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65. Jahrgang/Nr. 49 ● Berlin-Ausgabe ● 1,60 €
Sozialistische Tageszeitung
Sonnabend/Sonntag, 27./28. Februar 2010
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Koalition im Dauerstress
Souveräne DDR-Frauen
Obwohl der für Dekadenzfragen zuständige Vizekanzler Westerwelle gestern den
Zustand von Schwarz-Gelb schön redete
– neuer Streit ist in der Regierungskoalition längst programmiert.
Seite 2
Die Schauspielerin Walfriede Schmitt
zählte zu den Integrationsfiguren der ostdeutschen Frauenbewegung. Im ND-Gespräch erinnert sie sich an die turbulente
Wendezeit.
Seite 3
Unser Wochenendangebot
Porträt: Umweltgruppe Ronneburg und strahlendes Erbe Seite 19
Geschichte: Die Ruhrlade – ein verbrecherischer Klub
Seite 22
Thema: Gewerkschaftsstrategien in Zeiten der Krise
Seite 24
Reportage: Zwei Hobbyfußballer unterwegs zur WM
Seite 25
LINKE gedachte der Kundus-Opfer – und flog raus
»Eklat« im Bundestag: Westerwelle befürchtet Beschädigung der Demokratie – Mehrheit schickt mehr Soldaten in Afghanistan-Krieg
Von René Heilig
Der Bundestag hat den deutschen Einsatz in Afghanistan um ein weiteres
Jahr verlängert und schickt mehr Soldaten. Für den Regierungsantrag votierten 429 Abgeordnete, 111 stimmten dagegen, 46 enthielten sich.
Die Linksfraktion war weitgehend
von der Debatte ausgeschlossen.
Der Grund: Die meisten ihrer Mitglieder hatten Schilder mit den
Namen von Opfern des am 4. September 2009 von einem deutschen
Oberst befohlenen Bombenangriffs
hochgehalten.
Parlamentspräsident Norbert Lammert (CDU)
schloss die Abgeordneten daraufhin von der Sitzung aus. Er berief
sich auf Paragraf 38 der Bundestags-Geschäftsordnung. Die besagt: Der Präsident kann »wegen
gröblicher Verletzung der Ordnung« ein Mitglied des Bundestages, auch ohne dass ein Ordnungsruf ergangen ist, für die Dauer der
Sitzung aus dem Saal verweisen«.
»Mehrmals haben wir gefordert,
dass es im Parlament eine Gedenkstunde oder ähnliches für die unschuldigen Opfer geben muss. Als
eine Art Entschuldigung und als
Zeichen des Mitgefühls mit den
Hinterbliebenen«, betonte die 1.
Parlamentarische Geschäftsführerin der Linksfraktion Dagmar Enkelmann. Doch der Bundestag sei
darauf nicht eingegangen. Also
habe die LINKE ihre Position nur
so darstellen können.
Zuvor hatte Christine Buchholz
für die Linksfraktion sehr emotional Schicksale von Hinterbliebenen
des Angriffs geschildert. Frakti-
Unten links
Westerwelle spricht von spätrömischer Dekadenz und rüpelt so
Schwächere an, macht sie zu Parasiten der Gesellschaft. Wissenschaft
widerspricht. Die Götterspeisen der
alten Ägypter führten nach einer Studie der Uni Manchester eher zum
frühen Tod als zur Unsterblichkeit.
Die drei Mal am Tag vom Volk den
Gebietern gereichten Mahlzeiten,
Fleisch und Süßigkeiten in Fülle, dazu Bier und Wein, verspeisten nicht
die Himmlischen, sondern die höchst
irdischen Priester. Nach dem Motto:
Nur nichts verkommen lassen. Dies
führte zu Überfettung, verkalkten Arterien und Herzproblemen, wie die
Untersuchung von Mumien belegt.
Die Lebenserwartung des sozial
hochgestellten Ägypters betrug nur
40 bis 50 Jahre. Das sollte den honorigen und betuchten Gästen der üppigen Empfänge des BDI und der
Kanzlerin, bei Völlereien im Bundespräsidialamt und auf Bundespressebällen zu denken geben. Sonst ist das
Volk bald herrschaftslos, die Herrscher los.
ves
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ISSN 0323-4940
Über 140 Menschen kamen am 4. September 2009 bei Kundus um. Die Linksfraktion mahnte eine Umkehr in der Afghanistanpolitik an.
onskollege Wolfgang Gehrcke, der
seine Rede nicht mehr halten
könnte, hätte die Absicht der Fraktion so erläutert: »Die Menschen in
Afghanistan müssen endlich eine
Chance erhalten, ihren eigenen
Weg zu gehen. Das heißt, Selbstbestimmung ist eine Voraussetzung
für den Frieden. Das wollen wir
unterstützen. Schluss mit dem Tö-
Endspurt um letzte
Olympiamedaillen
ten und Morden.« Selbst- statt
Fremdbestimmung sei vonnöten,
meint Gehrcke.
Der Grünen-Abgeordnete Christian Ströbele äußerte deutliches
Foto: Frank Schwarz
Unbehagen über den Ausschluss
der Kollegen. Der Bundestag treffe
mit der Mandatsaufstockung eine
Entscheidung »gegen die riesengroße Mehrheit der Bevölkerung«.
Ströbele betonte, die Linken hätten
nicht randaliert oder seien laut
geworden. Ihr Ausschluss wegen
der Schilder mit den Opfernamen
»wäre ein völlig falsches Signal in
die Welt, wie wir mit Opfern, für
die wir verantwortlich sind, umgehen«. Auch Christoph Strässer
(SPD) sagte, es sei ihm nahegegangen, die Namen der Opfer zu lesen.
Er habe lieber mit der Linksfraktion diskutieren wollen.
Parlamentspräsident Lammert
zeigte sich moderat und handelte
mit den Vorständen der anderen
Fraktionen aus, dass die Links-Abgeordneten an der namentlichen
Abstimmung teilnehmen konnten.
So wurde die Ablehnungsfront um
71 Stimmen verstärkt.
Während Redner von Union und
FDP sich deutlich hinter das Bundeswehr-Mandat stellten, war die
Zustimmung von SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier mit
allerlei Ausflüchten über einen
»Perspektivwechsel« und eine
Weichenstellung Richtung Abzug
gespickt. Die Grünen-Fraktionschefin Renate Künast äußerte sich
sehr kritisch zum Mandat. Nur
acht Mitglieder ihrer Fraktion
stimmten ihm zu.
Ansichten, die einen raschen
Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan zum Ziel haben, nannte Außenminister Guido Westerwelle
(FDP) in einer Pressekonferenz
»naiv«. Die Aktion der Linksfraktion wertete er als »Beschädigung
des Parlaments«, die man nicht
hinnehmen könne, sonst könnte
sie sich zur Beschädigung des gesamten demokratischen Systems
ausweiten.
Seiten 4 und 6
Gastkolumne
Am Sonntag gehen die Winterspiele zu Ende
Moral und Moralin
Von Georg Fülberth
Eine hinreißende Kür: Olympiasiegerin Kim Yu-Na (Südkorea)
Vancouver (ND). Mit dem 50-kmLanglauf und Eishockeyfinale werden am Sonntag die XXI. Olympischen Winterspiele zu Ende gehen.
Bereits vor dem Schlusswochenende lobte IOC-Präsident Jacques
Rogge das kanadische Organisationskomitee: »VANOC hat tolle Arbeit geleistet, die Athleten hatten
großartige Spiele«, so der Belgier.
Die deutsche Olympiamannschaft feiert ebenfalls ein gelungenes
Kanada-Abenteuer.
Das
153-köpfige Team hat nach 70 von
86 Entscheidungen 26 Medaillen
errungen. Der erste Platz im Medaillenspiegel von 2006 könnte
aber im Dreikampf mit den USA
und Kanada verloren gehen.
Foto: dpa
Gefeierte Athletin des 13. Wettkampftages war die Südkoreanerin
Kim Yu-Na. Die 19-Jährige gewann mit einer begeisternden Kür
und perfekten Sprüngen Gold im
Eiskunstlauf. In ihrer Heimat soll
während ihrer Kür alles öffentliche
Leben stillgestanden haben. In
Vancouver hatten koreanische Fotografen in Autos vor der Eishalle
übernachtet, um sich die besten
Fotopositionen zu sichern. Die
Nachrichtenagentur Yonhap pries
Kim als »Nationalschatz.«
In Deutschland sorgte eine
20-jährige Olympionikin für Verzückung: Viktoria Rebensburg aus
Kreuth gewann überraschend im
Riesenslalom.
Seiten 13 und 14
Die Bischöfin Käßmann ist mit
1,54 Promille bei Rot durchgefahren, wurde erwischt und trat zurück, nachdem ihr Fall auf wundersame, aber nicht mehr rekonstruierbare Weise in die »Bild«-Zeitung gekommen war. Sie war aber
auch schon vorher auffällig geworden: durch ihre Kritik am Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr. Für manche mag dies das
schlimmere Delikt gewesen sein
als dasjenige, über das sie jetzt
stürzte. Sie werden beten, ihr
Nachfolger möge nicht nur im
Straßenverkehr vorsichtiger sein.
Der »Bild«-Zeitung fiel es angesichts des allseits harmonischen
Ausgangs denn auch nicht schwer,
Frau Käßmann nach ihrem Rücktritt wegen persönlicher Tapferkeit zu feiern.
Die CDU von Nordrhein-Westfalen verkauft Gesprächstermine mit
Ministerpräsident Rüttgers am
Rande ihres Parteitages für 6000
Euro. Das ist Fundraising. Eine
andere, nicht beanstandete Art
der Parteienfinanzierung sind die
üblichen Sponsoren-Essen. Gewiss
handelt es sich bei den RüttgersGesprächen nicht um eine besonders wirksame Einflussnahme reicher Leute auf die Politik. Die haben das in der Regel schon vorher
und diskreter erledigt. Selten
fliegt derlei auf, vielleicht noch
*
Der Politikwissenschaftler lehrte über 30 Jahre
an der Uni Marburg.
ND-Foto:
Burkhard Lange
nicht einmal im nötigen Umfang
beim Verfahren vor dem Augsburger Landgericht gegen den Waffenschieber Schreiber. Rüttgers’
6000-Euro-Gespräche sind eine
Machtdemonstration seiner Partei
(sie hat etwas anzubieten …) und
eine Sympathiebekundung durch
zahlungskräftige Anhänger. Die
Moralisierung erfolgt durch die
SPD auf der Suche nach einem
Wahlkampfthema.
Man könnte darüber reden, dass
nur Begüterte die Chance haben,
ihre Lieblingspartei so saftig zu
unterstützen wie im Fall Rüttgers.
Aber da wäre der jüngste Bericht
des Bundestagspräsidenten über
Großspenden an die Parteien das
lehrreichere Thema. Hier noch
einmal die Zahlen für 2008: CDU
7,5 Millionen, CSU 6,4, FDP 2,69,
SPD 2,67, Grüne 490 000, Linke 0.
Das sind nur die legalen Spenden.
Sie gelten insofern als moralisch.
Man kann es auch anders sehen:
Der Politik wird unter den Bedin-
gungen des allgemeinen Wahlrechts auf die kapitalkonformen
Sprünge geholfen.
Der FDP-Vorsitzende Westerwelle verdiente in der vorigen Legislaturperiode mindestens 252 000
Euro mit Reden vor Banken, Finanzinvestoren und Hoteliers.
Wenn er das Geld an die FDP weitergegeben hat, war es Parteienfinanzierung. Behielt er es für sich,
kann er es als angemessenes Honorar für eine Arbeitsleistung geltend machen. Gewiss hat er seine
politische Meinungsbildung nicht
durch diese Auftritte beeinflussen
lassen. Er ist einfach so und bedarf keiner Anstiftung.
Westerwelle trampelt seit Wochen auf Hartz-IV-Opfern herum.
Wie im Fall Käßmann ist »Bild«
multiplizierend dabei. Der Sache
nach passiert dasselbe in jeder
Talkrunde z.B. über Gesundheitspolitik: Privatversicherte diskutieren über die Mitglieder der gesetzlichen Krankenkassen, Stärkere
befinden über Schwächere.
Afghanistan, die legale Einflussnahme durch UnternehmerMillionen, Hartz IV, Gesundheitspolitik: Das sind politische Machtfragen mit einer moralischen Dimension. Käßmanns Autofahrt,
Rüttgers’ Dates, Westerwelles Honorare: Das sind Anlässe für Ablenkung durch Moralin.