Buffy Buffy: Eine andere Geschichte

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Buffy Buffy: Eine andere Geschichte
Buffy
Buffy: Eine andere Geschichte
Eine FanFiction von Stefan Krause
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Buffy: Buffy- Eine andere Geschichte
© Stefan Krause
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Chronologie
1609: Darla wird vom Meister zum Vampir gemacht.
1727: Geburt von Liam in Galway/Irland.
1753: Darla macht aus dem Iren Liam Angelus, zusammen vernichten sie seine
Familie.
1760: Vor die Wahl zwischen Angelus und dem Meister gestellt, entscheidet sich
Darla für ersteren und bricht mit ihrem Erzeuger.
1860: Darla macht Angelus auf Drusilla aufmerksam, für Dru der Beginn einer
mörderischen Zeit, an deren Ende Angelus sie zum Vampir macht.
1880: Drusilla macht aus dem Poeten William den Vampir Spike.
1898: In Rumänien wird Angelus verflucht. Darla, Spike und Drusilla verüben ein
Massaker unter den Zigeunern. Jenny Calenders Vorfahren müssen überlebt haben.
1899: Gründung des modernen Sunnydale durch Richard Wilkins. Er beseitigt den
herrschenden Dämon und etabliert seine eigene Machtposition als Bürgermeister.
1900: Boxeraufstand in China; Angelus bricht mit Darla, Spike tötet die Jägerin.
1937: Nach einer Mordserie versucht der Meister in Sunnydale den Höllenschlund zu
öffnen und scheitert auf ganzer Linie. Seine Anhänger um Luke und Darla warten 60
Jahre auf seine Rückkehr. Halb Sunnydale wird durch ein Beben zerstört.
1956: Geburt von Rupert Giles in England. Sein Vater und seine Großmutter arbeiten
für den Wächterrat.
ca. 1970: Geburt von Janna Kalderasch, die sich später Jenny Calendar nennt.
1977: Spike tötet in der U-Bahn von New York die Jägerin, eine junge Schwarze
namens Nikki Wood. Er nimmt ihre Jacke an sich.
1981: Geburt von Buffy Anne Summers (Jan), Cordelia Chase (Mai), Xander Harris
und Willow Rosenberg.
ca. 1982: Kendra wird geboren. Sie wird als Kind an Sam Zabutu übergeben.
ca. 1983: Geburt von Faith.
1996: Der Dämon Whistler überzeugt Angel, die neu berufene Jägerin Buffy zu
unterstützten. Kurz darauf wird Buffys erster Wächter Merrick getötet. Sie fliegt von
der Schule, da sie die Turnhalle niederbrennt, um Vampire zu vernichten. Hank und
Joyce Summers lassen sich scheiden.
1997: Joyce und Buffy Summers ziehen nach Sunnydale. Buffy lernt ihren neuen
Wächter Giles und ihre neuen Freunde Angel, Willow und Xander kennen. Beim
ersten großen Kampf gegen die Anhänger des Meisters, der >Zeit der Ernte<, kommt
Xanders guter Freund Jesse ums Leben. Beim Endkampf wird der Meister zwar
vernichtet, doch Buffy ist kurzzeitig Tod. Kendra wird ebenfalls als Jägerin berufen.
Später muss sich Buffy mit Spike, Drusilla und dem wiedererwachten Angelus
herumschlagen.
1998: Buffy verhindert Angelus Versuch, die Welt zu zerstören. Kendra wird getötet,
ihr folgt Faith als Jägerin. Dru und Spike verlassen Sunnydale. In der zweiten
Jahreshälfte schält sich der Bürgermeister Richard Wilkins III als neuer Gegner
heraus.
1999: Faith läuft zum Bürgermeister über, nachdem sie versehentlich den
stellvertretenden Bürgermeister Allan Finch getötet hatte. Trotzdem wird Wilkins am
letzten Schultag vernichtet, obwohl er sich bereits in einen Dämon verwandelt hat.
Das sind einige wichtige Daten des Buffyversums bis zum Ende der dritten Staffel.
So, wie die Fans es kennen. In der Episode >Was wäre wenn …<, die Ende 1998
spielte (die folgende Episode war die Weihnachtsfolge >Heimsuchungen<) litt
Cordelia furchtbar darunter, dass sie ihren Freund Xander in einer verfänglichen
Situation mit Willow erwischt hatte. Sie wünschte sich, Buffy wäre nie nach
Sunnydale gekommen, da sie in ihr die Verursacherin aller Probleme entdeckt zu
haben glaubte. Ohne ihr Wissen gab sie damit der Dämonin Anyanka, der Rächerin
betrogener Frauen, das Stichwort für einen Rachezauber. Plötzlich fand sich Cordelia
in einem Sunnydale wieder, in dem der Meister erfolgreich sein Gefängnis verlassen
hatte und Vampirhorden die Stadt zumindest bei Nacht beherrschten.
Auszug aus >Der offiziellen Serienguide Band 2<, S. 159:
„Sunnydale High ohne Buffy hat bereits eine lange Reihe verstorbener Direktoren
hinter sich gebracht, es gibt monatliche Gedenktage für die Verstorbenen und die
Schüler tragen dunkle Kleider, um die Vampire nicht anzulocken. Cordelia muss sich
an diverse Dinge gewöhnen: Ausgangssperre, kein Auto und ein von Vampiren
besetztes Bronze. Harmony erzählt Cordelia, dass Xander und Willow tot sind;
tatsächlich sind sie untote Vampire. Cordelia sucht verzweifelt nach der so
genannten Jägerin und wird von Giles, Oz und Larry vor den Vampiren Willow und
Xander gerettet. Das Vampirpärchen besucht den Meister im Bronze, der ziemlich
ärgerlich ist, weil sie Cordelia nicht sofort getötet haben, als sie die Jägerin erwähnte.
Die beiden fahren deshalb zur Bibliothek, schließen Giles ein und saugen Cordy aus.
Die Guten, von Xander auch >die Kavallerie< genannt, berichten Giles von weiteren
Verlusten (die Mitstreiterin Nancy wurde getötet) und bringen Cordelias Leiche weg.
Giles findet Anyankas Amulett. Der Meister belohnt Xander und Willow und erlaubt
Willow, >mit dem Hündchen zu spielen<, was bedeutet: sie darf den gefangenen
Angel zum Vergnügen foltern. Giles kommt bei seinen Nachforschungen zum Thema
Anya voran. Allerdings muss er auf dem Weg zu seiner Wohnung anhalten, um
einige Bürger, die von Vampiren gefangen worden sind, zu befreien. Er verliert den
Kampf, doch die Jägerin Buffy Summers – extra aus Cleveland angereist – kommt
ihm zu Hilfe.
Diese toughe Buffy hat nur wenig Geduld mit Giles Nachforschungen und will ihre
Probleme lieber mit einem Pflock lösen. Als Giles ihr erzählt, dass der Meister im
Bronze zu finden ist, will sie ihn sofort jagen. Angel kann Buffys Misstrauen ihm
gegenüber überwinden und führt sie zum Meister in die Fabrik, wo dieser eine
Maschine hat aufbauen lassen, mit der das Blut aus Sunnydales restlicher
menschlicher Bevölkerung abgezapft werden kann. Giles beschwört Anya und will ihr
Machtzentrum zerstören, während Buffy und Angel den Meister und seine Gehilfen
angreifen. Gerade als der Meister Buffy tötet, gelingt es Giles, Cordelias Wunsch
rückgängig zu machen, indem er das Amulett zerstört und Anya machtlos
zurücklässt.“
Folgen dieser Art haben es an sich, dass sie im Schnelldurchlauf den Inhalt einer
ganzen alternativen Serie erzählen. Natürlich kann man damit nicht jeden Fan
begeistern, besonders die Tatsache, dass in dieser Folge fast alle Hauptcharaktere
umkommen, wurde zwiespältig aufgenommen (übrigens: der Meister tötete Buffy am
Ende der 1. Staffel schon einmal, warum sollte er es nicht wieder schaffen?).
Ich gebe zu: ich liebe Alternativweltfolgen in praktisch allen Serien, daher konnte ich
mich nie von der Frage lösen, wie dieses >wilde Chaotistan< (Cordelia: I wish us
into Bizarro-world and you two are still together? I cannot win! bzw. Ich wünsche uns
ins wilde Chaotistan und ihr könnt auch hier nicht voneinander lassen?) wohl
entstanden sein mochte und was aus ihm wurde. Dies ist meine Version und ich will
gar nicht behaupten, dass sie sonderlich gut oder originell wäre. Dazu hat sie eine zu
seltsame Entstehungsgeschichte von einer Reihe von Kurzgeschichten zu einer Art
Mischung aus Geschichtensammlung und Buch. Ich hoffe einfach, dass
irgendjemand, der es liest, es mag – denn dann hat sich die Arbeit gelohnt.
PS: Bisher ist das ganze eher ein Manuskript und ich habe vor, es irgendwann noch
zu überarbeiten. Daher sind konstruktive Kommentare sehr erwünscht!
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Willow Rosenberg
„Ich wünschte, Buffy Summers wäre niemals hier in Sunnydale aufgekreuzt.“
CORDELIA CHASE
„So sei es.“
ANYANKA
Sunnydale, 1997: Die Zeit der Ernte
Sie wusste nicht, was geschehen war, und sie wusste nicht, warum sie noch lebte.
Willow war ins >Bronze< gekommen, um Xander zu treffen, obwohl sie sich sonst
eher selten und ungern unter Menschen wagte. Aber diese Chance hatte sie nutzen
müssen – mit ihm zusammen zu sein. Immer in der Hoffnung, dass er irgendwann
doch noch dieselben Gefühle für sie entwickelte, die Willow schon seit Jahren für
ihren Freund aus frühsten Kindertagen hegte. Gut, er war ein Junge, aber ganz so
blind und dumm konnte er einfach nicht sein, als dass er es nicht irgendwann
bemerken musste! Manchmal kam es ihr vor, als schrie sie ihm jeden Tag aufs Neue
ihre Liebe ins Gesicht und er verstand einfach nicht, was so offensichtlich hätte sein
müssen. Mit Xander im >Bronze< die Zeit totzuschlagen, war kein
glücklichmachender Ersatz, aber immerhin besser, als gar nichts.
Doch er verspätete sich. So wartete sie an der Bar, bestellte ein alkoholfreies
Getränk und hing ihren Gedanken nach, während sie der Band des Abends lauschte.
Ein anderes Mädchen ihres Alters, jemand wie die Schulkönigin Cordelia zum
Beispiel, hätte sich vermutlich einfach einen anderen Tanzpartner gesucht. Nicht
Willow. Obwohl sie – soweit es Xander anging – nicht einmal ein Paar waren, würde
sie ihm treu bleiben und auf ihn warten. Er konnte ja nicht vergessen haben, dass sie
sich verabredet hatten. Oder war das nur einer seiner Scherze gewesen? Mit
fortschreitender Zeit wurde Willow immer unruhiger. Schlimmer konnte der Abend
wohl kaum noch werden – offensichtlich kam Xander nicht. Das war so typisch. Sie
spielte gerade mit dem Gedanken zu gehen, als ihr Herz ihr zu einer letzten Frist riet:
eine letzte Viertelstunde für ihn.
Stattdessen stürmte im wahrsten Sinne des Wortes eine Gruppe von Wesen den
Club, die Willow nur schwer als >menschlich< bezeichnen konnte und wollte. Grausam verzerrte Gesichter, mit einer Ausstrahlung, die Willow auf eine Art als >böse<
empfand, die sie nicht in Worte zu fassen vermochte. Es ging so unglaublich schnell:
einige von ihnen platzierten sich strategisch und sehr gekonnt an allen Ausgängen,
bevor die Gäste auch nur ihre Anwesenheit registrierten. Der Anführer – ein
stämmiger Mann mit dunkler Stimme, von Kopf bis Fuß in schwarz und eine
Goldkette um den Hals tragend – bezog auf der Bühne Stellung und brachte vor den
Augen der schockierten Besucher den Türsteher um, indem er dem Mann das Blut
aussaugte.
Willow hatte immer Wert auf ihren Verstand gelegt, ihr rationales Denken. Für
Übernatürliches – für Vampire – war in ihrem bisherigen Weltbild recht wenig Platz.
Sie hätte es nie geglaubt, wäre nicht alles vor ihren Augen abgelaufen, wie ein Horrorfilm, der sich in die Realität verirrt hatte.
Die Masse der Gäste verwandelte sich in eine Herde wehrloser Schafe, sie verharrten dort, wo sie standen, wurden einer nach dem Anderen nach oben gebracht
und getötet. Die Wenigsten zeigten auch nur eine Reaktion, keine Gegenwehr, nicht
einmal Angst. Zu tief saß der Schock über eine Situation, die so unvorstellbar und
fremdartig war, dass nichts in ihrem Leben sie je darauf vorbereitet hätte. Hilflosigkeit
breitete sich geradezu körperlich spürbar aus. Gleichzeitig manifestierte sich in der
Luft eine unnatürliche Spannung, dem undefinierbaren Gefühl vor einem Gewitter
ähnlich, die Gewissheit, dass etwas sehr Großes, Ungeheuerliches, bevorstand.
Viele weinten, schluchzten hörbar. Einige standen nur mit versteinerter Miene da und
warteten auf ihr Ende.
Auch Willow war nicht fähig, etwas zu unternehmen. Sie hockte nur in einer Sitzecke, in einem Bereich, der fast in der Dunkelheit verschwand, und klammerte sich
an die Hoffnung, man möge sie einfach übersehen. Sie hatte sich hierher
zurückgezogen, um einerseits den Ärger über Xander in Ruhe zu bekämpfen und
andererseits, weil die Ecke einen guten Blick auf die Tür erlaubte. Nun konnte ihr
dieser Zufall womöglich das Leben retten.
Plötzlich, niemand hatte gezählt nach wie vielen Toten, war der Siedepunkt erreicht. Der große Vampir schleuderte sein letztes Opfer in einem spontanen Energieausbruch durch den halben Saal. Er stieß einen Schrei aus, der jeden, der ihn
vernahm, bis ins Mark traf – Menschen wie Untote, wenn auch aus verschiedenen
Gründen.
„Und wie die schlimmste aller Pestilenzen überzog die menschliche Rasse die
Erde“, dröhnte seine Stimme in jeden Winkel des Saals. Wie ein Priester auf seiner
Kanzel breitete der Vampir die Arme aus. „Aber die Ernte wird reif sein, am dritten
Tag des jüngsten Lichts, und der Menschen Blut wird fliessen wie Wein, wenn der
Meister selbst wieder unter ihnen wandelt.“ Und mit den letzten Worten, die Jesus
von Nazareth nach dem neuen Testament vor seinem Tod sagte, beendete der Vampir seine Predigt: „Es ist vollbracht.“
Sekunden später brach die Hölle los. Für die Vampire schien es kein Halten mehr
zu geben, sie stürzten sich auf die verbliebenen Menschen und fielen über sie her,
erbarmungslos. Ein absolut unübersichtliches Chaos entstand, in dem Willow einem
unwillentlichen Überlebensinstinkt folgend einfach nur floh, panisch, der Hysterie
nah. Vorbei an Kämpfenden, Sterbenden; Vampiren, die Menschen auf eine
eigenartig friedliche Weise im Arm hielten. Sie drehte immer wieder den Kopf in
verschiedene Richtungen, um sich abzusichern ebenso, wie um das schlimmste
Grauen nicht mit ansehen zu müssen, stolperte und lief doch weiter.
„Komm hier her!“, sagte plötzlich eine weibliche Stimme direkt neben ihrem rechten Ohr und Willow erstarrte, als sei sie gegen eine Wand gelaufen. Ohne zu begreifen, was geschah, wurde sie am Arm gepackt, in die Dunkelheit hinter einem Regal gezogen und gegen eine Wand gedrückt.
„Sei still!“ Eine Hand legte sich auf ihren Mund. Willow blickte erleichtert in ein
normales menschliches Gesicht, eine junge Frau mit schulterlangen blonden Haaren
– etwas kürzer als Willows eigene – in einem schwarzen Kostüm mit einem weißen
Hemd darunter. Nun, wo die Anspannung und der Schock langsam nachließen,
konnte Willow nicht mehr verhindern, dass Tränen aus ihren Augen rannen. Sie begann leicht zu zittern und schämte sich dafür. Die Blonde blieb vollkommen ruhig,
beinahe gelassen. Sie zog die Hand zurück und sah vorsichtig um die Ecke, in den
Saal, aus dem noch vereinzelt Kampfgeräusche drangen.
„Vorerst wird dir nichts passieren“, flüsterte sie zu Willow gewandt. „Die werden
dich nicht kriegen.“ Sie klang sehr sicher.
Die High-School-Schülerin gab der Schwäche ihrer Knie nach, hockte sich auf den
Boden und zog noch immer zitternd die Knie an.
„Du heißt Willow, richtig?“, fragte die Blonde und ging ebenfalls in die Hocke, um
ihre Gesichter auf eine Höhe zu bringen. „Gibst du so einfach auf, Willow?“
„Vie ... vielleicht entdecken sie uns nicht ...?“, stotterte die rothaarige Schülerin.
Die Blonde lächelte – sie lächelte wirklich, in dieser Situation – und murmelte etwas,
das wie ein spöttisches „Denkst du, du kannst entkommen?“ klang. Sie erhob sich
wieder, sah erneut um die Ecke. Kannte Willow sie? Das Gesicht war ihr unbekannt,
womöglich eine Schülerin aus einer höheren Klasse. Aber woher hätte die dann ihren
Namen wissen sollen?
Die Fremde streckte ihre Hand zu Willow aus. „Sieh es dir an!“
Die Schülerin war kaum noch fähig, einen klaren Gedanken zu fassen und
befolgte den Befehl praktisch automatisch. Im Grunde war sie halb froh, dass ihr
jemand Anweisungen gab. Sie kam schwankend auf die Beine, die Blonde half ihr.
„Wie ... wer bist du eigentlich?“ Willows Stimme klang matt und kraftlos.
„Darla.“ Als würde ein Wort alles sagen lächelte sie auf eine hintergründige Weise,
die Willow Angst gemacht hätte, wenn sie noch mehr Furcht hätte empfinden können.
„Komm!“
Es konnte nicht viel Zeit vergangen sein. Obwohl Willow jedes Zeitgefühl verloren
hatte, war sie sich dessen relativ sicher. Trotzdem war der Saal nun fast leer. Einige
Vampire standen noch in dem Trümmerfeld, ihr großer Anführer war verschwunden.
Der Anblick der Leichen ließ Willow zurückschrecken, obwohl die meisten wohl au-
ßerhalb ihres Sichtbereichs auf dem Boden lagen. Sie stieß gegen Darla, die ihr von
hinten die Hände auf die Schultern legte.
„Er hat es wirklich geschafft“, sagte Darla ehrfürchtig. „Weißt du, wie lange ich auf
diesen Tag gewartet habe, Willow? Viel länger als du auch nur am Leben bist!“ Sie
zog sanft aber bestimmt an Willows Schultern und zwang sie sich umzudrehen. Darlas Lächeln wurde triumphal. Spätestens jetzt wurde Willow trotz ihrer Verwirrung
klar, dass sie in eine Falle in der Falle gelaufen war. Die Vampire waren offenbar
zum Jagen her gekommen – Darla zu mehr. Willows spontaner Gedanke war die
Frage, wie krank ein Gehirn sein musste, um selbst hier und jetzt noch Spielchen zu
spielen. Hoffnungen zu wecken, um sie anschließend zu zerschlagen, zusätzliches
Leid zu erzeugen, um sich länger an Angst und Qual weiden zu können.
Sie blickte die Blonde erschüttert an, die ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Saal
zu konzentrieren schien. Langsam und – wie sie hoffte – lautlos schob sich Willow
zur Seite, weg von der Nische, Zentimeter um Zentimeter, und betete, Darla möge es
nicht bemerken. Ihre Hoffnungen wurden nicht erfüllt.
„Willst du schon gehen?“ Es klang gleichermaßen überlegen wie gespielt bedauernd. Und Willow rannte los.
Sie schaffte es kaum zwei Meter weit, da hatte Darla sie auch schon erreicht und
am Arm erwischt. Willow wurde gegen die Wand geschleudert, etwas bohrte sich
schmerzhaft in ihren Rücken. Darla war unglaublich schnell, mit einer katzenhaften
Gewandtheit. Den Legenden nach, schoss Willow zu ihrer Überraschung durch den
Kopf, sollten Vampire vielfach stärker als normale Menschen sein. Darla bewies nun,
dass jedes Wort den Tatsachen entsprach.
Sie stand nur wenige Zentimeter vor ihr, aber die erdrückende Präsenz ihrer eigentlich zierlichen Erscheinung machte Willow vollkommen schutzlos. Schlagartig
verzerrte sich Darlas schönes Gesicht in die Vampirfratze, die schon die anderen
getragen hatten.
Es war der Moment, die Sekunde, in der Willow beschloss den Kampf aufzunehmen. Sie würde nicht aufgeben, nicht solange sie unverletzt und am Leben blieb. Es
gab einen Ausweg – musste einfach einen geben. Aber zuerst: Zeit gewinnen. Irgendwie, und wenn sie nun ein paar Minuten herausschinden konnte.
Nur wie?
„Ich ...“, stotterte sie. „Ich tue alles, was du willst, wirklich, aber ...“ Das stammte
aus einem Film, einem ziemlich billigen Actionstreifen, den Xander angeschleppt
hatte und den sie vor kurzem gemeinsam gesehen hatten. Etwas Besseres fiel
Willow nicht ein – und es war ein Film mit Happy End gewesen! Immerhin zögerte
Darla. „Wirklich.“
Willow sah zu Boden, um nicht in Darlas Augen sehen zu müssen, nicht in das
furchtbare Gesicht, aber auch, damit Darla ihrerseits nicht erkannte, wie es hinter
ihrer Stirn arbeitete.
Ein Geräusch, vielleicht ein Lachen.
„Ja, das wirst du.“
Willow erstarrte. Die Hand, die über ihren Kopf, ihre Haare, strich, war nicht
anders, als die jedes normalen Menschen. Die Hand streichelte langsam einmal,
zweimal, nicht wie eine Trost spendende oder zärtliche Geste, eher, wie bei einem
Haustier. Sie keuchte, weniger vor Schmerz denn vor Schreck, als Darla sie an den
Haaren packte und nach vorn zog.
„Komm mit!“, befahl sie völlig überflüssigerweise.
Geschafft! Eine Verzögerung, auch wenn es Willow schwer fiel, daraus
Triumphgefühle abzuleiten. Dem Entkommen war sie kaum näher.
Als positiv konnte sie immerhin werten, dass sich offenbar keine anderen Vampire
mehr im >Bronze< aufhielten. Hier gab es nur noch sie, Leichen und eine lebende
Tote. Weite Teile des Nachtclubs lagen in Dunkelheit, zahlreiche Lampen mussten
im Chaos zu Bruch gegangen sein. Vermutlich war es sogar besser, nicht genau zu
wissen, was sich dort alles verbarg. Wie viele Opfer hatte es heute gegeben – und
wie viele hatte Willow gekannt?
Kaum fünf Meter entfernt leuchtete verführerisch die Lampe eines Notausgangs,
eine Ewigkeit von ihr. Willow konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten und dieses
Mal schämte sie sich nicht mehr dafür. Die dunkle Welt verschwamm hinter dem
Tränenschleier zu undeutlichen Schemen, sie stolperte, schlug schmerzhaft mit dem
Knie gegen etwas Hartes, Darla kannte kein Erbarmen.
„Setz dich“, sagte sie schließlich und stieß ihre Gefangene lässig von sich. Willow
fiel mit voller Wucht auf die Couch einer Sitzecke, immerhin nicht allzu hart. Das riss
sie aus dem Dämmerzustand, in dem sie in den letzten Minuten mechanisch der
Vampirin gefolgt war. Unter dem Tisch hindurch verfolgte sie aus ihrer liegenden
Position, dass Darla den Tisch außen umrundete und auf der anderen Seite der
Couch Platz nahm, neben Willows Kopf.
Willow wusste, was von ihr erwartet wurde, und es schien ihr besser, mitzuspielen,
und auf eine günstige Gelegenheit zu warten. Mühsam und ungelenk richtete sie sich
auf, die kraftlosen Arme hielten kaum ihr Gewicht. Die Nachwirkungen des Schocks,
den sie erlitten hatte, liessen ihr noch immer wenig Energie.
Etwas Feuchtes war an ihrer Hand, an der linken, Darla zugewandten!
Automatisch vergewisserte sich Willow, was da an ihrer Handfläche klebte, in der
Hoffnung, es sei nur Bier oder ein anderes verschüttetes Getränk. Die Farbe sprach
eindeutig dagegen.
Es war, als liesse der Anblick des Blutes in ihrem Kopf eine Sicherung
durchbrennen, sie wollte es loswerden, ein Taschentuch, das Tischtuch, ihre
Kleidung, irgendwas! Darla war schneller, dem Griff um ihr Handgelenk konnte
Willow nichts mehr entgegensetzen. Die Vampirin lächelte wieder, brachte ihren Kopf
nah an Willows zur Faust geballte Hand. Ein kräftiges Zudrücken überzeugte Willow
wortlos, die Handfläche wieder zu öffnen. Aus Darlas Lächeln wurde eine Miene des
Abscheus.
„Bier“, stieß sie hervor. „Und Ecstasy. Ekelhaft, was manche Menschen
heutzutage im Blut haben.“ Sie sah zu Willow auf, das Lächeln kehrte zurück. „Aber
du bist da anders, nicht wahr? Rein, unschuldig, unverdorben. Das ist leider so selten
geworden. Es wäre wirklich eine Schande gewesen, es so schnell zu tun.“ Sie malte
mit dem Zeigefinger Linien auf Willows Handrücken. „Eine Schande.“
Den Schmerz nahm Willow kaum noch wahr, als sich Darlas Fingernagel in ihre
Haut bohrte, sie bemerkte die Wunde am Handrücken hauptsächlich durch das Blut,
dass sie für eine Sekunde sah, bevor Darlas Lippen sich darauf pressten. Willow
wandte sich angewidert ab, versuchte ihren Brechreiz zu unterdrücken.
Sie musste weg. Jetzt! Die letzte Chance – mit rechts tastete sie hinter sich.
Polster, Holz ... nichts, womit man zuschlagen oder stechen konnte. Dafür stand aber
noch etwas auf dem Tisch: ein umgestürztes Glas in einer feucht schimmernden
Lache, daneben – eine Flasche! Kaum eine Armlänge trennte Willow von der
einzigen Waffe, die sie noch in die Hände bekommen konnte.
„Über was möchtest du reden, Willow?“
„R ... reden?“
„Du willst doch nicht, dass ich mich langweile, oder?“
Sich in dieser Situation ein Thema einfallen zu lassen überforderte Willow, in
ihrem Kopf war nur noch ein Durcheinander, in dem jeder Gedanke verschwand,
sobald sie versuchte, ihn zu fassen.
„Mein Name ist Willow Rosenberg, meine Eltern sind Ira und Sheila Rosenberg.
Wir wohnen in Sunnydale …“ Es sprudelte automatisch und sinnlos aus ihr heraus.
„Keine Phantasie?“ Darla legte ihr Kinn an Willows Schulter. „Soviel Angst?“ Sie
nahm lachend noch einen Zug aus Willows Hand.
Jetzt! Jetzt oder nie! Sie investierte alle Kraft, die letzten Reserven, in dieses
Aufbäumen der Verzweiflung. Zu langsam. Willow sah den Schlag nicht kommen,
spürte die Ohrfeige dafür umso mehr im Gesicht. Als sie wieder aufblickte, mit
schmerzender Wange, hatte Darla die Flasche schon am Hals ergriffen.
„Das hättest du lieber lassen sollen“, sagte sie genauso freundlich wie bisher. Das
laute Splittern, als der Flaschenbauch gegen die Tischkante prallte, ging Willow
durch Mark und Bein. Sie schloss instinktiv die Augen. „Du würdest ja auch nicht
wollen, dass ich so was mit dir mache, richtig?“ Nach einer halben Minute etwas
ungeduldig: „Nun sieh schon hin!“
Der Rest der halben Flasche schwebte wenige Zentimeter vor Willows Gesicht,
füllte ihren Sichtbereich fast vollständig aus. Ein unregelmäßiger Kreis aus
bedrohlichen Zacken zeigte in ihre Richtung, ein Rest des Inhalts tropfte langsam
und gleichförmig zu Boden.
„Richtig?“ Die Flasche bewegte sich milimeterweise vorwärts, bis die längste
Spitze Willows Wange erreichte. Darla handelte aus einer Position grenzenloser
Überlegenheit heraus, mit einer Souveränität, der Willow nur mit Hilflosigkeit
begegnen konnte. Ihre Furcht lähmte sie, griff wie eine kalte Hand nach ihrem
Herzen und schnürte ihr die Kehle zu.
„Nein!“
„Na siehst du?“ Es klang zufrieden. Darla liess die Flasche sinken, ob absichtlich
oder aus Versehen, sie zog dabei einen hässlichen Schnitt quer über Willows
Wange. Die Flasche verschwand sich um sich selbst drehend im Dunkel, wenige
Sekunden später verkündete ein lautes Klirren ihre Landung.
Von einer Sekunde zu anderen brach die Absurdität der ganzen Situation über
Willow herein. Ein Alptraum, es konnte nur ein Traum sein. Sie lag zuhause in ihrem
Bett, schlief, würde morgen aufwachen und darüber lachen, einfach lachen ... Nach
einer halben Minute ging Willows irres Gelächter in einen Weinanfall über, aus dem
sie erst ein weiterer Schlag ins Gesicht weckte.
„Lass das!“, lautete Darlas Befehl. „Hysterie passt nicht zu dir.“
„Warum ich?“, hauchte Willow leise.
„Was?“
„Du kanntest meinen Namen. Vorher schon ...“
Darla drückte ihre Lippen auf Willows Wange und zog etwas Blut heraus.
„Vielleicht bist du ein Geschenk, von mir an mich. Etwas Besonderes an einem
besonderen Tag.“ Zu mehr schien Darla nicht bereit, denn sie wechselte schlagartig
das Thema. „Du versteckst dich hinter diesem Kleines-Mädchen-Look. Hat das deine
Mutter für dich ausgesucht?“ Es klang verächtlich. Ein prüfender Blick aus sehr alten
und erfahrenen Augen. „Oh nein, es war wirklich deine Mutter, oder? Willow, die
kleine reine Unschuld ...“
Sie konnte nicht fliehen, hatte keine Waffe. Nur eine Rettung von außen wäre
noch möglich gewesen, aber das war nur noch eine verzweifelte Selbsttäuschung.
Willow hatte verloren, sie akzeptierte es jetzt.
Irgendwann ließ Darla von der Wange ab, zerriss Willows Ärmel und biss in ihren
Arm. Der Blutverlust nahm ihr die letzten Widerstandskräfte. Die Vampirin schien in
einen regelrechten Rausch zu verfallen, biss nochmals zu, noch einmal. Willow
wurde schwarz vor Augen, alles drehte sich, sie kippte zur Seite, musste kurz das
Bewusstsein verloren haben. Beim Wiedererwachen lag sie in Darlas Armen. Wie ein
Kind.
„Vielleicht sollte ich dich ja behalten? So etwas Perfektes findet man nur noch
selten.“ Eine kurze Denkpause. Sie strich Willow die Haare von der Schulter und
legte den Hals frei. „Ich kannte mal jemanden, der hätte dich sehr gemocht. Für
Mädchen wie dich besaß er eine besondere Schwäche.“ Ein sentimentaler Vampir?
Willow sagte nichts mehr, sie wollte nur noch, dass es endlich vorbei war, Darla sie
gehen liess, auf die eine oder andere Weise. „Ich lebe schon viel länger, als du dir
vorstellen kannst. Länger als diese Stadt existiert oder dieses Land. Ich erkenne
Potenzial, wenn ich es sehe. Du hast mehr, als man vermuten würde.“
Darla biss zu, ihre Zähne gruben sich in Willows Hals, bis das Blut auszutreten
begann. Die Schülerin keuchte und rang nach Luft, Tränen hatte sie keine mehr. Sie
konnte spüren, wie das Leben langsam aus ihr gesaugt wurde, wie ihre Körperteile
taub wurden, die Beine zuerst. Es wurde kalt, die Geräusche, die von der Straße
draußen kamen wurden leiser und leiser. Die Welt vor Willows Augen versank in
absoluter Schwärze. Sie war allein mit dem langsam verebbenden Rauschen ihres
Blutes in den Ohren. Die Abstände zwischen den Herzschlägen wurden größer und
ein nie gekanntes Gefühl des Friedens breitete sich in ihr aus. Willow gab auf.
Sie wollte nicht sterben, nach nur 16 Jahren, aber es war nicht länger ihre
Entscheidung. Sie dachte an ihre Eltern, an Xander, an die Dinge, die sie nun nie
würde machen können. Mit einem letzten klaren Gedanken wunderte sich ihr
zunehmend verwirrter Geist über den bizarren Humor des Schicksals, das sie in den
Armen ihrer Mörderin sterben ließ. Nur ganz am Rande registrierte sie, dass Darla
den Kopf zurücklegte und sich selbst in die Pulsader der linken Hand biss. Willow
fühlte, wie sich Darlas Handgelenk gegen ihren Mund drückte, Blut ergoss sich auf
ihre Lippen und auf die Zunge.
„Trink!“, forderte sie. Der Geschmack war unbeschreiblich, völlig anders als
Menschenblut, welches Willow zugegebenermaßen auch nur von einer eigenen
Fingerschnittwunde kannte. Sie schluckte automatisch und das Blut lief ihre Kehle
herab, durch die Speiseröhre in den Magen. Von dort aus breitete sich eine
überwältigende warme Empfindung in ihr aus. Ähnlich dem Saugreflex eines
Neugeborenen sog sie Darlas Blut in sich auf, mehr und mehr.
Schließlich zog Darla den Arm zurück: „Das reicht, ich brauche ja auch noch was.“
„Ich sterbe?“ Eine gehauchte leise Feststellung aus blassen Lippen. Darla strich
ihr eine Strähne aus dem Gesicht.
„Du schläfst.“
Und Willow Rosenberg starb.
Nördlich von Prag, Tschechien: Totentanz
Der kalte Ostwind jagte riesige Wolkengebirge über den Himmel, den das fahle
Vollmondlicht in düsteres Halbdunkel tauchte. Spike hörte ihn in den Bäumen heulen,
die sich unter der anstürmenden Gewalt schüttelten und bogen.
Er konnte es spüren.
Irgendetwas war anders geworden, heute Nacht, und auf seltsame Weise auch
sehr vertraut. Er sah Drusilla durch das Gras springen, in einem seltsamen Tanz
gefangen. Was er nur schwach in seinem Hinterkopf fühlte, ließ sie geradezu
explodieren. Es war eine Freude, sie zu beobachten, so voller Energie und Tatkraft.
Erst vor kurzem hatten sie es mit Müh und Not aus Prag heraus geschafft,
nachdem eine wilde Horde von Möchtegernvampirjägern ihnen an die Gurgel gehen
wollte. Sie hatten Drusilla gefangen, gefoltert. Um Spikes Mundwinkel zuckte ein
wütendes Grinsen. Sie hatten für ihren Fehler bezahlt.
Ein Blitz spaltete blendend hell den Horizont, badete kurz die Wiese am
Straßenrand in ein gelbes schmerzhaftes Licht.
„Dru!“, rief er, doch sie hörte ihn nicht. Die Vampirin wiegte sich wie eine
Todesfee, die Arme so in der Luft kreisend, dass sie Spike an Sensen erinnerten.
Regenbäche brachen unvermittelt über sie herein, von einer Sekunde zur
nächsten verschlang eine himmlische Sturmflut die ganze ländliche Umgebung.
Spike zog sich weiter ins Auto zurück und widerstand der Versuchung, seine
Geliebte gewaltsam ins Trockene zu ziehen. In den vielen Jahrzehnten mit ihr hatte
er gelernt, dass im Zweifelsfalle immer seine Dru ihren Kopf durchsetzte.
Die nasse weiße Gestalt tanzte gespenstisch in Schlangenlinien auf ihn zu, Spike
genoss das herrliche Bohren dieser Augen, in denen die Leidenschaft und der
Wahnsinn sich untrennbar mischten – die Dinge an ihr, die er so sehr liebte.
Sie warf sich vor ihm herum, ihre nassen dunklen Haare stoben nach allen Seiten
und überzogen das Auto mit einem Tropfenbombardement, das im allgemeinen
Wolkenbruch unterging. Durch die offenen Türen regnete es auch auf die Sitze, doch
Spike kümmerte sich nicht darum. Es war nicht sein Wagen. Eine komische alte Kiste
aus sozialistischer Produktion, die sie einem Pechvogel in einem kleinen Dorf
abgenommen hatten, dessen Namen Spike nicht aussprechen konnte. Es war
wirklich an der Zeit, die Zelte in Europa mal wieder abzubrechen und es woanders zu
versuchen. In der Neuen Welt vielleicht?
Ein Geräusch lenkte ihn ab, er brauchte eine Sekunde, um zu erkennen, dass
Drusilla leise vor sich hin sang, eine wirre Melodie mit unverständlichen Worten. Er
konnte den Blick nicht von ihr wenden, von dem Kleid, das an ihr klebte, und ihre
Körperformen bloßlegte, als würde sie gar nichts tragen. Was Spike auch nicht
überrascht hätte.
Wenn in seiner Brust noch ein Herz geschlagen hätte, hätte er bei diesem Anblick
sein Blut in den Ohren rauschen hören müssen. In der guten alten Zeit des
viktorianischen England hätte ein gewisser William das vermutlich „unanständig“
genannt und wäre verschämt zu seiner Mutter geeilt.
Drusillas Augen lauteten hell und strahlend und katzenhaft, ohne dass er
entscheiden konnte, ob es der reine Irrsinn war oder nur das reflektierte Mondlicht.
„Er ist daha“, verstand Spike Stirn runzelnd. „Wieder wieder daha …“ Sie leckte
über ihre Lippen und schoss plötzlich auf ihn zu. Ehe Spike reagieren konnte,
bohrten sich ihre langen Fingernägel in seine Schultern, war ihr Gesicht direkt vor
seinem. Ihre vor Feuchtigkeit triefenden Haare ergossen sich wie schwarzes Wasser
über Drusillas Schultern, klebten wirr am Kopf und an den Schultern, von überall her
tropfte Wasser auf ihn.
„Wer ist wieder da, Schatz?“, fragte Spike lässig und drückte seine Zigarette im
Aschenbecher aus. Sie musterte ihn wie ein schüchternes kleines Mädchen, das ihr
Geheimnis nicht verraten will. Er strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Wer?“
Ihre Lippen formten ein wildes Lächeln, während die Augen sich durch ihn
hindurch in unendliche Fernen richteten. Sie sagte nur ein Wort, doch es ließ Spike
schlucken: „Urgroßvater.“
Für einen Augenblick war Spike wie gelähmt, während um ihn herum das Gewitter
wütete. Dann verdrehte er die Augen und seufzte.
„Sag nicht, der alte Sack ist wieder auferstanden.“
Sie betrachtete ihn tadelnd und wedelte mit dem Zeigefinger vor seinen Augen
durch die Luft. „Ksch“, fauchte sie. „Mami mag es gar nicht, wenn ihr Spike solche
bösen Dinge sagt …“
2
Xander Harris
„Das ist nicht wahr!
Ich wünsch` uns ins wilde Chaotistan
und ihr könnt auch hier nicht voneinander lassen?“
CORDELA CHASE
(bei der Begegnung mit den Vampirversionen von Xander und Willow)
Sunnydale, 1987: gemeinsam ins Unbekannte
Ein warmer Regen hämmerte vom grauen Firmament auf das Wagendach
herunter. Willow wollte nicht aussteigen, nicht in den Regen. Sie wollte nicht in das
große beängstigende Gebäude, dessen Wände nass funkelten. >Elementary
School<, las sie auf dem bunten Schild und ahnte nicht, dass sie damit
Lesefähigkeiten bewies, die schon über einige ihrer neuen Klassenkameraden
hinausgingen.
„Steig aus“, befahl Sheila Rosenberg sanft aber streng. Das Bild der Schule
zerfloss hinter dem Wasserfall auf der Autoscheibe.
„Mami“, bettelte Willow leise.
„Du bist kein kleines Kind mehr“, stellte Sheila bestimmt fest. „Du gehst jetzt los.
Ohne mich.“ Das sechsjährige Mädchen tastete schüchtern nach der Autotür.
„Vergiss deinen Ranzen nicht.“
Draußen eilte eine Frau mit Regenschirm vorbei, die ein nur verschwommen
erkennbares Kind hinter sich her zog. Sheila beobachtete es mit einem
missbilligenden Blick.
„Junge Dame, deine erste Stunde fängt gleich an. Du wirst nicht zu spät kommen.“
Schicksalsergeben öffnete Willow die Tür und sondierte vorsichtig mit ihren kurzen
Beinen hinaus. Sie rutscht vom Sitz und landete platschend in einer Pfütze. Wasser
drang unangenehm feucht durch ihre Schuhe in die Socken. Sie hatte Angst, wollte
da nicht hin.
„Es wird dir gefallen“, sagte Sheila und griff an ihrer Tochter vorbei, um die Autotür
wieder zu schließen. „Jetzt beeil dich aber, sonst holst du dir noch eine Erkältung.“
Willow klappte die Kapuze ihres quietschgelben Anoraks hoch und brach in
Richtung Schultor auf. Der vorantreibende Wunsch, aus dem Regen zu kommen,
und der hemmende Wunsch, nicht in diese neue ungewohnte Umgebung gestoßen
zu werden, hoben sich zu einem gemächlichen Heranschleichen auf. Die Glastür war
fast doppelt so groß wie sie, schwang aber erstaunlich leicht nach innen auf. Es war
warm und trocken, ein bunter Korridor mit lustigen Bildern und Papiermännchen an
den Wänden. Sie fühlte sich wie eine Entdeckerin in einem unbekannten Land, in
dem jede Menge unbekannte Gefahren lauerten. Leider war Willow nicht gerade ein
Entdeckertyp. Ihre nassen Schuhe quietschten auf dem Bodenbelag, die halbe
Schule konnte sie hören. Mit jedem Schritt wurde der riesige Ranzen noch schwerer
und ihr Herz sank noch weiter. Bestimmt würde sie ausrutschen und auf den Rücken
fallen und dann wie eine hilflose Schildkröte liegen bleiben. Langsam wurden ihre
Augen feucht.
„Hey!“
Sie fuhr erschrocken zusammen und fiel beinahe wirklich um. Aus dem offenen
Klassenraum, an dem sie gerade achtlos vorbei geschlichen war, schoss ein Junge
ihres Alters, ein wenig größer als sie.
„Wo willst du denn hin?“
Willows Herz machte einen kleinen Sprung, die Erleichterung, nicht mehr allein
dem Unbekannten entgegen treten zu müssen, ließ sie lächeln. Plötzlich spürte sie
selbst das Zerren ihres Ranzens nicht mehr.
„Xander.“
Eine junge schwarzhaarige Frau in einem lila Kleid trat hinter Xander aus dem
Raum.
„Das ist meine Freundin Willow“, erklärte Xander lispelnd und selbstbewusst, die
Frau lächelte einladend.
„Wir haben schon auf dich gewartet.“
Willow sah sie zögernd aus großen Kinderaugen an. Ohne ein Wort nahm Xander
ihre Hand und zog das Mädchen in den Klassenraum. Willow hatte keine Angst
mehr.
Sunnydale, 1997: ewige Liebe
Als am nächsten Tag die Sonne über Sunnydale aufging, bot sich den ersten
besorgten Eltern, die ins >Bronze< eilten, ein grauenvoller Anblick. Kurz darauf
sperrte die Polizei das Gebiet großflächig ab. Direktor Bob Flutie schickte die Schüler
der High School wieder nach Hause, soweit sie überhaupt erschienen waren.
Gegen Mittag besuchte Bürgermeister Richard Wilkins III persönlich den Ort des
Geschehens und versprach in die Fernsehkameras, die vor dem Absperrband der
Polizei standen, dass die Stadtverwaltung alles in ihrer Macht stehende tun würde,
um die Umstände der Tragödie zu klären, die zum Tod oder zum Verschwinden von
so vielen unschuldigen jungen Menschen geführt hatte. Noch auf dem Rückweg ins
Rathaus gab er in einer geheimen Dienstanweisung den Befehl an die örtliche
Polizei, dass die Bundesbehörden aus dem Fall heraus zu halten und Anfragen von
auswärtigen Medien nicht zu beantworten seien.
Vor dem Krankenhaus spielten sich gleichzeitig entsetzliche Szenen ab,
Verwandte mussten die Toten identifizieren oder verlangten Aufklärung über das
Schicksal derer, die noch vermisst wurden. Am späten Nachmittag verkündete der
Bürgermeister eine Ausgangssperre über das gesamte Stadtgebiet.
Die Nacht senkte sich über eine ausgestorben wirkende Stadt …
Das Erwachen glich dem Eintauchen in eine vollkommen neue Welt. Willow
erinnerte sich an alles, sie wusste, wer sie war – gewesen war. Alles erschien ihr in
einem völlig neuen Licht. Altes verlor an Bedeutung. Sie begriff sehr schnell, was sie
nun war. Was sie von nun an bleiben würde, bis in alle Ewigkeit.
Sie öffnete die Augen und fand sich in einer Katakombe wieder, erhellt vom
unwirklichen Schein brennender Flammen, gefüllt mit Trümmern und Teilen einer
Kirchenruine. Vermutlich Relikte des großen Erdbebens von 1937. Zahlreiche
Vampire hatten sich hier versammelt, alle in einer feierlichen ausgelassenen
Stimmung, und lauschten der Rede eines augenscheinlich uralten Vampirs, der auf
einem Thron saß. Ohne dass es ihr jemand sagen musste, erkannte Willow, das dies
der Anführer war (der „Meister“ wie sie später erfuhr), der Mann, dem auch sie von
nun an folgen würde.
Er überragte alle anderen mit seiner Ausstrahlung von absoluter und
selbstverständlicher Macht und Überlegenheit: ein haarloser Kopf mit einem ewigen
Vampirgesicht, dem alles Menschliche fehlte; seine würdige Erscheinung wurde von
einer schwarzen uniformartig-streng geschnittenen Lederjacke unterstrichen, die auf
Hüfthöhe ein Gürtel zusammen hielt. Beim Sprechen erfassten seine einschüchternd
roten Augen jede Regung des Publikums, Gesten seiner Hände mit den
krallenartigen langen Fingernägeln bekräftigten die Aussagen. Er war es gewohnt zu
führen und zu herrschen, das war seine Natur.
Willow richtete sich auf. Eine Welle von neuen verwirrenden Eindrücken
überwältigte sie kurzzeitig. Farben, die sie noch nie gesehen, Geräusche, die sie
noch nie gehört hatte. Sie war kein Mensch mehr. Sie war so viel mehr.
„Willkommen.“ Darla trug – wie alle anwesenden Vampire – ihr >zweites< Gesicht.
Sie kam lächelnd auf Willow zu. „Ich bin sicher, du bist hungrig.“ Die blonde Frau
nahm Willow an der Hand und führte sie durch die Menge, zu einem Teil der Höhle,
in der sich gefangene Menschen drängten. „Wen willst du?“
Bevor sie antworten konnte spürte die ehemalige Schülerin mit ihren neuen
vielfach verstärkten Instinkten, dass sie nicht mehr allein waren. Sie drehte sich um.
„Meister“, sagte Darla sanft.
Welche Art von Ehrbezeugung wäre nun angebracht?, fragte sich Willow. Der
Meister schien keine zu erwarten.
„Wen bringst du mir denn da?“, fragte er an Darla gerichtet. Die blonde Vampierin
legte ihrem Geschöpf die Hand auf die Schulter. „Das ist Willow. Sie ist neu und noch
etwas verwirrt. Die Ruhe des Grabes wurde ihr vorenthalten. Sie muss sich stärken.“
Der Meister musterte seine neue Jüngerin forschend und machte dann eine
einladende Geste in Richtung der Gefangenen. Willows Blick blieb an einem
schlanken Jungen mit kurzen dunklen Haaren hängen. „Jesse.“
„Du kennst diesen jungen Mann?“, erkundigte sich der Meister.
„Wir waren … gute Freunde.“ Schlagartig übernahmen Instinkte und Triebe die
Kontrolle über Willow, die sie nie zuvor gekannt hatte. Ihr Gesicht verzerrte sich. Der
Schmerz der Gesichtsmuskulatur trieb den letzten Rest Menschlichkeit aus Willows
Geist. Ab jetzt war sie ein Raubtier, dem keine Beute zu entkommen vermochte.
„Jesse!“, rief sie und ging langsam auf ihn zu. Sie wusste, was zu tun war.
Der Meister und Darla beobachteten das Geschehen. Fast amüsiert meinte der
Meister: „Diese Jugend. Ich denke, ich werde sie mögen.“
Darla senkte ergeben den Kopf, im Gesicht ein triumphierendes Lächeln, das der
Geste der Unterwürfigkeit Hohn sprach. Erst später sollte Willow erfahren, dass
Darlas Kindern ein gewisses Misstrauen entgegengebracht wurde – aufgrund einiger
früherer >Probleme<.
Xander verfolgte angespannt die Nachrichten. Schon seit Stunden saß er nur vor
dem Fernseher, lenkte sich mit dem Programm ab und hoffte gleichzeitig, durch die
nächste Sondersendung Neuigkeiten zu erfahren.
Seine Eltern waren ausgerechnet jetzt nicht in der Stadt und er hatte sich auf die
sturmfreie Bude gefreut – und jetzt das. Jesse verschwunden, Willow verschwunden.
Xander starb fast vor Sorge und Verzweiflung, besonders, da er absolut nichts
unternehmen konnte. Die Ausgangssperre fesselte ihn ans Haus, es blieb nur
warten.
„Xander …“ Ein säuselnder Ruf, der ihn aufschrecken ließ. „Xander …“ Er schoss
hoch, eilte zur Haustür und riss sie ohne nachzudenken auf.
„Willow!“ Sie stand einfach seelenruhig da, immer noch in derselben Kleidung, in
der er sie zuletzt gesehen hatte und die wie immer ihre Mutter für sie ausgesucht
haben musste: eine blaue Latzhose und ein rot-weiß-kariertes Oberteil mit VAusschnitt. Die Klamotten sahen ramponiert aus, Willows Haar hing wirr von ihrem
Kopf, auf einer Schulter hatte sich ein seltsamer dunkler Fleck gebildet.
„Darf ich rein kommen?“, fragte sie mit einer seltsam tonlosen Stimme.
„Natürlich!“ Xander verstand nicht, was die Frage sollte. Er ging davon aus, dass
seine beste und älteste Freundin unter Schock stand. Damit erklärte er sich sowohl
ihr seltsames Verhalten als auch ihre totenblasse Haut. Verzweifelt versuchte sich
Xander daran zu erinnern, ob er etwas über erste Hilfe bei Schockzuständen wusste.
Das einzige, an das er sich erinnern konnte, war eine halbe Reality-Sendung auf
dem Regionalprogramm, bei der er eingeschlafen war.
Kaum war Willow über die Schwelle getreten, da schlug er auch schon die Tür zu,
verriegelte sie, fuhr herum und umklammerte Willow in einer festen Umarmung, noch
bevor sie ein Wort sagen konnte, drückte sie so stark wie er konnte. Willow lächelte.
„Wir kennen uns fast so lange, wie wir leben“, sagte sie leise. „Ich habe mich nie
getraut dir zu sagen, was ich von dir will. Heute ist das anders.“
Xander war überrascht, dass sich Willow unerwartet kräftig und fordernd an seine
Schulter drückte. Das hätte er noch unkommentiert hinnehmen können – dass sie
seinen Hals küsste ging ihm doch zu weit.
„Will …“
Er versuchte, sie sanft von sich zu drücken, ihre Körperkräfte, die sie
entgegensetzte, irritierten ihn.
„Am besten du setzt dich erstmal und ich bringe dir was zu trinken …“
Sie lachte in sein Ohr: „Du schaffst es immer, die richtigen Worte zu finden.“ Ihr
Gesicht verwandelte sich, ohne dass Xander es bemerkte, weil ihr Kopf noch auf
seiner Schulter lag und er nur ihren Hinterkopf sah. „Xander. Ich will, dass du mein
Erster bist. In jeder Beziehung.“
Er zog ein wenig verwirrt die Augenbrauen in die Höhe und blickte mit großen
Augen in die rote Haarmähne vor sich. „Ok, wir rufen jetzt deine Eltern an und …“
Xander war völlig unvorbereitet, als Willow seine Arme zur Seite stieß, sich mit
Leichtigkeit befreite und ihn durch den Schwung in seinen Fernsehsessel beförderte.
„Mein Gott …“, stieß er hervor und fixierte mit unverändert aufgerissenen Augen
das verzerrte Gesicht seiner Freundin. Er schüttelte den Kopf. „Das hier ist ne
Fernsehsendung stimmt’s? Oder hattest du zuviel von dem grünen Zeug in der
Schulkantine?“
„Immer einen blöden Spruch auf Lager, oder?“ Mit einem breiten Grinsen kam sie
provozierend langsam näher. Xander wusste nicht, was hier geschah, aber dass er
fehl am Platze war, das lag auf der Hand.
„Ich … muss weg.“ In einer erstaunlich schnellen Bewegung fegte er eine
Schüssel vom Tisch und eröffnete dadurch ein Erdnuss-Bombardement auf Willow.
Den Augenblick der Verwirrung nutzte er, um sich zur Seite zu werfen und in
Richtung Küchentür davon zu rasen.
„Oh ja“, hörte er hinter sich. „Lass uns spielen!“
Als Xander die Hintertür aufstieß, die von der Küche des Hauses über eine kleine
Treppe hinaus in den Garten führte, riskierte er einen kurzen Blick über die Schulter.
Willow stand gerade zwei Meter von ihm entfernt, lief aber mit demonstrativer
Gemächlichkeit und dem unverändert breiten Grinsen hinter ihm her. Er machte
einen Sprung nach vorne, verfehlte dabei aber eine Stufe und landete unsanft im
Gras.
„Soll ich dir einen Vorsprung lassen?“
Er sah hinauf zu Willow, die am Treppenabsatz stand und den Kopf schief gelegt
hatte.
„Wenn ich ja sage?“
Sie zuckte mit den Schultern, hob die Hände vor das Gesicht und begann, wie ein
kleines Mädchen zu zählen. „Eins … Zwei …“
Xander spurtete los, durch den kleinen Garten und hinaus zum Gartentor.
„Ich komme“, rief Willows Stimme hinter ihm.
„Das ist unfair“, erwiderte Xander unwillkürlich.
Die Stimme hinter ihm antwortete: „So ist es“.
Der Junge rannte so schnell er konnte die Straße entlang, zum Denken fehlte ihm
die Zeit. Fragen, was aus seiner Freundin geworden sein mochte, wie er in diese
durchgeknallte Situation hatte geraten können – die konnte er sich nur in
Sekundenbruchteilen stellen, während sein Atem immer stoßweiser ging. Er streckte
den Arm aus, bekam eine Laterne zu fassen und nutzte sie, um ohne abzubremsen
in eine Gasse umzubiegen. Er wäre beinahe über den Penner gestürzt, der mit einer
halbvollen Flasche in der Dunkelheit hockte und fast so erbärmlich stank wie die
Gasse selbst.
„Xander.“ Es klang etwas ungeduldig. „Ich will nicht mehr spielen.“ Der Stimme
nach konnte sie nicht weit entfernt sein.
„Laufen Sie weg!“, rief Xander dem Obdachlosen zu, doch der sah ihn nur aus
glasigen Augen an und stieß in einem lauten Rülpser einen Luftschwall aus, der
hätte töten können. Zum Glück hatte Willow das Atmen nicht mehr nötig.
„Was glotzt du?“, fuhr sie den Mann an, als sie in die Gasse bog. „Diese Stadt
kommt immer mehr runter.“ Sie hätte ihm ja den Kopf abreißen können, aber im
Augenblick hätte ihr das keinen Spaß gemacht. Außerdem war der Typ viel zu
dreckig.
„Komm raus, komm raus, wo immer du bist“, sang sie amüsiert. Es war eine
Sackgasse. Klassisches Harris-Pech. „Wir gehen jetzt nach hause. Wir könnten uns
ein Video ansehen.“ Sie durchforschte die Dunkelheit mit allen Sinnen. Es war so
leicht, ihn zu entdecken, hinter ein paar dreckigen Kissen. „Und ich zeige dir ein paar
Sachen, die du dir nicht vorstellen kannst. Du kannst freiwillig mitkommen. Oder ich
muss dir wehtun.“ Sie zog die Stirn in Falten. „Nein, das tue ich sowieso.“
Mit einer einzigen Bewegung fegte sie die Kisten zur Seite. Xander hob
abwehrend die Hände vor sich. „Wenn du ein Außerirdischer bist, dann kann ich dir
sagen, dass ich absolut nicht gut schmecke.“ Er verdrehte plötzlich die Arme zu
etwas, das nach einem schiefen Kreuz aussah. „Vampir?“
Sie verdrehte nur die Augen und gab ihm eine Kopfnuss, die Xander ins Land der
Träume beförderte. Noch im Fallen fing sie ihn auf und warf den Bewusstlosen mit
Leichtigkeit über die Schulter. Der Penner musterte das seltsame Bild des
Mädchens, das den größeren Jungen ohne sichtbare Anstrengung davon trug und
schüttete mit einem verständnislosen Gesichtsausdruck den Inhalt seiner Flasche auf
das Pflaster.
„Sollten wir uns noch mal wieder sehen“, rief Willow ihm zu. „Könntest du mich
dann daran erinnern, dass ich dich noch umbringen wollte?“
Als Xander mit dröhnendem Schädel erwachte, saß er wieder in seinem
Fernsehsessel und fragte sich im ersten Augenblick, ob er einen Alptraum in Folge
von zuviel Alkoholgenuss erlebt hatte. Allerdings war Willow immer noch da und saß
auf der rechten Armlehne. Er kannte sie viel zu lange, als dass er nicht sofort die
Veränderung bemerkt hätte. Da war keine Spur mehr von Schüchternheit oder
Sanftheit. Wenn das noch Willow war, dann eine Seite von ihr, die ihm fremd war.
„Träume ich?“, fragte er sicherheitshalber.
„Wir leben einen Traum“, antwortete sie und ihr Gesicht verzerrte sich. „Du musst
vorher nur einschlafen.“
Xander konnte nichts mehr tun, als sie zubiss. Willow beobachtete, wie er starb,
wachte bei ihm die ganze Nacht und den nächsten Tag, bis in die nächste Nacht
hinein. Nach knapp 26 Stunden erwachte Xander in Willows Armen. Sie sahen sich
in die Augen und küssten sich …
Darla blickte auf Xander, der hinter Willow aufgetaucht war. Ihr Gesichtsausdruck
schwankte zwischen amüsiert und überrascht.
„Du bist ja ziemlich schnell“, sagte sie zu Willow. „Schon am ersten Tag.“
Willow folgte Darlas Blick und griff spontan nach Xanders Arm. „Meins“,
verkündete sie trotzig. Darla legte den Kopf schief und entblößte in einem breiten
Lächeln ihre Fangzähne.
„Wer weiß“, bemerkte sie halb zu sich. „Vielleicht ist es ja gar nicht so übel, wieder
eine Familie zu haben.“
Erstaunlicherweise gab es eine Eigenschaft, die Willow selbst über den Tod
hinaus in ihr neues Leben begleitete: der Wissensdurst. Auch wenn er sich heute
anders ausdrückte. Den statt nach akademischem Wissen zu streben, interessierte
sie sich jetzt umso mehr für Erfahrungen. Es war nur eine andere Ausdrucksform für
dasselbe Leitmotiv, das gleiche Bedürfnis nach Erweiterung ihres Geistes und ihres
Horizontes. Indem sie nicht mehr las, was sie wollte, sondern es tat. Mit Darlas Hilfe
tauchte Willow in die Realität hinter der gewohnten Wirklichkeit ein, in ein Universum,
in dem Zuneigung gleich Gewalt sein konnte, Liebe gleich Schmerz, Vergnügen
gleich Zerstörung. Sie und Xander dachten auf einer Ebene, waren sich näher, als je
zuvor, ergänzten sich in einer Vollkommenheit, dass es wehtat. Und das gefiel ihnen.
Das alte Leben verblasste hinter ihnen, ein Schatten, der im Licht verging. Oder
besser: Licht, das im Schatten ertrank. Sie waren keine Menschen mehr. Es zählten
keine Regeln mehr, keine Grenzen.
Nur noch der Spaß.
3
Gegenmaßnahmen
„Und denkt dran, nicht vergessen: morgen findet unsere monatliche
Gedenkveranstaltung statt. Der Unterricht fällt aus.“
LEHRER AN DER SUNNYDALE HIGH
Im Gesicht des Bürgermeisters spiegelten sich Schmerz und Mitgefühl, als er aus
seiner Limousine stieg und sich durch die versammelte Presse zum Rathaus begab.
Sein schwarzer Anzug unterstrich die trauererfüllte Stimmung in der Stadt. Richard
Wilkins III ignorierte die vielen Anrufe durch die Reporter und schritt würdevoll und
gemessenen Schrittes auf seinen Amtssitz zu. Erst kurz vor der Eingangstür drehte
er sich um, breitete symbolhaft die Arme aus und wartete, bis die Gespräche und
Rufe verstummt waren.
„Schreckliche Dinge sind in unserer friedliebenden Gemeinde geschehen“,
verkündete er. „Niemand kann den Schmerz derer ermessen, die ihre Angehörigen
auf so sinnlose und brutale Weise verloren haben. Besonders schmerzlich ist der
hohe Anteil an jungen Leuten, die so früh, vor ihrer Blüte, aus dem Leben gerissen
wurden. Unsere Kinder sind unsere Zukunft. Wer sie angreift, der vergeht sich am
Lebenszweck unserer Gesellschaft und unserer Kultur. Ich werde nicht ruhen, bis die
Verbrecher, die Ungeheuer, die diese Abscheulichkeiten zu verantworten haben,
ihrer Strafe zugeführt sind.“ Er blickte einmal rund herum in die Gesichter der
Anwesenden und nickte leicht. „Danke.“
Selbst an normalen Tagen betrat der Stellvertretende Bürgermeister Allan Finch
das Büro seines Chefs nur mit einem mulmigen Gefühl. Er wusste nur zu gut, welche
Geheimnisse und Gefahren hinter dem gewinnenden Lächeln von Bürgermeister
Wilkins lauerten. Finch wusste genug, um nicht mehr wissen zu wollen. Zurzeit aber,
war ohnehin nichts normal.
Wilkins empfing ihn hinter seinem geräumigen Schreibtisch, hinter dem das große
Siegel der Stadt majestätisch prangte, als sei nie etwas Ungewöhnliches geschehen.
Das Einzige, das auf den Ausnahmezustand hindeutete, unter dem die Stadt litt, war
die tiefschwarze Kleidung des Stadtoberhauptes, die er sich seit Beginn der Krise
verordnet hatte. Zusammen mit einer allzeit ernsten und bedrückten Miene. Aber das
freundliche Lächeln war heute – zu Finchs Überraschung – zu Wilkins zurückgekehrt.
„Sir?“
„Nun, was haben Sie für mich?“
Finch zog eine Aktenmappe aus dem Umschlag, den er in der Hand hielt, und
legte sie auf die Tischplatte. „Vampire. Ohne jeden Zweifel. Aber die Taktik ist …
seltsam. Wir haben allerdings im Stadtarchiv eine Parallele zum heutigen Geschehen
finden können.“
Der Bürgermeister hatte derweil einen Stapel alter Tatortfotos und Presseberichte
der Mappe entnommen und verteilte mit erstaunlicher Ruhe Bilder von Körpern auf
seinem Schreibtisch, bei deren Anblick Finch Übelkeit in sich aufsteigen fühlte.
„1937“, murmelte Wilkins. Finch nickte ratlos. Wozu das alles, wenn sein Chef
längst Bescheid wusste?
„Da ist jemand wieder da, von dem ich nicht erwartet hätte ihn wiederzusehen.“
Wilkins sank in seinen Sessel zurück und starrte nachdenklich ins Leere. „Nächstes
Jahr ist ein überaus wichtiger Zeitpunkt für mich. Störungen kann ich mir nicht
leisten. Und das ist wohl die größte Störung seit Ewigkeiten.“ Er sah zu Allan auf.
„Sagen Sie alle meine Termine ab. Ich muss einige Gespräche führen.“
Man hatte Sunnydale einmal als eine Stadt bezeichnet, deren Bürger Weltmeister
im Verdrängen wären. Über ein Jahrhundert lang hatten die Menschen in der Stadt
mit seltsamen Phänomenen, mit Gespenstern, Zombies und grausigen Ereignissen
gelebt und sich damit arrangiert. Und selbst jetzt lernten sie wieder weiterzumachen.
Nachdem sich allgemein herum gesprochen hatte, wer der Feind war, der im Dunkel
der Nacht lauerte, ging man eben nur noch am Tag nach draußen. Helle Kleidung
verschwand von den Straßen, weil sie angeblich auf Vampire anziehend wirkte,
wurde durch ein allgemeines Schwarz und Grau ersetzt. Autofahren wurde
eingeschränkt, weil Autos Vampire anlocken könnten. Es war, als würden sich die
Menschen in ihren Köpfen teilen, als würde eine kollektive Schizophrenie sie ereilen
und vor dem Wahnsinn schützen. Am Tag gehörte die Stadt den Menschen, die ihrer
Arbeit nachgingen, die Schule besuchten, ihr Leben so normal wie möglich führten.
In der Nacht schloss man sich ein, betete und schwieg. Verschwand wieder jemand,
weil er gegangen war oder aus anderen Gründen, so redete man nicht mehr über
ihn. Was blieb, war die makabere Fassade einer heilen Welt, hinter der der Tod
gierig auf neue Opfer lauerte.
„Sie sind so schwach“, murmelte Wilow verächtlich und betrachtete die Lichter der
Stadt. So viele Häuser mit so vielen Menschen. Leider auch so viele Türen, die sie
nicht durchqueren konnte, ohne eingeladen zu sein. War das eine Gemeinheit der
Natur, ein zynischer Scherz eines rätselhaften Schöpfers oder nur ein Schachzug der
Evolution, um auch der Beute eine Chance zu lassen?
„Das sind sie“, stimmte Darla zu, die neben ihr stand. „Trotzdem solltest du sie nie
unterschätzen. Das ist schon so manchem zum Verhängnis geworden.“
Willow zuckt mit den Schultern. „Man muss sich ja fast schämen, dass man mal so
gewesen ist“, meinte sie zu ihrer Erschafferin. Die Blonde lächelte ihr entgegen.
„Zum Glück gibt es immer Wege, sich zu verbessern.“ Das Lächeln verschwand
und machte einem unwilligen Zug Platz, als hinter ihnen Unruhe ausbrach.
Es war eine logische Konsequenz gewesen, das >Bronze< in Besitz zu nehmen,
nachdem die Menschen sich aus diesem Stadtteil zurückgezogen hatten.
Normalerweise ging es hier jetzt kaum anders zu, als früher – eine Party jede Nacht,
von Sonnenuntergang bis –aufgang. Nur die Art der Drinks und der
Unterhaltungsangebote unterschied sich leicht von vergangenen Zeiten. Jetzt war es
früh am Morgen, die meisten Gäste hatten sich längst in ihre Verstecke verzogen und
die, die auch den Tag hier verbringen würden, fanden einige Minuten der Muße,
bevor der Tagesanbruch sie in das Gefängnis zwang, zu dem der Club im
Sonnenlicht für sie wurde. Erstaunlicherweise war noch keiner der Sterblichen auf die
Idee gekommen, im Schutz des Tages Feuer zu legen. Schwächlinge. Um diese Zeit
jedenfalls, sollte etwas Ruhe einkehren.
Die beiden Vampire schlenderten vom Fenster, hinter dem sich das erste
Morgenrot abzeichnete, zum kleinen >Thronsaal< des Meisters hinüber, in dem er
seinen hölzernen Prachtstuhl untergebracht hatte. Einer der jüngeren Vampire, die in
der Nacht auf Jagd gegangen waren, schob ein blondes schlankes Mädchen vor sich
her, das unwillig an den Fesseln zerrte, die seine Hände auf dem Rücken zusammen
hielten. Willow erkannte sie sofort.
Der Vampir gab seiner Gefangenen einen Stoß in den Rücken, der sie stolpern
und vor dem Sessel des Meisters in die Knie gehen ließ. Sie sah ängstlich den
kahlköpfigen Vampirherrscher an, der ungerührt fragte: „Bringst du mir mein
Frühstück?“
Der junge Vampir wies anklagend auf das Mädchen. „Sie hat einen von uns
verwandelt! Verzaubert! In einen Rattenvampir … eine Ratte … Vampirratte …“
„Du hast abgenommen“, stellte Willow im Plauderton fest und ignorierte
geflissentlich, dass sie in das Gespräch zwischen dem Meister und seinem
Untergebenen einbrach. „Das steht dir.“
Die Blonde starrte sie entgeistert an und wurde noch blasser. „Willow – du bist ein
Vampir!“, stotterte sie erschrocken.
„Amy – du bist eine Hexe!“, imitierte Williow exakt ihren Tonfall. Sie legte den Kopf
schief. „Wer ist schon perfekt?“
„Amy?“, fragte der Meister.
„Madison“, vervollständigte Willow.
„Und du hast sie hergebracht, damit sie – was? Uns alle verhext?“ Es klang wie
eine unverbindliche Frage, zauberte dem Jungvampir aber Schweißperlen auf die
Stirn, als ihm klar wurde, dass von einer guten Erklärung seine weitere Existenz
abhängen konnte.
„Ich dachte … es wäre wichtig?“
„Ich habe ja auch in so vielen Jahrhunderten noch keine Hexen gesehen.“ Der
Jüngere schluckte. „Und was machen wir nun mit Amy Madison?“ Der Meister
richtete seine Worte an niemand bestimmten, trotzdem bezog Willow sie instinktiv auf
sich und schlenderte leise summend an ihrer ehemaligen Freundin vorbei. Sie hatte
wirklich nicht mehr viel von dem Mädchen, das sich früher zu den Rosenbergs
flüchtete, um dem Streit ihrer Eltern und dem Terror ihrer Mutter mit BrownieFressattacken zu begegnen. Seltsam, diese Erinnerungen aus einem anderen
Leben, das doch irgendwie immer noch Willows war.
Amy folgte ihr mit den Augen, bis Willow zu weit hinter ihr war, um für sie noch
sichtbar zu sein. „Ich … ich kann nützlich sein“, stotterte sie und verfolgte mit dem
Ausdruck eines gehetzten Tieres jede Bewegung von Willow, die wieder an ihr vorbei
kam. Der Meister lehnte sich leicht nach vorn und faltete interessiert die Hände.
„Wirklich?“
Allan Finch traute sich kaum, die Schwelle zum Büro des Bürgermeisters zu
überschreiten. In seinem Aktenkoffer schienen die neuesten Berichte über
Vermissten- und Mordfälle mit jedem Schritt auf unheimliche Weise schwerer zu
werden. Es wurden immer mehr und sie häuften sich besonders im Umfeld des
geräumten >Bronze<. Allan hatte zunehmend Probleme, die Polizei und die
Anwohner von dort fern zu halten. Obwohl er ihnen mit der Abriegelung eigentlich
das Leben rettete. Der Stellvertretende Bürgermeister war nicht sehr gern der
Überbringer schlechter Nachrichten. Entgegen der Gewohnheit empfing ihn Wilkins
im Stehen. Zum ersten Mal seit Finch den Posten im Rathaus angetreten hatte,
strahlte sein Vorgesetzter nicht diese Gelassenheit aus, die sonst, echt oder gespielt,
in jeder Situation von ihm ausging.
„Sir?“
Wilkins musterte ihn abschätzend.
„Die Dinge entwickeln sich nicht ganz wie es vorgesehen war“, eröffnete er.
Seltsamerweise fühlte sich Finch erleichtert – dann war er nicht der Einzige mit
schlechten Nachrichten. „Meine Geschäftspartner und Verbündeten sind ebenfalls
besorgt über die gegenwärtige Situation. Doch sehen sie sich leider außer Stande
etwas zu meinen Gunsten in die Wege zu leiten.“
„Und das bedeutet? Sir?“
Wilkins drehte sich ruckartig zum Fenster um, stützte die Hände auf das
Fensterbrett und wandte Finch somit den Rücken zu. Eine solch unhöfliche Geste
wäre normalerweise unvorstellbar. Er musste unter ungeheurem Stress stehen.
„Sie wissen nicht, wer stärker ist. Deshalb warten sie ab, wer überlebt, um sich an
den Sieger zu hängen.“ Der Bürgermeister klang nicht wütend oder enttäuscht, aber
gerade diese gleichgültige Kälte ließ Finch erschauern. Was für >Geschäftspartner
und Verbündete< sein Chef wirklich hatte, konnte er nur ahnen. Aber wenn die
wirklich Angst vor dem neuen Gegner hatten … Ihm schwindelte.
Eine Pause entstand, in der sie beide schwiegen. Je länger es dauerte, desto
nervöser wurde Finch. Er wechselte unruhig von einem Bein aufs andere und fragte
sich, ob er etwas erwidern sollte. Am Liebsten hätte er die Berichte einfach hingelegt
und wäre gegangen, aber dann hätte er sich spätestens morgen auf die Suche nach
einer neuen Arbeitsstelle begeben.
„Nun“, ließ sich der Bürgermeister plötzlich vernehmen. Finch zuckte erschrocken
zusammen und hätte beinahe den Aktenkoffer fallen lassen. Wilkins wandte sich
wider langsam zu ihm um, das gewohnte Siegerlächeln im Gesicht. „Manche Feinde
muss man vernichten, andere werden zu Freunden.“ Er schenkte Allan ein sehr
warmes Lächeln, an dessen Echtheit der Stellvertretende Bürgermeister seine
Zweifel hatte. „Ich habe einen Auftrag für Sie. Eine sehr wichtige diplomatische
Mission.“ Finch erbleichte schlagartig. „Vielleicht können wir uns ja mit dem neuen
Machtfaktor zur gegenseitigen Zufriedenheit einigen.“
Finch glaubte, die Welt um ihn würde beginnen sich zu drehen. „Sir …“
„Besuchen Sie für mich diesen Vampir, der sich >Meister< nennt und bieten Sie
ihm einen Nichtangriffspakt an. Versprechen Sie ihm was nötig ist. Das >Bronze<
haben wir ihm ja schon überlassen, das kommt keine Polizei mehr hin. Wenn er das
ganze Viertel will, kann er es bekommen. Er muss nur ein paar Jahre still halten. Nur
für eine kurze Zeit.“
Allan Finch stützte sich mit Mühe auf einer Stuhllehne ab. Er wirkte, als würde er
im nächsten Augenblick in Tränen ausbrechen.
„Bitte … Sir!“ Eine Welle wiederstrebender Gefühle durchflutete Finchs Verstand.
Er empfand Loyalität aber auch Angst vor diesem ewig freundlichen Mann, der
genauso lächelnd sein Leben zerstören würde, würde er sich gegen ihn stellen.
Finch sah die Inhalte der Akten in seiner Tasche vor dem geistigen Auge
vorüberziehen, die er ausgiebig studiert hatte, um exakt Bericht erstatten zu können.
Schwarz-Weiß-Fotos, auf denen das Blut schwarz wirkte und die grauenvolle
Szenerie noch verstörender und unwirklicher. Er konnte Nein sagen, aber dann wäre
er sofort arbeitslos – und würde in dieser Stadt nie wieder einen Fuß auf den Boden
bekommen. Vielleicht war das ja ohnehin das Beste? Diesen verfluchten Ort hinter
sich lassen und nur laufen, immer weiter, ohne je einen Blick zurück zu werfen.
Straßenkehrer an irgendeinem Ort der Welt konnte nur besser sein als
Stellvertretender Bürgermeister in der Hölle.
„Ich werde einen unserer Vampirverbündeten um Vermittlung bitten“, erwiderte
Finch vorsichtig. Der Bürgermeister nickte zu seiner Erleichterung.
„Sie wissen, dass ich Ihnen vertraue.“
Peinlich berührt hob Finch seinen Aktenkoffer und hielt ihn mit zwei Händen wie
einen Schild vor sich. „Es ist Zeit für die Lagebesprechung.“
An diesem Abend verließ Allan Finch gegen 20:00 Uhr seinen Arbeitsplatz und
begab sich nach Hause, begleitet von einem halben Dutzend schwer bewaffneter
Polizisten als Leibwache, wie sie der Bürgermeister allen hochrangigen
Stadtfunktionären zugeteilt hatte, wenn es Nacht wurde. Gegen 21:30 Uhr ließ er
sich in einen heruntergekommenen Teil der Stadt fahren und konferierte etwa eine
halbe Stunde mit dem Boss der kleinen lokalen Vampirgang, die hier in einem
abbruchreifen Lagerhaus residierte und sich bisher noch nicht dem Meister
unterwarf.
Man stellte später fest, dass er sich nach der erneuten Rückkehr nach Hause
einige Stunden hier aufgehalten haben musste, bis er gegen 5:45 Uhr ein Taxi
bestieg, bevor seine Polizeileibwache erschien, um ihn abzuholen und zum Rathaus
zu eskortieren. Allan hatte einiges Gepäck bei sich und stieg am Flughafen aus, wo
er dem Taxifahrer ein ungewöhnlich großzügiges Trinkgeld gab. Das war das Letzte,
was man in Sunnydale jemals vom Stellvertretenden Bürgermeister Allan Finch
hören sollte. In seinem Haus, das noch am Tag seines Verschwindens durchsucht
wurde, fand die Polizei einen Brief, der an Bürgermeister Richard Wilkins III
persönlich adressiert war. Sein Inhalt wurde der Öffentlichkeit ebenso wenig bekannt
gegeben wie das Verschwinden Allan Finchs. Er verschwand einfach aus der
öffentlichen Wahrnehmung, die ohnehin fast nur um den allnächtlichen Terror kreiste.
Der Bürgermeister wartete vergeblich auf eine Beantwortung seines Vorschlags
an den Meister. Während in der Stadt langsam die Erkenntnis um sich griff, dass es
kein Bandenkrieg und keine Psychopathen waren, die für die Gewalt verantwortlich
waren, während auch die Ungläubigsten die Existenz von Vampiren als Tatsche zu
akzeptieren lernten – während dieser Zeit schwieg Wilkins.
Eine Woche später erhielt er allerdings den Bericht der Feuerwehr über die
vollständige Zerstörung der alten Lagerhalle. Tags darauf ging ein Päckchen im
Rathaus ein, adressiert an den Bürgermeister persönlich. Nach umgehender
Sicherheitsprüfung wurde es Richard Wilkins schließlich als unbedenklich
ausgehändigt.
Es enthielt nur Asche. Vampirasche.
London, England: Der Rat
Für einen Augenblick verharrte Quentin Travers’ Blick auf dem neuesten Foto, mit
dem die Zeitung die aktuelle Affäre Lady Dianas illustrierte. Dann legte er missmutig
die Stirn in Falten und blätterte zum Politikteil weiter. Es war unerhört, dass selbst
angesehen Zeitungen in einer Zeit wie dieser ihr Renommee gefährdeten, indem sie
an dieser peinlichen Hetze gegen die ehrwürdigste Institution des britischen
Staatswesens, die königlichen Familie, teilnahmen. Was für eine entsetzliche
Epoche. Er schüttelte angewidert den Kopf und versenkte gleichzeitig seine
Aufmerksamkeit in einem Bericht, der ihn noch mehr erschütterte: eine Reportage
über die alte Kronkolonie Hongkong, deren große britische Vergangenheit in diesem
Jahr mit einer schmählichen Rückgabe an die chinesischen Kommunisten zu Ende
ging.
„Sir Quentin?“, fuhr plötzlich eine kultivierte Stimme in seine dunklen Gedanken.
Der Vorsitzende des Rates der Wächter musterte den Butler über den Rand seiner
so wenig erbaulichen Zeitung hinweg.
„Ja?“, fragte er höflich und ohne zu deutlich zu zeigen, dass er sich gestört fühlte.
„Ein Anruf für Sie.“ Der livrierte Diener hielt ein Kissen in seinen Händen, in dem
sorgsam arrangiert ein Telefon lag. „Rupert Giles.“
Travers dachte kurz nach. „Kansas?“
„Kalifornien.“
Die Pflicht. Quentin Travers faltete sorgsam seine Zeitung zusammen und warf
einen Blick auf die Uhr, während er gleichzeitig auszurechnen versuchte, wie spät es
gerade an der US-amerikanischen Westküste sein mochte. Er nahm das Telefon
entgegen, wartete jedoch, bis der Butler sich rasch zurückgezogen und die schwere
Holztür hinter sich geschlossen hatte.
Langsam hob Quentin Travers den Hörer an sein Ohr. „Mr. Giles“, sagte er
langsam. „Ich nehme an, es ist wichtig …“
4
Die Initiative
„Dieser neue Verein mischt sich in Dinge ein, die ihn nichts angehen. Er stört das
Gleichgewicht der Welt. Und das ist schlimmer als das Chaos, mein Freund. Wir sehen im
wahrsten Sinn des Wortes einem höllischen Kampf entgegen.“
ETHAN RAYNE
Prof. Maggie Walsh musterte nachdenklich die drei jungen Männer, die sich vor
ihrem Schreibtisch aufgebaut hatten. Trotz der vorhandenen Stühle standen sie,
aufbruchsbereit, man konnte beinahe spüren, wie die drei gegen den Impuls
ankämpften, einfach los zu stürmen.
„Sie wollen also heute Nacht noch zuschlagen, Agent Finn?“, fragte sie.
Riley Finn nickte energisch. „Wir wissen nicht genau, was zum Chaos bei den
Vampiren geführt hat, aber es ist unsere Chance, vielleicht die letzte, die wir noch
bekommen!“
„Die Verluste könnten sehr hoch sein“, entgegnete Walsh, ohne Riley zu
beeindrucken.
„Ich kenne die Risiken, Sir, wir haben das seit Monaten durchgespielt und die
ganze Zeit sind die Vampire ständig stärker geworden, während wir nur zusahen und
abwarteten. Sir.“
Professor Walsh wusste nur zu gut, dass der Soldat Recht hatte. Als das Problem
auftrat hatten sie den Fehler gemacht, es nicht ernst genug zu nehmen. In wenigen
Monaten begann es, ihnen über den Kopf zu wachsen, bis sie sich irgendwann an
die Beobachterposition gewöhnten. Gefährliche Nachlässigkeiten, aber auch eine
faszinierende Entwicklung, aus wissenschaftlicher Sicht.
„Das Pentagon hat uns freie Hand gegeben, Sir“, erinnerte Graham
geschäftsmäßig.
Forrests Beitrag fiel ein wenig emotionaler aus: „Lassen Sie uns die verdammten
Mistviecher endlich platt machen, Sir.“
„Die Geheimhaltung wäre durch solch einen Großeinsatz massiv gefährdet“,
antwortete Walsh unbewegt. Sie konnte deutlich erkennen, wie aufgebracht Riley
unter seiner ruhigen Schale wirklich war.
„Wenn diese ganze Stadt von Vampiren abgeschlachtet wird, hilft uns keine
Geheimhaltung mehr … Sir!“
Das Schweigen dehnte sich, eine halbe Minute wie eine Ewigkeit. Dann nickte
Walsh. „Tun Sie, was Sie für angemessen halten.“ Sie hatte das letzte Wort noch
nicht gesagt, als die drei schon gegen jedes Protokoll zur Tür eilten, Rileys „Ja Sir“
war kaum mehr als ein eiliger Ausruf. Sie würden also den Krieg bekommen, den sie
schon so lange wollten. Und sie würden siegen, daran zweifelte Walsh keine
Sekunde – schließlich hatte sie selbst tatkräftig mitgeholfen, aus den Soldaten der
Initiative Kämpfer zu machen, wie es sie unter den Menschen kaum gab.
Das Vampirproblem dürfte erledigt sein, womit gleichzeitig aber auch das
wichtigste Ablenkungsmanöver wegfiel, mit dem sie monatelang erfolgreich von ihren
Experimenten abgelenkt hatte. Seufzend zog Walsh einen Papphefter aus einer
Schublade, ohne Beschriftung, auf dem nur mit Textmarker übergroß die Zahl 314
gekritzelt war. Dr. Angleman würde schon warten – sie lagen gut im Zeitplan.
Womöglich konnten sie den Prototypen bereits in naher Zukunft aktivieren ….
Trotz seiner Überzeugung, dass sie richtig war, war Riley nicht recht wohl bei
dieser Mission. Irgendetwas warnte ihn, dass es einen Fehler in ihrer Planung gab,
dass etwas nicht stimmte. Aber sie hatten keine Alternative, sie mussten aktiv
werden, um ihren Auftrag – den Schutz unschuldiger Bürger – zu erfüllen. Trotzdem
erschien ihm vieles sehr seltsam an den Ereignissen der letzten Zeit. Das große
Vampirmassaker hatte sie völlig unvorbereitet getroffen, nichts hatte vorher darauf
hingedeutet, dass so etwas bevorstehen könnte. Dann plötzlich Ruhe. Nach dem
Blutbad in diesem Nachtclub und einer mehrwöchigen schlimmen Zeit ging die Zahl
der Vampirangriffe schlagartig zurück, auf einen nie da gewesenen Tiefststand.
Militärisch gesehen hätte Riley vermutet, dass da jemand seine Kräfte sammelte und
sich auf etwas Großes vorbereitete. Aber das war natürlich Unsinn, musste Unsinn
sein, weil es den Erfahrungen aller bisherigen Auseinandersetzungen widerspräche.
Vampire waren im Wesentlichen Raubtiere mit einer menschlichen Intelligenz, was
sie vielleicht zum gefährlichsten Gegner überhaupt machte. Aber sie kannten
normalerweise keine Hierarchie oder Organisationsstrukturen. Man tat sich
zusammen, um gemeinsam zu jagen und hin und wieder unterwarfen sich Vampire
einem Stärkeren und folgten ihm, solange es Vorteile versprach. Ein so mächtiger
Vampir aber, dass er alle Untoten der Stadt unterworfen hätte – oder besser: sie sich
ihm – das war unvorstellbar.
Selbst wenn es irgendwo in der Welt solch einen Supervampir geben sollte – er
wäre wohl kaum in die Stadt gelangt, ohne dass sie es bemerkt hätten. Riley hätte es
nie zugegeben, nicht einmal sich selbst gegenüber, aber die winzige Möglichkeit,
dass es ihn doch gab, den Supervampir, machte ihm Angst.
Ohne sich den geringsten Zweifel anmerken zu lassen musterte der Spezialagent
aus Iowa seine Truppe: Einheit A. Das B-Team würde Forrest führen, Graham das CTeam. Die Basis der Initiative war nicht sehr groß, sie sollte ja auch nur unauffällig
Forschung betreiben. Auf einen Krieg war man hier nicht eingerichtet und es gab
keine Befehlsgewalt über den nahen Militärstützpunkt, dessen Führung womöglich
nicht mal von der Initiative Kenntnis besaß.
„Also Leute“, richtete Riley das Wort an die zehn Männer unter seinem
Kommando. Mehr wären ihm lieber gewesen. „Wie wir aus den Berichten der
Voraustrupps wissen sind die meisten Vampirverstecke verlassen. Der Feind scheint
sich in den Höhlen und Kanälen unter der Stadt zu befinden. Unsere Mission besteht
vorerst nur aus Erkundung. Wie sollen die Lage klären und gegnerische
Konzentrationen identifizieren. Kämpfe sind nicht vorgesehen, Gegenwehr ist aber
natürlich erlaubt. Sollten wir auf überlegene feindliche Einheiten stoßen ist ein
sofortiger Rückzug vorgesehen. Versprengte Agenten melden sich im Notfall bei den
bekannten Sammelpunkten.“ Er blickte demonstrativ auf seine Armbanduhr. „Der
Einsatz beginnt befehlsgemäß um 0800. Viel Glück!“
Mit geübtem Griff streifte er seine schwarze Sturmhaube über, prüfte das
Nachtsichtgerät und entsicherte sein Energiegewehr. Dann schritt er entschlossen
voran, in die Dunkelheit des alten Schachtes in dem Waldgebiet nahe der Universität
von Sunnydale. Er dachte daran, dass gleichzeitig auch die anderen Teams an
strategisch ausgewählten Punkten in die Unterwelt vordrangen. Sie alle waren Profis,
exzellent ausgebildet, motiviert und in Einsätzen gestählt. Was konnten ihnen ein
paar Untote schon entgegensetzen, außer ihren Zähnen?
Der unebene Boden unter seinen Füßen war glitschig, Riley setzte ganz vorsichtig
und leise einen Fuß vor den anderen und beobachtete angestrengt seine Umgebung,
die das Nachtsichtgerät in ungewohntes Grün tauchte. Es stank erbärmlich nach
verwesten Tierkadavern und Fledermausdreck.
„Basis an Team A“, drang es aus seinem Lautsprecher. Riley zuckte unmerklich
zusammen.
„Teamleader A“, meldete er sich.
„Lage?“
„Sektor 14 ruhig. Dringen in Sektor 15 vor.“ Plötzlich ein Knacken in der Leitung.
„Basis?“, fragte Riley irritiert. Vielleicht nur eine normale Störung.
„Basis an Teamleader A, alles in Ordnung.“ Ein weiteres Knacken, diesmal
erheblich lauter, etwas rumpelte, dann ein markerschütternder Schrei. „Basis an
Teamleader B und Teamleader C! Alles in Ordnung?“
„Team C: kein Feindkontakt, nichts passiert.“ Grahams Stimme, eine Spur von
Unruhe lag in ihr.
„Team B?“ Ein erneuter Schrei antwortete und ließ Riley stärker
zusammenzucken, als es sich ein Profisoldat erlauben durfte. Irgendjemand in der
Leitung fluchte herzhaft.
„B!“, rief jemand, offenbar nicht Forrest. „Feindkontakt. So eine verdammte …“
Rauschen.
„Team B? Forrest?“ Riley zerbiss einen Fluch zwischen den Zähnen. Er fühlte sich
nutzlos, hier, Hunderte von Metern vom Eingang entfernt, viele Meter unter der Erde,
umgeben von Dunkelheit, zerfurchten Felsformationen und tropfendem Wasser.
„Teamleader?“ Diesmal kam der gedämpfte Ruf nicht aus dem Funk sondern aus
Rileys eigener Gruppe.
„A.J.?“
„Ich glaube … da war eine Bewegung. Drei Uhr.“ Einige Soldaten drehten sich in
die genannte Richtung, die anderen sicherten nach allen Seiten. Die Höhle hatte sich
an dieser Stelle zu einer kleinen Halle geweitet, von der vier Seitenstollen
abzweigten.
„Bestätigung?“ Trotz der Kälte fühlte Riley Schweiß in seinem Nacken, der unter
seiner kugelsicheren Weste herab ran.
„Unklar“, erwiderte A. J.
„Teamleader A an Basis“, sprach Riley in sein Funkgerät. „Eventuelle
Bedrohungslage. Erwarten Anweisungen.“
Sekunden vergingen, sehr ungewöhnlich.
„Basis an Teamleader A. Kontakt zu Team B ist abgerissen. Empfehlen Abbruch.
Handeln nach eigenem Ermessen.“
„A. J.! Hast du noch was gesehen?“
„Nein Sir, vielleicht doch nur eine Fledermaus.“ Der junge Soldat ging langsam an
den Seitengang heran, in dem er etwas gesehen zu haben glaubte. „Da ist nichts,
denke ich.“ Sie alle schwiegen und lauschten. „Nein, nichts.“
Professor Walsh betrat mit einem überaus grimmigen Gesichtsausdruck den
Kommandoraum. Sie mochte es nicht im Geringesten, beim Forschen gestört zu
werden.
„Was ist los?“, erkundigte sie sich. „Ich hoffe, es ist wichtig.“
Der junge Spezialagent mit den Kopfhörern sah sie an, als sei sie eine
Außerirdische. „Kontakt zu Team B seit 15 Minuten unterbrochen. Team C ist auf
dem Weg zur Unterstützung in schwere Kämpfe geraten.“
„Völlig anders als sonst“, drang in diesem Moment Grahams Stimme in den Raum.
„Taktisches Vorgehen. Koordiniert. So was habe ich noch nie gesehen.“ Geräusche
von Schüssen erklangen. „Da kommen wir nicht durch. Oh Gott!“ Rauschen.
Mit einem Sprung, der so gar nicht zu ihrem Alter zu passen schien, erreichte
Professor Walsh das Mikrofon und rief: „Sofortiger Rückzug aller Kräfte zur Basis.
Abbruch aller Aktivitäten. Kein Wiederspruch.“
Team C und leicht verzögert auch Team A bestätigten. Bei Team B kam keine
Antwort.
Maggie Walsh begab sich selbst zum Zugang 3, um die Reste von Team C in
Empfang zu nehmen. Es waren nur noch sechs Agenten und einer war so schwer
verwundet, dass sein Blutverlust eine sofortige Behandlung auf der Krankenstation
erforderte. Die Ärzte machten ihr wenig Hoffnung. Immerhin gehörte Graham zu den
Überlebenden seines Teams. Er bestand darauf, ihr sofort Bericht zu erstatten, bevor
die Ärzte ihn aus dem Verkehr zogen. Er konnte nur wenig Neues berichten.
„Teamleader A an Basis“, hörte sie im Empfänger in ihrem Ohr. Durch die
Störgeräusche klang Rileys Stimme völlig verzerrt. „Wir sind hier auf etwas gestoßen.
Rückzug zurzeit nicht möglich. Beziehen vorläufige Position im Sektor 30.“
„Negativ, Basis an Teamleader A, Rückzug ist befohlen.“
„Befehl nicht ausführbar.“
Das war trotz aller Bemühungen das Letzte, was sie von Team A hörten. Jede
halbe Stunde wiederholte die Basis den Ruf zur Rückkehr, doch er verhalte
unbeantwortet. Professor Walsh schlief nicht, weder am Tag noch in der folgenden
Nacht. Die Unruhe drehte ihr die Eingeweide im Leib um und das nagende Gefühl
von Sorge hielt sie von jeder Tätigkeit ab. Sie erwog, ein Rettungsteam
zusammenzustellen, aber noch mehr Soldaten in Gefahr zu bringen, wo sie schon
die besten verloren hatte? Nein, das konnte sie nicht über sich bringen, dafür war die
Sicherung der Basis zu wichtig.
Exakt beim 52. Ruf, als längst niemand mehr Hoffnung verspürte und Walsh
schon die Einstellung des Funkverkehrs erwog, kam eine Antwort: „Teamleader A an
Basis“, hallte Rileys Stimme in den Kontrollraum. „Wir hatten eine verflucht harte
Nacht. Funkkontakt war nicht möglich. Team ist völlig geschafft aber vollzählig. Wir
sind in Sektor 13. Rückzug fast abgeschlossen. Wir kommen nach Hause.“
Jubel brandete spontan auf, Initiative-Agenten und Wissenschaftler fielen sich in
die Arme, einige applaudierten. Selbst Walsh wischte sich eine Träne aus dem Auge,
bevor sie sich zusammenriss und nach einem Telefon griff.
„Walsh hier. Die Sicherheit? Gut. Abwehrplan D5, Verdacht auf trojanische Pferde.
Sofortige Ausführung.“
Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Zwar empfand Professor Walsh
Erleichterung aber auch Unglaube, ein Wechselbad der Gefühle. Sie wollte an die
wundersame Rettung ihrer Leute glauben und doch wusste sie genau, wie
unglaublich sie war. Als sich Team A dem Zugang näherte, beobachtete Walsh über
die konventionellen und die Thermokameras jede Bewegung. Sie suchte nach
Auffälligkeiten, irgendetwas Ungewöhnliches. Erfolglos.
Das Team wurde am Zugang bereits von einer Gruppe von 12 schwer
bewaffneten Soldaten erwartet und durchsucht. Jede Art von verfügbarem Scanner
durchleuchtete die 11 Männer bis in das kleinste Detail.
„Menschen“, sagte der Mediziner hinter den Armaturen schließlich. „Alle Werte
sind in Ordnung und mit den gespeicherten identisch. Es ist Team A. Vollzählig und
gesund.“ Maggie Walsh fiel ein Stein vom Herzen.
„Wegtreten“, befahl sie der Sicherheitstruppe, die neben ihr im Sicherheitsraum
hinter der Zugangsschleuse bereit gestanden hatte. Sie konnte die Erleichterung in
den Augen der Soldaten erkennen. „Öffnen.“
Sie marschierten herein, als sei nichts gewesen, in vorgeschriebener Formation
und völlig ruhig, flankiert von den 12 anderen Soldaten, die sich jedoch rasch
ebenfalls zurückzogen. Maggie Walsh gönnte sich einen Augenblick der
Erleichterung, ohne das zu offen zu erkennen zu geben.
„Mein Gott Riley, was haben Sie da draußen nur gemacht?“
Der Soldat an der Spitze zog sich mit geübter Bewegung die Sturmhaube vom
Kopf, Rileys müdes aber stolzes Gesicht kam zum Vorschein.
„Sie werden nicht glauben, was wir entdeckt haben.“
„Ich bin auf Ihren Bericht gespannt.“
„Warten Sie!“ Riley grinste breit. „Ich zeige es Ihnen gleich.“ Sein Lächeln wurde
noch breiter, bekam einen bösartigen Beigeschmack. Plötzlich wurden seine Zähne
schlagartig länger, seine Augen änderten die Farbe in ein gefährliches Gelb-Grün.
„Hätten Sie das erwartet?“
Sie waren tot. Ihre Mitarbeiter. Die Soldaten. Das Projekt. Mit einem
schmerzerfüllten Keuchen lehnte sich Professor Walsh auf dem Bürostuhl zurück, an
den man sie gebunden hatte. Sie konnte ihr eigenes Blut in ihrem Mund schmecken,
es kam aus dem Loch, in dem sich vormals einer ihrer Vorderzähne befunden hatte.
Der gebrochene rechte Arm schickte protestierend irrsinnige Schmerzen durch ihren
gefolterten Körper. Sie waren alle tot. Und damit hatten sie womöglich das größere
Glück gehabt.
„Sie ist zäh“, stellte die rothaarige Vampirin trocken fest, die ihr gegenüber auf der
anderen Seite des Schreibtisches saß und gelangweilt die Füße auf die Tischplatte
gelegt hatte. Sie trug eine in Walshs Augen lächerliche Lederaufmachung, die sie
wie eine Domina wirken ließ. Unter anderen Umständen hätte Walsh sich über sie
amüsiert.
Hinter dem Mädchen erhob sich die grauenhafteste Gestalt, die Walsh je lebend
zu Gesicht bekommen hatte. Eine grotesk deformierte Erscheinung, die kaum noch
als menschenähnlich beschrieben werden konnte, trotz ihrer schwarzen
uniformartigen Lederkleidung.
„Was sollen wir mit ihr machen?“, stellte das glatzköpfige Vampirungetüm in den
Raum. „Ich weiß, du hättest viele Ideen, um mein Herz zu erfreuen.“ Er legte seine
Klauenhand auf die Schulter der Rothaarigen, was Maggies Übelkeit nur verstärkte.
„Wie … haben Sie das gemacht?“, stieß sie hervor und hustete in einem Anfall
Blut, der sie vor Schmerz aufschreien ließ. Das Ungetüm bewegte seine Hände fast
dirigierend durch die Luft.
„Ihr Menschen überschätzt eure technischen Spielzeuge so sehr. Dabei habt ihr
völlig vergessen, wie viel ein winziger Zauber bewirken kann. Nicht wahr, Miss
Madison?“
Maggie hatte das junge Mädchen bis jetzt nicht bemerkt, das sich schweigend und
unscheinbar im Hintergrund hielt. Mit ihrer schlichten schwarzen Kleidung und dem
menschlichen Gesicht wirkte sie so harmlos, dass sie in dieser Umgebung völlig fehl
am Platze war. Sie schien kein Vampir zu sein. Ein müdes Gesicht mit traurigen
Augen, schmale Wangen, Augenringe. Das einzig Besondere an ihr war ein breites
Halsband, das im Licht kupfern schimmerte und ihr sichtlich unbequem war. Maggie
Walsh konnte ihren Kopf nicht mehr erhoben halten, sie fühlte sich benommen,
hilflos, wütend.
„Darf ich jetzt?“, fragte die Rothaarige mit einer Art von kindlicher Naivität in der
Stimme.
„Nein!“ Bei diesem Wort zuckte Maggie Walsh zusammen wie unter einem
körperlichen Schlag. „Die Menschen mögen uns unterlegen sein, aber nicht alle ihre
technischen Errungenschaften sind unnütz. Ein wenig Modernität könnte uns
Vampiren nichts schaden.“ Obwohl Walsh es nicht sehen konnte, spürte sie
instinktiv, dass das Ungeheuer auf sie zeigte. „Wir haben einen großen aber
verlustreichen Sieg hinter uns. Die da will ich behalten. Sie wird noch nützlich sein.“
Der schwarz gekleidete Vampir vermochte es, sich erstaunlich lautlos
fortzubewegen, trotzdem erzeugten seine Stiefel genug leise Geräusche, um Maggie
erkennen zu lassen, dass er nach diesen Worten den Raum verließ. Sie allein ließ
mit der Rothaarigen. Die Professorin verspürte keine Angst, nur ein ungeheures Maß
an Ekel und Abscheu wenn sie daran dachte, was nun auf sie zukommen sollte. Sie
empfand auch Wut, über die Machtlosigkeit, in der sie gefangen und ausgeliefert war.
Eine Fliege im Netz, ohne Hoffnung auf Rettung. Nichts würde das Ding, das sich
das Aussehen eines jungen Mädchens angeeignet hatte, aufhalten können. Keine
Bestechung, keine Drohung. Es war schlicht und einfach vorbei. Hätte dieses
>Vorbei< den Tod bedeutet, Professor Walsh wäre ruhig geworden und hätte sich mit
dem Unabwendbaren abgefunden. Natürlich wusste sie es besser. Sie hatte Vampire
in den Arrestzellen der Initiative gesehen, sie beobachtet und an ihnen Experimente
durchgeführt. Den Gedanken, dass jeder Vampir einmal ein Mensch gewesen war,
den hatte sie verdrängt.
Ihr Gespür war gut genug, um zu erkennen, dass die Vampirin aufstand und um
den Tisch herum kam. Langsam, völlig unaufgeregt.
„Man kann ihm nichts abschlagen“, hörte Maggie Walsh und es klang verächtlich.
„Bilde dir ja nichts ein.“
5
Böse neue Welt
„Mir ist langweilig. Ehrlich, es macht wirklich keinen Spaß,
wenn hier alles so ätzend friedlich ist!“
WILLOW ROSENBERG
Willow gab sich keine Mühe zu verbergen, dass sie das Mädchen beobachtete. Es
war ja auch nicht schwer, die dünne Dunkelhaarige im Auge zu behalten, die mit
gesenktem Kopf in der Ecke ihres Käfigs hockte und keine Bewegung zeigte. Die
Vampirin konnte nicht sagen, wie lange sie schon hier stand, fasziniert und lautlos,
wartend im Halbdunkel. Ob das Mädchen überhaupt gemerkt hatte, dass sie nicht
mehr allein war? Willows Mundwinkel verzogen sich zur Andeutung eines Lächelns.
Ihre Zähne schienen in der Dunkelheit von innen heraus zu leuchten.
Einer der Vorteile ihres neuen Lebens lag darin, dass sie frei war, tun und lassen,
konnte, was ihr beliebte und bestenfalls noch Rücksicht auf den Meister zu nehmen
brauchte. Wollte sie töten, so konnte sie es, wollte sie foltern, so tat sie es. Wollte sie
lieben, war das allein ihre Entscheidung. So verschwendete sie auch keinen
Gedanken daran, ob es vielleicht jemand komisch fand, sie so lange erstarrt vor
einem Käfig stehen zu sehen. Es ging einfach keinen etwas an. Nur sie beide. Sie –
und das Mädchen.
Mit intensiver Hingabe verfolgte Willow den Fall der schwarzen langen Haare, die
sich, wasserfallgleich, über die Schultern ergossen, studierte jede Körperpartie, derer
sie ansichtig wurde, mit übermenschlicher Präzision. Ein junges Mädchen, vielleicht
um die 17, wohl eine Schülerin. Das Mädchen trug ein schlichtes aber hübsches
schwarzes Kleid und eine dünne Silberkette um den Hals. In letzter Zeit trugen fast
alle Menschen nur noch graue oder schwarze Kleidung, sie dachten wohl, grelle
Farben würden die Vampire provozieren. Wie langweilig. Wie sinnlos. Willow strich
gedankenverloren über ihre enge rote Satinkorsage, die mit schwarzer Spitze besetzt
war. Die Menschen hatten einfach keine Ahnung von richtigem Spaß.
Das Mädchen war unversehrt.
Die meisten Vampire waren nicht sonderlich zartfühlend, wenn es um die
Beschaffung von Nachschub für die allnächtlichen Partys ging, der Zustand ihrer
Gefangenen war ihnen egal. Viele fanden sogar Gefallen daran, Schmerz zuzufügen.
Aber dieses Mädchen hatte nicht die geringste Wunde, keine Bisse, nicht einmal ein
blauer Fleck. Meist genoss ja auch Willow die Jagd als höchstes Vergnügen, den
Blutrausch, der sich schließlich im Fangen und Aussaugen der Beute entlud. In ihren
ersten Tagen als Vampir hatte sie sich ausgelebt, war regelrecht explodiert vor
Energie und nie gekanntem Tatendrang. Elektrisiert von den neuen Eindrücken und
Gefühlen, die sie überfluteten. Und sie hatte beobachten können, wie sie den Meister
mit jeder Nacht weiter beeindruckte, wie er sie in seiner Nähe haben wollte und es
liebte, ihren Worten und Erzählungen zu lauschen. Heute Nacht war es anders. Sie
war gesättigt, vom Blut ihrer Opfer durchströmt. Und in dieser satten Zufriedenheit
bemerkte sie, wie unter dem abklingenden Taumel etwas anderes zum Vorschein
kam – ein Bedürfnis nach mehr, als nur jagen und töten.
Willow konnte den langsamen Atem hören, der immer wieder von dumpfen
Schluchzgeräuschen unterbrochen wurde, hörte das Rauschen des Blutes, das das
aufgeregte Herz durch den Körper pumpte. Irgendwann, nach Minuten, vielleicht
nach Stunden – das war nicht wichtig – schien das Mädchen die Beobachtung
endlich zu spüren. Sie wurde unruhig, wagte schließlich sogar den Kopf zu heben,
obwohl sie wusste, was ein Augenkontakt mit einem Vampir nach sich ziehen konnte,
wenn einer ihrer Peiniger dadurch aufmerksam wurde. Willow sah in ein bleiches,
von Angst zerfressenes Antlitz, in grüne Augen, in denen eine kleine Panik fast in
stumpfer Hoffnungslosigkeit versank. Das dezente Make-up hatte sich unter
vergangenen Tränen in eine entstellende Maske verwandelt.
„Hallo“, flüsterte Willow und die Gefangene zuckte zusammen, als hätte sie einen
Schlag ins Gesicht bekommen. „Hast du einen Namen?“ Das Mädchen versuchte
automatisch, sich noch mehr in seiner Ecke zu verkriechen, sie hatte etwas
entzückend Wehrloses an sich.
„Sarah?“ Es klang tatsächlich eher wie eine Frage, denn wie eine Antwort, was
Willow ein amüsiertes Grinsen aufs Gesicht zauberte. Sie atmete tief ein. Natürlich
nicht um Sauerstoff aufzunehmen, darüber war sie als Vampir hinweg. Sie nahm den
Geruch in sich auf, der ihr aus dem Käfig entgegenströmte. Unter all dem
Angstschweiß, den Resten von Parfüm und den Umgebungsgerüchen konnte ihr
geschärfter Geruchssinn deutlich das unverwechselbare Eigenaroma der
Gefangenen herausfiltern. Unbewusst legte sie den Kopf schief und lächelte
verträumt. Plötzlich zog sich eine steile Falte über Willows weiße Stirn.
„Xander?“
Die Arme ihres Gefährten schlossen sich von hinten um ihre schmalen Hüften und
zogen sie an ihn heran, sein Körper presste sich an sie, ohne das die Wärme spürbar
gewesen wäre, die von menschlichen Leibern ausging. Als Vampir war er so kalt wie
sie. Und Willow begriff, dass ihr etwas fehlte, in der Erinnerung an diese menschliche
Wärme.
Xander legte seinen Kopf auf Willows Schulter und blickte an ihr vorbei in den
Käfig. „Hast du was zum spielen gefunden?“ Obwohl es eigentlich unmöglich war,
schien Sarah sogar noch ein wenig mehr zu schrumpfen.
Irgendwie, stellte Willow in Gedanken fest, ist sie niedlich. Ohne groß darüber
nachzudenken öffnete Willow die Käfigtür, sie schwang quietschend auf. Das hohe
Geräusch fuhr Sarah sichtlich durch Mark und Bein. Sie begann regelrecht zu zittern.
Willow streckte auffordernd ihre Hand hinein und - als Sarah sich nicht rührte - winkte
sie ermutigend mit den Fingern. Ihre Augen trafen sich sekundenlang und es
versetzte Willow geradezu in eine kribbelige Hochstimmung, zu sehen, wie der kleine
Funke Widerstand in Sarah unter ihrem Blick zerbrach. Sarah griff zu. Die Vampirin
zog das zu Tode verängstigte Mädchen mit beiläufiger Leichtigkeit aus ihrem
Gefängnis und löste sich dabei von Xander, der einen Schritt zurück trat.
Nun stand Sarah also direkt vor ihr, eine Marionette an durchgetrennten Fäden:
ein hängender Kopf und gesenkte Schultern. Sie war nicht sonderlich groß, aber
durch ihre Schlankheit wirkte sie hochgewachsener und älter, als sie wirklich war. Ein
erbarmungswürdiges Bild des Jammers. Und doch glaubte Willow eine Magie in der
Luft zu spüren, eine knisternde Spannung. Leichtfüßig umrundete sie das Mädchen,
kam schließlich hinter ihrem Rücken zum stehen und blickte an der reglosen
Gefangenen vorbei auf Xander, der sie erwartungsvoll angrinste.
„Das ist Sarah“, erklärte Willow und legte sanft, fast liebevoll, einen Arm um die
Schultern des Mädchens. Sarahs Kehle entrang sich ein trockenes Schluchzen.
Instinktiv wusste Willow, dass ihre Gefangene hysterisch geweint hätte, wäre in ihr
noch eine einzige kleine Träne gewesen. Das Mädchen ließ es widerstandslos
geschehen, dass Willow ihren Kopf zur Seite zwang. Nur als Willows Zunge über
ihren Hals strich war da wieder das Schluchzen, von einem Erbeben des kraftlosen
Körpers begleitet.
„Hast du etwas Spezielles vor?“, fragte Xander scheinheilig. Willow drückte sich
an Sarah und schloss genießerisch die Augen, als sie die Wärme fühlen konnte, die
von dem Mädchen ausging. Der Duft ihres süßen Blutes, das Gefühl ihrer weichen
Haut.
„Du bist ein sehr böser Junge, Xander Harris“, stellte sie säuselnd fest. Er grinste
breit.
„Deshalb liebst du mich ja auch.“
Während ein Arm noch immer Sarahs Schultern umfasste, legte Willow den
anderen um ihre Hüften. Sie registrierte belustigt, dass Sarahs Bauch ein Knurren
von sich gab. Wie lange hatte sie wohl schon in dem Käfig verbracht?
„Wollen wir?“, fragte Xander. Willow schüttelte ablehnend den Kopf.
„Nicht hier. Und nicht so schnell. Was ich im Sinn hatte, könnte ein wenig länger
dauern. Das wäre nicht der richtige Platz.“
Xander ließ seine Hand durch Sarahs Haar fahren. „Dir wäre etwas Privates
lieber?“
Statt einer Antwort zwang die Vampirin Sarah den Kopf zu drehen und sie
anzusehen. „Wenn du brav bist …“ Sie erforschte das maskenhaft ausdruckslose
Gesicht, in das die Tränen schwarze Lidschatten-Striche gezeichnet hatten und in
das sie noch so einiges an Leben zurück zu zwingen gedachte. „Du wirst brav sein.“
„Willow Rosenberg“, hörte sie Xanders Stimme. „Du bist ein böses böses
Mädchen …“
Diese Willow war schon ziemlich heiß. Was hatte dieser Xander nur für ein Glück!
Bruce verzog missmutig den Mund und entblößte seine spitzen Zähne, während er
an die Dinge dachte, die die beiden Vampire Nacht und Tag so alles trieben. Und
was durfte er tun? Diese langweilige Amy rumführen und ihren Leibwächter spielen,
damit kein Vampir, dem sie über den Weg lief, auf dumme Gedanken kam. Dabei
gab es längst nicht mehr nur in der Stadt so viele Mädchen, denen er weitaus lieber
Gesellschaft geleistet hätte.
Sie betraten das >Bronze< durch den Haupteingang. Soweit Bruce wusste, hatte
sein Anhängsel den Club noch nie in voller Tour am Höhepunkt der Nacht erlebt.
Musste ein ziemlicher Schreck für die dürre Blondine sein. Tatsächlich blieb sie
abrupt stehen und sah ihn über die Schulter hinweg verstört an. Der panische
Gesichtsausdruck war Gold wert, rettete Bruce Laune heute Nacht aber auch nicht
mehr. Er stieß ihr wortlos die Hand in den Rücken und schob das steife Mädchen
einfach vor sich her. Natürlich zogen sie die Aufmerksamkeit der Umstehenden auf
sich, von einigen Seiten gingen zwei- und eindeutige Kommentare auf sie nieder, die
Bruce zähneknirschend ignorierte.
Es war nicht ungewöhnlich, dass Vampire ihre Beute nicht an Ort und Stelle
aussaugten, sondern mit ins >Bronze< brachten, damit die anderen auch was davon
hatten oder um sich im Lichte eines besonderen Erfolges zu sonnen. In den letzten
Monaten gab es darüber hinaus überraschenderweise immer mehr Menschen, die
freiwillig hier auftauchte. Vampirverrückte Spinner mit romantischen Vorstellungen,
ein paar todesmutige Partykids auf der Suche nach dem ultimativen Kick oder auch
mutlose Schleimer, die sich der neuen starken Kraft in Sunnydale als Helfer anbieten
wollten, bevor es andere taten. Das hatte besonders damit zu tun, dass die Vampire
einige Straßengangs ausgelöscht und damit ein Machtvakuum geschaffen hatten.
Die meisten Vampire der jüngeren Generation wurden von diesem Luxus schnell
verwöhnt und brachten schon mal einen der Freiwilligen um, wenn er nervte. Hin und
wieder starben sie auch einfach so, weil jemand ihnen zu viel Blut aussaugte oder es
einer beim Spielen übertrieb. Spielzeug ging halt irgendwann immer kaputt. Aber auf
jeden Fall war unübersehbar, dass der Stern der Blutsauger in dieser Stadt endlich
wieder rasant stieg.
Bruce beobachtet neidisch seinen Kumpel Lloyd, der in einer Sitzecke die Arme
um zwei leichtbekleidete Frauen gelegt hatte, von denen Bruce auf die Entfernung
nicht sagen konnte, ob sie lebendig oder untot waren. Die laute Musik machte
Gespräche fast unmöglich, aber hier wollte sich sowieso keiner unterhalten. Eines
hatte Bruce in seiner Zeit als Vampir kapiert: die Menschen mochten glauben, sie
wüssten, wie man feierte, aber sie hatten keine Ahnung.
Amy wirkte in ihrer Beerdigungskluft wie ein Totengräber auf einer
Neugeborenenstation. Sie zögerte schon wieder und Bruce hart strapazierter
Geduldsfaden bekam ernsthafte Risse. Er rammte ihr mit Wucht seine Hand
zwischen die Schulterblätter und bereute seine Tat im nächsten Moment. Amy
stolperte einige Schritte nach vorn, fiel über ihre eigenen Füße und stürzte in
Richtung Bar. Bruce durchfuhr ein kalter Schrecken, als Amy nicht der Länge nach
auf die Nase fiel, sondern im Fallen von einer Frau in einem altertümlichen weißen
Kleid aufgefangen wurde, die in der Umgebung des >Bronze< nicht weniger fehl am
Platze war als Amy. Der Vampir erkannte die geisterhafte Erscheinung mit dem irren
Blick sofort. Drusilla nannte sie sich. Sie gehörte zu den richtig alten Vampiren, von
denen einige nach Sunnydale gekommen waren, seit sich herumsprach, was in der
Stadt vor sich ging. Drusilla war leider auch ziemlich durchgeknallt, was sie extrem
unberechenbar machte. Sie konnte Amy auf der Stelle umbringen – und Bruce würde
den Ärger bekommen. Allerdings wollte er sich nicht gerade mit Drusilla anlegen und
erst recht nicht mit ihrem Begleiter und Lover, Spike, dessen Ruf es in den
eingeweihten Kreisen ziemlich in sich hatte. Doch noch bevor Bruce etwas tun
konnte, drückte Drusilla Amy an sich wie eine Puppe und strich ihr durch die Haare,
während sie etwas in Amys Ohr flüsterte. Bruce hatte im >Bronze< so ziemlich alles
gesehen, aber das war einfach nur schräg.
„Hast du mit der noch irgendwas vor?“ Die Frage wurde von einer Wolke
Zigarettenrauch begleitet. Bruce grinste schief und musterte den platinblonden
Vampir, der neben ihn getreten war. „Ich glaube, Dru mag sie.“ Spike passte mit
seiner Lederjacke und der lässigen Zigarette im Mundwinkel erheblich besser
hierher, befand Bruce.
„Sie gehört dem Meister“, erklärte er kurz angebunden und zeigte auf die Hexe,
die unverändert in Drusillas Umarmung klemmte und nicht die geringst Ahnung zu
haben schien, was sie tun sollte. Bruce musste sie da raus holen! Nicht, dass er ihr
nicht eine kleine Abreibung gegönnt hätte. Amy hielt sich für etwas Besseres, spielte
sich auf, als sei sie mehr wert, als all die anderen Menschen, die vor den Vampiren
herumkrochen. Leider konnte Bruce es sich nicht leisten, sie in seiner Obhut zu
Schaden kommen zu lassen.
Spike hob überrascht die Augenbrauen. „Dem Meister, wirklich?“ Er studierte Amy
ungläubig.
„Sie ist so eine Art …“ Bruce suchte nach dem passenden Begriff. „Haustier. Er
hat irgendwie was für sie übrig.“
„Ach!“, machte Spike und grinste. „Ich dachte immer, der Alte wäre so `ne Art
Mönch, der nur für seinen Aurelius-Kram lebt.“
Bruce hätte der Atem gestockt, hätte er noch einen besessen. Solche Worte über
den Orden des Aurelius zu verlieren, dem der Meister vorstand und der nach wie vor
den Kern der Vampirherrschaft bildete – Spike hätte sie in Anwesenheit des Meisters
oder Lukes nicht überlebt! Bruce schüttelte energisch den Kopf.
„Um so was geht’s ihm ja auch nicht …“
Spike verteilte seine Zigarettenasche achtlos im Raum. „Der Mann hat eben keine
Ahnung von den wichtigen Dingen.“ Bruce dauerte dieser Unsinn viel zu lange, für
ein gepflegtes Gespräch hatte er keine Zeit. Spike bemerkte es offensichtlich, denn
er sagte überraschend sanft: „Dru, lass sie los.“
Die braunhaarige Schönheit sah ihn mit großen traurigen Augen an, tat aber nichts
dagegen, dass Bruce Amy im Genick packte und heran zog. „Übrigens“, sagte er.
„War das hier nicht mal ein Nichtraucherbereich?“
Spike nahm seine Zigarette aus dem Mund und hielt sie prüfend vor die Augen,
als überrasche ihn ihre Existenz. „Ja“, erwiderte der blonde Vampir. „Ich glaube, da
hing ein Schild.“ Er wies über die Schulter hinter sich, wo ein Witzbold einem
Geschäftsmann in Anzug und Krawatte das >Bitte nicht rauchen<-Schild auf die
Brust genagelt hatte. Amy schrie auf. Spike zuckte nur mit den Schultern. „Freund
von dir?“
„Ah, Miss Madison.“ Bruce konnte nicht verstehen, warum der Meister, der
Herrscher der Vampire, vor dem alle Sterblichen kriechen müssten, gegenüber Amy
Madison prinzipiell eine ausgesuchte Freundlichkeit zur Schau stellte. „Es hat ein
wenig lang gedauert.“
Dass Amy darauf verzichtete, ihn beim Meister anzuschwärzen, brachte ihr bei
Bruce fast schon wieder ein paar Pluspunkte ein. Fast. Vermutlich fürchtete sie sich
auch nur vor ihm, schließlich war er ja ein richtig gemeiner Vampir der schlimmsten
Sorte. Er bevorzugte diese Vorstellung.
„Wir wurden kurz aufgehalten“, sagte sie mit einer demütigen Stimme, die Bruce
für absolut angemessen hielt. Der alte Vampir winkte Amy zu sich heran, natürlich
kam er nicht zu ihr. Bruce verharrte unauffällig am Rand. Diese Einladung galt nicht
ihm.
„Ich habe Sie rufen lassen, um Ihre Meinung zu hören.“
Für Bruce brach beinahe die Welt zusammen, als der große unbesiegbare Meister
der wertlosen Hexe Amy die Hand auf die Schulter legte und sie wie eine alte
Freundin zu einem hässlichen Dämon führte, der in einer Ecke des Raumes wartete.
Die Namen und Eigenheiten der vielen Dämonenvölker hatten Bruce nie interessiert,
er kannte einige persönlich, musste aber nicht ihre Lebensgeschichte kennen. Das
Viech war gelb wie eine Quietscheente und sah einer Ente mit seinem großen
Schnabel sogar ähnlich. Ein annähernd runder Kopf ruhte auf einem langen dünnen
Hals, der in einen tonnenförmigen Körper überging. Der Rest des Dämons
verschwand in einem großen sackartigen Gewand.
„Dieser Händler hat mir ein Angebot gemacht.“ Der Meister wies auf eine
Holzschachtel mit allerlei Steinen, die Bruce wie Schmuckstücke erschienen, aber
wohl eher magische Utensilien waren. „Was halten Sie davon?“
Amy näherte sich dem Kasten mit steifen unsicheren Bewegungen. Sie starrte
lange auf die Steine, nahm schließlich einige in die Hand, schien sie zu wiegen,
prüfte sie im Gegenlicht. Unvermittelt schüttelte sie den Kopf.
„Das ist falsch“, murmelte sie. „Das stimmt nicht.“ Sie hielt eine Hand voll Steine
hoch. „Da ist etwas falsch.“
Das Gesicht des Meisters verzog sich zu seiner Version eines Lächelns. „Das ist
richtig“, erklärte er sanft. Dann wirbelte er mit unerwarteter Geschwindigkeit herum,
griff mit einer Hand nach dem Kopf des Dämons und mit der anderen nach dem
Körper und riss in einer einzigen fließenden Bewegung den Kopf des Wesens vom
Rumpf ab. Ein Schwall dampfenden grün-gelben Blutes ergoss sich aus dem Kopf,
den der Meister achtlos fallen ließ. Amy schrie entsetzt auf, schlug die Hände vors
Gesicht und wirkte zutiefst geschockt. Selbst Bruce, der nichts hatte kommen sehen,
machte überrascht einen Schritt rückwärts.
„Das war alles“, meinte der Meister zu Amy, die am ganzen Leib zitterte wie
Espenlaub. „Sie können jetzt gehen. Sie sehen müde aus. Schlafen Sie etwas.
Träumen Sie gut.“
Auf eine Handbewegung des Meisters hin zog Bruce Amy aus dem Zimmer. Was
sie heute noch tun würde, das wusste er nicht. Er brauchte jetzt ein Glas voll guten
Blutes. Am besten eine Jungfrau.
Sarah saß auf der Bettkante und starrte ausdruckslos vor sich hin. Ein Beobachter
hätte sie für tot halten können, eine leblose Skulptur, wäre da nicht das auf und
nieder ihres Brustkorbes gewesen, das Zwinkern ihrer Augenlider. Der Beobachter
hätte sie auch für einen Vampir halten können – bleich und mit rot umrahmten Augen
– der nur noch das normale Atmen vortäuschte. Doch Sarah war kein Vampir, sie
war noch immer ein Mensch, noch immer eine Gefangene. Lebendig. Wie zwei Tage
zuvor, als sie einen dummen Ausflug zum Supermarkt in der Abenddämmerung mit
ihrer Gefangennahme bezahlt hatte. Dieselbe Person war sie nicht mehr.
Ganz langsam und zögerlich kehrte der Blick der jungen Frau aus den
unendlichen Tiefen zurück, in denen sie sich fast verloren geglaubt hatte.
Zeitlupenhaft sank ihr Kopf auf die Brust herab. Sie bemerkte überrascht ihre Hände,
die sie im Schoß gefaltet hatte, ohne sich daran erinnern zu können. Sie löste ihre
Hände voneinander und beobachtete eine halbe Minute lang ihr Zittern.
„Ich war brav“, murmelte sie und schlang ruckartig die Arme um den Leib, um das
Zittern der Hände zu beenden. Ohne dass sie es bemerkte, begann Sarah langsam
den Oberkörper hin und her zu schaukeln.
„Ja, das warst du“, antwortete Willows Stimme hinter ihrem Rücken und Sarah
erstarrte unter einer Welle von Erinnerungen, die sie ebenso peinigten, wie die
Dinge, die sie darin sah, es getan hatten. Sie fühlte Willows Hand, die durch ihr Haar
strich.
„Kann ich … gehen?“
„Gehen?“
„Du hast es versprochen.“ Das hatte sie. Die Vampirin hatte es geschworen. Ein
letztes Bisschen verzweifelter Hoffnung in Sarahs Kopf klammerte sich an diesen
Rest einer Möglichkeit.
Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als Willows Stimme hinter ihr
antwortete: „Da ist die Tür.“ Es klang unbeteiligt, als sei ihr völlig gleich, was aus
Sarah wurde. Die Junge Frau zuckte zusammen. Sie wagte es nicht, sich
umzusehen.
„Wirklich?“
„Ich hab’s versprochen.“
Ungläubig wagte es Sarah aufzustehen. Sie krümmte sich zusammen, wäre fast
gestürzt und überwand mit Mühe den aufsteigenden Brechreiz. Ihr Hals brannte von
aufgestiegener Magensäure, das Schlucken schmerzte. Die Arme noch immer um
den Oberkörper geschlungen setzte sie langsam einen Fuß vor den Anderen.
Vorsichtig, schleichend. Die Tür schien endlos weit weg. Drei Meter wie ein endloser
Abgrund. Die Tür wuchs vor ihr in die Höhe. Näher und näher. Da draußen war das
>Bronze<, eine Hölle voller Vampire, die sie durchqueren musste, um lebend hier
wieder raus zu kommen. Sie hatte keine Chance, nicht die geringste, würde
vermutlich nicht einmal in die nächste Etage gelangen. Aber so weit konnte sie jetzt
nicht denken. Es ging nur darum, hier raus zu kommen. Weg. Aus diesem Zimmer.
Von der Vampirin. Von allem, was sie Sarah angetan hatte. Weg von all den Dingen,
die Sarah getan hatte, um zu überleben, ohne zu wissen, wie sie damit würde leben
können. Alles in ihr schrie nach Leben. Sie hatte sich nicht gewehrt, sie hatte ihre
eigene Würde und allen Stolz geopfert und alles ertragen um zu überleben. Sie hatte
es sich verdient. Sie hatte teuer bezahlt.
Sie blieb stehen, einen halben Meter von der dunklen Holztür entfernt. Zögerte
ungläubig. Hob die Hand und streckte sie nach der Klinke aus …
Willows Körper, der mit voller Wucht von hinten gegen sie prallte, traf sie völlig
unvorbereitet. Der Schwung trieb sie gegen die Tür. Sarah schrie auf, vor
Überraschung, Enttäuschung – und wegen der Türklinke, die sich in ihren Bauch
bohrte.
„Du hast es versprochen“, wimmerte sie. Sie konnte Willows Zunge fühlen, die
über ihren Hals fuhr.
„Lass uns nicht streiten.“
Als Willow zubiss, versuchte Sarah nicht einmal mehr sich zu wehren …
6
Seelenqualen
„Das mit uns ging über mehrere Generationen.“
DARLA
Am Liebsten wäre Gene aufgestanden und ein paar Schritte gelaufen, nur ziellos
im Zickzack, um sich ein wenig aufzuwärmen, aber wenn er ganz ehrlich war: er
traute sich nicht. Vor einer Stunde hatte das alles ja noch ganz lustig geklungen, als
er mit seinen Freunden von der Studentenverbindung in einer Bar am Campus saß
und sie wetteten, dass er keine drei Stunden allein im Wald nahe des Unigeländes
verbringen würde. Ohne Lampe natürlich, an einem Platz, wo ihn im Zweifelsfall
wirklich keiner würde schreien hören. Vor einem halben Jahr wäre diese Wette noch
ziemlich lächerlich gewesen, aber seit sich in Sunnydale die Gerüchte über
grausame Vorfälle und eine steigende Zahl von Vermissten häuften, ging am
Liebsten niemand mehr ohne Begleitung vor die Tür. Schon gar nicht nachts. Eine
Freundin von Gene wollte sogar gehört haben, dass die Unileitung und die
Stadtverwaltung absichtlich die Studenten von Nachrichten aus der Stadt
abschotteten, um eine Massenabwanderung der Auswärtigen zu verhindern.
Nervös überprüfte Gene die Uhrzeit und richtete gleichzeitig ein Dankgebet zum
Himmel, dass man ihm wenigstens seine Uhr mit Leuchtanzeige gelassen hatte. Um
ihn herum gab es nur die riesigen Bäume, deren schwarze Umrisse im Dunkel der
Nacht in die Unendlichkeit zu streben schienen, wo sie mit einem schwarzen Himmel
verschmolzen. Ein fahler Halbmond unterstrich nur die beängstigende Stimmung.
Noch etwas mehr als eine halbe Stunde.
Gene schalt sich einen Narren. Warum sollte ausgerechnet ihm etwas passieren?
Hier, im Nirgendwo, wo sich ohnehin kein Mensch hin verirrte. Das Schreien eines
Nachtvogels ließ ihn zusammen fahren.
„Nur ein Tier“, versicherte er sich halblaut. Wäre es nur nicht so kalt gewesen. Der
dürre rothaarige Studienanfänger fuhr erneut zusammen, als ein Schuss durch die
Nacht hallte und von den Bäumen in vielfachem Echo reflektiert wurde. Für einen
Augenblick war er vollkommen gelähmt und glaubte zu fühlen, wie sein Herz
aussetzte. „Idiot!“, stieß er hervor. Natürlich kein Schuss. Nur ein Trottel, der auf
einen trockenen Ast getreten war. Da blendete Gene auch schon das gelbe Licht
einer Taschenlampe, ein überaus ermutigender Anblick. Er sprang sofort auf und
bemühte sich um eine imposante Pose. Soweit es ihn anging, war er ein strahlender
und unerschütterlicher Held geblieben. Gene kniff verärgert die Augen zusammen,
als das Licht direkt von vorn die kleine Lichtung überflutete, auf der man ihn
abgesetzt hatte.
„Vorsicht Jungs“, rief er.
„Was machst du hier?“ Gene runzelte irritiert die Stirn und versuchte vergeblich,
im Gegenlicht etwas zu erkennen. Die Stimme war ihm fremd. „Hast du dich
verlaufen?“
Gene schüttelte unwillig den Kopf und machte eine abwehrende Geste mit der
linken Hand, während die rechte sein Gesicht abschirmte. War er an einen
Nachtwächter geraten? Und konnte er dem von der blöden Wette erzählen?
„Ich warte nur auf ein paar Freunde.“
Endlich begriff der Trottel mit der Lampe und drehte sie etwas nach unten. Erst
jetzt konnte Gene erkennen, dass ihm zwei Männer gegenüber standen. Ein kleiner
mit einer grünen Jacke und einer Pelzmütze mit Ohren, der auf den ersten Blick
keinen sehr hellen Eindruck machte. Der andere Mann war ein etwas größerer und
muskulöserer Typ mit altertümlichen Schlaghosen und einer Goldkette. Eine
seltsame Kombination, die Beiden.
„Wie viele Freunde?“ Das war der Mann mit der Goldkette, offenbar hatte Gene
bis jetzt nur mit dem beschränkten Waldläufer geredet, denn die Stimme war ihm
neu. Im Gegensatz zu seinem kleinen Begleiter klang der Größere irgendwie
seltsam, Gene glaubte, einen unidentifizierbaren Unterton wahrzunehmen.
„Weiß nicht genau“, antwortete er ausweichend. Der Pelzmützenträger machte ein
fragendes Gesicht und sah zu seinem Begleiter.
„Warten wir?“
Der Große antwortete mit einer abfälligen Handbewegung. „Erst mal essen wir.“
Gene begann ernsthaft am Verstand dieser zwei Clowns zu zweifeln.
„Habt ihr ein Picknick vor?“, fragte er zweifelnd. Noch während seiner Worte
wechselten die Augen des Großen mit der Goldkette in ein leuchtendes Gelb, das es
mit der Taschenlampe durchaus aufnehmen konnte. Soweit Gene es im Halbdunkel
erkannte, veränderte sich gleichzeitig das Gesicht mit. Er sah nicht alles. Was an der
Dunkelheit lag. Und daran, dass er laut schreiend davon rannte.
Er war schnell, versäumte es aber leider, auf den Boden zu achten, was ihm
schmerzhaft bewusst wurde, als er in einer Wurzel hängen blieb und der Länge nach
auf den Waldboden krachte.
„Von dir kann man ja Kopfschmerzen kriegen“, beschwerte sich der Große, als er
Gene fast spielerisch im Nacken packte und auf die Beine zerrte. „Was sich
heutzutage alles im Wald rumtreibt.“ Äußerlich unbewegt trieb das entstellte
Ungetüm den Studenten gegen einen Baum.
„Du bist ein Vampir“, stammelte Gene.
„Die nehmen nur noch die klügsten Köpfe an der Uni, oder?“
Gene riss verzweifelt den Arm hoch und versuchte es mit einem ungezielten
Boxschlag. Der Vampir fing seinen Arm mühelos ab, packte Genes Handgelenke und
bog ihm rücksichtslos die Arme nach oben. „Jetzt mach’s uns nicht schwer, wir
haben heute auch noch andere Termine.“
Von rechts näherte sich die Taschenlampe und tauchte den Vampir in ein Licht,
das Details enthüllte, die Gene gar nicht sehen wollte. Er fragte sich, ob es nicht
besser wäre, in einer gnädigen Ohnmacht zu enden, als bei vollem Bewusstsein
erleben zu müssen, was nun kommen würde.
„Lou, verdammt!“, fluchte der Vampir und meinte offensichtlich seinen Begleiter.
„Nimm das Ding runter!“ Er fauchte wild zur Seite – und erstarrte. „Und wer bist jetzt
bitteschön du?“ Es war tatsächlich nicht der kleine Mann mit der Pelzmütze, der jetzt
die Lampe in der Hand hielt, sondern ein gut aussehender dunkelhaariger Fremder in
einem Mantel, der so schwarz war, dass er in der Nacht fast unterging.
„Lou musste weg“, erklärte der Unbekannte.
„Weg?“
Der Fremde nickte mit einem neutralen Gesichtsausdruck und trat einen Schritt
näher. In demselben Sekundenbruchteil gefror der Goldkettenträger plötzlich zu
völliger Bewegungslosigkeit. Gene nahm wie in Zeitlupe wahr, dass im Gesicht
seines Feindes tiefer Unglaube aufflackerte. Der Vampir sah nach unten, auf den
Pflock in seiner Brust – und zerfiel explosionsartig zu Staub. Völlig schockiert und
fassungslos ließ Gene die Arme herab sinken.
„Nachtwanderungen sind zur Zeit keine gute Idee“, sagte der Dunkelhaarige. „Hau
besser ab.“
Plötzlich entfuhr dem Mann ein überraschter Laut, etwas hatte ihn mit trockenem
Ploppen im Rücken getroffen. Bevor er irgendwie reagieren konnte, hüllte ihn eine
zuckende Aura von Elektrizität ein. Lautlos sackte er zusammen. Hinter ihm kamen
zwei Gestalten in ebenfalls schwarzer Montur zum Vorschein. Sie trugen
kugelsichere Westen und schwarze Sturmhauben, ihre Augen leuchteten gelbgrün
durch die Sehschlitze und sie hielten Gewehre in den Händen. Von einer Waffe
zogen sich dünne Drähte zum Rücken des Dunkelhaarigen.
Für Gene brauchte es keine Hilfe, um ihn lautlos umkippen zu lassen. Er fiel
einfach nur in eine gnädige Bewusstlosigkeit. So sah er nicht Darla, die sich aus den
Schatten löste und sich neben den Fremden kniete.
„Du bist also wirklich hier“, stellte sie fest. „Und du stinkst noch immer wie damals.
Du hast sie noch … deine Seele.“
Sie hatte ihn gefragt, ob er mit ihr kommen wolle und er hatte zugestimmt, nicht
ahnend, auf welchen Pakt für die Ewigkeit er sich einließ. Unzählige Male in ebenso
vielen Jahren seit dem hatte er sich die Frage gestellt, was geschehen wäre, wenn er
sich geweigert hätte. Wäre sie einfach davon gegangen und hätte ihn weiter leben
lassen, bis an sein möglicherweise nicht mehr fernes Ende? Hätte sie ihn im
nächsten Moment schon wieder vergessen gehabt und wäre weiter getrieben, durch
die Jahrhunderte? Oder hätte sie sich mit Gewalt genommen, was sie wollte? Doch
er hatte nicht abgelehnt. Diesen Trost konnte Angel nicht genießen, auf seinen Weg
gezwungen worden zu sein.
„Du bist erwacht, wie schön.“ Die Stimme des Meisters hatte sich nicht verändert,
nach so vielen Jahren. Angel hätte sie überall und zu jeder Zeit wieder erkannt. „Ich
hatte gehofft, dass wir uns noch einmal wiedersehen würden, Angelus.“ Angelus. Der
Name, der ihn verfolgen würde solange er existierte und in dem seine ganze
Vergangenheit in einem Wort zusammengefasst schien. 150 Jahre Tod über Europa.
Das Leiden von unzähligen Unschuldigen, die nur das Pech gehabt hatten, dass er
ihren Weg kreuzte. „Für die Geißel eines Kontinentes bist du tief gefallen.“
Angel fand sich in einem kleinen vergitterten Raum wieder, mit eisernen Ketten an
die Wand gefesselt. Spontan zerrte er mit aller Kraft daran. Ein ohrenbetäubendes
Klirren antwortete ihm, die Ketten selbst blieben unerschüttert. Erwartungsgemäß. So
dumm war sie nicht. Dafür kannte sie ihn zu gut.
„Seit wann machst du auf Schulmädchen?“, fragte er, den Meister absichtlich
ignorierend. Darla stand direkt neben ihrem Erschaffer und musterte Angel neugierig.
Obwohl sie im direkten Vergleich deutlich kleiner und zerbrechlicher war als der
Meister wirkte sie keineswegs unterlegen. Lächelnd drehte sich die Vampirin einmal
mit flinken Schritten um die eigene Achse, so dass Angel ihre grüne Strickjacke mit
aufgesetztem Schulwappen und den grünen karierten Rock von allen Seiten
bewundern konnte. Ein absolut unschuldiges Bild.
„Gefällt es dir etwa nicht?“, erkundigte sie sich mit einschmeichelndem Tonfall und
machte einen Schritt auf ihren alten Partner zu. Die Hand des Meisters legte sich
sofort auf ihre Schulter und zwang sie mitten in der Bewegung zum Stop.
„Schlecht erzogen und vorlaut, wie früher“, meinte der alte Vampir tadelnd. Angel
schüttelte herablassend den Kopf.
„Hässlich und stinkend, wie immer.“
Der Meister schoss mit erstaunlicher Geschwindigkeit nach vorn und verpasste
Angel einen Schlag ins Gesicht, der einem Menschen das Genick gebrochen hätte.
„Warum sollte ich dich nicht töten?“
„Wartet bitte!“, mischte sich Darla mit ihrer sanftesten Stimme ein.
„Gibst du jetzt hier die Befehle?“, grollte der alte Vampir leise aber drohend und
fuhr zu ihr herum. Sie kannten sich seit mehr als einer halben Ewigkeit und Darla
wusste sehr genau, wo die Freiheiten lagen, die sie genoss. Ebenso die Grenzen.
„Überlasst ihn mir.“ Es gelang ihr, die Formulierung so zu äußern, dass es neutral
klang, weder wie eine Bitte noch wie eine Forderung.
„Dir.“ Eine ebenso neutrale Antwort.
Sie schob sich am Meister vorbei, trat direkt an Angel heran und ließ ihre Hände
über seine Brust gleiten. „Denkt daran, wie viel er uns nutzen könnte.“
Der Meister zögerte nachdenklich. „Angelus. Er war eine der bösartigsten
Kreaturen, die ich je gesehen habe. Ich vermisse ihn.“
Angel setzte einen lüsternen Gesichtsausdruck auf, der Darla mit den Augen
auszog. Er streckte den Kopf vor, als wolle er sie küssen, oder beißen – oder beides.
„Richtig. Ich habe sie dir schon mal abgenommen.“, prahlte er. Der Meister
schubste Darla mit einem tiefen Grummeln beiseite und schloss seine klauenartige
Hand um Angels Hals.
„Sie ist zu mir zurückgekommen Mein Geschöpf, wie ich es vorausgesagt hatte.
Denn du konntest ihr nichts für die Ewigkeit bieten.“ Er hob Angel von den Füßen
und ignorierte Darlas besorgten Zwischenruf. „Und nun willst du mich provozieren,
damit ich dich vernichte.“ Der Meister lachte. „Oh Angelus.“ Er ließ ihn achtlos fallen
und ging zur offenstehenden Tür. „Wenn du ihn willst, dann nimm ihn dir.“
Darla sah ihrem Schöpfer nach, bis er verschwunden war, dann wandte sie sich
erneut Angel zu. „Er gibt dir eine Chance, Angelus.“ Sie sprang ihn regelrecht an und
küsste ihn leidenschaftlich, runzelte dann die Stirn, als seine Reaktion nicht zu ihrer
Zufriedenheit ausfiel. „Weckt das keine Erinnerungen? Hatten wir nicht eine schöne
Zeit?“
Eine Welle von Bildern durchzog Angels Kopf, Erinnerungen aus eineinhalb
Jahrhunderten Gewalt und Tod, die ihn als ewige Last quälten, wie alles aus seiner
Zeit als seelenloses Ungeheuer. „Das letzte Mal trugst du noch Kimonos“, sagte er.
Darlas Hände suchten sich provozierend einen Weg über seinen Körper.
„Damals hast du wenigstens noch Verbrecher ausgesaugt. Du warst wenigstens
noch einer von uns! Aber heute jagst du deine eigenen Leute. Was ist nur aus dir
geworden, Angelus? Warum bist du hier? Um diesen Menschen zu helfen, die dich
vernichten würden, wenn sie wüssten was du bist?“ Sie stieß sich von ihm ab als er
schwieg, zerriss mit Links sein Hemd und griff mit Rechts neben sich. Angel schrie
gepeinigt auf, als ein brennender Schmerz ihn durchzuckte. Es war ein kleines
Holzkreuz, das Darla mit einem Lappen umwickelt festhielt und auf seinen
Oberkörper presste. „Du bist kein Mensch. Du bist einer von uns. Was immer du
auch tust, es bleibt dabei.“
Sie warf das Kreuz mit einem angeekelten Gesichtsausdruck zu Boden. „100
Jahre Leiden und Selbstmitleid. Mein armer Liebling. Was hat dir das alles gebracht?
Bedauern und Leugnen.“ Sie strich sanft über den hässlichen Abdruck des Kreuzes
und hörte ihn stöhnen. „Das ist so jämmerlich. Es ist deiner nicht würdig, Angelus.“
Sie konnte die Wut spüren, die in ihm wuchs – und das war gut so. „Komm doch
zurück zu mir und herrsche mit mir am Hof des Meisters. Tausend Jahre lang.“
„An seinen Hof wäre ich nie gegangen, zu keiner Zeit“, presste Angel zwischen
zusammengebissenen Zähnen vor. Er fühlte es wohl, das brodelnde Verlangen, den
Dämon, der noch immer in ihm wütete. Ein Teil von ihm liebte sie noch und wäre
gern ihren Versprechungen erlegen.
„Willst du weggehen?“
„Denkst du, der Meister ließe dich noch mal ziehen?“
Für einige Sekunden schwankte sie innerlich, wog ein für und wider ab, die
Sicherheit der Familie, in der sie Jahrhunderte gelebt hatte und die Zeit mit Angelus,
in der sie wirklich das Gefühl gehabt hatte zu leben. Dann wurden ihre Augen
plötzlich kalt und sie fauchte.
„Fast hättest du mich überzeugen können dich gehen zu lassen, Angelus.“ Die
Wut einer enttäuschten Frau, lebendig oder untot. „Du bleibst hier“, entschied sie mit
einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete. „Ich suche nach einer Heilung für
dich. Sie haben dir eine Pest auf den Hals geschickt und dich mir weggenommen.
Aber jede Krankheit kann man überwinden. Versprochen!“
Sie ließ ihn in der Dunkelheit mit seinen Dämonen zurück.
Angel sah auf, als die Zellentür quietschend geöffnet wurde. Zu seiner
Überraschung war es nicht Darla, die ihn besuchen kam. Ein unbekanntes blondes
Mädchen, die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen gebunden. In den Armen,
die sie vor die Brust hielt, trug sie einen Stapel alter Bücher. Ihre Blicke trafen sich
kurz und Angel glaubte, eine unendliche Müdigkeit und Traurigkeit zu erkennen. Sie
senkte sofort den Kopf, schlurfte mit leisen Schritten auf einen Holzstuhl zu, der an
der Wand ihm gegenüber stand, und nahm Platz. Schweigend legte sie ihre Bücher
ab, nahm das oberste in die Hand und schlug es auf. Dabei wirkte sie peinlich darauf
bedacht, nur ja kein Geräusch zu verursachen. Das Papier raschelte leise unter ihren
Fingern. Sie gab Angel viel Zeit, sie zu begutachten: die dunkelblaue Hose, eine
schwarze schmucklose Bluse, ein breites kupfern schimmerndes Halsband.
„Hallo“, sagte er schließlich. Es war ziemlich lächerlich, wenn man bedachte, dass
er unverändert mit zerrissenem Hemd an die Wand gekettet vor ihr stand. „Ich bin
Angel.“ Sein Instinkt sagte ihm, dass sie kein Vampir war. Was suchte sie also hier?
Wer war sie? Manchmal hielten sich Vampire menschliche Diener, um die Dinge zu
erledigen, die sie am Tag nicht selbst ausführen konnten, aber der Meister in seiner
Abscheu gegenüber allen Sterblichen würde kaum solche Helfer dulden. Das galt
allerdings nicht unbedingt für alle seine Anhänger in der Stadt. Das Mädchen
schwieg und las weiter. „Verrätst du mir deinen Namen?“ Sie hob leicht den Kopf.
„Ich darf nicht mit dir sprechen“, erklärte sie kraftlos.
„Was machst du dann hier? Meine schweigende Gesellschaft genießen?“
„Ich wollte dich sehen.“ Sie zog nervös an ihrem rätselhaften Halsband, das Angel
für ziemlich unbequem hielt. In gut 250 Jahren hatte der Vampir Gelegenheit gehabt,
die abstrusesten Dinge und Moden in Augenschein zu nehmen, die Frauen auf sich
nahmen, um hübsch zu sein. Von seiner Warte wirkte dieses Halsband mehr wie ein
Folterinstrument denn wie ein Schmückstück. Sie wollte ihn sehen. Das klang, als
habe sie es gefordert. Aber sprechen durfte sie nicht mit ihm. Wie passte das
zusammen?
„Wer bist du? Ein Dämon?“
Sie lachte leise. „Eine Hexe.“
Das ergab einen Sinn. „Meine Seele.“
Sie nickte schwach. „Was sonst?“
Das gefiel ihm nicht. Zwar hatte seine Seele Angel in fast einhundert Jahren mehr
Leid als Freude gebracht, trotzdem wollte er keinesfalls wieder die Bestie werden, die
er einmal gewesen war. Seine Seele war der einzige Schutz davor, dass Angelus
wieder auf die ohnehin geplagte Menschheit los gelassen wurde.
„Du könntest mir trotzdem deinen Namen sagen.“ Es war sicher nicht nett, doch im
Augenblick war die einzige Chance, die er hatte, die, dieses Mädchen irgendwie in
seinem Sinne zu manipulieren. Er musste mehr über sie erfahren. Zum Glück schien
ihr Mitteilungsbedürfnis trotz des Verbotes recht groß zu sein.
„Amy“, antwortete sie.
„Amy.“ Gut, das war ein erster Schritt. „Denkst du, du kannst es schaffen?“,
sondierte er vorsichtig.
„Man hat dich mit einem starken Zauber belegt.“ Sie betrachtete ihn jetzt offen und
unverwandt, aber mit einem Fachblick, der gleichzeitig durch ihn hindurch in eine
andere Ebene der Existenz reichte. „Er ist alt und für die Ewigkeit gemacht. Das war
ein Spezialist.“
„Ein Zigeuner“, bestätigte Angel. Amy fuhr nachdenklich eine Zeile in ihrem Buch
mit dem Zeigefinger entlang. „Das hat Darla mir erzählt.“
„Steht ihr euch nahe?“, stichelte er, immer darauf bedacht, Amy am Reden zu
halten. Sie schüttelte unmerklich den Kopf. „Arbeitest du für Geld, für eine
Belohnung?“ Es gab immer wieder Menschen, die für eine Verwandlung in einen
Vampir alles tun würden. Sie klopfte mit dem Fingernagel gegen ihr Halsband.
„Für mein Leben.“ Das überraschte ihn nicht. Es erklärte auch das
Mitteilungsbedürfnis der jungen Frau über jedes Verbot hinweg. „Du bist hier auch
gefangen?“
„Die Welt da draußen ist nicht gerade scharf auf Menschen, die ihre Mutter
ermordet haben.“ Angel war überrascht, von der Offenheit der Aussage, der bitteren
Gleichmut des Tons und vom Inhalt der Selbstanklage.
„Du bist eine Mörderin?“ Sie sah nicht aus wie jemand, der leicht töten konnte. Er,
der Massenmörder, besaß genug Erfahrung für ein Urteil. Amy sah ihn noch immer
an, doch nun ging ihr Blick endgültig in unendliche Ferne.
„Sie war auch eine Hexe. Catherine. Katharina die Große. Königin der
Cheerleader. Sie war der Star der High School und dachte, das Leben würde ihr was
schulden. Das Leben sah das anders. Mein Dad lief davon, da war ich zwölf. Mum
sagte immer, ich verwende meine Jugend, irgendwann nahm sie sie. Sie tauschte
unsere Körper. Ich erwachte in ihrem Bett und … Nach ein paar Monaten fand ich
raus, wie ich meinen Körper zurückbekommen konnte. Mum fand das nicht so gut.
Sie hätte mich umgebracht, ich war schneller. Erkläre das mal der Polizei.“ Sie
lächelte voll inneren Schmerzes. „Im Prinzip ist der Meister nicht schlimmer, als
meine Mutter.“
Unwillkürlich dachte Angel an einen reichen tyrannischen Geschäftsmann aus
Irland, der seine liebe Not mit seinem unerzogenen Sohn Liam gehabt hatte. Eines
Tages stand der Mann am Grab seines Sohnes, ohne zu ahnen, dass der Tod für
Liam erst der Anfang sein würde.
„Ich tötete meine Eltern und meine Schwester“, meinte er, als helfe das Amy
weiter. Sie schüttelte den Kopf.
„Du bist ein Vampir.“ In Angels Ohren klang es hoffnungslos naiv.
„Möchtet ihr zwei Turteltauben ein bisschen Gebäck? Tee?“ Darla war unbemerkt
in die offene Tür getreten und bedachte Amy mit einem vernichtenden Blick purer
Mordlust, der in krassem Gegensatz zu ihrer süßlichen Stimme stand.
„Es tut mir leid!“, beteuerte Amy erschrocken und riss abwehrend die Hände vor
das Gesicht. Das Buch auf ihrem Schoss krachte auf den Boden und produzierte
eine Staubwolke.
„Dazu hast du noch keinen Grund.“ Darla grinste bösartig und schleuderte die
körperlich unterlegene Hexe mit Leichtigkeit vom Stuhl und gegen die nächste Wand.
Amys Gesicht war schmerzgepeinigt. „Ich kann dir gerne Gründe geben“, sagte Darla
sanft.
Plötzlich verzerrten sich Amys Gesichtszüge. Die Augen nahmen eine
tiefschwarze Färbung an und eine elektrostatische Spannung baute sich in der Luft
auf, begleitet von Lichtblitzen um ihre Hände. „Göttin …“, begann sie, die folgenden
Worte gingen in einem entsetzlichen Schmerzensschrei unter, der selbst Angel
erschütterte. Das Halsband leuchtete in bösartigem Rot auf und Amy wälzte sich mit
unkoordinierten Zuckungen am Boden, als hätte sie einen epileptischen Anfall.
„Du wagst es …“ Darla wollte sich rasend vor Wut auf die wehrlose Hexe stürzen.
„Warte.“
Die Untote erstarte, als sie Angels Stimme hörte.
„Lass sie.“
Darla zog Amy an den Haaren auf die Füße und trieb die hilflose Hexe hinüber zu
ihrem einstigen Gefährten. Das Halsband schimmerte wieder unschuldig kupfern,
doch Amys Gesicht war tränenüberzogen. Ohne Darla hätte sie keinen Schritt
machen können.
„Warum sollte ich ihr nicht auf der Stelle den Kopf abreißen, Angelus?“
„Weil ich dich darum bitte.“
Sie war regelrecht schockiert. Für eine halbe Minute stand Darla sprachlos vor
Angel, die leisen Klagelaute von Amy ignorierend. Dann warf sie die junge Frau
brutal zu Boden.
„Verschwinde! Und komm mir in nächster Zeit nicht mehr in die Quere, du
Miststück.“ Die Hexe kroch in entwürdigender Weise zur Tür, wo sie auf den Rahmen
gestützt wieder auf die Beine kam und unsicher nach draußen verschwand.
„Der Meister hat ihr ein nettes Spielzeug verpasst“, meinte Angel.
„Das Halsband? Hindert sie an Dummheiten. Und erinnert sie daran, wo ihr Platz
ist.“
Angel wagte kaum, sich auszumalen, was für ein Leben Amy hier führen musste.
Wenn sie ihre Hexenkräfte nicht einsetzen konnte, dann war sie den Vampiren, unter
denen sie leben musste, praktisch hilflos ausgeliefert. Selbst wenn der Meister seine
Hand aus irgendeiner Laune heraus schützend über sie hielt, musste es doch die
Hölle auf Erden sein. Denn kaum etwas reizte Vampire so sehr wie Wehrlosigkeit.
„Hast du was für sie übrig?“, erkundigte sich Darla lauernd. Seine Antwort konnte
womöglich Amys Zukunft bestimmen. Angel erinnerte sich sehr plastisch daran, was
sie beide früher mit Frauen gemacht hatten, die ihm gefielen – mit Drusilla, mit dem
Zigeunermädchen, das ihm Darla damals in Rumänien zum 145. Geburtstag
schenkte … Dem Meister wäre es vermutlich ziemlich egal, wenn Darla Amy
umbringen würde. In seinem ewigen Leben zählten die paar Jahrzehnte eines
Menschen nichts.
„Ich nehme an, sie ist die einzige Hexe, die du hast“, antwortete er ausweichend.
Darla winkte gleichgültig ab.
„Die gibt’s wie Sand am Meer, besonders in dieser verrückten Stadt.“
Er machte einen Schritt auf seine ehemalige Gefährtin und Schöpferin zu, soweit
die klirrenden Ketten es erlaubten. „Macht es dir nicht viel mehr Spaß, ihr
zuzusehen?“, fragte er mit diabolischem Angelus-Grinsen.
„Was meinst du?“
„Du weißt, was ich meine“, erwiderte er lockend. „Sie ist ein machtloses Kind,
gefangen in ihren Schuldgefühlen. Du kannst ihr Leid doch genau fühlen.“
Darla musterte ihn abschätzend. „Ja, sie quält sich mit Schuldgefühlen“, räumte
sie ein. „Ich dachte mir, dass du sie verstehen würdest, Angelus.“ Sie schnaufte
verächtlich. „Du bist so schwach geworden. So … menschlich.“
Die Schmerzen, die das Halsband Amy jedes Mal bereitete, wenn sie ihre Kräfte
ohne Zustimmung des Meisters benutzte, waren nicht das Schlimmste. Sie waren
furchtbar, sicher, aber auch kurz. Weit schlimmer war, dass ihr die Energie
schlagartig entzogen wurde, die in den Zauber hätte fließen sollen und sie als
ausgebranntes Wrack zurück blieb. Es dauerte Stunden, bis sie wieder wirklich auf
die Beine kam. Mühsam an die Wand gestützt bemühte die Magierin sich, möglichst
schnell von der Zelle des gefangenen Vampirs fort zu kommen. Was hatte sie sich
nur dabei gedacht? Sich ausgerechnet mit Darla anzulegen, dem Liebling des
Meisters. Sie konnte nur noch verschwinden, sich verkriechen und in nächster
Zukunft jedes Treffen mit Darla vermeiden, in der Hoffnung, dass die gefährliche
Vampirin die Angelegenheit vergaß und auf sich beruhen ließ, weil sie genug mit
ihrem Gefangenen zu tun hatte.
Wie fast jeden Tag seit dem Morgen, als sie zum ersten Mal im Spiegel nicht mehr
ihr eigenes Gesicht erblickt hatte, tauchte in Amys Kopf die Frage auf, wie sie in
diese unerträgliche Lage hatte kommen können. Das Leben im Körper ihrer eigenen
Mutter, praktisch als Gefangene einer Person, die sie doch hätte lieben und
beschützen müssen, war ein Alptraum gewesen. Gerade als sie glaubte, erwacht zu
sein, begann der nächste, noch viel schlimmere Schrecken. Dabei konnte sie nicht
einmal mehr genau sagen, ob die Vampire sie gefangen hatten, oder ob sie sich in
ihrer Verwirrung freiwillig andiente. Die Zeit nach dem Tod ihrer Mutter blieb ein
bruchstückhaftes Chaos, aus dem sie nicht schlau wurde und mit dem sie sich auch
nicht gern beschäftigte. Schon gar nicht jetzt.
Der Gang war schlecht beleuchtet, die Wände weiß gekalkt und ungemütlich.
Trotz des ebenen linoleumbelegten Fußbodens torkelte sie wie eine Betrunkene,
schwankte ständig hin und her. Amy musste stehen bleiben, die Welt um sie herum
ging in eine wilde Karussellfahrt über und der Brechreiz wurde unerträglich. Nach
Luft ringend lehnte sie sich an die Wand und suchte in dem Dämmerlicht hinter ihrem
Rücken nach Spuren einer Verfolgerin. Der Kopfschmerz überfiel sie mit der Wucht
eines Blitzschlages, alles wurde schwarz. Amy sank in sich zusammen und begann
zu weinen. Es war nicht der richtige Platz, es war nicht der richtige Zeitpunkt. Es war
nur der Moment, in dem sie nichts anderes mehr tun konnte.
Es tat ihr leid. Alles. Ihr ganzes Leben. Das misslungene Leben ihrer Mutter, die
sie mit in den Untergang gerissen hatte. Wenn sie hier sitzen bleiben und sterben
würde, dann wäre es ihr egal.
„Hast du dir wehgetan?“
Amy erschrak nicht über die Stimme. Selbst dazu war sie zu erschöpft. Nicht
Willow, dachte sie nur. Nicht Xander. Keiner von den Psychopathen des Meisters.
Der junge Mann, der vor ihr stand, schien so furchtbar harmlos und normal. Ein
nettes Gesicht a la Schwiegermutters Liebling. Sie erinnerte sich dunkel an ihn. Einer
der Soldaten der Initiative.
„Riley?“, fragte sie zögerlich. Er nickte und streckte ihr galant den Arm entgegen.
Natürlich musste er auch wissen, wer sie war. Sonst hätte ihn das Auftauchen eines
Menschen an diesem Ort etwas mehr überrascht.
„Geht’s dir gut?“, fragte er und sie ergab sich sekundenlang der wohligen
Vorstellung, er sei ein echter Mensch, der sich aus reiner Nächstenliebe um einen
Mitmenschen sorgte. Es war natürlich Unsinn. Vampire neigten selten zu Mitgefühl.
Dieser hilfsbereite Riley war nicht mehr als die äußere Hülle, die sich die blutgierige
Bestie in ihm zugelegt hatte. Ein Nachhall des Menschen, der Riley einmal gewesen
war. Doch was hätte ihr Misstrauen gebracht? Was sollte sie tun? Weglaufen? Amy
fühlte eine lähmende innere Ruhe, als sie seine kalte Hand ergriff, er ihr aufhalf und
sie abstützte, damit sie nicht hinfiel.
„Du wohnst im Obergeschoss?“
Amy nickte. Das alte Gebäude lag in Sichtweite des >Bronze<, nah genug im
Einflussbereich des Meisters, um sie leicht im Auge behalten zu können. Außer ihr
hausten hier nur Vampire. Keine angenehme Nachbarschaft. Immerhin hatte sie sich
eine hübsche Wohnung mit einem großen Balkon gesichert, wo sie in sicherer
Einsamkeit in der Sonne sitzen und träumen konnte. Sie hatte nur eine Handvoll
Vampire hineingebeten. Die, von denen der Meister es verlangte. Er selbst kam
natürlich nie zu ihr, das wäre unter seiner Würde. Was genau der alte Vampir in ihr
sah oder warum er erlaubte, dass sie weiterlebte, würde sie wohl nie begreifen. Die
anderen Vampire taten das auch nicht und entsprechend behandelte man sie, wie
eine Art unerwünschte Schwarze in einem rassistischen weißen Viertel. Nur, dass
man in Menschensiedlungen nicht so oft Leichen vor der Tür fand.
Wie oft stand sie an der Brüstung ihres Balkons und sah hinab, in die verlockende
Tiefe und erwog das Für und Wider. Für sie gab es kein Zurück in die Welt der
Menschen und kein Voran in die Welt der Vampire. Sie war kaum mehr als ein
nützliches Spielzeug des Vampirherrschers. Irgendwann würde er sie achtlos
wegwerfen und ihre Nachbarn würden sie wie Aasfresser auf sie stürzen und sie
lebendig zerfetzen. Wenn Darla nicht schneller war. Ob es wohl sehr wehtun würde?
Der harte müllübersäte Beton der Seitenstraße unter ihrer Wohnung konnte so
verlockend sein.
An der Art, wie Riley sie an sich drückte, als er sie voranführte, merkte Amy
instinktiv, dass der Vampir etwas anderes mit ihr vorhatte, als ihr nur zu helfen. Sie
erkannte es in seinen Augen, doch sie fand nicht die Kraft, um aufzubegehren.
„Ich möchte sie hier nicht mehr sehen müssen!“
Darla sprach in der Tonlage eines störrischen Kindes und zweifellos hatte sie die
Wirkung dieses Auftritts exakt kalkuliert. Sie war eine Meisterin darin, ihre Umwelt zu
manipulieren, auch wenn Amy nicht daran zweifelte, dass der Meister sich nur
manipulieren ließ, wenn er selbst es erlaubte. In den vier Jahrhunderten, die die zwei
Vampire verbanden, hatte sich zwischen ihnen ein komplexes und hochkompliziertes
Geflecht von Beziehungen und Verbundenheiten entwickelt, das die junge Hexe
kaum zu durchschauen vermochte. In der Praxis genügte es, sich schlicht mit der
Aussage abzufinden, dass Darla eben der Günstling des Vampirherrschers war –
womit sich Amy soeben auf dem besten Weg befand, in Ungnade zu fallen.
Die Angelegenheit mit Angel hatte Darla ziemlich persönlich genommen, fast
konnte man es als Anfall von Eifersucht bezeichnen. Also klagte sie dem Meister ihr
Leid. Von ihrem Versteckt in einer düsteren Ecke aus beobachtete Amy den Saal, in
dem soeben ihr Kopf gefordert wurde. Seltsam. Sie hätte zumindest Angst haben
müssen. Aber die innere Lähmung als Folge der Ereignisse der letzten Stunden hielt
sie noch in ihrem Bann.
„Sie macht uns nur Ärger“, fügte Darla ihrer Anklage hinzu.
„Sie zu töten, würde mir wenig Vergnügen bereiten“, merkte der Meister an. „Auch
wenn wir ihre Dienste in letzter Zeit selten genutzt haben.“
„Sie ist unfähig!“, warf Darla ein. „Nutzlos!“
„Und es würde dir gefallen.“ Der Meister klang amüsiert. Ein sehr gefährliches
Zeichen für Amy – er war in Geberlaune. Der Meister war nicht leicht zu begeistern,
aber gern zu Zeichen der Dankbarkeit bereit, wenn es jemand vermochte. Amy
atmete tief ein und fragte sich, wie viele Atemzüge es in ihrem Leben noch geben
würde. Es war nicht lange her, da lebte sie als Schülerin einer halbwegs normalen
High School und Tochter einer alleinerziehenden Mutter. Heute? Vielleicht war es
besser, wenn der Wahnsinn so schnell wie möglich ein Ende fand. Andererseits
entdeckte Amy zu ihrer eigenen Überraschung, dass, je wahrscheinlicher eine echte
Bedrohung für ihr Leben wurde, desto stärker der Impuls wurde, dem Tod noch
einmal ein Schnippchen zu schlagen.
„Wir sollten nicht vorschnell etwas tun, das wir nicht rückgängig machen können.“
Der Meister und Darla waren über die Einmischung nicht erfreut. „Vom militärischen
Standpunkt her …“
„Niemand hat dich gefragt!“, zischte Darla wütend, beeindruckte Riley aber nicht
im Geringsten. Der ehemalige Soldat beharrte auf seiner Sicht der Dinge.“
„Man verschrottet keine Waffen, wenn man keine Nachfolgemodelle hat.“
Sehr schmeichelhaft, stellte Amy fest. Riley ergriff also für sie Partei? Er hielt sich
damit an sein Versprechen, mehr als Amy erwartet hätte.
„Machst du böse Dinge?“
Amy zuckte vor Schreck so stark zusammen, dass sie sich abstützen musste, um
nicht hinzufallen. Wenn man entdeckte, dass sie sich hier unerlaubt aufhielt …
„Meine Mami hat gesagt, dass man andere Leute nicht belauscht, weil man sonst
taub wird.“
Amy war in namenlosem Entsetzen erstarrt. Sie erkannte die warme freundliche
Stimme sofort, in deren Gesang ein tiefer Abgrund des Wahnsinns lag. Drusilla war
zweifellos schön, mit ihrem braunen Haar und den ausdrucksstarken Augen, aber im
Wahn ihrer eigenen Welt auch einer der gefährlichsten weil unberechenbarsten
Vampire überhaupt. Sie und ihr Partner Spike waren vor kurzem mit einer
beachtlichen Puppensammlung im Gepäck in Sunnydale aufgetaucht. Obwohl die
zwei eine gemeinsame Vergangenheit mit Darla verband, deren Einzelheiten Amy
gar nicht wissen wollte, hatten sie aber wohl nicht die Absicht, länger zu bleiben.
Dafür war Spikes Verhältnis zu Autoritäten zu gespannt. Bisher war Amy Drusilla nur
einmal begegnet, sie hatte ihr irgendwas über Miss Sarah ins Ohr geflüstert, die nicht
brav gewesen sei und nicht zum Tee eingeladen wäre.
„Meine Mami hat auch für mich gesungen“, fuhr Drusilla achtlos fort und wiegte
ihren Oberkörper zu einer imaginären Melodie. „Möchtest du, dass ich etwas für dich
singe?“, fragte sie und nahm keine Notiz von der aufkeimenden Panik in Amys
Gesicht. Die Hexe hob abwehrend die Hände, trotzdem summte Drusilla mit
verklärtem Blick. „Ich kann das Meer nicht sehen“, flüsterte sie.
Amy blieb ratlos stehen wie angenagelt und erlaubte Drusilla, ihr durchs Haar zu
fahren.
„Psch“, machte Drusilla und legte verschwörerisch den Zeigefinger über ihre
Lippen. „Ich kenne ein Geheimnis.“ Sie sah über ihre Schulter zum Meister und
seinen Gesprächspartnern. „Noch verändern sich die Dinge nicht, noch bleibt alles,
wie es ist.“ Sie zauberte eine Tarotkarte aus ihrem Kleid. >Die Hohepriesterin<,
erkannte Amy. „Die Magierin bleibt in ihrem Käfig, aber nicht für immer.“ Sie lächelte
tiefgründig, drückte die Karte gegen ihr Herz und kam beängstigend nah an Amy
heran. „Der Herrscher macht Fehler und der Weise erkennt sie.“ Drusilla sah
nochmals über ihre Schulter, dann schwebte sie grußlos von dannen, halb in dieser
und halb in der nächsten Welt, so empfand es Amy.
Erst jetzt bemerkte sie, dass ihr Angstschweiß von der Stirn lief und sie am
ganzen Körper zitterte. Die Diskussion der Vampire war mittlerweile offenbar beendet
und bei Darlas missmutigem Gesicht machte Amys Herz einen schmerzhaften
Sprung. Sie sank zurück und wunderte sich selbst, warum sie nicht augenblicklich in
tiefe Ohnmacht fiel. Riley und Darla verließen in verschiedene Richtungen den Saal,
nur der Meister blieb zurück, in seinem Sessel, und starrte mit undefinierbarem Blick
vor sich hin.
Er starrte exakt in Amys Richtung …
7
Jenny Calendar
„Wir haben gar keine Kontrolle. Wir sind doch keine
Zauberer, Janna. Wir haben bloß unsere Rollen zu spielen.“
ONKEL ENYOS zu JENNY CALENDAR
Es war ihr nicht viel geblieben, von dieser Nacht, nur wirre alptraumhafte
Erinnerungen, die so verstörend wirkten, dass sie nicht daran gezweifelt hatte, sich
noch immer in einem Alptraum zu befinden, als sie längst wieder hellwach geworden
war.
Ihr Name lautete Jenny Calendar. Sie arbeitete als Informatiklehrerin an das High
School von Sunnydale. Das war Realität. Sicher und garantiert. Sie hatte gestern
Abend bis … irgendwann gearbeitet. In der Schule. Wenn es gestern gewesen war.
Draußen wurde es dämmrig und sie beeilte sich, das Schulgebäude so rasch wie
möglich zu verlassen, um nach Hause zu fahren. Dann? Unklar. Dunkelheit. Ein
Angriff, blitzende gelbe Augen. Wirr und unzusammenhängend. Zweifellos ein
Vampir, aber sie lebte ja noch. Oder? Wusste sie denn überhaupt, wie es sich
anfühlte, wenn man zu einem von ihnen wurde? Den Vorgang selbst kannte sie, in
den unzähligen Varianten, in denen sich Regisseure das Geschehen ausgemalt
hatten. Sie kannte aber auch die Realität, wie sie die Bücher und die Legenden ihres
Clans beschrieben.
Nein. Sie war nicht tot. Weder auf die eine noch auf die andere Weise. Das
entschied Jenny Calendar für sich. Sie war ein Mensch und würde es bleiben. Denn
nur ein Mensch konnte so einen irrsinnigen Schmerz fühlen.
Es war der Schmerz, der sie in ihre Bewusstlosigkeit verfolgte und sie schließlich
wohl auch aus ihr weckte. Jenny war schon einige Male aufgewacht, in einem Bus,
einem Flugzeug oder auch im Bett einer abendlichen Bekanntschaft, und hatte sich
gefragt, wo sie da eigentlich gerade gelandet war. Aber mit den Händen in
Handschellen war sie noch nie erwacht, zumal diese Handschellen in einem Haken
befestigt waren, der sie einen halben Meter über dem Boden baumeln ließ und ihr
die Arme auszukugeln drohte. Im ersten Erwachen geriet sie in Panik und versuchte
in einer spontanen ruckartigen Bewegung sich zu befreien. Was ihr nur eine neue
barmherzige Ohnmacht bescherte.
Beim nächstem Mal war sie gefasster, atmete langsam mit geschlossenen Augen
ein und aus. Die Konzentration auf sich selbst ähnelte einer Meditation, drängte die
Schmerzen in eine äußere Ecke ihres Verstandes ab. Langsam sammelte sie allen
Mut und wagte es dann, sich lang zu machen, stieß die Zehenspitzen Richtung
Boden. Vermutlich hatte sie noch nie in ihrem Leben so laut geschrieen. Tränen
rannen über ihr Gesicht, sie rang noch Luft und mühte sich gleichzeitig verzweifelt,
die Konzentration zurück zu erlangen. Obwohl auch das unsägliche Pein bereitete,
begann sie, ihre Umgebung näher in Augenschein zu nehmen. Wenn sie so nicht
entkommen konnte, dann musste es andere Wege geben.
Zu ihrer Überraschung hing sie nicht einem Keller oder der bluttriefenden
Folterkammer eines Psychopathen. Es war ein gediegener altmodischer Raum, der
eher ins letzte Jahrhundert passte, als an die Schwelle zum dritten Jahrtausend. Ein
schwerer Eichentisch mit kunstvollen Verzierungen zog sich vor ihr hin, sie hing
genau vor dem einen Kopfende. Rechts und links des Tisches gruppierten sich
ebenso kunstvoll gearbeitete Stühle, drei an jeder Seite, parallel zueinander und
penibel ausgerichtet. Dazu passende Holzregale mit sorgfältig arrangierten
Kristallgläsern. Auf einem Bord stand eine wunderschöne gläserne Karaffe mit einer
roten Flüssigkeit, Wein, wie Jenny annahm. Es roch muffig, selten gelüftet. Das
einzige große Fenster, soweit es Jennys Blickfeld anging, lag ihr gegenüber, die
schweren grünen Samtvorhänge zugezogen. Aus dem dämmrigen Licht schloss
Jenny, dass es Tag sein musste.
Die Lehrerin fuhr zu Tode erschrocken zusammen, als eine Gestalt neben ihr
erschien und schrie gleichzeitig wieder auf, während bunte Sternchen vor ihren
Augen tanzten. Die Gestalt schlich achtlos an ihr vorbei, würdigte sie keiner
Beachtung. Es war eine junge blonde Frau. Jenny hätte mit einem Dämon gerechnet,
einem Vampir, sogar mit einem Geistesgestörten. Damit nicht. Aber ihr vernebelter
Verstand war immer noch klar genug, um zu erkennen, dass die Frau nicht hier war,
um ihr zu helfen. Dafür war die Situation wohl eindeutig genug.
Die Blonde trug einen langen roten Rock und eine weiße Rüschenbluse. Sie
passte geradezu perfekt in die altertümliche Umgebung. Mit provozierender
Gelassenheit musterte sie Jenny und dabei umspielte ein grausamer Zug ihre so
unschuldig wirkenden Lippen. Wortlos nahm sie sich eines der Gläser, füllte etwas
rote Flüssigkeit aus der Karaffe hinein und ließ sich geradezu entspannt in dem Stuhl
nieder, der am gegenüber liegenden Kopfende stand. Jenny gegenüber.
Während sie trank, suchten die Augen der blonden Frau nach Jennys, und
nachdem sich ihre Blicke einmal gekreuzt hatten, ließen sie sich nicht mehr los.
Jenny begriff, dass sie eine stumme Herausforderung erhalten hatte. Standhalten
oder ausweichen. Wer ertrug es länger, eine vor Schmerz halb betäubte und
verwirrte Frau oder ein Wesen, dessen Nichtmenschlichkeit Jenny mit jeder Sekunde
stärker empfand. Die Lehrerin legte alle Kraft in dieses stumme Duell, vergaß
darüber fast ihre Lage, ihre Umgebung, ihr Leiden. Sie hatte niemals eine Chance,
nicht gegen ein Monster, das sie tagelang würde anstarren können. Aber das wollte
sie nicht wahr haben, wollte sich nicht unterwerfen. Und wurde letztlich doch
niedergezwungen. In Jenny zerbrach etwas, in dieser ersten Niederlage, eine
Bresche war geschlagen, in die Mauer ihrer Abwehr. Sie biss sich vor verzweifelter
Wut auf die Unterlippe.
„Das ist ein wunderschönes Haus.“ Die Stimme eines normalen Menschen in
bestem Plauderton. Nach der stundenlangen Stille klang es überlaut, fast
schmerzhaft, in Jennys Ohren. „Ein bisschen nostalgisch. Der Besitzer wollte es gar
nicht hergeben. Aber wir konnten uns einigen. Und er durfte sogar hier bleiben.“ Die
Blondine leerte ihr Glas. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich jemanden wie dich jemals
wieder treffe. Ich war sicher, wir hätten euch ausgerottet.“
Jenny war zu keiner körperlichen Reaktion fähig und eine Antwort wollte die
Lehrerin nicht geben.
„Von mir erzählt man sich wohl nichts in eurer neuen Sippe. Nur von Angelus, der
große böse Wolf, der kam, um euer liebstes Schäfchen aus der Herde zu rauben.“
Sie lachte leise. „Ich frage mich seit 100 Jahren, wieso ihr mich übersehen habt.
Obwohl ich sie auswählte, als Geschenk zu seinem Geburtstag. Obwohl ich von
ihrem köstlichen Blut trank. Warum habe ich keine stinkende Seele?“ Das kleine
Geräusch, mit dem das Glas auf dem Tisch abgesetzt wurde, traf Jenny wie ein
körperlicher Schlag. Sie stöhnte auf. „Ihr habt euch für so schlau gehalten, so
grausam. Erzählt man sich in der Sippe heute noch, was danach passiert ist, nach
dem Fluch? Was wir mit euch gemacht haben?“ Ihre Worte troffen vor Hohn und
Selbstgerechtigkeit. „Es ist doch kein Zufall, dass du hier bist. Mit Angelus. Du weißt,
wo er jetzt ist.“
Natürlich wusste Jenny es, schließlich war sie Angelus Aufpasserin gewesen,
sollte sicherstellen, dass er seine verdienten Qualen weiter litt, bis zum jüngsten Tag.
Sie sollte beobachten – und das hatte sie in letzter Zeit allzu sehr vernachlässigt.
Seine Gefangennahme hätte die Informatiklehrerin allerdings weder verhindern
können noch wollen.
Die Blonde stand auf und während sie auf Jenny zukam, wandelte sich ihr
harmloses hübsches Gesicht in das eines Vampirs.
„Wir sollten jetzt anfangen.“ Spielerisch gab sie Jenny einen Stoß und lauschte
ihrem gequälten Aufschrei. „Ich habe in letzter Zeit alles kennen gelernt, was es in
dieser Stadt so an Hexen, Zauberern und Spinnern gibt. Ich habe sie bedroht, sie
gefoltert. Ich habe sie sogar bezahlt. Aber niemand konnte mir sagen, wie man eine
Seele vernichtet. Du kannst es.“
Die Vampirin zog mit ihrem Fingernagel eine blutige Strieme über Jennys Wange
und leckte genussvoll das Blut ab. „100 Jahre und ein paar Generationen. Aber die
Erinnerungen kann man noch immer schmecken.“
Sie verschwand hinter Jennys Rücken und zweifellos war das ein Teil ihrer Taktik.
Sie zu verängstigen und im Unklaren zu lassen. Viele Vampire labten sich am Leid
anderer Wesen, selbst an dem ihrer Artgenossen. Sie kannten keine Gnade, das lag
nicht in ihrer Natur. Aber für das, was die Vampirin vorhatte – Jenny erinnerte sich
dunkel einer Partnerin des Angelus, die Darla genannt worden war – für das, was
Darla vorhatte, brauchte sie eine lebende Jenny Calendar. Die Lehrerin beging keine
Sekunde den Fehler, ihre Gegnerin für ein blutrünstiges Monster zu halten. Zwar war
diese Darla zweifellos ein grausames Ungeheuer, aber auch ein verdammt kluges
und hinterhältiges Wesen, dass Antworten von ihr erpressen wollte. Hier war der
Zustand des Geistes sehr viel wichtiger als der des Körpers. Jenny war nicht
unmittelbar in Gefahr zu sterben, doch war sie sich nicht wirklich sicher, ob sie
darüber froh sein durfte.
Etwas klirrte. Metall auf Metall. Gemächlich schob Darla einen kleinen
zweietagigen Wagen vor sich her, der metallisch schimmerte. Sie positionierte ihn
symbolhaft vor ihrer Gefangenen. Selbst die Sammlung von chirurgischen
Instrumenten wirkte altmodisch.
„Ich hatte noch nicht erwähnt, dass der Vorbesitzer dieses Hauses Arzt war,
oder?“ Behände zog Darla von der unteren Ebene des Wagens eine blaue Rolle und
warf sie geschickt wie ein Bettlaken aus. Jenny erkannte, dass sich unter ihr jetzt
eine große blaue Plastikfolie erstreckte. Gegen ihren Willen schnürte es ihre Kehle
zusammen, sie schluckte schwer und wurde von ihrem kratzenden Hals daran
erinnert, wie lange sie schon nichts mehr getrunken hatte. Sie musste durchhalten,
bis Hilfe eintraf. Es musste Hilfe kommen, man würde sie doch vermissen! Und egal
was auch immer geschah: der heiligen Verantwortung, die ihr voll Vertrauen von
ihrem Volk übertragen worden war, hatte sie sich würdig zu erweisen. Komme was
wolle und koste es ihr Leben.
„Wir wollen doch diese schönen alten Teppiche nicht so schnell ruinieren, oder?“
8
Rupert Giles
„Der oberste Vampir hier bei uns. Er residiert am Stadtrand in einem alten Klub.“
RUPERT GILES
„Sie wissen, wo er wohnt und haben nie versucht, ihn zu erledigen?“
BUFFY SUMMERS
„Wir haben es oft versucht.“
RUPERT GILES
Den Hörer auf das Telefon zu knallen, stellte einen ungewöhnlich extremen
Gefühlsausbruch dar – zumindest wenn es sich um Rupert Giles handelte.
„Diese …“
Eine Pause im Kampf um die Fassung.
„… Bürokraten.“
„Sie werden uns also nicht helfen.“ Mit der ihm eigenen Gelassenheit gelang es
Oz, die Neuigkeit, die Giles so erschütterte, in einen einfachen Satz zu fassen.
Giles hantierte mit gesenktem Kopf an seiner Brille herum.
„Der Rat sagt, dass durch den Aufstieg des Meisters der Höllenschlund nicht völlig
geöffnet wurde, eine relativ offensichtliche Feststellung, wenn man bedenkt, dass wir
noch am Leben sind und auf dieser Welt weilen. Allerdings wurde eine Reihe von
Aktivitäten ausgelöst, in verschiedenen Teilen der Welt.“ Der Wächter setzte die
Brille wieder auf und legte die Arme auf seinen Schreibtisch. „Sie sagen, sie
brauchen momentan alle Leute selbst. Solange wir hier keine Verschlimmerung von
biblischen Ausmaßen erleben, steht Sunnydale auf der Prioritätenliste relativ weit
unten.“
„Dann müssen wir es eben alleine machen.“
„Allein? In eine Vampirfestung eindringen, gegen eine unbekannte Anzahl von
Vampiren antreten, den Meister in Schach halten, Jenny retten – und lebendig
entkommen?“
„Vielleicht kann ich noch ein paar Leute auftreiben.“
Giles schüttelte ungläubig den Kopf über soviel Naivität. „Mit ein paar Helfern
können wir mit etwas Glück einen Vampir überwältigen, aber doch keine Armee.“
„Haben Sie sonst eine Idee?“
Vor einem halben Jahr noch hatte Giles einen ruhigen Museumsposten in England
bekleidet, bei dem seine Tätigkeit als Wächter bestenfalls sekundär eine Rolle
spielte. Sicher, seit Generationen gehörten Mitglieder der Familie zum Rat der
Wächter, die Verantwortung war in seinem Leben seit der Kindheit präsent gewesen.
In Oz Alter versuchte er, davor davon zu laufen, lange ging es nicht gut. Spätestens
der Tod eines Freundes, an dem Giles eine nie abzutragende Schuld zukam, trieb
ihn zurück auf den Weg der Tradition, für den er nun einmal bestimmt war. Der
Entscheidung des Rates, ihn in die USA zu schicken, in die kulturelle Wildnis
Kaliforniens, beugte er sich, auch wenn die Stelle eines Schulbibliothekars ihm fast
wie eine mutwillige Beleidigung seiner Fähigkeiten erschien.
Dafür sollte er der Wächter der Jägerin sein, eine der schwersten und
ehrenvollsten Aufgaben, die der Rat überhaupt zu vergeben hatte. Auf diese Aufgabe
bereitete er sich gewissenhaft und gründlich vor – nur erschien die Jägerin nie in
Sunnydale. Aus Gründen, die er nie erfuhr, entschied die Mutter der Jägerin im
letzten Moment in eine andere Stadt zu ziehen, wo ihr der Rat einen anderen
Betreuer zur Seite stellte. Giles überließ man es, das in Sunnydale entdeckte und
(fast) einmalige Phänomen des so genannten >Höllenschlundes< im Auge zu
behalten und dessen Auswirkungen zu protokollieren. Die nächste Wendung folgte
so prompt wie unerwartet, aus dem Beobachtungsposten wurde ein Kleinkrieg gegen
die schlagartig geradezu eskalierende Vampiraktivität.
Bei einem der Zwischenfälle, einem Vampirangriff auf ein Konzert der Band
>Dingos eat my baby< (ein absolut geschmackloser Name, nach Giles Meinung,
zudem ohne jeden Zusammenhang mit Musik), lernte er den Schulabbrecher und
Musiker Oz kennen, augenscheinlich der einzige Mensch in Sunnydale mit der
Bereitschaft, die seltsame Blindheit der Bürger gegen alles Ungewöhnliche
abzulegen. Oz wollte ihm helfen, so konsequent und selbstverständlich, dass eine
Ablehnung von Giles ihn nicht im Geringsten beeindruckte.
Nur wenig später offenbarte die Informatiklehrerin Jenny Calendar bei einer
Auseinandersetzung mit einem alten Dämon, der durch Zufall aus einem Buch befreit
worden war, ungeahnte Talente. Ausgerechnet hier, fern der Heimat, verliebte sich
ein englischer Büchernarr in eine computerbegeisterte Hobby-Hexe mit SintiVorfahren aus Rumänien. Inmitten der größten Vampirinvasion seit dem Mittelalter.
Ob Jenny entführt wurde, weil sie ihm nahe stand, oder wegen ihrer eigenen
Geheimnisse – Giles wusste es nicht. Dafür wusste er umso besser, dass sie nur an
einem Ort sein konnte, nur dort konnte er sie befreien – im >Bronze< …
Oz >ein paar< stellten sich konkret als zwei heraus: Larry, ein angesehener
Spitzensportler, einst als Schläger verschrien, aber seit dem viel beachteten Coming
Out als Schwuler zu einem erstaunlichen inneren Frieden gewachsen, und Nancy,
ein Giles bisher unbekanntes aber bemerkenswert mutiges Mädchen. Sie kannten
die Risiken – und waren bereit sie zu tragen. Um Jenny zu retten, die sie alle drei
kannten, aber auch, um endlich selbst einen Schlag gegen den unüberwindlich
scheinenden Gegner führen zu können.
Waffen hatte Giles genug, dazu einige Zaubersprüche. Als hilfreich erwies sich
das jugendliche Alter seiner Mitstreiter – im Gegensatz zu ihm kannten sie das
>Bronze< noch aus eigener Anschauung von innen. Sie entwarfen einen
Schlachtplan und legten einen Termin fest. Zwei Tage befand sich Jenny schon in
der Gewalt der Gegenseite, eine endlose Zeit, in der Giles jede Sekunde mehr
gelitten hatte. Aber das Leben seiner drei Helfer durch Unvorsichtigkeit zu riskieren –
dazu wäre Giles nicht im Stande gewesen.
Am bewussten Tag schliefen sie alle lang, soweit sie schlafen konnten. Erst gegen
Mittag, als die Sonne am höchsten stand, trafen sie sich bei Giles, die letzte
Lagebesprechung. Kein Zurück mehr. Wenn es eine Chance gab, Vampire zu
überraschen, dann in der größten Mittagshitze.
In der Glut der kalifornischen Sonne hätte man das >Bronze< für einen normalen
leer stehenden Nachtclub halten können, noch nicht lange genug verlassen, um
abbruchreif zu sein, aber doch schon so lange tot, dass die Aura eines von
Menschen oft besuchten Platzes fehlte. Alle Türen waren geschlossen, die Fenster
lichtdurchlässig versiegelt. Trotzdem würden sich kaum Vampire nahe der Öffnungen
nach draußen aufhalten, womöglich nicht einmal im Erdgeschoss.
Nachts trafen sich hier Unmengen von Untoten, aber jetzt würden sich die Massen
in die eigenen Wohnungen oder Verstecke zurückgezogen haben. In der Hoffnung,
von innen genauso wenig betrachtet werden zu können, wie umgekehrt, pirschten sie
sich heran. Zwei Möglichkeiten bestanden: ein Frontalangriff oder ein vorsichtiges
Vorgehen, um möglichst spät entdeckt zu werden. Sie hatten sich für das zweite
entschieden. Über eine Seitentür wollten sie es versuchen, die laut Nancy nicht direkt
in den Hauptsaal führte, sondern in einen kleinen Extraraum neben der
Damentoilette. Das Risiko dieses Schrittes übernahm Giles selbst.
Er drückte die Klinke herunter, schob leicht und die Tür ging auf.
Erwartungsgemäß kannten Vampire keine Notwendigkeit zum Abschließen. Mit
einem kräftigen Stoß warf Giles sich nach unten und überraschte wie erhofft den
Wache haltenden Vampir völlig, der vor sich hin gedöst haben musste. Der Vampir
sprang auf, schon lag leichter Qualm in der Luft, ein unterdrückter Schrei, dann
erreichte auch schon eine Wolke von Pulver aus Giles Hand den Flüchtling und
lähmte seine Stimmbänder und Muskeln. Nur für eine halbe Minute, aber
ausreichend, um ihn stumm verbrennen zu lassen.
Sie drängten sich in den kleinen Abstellraum, lauschten einige Zeit. Nichts. Erstes
Aufatmen, dabei standen sie noch ganz am Anfang. Aus dem Raum führten zwei
Türen, die ihnen nur den Weg in Richtung der Toiletten offen ließen – oder zum Saal.
Sie hatten keine Wahl.
Larry schloss die Tür nach draußen und nicht nur bei ihm tauchte der Gedanke
auf: noch können wir verschwinden, ab hier nicht mehr. Aber noch schien das Glück
auf ihrer Seite zu stehen, auch im Saal selbst war kein Vampir in Sicht. Der Körper
eines Mädchens baumelte in einem Käfig von der Decke, die Leiche eines älteren
Mannes hatte man auf dem Billardtisch festgebunden. Helfen konnten sie hier
keinem mehr.
„Offenbar hat die Putzfrau frei“, murmelte Larry in einem Anflug von verzweifeltem
Humor.
„Seht nicht hin“, empfahl Giles mit belegter Stimme. Solche jungen Leute sollten
nicht hier sein, nicht an so einem Ort, solche Dinge nicht sehen müssen. Sie sollten
auch nicht so sterben müssen.
„Der Keller“, flüsterte Nancy, nach links zeigend. Obwohl sie vor Giles stand,
blickte sie gebannt an ihm vorbei, auf das tote Mädchen. Erst Oz zog sie weiter.
Aus den Bauplänen, von Nancy und von einem gefangenen Vampir hatten sie
erfahren, dass nur an einem Ort im >Bronze< Gefangene untergebracht werden
konnten: in einem kleinen >Zellentrakt< im Keller, den der Meister gerüchteweise
unter Leitung einer treuen Anhängerin namens Darla hatte installieren lassen. Die
Frage, welche Art von Installationsfirma wohl für Vampire arbeitete, schob Giles
kopfschüttelnd von sich. Er wunderte sich nur, welch seltsame Gedanken einem in
Stresssituationen kommen konnten.
Sie verzichteten darauf, eine Wache an der Treppe stehen zu lassen. Getrennt
waren sie zu angreifbar, der Vorteil eines größeren Überblicks durch Aufteilung
erschien dagegen zweifelhaft. Oz ging voran, mit einer Armbrust bewaffnet. Nach ein
paar Wochen Übung konnte er erstaunlich gut mir der mittelalterlichen Waffe
umgehen. Hinter ihm kam Giles, dann Nancy, als Abschluss Larry.
Hinter einer weiteren Tür erwartete sie ein schattenerfüllter Gang, von dem links
zwei Zellen abzweigten, überraschenderweise mit nicht abgehängten Fenstern. Die
erste war leer. In der zweiten lag ein Körper auf dem Boden, auf der Seite, ihnen den
Rücken zugewandt.
„Jenny“, flüsterte Giles. Keine Reaktion. „Jenny …“
„Das also ist Rupert“, sagte eine höhnische Stimme hinter ihnen. Larry und Oz
bezogen blitzschnell Stellung vor Giles und Nancy, ihre Armbrüste kreisten auf der
Suche nach einem Ziel. Sie fanden mehr als genug.
Der Meister selbst hatte zu ihnen gesprochen, eine unmenschliche hässliche
Erscheinung, die wenige Meter vor ihnen stand, umgeben von anderen Vampiren:
eine blonde Frau zur Rechten, links ein rothaariges Mädchen und ein Junge, direkt
vor dem Meister – als lebendes Schutzschild – ein stämmiger Mann, der im
Gegensatz zu den anderen drei >normalen< Untoten sein Vampirgesicht zeigte.
„Xander?“, stieß Larry hervor. Wie eine nette Begrüßung kam ein freundliches
„Larry“ zurück.
„Man sagte mir, sie habe oft nach ihnen gerufen“, erklärte der Meister erstaunlich
ruhig. „Sie schien immer noch zu glauben, irgendjemand, ein Wunder – oder Rupert
– würde sie doch noch retten.“
„Sie haben sie umgebracht.“ Der Hass in Giles Stimme war für die, die ihn
kannten, ein Schock. Ein Giles, den sie nicht kannten, schien vor ihnen zu stehen,
bereit, sich sofort und mit bloßen Händen auf den Meister zu stürzen.
„Streng genommen hat sie das selber getan.“ Die Blonde – Giles hielt sie für die
bewusste Darla, die er aus alten Wächterberichten über den Meister kannte – ging,
ohne sich um Larry und Oz zu kümmern, auf Giles zu. Gemessenen Schrittes,
katzenhaft leicht und flüssig. „Kommt Jungs, ich beiße doch nicht“, säuselte sie
unschuldig lächelnd und seufzte anschließend enttäuscht. „Ich habe mich sehr lange
mit ihr unterhalten, mit der lieben Jenny, aber sie konnte richtig stur sein. Nur eine
einzige kleine Information wollte ich von ihr. Nichts Aufregendes. Nur ein Heilmittel
für einen kranken Freund. Ich habe alles versucht, um sie zu überzeugen.“ Darla
schüttelte mitleidig den Kopf. „ Und ich kenne eine Menge
Überzeugungsmöglichkeiten. Am Ende dachte ich an die einfachste Möglichkeit – sie
zu einer von uns zu machen. Daran hätte ich eher denken können, oder? Leider war
Jenny anderer Meinung, als sie davon erfuhr. Das war schon gestern, falls es sie
beruhigt. Soviel zu spät sind sie gar nicht.“
„Ich bringe dich um“, zischte Larry, seine Armbrust zitterte.
„Das beruht auf Gegenseitigkeit.“ Darla kehrte an die Seite ihres Meisters zurück.
Erst später fand Giles dazu Gelegenheit, sich zu fragen, warum ihnen Darla so
bereitwillig Auskunft gegeben hatte und er begriff, dass es nur eine weitere Variante
der Erniedrigung sein sollte: ich kann dir alles erzählen, du kannst alles wissen –
aber du kannst nichts dagegen unternehmen.
Nun standen sie sich gegenüber. Lauernd auf einen Fehler der Gegenseite
wartend. Es würde Opfer geben, auf beiden Seiten. Dass am Ende der Sieg der
Vampire stehen würde war praktisch sicher, aber wer würde zuerst die Geduld
verlieren?
„Ihr könnt jetzt gehen“, verkündete der Meister völlig überraschend. Die
Fassungslosigkeit auf den Gesichtern seiner Leute war nicht kleiner als bei Giles und
den seinen. „Nun?“ Mit einer erhabenen Handbewegung wies der Meister Richtung
Tür. „Eine einmalige Chance. Und keine Falle.“
„Los“, entschied Giles spontan. Ob sie hier kämpften oder in einem Hinterhalt –
jeder Meter brachte sie der Tür näher. Keiner der fünf Vampire rührte sich, als die
vier Menschen sich an ihnen vorbei schoben. Nur das rothaarige Mädchen, Larry
identifizierte sie später als eine gewisse Willow Rosenberg, fauchte sie an, wie ein
wildes Tier. Die Treppe, der Saal. Und kein Vampir weit und breit.
Als die Tür des >Bronze< hinter ihnen ins Schloss fiel, konnten sie ihr Glück kaum
fassen. Sie zogen sich in die Bibliothek zurück, um sich auszuruhen, das erlebte zu
verarbeiten. Jennys Tod konnten sie noch nicht begreifen, dafür war die Wunde noch
zu frisch. Mit seltsam klarem Verstand begriff Giles, dass das erst in den kommenden
Tagen über ihn hereinbrechen würde. Er konnte es voraussehen aber nicht
beeinflussen.
Durch den Eingang seines Büros hindurch beobachtete Giles, wie sich die Flügel
der Bibliothekstür hinter Larry und Oz schlossen. Nancy hatte er nicht gehen sehen,
aber auch sie musste schon auf dem Heimweg sein. Er war allein. Gut, denn für das,
was Giles vorhatte, würde er keine Unterstützung brauchen, keine Unterstützung
annehmen. Das, was zu tun war, musste er allein tun. Ganz allein.
Er lauschte einen Augenblick. Nichts. Entschlossen wandte sich der Wächter um,
ging um seinen Schreibtisch herum und trat vor eine niedrige Truhe, einen Meter in
der Höhe, aus braunem altem Holz und mit einer gemusterten Decke darüber. Er zog
die Decke zur Seite und warf sie achtlos zu Boden, öffnete die drei Schlösser mit
verschiedenen Schlüsseln und klappte den Deckel zurück, bis er sicher gegen die
Wand lehnte. Das Quietschen der alten Scharniere dröhnte unnormal laut in die
Stille.
Giles ging in die Knie, fegte eine Zeitung und einige Kleidungsstücke beiseite und
drang bis zu einem Brett vor, das als Zwischenboden diente. Erst hier, unter dem
Holz, fand er, was er suchte: ein Stapel alter Bücher, eine Armbrust, Pfeile, ein
Schwert und anderes. Vermutlich war es leichtsinnig, die mächtigsten Zaubersprüche
mit der schwärzesten Magie und die gefährlichsten okkulten Objekte ausgerechnet
hier zu verstecken. Doch wer würde auch ausgerechnet hier danach suchen?
Prüfend nahm er das oberste Buch in die Hand, las den lateinischen Titel und
wunderte sich für einen Moment, wie Staub bis an eine solche Stelle hatte vordringen
können. An der Wirksamkeit der Waffen änderte das nichts.
„Es ist einfach, oder?“, fragte eine Stimme hinter ihm aus Richtung der Tür. Mir
erstaunlicher Gewandtheit federte sich Giles in die Höhe, fuhr gleichzeitig herum und
richtete mit ausgestrecktem Arm das Schwert auf den vermeintlichen Angreifer.
„Nancy?“ Er ließ das Schwert sinken. Das junge Mädchen lehnte lässig am
Türrahmen und musterte ihn abschätzend. „Du bist noch hier? Ich dachte, du wärst
schon …“
„Weg?“ Sie schüttelte den Kopf und blickte an ihm vorbei Richtung Truhe. „Das
hätten Sie gern.“ Er war nicht in der Stimmung für solche Spielchen.
„Geh nach Hause!“, fuhr er sie schärfer an, als beabsichtigt. Er bemühte sich um
die Wiedergewinnung seiner lehrerhaften Autorität. „Das hier geht dich nichts an!“
„Nein?“ Sie stieß sich vom Türrahmen ab, ging provozierend langsam auf ihn zu
und stützte schließlich die Handflächen auf seinen Schreibtisch. „Etwas Besseres
fällt ihnen zum Abschied nicht ein?“
Giles runzelte verständnislos die Stirn. Mit dieser Antwort hatte er nicht gerechnet.
„Was?“, erkundigte er sich unschuldig.
„Tun Sie doch nicht so“, erwiderte sie mit leichtem Ärger in der Stimme. „Sie
wollen dieses Zeug dort nehmen, ihre Geheimwaffen und gemeinsten Tricks, zum
Bronze gehen und den Laden auseinander nehmen. Rache nehmen. Sie bezahlen
lassen. So ist es doch?“
Sie hatte ihn durchschaut, abstreiten wäre sinnlos gewesen und zu einem Streit
fühlte sich Giles viel zu müde und ausgebrannt. Deswegen antwortete er einfach
überhaupt nicht.
„Und Sie wissen genau, dass Sie keine Chance haben, da lebend wieder raus zu
kommen!“ Nancy begann langsam auf und ab zu laufen, wobei sie mit den Händen in
der Luft herumwedelte, um ihre Worte zu unterstreichen. „Morgen früh werden Sie tot
sein!“ Plötzlich blieb sie stehen, fixierte ihn durchdringend. „Und genau das wollen
Sie auch. Ein Held. Und wofür? Für Jenny? Ihr können Sie ja doch nicht mehr helfen.
Und das wissen Sie doch genau. Nein, für Jenny wollen Sie das nicht tun. Das hätte
sie auch nicht gewollt. Sie wollen gehen, weil – egal was Sie tun – Sie heute Abend
einschlafen und morgen früh wieder aufwachen werden. Und weil die Angst vor dem
morgigen Tag größer ist, als jede Angst vor dem Tod.“
„Das geht dich nichts an!“, wiederholte er unmissverständlich. Nancy sah das
offensichtlich ganz anders.
„Nein? Wenn Sie uns einfach verlassen? Uns im Stich lassen? Sie laufen weg, vor
dem Schmerz, vor dem weiterleben müssen, und wir bleiben hier und kämpfen
weiter. Was glauben Sie haben wir ohne Sie für Aussichten? Sollen wir alle, die
ganze Stadt, der Staat, so enden wie Jenny?“ Sie sah ihm in die Augen, unverwandt
und absolut offen und Giles wusste, dass Sie es ehrlich meinte, als sie leise sagte:
„Wir brauchen Sie.“
Er senkte den Kopf, das Schwert entglitt der kraftlos werdenden Hand und polterte
scheppernd zu Boden. So sollte man nicht mit einer Reliquie umgehen, die über ein
halbes Jahrtausend alt ist, dachte Giles, und gegen seinen Willen huschte ein
schmerzhaftes Grinsen über sein Gesicht.
„Es ist vorbei“, sagte Nancy und es klang so traurig, als würde sie sein Leid fühlen.
„Miss Calendar ist tot. Unwiderruflich. Und wenn Sie jetzt Selbstmord begehen,
helfen Sie nur dem Feind. Unser Tag wird kommen. Aber nicht heute.“
Er nahm es kommentarlos hin, dass sie das Schwert aufhob und zurücklegte,
ebenso wie das Buch, die Truhe wieder einräumte, abschloss und ihm am Ende die
Schlüssel gab.
„Danke“, sagte Giles, Nancy nickte nur. „Geh jetzt nach Hause“, wiederholte er
noch einmal und es klang matt. „Bevor es dunkel wird. Ich tue es auch.“ Sie legte ihm
tröstend die Hand auf den Arm und verschwand wortlos. Ein Mädchen, das kaum
halb so alt wie er sein konnte, hatte Giles davon abgehalten, mit voller Absicht in sein
Verderben zu laufen. Sie hatte ihn durchschaut. Dabei hatte Nancy ihn doch erst
heute kennen gelernt. Nachdenklich blickte er ihr nach und murmelte: „Wer bist du?“
„Warum haben wir sie gehen lassen?“, fragte Darla und versuchte möglichst
demütig auszusehen. Der Meister zog sich eine kleine Tasse Blut aus dem
Kaffeeautomaten, setzte sich in provozierender Ruhe auf seinen Thron und nahm
einen Schluck. Hinter ihm ragte Luke wie ein beschützender Schatten in die Höhe.
Die Botschaft war klar: er war hier der Meister und konnte sie warten lassen, wie es
ihm beliebte. Wenn er ihr antwortete, so war sie es, die dankbar zu sein hatte. Darla
konnte er damit nicht mehr beeindrucken. Nicht nach 400 Jahren.
„Weil ein Feind, den man kennt, besser ist, als ein unbekannter. Dieser Mann ist
ein Wächter, das wissen wir. Töten wir ihn, kommt der nächste. Den müssten wir
erstmal erkennen. Wenn der Wächterrat uns nicht gleich eine kleine Armee schickt.
Nein, soll dieser Rupert Giles seine Spielchen spielen, unsere kann er nicht stören.
Wenn er ab und zu einen unserer unvorsichtigen Leute erwischt, dann erhöht das
nur die Wachsamkeit. Oder wärst du vielleicht anderer Meinung?“
Darla senkte den Kopf vor seiner Weisheit. „Natürlich nicht.“
„Gut. Möchtest du auch eine Tasse?“
Als Darla eintrat, versetzte Willow gerade einem verängstig neben der Couch
kauernden Mädchen einen Stups gegen die Schulter. „Langweilig“, sagte sie mit
kindlicher Stimme. Die rothaarige Vampirin lag lang gestreckt auf der Couch und ließ
ihren Kopf über die Armlehne baumeln. Xander musterte sie von einem Barhocker
her mit einem viel sagenden Blick. „Ich kann was dagegen tun“, schien er ihr mitteilen
zu wollen. Darla grinste amüsiert.
„Habt ihr Lust, was zu unternehmen?“
Willow lächelte mit funkelnden Augen und klatsche in die Hände wie eine
Zehnjährige an Weihnachten. „Jaaaa …“
Willow war einmal sehr beeindruckt von diesem Giles gewesen, zu ihren
Lebzeiten. Sein unglaubliches Wissen und die vielen wunderbaren Bücher, die er
aus England mitgebracht hatte. Ja, sie war ein richtiger Fan des Briten gewesen.
Heute dachte sie in anderen Kategorien, wunderte sich nur amüsiert über ihre
frühere Naivität und Weichherzigkeit. Es gab doch so viel bessere Dinge als Bücher.
Mit dem endlosen Empfinden innerer Leere kehrte der Wächter nach Hause
zurück, setzte sich vor den Fernseher und ließ ihn laufen, ohne wirklich etwas wahr
zu nehmen. Bis es an Tür klingelte. Er sah auf die Uhr, 22:38 Uhr. Er würde die
Uhrzeit nie mehr vergessen. Draußen war es schon dunkel, nicht unbedingt die
Situation, in der man in Sunnydale die Tür öffnete. Eine Falle? Warum jetzt?
Bewaffnet öffnete er, doch niemand stand da vor seiner Tür, nur ein Bündel lag
auf dem Boden vor der Schwelle, das er erst nach einigen Sekunden als das begriff,
was es war. Über Jenny Calendars Leichnam brach Rupert Giles in Tränen aus …
„Ich habe viele Menschen begraben. Nur wenige waren dabei, die ich geliebt
habe.“ Es war nur ein einfaches Grab, ein geschmackvoller Stein, nur der Name,
keine Widmung oder Verzierung, keine Daten. Die anderen Trauergäste, Lehrer und
Schüler, aber niemand von der Familie, waren längst gegangen. „Wie viele noch?“
„Es war nicht ihre Schuld“, sagte Oz.
Larry pflichtete ihm bei: „Nur deren.“
„Wir haben es dieses Mal nicht geschafft.“ Nancy gab sich unerschütterlich. „Aber
am Ende werden sie bezahlen. Für alles.“
9
Kriegsgebiet
„Die Erde ist älter als ihr vielleicht annehmt.
Und entgegen gängiger Überlieferung nicht paradiesischen Ursprungs.“
RUPERT GILES
Sunnydale, 1937: Nacht ohne Morgen
Böse Stimmen lagen in der Luft, Worte in einer zu alten Sprache, als dass
irgendein Mensch sie hätte verstehen können. Auch Darla verstand sie nicht, badete
nur in der pulsierenden Energie, die sie mit jedem Schritt stärker umgab. Sie kam
sich wie eines dieser neumodischen technischen Geräte vor, mit denen die
Sterblichen seit einigen Jahrzehnten herumspielten, als sei sie eine Batterie, die von
unsichtbaren Strömen bis zum Bersten aufgeladen wurde.
Die Vampirin schlenderte leichtfüßig und halb benommen durch das
ausgestorbene Stadtviertel, aus dem die letzten Menschen sich längst völlig
zurückgezogen hatten. Unauffällige niedrige Häuser säumten die Straße, die mit ihrer
Kieselsteinoberfläche kaum mehr als ein besserer Feldweg war. Gut genug für die
Kutschen und diese sich ausbreitenden vierrädrigen Motorfahrzeugen, die auch in
den ländlichen Gebieten nach und nach fast alle anderen Fahrzeuge ersetzten.
Darla kannte die Metropolen dieser Welt, von London bis Peking. Sie hatte
miterlebt, wie aus den winzigen Siedlungen an der Ostküste dieses Kontinents eine
Nation entstand, wie die Weltreiche der Briten, Franzosen und Spanier kamen und
gingen. Sie war Zeugin des sinnlosen Strebens der Menschen nach Macht
geworden, die ohne jede Ahnung von den wirklich wichtigen Dingen auf dieser Erde
lebten. Aber was hier heute in dieser winzigen Wüstenstadt vor sich ging, das war
vielleicht das bedeutendste Ereignis der Geschichte. Jeder Geschichte jeden Volkes
dieser Welt, menschlich oder dämonisch. Es war Nacht und kaum jemand auf der
Erdkugel hatte auch nur eine Vermutung, dass es nie mehr Tag würde. Die längste
Nacht. Die letzte Nacht.
Um sie war es dunkel, in den Häusern brannten keine Lichter und
Straßenbeleuchtung kannten sie in diesem Hinterwäldlerkaff natürlich noch nicht. Am
klaren Himmel standen nur wenige Sterne und kein Mond, so als versteckten sich
selbst die Himmelskörper ängstlich wie die Menschen.
Darla sah gut genug. Die Gesänge hörte sie sogar schon bevor die kleine
neogotische Kirche in ihrem Sichtfeld auftauchte. Die Häuser bildeten einen Platz,
den eine Wiese bedeckte. Ein kleiner gepflasterter Weg führte zum Kirchenportal. Im
Sonnenlicht eines schönen Sonntages musste es ein malerisches Fleckchen Erde
sein. Früher einmal. Nun stand das Portal offen, ein roter flackernder Feuerschein
drang hinaus und war in verschiedenen Farben durch die Mosaik-Bleiglasfenster zu
beobachten. Der Kirchturm wuchs vor ihr einschüchternd in die Höhe, als Darla
geradezu ehrfürchtig näher kam. Es standen keine Wachen am Tor. Wozu auch?
Niemand traute sich hierher, selbst die meisten Vampire hielten sich fern. Sogar
Darla bekam fast eine Gänsehaut, als sie sich näherte. Etwas völlig Fremdartiges
umhüllte diesen Platz, etwas, dass so abscheulich und ungewöhnlich war, so
abnorm, dass es unmöglich schien, dass es auf diesem Planeten überhaupt Realität
werden konnte.
Sie wurde unwillkürlich langsamer und spähte verunsichert durch das Portal ins
Kircheninnere. Das Gebäude war nicht alt aber auf alt gemacht. Normalerweise hätte
sie über dieses Streben der Amerikaner gespottet, sich in der europäischen
Geschichte zu bedienen. Aber für Erheiterung war hier kein Platz, für kein Gefühl.
Alle Kirchenbänke hatte man aus dem Mittelschiff entfernt und zur Seite geräumt,
sie stapelten sich in den Seitenschiffen, achtlos hingeworfen, teilweise zerschlagen.
In dem frei gewordenen Raum knieten die Jünger der Bruderschaft des Aurelius,
umgeben vom Feuer ungezählter Kerzen. Alles war in eine dichte Wolke aus Rauch
und seltsamen Gerüchen gehüllt.
Viel langsamer als sie es eigentlich wollte, schlich sich Darla regelrecht in das
Gebäude. Niemand beachtete sie. Die Jünger waren viel zu sehr in ihrem
tranceähnlichen Gesang vereint. Die Vampirin schob sich im linken Seitenschiff an
ihren Glaubensbrüdern und –schwestern vorbei, ihre innere Unruhe hatte einen
bedenklichen Punkt erreicht. Benommen tastete sie sich an den aufgeschichteten
Bänken vorwärts. Im gegenüber liegenden rechten Seitenschiff hielten ein paar
Vampire Wache bei einer Gruppe von Menschen jeden Alters, die allerdings keine
Anstalten zur Flucht machten. Die Hälfte lag bewusstlos am Boden, die anderen
sahen kaum ansprechbarer aus. Wenn ein Vampir diese Situation mental und
körperlich kaum ertrug, wie sollte ein schwacher Sterblicher das aushalten? Sie
waren Opfer, Menschenopfer für eine unheilige Zeremonie. In einem Anflug
schwarzen Humors bedachte Darla die einfallslosen alten Götter mit einem
Gedanken der Verachtung, weil ihnen tatsächlich nie etwas Neues für ihre Rituale
einfiel.
Sie verließ nun das Seitenschiff, passierte eine verwüstete kleine Kapelle der
heiligen Jungfrau Maria und betrat den eigentlichen Altarraum. Auf dem Altar
standen regelmäßig positioniert drei große schwarze Kerzen, deren eigentümlicher
Geruch schwer in der Luft hing. Das zerbrochene Kruzifix lag auf dem Boden, an
seiner Stelle hin die Leiche des Pfarrers an der Wand unter dem prächtigen
Buntglasfenster. Links zweigte eine kleine Tür in die Sakristei ab. Dort stand der
Meister. Ob er ihr Eintreten bemerkte, konnte sie nicht erkennen, er reagierte
jedenfalls mit keiner Geste. Außer ihnen war nur noch Luke anwesend, der sich
schweigend neben den Altar gehockt hatte.
„Heute Nacht ist es endlich soweit!“, rief der Meister mit überschlagender Stimme,
so dass es im hintersten Winkel der Kirche zu hören war. „Ja!“
Das Öffnen des Höllenschlundes, die Rückkehr der alten Herrscher. Das Ende
aller Dinge. Darla lehnte sich an die Wand, ließ sich mit geschlossenen Augen von
den Gesängen und der magischen energiegeladenen Atmosphäre gefangen
nehmen. Sie versank, Minuten mochten vergehen, Stunden sogar. Es war alles eins.
Dann war ein Höhepunkt erreicht, die Spannung wurde körperlich unerträglich. Die
letzten Menschen sackten zusammen und manche Vampire mit ihnen.
„Ja!“, brüllte der Meister ekstatisch. Darla sah mit ungläubigem Staunen, wie er
seine Arme in die Höhe riss, umgeben von einem goldenen Schein, der ihn völlig
umgab, eine Aura, durchzogen von wogenden Blitzen. „Jetzt!“
Er erstarrte. Die Gesänge verstummten schlagartig. Sie alle spürten es. Etwas
Großes, Unvorstellbares. Ein Sirren, hoch und schmerzhaft. Ein überwältigendes
Gefühl von Kraft und Alter.
„Ja!“
Dann kam der erste Erdstoß …
Zuerst ein kaum erkennbares Erbeben des Bodens unter ihren Füßen. Ein
Schwanken, Staub rieselte von der Decke. Darla blickte vom Meister zu Luke und
zurück. Sollte das so sein? Ein weiterer Schlag, stärker, begleitet von einem tiefen
Grollen aus den Tiefen der Erde. Alles wankte, einige Fenster zerplatzten mit lautem
Klirren und überschütteten Menschen und Vampire mit einem Regen aus bunten
Splittern. Ein bedrohliches Knarren und Knarzen im Dachgebälk.
Der nächste Stoß war noch heftiger als sein Vorgänger, Risse zogen sich plötzlich
durch die Wände, die Leiche des Pfarrers fiel herunter und blieb grotesk verdreht
liegen.
„Nein“, murmelte der Meister und bestätigte nur, was sie alle instinktiv erkannten:
etwas lief falsch. „Das darf nicht sein“, rief der alte Vampir voll Enttäuschung, Wut
und Fassungslosigkeit. Sein Ruf ging in einem neuen Erdstoß unter, der alle anderen
noch übertraf, der Steinboden zu ihren Füßen riss knallend auf, vom Altar bis ins
Mittelschiff zog sich mit einmal ein gewaltiger Spalt, der rasant breiter wurde. Viele
Stimmen schrieen in Panik auf. Der Meister wich zurück, prallte gegen ein
unsichtbares Hindernis und heulte verblüfft auf.
Und Darla rannte los.
Es gelang ihr geschickt, den Trümmerteilen auszuweichen, die von der Decke zu
stürzen begannen. Ein Stützpfeiler gab ächzend nach und brach mit lautem Gepolter
in sich zusammen, begrub mehrere Aurelius-Jünger, die noch immer benommen auf
dem Boden knieten. Ein unmenschlicher Schrei voll bloßer Wut ließ Darla kurz
zurücksehen, zum Meister. Er hämmerte wie ein Wahnsinniger gegen die
unsichtbare Barriere, während sich hinter ihm das dunkle Loch immer mehr
vergrößerte und fast zielgerichtet auf ihn zuraste. Der alte Vampir erstarrte, seine
Arme sanken herab. Einen kurzen Sekundenbruchteil herrschte eine bizarre Ruhe, in
der Darla Zeugin wurde, wie das Loch im Boden den Meister erreichte und ihn
einfach verschluckte. Er verschwand ohne einen Laut im Nichts.
Reflexartig und zu keinem Gedanken fähig, wich sie einem steinernen Bogen aus,
der sich neben sie in den Fußboden rammte, sprang aufs Geratewohl nach vorn,
holte sich von einer Kirchenbank zusätzlichen Schwung und hechtete durch eines
der Buntglasfenster. Glassplitter bohrten sich in Gesicht und Arme, aber das spürte
sie kaum. Sie landete auf der Wiese, rollte sich ab und nahm sich einen Moment der
Ruhe, um zurück zu blicken. Soweit sie es beurteilen konnte, stand der Großteil der
Kirche noch, obwohl keine der Wände vertrauenserweckend aussah. Die meisten
Fenster waren geborsten, überall Risse, Schmutz, Rauch.
Ein seltsames Prasseln und Knistern fiel ihr auf, das sie zuerst auf den Brand
schob, der, von umgestürzten Kerzen ausgelöst, bald das Gebäude verzehren
würde. Aber das Geräusch kam nicht aus dem Kircheninneren, es kam von oben! Ein
dumpfes Hallen kam dazu, wie von einer leicht angeschlagenen Glocke. Der
Glockenturm! Als Darla nach oben sah, erkannte sie es. Er bewegte sich. Langsam,
gemächlich, unerbittlich. Sie hatte schon die verrücktesten Dinge gesehen und in
Erdbebengebieten kannte sie sich aus – nach Naturkatastrophen war es eine wahre
Freude, die verstörten Menschen auf den Straßen zu jagen. Aber ein Glockenturm,
der sich langsam zur Seite neigte, das war neu, selbst für sie.
Der Kirchturm bog sich von ihr weg, immerhin, Teile der Außenwand platzten
geräuschvoll ab und produzierten Staubwolken, Lawinen aus Mauersteinen dröhnten
herab. Offenbar war nur der obere Teil in Bewegung, der Rest aber noch fest mit der
Kirche verbunden. Ein neuer Schlag durchlief den Boden, die Kirchturmspitze
schwebte sekundenlang reglos in der Luft. Dann verlor der Turm seinen Todeskampf
endgültig. Er ächzte wie ein sterbendes Tier – und brach nach hinten weg, direkt auf
das Dach der Kirche zu. Mit gewaltiger Kraft durchschlugen die
auseinanderbrechenden Trümmerteile den Dachstuhl des Mittelschiffs, eine
mannshohe Dreckwolke quoll aus dem Portal und den zerstörten Fenstern, die
Glocken erfüllten die Nacht mit schrillen Lauten.
Darla kam zu keiner Bewegung mehr, da überrollte sie bereits die Staubwand.
Bürgermeister Richard Wilkins lehnte sich erschöpft zurück. Seine bis eben
gespreizten Arme fielen kraftlos herab, Schweiß stand kalt auf seiner Stirn. Mühsam
sammelte er sich und schlug die Augen auf. Wie lange er schon in dem magischen
Pentagramm kniete, das konnte er nicht sagen. Nur, dass ihm die Knie furchtbar
wehtaten. Es war dunkel in seinem Arbeitszimmer, der Strom musste ausgefallen
sein. Die zwei großen Kerzen, die er neben sich aufgestellt hatte, waren erloschen.
„Wir haben deinen Wunsch erhört.“ Die Gestalt vor Wilkins trug eine dunkle grobe
Kutte von unidentifizierbarer Farbe. Der Kopf blieb unter einer breiten Kapuze
verborgen. „Irgendwann werden wie kommen und dich um die Gegenleistung bitten.
Du wirst sie uns geben.“ Damit verschwand das Wesen übergangslos.
Wilkins lächelte nur matt. Noch ein Anwärter auf seine arme Seele. Er kämpfte
sich umständlich in die Höhe, auf seinen Schreibtisch gestützt. Erst jetzt bemerkte er
die dicke Staubschicht, die auf sämtlichen Möbeln und auf ihm selbst lag. Pikiert
klopfte er sich ab. Der Gästestuhl war umgefallen, in der Vitrine mit den
Kristallgläsern türmten sich nur noch Splitter.
Nach kurzer Sammlung schlenderte der Bürgermeister von Sunnydale zum
Fenster, um zu begutachten, was von seiner Stadt übrig geblieben war. Die Scheiben
hatten komischerweise standgehalten, dafür blätterte die Farbe vom verzogenen
Rahmen. Was für eine Nacht. Er hatte wohl tatsächlich die Welt gerettet und
niemand würde es jemals erfahren. Auch der Stellvertretende Bürgermeister Earl
Schwarz nicht, der gerade ohne anzuklopfen hereinstolperte.
„Sir?“, rief er atemlos und japste. „Alles in Ordnung?“
Wilkins gab keine Antwort, er war zu sehr mit dem Bild der Zerstörung vor seinen
Augen beschäftigt. Hatte er seine Stadt vernichten müssen, um sie zu retten?
„Ein Beben?“
Der kleine dickliche Earl nahm seinen schwarzen Hut ab und tupfte sich mit einem
blütenweißen Taschentuch den Schweiß von der Halbglatze.
„Ein ziemlich großes! Viele Gebäude sind eingestürzt, es ist Feuer ausgebrochen!“
Wilkins nickte. Er dachte an Edna Mae, seine Ehefrau. Sie war alt geworden, nach
34 Jahren Ehe, senil und schwach, erkannte ihn manchmal nicht mehr. Er hatte sie in
seiner Villa außerhalb der Stadt untergebracht, damit sie mit ihrem verwirrten Gerede
keine Unruhe stiftete. Hoffentlich ging es ihr gut.
„Die Feuerwehr ist unterwegs?“
Immerhin hatte die Stadt einiges in eine moderne Ausrüstung investiert. Earl
stammelt verunsichert: “Ich denke …“ Er schrumpfte unter dem Blick des
Bürgermeisters. „Das Telefonsystem ist ausgefallen.“
Wie sich Wilkins erinnerte, war Earl ohnehin skeptisch bei der Verlegung der
Telefonleitungen gewesen, ein unverbesserlicher altmodischer Technikfeind. Wie
viele Jahre war das nun schon her? Der Bürgermeister gab sich innerlich einen Ruck
und lächelte trotzig.
„Wir bauen das alles wieder auf, Earl“, behauptete er sanft aber selbstbewusst.
„Diese Stadt hat eine große Zukunft!“
Ihr taten im wahrsten Sinne des Wortes alle Knochen weh. Der rechte Arm musste
gebrochen sein, aber dem schenkte Darla keine Beachtung. Es würde rasch heilen.
Sie lag noch immer auf der Wiese, auch wenn vom Gras unter der dicken Schicht
Dreck nicht viel zu erkennen war. Mühsam raffte sie sich auf, um sich einen
Überblick zu verschaffen. Vor ihr, wo eben noch die Kirche gestanden hatte, klaffte
ein kleiner Graben, in dem ein wirrer Schuttberg lag, der kaum noch erkennbare
Gebäudeteile enthielt. Zu ihrer Rechten erhob sich in einiger Entfernung eine große
rote Feuersäule über dem Stadtzentrum, ein Großbrand, den die Wüstenwinde wie in
einem Kaminschlot in die Höhe trieben. Trotzdem war es erstaunlich still. Kein Vogel
sang.
Benommen setzte sie einen Fuß vor den anderen, hielt Ausschau nach allen
Seiten. Irgendetwas musste übrig sein. Irgendjemand. Schließlich entdeckte sie eine
reglose Gestalt am steilen Rand des Abgrunds. Sie stolperte auf ihn zu.
„Luke?“, fragte sie ungläubig und grübelte, wie er lebend hinaus gelangt sein
konnte. Er war von Kopf bis Fuß mit Schmutz bedeckt, sie selbst sah vermutlich
kaum besser aus. Im flackernden Schein des großen Feuers zuckten Schatten über
sein Gesicht, das Darla nur undeutlich erkennen konnte. Hätte sie es nicht für
unmöglich gehalten, sie hätte schwören mögen, dass der große Vampir weinte.
„Das sollte wohl nicht passieren, oder?“, meinte sie kraftlos und verstört. Luke
starrte nur in das Chaos zu seinen Füßen, in dem an einigen Stellen noch Qualm in
den Nachthimmel stieg.
„Und was ist mit dem Meister?“
Sunnydale, 1998: Machtkampf
Es war einfach nur ein Riesenspaß!
Auf jeden Fall der größte, seit der Meister ihnen erlaubt hatte, diese komischen
Soldaten auseinander zunehmen. Das war schon Monate her! Jetzt gab es endlich
mal wieder eine Herausforderung. Wenn auch eine kleinere.
Dieser Verein nannte sich >Delta-Zeta-Kappa< und firmierte als
Studentenvereinigung für überreiche Schnösel. Eigentlich nicht des Aufstehens wert,
wäre da nicht ein Dämon im Keller gewesen, der die Studenten ab und zu in
blödsinnigen Kutten durch die Gegend scheuchte, um sich Menschenopfer bringen
zu lassen. Hätte er es dabei bewenden lassen, sich ab und an eine Jungfrau zu
gönnen, wäre dem Meister der Schlangendämon namens Machida zumindest auf
längere Sicht ziemlich egal geblieben. In diesem Falle waren es tatsächlich die
College-Jungs, die den Ärger provozierten. Sie waren völlig verrückt geworden und
hatten grundlos die Vampire angegriffen, massiv und hinterhältig. Sie vernichteten
Luke. Das konnte Willow natürlich ziemlich egal sein, sie hatte den humorlosen Klotz
ohnehin nie gemocht. Der Meister aber war richtig sauer, er nahm das sehr
persönlich. Heute war Zahltag.
Willow fegte mit ungezügelter Energie durch die luxuriös ausgestatteten Zimmer
der großen Vereinsvilla. Es war ein schönes Anwesen, auf dem sich Machida da
niedergelassen hatte, sinnigerweise nur durch eine Mauer vom nächsten Friedhof
getrennt. Die Jünger des Dämons waren auf den Gegenangriff vorbereitet gewesen,
aber unterm Strich waren und blieben sie nur verwöhnte reiche Jungs. Es war fast zu
einfach. Leider.
Das Erdgeschoss befand sich bereits in der Hand der Vampire, im Keller tobte das
wilde Gemetzel rund um Machida und sein letztes Aufgebot. Willow jedoch war das
zu banal. Sie wählte den Weg der Überraschungen und nahm statt der Kellertreppe
die Treppe in den ersten Stock. Sie wollte dem erstbesten Vereinsbruder, der ihr hier
über den Weg lief, geraten haben, sie nicht zu enttäuschen. Momentan sah es aber
doch nur ätzend ruhig aus. Ein langer Gang, hübsche Türen zu hübschen Zimmern.
Ohne groß nachzudenken trat sie gegen die nächste Tür und fegte hinein. Eine Art
Aufenthaltsraum – Fernseher, Stereoanlage und andere technische Geräte in einer
Umgebung mit edler Holzvertäfelung und Designermöbeln. Das hatte jemanden eine
schöne Stange Geld gekostet.
Der Typ hinter der Tür jedenfalls sprang schneller, als sie es erwartet hatte.
Trotzdem wich Willow problemlos nach links aus, ließ ihn an sich vorbei ins Leere
stürmen und gab ihm noch einen spöttischen Klapps auf den Rücken mit. Viel zu
langsam. Er fuhr herum, in der Hand ein langes Steakmesser, mit dem er bedrohlich
in der Luft herumfuchtelte. Würde ihm nicht viel nützen. Sie zog eine missbilligende
Schnute. „Du wirst dir noch wehtun, wenn du nicht aufhörst mit Messern zu spielen.“
Er war so berechenbar. Der Junge täuschte einen Fluchtversuch zur Tür vor, ließ
sie näherkommen und griff dann blitzschnell an. Sehr originell. Das Messer schoss
nach vorn, Richtung Willows Brustkorb. Er würde ziemlich genau ihre linke Lunge
treffen, meilenweit am Herzen vorbei. Amateur. Die Vampirin reagierte sofort, wehrte
das Messer mit dem linken Arm ab, auch wenn sie sich einen hässlichen Schnitt über
den Unterarm zuzog. Nachlässig. Wenn er nicht aufpasste, machte er sie noch
wütend. Mit rechts packte sie ihn gleichzeitig am Handgelenk, nutzte seinen
Schwung, um ihn auf einen Halbkreis zu bringen, so dass er mit dem Rücken gegen
die Wand prallte. Wie eine Tänzerin drehte sie sich mit und drückte so auf sein
Handgelenk, dass sie ihm das Messer entwand. Es fiel klirrend auf den teuren
Teppich.
„Noch Lust?“, fragte sie. Er ging mit dem Mut der Verzweiflung auf sie los, doch
ein gezielter Fußtritt brachte ihn rasch wieder zur Räson. Willow drehte ihm
provozierend den Rücken zu, ließ es zu, dass er sie auf sich stürzte. Der Junge
prallte gegen sie, schlang von hinten seine muskulösen Arme um ihre Taille und
ihren Hals. Er drückte siegessicher zu. Ihr Arm wirbelte durch die Luft, hoch zum
Schwung holen und mit voller Kraft wieder runter. Der Junge stöhnte unterdrückt, als
ihr Ellenbogen seinen Magen traf. In Sekundenbruchteilen schoss der Arm wieder
hoch, Willow griff über ihre Schulter, vergrub die Finger mit den schwarz lackierten
Nägeln in seinem Haar und zerrte den Kopf nach vorn, so dass sie den Hals mit den
Zähnen erreichte. Sofort biss sie zu und zerfetzte mühelos die Halsschlagader. Ihr
Gegner taumelte zurück, stolperte, brach mit rot verschmiertem Shirt zusammen. Der
Kupfergeruch von Blut breitete sich in der Luft aus.
Sie musterte mit grimmigen Augen und gerunzelter Stirn den blonden
muskelbepackten Sportlertyp, der sich am Boden wälzte, während sein Leben aus
seinem Leib ran und eine große rote Pfütze bildete. Von ihrem verletzten Arm tropfte
Blut herunter und mischte sich mit dem seinen. Betont und laut sagte sie: „Autsch.“
Willow verlor sofort das Interesse, als draußen Schüsse ertönten. Warum sollte
jemand eine Schusswaffe benutzen, damit konnte man Vampiren ja nichts anhaben?
Wehtun schon. Sie näherte sich neugierig dem Fenster, ihren halbtoten Angreifer
achtlos liegen lassend. Auf dem Hof beobachtete sie ein eigenartiges Schauspiel:
zwei Vereinsbrüder in ihren Kutten und ein weiterer in Zivil feuerten mit Armbrüsten
um sich. Sie hatten sich hinter einem Steingeländer verschanzt und versuchten,
einen vierten Mann abzuschirmen, der sehr wichtig für sie sein musste und ein
Schwert trug. Die Schüsse, die Willow gehört hatte, stammten nicht von den
Vereinsbrüdern, sie kamen aus einer großkalibrigen Pistole, die Darla auf die jungen
Männer angelegt hatte.
Willow fand das ziemlich exzentrisch – Vampire und Waffen. Das passte nicht.
Das war wie Spiegelei mit Schokoladensauce, irgendwie verquer. Allerdings schien
Darla ihren Spaß zu haben, also warum nicht? Wiederum ohne groß nachzudenken
hechtete die Vampirin durch das geschlossene Fenster, rollte in einem Glasregen
über das Dach und stürzte von dort zielsicher auf die Machida-Gruppe. Sie erwischte
einen Kuttenträger und nahm ihn mit zu Boden. Er fing ihren Schwung ausreichend
ab, blieb dafür aber betäubt liegen, als sie schon hoch federte und den Mann im TShirt mit einem Tritt von den Beinen fegte. In der entstehenden Verwirrung flohen der
Anführer mit dem Schwert und seine verbliebener Anhänger durch den hübschen
Park des Anwesens und auf eine Baumgruppe zu.
Darla fluchte kräftig, dass ihr Willow in der Schusslinie stände. Willow lachte sie
strahlend an und nahm die Verfolgung der zwei Männer auf, nachdem sie ihnen
einen kleinen Vorsprung gelassen hatte. Sie liebte diesen Teil des Spiels ganz
besonders. Ob Darla ihr folgte, darum kümmerte sie sich nicht. Nach einigen
Sekunden vernahm sie hinter sich einige weitere Schüsse und laute Schreie. Jeder,
wie es ihm gefällt.
Die beiden Jungs hatten sich für ihre Flucht den dunkelsten Teil des Parks
ausgesucht, hier umstanden Bäume und Hecken einen unregelmäßig geformten
ovalen See mit einer abgestellten Fontäne im Zentrum. Romantisch. Willow verbarg
sich hinter einer Eiche und spähte über die still daliegende Wasseroberfläche. Ein
Nachtvogel sang. Langsam schlich sie voran, zu einer braunen Bank, die in der
Nacht schwarz wirkte, dann weiter über das Gras, verborgen im Schatten der Bäume
und parallel zu den Platte des Weges rund um den See. Wenn du nicht zu ihm
kommst, dann kommt er zu dir …
Der Kuttenbruder eröffnete ohne Vorwarnung das Feuer, Armbrustbolzen
durchzischten die Nacht. Willow warf sich ins Gras, suchte Deckung hinter einer
kleinen weißen Säule und fixierte das Versteck des Heckenschützen. Ein Baum am
anderen Ufer. Schlecht. Sie hatte keine Lust darauf, sich beim Schwimmen nass zu
machen. Und ihrer Ledergarderobe bekam das nicht gut. Da, ein schmächtiger
Schatten rechts vom Versteck des Schützen. Mondlicht auf blonden Haaren. Willow
grinste. Sie sah den Mündungsblitz noch bevor sie den Knall hörte und zweifelte
keine Sekunde an einem Volltreffer. Drüben bewegten sich die Büsche. Darla trat ins
Helle und winkte mit ihrer Waffe. Obwohl, war da nicht noch...
Der Typ mit dem Schwert erschien buchstäblich aus dem Nichts. Selbst Willow
hatte nicht gesehen, woher er kam. Plötzlich wuchs er einfach neben Darla aus dem
Boden, holte blitzschnell und routiniert wie ein Henker aus und schlug zu, noch bevor
die Vampirin sich rühren konnte.
Der Meister schrie vor Trauer und heulte vor Wut. Mit einer zornigen Bewegung
fegte er alles nutzlose Zeug vom nächstbesten Tisch und stieß ihn polternd um.
Unwichtig, wie alles, weil nichts ihm seinen furchtbaren Verlust ersetzen konnte.
Nichts!
„Sie war mir das Liebste!“, brüllte er. „400 Jahre lang!“
Sein mörderischer Blick lastete auf dem jungen Mann namens Tom Warner, der
auf dem Boden kniete, die Schultern gesenkt, die Hände kraftlos auf dem Boden
liegend. Ohne Schwert sah er nicht mehr sehr beeindruckend aus. Im nächsten
Augenblick würde der Meister auf ihn losschießen und ihn in der Luft zerfetzen. Zu
schnell.
Während Xander noch schweigend an der Wand stand und den Wutausbruch des
Meisters hinnahm, trat Willow ganz selbstverständlich vor und griff achtlos nach den
Haaren des Jungen. Er stöhnte, als sie seinen Kopf hoch zerrte und die zahlreichen
Wunden in seinem Gesicht enthüllte. Der Meister funkelte sie überrascht an.
„Du wagst es?“
„Überlasst ihn mir“, bat sie sanft. Des Meisters Miene wurde interessiert.
„Denkst du, du weißt, was angemessen wäre?“ Er legte den Kopf schief. Willow
konnte spüren, wie die Erregung durch sie raste und sie für einen Moment, der dem
Meister nicht entging, aufgeregt beben ließ.
„Ich enttäusche Sie nicht.“
Der Meister sah sie abschätzend an, dann hob er in einer würdigen Geste den
Kopf, schritt zu seinem Thron zurück und sank hinein. Willow wusste, was der alte
Vampir wollte. Sie zeigte ihm einen Tom Warner, der mehr als nur starb. Er betete zu
seinem toten Machida, solange er noch beten konnte. Selbst danach war es mit ihm
noch lange nicht vorbei …
Die Flammen schlugen aus den Fenstern der brennenden Limousine und
beleuchteten rot die Nacht. Das Auto stand am Rand der einsamen Landstraße,
einige Meter dahinter blockierte ein leerer Polizeiwagen die Fahrbahn. Ein toter
Polizist mit verrenkten Gliedern lag mit starrem Blick neben der geöffneten Fahrertür.
Auf dem endlosen staubigen Wüstenboden neben dem Asphaltband kniete
Bürgermeister Richard Wilkins III, der mächtige Mann von Sunnydale. Er versuchte
nicht zu fliehen, angesichts der vielen Vampire, die ihn im Halbkreis umgaben, wäre
er auch nicht weit gekommen. Er sah auf, als er die Fußschritte im Dunkel hörte, mit
denen der Meister auf ihn zukam. Mühsam kämpfte sich Wilkins in die Höhe, bis er
wieder auf eigenen Füßen stand. Zur Überraschung der umgebenden Vampire
klopfte er ersteinmal umständlich den Sand von seinem teuren Anzug, bevor er dem
Meister Beachtung schenkte, der vor ihm aufragte. Noch überraschter waren die
Vampire allerdings, dass ihr Anführer diese Respektlosigkeit kommentarlos hinnahm.
Die Menge beschlich ein Gefühl, das keiner von ihnen aussprach oder jemals
aussprechen würde: der Eindruck, dass sich hier zwei gleichrangige Wesen
gegenüber standen. Dass der Meister Bürgermeister Wilkins als jemandem
begegnete, der auf einer Augenhöhe mit ihm war.
Wilkins Gesicht verzog sich zu etwas, dass einem müden Lächeln ähnlich sah.
„Sie sind der Mann, den man den >Meister< nennt, nicht wahr.“ Er wartete nicht
auf eine Antwort und brauchte wohl auch keine. „Ich habe viel von Ihnen gehört.
Erstaunlich, dass es so lange gedauert hat, bis wir uns mal begegnen.“ Im Gesicht
des Meisters bewegte sich nichts.
„Es ist jetzt wohl Zeit, dass wir diese Sache beenden. Ich glaube, Sie schulden mir
noch etwas.“
„Bringen wir es zu Ende.“
Die Nachricht vom Verschwinden des Bürgermeisters, der in all der Zeit des
Leidens die ständige Hoffnung auf einen Sieg und ein Überleben verkörpert hatte,
schlug in Sunnydale ein, wie die sprichwörtliche Bombe. Die Polizei bot die ihr
verbliebenen Kräfte zu einer großflächigen Suche auf, die sehr bald zum Ziel führte.
Der ermittelnde Beamte gab zu Protokoll, dass die Leichen der Polizisten und des
Fahrers herumgelegen hätten, als seien sie achtlos weg geworfen worden. Der
Bürgermeister hingegen lag abseits der Straße, halb vom Wüstensand bedeckt, als
man ihn fand. Man hätte glauben können, er sei aufgebahrt worden, als hätte der,
der ihn umgebracht hatte, ihm einen letzten verdrehten Respekt erwiesen. Die
Beerdigung war ein schweigender Protest der Hilflosigkeit, bevor sich wieder die
Friedhofsruhe einer sterbenden Stadt über Sunnydale breitete.
10
Zwischenspiel
„Der Meister ist wieder da. Er ließ mich am Leben, um mich zu bestrafen.“
ANGEL
„Langweilig“, stellte Willow resigniert fest. Sie stand auf der oberen Galerie des
>Bronze<, die Arme verschränkt auf das Geländer gestützt, den Kopf darauf
gebettet. Es war Tag. Die schlimmste Zeit im Leben eines Vampirs. Verurteilt zur
Tatenlosigkeit und zum Warten. Ausgerechnet die schwachen Menschen waren
ihnen, den Vampiren, den Raubtieren, die in der Nahrungskette so weit über ihnen
standen, in diesem entscheidenden Punkt überlegen. Nicht, dass es ihnen wirklich
half.
Am Anfang war ihr das nicht so aufgefallen, da hatte sie sich einfach was zum
Spielen mit nach Hause genommen, aber das verlor doch schnell seinen Reiz. In der
Nacht war das Leben eine einzige endlose Party, ein Inferno aus Blut, Schmerz und
Spaß. Am Tag blieb nur dumpfe lähmende Stille. Und hier im >Bronze< tat sich auch
nichts. Willow hatte sich schon dabei ertappt, wie sie die Blutstropfen mitzählte, die
aus einem Käfig rechts von ihr zu Boden fielen, um sich platschend mit einer großen
Pfütze zu vereinen.
„Langweilig.“
Das Lachen hinter ihr hätte einem Menschen die Haare zu Berge stehen lassen.
Willow rührte sich nicht einmal. Das konnte sich nicht jeder erlauben, eigentlich so
gut wie niemand. Aber sie hatte etwas andere Grenzen, das wusste sie längst.
Natürlich achtete sie peinlich darauf, es nicht zu weit zu treiben, doch an einer
fehlenden Ehrbezeugung würde es wohl nicht scheitern.
„Der Ungestüm der Jugend“, sagte der Meister und trat neben sie ans Geländer.
„Einst kannte ich ihn auch, vor so langer Zeit.“
Das war es, was er an ihr so schätzte, warum er ihr so viele Freiheiten gab – weil
ein normaler Vampir sich vom Blut der Menschen ernährte, ein uraltes Wesen wie
der Meister aber auch von anderen Vampiren. Von der Energie und Kraft, die die
Jungen hatten und die er so schmerzlich vermisste. Sie hätte es nie auszusprechen
gewagt, aber ein wenig war sie es, die seine Meisterin geworden war.
„Es passiert überhaupt nichts“, murmelte sie missmutig. Sie konnte spüren, dass
ihm ihre schlechte Laune nicht gefiel. Das war ein Risiko, aber auch ein Spiel, das
ein wenig Abwechslung in den Tag brachte.
„Wo ist Xander?“
Willow verzog das Gesicht. „Hat sich bei mir nicht abgemeldet. Ich glaube, er und
seine Freunde kümmern sich um diesen …“ Sie wedelte ratlos mit der Hand.
„Pizzaboten? Imbissbudenverkäufer?“ Nichts nach ihrem Geschmack jedenfalls. Sie
konnte wieder das Lachen des Meisters vernehmen, machte sich aber noch immer
nicht die Mühe aufzublicken.
„Möchtest du ein Geschenk?“
Willow hob überrascht den Kopf und sah den Vampirherrscher ungläubig an. Ein
Geschenk? Sie konnte sich nicht erinnern, dass er jemals zuvor dieses Wort in den
Mund genommen hatte. Misstrauen stieg in ihr auf und sie genoss diesen
unerwarteten Kitzel.
„Geschenk?“
Dieses Mal war das Lachen des Meisters noch lauter.
„Du erinnerst dich sicher noch an den Vampir mit der Seele, der irgendwo im
Keller vermodert. Ich habe überlegt, ihn zu vernichten.“
Willow spitzte die Ohren und in ihre Augen trat ein Ausdruck sadistischer Freude,
der dem Meister gefiel. Das wusste sie sehr genau.
„Andererseits ist ein Vampir mit einer Seele ein einzigartiges Kuriosum. Was für
eine Verschwendung, ihn ohne Not zu töten.“ Das Funkeln in Willows Augen wurde
sichtlich schwächer. „Doch wenn er da unten nur rumsitzt und auf dumme Gedanken
kommt, ist niemandem geholfen.“
Plötzlich hatte der Meister einen Schlüssel in der Hand. Vielleicht hatte er ihn auch
schon die ganze Zeit gehalten und Willow hatte es nur nicht bemerkt.
„Jedes Haustier muss ab und zu beschäftigt werden, damit es nicht verkommt.“ Er
hielt ihr den Schlüssel hin. „Möchtest du?“
Ein Vampir mit einer Seele. Unsterblich und mit denselben körperlichen
Heilungskräften eines Untoten ausgestattet, jedoch mit dem verletzlichen Geist eines
Sterblichen. Sie würde mit ihm Dinge tun können, die kein Mensch überleben könnte.
Wieder und wieder … Als sie ungläubig die Hand nach dem Schlüssel ausstreckte,
konnte sie das gierige Zittern ihrer Hand nicht verbergen und versuchte es auch
nicht. In ihrem Gesicht spiegelten sich alle Phantasien, die in rasender Folge durch
ihren Kopf jagten und dabei sofort von immer noch faszinierenderen Ideen ersetzt
wurden. Der Meister studierte jede Hautfalte in ihrem Antlitz, das kleinste Zucken,
den Ausdruck des Blickes, die Körperhaltung. Er las darin, wie in einem Buch und
was er sah, entlockte ihm ein zufriedenes Aufseufzen.
„Auch wenn dein Dank mir Lohn genug ist, wirst du doch so lieb sein und mir von
allem erzählen, was du so tust?“
„Wie Sie wünschen.“
Während er ihr mit rechts den Schlüssel übergab, strich er mit links geradezu
liebevoll durch ihr rotes schulterlanges Haar.
„Meine kleine Willow.“
Etwas ging vor sich, das fühlte Angel ganz genau. Obwohl er in seiner Zelle im
Keller so gut wie nichts von der Außenwelt und den aktuellen Ereignissen mitbekam,
zweifelte er nicht daran, dass sich draußen irgendetwas verändert hatte. Etwas, dass
ihn betraf.
Wie lange er schon hier unten festsaß, konnte er nicht mehr genau einschätzen,
vermutlich schon einige Monate, vielleicht auch viel mehr oder viel weniger. Es fiel
etwas Tageslicht durch die kleinen Kellerfenster, wodurch seine Zelle indirekt
beleuchtet wurde, ohne ihn der Sonne auszusetzen. Er hätte die Sonnenauf- und
Untergänge zählen können und so eine bessere Vorstellung von der Dauer seiner
Gefangenschaft gewonnen, doch was würde ihm das nützen? Seine Zeit würde
kommen, früher oder später.
Am Anfang kam Darla ständig zu ihm, hatte ihn mit der ganzen Bandbreite ihrer
nicht eben geringen Verführungskünste bearbeitet. Das überraschte ihn, irgendwie
schmeichelte es ihm sogar. Bei ihrem letzten Zusammentreffen in China war er noch
vor ihr davon gelaufen, um ein Baby in Sicherheit zu bringen. Ein Kind, dessen
Urenkel heute möglicherweise schon tot waren. Sie musste ihn in fast 100 Jahren
wirklich vermisst haben. Darla versorgte ihn mit Blut, echtem Menschenblut natürlich,
machte ihn damit mitschuldig am Tod derer, die dafür umgebracht worden waren.
Ihre Absicht durchschaute Angel vollkommen. Nach Jahrzehnten voll von Tierblut
und Blutkonserven konnte er dem frischen warmen Blut nicht widerstehen, schon gar
nicht hier unten, ausgehungert und eingesperrt. So überlebte er und fühlte sich
schuldig dafür, alles wieder verloren zu haben, wofür er ein Jahrhundert an sich
gearbeitet hatte. In diese Wunde konnte Darla stechen und sie tat es mit Hingabe
und Geduld, wenn sie ihm von den Opfern erzählte und er doch nicht ablehnen
konnte. Sie versuchte nicht, ihn mit körperlicher Gewalt gefügig zu machen, für
solchen Unsinn kannten sie sich doch viel zu lange und viel zu gut. Nein, sie wollte
ihn überzeugen, ihren alten Angelus wieder zurückholen. Ob es dem Meister gefiel,
oder nicht.
Ein paar Mal brachte sie irgendwelche Magier mit, die sich erfolglos an seinem
Fluch versuchten. Meist kam Darla allein, in immer unregelmäßigeren Abständen.
Insoweit war es nicht so ungewöhnlich, dass sie schon länger nicht bei ihm gewesen
war. Sein Instinkt sagte ihm trotzdem etwas anderes.
Angel ging langsam von einer Seite der kleinen Zelle zur anderen und wieder
zurück. Er durfte seine Kräfte nicht verschwenden, durfte sich aber auch nicht
hängen lassen. Er war schwach und müde, das Blut, welches er bekam, reichte nie
zum Stillen seines Durstes, das sollte es ja auch nicht. Er sollte nur am Leben
bleiben und dabei das Feuer des Verlangens in sich brennen spüren.
Er blieb überrascht stehen, als die Zellentür knarrte. Der Vampir hatte niemanden
kommen hören. Vermutlich waren seine Sinne vom Nahrungsentzug zu
mitgenommen. Angel drehte sich zur Tür, sah aber nur noch einen schwarzen
Umriss, der auf ihn zuschoss und ihn mit Schwung von den Beinen fegte. Er fand
sich mit dem Rücken gegen die kalte Wand gepresst wieder und erkannte ratlos das
unschuldige junge Gesicht wieder, das von roten Haaren umrahmt wurde.
„Willow?“ Darla hatte die junge Vampirin ein- oder zweimal mitgebracht. Er konnte
sich gut an sie erinnern. Ein ziemlich ungestümes Mädchen, das ihn ein wenig an
den frühen Spike erinnerte: energiegeladen und abenteuerlustig, ohne das geringste
Gefahrenbewusstsein. Der Typ Vampir, der sprang, ohne sich vorher zu
vergewissern, ob er überhaupt landen konnte. Der alte Angelus hätte sich über ihren
Mangel an Finesse und Klasse beschwert. Vampire wie sie ragten aus der Masse der
Untoten hervor, zumindest für eine kurze Zeit zogen sie eine Spur der Verwüstung
und verbreiteten Angst und Schrecken, bis sie dann vor einer Menge mit Fackeln und
Mistgabeln landeten. Oder heutzutage wahrscheinlich mit Taschenlampen und
Motorsägen.
„Hallo!“, erwiderte Willow und fuhr Angel mit der Zunge quer über das Gesicht. Er
war zu perplex, um etwas zu tun, da rammte sie ihm auch schon mit
bemerkenswerter Kraft das Knie in den Leib. Angel krümmte sich vor Schmerz
zusammen, was Willow nutzte, um seinen Hemdkragen zu packen und ihn vorwärts
zu Boden zu stoßen. Plötzlich war sie über ihm und drückte seine Arme zur Seite. In
seinem jetzigen Zustand war sie körperlich leider klar überlegen.
„Wo ist Darla?“, presste Angel heraus und Willow erstarrte schlagartig. Ihr Gesicht
nahm einen Ausdruck von kindlicher Trauer an, bei dem Angel nicht sagen konnte,
ob er ein echtes Gefühl wiederspiegelte, oder ob es nur Teil der Masche war, die zu
ihrem Auftreten dazugehörte.
„Mami ist tot“, stellte sie fest und es klang so, als würde sie im nächsten Moment
in Tränen ausbrechen. Hätte Angels Herz noch geschlagen, wäre nun ein guter
Zeitpunkt zum Aussetzen gewesen. „Ein böser Mann hat ihr wehgetan.“ Angel war
von der Neuigkeit völlig schockiert, er nahm es kaum wahr, dass sich die Vampirin
wie eine alte Freundin an ihn kuschelte. „Ich habe ihm auch wehgetan.“ Sie sah im in
die Augen. „Aber du musst keine Angst haben, jetzt bin ich für dich da.“
Angel bäumte sich spontan mit aller seiner Kraft auf, schleuderte die rothaarige
Vampirin zur Seite und versuchte aufzuspringen. Leider war sie nicht nur gesünder
und stärker, sondern auch deutlich schneller. Er heulte gequält auf, als sich ihre
Stiefelspitze mit voller Wucht in seine Magengrube bohrte. Sie musterte ihn mit
undefinierbarem Gesichtsausdruck, wie er sich auf dem Steinboden wälzte.
„Du jaulst wie ein kleines Hündchen“, murmelte sie. Ihre Miene erhellte sich
schlagartig, in die Augen trat ein fröhlicher Glanz. „Möchtest du mein Hündchen
sein?“
„Wenn du ein Haustier willst, hättest du nur was sagen müssen.“ Xander, der
bisher alles schweigend von draußen beobachtet hatte, kam nun zum Gitter und
umfasste unschlüssig eine Eisenstange.
„Eifersüchtig?“, fragte Willow kokett. Sie wies auf Angel. „Du kannst auch, wenn
du willst.“ Ihr Freund schüttelte leicht den Kopf und lächelte grimmig.
„Du weißt doch – ich sehe dir zu gerne zu.“
Willow nahm sein Lächeln auf …
Der Meister hatte eine Anmeldung ebenso wenig nötig, wie um etwas zu bitten.
Man hatte ihm zu öffnen, wann immer und wo immer er es verlangte.
Das alte Fabrikgebäude im verlassenen Teil Sunnydales wurde von den
schwerbewaffneten Vampiren bewacht, die früher zur Initiative gehört hatten. Die
zwei Wachposten am Haupttor wichen ehrfürchtig vor ihm zurück, einer eilte sofort
los, um Professor Walsh zu holen. Der Vampirherrscher war nicht so recht glücklich
mit der Situation in seinem Herrschaftsbereich. Normalerweise duldete er keinerlei
Gruppenbildung unter seinen Leuten. Jeder unterwarf sich ihm, sonst nichts.
Möglicherweise war es ein Fehler gewesen, dass er Maggie Walsh erlaubte, eigene
Wege zu gehen. Doch auch als Vampir war sie der analytische Typ des absoluten
Wissenschaftlers geblieben, womit sie seinen Zielen und Überzeugungen eigentlich
fern stand. Aber als sie zu ihm kam und von der Idee erzählte, das Leben der
Vampire zu revolutionieren – da hatte sie es vermocht, ihn zu begeistern. Wahrlich,
in all seinen Jahrhunderten hatte sich am Leben der Blutsauger wenig geändert. In
dem der Menschen schon: Flugmaschinen und Motorfahrzeuge, sogar
Weltraumreisen. Viele der jüngeren Vampire unter seinen Leuten waren dieser Welt,
der sie entstammten, viel näher, als den alten Herrschern.
So musste er sich die Frage stellen, ob nicht auch er sich der modernen Zeit
zumindest ein wenig anpassen sollte. Walsh schlug ihm Fabriken vor, die VampirVersion eines Schlachthofes. Eine schnelle und effiziente Verarbeitung der
Menschen und damit eine Ersparnis für die Vampire, die nicht länger jagen müssten
und viel mehr Zeit für andere Dinge hätten. Sie hatte von >Optimierung< und
>Zeitmanagement< gesprochen, von einer Anwendung der
>Entwicklungsprinzipien<, die das Leben der Menschen in den letzten Jahrhunderten
verbessert hätten. Wenn Vampire Auto fuhren, warum sollten sie nicht Fabriken
betreiben?
Er war sich unsicher, was das alles für das Leben der Vampire bedeuten könnte,
das nie mehr dasselbe wäre. Die Neugier auf dieses faszinierende Projekt, das so
weit von allen vampirischen Traditionen entfernt war, ließ ihn dennoch zustimmen.
Sollte Walsh einen Prototyp bauen, dann würde man ja sehen, wie das Ganze
funktionierte. Sie suchte sich bald Helfer unter ihren ehemaligen Leuten und ehe es
sich der Meister versah, arbeitete Walsh mit einigen Technikern an ihrer Fabrik und
leistete sich eine Privatarmee von 22 ehemaligen Soldaten der Initiative.
Früher oder später würde er gegen diesen missliebigen Machtfaktor vorgehen.
Jetzt waren sie noch Verbündete, was er nur zähneknirschend hinnahm – für den
Meister gab es eigentlich so etwas wie Verbündete nicht, nur Untergebene und
Feinde.
Walsh empfing ihn in der zentralen Fabrikhalle, vor sich eine Apparatur mit einem
Fließband, in der Hand ein Klemmbrett, auf dem sie Notizen machte.
„Wie weit sind Sie?“, fragte der Meister. Walsh sah von ihren Aufzeichnungen auf.
Sie wirkte stolz auf ihr Leistungen.
„Sie kommen zur rechten Zeit, Sir.“
Er mochte es nicht, dass sie ihn immer so geschäftsmäßig behandelte, ohne jede
Unterordnung. So musste sie früher Politikern und Militärs gegenüber getreten sein.
Die Wissenschaftlerin zeigte mit dem Brett auf das technische Gerät.
„Wir bereiten gerade einen Probelauf vor. Es wird sie nicht enttäuschen.“
Amy summte leise eine Melodie, während sie mit einem Badetuch ihre nassen
Haare bearbeitete. Gedankenverloren verließ sie das kleine Badezimmer und betrat
das Wohnzimmer, das mit Kochnische ihre Wohnung fast vervollständigte. Die
Schlafzimmertür zweigte zu ihrer Linken ab. Sie hatte keine zwei Schritte gemacht,
als sie mitten in der Bewegung erstarrte.
„Bruce!“, murmelte sie halb erschrocken und halb fassungslos und zog
automatisch ihren Bademantel enger zusammen. Der schwarzhaarige Vampir
lümmelte ungeniert auf ihrer Couch und hatte die Beine auf den Tisch gelegt. Dass er
dabei schwarze Dreckkrümel auf der Glasplatte verteilte, störte ihn offensichtlich
nicht im Geringsten.
Bruce war ein Vampir, über den Amy nicht viel wusste. Es reichte, zu wissen, dass
er schlicht und ergreifend ein zutiefst unsympathisches Schwein war. In jener Nacht,
in der sie orientierungslos aus dem Haus ihrer Mutter davongelaufen war und zum
ersten Mal Vampiren begegnete, da waren diese Vampire ausgerechnet Bruce und
sein Kumpel gewesen, den sie in eine Ratte verwandelte. Sie hatte den Zauber
natürlich kurz darauf wieder aufgehoben, nachdem sie mit dem Meister in eine Art
Vereinbarung geraten war – doch Bruce Freund tauchte nie wieder auf. Vermutlich
hatte ihm zwischenzeitlich irgendein dummer Zufall den Gar ausgemacht. Seither
ließ Bruce keine Chance aus, Amy Probleme zu bereiten, wofür er reichlich
Gelegenheit bekam, denn ausgerechnet ihn benutzte der Meister regelmäßig als
Boten, um mit ihr zu kommunizieren. Vermutlich fand der alte Tyrann das auf
sadistische Weise witzig.
„Ich hatte dir gesagt, dass du ohne meine Erlaubnis nicht in meine Wohnung
kommen sollst!“, fuhr Amy Bruce wütend an. Er trug wie immer sein Vampirgesicht.
Amy nahm an, dass er sich dadurch stark und furchteinflößend vorkam. Er zuckte mit
den Schultern.
„Habe ich wohl vergessen.“ Er betrachtete sie mit einem unverhohlen lüsternen
Grinsen, das in Amy den dringenden Wunsch aufkommen ließ, Bruces Augen mit
Weihwasser auszuwaschen. Sie wollte sich zu gern ein großes Kreuz gegenüber der
Wohnungstür installieren, fand aber nie den Mut dazu. Immerhin gab es ein Kreuz
direkt über ihrem Bett im Schlafzimmer. Nur für alle Fälle.
„Was willst du?“
„Was ich will?“ Sein Lächeln wurde tatsächlich noch schleimiger. „Der Meister
jedenfalls möchte einen Schutzzauber für seine neue Fabrik. Er ist ja so
abergläubisch.“
„Die Fabrik?“ Amy hatte davon gehört und bei dem Gedanken an des Meisters
perversen Menschenschlachthof musste sie sich noch jetzt beinahe übergeben.
„Einen Schutzzauber?“
Bruce legte den Kopf schief. „Gefällt dir nicht, was? Weil da Menschen sterben.
Du kannst dich ja weigern.“ Er zog die Lippen hoch und entblößte seine Zähne. „Gott
– ich hoffe, du weigerst dich!“
Natürlich konnte sie nicht ablehnen. Sie hatte es einmal versucht, mit allem Mut
der Verzweiflung, bei einer Sache, die sie zu unerträglich fand. Sie hatte geglaubt,
damit ihr Ende zu besiegeln und war innerlich bereit gewesen, sich zu opfern, um
dem, was der Meister verlangte, zu entgehen. Der Meister würde sie töten und den
Preis wollte sie bezahlen, erhobenen Hauptes. Glaubte sie.
Doch der Meister blieb völlig gelassen. Er erklärte ihr nur, dass er sie, wenn sie
stur bliebe, Willow und Xander überlassen würde, unter der einzigen Vorgabe, sie
nicht sterben zu lassen. Amy hatte nie mehr widersprochen.
Der eklige Anblick des Untoten ließ Amys Magen protestieren. Angewidert drehte
sie sich um und stützte die Hände auf die Arbeitsplatte der Kochnische, um ein paar
Mal durchzuatmen. Ein Fehler, wie ihr erst bewusst wurde, als Bruce mit einmal
hinter ihr stand, sie zur Seite schubste und ihren Kopf brutal mit der rechten Hand
gegen die Wand drückte. Sie schrie überrascht auf, während seine Linke an dem
verrutschten Bademantel herumspielte.
„Ok!“, schrie Amy panisch und hob beide Hände neben sich, zum Zeichen, dass
sie keine Gegenwehr beabsichtigte. „Ich spreche den Zauber. Ich tue’s.“ Bruce ließ
los und trat einen Schritt zurück.
„Schade.“ Er nahm lässig auf der Tischplatte platz und rührte keinen Finger, als
Amy sich langsam herumdrehte und ihn hasserfüllt ansah. Sie schwiegen etwa eine
Minute, in der Amy die Arme vor der Brust verschränkt hielt und sich einen Pflock
wünschte.
„Was?“, fuhr sie ihn schließlich an. Er spielte den Überraschten.
„Wir wollten doch zum Meister gehen.“
„Ja und?“
Bruce wies mit der flachen Hand auf sie.
„Willst du dich nicht umziehen?“
Für Sekunden war Amy völlig fassungslos. Die Worte, die ihr durch den Kopf
gingen, schluckte sie mit einem letzten Rest Selbstbeherrschung runter und atmete
tief durch.
„Raus“, fauchte sie.
„Zwingst du mich?“
Sie hätte ihn so gern in eine Ratte oder ein anderes nettes Tier verwandelt – oder
andere Dinge mit ihm angestellt, die er nicht einmal ahnte. Amy hatte ihre Freizeit für
das Studium von unzähligen Büchern und die Zucht einer reichhaltigen kleinen
Kräutersammlung gut genutzt. Sie konnte nicht praktisch hexen, aber ihre
theoretischen Fähigkeiten hatten sich enorm vergrößert. Ohne das Halsband könnten
Bruce und seine Leute ihr blaues Wunder erleben … Aber der Versuchung durfte sie
jetzt nicht nachgeben. Ein falscher Schritt und das Band verwandelte sie in ein
wimmerndes wehrloses Stück Fleisch. Und auf diesen erniedrigenden Anblick, das
erkannte Amy plötzlich, legte es Bruce die ganze Zeit geschickt an.
„Du wirst jetzt meine Wohnung verlassen!“, befahl sie mit fester Stimme.
Tatsächlich sprang Bruce vom Tisch, doch nur, um zu ihrem Bücherregal zu
schlendern, wo er mit dem Finger die Titel abfuhr, als verstände er etwas davon.
„Oh“, machte er. „Fängst du sonst an zu weinen?“
Amys Lippen zuckten unwillkürlich, während sie die Zähne zusammenbiss, bis ihr
Kiefer schmerzte. Sie stand kurz davor, sich mit bloßen Fäusten auf den Vampir zu
stürzen. Auch, wenn sie kaum eine Gefahr für ihn war und Bruce eine solche Attacke
mit lächerlicher Leichtigkeit hätte abwehren können, veränderte sich etwas im
Gesicht des Untoten: das Grinsen verschwand. Er konnte es doch nicht so ohne
weiteres riskieren, etwas zu tun, das schief gehen konnte. Der Meister hatte genug
Vampire, aber nur eine Hexe, und würde eine Fliege wie Bruce mit einem
Fingerschnippen zerquetschen, wenn er Mist baute. Er spielte gern den starken
Blutsauger, doch stark waren an Bruce nur seine Minderwertigkeitskomplexe. Er
mochte sich ja daran aufgeilen, andere vor sich kriechen zu sehen, aber eine
bettelnde Hexe bekam er heute definitiv nicht geboten. Er konnte sie schlecht im
Bademantel zum Meister zerren, durfte seinen Herrn aber auch nicht ewig warten
lassen.
„Echt“, murmelte er verächtlich. „Du bist so eine humorlose Spielverderberin!“
Dann ging er durch die Wohnungstür, ohne noch einen Blick zurück zu werfen.
Amy flog regelrecht gegen die Tür, schloss sie und klemmte einen Stuhl unter die
Klinke – was sie von nun an immer tun würde. Den Rücken an die Tür gelehnt, sank
die blonde Hexe langsam in die Knie. Sie zog den Kopf in den Kragen des Mantels
zurück und dachte an eine Schildkröte in ihrem Panzer. Ihr Panzer war noch immer
viel zu dünn. Mühsam kämpfte Amy ihr inneres Beben nieder, wankte ins Bad und
hielt ihr Gesicht unter einen warmen Strahl aus dem Wasserhahn. Der Spiegel vor ihr
überzog sich mit Dampf und zeigte ihr ein verzerrtes Abbild ihres Gesichtes.
Ohne nachzudenken drückte Amy einen Punkt in die Schicht, einen zweiten einige
Zentimeter daneben. Dazwischen zog sie einen senkrechten Strich, verharrte kurz
geistesabwesend und vervollständigte das Gesicht abschließend mit einem nach
unten geöffneten Halbkreis.
„Dauert das noch lange?“, klang Bruce Stimme aus dem Flur „Du bist nicht die
einzige Tussi, um die ich mich heute noch kümmern muss!“
Sie würdigte ihn keiner Antwort.
Das Schlimmst waren nicht Folterungen, nicht Qualen oder Erniedrigung. Angel
war alt, über 240 Jahre, er hatte gelernt zu warten, zu ertragen, weil in einem ewigen
Leben nichts wirklich von Dauer sein konnte. Nein, weit schlimmer als alle Wunden
oder Schmerzen, die Willow ihm zufügte, waren die nagenden Zweifel in ihm selbst.
Die Erinnerungen, die in der Isolation der Zelle um ein Vielfaches verstärkt auf ihn
zurück geworfen wurden.
Wenn er alle Quälereien, die aus Willows krankem Hirn über ihn kamen, mit
hundert oder tausend multiplizierte, so war es immer noch weniger als die
Grausamkeiten, die er in all den vielen Jahren voll köstlichen Genusses anderen
zugefügt hatte. Etwas in ihm fragte sich, ob er es nicht verdiente, was ihm geschah.
Ob es nicht eine perverse Form von kosmischer Gerechtigkeit sein könnte, ihn mit
seinen eigenen Opfern den Platz tauschen zu lassen. Diesen Teil seiner selbst,
bekämpfte Angel mit aller Macht, denn wenn er das Selbstmitleid die Oberhand
gewinnen ließ, würde er brechen, würde aufgeben und sich fügen.
Fast soviel Sorge wie dieser Teil machte ihm ein anderer, wilder und wütender,
der nach Rache schrie und ihm Träume bescherte, in denen Willow auf Arten büßte,
die selbst ihr noch nicht eingefallen waren. Angel wusste, dass, würde er sich der
Rache ergeben, sein menschlicher Teil so vergiftet würde, wie es der Vampir in ihm
von Natur aus war. Er würde seine Menschlichkeit verlieren.
Das Schlimmste, das Willow ihm antun konnte.
„Sie haben dir ziemlich zugesetzt.“
Angel öffnete langsam die Augen und erkannte hinter den Gittern, die vor seinem
Gesicht verliefen, ein Paar schlichter Turnschuhe. Mit einem schmerzgepeinigten
Stöhnen rollte sich der Vampir auf den Rücken, so dass er das Gesicht seiner
Besucherin erkennen konnte.
„Amy?“ Richtig. Die Hexe. Es tat ihm gut, zu sehen, dass sie noch am Leben war.
Nach dem unschönen Zusammentreffen mit Darla hatte er sich oft gefragt, was aus
der unglücklichen Magierin geworden sein mochte, die ihm die Seele hatte rauben
sollen. Sie nickte wortlos und mit freundlichem Zwinkern. „Darla ist …“, begann er.
Das Sprechen bereitete ihm ziemliche Probleme, wie auch jede andere Aktivität. Die
gebrochenen Knochen würden heilen, aber noch bohrten sich mehrere Rippen
schmerzhaft in die inneren Organe. Zweifellos: an Energie mangelte es dem
Rotschopf Willow nicht.
„Tot“, vervollständigte Amy und sank auf die Knie. Das hatte Angel natürlich
gewusst, aber es aus einer Quelle bestätigt zu bekommen, die er für
vertrauenswürdig hielt, schaffte letzte Gewissheit. Aus der Nähe konnte er
feststellen, dass die junge Frau nicht eben gesünder geworden war, seit ihrem
letzten Treffen.
„Bist du mein Freund?“, fragte sie unvermittelt mit einer dünnen Stimme. Angel
hatte keine Ahnung, was er antworten sollte. Hatte sie inzwischen den Verstand
verloren, war das Ganze irgendein Trick?
„Ja“, antwortete er und unter der Voraussetzung, dass ihre Geschichte der
Wahrheit entsprach, meinte er es ehrlich. Sie griff durch das Gitter und drückte seine
Hand, die neben seinem Kopf am Boden lag. Mit einem unergründlichen
Gesichtsausdruck zog sie die Hand langsam zu sich, dann lege sich Amy zu Angels
grenzenloser Überraschung auf den harten Betonboden, zog die Beine an und
bettete ihren Kopf auf seine Hand.
„Dann ist es gut“, flüsterte sie und schloss die Augen.
Die Nacht lastete schwer auf dem großen stillen Gebäude. Wenn man tagsüber
die Sunnydale High besuchte, fiel es manchmal schwer, sich vorzustellen, dass
dieser Ort noch trostloser werden konnte, doch des Nachts, wenn sich zwischen den
braunen Schränken, die die wenigen verbliebenen Schüler mit Kreuzen, Knoblauch
und anderen abergläubischen Dingen und Symbolen versehen hatten, nichts und
niemand mehr bewegte, hätte diese Schule auch ein Friedhof voller namenloser
Geister sein können.
Larry saß auf einem Stuhl, den er aus einem Klassenraum geholt hatte, der
inzwischen als Lager diente. Es war ruhig. Kein Ziel für seine Armbrust. Der
stämmige junge Mann war sich nicht im Klaren, ob er darüber traurig oder erleichtert
sein sollte. Sie hatten immerhin einen kleinen Erfolg errungen, hatten heute Abend
die gejagte Cordelia Chase auf der Straße vor den Nachstellungen von Xander und
Willow gerettet. Doch Siege dieser Art konnten Larry nicht zufrieden stellen.
Menschen vor den Vampiren zu retten, war leicht, denn meist zogen sich die
Blutsauger einfach kampflos zurück. Sie mussten nicht das Risiko eingehen, um ihre
Beute zu kämpfen, denn es gab so viel davon. Larry biss die Zähne zusammen und
überprüfte den Gang einmal mehr nach allen Seiten.
Giles hatte die bewusstlose Cordelia in der Bibliothek behalten und Nancy, Oz und
Larry angewiesen, das Gelände zu bewachen, für den Fall, dass man ihnen gefolgt
war. Halb wünschte sich Larry, sie würden kommen. Xander und Willow, die
Lieblingsjünger des Meisters. Was wäre es für ein Fest, sie zur Hölle zu schicken.
Leider waren sie auch ziemlich gut. Deshalb glaubte Larry auch nicht, dass sie
auftauchen würden – das hatten sie doch gar nicht nötig.
Plötzlich erfüllte das Splittern von Glas überlaut die Luft. Larry schoss in die Höhe
und erkannte mit schlechtem Gewissen, dass er nahe am Einschlafen gewesen war.
Er schüttelte die Müdigkeit ab und rannte in Richtung der Geräusche, die immer
mehr nach Kampf klangen. Er fluchte lautlos und trat die Tür zum Speisesaal auf.
Sofort schreckte er wieder zurück, als ein Stuhl neben ihm an der Wand zerschellte.
Vor seinen Augen rang Oz mit Xander, die Armbrust seines Freundes lag einige
Meter entfernt am Boden. Die beiden drehten sich in ihrem Kampf umeinander, was
Larry das Zielen unmöglich machte. Wütend zog er einen Pflock aus dem Gürtel und
lief auf die Kontrahenten zu.
Bevor er sie erreichte, hörte er einen Ruf von links. Er erkannte Nancy, die
aufgeregt auf ihn zeigte – oder besser: an ihm vorbei. Larry vollendete die
Rechtsdrehung nicht, da prallte schon ein Körper gegen ihn und schleuderte den
großen jungen Mann zur Seite. Am Boden liegend erkannte er Willow, die sofort den
nächsten Sprung auf Nancy zu unternahm. Natürlich – wann traten die zwei Irren mal
nicht zusammen auf?
Larry versuchte, sich aufzurichten, doch offenbar hatte sich beim Sturz sein linkes
Bein verdreht. Alles um ihn herum ging so wahnsinnig schnell. Oz landete mit
beängstigendem Krachen in einer Sitzgruppe und blieb reglos liegen.
„Nein!“, brüllte Larry und wurde sich im selben Moment bewusst, dass er waffenlos
war. Wo waren sein Pflock und die Armbrust? Xander kam grinsend auf ihn zu,
während Nancy vor Wut und Schmerz aufschrie. Das braunhaarige Mädchen
verpasste Willow einen Tritt, der die Vampirin wütend fauchen ließ.
„Soso“, meinte Xander gelassen. „Der gute alte Larry. Ist ja ewig her. Du hast mich
als Kind verprügelt, weißt du noch? Zeit, dass wir uns über die alten Zeiten
unterhalten.“ Er grinste herablassend.
„Cordelia!“, rief Willow und schleuderte Nancy geschickt zur Seite. „Wir haben
nicht so viel Zeit.“
„Ja“, bestätigte Xander mit verzogenem Gesicht. Larry versuchte aufzuspringen,
doch Xander trat ihm brutal in den Magen. „Stimmt, wir haben Termine.“ Er trat
nochmals zu und Larry heulte vor Schmerz auf. „Weißt du, für heute lasse ich dich
am Leben. Wir sehen uns später noch.“
Larrys Hände schossen vor, griffen nach Xanders Beinen und warfen den Vampir
mit einem Ruck zu Boden. Bevor Xander auf den Angriff reagieren konnte, lag er
schon auf dem Rücken. Larry schwang sich auf den Vampir, um ihn durch sein
Gewicht festzuhalten, verzweifelt auf der Suche nach einer Waffe. Den Stiefel, der
auf seine Schläfe zielte, sah er nicht kommen.
Er musste sekundenlang bewusstlos gewesen sein, denn als nächstes stellte
Larry fest, dass nun er wieder auf dem Rücken lag und Willow mit einem
vielsagenden Lächeln Xander auf die Beine zog, der ihn hasserfüllt ansah.
„Gut“, zischte Xander. „Wenn du es so willst.“ Der Vampir nahm Willow eine
Armbrust aus der Hand, die Larry als Nancys erkannte. Xander hielt sie prüfend vor
sich. „Nett“, sagte er. „So was wollte ich immer schon.“ Er legte langsam und
siegessicher auf Larry an. „Hast du dich auch schon mal gefragt, wie das wohl ist, an
unserer Stelle?“ Xanders Finger spielte am Abzug. „Was meinst du?“, fragte er
Willow. „Das Herz?“
Sie seufzte. „So viele Körperteile und so wenig Zeit.“
Xander zuckte mit den Schultern. „Wir nehmen das Ding mit.“ Er zielte auf Larrys
Kopf. „Wetten ich treffe genau zwischen die Augen?“
In Larrys Gesicht zuckte kein Muskel. Er würde vielleicht heute Nacht sterben,
aber die Gefahr hatte er vom ersten Tag an gekannt. Er würde nicht betteln und
diesen Monstern keine Genugtuung verschaffen, indem er Angst zeigte. Xander
wirkte ein wenig enttäuscht.
Aus dem Nichts krachte in derselben Sekunde ein Stuhl auf Xander nieder und
zwang ihn in die Knie. Nancy schrie etwas Unverständliches und holte zu einem
weiteren Schlag aus. Der Stuhl brach unter der Belastung auseinander und
überschüttete Xander mit Holzstücken. Blitzschnell fegte Willow den Stuhlrest zur
Seite, er entglitt Nancys Händen und landete im Getränkeautomaten. Zwei
Fantadosen schossen aus dem Ausgabeschlitz und rollten scheppernd über den
Boden. Willow machte ein verblüfftes Gesicht.
„Warum bin ich früher nie auf die Idee gekommen?“, fragte sie Nancy und schlug
sie gleichzeitig ins Gesicht. Xander hob die Armbrust auf, richtete sie wortlos auf das
braunhaarige Mädchen und drückte ab. Nancy schrie nur kurz und überrascht auf,
bevor sie zusammen sackte.
„Auch gut“, meinte Willow ungerührt. Xander warf die Armbrust achtlos zur Seite
und musterte Larry.
„Tja alter Freund“, sagte er. „Wir sehen uns wohl doch wieder.“ Dann trat er
erbarmungslos gegen Larrys Kopf. Um den jungen Mann wurde es dunkel.
Als er und Oz wieder erwachten, kam auch für Cordelia schon jede Hilfe zu spät.
Die beiden Vampire hatten das Mädchen in der Bibliothek erbarmungslos ermordet.
Wenigstens hatte Giles überlebt und der Wächter erzählte seinen Mitkämpfern die
Geschichte, die Cordelia ihm berichtet hatte.
Sie konnten sie nicht glauben.
11
Die Jägerin
„Die Welt ist wie sie ist. Wir kämpfen und sterben vielleicht.
Wünsche können daran nichts ändern.“
BUFFY SUMMERS
„Ich muss daran glauben, dass es besser wird.“
RUPERT GILES
„Tun Sie’s doch. Ich muss in dieser Welt leben.“
BUFFY SUMMERS
Los Angeles, 1996: Schicksal
Zum ersten Mal seit Monaten wagte Buffy es, zu hoffen. Darauf, dass ihr Alptraum
ein Ende haben könnte und es noch nicht zu spät für einen Neuanfang für sie war.
Niemand konnte die Lage verstehen, in der sie sich befand, niemandem konnte sie
sich anvertrauen, ohne ihr Leben endgültig zu zerstören. Müde, traurig und
sehnsuchtsvoll betrachtete sie das Foto auf dem Nachttisch: sie, die bewunderte
Schönheit, umlagert von ihren Freundinnen. Erst vor wenigen Monaten und doch in
einem anderen Leben. Ihr Leben, wie es bisher gewesen war, unbeschwert und
leicht, endete an jenem Tag, als ein Mann mit Schnauzbart auf sie zukam und ihr
eine wirre Geschichte von Vampiren und einer auserwählten Jägerin erzählte. Er
nannte sich Merrick, man habe ihn geschickt, um ihr zu helfen. Ihr, der Jägerin.
Buffy musste völlig den Verstand verloren haben, diesem Merrick auf einen
Friedhof zu folgen, mitten in der Nacht. Dort war er aber nicht die Gefahr für sie,
stattdessen traf Buffy Summers ihren ersten Blutsauger und vernichtete ihn.
Schneller als ihr Verstand es fassen konnte, ging sie auf die Jagd nach Vampiren
und um sie herum brach alles auseinander, wie unter einem bösen Fluch. Heute war
ihre Existenz praktisch ruiniert, ein einziges Trümmerfeld. Merrick war tot, sie selbst
von der High School geflogen. Ihre Eltern hatten ihr nicht helfen können, als Buffy
ihnen die Wahrheit zu vermitteln versuchte. Stattdessen brachten sie sie an einen
Ort, wo sie >Hilfe< bekommen sollte. Die Turnhalle der Schule angezündet, in die
Psychiatrie eingewiesen. Buffys Schulakte musste jedem Direktor den Angstschweiß
auf die Stirn treiben. Als sie nach endlosen Wochen ihre Entlassung aus der
Nervenheilanstalt erwirkte, war es mit der Ehe ihrer Eltern schon vorbei. Joyce und
Hank Summers zogen getrennte Wege. Ein Scherbenhaufen.
Heute Morgen hatte Joyce ihrer gebeutelten Tochter schließlich eröffnet, dass sie
beide Los Angeles verlassen würden, nur das Wohin war noch offen. Ein Neuanfang,
irgendwo weit weg. Das klang sehr gut. Buffy würde wenig hier zurücklassen,
höchstens einige wenige gute Freunde und einen Haufen Erinnerungen.
Wohin konnten sie ziehen? Buffy hatte keine Idee und sie bezweifelte, dass ihre
Mutter momentan bereit wäre, allzu sehr auf ihre Wünsche Rücksicht zu nehmen. Ob
sie es sagte oder nicht – Joyce verlor hier eine ganze Menge und sie machte ihre
Tochter bewusst oder unbewusst zumindest mitverantwortlich. Kein gutes Gefühl.
Buffy stellte das Bild gedankenverloren zurück, stand von der Bettkante auf und
sah durch das Schlafzimmerfenster hinaus auf die Lichter der Großstadt. Ihrer Stadt.
Es brachte nichts, der verlorenen Vergangenheit nachzutrauern. Sie gab sich einen
Ruck und dachte an ihre Mutter, die gerade Kisten aus ihrem Auto lud, das draußen
vor dem Einfamilienhaus der Summers parkte. Joyce begann schon damit, Dinge aus
ihrer Galerie nach Hause zu verlagern. Es würde ein wichtiges Zeichen des guten
Willens sein, wenn Buffy ihr half. Froh darüber, eine Tätigkeit gefunden zu haben, die
sie vom dumpfen Grübeln entlastete, eilte Buffy aus ihrem Zimmer und die Treppe
hinunter. Als sie die Tür öffnete, schlug ihr die kalte Nachtluft entgegen. Es tat gut.
Joyce hievte gerade einen Packkarton aus dem Kofferraum und mühte sich
sichtlich mit dem Gewicht. Buffy hob lächelnd die Hand, als Joyce Blick sie traf und
einen hilfesuchenden Ausdruck annahm. Buffys Lächeln verschwand und machte
einer gerunzelten Stirn platz. Die geschärften Sinne der Jägerin störten sich an
etwas, ohne dass sie erkannte, wo das Problem lag. Sie suchte die Straße nach links
und rechts ab und entdeckte fast sofort eine Gestalt in einem verdreckten grünen
Mantel mit hochgeklapptem Kragen. Der Mann trug eine schwarze Skimütze und
kam langsam heran.
Joyce, die die Veränderung ihrer Tochter bemerkte, wurde nun ebenfalls auf den
Kerl aufmerksam, der direkt auf sie zu marschierte. Buffy wusste nicht recht, was sie
tun sollte. Ein Vampir war das nicht. Kaum konnte sie den Gedanken beenden, da
griff der Fremde mit geübter Bewegung unter seinen Mantel, hatte plötzlich eine
Pistole in der Hand und richtete sie auf Joyce. Buffys Mutter schrie erschrocken auf
und ließ den Kasten scheppernd fallen.
„Mach keinen Aufstand“, herrschte der Mann sie an, seine Stimme zitterte, als
hätte er selbst große Angst. „Gib mir nur das Geld. Alles Geld, sofort!“ Joyce war
völlig erstarrt. „Los verflucht!“
Buffy schoss los, flog regelrecht aus dem Stand über den kleinen Weg. Alles lief
wie in Zeitlupe ab. Ihr Verstand raste mit wahnwitziger Geschwindigkeit, doch der
Körper kam nicht hinterher. Sie sah den Kopf des Fremden, der sich zu ihr drehte,
seine erschrocken aufgerissenen Augen, den zum Schrei geöffneten Mund voller
schlechter Zähne. Dann passierten drei Dinge gleichzeitig: Buffy erreichte ihren
Gegner, die Zeit kehrte zur normalen Geschwindigkeit zurück. Der Mann drückte ab.
Der Mündungsblitz zuckte grell auf, Joyce schrie unterdrückt und wurde nach
hinten gerissen. Auch Buffy schrie, aber ihr Schrei hatte keine Überraschung, keinen
Schmerz, nur eine blinde verzweifelte Wut. Der Kerl war einen Kopf größer als sie,
aber spindeldürr. Er stank wie eine Mülldeponie und war nicht besonders stark oder
schnell. Ihr erster Schlag traf seinen Waffenarm, die Pistole flog in hohem Bogen
davon. Sie brauchte ihn nicht zu überwältigen, dafür war sein Widerstand zu gering.
Sie schlug seine Arme zur Seite, bekam sein Genick zu fassen und hämmerte seinen
Kopf mit dem Gesicht voran auf das Autodach. Noch einmal und noch einmal. Ein
roter Vorhang lag um ihre Wahrnehmung, in den Ohren ein einziges Rauschen. Auch
eine Jägerin durfte keinen Menschen verletzen oder töten, das gehörte zu den
Regeln, die Merrick ihr beigebracht hatte. Doch heute Nacht war niemand vom
Wächterrat hier, um sie aufzuhalten.
„Buffy!“
Augenblicklich wurde sie ruhig. Fassungslos erkannte Buffy, dass sie noch immer
den Nacken des Mannes umklammerte, der keinen Laut mehr von sich gab. Als sie
losließ, rutschte er zu Boden und hinterließ eine Spur von Blut auf dem Auto.
„Buffy?“ Joyce stand jetzt wieder, wenn auch schwankend. Buffys Mutter presste
die rechte Hand auf die linke Schulter, wo sich ihr Oberteil rot färbte.
„Mum?“
Joyce Blick ging an ihrer Tochter vorbei, war auf den Mann am Boden geheftet.
„Was hast du getan?“
„Mum!“ Buffy machte einen Schritt auf Joyce zu, erleichtert, hilflos. „Mum?“ In den
Augen ihrer Mutter fand Buffy Furcht, Erschrecken. Es war der wohl schlimmste
Moment in Buffys bisherigem Leben, in dem ihr klar wurde, dass Joyce nicht wegen
des Räubers mit der Waffe verstört war. Nein, der Schrecken galt jetzt ihr. Buffy
streckte instinktiv die Hand nach ihrer Mutter aus. Erst als Joyce zurückwich, wurde
sie sich des Blutes an ihren Fingern bewusst. Sie erkannte schmerzhaft, dass ihre
Mutter vor ihr zurückschreckte und mit entsetzlicher Klarheit wusste die Jägerin, dass
von nun an Joyce nie mehr ihr kleines Mädchen in ihr würde sehen können.
„Mum …“
Cleveland, 1997: Pflicht
Wenn Los Angeles die Stadt der Lichter war, der Stars und des Glamours, dann
war Cleveland bestenfalls ihre kleine graue und magere Schwester. Auf einer
Internetseite, auf der sich Buffy auf ihre neue Heimat vorbereiten wollte, hatte sie
erfahren, dass die Einwohnerzahl von Los Angeles kontinuierlich stieg, besonders
wegen der Zuwanderung aus Südamerika; dagegen sank die Einwohnerzahl von
Cleveland von 1960 bis 1990 um 42 Prozent. Mit rund einer halben Million Menschen
geradezu eine Kleinstadt, verglichen mit LA. In ihren Augen ein trostloser kalter Platz,
der durch seine wirtschaftliche Krise langsam ausblutete. Sie vermisste Los Angeles
so furchtbar, das San Fernando Valley, Hollywood, den Griffith Park mit dem
Observatorium, sogar Disneyland im nahen Anaheim. Sie vermisste ihren Dad, ihre
Freunde, ihre Vergangenheit. Sie hätte alles gegeben für eine zweite Chance, dafür,
die Zeit zurück zu drehen.
„Wohin gehst du, Schatz?“ Joyce fragte ganz unverfänglich, nur eine normale gute
Mutter. Dennoch versetzte das Misstrauen, das Buffy hinter der Frage ahnte, der
Jägerin einen brennenden Stich direkt ins Herz. Sie schloss betont lässig den
Reißverschluss ihrer Jacke. So kurz nach dem Jahreswechsel war es kalt hier oben
an der Küste des Eriesees, nahe der kanadischen Grenze. Viel kälter, als es in LA je
wurde.
„Frische Luft schnappen.“
„Wird das lange dauern?“
Buffy schüttelte den Kopf: „Nur kurz um den Block.“
Ja, es war kalt in Cleveland, doch nicht so kalt, wie im Haus der Summers. Nach
dem Zwischenfall mit dem Straßenräuber hatte die Polizei keinen Sinn in
Ermittlungen gegen Buffy gesehen. Man schob die ungewöhnliche Kraft, die sie
gezeigt hatte, auf einen besonders starken Adrenalinschub. Bei dem Polizisten, der
ihre Aussage aufnahm, zeigte sich sogar eine gewisse Bewunderung, die Buffy
peinlich war. Notwehr in juristischer Sicht. Der Räuber lag nach dieser Nacht eine
Woche im Koma und verlor die meisten seiner restlichen Zähne. Alles in allem kam
er günstig weg, dafür, dass sich eine wütende Jägerin auf ihn gestürzt hatte. Die
paar Mitschüler, denen Buffy danach noch über den Weg lief, wichen ihr nur stumm
und mit großen Augen aus. Sie konnte das Tuscheln hinter ihrem Rücken hören und
verstand es, ohne Jägerinnensinne zu benötigen. Sie war nun endgültig und
unwiderruflich eine Ausgestoßene. Ein Paria. Die, die sie nur als irre abtaten, waren
noch die nettesten.
Mit all dem wäre Buffy womöglich noch fertig geworden, wäre da nicht noch die
Sache mit ihrer Mutter. Joyce Summers konnte manchmal naiv sein, aber sicher
nicht dumm. Die verrückte Story von Vampiren einerseits, die Buffy in die Psychiatrie
gebracht hatte, die enorme Körperkraft ihrer Tochter andererseits … Sie wollte es
nicht hören, es nicht glauben, weil es nicht in ihre bisherige Realität passte, konnte
die naheliegenden Schlussfolgerungen aber auch nicht ignorieren.
In einer Art Nacht-und-Nebel-Aktion lud sie ihre Tochter ins Auto und ohne das
Buffy je gefragt worden wäre, zogen die Summers nach Cleveland, Ohio, Hunderte
von Meilen von allem entfernt, was Buffy je gekannt hatte. Joyce schien zu glauben,
dass es ausreichte, wenn sie einfach davon liefen und eine möglichst große
Entfernung zwischen sich und alle Vampire und bösen Mächte brachten. Bei all den
Dingen, die Merrick Buffy erzählt hatte, klang es nie so, als würden sich die Monster
dieser Welt auf Kalifornien beschränken. Es wäre sinnlos gewesen, Joyce darauf
hinzuweisen. Sie hätte auch das nicht hören wollen.
Als Buffy die Straße entlangging, war sie sicher, dass ihre Mutter am Fenster
stand, und sie beobachtete. Das kränkte sie zutiefst, der Mangel an Vertrauen. In
den Wochen ihrer Beinahe-Flucht über den halben Kontinent bis hierher hätte sich
Buffy von ihrer Mutter nur eine einzige Sache wirklich gewünscht. Eine Sache, die
alles andere wettgemacht hätte. So banal es klang, die Jägerin wünschte sich, ihre
Mutter würde sie nur einmal wie früher einfach in den Arm nehmen und ihr ganz
unbefangen sagen, dass sie sie liebte.
Vielleicht würde es ja auch so kommen, vielleicht brauchte Joyce nur Zeit.
Brauchten sie beide etwas Zeit und Abstand.
Buffy zog den Kopf ein und trottete weiter die halbdunkle Straße entlang. Sie
konnte von hier aus das Society Center sehen, mit 228 Metern das höchste Gebäude
im Staate Ohio.
Die Schritte hinter ihrem Rücken hätte die Jägerin auch gehört, wenn der
Schneematsch nicht bei jedem Schritt schmatzende Geräusche von sich gegeben
hätte. Entweder wollte er sich nicht verstecken, oder er hatte kein Talent. Buffy wurde
weder langsamer noch schneller. Wer oder was konnte das sein? Sie wohnte ja erst
kurz hier, hatte bisher weder die Nachbarn kennen gelernt, noch Freunde in der
neuen High School gefunden. Sie wollte auch nicht zu paranoid werden. Womöglich
nur ein nächtlicher Spaziergänger, wie sie selbst. Als sei es das Natürlichste der
Welt, bog sie in eine kleine düstere Seitengasse ab. Ein Test. Blitzschnell studierte
sie die Gasse. Leer. Gut.
Aus dem Stand sprang sie in die Höhe, umklammerte das untere Ende einer
eingezogenen Feuerleiter und brachte sich so aus dem Sichtfeld. Da kam er auch
schon. Ein junger Mann, schwarze Haare und Brille, tadelloser Anzug. Nach Buffys
Radar kein Vampir. Er ging ahnungslos unter ihr vorbei, machte allerdings den
Eindruck eines Mannes, der versuchte sich anzuschleichen. Wirklich nicht sehr
talentiert.
Buffy wollte nichts weniger als Ärger, aber der Sache musste sie auf den Grund
gehen. Es lief ganz routiniert ab: sie landete hinter dem Rücken des Mannes,
wirbelte ihn herum und beförderte ihn gegen die Mauer, bevor er wusste, wie ihm
geschah. Sein erstaunlich hoher Angstschrei erstarb in einem erbarmungswürdigen
Gurgeln, als Buffy seinen Hals packte.
„Können Sie nicht schlafen?“, fragte sie. Seine Augen quollen aus den Höhlen und
er wedelte wild mit den Händen in der Luft herum, als greife ihn ein Bienenschwarm
an. Irritiert ließ Buffy los, er schnappte nach Luft. „Ist ja gut“, sagte sie.
Der Mann streckte abwehrend den Arm aus. „Nein“, japste er. „Du bist gut
trainiert.“
Es war, als würde Buffy der Boden unter den Füßen weg gezogen, sie fiel in ein
tiefes dunkles Loch. Alle Hoffnung auf ein neues Leben zerplatzte in einem einzigen
Satz.
„Mein Name ist Wesley Wyndham-Price“, stellte sich der Mann vor, bemüht, sich
in Positur zu werfen, was nur leidlich gelang. „Dein neuer Wächter.“ Buffy hätte
heulen können, als er freundschaftlich ihre Hand ergriff und schüttelte …
Cleveland, 1998: Bestimmung
Manchmal fragte sich Buffy, ob sie ihren Wächter nicht einfach aus Versehen
umbringen könnte. Sie würde behaupten, er sei von einem Dämon besessen
gewesen, der seine Opfer zu Tode langweilte, oder er wäre beim Training unglücklich
in einen Pfeil gelaufen. Das dachte sie, aber ernst meinte sie es natürlich nicht.
Meistens jedenfalls.
„Hey Wes!“, rief die Jägerin, als sie die kleine Wohnung betrat, die ihr Wächter
großzügigerweise vom Rat bezahlt bekam, weil er es nicht fertig gebracht hatte, sich
einen Job zu suchen.
„Nenn mich nicht Wes“, antwortete er streng und erhob sich aus seinem Sessel.
Wesley Wyndham-Price, jeder Zoll die Karikatur eines viktorianischen Briten, von den
perfekt frisierten Haaren über den makellosen Anzug bis zur absolut geraden
Haltung. Damit täuschte er auch fast über die Tatsache hinweg, nur wenig älter als
seine Jägerin zu sein. „Ich bin dein Wächter und solange das so bleibt, muss ich auf
einem Mindestmaß an angemessenem Respekt bestehen.“
„Sicher.“
Buffy warf lässig einen Sack aus grobem Leinen auf den Tisch, fegte >zufällig< ein
Glas herunter und genoss für einen Moment Wesleys Gesichtsausdruck, als ein
Dämonenkopf aus dem Sack und über die halbe Tischplatte rollte.
„Ist das jetzt dieser Welko-dingsda?“
„Werkogarum Trin“, er nickte mit eiserner Fassung. „Ein prächtiges Exemplar.“
„Darf ich ihn ausstopfen und an die Wand hängen?“
„Buffy, bitte!“
Sie ließ sich schulterzuckend in einen der freien Sessel fallen und legte die Füße
auf den Tisch, Wesleys Protestblick geflissentlich ignorierend.
„Schade, er hätte gut neben den Lego-Sie-wissen-schon gepasst.“
„Letorium.“
„Sag ich doch.“
Wesley atmete tief durch und griff nach einem Buch, das auf dem kleinen Regal
neben dem Fernseher lag. Nicht, um daraus vorzulesen, sondern einfach nur, um in
seiner Nervosität etwas in den Händen zu halten. Die Jägerin sollte das Zittern seiner
Hände nicht bemerken – das Spiel kannte Buffy schon.
„Ich habe einen wichtigen Anruf erhalten“, verkündete er.
„Haben Sie jetzt einen Job?“
Er war irritiert, wie beabsichtigt. „Äh nein, also Buffy, es war Rupert Giles, ein sehr
angesehener Wächterkollege.“
„Rupert – haben ihn seine Eltern so sehr gehasst?“
Wesley überging ihren Einwurf, wie gewöhnlich. „Rupert Giles wäre beinahe zu
deinem Wächter geworden, aber das Schicksal meinte es anders und berief mich auf
diesen Posten.“
„Muss ich applaudieren?“
„Giles arbeitet zurzeit in einer Vampirhochburg in Kalifornien an einem
Beobachtungsprojekt, in einer Kleinstadt namens Sunnydale, nahe Los Angeles.“
„Kann man da surfen?“
„Er möchte, dass die Jägerin, also du, nach Sunnydale kommt, um sich mit einem
Vampirfürsten auseinanderzusetzen, der zu einer unüberwindlichen Bedrohung zu
werden droht.“
„Ich darf nach Kalifornien?“
„Ja.“
„Allein?“
Er seufzte. „Mr. Giles wird sich um dich kümmern.“
„Ich muss noch Sonnencreme kaufen.“
„Buffy, es geht um Vampire!“
Sie senkte den Kopf. „Also nicht. Wieso bekomme ich eigentlich keinen
Nachtzuschlag?“ Sie erhob sich, müde aber mit neuer Motivation. „Ich hatte ewig
keinen Urlaub.“
„Unterschätze bitte die Gefahr nicht!“
Sie winkte ab und ging Richtung Tür. „Ich packe. Inzwischen können Sie die Reise
organisieren. Rufen Sie mich dann an.“ Buffy war fast an der Tür, als Wesley ihren
Namen rief. Sie drehte sich um, er kam auf sie zu und blieb direkt vor ihr stehen.
„Buffy, ich weiß, dass wir nicht immer einer Meinung waren.“ Der Ernst seiner
Stimme klang nicht so übertrieben und komisch-gekünstelt wie sonst in ihren Ohren.
Er meinte jedes Wort genau so, wie er es sagte. „Wir haben gestritten und allzu oft
hast du meine Anweisungen einfach ignoriert. Nach der Sache mit deiner Mutter
hätte ich mehr für dich da sein müssen, aber … in manchen Dingen war ich nie
sonderlich gut. Pass einfach auf dich auf. Versprich es mir.“ Selbst für sie, die
Jägerin, geübt, jede Bewegung im Ansatz zu erkennen, kam die kurze Sekunden
dauernde Umarmung aus dem Nichts.
„Schon gut“, wiegelte sie ab und klopfte Wesley etwas hilflos auf den Rücken. Er
sprang sofort zurück und machte einen peinlich berührten Eindruck. „Es geht gut, wie
jedes Mal.“
Beim Laufen über den schmutzigen alten Parkplatz links von Wesleys Haus,
konnte sie nicht anders, als noch einmal zurück zu blicken. Sie hätte schwören
können, dass Wesley am Fenster stand, seine Brille abgenommen hatte, und eine
Träne aus dem Augenwinkel wischte.
Ja, Sunnydale. Buffy erinnerte sich dunkel an den Namen. Genau da hatte Joyce
damals hin ziehen wollen. Jedenfalls soweit Buffy es im Nachhinein erfuhr. Joyce,
Mutter … vor Vampiren hatte Buffy sie schützen können, vor Geistern und Dämonen,
sogar vor der Kugel aus der 45er eines arbeitslosen Heroinsüchtigen. Aber nicht vor
dem Gehirntumor in ihrem eigenen Kopf. Der Arzt hatte gesagt, in einer anderen
Umgebung, ohne den Stress der vergangenen Jahre, hätte die Krankheit anders
verlaufen können. Langsamer. Wären sie nach Sunnydale gezogen!
Die Jägerin winkte Wesley noch einmal zu, bevor sie in den Bus stieg. Seltsam.
Trotz allem war er doch das, was sie auf dieser Welt am ehesten als einen Freund
bezeichnet hätte. Ausgerechnet in diesen kleinen hinterhältigen Reibereien mit ihrem
Wächter war es ihr, der Jägerin, wenigstens ganz kurz und schwach möglich, der
Mensch Buffy Summers zu sein.
Sie sank in einen Sitz, der Bus fuhr an. Aus dem dunklen Fenster sah ihr ein
Gesicht entgegen, das gleichzeitig vertraut und fremd war. Viel älter als ihre
tatsächlichen 17 Jahre, erwachsen und streng. Ein Mund, der sich kaum noch an ein
Lächeln erinnerte, Augen, die wachsam waren aber ohne Gefühl. Körperlich war sie
durchtrainiert wie nie zuvor, kampfstark und reaktionsschnell. Ihre Seele war es, auf
der eine bleierne Müdigkeit lastete. Sie war es so unendlich leid, den ewigen Kampf,
den täglich neuen Widerstand gegen irgendwelche Feinde, auf die immer nur der
nächste und wieder der nächste folgte, weil es nie einen Sieg gab oder je geben
würde. Sie verlor irgendwann und wurde durch die nächste Jägerin ersetzt, so wie
sie einer Jägerin gefolgt war, von der sie nicht mal den Namen kannte. Es gab die
Tage, an denen sie an der Ausweglosigkeit und Einsamkeit ihres leeren Lebens
schier zu zerbrechen drohte.
Buffy ging längst nicht mehr zur Schule, wozu sollte sie etwas lernen, wenn sie
morgen tot sein konnte? Ihre Mutter hatte längst aufgehört, ihr ins Gewissen zu
reden oder sie in irgendeiner Form erziehen zu wollen. Nur wenn Buffy nach hause
kam, um Kleidung oder Waffen zu besorgen, dann sah sie diesen Ausdruck in den
Augen ihrer Mutter, den sie nicht ertragen konnte. Trotz aller Probleme wäre Buffy
nie auf den Gedanken gekommen, ihre Mutter in ihrem Kampf gegen den Krebs
allein zu lassen, egal, welche bösen Mächte ihre Abwesenheit auch ausnutzten. Sie
war bei ihrer Mutter, schweigend, so lange es nur möglich war und als der Arzt die
Diagnose verkündete, da war es, als sei der Teil in ihr, der menschlich geblieben
war, dem Wahnsinn nahe. Das war erst einen Monat her, in dem sie zwar wieder ihre
Pflicht tat, aber sich gleichzeitig wie taub vorkam, gelähmt und aus der Welt heraus
gerissen. Wenn ihrer Mutter etwas zustieß, während sie in Kalifornien war – das
würde Wesley vielleicht wirklich nicht überleben.
Sie durfte ihren heiligen Kampf nie aufgeben, weil von ihr die Sicherung der
ganzen Menschheit abhing, dabei hatte Buffy sich doch längst selbst aufgegeben. Es
gab keinen Widerspruch gegen das >Auserwähltsein<, kein Weglaufen und keine
Entschuldigung. Nach außen war ihr Panzer abweisend und kalt geworden. Innerlich
konnte sie sich ohne Furcht auf jede Form von Gegner stürzen.
Buffy kannte nur noch eine Angst, die sie beständig bedrängte. Die Angst, in ihr
eigenes Herz blicken zu müssen, wenn es um sie einmal ruhig wurde, und nichts zu
sehen.
Das winzige Urnengrab war frisch, umgegrabene braune Erde, noch kein Gras,
nicht einmal ein Stein, nur ein paar Sträuße bald verwelkender Blumen.
„Seltsam“, dachte Nancy. „Seltsam das eigene Grab zu betrachten. Wer kann das
schon? Kein Mensch.“ Laut sagte sie: „Das war es also für dieses Mal?“ Hinter ihr
manifestierte sich ein Flimmern in der Luft, erhitzte Schlieren, die sich zu einer
dunklen Wolke zusammenballten. Als würde schwarzer zerriebener Marmor im Wind
rotieren. Nancy konnte die Wolke hinter ihrem Rücken durchaus wahrnehmen, sie
besaß mehr als eine Möglichkeit zu >sehen<.
„Wir haben getan, was wir konnten“, sagte eine helle Männerstimme aus der
Wolke heraus, die gleichzeitig näher schwebte und schließlich neben der jungen
Frau zum Stillstand kam. Ein Beobachter hätte nur Nancy gesehen, nicht ihren
Besucher. Vielleicht hätte sich ein solcher Betrachter gewundert, wieso sie trotz der
Sonne am Himmel keinen Schatten warf. Vielleicht wäre es ihm auch nicht
aufgefallen. Nur, dass niemand auf dem Friedhof war, außer einem Eichhörnchen,
einigen Mäusen und einer Gruppe Vögel in den uralten Bäumen. Und dann war da
natürlich noch ein junger Vampir in seinem Grab, der heute Abend erwachen würde.
„Die Jägerin ist auf dem Weg hierher“, erklärte die Stimme.
„Um zu sterben“, fügte Nancy hinzu, es klang ein bisschen traurig.
„So ist es prophezeit, seit langer Zeit. Die Jägerin kämpft gegen den Meister und
wird von ihm getötet. Das ist wichtig für alles weitere Geschehen. Das hätte
allerdings schon vor Monaten passieren müssen. Es ist nicht immer einfach, das
Chaos zu reparieren, dass D’Hoffryns Kinder hinterlassen.“
„Und die Anderen?“, fragte Nancy.
„In den Prophezeiungen steht nichts von deinen Freunden, falls dich das beruhigt.
Ihre Zukunft ist offen – und allein ihre Sache.“ Nancy fühlte sich angeblickt, obwohl
die Wolke keine sichtbaren Wahrnehmungsorgane hatte. „Du hast sie richtig lieb
gewonnen, diese Menschen. Oder?“ Sie hörte die Ironie in den Worten.
„Was ist nun mit Anyanka?“, fragte sie.
„Tja, Anyanka … Du kannst dir sicher vorstellen, wie sauer der Chef ist, dass du
dich hast erschießen lassen, um einen Sterblichen zu retten. Du hättest dich nie in
diesen Unsinn hineinziehen lassen dürfen. Was kümmern uns die Probleme dieser
Welt?“
Nancy wusste nur zu genau, wie berechtigt die Vorwürfe waren. Sie hatte durch
ihr Verhalten ihren Auftrag praktisch unmöglich gemacht. Ohne menschlichen Körper
konnte sie nicht mehr aktiv eingreifen. Sie schloss ihre Augen und drehte das
Gesicht zur Sonne, genoss die Wärme, die auf ihrer Haut tanzte und in der Nase
kribbelte. Sie lächelte.
„Es ist Zeit zu gehen“, fuhr die Wolke fort, als Nancy nicht antwortete. „Du hättest
diesen Körper längst aufgeben müssen.“
„Sollten nicht wenigstens Unsterbliche Zeit haben?“
„Nichts ist wirklich unsterblich, dass solltest du doch wissen.“
Eigentlich hätte Nancy sofort nach ihrem physischen Tod zurückkehren müssen,
doch etwas hatte sie bis jetzt davon abgehalten los zu lassen, diesen Körper
aufzulösen. Sie wusste nicht, wann es ihr das nächste Mal möglich sein würde, ein
Menschenleben zu führen.
„Du hattest immer einen Hang zum Diesseitigen“, unterstellte die Stimme. In die
Wolke kam Bewegung, ein Gesicht bildete sich aus den Bruchstücken des Marmors.
Im ständigen Fluss mit wechselnden Zügen, selbst mit wechselnder Hautfarbe.
„Jetzt müssen wir noch jemanden finden, der den Meister beseitigt und uns Glory
vom Hals schafft“, sinnierte Nancy.
„Also für den Meister habe ich schon was in Planung.“
Nancy sah die Wolke überrascht an, ihr blickten schießschartenartige Augen mit
grünen Pupillen entgegen, die von rot zu gelb übergingen. „Wen?“
„Komm mit und sieh´s dir an.“
Erwischt. Wie konnte Nancy jetzt noch nein sagen?
„Gut.“ Nancy wandte sich um und noch in der Bewegung begannen die Ränder
ihrer Erscheinung sich zu verwischen, flossen ineinander. Ihre Haare zogen einen
goldenen Streifen hinter sich her, der über das Haar das Gesicht und schließlich den
ganzen Körper in ein goldenes Funkeln hüllte. Nancy schien sich aufzublähen, jede
konkrete Form verschwand in der ständigen Bewegung einer Wolke aus rotierendem
Goldstaub.
„Geh voran“, sage sie.
12
Miss Summers geht nach Sunnydale
„Der Meister wird wiederkehren
und die Jägerin wird sterben.“
RUPERT GILES
(Übersetzung aus dem Pergamon-Kodex)
Auf den ersten Blick unterschied den Flughafen von Sunnydale nichts von
anderen Flughäfen wie Buffy sie aus LA oder Cleveland kannte. Der normale
Fluggast, der mit einem mäßig besetzten Inlandsflug hier landete, sah die gewohnten
Terminals, Flugzeuge, Pisten, lächelndes Personal. Er wäre kaum je auf die Idee
gekommen, dass hier etwas anders sein könnte, als in anderen Städten. Doch
normal war diese Stadt sicher nicht.
Buffy steuerte einen der Plastiksitze in der großzügig dimensionierten Wartehalle
an und ließ sich lässig hineinfallen. Sie hatte die freie Auswahl, denn von Betrieb
oder Andrang konnte man nicht gerade sprechen, um genau zu sein war die Jägerin
einer der wenigen Passagiere, die hier ausstiegen und auch an den Abreiseschaltern
drängten sich nicht eben die Massen. Es war ruhig hier. Ungewöhnlich ruhig.
Die Jägerin erkundete mit einem langsamen Touristen-Rundblick die Halle. Selbst
auf einem Provinzflughafen sollte mehr los sein. Nach ein paar Minuten ereignislosen
Wartens stand sie langsam und unverdächtig auf und schlenderte gemächlich in
Richtung des einzigen geöffneten Zeitungsshops. Auch nicht normal für einen
Flugplatz. Sie nahm prüfend eine Regionalzeitung, die >Sunnydale Press<, aus
einem Zeitungsständer und quittierte den misstrauischen Blick des Verkäufers mit
einem schiefen Grinsen. Sie bezahlte und ließ sich wieder in einem der
Plastikschalensitze nieder. Viel war tatsächlich nicht los in Sunnydale. Kein Wunder,
wenn die halbe Zeitung aus Todesanzeigen bestand …
Der kleingewachsene Taxifahrer, der in einem der wenigen Autos am Taxistand
auf Kundschaft wartete, musterte Buffy mit einer Mischung aus Skepsis und Mitleid,
als sie ihm erklärte, sie wolle ins Stadtzentrum von Sunnydale.
„Waren Sie schon mal dort?“, fragte er in einem drolligen osteuropäischen Akzent
und strich nervös über seinen eisgrauen Bart.
„Ich besuche jemanden“, antwortete die Jägerin gelangweilt. Zu Unterhaltungen
war sie nicht hier. Sie wäre ohnehin lieber gelaufen, aber selbst sie würde einige
Stunden bis in die Stadt brauchen. Zu lange, um vor Sonnenuntergang dort zu sein.
„Ein Freund?“
„Den Freund eines Freundes.“
„Wenn er hier lebt, dann ist er sehr mutig oder sehr dumm.“
Buffy beendete die ergebnislose Beobachtung der vorbeirasenden Landschaft und
drehte den Kopf zu ihrem Fahrer. „Und Sie?“
Er verzog grimmig das Gesicht und starrte betont auf die Fahrbahn vor sich. „Ich
gehöre zu den Dummen. Mir wird nämlich niemand jemals meine Stadt wegnehmen!“
Er hatte es geschafft, Buffys Neugier zu wecken. Worüber er sprach, daran hatte sie
keinen Zweifel, dass er es so offen tat irritierte sie. Sie war es gewohnt, dass die
Menschen alles, was mit Vampiren und dem Übernatürlichen zusammenhing,
entweder verdrängten oder hinter vorgehaltener Hand erwähnten. Sie taxierte ihn
misstrauisch. Nur ein kleiner Mann mit einer abgetragenen Jacke und einer
schrecklich altmodischen Schirmmütze.
„Sie sind ziemlich offen zu Fremden.“
„Man lernt zu erkennen, ob die Leute was wissen oder ob man’s ihnen sagen
muss.“
„Wegen der Vampire?“
Er zeigte nicht die kleinste Spur von Überraschung, er nickte nur und Buffy meinte,
sie könne die tiefe müde Traurigkeit mitempfinden, die mit einmal über seinem
Gesicht lag. „Sie haben da eine hübsche Armbrust.“ Es hatte Buffy einige Mühe
gekostet, ihre Waffen am Flughafen von Cleveland als Sportgeräte deklarieren zu
lassen. Der Taxifahrer hatte bisher kein Wort über ihr Gepäck verloren. „Ich weiß
nicht, was Sie vorhaben, in der Stadt, und auf einen alten Mann wie mich hört
sowieso keiner mehr, aber wenn Sie ein wenig Verstand haben, dann bleiben Sie bei
Nacht im Haus und beten. Oder Sie nehmen Ihren Freund und machen sich davon.“
Buffy folgte seinem Blick auf die fast leere Straße, auf der nur alle halbe Meile ein
anderer Wagen ihren Weg kreuzte. Sie gönnte sich einen kurzen Moment im warmen
goldenen Sonnenlicht. Es gab so selten Gelegenheiten für sie, die Last ihrer
Bestimmung zu vergessen.
„Wir werden sehen.“
Sicherlich hätte sie sofort diesen ominösen Giles aufsuchen sollen, der hier
anscheinend den Niedergang protokollierte, aber Ratsvorschriften interessierten
Buffy seit Jahren kein bisschen. Sie war hier die Jägerin, die einzige, die der Rat
hatte, da konnte sich der Rat ruhig mal nach ihr richten. Solange die warme
kalifornische Sonne am Himmel stand, sprach nichts dagegen etwas mit dem Geld
um sich zu werfen, das Wesley ihr gegeben hatte. Natürlich nicht rein zum Spaß, es
konnte durchaus überlebenswichtig sein, den Ort zumindest oberflächlich zu
erkunden. Mit ihrem blauen Top und den Militärhosen kam sie sich rasch wie eine
Außerirdische vor. Gelandet in der Galaxie der in schwarz und grau vermummten
Stummen, die selbst im Tageslicht wie Schatten eilig umherhuschten. Trotz ihrer
verbliebenen Menschen war diese Stadt still, niemand bewegte sich schnell,
Gespräche wurden nur gedämpft geführt. Diese verschüchterten Geschöpfe
schlichen durch eine Stadt, deren Verfall an allen Ecken unübersehbar wurde.
Heruntergekommene Häuser mit vergitterten Fenstern und Türen erhoben sich in
verwilderten Gärten, nur wenig Geschäfte hatten noch geöffnet, selbst im
Schaufenster des 24-Stunden-Supermarktes hing ein handgeschriebenes Schild aus,
dass nach Sonnenuntergang keine Geschäftszeit mehr sei.
Ruinen mit eingeschlagenen Fenstern, manche sogar ausgebrannt, duckten sich
in die Nischen des einst offenbar so stolzen neokolonialen Sunnydale. Auf den
leeren Straßen türmte sich Müll neben Autowracks und verbreitete einen
übelriechenden Gestank. Nur die bloße Anwesenheit an diesem verkommenen Ort
wirkte niederdrückend, als laste eine tonnenschwere Last auf der stillen Stadt, ein
allgegenwärtiges furchtbares Leichentuch, das das Atmen erschwerte und jede
Freude erstickte. Mit den geschärften Sinnen einer Jägerin setzte sich Buffy dieses
traurige Mosaik des Jammers zusammen und kam sehr rasch zur Einsicht, dass sie
hier richtig war. Wenn man irgendwo eine Jägerin brauchte, dann in Sunnydale.
Sie würde kein Problem haben, hier einen Gegner zu finden. Buffy wartete einfach
in einem kleinen Kaffee bis man sie hinauswarf, weil die Sonne zu sinken begann.
Dann wanderte sie los und ließ die Vampire sie finden …
Buffys Eindruck von Sunnydale verlief in drei Phasen: nach einer halben Stunde
dachte sie „was für ein Kaff“; nach einer Stunde „was für ein verdammtes Kaff“; nach
Einbruch der Dämmerung „was für ein verdammtes Vampirkaff.“
Es war wirklich nicht weiter schwer, in einer Stadt, auf deren leeren Straßen
Totenstille herrschte, einen Ort ausfindig zu machen, an dem gekämpft wurde. Schon
von weitem erkannte sie einen Transporter, der mit offenen Heckklappen am
Straßenrand parkte. >Sunnydale Recycling< stand an den Seiten. Wie sinnig. Etwa
ein Dutzend Menschen flohen in wilder Panik und ließen dabei einen Brillenträger
mittleren Alters achtlos zurück, der sich zu ihrer Rettung auf eine Gruppe Vampire
gestürzt hatte. Mit mehr Mut als Verstand, wie Buffy schulterzuckend einschätzte.
Jetzt wirkte der Mann so, als könne er selbst gut ein wenig Hilfe gebrauchen. Das
wäre nicht Buffys Problem gewesen, aber das Tweedjackett und der unübersehbare
seltsame ausländische Wagen, ein Citroen, sagten ihr, dass der Mann mit dem
Holzkreuz, der gerade zu Boden befördert wurde, jemand war, mit dem sie sich
unterhalten wollte. Außerdem – wer außer einem Wächter konnte so blöd sein, allein
so eine Aktion zu starten?
Die drei Vampire sahen sie nicht kommen, sie waren viel zu verwöhnt. Mit einem
richtigen Gegner hatten die es seit ewiger Zeit nicht mehr zu tun bekommen.
Sekundenarbeit.
„Buffy Summers?“, fragte der Mann und rappelte sich auf.
„So heiße ich“, bestätigte die Jägerin und studierte das müde Gesicht, dessen
Dreitagebart im Licht der Straßenlaterne scharfe Schatten warf. „Vielleicht sagen sie
mir, was ich hier soll?“
Er brachte sie in seine Wohnung, ein unordentliches Chaos aus Bücherstapeln
und Gerätschaften. Sie zeigte es ihm nicht, aber Buffy fühlte sich auf den ersten Blick
ein wenig Zuhause. Diese Wohnung verriet, dass der Wächter viel Zeit mit seiner
Arbeit verbrachte und wenig für Dinge wie Ordnung aufbringen konnte. In ihrer
eigenen Wohnung sah es kaum besser aus. Nur, dass sie keine Bücher besaß. Giles
erzählte ihr eine sehr merkwürdige Geschichte, von einem Mädchen namens
Cordelia, das er vor Vampiren gerettet habe und das eine wirre Erzählung von sich
gab, bevor es von zwei Vampiren ermordet wurde. Laut dieser Cordelia sei diese
ganze Welt ein Fehler, Ergebnis eines danebengegangenen Wunsches an eine böse
Fee namens Anyanka. Buffy war das alles viel zu hoch, typisches überkompliziertes
Wächtergequassel.
„Vielleicht sollte ich ihr `nen Pflock ins Herz jagen?“, schlug sie genervt vor,
nachdem Giles ihr stolz erklärte, man könne Anyanka besiegen, indem man ihr
>Machtzentrum< zerstörte. Das Genie hatte natürlich keinen Schimmer, was dieses
Machtzentrum sein sollte.
„Nun, sie ist kein Vampir“, entgegnete er.
„Sie würden nicht glauben, wen man alles damit killen kann.“ Lansam aber sicher
ging ihr dieser Unsinn mächtig auf die Nerven. Giles war ein netter Mensch. Buffy
fand ihn irgendwie durchaus sympathisch. Vielleicht würde Wesley mal so sein, wenn
er lang genug am Leben blieb. Er machte sich wirklich Sorgen, um die Menschen in
dieser Stadt. Bedauerlich, dass ihm inzwischen sein Verstand solche Streiche
spielte. Anyanka hin oder her – Wünsche würden diese Welt nicht retten. Das
konnten höchstens ein paar spitze Pflöcke.
Laut dieser Cordelia sei es Giles bestimmt gewesen, ihr – Buffys – Wächter zu
sein. Eine seltsame Vorstellung, auf die sie unter den gegebenen Umständen nicht
viel Zeit verschwendete. Der Wächter berichtete weiter, der >Meister< müsse
Cordelia als Bedrohung empfunden haben, habe er doch seine >bösartigsten
Jünger< geschickt, um sie zu töten. Das klang doch schon viel mehr nach einer
Sache, die in Buffys Bereich fiel. Der Meister residierte in einem alten Nachtclub, ja?
„Bringen Sie mich hin. Wenn ich schon mal hier bin, kann ich mich auch nützlich
machen.“
„Sie können nicht einfach da rein gehen“, protestierte er in einem väterlichen Ton.
Damit kam er bei Buffy sicher nicht an.
„Hören Sie: bleiben Sie hier und träumen Sie weiter, von mir aus.“ Sie hängte sich
demonstrativ ihre Armbrust um, die sie wie ein Gewehr auf dem Rücken trug. „Ich bin
ihnen dabei sowieso keine Hilfe. Ich kann nicht viel, aber das gut.“
Er wollte eine Truppe zusammenstellen, erwiderte Giles und ließ damit immerhin
erkennen, dass er ihre Entscheidung hinnahm.
„Nein, Teamwork ist nicht meine Stärke.“ Jetzt hatte Buffy wirklich genug von dem
Zeug über andere Welten und Wünsche. Sollte Giles in seinem Märchen leben, sie
würde in der Realität bleiben. „Ich frage Sie noch ein letztes Mal und dann werde ich
richtig sauer … Wo ist dieser Club?“
Giles hatte Recht – mit einem Team, einem Plan und schweren Waffen wäre der
Angriff viel erfolgversprechender gewesen. Buffy war bei weitem klug genug, das
einschätzen zu können. Es kümmerte sie nur nicht mehr sonderlich. Sie war die
Jägerin, sie konnte diesem Schicksal nie entkommen. Ihr blieb nur der Kampf, bis sie
irgendwann mit dem Leben bezahlte. Jeden Tag mit dem Bewusstsein der eigenen
Sterblichkeit aufzuwachen, musste einen wahnsinnig machen oder versteinern
lassen. Sie konnte sich keine Sorgen um ihr eigenes Leben leisten, daher verdrängte
sie sie. Buffy würde auch diesmal kämpfen, mit all ihrer Kraft. Das könnte sie nicht,
wenn sie nicht von einem Sieg ausging.
Von diesem unheimlichen >Bronze<, dem Sitz des hiesigen Vampirdespoten,
hätte Buffy sich mehr versprochen. Vor allem mehr Vampire. Die Türen standen
offen, die Lichter waren eingeschaltet – aber kein Wesen in Sicht, weder tot noch
untot. Wenn dieser Trip so sinnlos blieb, wie er bisher gewesen war, würde sie sich
bei Giles kräftig beschwerden. In Cleveland hatte sie weiß Gott genug zu tun.
Sunnydale war ja nicht der einzige Platz auf der Welt mit einem Höllenschlund!
Sie stieß auf einen abgetrennten Nebenraum, in dem sich hinter teuren
Vorhängen ein hölzerner Thron mit aufwendigen Verzierungen verbarg. Fehlte nur
der Besitzer. Frustriert fegte sie die Vorhänge zur Seite und drehte eine Runde durch
den Saal – hochgestellte Barhocker, Tische und Stühle, ein Billardtisch mit Seilen. Es
hätte ohne den Käfig fast normal gewirkt, in dem ein Junge mit ausgestreckten
Armen lag. Für den kam jede Hilfe zu spät. Irgendwo hier musste es etwas – oder
jemanden – geben. Nach einiger Zeit entdeckte Buffy eine Tür, hinter der eine graue
Betontreppe in den Keller führte. Warum nicht? Zwar hatten die Vampire von
Sunnydale keinen Grund, sich zu verstecken, aber Vampire blieben Vampire –
lichtscheu.
Eine schummrige Umgebung umfing sie mit jedem Schritt weiter. Sie wusste
sofort, dass sie nicht allein war, trotzdem fühlte sich die Jägerin nicht bedroht. Etwas
völlig Verqueres ging hier vor. Gleich rechts neben der Treppe stand ein Holztisch
mit allerlei Werkzeugen und Folterinstrumenten, darunter auch eine braune
Apothekerflasche. Direkt dahinter befand sich eine vergitterte Zelle, in der ein junger
dunkelhaariger Mann am Boden hockte. Er trug ein Hemd, die Ketten, mit denen er
an die Wand gefesselt war, klapperten, als er sich bewegte. Buffy ging auf die Zelle
zu. Sie spürte nur geringe Überraschung. Inzwischen war die Jägerin sicher, dass sie
viel zu viel gesehen und erlebt hatte, um überhaupt noch überrascht zu werden. Was
sollte das sein? Ein lebender Nahrungsvorrat oder das Haustier eines exzentrischen
Vampirs?
Er bemerkte sie und in seinem Gesicht zuckte etwas auf, das Buffy für
Erleichterung hielt, oder sogar für Erkennen. Aber das war Unsinn. Es war auch nicht
ihr Problem. Sie war hier, um diesen Meister zu vernichten, die Angelegenheiten
anderer Leute konnte sie dabei nicht noch zusätzlich schultern. War sie erfolgreich,
so würde sich die Lage des Gefangenen von selbst bessern. Momentan, da gab es
keinen Zweifel, hatte sie wichtigere Dinge zu tun, als sich um einzelne Vampiropfer
zu sorgen. Wortlos drehte sie sich wieder zur Treppe um. Schade eigentlich, ein
niedlicher Typ.
„Buffy. Buffy Summers.“
Sie erstarrte. Das konnte ja wohl nicht … Buffy zögerte kurz und überwand ihre
Verwunderung. Demonstrativ stützte sie ihre Hände in die Hüften. War der Mann nun
ein Freund des verwirrten Giles oder der irren Cordelia?
„Du bist es!“, stieß der Mann in der Zelle unter Kettenklirren vor. Das Sprechen
schien ihm nicht leicht zu fallen. „Ich weiß, du kennst mich nicht. Woher auch?“
Sollte das jetzt irgendwie Sinn ergeben?
„Woher kennen Sie meinen Namen?“, fragte sie kühl.
„Ich warte …“, erwiderte der Mann, ohne ihre Frage zu beantworten. „Ich warte
schon lange auf dich. Aber du bist nie … Ich wurde beauftragt, dir zu helfen.“
Eine kühne Behauptung, noch dazu von einem angeketteten Mann in einer Zelle.
Wer brauchte hier Hilfe?
„Sie wollen mir helfen?“ Die Skepsis war deutlich.
In die Augen des Mannes trat ein undefinierbarer Ausdruck, sein Blick irrlichterte
durch sein Gefängnis, in der Stimme schwang ein Unterton mit, der Wut sein konnte
oder auch etwas ganz anderes: „Der Meister ist wieder da. Er ließ mich am Leben,
um mich zu bestrafen. Ich hab` die Hoffnung nie aufgegeben, dass du kommst.“ Er
durchbohrte sie regelrecht mit seinen ausdrucksstarken Augen, denen Buffy eine
gewisse Faszination nicht absprechen konnte. „Mein Schicksal.“
Buffy lachte gequält auf und verleierte die Augen. „Wollen Sie mich anbaggern
oder so? Ihr redet hier alle so, als wäre ich die Retterin der Welt.“
„Es tut mir leid, ich habe nur gedacht …“
Buffy gestikulierte abwehrend mit den Händen. „Hören Sie, ich habe für so was
keine Zeit!“ In dieser Stadt hatten sie wohl alle eine Meise. „Wo ist der Meister?“
Der Mann sah sie noch immer an, irgendwie traurig.
„Er ist in seiner Fabrik, sie wird heute eingeweiht.“
Das klang doch wenigstens halbwegs vernünftig.
„Fabrik?“, hakte Buffy nach.
„Ich …“ Er bewegte sich kettenklirrend und fuhr mit Schmerz in der Stimme fort.
„… kann dir zeigen, wo sie ist.“
Buffy studierte ihn lange und misstrauisch. Diese Sache ergab für sie mit jeder
Sekunde weniger Sinn. Dummerweise hatte sie keine Alternativangebote.
Entschlossen trat sie die Zellentür ein und wollte dem Mann helfen, sich von seinen
Ketten zu befreien. Zuerst verstand sie nicht, warum er zurückschreckte, als sie sich
zu ihm herunterbeugte, doch sie brauchte nur Sekundenbruchteile, um eine
Verbindung mit dem Kreuz um ihren Hals herzustellen.
„Uh“, machte sie fassungslos. „Das ist doch wohl ein schlechter Witz!“ Wütend
über sich selbst und diesen Betrüger, den sie beinahe befreit hatte, raste sie zur
Zellentür hinaus.
„Warte! Ich werde dir nichts tun!“ Es gab absolut keinen Grund, warum sie auch
nur eine weitere Minute ihrer kostbaren Zeit auf diesen Vampir verschwenden sollte.
Trotzdem blieb Buffy stehen, obwohl sie nicht wusste warum. Irgendetwas sagte ihr,
das dies hier wichtig war und noch nicht erledigt.
„Nein, das überlässt du deinem Meister.“
„Du glaubst nicht, dass ich dir helfen will?“ Es musste ihn viel Kraft kosten, sich
auf die Beine zu kämpfen. Der Fremde öffnete sein Hemd und enthüllte eine von
Wunden und blauen Flecken übersäte Brust. „Mir wär’s nur Recht, wenn er stirbt.“
Buffy Summers hatte alle Grausamkeiten gesehen, die sie sich vorstellen konnte
und noch vieles mehr. Sein Zustand zeugte von langer brutaler Folter durch eine
Person, die sehr viel Vergnügen daran fand, das Leiden anderer zu beobachten. In
ihrem ausdruckslosen Gesicht zuckte kein Muskel.
Sie war nicht mehr das Mädchen, das ihm Whistler damals in LA gezeigt hatte. Sie
war jung gewesen, arrogant und unbeschwert. Und sehr sehr schön. Diese Buffy war
hart und kalt, versteckte ihre Schönheit unter einem abweisenden Panzer. Eine
schlichte Kleidung aus Hose und ärmellosem Top, eine schmucklose kampfgünstige
Zopffrisur, die sie streng und älter wirken ließ. Die schwarz umrahmten Augen
erzeugten einen Eindruck von unendlicher Müdigkeit, eine zweiteilige Narbe über
Ober- und Unterlippe kündete von vergangenem Schmerz. So gern hätte Angel sie in
den Arm genommen. Er wünschte, er könnte die Schichten der Zeit von ihrer Seele
abtragen, um das Mädchen freizulegen, in das er sich auf den ersten Blick verliebt
hatte. Sie folgte ihm nicht ohne Skepsis. Es war an der Zeit für eine Entscheidung
und dafür, dass er seine Aufgabe endlich übernahm, für die ihn die Mächte hinter
Whistler in diese Stadt gesandt hatten. Er würde Buffy helfen und sie beschützen.
Was immer es ihn kosten mochte.
Die Fabrik erwies sich als ein roter Backsteinbau im aufgegebenen
Gewerbegebiet der Stadt. Zwei sehr seltsame Vampire in einer Art Uniform hielten
am Haupteingang Wache. So etwas hatte Buffy noch nie gesehen: Vampire mit
Energiegewehren. Hier in Sunnydale war alles möglich.
„Suchen wir den Hintereingang?“, fragte ihr seltsamer Verbündeter, dem sie nicht
über den Weg traute. Er hasste den Meister mit jeder Faser seiner Existenz, sicher.
Doch er war trotzdem ein Vampir. Er würde ihr also bei der erstbesten Möglichkeit in
den Rücken fallen.
„Nein“, entschied sie. „Umwege sind nicht mein Fall. Wir sind hier, um zu kämpfen.
Also tun wir`s.“ Sie verstanden sich ohne Worte. Der Vampir mit dem klangvollen
Namen Angel trat aus ihrer Deckung und ging ruhig und ganz selbstverständlich auf
die beiden Wachen zu. Das war nicht ungefährlich, aber die Möglichkeit, dass sie ihn
kannten, war extrem gering.
„Wer bist du?“, fragte der eine Wächter misstrauisch und stellte sich in Angels
Weg.
„Bin spät dran“, erwiderte Angel unschuldig und schlug zu. Den Bolzen, der sich
direkt ins Herz des zweiten Wächters bohrte, hörte nicht mal er kommen, obwohl er
wusste, dass Buffy schoss.
Die Stimme des Meisters erfüllte jede Ecke der Halle. Er stand in der Mitte eines
Podiums an einer der Seitenwände, rechts zwei verdiente Jünger, links Xander und
Willow. Sie hatten sich alle hier versammelt, alle bedeutenden Vampire alter wie
neuer Generation, um sich von ihm in ein neues Zeitalter führen zu lassen.
„Kommt her, meine Kinder!“, begann er. „Bestaunt dieses Wunderwerk der
Technik, das unsere Gesellschaft grundlegend verändern wird.“ Zur rechten Hand
des Meisters hatten Walshs Techniker ihre Entwicklung errichtet, im Wesentlichen
eine viereckige kastenförmige Konstruktion, von der eine Reihe Metalltische abging.
Hinter der Maschine drängten sich einige Dutzend gefangene Menschen in einem
großen Käfig, vor dem Vampirwachen für den ordentlichen Ablauf der Feierlichkeiten
bereit standen. Alles seine eigenen Leute, keine Uniform in Sicht.
„So mancher behauptet, dieser Fortschritt widerspreche unserer Natur, oder
argumentiert, töten sei eine hohe Kunst. Darauf erwidere ich … nun ich erwidere gar
nichts, denn ich bringe diese Zweifler einfach um.“
Walsh hörte die Tür hinter sich zersplittern und fuhr fassungslos herum. Sie
erkannte das ausdruckslose Gesicht eines unbekannten blonden Mädchens und riss
abwehrend die Arme hoch. Da traf sie schon der Bolzen aus Buffys Armbrust in den
Oberkörper. Die ehemalige Professorin Maggie Walsh zerfiel zu Staub, bevor sie den
Boden berührte.
„Ohne Frage sind wir die Herrscher über diese Welt.“, hörte Oz und fluchte stumm.
Er konnte beim besten Willen nichts finden, das sich als Waffe verwenden ließ. Die
Vampire hatten ihm und Larry alles abgenommen, als sie sie auf dem Heimweg
angehalten und mit vielen anderen Leuten in einen Transporter gesperrt hatten. So
konnte es doch nicht enden!
„Doch wir waren lange Zeit ein wenig altmodisch. Wir fühlten uns den niederen
Instinkten des Raubtieres verpflichtet: jagen und töten, jagen und töten. Ist das
anregend? Ja! Praktisch? Wohl kaum!“
Einige Nachzügler drängten sich durchs Publikum. Menschen wie Vampire
lauschten gebannt den Worten des Vampirführers, wenn auch aus anderen Gründen.
„Doch ausgerechnet die Menschen mit ihrem primitiven Verstand haben uns eine
wahrhaft dämonische Möglichkeit eröffnet: die Massenproduktion!“ In einer
umfassenden Geste breitete der Meister die Arme aus und badete im vielstimmigen
„Ja“ der Menge. Zur Faust geballte Hände reckten sich ihm entgegen.
„Wir leben wirklich in einem goldenen Zeitalter“, seufzte Xander gerührt. Willow
bedachte ihn mit einem vielsagenden Blick. Sie hielt nicht viel von der Fabrikidee,
würde dem Meister aber nie widersprechen. Was war denn bitte so schlimm an jagen
und töten?
„Bringt das erste Opfer her!“, befahl der Meister. Einige Vampirwachen öffneten
sofort den Käfig, trieben die Menschen zurück und nahmen zielgenau eine kleine
Asiatin in grauem Oberteil und Rock ins Visier. Oz versuchte, dem schreienden
Mädchen zu helfen, doch man gab ihm keine Chance. Kräftige Hände hielten ihn
zurück. Schon war das Mädchen draußen, die Tür wieder geschlossen. Ihre Schreie
erstarben, als ein Vampir das Mädchen mit einem Elektroschocker gefügig machte.
Zur Gegenwehr unfähig, wurde sie auf die menschengroße Metallschale gelegt, die
sie in die Maschine beförderte, die Metalltische als eine Art Laufband verwendend.
„Es ist sehr wichtig, dass sie noch leben, wegen der Frische“, erklärte der Meister
gut gelaunt und Oz hätte sich am Liebsten übergeben.
Von ihrem Versteck gegenüber des Podiums hinter einem Maschinenblock am
anderen Ende der Halle konnte Angel genau beobachten, wie die Maschine acht
Kanülen in den Leib der unglücklichen jungen Frau rammte und sie in Rekordzeit bei
vollem Bewusstsein ausblutete. Willow hatte ihrem Gefangenen von der Fabrik
erzählt, aber selbst nicht viel darüber gewusst. Es erschreckte Angel.
Leidenschaftliches brutales Töten kannte er allzu gut in allen Varianten aus eigenem
Erleben. Diese mechanische kalte Vernichtung war etwas völlig anderes. An der
Wand neben der Maschine hing ein Schild: >Think our aim … no accidents<.
„Wie sieht dein Plan aus?“, fragte er zu allem entschlossen. Ohne die Augen vom
Meister abzuwenden hielt ihm Buffy einen Pflock hin.
„Sei vorsichtig“, sagte sie emotionslos.
Angel folgte ihr durch das Vampirpublikum, keiner von denen merkte, dass Buffy
ein Mensch war, sie alle beschäftigte nur ein Weinglas mit frisch gezapftem Blut, das
durch die Reihen gereicht wurde, bis es der Meister erhielt. Er hob es triumphierend
in die Höhe.
„Willkommen in der Zukunft!“
„Die Zukunft, die Zukunft“, skandierte die Menge. Buffy hob blitzschnell die
Armbrust, zielte und feuerte. Sie erkannte augenblicklich, dass sie den größten aller
Fehler gemacht hatte – den Gegner zu unterschätzen. Enttäuschend lässig griff der
Meister neben sich und zog den jungen Mann zu seiner Linken in die Schusslinie,
ohne nur einen Tropfen Blut zu verschütten. Der Bolzen bohrte sich in die rechte
Schulter des Jüngers. Gleichzeitig schlug jemand Buffy die Armbrust aus der Hand.
Die meisten Vampire stoben in Panik davon, nur wenige stürzten sich auf die
Jägerin. Sie war jetzt voll in ihrem Element, eine Kampfmaschine, gegen die der
Vampirwächter, der auf sie zustürmte, nichts aufbieten konnte.
Willow sah Xander erleichtert wieder auf die Beine kommen und den Pfeil aus
seiner Schulter ziehen. Sie spürte einen wohligen Schauer angesichts der
spannenden Wendung, die die lahme Veranstaltung nun nahm. In der Halle ging es
richtig zur Sache – dieses blonde Flittchen musste wohl die viel gerühmte Buffy sein,
nach der Cordelia geschrieen hatte, bevor sie und Xander sie von ihrem Leid
erlösten. Die Jägerin war aber nicht allein gekommen. Da war es doch tatsächlich –
ihr Hündchen. Verpasste gerade einem Wächter einen Kinnhaken und öffnete den
Käfig der Menschen.
„Es hat sich befreit, das Hündchen“, machte sie Xander aufmerksam.
Die Menschen strömten aus ihrem Gefängnis. Oz brach eine Latte vom Käfig ab,
die er als Behelfspflock gebrauchen konnte. Der Mann im Hemd, der sie befreit hatte,
schlug einen Wächter zusammen, auch das blonde Mädchen prügelte sich in der
Saalmitte mit einem Vampir. War das die Jägerin, die Giles hatte rufen wollen? Aus
den Augenwinkeln bemerkte er Willow und Xander, die von der Bühne sprangen.
Buffy entledigte sich ihres Gegners und schleuderte ihn übers Förderband, der
Vampir riss einen der Metalltische mit sich. Schon drangen zwei weitere Vampire auf
sie ein. Sie stieß den einen gegen seinen Kumpel.
Willow ging in vollem Lauf auf die Jägerin los. Die Blonde wich ihrem Schlag
gekonnt aus, traf die Vampirin im Gesicht und trat sie in den Bauch. Im Chaos blieb
ihr keine Zeit, sich um einen Vampir mehr zu kümmern, als um den anderen. Schon
galt es, den nächsten Angreifer abzuwehren. Willow erblickte Xander, der nun
ebenfalls auf die Jägerin einstürmte, doch eine Gegnerin wie sie war er nicht
gewohnt. Sie bekam seinen Jackenkragen zu fassen und rammte zweimal ihr Knie in
seinen Bauch, dann einmal gegen sein Kinn. Armer Liebling.
Sicher, ihn erst mal außer Gefecht gesetzt zu haben, sah sich Buffy nach dem
nächsten Kontrahenten um. So entging ihr, wie Xander wieder hochkam und ihren
eigenen Pfeil aus der Jacke zog.
„Buffy, pass auf“, schrie Angel und eilte zu ihr, während sie einen anderen Vampir
in der Mangel hatte. Angel stellte sich direkt in Xanders Weg, was diesen aber nicht
sonderlich beeindruckte. Möglicherweise war Angel zu geschwächt von der langen
Gefangenschaft oder zu sehr aus der Übung, nach 100 Jahren Einsamkeit. Der
Schlag, den Angel Xander versetzte, hatte es in sich, doch vernachlässigte der
Vampir mit der Seele darüber seine Abwehr.
„Buffy!“, rief er, als sich der Pfeil schon in seine Brust gebohrt hatte. Angel starb im
Alter von 245 Jahren in der Gewissheit, dass er etwas erreicht hatte, dass seine
Lebensschuld ein winziges Bisschen abtrug – er starb für eine gute Sache.
In Buffys Gesicht zuckte kein Muskel, als sie durch die Staubwolke Richtung
Bühne ging, die eben noch ihr neuer rätselhafter Verbündeter gewesen war. Nur ein
weiterer toter Vampir, nichts, über dass sich eine Jägerin zu sorgen brauchte. Der
Vampir, der von hinten auf sie zukam, war nicht mehr als ein lästiges Hindernis, dass
sie mit Leichtigkeit wegwischte. Der schwarz gekleidete Vampir, den Angel eben
noch abgewehrt hatte, versuchte sein Glück in einer zweiten Runde. Buffy blockte
seinen Schlag problemlos und rammte ihm einen Pflock in sein Herz. Sie sollte nie
erfahren, dass er Xander Harris geheißen hatte. Es hätte sie auch nicht interessiert.
Willow sah Xander sterben, musste beobachten, wie die Jägerin ihn pfählte und er
zu Staub zerfiel. Sie raste vor Wut, stürmte los, um der Blonden das Herz aus dem
Leib zu reißen, sie ganz langsam umzubringen, auf eine Weise, die dem Mord an
Xander gerecht wurde. Die Vampirin kam nicht dazu. Plötzlich war Larry neben ihr
und packte sie, Oz eilte ihm zu Hilfe. Es ging zu schnell. Bevor sie reagieren konnte,
umfasste Oz ihre Taille und presste sie gegen eine abstehende Käfiglatte. Als Willow
spürte, wie sich der Holzpfahl durch ihren Körper ins Herz bohrte, erstarrte sie. Der
Tod schien in Zeitlupe abzulaufen, sie glaubte zu spüren, wie sie lebendig zu Staub
zerfiel, wie das Gefühl aus Beinen und Armen wich, wie sie blind und taub wurde.
Der letzte Gedanke ihres Lebens, bevor ihr Gehirn zerfiel, war die Gewissheit, dass
der Meister sie rächen würde. Er würde diese Jägerin und die anderen Menschen
vernichten. In dieser Gewissheit starb Willow Rosenberg …
Buffy sah den Meister, der von der Bühne sprang und wusste, dass er auch sie im
Auge behielt. Wie auf eine stille Vereinbarung hin, kamen sie aufeinander zu, stießen
alle beiseite, die in ihrem Weg waren – Menschen wie Vampire. Sie waren unwichtig.
Die Entscheidung, die einzig wichtige Entscheidung, würde hier und heute zwischen
ihnen beiden fallen, zwischen der Jägerin und einem Gegner, der ihrer würdig war.
Der Meister fing ihren ersten Schlag ab, er war stark, wahnsinnig stark. Mehr als
jeder andere Vampir, dem sie je gegenübergestanden hatte. Ein harter Treffer direkt
in Buffys Gesicht machte sie sekundenlang völlig wehrlos. Zu viele Sekunden. Sie
fühlte ihre Schultern gepackt, er zog sie an sich. Ein Schraubstock aus Vampirarmen
legte sich um ihren Kopf, eine Hand an ihrem Kinn, ein grausames Knacken in ihren
Ohren. Dunkelheit
Buffy Anne Summers Augen waren gebrochen, als der Meister ihren Körper fallen
ließ …
Vielleicht war es das ewige sichere Leben einer Unsterblichen, vielleicht die
unangreifbare Überlegenheit der Zauberin, vielleicht auch die pure Überraschung,
dass ein Sterblicher, noch dazu ein Mann, es wagte, sie anzugreifen. Irgendetwas
davon jedenfalls musste es wohl gewesen sein, dass Anyanka viel zu langsam
reagieren ließ. Giles hörte nur noch ihr wütendes Aufschreien, in dem sich Zorn mit
Unglauben mischte, dann zersplitterte das magische Amulett unter seinem Schlag in
tausend Stücke.
Es war wie ein Schlag, der den Wächter traf und ihn zu Boden schleuderte. Er
prallte gegen die Wand, sank herab und blieb benommen sitzen. Wie lange er dort
saß, ob er sogar kurz das Bewusstsein verloren haben mochte – Giles konnte es
später nicht mehr sagen. Erst ein seltsames und unerwartetes Geräusch riss ihn aus
dem Dämmerzustand und brachte ihn zurück in die Realität. Er blickte verwirrt nach
oben.
„Ich bin beeindruckt“, sagte die Gestalt vor ihm halb anerkennend und halb
spöttisch, während sie unbeeindruckt weiter in die Hände klatschte.
„Nancy?“ Er schüttelte verwirrt den Kopf und fragte sich, ob er wohl eine
Gehirnerschütterung oder andere Verletzungen davon getragen haben mochte. „Du
bist tot!“
Sie ließ die Arme sinken und lächelte traurig. „Das ist nicht ganz richtig. Ich bin
nicht gestorben. Ich habe aber auch nie gelebt.“
Giles schloss die Augen und atmete tief durch. Dann stand er mit einem Ruck auf,
lehnte sich sicherheitshalber an die Wand, bis die Schwindelgefühle aufhörten und
wagte es dann, wieder hinzusehen. Anyanka war, wie ihm nun erst klar wurde,
spurlos verschwunden. Nur die Reste ihres Anhängers lagen quer über den Tisch
und Teile des Bodens verteilt. Und auch Nancy war noch immer da, stand lächelnd
vor ihm, als wäre sie nicht vor kurzem erst von den Lieblingsjüngern des Meisters
ermordet worden. Als hätte er nicht selbst ihre Leiche gesehen.
„Wer … was bist du?“
Sie schüttelte leicht den Kopf. „Das würde ein bisschen zu weit führen. Sagen wir
ich bin eine Art Schutzengel. Ich passe auf, was passiert und manchmal helfe ich ein
wenig nach, wenn die niederen Wesen zuviel Chaos verbreiten.“
„Nancy hat es nie gegeben?“
Sie verzog beleidigt das Gesicht. „Es gibt mich.“
Giles seufzte. Das war im Augenblick alles nicht so wichtig. „Warum sind wir noch
hier?“, fragte er. „Der Wunsch von Cordelia Chase müsste seine Wirkung verloren
haben.“
Diesmal nickte Nancy. „Da können sie sich gratulieren. Die Mission war
erfolgreich.“
„Aber diese Welt …“
„… existiert noch. Ja. Was haben Sie erwartet? Sie zerschlagen einen Anhänger
und 6 Milliarden Menschen, Millionen von Dämonen und Vampiren, ein ganzer Planet
– alles verschwindet einfach? So seltsam es für Sie klingen mag, aber so einfach
funktioniert das Universum nicht.“
In Giles brach eine Welt zusammen. Seine letzte Hoffnung, die Hoffnung, für die
er das Leben der Jägerin aufs Spiel gesetzt hatte …
„Machen Sie sich keine Vorwürfe“, drang Nancys Stimme in seine Gedanken.
Ohne dass er es bemerkt hatte, war sie auf ihn zugekommen und hatte ihm die Hand
auf die Schulter gelegt. „Das hier war keineswegs sinnlos. Sie haben einer ganzen
Welt eine zweite Chance gegeben. Aber nicht dieser. In dieser Welt müssen Sie
einen anderen Weg finden.“
„Bist du gekommen, um mir das zu sagen?“
„Ich wollte mich bedanken. Für eine schöne Zeit als Mensch. Die jetzt vorbei ist.“
„Die Jägerin?“
„Ist schon tot.“
Giles fuhr erschrocken zurück. Er versuchte, sich für einen Augenblick zu sagen,
dass er weder wusste, was das Wesen vor ihm eigentlich war, noch, ob er ihm trauen
konnte. Doch erkannte er gleichzeitig, dass es sinnlos war, sich belügen zu wollen.
„Ich wollte, dass Sie es von mir erfahren“, sagte Nancy. „Ich wollte Ihnen auch
erklären, dass es notwendig war. Vielleicht sagt Ihnen eines Ihrer schlauen Bücher
warum.“
Sie wandte sich langsam um, hob die Hand zum Abschied.
„Warte!“, rief Giles spontan.
„Mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Ich kann Ihnen auch nicht mehr helfen. Aber
vergessen Sie nie: der Meister ist weder unsterblich noch unbesiegbar. Sie können
ihn vernichten. Und wenn die Zeit kommt, werden Sie es wissen.“
Ihre Umrisse wurden plötzlich verschwommen, die Gestalt durchscheinend. Eine
Sekunde später war an der Stelle, an der Giles gerade noch Nancy gesehen hatte,
nur noch Luft.
13
Joanne
„So sieht die Realität jetzt aus.
Diese Welt haben wir geschaffen.
Ist sie nicht wunderbar?“
ANYANKA
Boston, 1999: Verpasste Chancen
„Ach Schätzchen“, sagte Carlo herablassend. „Ich hab’ dir doch gesagt, dass ich
diesmal wirklich Geld sehen muss.“ Er steckte demonstrativ das Tütchen mit dem
weißen Pulver in seine Jackentasche zurück.
„Nenn mich nicht Schätzchen!“, antwortete das Mädchen. Er verdrehte die Augen.
„Ok, dann eben nicht. Schätzchen.“
Sie atmete geräuschvoll ein und setzte ein freundliches Lächeln auf. „Komm
Carlo, einmal noch …“
„Ich habe auch Ausgaben, die ich bezahlen muss. Und deine Schulden …“ Er
schüttelte den Kopf. „Bezahl wenigstens einen Teil. Sagen wir … die Hälfte. Bis Ende
der Woche. Dann können wir weiter sehen. Einmaliges Sonderangebot für eine treue
Kundin. Nur weil ich dich mag.“
Sie standen in einer schmalen und kurzen Sackgasse, begrenzt durch eine rote
Ziegelsteinmauer voller blauem und grünem Graffiti. Ein großer Müllcontainer, aus
dem schwarze und blaue Tüten quollen, verbreitete einen mörderischen Gestank,
schützte sie aber auch vor allzu neugierigen Blicken aus Richtung Straße.
„Du weißt, dass ich’s nicht so lange aushalte!“, brach es aus ihr heraus. Carlo
zuckte mit den Schultern.
„Nicht mein Problem. Und glaub nicht, dass dein süßes Lächeln mich beeindruckt.
Dein Lächeln ist der einzige Grund dafür, dass du noch lächeln kannst. Schatz.“ Für
ihn war die Sache damit beendet, Carlo wandte sich zur Straße um. „Du kannst ja
immer noch anschaffen gehen. Obwohl es jammerschade wäre.“
Das Mädchen tastete nach der kleinen Spraydose in ihrer Tasche. Pfefferspray.
Sie hätte auch eine Pistole organisieren können, aber das wäre erstens schwieriger
gewesen und zweitens nicht ihr Stil. Sie bevorzugte andere Waffen, persönlichere.
Sie wartete, bis er über eine Armeslänge von ihr entfernt war und sagte dann
unschuldig: „Carlo?“ Er blieb stehen und sah gelangweilt zu ihr zurück. Seinen
Mundgeruch nach Zwiebeln konnte sie noch aus der Entfernung mir Leichtigkeit
wahrnehmen.
„Was?“
Blitzschnell fuhr ihr Arm hoch, die Wolke hüllte ihn ein, ohne dass dem Dealer Zeit
für eine Reaktion blieb. Carlo schrie auf, presste die Hände auf die Augen, brüllte wie
am Spieß.
„Schnauze“, schrie das Mädchen und knallte dem Mann mit voller Wucht die Dose
auf die Stirn. Carlo taumelte ein paar Schritte zurück, stieß mit dem Rücken gegen
den Container, knickte mit dem linken Fuß um und sank zu Boden.
„Was hast du getan?“ Er bewegte vor Schmerz seinen Kopf und prallte mit dem
Hinterkopf gegen das Metall des Containers. Ein dumpfes Geräusch ertönte, im
Inneren rutschte lautstark ein Sack nach.
„Halt die Klappe!“, zischte das Mädchen. Sie fühlte den Plastikgriff des Messers in
ihrer Hand, ein Gefühl der Stärke durchströmte sie – jetzt hatte sie die Situation im
Griff, sie würde entscheiden.
„Bist du wahnsinnig?“, fragte Carlo kläglich. Bäche von Tränenflüssigkeit ergossen
sich über seine Wangen.
Das Mädchen hob das Messer, beobachtete, wie das Licht der nahen
Straßenlaterne sich im Metall brach und gelb reflektiert wurde.
„Ich denke schon“, sagte sie ruhig, geradezu entspannt – holte aus und rammte
das Messer mit voller Wucht in Carlos Hals …
Los Angeles, einige Monate später
„Joanne, Liebling, kann ich dich ein paar Minuten in Anspruch nehmen?“
Normalerweise wäre sie auf einen Mann, der sie >Liebling< nannte, wohl lächelnd
zugegangen, hätte etwas Verführerisches in sein Ohr geflüstert – und ihm dann das
Nasenbein gebrochen. Ihre Männer suchte sich Joanne immer noch selbst aus, nicht
umgekehrt. Bei ihrem Chef ließ sie so etwas lieber. Nicht nur, weil es aus
Arbeitsplatzgründen nicht klug sein konnte, den Boss zu schlagen, wenn man erst
seit wenigen Tagen als Aushilfe in seiner Bar jobbte; sondern besonders deswegen,
weil es seine Art war, so auf andere zuzugehen. Diesen Mann ändern zu wollen,
würde schwerer sein, als aus Los Angeles eine friedliche Vorstadtsiedlung zu
machen. Und drittens: der Conferencier war schließlich nicht einmal ein Mensch. Auf
die Idee, ihr näher zu treten, als sie es erlaubte, würde der grüne Dämon wohl kaum
kommen.
Was konnte er nun wohl wollen? Eine Kritik der ersten Tage? Da konnte ihr wohl
wenig passieren. Die junge Frau folgte dem Conferencier zu einem abgelegeneren
Tisch, von dem aus er aber noch seinen Club und vor allem die Bühne im Auge
behalten konnte.
„Also, Chef?“, begann sie ungeduldig und wenig diplomatisch. Diplomatie lag nicht
in ihrem Wesen, sie bevorzugte direkte Wege. Der Conferencier schien sich daran
nicht zu stören. Er nahm einen Schluck aus seinem Cocktailglas, seufzte
genießerisch und sah sie über den Glasrand hinweg an.
„Bisher machst du dich gut“, lobte er und nährte damit Joannes Misstrauen. „Du
hast nur zwei Gläser zerschlagen, keine Gäste beleidigt, niemanden umgebracht …
Ich könnte dir da Geschichten erzählen …“
„Und?“ Sie hatte noch anderes zu tun. Er lächelte milde.
„Du hast sogar deine Angaben bei der Bewerbung vollständig ausgefüllt, das hat
glaube ich noch nie jemand getan. Wir sind ja sowieso nicht versichert. Aber ich weiß
gern, wer für mich arbeitet. Und bei dir, Joanne Collins aus Ruthford/Kansas, muss
ich leider feststellen: den Ort gibt es nicht. Und dich noch viel weniger. Und dein
Kansas-Akzent ist peinlich.“ Er zuckte mit den Schultern. „Nicht so schlimm, ein paar
meiner Gäste sind nicht mal lebendig, aber ich mag es nicht, angelogen zu werden.“
Joanne stieß wütend die Luft durch die zusammengebissenen Zähne aus. Sie
hätte nur ins Telefonbuch blicken müssen, um eine echte Stadt zu finden. Nur 10
verdammte Minuten …
„Bin ich draußen?“, fragte sie.
„Aber nicht doch Kleines.“ Er nahm noch einen Schluck. „Du hast ja schließlich
niemanden umgebracht. Zumindest das würdest du mir doch sagen, oder?“
„Nein, ich habe niemandem etwas getan“, antwortete Joanne und fügte gereizt in
Gedanken >bis jetzt< dazu.
„Weißt du.“ Er bekam seinen philosophischen Gesichtsausdruck. „Es gibt drei
Arten von Menschen, die nach LA kommen: die, die etwas suchen und die, die vor
etwas davon laufen. Und Touristen. Touristin bist du nicht.“
„Und was bist du?“, konterte sie.
„Ich bin kein Mensch. Zumindest das blieb mir erspart.“
Gegen den Willen ihrer schlechten Laune zogen sich Joannes Mundwinkel zu
einem Lächeln hoch.
„Sie kann es ja!“, jubilierte der Conferencier. „Also Joanne, bist du ein Mensch auf
der Flucht oder auf der Suche?“
„Ich setze nur eine Familientradition fort. Mein Dad ist abgehauen, als ich noch
klein war, meine Mutter, als ich volljährig wurde. Bei uns läuft man gern.“
„Was soll ich nur mit dir machen, du kleine Verrückte?“ Er traf eine Entscheidung.
„Du darfst erstmal bleiben, wenn du mir deinen richtigen Namen verrätst.
„Heißt du denn von Geburt an Conferencier?“
„Sagst du mir deinen Namen, wenn ich dir meinen verrate?“
„Vielleicht.“
„Krevlonsworth.“
„Oh.“
„Meine Freunde zuhause, wenn ich welche gehabt hätte … nun: für Freunde
>Lorne<.“ Er wies mit dem Finger drohend auf sie. „Aber ein Lorne-Green-Witz und
du wirst es bereuen. Meine Gegenleistung?“ Charme konnte sie ihm ja nicht
absprechen und dass er mit ihr, einer Aushilfe, so umging …
„Faith.“
„Hallo Faith.“
„Aber singen werde ich nicht.“
„Keine Sorge Liebling, eines Tages tust du das von ganz allein.“ Er breitete
prophetisch die Arme aus. „Die Neugier.“
„Sicher!“
Damit war sie war fast aus dem Gespräch entlassen und um eine Erfahrung
reicher. Sie hatte eine Menge Jobs in den letzten Monaten gehabt, lange hielt es sie
nie durch. Feste Arbeit war nicht Faiths Sache. Aber im >Caritas< schien sie es nicht
schlecht getroffen zu haben.
„Zwei Dinge noch“, sagte der Conferencier und trank sein Glas leer. „Ein Wort
über meinen Namen zu irgendjemandem, dann …“ Er spießte symbolisch eine Olive
mit dem Zahnstocher auf. „Und zieh bitte in Zukunft nur noch Oberteile an, bei denen
die Ärmel nicht verrutschen. Ich habe ein paar Kunden, denen würden diese Narben
von Spritzen auf deinen Armen nicht gefallen.“
Faith fühlte sich ertappt, wie ein kleines Kind, dem jemand auf die Finger klopfte.
Sie hasste das. Andererseits: er hatte ihr keine Moralpredigt gehalten, obwohl er
nicht sicher sein konnte, dass sie wirklich clean war.
Zu beschreiben, nach was es in der Absteige stank, war Faith nicht möglich –
dazu hätte sie absichtlich einatmen müssen. Immerhin fiel die Tür hinter ihr wieder
ins Schloss und nicht aus den Angeln. Dem schleimigen Kerl an der Rezeption warf
sie ein unschuldig-verführerisches Lächeln zu, in der Gewissheit, dass er ihr
sabbernd nachblickte, und zog sich in das zurück, was ihr als >Zimmer< vermietet
worden war.
Sie schloss sorgfältig ab und schob einen Stuhl so vor die Tür, dass die Lehne die
Klinke blockierte. Hier traute sie keinem über den Weg. Eine kleine Spinne wuselte
mir rasenden Beinen über die vergilbte Tapete.
Faith zögerte nicht mehr. Mit geübten Handgriffen und zitternden Fingern holte sie
einen kleinen Beutel aus dem sorgfältig gefertigten Geheimfach im Bettrahmen. Nicht
aus Angst vor der Polizei benutzte sie dieses Versteck, sondern wegen ihrer
diebischen Nachbarn. Faith sah die Spritze mit glasigen Augen an …
Der erste Zwischenfall, an den sich Faith bewusst erinnern konnte, fand etwa zwei
Wochen später statt. Im Nachhinein erkannte sie aber, dass verschiedene Vorfälle
der letzten Zeit damit in Zusammenhang stehen mussten.
Sie war an diesem Tag fast zu spät aufgestanden, nachdem sie neben einem Kerl
namens Manolito aufgewacht war und ihre liebe Mühe hatte, ihn wieder los zu
werden. Vom Abend zuvor war er in angenehmerer Erinnerung. Trotzdem schaffte
sie es noch pünktlich bis zum frühen Nachmittag in die Bar. In den Stunden vor der
eigentlichen Öffnungszeit gab es, unbemerkt von den Gästen, noch eine Menge zu
erledigen.
Faith sortierte gerade Flaschen in ein Regal, als es passierte. Sie hätte schwören
können, das Beben des Bodens noch einen Sekundenbruchteil vor dem
ohrenbetäubenden Knall wahrgenommen zu haben. Das ganze Gebäude schien zu
schwanken, Carlos, ein Türsteher, ließ einen Stuhl fallen, das Knallen des
Aufschlags hallte überlaut in der totalen Nachdetonationsstille. Der Conferencier
erhob sich fast provozierend langsam von seinem Barhocker.
„Hat jemand einen Krieg angefangen, ohne es mir zu sagen?“ Keine Antwort
erwartend eilte er – mit allem gebotenen Stil – zur Ausgangstür. Carlos folgte ihm
unaufgefordert, aber auch die anderen Angestellten hielt nichts mehr. Eine Mischung
aus Neugier und Angst lag in der Luft, der sich keiner entziehen konnte. Für einen
Moment dachte Faith daran, dass der Conferencier ein gewisses Risiko einging, am
hellen Tag auf die Straße zu gehen, aber das Bild, das sich ihr draußen bot, sorgte
dafür, dass sie nur noch starrte, ohne zu denken.
Aus einem Müllcontainer schlugen meterhohe gelbrote Flammen, die Reste eines
anderen Containers – einschließlich den Inhaltes – lagen meterweit auf der Straße
verteilt oder klebten an den Gebäuden, in denen kaum eine Scheibe heil geblieben
zu sein schien.
„Ein Liebesgruß von Franky?“, bemerkte der Conferencier trocken. Carlos nickte
beifällig. Der grünhäutige Dämon musste Faiths fragendes Gesicht bemerkt haben.
„Keine Sorge“, sagte er zu ihr gerichtet. „Es gibt hier einen gewissen Franky Corelli,
der ein bisschen zu oft >Der Pate< gesehen hat. Marlon Brando ist aber auch klasse.
Jedenfalls ist Franky der Meinung, dass grün leider nicht in seinen Stadtbezirk passt.
Er ist auch mehr ein Blautyp. Das er gern mit Müll spielt ist mir aber neu.“
Gegen einen kleinen >Beitrag zum Pensionsfond< beseitigten die Leute von der
Müllabfuhr und der Polizei bis zum nächsten Tag alle Spuren des Anschlags. Der
Conferencier versprach seinen Leuten, sich der Angelegenheit persönlich
anzunehmen. Was immer er damit auch meinen mochte.
„Also Schatz, da bin ich.“ Der Conferencier grinste von einem Ohr zum anderen.
„So wie du klangst, hätte ich zumindest eine Invasion von Außerirdischen erwartet.
Obwohl – grüne Männchen hat diese Welt genug, nur der Mangel an grünen
Weibchen ist bedauerlich.“
Es war noch vor dem Mittag, eine Zeit, in der normalerweise niemand im
>Caritas< anzutreffen war. Das ihr Chef auf Faiths Anruf so prompt reagiert hatte,
musste sie wohl als Kompliment auffassen. Er wohnte zwar in einer Wohnung direkt
hinter dem Club, aber eigentlich war für ihn im Augenblick eher Schlafenszeit.
„Ich möchte singen“, verkündete sie schlicht.
„Dafür, dass du mich aufgeweckt hast, schuldest du mir aber mindestens ein
halbes Broadwaystück.“ Er wies einladend zu Bühne. „Lass dein Publikum nie
warten. Oder nur, wenn du es damit noch mehr anheizen kannst.“
Sie folgte mit den Augen der Richtung, in die sein Arm wies und plötzlich überkam
sie ein ungewohntes Gefühl von Unsicherheit und Nervosität. Mit langsamen
Schritten erklomm sie die Bühne, die sie noch nie betreten hatte.
„Keine Sorge“, sagte Lorne. „Ich bin ein großzügiger Kritiker.“
Sie lächelte scheu, ganz anders, als es sonst ihre Art war. Faith sang, für ihn, nur
für den Conferencier. Wann sie das letzte Mal in der Öffentlichkeit gesungen hatte –
ob überhaupt? Sie wusste es nicht mehr. Einen Druck gab es nicht, sie musste
weder gut sein noch außergewöhnlich – sie musste nur singen. Nach dem Ende der
Nummer trat Faith aus dem Scheinwerferspot und widerstand der Versuchung, sich
situationsgemäß zu verbeugen. Insgeheim rechnete sie mit einem Kommentar,
womöglich mit spöttischem Applaus. Doch es passierte – nichts.
Irritiert sprang sie von der Bühne herab, legte das Mikro auf einem Tisch ab und
ging auf die Bar zu, an der der Conferencier unverändert und wie versteinert dasaß
und sie ansah, obwohl der Blick durch sie hindurch zu gehen schien. Das hatte sie
befürchtet.
„So schlimm?“, fragte sie. Nach ein paar Sekunden hob sie die Hand und winkte.
„Äh, hallo?“
„Du musst weg von hier“, murmelte der Dämon plötzlich und runzelte die Stirn, als
sei er überrascht von sich selbst. „Sofort. Etwas … etwas Furchtbares wird
passieren. Dir.“ Er riss die Augen auf. „Und mir?“
Faith zuckte zusammen, wegen der Worte ihres Chefs und wegen des
unerwarteten Geräusches, das sie erst nach einigen Sekunden als Klatschen
erkannte.
„Darf ich stören?“ Die Stimme war sanft, überaus weich und freundlich, auf
eigenartige Weise aber ebenso falsch. „Ich habe die Vorstellung ja wirklich
genossen, aber ich bin ein vielbeschäftigter Mann, Termine.“
„Hallo Franky“, sagte der Conferencier, ohne sich von der Stelle zu bewegen.
„Du erinnerst dich. Wie schön.“ Franky Corelli, ein leicht übergewichtiger
Endvierziger, braunhaarig, mit einer Nickelbrille und einem maßgeschneiderten
Anzug im tiefsten Marineblau. Er war nicht allein, Faith zählte mindestens vier
weitere Männer: ein großer Schwarzer, ein kleiner glatzköpfiger Weißer, ein
südländischer Typ mit einem Gewehr und ein gelbhäutiger Dämon mit einer
Knochenleiste quer über der Stirn und drei Nasenlöchern.
Faith wusste genau, wie die fünf hier herein gekommen waren, das hatte sie ihnen
ja selbst verraten. Das Eintreten selbst hingegen war ihr völlig entgangen.
Franky stolzierte mit ausladenden Schritten heran, so als gehöre der Laden schon
ihm, legte wie selbstverständlich den Arm um Faiths Schultern. Sie hasste das,
diesen schleimigen Kerl, aber einen Mann wie Franky zu verärgern konnte sie sich
nicht leisten.
„Unsere gemeinsame Freundin hier war so lieb, dieses kleine Treffen für uns zu
arrangieren. Ist doch nett, oder?“
Der Conferencier schien sich langsam von seinem Schock zu erholen, da traf ihn
dieser nächste. „Faith?“
Ihr Kehlkopf schien von innen gegen den Hals zu drücken. „Ich …“, stotterte sie.
„Wir haben uns vor ein paar Wochen kennen gelernt“, antwortete Franky für sie
und drückte sie strahlend. „Ihr ging’s leider nicht so gut. Streng genommen war sie so
zugedröhnt, dass sie nicht mehr wusste, wie viele Finger sie hat. Sie wusste auch
nicht mehr, dass man für Ware bezahlen muss, die man verbraucht hat.
Zufälligerweise arbeitete der Zwischenhändler, zu dem sie geschäftliche Kontakte
unterhielt, für mich. Lustig, oder?“
„Er will mit die reden“, warf Faith ein und wusste gleichzeitig, dass sie sich belog,
von Anfang an belogen hatte. Nachdem die Dinge in Boston außer Kontrolle geraten
waren, hatte sie die Stadt so schnell wie möglich verlassen müssen und sich mehr
schlecht als recht zur Westküste durchgeschlagen. Sie hatte kein Ziel gehabt, nur
eine Vergangenheit, der sie nicht entkam. Franky kannte ihr Geheimnis. Er hatte ihr
angeboten, die Sache zu bereinigen. Für eine Gegenleistung. Zum ersten Mal seit
sehr langer Zeit wünschte Faith, sie könne vor Scham im Boden versinken.
Fanky ließ von ihr ab, breitete lächelnd seine Arme aus, als wollte er den
Conferencier umarmen.
„Richtig, reden wir.“ Er winkte mit rechts. Der südländische Typ gab sein Gewehr
an den gelbhäutigen Dämon weiter, der demonstrativ und geräuschvoll durchlud. Der
Südländer griff in seinen langen Mantel, vermutlich in eine Geheimtasche, und zog
mit einem Ruck eine Machete heraus. Das Metall reflektierte glänzend das Licht.
„Mir wurde zugetragen, dass du ohne Kopf überleben kannst“, plauderte Franky
scheinbar unbekümmert. „Das hat mich wirklich überrascht. Mein Freund Massimo
hier hat sich in den Kopf gesetzt, das auszuprobieren. Er würde zu gern erfahren, in
wie viele Stücke man dich wohl zerlegen muss, damit du tot bleibst.“
Faith wollte aufbrausen, protestieren – und blieb stumm. Wegen der Augen des
Conferenciers, auf sie gerichtet, ohne Zorn. Nur traurig. Für ein paar Sekunden war
es so, als entstehe eine Verbindung zwischen ihnen, als könne sie seine Gedanken
hören. Hau ab, sagte er auf diese Weise.
„Geben Sie mir mein Geld“, stieß Faith hervor, automatisch, ohne nachzudenken.
„Willst du wirklich schon gehen?“ Franky klang kindlich enttäuscht. „Wie schade!“
Faith atmete tief durch. „Ja“, sagte sie mit entschlossenem Gesichtsausdruck und
funkelnden Augen. Überlegen lächelnd griff Franky in die Innentasche seines Anzugs
und zog einen braunen Umschlag hervor.
„Du glaubst es wirklich, oder?“, fragte er. „Dass du dir damit ein neues kleines
Leben kaufen kannst.“ Er schüttelte den Kopf. „Kein halbes Jahr und du bist wieder
dort, wo du jetzt stehst.“
„Meine Sache!“, zischte sie und kämpfte mit aufsteigender Wut. Noch ist es nicht
zu spät, dachte sie. Wenn sie jetzt ihr Geld nahm und ging, würden Franky und seine
Leute nicht sofort abziehen, Zeit genug, um Unterstützung zu organisieren. Aber
warum eigentlich? Warum für den Conferencier ihr Leben riskieren? Der einzige
Mensch, um den sie sich zu kümmern hatte, war doch immer noch sie selbst!
„War mir eine Freude, mit dir zu arbeiten.“ Franky grinste immer noch.
Faith riss ihm den Umschlag aus der Hand, wirbelte auf dem Absatz herum und
schritt wortlos und erhobenen Hauptes auf die Tür zu, auf den Ausgang, der dieser
ganzen Geschichte ein Ende setzen würde.
Etwas … etwas Furchtbares wird passieren, hörte sie plötzlich die Stimme des
Conferenciers in ihrem Geist wiederholen. Dir. Und mir?
Sie ließ sich instinktiv fallen, sah im Abrollen noch die Machete, die exakt dort die
Luft durchschnitt, wo Sekundenbruchteile zuvor ihr Hals gewesen war. Mit einer
Behändigkeit und Kaltschnäuzigkeit, die Faith selbst überraschte, kam sie wieder auf
die Beine und sprang den Dämon mit dem Gewehr an. In dieser Situation war seine
Waffe ihre einzige Lebensrettung. Sie überraschte ihn, drückte mit einem Rück den
Lauf zur Seite, ein Schuss löste sich und fegte mit betäubendem Klirren eine ganze
Gläserpyramide von einem Regal. Der Gelbhäutige gab einen erstickten Laut von
sich, klammerte sich gleichzeitig mit aller Gewalt an den Kolben.
Früher einmal war Faith stärker gewesen, als selbst die meisten Jungen in der
Nachbarschaft, gesegnet mit einer geradezu unheimlichen Heilungsgabe und
Widerstandsfähigkeit, die ihre Umgebung immer wieder überraschte. Doch sie hatte
viel von ihren Fähigkeiten verloren, in den vergangenen Jahren ihres Abstieges. Den
Glatzkopf sah Faith nicht kommen, die schwere Hand kam aus dem Nichts. Ein
eiserner Griff schloss sich um Faiths Oberarme, zuerst um den linken, dann bekam
er von hinten auch den rechten zu fassen. Sie strampelte und trat um sich, traf aber
nur auf den harten Panzer des Dämons.
„Gib’s auf“, empfahl Franky scheinbar gelangweilt, schob den Südländer zur Seite
und baute sich lächelnd vor Faith auf. „Gegen Tark’del hast du sowieso keine
Chance.“ Er streichelte langsam ihre Wange. „Was machen wir nun mit dir?“
Faith schaltete sofort um. „Vielleicht können wir uns doch noch einigen?“, hauchte
sie, bemühte sich um einen Schmollmund und lächelte verführerisch. Franky kam
näher.
„Wirklich?“
„Oh ja“, flüsterte sie, so dass er noch näher kam, um sie zu verstehen. Sie lächelte
– und trat Franky mit aller Kraft zwischen die Beine. Nein, entkommen konnte sie von
hier nicht mehr, aber Franky zusammenklappen zu sehen, den Tränen nahe, das war
es wert …
„Du miese Schlampe“, hörte sie Franky vom Boden her, würdigte ihn aber keines
Blickes mehr. „Du wirst betteln …“
Im Laufe ihrer langen Dienstjahre beim LAPD hatte Det. Kate Lockley genug Opfer
von Gewalttaten gesehen, um mit den Bewohnern mancher Kriegsregionen
konkurrieren zu können. Tote, die so aussahen, als schliefen sie nur, ebenso, wie
verstümmelte Überreste, die kaum noch als menschlich erkennbar schienen. Sie
hatte sich einen harten Panzer zugelegt, wollte die Dinge nicht an sich heran lassen,
mit denen sie konfrontiert wurde. An manchen Tagen funktionierte das besser, an
anderen schlechter.
„Sie kann kaum zwanzig Jahre alt gewesen sein“, sagte der ältere Pathologe, der,
soweit Kate wusste, Graham hieß. Seine Halbglatze leuchtete reflektierend im
ergrauten Haarkranz.
„Wir haben kein Geburtsdatum für sie“, erwiderte die Polizistin. Sie fühlte sich
unwohl – der Seziertisch mit der Leiche vor ihr, das grelle Neonlicht, die sterilen
Instrumente, der durchdringende Gestank nach Desinfektionsmitteln. Das alles
machte sie krank. „Laut der Kollegen in der Bar, in der sie als Aushilfe gearbeitet hat,
nannte sie sich Joanne, aber keiner glaubt, dass das ihr richtiger Name war. Einer
will gehört haben, sie hätte >Faith< geheißen. Kein Nachname. Wir haben beide
Namen und die Beschreibung durch die Vermisstenmeldungen laufen lassen, aber
offensichtlich … vermisst sie niemand. Aber vielleicht …“
Sie brauchte den Satz nicht zu beenden, sie kannten das beide aus Erfahrung:
Faith oder Joanne würde vermutlich in einem städtischen Armengrab ihre letzte Ruhe
finden, mit einem Kreuz, auf dem nicht einmal ihr Name stand, nur eine Nummer.
„Verdächtige?“
Kate nickte knapp. „Man hat sie in der Bar gefunden, ein Underground-Club
namens >Caritas<, keine Lizenz. Soll eine recht spezielle Kundschaft gehabt haben,
aber was das genau bedeutet?“ Sie zuckte mit den Schultern, die Angestellten hatten
jede genaue Aussage abgeblockt. „Offenbar hat Franky Corelli, ein Unterboss von
Little Tony seit Längerem versucht, den Laden zu übernehmen oder aus dem
Geschäft zu drängen. Unsere Faith geriet vermutlich zufällig zwischen die Fronten.
Der Chef dieses Clubs scheint verschwunden zu sein. Aber so genau will das keiner
wissen, wir haben nicht mal den Namen dieses so genannten >Conferenciers<
rausbekommen. Seine Angestellten weigern sich sogar, ihn für uns zu beschreiben.
Es wäre ein Wunder, wenn wir überhaupt noch etwas von ihm finden.“
„Etwas?“
„Little Tony.“ Zwei Worte, die bei Polizei wie Pathologie gewisse Erinnerungen
weckten.
„Die Mafia also? Das deckt sich mit meinem ersten Eindruck.“ Graham winkte
Kate näher an den Metalltisch heran und drehte den Kopf der Toten so, dass die
Polizistin den Hinterkopf sehen konnte, oder was davon übrig war. „Wer das getan
hat, der hat meiner Meinung nach nicht zum ersten Mal getötet. Die Kugel traf aus
einem Winkel von 40, 45 Grad. Entweder stand der Mörder erhöht oder das Opfer
hat gekniet. Die Schädeldecke wurde glatt durchschlagen, das Projektil durchdrang
das Gehirn, den Rachenraum und …“ Er drehte den Kopf so, dass eine hässliche
Wunde am Kinn sichtbar wurde. „ … trat wenige Zentimeter über dem Kehlkopf
wieder aus. Der Schuss wurde aus unmittelbarer Nähe abgegeben und zog
vermutlich massive Hirnverletzungen nach sich. Wenn sie Glück hatte war sie sehr
schnell bewusstlos oder tot.“
„Und wenn nicht?“
Es brachte nichts, einer erwachsenen Polizistin grausame Wahrheiten ersparen zu
wollen. „Dann hat sie die letzten Minuten ihres Lebens elendig gelitten.“
Kate kam sich hilflos vor. Auf ihrem Schreibtisch stapelten sich Akten, Fälle von
Leuten mit einem Namen, einer Familie; Schicksale, für die sich jemand interessierte.
„Noch etwas“, fuhr Graham fort. „Es gibt eine frische Platzwunde an der linken
Lippe, scheinbar mechanische Gewalt mit einem stumpfen Gegenstand, vielleicht
sogar eine Faust.“ Der Pathologe nahm Faiths Kinn zwischen Daumen und
Zeigefinger und schob es mit Leichtigkeit nach rechts und links. „Der Kiefer ist
gebrochen.“
Kate zerbiss einen wütenden Fluch zwischen den Zähnen.
„Vielleicht finden wir unter den Fingernägeln ja etwas, dass sich für eine DNAAnalyse eignet.“
„Einen Beweis?“ Kate klang alles andere als überzeugt. „Wie letztes Mal und das
Mal davor? Little Tony windet sich immer raus.“
„Gute Anwälte?“
„Wolfram and Hart, solange wir die nicht selbst ausheben, kommen wir an die
Klienten auch nicht ran.“ Sie musste schlimm ausgesehen haben, denn Graham
legte sein gerade aufgehobenes Skalpell zurück und verkündete, er werde Pause
machen.
„Ich gehe auf einen Kaffee in die Kantine. Wollen Sie mitkommen?“ Er tat das, um
sie abzulenken, damit sie nicht mit diesen Bildern nach Hause gehen musste. Und
sie wusste das auch sehr genau.
„Danke.“
„Ich wasch` mir nur schnell die Hände. Muss diesen Geruch loswerden, kommt
nicht gut an, bei den Küchenfrauen.“ Er verschwand in einem kleinen Nebenraum am
Ende des Saals. Da er die Tür offen ließ, konnte Kate auch dort Neonlicht
aufflammen sehen, ein Wasserhahn rauschte.
„War es das wert?“, murmelte Kate nachdenklich. „Der ganze Weg von wo-auchimmer bis hierher, nur um auf dem Fußboden einer illegalen Kneipe zu verrecken?“
„Sprechen sie nicht mit den Toten“, empfahl Graham, sie hatte ihn nicht
zurückkommen sehen. „Ist nicht gesund. Ich kenne mich da aus. Berufskrankheit.“
Er ging vorbei, Richtung Ausgangstür. Kate zögerte kurz, dann zog sie Faith das
weiße Laken über den Kopf und folgte dem Pathologen.
Geoffrey Sawyer-Head, Koordinator der Abteilung Nordamerika, Unterabteilung
Kalifornien, betrachtete missmutig eine Gruppe eindeutig deutscher Touristen, die mit
ihrem unmöglichen Verhalten die Straße vor dem Gebäude blockierten.
„Mr. Sawyer-Head?“
Er fuhr auf dem Absatz herum und nickte der Sekretärin seiner Vorgesetzten zu.
„Mrs. Reynolds erwartet Sie.“
Sawyer-Head durchschritt das stilvolle Vorzimmer und betrat Mrs. Reynolds
nüchtern-funktionales Büro, wo die Abteilungsleiterin des Wächterrates ihn erwartete.
Die dünne grauhaarige Frau Ende Fünfzig lehnte sich hinter ihrem schweren
Schreibtisch zurück.
„Ich habe leider schlechte Nachrichten“, bekannte Sawyer-Head nach einer
förmlichen Begrüßung. „Wir haben einen bestätigten Bericht der Polizei von Los
Angeles erhalten. Unser dortiger Kontaktmann hat die Spur der gesuchten
Jägerinnenaspirantin aus Boston ausfindig gemacht. Er bedauert mitteilen zu
müssen, dass sie … nun ja … tot ist.“
„Kennen wir die näheren Umstände?“, erkundigte sich Reynolds kühl.
„Die Polizei stellt eine Verbindung zu Bandenkriminalität und organisiertem
Verbrechen her. Unser Kontaktmann stellt diesbezüglich eigene Nachforschungen
an.“
Mrs. Reynolds wirkte bedrückt. „Wir hatten eigentlich vermutet, ihr Erscheinen in
Westamerika stehe mit der Krise in dieser Kleinstadt in Zusammenhang.“
„Sunnydale.“ Alle in der Abteilung Nordamerika kannten den Namen. Auch wenn
der Rat sich bisher zu keiner Intervention hatte entschließen können, beschäftigte die
Angelegenheit doch einen eigenen Planungsstab. „Dann war sie wohl nicht die
Auserwählte.“
Es war eine alte Erkenntnis, dass Jägerinnen immer dort auftauchten, wo sie
gerade gebraucht wurden. Allein die Tatsachen, dass die Welt noch existierte,
bewies die Effektivität dieses Systems. Mrs. Reynolds nickte.
„Warten Sie auf den Abschlussbericht und archivieren Sie dann die Akte. Ich
denke, diese Sache ist für uns damit erledigt. Es wird nicht nötig sein, die
Vorsitzenden zu informieren.“
Sawyer-Head bestätigte die Anweisung. Damit war er entlassen. An das junge
Mädchen, das da in Kalifornien gestorben war, verschwendete er keinen weiteren
Gedanken. Das gehörte nicht zu seiner Zuständigkeit.
14
Die neue Jägerin
„Die neue Jägerin wird nur berufen,
nachdem die vorherige gestorben ist …“
RUPERT GILES
Det. Stone zog hilflos an seiner Zigarette und versuchte sich vorzustellen, was in
Willys Bar, dem >Alibi Room<, passiert sein konnte. Es war einmal so einfach
gewesen, vor wenigen Jahren noch. In einer anderen Welt. Damals gab es
menschliche Opfer und ebenso menschliche Täter. Und wenn ab und zu der eine
oder andere Fall keinen Sinn zu ergeben schien, weil die Zeugen von Monstern
erzählten und die Spuren verwirrend waren, dann fand die Polizeidirektion immer
gute Erklärungen für die Medien und ließ die Akte verschwinden. So lief es in
Sunnydale schon immer.
Wenn die guten Bürger etwas nicht wahr haben wollten, ignorierten sie es einfach.
Konsequent und erfolgreich. Bis zum Massaker im >Bronze<, das der Bürgermeister
noch als Bandenkrieg erklären konnte. Viele glaubten es, weil sie es wollten. Bis
niemand mehr die Vampire übersehen konnte, aber da waren sie längst zu zahlreich
und zu stark, als dass ein Kampf noch Sinn gemacht hätte. Der Bürgermeister war
längst tot und sein Nachfolger nur noch eine Marionette von des Meisters Gnaden.
Der Vampirherrscher erlaubte den Menschen, in seiner Stadt zu leben, die für sie
längst ein qualvolles Freiluftgefängnis geworden war.
Sunnydale war heute eine gelähmte Stadt, vom Terror der Vampire gezeichnet,
hilflos und voll Resignation. Die Aufgabe der Polizei, im Bemühen, so etwas wie
Ordnung aufrecht zu halten, konzentrierte sich weiter auf die Jagd nach den
menschlichen Verbrechern, aber all zu oft blieb es auch an ihnen hängen, die Opfer
der Vampire aufzusammeln und die Todesnachrichten zu überbringen.
Aber in Willys Bar war es anders gelaufen. Ganz anders.
„Ein Mädchen?“, murmelte Stone fragend.
„So sagt es unser Zeuge.“ Stones Kollege Fitzume sah überzogen demonstrativ
auf seinen Notizblock. „Jung, vielleicht um die zwanzig oder jünger. Hübsch. Dunkler
Teint, dunkle Haare etc. Hat vor drei Tagen das Zimmer 106 im Hotel in der
California Lane gemietet. Herkunftsort unbekannt.“ Fitzume blickte auf. „Billige
Absteige, aber keiner stellt Fragen.“ Zurück zum Notizblock. „Sie ist in jeder Nacht
ausgegangen, obwohl der Portier sie gewarnt hat. Sie ist aber immer morgens
wohlbehalten zurückgekommen. Seltsam, oder?“
Stone nickte. „Seit wann haben die einen Portier?“
Fitzume zuckte mit den Schultern. „Vielleicht ist er auch nur der Hausmeister. Ihm
fiel übrigens auf, dass sie >verklemmt< gewesen sei. Was er auch darunter
verstehen mag. Unbeholfen im Umgang mit anderen Menschen, einzelgängerisch. Er
hat sich amüsiert, dass sie ihn >Sir< nannte. Offenbar hat sie aber jeden Mann so
angesprochen.“
Stone rammte seine Zigarette in einen überquellenden Aschenbecher auf dem
bierverklebten Tisch neben sich. „Und dann stürmt sie vor …“ Ein Blick zur Uhr, „…
etwa drei Stunden in diese Bar, die sie anscheinend noch nie zuvor betreten hat. Sie
schlägt den Türsteher nieder, läuft wortlos zu diesem Tisch …“ Stone fixierte einen
Haufen Holzstücke, die man nur schwer als Überreste eines Tisches erkennen
konnte. „Sie packt einen Kerl von gut 120 Kilo und schleudert ihn scheinbar mühelos
über vier Meter und halb durch eine Wand.“
„Also ein Kerl ist das nicht“, rief O’Hara von der Spurensicherung rüber. „Der
Körper geht ja noch als menschlich durch, aber nicht der Kopf.“
Stone runzelte die Stirn. „Ich dachte, vom Kopf sei nicht allzu viel übrig.“
„Theoretisch nicht“, gab O’Hara zu. „Der Kopf hatte das Pech, genau zwischen
über 100 Kilo Lebendgewicht und eine massive Steinmauer zu geraten. Trotzdem.“
O’Hara hielt in seinen plastikbehandschuhten Fingern etwas in die Höhe.
Fitzume rückte seine Brille zurecht. „Ist das ein Knochen … stück?“
O’Hara grinste schief. „Hörner.“
„Oh“, machte Fitzume und schwieg. Dafür setzte Stone seine Rekapitulation fort.
„Das Mädchen wirft also unseren kopflosen Freund gegen die Wand, was seinem
Leben ein sofortiges Ende setzt. Panik bricht aus. Die Gäste flüchten. Unser Zeuge
…“ Der Detective sah halb über seine Schulter zum Barbesitzer Willy, der sich von
einer jungen Sanitäterin über seinen Schock trösten ließ. „… versteckt sich hinter der
Theke.“ Stone umrundete den Holzhaufen und ging zur dahinter liegenden
vertäfelten Wand. Der penetrante Geruch von Bier und Qualm wurde hier von einem
leichten Urin-Hauch >bereichert<. Im Eichenholz der Vertäfelung, etwa 1,50 m über
dem Boden, steckte ein Stuhlbein. Mindestens die Hälfte musste sich innerhalb der
Wand befinden – welche Körperkräfte musste ein Mensch aufbringen, um so was zu
tun? Und wieso überhaupt ein Mensch?
„Das Mädchen schleudert einen Vampir, offenbar Begleiter des Toten, gegen
diese Wand. Sie würgt ihn mit der linken Hand und macht ihn mit ein paar Schlägen
der Rechten wehrlos. Sie reden kurz, doch über was, will niemand verstanden
haben. Etwas zwei Minuten dauert diese Unterhaltung, dann nimmt sie ein
abgebrochenes Holzbein … und tötet einen Toten. Nach kaum zehn Minuten
verschwindet sie wieder, genauso schnell wie sie kam.“
„Warum lassen wir die Sache nicht einfach auf sich beruhen?“, frage Fitzume
dazwischen, sein Notizbuch verschwand hinweisend in der Jackentasche. „Ein
Vampir ist tot, ein Dämon ist tot. Wen interessiert das?“
„Der Türsteher ist ein Mensch.“
„Der hat nur ein paar blaue Flecken. Und wer als Mensch so blöd ist,
Rausschmeißer in einer gemischten Bar zu spielen, ist sowieso nicht
zurechnungsfähig.“
Ein Argument, gab Stone zu, das einiges für sich hatte. Sie hatten wahrlich genug
damit zu tun, die Lebenden zu schützen, als dass sie Energie hierfür verschwenden
konnten. Von einer Sekunde zur anderen traf Stone die Entscheidung, die
Spurensicherung schnell abzuschließen, seinen vorschriftsmäßigen Bericht im
Schnelldurchlauf abzuhaken und die Sache bis zum Abend in einem Aktenschrank
verschwinden zu lassen.
Er schrak aus seinen Gedanken, als O’Hara mit wieselgleicher Geschwindigkeit
um ihn herum bog und vor der Wand in die Hocke ging.
„Sollen wir das etwa auch mitnehmen?“ Er wies anklagend auf das Staubhäufchen
senkrecht unter dem vorragenden Tischbein.
„Wenn’s geht.“
O’Hara seufzte. „Frank“, brüllte der kleine Mann mit unerwarteter Lautstärke.
„Holst du mal den Staubsauger aus dem Auto?“ Ein bestätigender Rückruf
antwortete. Der Mann von der Spurensicherung fing ein ungläubiges Grinsen von
Fitzumes Gesicht auf. „Was haben Sie denn erwartet? Das ich hier mit dem
Kehrblech anrücke?“ O’Hara schritt mit der Statur eines in seiner Ehre verletzten
Mannes davon.
„Ach ja.“ Fitzume förderte den Notizblock wieder zu Tage. „Willy ist noch etwas
eingefallen. Er glaubt, dass das Mädchen den Vampir nach dem >Bronze< gefragt
hat.“
„Das >Bronze<?“
„Haben wir mehrere?“
Stone schüttelte fast mitleidig den Kopf. „Da erübrigt sich die Fahndung wohl.“
Ein lautes Piepsen – Old Mac Donald had a farm – drang aus den unergründlichen
Tiefen von Fitzumes Mantel. Der Polizist hob seine linke Hand zum klassischen StillZeichen, sah dabei aber aus wie das Stunt-Double von Peter Falks Columbo, und
zog mit rechts sein Handy. Stone nutzte das Telefonat, um sich eine neue Zigarette
anzustecken.
„Ah“, kam es von Fitzume. „Wirklich? Wie schreibt sich das? Wie man es spricht.“
Triumphierend schaltete Fitzume sein Handy aus und verkündete: „Der Kollege aus
dem Hotel. Unser Mädchen hat sich ins Gästebuch eingetragen. Leider nur mit einem
seltsamen Vornamen.“
„Und wie lautet der?“
Fitzume blickte spontan auf seine Notizblock, bis ihm auffiel, dass er gar nichts
aufgeschrieben hatte. Verlegen ließ er den Block verschwinden. „Kendra.“
Stone stieß eine Rauchwolke aus. „Sagt mir nichts“, sinnierte er. „Kendra.“ Er sah
sich nachdenklich um. „Irgendwas sagt mit, dass wir den Namen nicht zum letzten
Mal hören.“
London, 1978: Jugendsünden
Die Rundumleuchte des Krankenwagens zeichnete zuckende Muster auf den
düsteren rissigen Asphalt der Straße. Die wenigen intakten Straßenlaternen schufen
bei Nacht in diesem verrufenen Teil der britischen Hauptstadt so etwas wie ein
unheimliches Halbdunkel, in dem sich mehr verstecken konnte, als enthüllt wurde.
Ein junger Polizist stand schweigend neben seinem Dienstwagen und beobachtete
die beiden Sanitäter, die vorsichtig die Trage mit dem bewegungslosen Körper durch
die Tür des halbverfallenen alten Hauses bugsierten. Thomas Sutcliffe fluchte stumm
und zog sich leise in die finstere Seitenstraße zurück, in der seine Freunde ihn
erwarteten.
Deidre Page trat langsam von einem Bein auf das andere und kämpfte damit
gegen die Kälte der Frühlingsnacht an. Philip Henri, Ethan Rayne und Rupert Giles
verharrten stumm und unbeweglich. Keiner sah den anderen an.
„Sie haben Randall nicht helfen können“, sagte Thomas tonlos und schwach. „Sie
tragen ihn gerade raus.“
„Habt ihr ein Wunder erwartet?“, entgegnete Ethan mitleidlos und giftig.
Natürlich hatte er recht. Sie hatten sich auf ein Spiel mit dem Feuer eingelassen,
hatten den alten etruskischen Dämon Eyghon beschworen, der die Kontrolle über die
Körper von Toten und Bewusstlosen übernehmen konnte. Es war ein Vergnügen an
den Extremen gewesen – sich in Trance versetzen zu lassen und Eyghon als Wirt zu
dienen, versetzte einen in eine euphorische Hochstimmung, mit der kein Drogentrip
mithielt. Nicht zu vergessen der Nervenkitzel eines Kontaktes mit den uralten
Mächten der schwärzesten Magie. Irgendwann musste eine Sitzung schief gehen. Es
hätte jeden aus ihrem Kreis treffen können. Dass Randall nun dort als Leiche in den
Krankenwagen geladen wurde, war nicht mehr als Zufall. So sah Giles es, auch
wenn Ethan ihm widersprach.
„Er hat Mist gebaut, wir konnten ihn nicht retten. Daran können wir nichts mehr
ändern.“
Völlig unerwartet stürmte Giles auf Ethan los, trieb ihn gegen eine Hauswand und
drückte ihm mit dem rechten Unterarm die Luft ab.
„Ruhig, Ripper!“, presste Ethan bewundernswert ruhig vor. „Ein Toter reicht für
eine Nacht.“
„Du verdammter Mistkerl …“, antwortete Giles und brach ab, als sich Deidres
Hand auf seine Schulter legte. Als einziges weibliches Mitglied ihrer Gruppe konnte
es kaum ausbleiben, dass der eine oder andere sich zu verschiedenen Zeiten um sie
bemüht hatte, doch Deidre Page hatte sich nie auf Beziehungen mit
Gruppenmitgliedern eingelassen. Sie nahm die Rolle einer Art von Mittlerin ein, die
beschwichtigend eingriff, wenn mit >ihren Jungs< wieder die Hormone durchgingen.
„Lass ihn, Ripper“, bat sie. „Er kann zwar ein Idiot sein, aber er hat recht. Ein Toter
reicht.“
Giles knurrte unwillig und stieß Ethan zur Seite. Der junge Mann rieb sich den
Hals, sagte aber nichts. Hilflos und von zielloser Wut erfüllt drehte Giles sich um,
versetzte einer Mülltonne einen scheppernden Tritt und blickte dem Krankenwagen
nach, der soeben die Straße verließ. Die Polizei war auch verschwunden. Natürlich.
Ein toter Ausreißer mehr. Sie würden morgen wiederkommen und in der
Nachbarschaft Fragen stellen. Es würde sie nicht weiterbringen, denn hier
interessierte sich keiner für Dinge, die ihn nicht betrafen.
Mit gesenktem Kopf eilte Giles davon, Deidres Rufe verhallten ungehört hinter
ihm.
Die Sonne war ein verschwommener kleiner Ball hinter Morgennebel und
Großstadtsmog. Giles zog seine morgennasse Lederjacke zusammen und
überblickte ratlos die Skyline von London, die sich hinter der Themse erhob. Er
entdeckte die mächtige alte Kuppel der St. Pauls Kathedrale. Der Lärm von Autos
drang von der nahen Brücke an sein Ohr. So viele Menschen ohne die geringste
Vorstellung, was wirklich um sie herum vorging. Im Gegensatz zu ihm. Das war also
sein Leben. Hineingeboren in eine traditionsreiche Wächterfamilie und ausersehen,
einst dem Rat zu dienen, wie sein Vater und seine Großmutter zuvor. Nicht nur die
Jägerinnen hatten ein vorbestimmtes Schicksal zu tragen. Er machte seinen Weg als
guter Sohn, begann in Oxford das Studium der Geschichte und war äußerlich ein
Bilderbuchstudent. Im Inneren spürte er deutlich, wie jeder Tag schlimmer wurde, als
der letzte, eine quälende Folge von gleichförmigen Wochen auf dem Weg zu einem
Ziel, um das er nie gebeten hatte.
Letztes Jahr wurde Giles 21 und er hatte wie in einer Vision seine Zukunft
gesehen: ein langweiliger staubtrockener Bücherwurm des Rates. Ein
brillentragender Zombie ohne ein Privatleben, verurteilt zum Selbstopfer für eine alte
und überhebliche Organisation verkalkter Greise. Kurz darauf lief er davon.
Er musste einfach raus aus Oxford, um nicht zu ersticken, am Mief der
Jahrhunderte. Rupert Giles tauchte unter und der >Ripper< nahm seinen Platz ein.
Ein Rebell, der keine Angst kannte, sich gern in Hinterhofprügeleien ziehen ließ,
Drogen probierte und eine Szene erforschte, die sogar noch schwärzer war, als alles,
was die Polizei sich vorzustellen vermochte. Sein Vater würde wahnsinnig, hätte er
nur die geringste Ahnung von den Dingen, die Giles in London gesehen hatte – von
schwarzen Messen bis zu Vampirbordellen. Er hatte dieses Leben genossen, das der
totale Gegenentwurf zu allem war, zu dem man ihn erzogen hatte. Es war ein
endloser berauschender Spaß – bis heute Nacht. Es hatte doch nie jemand sterben
sollen … Erst recht kein Freund.
Giles hatte alle Regeln des Rates für altmodisches Zeug gehalten, verfasst vor
Jahrhunderten von spießigen verknöcherten Leuten, die den Menschen keine
Fähigkeit zu eigenen Entscheidungen zubilligten. Doch hätte er sich an die Regeln
gehalten …
Giles erhob sich von der Parkbank und ging zögernd zu der urbritischen roten
Telefonzelle, die er seit zwei Stunden anstarrte. Als er aus Oxford fortgegangen war,
ließ er ein Leben hinter sich und erfand ein neues. Doch was sollte er nun machen,
wo ihm dieses neue Leben seine hässlichste Fratze gezeigt hatte? Warten, bis er auf
einer Barre davongetragen wurde?
Er hörte durch den Hörer, wie es am anderen Ende läutete. Dann wurde
abgenommen und eine Stimme meldete sich, die zu hören Giles gefürchtet hatte, wie
nichts sonst auf der Welt.
„Hey Dad“, sagte er und kam sich wahnsinnig idiotisch vor. „Ich bin’s …“
Sunnydale, 2000: Besuch
Das Hämmern dröhnte quälend und aufdringlich in seinem schmerzenden Kopf.
Widerwillig richtete sich Giles auf und umklammerte hilfesuchend die Lehne des
Sofas, bis der Raum aufhörte, sich schwankend vor ihm hin und her zu bewegen. Es
musste Tag sein, denn die Sonne schien grell durch die Fenster hinein in sein
Wohnzimmer und zwang den Wächter, die Augen zu Schlitzen zusammenzukneifen.
Er hob schützend die Hand vor das Gesicht und versuchte, sich zu besinnen, wie er
hierher gekommen war. Der Wächter entsann sich nicht, was er am Abend zuvor
gemacht hatte. Wenn er ehrlich war, konnte er sich selbst an die letzte Woche nur
noch verschwommen erinnern.
Da war wieder das enervierende Geräusch, das er jetzt als ein energisches
Klopfen an seiner Wohnungstür erkannte. Wer konnte das sein? Oz, Larry, Nancy?
Nein. Nicht Nancy. Dann blieben wohl nur noch die beiden jungen Männer übrig.
Langsam gingen Giles Bilder der letzten Monate durch den Kopf. Nach dem Tod der
Jägerin war für ihn eine Welt zusammengebrochen. Der Wächterrat machte ihn nicht
verantwortlich für das, was geschehen war – Jägerinnen starben seit Jahrtausenden
im Kampf. Buffy Summers war nicht die erste und würde nicht die letzte sein. Als
man ihn ausbildete, um selbst eine Jägerin zu betreuen, da hatte er das gelernt und
akzeptiert. Es änderte nichts daran, dass er sich selbst die Schuld an den
Geschehnissen gab. Für ihn war das wichtiger als jeder Kommentar des Rates. Er
erkannte, dass er nicht länger würde ertragen können, jemanden zu verlieren.
Ebenso erkannte er, dass er ohne Hilfe nie eine Chance gegen den Meister und
seine Ausgeburten der Hölle würde haben können. Am Ende dieses Lernprozesses
kam Rupert Giles an den Punkt, an dem er einsah, dass sein Kampf gescheitert war.
Kurz darauf kündigte er als Bibliothekar der Sunnydale High und riet Oz und Larry,
sich in Sicherheit zu bringen, solange die Vampire nicht die totale Kontrolle besaßen.
Er überließ ihnen alle Waffen, die sie wollten, und ignorierte ihre anklagenden und
fassungslosen Gesichter, als er die High School für immer hinter sich ließ. Er hatte
keine Ahnung, wie viel Zeit seither vergangen sein mochte. Es war nicht wichtig.
Nichts war mehr wichtig. Er sah keine Nachrichten mehr und warf die Zeitungen
ungelesen in den Müll. Er wollte nichts über die Entwicklung in der Welt wissen, die
an ihrer eigenen Ignoranz zugrunde gehen würde. Wie er sich irgendwann
eingestand, wartete er nur auf den Tag, an dem die Vampire vor seiner Tür standen.
Vermutlich würde er sie herein bitten.
Es klopfte wieder, sehr kraftvoll und entschlossen. Vampire konnten das jedenfalls
nicht sein. Giles stand ächzend und unwillig auf und strich sich matt über das
Gesicht. Bartstoppeln raschelten. Er versuchte, das zerknüllte Stück Tweed an
seinem Körper wieder in eine präsentable Form zu bringen, gab aber rasch wieder
auf. Da würde bestenfalls noch ein Bügeleisen helfen.
„Ja!“, rief er heiser. „Ich komme.“ Er wich einem Bücherstapel aus und trat dabei
gegen eine grüne Flasche, die klirrend zur Seite kullerte. Angesichts seines
Zustandes und der Lage in seiner Wohnung, verzichtete Giles auf einen Blick in den
Spiegel. Es war ohnehin nichts zu retten. Schicksalsergeben öffnete er die Tür und
sah überrascht in das unbekannte Gesicht einer hübschen jungen dunkelhäutigen
Frau. Sie war groß, schlank und irgendwie exotisch, mit einer hohen Stirn, hohen
Wangenknochen und langen schwarzen Haaren, die im Nacken
zusammengebunden in einen Pferdeschwanz übergingen. Um den Hals trug sie ein
auffälliges prächtiges Medaillon.
„Sir“, sagte sie vorsichtig mit einer wohlklingenden förmlichen Stimme. „Sind Sie
Giles? Rupert Giles?“ Er nickte und massierte sein Genick.
„Ja?“ Sie nahm automatisch eine Stellung ein, die Giles irritiert als ehrfürchtiges
Strammstehen einordnete.
„Ich bin Kendra“, stellte sich das Mädchen vor. „Die Vampirjägerin.“
Giles trat erschrocken einen Schritt zurück und dachte nur: Nein, bitte nicht. Sie
verstand seine Geste wohl als Einladung, denn Kendra schlüpfte an Giles vorbei in
seine Wohnung hinein, wo sie angesichts des Durcheinanders erst mal fassungslos
wirkte. Sie bedachte den Wächter mit einem forschenden Blick, enthielt sich aber
jeden Kommentars.
„Wie … was machst du hier?“, fragte Giles und kratzte sich ratlos am Kopf.
„Mein Wächter schickt mich, Sir. Sam Zabuto. Er sagt, dass die Zeichen auf eine
ungeheure Gefahr deuten, die von Sunnydale ausgeht.“
Giles hätte beinahe laut aufgelacht. Sam Zabuto war ihm namentlich als überaus
fähiger Mann bekannt. Aber um zu wissen, dass in Sunnydale der Teufel
ausgebrochen war, brauchte man definitiv keine Wahrsager mehr. Giles setzte sich
und rückte seine verrutschte Brille zurecht. Als er bemerkte, dass Kendra
unverändert stand, bedeutete er ihr, dass sie ebenfalls platz nehmen durfte.
„Danke, Sir“, sagte sie höflich und hob schweigend einen Bücherstapel von dem
Stuhl.
„Nun.“ Giles lehnte sich zurück, bemüht um eine vertrauenswürdige
Wächterausstrahlung. „Was weißt du?“
„Vielleicht könnten Sie mir kurz einen Überblick geben?“, bat sie. „Mein Wächter
sprach von einem sehr mächtigen Vampir, der ‚Meister’ genannt wird. Mir ist es
bereits gelungen, seinen Aufenthaltsort ausfindig zu machen.“
Vermutlich war sie stolz auf diese Leistung. Ihr war offensichtlich nicht klar, dass
der Meister sich keineswegs versteckte. Giles stand auf und nahm eine ziellose
Wanderung auf, die ihm helfen sollte, seine Gedanken zu ordnen.
„Mr. Zabuto hat dich richtig informiert. Der Meister ist unser örtlicher Vampirfürst.
Sehr alt, sehr stark. Extrem gefährlich. Er residiert in einem alten Nachtclub,
kommandiert aber Hunderte von Vampiren. Wenn nicht mehr. Ich kann nicht sagen,
wie groß seine Macht schon ist und wie weit sein Einfluss reicht.“ Giles hielt an und
mustert Kendra. „Er hat deine Vorgängerin getötet.“
Kendra erstarrte schockiert. Sie atmete zischend ein. Giles hatte vermutet, dass
ihr davon nichts gesagt worden war. Normalerweise wussten Jägerinnen nichts über
die Identitäten und Todesumstände ihrer Vorgängerinnen – das war Aufgabe der
Wächter.
„Sie war eine starke junge Frau.“
„Sie war nicht gut genug“, erwiderte Kendra, die sich gefangen zu haben schien.
Es war das Selbstbewusstsein dessen, der überleben will, mit dem sie sprach. Eine
Jägerin, die einen Feind für überlegen hielt, hatte schon verloren.
„Was willst du nun tun?“, fragte Giles. Sie schüttelte etwas hilflos den Kopf.
„Welche Anweisungen haben Sie für mich, Sir?“
Giles hatte es vom ersten Moment an geahnt und fand seinen Eindruck bestätigt.
Kendra war von ganz anderem Kaliber als die unabhängige und todesmutige Buffy
Summers, die gegen seinen ausdrücklichen Willen den Meister angegriffen hatte.
Kendra hatte man erzogen, in traditionellen Bahnen zu denken. Für sie war der
Wächter ein fast übermenschliches Wesen und sie nur ein Werkzeug der Vorsehung,
das die Welt verteidigte und im Zweifellsfall geopfert wurde. Was musste sie wohl
vom ihm denken, zerknittert, unrasiert und mit offensichtlicher Alkoholfahne? Er
musste ihr Weltbild ins Wanken bringen, so deutlich widersprach er dem Ideal des
allwissenden Wächters. Dennoch würde sie seine Befehle befolgen, wie sie auch
lauten mochten. Dazu legitimierte ihn allein die Tatsache, das Zabuto sie zu ihm
geschickt hatte.
„Deine Vorgängerin …“ Er vermied es, sie Buffy Summers zu nennen – Kendra
sollte nicht damit belastet werden. „Sie bestand darauf, sich dem Meister zu stellen.
Leute, die dabei gewesen sind, haben mir berichtet, dass sie Gefangenen zur Flucht
verhalf und ihnen damit das Leben rettete Doch im direkten Zweikampf mit dem
Meister …“
„Waren Sie ihr Wächter?“
Giles schüttelte den Kopf. Beinahe hätte er gesagt: Leider nicht. „Sie kam von
außerhalb zu Hilfe.“ Er wühlte in seinen Büchern und förderte schließlich eine
zerrissene uralte Ausgabe zu Tage. Kendra las den Titel, als er damit zu ihr trat.
„Der Pergamon-Kodex?“ Sie klang erstaunt und ehrfürchtig. „Ich dachte, er
existiere nicht mehr.“ Damit beeindruckte sie Giles zutiefst. Ihre Ausbildung musste
erstklassig gewesen sein.
„Man hielt ihn Jahrhunderte lang für vernichtet. Er enthält die berühmteste
Sammlung von Prophezeiungen über die Jägerin. Man sagt, der Kodex sei
unfehlbar.“ Giles schlug eine Stelle auf, die er mit einem Lesezeichen markiert hatte.
Mit bitterer Stimme fuhr er fort: „Ich erhielt ihn leider erst danach. Es stehen viele
erstaunliche Dinge darin.“ Er machte eine Pause, in der er um seine Fassung rang.
„Diese hier handelt von der Bestimmung der Jägerin, dem Meister gegenüber zu
treten. Und zu sterben.“
„Es war nicht ihre Schuld“, erklärte Kendra.
Giles schlug das Buch zu. „Es war meine Verantwortung.“
„Steht da auch etwas über … die nächste Jägerin? Mich?“ Er verneinte, was
Kendra sichtlich beruhigte. „Dann liegt es nur an mir.“
„Ich kann dir nicht verbieten, den Meister anzugreifen. Du bist die Jägerin, es ist
deine Aufgabe, diese Risiken einzugehen. Ich würde es dir gern verbieten, doch
eines Tages wirst du oder eine andere Jägerin ohnehin auf ihn treffen. Weil er dann
so mächtig sein wird, dass er zu dir kommt.“
„Sie lassen mir freie Hand, Sir?“ Sie erweckte nicht den Eindruck, als sei sie
wirklich glücklich damit. Giles war es ebenso wenig. Er sah den Kodex böse an, als
sei das wertvolle Buch der Quell allen Unheils.
„Du wirst auf jeden Fall nicht allein gehen. Dies hier wird die Entscheidung sein, so
oder so. Möglicherweise kann ich uns Hilfe organisieren.“
„Sie kommen!“, stellte Larry lapidar fest und behielt die Straße im Auge. Neben
ihm umklammerte Oz den Zündschlüssel. Gleich würde er auf Larrys Signal hin den
Motor starten, der Lieferwagen würde die kleine Böschung hinab schießen und die
Deckung der Bäume verlassen, die sie noch vor neugierigen Blicken schützte. Sie
würden den Wagen von >Sunnydale Recycling< zum Anhalten zwingen. Danach
würden sie die Vampire ausschalten und deren Gefangene befreien. So sah es
jedenfalls der Plan vor. Kein sehr guter Plan, angesichts der Tatsache, dass sie
weder die Stärke noch die Waffen des Feindes kannten – aber der einzige Plan, den
sie hatten.
Nach dem Kampf in der Fabrik waren sie beide entkommen, konnten aber nichts
tun, um die erfolgreich getestete Maschine des Meisters zu zerstören. Die Fabrik lief
– und sie war nur die erste. Augenscheinlich gehörte die völlige Auslöschung
Sunnydales vorerst nicht zu den Plänen des Meisters, er wäre auch ziemlich dumm
gewesen. Schließlich bot die Stadt nicht nur Nahrungsreserven, sie war auch ein
hervorragender Schutzschild. Solange Sunnydale die glückliche Kleinstadt am Pazifik
blieb, stellte der Rest der Welt keine unangenehmen Fragen. Soweit es Larry und Oz
beurteilen konnten, gingen die Vampire zuerst auf den nächtlichen Straßen von LA
auf Beutejagd. In der Millionenstadt, die nur wenige Autostunden entfernt lag, fielen
ein paar Ausreißer oder vermisste Obdachlose nicht weiter auf. In den letzten zwei
Monaten mehrten sich jedoch die >Lieferungen< aus den unmittelbaren
Nachbarstädten Sunnydales. Eine Tatsache, bei der es Larry eiskalt den Rücken
herunterlief. Wenn in den Siedlungen der Umgebung Menschen gejagt werden
konnten, ohne dass es in den Medien auftauchte, dann musste der Einfluss des
Meisters längst viel weiter reichen, als ihre schlimmsten Befürchtungen. Sunnydale
schien zum Zentrum des Bösen mutiert zu sein, von dem aus der Meister seine
Klauen in eine völlig unvorbereitete Welt streckte, die von der Bedrohung
unverändert keine Notiz nahm.
Es würde heute Abend der dritte Angriff dieser Art sein und insgeheim rechneten
Larry und Oz mit einer Falle. Sie waren bereit, dieses Risiko einzugehen. Sie hatten
sich geschworen, lieber kämpfend unterzugehen, als jemals wieder in einem Käfig zu
landen.
„Los“, flüsterte Larry. Oz drehte den Schlüssel und der Motor erwachte heulend
zum Leben. Mit einem protestierenden Jaulen machte der Wagen einen Sprung
vorwärts, Äste schlugen gegen die Scheibe und Dreck prasselte gegen die Seiten.
Dann standen sie auch schon wieder. Die aufgeblendeten Lichter des nahenden
Lieferwagens wurden rasant größer und Larry fragte sich, was sie tun würden, wenn
die anderen es einfach drauf ankommen ließen und nicht anhielten. Da hörte er auch
schon das Quietschen, mit dem der Wagen der Vampire verzögerte und zum Stehen
kam. Oz feuerte sofort seine Armbrust durch das geöffnete Fenster der Fahrerseite.
Die Windschutzscheibe der Vampire splitterte und übergoss sie mit einem Hagel aus
Sicherheitsglas, in den sich eine Staubwolke mischte.
„Guter Schuss“, stellt Larry nüchtern fest. Oz hatte den Fahrer direkt ins Herz
getroffen. Larry sprang aus der Beifahrertür, nutzte ihren Lieferwagen als Deckung
und feuerte einen Pfeil auf den Beifahrer ab. Er schoss nicht so gut wie sein Partner,
der Vampir brüllte vor Wut und Schmerz und zerrte wild an dem Geschoss in seinem
Oberkörper.
Oz sprang nun ebenfalls auf den Asphalt der Straße, gemeinsam mit Larry eilte er
zum gegnerischen Fahrzeug, warf im Vorbeilaufen eine kleine Ampulle Weihwasser
auf den schreienden Vampir. Das dünne Glas des Gefäßes zerbrach sofort und
tauchte den Kopf des Vampirs in die Flüssigkeit, die auf seinesgleichen wie Säure
wirkte. Die beiden Menschen ignorierten, dass der verletzte Beifahrer wie ein
verwundetes Tier brüllend und qualmend im Wald verschwand. Es stank ekelhaft
nach verbranntem Fleisch.
Sie verharrten einen Atemzug und lauschten, dann riss Oz die Hintertür des
Wagens auf. Er ging hinter ihr in Deckung, während Larry einige Meter entfernt in
den Laderaum zielte.
„Kommt raus!“, rief er und schon sprang ein grauhaariger Mann mit Krawatte und
kurzärmeligem Hemd heraus, eine Frau in einem zerrissenen Kostüm hinter sich her
ziehend. Oz überzog die Gefangenen von der Seite mit einem dichten Nebel aus
einer Sprayflasche. Das war eine ihrer ausgefallensten aber auch erfolgreichsten
Ideen: Sprayflaschen mit Weihwasserfüllung. So konnten sie in großen Gruppen
relativ schnell zwischen Freund und Feind unterscheiden und im Nahkampf war es
einen effektive Waffe, die einem Vampir stärker zusetzte, als Pfefferspray einem
Menschen. Die Leute erkannten offensichtlich, dass man versuchte, sie zu retten.
„Vorsicht!“, rief die Frau mit einer panikerfüllten durchdringenden Stimme. Larry
wusste nicht, was sie meinte, sah nur ein halbes Dutzend Menschen, die in die
Freiheit flohen. Da krachte der erste Schuss. Ein Mann im Hawaiihemd schrie
unterdrückt auf und stürzte vorwärts, ein roter Fleck erschien auf seinem Rücken und
wurde schnell größer. Larry fluchte lautstark, fand durch die Menschen, die auf ihn
zukamen, aber kein Ziel, auf das er hätte anlegen können. Die Wahl der Waffe – eine
Pistole – verriet jedoch genug.
Die meisten Vampire, selbst die Jüngeren, bevorzugten den Kampf mit bloßen
Händen oder den traditionellen Waffen wie Schwert und Armbrust. Den großen
Unterschied dazu bildete eine spezielle Vampireinheit, die gerüchteweise aus
ehemaligen Soldaten einer Spezialeinheit bestand. Seit den Ereignissen in der
Fabrik bildeten diese Kämpfer den Kern der neuen Leibwache des Meisters und
dessen neuer Vorliebe für moderne Technologie folgend, waren sie mit der
aktuellsten Ausrüstung ausgestattet.
Nun sah Larry seinen Feind: zwei Männer in Kampfanzügen, Sturmhauben über
dem Gesicht und die Augen mit Schutzbrillen geschützt. Dagegen konnte Oz
Weihwasser wenig ausrichten. Der rechte hob mit überheblicher Gelassenheit seine
Pistole und zielte auf ein junges Mädchen, während der andere Soldat sein Gewehr
auf Larry anlegte. Der junge Mann warf sich gleichzeitig zur Seite und drückte den
Auslöser der Armbrust.
Sein Pfeil verfehlte den Gewehrschützen, dafür ging auch dessen Kugel knapp an
Larrys Kopf vorbei. Oz warf sein ganzes Gewicht gegen die Autotür und schleuderte
sie damit gegen den linken Vampir mit dem Gewehr. Das junge Mädchen schrie
verzweifelt, als die Pistolenkugel sich in ihren Arm bohrte. Halb auf der Straße kniend
lud Larry nach und vergewisserte sich erleichtert, dass sich Oz mit einem
Hechtsprung vor dem Vampir mit der Pistole in Sicherheit brachte, der nun sein
gesamtes Magazin ziellos durch die Autotür verballerte.
Larry zielte kurz und drückte ab. Der Kerl mit der Pistole löste sich in Staub auf.
Gleichzeitig schoss sein Kumpel aus dem Auto und erreichte Larry, bevor der noch
reagieren konnte. Seine Welt verschwand hinter einem Sternenregen, als ihn der
Gewehrkolben an der Schläfe erwischte. Der Soldat trat die Armbrust aus Larrys
Hand, sie verschwand ratternd über den Asphalt. Ohne eine Pause wirbelte der
Vampir herum und schoss auf Oz, der seinerseits mit seiner Armbrust den Vampir im
Visier hatte. Der Rückspiegel des Lieferwagens explodierte in einem Glashagel,
Benommen tastete Larry nach einer Waffe, da hörte er ein dumpfes Krachen, so
als sei etwas auf dem Autodach gelandet. Sekundenbruchteile später kollidierte ein
schwarzer Schatten von oben mit dem Soldaten und fegte ihn von den Beinen.
Außerhalb seines Sichtfeldes hörte Larry das charakteristische Geräusch eines
explodierenden Vampirs. Immer noch benebelt sah er zu einer hübschen jungen
Frau mit einem prächtigen Medaillon auf, die ihn skeptisch betrachtete.
„Wie habt ihr bisher eigentlich überlebt?“, fragte sie.
Oz ließ die Armbrust sinken und verließ seine Deckung. Einige der befreiten
Gefangenen kümmerten sich um die Verwundeten. Er selbst hatte nur Augen für das
neu hinzu gekommene Mädchen, das so völlig problemlos einen Vampir vernichtet
hatte. Tausend Gedanken gingen ihm durch den Kopf: War sie die berühmte
Jägerin? Würde sie ihnen helfen? Was wollte sie hier? Was wollte sie von ihnen?
Vorsichtig ging er zu der Unbekannten hinüber, die scheinbar mit Leichtigkeit den
schwergewichtigen Larry auf die Beine zog. Als sie ihn ansah hob Oz zur Begrüßung
die Hand und sagte: „Hey.“
„Es war nicht ganz einfach, euch zu finden“, verkündete eine wohlbekannte
Stimme, bei deren Klang Oz widersprüchliche Gefühle erfassten. Giles. Er hatte sie
ausgebildet, sie angeführt. Sie im Stich gelassen. Der Wächter machte immerhin
einen gefassteren Eindruck als beim letzten Treffen. „Ich bin froh, dass es euch gut
geht.“ Er wirkte nicht sehr souverän, eher bedrückt und unschlüssig. „Dies ist nicht
die Zeit, um große Erklärungen abzugeben. Dies ist Kendra. Sie ist die Jägerin und
sie will uns helfen, den Meister unschädlich zu machen. Für immer. Wenn es noch
ein uns gibt.“
Oz dachte nach und schwieg. Eine Minute verging und Giles wurde sichtlich
nervös. Schließlich nickte Oz langsam.
„Ok.“
Larry lächelte ihm zustimmend zu.
Sie überließen den befreiten Gefangenen den Lieferwagen der Vampire, mehr
konnten sie momentan nicht für sie tun. Sie konnten den Menschen nicht einmal
sagen, in welcher Stadt sie ein sicheres Krankenhaus finden würden. Für die
Rückfahrt nach Sunnydale, in die Höhle des Löwen, nahmen Oz und Larry ihren
Lieferwagen, Giles und Kendra den Citroen des Wächters. So vor ihnen ausgebreitet
deutete nichts auf das Böse hin, das in der Stadt Fuß gefasst hatte. Nur eine weitere
Kleinstadt an der Westküste. Jemand, der die Stadt seit einigen Jahren nicht
gesehen hatte, hätte sich höchstens über die Dunkelheit in einigen Stadtvierteln
gewundert. Komischerweise waren sich Menschen und Vampire zumindest in ihrem
Bedürfnis zusammenzurücken, durchaus ähnlich.
Zur Überraschung seiner Freunde bat Giles sie, in seiner Wohnung zu warten und
Kendra über die Geschehnisse der vergangenen Jahre genau zu informieren. Er
selbst würde etwas Wichtiges erledigen. Bei Tagesanbruch machte er sich auf den
Weg zu einem Ort, von dem er oft genug gehört, den er aber nie persönlich betreten
hatte: Willys Alibi Room.
Nach Sonnenaufgang war der Laden geschlossen, Giles hatte auch nicht vor, hier
etwas zu trinken oder zu essen. Ihn interessierte etwas anderes. Als er die Bar durch
die noch nicht verschlossene Tür betrat, stellte er erleichtert fest, dass kein Gast
mehr im Geschäftsbereich saß. Willy, ein ausgesprochen unangenehmer schleimiger
Typ, putzte die Theke und hob erstaunt den Kopf.
„Hier ist zu!“, rief er erbost. „Öffnungszeiten stehen draußen dran!“
Giles fragte sich, warum Willy noch lebte. Vermutlich konnte kein Vampir oder
Dämon seiner Kundschaft ihn umbringen, ohne Ärger mit den anderen zu
bekommen. In einen Vampir würde ihn auch kaum jemand verwandeln wollen – wer
wollte die Nervensäge eine Ewigkeit um sich haben?
„Ich bin kein Gast“, antwortete Giles ruhig.
„Wenn Sie nichts wollen, dann kriegen Sie auch nichts.“ Willy werkelte
unbeeindruckt weiter und beförderte Glasscherben in einen Mülleimer.
„Ich habe gehört, Sie hatten hier Ärger?“, erkundigte sich Giles scheinheilig und
mit stiller Schadenfreude, traf damit offensichtlich einen wunden Punkt.
„Ach, irgend so eine daher gelaufene Irre hat ein totales Chaos angerichtet.“ Er
wirbelte mit den Händen in der Luft herum. „Diese Stadt kommt wirklich immer weiter
runter!“ Plötzlich fixierte er Giles. „Was wollen Sie denn jetzt eigentlich von mir?“
Giles trat an die Theke.
„Mit Ihnen reden.“
„Ich bin gut im Reden“, behauptete Willy. „Ich bin Barkeeper. Aber dann sollten Sie
zur Geschäftszeit kommen.“
„Das, worüber ich reden will, sollte besser unter vier Augen bleiben.“
Willy hob abwehrend die Hände. „Ich verpfeife niemanden. Ich bin verschwiegen.
Gehört zum Geschäftskonzept.“
„Aber Sie hören viel.“
„Naja.“ Willy warf sich in Positur. „Mein Laden ist natürlich gefragt und viele
namhafte Persönlichkeiten waren schon hier.“
„Und Sie können Geheimnisse bewahren?“
Willy verzog misstrauisch das Gesicht. „Natürlich hat alles seinen Preis.“
„Natürlich.“
Willy schob sein Gesicht an Giles heran. „Woran dachten Sie so?“
Hätte Willy die Geschichten gekannt, die man sich über den >Ripper< Giles
erzählte, ihn hätte bei Giles Gesichtsausdruck vielleicht ein ungutes Gefühl
beschlichten. Vorsichtig, ohne ein Geräusch zu verursachen, nahm Giles seine Brille
ab und legte sie auf die Theke.
„Nun“, sagte er langsam. „Ich bin sicher, wir werden zu einer Einigung gelangen.“
„Ich habe eine interessante Geschichte gehört.“, verkündete Giles, als er seine
Wohnung betrat. Larry saß am Wohnzimmertisch und bastelte an einer
umfangreichen Waffensammlung herum. Oz und Kendra standen neben ihm und
studierten einen Stadtplan, in den die bekannten Vampirnester eingetragen waren.
„Wenn es was mit Feuerregen und Massaker zu tun hat, dann bin ich weg“,
antwortete Larry trocken und schraubte ohne aufzusehen an einer Armbrust herum.
Giles würdigte ihn keiner Antwort, zog stattdessen einen Bogen Fotos aus der
Tasche und breitete sie auf dem Tisch aus. Sie zeigten alle ein blondes dürres
Mädchen, das einen kränklichen Eindruck machte. Auf einigen Aufnahmen waren
Vampire und andere Menschen erkennbar, die natürlich auch Vampire in
menschlicher Maske sein konnten. Larry fischte eine Großaufnahme heraus.
„Haben Sie Hobbys, von denen wir bisher nichts wussten?“
„Äh, nein“, wehrte Giles konsterniert ab. „Die habe ich von …“
„Das ist Amy“, stellt Oz fest. Larry studierte verblüfft das Bild in seiner Hand. Er
schlug die Hand gegen den Kopf.
„Amy. Ja. Sie war eine Mitschülerin von mir. Das ist ewig her. Ich dachte, sie sei
tot.“
„Offenbar nicht“, sagte Giles und nahm Larry das Foto ab. Er hatte Willy nicht
gefragt, warum der Barkeeper Fotos der jungen Frau besaß und möglicherweise
wollte er diese Geschichte gar nicht kennen.
„Die Leiche ihrer Mutter wurde damals in ihrem Haus gefunden“, fuhr Larry in
Gedanken fort. „In den Zeitungen stand was von Schädelverletzungen, glaube ich.
Sie war verdächtig, doch die Polizei konnte sie nicht finden. Dann verlief sich die
Sache, es gab ja genug andere Probleme.“
„Sie ist noch immer ein Mensch“, führte Giles aus. „Sie dient dem Meister.“
Larrys Gesicht wurde zu einer Maske tiefen Abscheus, während Oz und Kendra
ungerührt lauschten. Seit in Sunnydale die Vampire nicht länger zu übersehen
waren, verlegten sich die meisten verbliebenen Bewohner auf ein Leben mit
geschlossenen Augen. Wenige nahmen den Kampf auf und einige dienten sich den
neuen Herren an. Kollaborateure, aus Angst oder auch aus dem Streben nach
eigenem Vorteil. Diese Helfer hofften auf ein Stück vom großen Kuchen der Macht,
teilweise erhofften sie sich den Schutz der Vampire vor anderen Vampiren, während
manche Diener andererseits irgendwann selbst auf die Verwandlung in einen
Untoten spekulierten. Giles fand es unglaublich, wie sich der Fluch einer Übernahme
durch einen seelenlosen Vampir in manchen Augen in die Eintrittskarte in die Zirkel
der Mächtigen verwandelt hatte.
Nach seiner Unterhaltung mit Willy war Giles nicht sofort zu seiner Wohnung
zurück gefahren. Er streifte durch die Stadt, begutachtete die noch deutlicheren
Zeichen des Niedergangs. Das Rathaus war verwaist, keine Spur von Mitgliedern der
Stadtverwaltung. Es war auf den Straßen noch ruhiger geworden, Teile der High
School wurden offenbar nicht einmal mehr genutzt. Diese Tatsache erschütterte ihn
besonders, deutete sie doch darauf hin, dass es nicht mehr genug Schüler gab. Er
hatte vor Monaten den Schritt gemacht, dem er sich nun stellen musste – er hatte
den Kampf aufgegeben. Nun, durch das Auftauchen Kendras, war er gezwungen,
sich seiner Aufgabe wieder zu stellen. Er würde nicht weglaufen. Giles hatte auf dem
Parkplatz, der sonst keine Autos mehr beherbergte, sein Auto abgestellt und hatte
überlegt, ob er noch einmal, wohl zum letzten Mal, die Bibliothek betreten und seine
Bekannten im Lehrerkollegium aufsuchen sollte. Er tat es nicht.
„Eine Verräterin“, stieß Larry abfällig hervor.
„Inwieweit nützt uns das, Sir?“, erkundigte sich Kendra. Giles schrak aus seinen
düsteren Gedanken auf.
„Diese Amy ist kein normaler Mensch, nach meinen Informationen ist sie eine
Hexe. Eine starke, wie ich annehme.“
„Wie kommen Sie darauf?“, fragte Oz. Zur Antwort zeigte Giles auf das große
Porträtfoto und fuhr mit dem Finger über den deutlich sichtbaren Reif um den Hals.
„Modeschmuck?“ Larry zog eine Augenbraue hoch.
„Kaum“, entgegnete Giles amüsiert. Er wurde sofort wieder ernst, wühlte ein Buch
aus dem Regal und blätterte darin herum, die ratlosen Gesichter seiner Mitstreiter
ignorierend. Schließlich fand er, was er suchte und legte das Buch so neben das
Foto, dass man es mit einer gezeichneten Darstellung vergleichen konnte.
„Ägyptisch?“ Kendra musterte die Symbole neben der Abbildung. Sie war wirklich
gut ausgebildet.
„Ägypten, 1500 vor Christus“, erklärte Giles. „Es ist reiner Zufall, dass ich es
erkannte. Das Band von Athros.“ Mit einem Seitenblick auf Kendra: „Das ist die
griechische Bezeichnung. Es neutralisiert magische Kräfte, indem es sich an der
Energie des Trägers bedient. Es nutzt einen Teil dieser Energie, um den Träger zu
bestrafen, wenn er seine Fähigkeiten nutzt, die überschüssige Kraft wird abgeleitet.
Einem magischen Blitzableiter vergleichbar. Dahinter verbirgt sich eine sehr
interessante Legende, die jedoch nicht hierher gehört.“
„Ob sie das freiwillig trägt?“, warf Oz ein. Giles wies erfreut mit der Hand auf den
jungen Mann.
„Genau! Ich vermute, dass Amy nicht aus freier Entscheidung dem Meister hilft.“
Eine Kunstpause. „Und ich weiß, wie man das Band lösen kann!“
„Wozu sollte das gut sein?“, fragte Larry skeptisch.
„Es könnte sehr hilfreich sein, eine Magiekundige in unseren Reihen zu haben, die
ja leider ohnehin nicht sehr groß sind. Zumal, wenn sie Informationen über den Feind
besitzt“, gab Giles zu bedenken. Oz nickte.
„Wie können jede Hilfe brauchen, die wir kriegen können.“ Giles wirkte ratlos.
„Habe ich das nicht gesagt?“
„Und wenn sie doch auf deren Seite ist, dann sind wir geliefert.“ Larrys Abneigung
gegen jene, die sich den Vampiren unterwarfen, war Giles wohl bekannt, er verstand
ihn gut. Der Wächter griff nachdenklich an seine Brille.
„Es wird auf jeden Fall gefährlich“, versuchte er zu verdeutlichen, was allen klar
war. „Unsere Chancen sind nicht die besten. So oder so.“
Mit hinter dem Rücken verschränkten Armen und betont gerader Haltung stieg
Riley Finn die Marmortreppen hinauf. Den Soldaten, die am Kopfende Wache hielten,
warf er ein wohlwollendes Nicken zu. „Johnson“, begrüßte er sie. „O’Connel.“
Es waren leider nicht mehr viele seiner Kameraden aus den Tagen der Initiative
übrig, höchstens zwei Dutzend, von denen 13 wieder unter seinem Kommando hier
Dienst taten. Die prächtige zweigeschossige Villa am Stadtrand war der neue
Herrschaftssitz des Meisters. Seit den Ereignissen in der Fabrik zog er es vor, nicht
mehr im leicht zugänglichen >Bronze< zu residieren. Riley war sich nicht ganz sicher,
ob dahinter die Angst vor einem weiteren Anschlag steckte, oder eine bewusste
Abkehr von der gewohnten Lebensführung der letzten Jahre. Es ging etwas vor, das
spürte Riley sehr genau. Die Nächte, in denen nur der Spaß und das eigene
Vergnügen die Vampire in Sunnydale getrieben hatten, waren gezählt.
Ohne seine Schritte zu verlangsamen ging er durch den schmalen Flur auf die
schwere Tür aus Eichenholz zu, die ein Soldat vor ihm öffnete. Der neue Thronsaal
des Meisters. Ein deutlich größerer und einschüchternder Raum, als jenes unwürdige
kleine Nebenzimmer im >Bronze<. Er entsprach ganz Rileys Vorstellungen von
einschüchternder Repräsentanz, die einen Herrscher umgeben sollte.
Der Meister erwartete ihn an einem Tisch stehend, den Riley als >Arbeitstisch<
bezeichnet hätte, wäre ihm dies Beschreibung im Zusammenhang mit dem Meister
nicht irgendwie paradox vorgekommen. Der alte Vampir war kein Diktator im
menschlichen Sinne und er erledigte sicherlich keinen Schriftkram.
„Ah, Riley“, machte der Meister erfreut, als sei das Auftauchen des
Kommandanten seiner Leibwache eine Überraschung. Dabei hatte er Riley selbst zu
sich bestellt. „Wie sieht es da draußen aus?“
Nach seiner Verwandlung hatte Riley die simple Hierarchiestruktur der Vampire
rasch durchschaut und es verstanden, sich dem Meister ebenso als Helfer zu
präsentieren, wie er Professor Walshs Arbeit unterstützte. Nach Walshs Vernichtung,
die für Riley einem Glücksfall gleich kam, war der Weg für ihn frei. Luke hatte dem
Meister jahrhundertelang als ausführende Instanz gedient, als der Mann fürs Grobe.
Niemand aus dem Umfeld des Herrschers konnte diese Lücke füllen, besaß genug
Kraft, Durchsetzungsvermögen oder Fähigkeiten. Willow und Xander mochten des
Meisters Lieblingskinder gewesen sein, doch sie waren ohne jede Disziplin. Dieses
verspielte genussvolle Leben gefiel dem Meister sehr, es disqualifizierte die beiden
aber auch für verantwortungsvolle Aufgaben. Es blieb er, Riley, der militärisch
geschulte neue Mann an des Meisters Seite.
Seine Tauglichkeit als rechte Hand hatte er mehrfach erfolgreich demonstriert,
zuletzt mit der Gründung der bewaffneten Kampfeinheiten. Seinen Plänen nach
würde es bald 12 Einheiten geben, jede von einem ehemaligen Initiativeoffizier
befehligt. Darüber würden nur sein Stellvertreter stehen, er – und der Meister.
„Es läuft alles exakt nach Plan“, antwortete Riley. Früher hatte der Meister ihn
manchmal gefragt, wie seine letzte Jagd verlaufen sei, doch meist musste Riley ihn
enttäuschen. Er fand es befremdlich, dass der alte Vampir mit seinen Fabriken
einerseits die traditionelle Lebensweise bekämpfte, andererseits aber mit
Begeisterung die Leidenschaft der jüngeren Vampire teilte. Riley legte wenig Wert
auf die Jagd, da vertrat er ganz die Ideologie, die der Meister und Walsh in die Welt
gesetzt hatten. Es gab bessere Dinge, sich die Zeit zu vertreiben.
Der Meister seufzte und nickte. „Ich weiß, dass ich mich auf dich verlassen kann.“
Riley fragte sich, ob dahinter eine versteckte Botschaft steckte. Tatsächlich war ihr
Verhältnis nicht unbelastet. Insgeheim liebäugelte Riley längst mit der Möglichkeit,
den Vampirherrscher, der ihn meist eher behinderte, los zu werden. Doch das war
reine Zukunftsmusik. Vampiren fehlten im Allgemeinen jegliche Disziplin und das
Zusammengehörigkeitsgefühl. Sie unterwarfen sich dem Meister, doch ohne ihn
würden sie in alle Welt davon eilen und alle Strukturen würden wieder zerbrechen,
die sie mühsam aufgebaut hatten. Riley mochte die Strategien entwickeln, doch auf
lange Sicht brauchte er die Autorität des Meisters, um sie durchzusetzen. Er war klug
genug, um nicht zu denken, dass er den Meister ersetzen könnte. Leider.
„Was kann ich für Sie tun?“, fragte er liebenswürdig.
„Ich hatte viel Zeit zum Nachdenken“, erklärte der Meister. „Zum Studium. Ich
habe die Jahrzehnte aufgeholt, die ich leider … untätig sein musste. Ich habe viel
erfahren, überraschende und bedrohliche Neuigkeiten. Die Menschen mögen uns in
vielerlei Hinsicht unterlegen sein, aber sie könnten zu einer weit größeren Bedrohung
werden, als ich es vermutet hatte. Sollten sie je erkennen, was hier vor sich geht.“
Das war Riley nicht neu. Im Gegenteil. Nach der Vernichtung der Initiative war es
gelungen, einige Monate die wahren Ereignisse zu verschleiern, doch zweifellos
wusste das Pentagon sein längerem, dass seine spezielle Forschungseinrichtung
nicht mehr existierte. Sie hatten erfolgreich den Militärstützpunkt von Sunnydale
infiltriert und übernommen, doch mit jedem Schritt wuchs die Gefahr, dass man in
Washington das wahre Ausmaß begriff und zurückschlug. Aus den Berichten seiner
Spione – Vampire, Menschen, Dämonen – schloss Riley, dass das Einflussgebiet der
Untoten unmerklich isoliert und unter eine stillschweigende Quarantäne gestellt
wurde.
„Was denkst du?“, fragte der Meister offen. Riley erwog kurz seine Alternativen
und entschloss sich für die volle brutale Wahrheit.
„Unsere Macht im näheren Umkreis ist uneingeschränkt. Dennoch würden wir
einem umfassenden Großangriff letztlich erliegen. Gegen eine große Armee der
Menschen mit einigen tausend Soldaten …“ Er selbst hatte Pläne für die Möglichkeit
einer Invasion ausgearbeitet, um sich darauf vorbereiten zu können. Er konnte dem
Meister die Stellen benennen, von denen aus schwere Artillerie optimale
Schusslinien auf die Vampirgebiete hatte. Nach dem vorbereitenden Beschuss
strategischer Ziele, unterstützt durch Luftangriffe, würde er Luftlandekommandos an
neuralgischen Punkten von Hubschraubern absetzen lassen. Schließlich ein
weitreichender Einkesselungsangriff zu Lande und die Eröffnung einer zweiten Front
im Hafenviertel durch Marineinfanterie von Kriegsschiffen aus. Ihre Leute würden
beklagenswert wenig dagegen tun können. Sie hatten die Waffen der Initiative und
aus dem Stützpunkt, aber keine Flugzeuge, die ihnen bei Tag ohnehin nichts
nutzten. Natürlich besaßen sie noch die Stärke der Vampire, gegnerische Soldaten
verwandeln zu können. Leider dauerte die Umwandlung aber ihre Zeit. Zu lange, im
Zweifelsfall. „Die Wahrheit ist vermutlich, dass man uns gewähren lässt, solange wir
uns nicht zu weit vorwagen. Noch will die Regierung nicht, dass die Weltöffentlichkeit
von Vampiren und Dämonen erfährt. Diese Geheimhaltung ist ihnen wichtiger. Noch.
Eine Militäroperation würde darüber hinaus hohe Verluste fordern, auch unter der
Zivilbevölkerung.“
„Aber sie werden es tun, wenn es ums Überleben geht?“
„Wenn es hart auf hart kommt, zweifele ich nicht daran, dass alle Mittel eingesetzt
werden.“ Überraschend wirkte der Meister keineswegs erbost oder missmutig. Er sah
aus, als hätte er genau diese Antwort von Riley erwartet.
„Bei meiner Beschäftigung mit den Ereignissen der letzten sechs Jahrzehnte, bin
ich auf ein interessantes Konzept gestoßen. Es nennt sich >Kalter Krieg<.“
Riley verstand. „Wenn ein Angriff ausgeschlossen ist, weil der Preis des Sieges
einer Niederlage gleich kommt.“
„Sie können diese ganze Stadt in Sekunden auslöschen und im Notfall täten sie
es, ungeachtet der Opfer unter ihresgleichen.“ Der Meister griff nach einem Buch auf
seinem Tisch und präsentierte Riley eine Seite mit einem großformatigen Foto in
Schwarz-Weiß. Es musste sich um ein Geschichtsbuch handeln, das der Meister für
seine >Studien< benutzte. Das Bild war Riley wohl bekannt: eine menschenleere
Wüstenei, im Hintergrund eine Gebirgskette. Bei genauem Hinsehen zeichneten sich
die Reste von kahlen Bäumen ab, trümmerbedeckte Straßen verliefen zwischen
Grundrissen, nur wenige eingedrückte und zusammengestürzte Gebäude waren
noch als solche identifizierbar. „Du warst Soldat der Armee dieses Landes, Riley. Du
weißt, wie wir den Militärstützpunkt übernahmen?“
Natürlich war Riley bekannt, was mit den Anlagen der US Army in Sunnydale
geschehen war. Eine einfache Sache: einige Soldaten wurden außerhalb des
Stützpunktes geschnappt, verwandelt und als Vampire zurück geschickt. Der Rest
lief von selbst.
„Ich möchte, dass du deine Erfahrung nutzt und Vorbereitungen triffst, um auf
dieselbe Weise andere Militäranlagen in diesem Staat zu unterwandern. Wie schwer
wäre es wohl für uns, Anlagen unserer Kontrolle zu unterwerfen, die über
Atomwaffen verfügen?“
Rileys Augen leuchteten …
„Dingoes ate my Baby?“, fragte Kendra verschreckt. Oz nickte.
„War ´ne coole Band.“
„Wer denkt sich so einen Namen aus?“
„Alles nur Marketing“, rief Larry spöttisch aus der Kochnische von Giles Wohnung
und klapperte mit einigen Töpfen herum. „Allerdings sagt der Name einiges über ihre
Musik aus.“
Oz würdigte seinen langjährigen Mitstreiter keiner Antwort, sondern wies mit dem
Daumen zur Tür. „Der Lieferwagen war unser Tourbus. Ein paar Bänder müssten
noch da sein.“
Mit einem hinterhältigen Grinsen im Gesicht balancierte Larry eine Hand voll Eier
aus Giles Kühlschrank. „Tue es dir besser nicht an. Du kannst Vampire überleben,
aber es gibt Dinge, die sind …“ Er verdrehte die Augen.
Kendra verzog ratlos das Gesicht. „Warst du auch in der … Band?“
Larry lachte auf. „Ich war ein angesehener Schüler mit einer großen Zukunft im
Profisport. Ein ganz normaler Typ. Habe nie für die Schule gelernt, die Zwerge aus
den kleineren Klassen verprügelt …“ Er seufzte mit gekünstelter Rührung.
„Was für Musik magst du?“, erkundigte sich Oz. Er trauerte noch immer der Zeit
nach, in der seine größten Sorgen seiner Gitarre gegolten hatten. Im neuen
schlechteren Sunnydale war kein Platz mehr für große Auftritte vor
Menschenmengen. Die Band hatte sich nie offiziell aufgelöst, sie verschwand
einfach. Oz wusste nicht, was aus seinen Freunden von damals geworden war.
„Ich weiß nicht“, gab Kendra schüchtern zu. „Mein Wächter erlaubt mir so was
nicht.“
„So was?“
„Musik.“
„Habt ihr kein MTV in der Karibik?“, mischte sich Larry wieder ein. Kendra wirkte
peinlich berührt.
„Fernsehen gehört auch zu den Dingen …“
„Meine Güte!“ Larry lehnte sich auf die Arbeitsfläche und sah zu den beiden, die
am Wohnzimmertisch saßen. „Sagt dir dein Wächter wenigstens, welches Jahr wir
haben?“
„Ich bin die Jägerin“, verteidigte sich Kendra. „Meine Aufgaben sind zu wichtig, um
mich ablenken zu lassen.“
„Ablenkung!“ Larry nickte mit verzogenen Mundwinkeln. „Ich nehme an, ausgehen
ist da auch nicht drin.“ Kendra verdrehte flehend die Augen und Larry winkte ab.
„Keine Jungs. Ich bezweifele ernsthaft, dass ich so leben könnte.“
Kendra setzte zu einer Erwiderung an, runzelte dann die Stirn und dachte über
Larrys Worte nach. Bevor sie zu einem Ergebnis kommen konnte, hörten sie den
Schlüssel im Schloss der Haustür knacken. Niemand sagte mehr als eine
Begrüßung. Sie wussten, dass Giles einen letzten Besuch an Jenny Calendars Grab
gemacht hatte, während sie sich auf den Abend vorbereiteten, der nun über alles
entscheiden sollte. Giles sog den Duft aus der Küche ein und lächelte. Larry hob die
Hand und tippte an seine Stirn.
„Wir dachten uns: wenn schon Henkersmahlzeit, dann soll sich’s auch lohnen.“
Der Himmel hinter den flachen Gebäuden versank in tiefem Purpurrot. Amy lehnte
sich zurück und genoss mit halbgeschlossenen Augen die letzten wärmenden
Strahlen auf ihrer Haut. Sie genoss die Ruhe, die so bald vergehen würde, wenn im
>Bronze< die Vampire loslegten. An die Musik hatte sie sich längst gewöhnt. Es
waren das Gelächter, die Schreie und diverse andere Geräusche, die ihr in manchen
Nächten eine Gänsehaut bereiteten, ihr in anderen Tränen der Wut oder der
Ohnmacht über die Wangen laufen ließen.
Sie spürte den Schatten, der sich hinter ihr aus der Dunkelheit der Wohnung löste
und geschmeidig wie ein Geist zu ihr trat. Sie roch seinen Duft, den sie nur zu gut
kannte. Männlich und nicht unangenehm. Aber irgendwie auch nicht menschlich.
Ohne aufzusehen hob sie den Arm und streichelte blind über Rileys Wange, fühlte
seine kühle Haut unter ihren Fingern. Er schob den Ärmel ihres Shirts herunter uns
entblößte eine Unzahl blauer Flecken und kleiner Bisswunden in allen Stadien der
Heilung. Amy schloss die Augen und drehte den Kopf zur Seite, als er seine Zähne in
ihr Handgelenk senkte und ihr frisches Blut trank. Sie hatte keine Angst mehr vor
ihm. Dafür kannte sie ihn zu gut, hatte ihn zu oft von sich kosten lassen.
Es war keine Liebe in ihren Berührungen, keine ehrliche Zuneigung in einem
romantischen Sinne. Nach den Jahren einer faktischen Gefangenschaft unter
Vampiren, war von dem Menschen Amy, der sich einst verzweifelt dem Meister
anbot, beklagenswert wenig geblieben. Sie war bereit, viel zu ertragen, für eine kurze
Illusion von menschlicher Nähe.
Er war ein starker und gefürchteter Vampir und wie schäbig sie sich auch dabei
fühlen mochte – er war ein erstklassiger Beschützer, solange sie ihm gab, was er
verlangte. Sie hatte das noch nicht gewusst, in der ersten Nacht, auf dem Gang, als
er sie fand und mit sich nahm. Vielleicht gefühlt. Hatte sie ihn deswegen ihn ihre
Wohnung eingeladen, sich ausgeliefert, obwohl sie es nicht musste? Spätestens als
er sein Wort hielt und beim Meister ein gutes Wort für sie einlegte, nicht auf Darlas
Vorschlag zu hören, wusste sie, dass er es ernst meinte. Bruce hatte sie seit
Monaten nicht mehr in ihrer Nähe gesehen.
Natürlich erwartete er Gegenleistungen, als Mann wie als Vampir. Zugegeben –
zuweilen hasste sie ihn, für das, was sie auf sich nahm, um größeres Übel von sich
abzuwenden. Doch manchmal, wenn sie den Kopf an seine Brust legte und die
Augen schloss, dann träumte sie davon, ein normales Mädchen mit einem normalen
Freund in einer normalen Welt zu sein. In diesen Momenten zwischen Träumen und
Wachen, da war das, was sie für Riley empfand, tatsächlich eine Art von Liebe. Auf
gewisse Weise erlangte sie so ein wenig Kontrolle zurück, die ihr Pakt mit dem
Meister sie gekostet hatte. Sie gab Riley, was er wollte, doch immerhin machte sie es
aus eigener Entscheidung und mit der Person, für die sie selbst sich entschieden
hatte.
Sie rätselte, was sie wohl für ihn war. Eine lebende Blutkonserve, die ihm auch
andere Gelüste erfüllte? Eine zukünftige Verbündete in seinem irgendwann
geplanten Putsch gegen den Meister? Fragte er sich das überhaupt? Möglicherweise
hatte er einfach nur eine Schwäche für Blondinen.
„Komm“, sagte er und sie ließ es zu, dass er sie aus dem Stuhl hob und in die
Wohnung zurück trug. Ab und zu überraschte er sie mit solchen Taten, die sie bei
einem Menschen als Fürsorglichkeit ausgelegt hätte, schließlich war sie von dem
Blutverlust geschwächt und er ersparte ihr das Laufen. Sie legte ihren Kopf an seine
Schulter und gönnte sich Sekunden des Träumens, im Wissen, dass nicht alles von
dem, was sie gleich würde tun müssen, ihr gefallen würde …
15
Mein Reich komme
„Ein Vampir kann gar kein Mensch sein.
Er mag den Eindruck erwecken, mit Hilfe der menschlichen Hülle,
die er sich einst verschafft hat,
dennoch wird er im Kern immer ein Dämon sein.“
RUPERT GILES
Ebenso wie die Menschen, die sie einst gewesen waren, kannten Vampire
durchaus Gefühle ganz verschiedener Art. Waren sie bei manchen tief verschüttet,
unter dem übermächtigen Trieb nach Jagd und Macht, so brannten in anderen
Leidenschaften, die stärker sein konnten, als sie ein Mensch je zu erfassen im
Stande gewesen wäre. Selbst den Meister hatten einst Emotionen und
Empfindungen durchströmt, die im Laufe von Hunderten von Jahren verblassten und
zu Schatten in einem ewigen Verstand degenerierten, in dem nur die Impulse nach
Erhalt seiner selbst und seiner Herrschaft eine dominante Rolle behielten.
Doch kam es vor, dass sie manchmal wieder kurz in Erscheinung traten, seine
verborgenen Gefühle. So wie 1609, als er in Leidenschaft für eine junge Frau verfiel,
für die er sang und die er sogar zu einem Vampir machte, der er nach ihrer
Wandlung einen neuen Namen gab: Darla. Die Wut, als ihm Angelus Darla
abspenstig machte. Der Triumph nach seiner Befreiung aus der langen
Gefangenschaft. Die brennende Lebendigkeit, als die Jägerin durch seine Hand den
Tod fand.
Er hielt sie fest, die Erinnerungen an Ereignisse dieser Art, seltene Höhepunkte in
einem sonst so eintönigen unsterblichen Leben. Er brauchte diese Erinnerungen,
obwohl er viel zu klug war, als dass er nicht genau erkannt hätte, wie verwundbar sie
ihn machten. Waren diese Teile seiner Vergangenheit doch Ausdruck eines Restes
von Menschlichkeit in ihm, der ihn sosehr anwiderte wie faszinierte und den er in
Jahrhunderten zu akzeptieren gelernt hatte.
Nun saß er also hier, auf seinem Thron, verehrt und gefürchtet von seinen
unterwürfigen Dienern, die lautlos um ihn herum schlichen. Seinen großen Triumph
über die Jägerin hatte er genossen, ihn in die Sammlung seiner besonderen
Erinnerungen eingereiht, im sicheren Wissen, dass es die Treue und Angst seiner
Untertanen nur steigerte, dass er mit solcher Leichtigkeit eine Jägerin davon gefegt
hatte, vor der sich noch so viele Vampire fürchteten. Sie war eigentlich ein hübsches
Ding gewesen, deren Bild – er verstand die Ironie sehr wohl und sie amüsierte ihn –
bis in alle Ewigkeit weiterleben würde, solange er existierte.
Er hatte gesiegt. Über alle Feinde, die diese Stadt zu bieten gehabt hatte. In lange
nicht gesehener Starke glomm ein Funke in ihm auf, etwas Seltenes,
Ungeheuerliches, das ihm erst nach langer Betrachtung als eine Art Wehmut gewahr
wurde. Luke, Darla, Xander, Willow. Sein Hofstaat war größer als in Jahrhunderten,
aber was blieb ihm wirklich? Wohin sollte er seine Schritte lenken? Vor 60 Jahren
war er an diese Küste gekommen, um den Höllenschlund zu öffnen, um die alten
Herrscher zu befreien und um die Welt wieder in den Ort der Verdammnis zu
verwandeln, die sie seiner Meinung noch von Natur aus hätte sein sollen. Niemand
durfte es je in seiner Anwesenheit erwähnen, aber der Meister war sich wohl
bewusst, dass er gescheitert war.
60 Jahre war er in einem Raum zwischen den Dimensionen zur Untätigkeit
verdammt gewesen. Zum Glück hatte er schon in einer Ewigkeit zuvor zu Warten
gelernt. Vielleicht würde es ja nun wieder die Tugend des Wartens sein, die er zu
seiner Stärke machen konnte. Er beherrschte diese Stadt und ihr Umland, die
Menschen mir ihrer kurzen Lebensspanne hatten es akzeptiert. Schon die nächste
Generation würde es nicht mehr anders kennen. Diese Welt hatte einst den alten
Herrschern gehört, bevor die sterblichen Menschen sie übernahmen. Möglicherweise
war nun die Zeit der Vampir gekommen, der Mischwesen aus beiden Welten. So
schwer konnte es nicht sein, die Menschen zu unterwerfen, in ihrer Schwäche und
Beschränktheit und trotz ihrer technischen Spielereien. Er hatte die Ewigkeit und am
Ende dieser Ewigkeit würde er ihnen womöglich entgegen treten können, den alten
Herrschern. Als Gleichwertiger. Womöglich als Herrscher.
Wenn er einen Weg fand, die Vampire dieser Welt zu vereinen …
Auf seinem schwarzen Thron lehnte sich der Meister zurück und verlor sich in
einer Vision der Hölle auf Erden, die selbst ihn überwältigen konnte …
Entweder war es eine geniale Idee, oder reiner Selbstmord. Das würden sie erst
danach wissen. Nach den Informationen, die Giles gesammelt hatte, lebte Amy in
einem Gebäude, in dem sich ein Vampirnest befand, in einer Wohnung im obersten
Stockwerk. Es wäre unter diesen Umständen vernünftig gewesen, am Tag zu
kommen, wenn die Vampire schliefen. Andererseits war gerade tagsüber die
Wahrscheinlichkeit groß, dass sich alle Vampire im Gebäude aufhielten. Nachts
würden sie unterwegs sein. So fiel die Entscheidung, es einige Stunden nach
Anbruch der Dunkelheit zu versuchen, in der Hoffnung, dass der gewinnt, der etwas
wagt.
Es war ein hochgradig unvernünftiges Vorgehen, mitten in das Gebiet mit der
größten Vampirkonzentration zu fahren. Daher hoffte Giles, dass niemand so eine
Dummheit erwartete. Sie hatten den Lieferwagen mit ausgeschalteten Scheinwerfern
in einer düsteren Seitengasse geparkt. Von den vier Straßenlaternen funktionierte
nur noch eine und tauchte die Umgebung in trübes gelbliches Licht. Giles inhalierte
die kühle Nachtluft, die sich mit den unangenehmen Gerüchen der Gegend mischte,
um die die Müllabfuhr und die Stadtreinigung schon lange einen Bogen machten. In
der Nähe dröhnten die Bässe aus dem >Bronze< herüber. Viel zu nahe.
Er erinnerte sich an den Tag, als sie in kurzer Entfernung von hier gestanden
hatten, um sich auf die Rettung von Jenny vorzubereiten. Damals hatte der Meister
ihr Kommen im Voraus gewusst, sie in die Falle gelockt und gehen lassen. Wie eine
bösartige dämonische Katze spielte er mit ihnen, die er als seine ungefährlichen
Opfer betrachtete. Würde es wieder eine Falle sein? Willy konnte man wohl kaum
trauen. Noch einmal würde der Meister sie wohl nicht ziehen lassen. Schon wegen
Kendra. In >seiner< Stadt lief keine Jägerin frei herum. Giles erkannte mehr Risiken
und Unabwägbarkeiten, als ein berechnender Verstand zu berücksichtigen
vermochte. Ihm blieb nur, auf seinen Instinkt zu vertrauen. Und auf etwas Glück zu
hoffen.
Giles dachte an Nancy, an die Kreatur, die sich Nancy genannt hatte. Ein Rätsel
bis heute. Allen Überprüfungen nach war Nancy ein echter lebender Mensch
gewesen, mit einer Biografie und Verwandten. Das hielt allen Nachforschungen
stand. War sie also ein Mensch gewesen, dessen sich eine höhere Macht bediente?
War sie nur auf dieser Existenzebene gewesen, um die Prophezeiungen des
Pergamon-Kodex wahr werden zu lassen? Es ergab keinen Sinn. Der einzige
passende Hinweis in seinen Büchern bezog sich auf die antiken Schicksalsgöttinnen.
Hatte sich das Schicksal selbst seiner und Cordelias bedient, um die
vorherbestimmte Auseinandersetzung zwischen Buffy Summers und dem Meister
einzuleiten? Was blieb dann von Anyanka und Cordelias Erzählung über eine andere
bessere Welt? Egal. Er würde es halten müssen, wie Buffy Summers – und in der
Welt kämpfen, die nun einmal die seine war.
Ein Schatten löste sich aus der Gasse, huschte lautlos heran und übersprang mit
unmenschlicher Gewandtheit einen Müllberg. Giles hob alarmiert die Armbrust, ließ
sie aber sofort wieder sinken, als er Kendra erkannte.
„Die Gegend ist sicher“, meldete sie. „Und in der Wohnung brennt Licht.“
Dank Willy war Giles über die Feuerleiter informiert, die er für den günstigsten
Weg in das bewusste Haus hielt. Er klopfte auf das Metall des Wagens und Oz und
Larry sprangen heraus, wie er und Kendra mit allem bewaffnet, das sie hatten
auftreiben können.
„Eine Frage“, ließ sich Larry vernehmen. „Wenn wir über diese Feuerleiter rein
kommen, dann käme Amy auch raus. Wenn sie eine Gefangenen ist, warum ist sie
nicht längst abgehauen?“
Giles hielt es für sinnlos, darüber noch zu diskutieren. „Vielleicht verhindert das
Halsband auch das?“, schlug er vor. Damit überzeugte er den hünenhaften Jungen
nicht.
„Oder sie will nicht gerettet werden.“ Dieser Gedanke war Giles natürlich längst
gekommen.
„Wenn sie nicht auf unserer Seite ist, ist es trotzdem gut, wenn wir uns mit ihr
treffen. Denn im Zweifelsfall müssen wir sie ausschalten, damit sie uns nicht in den
Rücken fallen kann, bei dem, was wir als nächstes vorhaben.“
„Ausschalten?“, wiederholte Kendra.
„Tja“, murmelte Larry. „Enthauptung funktioniert bei Hexen auch.“ Niemand war
sich sicher, ob es ein Scherz sein sollte …
Giles hielt es für unnütz, ihr Team aufzuteilen und jemanden beim Auto zurück zu
lassen. In dieser Gegend würden sich nicht ausgerechnet Autodiebe herumtreiben
und ein einzelner Mensch lockte Vampire erst recht an. Ihm gefiel die Sache nicht,
wie hätte sie auch. Hexen waren für ihn ein relativ unbekanntes Terrain, seine
eigenen kleinen Magieversuche konnten mit denen eines geborenen Profis nicht
konkurrieren. Eine irritierende Feststellung, aber auf ihrem Gebiet war ihm dieses
Mädchen von unter 20 Jahren vermutlich weit voraus.
Nun musste er sich noch zusätzlich Sorgen um Larry machen. Kendra war eine
treue Befehlsempfängerin, was ihr in Zukunft noch Probleme machen konnte. Es
würde nicht immer ein Wächter da sein, um ihr Anweisungen zu erteilen. Momentan
war es ihm aber recht, denn so blieb sie berechenbar. Oz war wie immer etwas
undurchschaubar, ein schweigsamer hochintelligenter junger Mann, der seine
Gedanken lieber für sich behielt, aber auch gefasst und zuverlässig. Auf Larry würde
Giles auch nichts kommen lassen, ein mutiger und starker Kämpfer. Doch Larry, das
hatte Giles vorher nie so deutlich bemerkt, empfand einen tiefen Hass gegen die
Vampire und noch mehr für jeden menschlichen Verräter, der ihnen half. Giles hoffte,
dass daraus kein Problem erwuchs.
In diesem von Gott und den Menschen verlassenen Teil Sunnydales gab es
Ruinen und auf den ersten Blick leerstehende Häuser zuhauf. Giles verdrängte das
ungute Gefühl, dass ihnen aus jedem schwarzen Fensterloch und jeder dunklen
Nische ein verstecktes Augenpaar zusehen konnte. Nur ein einziger Beobachter
würde genügen. Ein Himmelfahrtskommando, aber auch eine Unternehmung, die sie
alle vier gemeinsam durchstehen würden bis zum Ende, wie immer es aussehen
mochte.
Kendra führte sie mit erstaunlicher Zielstrebigkeit auf einen düsteren
Dreigeschosser zu, in dem keine einzige Lampe zu erkennen war. Ein ideales
Versteck für Vampire und Unholde jeder Art. Auf ein Zeichen Kendras, von der im
Mondlicht nur ein gespenstischer Schatten wahrnehmbar war, hielten sie an.
Niemand sagte etwas, während die Jägerin mit den geschärften Sinnen der
Auserwählten ein letztes Mal in die Nacht horchte. Ihre einzige Hoffnung war im
Grunde, dass ihr Plan so dumm war, dass niemand ihn für möglich hielt. Kendra
winkte, es ging weiter.
Giles zuckte nervös zusammen und gab fast einen Schuss ab, als ein gläsernes
Klirren ertönte. Larry fluchte hinter ihm unterdrückt und murmelte entschuldigend:
„Flasche, mein Fehler. Nichts passiert.“ Giles unterdrückte ein Seufzen. Irgendwo
bellte ein aufgebrachter Hund, am Himmel pulsierten die Positionslichter eines
Flugzeugs auf dem Weg nach LA.
Viel konnte Giles nicht von der Feuerleiter erkennen, doch ihr durchdringendes
Quietschen, als Kendra sie berührte, klang wenig vertrauenserweckend. Für die
angespannten Nerven der kleinen Gruppe war das metallische Geräusch eine reine
Folter.
„Gute Akustik“, merkte Oz trocken an und folgte Kendra.
Für einen Moment erwog Giles ihre Chancen, wenn sie es doch durch das
normale Treppenhaus versuchten, doch er verwarf die Idee rasch wieder. Jetzt oder
nie. Er griff nach dem kühlen Metall. Der Aufstieg war eine Qual. Sie mussten sich
möglichst schnell vorarbeiten, durften aber auch nicht zu hektisch vorgehen, um
verräterische Geräusche zu vermeiden. Endlich erreichte Kendra die Brüstung des
Balkons im obersten Stockwerk, lugte über das steinerne Hindernis und signalisierte,
es gäbe keine Gefahr. Nacheinander fanden sie sich auf den Steinplatten des
Balkons ein, auf dem Giles zu seiner Überraschung einen Gartenstuhl mit
Beistelltischchen und Sonnenschirm entdeckte.
„Sie lebt nicht schlecht“, flüsterte Larry grimmig und Giles konnte sich seinen
Gesichtsausdruck trotz der Dunkelheit lebhaft vorstellen. Behutsam näherten sie sich
der gläsernen Tür, die in eine aus Segmenten bestehende Glaswand eingelassen
war. Ein schwacher gelblicher Strich enthüllte, dass im Inneren der Wohnung doch
Lampen brannten, was durch Vorhänge von außen schwer zu erkennen war. Kendra
pirschte sich an das Licht heran und versuchte, einen Blick hinein zu erhaschen.
„Sie ist nicht allein“, sagte die Jägerin überrascht. Sie räumte ihren Platz und
erlaubte Giles, den braunhaarigen jungen Mann zu begutachten, der sich mit Amy in
einer Art Gespräch befand.
„Ich habe keine Ahnung, wer das sein kann“, erklärte Giles. „Aber ich glaube, er
geht.“ Der Fremde trug ein irgendwie militärisch wirkendes Sweatshirt und trat völlig
menschlich auf. Er stand vor Amy, die mit angezogenen Beinen in einem großen
Sessel hockte und die Ärmel ihres schwarzen Pullovers über die Hände gezogen
hatte. Sie schien zu frieren, machte auf Giles auch sonst einen schwächlichen
Eindruck. Er registrierte verwundert, dass der Mann Amy über Kinn und Wange
streichelte und mit einem freundlichen Nicken in Richtung Wohnungstür verschwand.
Amy lächelte ihm zu, aber Giles vermisste echtes Glück in ihren blauen Augen. Sie
winkte mit der Hand im Ärmel, bis der Mann die Tür hinter sich schloss. Dann
schlang sie die Arme um den Leib und schloss die Augen. Das sah doch günstig aus.
„Ich denke, wir können“, beschloss der Wächter. Kendra zog an der Tür. Sie war
verschlossen. Die Jägerin zog ein zweites Mal mit mehr Kraft und das Schloss
kreischte kurz auf, bevor es verbogen auseinander fiel.
Amy fuhr auf, sah die vier Gestalten entgeistert an, die vor ihr in ihre Wohnung
eindrangen, und sagte: „Ich habe euch nicht eingeladen.“ Erstaunlich schnell sprang
sie auf die Füße, sprintete zu einem Schrank und zog ein Kreuz aus einer
Schublade.
Oz und Larry warfen sich einen vielsagenden Blick zu, dann ging Larry auf das
verwirrte Mädchen zu und griff seelenruhig nach dem Kreuz.
„Vergiss es“, sagte er und Amy ließ widerstandslos ihre Waffe los, die Larry auf
den Tisch legte.
„Ihr seit Menschen?“, fragte Amy unsicher.
Oz warf Kendra, der Jägerin, einen Blick zu und dachte an die Nächte, die er
jeden Monat als Werwolf verbringen musste, seit ihn sein Cousin Jordy gebissen
hatte. Er zuckte mit den Schultern. „So ziemlich.“
Amy starrte sie mit offenem Mund an und griff sich an den Kopf, als hätte sie
Kopfschmerzen. „Wenn ihr Einbrecher seid“, sagte sie. „Dann seid ihr absolute
Vollidioten.“
Larry begutachtete misstrauisch die zahlreichen okkultistischen Bücher in dem
Holzregal an der Wand. „Wer war der Typ, der bei dir gewesen ist. Kommt er
wieder?“, erkundigte er sich mit unüberhörbarer Skepsis.
„Riley?“, entfuhr es Amy, sie stutzte und wurde schlagartig rot. „Wie lange wart ihr
… ich meine …“
„Ist Riley nicht einer von den Vampiren des Meisters?“, fragte Oz nachdenklich.
Larry nickte grimmig.
„Das ist der, der in letzter Zeit den Organisationschef spielt.“ Er zeigte auf Amy.
„Also du und Riley …“ Er unterbrach sich und ein jähes Verstehen zuckte über sein
Gesicht, nachdem er Amys aufgerissene Augen im unverändert geröteten Gesicht
entdeckte. „Nein“, machte Larry fassungslos. „Du und Riley? Ich meine … Du gehst
mit einem Vampir ins Bett?“ Er sagte es sehr langsam und betont, als sei es eine
Ungeheuerlichkeit, die auszusprechen eine enorme Last darstellte. Amy zuckte unter
jedem Wort zusammen und schrumpfte sichtlich um einige Zentimeter. Larry wandte
sich mit angewidertem Keuchen ab und schüttelte energisch den Kopf. „Weißt du
eigentlich, wie ekelhaft das ist?“
„Bitte!“, mischte sich Giles ruhig aber entschieden ein, im Bestreben, die Situation
zu entschärfen, bevor sie völlig außer Kontrolle geriet. „Wir sind nur hier, um mit
Ihnen zu reden. Sie brauchen keine Angst vor uns zu haben.“
„Du hast doch keine Ahnung, wovon du sprichst!“ Amy ignorierte Giles Einwurf
völlig. Er bezweifelte, dass sie ihn wirklich gehört hatte. Ihre Augen funkelten feucht
und die Unterlippe zuckte unkontrolliert.
„Na klar“, fuhr Larry sie an. Amy machte einen Schritt rückwärts und schluckte
hörbar.
„Du hast keine Vorstellung, was es heißt, zu überleben.“
Larry lachte böse auf. „Oh doch. Wir haben Dutzende von Vampiren vernichtet.
Immer und immer wieder. Sie haben versucht, uns umzubringen, aber am Ende
waren wir immer stärker. Ich habe für mein Überleben gekämpft! Und du? Bist du
überhaupt noch ein Mensch?“
Die Spannung in der Luft war unerträglich. Amy lehnte mit flackerndem Blick und
ziellos umherpendelnden Armen an der Wand, scheinbar einen
Nervenzusammenbruch nahe, während Larry, die Hände zu Fäusten geballt, den
Eindruck erweckte, sich im nächsten Moment auf die Hexe stürzen zu wollen. Keiner
hatte diese Eskalation vorausgesehen, weder die extrem empfindliche Reaktion der
labilen Amy, noch den ungezügelten Hass Larrys.
„Larry!“ Alle erstarrten. Ungläubig sah der Angesprochene Giles an. Er war wie
alle Anwesenden von der harten befehlenden Schärfe überrascht, die so gar nicht zu
dem passte, was sie sonst von dem zerstreuten und liebenswürdigen Bibliothekar
gewohnt waren. Larry ließ die Hände sinken. Ebenso den Kopf. Oz legte seinem
Freund wortlos die Hand auf die Schulter. „Wir möchten mit Ihnen reden“, erklärte
Giles der verschüchterten Amy und streckte ihr seine Hand hin, die sie zögernd und
unsicher ergriff. Sie ließ sich zum Tisch führen, wo Giles neben ihr platz nahm.
Kendra postierte sich strategisch in der Mitte des Raumes, so dass sie sowohl für
Überraschungen von Seiten der Wohnungstür als auch vom Balkon aus bereit war.
Larry und Oz verschwanden hinaus in die kühle Nachtluft.
„Nun“, begann Giles und musterte das 18jährige Mädchen, das so viel älter wirkte,
vom Leben gezeichnet. Sie wirkten alle älter, als sie waren, Kendra nicht weniger als
Oz oder Larry. Sie hatten nicht die unbeschwerte Jugend gehabt, die sie verdient
gehabt hätten. Die Tatsachen, dass Oz und Larry sogar freiwillig mitkämpften,
vergrößerte nur die Hochachtung, die sie verdienten. Ebenso verstärkte es die
schuldbewusste Frage, ob er wirklich das Recht gehabt hatte, sie mit hinein zu
ziehen. Der Wächter nahm seine Brille ab und massierte den Nasenrücken. „Ich
wüsste gern von vornherein, wie sich Ihre Lebensumstände gestalten. Ohne auf
Details einzugehen, die Sie für zu privat erachten. Wir müssen wissen, wie Sie zum
Meister stehen.“
Amy hockte mit hängenden Schultern in ihrem Sessel, Haarsträhnen fielen ihr ins
Gesicht, aber sie reagierte nicht darauf. Unter dem hohen Pulloverkragen entdeckte
Giles das Halsband, das die junge Frau seiner Vermutung nach zur Gefangenen im
eigenen Körper machte.
„Lebensumstände?“, fragte Amy verständnislos.
„Wie stehst du zum Meister?“, wiederholte er seine Frage sanfter und einfacher.
Sie sah zu Boden und faltete die Hände im Schoß.
„Ob ich ihm helfe?“
„Tust du es denn?“
„Ich bin eine Hexe.“, räumte Amy ein. „Wenn er meine Hilfe braucht …“
„Tust du es freiwillig?“
Sie dachte lange nach. „Eigentlich schon“, gestand sie widerwillig. „Aber ich
könnte auch nicht ablehnen.“ Sie zeigte auf ihren Hals.
„Diese Tatsache ist mir bekannt“, erklärte Giles. Amy sah überrascht auf. „Ich
kann es entfernen.“ Amy sank die Kinnlade fast bis auf die Brust.
„Sie … Sie können das …“ Ihre Stimme zitterte.
„Was würdest du tun, wenn du frei wärst?“ Das war die alles entscheidende Frage.
Sie setzte zu einer Antwort an, schüttelte den Kopf, versuchte es wieder.
„Werde ich noch gesucht?“
Giles erinnerte sich an Larrys Erzählung. „Wegen deiner Mutter?“ Sie nickte heftig.
Giles atmete tief ein, lehnte sich zurück und sah die Hexe forschend an. „Wie wäre
es, wenn du mir alles erzählst. Ganz von vorn?“
Ihr Angriff auf das neue Hauptquartier des Meisters in der Villa, von der ihm Willy
erzählt hatte, sollte nach Tagesanbruch erfolgen. Dafür hielt Giles den Vorteil der
Tagesstunden für besser, wenn sich, so hoffte er, weniger Vampire im Umfeld des
Meisters aufhielten und die Blutsauger müde und satt von der Nacht waren. Sie
hatten also viel Zeit, um die Geschichte der Hexe anzuhören. Sie konnte wohl eine
Hilfe sein, doch würde Giles keine Katze im Sack kaufen. Er würde sie nur befreien,
wenn sie ihn überzeugen konnte, dass sein Vertrauen gerechtfertigt sein würde.
Amy Madison verstand das offenbar, denn sie begann leise und stockend zu
reden. Sie schilderte die Geschichte einer Schülerin, die auf die härteste Art
herausfand, dass ihre Mutter eine leibhaftige Hexe war. Amy umging die Details des
Todes ihrer Mutter, dennoch hörte Giles genug, um ein Urteil zu fällen, dass auf
Notwehr lautete. Obwohl er noch nie in einem echten Kampf mit Magiern aufeinander
getroffen war, kannte er die Mächte des Bösen und die Selbstsucht der Menschen
gut genug, um Amy zu glauben. Er konnte fühlen, dass sie die Wahrheit sagte, als
habe sie seit Jahren auf diese Nacht gewartet, um endlich alles aus sich
heraussprudeln zu lassen.
Dabei erhöhte sie ihre Glaubwürdigkeit zusätzlich, indem sie der Versuchung
widerstand, sich zum Opfer zu stilisieren. Amy beschönigte keine ihrer Taten im
Dienste des Meisters, ließ aber die furchtbaren Gewissensqualen erkennen, die sie
ihr bereitet hatten. Amy streifte auch die >Sache mit Riley<, der ihr Schutz und eine
starke Schulter gegeben habe, ohne die, so verstand es Giles, sie längst ihren
Verstand verloren hätte. Am Ende saß Amy schweigend und abwesend da, kleine
Tränen liefen über ihre Wangen, die Lippen zitterten. Giles hantierte nachdenklich an
seiner Brille. So sehr war er Amys Geschichte gefolgt, dass er erst jetzt bemerkte,
dass Oz und Larry wieder neben ihm standen. Larry strahlte keine Wut mehr aus, nur
noch betroffene Traurigkeit.
„Kannst du dir denken, warum wir hier sind?“, fragte Giles. Amy schwieg. „Wir
werden den Meister angreifen.“ Ihre Augen weiteten sich schockiert. „Das dort ist
Kendra. Die Jägerin. Du kannst dir sicher denken, weshalb sie in Sunnydale ist. Wir
hätten dich gern auf unserer Seite. Oder im Zweifelsfalle zumindest nicht gegen uns.“
Amy stand langsam auf und ging an Kendra vorbei auf die Balkontür zu. Sie
beachtete die Jägerin nicht, schien sie nicht wahrzunehmen. Insgeheim fragte sich
Giles, ob sie sich des Geisteszustandes der jungen Frau wirklich sicher sein konnten.
Ohne ihr Halsband würde sie schlagartig über eine enorme Kraft verfügen und
niemand konnte voraussagen, wie ihr gequälter Geist damit umgehen würde.
Die blonde Hexe zog einen Vorhang zur Seite und ließ den kühlen Nachtwind
hereinwehen. Obwohl sie sichtlich fröstelte, brauchte sie diesen Anstoß, um wieder
zu sich zu finden. Sie stand erstaunlich ruhig da, obwohl jeder im Raum gespannt
ihren Rücken anstarrte.
„Ok“, murmelte sie schließlich. „Befreit mich und ich helfe euch. Irgendwann würde
mich der Meister umbringen. Wenn ich ihm zuvorkomme, dann … habe ich vielleicht
eine zweite Chance. Oder dritte …“
Amy hockte im Schneidersitz auf dem Teppich und beobachtete mit einem
verängstigten Ausdruck, wie Giles um sie herum mit dem Aufbau eines magischen
Kreises begann. Dass er immer wieder seine Notizen prüfte und ständig etwas
veränderte, bestärkte die Hexe sichtlich in der Gewissheit, in naher Zukunft den Kopf
zu verlieren. Mit unverhohlener Skepsis sah sie zu, wie Giles einen rot-weiß
gefärbten Kristall positionierte und drehte den Kristall anschließend wortlos um. Giles
verzog irritiert den Mund, studierte mit gerunzelter Stirn seine Notizen, begutachtete
den Stein und nickte plötzlich erfreut und mit strahlendem Gesicht.
„Aber natürlich“, rief er. „So rum muss es. Ein dummer Fehler.“ Er schüttelte über
sich selbst den Kopf. Sein amüsiertes Lächeln verschwand augenblicklich unter
Amys vernichtendem Blick. Der Wächter hatte es plötzlich sehr eilig, einen
Bergkristall zu untersuchen.
Inzwischen plünderten Larry und Oz mit Amys Segen ihren Kühlschrank,
wenngleich es wenig gab, wofür sie sich begeistern konnten. „Wenigstens keine
Blutkonserven“, meinte Larry hinter vorgehaltener Hand.
Kendra beobachtete nicht weniger interessiert als Amy die Vorbereitung des
Zaubers durch Giles. Dass ihr die Nutzung von Magie reichlich suspekt war, hatte die
Jägerin schon zuvor zu erkennen gegeben. Im Zweifelsfall hätte sie eine Axt
bevorzugt.
Larry biss genüsslich und laut vernehmlich in einen Apfel. „Geht’s voran?“, fragte
er neugierig.
„Oh ja“, erwiderte Giles erfreut und mit Feuereifer bei der Sache. „Wir dürften bald
fertig sein. Amy fügte sich in ihr Schicksal, obwohl sie den Eindruck erweckte, im
nächsten Moment in Tränen auszubrechen. „Das müsste funktionieren!“, verkündete
Giles siegesgewiss. Als sein Blick auf Amy fiel korrigierte er die Aussage: „Das wird
auf jeden Fall funktionieren!“
Sie seufzte. „Bringen wir es hinter uns.“
Die Lampen in der Wohnung erloschen. Nur fünf strategisch aufgestellte Kerzen
rund um Amy warfen ein zuckendes Licht gegen die triste Tapete. Amy saß
kerzengerade im Kreis, die Augen geschlossen und die Hände im Schoß
verschränkt. Giles blätterte eine neue Seite in seinem Notizblock auf, hüstelte leise
und begann, die Beschwörung in einer uralten toten Sprache aufzusagen. Zu seiner
Schande musste er gestehen, dass er diese Sprache selbst nicht beherrschte und
zum reinen Ablesen gezwungen war. Leider hatte er keine Vorstellung, wie sich der
geringste Fehler auswirken konnte. Es musste beim ersten Versuch alles richtig sein.
Davon hing möglicherweise weitaus mehr ab, als nur das Leben eines jungen
Mädchens, obwohl das allein bereits ausgereicht hätte, sich Sorgen zu machen. Er
überflog die phonetischen Hinweise zur richtigen Betonung und gab sich einen
inneren Stoß.
In der völligen Ruhe, in der selbst die Atemzüge unhörbar wurden, wirkte seine
Stimme verändert. Mächtiger und losgelöst von der Realität. Es war kein sehr langer
Text, doch bereits mit den ersten Worten begannen die Kerzenflammen zu zucken,
obwohl sich in der Wohnung kein Lüftchen regte, seit die Balkontür wieder
geschlossen war. Die Flammen tanzten und schlängelten sich in die Höhe, wuchsen
zu halbmetergroßen Feuersäulen, erinnerten fatal an Bunsenbrenner aus dem
Chemieunterricht. Ihre Farben wechselten in naturwissenschaftlich unmögliche Töne.
Amys Augen waren trotz der beängstigenden Ereignisse in ihrer unmittelbaren Nähe
unveränderte geschlossen, das Gesicht ausdruckslos und wie in Stein gemeißelt.
Der Wächter wunderte sich, ob sie eine Meditationstechnik nutzte, oder ob es Teil
des Rituals war, den Träger in Trance zu versetzen. Mit einem letzten lauten Satz,
der nach Giles Informationen einen Befehl an die Mächte darstellte, die dem Band
innewohnten, zu verschwinden, kippten die Flammensäulen regelrecht zur Seite,
vereinten sich im Halsband um Amys Hals und ließen es rot aufglühen. Giles fuhr
zusammen und war sicher, einen Fehler gemacht zu haben, den Amy mit schwersten
Verbrennungen oder Schlimmerem würde bezahlen müssen. Da wurde es dunkel.
Die Kerzen erloschen und die Wohnung wurde in Schwärze getaucht.
Bevor sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnen konnten, ging auch schon
wieder die Deckenlampe an und blendete Giles für Sekundenbruchteile. Kendra
hatte zielsicher den Schalter gefunden. Alle starrten auf Amy.
Die blonde Hexe hockte unverändert am Boden, umgeben von den kaum
niedergebrannten Kerzen. Die Hände waren nicht mehr verschränkt, hielten
stattdessen das Halsband, das zu einem fugenlosen Ring ohne erkennbare
Verschlüsse oder Scharniere geworden war. Es wirkte nun kleiner, viel zu eng für
einen menschlichen Hals. Amys Kehle entrang sich ein Schluchzen. Das Band
entglitt ihren Händen und fiel lautlos zu Boden. Noch bevor Giles sich danach bücken
konnte, um dieses bemerkenswerte Artefakt für die Sammlungen des Wächterrates
zu bergen, kippte Amys Oberkörper kraftlos nach vorn. Sie vergrub das Gesicht in
den Händen. Für Minuten war ihr Schluchzen das einzig hörbare Geräusch in der
kleinen Wohnung.
Giles umklammerte ratlos mit beiden Händen das magische Band und steckte es
schließlich in eine Jackentasche. Er fühlte die Müdigkeit in seinen Knochen, zu der
eine Hilflosigkeit kam, wie er sie seit den Ereignissen um Jenny nicht wieder hatte
erleben müssen. Irgendwann fand ausgerechnet Larry den Mut, auf Amy zuzugehen
und seine Hand nach ihrem Kopf auszustrecken. Er schreckte zurück, als sie
unvermutet den Kopf zurückwarf. In Amys Augen gab es keine Pupillen mehr, nur
noch eine unheimliche grenzenlose Schwärze, die absolut nicht zu dem
tränenverquollenen rotfleckigen Gesicht passte. Ein markerschütternder Schrei
ertönte, wie ihn keiner der Anwesenden je zuvor oder danach vernommen hatte.
Giles hätte schwören können, dass die Gläser in den Fenstern klirrend vibrierten.
Schlagartig stand Amy, ohne dass jemand hätte sagen können, ob sie
aufgesprungen war, oder auf andere Weise auf die Füße kam. Sie legte den Kopf
schief, schien zu lauschen. Sie schloss die Augen und öffnete sie sofort wieder, nun
mit normalen blauen Pupillen. Kühl erklärte sie an Giles gerichtet: „Gehen wir!“ Dann
schritt sie auch schon erhobenen Hauptes zur Tür hinaus.
Mit der ihm eigenen lakonischen Art fragte Oz in die Runde: „Was genau haben
wir da eigentlich auf die Menschheit losgelassen?“
Amy spürte die Energie, die durch ihre Adern pulsierte, in jede Faser ihres Körpers
drang und sie in ein gewaltiges Hochgefühlt trieb. Sie ging die Treppe hinunter und
empfand keinerlei Sorgen, keine Ängste. Die Stufen unter ihren Füßen wurden mit
jedem Schritt auf wundersame Weise weicher, sie konnte selbst nicht länger
erkennen, ob sie wirklich noch lief oder das Treppenhaus hinab schwebte. Es war
nicht länger wichtig. Niemand begegnete ihr und sie war enttäuscht. Nie war ein
Vampir da, wenn man einen brauchte.
Sie lächelte amüsiert und beobachtete eine Staubwolke, die sich von einer
altersschwachen Wand löste. Amy konnte jeden Partikel sehen, den Fall körperlich
spüren. Sie war eins mit allem, der gesamten Schöpfung. Wärme umgab sie, wie
eine kuschelige Decke und sie brauchte einige Zeit, um zu begreifen, dass es die
Wärme eines Sonnenstrahls war, der durch einen winzigen Spalt des zugenagelten
Fensters drang. Es wurde Tag.
Sie wusste, was das bedeutete. Das Lächeln verlor seinen verträumten Zug und
wurde zutiefst bösartig. Mit einem übermütigen Sprung überwand Amy das
Treppengeländer, landete im Erdgeschoss und fuhr in Gedanken mit den Fingern an
der Wand entlang, bis zu einer verzogenen Tür, die sie beinahe zärtlich öffnete. Die
junge Hexe stand vor der Kellertreppe. Der Keller. Die wenigsten Vampire hatten
eine Neigung zu menschlichem Leben mit Wohnung und geregeltem Tagesablauf.
Viele organisierten sich in Banden, in Nestern, die ihnen Schutz und Gesellschaft
boten. Tagsüber verkrochen sie sich wie Ratten. So auch in diesem Haus.
Amy war die Ironie sehr wohl bewusst. Mehr als einmal war sie an dieser Tür,
dieser Treppe, vorbei gekommen und sicher gewesen, dass dies der Ort sein würde,
an dem sie einmal sterben würde. Früher oder später. Dafür vermutlich unter
unsäglichen Qualen. Doch nicht heute. Von heute an nie wieder.
Entschlossen schoss sie die Treppe herunter, stand vor der eigentlichen Kellertür,
ohne selbst zu wissen, wie sie den Weg vom Treppenabsatz bis hierher hatte
überwinden können. Sie klopfte an, erwartete aber natürlich keine Antwort. Ruhig
legte sie die Handfläche auf das kühle Metall.
„Zeit aufzustehen“, murmelte sie sanft. Die Tür explodierte in einem Regen
scharfkantiger Metallstücke. Jemand schrie erbärmlich und Amy erkannte zufrieden
einen stämmigen Vampir, der sich die Hände auf das zerfetzte Gesicht presste. Sie
winkte freundlich, während sie den dämmrigen und muffigen Keller mit allen Sinnen
erforschte. Wer hier hauste, für den war die Vernichtung eine Gnade.
Sie kamen aus allen Ecken. Sieben oder acht übel gelaunte Blutsauger, so
manches bekannte Gesicht. Sie wollten sie zerreißen, hier und jetzt und ohne
Gnade, ungeachtet der Strafen, die dieser Ungehorsam nach sich ziehen würde.
Amy ließ sie näher kommen und spürte das Misstrauen, das die Tatsache hervorrief,
dass sie nicht mit der Wimper zuckte.
„Ich wollte nur guten Tag sagen“, erklärte Amy, winkte nochmals und stieß
plötzlich die Hand nach vorn. Von ihr ging eine Energiewelle aus, die die Vampire
erfasste, sie umhüllte und bis auf die Knochen durchscheinend werden ließ. Sie
explodierten synchron wie in Reihe geschaltete Sprengkörper und eine große
Staubwolke raubte Amy die Sicht. Ein guter Tagesanfang. Und das war es: ein
Anfang.
Getrieben von unbändiger Energie ging sie tiefer in das vermoderte
Kellergewölbe. Irgendwo plätscherte Wasser von der Decke. Sie erwog kurz, die
verkleisterten Fenster von der schwarzen Farbe zu befreien, doch sie konnte auch so
genug erkennen, nachdem sich ihre Augen angepasst hatten. Vor ihr war eine
Bewegung, ein erbarmungswürdiges Schluchzen drang an Amys Ohr. All die Dinge
gingen ihr durch den Kopf, die sie in den endlosen Monaten über diesen Ort gedacht
hatte, die Alpträume, die er ihr bereitete. Nie wieder.
Ein Schatten brach krachend durch einen Stapel alter Möbel und schoss wie eine
Pistolenkugel auf sie zu. Seine Augen funkelten wie Taschenlampen und ein
gefährliches weißes Gebiss leuchtete im schwachen Licht. Amy riss reflexartig die
Arme hoch, wurde von den Beinen gefegt, bevor sie reagierten konnte. Ihr Angreifer
landete einen Meter von ihr entfernt. Ein dumpfes Echo erfüllte den höhlenartigen
Raum. Amy schrie wütend auf und rieb sich den aufgeschlagenen Ellenbogen. Der
Vampir, dessen Namen sie nicht kannte, beugte sich über sie und grinste
überheblich. Sie ließ ihm die Illusion, in ihr eine besiegte Beute zu bekommen,
erlaubte ihm sogar, zum Biss in ihren Hals anzusetzen. Sie rammte ihm die Hand auf
die Brust, genau auf das Herz, doch ihre Körperkraft war viel zu gering, als dass ihn
dies gestört hätte. Der Vampir lachte höhnisch und überschüttete sie mit einem übeln
Mundgeruch nach altem Blut. Sollte er. Sie brauchte keine körperliche Kraft, nur die
Berührung.
Der Vampir erstarrte, seine bösen Augen wurden groß, er blickte fassungslos auf
seine Brust und die Hand, die von einem Schleier aus tanzenden Energieblitzen
umgeben war. Sein Schrei ging in ein ersterbendes Gurgeln über, dann zerfetzte ihn
ein kleiner von gelben Blitzen umrahmter Tornado. Amy erhob sich lächelnd. Sie war
noch nicht am Ende. Etwas gab es noch zu tun, hier unten. Da war wieder das
Wimmern. Sie umrundete neugierig eine Ecke und erblickte erschüttert einen jungen
Mann, der an eine Wand gekauert vor ihr hockte und selbst jetzt keine Anzeichen
eines Fluchversuchs unternahm. Neben ihm lag eine kaum identifizierbare stark
verweste Leiche. Amy sah den Ehering an dem knöchernen Finger und spürte einen
Stich im Herzen, der die Wolke der Euphorie, die sie bisher umgab, zerriss.
„Geh“, sagte sie. „Lauf.“ Der Junge sah sie verständnislos an, sprang aber
unerwartet kräftig auf und rannte wortlos davon. Gut. Fast beendet.
Amy lauschte in die Stille, in der die Schritte des Jungen verhallten. Auf eine
Handbewegung hin flog ein altes Sofa zur Seite, krachte gegen die Wand und blieb
zersplittert liegen. Sie ging gemächlich auf die Figur zu, die ihres Versteckes beraubt
auf dem Boden kniete.
„Amy“, sagte er ängstlich und gekünstelt freundlich.
„Bruce“, erwiderte Amy, als grüße sie einen alten Freund. „Wie schön, dass du
dich an mich erinnerst. Ich erinnere mich auch an dich.“
Er lächelte falsch und suchte verzweifelt nach einem Fluchtweg. Sie winkte ihn zu
sich heran und Bruce näherte sich widerstrebend.
„Wir waren doch eigentlich immer Freunde“, behauptete er. „Du hast keine
Ahnung, was ich alles für dich getan habe!“ Sie legte ihm die Hand auf die Wange.
„Ich habe keine Ahnung.“ Ihre Hand schloss sich um seinen Hals und sie hob ihn
von den Füßen, als sei er ein Kind. Amy keuchte unter der neuen Welle purer
magischer Kraft, die sie von den alten Göttern erhielt, denen sie folgte. Von Hekate,
der römischen Göttin der Zauberei. „Ich fürchte, wir müssen uns jetzt trennen.“
„Amy.“ Die beherrschte tonlose Anrede traf sie wie ein Schlag in die Magengrube,
teilte den Vorhang, der um ihren Kopf lag wie dichte Watte.
„Was?“, fragte sie wütend und fühlte sich unwohl im Licht der gnadenlosen
Taschenlampe, die Giles auf sie richtete. Hinter ihm kümmerten sich seine Begleiter
um den befreiten Jungen.
„Kommst du mit uns?“
Sie verzog die Mundwinkel, schenkte Bruce einen letzten Blick tiefer Verachtung
und schleuderte ihn von sich. Er ging noch im Flug in Flammen auf, schrie wie ein
altes Weib und war eine Aschewolke, bevor er den Boden erreichte.
„Bist du hier fertig?“, fragte Giles und seine Ruhe machte sie rasend. Er machte
einen Schritt auf sie zu, sie hob instinktiv eine Hand. Er wirkte, als richte sie eine
tödliche Waffe auf ihn und wie ihr schockiert klar wurde, konnte er dieses Gefühl zu
Recht haben – ihre Hand konnte ihn jetzt töten. Die absolute Siegesgewissheit und
Freude, die Amy eben noch erfahren hatte, wich plötzlicher Ratlosigkeit. Sie fühlte
mit einmal, wie sehr sie von der großen Kraftanstrengung ausgelaugt war. Etwas
tropfte auf die linke Hand, die sie vor dem Körper hielt und Amy begriff nur zögerlich,
dass es ihr eigenes Blut war, das aus ihrer Nase strömte. Sie erschrak über die
unerwartete Berührung von Giles, der ihre rechte Hand, die sie noch gegen ihn
richtete, ergriff und sanft drückte.
„Alles in Ordnung?“
„Ich bin müde“, gestand sie verstört.
Er nickte verständnisvoll. Der Wächter führte sie durch den Keller hinaus, durch ihr
Werk. Sie fühlte keine Befriedigung mehr darüber. Nur Leere. Irgendwie wünschte
sie sich insgeheim, jemand würde sie einfach nur in den Arm nehmen. Sie erschrak
innerlich, als ihr klar wurde, dass die einzige Person, die ihr dafür einfiel, unverändert
Riley war.
Oz sah den beiden nach und meinte zu Larry: „Über den Ablenkungsangriff
müssen wir uns jedenfalls keine Sorgen mehr machen.“
16
Das letzte Gefecht
„Du vertrauensseliger Narr! Woher willst du wissen, dass eine andere Welt besser ist als
diese?“
ANYANKA
„Weil es so sein muss!“
RUPERT GILES
Die Wandlungen waren verblüffend. Giles war Zeuge geworden, wie aus einer
scheinbar schwachen und eingeschüchterten jungen Frau ein funkensprühender
Racheengel wurde, der nun wieder völlig harmlos auf dem Beifahrersitz seines
Citroens saß. Amy hatte die Kapuze ihres Parkas über den Kopf gezogen und harrte
schweigend der Dinge, die da kommen mochten. Wenn man einem Menschen zu oft
zusetzte, ging er entweder zugrunde oder schlug irgendwann zurück. Amy Madison
war definitiv einige Male zu oft gedemütigt worden.
„Man hat dich nicht in einen Vampir verwandelt“, stellte Giles nüchtern fest. Sie
musterte ihn nachsichtig unter ihrer Kapuze, die das Gesicht halb verdeckte, aber
genug erkennen ließ, um ihre Augenfarbe festzustellen. Zu Giles Erleichterung ohne
jede Spur von Schwarz.
„Ich wäre dann eine Hexe und ein Vampir“, begann sie und Giles nickte
verstehend.
„Der Meister duldet keine Mächtigen neben sich.“
Obwohl er unverändert heftige Zweifel an Amys Zuverlässigkeit hegte, gelang es
Giles nicht, in der zerbrechlichen jungen Frau eine potenzielle Bedrohung zu sehen.
Er gestand sich mit gewisser Selbstironie ein, dass es der Wächter in ihm war, der
seine Gefühle beeinflusste. Der Wächter, der Jahre auf den Tag gewartet hatte, einer
Jägerin zur Seite zu stehen. Er hatte hart für diese einzigartige Position gearbeitet
und dem Rat mehr als einmal beweisen müssen, dass er der zuverlässige Rupert
Giles war und nie wieder zum berüchtigten >Ripper< werden würde. Natürlich hatte
er sich bessere Ziele vorstellen können, als das amerikanische Kalifornien und eine
Jägerin mit einem etwas weniger absurden Namen als >Buffy< wäre auch nicht
schlecht gewesen. Trotzdem gehörte jener Tag zu den stolzesten seines Lebens, als
man ihm die Betreuung von Buffy Summers auftrug. Für sie kam er nach Sunnydale
– nur sie erschien nicht. Oder erst mit zwei Jahren Verspätung, rechtzeitig, um zu
sterben. Ihm hatte das Schicksal nur Minuten mit der Jägerin vergönnt, die die seine
hätte sein sollen und trotz ihrer ungehobelten Art war er sicher gewesen, eine Art
Verbindung zwischen ihnen zu erkennen, als sie vor ihm stand. Das Loch, dass ihr
Tod in sein Herz riss, das Gefühl des Verlustes, schmerzte noch heute fast so sehr,
wie der Tod Jennys.
Amy Madison war augenscheinlich weit davon entfernt, eine Jägerin zu sein, und
doch erkannte der Wächter in ihm die Gemeinsamkeiten im Schicksal einer jungen
Frau, die mit Fähigkeiten ausgestattet war, um die sie nie gebeten hatte und die sie
und andere in Gefahr bringen konnten, wenn niemand sie in die richtigen Bahnen
lenkte.
Das Nasenbluten hatte längst aufgehört, war aber zweifellos eine Folge des
exzessiven Magiegebrauchs gewesen. Giles fand es beunruhigend, konnte er doch
größere Schäden beim nächsten Mal nicht ausschließen. Eine Hirnblutung oder
einen Schlaganfall würde er nicht verantworten können, mochte das Ziel auch noch
so wichtig sein. Er wusste so wenig über die möglichen Auswirkungen der Magie.
„Wenn das hier vorbei ist“, sagte er. „Wenn wir beide es überleben sollten, dann
würde ich dir gern helfen. Wenn du mich lässt.“ Er konnte keine Reaktion aus ihrer
Miene ablesen.
„Denken Sie, ich verdiene das?“, fragte sie bitter. „Können Sie mir sagen, dass ich
ein guter Mensch bin?“
Er konnte ihre Gedanken nicht lesen und es war nicht seine Aufgabe, über sie zu
richten. Er sah im Rückspiegel Oz’ Wagen, in dem er mit Larry und Kendra folgte,
sah Amy, die eine Antwort erwartete. Giles sah auf die Straße, die sie zur Villa des
Meisters führen würde.
„Ja.“
Den Rest der Fahrt blieb Amy still und hielt den Kopf gesenkt. Sie hoffte wohl,
Giles würde ihre feuchten Augen nicht bemerken.
„Das ist beeindruckend.“ Larry pfiff anerkennend durch die Zähne.
„In der Tat“, stimmte Giles zu. Dem Wächter wurde beim Anblick des
Gebäudekomplexes, den man ihnen als >Villa< vorgestellt hatte, ziemlich unwohl. Es
war ein großes zweistöckiges Gebäude mit angelagerten Seitenflügeln und einem
großen verwilderten Park. „Jede Menge Platz für alle Arten unangenehmer
Überraschungen.“
„Es wurde vor etwa 100 Jahren erbaut“, mischte sich Amy nüchtern ein. „Nach
dem Amtsantritt des ersten Bürgermeister Wilkins erlebte Sunnydale damals eine
starke Wachstumsphase und lockte eine Reihe vermögender Leute an. Nach der
Anbindung an die Pacific Railroad 1876 und die Eisenbahnlinie nach Santa Fe einige
Jahre später boomte LA. Zur selben Zeit, ab 1899, baute LA in 15 Jahren einen
großen Hafen und die ganze Gegend …“ Sie verschluckte sich und verstummte unter
den irritierten Blicken ihrer Begleiter. „Ich hatte verflucht viel Zeit zum Lesen“, meinte
sie unsicher.
„Einen Grundriss hast du nicht?“, erkundigte sich Kendra und Giles konnte nicht
erkennen, ob es ein Scherz sein sollte.
„Leider nicht, aber …“ Amy grinste verschwörerisch. „Ich kenne den
Hintereingang.“
„Manchmal sagst du so schöne Sachen“, seufzte Larry mit gespielter Rührung.
„Es ist kurz nach Mittag“, sagte Giles. „Wenn wir jetzt wollen …“
„Wir wollen“, entgegnete Larry. Oz nickte, Kendra blieb stumm, Amy ebenso.
„Also.“
Auf Amys Rat hin umrundeten sie die Villa und näherten sich von hinten den
gusseisernen Gittern des Zaunes.
„Was denkst du über sie?“, flüsterte Oz leise an Larry gerichtet und machte eine
unauffällige Bewegung mit dem Kinn in Richtung der blonden Hexe.
„Scheint es ehrlich zu meinen“, flüsterte Larry zurück und überprüfte wie zufällig
seine Armbrust. „Aber im Zweifelsfalle habe ich sie lieber vor mir als hinter mir.“
Amy hob die Hand und lotste die kleine Gruppe in den Sichtschutz einer uralten
Eiche direkt am Zaun.
„Wir müssen sehr vorsichtig sein. So weit ich von Riley weiß, sind immer Vampire
hier stationiert, die mit modernen Waffen ausgerüstet sind.“
„Waffen?“, erkundigte sich Kendra ruhig. „Wie modern?“
„Pistolen, Gewehre, Handgranaten.“
„Handgranaten?“, fuhr Giles auf und rang um seine Fassung. „Hand-granaten?
Was bitte schön ist denn nur aus den Mächten der Finsternis geworden? Kann man
nicht mal von Vampiren ein winziges bisschen Traditionsliebe erwarten?“ Er stieß ein
empörtes Geräusch der Verachtung aus.
„Aber der Garten ist nicht vermint?“, warf Oz unbewegt ein.
„Soweit ich weiß nicht“, gab Amy zurück.
Giles fasste sich erschüttert an den Kopf. „Minen!“, stieß der Wächter hervor und
es klang wie ein Seufzer der Verzweiflung. „Was ist nur aus der guten alten Zeit
geworden?“
„Wenn Sie etwas Traditionelles wollen …“ Amy hob den Arm und strich durch die
Luft. Sie flüsterte undeutliche Worte. Nach und nach mischte sich ein grünlicher
Schimmer in die Luft vor ihr, wandelte sich schrittweise in eine giftgrüne flackernde
Barriere, die nach allen Seiten in gezackte Ränder auslief, die dem Kundigen
verrieten, dass das Kraftfeld nur ein kleiner sichtbar gemachter Bereich einer
umfassenden Sperre war. „Was halten Sie hiervon?“
„Ein Energiefeld?“ Giles rückte interessiert die Brille zurecht und kniff die Augen
zusammen. „Kannst du es auflösen?“
„Ich hab’s gemacht!“ Amy führte kurz aus, dass dieses Feld nicht tödlich war und
nur dazu diente, einen Alarm auszulösen, wenn sich jemand unerlaubt Zutritt
verschaffte. Eine weitere tödliche Barriere lag zehn Meter weiter im Parkinneren.
„Wie tödlich?“, fragte Oz.
„Du würdest danach keinen Friseur mehr brauchen. Aber die Beerdigung wäre
kostensparend.“ Amy fuhr mit ihrer Hand in die grüne Schicht und schob sie zur
Seite, ein schmaler Durchgang entstand. Sie brauchte nicht zweimal zu bitten. Hinter
sich schloss Amy die Wand wieder, die Sekunden später wieder unsichtbar war.
Giles fand es fast schon komisch, dass die Durchquerung eines magischen
Hindernisses ihnen weniger Zeit abverlangte, als die Überkletterung des Zauns.
Kendra sprang mit Leichtigkeit hinüber, für ihre weniger begabten Begleiter
gestaltete sich die Herausforderung größer. Schließlich sprang Kendra einfach auf
den Zaun, balancierte geschickt zwischen den spitzen Metallpfählen und half jedem,
soweit er es zuließ. Giles bestand darauf, es selbst zu schaffen, auch wenn er mit
dem Ärmel hängen blieb und sich so die Jacke aufriss. Doch die Würde des
Wächters blieb gewahrt.
„Hoffentlich sieht uns keiner“, meinte Larry. „Nicht, dass man uns für Einbrecher
hält.“
Amy zupfte einige Blätter von ihrem Parka und schüttelte den Kopf. „Hier gibt es
keine Nachbarn mehr.“
Larry lugte um einen Baum herum, auf die Villa, die von der kleinen Baumgruppe
durch ein schmales aber ungeschütztes Grasband getrennt war. Auf dem
ungepflegten Rasen rostete ein räderloser Rasenmäher vor sich hin. Insekten
summten zwischen den Blumen umher, es roch betörend. Es hätte eine kleine Idylle
sein können.
„Nett“, meinte Larry und ließ offen, ob er Amys Worte oder den Ausblick meinte.
„Könntest du uns irgendwie vor Entdeckung schützen?“, erkundigte sich Giles an
Amy gerichtet. Die Hexe dachte angestrengt nach.
„Unsichtbarmachen kann ich uns leider nicht. Ich kann Leute blind machen, aber
das dauert etwas. Außerdem bräuchte ich einige Hilfsmittel und etwas Privates aus
dem Besitz der Person.“
„Ja“, bemerkte Larry zynisch. „Leider kennst du ja nicht alle Mitglieder der Wache
eng genug.“ Amy biss sich verletzt auf die Unterlippe und senkte den Blick.
„Larry – reiß dich zusammen!“, mahnte Giles streng und mit Ärger in der Stimme,
der Larry abwehrend die Hände heben ließ. Giles legte Amy die Hand auf die
Schulter und flüsterte unhörbar für die anderen in ihr Ohr: „Ich glaube an dich.“ Er
drückte sanft ihre Hände auseinander, um die kleine Funken stoben. „Enttäusche
mich nicht. In Ordnung?“ Sie nickte und schritt erhobenen Hauptes auf den Rand der
Wiese zu.
Mit erhobenen Armen sprach sie eine leise Beschwörung und enthüllte eine rote
Sperre, in die sie eine Öffnung schuf.
„Lauft so schnell ihr könnt“, empfahl sie. Oz, Larry und Kendra befolgten die
Anweisung sofort und kamen nach keiner halben Minute an der grau verputzten
Wand an. Sie schoben sich in eine Vertiefung, die laut Amy die Hintertür versteckte.
Giles trat neben die Hexe. „Wollen Sie noch lange warten?“, fragte sie. Kleine
Schweißperlen funkelten auf der bleichen Stirn.
„Du wirst uns nicht im Stich lassen?“, fragte er unvermittelt. Zuerst wollte Amy ihn
verbittert anfahren, zerstörte er doch das junge Pflänzchen des Zutrauens, das eben
gerade zwischen ihnen zu wachsen begonnen hatte. Sie gab dem Impuls nicht nach,
erkannte sie doch, dass er etwas bemerkte, dass tief in ihr war, ohne dass sie bis
jetzt bewusst darüber nachgedacht hatte. Natürlich würde es ein mörderischer
Kampf, den sie mit großer Sicherheit nicht überlebte. Wem war sie es schuldig, bei
solch einem Himmelfahrtskommando mitzumachen? Den Menschen, die ihr Verrat
getötet hatte? Giles, der sie befreite? Ihrem eigenen Gewissen? Oder wäre es nicht
viel besser, hier zu verschwinden und die Fähigkeiten, die sie erworben hatte,
gewinnbringend einzusetzen. Sie war weit von der ängstlichen Amateurin entfernt,
die sich hatte einfangen und versklaven lassen. Was könnte eine junge gut
aussehende und mächtige Hexe nicht alles in Los Angeles oder Las Vegas
anstellen? Giles und seine Leute würden sie nicht aufhalten können, wenn sie jetzt
umdrehte und davon lief.
„Ich habe es erwogen“, gab sie kleinlaut zu. „Einen … Rückzug.“ Es klang viel
schuldiger, als ihr lieb war. „Aber ich muss das hier zu Ende bringen. Es muss sein.
Da ist zuviel offen.“
„Wir sehen uns drüben“, sagte der Wächter schlicht und spurtete mit Armbrust und
Schwert über den Rasen, so schnell er konnte. Der Anblick des urbritischen
Brillenträgers in seinem Tweedanzug, der so sehr nach Bibliothekar schrie und nun
eine unerwartete Figur als Läufer machte, ließ Amy lächeln.
Sie folgte im.
Oz zerrte an dem Vorhängeschloss und suchte nach einer Waffe, um die Tür
aufzubrechen. Kendra schob ihn zur Seite.
„Lass das einen Profi machen“, erklärte die Jägerin spöttisch, zog einmal kurz an
dem Schloss und ließ dann das nun unnütze Teil fallen. Sie gab der Tür einen Stoß
mit dem Zeigefinger und sie schwang knarrend auf.
„Showtime“, flüsterte Larry.
Es war düster im Haus. Kendra hatte auch keine Solarlampen erwartet. Es roch
muffig und alt, halb nach schlecht gelüftetem Gemäuer und halb nach Gruft. Vor
ihnen lag ein schmaler Gang, der in ein weiträumiges Treppenhaus mit einer prächtig
verzierten großen Treppe überging. Amy schob sich vorbei und stellte sich an die
Spitze ihrer kleinen Gruppe, Kendra bildete die Nachhut. Sie waren alle kampfbereit
und bis zum Letzten angespannt, doch es gab nichts zu bekämpfen. Noch nicht. Der
dicke Teppich schluckte ihre Schritte, gab Kendra aber kein Gefühl von Sicherheit.
Aus Erfahrung wusste die Jägerin gut genug, dass die Sinne eines Vampirs weit
schärfer sein konnten, als die eines Menschen.
Amy hob die Hand und sie stoppten. Plötzlich begann ihre Handflache zu
leuchten und enthüllte einen weiteren Teil des düsteren Treppenhauses. Oz
beobachtete sie neugierig, griff in seine Jacke und hielt Amy eine Taschenlampe vor
die Nase.
„Du hättest fragen können.“
Die Treppe machte eine Biegung auf halber Höhe und endete im zweiten Stock in
einer Galerie, die einen guten Überblick nach unten bot. Im Gegenzug konnten sie
von unten nicht erkennen, was sich oben versteckte. Ein Zustand, der Kendra in
Alarmbereitschaft versetzte. Sie hörte einen Knall und sah auf der Galerie ein kleines
Funkeln aufblitzen und verlöschen. Sie wusste im selben Sekundenbruchteil, dass es
kein Pfeil war, den sie abwehren könnte, sondern eine Kugel.
Sie zog Oz zur Seite und rettete ihn gerade noch vor dem Projektil, das lautstark
in den Boden einschlug und eine Staubwolke produzierte. Von oben ertönten ein
Fluch und laute Rufe. Zwei weitere Schüsse verfehlten Giles, dann stellte der
Schütze das Feuer ein.
„Was ist jetzt?“, fragte Larry und drückte sich neben seine Freunde unter die
Treppe.
„Das ist ein Profi“, erklärte Kendra. „Er schießt nur gezielt.“
„Oh Klasse.“
Kendra erwog im Schnelldurchlauf ihre Möglichkeiten, fand die Ergebnisse aber
wenig ermutigend. Alle ihre Waffen waren für den Nahkampf geeignet. Wenn sie die
Position des Schützen herausfand, und ihn mit der Armbrust unter Feuer nahm …
„Ich mache das“, verkündete Amy in diesem Moment.
„Kannst du Kugeln abwehren?“, fragte Giles überrascht.
„Ich bin schnell“, erwiderte sie und die Tatsache, dass sie Giles Frage auswich,
gefiel Kendra nicht. Sie hielt die Hexe für suspekt und wenig vertrauenswürdig.
Dennoch war sie ein Mensch. Die Jägerin griff nach Amys Arm, doch die Blonde
sprang in derselben Sekunde aus der Deckung und hob völlig überraschend für
Freund und Feind vom Boden ab.
Von oben ertönten gleichzeitig zwei Schüsse, der Heckenschütze hatte
Verstärkung erhalten. Sie waren von Amys Flugkünsten zu überrumpelt, um schnell
genug reagieren zu können.
„Sie hatte nicht mal einen Besen …“, hörte Kendra von dem fassungslosen Larry.
Da hechtete sie auch schon aus der Deckung, rollte sich ab und suchte mit der
Armbrust ein Ziel. Über ihr erreichte Amy soeben einen dunklen Umriss, den Kendras
Augen, die sich mittlerweile dem Halbdunkel angepasst hatten, nun deutlich
wahrnahm. Wie auch den zweiten Schatten, der auf sie anlegte und abdrückte. Sie
schoss gleichzeitig einen Pfeil auf ihn und warf sich herum. Hinter ihr peitschte die
Kugel auf den Boden. Über ihr ertönte ein Schrei, der verriet, dass sie getroffen, den
Vampir aber nicht vernichtet hatte. Das Schmerzbrüllen mischte sich mit einem
neuen Schuss und einem anderen angsterfüllten Schrei einer Frauenstimme – Amy.
Kendra kam wieder auf die Beine, rechtzeitig, um sich Giles, Oz und Larry
anzuschließen, die todesmutig an ihr vorbei rannten, um die Treppe zu erstürmen.
Auf halber Höhe erkannte die Jägerin gut, was vor sich ging: Amy rang mit einem
Vampir, der ihre Hände umklammert hielt. Der zweite Wächter, beide trugen eine
grüne uniformartige Kleidung, zog sich gerade den Pfeil aus dem Kopf. Kendra ließ
im keine Zeit, sondern feuerte erneut. Dieser Pfeil ging ins Herz.
Es war Larry, der als erster und mit gezücktem Pflock auf den Vampir losging, der
Amy festhielt. Der Untote explodierte und hüllte Amy in eine eklige Staubwolke.
„Danke“, sagte sie und Larry winkte verlegen ab.
„Schon gut“, meinte er. „Deswegen sind wir ja hier.“
„Warum hast du ihn nicht einfach vernichtet?“, fragte Oz und suchte die Gänge,
die rechts und links abzweigten, nach Gefahren ab. „Wie in dem Abbruchhaus.“
Amy klopfte den Staub von den Ärmeln und dachte kurz nach. „Etwas stimmt hier
nicht. Ich bin eingeschränkt.“
„Ein Bann?“, warf Giles ein.
„Möglich. Aber keiner von meinen.“
Es war still um sie, nichts bewegte sich im Haus.
„Hier müssen noch mehr sein“, sagte Kendra bestimmt. „Und sie müssen das hier
mitbekommen haben. Sie warten.“ Sie kniff die Augen zusammen. „Wohin?“, fragte
sie Amy. Die Hexe senkte hilflos den Blick.
„Ich habe keine Ahnung. Der Meister hat mich immer nur unten empfangen. Ich
war auch nur zweimal hier.“
„Woher wissen wir überhaupt, dass er hier oben ist?“, gab Larry zu bedenken.
Noch immer herrschte eine gespenstische Totenstille, die mehr an den Nerven
zerrte, als ein Vampirkriegsgeschrei. „Wie viele Zimmer hat dieser verdammte Bau
eigentlich?“
„Verdammt ist das Stichwort“, meinte Oz ungerührt.
„Wir können uns nicht aufteilen“, sagte Giles abwägend. „Andererseits würde sich
der Meister einem Kampf nicht entziehen. Er könnte es sich nicht leisten, es würde
seine Autorität in Frage stellen.“
„Eine Einladung sehe ich hier aber auch nirgendwo.“ Larry lehnte sich auf die
Brüstung und sah hinab, auf die Treppe, unter der sie sich vor einer Minute noch
versteckt hatten. War da nicht eine Bewegung, versteckt hinter einer dekorierten
Säule? Larry zielte. Bevor er zum Zug kam, wurde ein Arm sichtbar, der ausholte.
Etwas flog direkt auf seinen Kopf zu. Larry wich geschickt zur Seite aus und das
Objekt landete mit metallischem Klicken auf dem Steinboden. Sie sahen es alle und
erkannten es sofort. Der junge Mann sprang ohne Nachzudenken die Treppe
herunter und überschlug sich, während hinter ihm die Handgranate explodierte …
Plötzlich waren sie da und ergossen sich wie eine unaufhaltsame Welle aus dem
Gang zur Linken, gleichzeitig eilten drei Vampire die Treppe herauf. Amy sah, wie sie
über Larrys regungslosen Körper sprangen und ihn nicht weiter beachteten. Kendra
schrie auf und sprang dem guten Dutzend Vampire entgegen, das mit Schwertern
und bloßen Händen auf sie zustürmte. Zum Glück wollten die Vampire jetzt wohl den
traditionellen Weg wählen. Amy bezweifelte allerdings, dass es dadurch wirklich
einfacher wurde.
Die Granate hatte einen Teil der Balustrade weggesprengt und Steinstücke auf die
Treppe und den Boden verteilt. Trotzdem schätzte Amy die Sprengkraft nicht als
besonders hoch ein. Die Angreifer hatten keinen unnötigen Schaden in der Residenz
ihres Herren und Meisters anrichten wollen, vermutete sie. Die Hexe richtete sich auf,
die Hand auf das Schränkchen gestützt, dass ihr glücklicherweise Deckung geboten
hatte. Ihr Kopf dröhnte und in ihrem linken Ohr hielt sich beständig ein schmerzhafter
Pfeifton.
Soeben fegte Kendra durch eine Reihe von vier grimmig aussehenden Vampiren.
Sie verschaffte ihren Freunden Zeit, doch ob sie allein gegen so viele Gegner ankam,
konnte Amy nicht beurteilen. Immerhin blockierte die Jägerin erfolgreich den
gesamten Seitengang. Die drei von unten kommenden Untoten erreichten
gleichzeitig hinter Kendras Rücken die Galerie. Instinktiv riss Amy einen Arm hoch
und schleuderte einen aus der Dreiergruppe, einen dürren Vampir in der Uniform von
Rileys Leuten, zurück in den Saal. Die Blicke der anderen beiden richteten sich
drohend auf sie, die vor Schmerz aufstöhnte und erst jetzt den tiefen Schnitt in ihrem
rechten Unterarm bemerkte. Blut besudelte den Stoff, der sich rasch verfärbte.
Amy war zu beschäftigt mit der Frage, was sie noch abbekommen haben mochte,
so dass sie Oz erst bemerkte, als er neben den zwei Soldaten, die auf sie zu
rannten, aus dem Nichts auftauchte und den rechten mit dem Schwung seiner
eigenen Bewegung köpfte. Der andere Vampir brüllte zornig und verwickelte Oz in
ein Handgemenge. Hilflos sah Amy zu Larry hinab, der auf den Stufen lag und sich
nicht regte, zu Kendra, hinüber, die noch immer verzweifelt und erfolgreich der
Übermacht trotzte, zu Oz in seinem Zweikampf. Wo war Giles? Da fand sie den
Wächter.
Er lag am Boden, halb an die Wand gelehnt. Die Augen waren geschlossen, die
Brille verschwunden. Ein Blutsrom färbte seine linke Gesichtshälfte in ein Rot, das
durch die Schatten schwarz wirkte. Ein Teil eines Holzbrettes lag quer über ihm.
„Nein …“, flüsterte Amy. Sie machte unwillkürlich einen Schritt rückwärts, in den
Gang hinein, der den einzigen Fluchtweg bildete. Sie fühlte im selben Moment, dass
sie nicht allein war. Jemand stand hinter ihr, im Dunkel, und hatte wie sie die
Geschehnisse beobachtet. Im Bruchteil einer Sekunde legte sich eine Hand auf ihren
Mund, ein Arm schlang sich um ihre Hüfte. Der Mund an ihrem Ohr war kalt wie die
Hand, die Körpertemperatur einer Leiche. Untot.
„Hallo Liebling“, hörte Amy und schluckte schmerzhaft. „Kommst du mich bei der
Arbeit besuchen?“
Die Tür ging direkt von dem Gang ab, war aber so in die Wand eingelassen, dass
ein Außenstehender sie kaum erkennen konnte. Amy ließ zu, dass Riley sie
hineinzog. Er stieß sie von sich und warf die Tür ins Schloss. Noch bevor sie sich
völlig umzudrehen vermochte, war er wieder bei ihr, umfasste ihre Handgelenke und
trieb sie gegen die Wand des engen Zimmers. Es war völlig leer, vielleicht eine
ungenutzte Abstellkammer.
Amy hatte gewusst, dass sie aufeinandertreffen könnten und gehofft, es möge
nicht dazu kommen. Riley. Der einzige aller Vampire der ganzen Welt, den sie nicht
hassen konnte. Nicht genug jedenfalls, um ihn zu vernichte. Er sah sie forschend an,
grinste – und presste seine Lippen auf ihre. Sie hatte alles unternommen, um ihm
das abzugewöhnen, um ihn davon abzuhalten, sie zu küssen. Er hatte manches von
ihr verlangt und sie hatte sich gefügt, es als Preis für den Schutz und die Sicherheit
gesehen, die sie in seiner Obhut genoss. Nur küssen – das wollte sie nicht. Weil sie
dann das Blut schmeckte, das manchmal ihres war und oft das von anderen
Menschen. Sie hatte ihn mit anderen Dingen abzulenken versucht und ihn angefleht,
als er sie irgendwann darauf ansprach. Aber natürlich hatte es ihn nie gestört.
„Was soll dieser Unsinn?“, fragte Riley amüsierter, als sie vermutet hätte. Noch
immer drückte er ihre Handgelenke gegen die Wand. Es tat nicht weh. Solange sie
keinen Widerstand leistete, reichte ihm ein sanfter Griff. Sie kam sich plötzlich wieder
so schwach vor, wie in den vergangenen Jahren. Die Hexe Amy Madison wollte den
Vampir vor ihr in Flammen aufgehen lassen. Er sollte büßen, für allen Schmerz und
alle Erniedrigungen, die sie hatte in Kauf nehmen müssen. Aber er war nicht nur ein
Vampir, er war auch Riley. Der Riley, der ihr Brownies mitbrachte und lachend
beobachtete, wie sie sich darauf stürzte. Der Mann, der sich beinahe liebevoll um sie
gekümmert hatte, als sie mit Grippe im Bett lag und glaubte, sterben zu müssen.
Sie konnte es nicht. Und er hatte keine Ahnung, welche Bedrohung sie für ihn jetzt
hätte darstellen können, hätte sie es gewollt. Noch nahm er sie nicht ernst. Das sollte
er aber. Ja, wenn Amy ehrlich war, wollte sie, dass er ihre Stärke akzeptierte. Er
sollte zugeben, dass sie nicht länger sein schwaches Spielzeug war. Er musste sie ja
nicht gleich fürchten, wenigstens respektieren.
„Wir sind wegen des Meisters hier“, sagte sie kühl und selbstsicher. Er zog die
Brauen hoch.
„Ja, ich erinnere mich an die Verrückten da draußen. War das nicht dieser
seltsame Wächter?“ Er lachte. „Ich dachte, der wäre schon längst tot.“ Sein Blick glitt
über ihr Gesicht und ihren Hals. Gegen ihren Willen wurden sie rot. „Weißt du, dass
ich noch nie deinen Hals gesehen habe?“
Sie hatte gedacht, es wäre ihm noch nicht aufgefallen, dass sie frei von ihrem
Halsband vor ihm stand, stattdessen maß er dem offenbar einfach keine Bedeutung
bei. Ziemlich arrogant. Amy fuhr zusammen, als Riley seinen Mund auf ihren Hals
drückte, für eine Sekunde glaubte sie, er bisse zu, doch er küsste sie nur. Es war ein
seltsames und beunruhigendes Erlebnis. Am beängstigendsten war, dass sie es
nicht unangenehm fand.
„Den Meister sucht ihr, ja?“
Sie nickte. So nah, wie er ihr war, hätte sie seinen Atem heiß auf der Haut spüren
müssen, hätte er einen gehabt.
„Ich hätte dich für klüger gehalten, Schatz.“
„Wir wollen ihn vernichten.“ Er sah ihr in die Augen, fast berührten sich ihre
Nasenspitzen. Amy fragte sich, warum sie keine Angst empfand. „Hilf uns.“
„Ich soll euch helfen?“
„Du willst ihn genauso loswerden, wie wir.“
Er ließ ihre Hände los, trotzdem hielt sie die Arme weiter neben sich, an die Wand
gelehnt. Sie fühlte, dass sein Zeigefinger über ihre Lippen fuhr und atmete scharf ein.
„Möglich … Aber nicht jetzt.“
„Wann dann?“ Amy bettete ihre Hände auf Rileys Schultern und legte den Kopf
schief.
„Auf wessen Seite bist du?“, fragte Riley misstrauisch. „Wenn ich euch helfe, den
Alten los zu werden, bin ich der Nächste auf eurer Liste. Das bringt mir absolut
nichts.“
„Dann willst du gegen mich kämpfen?“
Er umfasste ihren Kopf mit der rechten Hand, streichelte mit dem Daumen ihre
Wange.
„Dir könnte ich auch ein anderes Angebot machen.“
Sie erstarrte. „Du willst mich töten?“
„Ich will dir ewiges Leben schenken.“
Natürlich hatten sie darüber nachgedacht und manchmal darüber geredet, wie es
sein könnte. Riley konnte sie nicht in einen Vampir verwandeln, weil der Meister ihn
dafür vernichtet hätte. Ohne den Meister allerdings …
„Nein!“, sagte Amy sehr entschieden. „Auf keinen Fall.“ Sie stieß Riley von sich,
ging an ihm vorbei. Als er seine Arme um sie schloss und wieder an sich zog, wehrte
sie sich aber nicht.
„Warum? Du hast keine Vorstellung, wie mächtig du sein würdest. Du könntest es
womöglich wirklich mit dem Meister aufnehmen. Und zusammen …“
„Meine Freunde wären bis dahin tot.“
„Glaube mir“, hauchte er in ihr Ohr. „Das wäre dir dann völlig egal.“
Amy fuhr zusammen und befreite sich energisch.
„Ja“, murmelte sie tonlos in jähem Begreifen. „Weil ich nicht mehr ich wäre. Ich
wäre tot und an meiner Stelle würde ein Dämon in mir leben.“ Sie durchbohrte Riley
mit den Augen. „Du bist nicht Riley Finn, du bist das, was ihn getötet hat.“ Sie wandte
sich ab, wollte zur Tür.
„Also das verletzt mich jetzt doch, Liebling.“ Er griff nach ihrem Arm, hinderte sie
am Gehen. „Du hast mir nie gesagt, dass du so denkst. Du hast ja richtig Mut
bekommen.“ Er sah ihr in die Augen und sie war nicht fähig, den Kopf abzuwenden.
„Zumal du weißt, dass es nicht ganz so einfach ist.“
Ihre Lippen zitterten. Dann senkte sie den Kopf. „Ja.“
„Das hier gefällt mir nicht“, erklärte Riley. „Es kommt zum ungünstigsten Zeitpunkt.
Trotzdem werde ich dich nicht aufhalten.“ Er presste seine Hand gegen die Wand
und eine weitere verdeckte Tür schwang zurück. „Wenn du dort lang gehst und dich
rechts hältst, dann kommst du zum Meister. Und stirbst.“
„Meine Freunde?“
„Ich halte mich raus.“
„Verschwinde von hier“, bat sie leise. Als Amy in den Gang ging, hörte sie hinter
sich Rileys leiser werdende Stimme.
„Wenn du überlebst, dann wirst du dich irgendwann fragen, ob du dich richtig
entschieden hast. Ob du wirklich alt werden willst, krank und schwach. In fünf oder in
zehn Jahren wirst du in den Spiegel sehen und an mich denken. Mein Angebot gilt
weiter. Du wirst wissen, wo du mich findest.“
Sie sah nicht zurück.
Auf den grellen Blitz folgte die Dunkelheit. Er hätte Schmerz empfinden sollen,
auch wenn er nicht wusste, warum. Es war so ein schöner Tag. Die Sonne stand
hoch an einem blauen Himmel mit sanften weißen Wölkchen, ein kühler Wind wehte
vom Ozean herüber und trieb das Laub über den wilden Rasen. In der Ferne spielten
Kinder und ihr unbeschwertes Lachen drang an sein Ohr.
„Sie können nie aufhören zu fragen, oder?“
Giles rückte seine Brille zurecht und sah das junge Mädchen an, das neben ihm
auf der Parkbank saß und die Beine ausstreckte.
„Nancy“, sagte er freundlich. Er schüttelte den Kopf. „Das ist nicht real oder?“
„Nein. Aber hübsch.“ Sie lächelte und genoss die Sonnenstrahlen, die ihr Gesicht
wärmten.
„Warum bin ich hier?“, fragte der Wächter. „Bin ich tot?“ Sie schüttelte den Kopf.
„Noch nicht. Ich habe Sie hergebracht.“ Sie verschränkte die Hände im Schoß und
blickte in die Ferne, die sich, wie Giles bemerkte, in unendlichem Weiß verlor. „Ich
dachte, Sie würden eine Erklärung verdienen. Sie verdienen es, zu wissen, was sie
geleistet haben.“
„Die Welt ist noch immer so, wie sie vorher war. Cordelia Chase, der Wunsch.
Was sollte das alles? Was hat es bewirkt?“
Nancy hob ihre Hände und hielt sie parallel zueinander. „Wie Sie wissen, gibt es
neben dieser Dimension … besser gesagt Ihrer Dimension, viele weitere. Dämonenund Höllendimensionen, aber auch Parallelrealitäten, die dieser ähnlich sind, sogar
fast völlig identisch. Jede Entscheidung, die sie jemals getroffen haben, ist in
irgendeiner Welt Realität geworden. Als Cordelia Chase den Wunsch aussprach,
Buffy Summers wäre niemals nach Sunnydale gekommen, da ahnte sie natürlich
nicht, dass es längst Welten gab, in denen genau das passiert war.“
„Diese hier?“, warf Giles ein.
„Zum Beispiel. Nun gibt es ganz verschiedene Möglichkeiten, bestehende
Realitäten zu verändern. Der sauberste Weg ist der, dass man alles in seiner
Dimension lässt und einfach eine Art Schicht über die bestehenden Dinge wirft.
Falsche Erinnerungen und so. Ist ziemlich aufwendig und in den Details geht immer
irgendwas schief. Eine andere Möglichkeit ist die, jemanden in eine andere Realität
zu versetzten, dann gibt es aber dieses leidige Doppelgängerproblem.“
„Was hat Anyanka getan?“
„Sie hat zwei bestehende Welten einfach gekoppelt, praktisch verschmolzen.“
Nancy schnaubte. „Eigentlich ziemlich kompliziert, aber diese Rachedämonen
glauben immer, sie müssten alles machen, nur weil sie es können. Vermutlich hatte
Anyanka selbst keinen Schimmer, was sie da machte. So helle ist sie auch nicht.“
„Und indem ich ihr Amulett zerstörte …“
„… trennten Sie die Realitäten. Drüben ist jetzt alles wieder so, wie es sein soll.
Hier auch.“
„Wie es sein soll …“, murmelte Giles bitter. Nancy zuckte mit den Schultern.
„Man muss die Dinge nicht lieben, aber sie sind, wie sie sind.“
„Wenn Anyanka zwei Realitäten manipuliert hat“, sinnierte Giles. „Was ist dann mit
der Anyanka aus unserer Welt? Müsste es nicht in beiden Welten eine Anyanka
geben?“
„Mein Gott“, stöhnte Nancy. „Sie können wirklich nie aufhören zu fragen. Sagen
wir einfach: D’Hoffryn und seine Kinder residieren in noch einer anderen Dimension,
deshalb ist Realität für die auch anders, als für uns. Oder für Sie.“
„Und was bist du?“
„Ich gehöre zum Putzkommando. Wir sorgen dafür, dass die brüchigen Strukturen
des Universums nicht zu sehr belastet werden.“
Er musterte sie forschend. „Bist du ein Mensch?“
„Oje.“ Sie stützte den Kopf auf die Hand und erwiderte seinen Blick. „Sagen wir:
irgendwie schon. Ich habe dieses Leben gelebt. Und ehrlich gesagt habe ich ziemlich
Mist gebaut, denn die Trennung, die Sie herbeigeführt haben, wäre meine Aufgabe
gewesen.“
„Was ist mit Buffy Summers? Wenn sie in dieser Welt ganz regulär nicht nach
Sunnydale gekommen ist, was hatte es dann mit der Prophezeiung auf sich?“ Er
hoffte, dass sie ihn verstand.
„Die Prophezeiung sagte, dass Buffy Summers vom Meister getötet wird. Das war
zwingend. Früher oder später musste das passieren.“
„In der anderen Welt auch?“
Nancy grinste schief. „Ja. Allerdings ist sie da nicht tot geblieben.“
Giles erkannte, dass er mehr von ihr nicht erfahren würde. Vermutlich würde er
mehr auch kaum verstehen können. Er hätte gern noch Fragen gestellt, wäre gern
hier geblieben, an diesem friedlichen Ort, wo es so ruhig und sicher war. Doch dies
war nicht seine Realität.
„Sie sollten jetzt zurück kehren“, sagte Nancy, als habe sie seine Gedanken
gelesen. Womöglich traf das sogar zu. „Man braucht Sie.“
„Sehen wir uns wieder?“
„Möglich …“
Amy nahm an, dass die Säulenhalle ursprünglich eine Glaskuppel besessen hatte,
die das Licht von oben hereinließ. Die Vampire hatten das Glas ausgetauscht oder
mit undurchsichtiger Farbe bearbeitet, so dass die Halle jetzt überaus düster und
unheimlich wirkte. Wenige Lampen verbreiteten ein schwaches Licht und die Säulen
warfen lange sich überschneidende Schatten. Es ähnelte mehr einer Höhle, denn
einem von Menschenhand geschaffenen Ort.
Die Hexe dachte darüber nach, die Abdeckungen des mutmaßlichen Glasdaches
mit einem Zauber zu entfernen. Mit dieser Überraschungstat hätte sie schlagartig
jedem Vampir, der hier lauern mochte, den Gar ausgemacht, oder ihm zumindest ein
Problem beschert. Sie ließ es sein, weil sie ihre Kräfte nicht für etwas verschwenden
wollte, dass sie womöglich überforderte. Sie war schwach. Das konnte sie nicht
bestreiten und nicht ignorieren. Etwas an diesem Ort lähmte sie und lockte sie
gleichzeitig mit Sirenengesang weiter. Sie glaubte, der Quelle näher zu kommen.
Einem Zentrum magischer Energien. Eine hinterhältige Falle, die ihr Opfer
unterbewusst motivieren sollte, ins eigene Verderben zu laufen. Amy durchschaute
den Trick, hatte aber kein Gegenmittel parat.
Sie ging durch die Säulen und tastete hektisch mit allen Sinnen nach ihrem
Gegner. Wenn nur das Knistern der Magie in der Luft sie nicht ständig verwirrt hätte!
Es machte wohl wenig Sinn, sich anzuschleichen. Ein Vampir würde allein den
Geruch ihres Blutes über eine größere Distanz riechen, als sie zu hören im Stande
war.
„Hallo?“, fragte Amy. Sicherlich alles andere als intelligent, aber wenn sie den
Meister schon nicht überraschen konnte, dann wollte sie wenigstens ihre Nerven
nicht mit überflüssiger Warterei und Versteckspiel foltern. „Jemand da?“
Eine Gestalt löste sich aus den Schatten und kam mit gelassener Langsamkeit auf
Amy zu.
„Miss Madison“, sagte der Meister ruhig. „Was für eine unerwartete Überraschung.
Gibt es einen Grund dafür, dass Sie mich besuchen?“
Amy hatte es längst aufgegeben, diesen Vampir verstehen zu wollen. Er war kein
Mensch und dazu so unvorstellbar alt. Alles, was sie über ihn zu wissen brauchte,
war, dass er trotz aller Freundlichkeit nie ihr Freund gewesen war. Er war ein böses
altes Ungeheuer, das unendlich viel Schmerz und Leid verursacht und weit über jede
natürliche Lebensspanne hinaus existiert hatte. Es war für ihn längst Zeit zu gehen.
„Göttin Hekate!“ Amy überkreuzte die Arme und hörte das Knirschen der gelben
Blitze um ihre Hände. „Erhöre mein Flehen!“ Sie riss die Arme hoch und richtete all
die Wut, allen Schmerz, all die Ohnmacht der vergangenen Jahre gegen den
Vampirherrscher vor sich. Sie investierte alle Kraft, die sie noch aufbringen konnte, in
diesen entscheidenden Fluch. „Vernichte diese unreine Kreatur!“ Der Schrei hallte
von den hohen Wänden wieder und es wurde dunkel um Amy.
Sie sank auf die Knie, ihre Beine gaben nach. Für Sekunden wurde es völlig
Schwarz vor ihren Augen. Als Amys Blick sich langsam klärte, sah sie auf ein paar
schwarzer Stiefel direkt vor sich. Sie blickte auf, zum Meister, der sie aus roten
Augen ungerührt musterte.
„Interessant“, sagte er. „Unter anderen Umständen hätte das funktionieren
können.“ Sein Arm schoss vor und seine Klauenhand umschloss mit
schraubstockartigem Griff Amys Hals. „Doch ich fürchte, Ihre Götter können Sie hier
nicht hören.“ Als sei sie leicht wie eine Puppe hob er Amy mit einer Hand in die
Höhe. Sie stöhnte vor Enttäuschung und Qualen, das Stöhnen ging in ein
Schnappen nach Luft über, als Amys Füße den Bodenkontakt verloren. Ihre Augen
traten groß aus den Höhlen und sie strampelte instinktiv und verzweifelt, bis ihre
Bewegungen rasch immer schwächer wurden.
„Bitte …“, keuchte sie.
„Es ist ein wenig bedauerlich“, meinte der Meister. „Aber es war abzusehen, dass
es so enden würde. Falls es Ihnen etwas bedeutet – Sie waren wirklich nützlich. Ein
wenig.“ Er hob seine andere Hand vor ihr Gesicht und ballte alle Finger außer dem
Zeigefinger zur Faust. „Es wird schnell gehen und nicht wehtun. Nicht sehr.“ Ein paar
Tränen liefen über Amys ungläubiges Gesicht, als der messerscharfe Fingernagel
des Meisters sich in ihre Halsschlagader bohrte. „Ich denke, ich werde Sie
vermissen, Miss Madison.“
Sie gab einen leisen jammernden Laut von sich und schloss die Augen.
„Warum suchst du dir nicht jemanden in deiner Größe?“
Die zynischen Worte hingen schneidend im Raum. Der Meister sah ruhig über
seine Schulter. Wenn er überrascht war, so zeigte er es nicht. Er begutachtete nur
ausgiebig das dunkelhäutige Mädchen, das in einigen Metern Entfernung in eine
eindeutige Kampfstellung ging. Ein Ärmel war zerrissen und getrocknetes Blut
markierte einen hässlichen Schnitt in ihrer Stirn. Ihr Kampfeswille war nicht
beeinträchtigt.
„Die Jägerin“, sagte der Meister fast gelangweilt. „Schon wieder.“ Er schleuderte
Amy von sich, die wie eine leblose Gliederpuppe auf den Steinboden prallte und
unbeweglich liegen blieb. Ihre Halswunde schimmerte rot und Kendra konnte nicht
erkennen, ob die Hexe noch lebte. Momentan konnte sie ohnehin nichts für Amy tun,
außer ihren Auftrag zuende zu führen.
Sie hatte den Seitengang einige Zeit verteidigen können, bald kam ihr Oz zu Hilfe.
Als die Zahl der Gegner überhand nahm, hatte sie ihm gesagt, er solle dem
verletzten Larry beistehen, der mittlerweile aufgewacht war und sich auf der Treppe
mühsam einige Vampire vom Hals hielt. Sie selbst trat den Rückzug tiefer ins Haus
an, auch wenn es ihr Herz brach, dass sie nichts für Giles tun konnte, der
unverändert wie ein Toter am Boden lag. Der Instinkt einer Jägerin leitete sie durch
das Labyrinth der Zimmer bis in diese Säulenhalle. Sie glaubte fest daran, dass eine
Jägerin nie zufällig an einen Ort kam, sondern dass die Mächte, die sie zur
Beschützerin der Welt ausersehen hatten, ihr den Weg vorgaben. So würde sie sich
auch heute hier dem Gegner stellen, der womöglich ihr Schicksal sein würde.
Dass sie in der Halle ausgerechnet die Hexe in einer ausweglosen Situation fand,
rehabilitierte Amy in Kendras Augen für alle ihre früheren Verfehlungen und
Schwächen. Wenn sie ehrlich war, war Kendra sicher gewesen, dass Amy sie im
Stich gelassen hatte und geflohen war. Es hätte zu ihrer Meinung über das Mädchen
gepasst, dass für sein jämmerliches Leben dem Bösen gedient hatte. Nun tat ihr
dieses ungerechte Urteil leid. Amy verdiente Gerechtigkeit, selbst wenn es das Letzte
sein sollte, dass Kendra noch für sie tun konnte. Die Hexe mochte ihr Leben verloren
haben, doch sie hatte immerhin ihre Würde zurückerlangt.
Die Jägerin wirbelte durch die Luft. Ihr Fuß sollte direkt in des Meisters Gesicht
landen, streifte aber nur leicht seine Wange, da er mit überraschender Gewandtheit
im letzten Moment auswich. Sie deckte ihn mit einem Hagel aus Schlägen und Tritten
ein und versuchte, aus seiner Abwehr ein Muster herauszulesen, das sie
durchbrechen konnte. In ihrer Jacke spürte sie deutlich >van Helsing<, ihren
Lieblingspflock, auf einen solchen Einsatz hatte er Jahre gewartet.
Plötzlich zog sich der Meister zurück, ließ sie ins Leere laufen und nutzte eine
Säule als Deckung. Kendra verpasste ihm einen mustergültigen Kick, musste aber
am Schmerz in ihrem Bein erkennen, dass sie statt des Vampirs nur Stein erwischt
hatte. Er war gut, erfahren und beherrscht. Auf einmal stand der Meister direkt vor
ihr. Drei Meter freie Luftlinie entfernt. Sie sprang vorwärts, wirbelte durch die Luft und
setzte zu einem Tritt an, der den Meister von den Beinen fegen sollte. >Van Helsing<
lag in ihrer Hand. Doch ihre Füße gingen ins Leere. Sie nahm den Meister neben
sich wahr, der wieder ausgewichen war, sah seinen Schlag wie in Zeitlupe kommen,
der sie böse erwischte und aus der Flugbahn hob. Das kleine Klacken, mit dem >van
Helsing< über den Mosaikboden kullerte, mischte sich mit dem dumpfen Knacken
von Kendras Schädel, als ihr Kopf gegen eine Säule prallte …
Der große Riley und seine hochgelobten Soldaten. Wo waren sie denn jetzt, seine
Leute? Der Meister hatte von Anfang an nie einem anderen Wesen zuviel Vertrauen
geschenkt, nur sich selbst. So hatte er die Jahrhunderte überlebt, während die
meisten anderen Vampire kamen und wieder im Vergessen verschwanden. Er hatte
auch dieses Mal gesiegt. Ein Sieg, auf den Stolz zu sein er sich durchaus erlauben
konnte.
Amy Madison war keine echte Bedrohung gewesen, zu keinem Zeitpunkt. Sie
mochte eine Hexe sein, aber noch mehr war sie ein Mensch – und einen Menschen
würde der Meister nie fürchten. Er hatte sie am Leben gelassen, sie gehegt und
gepflegt wie ein kleines Hündchen und sich immer gefragt, wann sie versuchen
würde, ihn in seine Hand zu beißen. Dazu musste es irgendwann kommen und es
musste ihre eigene Entscheidung sein. Deshalb konnte er Darla auch nicht gestatten,
Amy zu töten. Die Zeit war noch nicht reif gewesen. Sie in diesen Monaten zu
beobachten, die Wut hinter ihrem künstlichen Lächeln zu sehen und ihre Entwicklung
abzuwarten – es hatte ihm Vergnügen bereitet. Sie wachsen zu sehen, bis zu dem
Punkt, an dem sie sich ihm gewachsen sah. Und sie dann zu zertreten.
Hätte Darla noch gelebt, er hätte Amy wohl ihren fähigen Händen überlassen.
Nach der Zeit, die sie hatte warten müssen, wären ihr sicherlich unendliche
Quälereien eingefallen, viel mehr, als nur Amys Hals aufzuschneiden. Darla. Er
vermisste sie, mehr als jeden anderen Verlust seines ewigen Lebens. Wie könnte ihn
auch je etwas über den Verlust nach 400 gemeinsamen Jahren hinwegtrösten? Der
Meister seufzte. Es war so verachtenswert menschlich, doch an manchen schlechten
Tagen, fühlte selbst er sich so furchtbar alt.
Amy rührte sich nicht, es lief noch immer Blut aus ihrem Hals. Das kaum
wahrnehmbare Heben und Senken ihres Brustkorbes aber bewies, dass sie noch
lebte. Er sollte sie wohl Riley überlassen, um sie vor seinen Augen töten zu lassen.
Dieser Loyalitätsbeweis war überfällig. Der Geruch Amys an Riley und umgekehrte
konnte einem nicht entgehen. Eine bizarre Affäre. Die nun zuende war. Was auch
immer Riley zu solchen Dummheiten bewogen hatte, der Meister zürnte sie ihm
nicht. Es war der überraschende Beweis, dass auch hinter Rileys Fassade durchaus
Leidenschaften brodelten, was den Meister schon wieder amüsierte.
Ja, Riley sollte Amy eigenhändig töten. Danach würde der Meister wohl auch Riley
selbst vernichten, für seine Unfähigkeit und Unehrlichkeit. So würde es womöglich
doch noch ein unterhaltsamer Abend.
Dann war da noch die Jägerin. Eine unerwartete Entwicklung, er hatte nichts von
der Anwesenheit einer Jägerin in seiner Stadt gehört. Schon wieder ein Versagen
von Riley und seinem so genannten Geheimdienst. Um Amy sollte sich Riley
kümmern, die Jägerin würde ihm, dem Meister, persönlich gehören. Er ging zu der
bewegungslos daliegenden Gestalt und streckte die Hand nach ihren dunklen
Haaren aus.
„Nein!“
Der Meister sah den Mann unwillig an, der sich vor ihm mühsam auf den Beinen
hielt. Ein Schwert als Stütze nutzend humpelte der Mann näher, aus einem
blutbedeckten Gesicht blickten wütende Augen durch eine zerbrochene Brille.
„Lassen Sie die Hände von ihr!“
Der Meister seufzte und richtete sich auf.
„Der Wächter“, stellte er gelangweilt fest. „Rupert Giles. Dann wären wir jetzt ja
wohl alle beisammen. Oder kommt vielleicht noch jemand?“ Nicht, dass der Meister
gegen eine kleine Ablenkung etwas einzuwenden gehabt hätte, aber langsam wurde
es ihm zu dumm. Mit einem halbtoten Wächter hätten die Wachen von Riley selber
klar kommen müssen. Möglichweise musste er mehrere seiner Diener vernichten,
nicht nur Riley.
Giles holte mit einem mühsamen Ächzen aus und ließ sein Schwert auf den
Meister niedersausen. Der Vampir wehrte es mühelos ab, fing Giles Schlag ab und
schleuderte die Waffe aus Giles Hand. Mit einem Schlag gegen die Brust warf er den
Verwundeten meterweit durch die Halle.
„Rupert Giles“, wiederholte der Meister gedehnt. „Nun ist es für Sie wirklich Zeit,
zu verschwinden.“ Der Vampir beobachtete abwartend, wie Giles vergeblich
versuchte, auf die Beine zurückzukehren. Schließlich packte er Giles Hals und
drückte ihn gegen die nächste Wand. Der Wächter musterte ihn hasserfüllt. „Es
schein, als seien Sie ein ziemlich schlechter Wächter, Mr. Giles. Und ein
Unglücksbringer für alle weiblichen Wesen in Ihrer Nähe. Miss Madison, zwei
Jägerinnen. Waren Sie nicht auch der Freund dieser Lehrerin …“
„Jenny. Ihr Name war Jenny.“
Der Meister nickte. „Richtig. Sie sollten mir dankbar sein, dass ich Sie erlöse, Mr.
Giles.“ Der Meister griff mit der freien Hand nach Giles Kopf und zögerte.
„Andererseits könnten Sie als Vampir sehr nützlich sein. Ich bin in letzter Zeit doch
sehr von Inkompetenz umgeben. Das Wissen eines Wächters … Verlockend.“
Plötzlich hob Giles den Kopf und sah dem Meister direkt in seine uralten roten
Augen. Der Vampirherrscher war erstaunt von der Ruhe und Gelassenheit, die ihm
entgegenschlugen. Weder Hass noch Furcht, nichts von dem, was der Meister
erwartet hätte, war vorhanden. Ein kleines metallisches Klappern klang an sein Ohr.
„Es tut mir leid“, sagte Giles gefasst. „Aber ich muss Ihr Angebot leider ablehnen.“
„Was?“
Giles hob langsam seinen rechten Arm und hielt dem Meister seine Handfläche
vors Gesicht. Der Meister erblickte ein eiförmiges Objekt, an dessen Urform er sich
aus dem großen Krieg der Menschen vor 90 Jahren erinnerte. Sie hatten diese Waffe
verbessert, wie so viele andere auch und Riley hatte seine Elitetruppen damit
ausgerüstet. Wie nannten sie es noch gleich? Handgranate …
„Wuha“, machte Spike begeistert und beobachtete die Staubwolke, mit der die
verdeckte Glaskuppel der Villa zerbarst und eine Glasregen herabdonnerte. Da
drüben wollte er jetzt nicht sein – jeder Vampir in des Meisters geheiligter Halle war
dem direkten Sonnenlicht ausgesetzt, soweit er die Explosion überstanden hatte.
Spike streckte sich auf der Motorhaube seines Wagens aus und genoss die
Gewissheit, die alte Nervensäge endgültig los zu sein. War auch längst mal Zeit
gewesen. Tragisch, wenn jemand den Zeitpunkt für einen würdigen Abgang
verpasste. Aber der Meister war eben nicht Elvis. Gewesen.
„Du hattest Recht, Dru. Es hat sich gelohnt zu warten“, rief er seiner Freundin zu,
die aufs Autodach gestützt ebenfalls zur Villa sah und beiläufig eine Karte umdrehte,
die vor ihr auf dem Dach lag. Sie hatte einen Herrscher gezeigt. „Was denkst du?“
Spike zog an seiner Zigarette. „Geht hier noch was ab?“
Sie schüttelte den Kopf und streichelte Spikes blondierte Haare. „Nein. Ich fürchte
fast, es wird hier in Sunnydale in Zukunft viel langweiliger zugehen.“
„Ach.“ Spike machte eine wegwerfende Geste. „Die Welt ist groß. Was hältst du
von Südamerika, Baby?“
„Heiße Sonne aber schöne Menschen.“
Er sprang von der Haube, schlang seine Arme um Drusilla und küsste sie
leidenschaftlich. „Karneval in Rio?“
Sie schenkte ihm ihr bezauberndstes Lächeln, „Tag der Toten in Mexiko?“
Als das Auto die Garage verließ, die ihnen als Sonnenschutz gedient hatte, blickte
Drusilla versonnen durch die mit Farbe beschmierten Scheiben zurück auf die Villa.
„Jetzt ist auch Urgroßvater tot“, meinte sie. Spike wusste, dass die Zeit in
Sunnydale für Dru belastend gewesen war. Sie hatte mit Angel ihren Daddy verloren,
mit Darla ihre Großmutter. Das ging ihr viel näher als ihm. Er legte seine Hand auf ihr
Knie.
„Wir machen für ihn eine angemessene Gedenkfeier.“
Drusilla strahlte ihn selig an, während sie in den Sonnenuntergang davon brausten
…
17
Epilog
Auf dem Vorfeld des Flughafens herrschte ungewohnter Betrieb. Fast im
Minutentakt starteten und landeten Passagier- und Frachtmaschinen, Kerosingeruch
hing in der Luft und mischte sich mit dem Gestank verbrannten Gummis, den die
Flugzeugreifen auf den Landebahnen abradierten. Goldener Sonnenschein tauchte
das Areal in eine flirrende Hitze, makelloser stahlblauer Himmel überstrahlte die
Szenerie. Wesley konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, als sei die Lebenslust
der Menschen in einem wahren Feuerwerk geradezu explodiert, nachdem der dunkle
Schatten von der Stadt genommen war. Sunnydale erwachte zu neuem Leben. Die
Freude über diesen Sieg des Rates trübte nur der hohe Preis, den er gekostet hatte.
Kein Denkmal würde hier je von der wahren Geschichte künden. Nur in den Räumen
des Rates in London würden Buffy Summers und Rupert Giles eine bleibende
Ehrung in der langen Galerie derer erhalten, die sich für die gute Sache und das
Wohl der Menschheit geopfert hatten.
Er dachte an die Urne, die soeben in die Passagiermaschine verladen wurde, mit
der er bald den Rückflug antreten würde. >Buffy Anne Summers< stand darauf,
>1981 bis 1998<. Es war unwürdig, sie im Laderaum zu transportieren, aber die
Vorschriften der Fluglinie erlaubten keinen Transport im Passagierbereich. Daran
hatte auch eine lange Diskussion nichts geändert, in der Wesley nur nachgab, weil
man ihm drohte, ihn sonst gar nicht mitzunehmen. Er sollte wohl zufrieden sein, die
sterblichen Überreste seiner Jägerin überhaupt heimbringen zu können. Nachdem
der Meister sie getötet hatte, hatte er kein weiteres Interesse an Buffys Leichnam
gefunden, doch einer seiner Diener nahm den Körper als eine Art makaberer
Trophäe an sich. Dort hatte der Rat sie aufgetrieben und in Sicherheit gebracht.
Wesley wollte nicht darüber nachdenken, auf welche Weise Buffys Leiche in der
Zwischenzeit von den Vampiren geschändet worden sein mochte.
„Mrs. Summers“, sagte er. „Joyce Summers, Buffys Mutter, wird glücklich sein,
wenn ich ihr ihre Tochter zurückbringe. Es hat sie so furchtbar belastet.“ Im gleichen
Augenblick schämte sich Wesley seiner naiven Worte. Wie sollte Joyce Summers
darüber glücklich sein?
Quentin Travers, der amtierende Vorsitzende des Rates der Wächter, nickte kühl.
„Ich hörte, es geht ihr gesundheitlich nicht gut?“
„Ein Gehirntumor. Es geht sehr schnell, besonders seit … nun“, er schluckte. „Sie
wird zumindest neben ihrer Tochter begraben werden können.“
„Ich vermute, Sie bleiben noch so lange in den USA, Mr. Wyndham-Price?“
Wesley hatte nie ein inniges Verhältnis zu Buffys Mutter gehabt, schon gar nicht in
den vergangenen Monaten. Joyce Summers machte ihn unverblümt für Buffys Tod
verantwortlich. Für seine Argumente von Berufung und höheren Mächten war sie
nicht zugänglich.
„Ich denke, es wäre … angemessen.“ Er würde es jedenfalls nicht Hank Summers
überlassen, die Beerdigungen von Tochter und Frau zu organisieren. Der Mann trieb
sich irgendwo in der Welt herum und war nicht einmal mit den Mitteln des Rates zu
erreichen.
„Ich werde sehen, was sich machen lässt.“
Sie würden Wesley zurück nach England rufen, wo er warten würde – auf die
nächste Jägerin. So war der Lauf der Dinge. Es gab Jägerinnen wie Kendra, die von
Kindesbeinen an von einem Wächter vorbereitet und ausgebildet wurden. Für den
immer wieder auftretenden Fall, dass die aktivierte Jägerin eine Anwärterin war, die,
wie Buffy, dem Rat entgangen war, standen immer Wächter bereit, um
einzuspringen. Merrick, Buffys erster Wächter, war so ein Nothelfer gewesen, Giles
hätte einer werden sollen. Wenn er an Buffy dachte, fühlte sich Wesley so unendlich
schuldig. Er erinnerte sich an ungezählt viele Fehler und unsinnige Streitereien.
Würde sie mit einem anderen Wächter noch leben? Hätte er etwas besser machen
können? Würde er es beim nächsten Mal besser machen?
„Und Mr. Giles?“, fragte er. „Überführen Sie ihn nach England?“ Es war
bemerkenswert, dass Quentin Travers persönlich angereist war. Er musste dem
Höllenschlund und dem Ende des Meisters einige Bedeutung beimessen.
„Nein“, erwiderte Travers. „Ich habe mich von diesen jungen Herrschaften“, er
wies zur Seite, „überzeugen lassen, dass Mr. Giles ein Begräbnis neben dieser
Lehrerin gewünscht hätte, der er offenbar sehr zugetan gewesen ist.“
Wesley hatte nur wenig Zeit gehabt, Giles bunte Truppe kennen zu lernen. Oz,
Larry und Amy, erinnerte er sich. Alle reichlich lädiert und noch immer voller
Verbände und Pflaster. Sie unterhielten sich mit der Jägerin, Kendra, die nicht eben
glücklich wirkte, in wenigen Stunden mit dem nächsten Flieger zurück zu kehren, in
die Karibik. Sie hat Freunde gefunden, vielleicht zum ersten Mal, erkannte Wesley.
Deswegen tut es umso mehr weh. Selbst die Jägerin trug einen turbanartigen
Verband um den Kopf. Es musste ein mörderischer Kampf gewesen sein.
„Was denken Sie über die junge Hexe, Mr. Wyndham-Pryce?“
Wesley versuchte, Amy einen prüfenden Blick zuzuwerfen, ohne dass sie es
bemerkte. Sie winkte ihm freundlich zu, doch er tat, als hätte er nichts bemerkt. Sie
sah ziemlich mitgenommen aus, besonders ein weißer Verband um den Hals stach
ins Auge.
„Ihre Wunden werden heilen“, antwortete er neutral.
„Auch vernarbte Wunden können schmerzen. Und manchmal sind sie der
Auslöser von Folgeerkrankungen.“
Wesley bemühte sich um ein wissendes Gesicht. Natürlich verstand er die
Medizinmetapher. „Denken Sie, sie könnte gefährlich werden?“ Wesley hatte aus
seinen Quellen im Rat genug über Amys Hintergründe erfahren. Nach Giles Tod
hatte Travers dem Mädchen versprochen, ihre Probleme mit der Polizei
auszuräumen und die Fahndung wegen Mordes zu beenden. Der Vorsitzende des
Rates mochte beteuern, er handele aus Respekt vor Giles und aus Mitgefühl, doch
so naiv war Wesley dann doch nicht. Der Rat hielt dieses Mädchen für interessant
genug, um sie nicht hinter Gefängnismauern wandern zu lassen. Sicher würde man
sie irgendwann erinnern, in wessen Schuld sie stand.
„Sie hat leider unser Angebot abgelehnt, nach England zu kommen.“ Travers
Worte, so beiläufig er sie auch sagte, bestätigten Wesleys Verdacht. Amy war
vielleicht keine der mächtigsten Hexen der Welt, doch mit einer ausbaufähigen
Begabung gesegnet.
„Behalten wir sie und Sunnydale im Auge?“, fragte Wesley. Travers nickte.
„Dieses Sunnydale mit seinem Höllenschlund wird immer ein Brennpunkt
mystischer Energien sein. Es wäre keine Überraschung, wenn hier bald die nächste
Apokalypse drohte.“
Wesley erlaubte sich ein hintergründiges Lächeln. „Ich kann es mir vorstellen, Sir.
Ich komme aus Cleveland. Einen Höllenschlund haben wir auch.“
„Sonst noch etwas, Mr. Wyndham-Pryce?“
Hatte Travers seinen neugierigen Ausdruck bemerkt?
„Die Knochen?“, erkundigte er sich interessiert. Wesley war sehr überrascht
gewesen, durch seine Freunde im Rat zu hören, dass der Meister Knochen
hinterließ, statt völlig zu Staub zu zerfallen. Es interessierte ihn brennend, doch hatte
er sich bis jetzt keinen Vorstoß in dieser Sache erlaubt. „Ich hörte Gerüchte über den
Meister.“
„Ein Novum in der Geschichtsschreibung“, meinte Travers. Wenn er überrascht
oder erbost darüber war, dass Wesley von diesem Phänomen wusste, dann
überspielte er es mit britischer Gelassenheit. „Sie sind bereits in meinem Flugzeug.“
Mehr würde Wesley für den Augenblick nicht erfahren, denn mehr wusste Travers
vermutlich selbst nicht, auch wenn er das nicht zugeben würde. Die zukünftigen
Berichte in dieser Sache konnten noch spannend werden. Wesley überprüfte die
Uhrzeit.
„Ich fürchte, ich muss los, Sir.“
Quentin Travers schüttelte zum Abschied seine Hand. „Ich bedauere wirklich, was
mit Ihrer Jägerin passiert ist, Mr. Wyndham-Pryce.“
„Buffy, Sir. Buffy Summers.“
„Natürlich.“
Es hätte ein Regentag sein sollen, ein grauer trauriger Tag voll Kälte und Leid.
Stattdessen war es wunderschön und idyllisch, als sie Rupert Giles zur ewigen Ruhe
betteten. Der Geruch frischer Blumen hing in der Luft, in der Ferne leuchte der
Pazifik und Vögel sangen in den Friedhofsbäumen.
Vielleicht, dachte Amy, ist es ja das, was er verdient hat.
Der alte Pfarrer fand ungewohnt offene Worte, um des Mannes zu gedenken, der
von weit her, vom anderen Ende der Welt, nach Sunnydale gekommen war, um sein
Leben für andere zu opfern. Man hatte selten in Sunnydale den Mut gefunden, über
die Vampire und ihre Taten laut zu reden, vielleicht würde es in der Erinnerung der
Menschen auch bald wieder vergehen, was jahrelang an Grauen in dieser kleinen
Stadt geschehen war. Doch heute kannte der Pfarrer keine Zurückhaltung und keine
Tabus. Er erinnerte an Giles Lebensleistung, was er dafür verloren hatte und
welchen ewigen Dank ihm Sunnydale schuldig sein würde, auch wenn es wohl nie
ein Ehrenmal für den englischen Bibliothekar geben würde. Immerhin verkündete der
neue Direktor der Sunnydale High in seiner kurzen Ansprache, dass die Bibliothek ab
jetzt den Namen >Rupert Giles Library< tragen werde.
Nachdem die Gäste, hauptsächlich einige Lehrer der Highschool und die kleine
Abordnung des Rates, gegangen waren, standen Larry, Oz und Amy noch lange vor
dem frischen Erdhügel und dem schlichten Stein.
„Tja“, machte Larry ratlos. „Wir haben unsere Feinde vernichtet und die Welt
gerettet. Was machen wir jetzt?“
Oz zuckte mit den Schultern. „Den Schulabschluss nachholen?“
Larry schnaubte. „Spießer.“
Amy blickte nach rechts, zu Oz, der in seinem Anzug reichlich lächerlich wirkte,
nach links, zu Larry. Sie fühlte sich einsam, verlassen und leer. Sie hatte Giles nur
kurz gekannt, viel kürzer als ihre neuen Freunde. Trotzdem vermisste sie ihn so sehr,
konnte es selbst jetzt nicht richtig glauben, dass sie ihn nie wiedersehen würde. In
gewissem Sinne war es mit Angel ähnlich gewesen. Auch ihn hatte sie verloren,
ohne ihn je wirklich kennen gelernt zu haben. Wie sollte sie in Zukunft mit all den
Bildern in ihrem Kopf weiter leben? Spontan ergriff sie die Arme der beiden Jungen
und harkte sich unter.
„Wisst ihr Leute“, krächzte sie. Bei jedem Wort tat ihr Hals höllisch weh. „Ich
glaube, Sunnydale wird immer jemanden brauchen, der auf es aufpasst.“ Trotz des
Schmerzes schlich sich ein sanftes Lächeln in ihr Gesicht. „Das sind wir ihm
schuldig.“
Habe ich es richtig gemacht, Jenny?
Ja Rupert, das hast du.
Wollen wir jetzt gehen?
Ich bin immer bei dir.
ENDE