Die Ästhetik der Grenze im Computerspiel

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Die Ästhetik der Grenze im Computerspiel
Malte Hagener
Fazit: Die Bildlichkeit des Display
Stephan Günzel
Wählt man also die Raumgestaltung als Ausgangspunkt der Fragestellung und
nimmt den Splitscreen als Anschauungsmaterial, so bleibt in Bezug auf die Frage,
ob das heutige Hollywood als klassisch oder als postklassisch zu gelten hat, festzuhalten, dass zeitgenössische Bildanordnungen zwar noch in Teilen auf die traditionelle Raumkonstruktion zurückgreifen, aber doch stetig über diese hinausweisen,
einen ästhetischen Überschuss erzeugen.25 Insofern fällt es schwer, der hese von
David Bordwell zu folgen, der im heutigen Hollywood eine «intensivierte Kontinuität» zum klassischen Kino am Werk sieht,26 zu groß sind doch die Diferenzen in der Gestaltung von Raum. So bleibt festzuhalten, dass im zeitgenössischen
Kino, das sich ästhetisch-ökonomisch auf der Grenze zwischen Unterhaltung
Hollywood’scher Prägung, Autorenkino und europäischem Kunstanspruch bewegt
(wie dies paradigmatisch im Werk solch chamäleonartiger Wanderer zwischen den
Welten wie Ang Lee oder Steven Soderbergh deutlich wird), ein gänzlich anderes
Raumkonzept zur Anwendung kommt, als dies noch im klassischen Film der Fall
war. Die Einfaltungen und Überlagerungen, die Ausstülpungen und Multiplizitäten
des ilmischen Raums deuten auf ein gewandeltes Raumverständnis. Dies äußert
sich etwa, wenn in Steven Soderberghs Ocean’s Thirteen über einer CasinoAnsicht Zahlen eingeblendet werden mit den Summen, die bestimmte Spieler
gerade gewinnen, oder wenn nach Art von Google Earth «unmögliche» Zooms
und Kamerabewegungen neue Raumzusammenhänge schafen. Medial generierte
Bilder sind somit in ein Zeitalter des Layering und der Schichtung, der Modulationsfähigkeit und der versteckten Informationen eingetreten.27 Das Bild bietet nicht
länger einen Durchblick auf eine dahinterliegende Welt (ob realistisch dargestellt
oder formalistisch konstruiert), sondern das Filmbild folgt zunehmend der Ästhetik des Displays, die auch Handys wie Computerschirme, Fernsehnachrichten wie
Touchscreens dominiert.
Die Ästhetik der Grenze im Computerspiel
Die Ästhetik der Grenze ist entsprechend der Zwiefalt des Ästhetischen eine doppelte: Sie ist sowohl eine Frage der allgemeinen Wahrnehmung (als aisthesis) als
auch eine der besonderen Erfahrung. Kurz gesagt, handelt es sich um die beiden
Aufassungen von Ästhetik, welche Immanuel Kant in der Kritik der reinen Vernunt
und in der Kritik der Urteilskrat formuliert: Während er in der ersten Kritik von
1781 noch die Aufassung vertrat, Ästhetik könne sich nur auf die Anschauungsformen von Raum und Zeit als der ‹äußeren› bzw. ‹inneren› Wahrnehmungsmodalität beziehen, so ist Kant neun Jahre später der Ansicht, dass es Erfahrungsweisen
gibt, durch die sich einzelne Wahrnehmungen von anderen unterscheiden, nämlich
dann, wenn sie vom Gefühl der Harmonie oder Disharmonie der Fakultäten von
Verstand, Vernunt und Einbildungskrat, in jedem Fall aber von der Erfahrung
eines besonderen Zustandes begleitet werden. Entsprechend kann die Grenze im
Computerspiel unter ästhetischen Gesichtspunkten zweimal thematisiert werden:
einmal als allgemeine räumliche Form, wie insbesondere der Spielbegrenzung, die
allgemein als das Verhältnis von Onscreen- zu Ofscreen-Bild beschrieben werden
kann; das andere Mal als besondere Erfahrung einer signiikanten Situation im Spiel,
etwa des Todes als ultimativer Grenze des Spiels oder überhaupt des Eintritts in
das Spiel. Dies wiederum geht aus dem allgemeinen Grundzug aller Spiele hervor:
Sie bilden eine Ausnahme vom Alltag und ermöglichen eine besondere Erfahrung.
Hierfür leitend ist ein klassischer Topos aus der Spieleanthropologie, der auch für
die gegenwärtige Spieleforschung zentral ist: der ‹Zauberkreis› oder ‹Magic Circle›.
1 Die Erfahrung des Spiels: Der Zauberkreis als Grenze
25 Die Position des klassischen Hollywood-Kinos indet sich am deutlichsten in einem Text von
David Bordwell zu Die Hard (Stirb langsam, USA 1988, John McTiernan) wieder: Die Hard
und die Rückkehr des klassischen Hollywood-Kinos. In: Andreas Rost (Hg.): Der schöne Schein
der Künstlichkeit. Frankfurt am Main 1995, S. 151–201. Als Gegenposition zu Bordwell entwirt
homas Elsaesser eine ökonomisch-ästhetische Vorstellung des Klassischen als «Klassisch-plus».
Siehe: Classical/post-classical Narration. In: Ders./Warren Buckland: Studying Contemporary
American Film. A Guide to Movie Analysis. London 2002, S. 26–79.
26 David Bordwell: Intensiied Continuity: Visual Style in Contemporary American Film. In: Film
Quarterly 55, 3, Spring 2002, S 16–28, sowie seine beiden Bücher he Way Hollywood Tells It:
Story and Style in Modern Movies. Berkeley 2006, und Poetics of Cinema. London/New York 2007.
27 Siehe dazu auch: Lev Manovich: Die ‹Metadatisierung› des Bildes. In: Ders.: Black Box – White
Cube. Berlin 2005, S. 29–51.
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Auch wenn die Rede vom Zauberkreis des Spiels nicht unmittelbar aus der ästhetischen heorie stammt, so datiert die hese von einer Sonderung des Spiels bereits
kurz nach Kant und ist gar bereits in seiner Ästhetik angelegt. Namentlich Friedrich Schiller hat Kants Rede vom «freien Spiel» der Erkenntniskräte,1 also der drei
Instanzen, die in der ästhetischen Erfahrung miteinander und unter dem Primat
der Urteilskrat interagieren, beim Wort genommen und die bis heute vieldiskutierte Behauptung aufgestellt, dass der Mensch nur da ganz Mensch sei – also frei
1
Immanuel Kant: Kritik der Urteilskrat, §9. – Vgl. auch Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunt,
A 66/B91.
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ist –, wo er spielt. Freilich dachte Schiller dabei nicht in erster Linie an das «bloße
Spiel»,2 wozu er vor allem Kartenspiele rechnet (und zu dem heute wohl auch die
Verwendung von Computerspielen zu zählen wäre), sondern an das Spiel der Phantasie: also der produktiven künstlerischen Einbildungskrat, die im Ersinnen der
Formen besteht. ‹Frei› wären nach Schiller daher in erster Linie die Designer von
Spielen, nicht ihre Nutzer.
Dennoch wurde die Idee vom Spiel als einer Ausnahmesituation im 20. Jahrhundert wieder aufgegrifen und direkt mit der gesamten Bandbreite von Spielen in
Verbindung gebracht. Dies geschah im Kontext der Kulturanthropologie, namentlich durch Johan Huizinga, der in seinem Buch Homo Ludens von 1938 das Spiel
als einen in Raum (und Zeit) gesonderten Bereich speziizierte: «Das Spiel», so
Huizinga, «sondert sich vom gewöhnlichen Leben durch seinen Platz und seine
Dauer. […] Es ‹spielt› sich innerhalb einer bestimmten Grenze von Raum und
Zeit ‹ab›. Es hat seinen Verlauf und seine Zeit in sich selbst.»3 Diese strukturelle
Bestimmung des Spiels wurde dann vor allem durch den französischen Soziologen
Roger Caillois popularisiert, der jene Deinition 1958 in Die Spiele und die Menschen wieder aufgrif und Huizinga darin zwar für eine mangelnde Unterscheidung
zwischen Spielen kritisierte, aber die hese der grundsätzlichen Trennung von Spiel
und Nicht-Spiel aufrechterhielt. So schreibt Caillois, dass jedes Spiel einen «reinen
Raum» erzeuge und «die Domäne des Spiels eine reservierte, geschlossene oder
geschützte Welt» sei.4
Im Zuge der Neubeschätigung mit Spielen durch die seit Anfang des 21. Jahrhunderts bestehenden Game Studies, die sich mit dem expliziten Ziel gegründet
haben, eine Alternative zu literaturwissenschatlichen Ansätzen zu bieten, welche vornehmlich den Inhalt oder das Genre eines Spiels fokussiert,5 kam es denn
auch zur Wiederentdeckung der von Caillois airmierten Deinition Huizingas.
Namentlich die Spielentwickler Katie Salen und Eric Zimmerman rekurrierten
2004 in ihrem Handbuch Rules of Play auf Huizinga, dessen Spielverständnis sie
wiederum über den Psychologen von Michael Apter einführen. Dieser sprach im
Rahmen einer strukturphänomenologischen Untersuchung des spielerischen Handelns von einem «protective frame»6 des Spiels – einem schützenden Rahmen, der
die Grenze zwischen Spiel und Nicht-Spiel konstituiert. Salen und Zimmerman
stießen nun in ihrem Rekurs auf Huizinga auf eben jene Stelle in Homo Ludens,
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Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen. 15. Brief.
Johan Huizinga: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Hamburg 1956 (niederl. Origialausgabe: Homo ludens. Proeve eener bepaling van het spel-element der cultuur. Haarlem 1938), S. 17.
Roger Caillois: Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch. Frankfurt am Main/Berlin/Wien
1982 (frz. Originalausgabe: Les jeux et les hommes. Le masque et le vertige. Paris 1958), S. 13.
Vgl. Gonzalo Frasca: Simulation versus Narrative. Introduction to Ludology. In: Mark J.P. Wolf /
Bernard Perron (Hg.): he Video Game heory Reader. New York/London 2003, S. 221–235.
Michael J. Apter: A Structural-Phenomenology of Play. In: John H. Kerr /Ders. (Hg.): Adult Play.
A Reversal heory Approach. Amsterdam/Lisse 1992, S. 13–30, hier S. 15.
Die Ästhetik der Grenze im Computerspiel
wo vom Zauberkreis die Rede ist: «Die Arena, der Spieltisch, der Zauberkreis, der
Tempel, die Bühne, die Filmleinwand, der Gerichtshof, sie sind allesamt der Form
und der Funktion nach Spielplätze, d.h. geweihter Boden, abgesondertes, umzäuntes, geheiligtes Gebiet, in dem besondere Regeln gelten.»7
In der Tat verbindet Huizinga mit seiner Beschreibung also keinerlei verallgemeinernden Anspruch, sondern führt den ‹Zauberkreis› (ndl. toovercirkel) schlicht
und einfach als ein Beispiel für den gesonderten Raum des Spiels an. Gleichwohl
wurde der durch die englische Übersetzung dann so genannte magische Kreis
(engl. magic circle) durch Salen und Zimmerman zur Chifre für das Besondere
des Spiel(en)s schlechthin, auch wenn diese in ihrer eigenen Darstellung selbst
bereits eine Relativierung des Trennungstheorems vornehmen und die Instabilität
der Grenzziehung unterstreichen: «Although the magic circle is merely one of the
examples in Huizinga’s list of ‹play-grounds› the term is used here as shorthand
for the idea of a special place in time and space created by a game.»8 Ungeachtet
dieser Einschränkung wurde der Zauberkreis durch den dänischen Computerspielforscher Jesper Juul zum Modell für die Beschreibung aller Spiele (auch nichtdigitaler) erhoben; ein Modell, in dem der Zustand des Spiels als besondere Erfahrung
unmittelbar an die räumliche Grenze des Spiels geknüpt wird: «he space in which
the game takes place», so ist bei Juul zu lesen, «is a subset of the larger world, and a
magic circle delineates the bounds of the game.»9
Juuls Verständnis des Magic Circle ist in zweierlei Hinsicht lehrreich, wenngleich
vor allem in einem negativen Sinn: Zum einen kann daran aufgezeigt werden, welche Widersprüche entstehen, wenn zwischen Computerspielen und traditionellen
Spielen kein wesentlicher Unterschied gemacht wird und also die Mitwirkung des
Computers beim Spielen unberücksichtigt bleibt. Zum anderen und zunächst sind
Juuls Ausführungen aber ein Beispiel für die Tendenz zur Verdinglichung räumlicher Beschreibungen – ein Problem, das Juuls Ansatz mit anderen Raumbeschreibungen teilt, welche Räumlichkeit und Materialität in eins setzen:10 Unterscheidungen (wie Spiel/Nicht-Spiel) werden dann allein auf ihr (materielles) Resultat
zurückgeführt, nicht aber auf die zugrunde liegende (räumliche) Praxis, welche die
Unterscheidung (im Materiellen) erst ermöglicht und die somit auch die Grundlage der besonderen (ästhetischen) Erfahrung ist, welche Spielen ausmacht. In
der Tat ist eine Grenzziehung in einem Spiel wie Fußball augenfällig, wo Linien
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Huizinga 1956, S. 17.
Katie Salen/Eric Zimmerman: Rules of Play. Game Design Fundamentals. Cambridge (MA)/London 2004, S. 95.
9 Jesper Juul: Half-Real. Video Games between Real Rules and Fictional Worlds. Cambridge (MA)/
London 2005, S. 164.
10 Vgl. Julia Lossau/Roland Lippuner: In der Raumfalle. Eine Kritik des spatial turn in den Sozialwissenschaten. In: Georg Mein/Markus Rieger-Ladich (Hg.): Soziale Räume und kulturelle Praktiken.
Bielefeld 2004, S. 47–64.
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den Spielfeldrand markieren und also zeigen, wo das Spiel stattinden muss und
wo davon unterschieden der Raum des Nicht-Spiels ist. Doch erst die spielerische
Praxis, diese Linie als Grenze zu respektieren, konstituiert den Raum des Spiels.
Dass nicht die gezeichnete Linie das spielraumkonstituierende Element ist, zeigt
sich nicht nur dann, wenn Fußball auf einer Fläche ohne sichtbare Markierung
gespielt wird, und die Grenze gänzlich auf der Übereinkunt zwischen den Spielern beruht (die sie dann etwa auch im Dienste des Spiellusses jederzeit auheben
können), sondern etwa auch an Spielen, die in jedem Fall ohne Markierung eines
Territoriums gespielt werden: So etwa Kartenspiele, bei denen allenfalls der Rand
des Tisches als eine indirekte materielle Grenze gelten kann, welche allerdings nicht
die spielrelevante Räumlichkeit ist. Diese besteht bei einem Kartenspiel vielmehr in
dem wechselseitigen Entbergen und Verbergen der Karten.
Die Variabilität des Grenzverlaufs im Spiel dürte Huizinga durchaus bewusst
gewesen sein, wenn er den auf den Boden gezeichneten, immobilen Zauberkreis
nur als ein Exempel für die Schafung einer Sonderzone des Spiels und nicht selbst
als Matrix für jede räumliche Spielpraxis anführt. Hinzu kommt, dass die Rede von
‹magischen Kreisen› in der Ethnologie des frühen 20. Jahrhunderts nicht unüblich
ist. Allerdings ist sie bereits hier an eine Praxis des Räumlichen geknüpt: Namentlich Arnold van Gennep spricht 1909 in Übergangsriten von magischen Kreisen,
welche alle Kulturen in der ein oder anderen Form aufwiesen. So geht auch van
Gennep zwar davon aus, dass es räumliche Manifestationen der Schwellensituation
geben kann; aber nicht die Existenz eines solchen Raumes führt zum Übergang von
einem Zustand in einen anderen, sondern der Veränderung werden Orte zugewiesen, die in Rituale einbezogen sind. Primär ist vielmehr die Verortung im sozialen
Raum:
«Die ‹magischen Kreise› verschieben sich […] je nachdem, welche Stelle man gerade
in einer Gesellschat einnimmt. Wenn man im Laufe des Lebens von einer Position
in die andere überwechselt, sieht man sich plötzlich – aufgrund des Spiels der Vorstellungen und Klassiizierungen – mit dem Sakralen konfrontiert, wo vorher das
Profane war und umgekehrt.»11
Entgegen dem in der Ethnologie vorhandenen Bewusstsein für die Nachrangigkeit einer materiellen Grenze im Spiel meint Juul, dass alle Spiele eine materielle
Grenze aufweisen müssen und weicht damit vom vielleicht wichtigsten Kriterium
in der Beschreibung Huizingas ab: Relevanter als der Kreis ist am magischen Kreis
nämlich die Magie oder die ‹zauberhate› Übereinkunt der Beteiligten; und dies ist
die Tatsache, dass (im wie auch immer markierten) Innen andere Regeln gelten als
außerhalb des Spiels. Nicht die Geometrie des Kreises ist daher entscheidend, son11 Arnold van Gennep: Übergangsriten. Frankfurt am Main/New York 1986 (frz. Originalausgabe:
Les rites de passage. Paris 1909), S. 23.
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Die Ästhetik der Grenze im Computerspiel
dern seine Topologie, wie in Anlehnung an Michail Bachtins Analyse des Karnevals
gesagt werden kann: Innen ist dort, wo die Verhältnisse verkehrt oder Hierarchien
aufgehoben sind.12 Die Grenze des Spiels als eine materielle Trennung ist damit der
Efekt einer kulturellen Praxis, welche mit George Spencer Brown das Trefen einer
Unterscheidung genannt werden kann;13 und die ‹Magie› gründet letztlich in der
wechselseitigen Verplichtung der Spieler die Regeln einzuhalten.14
Juul scheint sich dieser raumkonstituierenden Krat der Regeln durchaus
bewusst zu sein, da er ihnen zuspricht, von gleicher Realität zu sein wie die Wirklichkeit außerhalb des Kreises. Eben deshalb gab er sein Buch auch den Titel ‹halbreal› (engl. half-real): in ihrer Verbindlichkeit nämlich büßen Regeln des Spiels
kaum etwas ein gegenüber anderweitigen Regelungen in einer Kultur. Genau das
ist auch die hese Huizingas, der Religionen oder gesellschatliche Institutionen
daher nur als eine weitere Form des Spiels betrachtet. ‹Nicht real› ist nach Juul am
Spiel hingegen etwas anderes: die Fiktion – und an dieser macht er letztlich die
Grenzziehung zum Nicht-Spiel fest. Für Computerspiele scheint das auf den ersten
Blick auch plausibel zu sein, da es sich dabei um Präsentationen auf Bildschirmen
handelt, die solcherart ‹iktiv› – sprich: immateriell – sind, eben Erscheinungen im
Bild. Doch das meint Juul gerade nicht: Für ihn besteht eine Fiktion vielmehr in
der Projektion einer Narration auf das (reale) Regelwerk, weshalb im magischen
Kreis des Spiels dann ‹Halbrealität› vorliege. Doch wie lässt sich die Grenze der
Projektion bestimmen, wenn nicht über die durch die Regeln konstituierte Grenze
des Spiels? Eben dadurch, dass die Fiktion als ein Bild gegeben ist, dass sich vom
Nicht-Bild auf ähnliche Weise unterscheidet wie das Spiel vom Nicht-Spiel: Ist diese
Grenze als Erfahrung des Besonderen oder einer Ausnahme vom ‹gewöhnlichen
Leben› gegeben, so die Grenze von Bild und Nicht-Bild durch die Wahrnehmung.
Juuls Nichtbeachtung des Wahrnehmungsaspekts überrascht auch nicht, wenn
weiterhin berücksichtigt wird, dass Juul Computerspiele nicht auf ihre mediale
Speziität hin untersucht. Nur so kann er auch ignorieren, dass Computerspiele
im Hinblick auf ihr Regelsystem gar keinen Zauberkreis aufweisen. Die Verplichtung auf das Einhalten der Regeln ist beim Umgang mit dem Computer letztlich
irrelevant, da dessen Verwendung bereits das zwangsweise Einhalten von Regeln
12 Vgl. Michail M. Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Frankfurt am Main
1987 (russ. Originalausgabe: Творчество Франсуа Рабле и народная культура средневековья
и Ренессанса. Moskau 1960), S. 58 f.
13 Vgl. George Spencer Brown: Gesetze der Form. Lübeck 1997 (engl. Originalausgabe: Laws of Form.
London 1969).
14 Weshalb der Zustand des Spiels grundsätzlich paradox ist und laut Gregory Bateson stets eine
doppelte Kommunikation erfordert: nämlich sowohl die Kommunikation der Regeln als auch die
Kommunikation von deren Einhaltung bzw. die Handlung und ihre Einklammerung als ‹nicht so
gemeint›. – Vgl. Gregory Bateson: heorie des Spiels und der Phantasie. In: Ders.: Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische und epistemologische Perspektiven.Frankfurt am Main 1981, S.
241–261 (engl. Originalausgabe in: Approaches to the Study of Human Personality 1955, S. 39–51).
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Stephan Günzel
mit sich bringt. – Kurz gesagt, können in einem Computerspiel die Regeln nicht
nicht befolgt werden. Das heißt, es kann nicht betrogen werden und beispielsweise
ein unzulässiger Spielzug im Schach getätigt werden, wie es bei einem menschlichen Mitspieler möglich wäre, der für einen Moment unaufmerksam ist.15 Freilich können Programme modiiziert werden oder gibt es die Möglichkeit bereits,
Betrugsbefehle (cheats) einzugeben, um eine höhere Punktzahl zu erreichen oder
das Spielende hinauszögern; doch das sind Veränderungen von Parametern des
Programms, die bereits darin vorgesehen sind und somit Teil der ebenfalls programmierten Regeln sind. Anders gesagt, umfasst der Bereich der Regeln in einem
Computerspiel mehr als bei einem traditionellen Spiel, bei dem die Gesetze der
Schwerkrat nicht zu den Regeln zählen; wohl aber bei einem Computerspiel, insofern hier die jeweilige Physik ebenso Teil der ‹Regeln› ist wie auch das Verhalten der
Bildobjekte. – Ebenso wie die Regeln, die über Erfolg und Misserfolg entscheiden,
müssen diese durch den Spieldesigner festgelegt werden.
Ausgehend von Juuls grundsätzlicher Verkennung dieser in Computerspielen
vorliegenden Grenzen lässt sich gleichwohl ein Blick auf die Grenzziehung zwischen Spiel und Nicht-Spiel im Sinne einer ästhetischen heorie werfen. Obwohl
mit dem Computer eine absolute Grenze zwischen Spiel (oder Programm) und
Nicht-Spiel (oder Nichtprogramm) gesetzt ist, kann mit dem Programm dennoch
eine besondere ästhetische Erfahrung gemacht werden, die eben in dem besteht,
was Schiller als ‹freies Spiel› bezeichnet: Wird der Freiheitsanspruch seines idealistischen Gewands entkleidet, dann lässt sich die Freiheit des Spiels im Falle
von Computerspielen im semiotischen Sinne verstehen als die Abwesenheit einer
Bezugnahme, das heißt, eines Zeichengebrauchs ohne externe Referenz. Im Falle
des Nicht-Spiels wird der Bildinhalt – dies kann geradezu als die Deinition des
Nicht-Spielgebrauchs eines Simulationsbildes gelten – auf den dargestellten Inhalt
und dessen Bedeutung bezogen: So etwa, wenn in einem Flugsimulator die Landebahn eines Flughafens oder das Kampfeld in einem Krisengebiet im Vorgrif auf
die dort außerhalb der Simulation anzutrefende Wirklichkeit zu beziehen ist. Im
Kontext des Spiels hingegen muss dieser Bezug nicht gegeben sein und kann in den
Hintergrund treten oder auch ganz verschwinden.
15 Vgl. Michael Liebe: here is No Magic Circle. On the Diference between Computer Games and
Traditional Games. In: Stephan Günzel/Ders./ Dieter Mersch (Hg.): Conference Proceedings of he
Philosophy of Computer Games 2008. Potsdam 2008, S. 324–341.
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Die Ästhetik der Grenze im Computerspiel
2 Die Wahrnehmung des Spiels: Die Grenzen des Bildes
Computerspiele haben nicht nur die Besonderheit, als Computeranwendungen ein
implementiertes Regelwerk zu sein, sondern ihre Besonderheit als Spiele ist, dass
sie einen referenzlosen Umgang mit Inhalten als interaktive Bilder ermöglichen.
Anders gesagt, die Bilderfahrung setzt nicht allein eine ästhetische, sondern auch
eine aisthetische Diferenz voraus. Das heißt, um ein Sotwareprogramm als NichtSpiel oder als Spiel zu verwenden und im letzten Fall eine ästhetische Einstellung
zu haben oder eine besondere Erfahrung zu machen, die sich durch das freie Spiel
– die Abwesenheit einer Bezugnahme oder die nichtsigniikative Verwendung des
Spielbildes – auszeichnet, muss der Output am Bildschirm in seiner Bildlichkeit
wahrgenommen werden. Somit ließe sich sagen, dass ästhetische Erfahrung als eine
Ausnahmesituation (Menschsein als Erfahrung von Freiheit) im Sinne von Kants
Kritik der Urteilskrat eben solche Wahrnehmungsphänomene voraussetzt, wie sie
in der Kritik der reine Vernunt als Anschauungsform(en) thematisiert werden.
Dass Kant den Raum in dem Abschnitt zur transzendentalen Ästhetik als eine
apriorische Gegebenheit ausweist, hat bis heute zu vielen Missverständnissen
geführt. Unter medienästhetischen Gesichtspunkten lässt sich Kants Raumtheorie mit Hilfe von Niklas Luhmanns Rekurs auf Fritz Heiders Unterscheidung von
‹Ding› und ‹Medium› derart reformulieren: dass unter Raum das Medium der
Dinge verstanden wird, die wiederum Formen sind, durch die das Medium ins Sein
tritt.16 So sind laut Kant Körper ohne Ausdehnung weder wahrnehmbar noch überhaupt vorstellbar. Genau in diesem Sinne ist Raum apriorisch und ein Medium:
Es ‹gibt› den Raum nur aufgrund der Wahrnehmung körperlicher Formen oder
Gestalten, denen er dann im Nachhinein als vorausliegend zugesprochen wird. Es
gibt aber kein Medium, in dem Raum selbst eine mögliche Form ist. Eben in diesem Sinne ist auch der (programmierte) Raum des Computerspiels ein Efekt der
Unterscheidung von Körpern (Flächen oder Volumina).
Bei Bildern kommt über die Diferenz zwischen den Dingen hinaus noch eine
weitere Unterscheidung hinzu: diejenige zwischen Bild und Nicht-Bild, die sich
zumeist im Rahmen manifestiert. Der Rahmen existiert dabei wiederum auf zwei
Ebenen: zum einen als materielle Grenze (Trennung von Bild und Nicht-Bild), zum
anderen als illusorische Grenze (Trennung von Sichtbarkeit und Nicht-Sichtbarkeit) – eine Dopplung die, wie gesagt, parallel zu derjenigen des Spiels verläut: als
16 Vgl. Niklas Luhmann: Das Medium der Kunst [1986]. In: Ders.: Aufsätze und Reden. Stuttgart
2001, S. 198–217; sowie Fritz Heider: Ding und Medium [1926]. Berlin 2005. – Kant spricht zwar
vom Raum ausdrücklich als einer ‹Form› der Anschauung gegenüber der Zeit als einer anderen.
Wenn man aber in Rechnung stellt, dass diese so genannte ‹innere Form› als gänzlich unanschaulich und als selbst nur in räumlichen Analogien (also mit Hilfe des ‹äußeren Sinns›) vorstellbar
ausgewiesen wird, verliert die spezielle Verwendung des Formbegrifs bei Kant ihren Sinn. Tatsächlich wäre das, was Kant die Anschauungsform nennt, der Raum als Medium.
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Stephan Günzel
der materiellen Grenze des Spielfeldrandes einerseits und des durch Übereinkunt
herbeigeführten Ausnahmezustands andererseits. Mit Gottfried Boehm lässt sich
die das Bildphänomen konstituierende Rahmung erster Art als «ikonische Diferenz» ansprechen;17 ein Phänomen, das bereits in Albertis Beschreibung des perspektivischen Bildes als ‹ofenem Fenster› thematisiert wird. Im Blick auf Alberti
trit Boehm die weitergehende Unterscheidung von transparenten und opaken
Bildern, wobei ersteres albertinische ‹Fensterbilder› sind, Zweiteres alle medienrelexive Darstellungen, welche die Bilddurchsicht negieren oder irritieren.
Mit Boehm ließe sich sagen, dass Computerspielbilder zumeist transparente
Bilder sind, da sie – wie viele andere «Gebrauchsbilder»18 auch – auf der ‹Durchsichtigkeit› des Bildes, das heißt einer Nichtaufälligkeit des Bildträgers beruhen.
In der Tat weisen Computerspiele nur selten opake oder medial-relexive Züge
auf: Zumeist dann, wenn die Echtzeitbildgenerierung durch einen Programm-,
Rechen- oder Übertragungsfehler aussetzt;19 oder im Falle von Adventure- und
Strategiespielen, bei denen die Icons zur Steuerung bzw. Information und schritliche Spielerkommunikation die Durchsicht auf den Spielraum verstellen.20 Aufgrund des transparenten Charakters vieler Computerspielbilder wird diesen daher
otmals zugesprochen, ‹immersiv› zu sein,21 gleichwohl das ‹Eintauchen› in die
(transparente) Welt des Bildes nur eine mögliche Folgeerscheinung der Durchsicht ist und keine notwendige. Was sie vielmehr auszeichnet, ist das Phänomen
der innerbildlichen Grenzen, die trotz der Illusion der Durchsicht wahrgenommen
werden können – und es auch müssen, wenn das Spiel gespielt wird. Das heißt,
anders als bei einem traditionellen Spiel, in dem das Einhalten der Regeln durch die
Spieler Voraussetzung ist, ist dies bei einem Computerspiel nicht erforderlich; wohl
aber ist es für die Verwendung des Spiels notwendig, dass die Spieler den Raum des
Computerspielbildes wahrnehmen.
In der Filmtheorie wird die innerbildliche Grenze bereits Ende der 1960er Jahre
thematisiert: namentlich durch Noël Burch, der eine andere ikonische Diferenz
veranschlagt als diejenige, welche der Rahmen des statischen Bildes markiert:
die Unterscheidung von Bildraum ‹on screen› und Bildraum ‹of screen›.22 Damit
17 Gottfried Boehm: Die Wiederkehr der Bilder. In: Ders. (Hg.): Was ist ein Bild? München 1994, S.
11–38, hier S. 30.
18 Stefan Majetschak: Sichtvermerke. Über Unterschiede zwischen Kunst- und Gebrauchsbildern.
In: Ders. (Hg.): Bild-Zeichen. Perspektiven einer Wissenschat vom Bild. München 2005, S. 97–121.
19 Vgl. Alexander R. Galloway: Gaming Action, Four Moments. In: Ders.: Gaming. Essays on Algorithmic Culture. Minneapolis/London 2006, S. 1–38.
20 Vgl. Alexander R. Galloway: Außer Betrieb. Das müßige Interface. Köln 2010 (amerik. Orignalausgabe in: New Literary History 39, 4, 2000), S. 931–955).
21 Vgl. etwa Alison McMahan: Immersion, Engagement, and Presence. A Method for Analyzing
3-D Video Games. In: Mark J.P. Wolf/Bernard Perron (Hg.): he Video Game heory Reader. New
York/London 2003, S. 67–86.
22 Noël Burch: Nana, or the Two Kinds of Space. In: Ders.: heory of Film Practice. Princeton 1981
(frz. Originalausgabe: Praxis du cinéma. Paris 1969), S. 17–31.
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Die Ästhetik der Grenze im Computerspiel
rekurriert Burch auf die beiden Möglichkeit des Filmbildes, sowohl eine Bewegung
der Objekte in einem festen Rahmen als auch eine Bewegung des Rahmens selbst
zu zeigen. Auf Computerspiele angewandt wurde Burchs Unterscheidung im Jahr
1997 durch Mark Wolf, der als Schüler von David Bordwell in der Tradition der
formalen Filmanalyse steht.23 Wolf ist damit zugleich auch der erste Medientheoretiker, der eine Klassiizierung von Computerspielen ausschließlich auf Grundlage
der Bildräumlichkeit vorlegt. Wie Burch konstatiert auch Wolf eine grundsätzliche Diferenz, die es im Medienwechsel zu berücksichtigen gilt: Vergleichbar dem
Unterschied zwischen dem Außerhalb der heaterbühne (als of-stage) und dem
Außerhalb des Filmbildes, würde sich mit dem Schritt vom Film zum Videospiel
dasjenige verändern, was jeweils als Außen des Inneren angesehen wird. Im heater kann der Raum außerhalb der Bühne potenziell noch von jedem anwesenden Zuschauer betreten werden; im Kino kann der Raum außerhalb der Leinwand
nur von der Kamera betreten werden – oder vielmehr: betreten worden sein; so
dass der nicht gezeigte Ofscreen-Raum eines Filmbildes im Bild für alle Zeiten
unsichtbar bleibt, sofern nicht ein Einstellungswechsel oder Kameraschwenk dieses
Außerhalb zum Innerhalb macht. Im Videospiel kann dagegen jeder OfscreenBereich, insofern er programmiert wurde, jederzeit sichtbar werden. Damit kehrt
die Raumsituation des heaters unter veränderten Vorzeichen wieder: Das Betreten
des Ofscreen-Bereichs ist für den Betrachter wieder möglich, jedoch nur im Bild.
Durch die Grenzziehung zum innerbildlichen Aus können die interaktiven
Simulationsbilder nach Wolf in einzelne Bildtypen unterschieden werden: Vereinfacht gesagt, lassen sich Spiele, deren Räumlichkeit durch die primäre Bildgrenze
bestimmt wird, von solchen unterscheiden, deren Räumlichkeit durch einen sich
bewegenden Bildausschnitt bestimmt ist, das heißt, dessen Grenze also im Bezug
auf den Onscreen-Raum variiert. Die beiden Arten des Spielbildes unterscheiden
sich also maßgeblich durch das Verhältnis zum Of: In beiden Fällen sei zwar Raum
außerhalb des sichtbaren Bildes impliziert, jedoch kann dieser nur bei der zweiten Gruppe potenziell zur Erscheinung kommen. Im ersten Fall – die von Wolf so
genannten single screen contained-Spielräume – bleibt das Of ebenso unsichtbar,
wie der nichtgezeigte Bereich des Films.
Im Folgenden können einige Beispiele die Abfolge historische des Verhältnisses
von On und Of im Videospiel verdeutlichen. Mark Wolf, bei dem auch einige dieser
Beispiele diskutiert werden, verbindet damit den Versuch, eine historische Abfolge
oder Entwicklung von Räumlichkeit in diesem Medium zu belegen. Tatsächlich gibt
es Entwicklungsschritte, wie insbesondere denjenigen von der lächigen zur tiefen Darstellung. Diese Veränderung ist nicht zu unterschätzen und kann durchaus
23 Mark J.P. Wolf: Space in the Video Game. In: Ders. (Hg.): he Medium of the Video Game. Austin 2001, S. 52–75 (Erstveröfentlichung: Inventing Space. Towards a Taxonomy of On- and OfScreen Space in Video Games. In: Film Quarterly 51, 1997, S. 11–23).
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Stephan Günzel
Die Ästhetik der Grenze im Computerspiel
mit dem verglichen werden, was Heinrich Wöllin 1915 in Kunstgeschichtliche Grundbegrife für den Übergang
von der Renaissance- zur Barockkunst
veranschlagte: eben den Übergang von
lach zu tief.24 – Aber wie sich bereits in
der Kunstgeschichte keine geradlinigen
Entwicklungen oder abrupte Übergänge
in dieser Deutlichkeit belegen lassen,
so gilt dies auch für Computerspiele:
Auch hier gibt es Rück- und Vorgrife,
nicht weiterverfolgte Designs etc. Wo
es sich jedoch um erkennbare Veränderungen handelt, so sind sie im Folgenden markiert. Vor allem aber sollen
1 Toshihiro Nishikado, Space Invaders, Japan
die folgenden Beispiele das bildanalyti1978. Taito/Midway, Arcade
sche Potenzial einer formalästhetischen
Beschreibung herausstellen, die von der
Raumdiferenz ausgeht.
In dem Spiel mit dem sprechenden
Titel Space Invaders von 1978 beispielsweise wird ein Of an den Seiten des oberen Bildrandes impliziert, von wo aus die
angreifenden Flugobjekte in den ansichtigen Bildraum hineinkommen; sprich:
im Onscreen-Raum erscheinen. Es ist
aber nicht möglich, diesen Ofscreen2 Allan Alcorn, Pong, USA 1972, Atari/Atari,
Bereich mit dem am unteren Bildrand
Arcade
lokalisierten Vehikel anzusteuern.
Ein Sonderfall der single screen contained-Spiele stellt Pong von 1972 dar, dessen
Spielprinzip sich in einem Satz ausdrücken lässt, der auch auf den zugehörigen Spielautomaten als Anweisung angebracht war: «Avoid missing ball for high score.» Der
Containerraum war an den beiden Seiten ofen und die Nutzer versuchten mit den
verkürzten Seitenwänden, die auf und ab zu bewegen waren, die Schließung des
Raums zu erwirken, um den Ball im Innen zu halten und die Grenze zum Of allererst zu etablieren.25
Eine Unterklasse von Bildräumen
mit ixierter Grenze stellen Spiele dar,
die erlauben, den Onscreenraum auf
einer Seite des Bildschirms zu verlassen
und auf der anderen wieder zu betreten,
ohne dass der Spieler dabei die von ihm
gesteuerte Figur begleiten kann: In Pac
Man von 1980 etwa gibt es eine Öfnung jeweils an den beiden Seiten des
Onscreen-Bereichs. Verlässt die Spieligur das Labyrinth nach rechts, taucht
sie mit einiger Verzögerung in der linken Öfnung auf. Es gibt eine Röhre,
durch die beide Öfnungen miteinander
verbunden sind. Die Welt von Pac Man
ist ein Torus – ein Raum also, der in sich
selbst zurückläut und daher zugleich 3 Toru Iwatani, Pac Man, Japan 1980, Namco/
Midway, Arcade
eine Bildgrenze hat und sie in der Bild26
benutzung doch nicht hat.
Im Gegensatz zu Spielen mit festen
Rahmen stehen Spiele, in denen ein
kontinuierlicher Bildlauf erfolgt, Dieser kann in eine oder zwei Richtungen erfolgen und in senkrechter oder
waagrechter Richtung bzw. in beide
Kardinalrichtungen der Bildläche. Die
Bewegung des Bildausschnitts (das so
4 Bob Whitehead, Skiing, USA 1980,
genannte scrolling) kann dabei vorge- Activision/Activision, Atari 2600
geben sein oder vom Spieler mehr oder
minder frei beinlusst werden. In Skiing von 1980 etwa tritt der Ofscreen-Raum
über die untere Bildgrenze in den sichtbaren Bereich ein. Die Bildbenutzer können
die Richtung nicht umkehren, jedoch durch die (einzig aktiv mögliche) Bewegung
entlang der waagrechten Bildachse, worüber den Hindernissen ausgewichen wird,
den Bildluss indirekt beeinlussen: je stärker die Ausweichbewegung, umso langsamer der Bildlauf. Dieser kann jedoch selbst nicht zum Stehen gebracht werden.
Im Unterschied dazu erlaubt das Spielbild von Defender aus dem gleichen Jahr ein
24 Vgl. Stephan Günzel: Zur ästhetischen Form des Computerspielbildes. In: Jürgen Sorg/ Jochen
Venus (Hg.): Erzählformen im Computerspiel. Zur Medienmorphologie digitaler Spiele. Bielefeld:
Transcript [im Erscheinen].
25 Mathias Mertens: ‹A Mind Forever Voyaging›. Durch Computerspielräume von den Siebzigern
bis heute. In: Claus Pias/Christian Holtorf (Hg.): Escape! Computerspiele als Kulturtechnik. Köln/
Weimar/Wien 2007, S. 45–54, hier S. 45–47.
26 Steven Poole: Trigger Happy. he Inner Life of Videogames. London 2000, S. 130.
338
339
Stephan Günzel
Anhalten der Bewegung des Bildausschnitts und darüber der Umwandlung von On- in Ofscreen-Raum (und
umgekehrt).
Auch wenn die Grenzverlagerung in
den Rollbildspielen vielfältiger Art sind,
haben sie doch wiederum eine echte
Grenze oder ein totales Of: die Tiefenlinie. Im Gegensatz zur Bewegung entlang der horizontalen X- und der verti5 Eugene Jarvis/Larry DeMar, Defender, USA
kalen Y-Achse ist diejenige entlang der
1980, Williams/Williams, Arcade
Z-Achse eine, die im Bild letztlich nicht
aus sich selbst, sondern aus Veränderungen auf eben jenen beiden Achsen
hervorgeht.27 Die tiefenräumliche Bewegung ist also die Illusion schlechthin,
zugleich aber auch der wohl wichtigste
Schritt, der sich innerhalb der Entwicklung computergenerierter Bilder vollzog.
Bemerkenswert ist hierbei jedoch, dass
es für einen Bewegungseindruck entlang der Z-Ache keineswegs notwendig
ist, dass eine voluminöse Darstellung
der Bildobjekte erfolgt. Es reicht eben
eine Veränderung der Ausdehnung der
6 Ted Michon, Night Driver, USA 1976, Atari/
Oberläche in der Waagrechten und
Atari, Arcade
Senkrechten.
Das klassische Beispiel für die Etablierung einer neuen Grenze von Onscreenund Ofscreen-Raum des Spiels ist Night Driver, das bereits auf 1976 datiert und
die räumliche Bewegung durch eine Vergrößerung der Begrenzungspfosten am
Bildrand erreicht. Das Spielprinzip ist mit Skiing vergleichbar, nicht nur, weil auch
hier Tore durchfahren werden müssen und die direkte Steuerung letztlich in einem
Verschieben des Objekts in der Waagerechten besteht (allerdings ist in diesem Fall
das Vehikel im Bild zentriert und der Spieler verschiebt letztlich den Straßenverlauf), sondern weil auch der Bildlauf (die Bewegung des Bildausschnitts) nicht
angehalten werden kann. Das Beispiel von Night Driver zeigt damit, wie der ‹volle
Bildraum› einschließlich einer Dynamisierung der Bildgrenzen im Computerspiel
Schritt für Schritt erobert wurde und letztlich viele Computerspiele dieser frühen
27 Mark Wolf: Z-axis Development in the Video Game. In: Bernard Perron/Ders. (Hg.): he Video
Game heory Reader 2. New York/London 2009, 151–168.
340
Die Ästhetik der Grenze im Computerspiel
Phase versuchen, die dritte Dimension auf unterschiedliche Weisen in der Fläche
darzustellen. (Auch in Space Invaders ist die Tiefenräumlichkeit angedeutet, insofern die von unten nach oben verlaufenden Schüsse als Linien von abnehmender
Länge angezeigt werden.)
An jenen Beispielen wird nicht nur deutlich, dass die dritte Dimension in Computerspielen selbst eine Grenze ist, die den Raum in seiner Darstellung bedingt,
sondern darüber hinaus, dass die Anwendung von ilmwissenschatlichen Kategorien auf das Computerspielbild ebenso erweitert werden muss wie die heorie des
Rahmens im Schritt von der statischen zum bewegten Bilderscheinung: Das Verhältnis von On- zu Ofscreen-Raum im Computerspiel besteht nämlich nicht nur
in visueller Hinsicht, sondern auch in navigatorischer.28 Anders gesagt, das Computerspielbild wird als ein doppeltes wahrgenommen: zum einen als der sichtbare
Raum (einschließlich der verschiedenen Möglichkeiten, die Tiefendimension in
der Fläche darzustellen) und zum anderen als kybernetischer Raum, der gleichwohl
auch als Bild gegeben ist, und zwar als die Möglichkeit der Variabilität entlang der
Kardinalachsen.29 Gesehen wird in Computerspielen mindestens in zwei, ansatzweise aber immer in drei Dimensionen (wobei diese Dimensionen der Darstellung
nicht zum Efekt des so genannten ‹3D› der stereoskopischen Darstellungen führt).
Unabhängig davon ist die Manipulationsmöglichkeit des Bildes otmals auf nur eine
Dimension beschränkt: Während Night Driver und Skiing also (je nach Bildempinden) zwei bis drei sichtbare Dimensionen aufweisen, ist die Interaktion auf eine
bis zwei Dimension(en) beschränkt, mit jeweils zwei Richtungen pro Raumachse:
auf die Bewegung von rechts nach links, die je nach Stärke einen Einluss auch auf
die Bewegung von Oben nach Unten bzw. von Vorn nach Hinten haben kann. Die
zweite oder dritte sichtbare Dimension ist damit auch ein Of oder On der ersten
bzw. zweiten spielbaren Dimension. Diese Spannung macht nicht nur die räumliche Erfahrung des Computerspiel(doppel)bildes aus, sondern deiniert zugleich
eine Minimalbedingung für das Interaktionsbild, um ein Spiel sein zu können, das
heißt als ein solches gebraucht werden zu können: Ist der Bewegungsspielraum –
also die Kardinalzahl der Interaktionsdimensionen – gleich 0,5 oder kleiner, dann
kann das Bild nicht zu Zwecken des Spiels verwendet werden; sprich: Es gibt eine
absolute Grenze ‹nach unten›.
Die Untergrenze der Interaktion zeigt die Spielemodiikation Tetris 1D auf, dessen
Name die Besonderheit allerdings nicht gänzlich trit: Wie im Originalspiel Tetris
28 Lev Manovich: Navigable Space. Raumbewegung als kulturelle Form. In: Hans Beller/Martin
Emele/Michael Schuster (Hg.): Onscreen/Ofscreen. Grenzen, Übergänge und Wandel des ilmischen Raumes. Ostildern bei Stuttgart 2000, S. 185–207.
29 Clara Fernández-Vara/José Pablo Zagal/Michael Mateas: Evolution of Spatial Conigurations in
Videogames. In: Proceedings of DiGRA 2005 Conference. Changing Views – Worlds in Play, unter:
http://www.digra.org/dl/db/06278.04249.pdf (Letzter Aufruf: 19. Dezember 2011).
341
Stephan Günzel
von 1984 ist die Darstellung zweidimensional. Eindimensional ist hingegen die
Möglichkeit, die fallenden Spielsteine
nicht mehr in der Horizontalen (also
nach rechts oder links) bewegen zu
können. Einzig beibehalten ist die auch
im Original gegebene Möglichkeit, die
unterschiedlich langen Spielsteine im
Fallen zu beschleunigen. Da sie aber
7 Ziga Hajdukovic, Tetris 1D, Slowenien 2002,
nicht angehalten werden können, ist
Terminal Studio Games, http://www.tetris1d.org/ die eigentliche Interaktionsräumlichkeit eine halbe Dimension (eben als
Geschwindigkeitszunahme nach unten).
Dagegen bieten Spiele wie Summer
Games von 1984 (vor allem in den Wettlaufdisziplinen) die zunächst vergleichbare Möglichkeit, eine Figur in eine
Richtung der Waagrechten zu bewegen
– auch sie können nicht zurück –; hinzu
kommt hier allerdings die Möglichkeit,
8 Stephen Landrum, Summer Games, USA
die Figur nicht zu bewegen und also
1984, Epyx/U.S. Gold, C64
stehen zu lassen, womit hier eine Interaktionsdimensionalität ‹größer als 0.5›
vorliegt, wenngleich es sich um keine
ganze Raumdimension mit zwei vollen
Richtungen handelt.
Eine Erweiterung der räumlichen
Erfahrung gegenüber der Begrenzung
auf zwei bis drei sichtbare und eine
interagierbare Dimensionen (wie Night
Driver) bot das bereits 1980 erschienene
9 Ed Rotberg/Morgan Hof, Battlezone, USA
Spiel Battlezone: Dies nicht nur, weil es
1980, Atari/Atari, Arcade
als das erste Spiel gilt, das aufgrund seiner Vektorgraik eine rudimentär ‹plastische› Darstellung der Bildobjekte aufwies,
sondern weil eine ungehinderte Drehbewegung um die Senkrechte herum und
zudem (durch die entsprechende Variation der Volumina) eine beliebige – sprich:
in der Geschwindigkeit nicht vorgegebene – Bewegung entlang der Z-Achse in eine
obendrein frei wählbare Richtung möglich war.
Lange Zeit unbespielbar bleibt trotz ihrer Visualisierung die vertikale Dimension: Im Bild sind zwar Höhenunterschiede zu sehen, aber der Blick kann nicht
gehoben oder gesenkt werden. Auch das Genre der so genannten First-Person342
Die Ästhetik der Grenze im Computerspiel
oder Ego-Shooter, für das Battlezone der
Vorläufer ist, bleiben so lange Zeit auf
die Navigation in der Ebene begrenzt.
Allenfalls bieten Spiele wie Doom von
1993 die Möglichkeit das Raumniveau
durch das Benutzen einer Treppe zu
heben oder zu senken, letztlich bleiben
die Shooter aber die Bewohner eines
Flächenlands.
10 John Romero, Doom, USA 1993, id/ic, PC
Die aisthetische Grenze zur dritten
Dimension der Interaktion wird 1995
mit dem Spiel Descent überschritten,
mit dem nun ein dreidimensionaler
Bild- wie auch Interaktionsraum vorliegt: Das Bild stellt nicht nur tiefenräumlich dar, und es kann nicht nur wie
in Doom das Raumniveau verändert
werden, sondern es ist eine Drehung
um alle drei Achsen herum möglich, 11 Matt Toschlog/Mike Kulas, Descent, USA
die in Verbindung mit der Vor- und 1995, Paralax/Interplay, PC
Rückwärtsbewegung nahezu alle Bewegungsmöglichkeiten oferiert. (Einzig die in Doom vorhandene, direkte Seitwärtsbewegung, oder das in späteren Ego-Shootern standardmäßig vorhandene Springen und Ducken ist nicht gegeben.)
Das freie Rotieren um alle Achsen jedoch erfordert von den Spielern eine hohe
Orientierungsleistung, weshalb es auch nur einen kleinen, wenngleich eingeschworenen Kreis an Nutzern hatte. In der Erweiterung der Interaktionsräumlichkeit des
Spielbildes hatte Descent eine Grenze erreicht oder vielleicht bereits auch überschritten, die das Spiel – im diametralen Gegensatz zu Tetris 1D – in Richtung einer
Art von Simulationsbild bringt, denen gerade die Diferenz gegenüber der Komplexität der Wirklichkeit fehlt. Der Computerspiel-heoretiker Ian Bogost spricht
solcherart von einem notwendigen «simulation gap», den Computerspielen benötigen, um den Unterschied zwischen Spiel und Nicht-Spiel überhaupt etablieren
zu können. 30 Das heißt, Computerspiele reduzieren Komplexität – auch gerade
diejenige des Raums – und gewinnen das Spielerische eben aus der Minimierung
auf Wesentliches.
Für Shooter-Spiele hat sich von daher bis heute ein Interaktions-Schema etabliert, das erstmals mit Quake von 1996 aukam und bis heute gebräuchlich ist.
30 Vgl. Ian Bogost: Unit Operations. An Approach to Videogame Criticism. Cambridge (MA)/London
2006, S. 129–136.
343
Stephan Günzel
Die Ästhetik der Grenze im Computerspiel
Hierin war ein Kompromiss aus der
Flächenwelt von Doom und der Raumwelt von Descent gefunden, insofern
die Hauptbewegung zwar in der Ebene
stattindet (und die maßgeblich durch
die linke Hand und zumeist über die
Tasten W, A, S und D gesteuert wird),
aber – neben dem Springen, Ducken
und seitlichen Ausweichen (das ebenfalls über angrenzenden Tasten im lin12 John Romero, Quake, USA 1996, id/GT, PC ken Bereich der Tastatur erreicht wird)
– auch die Vertikale einbezogen ist, welche von der rechten Hand mittels Computermaus in einer mehr oder minder
kontinuierlichen Bewegung ausgeführt
wird und zugleich das Sehen lenkt wie
die Wafe ausrichtet. Dieses Wafenauge
kann den gesamten Horizont und nach
oben und unten einen Halbkreis überstreichen; in der Waagrechten also 360°
und in der Senkrechten 180°.
Letztliche Innovationen in der räum13 Tokuro Fujiwara, Resident Evil, Japan
lichen Gestaltung bzw. in der grund1998, Capcom/Capcom, PlayStation
sätzlichen Veränderung der Interaktion
mit dem Bild liegen daher nicht in einer reinen Entgrenzung der Navigationen als
Verlust der Bodenhatung, sondern in der Veränderung von Raumanschlüssen.
Wenn diese nicht absolut waren, wie in den single screen contained-Spielräumen
oder sich kontinuierlich von Onscreen in Ofscreen-Raum (und umgekehrt) verwandelten, so wurde die Grenze ot durch einen Bildwechsel, vergleichbar dem
Schnitt im Film, mit wechselnder Kameraeinstellung vollzogen.
Dieses kann wie in Resident Evil tatsächlich eine neue vorgegebene Kameraperspektive auf den selben Raum sein, welche die Spieler indirekt durch die Bewegung
im Raum beeinlussen können, oder es kann sich um den gänzlichen Wechsel in
der Darstellung eines Raumabschnitts handeln,31 was in Computerspielen bereits
sehr früh anzutrefen ist und dort auch bemerkenswerte Spielbildformen zeitigt,
wie etwa Spy vs. Spy von 1984, in dem nicht nur die logisch verbundenen, aber
bildlich getrennten Räume nacheinander gezeigt werden, sondern dies auch in
einer horizontal geteilten Splitscreen für zwei Spieler gegenübergestellt werden;
so dass es zu dem Sonderfall kommt,
wonach ein Ofscreen-Raum (im Sinne
der Interaktion) zugleich onscreen (im
Sinne der Sichtbarkeit) sein kann.
Ein jüngerer Schritt in der Interaktionsräumlichkeit von Shooter-Spielen
besteht nun darin, den Onscreen-Raum
wie ein mögliches Of zu behandeln respektive das, was in Pac Man als statische
Raumschleife gegeben war, nun aktiv
herzustellen; also allenthalben Tori zu
produzieren, auch wenn dies sich nicht
auf den sichtbaren Raum – jedenfalls 14 Michael J. Riedel, Spy vs Spy, USA 1984,
nicht auf die Euklidik der Darstellung First Star Software/Kemco, NES
– auswirkt.
In dem Spiel Portal von 2007, welches auf dem Prototypen Narbacular
Drop von 2005 beruht,32 ist die Wafe
des Shooters umfunktioniert zu einem
Werkzeug, mit dem nahezu beliebig
Ein- und Ausgänge in die Wände des
Containerraums gesetzt werden können. Die Problemstellung des Spiels
15 Jeep Barnett et al., Portal, USA 2007,
ist dabei nicht mehr, ein Labyrinth zu Valve/EA, PC
durchstreifen oder Objekten auszuweichen (auch wenn dies noch als Aufgabe beibehalten ist), sondern primär den Raum
selbst als ein Problem lösen zu müssen: Durch das Setzen der Türen wird der Raum
mit sich selbst verbunden und durch diese Kurzschlüsse oder Raumfaltungen eine
Verbindung zwischen zwei Punkten hergestellt, die zuvor nicht durch einen möglichen Weg miteinander verbunden waren. Wie kein anderes Spiel nimmt Portal
(trotz der divergierenden Sujets) den Ansatz von Pong auf und überträgt ihn in die
dritte Dimension – als Schließung bzw. Öfnung der Raumgrenzen.
An Portal wird zuletzt auch noch eine Grenzziehung deutlich, die in jedem Spiel
besteht, und die zum Teil das Phänomen der Simulationslücke berührt, aber auch
der Grenze, die durch die Rechenkapazität vorgegeben wird. Denn auch wenn das
Computerspielbild in technischer Hinsicht freilich eine Simulation ist, so kann doch
nicht mit allen Elementen der Welt interagiert werden. Das ist vergleichbar mit der
Spannung zwischen visuellem Raum und seiner Interaktionskardinalität, aber von
31 Vgl. Mark Wolf: heorizing Navigable Space in Video Games. In: Stephan Günzel/Michael Liebe/
Dieter Mersch: DIGAREC Keynote Lectures 2009/10, Potsdam 2010 [im Erscheinen].
32 Vgl. Clara Fernández-Vara/Neal Grigsby/Eitan Glinert/Philip Tan/Henry Jenkins: Between heory and Practice. he GAMBIT Experience. In: PerronWolf 2009, S. 253–271, hier S. 266–269.
344
345
Stephan Günzel
dieser Diferenz unabhängig: Jenseits
der Möglichkeit, in der Ebene eine oder
zwei Achsen und in der Vertikalen die
dritte Achse bespielen zu können, kann
das Bild selbst geteilt sein in Elemente,
die sichtbar und spielbar sind, und solche, die nur sichtbar sind. Espen Aarseth
nennt dies die Grenze zwischen Fiktion
und Simulation.33 So können etwa nicht
alle Türen in einem Computerspiel
16 Atsishi Seimiya, The Hose of the Dead,
geöfnet werden, sondern nur solche,
Japan 1996, Wow/Sega, Arcade
hinter denen ein Raumanschluss liegt,
oder spielzielrelevante Objekte. Sehr
häuig tritt auch das Phänomen der invisible wall auf: Der Interaktion ist dann
eine Grenze gesetzt, obwohl sich der
sichtbare Raum fortsetzt.
Die in fast allen Spielen anzutrefende
Grenze der unsichtbaren Wand – in der
Tat wäre auch schon die Unmöglichkeit,
den oberen Bereich des Bildes in Space
Invaders mit dem Vehikel zu betreten,
17 Graeme Devine, Quake III Arena, USA
ein invisible wall-Phänomen – hat gar
1999, id/Activision, PC
zur Herausbildung eines eigenen Genres
geführt: den so genannten Rail-Shootern, bei denen die gesamte Raumbewegung,
welche in sonstigen Shootern mit der linken Hand vollzogen wird, entfällt und vom
Programm automatisch vollzogen wird, wenn die entsprechende Aufgabe in einem
Abschnitt erledigt ist; so etwa in he House of the Dead von 1998. Diese ‹Berechenbarkeit› des Weges erlaubt zum einen eine höhere Detailgenauigkeit, da der Blickwinkel sich bei jedem Spieldurchlauf immer in der gleichen Weise verändert; zum
anderen geht die Spurgebundenheit oder ‹Einhändigkeit› der Bildbedienung auch
aus der Zurichtung der entsprechenden Spielhallenautomaten und darauf beruhenden Spielkonsolen- oder PC-Erweiterungen hervor, da hier mit einer Lichtpistole
auf die Objekte im Bild gezielt wird, d.h. die Position des Fadenkreuzes sich in der
Bildläche verändert. (Was im Gegensatz zu Doom oder Quake steht, wo das Fadenkreuz zentriert bleibt und letztlich der Raum darunter hinwegbewegt wird.)
Insofern die unsichtbare Wand die Grenze der spielbaren Welt überhaupt deiniert, unterscheiden sich die narrativen Strategien zu deren Plausibilisierung: Es
33 Espen Aarseth: Doors and Perception. Fiction vs. Simulation in Games. In: Intermédialités 9, 2007,
S. 35–44.
346
Die Ästhetik der Grenze im Computerspiel
kann wie in House of the Dead keine
innerdiegtische Rechtfertigung geben
oder sie kann – was sehr häuig ist – als
das schlichte Faktum der Begrenzung
bestehen wie die Wände des Labyrinths
in Doom oder die Mauer einer Spielarena wie in der Quake-Fortsetzung
Quake III Arena von 1999.34
Es kann aber auch Fälle geben, in
denen der nur sichtbare, aber nicht 18 Cevat Yerli et al., Far Cry, Deutschland
mehr spielbare Bereich durch das Ein- 2004, Crytek/Ubisoft, PC
greifen einer ‹höheren Macht› festgelegt
wird. In Far Cry von 2004 tritt ein deus ex machina-Efekt an allen Stellen auf, wo
sich die Möglichkeit zur Flucht aus dem Interaktionsraum bietet. Das Spiel ist in
einer tropischen Inselwelt angesiedelt und bricht daher mit der Tradition von EgoShootern, die zumeist in dunklen Gewölben oder in Weltraumstationen stattinden.35 Doch die Ofenheit ist nicht grenzenlos, sondern unterliegt ebenso der Differenz von Fiktion und Simulation wie jedes andere Spiel; und so werden Spieler,
die sich nach Art von Truman Burbank (der die Grenze seiner simulierten Welt in
he Truman Show [USA 1998, Peter Weir] tatsächlich per Boot erreichte) den vermeintlichen Zauberkreis verlassen wollen, von einem Helikopter beschossen und
getötet. Die (aisthetische) Nicht-Wahrnehmbarkeit einer sichtbaren Grenze wird
zur ästhetischen Grenzerfahrung und der Tod tritt als negative Spielbedingung auf;
sprich: Das game ist over.
Denn auch dies ist eine weitere Bedingung für die Verwendung eines Simulationsbildes als Spiel – und dies ganz im Sinne Huizingas und Caillois: Es muss eine
Grenze in Zeit und vor allem im Raum haben. Wäre es unbegrenzt, so würde entweder wieder eine bloße Simulation und kein Spiel vorliegen (etwa bei Flugsimulatoren, in denen sich – sofern programmiert – die Erde prinzipiell wieder und
wieder umrundet ließe); oder es würde eine virtuelle Welt vorliegen, die zwar einen
Anfang in der Zeit, aber aufgrund ihrer Persistenz – also der fortlaufenden Veränderung auch bei Nicht-Anwesenheit eines Nutzers – kein Ende haben; und auch der
Raum von virtuellen Welten wie das 2003 eröfnete Second Life oder des ein Jahr
später online gegangene World of Warcrat wird stetig erweitert, um Usern Platz
zu bieten, die hinzukommen bzw. die an die Grenzen des programmierten Raums
34 Vgl. Michael Nitsche: Video Game Spaces. Image, Play, and Structure in 3D Games Worlds. Cambridge (MA)/London 2008, S. 171–189.
35 Vgl. Christiane Funken/Martina Löw: Ego-Shooters Container. Raumkonstitution im elektronischen Netz. In: Rudolf Maresch/Niels Werber (Hg.): Raum Wissen Macht. Frankfurt am Main
2002, S. 69–91.
347
Stephan Günzel
stoßen. Grenzen werden hier allerdings nur vorläuig etabliert: entweder wenn
innerhalb einer virtuellen Welt Aufgaben (quests) gelöst werden – hier kann bei
mehreren Beteiligten der Magic Circle tatsächlich durch die notwendige Absprache
oder Übereinkunt im Handeln (wieder)entstehen – oder wenn Spieler die Grenze
zu der noch nicht freigegebenen Raumfortsetzung erreichen.36 Anfang 2005 kam es
zu einer bemerkenswerten Umkehr: Ein User hatte mit seinem Avatar namens Littleox aufgrund eines Programmierfehlers eine Erweiterung des Raums von World of
Warcrat betreten. Hierfür wurde er mit der Löschung seines Accounts im echten
Leben bestrat, wodurch für ihn eine andere Grenze relevant wurde: Ihm ist der
Zutritt zu diesem virtuellen Raum verwehrt.
Die Autorinnen und Autoren
Henning Engelke, Dr. phil., Wissenschatlicher Mitarbeiter am Kunstgeschichtlichen Institut der Goethe-Universität, Frankfurt am Main. 1999 bis 2003 Volontariat und anschließend wissenschatliche Mitarbeit am Deutschen Filmmuseum,
Frankfurt am Main. 2005 Promotion an der Georg-August-Universtät in Göttingen
zu Dokumentarilm und Fotograie: Bildstrategien in englischsprachigen Ethnologie
1936–1986 (Berlin: Gebr. Mann Verlag, 2007). 2005 bis 2006 PostdoktorandenStipendium des Landes Niedersachsen am Zentralinstitut für Kunstgeschichte,
München. 2007 bis 2008 Archivrecherchen in den USA im Rahmen eines DFGForschungsstipendiums (Teilprojekt des DFG-Projekts «Relexion der ilmischen
Räume» an der Goethe-Universität Frankfurt). Darauf aubauend Habilitationsprojekt zum US-amerikanischen Avantgardeilm von 1940 bis 1965. Seit 2009
Fachredakteur des Rezensionsjournals sehepunkte für den Bereich Film und neue
Medien. Publikationen zu ethnographischem Film, deutschem Nachkriegsilm,
Filmavantgarde und zeitgenössischer Fotograie.
Ralf Michael Fischer, Dr. phil., Studium der Kunstgeschichte und Germanistik
in Tübingen und Amherst (Massachusetts). 2001 bis 2006 wissenschatlicher Mitarbeiter an den Kunstgeschichtlichen Instituten der Universitäten Marburg und
Frankfurt. 2006 Promotion in Marburg über Raum und Zeit im ilmischen Œuvre
von Stanley Kubrick (Berlin: Gebr. Mann Verlag, 2009). Von 2006 bis 2009 wissenschatlicher Mitarbeiter im DFG-Projekt «Relexion der ilmischen Räume» an der
Universität Frankfurt. Seit 2009 wissenschatlicher Assistent am Kunsthistorischen
Institut der Universität Tübingen. Forschungsschwerpunkte: Bildkünste seit 1800,
Film (v.a. Kunst- und Autorenkino, Film noir, Essayilm, ilmischer Raum), Wechselwirkungen zwischen Bildmedien, documenta-Geschichte, amerikanische Kunst.
Publikationen zu Kubrick, Kurosawa, Antonioni, Fassbinder, Anthony Mann, Jackson Pollock, Edward Hopper. Laufendes Habilitationsprojekt zur Visualisierung
der amerikanischen frontier zwischen 1890 und 1950 in verschiedenen Bildmedien.
36 Vgl. Espen Aarseth: From Hunt the Wumpus to EverQuest. Introduction to Quest heory. In:
Fumio Kishino/Yoshifumi Kitamura/Hirokazu Kato/ Noriko Nagata (Hg.): Entertainment Computing – ICEC 2005. 4th International Conference Proceedings. Berlin/Heidelberg/New York 2005,
S. 469–506.
348
Ursula Anna Frohne, Dr. phil., seit 2006 Professorin für Kunstgeschichte an der
Universität zu Köln, Lehrstuhl für Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts. 1995 bis
2001 als Kuratorin am Museum für Neue Kunst | ZKM und Lehrbeautragte an der
Staatlichen Hochschule für Gestaltung, Karlsruhe. 2001 Gastprofessur am Department of Modern Culture and Media, Brown University Providence, R.I. und 2002
bis 2006 Lehrstuhl für Art History an der International University Bremen. Fellowships in New York, Washington, D.C., Rochester und am Getty Research Insti349