenten eingereichten Unterlagen verwiesen.
Es handelt sich um eine öffentliche Petition, die von 140 Mitzeichnern unterstützt wird
und zu 17 Diskussionsbeiträgen geführt hat.
Der Petitionsausschuss hat zu der Petition eine Stellungnahme des Bundesministeriums für Gesundheit eingeholt. Unter Einbeziehung der vorliegenden Stellungnahme
lässt sich das Ergebnis der parlamentarischen Prüfung wie folgt zusammenfassen:
Der Petitionsausschuss weist darauf hin, dass die angesprochenen Fragen zwischenzeitlich dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) in einer Rechtssache (Az.:
C 208/07) zur Entscheidung vorlagen.
Die Klägerin des Ausgangsverfahrens vor dem Sozialgericht München bezog zunächst in der Bundesrepublik Deutschland von der beklagten deutschen Pflegekasse
sowohl Geld- als auch Sachleistungen in Kombination (sogenannte Kombinationsleistungen). Da sich ihr Ehemann beruflich nach Österreich orientierte und sich dort
um eine Tätigkeit bewarb, begab sie sich in ein österreichisches Pflegeheim. Die beklagte deutsche Pflegekasse lehnte einen auf vollstationäre Pflege in Österreich gerichteten Leistungsantrag der Klägerin ab, Widerspruch und Klage vor dem Sozialgericht blieben erfolglos; es wurde ihr nur das Pflegegeld gewährt. Die Klägerin legte
gegen dieses Urteil Berufung beim Bayerischen Landessozialgericht München ein
und begehrte weiterhin Erstattung der Kosten für die Unterbringung in der Pflegeeinrichtung in Österreich in Höhe der Differenz zwischen dem bereits gewährten Pflegegeld und dem Höchstbetrag, bis zu dem die Kosten für Sachleistungen nach § 36
SGB XI bei Pflegebedürftigen der Pflegestufe III von der zuständigen Pflegekasse
übernommen werden. Das Bayerische Landessozialgericht München, nach dessen
Auffassung die Entscheidung des Rechtsstreites von der Auslegung des Gemeinschaftsrechts abhängt, hatte das Verfahren ausgesetzt und dem EuGH Fragen zur
Vorabentscheidung vorgelegt.
Mit Urteil vom 16. Juli 2009 hat der EuGH aufgrund des Vorabentscheidungsersuchens des Bayerischen Landessozialgerichts entschieden, dass sich ein Anspruch
auf Pflegesachleistungsexport weder aus der Verordnung (EWG) Nummer 1408/71
noch aus dem Primärrecht ergibt, insbesondere nicht aus Artikel 18 des Vertrages
zur Grüdung der Europäischen Gemeinschaft (EGV - Allgemeiner Freizügigkeitsgrundsatz), nicht aus Artikel 39 EGV (Arbeitnehmerfreizügigkeit) und auch nicht aus
Artikel 49 EGV (Dienstleistungsfreiheit).
Der EuGH hat – übrigens entgegen den Schlussanträgen des Generalanwalts vom
11. September 2008 – ausgeführt, dass Artikel 18 EGV unter Umständen wie denen
des Ausgangsverfahrens der Regelung des § 34 SGB XI, die das Ruhen der Leistungen bei Auslandsaufenthalt vorsieht, nicht entgegensteht. Damit ist der EuGH der
von der Bundesregierung vorgetragenen Auffassung gefolgt. Den gegen die Pflege-
kasse geltend gemachten Anspruch der Klägerin auf Übernahme der Kosten für ihren
Aufenthalt in einem Pflegeheim in Österreich hat er europarechtlich verneint.
Zwar stehe fest, dass die Klägerin, die am 20. Mai 2007 verstorben ist, aufgrund
ihres Umzuges in ein österreichisches Pflegeheim schlechter gestellt war, als wenn
sie eine vollstationäre Pflege im Sinne von § 43 SGB XI in einem zugelassenen Pflegeheim in Deutschland beantragt hätte. Artikel 42 EGV sehe aber keine Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten hinsichtlich der Ausgestaltung der
Sozialsysteme vor. Diese könnten vielmehr durch die Mitgliedstaaten frei bestimmt
werden. Demzufolge könne auch Artikel 18 EGV nicht garantieren, dass ein Umzug
eines pflegebedürftigen Versicherten in einen anderen Mitgliedstaat im Hinblick auf
die soziale Sicherheit neutral ist. So seien durch den Umzug verursachte Nachteile in
diesem Bereich hinzunehmen.
Gegen eine Änderung des innerstaatlichen Rechts im Sinne der Petition sprechen
aus Sicht des Petitionsausschusses folgende Gründe:
Die Pflegekassen haben den gesetzlichen Auftrag, im Rahmen ihrer Leistungsverpflichtung eine bedarfsgerechte und gleichmäßige, dem allgemein anerkannten
Stand medizinisch-pflegerischer Erkenntnisse entsprechende pflegerische Versorgung der Versicherten zu gewährleisten (§ 69 SGB XI). Diesen sogenannten Sicherstellungsauftrag können die Pflegekassen nur im Inland erfüllen. Nur dort können sie
ein flächendeckendes Netz von zugelassenen Leistungserbringern vorhalten; sie
können aber nicht die pflegerische Versorgung in aller Welt gewährleisten.
Nach rein innerstaatlichem Recht gilt nach § 34 Absatz 1 Nummer 1 SGB XI, dass
der Anspruch auf Leistungen gegenüber der Pflegeversicherung ruht, solange sich
der Versicherte im Ausland aufhält. Diese Regelung, wonach im Ergebnis in Drittstaaten überhaupt keine Leistungen exportiert werden und in anderen Staaten der
EU nur das Pflegegeld, nicht aber die Pflegesachleistungen der deutschen Pflegeversicherung in Anspruch genommen werden können, ist sachlich gerechtfertigt.
Kennzeichnend für das Sachleistungsprinzip der sozialen Pflegeversicherung ist die
"Verschaffungspflicht", d. h. den Pflegekassen obliegt der Sicherstellungsauftrag für
die pflegerische Versorgung der Versicherten in Deutschland. Zu diesem Zweck
schließen die Pflegekassen öffentlich-rechtliche Versorgungsverträge und Vergütungsvereinbarungen mit den Trägern von Pflegeeinrichtungen und sonstigen Leis-
tungserbringern. Diese Verträge können nur solche Leistungsanbieter erhalten, die
die Gewähr für eine Leistungsfähige und wirtschaftliche pflegerische Versorgung bieten. Durch den Versorgungsvertrag werden sie in ein öffentlich-rechtliches Leistungssystem einbezogen, das gesetzliche Rechte und Pflichten verbindet.
Der Sicherstellungsauftrag erfordert zudem eine ständige Sicherung der Qualität der
Pflege. Die zugelassenen Pflegeeinrichtungen sind verpflichtet, sich an Maßnahmen
der Qualitätssicherung zu beteiligen. Dazu gehört, dem Medizinischen Dienst der
Krankenversicherung die Überprüfung der Qualität der Leistungen zu ermöglichen.
Der Sicherstellungsauftrag kann in dieser Form nur im räumlichen Geltungsbereich
deutscher Gesetze umgesetzt werden.
Der Aufbau eines Sachleistungssystems, die Zulassung von Einrichtungen, die Wirtschaftlichkeits- und Qualitätskontrollen, aber auch die Kollektivverträge auf der Landesebene (§ 75 SGB XI) und verbindliche Schiedsstellenentscheidungen (§ 76
SGB XI) müssen insbesondere aus ökonomischen Gründen auf das Inland beschränkt sein.
Der Gesetzgeber des Pflege-Versicherungsgesetzes hat sich bewusst für das Sachleistungsprinzip entschieden, weil nur dieses ausreichend notwendige Steuerungsmöglichkeiten und eine wirksame Interessenwahrnehmung für die Pflegebedürftigen
gewährleistet.
Bei Aufenthalt oder Wohnsitz in einem EU-Land können die dem deutschen Sozialversicherungssystem angehörigen Personen grundsätzlich nur solche Leistungen
beanspruchen, wie sie auch den Versicherten in diesem Land gewährt werden. Maßgeblich ist somit das System des Aufenthaltslandes. Im Rahmen der sogenannten
Sachleistungsaushilfe rechnen dann die Träger untereinander die für die Versicherten eines anderen Systems bereitgestellten Leistungen ab. Diese in der EWG-Verordnung Nummer 1408/71 verankerte Sachleistungsaushilfe kann unterschiedliche
Auswirkungen haben: Versicherte können Nachteile erleiden, wenn ihr Wohnsitzoder Aufenthaltsland keine entsprechenden Leistungen vorsieht, andererseits erfahren diejenigen Versicherten Vorteile, die in ihrem Wohnsitz- oder Aufenthaltsland
Leistungen erhalten können, die das Versicherungssystem, dem sie angehören, nicht
vorsieht. Durch dieses Wohnsitzprinzip ist gewährleistet, dass die Bewohner
desselben Aufenthaltslandes die gleichen Leistungen erhalten. Mit dieser Regelung
ist der EU-rechtliche Grundsatz der "Inländergleichbehandlung" gewährleistet.
Der EuGH hat mit dem "Molenaar-Urteil" vom 5. März 1998 entschieden, dass auf
die deutsche Pflegeversicherung die für die gesetzliche Krankenversicherung gültige
EWG-Verordnung Nummer 1408/71 anzuwenden ist. Danach sind Sachleistungen
der deutschen Pflegeversicherung nicht in das Ausland zu exportieren. Versicherte
der deutschen Pflegeversicherung, die sich um EU-Ausland aufhalten, haben daher
wie bisher im Rahmen der sogenannten Sachleistungsaushilfe Anspruch auf diejenigen Pflegesachleistungen, die nach dem Recht des Aufenthaltsstaates vorgesehen
sind.
Der Petitionsausschuss weist darauf hin, dass etwas Anderes beim Pflegegeld gilt.
Hier hat der EuGH entschieden, dass es sich rechtlich in der Europäischen Gemeinschaft um eine exportpflichtige "Geldleistung bei Krankheit" handelt, die pflegebedürftige Versicherte der deutschen Pflegeversicherung auch bei Wohnsitznahme
oder Aufenthalt in einem Land der EU oder des Europäischen Wirtschaftsraumes
(EWR) erhalten können. Das heißt, Versicherte der sozialen Pflegeversicherung können bei einem Aufenthalt in Ländern der EU Pflegegeld zeitlich unbefristet erhalten.
Das Pflegegeld können sie auch selbstverständlich für die Bezahlung eines Pflegedienstes einsetzen.
In der Begründung dieser Entscheidung führt der EuGH aus, dass das Pflegegeld
deswegen eine exportpflichtige Geldleistung ist, weil es pauschal ohne Nachweis
über entstandene Auslagen, also nicht unmittelbar zweckgebunden an den Pflegebedürftigen, bewilligt wird, der über dieses Geld frei verfügen kann. Dies ist bei den
Pflegesachleistungen nicht der Fall. Neben dem Pflegegeld werden – quasi als Annex zum Pflegegeld – für pflegende Angehörige bei Pflege in anderen Ländern der
EU (sowie Ländern des EWR und der Schweiz) die Beiträge zur Rentenversicherung
für die Pflegetätigkeit von den Pflegekassen erbracht und bei Pflegezeit auch die Zuschüsse zur Kranken- und Pflegeversicherung und die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung.
Der Petitionsausschuss stellt vor diesem Hintergrund fest, dass es außerhalb des
Anwendungsbereiches der genannten Verordnung keinen Leistungsexport geben
darf. Mit der Einführung der solidarisch finanzierten, sozialen Pflegeversicherung hat
der Gesetzgeber in der Bundesrepublik Deutschland vorrangig das Ziel verfolgt, alle
in Deutschland lebenden und dort krankenversicherten Personen, Deutsche und
Ausländer, gegen das Risiko der Pflegebedürftigkeit abzusichern. Dabei ging der Gesetzgeber davon aus, dass es grundsätzlich nicht Aufgabe der deutschen Sozialversicherung sein kann, das Risiko der Pflegebedürftigkeit auch bei dauerndem Aufenthalt im Ausland abzusichern. Der Petitionsausschuss weist darauf hin, dass die Leistungen der sozialen Pflegeversicherung vorrangig Sachleistungen sind, die nur durch
die von den Pflegekassen im Inland zugelassenen und kontrollierten Einrichtungen
erbracht werden können.
Nach dem Dargelegten kann der Petitionsausschuss mithin nicht in Aussicht stellen,
im Sinne des vorgetragenen Anliegens tätig zu werden. Er empfiehlt daher, das Petitionsverfahren abzuschließen.