Neue Wege für die Kulturpolitik

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Neue Wege für die Kulturpolitik
Nr. 01 /08
Neue Wege für
die Kulturpolitik
Zu den Ergebnissen der Enquete-Kommission "Kultur in Deutschland"
IMPRESSUM
HERAUSGEBERIN: FRAKTION DER SPD IM DEUTSCHEN BUNDESTAG
PETRA ERNSTBERGER, MDB, PARLAMENTARISCHE GESCHÄFTSFÜHRERIN
REDAKTION: DR. INGRUN DRECHSLER
SATZ: BERND SACHSE
PLATZ DER REPUBLIK 1, 11011 BERLIN
TELEFON: (030) 227-57133
TELEFAX: (030) 227-56800
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ERSCHIENEN IM J ANUAR
2008
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Inhaltsverzeichnis
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Aufgabe von Staat, Zivilgesellschaft und Markt
Siegmund Ehrmann, MdB
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Kulturpolitik als gesellschaftliche Aufgabe, Sicherung der kulturellen Infrastruktur
Prof. Dr. Oliver Scheytt
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Die Kunst des lebenslangen Lernens. Herausforderungen für die
kulturelle Bildung
Prof. Dr. Wolfgang Schneider
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Die zunehmende Bedeutung von Spendern, Sponsoring und Stiftungen als Finanzierer der Kultur
Dr. Dieter Swatek
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Die Künstler kommen …
Prof. Dr. Susanne Binas-Preisendörfer
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Die wirtschaftliche und soziale Lage von Künstlerinnen und
Künstlern
Lydia Westrich, MdB
44
Unverzichtbare Grundlage: Das bürgerschaftliche Engagement
und notwendige Änderungen im Gemeinnützigkeitsrecht
Dr. Michael Bürsch, MdB
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Kultur in Europa - Kultur im Kontext der Globalisierung
Steffen Reiche, MdB
58
Kultur im ländlichen Raum, Umlandfinanzierung und interkommunale Zusammenarbeit, Laienkultur und Brauchtum
Simone Violka, MdB
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Kultur- und Kreativwirtschaft: Eine Herausforderung für Wirtschafts- und Kulturpolitik
Siegmund Ehrmann, MdB
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68
Kultur ist bunt und vielfältig. Migranten- und Interkultur, interkulturelle Bildung und soziokulturelle Zentren
Monika Griefahn, MdB
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Förderbereiche von besonderer Bedeutung
Dr. Ingrun Drechsler
88
Staatsziel Kultur als Ausdruck staatlicher Verantwortung für
Kunst und Kultur
Joachim Bühler
91
Kurzbiografien
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Aufgabe von Staat,
Zivilgesellschaft und Markt
Siegmund Ehrmann, MdB
Im Dezember 2007 hat die Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ nach vierjähriger Arbeit ihren Schlussbericht an den Deutschen Bundestag übergeben. Welche kulturpolitischen Akzente setzt sie?
Eine Bemerkung zu Beginn: Kulturphilosophische Betrachtungen fließen in den Abschlussbericht
immer wieder ein, bilden aber nicht den Schwerpunkt der Arbeit. Einen Kulturbegriff wollte die
Enquete-Kommission ganz bewusst nicht definieren. Die Kommission wollte in erster Linie die kulturelle Situation in Deutschland beschreiben, Defizite und Probleme der Kulturlandschaft analysieren und Perspektiven für die kulturpolitischen Handlungsfelder aufzeigen. Daran orientieren
sich auch die fünf Hauptgebiete, mit denen sich die Enquete-Kommission beschäftigt hat:
•
Öffentliche und private Förderung von Kunst und Kultur,
•
wirtschaftliche und soziale Lage der Künstler,
•
kulturelle Bildung,
•
Kultur in Europa und
•
Kultur- und Kreativwirtschaft.
Diese Themenvielfalt bot reichlich Diskussionsstoff für eine Kommission, in der alle im Bundestag
vertretenen Fraktion und elf Sachverständige, Mitglieder aus der Landespolitik, Wissenschaft und
der künstlerischen Praxis vertreten waren.
Angesichts unterschiedlicher Zugänge zur Kulturpolitik muss zunächst positiv hervorgehoben
werden, dass es einen grundsätzlichen Konsens innerhalb der Kommission zu kulturpolitischen
Grundsatzfragen gibt. Das betrifft erfreulicherweise viele Aspekte der so genannten „Neuen Kulturpolitik“. Einen solchen Konsens hätte es in den letzten Jahrzehnten sicherlich so nicht gegeben.
Ferner herrscht weitgehend Einigkeit über die Aufwertung der Kulturpolitik auf Bundesebene. Zu
Beginn der Enquete-Arbeit 2003 wurde die Kommission noch mit gewisser Skepsis betrachtet.
Wenn die Enquete-Kommission jetzt ihren Abschlussbericht vorlegt, hat sie mit ihrer Arbeit
sicherlich auch einen weiteren Beitrag zu Etablierung der Bundeskulturpolitik geleistet, die grundsätzlich bei den Kulturpolitikern aller Fraktion auf Zustimmung stößt.
Trotz des Konsenses über die große Bedeutung von Kunst und Kultur für die Entwicklung der
modernen Gesellschaft ist die praktische Umsetzung in vielen Bereichen unzureichend.
Angesichts der grundsätzlichen Eintracht kam es daher in der Kommission darauf an, nicht nur für
kulturelle Belange zu werben, sondern Verantwortlichkeiten zu definieren und damit konkrete
Ansprechpartner zu benennen, die vorrangig aufgerufen sind, tätig zu werden. Frei nach dem Motto „wer die Lippen spitzt, der muss auch pfeifen“ war es uns besonders wichtig, Staat, Zivilgesellschaft und den Markt für kulturelle Aufgaben in die Pflicht zu nehmen. Symbolisch kommt diese
gesamtgesellschaftliche Verantwortung in der Forderung nach einem „Contrat Culturel“ zum Aus-
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druck, der in Anlehnung an Rousseaus berühmten Gesellschaftsvertrag („Contrat Social“) Staat, Zivilgesellschaft und Markt auf die Stärkung kulturelle Aufgaben verpflichtet.
Darin eingebunden hat die Kommission nach einer intensiven Debatte mit Staatsrechtlern sich
einstimmig für ein Staatsziel Kultur ausgesprochen und damit die Debatte über die grundsätzliche
Verantwortung des Staates im Kulturbereich neu angestoßen.
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Aufgaben des Staates
Bei den Aufgaben des Staates gingen wir in der SPD-Bundestagsfraktion zunächst davon aus,
dass dies einer der Hauptstreitpunkte werden würde. Der liberale Zeitgeist, so dachten wir, würde
auch die Kommissionsdebatten dominieren. Es ist daher umso erfreulicher, dass wir einen Konsens über die Verantwortung des Staats zur Mindestsicherung der kulturellen Infrastruktur herstellen konnten: Kultur ist ein öffentliches Gut!
Die Kommission empfiehlt zur Ausgestaltung des staatlichen Auftrages z. B. dem Bund landesweite „Leuchtturmprojekte“ zu betreuen, wie es bereits im Osten Deutschlands geschieht. Hart und
erfolgreich wurde auch um die Forderung gerungen, im Länderfinanzausgleich Hauhaltsmittel für
Kultur zweckgebunden festzuschreiben.
Während unserer Arbeit stießen wir immer wieder auf die Frage, was soll und kann moderne Kulturpolitik leisten, wie modern und effektiv sind ihre Strukturen. Dabei bezogen wir uns auf die in
den 1980er Jahren begonnene Debatte über „New Public Management“. Im Kern ging es darum,
politische Ziele zu definieren und diese optimal in staatliches Agieren umzusetzen. In Deutschland
fand diese Überlegung primär mit dem Konzept des „Neuen Steuerungsmodells“ (NSM) Anfang
der 1990er Jahre Eingang in die verwaltungspolitische Diskussion. Die Idee ist nach wie vor aktuell.
Gerade in der Kulturpolitik ist es wichtig, in gewissen Zeitabständen Schwerpunkte zu überprüfen
und ggf. neue Ziele zu formulieren. Schließlich entwickeln sich in Kunst und Kultur permanent
neue Ausdrucksmöglichkeiten und Darstellungsformen. Das Konzept NSM konnte jedoch nur zum
Teil überzeugen. Es konzentrierte sich zu sehr auf ökonomische Kennziffern und vernachlässigte
dabei das, was man heute „Public Value“ nennt. Der gesellschaftliche Mehrwert muss im Vordergrund stehen. Hier setzt das Konzept „Governance“ an. Governance bezieht staatliche und nichtstaatliche Akteure in gemeinwohlorientiertes Handeln ein und setzt auf Kooperation zwischen der
öffentlichen Hand, der Zivilgesellschaft und der Privatwirtschaft sowie auf die Verantwortungsgemeinschaft Politik und Verwaltung. Politische Ziele spielen in diesem Konzept eine entscheidende Rolle. Moderne Kulturpolitik muss transparent sein. Hier bietet die Kulturentwicklungsplanung
vielfältige Möglichkeiten. Kulturentwicklungsplanung ist nicht nur ein kommunales Instrument.
Auch auf Landesebene (Beispiel: Brandenburg) zeigt es Erfolge. Die Kommission empfiehlt diesem
Beispiel zu folgen. Sie empfiehlt es nicht nur den Ländern, sondern auch dem Bund. In diesem
Sinne müssen kulturpolitische Ziele jetzt im politischen Prozess definiert und transparent gemacht werden.
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Entsprechend dem Leitbild des vorsorgenden Sozialstaates ist es Aufgabe auch der Kulturpolitik,
Menschen in jeglicher Hinsicht zu stärken und sie zur gesellschaftlichen Teilhabe zu befähigen.
„Starke Menschen“ zeichnen sich durch eine ausgeprägte, emanzipierte Persönlichkeit aus. Sie ist
der Schlüssel zum selbstbestimmten Leben und zur gesellschaftlichen Partizipation. Die Entwicklung der Persönlichkeit beginnt bereits in der frühen Kindheit. Kulturelle Bildung ermöglicht wie
kaum ein anderer Lernbereich, von klein auf die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit zu entwickeln. Hiervon haben wir uns in der Kommission nicht nur bei einer Anhörung mit Vertretern
kultureller Bildungseinrichtungen überzeugen können. Wichtige Hinweise erhielten wir in einem
Expertengespräch auch von Hirnforschern, die uns erläuterten, welche positive Auswirkung z. B.
die musikalische Bildung auf das Gehirn hat.
Die Schlussfolgerungen der Kommission sind daher auch eindeutig. Wenn bereits in frühkindlichem Alter grundlegende Weichen gestellt werden, muss kulturelle Bildung möglichst allen Kindern zugänglich sein. Deswegen plädiert die Kommission dafür, dass die Verantwortung für die
kulturelle Bildung gebündelt werden muss. Konkret schlägt sie unter anderem vor, den Lernbereich kulturelle Bildung in die frühkindliche Bildung einzubeziehen, sie landesweit in den Schulen
zu stärken und als verpflichtendes Abiturfach einzuführen. Schließlich fordern wir Bibliotheken,
Musik- und Jugendkunstschulen in allen Ländern auf, sie damit zur Pflichtaufgabe zu erklären.
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Aufgaben der Zivilgesellschaft
Das Mäzenatentum hat in Deutschland Tradition. Derzeit gibt es knapp 14.400 Stiftungen, ein
Fünftel davon betätigen sich im Umfeld von Kunst und Kultur. Bei einer Anhörung in Hamburg
wurde der Kommission bestätigt, dass angesichts eines großen zu vererbende Vermögens in
Deutschland (Schätzungen gehen von bis zu zwei Billionen Euro in den nächsten Jahrzehnten aus),
die Tendenz Stiftungen zu gründen, stark ansteigen wird. Viele Stiftungen ermöglichen mit ihren
Mitteln Ausstellungen und Ankäufe und machen sie der Öffentlichkeit zugänglich. Dieses Engagement will die Kommission weiter unterstützen. Gleichwohl weisen wir darauf hin, dass eine
gewisse Verantwortung im Mäzenatentum nicht vernachlässigt werden darf: die Künstlerförderung. Sie ist der Kern des mäzenatischen Gedankens und muss wieder verstärkt in den Fokus
rücken.
Das zivilgesellschaftliche Engagement kann jedoch nicht auf Stiftungen reduziert werden. Eine
wesentliche Säule bürgerschaftlichen Engagements ist die Spende von Zeit. Das ehrenamtliche
bzw. bürgerschaftliche Engagement ist in vielen Regionen der einzige Träger kultureller Infrastruktur. Die Kommission hat ein Gutachten zum bürgerschaftlichen Engagement in Auftrag gegeben
und errechnen lassen, welchen Geldwert die Spende von Zeit erreichen würde. Ziel war nicht eine
Ökonomisierung bürgerschaftlichen Engagements, sondern dessen Visualisierung. Von dem
Ergebnis waren viele Mitglieder und ich selbst sehr erstaunt: Würde man bürgerschaftliches Engagement nur im Kulturbereich in Geldleistungen umrechnen, so ergeben sich je nach
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Umrechungsschlüssel Werte zwischen 9 und 16 Mrd. Euro! Das übersteigt sogar die gesamte öffentliche Kulturförderung von Bund, Länder und Kommunen, die in 2005 bei ca. 8 Mrd. lag (Kulturfinanzbericht 2006).
Bürgerschaftliches Engagement sichert in hohem Maße die kulturelle Vielfalt.
Die Kommission will dieses Engagement weiter fördern. Hierbei geht es in erster Linie nicht um
Geld. Hürden für bürgerschaftliches Engagement sind auch bürokratische Rechtskonstruktionen
und hohe rechtliche Haftungsrisiken z. B. für Vereinsvorstände. Die Kommission plädiert dafür,
diese deutlich zu reduzieren.
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Aufgabe des Marktes
Im Sektor des Marktes ist derzeit die Kultur- und Kreativwirtschaft in aller Munde. Mit ihrer
Anhörung zur Kultur- und Kreativwirtschaft gab die Enquete-Kommission den Anstoß für die Beschäftigung mit dem Thema auf Bundesebene. Erfreulich ist, dass mit dieser Thematisierung „Kultur“ endgültig aus der Ecke der „Subventionsempfänger“ heraus gekommen ist. Die Kultur und
Kreativwirtschaft wird zunehmend als wichtiger Wirtschaftsfaktor wahrgenommen.
Intensive Diskussionen gab es über die Frage, welche Rolle der Kulturpolitik bei der Kultur- und
Kreativwirtschaft zukommt. Schließlich, so könnte man argumentieren, handelt es sich bei der
Kultur- und Kreativwirtschaft doch zunächst um die Wirtschaft, also um Wirtschaftspolitik. Um
diese Frage wurde heftig gerungen. Letztlich konnten wir uns darauf einigen, dass Kultur- und
Kreativwirtschaft eine politische Querschnittsaufgabe von Kultur- und Wirtschaftsressort darstellen. Aufgabe der Kulturpolitik im Kontext mit der Kulturwirtschaft muss es sein, neben den
wirtschaftlichen die kulturellen Aspekte stärker zu betonen. Öffentlich finanzierte Kulturangebote
und private Kulturangebote ergänzen sich. Die Interdependenzen sind stark ausgeprägt. So floriert
z. B. die Kultur- und Kreativwirtschaft besonders in den Regionen, in denen auch eine ausgeprägte
kulturelle Infrastruktur vorhanden ist. Theater, Museen, soziokulturelle Zentren, Straßentheater
etc. bilden den „Humus“ für unternehmerisches Handel im Kultursektor.
Bei der Förderung der Kultur- und Kreativwirtschaft geht es nach Ansicht der Kommission nicht in
erster Linie um die Unterstützung großer Unternehmen, sondern um selbständige Künstler und
Kreative. Sie haben es bei der Existenzgründung besonders schwer, weil sie z. B. Kreditanforderungen nicht erfüllen oder ihnen die Mittel für die Finanzierung geeigneter Räumlichkeiten fehlen.
Die Kommission sieht die Wirtschaftpolitik in der Pflicht, Künstlern und Kreativen Wirtschaftsförderinstrumente zugänglich zu machen. Ferner soll in Kooperation mit Banken Kreditgarantiefonds aufgelegt werden, die sich an den speziellen Ansprüchen der Künstler und Kreativen orientieren. Dabei geht es nicht um einzelne große Kredite, sondern eher um kleine Beträge für einen
mittelfristigen Zeitraum. Ferner empfiehlt die Kommission Räume für die Entwicklung kreativer
Potentiale bereitzustellen, indem temporär ungenutzte öffentliche und private Liegenschaften für
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Zwischennutzungskonzepte durch Künstler und Kreative zu günstigen Konditionen angeboten
werden.
Erfreulich findet die Kommission, dass immer mehr Menschen im Kultursektor arbeiten wollen.
Zwischen 1990 und 2004 ist die Zahl der Erwerbstätigen um 25 Prozent auf ca. 800.000 Beschäftigte gestiegen. Daraus kann gefolgert werden, dass in der gesamten Gesellschaft die Wertschätzung für kulturelle Tätigkeiten weiter zunimmt und selbst der Berufswunsch „Künstler“ nicht
mehr nur als „Spinnerei“ abgetan wird. Die Kehrseite der Medaille ist die wirtschaftliche Situation
vieler Künstler und Kreativen. Nach Angaben der Künstlersozialkasse liegt der Durchschnittsverdienst bei 11.000 Euro im Jahr!
Besonders aus sozialdemokratischer Perspektive kann es als Erfolg gewertet werden, dass angesichts der prekären Lage viele Künstlerinnen und Künstler in der Kommission Einigkeit darüber
erzielt werden konnte, dass die Verantwortung für ihre soziale Absicherung beim Staat liegt. Einstimmig wurde betont, dass die Künstlersozialkasse unerlässlich ist und erhalten werden muss.
Dass viele Künstler und Kreative von ihrer Arbeit nicht leben können, liegt aber auch daran, dass
ihre Werke nicht angemessen oder gar nicht vergütet werden. Die Kommission fordert daher eine
Vergütungspflicht für Kunst im öffentlichen Raum. Der SPD-Bundestagsfraktion ging diese Forderung nicht weit genug. Sie hat daher in einem Sondervotum eine Ausstellungsvergütung gefordert. Darüber hinaus formulierte die SPD-Bundestagsfraktion ein Sondervotum zum Künstlergemeinschaftsrecht, das besagt, dass Werke, die nach 1825 erschienen sind, nur gegen ein in die Kulturförderung zurückfließendes Entgelt verwertet werden dürfen.
Die skizzierten Empfehlungen stellen keinen abschließenden Katalog dar. Der Bericht der EnqueteKommission umfasst mehrere hundert Seiten mit nahezu 400 Handlungsempfehlungen. Er bietet
einen Anstoß für eine kulturpolitische Debatte, deren Ergebnisse in praktische Politik umzusetzen
sind. Im Sinne des „Contrat Culturel“ steht jeder dafür in seiner Pflicht.
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Kulturpolitik als gesellschaftliche Aufgabe, Sicherung der
kulturellen Infrastruktur
Prof. Dr. Oliver Scheytt
Einer der Kernsätze der Kulturpolitik lautet: „Kulturpolitik ist Gesellschaftspolitik“. Darin kommt
die Grundannahme zum Ausdruck, dass Kulturpolitik weitgreifende gesellschaftliche Wirkungen
entfaltet. Welche Wirkungen Kultur und Kulturpolitik für die Gesellschaft haben, kommt auch in
der UNESCO-Erklärung von 1982 zum Ausdruck. Danach ist Kultur zu verstehen „… als die Gesamtheit der gar einzigartigen geistigen, materiellen, intellektuellen und emotionalen Aspekte …, die
eine Gesellschaft oder eine soziale Gruppe kennzeichnet. Dies schließt nicht nur Kunst und Literatur ein, sondern auch Lebensformen, die Grundrechte des Menschen, Wertsysteme, Traditionen
und Glaubensrichtungen.“ Schon in dieser Definition eines „weiten Kulturbegriffs“ wird deutlich,
dass der Blick von Kulturpolitik allzu eingeengt wäre, wenn sie sich nur als Politik für die schönen
Künste oder auch nur für die Alltagskultur verstünde. Die Kulturgesellschaft insgesamt ist der
Reflexionsraum für eine Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik.
Damit entfaltet Kulturpolitik in einem äußerst komplexen Zusammenhang Wirkung. Sie bezieht
sich auf die Gesamtheit der eine Gesellschaft kennzeichnenden Aspekte ebenso, wie auf die Entfaltungsmöglichkeit jedes einzelnen Individuums. Doch würde Kulturpolitik überfordert, wenn von
ihr erwartet würde, dass sie zu allen gesellschaftlichen Fragestellungen Problemlösungen bereithielte. Vielmehr geht es in der auf das Kulturelle bezogenen Politik darum, die von einem weiten
Kulturbegriff ausgelösten gesellschaftlichen Fragestellungen zu thematisieren und zu reflektieren.
In der Kulturpolitik werden damit Fragen nach der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft
gesellschaftlicher Entwicklung gestellt und mögliche Antworten aufgezeigt. Doch die Kulturpolitik
hat nicht die Ressourcen und Macht, um auf all diesen Feldern mit ihren Möglichkeiten die Probleme und Herausforderungen zu bewältigen. Die Handlungsfelder der Kulturpolitik – insbesondere
Künste, kulturelle Bildung, kulturelles Erbe und Kulturwirtschaft – sind nur ein Ausschnitt aus dem
komplexen Gesellschaftssystem, auf das sich Kulturreflexion und kulturpolitische Arbeit beziehen.
Kulturpolitik ist vor eine weitere komplexe Situation gestellt: Sie wird nicht vom Staat allein
verantwortet, vielmehr wird Kultur auch vom Markt und der Zivilgesellschaft geprägt und mitgestaltet. Kulturpolitik bedarf der Reflexion des eigenen Leitbildes. Dies hat anzuknüpfen an der
vorgefundenen Situation, dass der Kulturstaat Deutschland von der Akteurskonstellation Staat,
Markt und Dritte Sektor geprägt ist. Davon ausgehend ist die Rolle des Staates und der Kulturpolitik in diesem Zusammenhang zu reflektieren und definieren.
Auch in der Enquete-Kommission wurde diskutiert, ob für eine solche Rollenverteilung das Subsidiaritätsprinzip auf der einen Seite oder eher ein etatistisches Staatsverständnis prägend sein
sollte. Von Seiten der SPD-Gruppe wurde ein modernes Staatsverständnis eingebracht. Der Staat
und damit die öffentlich verantwortete Kulturpolitik sehen sich im Wechselspiel mit Markt und
Dritten Sektor. Das Leitbild für den Kulturstaat Deutschland ist damit nicht das eines subsidiär
aufgebauten Kulturstaates oder das eines rein durch den Staat geprägten kulturellen Lebens, sondern setzt auf eine „aktivierende“ Rolle des Staates: Staat und Kommunen sind selbst verantwortlich für einen Großteil der kulturellen Infrastruktur, beziehen aber Akteure und Institutionen aus
Wirtschaft und Gesellschaft aktiv ein in die Verantwortung. Zudem setzen Staat und Kommunen
Rahmenbedingungen, damit alle kulturellen Potentiale, ob in öffentlicher, freier oder kommerzieller Trägerschaft optimale Entfaltungsmöglichkeiten haben. Ausgehend von einem solchen
Grundverständnis kann sodann die Rolle des Staates reflektiert und für jedes einzelne Handlungsfeld definiert werden.
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Die Künste, das kulturelle Erbe, die kulturelle Bildung und die Kulturwirtschaft sind jeweils im
Wechselspiel aller drei Sektoren zu sehen. Daher bedarf es einer kulturpolitischen Programmatik,
die im Diskurs mit den vielfältigen Akteuren aus diesen Feldern begründet wird. Dabei ist die
Grunderkenntnis wichtig, dass die kulturelle Infrastruktur in Deutschland nicht nur Aufgabe des
Staates ist, sondern ebenso auch von kommerziellen Kulturbetrieben und freien gemeinnützigen
Einrichtungen mitbestimmt wird.
Bei einer solchen Gesamtbetrachtung sollte allerdings nicht aus dem Blick geraten, dass Kultur ein
öffentliches Gut ist und Kulturgestaltung damit eine öffentliche Aufgabe. Kulturpolitik basiert auf
einem Verfassungsauftrag, der im Diskurs als öffentlicher Gestaltungsauftrag zu konkretisieren
ist. Der Kulturstaat Deutschland ist verpflichtet, Kultur zu schützen und zu fördern, was nicht nur
aus Landesverfassungen und aus Entscheidungen des Bundesverfassungsgericht abgeleitet werden kann, sondern auch aus einer Interpretation des Artikel 5 Abs.3 GG. Ein „Staatsziel Kultur“, das
nach Auffassung der Enquete-Kommission im Grundgesetz verankert werden sollte, würde insoweit aber auch ausdrücklich Klarheit dahingehend schaffen, dass der Staat die Kultur zu schützen
und zu fördern hat.
Eine solche Staatszielbestimmung würde die Infrastrukturgarantie des Staates verfassungsrechtlich zusätzlich untermauern. Wir brauchen das Staatziel Kultur, um Kultur als öffentliches Gut und
als Aufgabenfeld der Politik zu stärken. Trotz unbestreitbarer Erfolge der letzten Jahrzehnte stehen
uns hier noch große Aufgaben bevor, um das Bürgerrecht Kultur zu verwirklichen. Die kulturelle
Bildung muss intensiviert werden, um mehr Teilhabegerechtigkeit zu erreichen. Die Arbeits- und
Lebenssituation der Künstler ist unbefriedigend. Die kulturelle Integration der Migranten bedarf
viel größerer kulturpolitischer Anstrengungen. Europa muss auch als kulturelles Projekt gesehen
und gestaltet werden.
Die Verankerung eines Staatsziels Kultur im Grundgesetz kann das Bewusstsein dafür stärken,
welche herausragende Bedeutung Kunst und Kultur für das Zusammenleben der Menschen und
die Entwicklung jedes Individuums haben. Alle Akteure in diesem komplexen Politik- und
Aufgabenfeld würden dadurch ermutigt, ihre Arbeit mit neuem Elan und neuer Zuversicht anzugehen. Bund, Länder und Gemeinden, aber auch die Künstler und Kulturschaffenden sowie bürgerschaftliche Organisationen könnten sich darauf berufen. Der Kulturstaat Deutschland würde
dadurch noch mehr Substanz bekommen. Mit der Aufnahme von Kultur als Staatsziel im Grundgesetz bekennt sich der Staat zu seiner Verantwortung, das kulturelle Erbe zu bewahren, Kunst
und Kultur zu fördern und weiter zu entwickeln. Wir fordern deshalb alle im Bundestag vertretenen Parteien auf, sich für die Aufnahme des Staatsziels Kultur im Grundgesetz einzusetzen.
In den letzten Jahren wurde in der Kulturpolitik intensiv darüber diskutiert, wie sich der öffentliche
Auftrag, den der Kulturstaat Deutschland, den Staat und Kommunen wahrzunehmen haben, herausarbeiten lässt. Stichworte wie „kulturelle Daseinsvorsorge“ und „kulturelle Grundversorgung“
sowie schließlich „Sicherung der kulturellen Infrastruktur“ haben in dieser Debatte eine entscheidende Rolle gespielt. Eines ist deutlich geworden: mit bürgerschaftlichem Engagement, mit
der Bürgergesellschaft alleine lassen sich die gesellschaftlichen Herausforderungen der medialisierten und globalisierten Kulturgesellschaft nicht bestehen. Auch der Markt folgt Gesetzen, die
nicht immer darauf ausgerichtet sind, einen Zugang für alle zu schaffen, kulturelle Bildung zu
ermöglichen.
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Daher gilt es, ein Modell zur Sicherung der kulturellen Grundlagen zu entwickeln, das im Wechselverhältnis von Staat, Markt und Dritten Sektor dem öffentlichen Auftrag, Kultur zu schützen und
zu fördern Rechnung trägt.
Auf kommunaler Ebene, die für die Ausgestaltung der kulturellen Infrastruktur in Deutschland
aufgrund der föderalistischen und dezentralen Struktur unseres Kulturlebens prägend ist, gibt es
zur Definition der Rolle der öffentlichen Hand ein kulturrechtliches Dilemma: Kulturarbeit wird
von der überwiegenden Meinung von Juristen, Haushältern und Wahrern der kommunalen Selbstverwaltung meist als „freiwillige Leistung“ bezeichnet. Die Enquete-Kommission hat aufgezeigt,
dass diese Einordnung der Kulturarbeit einer fundierten rechtlichen Prüfung schon nach der bestehenden Gesetzeslage nicht wirklich gerecht wird. Kultur ist in Deutschland ausdifferenziert in
zahlreiche Sparten. Bei einer genaueren kulturjuristischen Analyse ist von Sparte zu Sparte, von
Aufgabe zu Aufgabe zu untersuchen, mit welchen spezifischen rechtlichen Bindungen die jeweilige Kulturaufgabe einhergeht.
So haben etwa die verschiedenen Kultureinrichtungen einer Kommune jeweils eigene verfassungsrechtliche Bezüge und mitunter auch spezielle einfachgesetzliche Grundlagen. Man denke
nur an so unterschiedliche Bereiche, wie Theater, Museen, Musikschulen, Bibliotheken etc. Für
einige Bereiche, insbesondere für die Musikschulen und die Volkshochschulen, gibt es bereits gesetzliche Regelungen, die die Wahrnehmung dieser Aufgabe aus der Freiwilligkeit herausführen.
Eine allgemeine rechtliche Bewertung von Kulturarbeit als „freiwillig“ ist in Folge ihrer Undifferenziertheit nicht tragfähig. Die Enquete-Kommission hat folgende Ausdifferenzierung empfohlen:
Die Charakterisierung einer Aufgabe als „freiwillig“ oder „pflichtig“ hat zunächst als vorrangigen
Bezugspunkt das Kommunalrecht, das daher zunächst als einschlägige Materie zu beachten ist.
Spezifische verfassungsrechtliche und gesetzliche Bindungen außerhalb des Kommunalrechts
sind sodann näher zu betrachten, da sie auf den Charakter der einzelnen Aufgabe einwirken können.
Schließlich können sich Ermessungsbindungen sowohl aus den kommunalrechtlichen Vorschriften zu den öffentlichen Einrichtungen als auch aus kommunaler Selbstbindung ergeben.
Daraus wird deutlich, dass die Rechtspflichten bei der Aufgabenwahrnehmung im Einzelnen herauszuarbeiten und die einzelnen Kulturaufgaben und Handlungsfelder der kommunalen Kulturarbeit differenziert zu betrachten sind.
Eine sehr weitgehende gesetzliche Regelung, in der die Kultur als Pflichtaufgabe definiert ist § 2
Abs. 1 des Sächsischen Kulturraumgesetzes: „Im Freistaat Sachsen ist die Kulturpflege eine Pflichtaufgabe der Gemeinden und Landkreise.“
Auch diese Regelung belegt, dass von Bundesland zu Bundesland, von Kultureinrichtung zu Kultureinrichtung eine unterschiedliche Pflichtenlage besteht.
Auch aus den Vorschriften der Gemeindeordnungen zur Errichtung und Erhaltung von „öffentlichen Einrichtungen“ ergibt sich eine generelle Verpflichtung der Kommunen, Angebote im
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Bereich der kulturellen Daseinsvorsorge vorzuhalten. Die Gemeindeordnungen sehen vor, dass die
Kommunen öffentliche Einrichtungen für das „kulturelle Wohl“, die „kulturellen Belange“ der Einwohnerschaft vorhalten. Ausgenommen von Rheinland-Pfalz findet die kommunale Kulturarbeit
so in allen Gemeindeordnungen der deutschen Länder ausdrücklich Erwähnung. Sie wird als Bestandteil der gemeindlichen Aufgaben und der kommunalen Selbstverwaltung genannt.
Die kommunalrechtliche Aufforderung, öffentliche Einrichtungen, also eine kulturelle Infrastruktur, bereitzustellen, entfaltet rechtliche Bindungswirkung. Diese ist bei der Entscheidung über die
Mittelverteilung und deren Einsatz der Verwaltung zu beachten. Das „Dass“ kommunaler Kulturarbeit hat also pflichtigen Charakter. Jede Kommune muss auch Angebote zur kulturellen Betreuung ihrer Einwohner vorhalten, ist verantwortlich, dass eine angemessene kulturelle Infrastruktur
vor Ort existiert.
Aus dieser prinzipiellen Verpflichtung ergibt sich allerdings noch nicht zwangsläufig, in welcher
Form und in welchem Umfang eine Kommune die kulturelle Infrastruktur zu errichten und zu unterhalten hat. Selbstverständlich ist es möglich, dass eine Kommune etwa auch auf die Förderung
privater Anbieter von Kulturveranstaltungen zurückgreift oder im Zusammenwirken mit bürgerschaftlichen Akteuren und zivilgesellschaftlichen Institutionen ein vielfältiges Veranstaltungsangebot sicherstellt. Auch auf diese Weise kann der öffentliche Kulturauftrag erfüllt werden. Die
Sicherstellung der kulturellen Infrastruktur bedarf also nicht notwendigerweise des Einsatzes eigener Institutionen der Kommune.
Der Kulturstaat Deutschland ist daher als ein „aktivierender Kulturstaat“ zu verstehen: Kulturelle
Daseinsvorsorge kann heute nicht nur in alleiniger Regie und Verantwortung von Staat und Kommunen wahrgenommen werden. Es bedarf der Verantwortungspartnerschaft bei der Wahrnehmung des öffentlichen Gestaltungsauftrages.
Die Enquete-Kommission hält folgende Maßnahmen zur Sicherung der kulturellen Infrastruktur in
diesem Sinne für erforderlich:
•
Die Errichtung und Erhaltung von Kultureinrichtungen,
•
Die Förderung von Kunst, Kultur und kultureller Bildung,
•
Die Initiierung und Finanzierung kultureller Veranstaltungen,
•
Die Gestaltung von angemessenen Rahmenbedingungen für Künstlerinnen und Künstler
sowie Kulturberufe, bürgerschaftliches Engagement, freie Kulturträger und die Kulturwirtschaft.
Sie sieht den Staat und die Kommunen in der Verantwortung, die kulturelle Infrastruktur zu gewährleisten.
Der öffentliche Auftrag zum Erhalt der kulturellen Infrastruktur wird zum einen durch eigenes
Handeln von Staat und Kommunen wahrgenommen, vor allem in Form der Bereitstellung von Ressourcen und der Ausgestaltung der rechtlichen Rahmenbedingungen (kulturelle Ordnungspolitik).
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Zum anderen wird der Auftrag dadurch erfüllt, dass die öffentliche Hand ihre grundsätzliche Verantwortung mit anderen Partnern in Gesellschaft und Wirtschaft teilt oder auch die von privaten
und kirchlichen Trägern und Akteuren wahrgenommene Verantwortung unterstützt. Mit Blick auf
die verschiedenen Handlungsfelder im Kultursektor (Bildung, kulturelles Erbe, Künste etc.) ist das
jeweils einschlägige Instrumentarium weiter auszudifferenzieren. Bei der Beteiligung Privater an
der Gewährleistung der öffentlichen Aufgabe „kulturelle Bildung“ geht es etwa auch darum, „Qualitäten“ zu sichern. So kann im Einzelfall auch die Diskussion um Festlegung von Standards von
Bedeutung sein, z. B. bei einer Musikschule die Qualifikation der Lehrkräfte, die Auffächerung des
Unterrichtsangebotes in Einzel-, Gruppen- und Ensembleunterricht.
Die Verantwortung des Staates zur Gewährleistung der kulturellen Infrastruktur kann daher nicht
ohne weiteres generell beschrieben werden, sondern ist auf das jeweilige Handlungsfeld bezogen
auszudifferenzieren. Festzuhalten bleibt, dass ohne eine Diskussion, Beschreibung und ggf.
Festlegung von Standards die Gewährleistung der kulturellen Infrastruktur vielfach leerlaufen
würde.
Infrastruktur kann nicht „irgendwie“ ausgestaltet werden, sondern bedarf einer Festlegung von
Qualitäten und Anforderungen. Standards sollten dabei nicht nur mit Blick auf ein zu garantierendes „Minimum“ ausgerichtet werden und auch nicht auf eine die kulturelle Vielfalt einebnende
„Gleichmacherei“. Es liegt vielmehr in der Verantwortung der jeweiligen öffentlichen Träger, wie
Standards zu erfüllen sind und welche Festlegung im Einzelfall sachgerecht ist. In jenem Falle können Standards dazu beitragen, dass die Gewährleistungsfunktion, die die Verantwortlichen für die
kulturelle Infrastruktur haben, nachvollziehbar und überprüfbar konkretisiert wird.
Aufgabe von Kulturpolitik ist es, Konsens über die Sicherung der kulturellen Infrastruktur im
Hinblick auf folgende Punkte herbeizuführen:
•
Die Diskussion, Beschreibung und Festlegung von Standards dient der Sicherung bestimmter
Qualitäten.
•
Die aktive Gestaltung von Verantwortungspartnerschaften zwischen Staat, Gesellschaft und
Wirtschaft ist erforderlich zur Erfüllung des öffentlichen Auftrags. Bei der Ausgestaltung der
kulturellen Infrastruktur geht es nicht nur um die Bereitstellung von Ressourcen und Fördermitteln, sondern auch um die Gestaltung der rechtlichen Rahmenbedingungen.
Diese drei wesentlichen Schritte sind je nach Handlungsfeld – kulturelles Erbe, Künste, kulturelle
Bildung, Medien etc. in einem öffentlichen Diskurs zu reflektieren, um so eine Grundlage für den
politischen Konsens zu schaffen, der von allen Beteiligten mitgetragen und immer wieder neu mit
Leben gefüllt wird.
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Die Kunst des lebenslangen
Lernens. Herausforderungen
für die kulturelle Bildung
Prof. Dr. Wolfgang Schneider
„Stuhlgeschichten im zwanzigsten Jahrhundert“ sind das Thema des Schülerkunstprojektes,
das die Sparkasse von 1822 an der integrierten Gesamtschule Herder in Frankfurt am Main
unterstützt. Gemeinsam mit Schülern will ein Künstlerensemble „Soziale Skulpturen“ erarbeiten,
die, ausgestattet mit experimentellen Kostümen, Veränderungen in Gestik und Mode darstellen.
Das ist kulturelle Bildung.
„Die Odyssee“ von Ad de Bont nach Homer steht auf dem Spielplan des Hamburger Schauspielhauses. Von 10 bis 14 Uhr erleben die jungen Zuschauer (mit Lunchpaket) die alte Erzählung in
neuer Form. Mit sieben Schauspielern hat Regisseur Klaus Schumacher die komplexen Geschichten auf die Bühne gebracht, die mit fulminanten Rollenwechseln durch viele Räume des größten
deutschen Theaters führt. Auch das ist kulturelle Bildung.
In mehr als 1.000 Musikschulen und fast ebenso vielen Jugendkunstschulen und soziokulturellen
Zentren werden täglich überall in Deutschland Kurse angeboten, in denen Musizieren, Malen und
Schreiben eine große Rolle spielen, in denen neben Handwerkszeug auch soziales Miteinander
geübt wird und in denen auch interkultureller Austausch stattfinden kann. Eine solche Infrastruktur ist ein weiteres Beispiel für kulturelle Bildung.
In der Tat gibt es gute Beispiele und noch mehr gibt es gute Absichtserklärungen. Dennoch klaffen
Sonntagsreden und Alltagshandeln auseinander. Kulturelle Bildung ist in aller Munde, doch ein
Konzept lebenslangen Lernens, dass die bisher stark segmentierten Bildungsbereiche verzahnen
und Vorschule, Schule, Berufs- und Hochschulbildung sowie allgemeine und berufliche Weiterbildung zu einem kohärenten, das heißt aufeinander aufbauenden und vor allem durchlässigen Gesamtsystem zu integrieren versucht, fehlt. Auch deshalb, weil sich die rigide Abgrenzung der
verschiedenen Ressorts – Kulturpolitik, Bildungspolitik, Jugendpolitik – sowohl auf kommunaler
als auch auf Landes- und Bundesebene als kontraproduktiv darstellt.
Getreu dem Einsetzungsbeschluss des Deutschen Bundestags hat sich die Enquete-Kommission
„Kultur in Deutschland“ der kulturellen Bildung in besonderer Weise zugewandt, Anhörung und
Expertengespräche veranstaltet, Gutachten und Expertisen eingeholt sowie vor Ort recherchiert
und auf Exkursionen Modelle kennengelernt. Mit rund 75 Seiten ist das Kapitel im Abschlussbericht gewichtig vertreten, mit bedeutsamen Handlungsempfehlungen soll allen politisch Verantwortlichen Wege aufgezeigt werden, wie kulturelle Bildung zukünftig öffentliche Wertschätzung
erfahren könnte. Zur Bezeichnung des in diesem Kapitel zu behandelnden Gegenstandes sind unterschiedliche Termini gebräuchlich. Friedrich Schiller wirkte Ende des 18. Jahrhunderts
begriffsprägend mit seinen Briefen „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“. Daneben
wurden und werden „kulturelle Bildung“, „musische Bildung“, „musisch-kulturelle Bildung“, „ästhetische Bildung“ oder „künstlerische Bildung“ verwendet. Zudem gibt es spartenspezifische Begriffe (wie musikalische, theatrale oder Medienbildung). Im Folgenden wird ausschließlich von
„kultureller Bildung“ gesprochen, weil sich dieser Begriff seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts weitgehend durchgesetzt hat. Kulturelle Bildung wird zumeist als Allgemeinbildung verstanden, die mit kulturpädagogischen Methoden (also etwa mittels Tanz, Musik, Theater, Bildender
Kunst, Rhythmik, aber auch mit Hilfe der neuen elektronischen Medien) vermittelt wird.
Die Akteure der kulturellen Bildung (zum Beispiel die „Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und
Jugendbildung“, der „Deutsche Kulturrat e. V.“, die „Kulturpolitische Gesellschaft e. V.“, der „Deut-
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sche Städtetag“, die Bundesakademien für kulturelle Bildung in Remscheid, Trossingen und Wolfenbüttel und die „Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung“) haben sich seit mehreren Jahrzehnten auf theoretischer Ebene und in Modellversuchen eingehend
mit dem Thema befasst und fundierte Konzepte vorgelegt. Von Ausnahmen abgesehen scheint es
dennoch so, dass der Alltag der meisten Schulen und vieler Kulturinstitutionen noch nicht durch
eine verbreitete Praxis kultureller Bildung bestimmt ist.
Trotzdem besteht ein Missverhältnis von Theorie und Praxis. Diese Defizite sind keine Petitesse,
denn Kultur vermittelt sich nicht von selbst. Dafür sind die Formen und Zusammenhänge, die sich
in der Kunst zum Teil in Jahrhunderten entwickelt haben, zu komplex: „Kinder müssen Kultur trainieren und auf der spannenden Entdeckungsreise zu Kunst und Kultur an die Hand genommen
werden“, schreibt 2006 die Generalsekretärin der Kulturstiftung der Länder, Isabell Pfeiffer Poensgen, anlässlich der Initiative zur Förderung der kulturellen Bildung „Kinder zum Olymp“. Daher ist
es wichtig, junge Menschen nicht nur als das „Kulturpublikum von morgen“ zu begreifen. Sie sind
auch das Publikum und die Partner von heute. Diese Aufgabe stellt sich neben den Eltern, die in
erster Verantwortung für den Lernprozess ihrer Kinder stehen, allen, den Kulturinstitutionen, den
Einrichtungen der Kulturellen Bildung, der Schule und den staatlichen Ebenen. Das Elternhaus hat
im Prinzip die beste Möglichkeit, die erforderliche Voraussetzung zu schaffen. Diese ist bei jedem
Erwachsenen die Eigenverantwortung für und die Bereitschaft zum lebenslangen Lernen, das
heißt das formale, nichtformale und informelle Lernen an verschiedenen Lernorten. Bund und
Länder haben in der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung
2004 eine „Strategie für lebenslanges Lernen in der Bundesrepublik Deutschland“ beschlossen,
um das Lernen aller Bürger in allen Lebensphasen und Lebensbereichen, an verschiedenen Lernorten und in vielfältigen Lernformen anzuregen und zu unterstützen.
Die Teilnahme am Lebenslangen Lernen ist jedoch in Deutschland noch in zu großem Umfang
vom Bildungsmilieu und der familiären Prägung mitbestimmt und die Teilhabe in unserer Gesellschaft dadurch nach wie vor ungleich. Hier liegen nicht nur aus gesamtwirtschaftlicher Sicht
unausgeschöpfte Wachstumspotenziale brach. Lebenslanges Lernen ist auch die Voraussetzung
für gesellschaftliche Partizipation und kulturelle Teilhabe, das heißt für eine aktive Rolle bei der
Mitgestaltung unserer Gesellschaft. Allgemeines, politisches und kulturelles Lernen vermittelt den
Menschen Grundorientierungen und Kompetenzen, damit sie den gesellschaftlichen Wandel auch
in der privaten Lebenswelt konstruktiv mitgestalten können. Daraus erwachsen Interesse und Befähigung zu bürgerschaftlichem Engagement.
Die Praxis der schulischen und außerschulischen Kulturellen Bildung hängt auch von politischen
Weichenstellungen ab. Insofern ist das neu aufgekommene Interesse der (Kultur-)Politik an der
kulturellen Bildung eine erfreuliche Entwicklung, die Hoffnung für die Zukunft mach, dass das
konstatierte Umsetzungsdefizit neu behoben werden kann. Das tut not, denn: „In Deutschland
werden die Chancen ästhetischer Bildung bisher nicht ausreichend genutzt!“ („Hamburger Erklärung“ des 2. Kongresses der Initiative „Kinder zum Olymp“, 2005).
Die Wirkungsforschung zur kulturellen Bildung hat vor allem in den zurückliegenden Jahren auf
dem Gebiet der Neurowissenschaften große Fortschritte erzielt. Jedoch wurden auch schon in den
1970er-Jahren zentrale Effekte der Kulturellen Bildung auf den Menschen betont. Damals definierte die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung im Ergän-
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zungsplan „Musisch-kulturelle Bildung“ zum Bildungsgesamtplan von 1973 kulturelle Bildung wie
folgt:
„Musisch-kulturelle Bildung weckt schöpferische Fähigkeiten und Kräfte des Menschen im
intellektuellen und emotionalen Bereich und stellt Wechselbeziehungen zwischen diesen Fähigkeiten und Kräften her. Sie spricht alle Menschen, in jedem Alter, in jeder Schicht, gesund, behindert oder krank, an. Sie ist selbst da noch wirksam, wo menschliche Sprache versagt. Insbesondere will musisch-kulturelle Bildung den Einzelnen und den Einzelnen in der Gemeinschaft
•
zu einer differenzierten Wahrnehmung der Umwelt anregen und sein Beurteilungsvermögen
für künstlerische oder andere ästhetische Erscheinungsformen des Alltags fördern. Dies gilt sowohl gegenüber Kunstwerken wie auch gegenüber Formen der Werbung, der Industrieproduktion, der Mode, der Unterhaltungsmusik, der Trivialliteratur und der Medienprogramme,
deren spezifischer Eigenwert zu erkennen ist,
•
zu eigen- und nachschöpferischen Tätigkeiten hinführen. Diese Tätigkeiten tragen zur Entfaltung von Begabungen, Neigungen und Fähigkeiten bei und vermitteln Befriedigung und
Freude am Tun, fördern kommunikative Verhaltensweisen und erleichtern soziale Bindungen.
Voraussetzung hierfür ist das Erlernen künstlerischen Ausdrucks durch Stimme, Mimik und
Gestik des Menschen sowie durch Instrumente und Materialien,
•
in seiner intellektuellen Bildung vervollständigen. Die Angebote musisch-kultureller Bildung
ergänzen einander. So setzt musisch-kulturelle Tätigkeit Einüben und Können von Techniken
voraus; intellektuelle Bildung wird durch musisch-kulturelle Inhalte und Methoden vertieft,
•
in seiner Persönlichkeitsbildung und -entfaltung fördern, ihn harmonisieren und zur Selbstverwirklichung führen.“
Die Bedeutung der frühkindlichen kulturellen Bildung ist in den letzten Jahren verstärkt hervorgehoben worden. Kulturelle Bildung als lebenslange Bildung richtig zu verstehen, bedeutet, sie
nicht nur zu einem wesentlichen Bestandteil des Alters zu machen, sondern sie auch so früh wie
möglich beginnen zu lassen.
Ästhetische Erfahrungen, die spielerische Schulung der Sinne und die künstlerisch-kreative Praxis
sind Ausgangspunkte aller Selbst- und Welterfahrung. Die moderne Hirnforschung bestätigt, dass
entscheidende Grundlagen für die Strukturierung des Gehirns etwa zwischen dem 4. und 8.
Lebensjahr gelegt werden. Die Sprachentwicklung beispielsweise ist im Alter von 8 – 9 Jahren
neurophysiologisch bereits abgeschlossen, 80 Prozent der Lese-, Sprach- und verwandter Kompetenzen werden außerhalb der Schule erworben. Ebenso wie um die Grundlegung von Kompetenzen geht es um die Etablierung von Kulturinteressen. Je früher Kinder mit Kunst und Kultur in
Berührung kommen, desto positiver wirkt sich dies auf ihre späteren Kulturinteressen aus.
Insbesondere die Jahre vor dem Schulbesuch beeinflussen die Entwicklung der Kinder. Frühkindliche kulturelle Bildung ist damit an erster Stelle unverändert eine Aufgabe der Familien. In den
Familien, in denen Erwachsene – welcher Generation auch immer – dem Kleinkind Zeit und Zu-
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wendung widmen und ihm vorlesen, mit ihm singen, es zum Malen oder zur Bewegung motivieren, sind dafür weit mehr Grundlagen vorhanden, als im bildungsarmen Milieu.
Jedoch gelingt dies in vielen Familien nicht hinreichend. Die frühzeitige Förderung der Sprach- und
Lesekompetenz nimmt in einigen Familien deutlich ab. Nicht zuletzt bei Schülern mit Migrationshintergrund sind ausreichende Grundlagen für den sicheren Umgang in zwei Sprachen in den Familien in vielen Fällen nicht gelegt worden.
Daher sind die Anforderungen an Kindertagesstätten, also die Einrichtungen, wo die Früherziehung professionell gestaltet wird, gestiegen. Kindertageseinrichtungen sind als Bildungs- und
nicht nur als Betreuungseinrichtungen zu begreifen.
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Schulische kulturelle Bildung
Die allgemeinbildende Schule (Primarstufe, Sekundarstufe I) ist die einzige Einrichtung, die
allen Kindern den Zugang zu kultureller Bildung eröffnen kann. Sie ist der Ort, wo aufgrund der
gesetzlichen Schulpflicht alle jungen Menschen bis mindestens zum 16. Lebensjahr in Deutschland
unabhängig von sozialer Herkunft und Schulart erreicht werden.
Die damit verbundenen Chancen sind im Bildungsauftrag der allgemeinbildenden Schule fixiert.
Die Praxis wird diesem Auftrag jedoch oft nicht gerecht. Insbesondere ist immer wieder zu beklagen, dass die künstlerisch-musischen Unterrichtsstunden überproportional häufig ausfallen, dass
sie allzu oft fachfremd unterrichtet werden und dass sich die Schüler in mehreren Klassenstufen
zwischen dem Kunst- und dem Musikunterricht zu entscheiden haben. Die Schüler müssen so „– ästhetisch gesehen – wählen zwischen einem Jahr ‚Taubheit’ und einem Jahr ‚Blindheit’“, wie es der
Frankfurter Musikpädagoge Professor Bastian einmal formulierte. Die vorhandenen Defizite in der
schulischen kulturellen Bildung sind daher nicht in den bestehenden Gesetzen, Richtlinien oder
Empfehlungen zu suchen. Kulturelle Bildung hat ein Umsetzungsproblem. Gerade dann, wenn die
Schulzeit verkürzt wird (zum Beispiel auf zwölf Jahre in Gymnasien), darf dies nicht erneut
zulasten von Angeboten kultureller Bildung gehen.
Mehr und mehr wird seit einigen Jahren die Chance ergriffen, die in der Kooperation der Schule
mit außerschulischen Kulturinstitutionen liegt. Gegenwärtig gibt es eine Fülle von Programmen
und Modellversuchen, die sich vor allem darauf beziehen, Künstler in den Schulalltag zu integrieren, Schülern den Besuch von Kultureinrichtungen zu ermöglichen, konkrete kulturelle Projekte zu initiieren oder über Möglichkeiten der kulturellen Bildung zu informieren. Die Verbindung
von schulischer und außerschulischer kultureller Bildung im Rahmen ganztägiger schulischer Arbeit spielt dabei eine besondere Rolle. Allerdings hat die Verbindung von Schulen und kulturellen
Einrichtungen durchaus bereits eine lange Tradition und war ein zentraler Gegenstand der Neuen
Kulturpolitik der 70er- und 80er-Jahre.
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Die Kultureinrichtungen öffnen sich für die Zusammenarbeit mit Schulen in zunehmendem Maße.
Feste Schulpaten oder –partnerschaften sind für viele Museen, Theater, Orchester und Opernhäuser sowie Laienkulturvereine längst selbstverständlich. In letzteren besteht für Kinder und Jugendliche die Möglichkeit, kostenfreie kulturelle Bildungsangebote wahrzunehmen. So innovativ
und gelungen gelegentliche Modellversuche der Länder im Einzelfall sein mögen, haben sie doch
in vielen Fällen den großen Nachteil, dass ihnen die Breitenwirksamkeit und die Kontinuität fehlen, da nur eine eher kleine Zahl von Schülern in ihren Genuss kommt und es nach Ablauf der
Projektphase keine anschließenden Angebote gibt. Eine gelingende Zusammenarbeit von Schule
und Kultureinrichtungen zur Vermittlung kultureller Bildung beruht oftmals stärker auf dem individuellen Engagement von Lehrkräften als auf einer zielgerichteten und koordinierten Zusammenarbeit. Strukturelle Defizite in der Zusammenarbeit von Bildungs- und Kultureinrichtungen entstehen immer dann, wenn kein ausreichendes Personal vorhanden ist, um die Zusammenarbeit
mit Leben zu erfüllen. Mitunter sind gerade kleinere Kultureinrichtungen mit den Kooperationswünschen der Schulen überfordert, weil sie gar nicht über die personellen Kapazitäten
verfügen, so dass ein Missverhältnis von Angebot und Nachfrage entstehen kann. Auch die eng
strukturierten Stunden- und Unterrichtspläne und der knappe Zeitrhythmus des 45-Minuten-Taktes sind einer Zusammenarbeit hinderlich, denn sie machen es Lehrern oftmals unmöglich, mit ihren Schulklassen bestehende schulexterne Angebote Kultureller Bildung wahrzunehmen. Schließlich gelingt die Zusammenarbeit zwischen Bildungs- und Kultureinrichtung noch nicht in jedem
Fall „auf gleicher Augenhöhe“. Ein Umstand, der für viele Kulturschaffende von großer Bedeutung
ist. Dafür ist eine gegenseitige Anerkennung der verschiedenen pädagogischen Professionen und
Professionalitäten notwendig.
In den Niederlanden sind kulturelle Bildungsangebote spartenübergreifend in den schulischen
Fächerkanon integriert. Im Mittelpunkt des seit 1999 angebotenen Schulfachs „Kulturelle und
musische Bildung“ stehen der Besuch kultureller Aktivitäten (Theater- und Konzertbesuche, Museumsbesuche, Stadtbesichtigungen, Besichtigung von architektonischen oder historischen Denkmälern etc.) sowie die Reflexion der dabei gemachten ästhetischen Erfahrungen. Die Kooperation
zwischen Schule und Kultureinrichtungen wurde institutionalisiert, indem ein Netzwerk zwischen
den Lehrern und den kulturellen Einrichtungen aufgebaut und die finanziellen Voraussetzungen
geschaffen wurden: Jeder Schüler erhält dazu einen Vorschuss in Form eines Gutscheines in Höhe
von 23 Euro zur Finanzierung der Besuche und einen Pass, mit dem Preisnachlässe bei den Kulturinstitutionen gewährt werden.
Das britische Programm „Theatre in Education“ (TiE) umfasst eine Theaterinszenierung zur Aufführung in der Schule mit gesellschaftspolitisch und sozial oder fachlich relevanten Themen,
Workshops mit den Schülern vor bzw. nach der Aufführung und didaktisch aufbereitetes Begleitmaterial. Den hohen Stellenwert des seit Mitte der 1960er-Jahre des 20. Jahrhunderts existierenden „Theatre in Education“ zeigt auch die Tatsache, dass die Schauspieler dafür an den Hochschulen ausgebildet werden.
Der norwegische Staat rüstet seine Schüler mit „Dee kulturelle Skolesekken“ (dem „Kulturellen
Schulrucksack“) aus. Dadurch sorgt er für die Mittel und die Rahmenbedingungen einer Kooperation Schule – Kultur. Für den Inhalt des Rucksacks sind hingegen die Künstler und Kunstinstitutionen, Schulen und kommunalen Verwaltungen selbst verantwortlich. Mit diesem Programm soll
allen Schulkindern vom 1. bis zum 10. Schuljahr, unabhängig von sozialer Schicht und geografischer
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Lage, der Zugang zu professioneller Kunst und Kultur im Schulzusammenhang gesichert werden.
Das Programm umfasst alle Kunstgattungen. Zu den Zielen zählt auch, künstlerische und kulturelle Ausdrucksformen in die Realisierung der schulischen Lernziele zu integrieren.
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Kultur macht Schule
Persönliche Begegnungen und gemeinsame Schaffensprozesse mit professionellen Künstlern
können für Kinder und junge Menschen zu Schlüsselerlebnissen werden, die auch das Interesse
am „klassischen Kulturbetrieb“ wecken können. Weitere Institutionen mit Vorbildcharakter stellen
diese direkten Kontakte in den Mittelpunkt ihrer Arbeit. Neben der Begegnung mit Künstlern ist
auf die aneignende Begegnung mit Kunstwerken und Zeugnissen der Geschichte Wert zu legen.
Eine weitere Voraussetzung für das Gelingen der Zusammenarbeit von Schule und Kultureinrichtungen bzw. Kulturschaffenden ist neben der Kontinuität und der Breitenwirksamkeit ihre Professionalisierung. Dazu gehört eine beidseitige Verständigung über die Kompetenzen, Rechte und
Pflichten der Künstler und Kulturpädagogen sowie die Fortbildung von Lehrern zur Einbeziehung
außerschulischer Kulturangebote in den Unterricht. Ohne diese Schulungen können entsprechende Vorgaben in den Lehrplänen zur Kooperation nicht in vollem Umfang wirksam werden. Auch
Kultureinrichtungen sind aufgerufen, sich zu überlegen, welchen Beitrag sie dazu leisten können.
Um diese Professionalisierung zu erreichen, haben verschiedene Länder und Kommunen ein Netzwerk zur Kooperation von Schule und Kultureinrichtungen aufgebaut. Vorbilder dafür finden sich
in Hessen und Nordrhein-Westfalen. Auch im Ausland gibt es hierfür Modelle, so zum Beispiel in
Zürich. Der Sektor „schule&kultur“ des Volksschulamtes des Kantons Zürich versteht sich als
Dienstleistungsabteilung, die Kulturangebote für alle Schulstufen macht. Seine Aufgabe ist es, aus
dem breiten Kulturangebot gehaltvolle, schulgerechte Projekte auszuwählen und sie in Zusammenarbeit mit den Künstlern und Veranstaltern für die Schule zu attraktiven finanziellen Bedingungen aufzubereiten.
Kulturschaffende und Akteure der kulturellen Bildung setzen besonders große Hoffnungen auf die
vermehrt im Aufbau begriffenen Ganztagsschulen. Die Möglichkeiten für kulturelle Bildung in der
neuen Ganztagsschule sind in der Tat beträchtlich. Ihre Umsetzung setzt jedoch voraus, dass
Kunst und Kultur im Wertekanon schulischer Bildungsinhalte ihren angemessenen Platz erhalten
und zu konstituierenden Elementen dieser neuen Schulen werden. Das bedeutet eine adäquate
personelle, fachliche, strukturelle, räumliche und finanzielle Ausstattung. Im Nachmittagsbereich
– und bei einer umfassenden Reform auch in der „Kernzeit“ – können neue Räume für Kunst und
Kultur entstehen.
Hier bleibt abzuwarten, welches der verschiedenen Modelle der Ganztagsbetreuung, die zurzeit in
der Diskussion bzw. in der Erprobungsphase sind, sich durchsetzen wird. Die Bandbreite reicht von
grundsätzlicher Aufhebung der 45-Minuten-Stundentafel mit Verankerung neuer Bildungsformen
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und -inhalte bis hin zu einem additiven Modell, in dem am Nachmittag lediglich eine verlässliche
Aufsicht organisiert wird, jedoch nicht mehr. Gerade für die kulturelle Bildung ist es wünschenswert, dass Ganztagsschule nicht nur eine Ausdehnung der Halbtagsschule in den Nachmittag
bedeutet.
Notwendig ist es, schrittweise zu einer Institutionalisierung der Zusammenarbeit in neuen Strukturen zu kommen. Dazu bedarf es fördernder und unterstützender Rahmenbedingungen (Finanzen, Recht, Organisationsstrukturen). Wenn im Jahr 2004 bereits 70 Prozent der 400 Jugendkunstschulen mit Schulen zusammenarbeiteten, kann von einem Experimentierstadium keine
Rede mehr sein.
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Aus- und Fortbildung von (Kultur-)Pädagogen
Große Bedeutung misst die Enquete-Kommission den Pädagogen als Vermittlungspersönlichkeiten bei. Ihnen kommt eine große Verantwortung dabei zu, die Schüler an den Lernbereich
Kulturelle Bildung heranzuführen und sie dafür zu begeistern. Dafür müssen sie jedoch entsprechend ausgebildet sein. Eine qualitative und quantitative Verbesserung der Lehreraus- und –fortbildung in der Kulturpädagogik ist daher notwendig.
Die lehramtsorientierte Ausbildung in künstlerischen Fächern zielt primär auf die Unterrichtsfächer Kunst und Musik und wird an vielen Hochschulen zunehmend praxisorientiert ausgerichtet.
Andere Sparten (Theater, Tanz, Medien, Baukultur oder Design) werden gegenwärtig nur selten in
die Ausbildung integriert, obwohl ihre Bedeutung in der schulischen Praxis, nicht nur durch die
Ganztagsschulentwicklung zunimmt. In der Ausbildung an künstlerischen Hochschulen ist insbesondere die Ausbildung von Musikschullehrern auf die berufliche Praxis im Bereich der Kulturvermittlung ausgerichtet. Auch an Kunsthochschulen gibt es seit Jahrzehnten vermittlungsbezogene
Studiengänge. Im Bereich der Theaterpädagogik hat sich in den letzten Jahren eine akademische
Ausbildung etabliert und auch in der Lehreraus- und -fortbildung gewinnen Elemente der kulturellen Bildung an Bedeutung. Zurzeit werden die meisten Studiengänge im Zuge des sogenannten
Bologna-Prozesses verändert. Das bietet (noch) die Möglichkeit, in der Lehreraus- und -fortbildung
sowie den künstlerischen Studienrichtungen eine verstärkte Kooperation mit außerschulischen
Partnern in den Studienordnungen zu verankern. Die Entwicklung geht jedoch immer weiter.
Deshalb muss die Möglichkeit der regelmäßigen Fortbildung für alle Lehrer sichergestellt sein.
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Außerschulische kulturelle Bildung
Der Klage über eine „kulturresistente“ Jugend fehlt in dieser Allgemeinheit jede sachliche Begründung. Angebote der Kinder- und Jugendkulturarbeit verzeichnen kaum Akzeptanzprobleme.
Der Vielfalt der Angebote stehen ein ungebrochenes Interesse ihrer Rezipienten und ebenfalls eine
Ausdifferenzierung des Nutzerverhaltens gegenüber. Der Anteil junger Menschen, die künstlerischen Hobbys nachgehen oder Ausstellungen mit zeitgenössischer Kunst besuchen, nimmt zu.
Das Interesse an künstlerischer Aktivität ist insgesamt vielfältiger geworden. Musik- und Jugendkunstschulen verzeichnen lange Wartezeiten, die aufgrund finanzieller Restriktionen auch nicht
kurzfristig abgebaut werden können. Trotzdem ist festzustellen, dass es Zugangsbarrieren zur kulturellen Bildung gibt und Teilhabegerechtigkeit zum großen Teil nicht besteht. Das Jugendkulturbarometer zeigt eindrucksvoll, dass insbesondere für Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen
Schichten Zugangsbarrieren bestehen. Unter dem Diktat der Kostendeckung wird aber zudem in
jüngster Zeit an der Gebührenschraube gedreht. Trotz der Eigenbeteiligung in Form der Unterrichtsgebühren ist eine Förderung des Unterrichts durch Landes- und kommunale Mittel unumgänglich, um nichtelitäre musikalische Bildung möglichst vielen Kindern und Jugendlichen zu ermöglichen. Schon heute ist der Zugang zu Kultureller Bildung zu sehr vom allgemeinen Bildungsniveau abhängig; je höher das Bildungsniveau, desto intensiver werden auch kulturelle Bildungsangebote wahrgenommen.
Die Veröffentlichung der PISA-Studie und das schlechte Abschneiden deutscher Schüler im internationalen Vergleich zeigen, dass es nicht genügt, Kindern und Jugendlichen den „Kinderteller“ an
Bildung und Kultur zu reichen. Sie brauchen ein ernsthaftes, komplexes Angebot dessen, was der
Bildungs-„Warenkorb“ bietet, wie die Verantwortlichen des Kinder- und Jugendtheaters der Stadt
München zu Recht fordern: „Wer Kinder und Jugendliche an den Katzentisch setzt, bekommt
durch PISA die Quittung.”, heißt es hierzu auf der website der „Schauburg“ des Theaters der Jugend in München.
Im Theater treten die Künste in Wechselwirkung. Die Theaterkunst bietet dem Rezipienten vielschichtige Wahrnehmungsreize und komplexe Angebote zum Interpretieren und Entschlüsseln
von körperlichen Gesten, sprachlichen Symbolen und szenischen Zeichen. Es knüpft damit an das
natürliche Interesse von Kindern und Jugendlichen am Dechiffrieren und Enträtseln an und
aktiviert den Zuschauer geistig. Die so geübte Zuschaukunst ist eine besondere Form des kritischen und analytischen Denkens, eine Fähigkeit, die Kinder und Jugendliche heute in Bildung und
Ausbildung und später im Beruf und im Leben benötigen.
Es sind insbesondere die Kinder- und Jugendtheater, die als integraler Bestandteil der kulturellen
Bildung in Deutschland diesen Bildungsauftrag wahrnehmen und als außerschulische Lernorte in
enger Vernetzung mit Schulen agieren. Es sollte zur Normalität werden, dass die Angebote der
Theater von den Lehrern verantwortungsvoll wahrgenommen und produktiv zum integralen Bestandteil des Curriculums gemacht werden. Außerdem erreicht das Kinder und Jugendtheater mit
Schulaufführungen alle sozialen Schichten einer Altersgruppe und ermöglicht auf diesem Wege
den chancengleichen Zugang zu kulturellen Angeboten. Doch die Kunsteinrichtungen sollten auch
den individuellen Theaterbesuch von Kindern und Jugendlichen mit Eltern oder Freunden fördern,
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denn Kinder- und Jugendtheater ist ein Theater der Generationen und das Theater als eine soziale
Kunst ist auch ein Ort der menschlichen Begegnung und des Austauschs über die Gesellschaft.
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Das Freiwillige Soziale Jahr Kultur
Das Freiwillige Soziale Jahr (FSJ) Kultur, bei dem nur jeder zehnte Bewerber einen Platz erhält,
ist ein eindrucksvoller Beleg für das kulturelle Interesse Jugendkultur. Es hat sich seit dem Start
2001 unter dem Motto „Rein ins Leben!“ binnen kurzem vom Modellprojekt zum Markenzeichen
entwickelt. Initiator des zunächst dreijährigen Bundesmodellprojekts war die Bundesvereinigung
Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e. V., unterstützt vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSF) und privaten Förderern.
Von der Vielfalt kultureller Arbeitsfelder und den Chancen, Kulturprojekte eigenverantwortlich zu
realisieren, profitieren Jugendliche, Einrichtungen und die Gesellschaft gleichermaßen. Das FSJ
Kultur motiviert einerseits kulturelle Einrichtungen, für freiwilliges Engagement junger Menschen
aktiv zu werden. Es bietet andererseits die Chance, schon junge Menschen an kulturellen Prozessen vor Ort teilhaben zu lassen. Diese frühe Heranführung an die Kultur und der Einblick in die
Möglichkeiten kreativer Arbeit im Kulturbereich schaffen langfristige Bindungen. Eigene Erfahrungen sensibilisieren für die Probleme der Kulturschaffenden und vermitteln ein Gespür für den
marktwirtschaftlich-finanziellen Druck und auch für die leider mancherorts vorhandene kommunale Infragestellung von Kultureinrichtungen. Das FSJ Kultur unterstützt junge Menschen nachhaltig bei der Suche nach Perspektiven, persönlicher Identität und beruflicher Orientierung. Das
gemeinsame Lernen mit Anderen und die Arbeit im Team einer kulturellen Einrichtung ist für alle
Beteiligten eine Herausforderung. Es fördert soziale Schlüsselkompetenzen wie Eigenverantwortung, Kommunikationsfähigkeit, Durchhaltevermögen, Verantwortungsbewusstsein, Belastbarkeit, Teamfähigkeit, Kreativität, Leistungsbereitschaft.
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Handlungsempfehlungen
Kulturelle Bildung ist unverzichtbarer, integraler Bestandteil von Bildung wie von Kultur und
eine Querschnittsaufgabe verschiedener Politikfelder. Die Enquete-Kommission empfiehlt Bund,
Ländern und Kommunen, gleichberechtigt in die kulturelle Bildung zu investieren; insbesondere in
der Früherziehung, in der Schule, aber auch in den außerschulischen Angeboten für Kinder und Jugendliche sollte kulturelle Bildung gestärkt und schwerpunktmäßig gefördert werden.
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Eine Vielzahl von Handlungsempfehlungen macht den verschiedensten Politikfeldern in Bund,
Ländern und Kommunen Vorschläge, kulturelle Bildung als vordringlichen Förderbereich zu etablieren. Eine Bundeszentrale für kulturelle Bildung soll innovative Konzepte entwickeln, die Vernetzung der Akteure anstreben und Projekte fördern. Die bundesweiten Wettbewerbe wie
„Jugend musiziert“, das „Treffen junger Autoren“ und das „Theatertreffen der Jugend“ sollen ebenso gestärkt werden, wie das Freiwillige Soziale Jahr Kultur und der Bundeskinder- und Jugendplan.
Die Kultur- und Bildungseinrichtungen werden aufgefordert, Kooperationsverträge zu vereinbaren, die Hochschule angeregt, Kulturvermittlung in den Curricula zu verankern. Den Ländern wird
empfohlen, die Fächer der kulturellen Bildung qualitativ aufzuwerten, ein Sondervotum fordert
sogar einen eigenen Lernbereich, der Kunst, Musik, Theater, Film und Literatur miteinander vereint. Schulchöre, Schülerbüchereien und Schultheatertage sollen besondere Förderung erfahren.
Dem Kinder- und Jugendtheater sollen interkulturelle, interdisziplinäre und internationale Produktionen sowie Kinder- und Jugendtheaterfestivals zur Begegnung mit allen Künsten und Kulturen
ermöglicht werden. Öffentlich geförderte Kultureinrichtungen sollen per Bewilligungsbescheid
verpflichtet werden, einen angemessenen Teil des Angebots für Kinder und Jugendliche zur Verfügung zu stellen; Museen, Opern und Kulturzentren sollen einen Teil ihrer Fördermittel zielgerichtet für Zwecke der kulturellen Bildung erhalten.
Die Enquete-Kommission empfiehlt den Ländern, durch gesetzliche Regelungen die kulturelle Infrastruktur im Bereich der außerschulischen kulturellen Bildung in ihrem Bestand zu garantieren.
Dies gilt besonders für das Musik- und Jugendkunstschulwesen, das bisher nur in wenigen Bundesländern gesetzlich gesichert ist. Ansatzpunkte gibt es hierfür in den Schulgesetzen der Länder
und den Jugendbildungsgesetzen. Dabei sollte die Qualitäts- und Bestandssicherung der Infrastruktur kultureller Bildung Zielsetzung sein. Angebote der kulturellen Bildung aus dem rechtlichen Status der „freiwilligen Leistung“ herauszuführen, sollte auch mit Blick auf die Gestaltungsfreiheit der Kommunen entscheidendes Element gesetzlicher Regelungen sein. Denn gerade bei
knappen Kassen sollten die Kommunen ihrer Verantwortung für die kulturelle Bildung nachkommen können.
Kulturelle Bildung könnte zu einem zentralen Politikfeld avancieren. Die Notwendigkeit ist evident, die Chancen sollten genutzt werden. Denn wie sagte schon der Politiker und Philosoph John
Locke vor mehr als 300 Jahren: „Nichts ist im Verstand, was nicht vorher in den Sinnen.“
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Die zunehmende Bedeutung
von Spendern, Sponsoring und
Stiftungen als Finanzierer der
Kultur
Dr. Dieter Swatek
Kulturförderung war und ist zu allererst eine staatliche Aufgabe und viele meinen, dass das
auch so gut ist und bleiben muss. Insbesondere für kulturpolitisch interessierte Menschen ist es
schwer vorstellbar, dass Kultur nicht öffentlich finanziert sein soll. Aber: bei näherer Betrachtung
wird deutlich, dass private Spenden, Sponsoring und Ausgaben von Stiftungen für die Finanzierung von Kultur in Deutschland bereits eine viel größere Rolle spielen als gemeinhin angenommen wird.
Dabei ist daran festzuhalten, dass die öffentliche Finanzierung von weiten Bereichen der hoch
entwickelten Kulturlandschaft Deutschlands nach wie vor eine unverzichtbare Aufgabe und Verpflichtung der staatlichen Ebenen bleiben muss, denn diese Ausgaben stellen wichtige Investitionen in die Zukunft der Gesellschaft dar. Die deutsche Kulturlandschaft in ihrer Dichte ist ohne
staatliche Mittel – aber auch ohne private Finanzquellen – nicht zu erhalten.
Viele Kultureinrichtungen könnten ohne private Mittel ihre Kosten bereits heute nicht mehr
decken, wenn sie nicht Abstriche an Quantität und Qualität ihrer Angebote machen wollen. Die
Enquete-Kommission weist darauf hin, dass für viele Kultureinrichtungen die Förderung durch privates Engagement längst das notwendige Spielbein neben ihrem Standbein aus öffentlichen Fördergeldern ist.
Die öffentlichen Träger sollten jedoch die Möglichkeiten ihrer Kultureinrichtungen zur Einwerbung von privaten Mitteln in Form von Spenden und Sponsoring auch nicht überschätzen. Eine auf
den Kölner Raum konzentrierte Studie zum „Mythos Sponsoring“ weist im Einzelnen nach, wie
aufwendig und wenig erfolgreich es sein kann, Sponsorenmittel für die Finanzierung der darstellenden Künste zum Beispiel in Köln zu gewinnen. Der dort im konkreten Fall ermittelte Anteil ist
verschwindend gering und liegt je nach Berechnungsmethode unter 1- 2 Prozent der Gesamtfinanzierung.
Mit rund acht Milliarden Euro finanziert die öffentliche Hand nach den Unterlagen der EnqueteKommission die deutsche Kulturlandschaft. Da liegt die Vermutung nahe, dass gegenüber diesem
Betrag der private Finanzierungsanteil deutlich geringer sein müsse.
Die Enquete-Kommission hat erstmals den Versuch unternommen, sämtliche Formen privater
Förderung von Kultur in Deutschland zu erfassen und an das Maecenata-Institut ein Gutachten
vergeben, das in einer Bestandsaufnahme bereits vorliegender Daten den Anteil der Kultur am
Geld-, Sach- und Zeitspendenvolumen ermitteln sollte. Mit dem neuen Ansatz, beim Spendenverhalten auch das Spenden von Zeit darzustellen, sollte überdies erstmals eine Spendenform berücksichtigt werden, von der alle wissen, dass sie tatsächlich in beträchtlichem Umfang existiert, über
deren Größenordnung aber kaum quantitative Vorstellungen bestehen. Unter Zeitspenden ist
dabei der freiwillige und unentgeltliche zeitliche Einsatz u. a. in Kulturorganisationen zu verstehen. Zum Zweck der Vergleichbarkeit und Vorstellbarkeit sind die Zeitspenden monetarisiert worden. Dafür spricht insbesondere, dass öffentliche Fördermittel in erheblicher Weise dazu ver-
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wendet werden, Personalkosten zu tragen. Zugleich veranschaulicht die Summe, in welch hohem
Maße die Kulturproduktion durch unbezahlte Freiwilligenarbeit und Ehrenamt geleistet wird.
Wie in der Kulturstatistik insgesamt, so gilt auch hier, dass die Datenlage für das tatsächliche
Spendenaufkommen eher unbefriedigend ist und die Gutachter auf eine Sekundärauswertung
vorhandener Untersuchungen angewiesen waren.
Um den Umfang der privaten Spenden angemessen abzubilden, liegt dem Gutachten ein relativ
weiter Kulturbegriff zugrunde, der jede Form der Förderung von Kultur einschließt: dazu zählen:
Produktion, Reproduktion, Bewahrung und Pflege und Vermittlung künstlerischer Erzeugnisse
durch Künstlerinnen und Künstler sowie in und durch öffentliche und zivilgesellschaftliche Einrichtungen bzw. deren Mitglieder, Mitarbeiter usw. Ausgeklammert bleiben der Bereich der Kulturwissenschaften und die Kulturförderung , die im unmittelbaren Privatbereich von Bürgern oder
Unternehmen liegt.
Die folgende Übersicht zeigt das Ergebnis dieser Ermittlung :
Spendenform
Zeitspende
Minimum in
Mio. Euro
9.350
Maximum in
Mio. Euro
16.700
Einfache Geldspende
Stiftungen
60
133
125
160
Mitgliedsbeiträge
215
722
Finale Spenden
Unternehmensspenden
und Beiträge
9,7
111
13
188
300
828
1.400
2608
10.178,7
19.303
Sponsoring
Insgesamt ohne
Zeitspenden
Insgesamt
Bemerkung
Monetarisierter
Wert
Ohne Stiftungen
Ohne Stiftungen
Ohne wirtschaftlich motivierte
Beträge aus der
Kulturwirtschaft
für die Kulturwirtschaft
Trend
Wachstum
Stagnation
Durch Neuzugang jährlich
6 % Wachstum
Wachstum der
eingetragenen
Vereine von
2001 auf 2005
um 11 %
Wachstum
Wachstum
Unklar
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Das Ergebnis ist verblüffend: die Summe der privaten Spenden für die Kultur übersteigt bei weitem die Summe der Kulturfinanzierung aus Steuermitteln. Je nach der Methode der Monetarisierung der Zeitspenden liegt das Spendenaufkommen mit ca. 10 Milliarden Euro pro Jahr um rund 25
Prozent oder mit rund 20 Milliarden Euro pro Jahr um das 2,5-fache über den öffentlichen Mitteln.
Der relativ breite Korridor zwischen Minimal- und Maximalwert resultiert nach Aussage der
Gutachter aus besonders vorsichtigen Schätzmethoden bei der unteren Variante; zum anderen
soll dadurch den Differenzen in den vorliegenden Studien Rechnung getragen werden.
Offenbar spielt die Zeitspende vom Volumen her eine größere Rolle als die Geldspende. Zwischen
Geld- und Zeitspenden bestehen dabei relevante Korrelationen. Wer eher freiwillig mitarbeitet,
spendet nach der Untersuchung tendenziell auch mehr. Die Zeitspende ist im Kulturbereich
überdies in hohem Maße an formale Organisationen gebunden, das heißt 95 Prozent der Zeitspender sind auch Mitglied in der Organisation. Die Bindungsstrukturen auf der Ebene der Kulturorganisationen werden wiederum selber von Ehrenamtlichen geleistet. Lediglich in 28 Prozent der
Kulturorganisationen gibt es überhaupt hauptamtliche Mitarbeiter, aber in 57 Prozent gleichwohl
Ansprechpartner für Freiwillige. Die überwiegende Mehrheit der realisierten Zeitspenden hängt
also maßgeblich von der Fähigkeit ehren- und hauptamtlicher Führungskräfte ab, zur richtigen
Zeit die richtigen Ansprechpartner zu fragen.
Werden lediglich die jährlichen Geldbeträge betrachtet, wird erkennbar, dass die bisher landläufig
geschätzte Summe, die zwischen 350 und 500 Millionen Euro liegt, noch nicht einmal an die Summe der defensiv ermittelten Beträge in Höhe von 828 Millionen Euro heranreicht, sondern erheblich höher liegt.
Im Bereich der Geldspenden fallen Mitgliedsbeiträge wesentlich stärker ins Gewicht als Spenden.
Mitgliedsbeiträge (führen in eine Grauzone im Bereich der wiederholten Geldspenden,) stellen
aber als ein stabiles und berechenbares Instrument einen wichtigen Beitrag der privaten Kulturfinanzierung dar. Für die Lebensfähigkeit vieler Kultureinrichtungen sind die Fördervereine unverzichtbare Stützen ihrer Finanzierung, wie eine entsprechende Umfrage belegt. Darüber hinaus
haben die Mitglieder von Freundeskreisen und Fördervereinen eine wichtige Multiplikatorenrolle
in der Gesellschaft. Um so wichtiger war deshalb, dass bei der - sicher auch durch die Arbeit der
Enquete-Kommission beförderten und - jetzt abgeschlossenen Reform des Gemeinnützigkeitsrechtes gesetzlich klar gestellt worden ist, dass die Spendenabzugsfähigkeit für Mitgliedsbeiträge
an Kulturfördervereine auch bei Gegenleistungen des Vereins möglich ist.
Während Zeitspenden und Stiftungen dynamische Wachstumsbereiche darstellen, Unternehmensspenden und Mitgliedsbeiträge sowie (wahrscheinlich) testamentarische Spenden zu den
Wachstumsbereichen der privaten Kulturförderung mit geringerer Dynamik gehören, stagnieren
die einfachen Geldspenden
Das Gesamtvolumen der Geldspenden einzelner Bürger ist, im Unterschied zum kontinuierlichen
Wachstum bei den Mitgliedsbeiträgen, starken Schwankungen ausgesetzt, die im Wesentlichen
durch Sonderereignisse beeinflusst werden (Spendenaktion wie z. B. zugunsten der Frauenkirche
in Dresden). Beim Spendenaufkommen aus Einzelspenden ist nicht zu ermitteln, in welchem Ausmaß der Bereich der repetitiven Spenden, wie Daueraufträge, Einzugsermächtigungen oder
Fördermitgliedschaften, erfasst ist.
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Während im privaten Spendenbereich nur ein langfristiger schwacher Wachstumstrend erkennbar ist, steigt das Gesamtvolumen der Fördertätigkeit von Unternehmen kontinuierlich an. Unternehmen orientieren ihre Spendentätigkeit naturgemäß an Interessen des Unternehmens, d. h. ihr
Spendenverhalten wird bestimmt durch Gesichtspunkte der allgemeinen Öffentlichkeitsarbeit,
des Ansehens des Unternehmens, der Entscheidungsträger in ihrem jeweiligen Umfeld und folgt
eher kurzfristigen Trends, die kulturpolitisch nicht immer einzuordnen sind.
Die Förderung von Kultur und Kunst durch Unternehmer und Unternehmen hat in Deutschland
eine lange Tradition. Diese hatten und haben dabei sowohl ihre eigenen als auch die Interessen
der Gesellschaft oder ihrer Gemeinde im Auge. Das Potenzial der Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft und Kultur erweist sich als groß. Neben dem mäzenatischen Handeln von unternehmenseigenen Stiftungen, dem Spenden bzw. dem sogenannten Corporate Volunteering gewinnt das
Kultursponsoring als spezifisch unternehmerische Kulturförderung zunehmend an Gewicht.
Aus den Kommunikationsbudgets der Unternehmen werden derzeit jährlich rund 4 Milliarden
Euro für Sponsoringmaßnahmen zur Verfügung gestellt. Wird in einem weiten Kulturbegriff Medien- und Kultursponsoring zusammengenommen, dann beträgt nach Berechnungen des Maecenata-Instituts das Sponsoring für den Kulturbereich bis zu 1,3 Milliarden Euro. Wird dies auf den
öffentlich geförderten Kulturbetrieb eingeengt, liegt die Zahl bei 300 bis 400 Millionen Euro. Das
entspricht auch den Zahlen des Arbeitskreises Kultursponsoring im BDI von ca. zehn Prozent, also
rund 400 Millionen Euro, die auf Kulturförderung aller Sparten entfallen. Einer Studie der BMWGroup zufolge, haben sich Kunst und Kultur bei deutschen Unternehmen sogar mit 30 Prozent des
Gesamtbudgets als zweitwichtigstes Sponsoringsegment etabliert. Weltweit fließt nach der
genannten Studie jeder fünfte Sponsoring-Euro in Kunst und Kultur.
Empirische Daten zum Sponsoring zeigen, dass die meisten Unternehmen nur ein bescheidenes
Interesse an der Kontrolle ihrer Investitionen zeigen. Selbst die Unternehmen, die ausdrücklich
angeben, mit ihrem Sponsoring ökonomische Ziele vor allem im Sinn von Kundenbindungen und
Neukundengewinnung zu verfolgen (22 Prozent), erklären, dass sie keine Zielkontrollen durchführen. Das wesentliche Kontrollinstrument stellt mit 61 Prozent das Medienclipping dar.
Die Bedeutungszunahme privater Mittel in der Kultur zeigt sich auch darin, dass viele kulturelle
Einrichtungen bei Neubesetzung von Stellen im Bereich des Marketings und der Öffentlichkeitsarbeit großen Wert zumindest auf Grundkenntnisse und, wenn möglich, praktische Erfahrungen in
der Akquisition von Sponsoren legen. Die vielfältigen Kulturmanagementstudiengänge in Deutschland, aber auch die Fundraisingakademie in Frankfurt/Main oder Seminare der Europäischen
Sponsoringbörse bilden zur professionellen Mittelbeschaffung aus und weiter. Die Professionalisierung des Fundraising nach angelsächsischem Vorbild ist dabei, in deutsche Kultureinrichtungen einzuziehen.
Wenn, wie dargestellt, die privaten „Finanzierer“ mittlerweile eine solche unverzichtbare Bedeutung in der Kulturfinanzierung gewonnen haben, ist es nach Auffassung der Enquete-Kommission
Aufgabe der Politik, günstige Rahmenbedingungen für dieses private Kulturengagement zu schaffen und sicherzustellen. Dazu zählt ein „betriebswirtschaftlicher und steuerrechtlicher Rahmen, in
dem die vielfältigen Kooperationen zwischen Kultur, Wirtschaft und öffentlicher Hand gedeihen
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können“. Ein gesellschaftliches Klima der Anerkennung ist unabdingbar, in dem der ideelle, gesellschaftspolitische und materielle Wert von Zeit- und Geldspenden genauso gewürdigt wird wie das
Kulturengagement von Unternehmen als notwendiges und anerkanntes Element der Kulturfinanzierung. So und durch eine Strategie des konsequenten Abbaus von Hemmnissen bei gleichzeitiger Schaffung von Anreizen kann das bürgerschaftliche Engagement in der Gesellschaft zu
größerer Entfaltung gebracht werden.
Die bereits erwähnte Reform des Gemeinnützigkeitsrechtes hat inzwischen eine ganze Reihe von
förderlichen Veränderungen herbeigeführt:
•
Vereinheitlichung und Anhebung der Höchstgrenzen für den Spendenabzug von bisher fünf
bzw. zehn Prozent des Gesamtbetrages der Einkünfte auf 20 Prozent für alle förderungswürdigen Zwecke.
•
Verdoppelung der Umsatzgrenze für den Spendenabzug.
•
Anhebung des Höchstbetrages für die Ausstattung von Stiftungen mit Kapital von 307.000
Euro auf 1 Million Euro.
•
Abschaffung des zeitlich begrenzten Vor- und Rücktrags beim Abzug von Großspenden und
der zusätzlichen Höchstgrenze für Spenden an Stiftungen. Dafür Einführung eines zeitlich unbegrenzten Spendenvortrags.
•
Anhebung der Besteuerungsgrenze für wirtschaftliche Betätigungen gemeinnütziger Körperschaften von jeweils insgesamt 30 678 Euro Einnahmen im Jahr auf jeweils 35.000 Euro.
•
Anhebung des so genannten Übungsleiterfreibetrages von 1.848 Euro bei unverändertem
Anwendungsbereich auf 2.100 Euro.
•
Einführung einer steuerfreien Pauschale für alle Verantwortungsträger in Vereinen in Höhe
von 500 Euro.
•
Gesetzliche Klarstellung der Spendenabzugsfähigkeit für Mitgliedsbeiträge an Kulturfördervereine.
•
Erleichterter Spendennachweis bis 200 Euro.
Die private Kulturförderung verbindet nicht nur Unternehmen und Kultureinrichtungen, sondern
sie muss in einem Dreieckverhältnis mit der öffentlichen Hand gesehen werden. Die Struktur öffentlicher Förderung sollte dies als Chance nutzen und stärkere Anreize zur eigenen wirtschaftlichen Aktivität von Kulturinstitutionen setzen. Es ist dabei ebenso wichtig und richtig, Kultureinrichtungen zu mehr Eigeninitiative bei der Akquisition von privaten Finanzmitteln zu ermuntern. Das bedeutet aber auch, erfolgreiche Kultureinrichtungen nicht dadurch zu bestrafen, dass
ihnen zusätzlich eingeworbene Gelder ganz oder teilweise von den staatlichen Zuschüssen abgezogen werden. Kein Unternehmen möchte dort fördern, wo die öffentliche Hand sich zurückzieht.
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Die gängige Praxis der Fehlbetragsfinanzierung insbesondere im Rahmen der institutionalisierten
Förderung von öffentlichen Einrichtungen birgt die Gefahr, dass Eigeneinnahmen und Sponsoringgelder wieder abgeführt werden müssen. Bei der Fehlbedarfsfinanzierung deckt die Zuwendung
nur den „Fehlbedarf“, den der Zuwendungsempfänger nicht durch eigene oder fremde Mittel zu
decken vermag. Um dies zu vermeiden und bei freiwilligen Geldleistungen dem Spenderwillen
dennoch zu entsprechen, ist – wie weitgehend auf Bundesebene geschehen – dem durch entsprechende im Einzelfall zu treffende haushaltstechnische Regelungen vorzubeugen. Eine Umstellung
auf Festbetragsfinanzierung auf der Basis eines langfristigen Zuwendungsvertrages, bei dem ein
fester, nicht veränderbaren Betrag an den zuwendungsfähigen Kosten vertraglich verabredet wird,
würde hier grundsätzlich Abhilfe schaffen. Der Anteil der staatlichen Förderung bliebe dann konstant, wenn mindestens in dieser Höhe zuwendungsfähige Ausgaben nachgewiesen werden.
In diese Richtung zielt auch die Idee der Matching Funds, eine angelsächsische Form der Komplementärfinanzierung, das heißt eine Kombination aus öffentlichen und privaten Mitteln, bei der
staatliche Zuwendungen nur in der Höhe gewährt werden, in der auch private Mittel eingeworben
werden. Sie ist in den USA weit verbreitet. Der Erfolg solcher Spendenwerbung liegt im Ansporn,
mit seiner Spende bzw. Zuwendung noch weitere öffentliche Förderbeträge mobilisieren zu können. Zugleich wird anschaulich, dass die Kultureinrichtung oder das Kulturprojekt von vielen engagierten Menschen mitgetragen wird.
Die verabschiedeten Handlungsempfehlungen der Enquete-Kommission zielen folgerichtig darauf, den öffentlichen Zuwendungsgebern Förderverfahren zu empfehlen, die stärkere Anreize zur
Selbsterwirtschaftung und zur Spendeneinwerbung für Kultureinrichtungen bieten.
Spender, Sponsoren und Stiftungen sind ganz offensichtlich als Finanzierer der Kultur bereits gut
auf dem Weg. Ihre Bedeutung wird angesichts knapper öffentlicher Kassen vor allem im Bereich
der Zeitspenden, aber auch im Bereich der direkten finanziellen Spenden weiter zunehmen. Wenn
sie in einer Mischung eingesetzt und verbunden mit staatlicher Förderung auftreten, sollte die
unverzichtbare Vielfalt der kulturellen Projekte gewährleistet sein und letztlich auch die eingangs
erwähnten Skeptiker überzeugen.
„Der größte Kulturfinanzierer in Deutschland ist der Bürger in erster Linie als Marktteilnehmer
(Kulturwirtschaft), in zweiter Linie als Spender und erst in dritter Linie als Steuerzahler.“
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Die Künstler kommen …
Prof. Dr. Susanne Binas-Preisendörfer
… das fahrende Volk, die Schauspieler, Bohemiens, Virtuosen ihres Handwerks, Schöpfer von
noch nie Dagewesenem, widerspenstige Genies und Freaks, Superstars und bettelarme Poeten,
nachdenkliche Autoren, glamouröse Malerfürsten, Soundtüftler, Ballerinen, Chaospiloten ... Sie
werden von der Gesellschaft verehrt und sie werden auf offener Straße angegriffen.
Künstlerinnen und Künstler leisten mit ihrer Arbeit einen unersetzbaren Beitrag zum Selbstverständnis und zur Wertedebatte in einer zieloffenen, demokratischen und pluralen Gesellschaft.
Mit ihren auf die Sinne und den Sinn gerichteten „Angeboten“ zur gesellschaftlichen Selbstvergewisserung – und dazu gehören auch die von ihnen entwickelten Verweigerungs-, Destruktions-,
Chaotisierungs- und Reduktionsstrategien - agieren sie heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts in
einem komplexen gesellschaftlichen Handlungsrahmen (Staat, Markt, Zivilgesellschaft). Ihre zweifellos besonderen Beschäftigungsverhältnisse – immer mehr arbeiten als Freiberufler und Selbständige, leben von stark schwankendem Einkommen, müssen flexibel und stets kreativ mit ihrer
Lebenssituation umgehen – machen sie in letzter Zeit immer wieder auch zur Projektionsfläche
zukünftiger oder schon existierender Modelle von (Erwerbs-) Arbeit. Künstlerinnen und Künstler
gelten – auch in ihrem Umgang mit den ökonomischen und sozialen Wandlungsprozessen – als
Seismographen sich entwickelnder Beschäftigungsstrukturen und Erwerbssituationen. Doch nicht
nur deshalb hat sich die Enquete-Kommission mit der sozialen und wirtschaftlichen Lage von
Künstlerinnen und Künstlern befasst, ist der aktuellen Situation und den Herausforderungen an
ihre Aus-, Fort- und Weiterbildung und den öffentlichen Förderinstrumenten nachgegangen.
Die spezifischen Leistungen von Künstlerinnen und Künstlern stellen ein Gut dar, das in den komplexen Kulturprozessen zirkuliert, nachgefragt und verwertet wird. Künstlerische Arbeiten sind jedoch nicht allein nach den Maßgaben von Effizienz, Produktion oder Einschaltquoten zu bewerten,
weil sie nicht in den Kategorien von Kosten und Nutzen aufgehen und ihr Wert nicht messbar ist.
Aus diesem gegenüber anderen Marktteilnehmern strukturellen Nachteil ergibt sich die Notwendigkeit staatlicher Verantwortung; die in überwiegendem Maße staatlich organisierte und öffentlich finanzierten Ausbildung an den Hochschulen und Universitäten der Künste, Maßnahmen der
sozialen Künstlerförderung (Künstlersozialversicherungsgesetz), Maßnahmen der wirtschaftlichen
Künstlerförderung, der Urhebergesetzgebung oder der öffentlichen Künstlerförderung als mittelbare Förderung über die Institutionen und Projekte der öffentlichen Kulturförderung oder unmittelbar in der Form von Stipendien etc.
In den Jahren 1972 – 1975 wurde in Deutschland erstmalig ein Bericht mit Daten zur sozialen und
wirtschaftlichen Lage von Künstlerinnen und Künstlern und deren Stellung in der Gesellschaft
erarbeitet. Der 1975 vom Deutschen Bundestag beauftragte „Künstlerbericht“ gilt bis heute weltweit als eine der größten Repräsentativumfragen, die jemals in der empirischen Sozial- und Arbeitsmarktforschung für spezielle Berufsfelder durchgeführt wurde. Auf der Grundlage der
Ergebnisse dieser Studie wurden von Regierung und Parlament verschiedene Reformvorhaben auf
den Weg gebracht. Das wichtigste ist sicherlich das 1981 verabschiedete Künstler-Sozialversicherungs-Gesetz (KSVG).
Im Zuge der Einsetzung der Enquete-Kommission ‚Kultur in Deutschland’ wurden verschiedentlich
Erwartungen und Hoffnungen gehegt, ob es nicht an der Zeit sei, eine Neuauflage der vor 30
Jahren vorgelegten Künstler-Erhebung zu erarbeiten. Dies wäre sicherlich wünschenswert, aber
aus verschiedenen Gründen im Rahmen der Enquete-Arbeit unrealistisch.
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Das Tätigkeitsfeld und Berufsbild von Künstlerinnen und Künstlern hat sich im Verlauf der vergangenen 30 Jahre verändert. Die westlichen Gesellschaften befinden sich in Folge globaler und technologischer Umbruchprozesse (Digitalisierung) in einem höchst dynamischen Prozess des Strukturwandels. Auch künstlerische Arbeit, Produktion, Distribution, Verwertung und Rezeption sind in
erheblichem Maße von der Erweiterung und Verdichtung wirtschaftlicher, kommunikativer und
strukturell-technischer Netzwerke durchdrungen. Nicht mehr nur Güter und Personen, sondern
Waren, Symbole, Kapital und Informationen aller Art zirkulieren weltweit. Daraus ergeben sich
entsprechende Verschiebungen der Tätigkeitsfelder und Einkommensarten von Künstlerinnen
und Künstlern. Es verändert sich teilweise das Selbstbild, aber auch die Vorstellungen darüber, wer
ein Künstler oder z. B. ein sog. Kreativer ist.
Der Beruf des modernen Künstlers – so der Historiker Wolfgang Ruppert - konsolidierte sich nach
einer längeren Übergangsphase mit der Entfaltung der bürgerlichen Gesellschaft im 19. Jahrhunderts als ein normbeherrschendes Konzept der zur gleichen Zeit entstehenden Institutionen des
Kulturbetriebes (hier insbesondere Ausbildungseinrichtungen, Distribution und Verwertung in
den jeweiligen Branchen/Sparten, Re-/Präsentationsorte der jeweiligen Branchen, Kunst-, Literatur-, Musikkritik). Im Unterschied zu höfischer Abhängigkeit oder dem kirchlichen Dienst ist der
moderne Künstler sozialökonomisch frei (Vertragsfreiheit), berufsrechtlich frei (im Allgemeinen
arbeitet er als Freiberufler) und vom Selbstverständnis her auf seine Individualität gerichtet (Autorschaft). Künstler/in sein hieß damals und heute: spezifische künstlerische Fähigkeiten als Leistungspotential zur Grundlage für eine möglichst kontinuierliche Erwerbs- und Versorgungschance
des Individuums zu machen. Ohne die Kontakte in die o. g. Institutionen des Kunst- und Kulturbetriebes können Künstlerinnen und Künstler nicht existieren. Damals (zu Beginn des 19. Jahrhunderts) wie heute (zu Beginn des 21. Jahrhunderts) sind – so Ruppert – nur wenige Künstler reich geworden. Die überwiegende Mehrzahl lebt bestenfalls in auskömmlichen Verhältnissen, oft in bleibender Armut. Die Statistiken der KSK, der Microzensus oder die Umsatzsteuerstatistik bestätigen
diesen Befund.
Neben dieser sozialen Dimension der Künstlerautonomie hat sich eine augenfällige kulturelle Dimension – der sog. Künstlerhabitus - herausgebildet, der bis heute trägt. Der Künstler und die Gesellschaft gehen davon aus, dass primär der Künstler derjenige ist, der über die Kompetenz zum
gestalteten Ausdruck von Subjektivität und Phantasie in einer ästhetischen, d. h. den Sinnen zugänglichen Form verfügt. Von ihm wird die menschlichste aller Eigenschaften – kreativ zu sein –
erwartet bzw. insbesondere ihm zugeschrieben. Autorschaft bringt diesen Berufsethos auf den
Begriff. In den Urheber- und Leistungsschutzregelungen wird er gesellschaftlich wirksam und ökonomisch sowohl für die Künstlerinnen und Künstler als auch die Institutionen des Kulturbetriebes
relevant.
Insbesondere dann, wenn zweckrationales Handeln (rationale Vernunft, Markt, Ökonomie) das
gesellschaftliche Selbstverständnis dominiert, werden dem Künstler die Rolle des „Priesters der
Subjektivität“ (W. Ruppert), des Phantasten, Seismographen, der Kassandra usw. usf. zugewiesen,
und er nimmt diese Rolle zumeist auch dankbar an.
Weniger poetisch liest sich der Begriff bzw. die Definition des Künstlers im Rahmen der Sozialgesetzgebung. Nach § 2 Künstlersozialversicherungsgesetz (KSVG) ist Künstler, wer Musik, Darstellende oder Bildende Kunst schafft, ausübt oder lehrt. Die Verwendung eines rechtlich nicht nor-
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mierten Künstlerbegriffes erweist sich angesichts der angedeuteten Veränderungen als sehr hilfreich. Ohne hier im Einzelnen weiteren definitorischen Zuordnungen nachzugehen, seien die
wichtigsten Quellen lediglich genannt, aus denen statistische Daten zur Zahl und Einkommen von
Künstlern destilliert werden können: Mikrozensus, Umsatzsteuerstatistik und Beschäftigtenstatistik. Sie alle gehen nicht von einem einheitlichen Künstlerbegriff aus.
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Mediatisierung des Kulturschaffens
Seit etwa 150 Jahren vollzieht sich eine stürmische Entwicklung von Kommunikationstechnologien mit unmittelbaren Auswirkungen auf kulturelle Erfahrungen und künstlerische Konzepte.
Diese durch technologische Entwicklung vorangetriebene Mediatisierung des Kulturschaffens beginnt mit bahnbrechenden Erfindungen technischer Kommunikationsmittel im 19. Jahrhundert
(Fotografie, Kinematographie, Phonographie) und setzt sich im 20. Jahrhundert mit der Entstehung sog. Massenkommunikationsmittel (Zeitschriften, Film, Rundfunk, Fernsehen, Tonträger)
durch. Seit dem Einzug digitaler Technologien (1980er Jahre) vollzieht sich ein Umbruch hin zu Individual- und interaktiven Medien (Computer, Internet).
Die zunehmend auftretenden Abgrenzungsprobleme im Rahmen der Feststellung der Versicherungspflicht i.S. des KSVG z. B. (eigenschöpferische Tätigkeit vs. Tätigkeit im Auftrag, selbstständig
vs. abhängig, schöpferische Gestaltung vs. technische Re-/Produktion) sind auch Ausdruck dieser
veränderten Rahmenbedingungen des künstlerischen und Kulturschaffens. Dabei geraten mit
dem Einzug digitaler Kommunikationstechnologien traditionelle Modelle künstlerischer Kreativität und Produktion, ihre Speicher- und Vertriebsmedien, v.a. aber auch die unterschiedlichen Formen ihrer Rezeption bzw. Wahrnehmung aus dem Lot. Vergleichbar den durch Veränderungen
kultureller Werkzeuge erzeugten Problemen, wie sie aus der beginnenden Neuzeit (Erfindung des
Buchdrucks) oder aus dem 19. Jahrhundert (technische Reproduzierbarkeit von Bildern/Fotografie
und Klängen/Phonografie) bekannt sind, hat der Einzug digitaler Technologien eine tiefgreifende
Krise des „geltenden Kulturmodells“ ausgelöst. Dies betrifft gegenwärtig insbesondere das Verständnis von Autorschaft und Kreativität, also auch das Selbst- und Fremdverständnis von Künstlern und gesellschaftlich relevant v.a. die zur Debatte stehenden Fragen des Urheberrechtes. Mittlerweile existieren Kunstformen und künstlerische Tätigkeiten, die sich maßgeblich über den Umgang mit Technologien definieren (Videokunst, Medienkunst, Radiokunst, Netzkunst, populäre
Musik, diverse Spielarten neuer Musik, Sounddesign) bzw. im Produktions- und Verwertungsprozess von technischen Apparaturen abhängen (Film, Musik, Grafik, Fotographie, Literatur, Games).
Die bereits Mitte des vorigen Jahrhunderts einsetzende Elektifizierung technischer Kommunikationsmittel (Massenkommunikation: Film, Rundfunk, Tonträgerindustrie, Fernsehen) erzeugte erhebliche Irritationen des Urheberrechts. Dies wird nunmehr durch die Digitalisierung erheblich
verstärkt und hat massive Auswirkungen auf Fragen des Urheberrechtsschutzes und die Einnahmesituation und also die Existenzbedingungen von Künstlerinnen und Künstlern (vgl. Urheberrecht in der Informationsgesellschaft).
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Wer die Rahmenbedingungen künstlerischer Arbeit und Produktion heute gestalten möchte, muss
sich dem Aspekt der Mediatisierung des Kulturschaffens stellen.
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Herausforderungen des sich verändernden
Kulturbetriebes
Von eben solcher Bedeutsamkeit für einzelne Künstlerinnen und Künstler oder Künstlergruppen, insbesondere in Hinsicht auf deren soziale und wirtschaftliche Lage, aber auch ihr Selbstverständnis sind die immensen Veränderungen, die die Institutionen des Kunst- und Kulturbetriebes
in den vergangenen 30 Jahren erfasst haben. Das hat dazu geführt, dass Künstler zunehmend in
den unterschiedlichen Strukturen des Kulturbereiches tätig sind.
Erstens im staatlichen Sektor als abhängig Beschäftige z. B. an Theatern und Opernhäusern, in öffentlich finanzierten Projekten, als Stipendiaten staatlich verantworteter Fonds etc.
Zweitens auf Märkten als Buchautoren, Musiker, Starinterpreten, im Vertragsverhältnis mit kleinen oder großen Labeln der Musikproduktion, vertreten von Galeristen, Verlagen oder Agenturen
etc. und Drittens im sog. Dritten Sektor, dem zivilgesellschaftlichen Bereich, als sich ehrenamtlich
Engagierende der kulturellen Bildung, in soziokulturellen Zentren, im Verhältnis zu einem Mäzen
etc.
In den angesprochenen Bereichen existieren jeweils unterschiedliche Kommunikationserfordernisse, rechtliche und strukturelle Rahmenbedingungen und administrative Notwendigkeiten im
Umgang mit Geld. Künstlerinnen und Künstler müssen den jeweiligen Anforderungen gewachsen
sein, um sich souverän in ihnen zu bewegen bzw. sie als Erwerbsquelle- und Versorgungschance
zu nutzen. Bereits während ihrer Ausbildung sollten Künstlerinnen und Künstler auf diese Komplexität ihrer Existenzsicherung vorbereitet werden. Im Zuge der Digitalisierung werden viele
Künstler die Aufgaben vormals arbeitsteilig organisierter Felder in der Wertschöpfung wieder selbst
übernehmen können bzw. müssen.
Im staatlichen Sektor sind insbesondere auch die Künstler betroffen von der Finanzkrise kommunaler öffentlicher Haushalte. Dort wo Projektmittel nicht mehr ausreichen oder immer knapper
werden, schlägt sich dies insbesondere auch in den Honorargrößenordnungen der Künstlerinnen
und Künstler nieder. Die Diversifizierung der individuellen Künstlerförderung (staatliche Fonds,
private Stiftungen etc.) erfordert gesteigerte Aufmerksamkeit und eine intensive Auseinandersetzung mit den jeweiligen Schwerpunkten und Modalitäten der Förderung. Hierbei müssen es
Künstler lernen, in entsprechenden Projektzusammenhängen gemeinsam mit Kuratoren, Produzenten o. ä. ihre Interessen zu kommunizieren, d.h. v.a. auch den Wert ihrer Arbeit souverän einzuschätzen und zu verteidigen.
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Wohl noch nie existierte ein einheitliches Feld der Künste. Dennoch müssen wir heute von einer
fortschreitenden Ausdifferenzierung künstlerischer Sparten reden. Allein der Blick in die sog. bildenden Künste belegt diesen Fakt eindrucksvoll. Alexander Koch spricht in den 10. Kulturnotizen
des Kulturforums der Sozialdemokratie von fünf sog. Kunstfeldern: Privatisierung klassischer Formen künstlerischer Produktion (internationale Kunstsammler), Mediatisierung und Popularisierung von Kunstereignissen (z. B. MOMA in Berlin), korporative Kunstpraxis (künstlerisch gesättigte Unternehmenskultur), emanzipatorisch, gesellschaftlich orientierte Kunstpraxis (z. B. intervenierende Kunstprojekte im Palast der Republik in Berlin) und künstlerische Interessen und Arbeitsmethoden in der wissensbasierten Dienstleistungsgesellschaft (Kreativökonomien). Ähnlich
unüberschaubar stellt sich die aktuelle Situation in der sog. neuen Musik und ihren Szenen dar:
1. komponierte, also in Partituren oder als Konzepte fixierte Musik, 2. Lautpoesie, 3. neue improvisierte oder Echtzeitmusik, 4. Radiophone Musik, 5. Klangkunst, 6. neue elektronische oder LaptopMusik. Diese musikalischen Szenen – so die Publizistin Gisela Nauck - definieren jeweils eigene
musikalische Produktionsbedingungen, besitzen für sie typische Verbreitungsmethoden sowie
eine jeweils spezifische Hörerschaft. Als unterschiedliche Szenen werden sie bedeutsam, indem eigene Formen der Institutionalisierung ausgebildet werden, eigene Formen kreativer Produktion,
eigene Orte der Verbreitung und des Hörens. Das können Veranstaltungsorte und Festivals sein,
Forschungsinstitute, Vereine als Interessenvertreter, Labels oder auch Ausbildungsmöglichkeiten.
Unter den Künstlerinnen und Künstlern verschiedener Felder oder unterschiedlicher Szenen besteht selbstverständlich auch Konkurrenz um Inhalte, Publikum und Ressourcen aller Art, auch um
den Status des Künstlers. All dies verlangt von Künstlerinnen und Künstlern ein erhebliches Maß
an interdisziplinärem Bewusstsein, gleichsam aber auch den Blick für die Nische, in der sich der
Einzelne profilieren und seine Existenz sichern kann.
Die wachsende Bedeutung der privatwirtschaftlich arbeitenden Kultur- und Medienunternehmen
erfordert ein gesteigertes Maß an Selbstverwertungsqualitäten, Mobilität und Flexibilität von
Künstlern. Künstler werden selbst zu Arbeitgebern, sie gründen Unternehmen in ihren jeweiligen
Branchen, um die sich komplizierter gestaltenden Verwertungsprozesse in die Hand zu nehmen
und an den Gewinnen nach eigenen Maßgaben beteiligt zu werden.
Dieses Konglomerat von Anforderungen führt notwendigerweise zu veränderten Selbst- und
Fremdeinschätzungen von Künstlern. Nicht der Künstler ‚im Elfenbeinturm’, sondern aktive – sich
für alle Aspekte künstlerischer Produktion interessierende – Künstlerinnen und Künstler avancieren zum Leitbild.
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Künstler als Teil der sog. „Creative Class“
Spätestens seit der Verbreitung und Diskussion von Richard Floridas Publikation „The Rise of
the Creative Class“ hat der Begriff der Kreativität – insbesondere in seiner englischen Variante –
Konjunktur. Mit Ablösung des im englischsprachigen Raum Europas üblichen Begriffes „Cultural
Industries“ durch den der Creative Industries bzw. des sog. Creative Sector wird ein Konzept
diskutiert, dass Kreativität nicht als Eigenschaft eines isolierten Individuums, sondern einer
bestimmten sozialen Gruppe mit spezifischen Eigenschaften, der sog. Creative Class versteht.
Diese „Klasse“ setze sich aus hochqualifizierten Personen unterschiedlichster Berufe (Musiker,
Künstler, Wissenschaftler, Lehrer, Juristen etc.) zusammen, deren Arbeit darin besteht, originelle
Lösungen anstehender Probleme zu finden. Dabei geht es um einen Kreativitätsbegriff, der auch
auf die Gestaltung von marktfähigen Erzeugnissen bedacht ist. Die Begriffe Kultur- bzw. Kreativwirtschaft zielen auf eine Tätigkeit im Spannungsfeld von ‚Kultur’ und Ökonomie’. Kunst und
Ökonomie stellen hierbei keinen Widerspruch dar. Eingebunden in Kommunikationsnetzwerke
spezifischer kunst- bzw. musikzentrierter Szenen entstehen so sowohl Inspirationsquellen als
auch Erwerbschancen. In den vergangenen Jahren hat es insbesondere für große Städte und
Metropolen etliche Studien zur sog. Kreativökonomie gegeben. Immer wieder wurde dabei bestätigt, dass ökonomische und kulturelle Wertschöpfung in diesen Szenen stark korrespondieren
und sie oftmals die einzige Chance des Überlebens – wenn auch in prekären Ökonomien - der
betreffenden Personen (auch Künstler) bieten und gleichsam zum markanten Standortvorteil der
bevorzugten Städte bzw. Stadtteile (z. B. in Manchester, Berlin, Hamburg) wurden. Hinter Begriffen wie Bürogemeinschaft, Plattform, Kollektiv, Assoziation und Projekt verbergen sich proaktive
Formen der Selbstregulationen und Existenzsicherung. Aufgehoben bzw. versöhnt scheint in
diesem Modell das Paradoxon des europäischen Kunstverständnisses, nachdem Kultur und Kunst
als ein Gegenpol zu einer von rationalen Normen geprägten Marktlogik existiert.
Der Kreativitätsbegriff – wie er gegenwärtig insbesondere auch von den Wirtschaftspolitikern
gern verwendet wird - ist umrankt von Mythen, Hoffnungen und Plattitüden (auch bei Florida).
Man muss also vorsichtig und reflektiert mit ihm umgehen. Der aktuelle Hype um die Creative Industries stellt meines Erachtens einen bisher unbefriedigenden Versuch dar, Modelle zukünftiger
Organisation von Arbeit und Gesellschaft zu antizipieren. Unbefriedigend insofern, weil bei aller
Wachstumseuphorie übersehen wird, wie die Arbeits- und Lebenssituation der betreffenden
Akteure wirklich aussehen. Abseits der industriegesellschaftlichen Regulierungslogik sind diese
Erwerbsfelder frei von institutionalisierten Strukturen wie z. B. Zugangsregeln der IHK o.ä. Folge
dieses ‚offenen’ Marktgeschehens ist, dass die beteiligten Akteure unter Bedingungen großer sozialer und ökonomischer Unsicherheit um die verfügbaren Güter und Positionen ringen – beschreibt die Soziologin Alexandra Manske.
In Versuchen von Organisationspsychologen – z. B. Heinz Schuler - konnten folgende Aspekte von
Kreativität nachgewiesen werden: Offenheit (Neugierde, ästhetische Ansprüche, breite Interessen,
Spaß an Mehrdeutigkeiten), Leistungsmotivation (Ehrgeiz, Ausdauer, Konzentration, Antrieb, Belohnungsaufschub), Nonkonformität (Originalität, Autonomiestreben, Unabhängigkeit des Urteils,
Eigenwilligkeit), Selbstvertrauen (kreatives Selbstbild, emotionale Stabilität, Risikobereitschaft),
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Erfahrung (Werthaltungen, metakognitive Fertigkeiten). Nicht alle, aber die meisten der hier genannten Charakteristika treffen auf Künstlerinnen und Künstler zu.
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Fazit
Zusammenfassend muss man feststellen, dass trotz des beschleunigten Wandels in Wirtschaft und Gesellschaft unterschiedlichste Kunstauffassungen und historisch gewordene Künstlerbilder gegenwärtig faktisch nebeneinander existieren. Neben dem Bruch vollziehen sich graduelle Wandlungen, neben bisher eher unbekannten Formen künstlerischen Schaffens prägen auch
weiterhin traditionelle künstlerische Professionen das Bild vom Künstler und damit auch die Anforderungen an das Tätigkeitsfeld Kunst.
Die Gestaltung politischer Rahmenbedingungen in einer zieloffenen, demokratischen und pluralen Gesellschaft sollte auf alle existierenden Modelle eingehen. Nur so kann kulturelle und künstlerische Vielfalt existieren. Das bedeutet sowohl die Infrastruktur für eher traditionelle künstlerische Professionen zu sichern, als auch experimentelle Kunstpraxen und die Existenzbedingungen für Kulturunternehmer zu ermöglichen. Staat, Markt und Zivilgesellschaft stellen in ihrer
komplexen Aufeinanderbezogenheit Arbeitsfelder und Auftraggeber für Künstlerinnen und Künstler dar. Diese einzelnen Sektoren müssen in ihrer Spezifik – auch als existenzsichernde Faktoren
für Künstler – agieren können, das heißt z. B. auf Bundesebene die Künstlersozialversicherung zu
stärken oder die Kulturstiftung des Bundes so auszustatten, dass nachhaltig die existierenden
Fonds und neue Programme entwickelt werden können.
Die Hochschulen und Universitäten der Künste sollten stärker als bisher üblich auch die Verantwortung für die Vorbereitung auf die (zumeist schwierigen) Berufsbiographien übernehmen. Der
Bologna-Prozess (Entwicklung zweistufiger Studienmodelle) kann in manchen Kunstsparten dabei
helfen, verkrustete Strukturen in der Lehre zu überwinden und solche Angebote zu unterbreiten,
die sowohl der individuellen künstlerischen Entwicklung als auch der realistischen Sicht auf die eigene Zukunft als Künstler dienlich sind.
… Die Gesellschaft braucht Künstler, sie braucht Zwischenräume des Unregulierten, des
imaginierten Anderen, die Selbstüberschreitung und Orte der Phantasie. Andernfalls frisst sie sich
in der Logik von Controlling und Selbstvermarktung fest.
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Die wirtschaftliche und
soziale Lage von
Künstlerinnen und Künstlern
Lydia Westrich, MdB
Die wirtschaftliche und soziale Lage der Künstler und Kulturschaffenden ist von vielen Faktoren abhängig: von der wirtschaftlichen Situation des öffentlichen Kulturbetriebes, den Erwerbsmöglichkeiten auf dem Markt, den Möglichkeiten des Agierens im sogenannten dritten, zivilgesellschaftlichen Sektor und den Fördermöglichkeiten, die Bund, Länder, Kommunen, Stiftungen und
Banken Künstlern einräumen. Seit 10 Jahren sind die öffentlichen Zuwendungen an Einrichtungen
und Projekte rückläufig. Gleichzeitig zeigt sich ein stetiger Rückgang der abhängig Beschäftigten
und eine Zunahme von Selbständigen oder befristet angestellten Künstlern mit oft nur sehr
bescheidenen Einkommen. Insgesamt ist die Einkommensentwicklung der Künstler besorgniserregend.
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Arbeitsrechtliche Situation der künstlerisch
Beschäftigten
Die Einkommensentwicklung wird in hohem Maße durch arbeitsrechtliche Rahmenbedingungen bestimmt. Nun sind die Beschäftigungsformen der Künstler und Kulturschaffenden so
uneinheitlich wie ihre Tätigkeitsbereiche: zum Beispiel Film- und Medienbereich, Theater,
Kulturorchester, Opern, Chöre, kulturpädagogische Einrichtungen wie Musikschulen, Jugendkunstschulen, Museen und Bibliotheken, soziokulturelle Zentren. Es gibt abhängig unbefristet
Beschäftigte, abhängig befristet Beschäftigte, abhängig Beschäftigte mit projektbezogener Befristung, unständig Beschäftigte und Selbständige. Auf die abhängig Beschäftigten im Bereich Kunst
und Kultur ist grundsätzlich das Arbeitsrecht anwendbar, dem das „Normalarbeitsverhältnis“
zugrunde liegt. Bei den Kulturberufen jedoch sind kurzzeitige Beschäftigungsverhältnisse bei ständig wechselnden Einrichtungen sowie der Wechsel zwischen Selbständigkeit, befristeter und unständiger Beschäftigung die Regel. Daher werden die rechtlichen Rahmenbedingungen den Besonderheiten des Kulturbetriebes nicht immer gerecht.
Vor allem die darstellenden Künstler und die im Filmbereich tätigen Kulturschaffenden haben bei
ihrer Existenzsicherung in zunehmendem Maße zu kämpfen. Die typischen Beschäftigungsverhältnisse sind befristet mit kurzer Laufzeit und vertraglich vereinbarten Flexibilisierungen der Vertragsdauer – häufig noch mit Verpflichtungsverlängerung und Vorbereitungsarbeiten ohne Vergütung. Aus Kostengründen beschränken die Unternehmen der Filmwirtschaft, aber auch die Theater die Produktionszeiten auf das unumgänglich erforderliche Maß. Die Beschäftigungszeiten
werden auf wenige Drehtage mit immensen Überstunden beschränkt - so sparen die Arbeitgeber
Beiträge für die Sozialversicherung.
Die seit Anfang 2006 geltende Verkürzung der Rahmenfrist in der Arbeitslosenversicherung, bei
der jetzt innerhalb von zwei statt drei Jahren zwölf Monate versicherungspflichtige Zeiten als Voraussetzung für den Anspruch auf Arbeitslosengeld I erbracht werden sollen, wird von den Künstlerinnen und Künstlern als besondere Härte empfunden. Seit Jahren sind sie bedrängt vom Dum-
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ping bei Honoraren und Gagen, Unterlaufen tariflicher Regelungen, von Verstößen gegen das Arbeitszeitgesetz durch die Arbeitgeberseite. Jetzt fühlen sie sich vom Staat zusätzlich in die Zange
genommen. In der Schweiz und in Frankreich wurden bei vergleichbaren Situationen Lösungen gefunden, da beide Länder die besonderen Arbeitsbedingungen der Künstler und Kulturschaffenden
berücksichtigen. So werden in der Schweiz die ersten dreißig Tage doppelt gezählt und in Frankreich sorgt ein besonderes Punktesystem für durchgängige Versicherungszeiten auch zwischen
kurzfristigen Engagements. Die Bundesregierung strebt an, durch eine Verstetigung der Beschäftigung von Künstlern und Kunstschaffenden in größerem Umfang Anwartschaften auf Ansprüche
in der Arbeitslosenversicherung zu ermöglichen. Hier empfiehlt die Enquete-Kommission „Kultur
in Deutschland“ dem Deutschen Bundestag, in Ergänzung des SGB III Versicherten in Kulturberufen mit wechselnden und befristeten Anstellungen die ermittelte Beitragszeit für die ersten 30
Kalendertage eines befristeten Arbeitsverhältnisses zu verdoppeln. Nach den 30 Tagen aber sollte
besonders bei Fördermitteln auf die Einhaltung der rechtlichen Grundlagen geachtet werden.
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ZBF-Zentrale Bühnen-Film- und Fernsehvermittlung
Leider steht auch eine besonders gute Einrichtung, die Künstlerdienste der Bundesagentur für
Arbeit, auf dem Prüfstand. Die ZBF (Zentrale Bühnen-, Film- und Fernsehvermittlung) ist eine Fachvermittlungsagentur, die Künstler aus Bereichen vermittelt, in denen viele unständig Beschäftigte
durch die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt selbständig werden mussten. Weil die ZBF diese
auch in die Selbständigkeit vermittelte, wurde sie vom Rechnungshof gerügt, und die Bundesagentur reduzierte die Künstlerdienste. Die Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ empfiehlt
hierzu, die tatsächlichen Gegebenheiten des Arbeitsmarktes im Kulturbereich zu berücksichtigen
und die Bundesagentur für Arbeit auch dann vermitteln zu lassen, wenn die Personen überwiegend selbständig tätig sind. Weiter soll die Organisationsstruktur der ZBF dahingehend überprüft
werden, ob bundesweit gut erreichbare Künstlerdienste vorhanden sind oder ob diese gegebenenfalls ergänzt werden müssen.
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Der Tanzberuf
Sehr deutlich wird die prekäre Situation eines künstlerischen Berufs am Beispiel der Kunstform
des Tanzes. Die tänzerische Laufbahn endet durchschnittlich mit dem 35. Lebensjahr, ein Berufswechsel ist zwingend. Da aber der Tänzerberuf kein anerkannter Ausbildungsberuf ist, gelten die
Tanzschaffenden als ungelernt und schwer zu vermitteln. Trotz bestehenden Anspruchs beklagen
die Tänzer, keine Umschulungs- oder Weiterbildungsmaßnahmen durch die zuständigen Arbeitsvermittlungen finanziert zu bekommen. Den örtlichen Arbeitsagenturen fehlen Informationen
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über die spezielle Situation dieser Berufsgruppe – die Tänzer wünschen sich eine inhaltliche Verbindung der zentralen Arbeitsvermittlung für Künstler mit den lokalen Arbeitsämtern. Hier empfiehlt die Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ Bund und Ländern, den Tanz als Ausbildungsberuf anzuerkennen und Tanzschaffende durch eine Stiftung zu unterstützen. Der Bundesagentur für Arbeit empfiehlt sie, neben einer zentralen Anlaufstelle für Tänzer spezielle Beratungsanweisungen mit dem Ziel erleichterter Einmündung in berufliche Qualifizierungsangebote
zu schaffen.
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Musikschulen, Museen, Bibliotheken und
Soziokulturelle Zentren
Bei den Kulturschaffenden in den Musikschulen, den Museen, Bibliotheken und soziokulturellen Zentren zeichnet sich die fatale Tendenz ab, unbefristet Beschäftigte durch Honorarkräfte
zu ersetzen, examinierte, promovierte „Volontäre“ anstelle des regulären Personals einzustellen,
hauptamtlich Beschäftigte durch ehrenamtlich Beschäftigte zu ersetzen und ehemals unbefristete Stellen mit Aushilfskräften und Arbeitsgelegenheiten zu besetzen.
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Steuerrechtliche Rahmenbedingungen
Auch die steuerrechtliche Behandlung der Künstler und Kulturberufe gehört zu den rechtlichen Rahmenbedingungen, die die Existenz von Künstlern und Kulturschaffenden beeinflussen.
Im allgemeinen Steuerrecht berücksichtigen verschiedene Regelungen im Einkommen- und Umsatzsteuerrecht die besondere Situation von Künstlern. So stellt §3 EStG zum Beispiel bestimmte
Einnahmen aus künstlerischen Tätigkeiten steuerfrei, so Bezüge aus öffentlichen Mitteln zur
künstlerischen Förderung, Einnahmen aus nebenberuflicher künstlerischer Tätigkeit bis 1.848 Euro
im Jahr, den Ehrensold für Künstler sowie Zuwendungen aus Mitteln der Deutschen Künstlerhilfe
wegen Bedürftigkeit und Stipendien zur Förderung der künstlerischen Aus- und Fortbildung.
Problematisch allerdings sind im deutschen Steuerrecht die Abgrenzungsmöglichkeiten, da die
Verwaltungen bei der Entscheidung zwischen beispielsweise künstlerischer Tätigkeit und Hobby,
zwischen Künstler oder gewerbesteuerpflichtigem Kunsthandwerker doch einen großen Spielraum haben. Es kann daher bei gleich gelagerten Problemen bundesweit zu uneinheitlichen Entscheidungen kommen. Hier schlägt die Enquete-Kommission den Finanzämtern der Länder vor,
sich bei der Beurteilung künstlerischer Tätigkeit abzustimmen und in geeigneten Fällen die Vorteile einer Zentralisierung der Zuständigkeiten zu prüfen.
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Schwierigkeiten gibt es auch bei der Besteuerung von im Ausland ansässigen Künstlern. Die Enquete-Kommission schlägt daher unter anderem die Dynamisierung der gestaffelten Freigrenzenregelung der Honorarbesteuerung von im Ausland lebenden Künstlern vor, damit Kulturund Amateurvereine ihren Gastkünstlern etwas mehr zahlen können, ohne dass die Steuer jede
Honorarerhöhung zunichte macht. Auch schlägt sie der Bundesregierung eine Vereinfachung des
Freistellungsverfahrens bei der Aushandlung von Doppelbesteuerungsabkommen vor. Weiter empfiehlt die Enquete-Kommission dem Gesetzgeber, im Umsatzsteuerrecht die Kunstfotografie in
den Katalog der ermäßigt besteuerten Kunstgegenstände aufzunehmen.
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Das Urheberrecht
Mitentscheidend über die soziale und wirtschaftliche Lage der Künstlerinnen und Künstler ist
das Urheberrecht, das zentrale Recht zur Nutzung und Verwertung geistigen Eigentums. Sein Ziel
ist es, den Wert kreativer Leistungen hervorzuheben, damit die Schöpfer und Leistungsschutzberechtigten aus dem Wert ihrer kreativen Leistungen ihren Lebensunterhalt bestreiten können.
Mit der Entstehung und Verbreitung des Verlagswesens entstand das Problem der Raubdrucke.
Texte bekannter Autoren wurden gedruckt und vertrieben, ohne dass ihre Urheber ein Entgelt dafür erhielten. Diesem Missbrauch des geistigen Eigentums tritt das Urheberrecht entgegen, um
den Urhebern eine Vergütung aus der Verwertung ihrer schöpferischen Werke zu ermöglichen.
Jede technische Innovation erfordert Anpassungen des Urheberrechts. Nach der Erfindung und
Verbreitung von analogen Aufzeichnungsgeräten, Kopiergeräten usw. waren Veränderungen erforderlich. Von Rot-Grün wurde 2003 das „Gesetz zur Regelung des Urheberrechts in der Informationsgesellschaft“ umgesetzt. (Korb 1). Heute besteht die Herausforderung darin, im digitalen Zeitalter die Sicherung des Urheberrechts zu gewährleisten und die dafür notwendigen gesetzlichen
Anpassungen vorzunehmen. Hierzu findet zurzeit, auf Initiative der SPD der Gesetzgebungsprozess des „Zweiten Gesetzes zur Regelung des Urheberrechts in der Informationsgesellschaft“
(Korb 2) statt. Dieses Gesetz befasst sich unter anderem mit dem Problem Raub- und Privatkopien.
Denn wer urheberrechtlich geschützte Werke im Internet kostenlos zur Verfügung stellt, entzieht
Künstlern, Publizisten, Verlegern, Tonträgerherstellern, Kinos usw. die Existenzgrundlage. Diese
Raubkopien bedeuten nicht nur einen ökonomischen Schaden für die Künstler und Verwerter,
auch der Respekt vor dem Wert kreativer Leistungen kann verloren gehen.
Das Urheberrecht wird aber auch eingeschränkt: Zum einen durch Schrankenregelungen wie für
die Nutzung von geistigem Eigentum durch Menschen mit Behinderungen, durch Unterricht und
Forschung oder zum privaten und sonstigem Gebrauch, zum andern durch die Schutzdauer. Die
urheberrechtlich relevante Schutzfrist von geistigem Eigentum erlischt 70 Jahre nach dem Tod des
Urhebers. Nach Ablauf dieser Schutzfrist werden die Werke gemeinfrei, d. h. jeder kann sie verwerten, ohne die Erben zu fragen oder eine Vergütung zahlen zu müssen. Die Idee des Künstlergemeinschaftsrechts soll die heute lebenden Künstler fördern: Die durch Einrichtung einer zweiten
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Schutzfrist anfallenden Abgaben für die Verwertung dieser Werke sollen den lebenden Künstlern
zugute kommen und auch dazu beitragen, dass mehr Werke zeitgenössischer Künstler verwertet
werden, wenn der Preisvorteil von künstlerischen Werken ohne Schutzfrist entfällt.
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Soziale Lage und Sicherung
Ein weiteres Hauptthema der sozialen Lage der Künstler und Kulturberufe ist die Alterssicherung. Sie erfolgt bei den abhängig beschäftigten Künstlern durch die für Arbeitnehmer übliche
gesetzliche Sozialversicherung. Für die selbständigen Künstler wurde auf Initiative der Sozialliberalen Koalition die Künstlersozialversicherung eingerichtet. Hier genießen sie seit 1983 hinsichtlich
der Kranken, Pflege- und Rentenversicherung denselben Schutz wie abhängig beschäftigte Künstler, wenn ein künstlerischer oder publizistischer Beruf ausgeübt und ein jährliches Mindesteinkommen von derzeit 3.900 Euro nachgewiesen wird.
Vor 1983 haben die Sozialwerke der Verwertungsgesellschaften Vorsorge- und Unterstützungseinrichtungen für die Wahrnehmungsberechtigten geschaffen. Dies gilt heute noch für diejenigen,
die aus Altersgründen nicht Mitglied der Künstlersozialkasse werden konnten. So gewährt zum
Beispiel die GEMA-Sozialkasse ihren Mitgliedern Leistungen im Alter, bei Krankheit, bei Unfällen
und in sonstigen Fällen der Not. Die Verwertungsgesellschaft (VG) Wort unterhält das Autorenversorgungswerk sowie den Sozialfonds, der auf Antrag in Not geratene Wortautoren, Verleger
oder deren Hinterbliebene unterstützt. Die Stiftung Sozialwerk der VG Bild-Kunst gewährt in Not
geratenen Künstlern eine Unterstützung bei Erwerbs- und Berufsunfähigkeit im Alter.
Bei der Zusatzversorgung gibt es Unterschiede zwischen abhängig beschäftigten Künstlern und
Freiberuflern. So sind Angehörige der Bühnenberufe während der Dauer der Beschäftigung bei
einer Mitgliedsbühne in der Versorgungsanstalt der Deutschen Bühnen pflichtversichert, Orchestermusiker sind vergleichbar abgesichert bei der Versorgungsanstalt der Deutschen Kulturorchester. In Zeiten ohne Engagement können sich Bühnenkünstler bzw. Orchestermusiker in diesen
Versorgungseinrichtungen freiwillig weiterversichern.
Allerdings ist das größte Problem der Alterssicherung das zu geringe Einkommen der Künstler, das
systemimmanent auch geringe Renten nach sich zieht. Die Sozialwerke der Verwertungsgesellschaften spielen daher eine wichtige Rolle, die Künstlersozialversicherung aber, von der SPD initiert und weiter gestärkt, ist zur grundlegende Säule der Alterssicherung selbständiger Künstler
und Publizisten geworden. Auch die besonderen Chancen der Riester-Rente sind für Künstler gut
nutzbar. Die Attraktivität dieser Vorsorge muss allerdings noch besser bekannt gemacht werden.
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Künstlerförderung
Eine weitere wesentliche Komponente der wirtschaftlichen und sozialen Situation der Künstler
ist die unmittelbare Künstlerförderung durch Preise, Stipendien, Ausstellungs- und Auftrittsmöglichkeiten im In- und Ausland. Die unmittelbare Förderung einzelner Künstler erfolgt durch Länder
und Kommunen. Der Bund fördert aber auch „ unter dem Gesichtspunkt der nationalen Repräsentanz“ die sogenannte Spitzenförderung über die Kulturstiftung des Bundes. Daneben fördern verschiedene Fonds aus Mitteln des Bundeshaushalts wie der Fonds Soziokultur, der Fonds Darstellende Künste, der Deutsche Literaturfonds, der Deutsche Übersetzerfonds, die Stiftung Kunstfonds, der Deutsche Musikrat und der Hauptstadtkulturfonds. Die Förderung dieser Fonds wird
durchweg positiv gesehen, sie fördern je nach Sparte, auch über Jahre hinweg, wiederholte Beantragungen sind möglich. Problematisch sind jedoch die unzureichenden Mittel. Die Bewerbungen übersteigen bei weitem die Möglichkeiten der Bewilligung. Der Anteil der bewilligten Anträge
bei der Stiftung Kunstfonds beträgt vier Prozent und beim Fonds Darstellende Künste 24 Prozent.
Weitere Probleme sind die lange Zeit zwischen Projektbewilligung und der Freistellung der Mittel
sowie ortsgebundene Stipendien ohne Möglichkeiten der Kinderbetreuung. Dann fehlen, neben
einer Reihe von Nachwuchsförderpreisen und –stipendien, spezifische Förderungen für Ältere, deren Situation meist besonders prekär ist. Künstler über 40 Jahre fallen häufig aus den auf “junge
Künstler“, statt auf „junge Kunst“ konzentrierten Förderprogrammen.
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Fazit
Insgesamt ist festzustellen, dass Künstler und Kulturschaffende vielfach am Rande des Existenzminimums leben. Deshalb sind weitere Forderungen nötig. Die wirtschaftliche und soziale
Lage der Künstler muss beobachtet, analysiert und in Kulturwirtschaftsberichten dargestellt werden. Die wirtschaftliche Künstlerförderung muss sich der Situation der Künstler anpassen.
Adäquate Beratungsangebote, eine Ausbildung, die stärker als bisher ökonomische Prozesse des
Kunst- und Kulturbetriebes integriert sowie die Erschließung neuer Tätigkeitsfelder müssen die
künstlerische Existenz unterstützen. Schließlich müssen die klassischen Instrumente der
Existenzgründung durch spezielle Angebote für Künstler in Hinsicht auf den Zugang zu Kleinkrediten und anderen Finanzierungsquellen erweitert werden.
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Unverzichtbare Grundlage: Das
bürgerschaftlicheEngagement
und notwendige Änderungen
im Gemeinnützigkeitsrecht
Michael Bürsch, MdB
Das bürgerschaftliche Engagement ist eine unverzichtbare Grundlage für die Kultur in Deutschland. Diese Feststellung, die schon die Enquete-Kommission „Zur Zukunft des bürgerschaftlichen
Engagements“ in ihrem Schlussbericht 2002 getroffen hatte, wurde von der Enquete „Kultur in
Deutschland“ nachdrücklich bestätigt. Ohne das freiwillige Mitwirken von mehr als drei Millionen
Menschen in Musik- und Kunstvereinen, Chören, Orchestern, Laientheatern, literarischen Gesellschaften und der Soziokultur wäre die einzigartig vielfältige Kulturlandschaft in Deutschland nicht
vorstellbar.
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Leitbild Bürgergesellschaft
Die Bedeutung des bürgerschaftlichen Engagements in der Kultur lässt sich am besten erfassen, wenn man das Engagement in die umfassendere Perspektive eines Leitbilds Bürgergesellschaft rückt. Die Bürgergesellschaft als ein fein ausdifferenziertes Netzwerk von Vereinen, Verbänden, Initiativen und Akteuren markiert eine neue Phase in der Entwicklung der modernen Gesellschaft. Wo in der bürgerlichen Gesellschaft bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die simple und
hierarchische Aufteilung „Staat – Gesellschaft/Wirtschaft – Privatsphäre“ vorherrschte, zeichnet
sich heute ein neues Verhältnis von Staat, Wirtschaft und Bürgergesellschaft ab. In diesem „neuen
Gesellschaftsvertrag“, in dem der Bürgergesellschaft der anspruchsvolle Part zufällt, Zusammenhalt und Verantwortungsbereitschaft zu stiften, bildet die Kultur zusammen mit Bildung und sozialem Engagement einen Kernbereich. Wie sieht die Architektur dieses Verhältnisses von Staat,
Wirtschaft und Bürgergesellschaft aus?
Staat: Der demokratische Rechtsstaat ist von Voraussetzungen abhängig, die er selber nicht garantieren kann. Mit diesem berühmten Diktum des ehemaligen Bundesverfassungsrichters ErnstWolfgang Böckenförde ist gemeint, dass demokratische Tugenden wie Toleranz, Fairness und Gewaltfreiheit, ohne die eine freiheitliche Gesellschaftsordnung nicht bestehen könnte, nicht
staatlich erzwungen werden können. Der demokratische Staat ist stattdessen auf das Entgegenkommen einer lebendigen Bürgergesellschaft angewiesen, die nicht zuletzt von kultureller Vielfalt
und Kreativität getragen wird. Der tiefere Sinn jedes Theaterabends, jeder Vorlesestunde und jeder Ausstellung besteht eben darin, dass mit solchen kulturellen Ereignissen und Aktivitäten genau jene freiheitlichen Tugenden und kreativen Potentiale erneuert und gestärkt werden, auf die
eine funktionierende freiheitliche Staatsordnung angewiesen ist. Die Kultur der Bürgergesellschaft wird damit – vor allem in Zeiten zunehmender Vielfalt und Komplexität – zu einem wesentlichen Bestandteil modernen Regierens. Gegen sie und ohne sie lässt sich kaum noch sinnvoll Politik betreiben. Das bedeutet für staatliches Handeln, dass es auf die Aktivierung bürgergesellschaftlicher Potentiale ausgerichtet sein muss.
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Wirtschaft: In einer ins Globale drängenden Wirtschaft werden vor allem große, transnationale
Unternehmen mehr und mehr zu einem mächtigen politischen Faktor bei der Gestaltung der
Lebens- und Arbeitsbedingungen vieler Menschen. Heute existieren Konzerne, die die Wirtschaftskraft ganzer Volkswirtschaften übertreffen. Damit wächst ihnen unweigerlich eine politische Verantwortung zu. Unternehmen sehen sich heute mehr und mehr in der Pflicht, ihre Verantwortung
als Teil der Gesellschaft wahrzunehmen. Es gehört heute zum guten Stil jedes Jahresberichts von
Unternehmen, in einem eigenen Kapitel über die CSR-Aktivitäten (CSR = Corporate Social Responsibility) zu berichten. Das moderne Unternehmen als „guter Unternehmensbürger“ (Corporate
Citizen) wird heute mehr und mehr daran gemessen, wie ernst es seine gesellschaftliche Verantwortung nimmt. Die Förderung der Kultur ist ein wesentlicher Bestandteil dieser bürgergesellschaftlichen Aktivitäten.
Bürgergesellschaft: Die Bürgergesellschaft als Gesamtheit bürgerschaftlich Engagierter und ihrer
Organisationen wird heute zu einem bestimmenden Faktor der Politik. Die in der Bürgergesellschaft Engagierten erneuern mit ihrem freiwilligen Einsatz Tag für Tag den gesellschaftlichen
Zusammenhalt. Ihre Rolle im Beziehungsgeflecht von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft kann daher nicht hoch genug eingeschätzt werden. Das gilt auch und insbesondere in den Bereichen der
Kultur und der kulturellen Bildung.
Wenn man diese drei Bereiche unter das Leitbild Bürgergesellschaft stellt, dann ergibt sich folgende Perspektive: Ein aktivierender Staat unterstützt, fördert und ermöglicht bürgerschaftliches Engagement, ohne sich aus seiner Verantwortung zurückzuziehen. Die Wirtschaft übernimmt gesellschaftliche Verantwortung nicht nur durch Spenden und Sponsoring, sondern durch ein gezieltes
Zusammenwirken mit Staat und Bürgergesellschaft. Die engagierten Bürgerinnen und Bürger
nutzen ihre Fähigkeiten und Erfahrungen, um aktiv Verantwortung für das Gemeinwesen zu übernehmen. Zwar ist diese Perspektive heute erst in Umrissen zu erkennen – allzu oft sind die bürgergesellschaftlichen Kräfte noch nicht stark genug, verhält sich die staatliche Seite eher wie ein
Hemmschuh als engagementfördernd, betrachten Unternehmen ihre CSR-Aktivitäten als neue
Form von PR –, doch scheint gerade in den letzten Jahren Bewegung in den Diskurs der Bürgergesellschaft gekommen zu sein.
Letztlich orientiert sich das Leitbild Bürgergesellschaft an der Vision der Erneuerung der sozialen
Demokratie durch Engagement und Teilhabe. Bürgergesellschaft ist ein Projekt, das eine partizipative Dynamik befördern und zu einer Rückaneignung des Gemeinwesens durch die Bürgerinnen
und Bürger führen soll. Die Kultur spielt dabei eine zentrale Rolle. Kulturelles Engagement in all
seinen Formen erneuert die Bindekräfte der Gesellschaft, weil es Traditionen bewahrt, Kreativität
fördert und Gemeinschaftssinn stiftet.
Das ist der Hintergrund, vor dem die Frage nach den Rahmenbedingungen für bürgerschaftliches
Engagement in der Kultur bedeutsam wird. Der Staat hat zwar keinen direkten Einfluss darauf,
wie engagiert die Bürgerinnen und Bürger sind, er kann aber durch geeignete rechtliche Rahmenbedingungen Hemmnisse vermeiden und Anreize setzen. Neben Aspekten wie Versicherungsschutz und Nachteilsausgleich spielt dabei das Gemeinnützigkeitsrecht eine zentrale Rolle.
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Gemeinnützigkeit und Kultur – aktueller Stand
Für kulturelle Aktivitäten und Organisationen im Kulturbereich ist das Gemeinnützigkeitsrecht
sehr wichtig. Dabei ist es zunächst in erster Linie Steuerrecht. Kulturvereine sind, wenn ihre Gemeinnützigkeit anerkannt ist, steuerbefreit, was vor allem angesichts der häufig schmalen Budgets sehr wichtig ist. Außerdem dürfen gemeinnützige Kultureinrichtungen oder auch Fördervereine für Spenden oder Mitgliedsbeiträge Bescheinigungen ausstellen, die es den Spendern und
Beitragszahlern erlauben, die entsprechenden Beträge steuerlich geltend zu machen. Für viele Vereinigungen im Kulturbereich ist das überlebenswichtig, denn viele öffentliche Institutionen und
Stiftungen geben Zuwendungen nur an Einrichtungen mit Gemeinnützigkeitsstatus.
Das Gemeinnützigkeitsrecht ist kein eigenständiges Rechtsgebiet, sondern in verschiedenen Gesetzen im Rahmen des Einkommensteuer-, Umsatzsteuer-, Körperschaftsteuer- und Gewerberecht
geregelt. Wesentlich für das Gemeinnützigkeitsrecht ist die Abgabenordnung (AO), in der die Möglichkeiten der Steuerbegünstigung für Körperschaften, Vereine, Organisationen und einzelne Steuerpflichtige festgelegt sind.
Der Bundestag hat in diesem Jahr das Gesetz zur weiteren Förderung des bürgerschaftlichen Engagements verabschiedet. Mit diesem Gesetz konnten einige der Forderungen aus der EnqueteKommission zur Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements umgesetzt werden. Die für den Kulturbereich maßgeblichen Punkte sind auch im Bericht der Enquete Kultur aufgelistet, u. a. finden
sich:
•
Vereinheitlichung und Anhebung der Höchstgrenzen für den Spendenabzug: Spenden für förderungswürdige kulturelle Zwecke können jetzt bis zu einer Höhe von 20 Prozent der Gesamteinkünfte einer Person steuerlich geltend gemacht werden (vorher 10 Prozent);
•
Anhebung des Höchstbetrags für die Kapitalausstattung von Stiftungen von 307.000 Euro auf
1.000.000 Euro;
•
Einführung eines zeitlich unbegrenzten Spendenvortrags bei der steuerlichen Geltendmachung von Großspenden auch für kulturelle Einrichtungen;
•
Senkung des Haftungssatzes für falsch ausgestellte Spendenquittungen und fehlverwendete
Spenden auf 30 Prozent der Zuwendungen (bisher 40 Prozent);
•
Anhebung der Besteuerungsgrenze für wirtschaftliche Betätigungen gemeinnütziger Organisationen auf 35.000 Euro pro Jahr (bisher 30.678 Euro);
•
Anhebung der sogenannten Übungsleiterpauschale auf 2.100 Euro (bisher 1.848 Euro);
•
Einführung einer steuerfreien Pauschale für Verantwortungsträger in Vereinen in Höhe von
500 Euro;
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•
Rechtliche Klarstellung, dass Mitgliedsbeiträge zu Kulturvereinen oder Kulturfördervereinen
auch dann steuerlich absetzbar sind, wenn dafür seitens des Vereins Gegenleistungen z. B. in
Form von Freikarten für Veranstaltungen gewährt werden.
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Perspektiven des Gemeinnützigkeitsrechts
Diese trocken daherkommenden Bestimmungen sind für viele Kulturorganisationen, die nicht
profitorientiert sind, von großer Bedeutung. Doch bleiben viele weitere Schritte nötig, um das bürgerschaftliche Engagement in der Kultur tatsächlich im Sinne des oben skizzierten Leitbilds
Bürgergesellschaft weiterzuentwickeln und zu fördern.
Es bleibt auf diesem Feld noch viel zu tun, und die in diesem Jahr geschaffene neue Gesetzeslage
kann nur einer von vielen Schritten auf dem Weg in eine moderne Kulturgesellschaft sein. Die entscheidende Frage bei der Reform des Gemeinnützigkeitsrechts wurde nämlich mit dem in diesem
Jahr Beschlossenen noch gar nicht berührt. Sie lautet: Wie lässt sich der Status der Gemeinnützigkeit gesellschaftspolitisch überhaupt begründen?
Die traditionelle Begründung für die steuerliche Förderung von Gemeinnützigkeit lautet: Der Staat
gewährt privaten gemeinnützigen Körperschaften Steuerbefreiungen, weil sie ihm Aufgaben abnehmen, die er sonst selbst erfüllen und für die er Steuermittel einsetzen müsste. Diese Argumentation ist von dem Gedanken getragen, dass die Bürgergesellschaft vor allem da ihre Berechtigung
hat, wo sie staatliches Handeln ersetzt. Als gemeinnützig gelten solche Aktivitäten, die vom Staat
zu erfüllen wären, aber von privater Seite freiwillig und unentgeltlich übernommen werden. Wenn
es bei diesem Verständnis der Bedeutung bürgergesellschaftlicher Aktivität bliebe – Bürgergesellschaft als Staatsersatz –, dann wäre es um die Kulturlandschaft in Deutschland auf Dauer schlecht
bestellt. Letztlich hieße das nämlich, dass der Staat sich aus vielen Bereichen der kulturellen Bildung, der Jugendkulturarbeit, der Literaturförderung, ja sogar aus klassischen Bereichen öffentlicher Kulturförderung wie Theater, Konzert, Oper und Museum zurückziehen könnte, sobald sich
freiwilliges Engagement in Form von Zeit- und Geldspenden anbietet.
Hier ist ein Paradigmenwechsel erforderlich, wie ihn auch die Kultur-Enquete, etwa im Rahmen
der Anhörung zu „Laienkultur und Brauchtumspflege“, diskutiert hat. Bei diesem Paradigmenwechsel käme es darauf an, die steuerlichen Vergünstigungen für kulturelle Aktivitäten und
Organisationen nicht länger an die Frage zu knüpfen, ob diese Aktivitäten staatliches Handeln zu
ersetzen vermögen. Vielmehr braucht es einen Perspektivwechsel auf das Engagement und die
Engagierten selbst. Nicht der Aspekt der Staatsentlastung soll steuerlich gefördert werden,
sondern das bürgerschaftliche Engagement als solches, das staatliches Handeln in einer Weise
ergänzt, wie es der Staat selber nicht leisten kann. Die vitale Kultur der Demokratie inklusive der
staatsbürgerlichen Tugenden zum Erhalt der freiheitlichen Ordnung wird täglich durch
bürgerschaftliches Engagement erneuert. Das muss der eigentliche Grund für die steuerliche
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Begünstigung und die Anerkennung von Gemeinnützigkeit sein. Die Entwicklung und Förderung
der Bürgergesellschaft selbst muss zur Staatsaufgabe werden.
In Ansätzen ist der Perspektivwechsel im Gemeinnützigkeitsrecht bereits zu erkennen. Mit dem
jüngsten Gesetz wurde in § 52 AO erstmals das bürgerschaftliche Engagement als solches in die
Liste der förderungswürdigen und steuerbegünstigten Aktivitäten aufgenommen, allerdings mit
dem definitorisch nicht klaren Zusatz, dass diese Regelung nur bei gemeinnützigen, mildtätigen
und kirchlichen Zwecken gilt. Dies ist wirklich nur ein erster Ansatz. Wie sehr das Denken in der
Steuerverwaltung noch dem alten Trott verbunden ist, zeigt ein anderes Detail, das für viele
kulturelle Vereinigungen einen Hemmschuh darstellt. Zwar wurde mit der jüngsten Reform
festgelegt, dass nun auch Mitgliedsbeiträge in Kulturvereinen selbst dann steuerlich abgesetzt
werden dürfen, wenn seitens des Vereins eine Gegenleistung in Form einer kostenlosen Eintrittskarte für Veranstaltungen gewährt wird. Doch gilt das nicht für Kulturvereine, deren Aktivitäten
sich in erster Linie auf dem Feld der Freizeitgestaltung bewegen. Dazu werden dann auch Laienorchester, Laienchöre und Laientheater gezählt, für die es keine steuerlichen Vergünstigungen gibt.
Dabei sind es doch gerade solche kulturellen Aktivitäten, die vor Ort, in den Kommunen, zu einem
erheblichen Anteil für den Zusammenhalt des Gemeinwesens sorgen. Dass das ehrenamtliche kulturelle Engagement in Chören, Theatern und Orchestern Teil der Freizeitgestaltung ist, versteht
sich von selbst – wann sollte es sonst stattfinden als in der Freizeit? Entscheidend ist doch die Uneigennützigkeit solchen Engagements, das aktives gesellschaftlich-kulturelles Engagement ist.
An solch einfachen Beispielen wird deutlich, dass noch weitere Schritte bis zu einem Gemeinnützigkeitsrecht im Sinne des skizzierten Leitbilds Bürgergesellschaft nötig sind. Doch ist der Zug
kaum mehr aufzuhalten. Die selbstbewusste Bürgergesellschaft wird staatliche Unterstützung
künftig immer stärker fordern. Der moderne und freiheitliche Staat wird gut beraten sein, diese
Unterstützung zu gewähren – im eigenen Interesse.
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Kultur in Europa - Kultur im
Kontext der Globalisierung
Steffen Reiche, MdB
Kultur und Politik […] gehören zusammen, weil es hier nicht um Erkenntnis oder
Wahrheit geht, sondern um Urteil und Entscheidung, den vernünftigen Meinungsaustausch über die Sphäre des öffentlichen Lebens und die gemeinsame Welt, ferner
um die Entscheidung darüber, welche Handlungsweise in der Welt zu wählen ist, und
auch darüber, wie diese Welt künftig auszusehen hat, welche Arten von Dingen in ihr
erscheinen sollen.
(Hannah Arendt)
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Zum Verlauf der Diskussionen
In der Anfangsphase ihrer Arbeit hatte die Enquete-Kommission kein Kapitel über Kultur in
Europa und/oder globale Kontexte vorgesehen. Dass die Enquete-Kommission sich bei der Neuaufnahme ihrer Arbeit in dieser Legislaturperiode anders besann, spricht für einen rasch zurückgelegten Lernprozess, den sie mit vielen Akteuren des kulturellen Lebens in Deutschland teilt. Ich bin
dankbar, dass meine Anregung, der europäischen Kulturpolitik größeren Raum zu widmen, sogar
mit einem eigenen Kapitel für dieses Thema entsprochen wurde.
Diesen Lernprozess zeichnet auch aus, dass er gleichzeitig in zwei Richtungen verlief. Zum einen
haben Politiker und Repräsentanten der Europäischen Union begonnen, kulturellen Entwicklungen größere Bedeutung für den Fortgang des europäischen Integrationsprozesses zuzumessen.
Parallel dazu sehen immer mehr Kulturakteure und Kulturpolitiker in Deutschland, dass sich eine
in Landesgrenzen gedachte Kultur überlebt hat. Diese Erkenntnis bezieht sich noch nicht auf die
wirtschaftlichen bzw. finanziellen Folgen, die auch für Kultur aus den Europäisierungs- und Globalisierungsprozessen erwachsen. Ob es sich um die Initiative „Europa eine Seele geben“ oder die
konsequent international ausgerichtete Förderpolitik der Kulturstiftung des Bundes oder den Run
auf die Förderprogramme der Europäischen Union handelt: Allein die Zahl der einbezogenen und
erreichten Akteure spricht dafür, dass mit Europa zunehmend kulturelle Hoffnungen verbunden
werden. Wie andererseits, angefangen von Auftritten des Kommissionspräsidenten bis hin zur
Mitteilung der Europäischen Kommission über eine Kulturagenda im Zeitalter der Globalisierung,
die Hinwendung zur Kultur als Entwicklungsfeld und Entwicklungsquelle der Europäischen Union
dafür spricht, dass Europa beginnt, mit Kultur Zukunftshoffnungen zu verbinden.
In Beratungen innerhalb der SPD-Fraktion hatten wir all dies als Indizien dafür genommen, dass es
sich hier um einen der sogenannten kritischen Entwicklungsmomente handelt, von denen aus viel
erreicht, aber auch viel verschenkt werden kann. Auf den kulturpolitischen Wurzeln der Neuen
Kulturpolitik fußend, die Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik versteht und definiert, gingen und
gehen wir davon aus, dass Kultur von strategischer Bedeutung für die gesamtgesellschaftlichen
Entwicklungen ist. Demzufolge zielte das Europakapitel darauf ab, kulturelle Verantwortung und
kulturpolitische Positionen am Maßstab der gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen zu
bestimmen.
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Besonders wichtig erschien, dass der Respekt vor den und die kritische Aneignung der bereits erfolgten kulturellen und kulturpolitischen Entwicklungen, wie auch die Reflektion der unterschiedlichen Stadien des europäischen Kulturverständnisses von großer Relevanz waren. Das spiegelt
sich im Bericht wieder. Es geht hier nicht nur um die Feststellung des Status quo, es wird auch
nachgezeichnet, welche Anstrengungen im Verlauf von Jahrzehnten nötig waren, um ihn zu erreichen.
Trotzdem muss festgestellt werden: Wenn Vertreter unterschiedlicher Parteien sich auf eine gemeinsame Position einigen, bleiben am Ende meistens bei jedem Wünsche offen. So ist auch im
Europakapitel die Gesamtbilanz mit Wermutstropfen für SPD-Positionen verbunden.
Eine Handlungsempfehlung zum Beispiel, die die Bundesregierung aufgefordert hätte, sich für
Englisch als allgemein lernpflichtige europäische Lingua Franca zu engagieren, ließ sich nicht
durchsetzen. Es handelt sich hier um einen Punkt, der wichtiger ist, als es auf den ersten Blick
aussieht und für den gerade Sozialdemokraten mit dem Anspruch von Modernität und sozialer
Verantwortung sich weiterhin stark machen sollten. Es geht bei Sprachen ja nicht in erster Linie
um eine Art nationaler Heiligtümer, die es zu bewachen gilt. Es geht hier um die Frage, wem Europa als Lebensbewegungsraum offen steht und wem nicht. Und es geht um die für den Europäischen Integrationsprozess entscheidende Frage, ob und wie schnell es gelingt, europäische Kommunikation so effizient und barrierefrei wie möglich zu gestalten. Schließlich geht es natürlich
nicht darum, andere Sprachen in ihrer Bedeutung zu schmälern, sondern bewusst und verabredet
für Europa genauso wie in den großen Kultur- und Wirtschaftsräumen anderer globaler Akteure
eine gemeinsame Sprache zu haben.
Bei allen Wünschen, die hier und da offen geblieben sein mögen, ist insgesamt festzustellen, dass
im Verlauf der Arbeit der Enquete-Kommission die Kulturpolitiker aller Parteien selbst gemeinsam
einen beachtlichen Entwicklungsweg zurück gelegt haben.
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Richtung des deutschen Engagements in Europa
Als wichtigstes Ergebnis ist hier festzuhalten: Alle durch die Enquete-Kommission verabschiedeten Handlungsempfehlungen zielen darauf, dass Deutschland den europäischen Integrationsprozess befördert, dass Kultur dafür als entscheidendes Handlungsfeld wahrgenommen und genutzt wird, und dass deshalb kulturellen Belangen in jeder Hinsicht größere Aufmerksamkeit widerfahren muss.
So wird zum Beispiel die Bundesregierung aufgefordert, „sich unter Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Akteure aktiv in die Erarbeitung einer Europäischen Kulturagenda einzubringen“, und „den
durch die Europäische Kommission vorgeschlagenen Prozess der offenen Koordinierung zu unterstützen.“ Damit hat die Enquete-Kommission eine dem europäischen Integrationsprozess viel
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offensiver zugewandte Position eingenommen, als das im Bundesrat und in der KMK der Fall ist.
Zu recht.
Was die inhaltliche Ausrichtung des deutschen Engagements in Europa betrifft, hat sich die Enquete-Kommission an prominenter Stelle – im Anschluss an den Grundlagenabschnitt – auf zwei
zentrale Aussagen geeinigt:
Zum einen verlangt sie, dass Deutschland seine spezifischen historischen Erfahrungen mit
Diktatur und Völkerverbrechen aktiv in die gegenwärtigen Auseinandersetzungen um Menschenrechtsbildung und Erinnerungsarbeit einbringt. Dies auch zu verbinden mit der Bewegung der
Lieux de Memoire ist eine aktuelle Herausforderung; es wäre eine Möglichkeit, sich gemeinsam
der konflikthaften Geschichte des Kontinents zu stellen und aus ihr zu lernen.
Zum anderen spricht sich die Enquete-Kommission dafür aus, dass die Europäische Union ihren inneren Integrationsprozess auch nach außen kulturell sichtbar macht und unterstützt deshalb die
Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Außenkulturpolitik.
Dass die europäische Integration am Ende nur gelingen kann, wenn die Zivilgesellschaften, Institutionen und Akteure der Mitgliedsländer sich in regem Kulturaustausch und zunehmend in kulturellen Kooperationen befinden, ist inzwischen eine Binsenweisheit. Für geradezu abgedroschen
mag man den Hinweis halten, dass dieser Kulturaustausch finanziert werden muss; so oft wurde
und wird er – mit bislang wenig Erfolg – wiederholt. Für die Finanzierung gibt es keine abstrakt
europäische, sondern eine gemeinsame Verantwortung der Mitgliedsländer der Europäischen
Union. Sie wird in den Finanzverhandlungen im Europäischen Rat regelmäßig so wahrgenommen,
dass der Kulturbereich eindeutig unterfinanziert ist. Wer würde auch ernstlich erwarten, dass die
europäischen Prioritäten übermäßig von den nationalen Gewohnheiten der Mitgliedsländer abweichen. Die Enquete-Kommission empfiehlt nun der Bundesregierung, sich dafür einzusetzen,
dass mindestens ein Prozent des europäischen Haushalts für Kultur verwandt wird. Das fordern
europäische Kulturpolitiker inzwischen seit fast zwei Jahrzehnten. Es ist höchste Zeit, dass der Erkenntnis über die Bedeutung der Kultur für den europäischen Integrationsprozess haushalterische
Taten folgen.
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Kultur und Innovation
Die Enquete-Kommission hat sich entschlossen, einen ganzen Abschnitt unter die Überschrift
„Europäische Kulturhauptstadt und europäische Kulturprojekte“ zu stellen. Damit macht sie klar,
von wo sie den gesellschaftlich bedeutsamsten Innovationsschub erwartet. Im Berichtstext wird
auf die Entwicklungen verwiesen, die im Wettbewerb von 18 deutschen und 11 ungarischen
Städten um den Titel Kulturhauptstadt Europas 2010 stattgefunden haben. In diesem Wettbewerb ging es insbesondere um den Übergang von teuren, kurzatmigen und eventgeprägten
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Kulturhauptstadtkonzepten zu solchen, die sich durch Nachhaltigkeit auszeichnen und auf komplexen Prozessen kulturgeprägter Stadtentwicklung fußen.
Mit der Titelvergabe an Ruhr 2010 wird das ambitionierte Konzept „Wandel durch Kultur – Kultur
durch Wandel gewürdigt“. Dies auch deshalb, weil das Ruhrgebiet im vergleichsweise „Kleinen“
Probleme auf seine Tagesordnung gesetzt hat, die die Europäische Union im Ganzen lösen muss.
Wenn ein Hauptpunkt der Kulturhauptstadtentwicklung 2010 darin besteht, dass das Ruhrgebiet
sich zu einer polyzentrischen Metropole entwickelt, dann muss zielorientierte Kommunikation und
Kooperation unter den Bedingungen unterschiedlicher Rhythmen, unterschiedlicher Strukturen,
unterschiedlicher Wohlstandsniveaus, mehrerer mitwirkender und verantwortlicher politischer
Ebenen und unterschiedlichster partizipationswilliger Akteure gelingen. Die eigentliche Mühe hat
hier erst nach der Ehre des Titelerhalts begonnen. Angesichts der politisch-logistischen Rätsel, die
hier zu lösen sind, erscheint das Vorhaben, den durchgreifenden Strukturwandel der Region konsequent und nachhaltig mit europäischen Partnern zu gestalten, beinahe schon alltäglich. Doch
die zu bewältigenden Herausforderungen haben große Ausmaße. Allein die Vielzahl der europäischen Bewerber, die sich am TWINS-2010-Programm beteiligen möchten, lässt ahnen, mit welchen Erwartungen und auch Enttäuschungen hier umgegangen werden muss.
Bereits jetzt erfährt Ruhr 2010 auf nationaler Ebene beträchtliche Unterstützung. Dafür stehen
symbolisch die 10 Millionen Euro, mit denen die Kulturstiftung des Bundes bis zum Jahr 2010 das
Projekt „Jedem Kind ein Instrument“ fördert. Damit die Potentiale, die im Ruhrgebiet und insgesamt im europäischen Kulturhauptstadtprojekt vorhanden und entwickelt worden sind, erschlossen werden können, ist weitere Unterstützung nötig.
Die Enquete-Kommission zielt dabei in zwei Richtungen. Sie fordert die Bundesregierung auf, sich
auf europäischer Ebene dafür einzusetzen, dass den nachhaltigen Innovationspotenzialen im Kontext der Kulturhauptstädte größere Aufmerksamkeit gewidmet wird – im Grunde geht es hier um
höhere Ansprüche an künftige Kulturhauptstädte. Auf nationaler Ebene soll die Bundesregierung
ihre Möglichkeiten nutzen, um eine breite Öffentlichkeit für den innovativen Charakter der durch
Ruhr 2010 entwickelten und realisierten Konzepte zu gewinnen.
Bei beidem geht es um die grundsätzliche Verbindung von europäischen kulturellen Anstrengungen mit aktuellen Herausforderungen. Diesem Anspruch folgt die Enquete-Kommission allgemein
bei ihrem Blick auf europäische Kulturprojekte. Als besonders wichtig soll hier heraus gegriffen
werden, dass sie sich für die Entwicklung von Formen europäischer Kunst nach dem Bespiel des
Labels Lieux des Memoire ausspricht. Nachdem jahrzehntelang der Schwerpunkt der europäischen kulturellen Bemühungen darauf gelegen hat, sich wechselseitig der gemeinsamen kulturellen Wurzeln zu vergewissern – also auf dem kulturellen Erbe – soll nun deutlich mehr Kraft auf
die Entwicklung zeitgenössischer Kunst, die als „europäisch“ empfunden wird, verwandt werden.
Europäische zeitgenössische Kunst, die die brennenden Fragen dieser Tage zum Sujet haben, kann
und muss eine entscheidende Rolle in der europäischen Kommunikation spielen. Letztlich diesem
Ziel dienen auch die Überlegungen, die Enquete-Kommission zur perspektivischen Entwicklung einer europäischen Akademie der Künste angestellt hat. Hier sind allerdings die gegenwärtigen Voraussetzungen noch so, dass es zunächst um erste Schritte in einer strategisch für richtig und
wichtig gehaltenen Richtung zu gehen: zunächst soll das Gespräch mit den Akademien der Künste
in der Bundesrepublik Deutschland über einen möglichen institutionelle Rahmen gesucht werden.
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Austausch und Kooperation
Funktionierende Gesellschaften verfügen über ein dicht gewebtes Netz aus kommunikativen
Beziehungen. Deren Knotenpunkte sind gemeinsame Institutionen wie Finanzministerien und
Schulen, Unternehmen, öffentliche Plätze, Verkehrsmittel, Handels- und Kultureinrichtungen. Man
könnte auch sagen: Gesellschaften existieren unter der Voraussetzung eines ständigen, intensiven
Flusses von Informationen und koordinierten Handlungen. Die Schaffung des Vorrats der allen
verständlichen Zeichen, Symbole und Verhaltensmuster, die die erfolgreiche Orientierung in diesem kommunikativen Netz erlauben, ist die wichtigste kulturelle Leistung, die Gesellschaften zu
vollbringen haben – in all ihren Teilbereichen.
Beim Nachdenken über Formen des europäischen Kulturaustauschs und kultureller Kooperationen
hat die Berichterstattergruppe die Tatsache zum Ausgangspunkt genommen, dass man es zu Beginn des europäischen Integrationsprozesses nicht nur mit zum Teil verfeindeten, sondern mit in
der Geschichte der Nationalstaaten einander entfremdeten Gesellschaften zu tun hatte, zwischen
denen wenig oder keine Kommunikation stattfand, die keine Institutionen als gemeinsame Bezugs- oder Knotenpunkte teilten. Es stand die Frage, wo auf dem Weg von der Fremdheit der Nationalstaaten zur Entwicklung einer tatsächlich europäischer Zivilgesellschaft wir uns im Moment
befinden, welche Veränderungen durch wirtschaftliche, wissenschaftliche, politische Kooperationen dank der durch Grenzöffnung erreichten Mobilität und des Massentourismus erreicht wurden.
Das Gewebe der inzwischen vorhandenen Institutionen, Einrichtungen und Veranstaltungen, die
kulturelle Beiträge zur Entwicklung einer europäischen Zivilgesellschaft leisten, ist so umfangreich
geworden, dass der Bericht der Enquete-Kommission sich auf das Nennen einer Auswahl beschränkt.
Bei allen unübersehbaren und zu würdigenden Fortschritten zeigen sich nach den Diskussionen
zwei zentrale Aufgaben, in denen dringender Handlungsbedarf besteht.
So konstatiert die Enquete-Kommission zum ersten, dass der europäische „Kulturaustausch nur
dann nachhaltig und effektiv sein kann, wenn auch die Anstrengungen zur Vermittlung von
Sprachkenntnissen in Kindergärten, Schulen und beruflicher Ausbildung weiter forciert werden.“
Diese Aussage ist schwächer, als sie hätte ausfallen sollen. Es geht hier in erster Linie um das Ob
oder Nicht des Erlernens einer Lingua Franca zur jeweiligen Sprache des Mitgliedslandes. Und dies
nicht nur mit der Absicht, Barrieren europäischer Kommunikation abzubauen – was ja allein
wichtig genug wäre. Hier entstand schon Streit, ob es sich, wenn schon, dann unbedingt um
Englisch handeln müsse. Das muss es. Selbstverständlich. Es liegt auf der Hand, dass Englisch sich
in der globalen Kommunikation durchgesetzt hat. Abgesehen davon, dass es töricht wäre, die
nächste europäische Generation gemeinsam eine Sprache erlernen zu lassen, mit der sie dann auf
dem Globus nicht weit kommt – es wäre auch der Misserfolg von vornherein programmiert.
Für einen Sozialdemokraten vielleicht noch wichtiger ist aber, dass es hier um eine ganz grundlegende Frage der Chancengerechtigkeit geht. Gutsituierte Familien mit gesichertem sozialem und
kulturellem Hintergrund sorgen seit Jahren dafür, dass ihre Kinder Englisch lernen. Wer ohne eine
entsprechende allgemeine Lernpflicht das Nachsehen hat und nicht in ganz Europa sein Glück und
seine Zukunft suchen und finden kann, sind Kinder aus sozial und kulturell schwachen Familien.
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Um auch den Belangen von Migrantenfamilien Rechnung zu tragen, wurde ein Drei-Schritte-Vorschlag unterbreitet: Die gesellschaftlich zu treffende Vereinbarung sollte lauten, dass erstens jedes Kind im Vorschulalter die Sprache des Landes erlernt, in dem es seinen Lebensmittepunkt hat,
dass zweitens jedes Kind Englisch lernt, und dass drittens die Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund qualifizierten Unterricht in der Sprache ihrer Eltern erhalten. Wahrscheinlich nicht
nur, weil das selbstverständlich einen gesellschaftlichen Kraftakt bedeuten würde, sondern auch,
weil Sprache noch zu sehr als – von Privilegierten entwickeltes, erworbenes und zu schützendes –
Heiligtum, und zu wenig sachlich als zentrale Technik gesellschaftlicher Kommunikation betrachtet wird, war dieser Vorschlag nicht mehrheitsfähig. Er sollte aber weiter ausgearbeitet und vertreten werden.
Zum zweiten hat die Enquete-Kommission empfindliche Defizite im Bereich der Medien festgestellt.
Für die innere Entwicklung Europas, so wurde immer wieder betont, ist es nötig, dass die Bürgerinnen und Bürger in den Mitgliedsländern die Möglichkeit haben, sich gegenseitig täglich in den
wichtigsten Medienerzeugnissen zur Kenntnis zu nehmen und zu sehen, dass sie ähnliche Sorgen,
Probleme, Freuden und Erfolge teilen. Dafür tragen natürlich die Herausgeber, Redaktionen und
Journalisten der unterschiedlichen Medien selbst Verantwortung. Umso wichtiger ist es aber, dass
europäisch orientierte Medieninitiativen Unterstützung erfahren. Die Enquete-Kommission hat
deshalb eine Empfehlung verabschiedet, in der sie das Angebot der Deutschen Welle an ihre europäischen Partner ausdrücklich begrüßt, gemeinsam über Wege zur Entwicklung europäischer Medien zu diskutieren.
Für ebenso bedeutsam – und im Kontext der Bemühungen um eine gemeinsame europäische
Außenkulturpolitik auch logisch – hält die Kommission, dass die Europäische Union ein weltweit
wahrnehmbares Medium entwickelt. Eine „Stimme Europas“ soll sowohl die kulturelle Vielfalt
Europas in die Welt ausstrahlen, als auch globale Entwicklungen mit erkennbarem europäischem
Profil begleiten. Andernorts wurden die Teilnehmer vieler Diskussionen nicht müde, die Widerstände aufzuführen, die einem solchen Vorhaben entgegen stehen. Die gibt es auch, zweifellos.
Dennoch müssen erste Entwicklungsschritte unternommen werden. Die Enquete-Kommission
sieht in den Erfahrungen von Programmfenstern des deutsch-französischen Gemeinschaftsprogramms ARTE und in denen von Deutscher Welle, BBC und RF durchaus Grundlagen, von denen
aus entsprechende Kooperationen in Angriff genommen werden können. Europa soll als ein kulturell vielfältiges Miteinander erlebbar gemacht werden, seine Werthaltungen, Interessen und
Entwicklungen neben CNN und Al Dschasira sichtbar und hörbar sein.
Dass die Enquete-Kommission im Abschnitt „Kulturaustausch und Kooperation“ die Förderung des
europäischen Films an die erste Stelle gesetzt hat, hängt mit dem ebenso eindrucksvollen wie
überzeugenden Beitrag von Wim Wenders auf der Konferenz „Europa eine Seele geben“ im
Dezember 2006 in Berlin zusammen. Die Teilnehmer an den Diskussionen teilten alle Wim Wenders Standpunkt, dass es in einer Welt, die zunehmend in Bildern kommuniziert, für die eigene
Identität von existenzieller Bedeutung ist, eigene Bilder zu produzieren, eigene Haltungen und
Lebensgefühle in Bildern zu komprimieren und zum Gegenstand von Selbstwahrnehmung und
Selbstausdruck zu machen. Mit der stärkeren Förderung des Europäischen Films, des Europäischen
Filmpreises (Felix) und der Europäischen Filmakademie soll es langfristig auch gelingen, „neben
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den Bilderfabrikaten von Hollywood, Bollywood und der erstarkenden chinesischen Filmindustrie
Europa ein Gesicht zur Welt zu geben.“ Die Enquete-Kommission beschränkt sich darauf, der Bundesregierung zu empfehlen, dass sie sich dafür auf europäischer Ebene einsetzt. Es ist aber an der
Zeit, darüber nachzudenken, ob nicht Deutschland selbst besondere Möglichkeiten hat, die es in
die Waagschale werfen kann. Während der letzten Jahre verfolgen wir ja eine bezeichnende Entwicklung: Wie der an Wert gewinnende Euro für die wachsende europäische Wirtschaftskraft
steht, scheint Berlin weltweit als das Symbol für die kulturelle Kraft des vereinigten Europas
wahrgenommen zu werden. Es wird immer stärker zum Mekka der Weltstars, seine Events strahlen weltweit aus. Also liegt es nahe, eben diese Ausstrahlung bewusst und zielstrebig für europäische Anliegen zu nutzen.
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Europäische Kulturförderung
Weit über den zentralen Vorwurf hinaus, dass die Europäische Union zu wenig in Kultur
investiert, handelt es sich hier um ein Feld, dass durch Schwierigkeiten und Auseinandersetzungen
geprägt ist. Leichte Lösungen gibt es nicht.
Grundsätzlich ist zu sagen: Die Europäische Union investiert zwar wirklich zu wenig in Kultur, aber
sie investiert mehr, als man auf den ersten Blick wahrnimmt. Es werden auch gehörige Mittel aus
den Struktur-, Regional- und Sozialfonds für Kulturausgaben verwandt. Ohne diese wäre manches
Museumsdach längst eingestürzt und wäre womöglich nicht nur die Amalia-Bibliothek wegen
Leitungsschwäche abgebrannt. Doch bei aller Würdigung der Gemeinschaftsleistung, die die Europäische Union so europaweit an Kultureinrichtungen vollbracht hat, bleibt: Es handelt sich hier
hauptsächlich um die Sanierung bzw. Erhaltung von kulturellem Erbe, letztlich um Investitionen in
vorhandene, vor allem bauliche Substanz. Das ist wichtig genug. Von vielen wird aber zu recht empfunden, dass das aber nicht genügt.
Der lebendige kulturelle Prozess ist unterfinanziert. Regelmäßig übersteigen die Anträge an die
europäischen Kulturförderprogramme deren Kapazität um ein Vielfaches. Das hängt allerdings
auch mit der Kulturfinanzierung in den Mitgliedsländern zusammen. Wie wir alle wissen, wenden
sich viele Akteure ja auch deshalb an die europäische Union, weil sie im eigenen Land keine Finanzierungsquellen finden.
Die Kulturakteure und Experten teilen hinsichtlich der europäischen Kulturfördermittel eine Hauptsorge: Aufgrund der Förderbedingungen und der Art und Weise der Finanzabwicklungen haben kleinere Institutionen immer geringere Chancen, europäische Fördermittel in Anspruch nehmen zu
können. Allein die Antragstellung bedeutet häufig einen für viele kaum leistbaren Aufwand. Viele
können die erforderlichen Vor- und Komplementärfinanzierungen nicht aufbringen. Es handelt
sich hier um eine zutiefst widersprüchliche Situation. Würde die Europäische Kommission sich
strategisch darauf festlegen, überwiegend kleine und kleinste Projekte zu fördern, dann hieße das
auch: Sie könnte das nur mit erhöhtem Verwaltungsaufwand bewerkstelligen. Damit würden ge-
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nau die Bürokratisierungen befördert, die von den Akteuren und im Kulturbereich engagierten Politikern am heftigsten kritisiert werden.
Um trotz aller bekannten Schwierigkeiten Vereinfachungen für die Antragsteller zu erreichen, hat
die Enquete-Kommission mehrere Empfehlungen formuliert.
An den Anfang hat sie den Ausbau der Cultural Contact Points gestellt, deren hochqualifizierte Beratungsleistung immer stärker nachgefragt wird. Dabei geht es nicht nur um eine Erhöhung der
Anzahl der Anlaufstellen. Es geht auch darum, dass diese Beratungsleistung auf Fonds wie EFRE;
ESF, EAGFL ausgedehnt wird.
Von noch großer Bedeutung für kleinere Kulturinstitutionen und Künstler ist aber, dass die Bundes-, die Landes- und auch die kommunale Ebene Lösungen für die Unterstützung ihrer Anträge
an die EU finden. So sollen zum Beispiel in Zusammenarbeit von Bundes- und Landesregierungen
Fonds gebildet werden, die zur Überbrückung fehlender Finanzierungsanteile – wegen der
Einbehaltung bewilligter Mittel bis zum Endes des Projekts – eingesetzt werden können.
Ländern und Kommunen empfiehlt die Enquete-Kommission, gemeinsam eine stärkere koordinierende Rolle zu übernehmen und nach dem Vorbild des Leader-Programms der EU zeitweilig
regionale Dachvereinigungen zu bilden, in denen mehrere Akteure gemeinsame Anträge stellen
können.
Dies sind, wie gesagt, lediglich kleine Schritte in einem unübersichtlichen Gelände. Dennoch könnten sie manchem Akteur entscheidend helfen.
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Globale Entwicklungen – WTO/GATS
In diesem Abschnitt spielten mehr oder weniger direkt all die Fragen eine Rolle, die landauf
landab als negative Begleiterscheinungen der Globalisierung diskutiert werden. Diese Auseinandersetzungen drehen sich um die grundsätzliche Richtung der Globalisierung: Soll sie nur der Beseitigung aller Hindernisse für den internationalen Kapitalverkehr bzw. die sogenannten Global
Player dienen? Oder besteht Gesellschaft aus mehr als in Zahlen ausdrückbare Ökonomie?
Bezeichnenderweise wird im Kontext von WTO und GATS dieser erbitterte Kampf am Doppelcharakter von Kulturgütern und Kulturdienstleistungen ausgetragen. Sie sind zum einen Träger von
Werten, Ideen und Normen, im Prinzip selbst Gegenstände gesellschaftlicher Aushandlungs- und
Selbstvergewisserungsprozesse, zum anderen sind sie aber auch Waren, werden als solche gehandelt und zirkulieren als solche.
Die Enquete-Kommission hat sich eindeutig dafür ausgesprochen, dass Deutschland und die Europäische Union bei ihrer bisherigen Politik bleiben und den Kultur- und Medienbereich nicht der
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völligen Liberalisierung preisgeben. Gründe dafür findet sie nicht nur im besonderen Charakter
und der besonderen Rolle des Kulturbereichs, sondern auch in der spezifischen Struktur, die dieser
in Europa ausgebildet hat. Die kulturelle Vielfalt, die wohl fast alle Europäer nicht nur für einen,
sondern für ihren ganz besonderen Wert halten, hat auch eine zum großen Teil in vielen kleinen
Unternehmen organisierte Kulturwirtschaft zur Grundlage, die die Künstler und Publizisten fördert, ihre Werke vermarktet und dem Publikum erschließt. Diese Struktur der Vielfalt würde in einem völlig liberalisierten Markt über kurz oder lang der geballten Wirtschaftsmacht von Global
Playern erliegen.
Der Bericht verweist auch darauf, dass eine solche Liberalisierung dazu führen würde, dass beispielsweise nicht nur europäische Film- und Fernsehunternehmen Anspruch auf öffentliche Förderung hätten, sondern außereuropäische Anbieter dann den gleichen Anspruch einklagen könnten, was dem Zweck der Förderung – der ja in der Reflektion des europäischen gesellschaftlichen
Lebens besteht - direkt zuwider liefe. Sehr schnell könnten dann auch außereuropäische Anbieter
den hiesigen Markt dominieren.
In diesem Zusammenhang gibt der Bericht zu bedenken, dass auch die Überführung öffentlicher
Kultureinrichtungen in privatwirtschaftliche Rechtsformen, wie sie in Deutschland in den letzten
Jahren vermehrt vorgenommen wurden, perspektivisch zu ähnlichen Problemen führte.
Nachdem die Enquete-Kommission die Arbeit der UNESCO, besonders die durch sie erreichte
Übereinkunft zum Schutz und zur Förderung der kulturellen Vielfalt in einem eigenen Abschnitt
gewürdigt hat, stellt sie im Kontext der WTO/GATS-Verhandlungen noch einmal eindeutig heraus,
dass es mit dieser Übereinkunft gelungen ist, ein völkerrechtlich neuartiges Instrument zur
Verteidigung der kulturellen Vielfalt gegen Marktradikalismus zu schaffen. Sie misst ihr als Referenzrahmen für ein international verbindliches Kulturrecht große politische Bedeutung zu.
Die Empfehlung an die Bundesregierung, sich auf europäischer Ebene dafür einzusetzen, dass im
Kultur- und Medienbereich keinerlei Liberalisierungsangebote gemacht werden, lässt an Eindeutigkeit nichts zu Wünschen übrig.
Zur Vertretung Deutschlands in der Europäischen Union stellte die Enquete-Kommission fest, dass
die Ergebnisse der ersten Stufe der Föderalismusreform und die neue Fassung des Art. 23 Abs. 6
des Grundgesetzes hinsichtlich der Vertretung der kulturellen Interessen Deutschlands in der Europäischen Union genau zum Gegenteil dessen geführt haben, was mit der Föderalismusreform
eigentlich beabsichtigt war: nämlich demokratie- und effizienzhinderliche Verflechtungen zwischen Bund und Ländern abzubauen.
Für die Vertretung Deutschlands in Europa in Kulturfragen ist nun eine Gemengelage aus Länderzuständigkeit in Förderungsfragen und Bundeszuständigkeit für Ordnungspolitik und Rahmensetzung entstanden, der Deutschland nicht wenig Spott von seinen europäischen Partnern einträgt.
Die Handlungsempfehlungen der Enquete-Kommission zu dieser misslichen Lage lesen sich wie
folgt: „Die Enquete-Kommission sieht die Schwierigkeiten, die sich für Kultur aus der Regelung in
Art. 23 Abs. 6 GG ergeben. ... Deutschland braucht auf der EU-Ebene eine gemeinsame starke
Vertretung für den Kulturbereich.“
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Kultur im ländlichen Raum,
Umlandfinanzierung und interkommunale Zusammenarbeit,
Laienkultur und Brauchtum
Simone Violka, MdB
Kultur im ländlichen Raum
Die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland (fast 70 Prozent) lebt außerhalb von Großstädten. In diesen zumeist ländlichen Regionen hat sich eine bemerkenswerte kulturelle Vielfalt
entwickelt, die auf jeden Fall zu erhalten und auszubauen ist. Das bedeutet zukünftig eine stärkere Beachtung dieser Kulturlandschaft bei finanziellen aber auch strukturellen Entscheidungen.
Die Enquete-Kommission empfiehlt daher dem Bund und den Ländern die besonderen strukturellen Anforderungen der ländlichen Regionen in ihrer Kulturpolitik gezielt zu berücksichtigen.
Im Gegensatz zu Städten findet man im ländlichen Raum eine geringere Dichte von Theatern, Museen, Galerien, Opernhäusern und anderen kulturellen Einrichtungen. Allerdings wird dieser Mangel durch andere Angebote wie Musikschulen, Laienchören- und orchester, Kultur- und Heimatvereine und andere soziokulturelle Initiativen im ländlichen Raum zumindest teilweise kompensiert. Oft schließen diese Angebote auch einen starken regionalspezifischen Bezug mit ein, der die
Regionen, wenn sie es für sich nutzen können, attraktiver macht.
Um diese Angebote für möglichst viele Menschen nutzbar zu machen, bedarf es aber guter Voraussetzungen in Bezug auf Erreichbarkeit und Mobilität. Die Absprache zwischen Personenbeförderungsunternehmen und Veranstaltern ist derzeit häufig noch mangelhaft. Auch die Absprache
und Zusammenarbeit der verschiedenen Veranstalter ist ausbaufähig.
Die Enquete-Kommission empfiehlt deshalb im Rahmen des Gesetzes über den öffentlichen Nahverkehr zur Verbesserung der Mobilität in ländlichen Regionen durch entsprechende Vorgaben des
Mitteleinsatzes beizutragen. Auch wird empfohlen, die Kulturarbeit stärker zu regionalisieren und
darin die kommunalen Akteure einzubeziehen.
Viele Künstlerinnen und Künstler schätzen die Vorteile von ländlichen Regionen für ihre Arbeit.
Das sind vor allem Ruhe, Freiheit und kostengünstige Arbeitsräume. Dagegen finden sie leider
schlechtere Möglichkeiten für Präsentationen, die häufig Grundlage für öffentliche Anerkennung
und Verkaufsmöglichkeiten sind. In den letzten Jahren sind zwar viele private Initiativen entstanden, wo sich Künstler mit ihren Arbeiten präsentieren können, aber das ist nicht flächendeckend
und reicht bei langem nicht aus. Um diesen Mangel entgegenzuwirken wird den Landesvertretungen empfohlen, regelmäßig Ausstellungen von Künstlerinnen und Künstlern aus ihren Regionen auszurichten und Veranstaltungen mit ihnen durchzuführen, um die überregionale Wahrnehmung zu befördern.
Die Ressourcen ländlicher Regionen sind ein wertvolles Gut für die gesamte Kulturarbeit in Deutschland. Kultur, welche ausschließlich völlig losgelöst von den Regionen, den Traditionen und der
Geschichte angeboten und konsumiert würde, hätte kulturelle Passivität zufolge. Deshalb ist
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kulturelle Bildung unverzichtbar für die weitere Entwicklung. Sie macht vertraut mit kulturellen,
wissenschaftlichen und künstlerischen Techniken und fördert so die eigene Kreativität in der eigenen Umwelt.
Erwerbswirtschaftlich orientierte Kulturangebote schließen nicht nur aufgrund ihrer Preise verschiedene Bevölkerungsschichten aus, sondern sie sprechen in der Regel immer nur bestimmte
Teile der Bevölkerung an.
Auch in den ländlichen Regionen gibt es hauptamtlich geführte Einrichtungen. Aber der größte
Teil der kulturellen Angebote wird von den kulturellen Aktivitäten von Vereinen und Initiativen ehrenamtlich getragen. Nur das uneigennützige Engagement der Menschen, etwas in ihrer Region
für ihre Region zu tun sichert die kulturelle Vielfalt; sie ist nicht zu ersetzen. Obwohl kostengünstig, kommen auch diese Einrichtungen nicht ganz ohne Geld aus und können sich nicht allein
durch Spenden und Mitgliedsbeiträge tragen. Erschwerend kommt hinzu, dass Kulturarbeit in
ländlichen Regionen nur wenig Aussicht auf Sponsorengelder hat. Große Sponsoren haben häufig
nur Interesse, wenn eine bestimmte Personenzahl oder ein bestimmter Personenkreis erreicht
wird, der im ländlichen Raum aber nicht zu erreichen ist. In der Region ansässige Mittelständler
haben diesen Anspruch zwar nicht, sind aber meist schon anderweitig gebunden, zum Beispiel als
Sponsor von Sportvereinen oder Bildungseinrichtungen oder aber, was auch häufig vorkommt, als
Sponsor bei den sogenannten kulturellen Leuchttürmen, die meist hauptamtlich arbeiten. Deshalb empfiehlt die Enquete-Kommission den Ländern und Kommunen, bei der Vergabe öffentlicher Mittel die Förderung kultureller Vielfalt und aktivierender Kulturarbeit genauso zu schätzen,
wie kulturelle Spitzenförderung. Allerdings muss darauf geachtet werden, dass durch die Förderung von ehrenamtlicher Tätigkeit nicht dem Abbau hauptamtlicher Strukturen Vorschub geleistet wird. Nur eine gesunde Mischung von beiden sichert langfristig erfolgreiches Arbeiten.
Eine große Herausforderung ist auch die demografische Entwicklung in den Regionen. Menschen
wollen nicht nur eine feste existenzsichernde Arbeit, sondern auch ein funktionierendes Gemeinwesen und ein attraktives Umfeld für ihre Freizeitgestaltung. Das wird in den ländlichen Regionen, wie schon oben beschrieben, vor allem durch ein starkes ehrenamtliches Engagement getragen. Damit auch später Menschen bereit sind, sich ehrenhalber zu engagieren, müssen schon
frühzeitig Kontakte und Bindungen aufgebaut werden. Die Kommunen und Gebietskörperschaften profitieren erheblich von einem funktionierenden Gemeinwesen, welches durch das bürgerschaftliche Engagement getragen wird. Sie wären nicht in der Lage, einen Wegfall dieser ehrenamtlichen Arbeit und der dadurch nicht mehr vorhandenen kulturellen Angebote zu kompensieren. Daher ist eine enge Zusammenarbeit für beide Seiten von immensem Interesse.
Den Kommunen und Gebietskörperschaften wird deshalb empfohlen in die Organisation und Durchführung von Kulturveranstaltungen Schulen, Musik- und Jugendkunstschulen sowie kulturell tätige Vereine und Verbände aus der Region einzubinden. Bei Veranstaltungen kann eine größere
Identifikation erreicht werden, wenn Künstlerinnen und Künstler aus der Region einbezogen werden.
Zu erwägen ist auch die Einführung von regionalen Kunstpreisen und/oder Wettbewerben. Das
fördert nicht nur den künstlerischen Wettbewerb sondern es ermöglicht auch, für die Region und
die Künstlerinnen und Künstler ein größeres Publikum medial zu erreichen.
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Um den Künstlerlinnen und Künstlern ein breiteres Podium zu schaffen, sollten auch die Kommunen Ausstellungsmöglichkeiten für zeitgenössische Kunst schaffen bzw. erweitern und in der
Region dafür werben. Bei öffentlichen Anschaffungen sollten regionale Künstler besondere Beachtung finden.
Häufig wird in den Vereinen oder auch durch Einzelpersonen ein hervorragendes kulturelles Angebot geschaffen. Allerdings fehlt es bei der Vermarktung oft an finanziellen Mitteln, Partnern,
Technik oder schlicht an Wissen.
Die Kommunen und Gebietskörperschaften können die Künstlerinnen und Künstler, die entsprechenden Vereine und damit das regionale Kulturangebot kostengünstig unterstützen, indem sie
vorhandene Strukturen effizienter nutzen und so zum Beispiel für eine bessere Vernetzung und
Generationen-Verzahnung sorgen.
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Umlandfinanzierung und interkommunale
Zusammenarbeit
Kulturelle Einrichtungen, wie Theater, Museen, Galerien, Opernhäuser, Orchester, um nur
einige zu nennen, sind in der Regel in größeren Städten zu finden. Allerdings werden sie nicht nur
von den in den Städten lebenden Menschen genutzt sondern profitieren nicht unerheblich von
den Menschen, die zwar im ländlichen Raum leben, aber auf den Besuch dieser Einrichtungen
nicht verzichten wollen. Damit sind sie auch ein unverzichtbarer Bestandteil der kulturellen Infrastruktur des ländlichen Raumes. Obwohl die Menschen aus umliegenden Landkreisen, kleineren
Städten und Gemeinden diese „städtischen“ Einrichtungen für ihr kulturelles Leben nutzen,
beteiligen sich diese Gebietskörperschaften gar nicht oder nur in kaum nennenswerten Umfang
an der Finanzierung. Es gibt Beispiele, wo die Nutzer zu zwei Drittel nicht aus der finanzierenden
Stadt kommen, sondern aus dem Umland.
Für viele Städte ist das aufgrund einer angespannten Haushaltslage langfristig eine nicht mehr zu
bewältigende Sonderbelastung. Gefordert wird deshalb immer mehr eine stärkere Einbindung des
Umlandes bei der Mitfinanzierung. Zwar wird von den Besuchern bereits ein Beitrag in Form des
Eintrittsgeldes geleistet, doch aufgrund der Subventionshöhe pro Platz ist das nicht ausreichend.
Zwar werden durch den kommunalen Finanzausgleich durch die Einwohnergewichtung derzeit
solche Verwerfungen aufgefangen, doch muss durch eine Zweckbindung sichergestellt werden,
dass diese höheren Mittel ausschließlich für den Betrieb der entsprechenden zentralen Einrichtungen verwendet werden. Da es im kommunalen Finanzausgleich keine Zweckbindung der Haushaltsmittel für die Kultur gibt, kann diese finanzielle Lücke hier auch nicht über den Finanzausgleich geschlossen werden. Gegen eine solche Zweckbindung für Kultur gibt es derzeit aufgrund
der Vielfalt der zusätzlichen Aufgaben in anderen Bereichen starke systematische Bedenken. Den-
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noch empfiehlt die Enquete-Kommission eine solche Zweckbindung für kulturelle Mittel im Haushalt.
Eine andere finanzielle Einbindung des Umlandes außerhalb des kommunalen Finanzausgleiches
wäre derzeit nur auf freiwilliger Basis möglich. Beispielsweise durch Zuwendungen der Umlandgemeinden ohne Anerkennung einer Rechtspflicht, durch Leistungen aufgrund vertraglicher Vereinbarungen (Zuwendungsverträge), durch Leistungen aufgrund freiwilliger Zusammenschlüsse
und durch Leistungen aufgrund gemeinschaftlicher Trägerschaft, wie einem Zweckverband. Trotz
dieser Möglichkeiten gibt es derzeit kaum solche Partnerschaften. Meist besteht wegen der Haushaltslage vieler Kommunen kaum die Bereitschaft zu einer finanziellen Beteiligung auf freiwilliger
Basis.
Die Enquete-Kommission empfiehlt zur Lösung dieses Problems die Schaffung bürgernaher, effizienter und handlungsfähiger Kulturräume. Diese bieten die Möglichkeit die Lasten der Kulturfinanzierung zwischen den städtischen Zentren und dem ländlichen Umland gerecht zu verteilen
und Synergieeffekte zu erzielen. Als Beispiele für das Funktionieren solcher Strukturen gelten das
Sächsische Kulturraumgesetz und Strukturen von Zweckverbänden, die raumübergreifend Verständnis für ein gemeinsames kulturelles Erbe und Strukturen für ein lebendiges kulturelles Leben
geschaffen haben. Die interkommunale Zusammenarbeit schließt ein, dass Finanzmittel für Kultur gemeinsam von den Mitgliedern des Kulturraums und dem jeweiligen Land aufgebracht werden. Dabei ist sicherzustellen, dass die Umlandgemeinden auch in die kulturpolitischen Entscheidungen einbezogen werden. Es wird den Ländern empfohlen, die Kommunen zu animieren, gemeinsame Kulturräume zu bilden.
Die Enquete-Kommission empfiehlt den Kommunen und öffentlichen Kulturstiftungen zu prüfen,
inwieweit Stiftungen oder anderes privates Kapital stärker für die interkommunale Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Kultur gewonnen werden kann. Und bei der Verwendung der Fördermittel sollte sichergestellt werden, dass institutionelle und Projektförderung in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen.
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Laienkultur und Brauchtum
Laienkultur und Brauchtum sind ein selbstverständlicher und unverzichtbarer Bestandteil der
Kulturlandschaft in Deutschland. Sie sind Teil des bürgerschaftlichen Engagements, aber nicht mit
diesem identisch. Laienkultur und Brauchtum findet sich in tausenden Orchestern, Chören, Theater- und Tanzgruppen sowie zahllosen Kunst- und Kulturvereinen und ist damit unverzichtbarer
Bestandteil der kulturellen Infrastruktur und ein Garant für ein vielfältiges kulturelles Angebot
und die kulturelle Teilhabe in Deutschland. Auf hohem künstlerischem Niveau betätigen sich hier
unzählige Menschen. Männer und Frauen, Junge und Alte betätigen sich in ihrer Freizeit um Kultur
aktiv zu leben und zu gestalten.
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Immer mehr sind es auch professionelle Künstlerinnen und Künstler, die eigene Projekte gestalten
und sich dabei engagierte Partner vor Ort suchen, die zwar nicht unbedingt über einen künstlerischen Beruf verfügen, aber dennoch geeignet sind, sich in diesem Projekten professionell einzubringen.
Laienkultur und Brauchtum zeichnet sich neben der eher nicht-kommerziellen Orientierung durch
ein sehr hohes Maß an ehrenamtlicher Arbeit aus. Dieser Kulturbereich hat trotz seiner Vielfältigkeit und zunehmenden Professionalität einen relativ geringen Anteil an der öffentlichen Kulturförderung. Und das, obwohl sie in den letzten Jahren als alternatives Angebot immer wichtiger wurden, wo öffentliche Einrichtungen geschlossen oder zumindest verkleinert wurden. Das zumindest
hat sie zwar nicht in den finanziellen, aber doch zumindest in den politischen Fokus der Wahrnehmung gerückt. Es ist abzusehen, dass sie in den kommenden Jahren einen noch wichtigeren Stellenwert haben wird, wenn demografischer Wandel und finanzielle Engpässe eine weitere Ausdünnung kultureller Angebote der öffentlichen Hand erwarten lässt. Deshalb empfiehlt die EnqueteKommission den Bund, den Ländern und den Kommunen, die notwendigen Rahmenbedingungen
für Laienkultur und Brauchtum zu garantieren und zu verbessern. Die Förderung von Vereinen, in
denen Brauchtum und Laienkultur gepflegt werden, ist Teil der allgemeinen Kulturpolitik auf lokaler und regionaler Ebene. Die vielfältigen Möglichkeiten von Kooperationen zwischen Laienkulturpraxis und professioneller Kulturarbeit sollten auf allen Ebenen gezielt gefördert werden.
In ländlichen Gegenden hat die Laienkultur seit jeher einen hohen Stellenwert. Ohne sie gäbe es in
manchen Regionen überhaupt keine kulturelle Infrastruktur. Durch diese lange Tradition hat sie
ihre eigenen Qualitäten und Strukturen entwickelt. Sie fördert die Begegnung und das Miteinander von professionellen, semiprofessionellen und nichtprofessionellen Akteuren und schafft für
die Aktiven ein mehr an Lebensqualität, die sie durch ihre Arbeit auch an Kulturkonsumenten wietergeben.
Dabei entstehen auch milieuübergreifende soziale Bindungen, die wichtig für ein funktionierendes Gemeinwesen sind. In den Vereinen treffen sich verschiedene Generationen und unterschiedliche soziale Schichten, was einer sozialen Desintegration entgegenwirkt und hilft Vorurteile erlebend abzubauen. Ihren Stellenwert für das kulturelle Angebot im ländlichen wurde bereits ausführlich unter der Rubrik „Kultur im ländlichen Raum“ erläutert.
Um die ehrenamtlich Tätigen noch besser zu unterstützen empfiehlt die Enquete-Kommission im
Zuwendungs-, Gemeinnützigkeits- und Steuerrecht den Besonderheiten der Laienkultur und des
Brauchtums Rechnung zu tragen.
Das Mit- und Gegeneinander von Globalem und Lokalem, der so genannten „Glokalisierung“
(Robert Robertson), haben regionale Gebundenheit und Fragen von Identität einen hohen Stellenwert und gewinnen zunehmend an Bedeutung. Kultur schafft Identität und die kulturelle Zugehörigkeit wächst aus lokalen, regionalen, nationalen und europäischen Kontexten.
In diesem Kontext empfiehlt die Enquete-Kommission der Bundesregierung, in Umsetzung des
Übereinkommens der UNESCO zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen, einen Fonds zur Förderung von Laienkultur und Brauchtum mit Modellcharakter aufzu-
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legen, um der mit der UNESCO-Konvention eingegangenen Verpflichtung gerecht zu werden, die
kulturelle Vielfalt in Deutschland zu sichern und zu entwickeln.
Zu der Volks- und Laienkunst gehören auch die hier gelebten und überlieferten Regionalsprachen
und die -dialektkultur. Deutschland hat durch die Ratifizierung der europäischen Sprachen-Charta
1999 die Verpflichtung übernommen, Regional- oder Minderheitensprachen zu fördern.
Die Enquete-Kommission empfiehlt den Ländern, ausreichende Angebote für Erhalt und Pflege
von Regionalsprachen und -dialekten zu schaffen und die Zusammenarbeit zwischen Kulturvereinigungen der Regionalsprechen und -dialektkultur mit hochdeutschen Kulturträgern zu fördern.
Laienkultur ist auch für die Integration und auch die interkulturelle Kulturvermittlung unverzichtbar. Dafür spricht, dass vor allem Chöre und Tanzgruppen steigende Mitgliederzahlen von Menschen mit Migrationshintergrund verzeichnen.
Die Laienkultur ist auch für die kulturelle Bildung ein unverzichtbarer Partner. Im Hinblick auf die
immer größere Anzahl von Schulen mit Ganztagsangeboten können zum Beispiel Chöre, Theatergruppen und Kulturvereine wichtige Angebote für eine kreative Unterrichtsgestaltung machen.
Diese Angebote schaffen auch ein frühes Kennenlernen von in der Region herrschenden Sprachen,
Bräuchen und kulturellen Traditionen. Damit wird nicht nur für eine sinnvolle Betätigung der
Schülerinnen und Schüler gesorgt, sondern es kann auf dieser Ebene auch eine Integration verschiedener Ethnien und Generationen erfolgen. Dabei ist zu beachten, dass die in den Schulen tätigen Vereine nicht zu „kostenneutralen Hilfslehrern“ gemacht werden, sondern Schule und kulturelle Anbieter gemeinsam zugunsten einer kulturellen Bildung kooperieren. Geeignete Programme wie „Kultur macht Schule“ sollten daher weitergeführt und ausgebaut werden.
Die Enquete-Kommission empfiehlt den Ländern, in der vorschulischen und schulischen Bildung
ein größeres Augenmerk auf die Ausbildung der ästhetisch-kulturellen Fähigkeiten und die Aneignung lokaler und regionaler Kulturtraditionen in Kooperation mit Trägern von Laienkultur und
Brauchtum zu legen. Außerdem wird den Ländern, Kommunen, Gemeindeverbänden und Schulen
empfohlen, beim Ausbau des Ganztagesschulangebots die Durchlässigkeit zu gewährleisten, um
am Nachmittag auch Angebote von Trägern der Laienkultur und des Brauchtums außerhalb der
Schule wahrnehmen zu können.
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Kultur- und Kreativwirtschaft:
Eine Herausforderung für
Wirtschafts- und Kulturpolitik
Siegmund Ehrmann MdB
Ein Schwerpunkthema der Enquete-Kommission bildete die Kultur- und Kreativwirtschaft. Geleitet
haben uns dabei insbesondere fünf Fragen:
•
Was wird unter dem Begriff Kultur- und Kreativwirtschaft verstanden?
•
Wie ist das Verhältnis zwischen öffentlich geförderter und erwerbswirtschaftlicher Kultur?
•
Welche wirtschaftliche und beschäftigungspolitische Relevanz hat die Kultur- und Kreativwirtschaft?
•
Wie lässt sich Kultur- und Kreativwirtschaft fördern?
•
Handelt es sich um eine wirtschaftpolitische oder um eine kulturpolitische Aufgabe?
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Zum Begriff Kultur- und Kreativwirtschaft
In Deutschland gibt es weder einen bundesweiten Kultur- und Kreativwirtschaftsbericht noch
eine einheitliche Definition von Kultur- bzw. Kreativwirtschaft. Neun von sechzehn Bundesländern
haben bisher Kulturwirtschaftsberichte herausgeben, dabei aber jeweils unterschiedliche Begriffe
zugrunde gelegt. Die Begriffsunklarheit ist zum einen auf unterschiedliche Datenquellen zurückzuführen. Die amtlichen Statistiken bilden viele Unternehmen der Kultur- und Kreativwirtschaft
nicht hinreichend ab. Daher werden häufig zusätzliche unterschiedliche nicht-amtliche Statistiken
von Fachverbänden und Interessensvertretungen hinzugezogen. Einige Länder stellen eigene
Branchenumfragen an und beziehen diese in ihre Kulturwirtschaftsberichte ein. Für die Schwierigkeiten, zuverlässige Datenquellen zu erhalten, müssen Lösungen gefunden werden. Die Enquetekommission unterbreitet hierzu Anregungen.
Abgrenzungsprobleme treten aber vor allem deshalb auf, weil unterschiedliche Ansichten über die
Zugehörigkeit von Wirtschaftszweigen und Teilbranchen zur Kultur- bzw. Kreativwirtschaft bestehen. Manche zählen z. B. die Designbranche und die Computerspielindustrie zur Kultur- und
Kreativwirtschaft, andere lassen diese Wirtschaftszweige außen vor und beziehen dafür Werbeagenturen ein.
Schließlich ist die Rolle der öffentlich geförderten Kultur strittig. In den meisten Kultur- und Kreativwirtschaftsberichten der Länder werden nur die erwerbswirtschaftlichen Zweige aufgeführt.
Hamburg und Hessen stellen beispielsweise auch die wirtschaftliche Betätigung öffentlicher Kultureinrichtungen in ihren Kultur- und Kreativwirtschaftsberichten dar. Aber auch die von der EU
beauftrage Studie „The Economy of Culture in Europe“ (2006), bezieht die öffentliche Kulturförderung ein.
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Obwohl es durchaus gute Gründe gibt, auch öffentliche Kulturförderung in einen Kultur- und
Kreativwirtschaftsbericht einzubeziehen, konnten wir uns in der Enquete-Kommission nicht darauf verständigen, weil befürchtet wurde, dass damit die Grenzen zwischen öffentlicher Kulturförderung und der ausschließlich dem Markt überlassenen Kulturbranchen verschwimmen könnten. Die Kommission schlägt daher der Bundesregierung vor, einen Kultur- und Kreativwirtschaftsbericht zu erstellen, der nur die Unternehmen aufführt, die mit Kunst und Kultur erwerbswirtschaftlich, d. h. gewinnorientiert arbeiten. Wir empfehlen das Begriffspaar Kultur- und Kreativwirtschaft, dem elf Wirtschaftszweige zugeordnet sind. Zur Kulturwirtschaft zählen Musik- und
Theaterwirtschaft, Verlagswesen, Kunstmarkt, Filmwirtschaft, Rundfunkwirtschaft, Architektur
und Designwirtschaft. Die Kreativwirtschaft umfasst die Wirtschaftszweige Werbung und Software/Games-Industrie .
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Wirtschaftliche und arbeitsmarktpolitische
Bedeutung
Neben den neun Kulturwirtschaftsberichten der Länder unterstreicht insbesondere die bereits
angesprochen EU-Studie die arbeitsmarktpolitische und ökonomische Relevanz der Kultur- und
Kreativwirtschaft. Die Ergebnisse sind beeindruckend: 2003 waren in der Kultur- und Kreativwirtschaft europaweit ca. 6 Millionen Menschen beschäftigt. Der Umsatz betrug im gleichen Jahr
rund 654 Milliarden Euro (2,6 Prozent des BIP).
Auf Deutschland bezogen belegen die Daten des Arbeitskreises Kulturstatistik eine Bruttowertschöpfung der Kultur- und Kreativwirtschaft für das Jahr 2004 in Höhe von rund 58 Milliarden
Euro (2,6 Prozent des BIP). Im Vergleich zu anderen Branchen liegt sie damit zwischen der
Automobilindustrie (64 Milliarden) und der Chemischen Industrie (46 Milliarden) Die Gesamtzahl
der im Kultursektor Erwerbstätigen liegt bei ca. 800.000. Das entspricht in etwa der Zahl der im
Kreditgewerbe Beschäftigten. Allein zwischen 1990 und 2004 hat sich die Zahl im Kultursektor um
ca. 200.000 Personen erhöht; Tendenz steigend!
Diese positiven Zahlen der Kultur- und Kreativwirtschaft sind trügerisch. Zwischen 2000 und 2004
ging der Umsatz der Kultur- und Kreativwirtschaft in Deutschland zurück. Gleichzeitig stieg die
Anzahl der künstlerisch Kreativen. Zwangsläufige Folge: Die Einkommen der in diesen Feldern Tätigen sinken. Gelingt es nicht, die Einkommenssituation zu verbessern, liegt in diesem geschilderten Fall eine große sozialpolitische Herausforderung.
Für die Kultur- und Kreativwirtschaft charakteristisch ist die große Anzahl von Klein- und Kleinstunternehmen. Nur ein geringer Teil sind Mittel- und Großunternehmen mit abhängig beschäftigten Arbeitnehmern. Häufig handelt es sich bei Kultur- und Kreativwirtschaftsunternehmern um
Selbständige, die in wirtschaftlich ungesicherten Verhältnissen leben.
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Aus diesen Befunden leitet sich die Frage ab, was staatliche Kultur- und Wirtschaftspolitik flankierend tun können, um den noch nicht in den Märkten Etablierten Perspektiven zu bieten und zweifelsohne vorhandene Wachstumspotenziale zu fördern.
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Förderinstrumente
Bisher gibt es für Kultur- und Kreativunternehmen keine speziellen Förderprogramme des Bundes. Erstmals sieht der Bundeshaushalt 2008 einen Förderansatz von 5 Millionen Euro beim
Bundeswirtschaftsminister vor (eine fraglos durch die Enquetearbeit forcierte Etatisierung). Wie
sieht das im internationalen Vergleich aus?
Großbritannien verfügt in der EU über die meisten Erfahrungen mit der Kultur- und Kreativwirtschaft und zeigt, wie es gehen kann. Die Labor-Regierung hat bereits 1997 die „Creative-IndustriesTask-Force“ gebildet, deren Aufgabe es ist, die ökonomischen Potenziale der „Creative Industries“
zu ermitteln und in einem jährlichen Bericht darzulegen. Daraus wurden gemeinsam mit privaten
Akteuren, Ziele der Kreativwirtschaft definiert, gewichtet und mit den zuständigen politischen
Ressorts bestimmt. Das Kulturministerium kümmert sich z. B. um eine generelle Musikförderung
wie Live-Auftrittsmöglichkeiten für Künstler, das Wirtschaftsministerium sorgt für die Umsetzung
von Urheberrechtsrichtlinien und stellt Beratungsleistungen für Kreativwirtschaftsunternehmen
zur Verfügung. Das Finanzministerium nimmt bei steuerlichen Fragen besondere Rücksicht auf
den kreativen Bereich und das Bildungsministerium verankert in den Lehrplänen frühkindliche kulturelle Bildung und vermittelt die Bedeutung von geistigem Eigentum.
Das Beispiel zeigt, dass es nicht darum geht, neue Apparate zu etablieren. Im Zentrum steht vielmehr das Bemühen, vorhandene Kompetenzen und Ressourcen zu verknüpfen und auf eine vorrangige politische Gestaltungsaufgabe auszurichten, die kultur-, bildungs- und wirtschaftspolitische Dimensionen hat. Diese vernetzte Politik führt die Briten zu bemerkenswerten Ergebnissen.
Die „Creative Industries“ wächst jährlich um ca. 5 Prozent und damit doppelt so schnell wie die
Gesamtwirtschaft. Nicht nur das ist beachtlich: Indem die kulturelle Bildung von klein auf mit im
Fokus steht, kann Großbritannien in Zukunft weiter auf eine stabile Nachfrage kultureller Güter
bauen.
Das Beispiel zeigt auch, dass politische Instrumente auf die gesamte kulturelle Wertschöpfungskette vom Ursprung (z. B. Künstlerförderung) bis zur ökonomischen Verwertung abgestimmt werden müssen. In einem ersten Schritt müssen die bestehenden wirtschaftspolitischen Förderinstrumente wie Kapitalzugang, Existenzförderung, Instrumente der Außenwirtschaftsförderung etc. für
Unternehmen der Kultur- und Kreativwirtschaft zugänglich gemacht werden. Diese sind bisher
häufig aufgrund ihrer Größe und des kulturellen Kerns ihrer Tätigkeit durch das wirtschaftspolitische „Raster“ gefallen. Dabei geht es primär um vergleichsweise kleine Summen, die für die
Kleinst- und Kleinbetriebe notwendig sind, um sie zu stabilisieren. Daneben müssen wir uns der
wirtschaftlichen und sozialen Lage der Kreativen annehmen.
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Neben den Instrumenten des Bundes und der Länder bietet sich auch kommunale Wirtschaftsförderung an. Auf kommunaler Ebene kann die Förderung von Kunst und Kultur den Boden für die
Ansiedelung von Unternehmen der Kultur und Kreativwirtschaft bereiten. Üblicherweise konzentrierte sich die Diskussion über den „Standortfaktor Kultur“ auf die Frage, wie Betriebe angesiedelt
werden können. Die Kommission hat den „Standortfaktor Kultur“ von einer anderen Seite beleuchtet. Wir haben uns gefragt, welche Standortbedingungen Unternehmen der Kultur- und Kreativwirtschaft bevorzugen. Vorliegende Untersuchungen deuten darauf hin, dass die Quantität und
Qualität der kulturellen Angebote einer Region die Entwicklung der Kultur- und Kreativwirtschaft
stark beeinflussen. In Städten und Regionen, die eine ausgeprägte kulturelle Infrastruktur vorweisen können, befinden sich viele Kultur- und Kreativwirtschaftsunternehmen. Damit unterstützt
die öffentliche Kulturförderung direkt und indirekt das erwerbswirtschaftliche Wachstum dieser
Branche.
Deutliche Impulse gehen aber auch von „kreativen Räumlichkeiten“ aus. Kultur- und Kreativwirtschaftsunternehmen lassen sich in so genannten „Transition Spaces“ nieder. Das sind brache Industrieflächen, Eisenbahn- oder Hafenanlagen aber auch ungenutzte und vernachlässigte Wohngebiete. Sofern diese Räume in der Stadtentwicklung nicht anderen Zielen vorbehalten, die rechtlichen und tatsächlichen Nutzungsmöglichkeiten gegeben sind, sollten die Kommunen diese Räume zu günstigen Konditionen Unternehmen der Kultur- und Kreativwirtschaft zumindest vorübergehend überlassen.
Bestehende Institutionen der Wirtschaftsförderung oder kommunalen Wohnungsgesellschaften
könnten diese Räume verwalten und vermieten und damit das Feld „kulturwirtschaftliche Gründerzentren“ forciert beschreiten.
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Politische Verantwortung
Unstrittig ist, dass auch in Deutschland das Thema Kultur- und Kreativwirtschaft in der Politik
einen höheren Stellenwert erhalten muss. Eine absolut trennscharfe Ressortdefinition für Kulturund Kreativwirtschaft ist aufgrund der unterschiedlichen Ansätze der Kultur- und Wirtschaftsförderung äußerst schwierig. Eine ausschließliche Orientierung an der Kulturförderung einerseits
oder nur an der Wirtschaftsförderung andererseits wird den Prozessen der künstlerisch-kreativen
Wertschöpfung nicht gerecht.
Die Kommission ist daher überzeugt, dass eine effektive politische Gestaltung ressortübergreifend
angelegt sein muss und schlägt vor, eine koordinierende Funktion einzurichten, die aus den
einzelnen Ressorts Kompetenzen zusammenführt und diese für die Akteure der Kultur- und Kreativwirtschaft zugänglich macht. Ob diese Funktion im Kulturressort oder im Wirtschaftsressort
anzusiedeln ist, obliegt der Organisationshoheit der Bundesregierung. Entsprechend sollten die
parlamentarischen Zuständigkeiten festgelegt werden. Hier bietet es sich an, dem „Unterausschuss
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Neue Medien“ die Aufgabe zu übertragen, die Entscheidungsprozesse für die Kultur- und Kreativwirtschaft zu koordinieren. Damit wird auch im Parlament dem Charakter dieser Querschnittsaufgabe Rechnung getragen.
Ich bin zuversichtlich, dass mit einer aktiven Gestaltung der Rahmenbedingungen sich die Potenziale der Kultur- und Kreativwirtschaft positiv entwickeln werden.
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Kultur ist bunt und vielfältig.
Migranten- und Interkultur,
interkulturelle Bildung und
soziokulturelle Zentren
Monika Griefahn MdB
Einführung
Deutschland ist ein Einwanderungsland. Diese Tatsache, nicht nur von konservativer Seite
viele Jahre ignoriert, prägt unser gesellschaftliches Zusammenleben. Wir leben in einer multi-kulturellen, keiner Multikulti-Gesellschaft – ebenfalls eine Tatsache, deren Anerkennung unbedingt
notwendig ist, um damit umgehen zu können. Gemeint ist damit das Zusammenleben und Nebeneinander authentischer Kulturen. Dieses Zusammenleben wird geprägt durch unterschiedliche
Lebenswelten, Wertvorstellungen, Traditionen, Bräuche und Lebensweisen. Migration und eine
damit verbundene wachsende kulturelle Vielfalt beinhaltet viele Chancen und Möglichkeiten, aber
auch Konflikte für unsere Gesellschaft, insgesamt jedoch die Aufgabe, kulturelle Unterschiede gegenseitig anzuerkennen und zu respektieren. Die kulturelle Differenzierung innerhalb unserer Gesellschaft findet statt und sollte positiv genutzt werden. Das gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass die kulturelle und ethnische Pluralität Deutschlands noch zunehmen wird.
Integration und Zuwanderung sind eine Aufgabe von nationaler Bedeutung. Deutschland blickt
mittlerweile auf eine lange Geschichte der Integration zurück, verbunden mit vielen gelungenen
Beispielen. Heute leben knapp 15 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland,
fast ein Fünftel der Bevölkerung. Mehr als die Hälfte von ihnen besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit und viele sind in Deutschland geboren.
Migration, kulturelle Einflüsse und Vielfalt verändern unsere Gesellschaft. Die oft zitierte kulturelle Vielfalt Europas entwickelte sich insgesamt aus vielen kulturellen Einflüssen und dem Austausch der Kulturen untereinander. Kulturen können als ein durchlässiges und veränderbares Netz
von kulturellen Einflüssen verstanden werden. Es kommt daher darauf an, dass diese Einflüsse positiv im Sinne der damit verbundenen Vorteile verarbeitet, Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede wahrgenommen werden. Kultureller Austausch und Verständigung können dazu beitragen, Brücken zwischen Kulturen zu schlagen, das Verständnis füreinander zu schaffen, um zu einem besseren Miteinander zu kommen. Dabei kann Kultur einen wichtigen Beitrag zu einer Integration leisten, die nicht als Assimilation verstanden wird, wohl aber als eine Anforderung und
Erwartung an den Staat, die aufnehmende Gesellschaft und jeden Zuwanderer. Integration ist
auch durch kulturelle und religiöse Bindungen und Wertorientierungen geprägt, die es in ihrer Unterschiedlichkeit auch anzuerkennen gilt, um sie integrieren zu können. Grundlage des Zusammenlebens können dabei nur das Grundgesetz und die bestehende Rechtsordnung sein. Die Vergewisserung darüber und die Akzeptanz dieser Grundlage sind zwingende Voraussetzungen eines
friedlichen Zusammenlebens.
Die Darstellung der Geschichte der Migration als Teil unserer gemeinsamen Geschichte wäre ein
kleiner, aber notwendiger Schritt der Anerkennung und des Respekts für die kulturelle Bereicherung, die unsere Gesellschaft dadurch erfahren hat. Zugleich wäre sie eine Form der Sichtbarmachung und Bewahrung dieses Teils unseres kulturellen Erbes.
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Vor diesem Hintergrund hat sich die Enquete-Kommission "Kultur in Deutschland" mit dem Thema Interkultur, Kultur von Migranten, Interkultureller Bildung und interkultureller Kompetenz beschäftigt. Im folgenden Beitrag sollen zum einen die Ergebnisse dieser Beratungen (Problembeschreibung und Handlungsempfehlungen) aus der Sicht der Arbeitsgruppe der SPD-Bundestagsfraktion in der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ näher beleuchtet, aber auch darüber
hinausgehende Aspekte angesprochen werden. Zugleich beschäftigt sich der Beitrag mit soziokulturellen Zentren, die ebenfalls Gegenstand der Beratungen der Enquete-Kommission "Kultur in
Deutschland" waren. Es gilt, beide Bereiche gegeneinander abzugrenzen, denn sie besitzen jeder
für sich seine Berechtigung und damit auch den Anspruch auf eine gezielte und passende Förderung. Interkultur und die Kultur von Migranten gelten nicht als Teil der Soziokultur, gleichwohl es
viele Berührungspunkte gibt. Unter „Interkultur“ soll laut dem Abschlussbericht der Enquete-Kommission "Kultur in Deutschland" der Austausch zwischen und das Miteinander von Kulturen, der
wechselseitige Dialog und Lernprozess verstanden werden. "Migrantenkulturen“ umfassen die soziokulturellen Ausdrucksformen und kollektiven Identitäten, die sich in den unterschiedlichen
Milieus der Migranten entwickelt haben und durch neue Erfahrungen und den Austausch mit dem
Aufnahmekontext weiterentwickeln. „Interkulturelle Bildung“ beinhaltet die Bildungsansätze für
den pädagogischen Umgang mit der Vielfalt der Kulturen und ihrer interkulturellen Vermittlung
und Verständigung.
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Die Bedeutung von Interkultur und
Migrantenkultur sowie die Rolle von Kultur im
Rahmen von Integration
Oftmals beschränkt sich die Diskussion über Zuwanderung und Integration auf so wichtige
Themen, wie Aufenthaltsrecht, Arbeits- und Sozialpolitik sowie Bildung. Dabei sollte die kulturelle
Dimension von Migration und die damit verbundenen Konsequenzen und Aspekte mehr Berücksichtigung finden. Migrantinnen und Migranten leisten einen wertvollen kulturellen Beitrag in
unserer Gesellschaft, bereichern unser Zusammenleben und bilden mit ihrer kulturellen Identität
einen Teil unseres Selbstverständnisses als Kulturnation. Durch die Begegnung von Menschen
unterschiedlicher sozialer und kultureller Herkunft beeinflussen sich Kulturen gegenseitig und
verändern sich – ein Prozess, der durch Globalisierung wesentlich beschleunigt wird. Dabei bilden
sich auch neue Kulturen heraus, ermöglichen die Begegnung vieler Kulturen wie auch von Menschen unterschiedlicher sozialer Herkunft. Es entwickeln sich neue transkulturelle Identitäten ("hybride Kulturen/Identitäten"), die im Übrigen auch die kulturellen Entwicklungen der Herkunftsländer beeinflussen. Es ist deshalb sehr wichtig, dass kulturelle Gesichtspunkte in der Integrationspolitik eine stärkere Berücksichtigung finden. Aufgabe des Staates ist es, den Erhalt dieser kulturellen Identitäten zu ermöglichen und jedem die Freiheit zu geben, selbstbestimmt seine kulturelle Identität zu erhalten und zu entwickeln, gleichzeitig jedoch den verfassungsrechtlichen Rahmen unseres Zusammenlebens immer wieder deutlich zu machen.
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Auch der Vorstand der Kulturpolitischen Gesellschaft hat die Bedeutung der Kultur im Rahmen
von Integration in seiner Erklärung "Die Zukunft der Kulturpolitik ist interkulturell" hervorgehoben: "Kulturarbeit und Kulturpolitik kommen bei der gesellschaftlichen Integration eine bedeutende Rolle zu. Im Feld von Kunst und Kultur kann besser als in vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen die Akzeptanz kultureller Vielfalt und die Anerkennung des Anderen praktisch
werden". Kunst und Kultur tragen dazu bei und befähigen uns, mit einer nicht nur kulturell komplexen Welt umzugehen, Differenzen nicht nur auszuhalten, sondern auch aufzufangen und zu
integrieren. Kunst und Kultur sind geradezu beispielhaft dafür, vielfältige Interpretations- und
Handlungszugänge zu nutzen. Deshalb sind Kunsterfahrung und ästhetisches Denken besonders
geeignet, die komplexe und vielfältige Wirklichkeit zu erfassen. „Und geistige Offenheit ist die
elementare Voraussetzung eines friedlichen Zusammenlebens in multikulturellen, von Migranten
geprägten Gesellschaften.“ meint die ehemalige Kulturstaatsministerin Dr. Christina Weiss dazu.
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Migranten- und Interkultur sowie interkulturelle
Bildung in den Beratungen der Enquete-Kommission
"Kultur in Deutschland"
Die Themen Interkultur, Migrantenkultur und interkulturelle Bildung fanden innerhalb der
Arbeit der Enquete-Kommission "Kultur in Deutschland" besondere Berücksichtigung und besitzen
innerhalb des Berichts auch Querschnittscharakter. Im Rahmen der Beratungen der Enquete-Kommission war man sich darin einig, dass die kulturelle Vielfalt Deutschlands durch die Zuwanderung von Menschen bereichert wird, sie ein Teil der Kultur in Deutschland ist. Eine Kulturpolitik
und ein interkultureller Dialog müssen die Bedeutung von Inter- und Migrantenkultur für den Prozess der Integration berücksichtigen und können somit einen wichtigen Beitrag zu sozialer und gesellschaftlicher Teilhabe leisten. Neben dem grundlegenden Beitrag von Kultur zu Integration wurden im Einzelnen folgende Themen untersucht: Sprache, Kulturbetriebe, künstlerische Projekte,
Medien.
Der Erwerb der Sprache des Aufnahmelandes ist eine zentrale Bedingung für die Integration. Gerade in der zweiten und dritten Generation von Menschen mit Migrationshintergrund müssen bestehende Integrationsdefizite nicht zuletzt auf eine mangelhafte Beherrschung der deutschen
Sprache zurückgeführt werden. Im kulturellen Bereich bestehen vielfältige Möglichkeiten, das
Erlernen von Sprache zu unterstützen und zu befördern. Beispielsweise kann dies durch Theaterprojekte und Singen an Schulen, Volkshochschulen und Jugendkultureinrichtungen erfolgen. Darüber hinaus wird in der Literatur ein sehr feinfühliger Umgang mit Sprache geübt, weshalb hier
viele Formen des Umgangs und der Begegnung unterschiedlicher Sprachenwelten gefunden werden können.
Kulturbetriebe, d. h. Theater, Museen, Orchester, Bibliotheken u. a. sind Orte künstlerischer Produktion. Sie stehen im Mittelpunkt der interkulturellen Auseinandersetzung und Vermittlung. Das
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bezieht sich nicht nur auf Inhalte und Angebote, sondern auch auf die Mitwirkenden. In den Ensembles der großen Häuser und Orchester spielen Menschen aus aller Welt zwar eine zentrale
Rolle, jedoch spiegelt sich die Realität der Einwanderungsgesellschaft im Repertoire und in der
Publikumsstruktur oft nicht wieder. Demgegenüber ist die Mitwirkung von Migrantinnen und
Migranten in soziokulturellen Zentren, Kulturvereinen und kleineren Theater- und Chorgruppen
eine häufig zu beobachtende Selbstverständlichkeit. Diese Diskrepanz zwischen der sog. Hochkultur und der Sozio- und Breitenkultur muss zu einem erheblichen Maß auf unterschiedliche soziale Zugangsvoraussetzungen, insbesondere im Bildungsbereich, zurückgeführt werden. Das
stellt für die Sozialdemokratie eine ganz besondere Herausforderung dar, zumal in den 70er und
80er Jahren mit dem Konzept "Kultur für alle - Kultur von allen" gerade diese sozialen
Beschränkungen des Zugangs zu Kultur überwunden werden sollten. Die Kultureinrichtungen
tragen eine grundlegende Verantwortung, sich interkulturell stärker zu öffnen. Die Verantwortung
dafür liegt bei den jeweiligen Trägern dieser Einrichtungen auf Bundes-, Landes- und kommunaler
Ebene.
Um diesen Defiziten grundsätzlich und strukturell besser begegnen zu können, bedarf es der Enquete-Kommission zufolge einer umfassenderen Kenntnis der Aktivitäten von Kulturbetrieben im
Bereich der Inter- und Migrantenkultur sowie der interkulturellen Bildung. Eine detaillierte Erhebung ist notwendig, um besser einschätzen zu können, welche Akteure welche Angebote in welchen Strukturen unterbreiten und welche Finanzierungs- und Förderungsmodelle existieren oder
notwendig sind, um Inter- und Migrantenkultur zielgenau fördern zu können.
Kunst, Musik und Tanz in künstlerischen Projekten fördern Kommunikation und gegenseitiges
Verständnis. So unterstützen und fördern sie den sozialen Integrationsprozess, ermöglichen durch
künstlerische Betätigung die Neugierde auf und das Verständnis für andere Kulturen. „Im gemeinsamen Musizieren, Singen, Theaterspielen erfahren sich Kinder und Jugendliche als zusammengehörige Gemeinschaft. Sie können die Vielfalt ihrer unterschiedlichen Kulturen und Ausdrucksformen kennen lernen und entwickeln gegenseitigen Respekt. Dabei nutzt Kultur die Möglichkeit
des ‚Social Impact of The Arts‘, der gerade Menschen, die in der verbalen Kommunikation möglicherweise eingeschränkt oder benachteiligt sind, selbstbewusster und ausdrucksfähiger machen
kann …“ heißt es dazu im Abschlussbericht der Enquete-Kommission "Kultur in Deutschland". Orte
und Formen, an denen und innerhalb derer solche interkulturellen Begegnungen möglich sind, gilt
es zu fördern bzw. größtenteils erst zu schaffen.
Medien, d. h. Rundfunk, Internet und Printmedien, besitzen eine wichtige Rolle bei der Integration
von ethnischen Minderheiten. Insbesondere an den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, aber auch
alle anderen Medienanbieter sollte einen Integrationsauftrag in dem Sinne formuliert werden,
dass inhaltliche Angebote an Migrantinnen und Migranten in der ganzen Bandbreite des Lebens in
unserer Gesellschaft Berücksichtigung finden. Um die damit verbundenen hohen Anforderungen
an eine differenzierte Darstellung der vielfältigen individuellen, sozialen, religiösen und kulturellen Erfahrungen der verschiedenen Migrantengruppen zu erfüllen, ist es notwendig, im Personal der Medien die Repräsentanz von Migrantinnen und Migranten zu verbessern. Zudem müssen
ihre Beteiligung in den Gremien des öffentlich-rechtlichen Rundfunks verbessert und Nachwuchsmitarbeiter gefördert werden, denen die mit der medialen Integration verbundenen Fragestellungen vertraut sind. Gleichzeitig sollten in der Ausbildung von Journalistinnen und Journalisten
interkulturelle Kompetenzen stärker geschult werden.
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Als Bestandteil von kultureller Bildung beinhaltet interkulturelle Bildung nach dem Verständnis
der Enquete-Kommission ganz spezifische Ansätze der kulturellen Bildung, dem pädagogischen
Umgang mit der Vielfalt der Kulturen und der Praxis der Vermittlung kulturspezifischer Kenntnisse und der Verständigung darüber. Interkulturelle Bildung setzt die Kenntnis der eigenen Kultur
voraus und fördert den Zugang zu anderen kulturellen Welten. Zu berücksichtigen ist dabei auch
die Tatsache, dass die mangelnde Selbstvergewisserung in Deutschland von vielen Migrantinnen
und Migranten oftmals als Defizit empfunden wird, wie die Enquete-Kommission feststellt. Interkulturelle Bildung ist deshalb eine gesamtgesellschaftliche Querschnittsaufgabe. Vor diesem
Hintergrund sollte interkulturelle Bildung als Teil der kulturellen Bildung und Schwerpunktthema
von Bildung in allen Lebensphasen in den Bildungsplänen der Länder verankert und das Ganztagsschulprogramm als Chance genutzt werden, interkulturellen Austausch und Bildung durch entsprechende Angebote zu ermöglichen. Zudem müssen diejenigen, die vermitteln, entsprechend
geschult werden. Das bedeutet, dass einerseits mehr Menschen mit Migrationshintergrund für
den Lehrerberuf gewonnen, gleichzeitig aber die interkulturellen Kompetenzen in der Lehrerausbildung zu verstärken sind.
Interkulturelle Kompetenz befähigt dazu, sensibel und respektvoll mit anderen Kulturen umzugehen und schult die Bereitschaft, kulturelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu erkennen, zu
akzeptieren und eine kulturelle Übersetzung dieser Unterschiede zum Nutzen einer besseren Verständigung untereinander zu erreichen. Dies gilt insbesondere dann, wenn sich Kulturen auch
zunehmend gegeneinander abgrenzen und sogar abschotten. Interkulturelle Kompetenz ist eine
Schlüsselkompetenz in einer zunehmend international verflochtenen Welt und sollte ein Ziel der
allgemeinen Bildung sein.
……………………………………………………………………………………………………………….
Zur Bedeutung soziokultureller Zentren
Soziokulturelle Zentren bilden einen wichtigen Teil unserer Kulturlandschaft. Sie sind vielfältig
und bieten ein breites Angebot für alle, Kultur nicht nur zu rezipieren, sondern auch selbst künstlerisch tätig zu sein. Soziokulturelle Zentren besitzen eine gesamtgesellschaftliche Relevanz und
stellen gerade im ländlichen Raum oftmals das einzige kulturelle Angebot dar. Soziokulturelle Zentren zeichnen sich durch eine besondere Nähe und Bezug zu den tatsächlichen Interessen und Bedürfnissen sowohl der Bürger als auch der Künstler aus. Gleichzeitig verfolgen sie keinen festgelegten kulturellen Wertekanon und sind für verschiedene Ansätze kultureller und künstlerischer
Praxis offen, können interessante Sichtweisen und Ansätze unkompliziert und innovativ in neue
kulturelle Angebote überführen und umsetzen.
In der Bestandsaufnahme der Enquete-Kommission wurde festgestellt, dass soziokulturelle Zentren nicht, wie oftmals angenommen, auf soziale Randgruppen beschränkte, sondern gesellschaftlich breit akzeptierte Kultureinrichtungen sind, die im weitesten Sinne sozialintegrativ und interkulturell arbeiten. Insofern gelten die Soziokultur und mit ihr die soziokulturellen Zentren mittler-
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weile als eigenständiges und legitimes kulturelles Aufgabenfeld neben anderen, wie der Hochkultur
oder der Breiten- oder Bürgerkultur. Gerade im Hinblick auf die demografische Entwicklung im
ländlichen Raum und die Zunahme des Anteils von Menschen mit Migrationshintergrund in vielen
Städten nehmen soziokulturelle Zentren eine Vorreiterrolle dabei ein, mit gezielten Angebote
neue kulturelle Impulse zu setzen und daraus entstehende Ansprüche zu erfüllen. Zur soziokulturellen Praxis gehören u. a.:
•
Stadtteilkulturarbeit, Kulturarbeit mit Jugendlichen, Erwachsenen, Senioren, aber auch Familien- und Randgruppen;
•
Bildungs- und politische Arbeit, kulturpädagogische Arbeit;
•
Kulturelle Selbsthilfe: Die Überlassung von Räumlichkeiten und technischer Infrastruktur (beispielsweise Proben- und Produktionsräume für Musik- und Theatergruppen, KünstlerInnen,
Ateliers usw.) für Vereine, Gruppen und Initiativen in eigener Verantwortung.
Herausforderungen und Problemfeldern für Soziokulturelle Zentren bestehen vor allem in der
internen Professionalisierung, um die begrenzten öffentlichen Mittel effizient einzusetzen und die
soziokulturellen Einrichtungen leistungsfähig zu machen. Dafür bedarf es praxisnaher Aus- und
Weiterbildungsmodelle, um dem Qualifizierungsbedarf gerecht zu werden. Für die in Soziokulturellen Zentren Beschäftigen sind vielfältige und komplexe Anforderungen verbunden, die neben
dem Wissen um Kunstsparten und verschiedene Vermittlungsformen auch Kenntnisse von Finanzierungsformen und Eigenerwirtschaftung umfassen. Auch der Erfolg soziokultureller Zentren
bringt Probleme mit sich. Während einerseits die kommunale Förderung sinkt und deshalb die eigenen Einnahmen gesteigert werden müssen – was auch gelingt – verändert sich andererseits die
Qualität der Kulturangebote. Es droht eine Verharmlosung und Kommerzialisierung, die der Intention soziokultureller Arbeit teilweise widerspricht. Oft finden die besonderen Anforderungen und
Eigenheiten der Arbeit soziokultureller Zentren keine Berücksichtigung in den Förderkriterien der
Länder und Kommunen, die den größten Teil (mehr als 80 Prozent) der finanziellen Förderung
leisten.
Zudem bestehen in vielen soziokulturellen Zentren Beschäftigungsprobleme. Viele Einrichtungen
in überwiegend freier Trägerschaft können nur zu einem geringen Teil fest angestellte Mitarbeiter
beschäftigen und sind auf das Engagement freier bzw. ehrenamtlicher Mitarbeiter, Praktikanten
und Zivildienstleistender angewiesen. Die Bedeutung ehrenamtlicher Arbeit in Soziokulturellen
Zentren entspricht ihrer Entstehungsgeschichte. Sie wird jedoch dann zum Problem, wenn ehrenamtliche Stellen Hauptamtliche ersetzen. Die wenigen festen Stellen sind oftmals unterdurchschnittlich bezahlt und schlecht rentenabgesichert. Daraus resultiert das Problem, dass langfristige Planungen nicht möglich sind und der Prozess einer Professionalisierung nur beschränkt eingeleitet bzw. die Qualität der Arbeit soziokultureller Zentren langfristig sogar als gefährdet bezeichnet werden kann.
Die Enquete-Kommission hat folgende Handlungsempfehlungen formuliert, die in erster Linie an
die Kommunen und Länder als Hauptträger soziokultureller Arbeit, aber auch die Bundesregierung
im Rahmen ihrer gesamtstaatlichen kulturellen Verantwortung gerichtet sind:
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•
Soziokulturelle Zentren sollten als eigenständiger Förderbereich in der Kulturpolitik anerkannt
werden.
•
In einem von der Bundesregierung geförderten Pilotprojekt sollte die Arbeit und Wirkungsweise Soziokultureller Zentren evaluiert werden, um daraus entsprechende Rückschlüsse für
spezifische Anforderungen für Aus- und Weiterbildung sowohl im universitären, als auch
nichtstaatlichen Bereich zu ziehen.
•
Damit verbunden ist der Vorschlag an die Länder, in einem Modellprojekt mit dem Bundesministerium für Bildung und Forschung Programme zur gezielten Ausbildung von Nachwuchs
nach dem Vorbild von Volontariaten in Kooperation zwischen Hochschulen und soziokulturellen Zentren zu entwickeln.
•
Die Zusammenarbeit zwischen Schulen und soziokulturellen Zentren sollte im Rahmen der
Ganztagsschulen, befördert durch die zuständigen Landesministerien, verbessert werden.
•
Die institutionelle Förderung der Bundesvereinigung Soziokultureller Zentren als Dach- und
Fachverband aus Mitteln des Bundes sollte beibehalten und im Falle des Fonds Soziokultur um
25 Prozent erhöht werden, um insbesondere im interkulturellen Bereich verstärkt Projekte zu
fördern.
……………………………………………………………………………………………………………….
Konkrete Handlungsfelder in der Kulturpolitik
Die dargestellten Sachstands- und Problembeschreibungen und die daraus gefolgerten Handlungsempfehlungen der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ lassen eines deutlich werden: Es bedarf eines neuen Ansatzes der Kulturpolitik, einer „Neuen Kulturpolitik“, die insbesondere den Herausforderungen im Bereich der Integration in zweierlei Hinsicht gerecht wird: Zum
einen bezogen auf die Berücksichtigung des Beitrags von Menschen mit Migrationshintergrund
zur Kultur in Deutschland. Zum zweiten bezogen auf eine Integrationspolitik, die neben den ethnisch-kulturellen Fragen, auch die damit verbundenen Problemstellungen in den Blick nimmt. Eine
solche Integrationspolitik muss nicht nur ressortübergreifend gedacht werden, sondern vor allem
die Chancen und Möglichkeiten der Anerkennung kultureller Differenzen berücksichtigen. Sie hat
ein friedliches und kulturell bereichertes Zusammenleben in gegenseitigem Respekt zum Ziel.
Um eine kultur- und auch bildungspolitische Gesamtstrategie erarbeiten zu können, ist eine umfangreiche Bestandsaufnahme von Maßnahmen und Projekten bei Bund, Ländern und Kommunen
erforderlich. Durch entsprechende Analysen, Evaluierung und der Entwicklung von Qualitätsstandards ließe sich eine Systematisierung und gezielte Stärkung erreichen. Nicht zuletzt bedarf es erheblicher finanzieller Mittel, um notwendige Maßnahmen umzusetzen.
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(Inter-)kulturelle Bildung
Kulturelle Bildung wird im Rahmen des Nationalen Integrationsplans als Schlüsselfaktor für
Integration bezeichnet. Die gute Kenntnis der deutschen Sprache ist Voraussetzung für Teilhabe.
Kinder und Jugendlichen sollten auch andere Sprachen erlernen können, um sich auf diese Weise
mit einer anderen Kultur bekannt zu machen. Neben dem Spracherwerb sollten weitere Formen
genutzt werden, sich künstlerisch und spielerisch mit anderen Kulturen auseinander zu setzen:
Tanzen, malen, musizieren, Theater spielen, Geschichten erzählen, lesen, schreiben usw. Kindertagesstätten sollten Kinder ein entsprechendes interkulturelles Angebot bereitstellen. Die Möglichkeiten der Ganztagsschule, Formen und Ansätze der interkulturellen Bildung in den Lehrplänen
und auch außerschulisch zu verankern, sollten genutzt werden. Die künstlerischen Fächer Kunst,
Musik und Darstellendes Spiel sowie Unterricht in Film, Literatur und Tanz verbessern das interkulturelle Lernen. Die Erweiterung dieser Angebote lässt sich auch durch die Kooperation mit
außerschulischen Partnern sowie inter- und soziokulturellen Angeboten und Aktivitäten realisieren.
……………………………………………………………………………………………………………….
Interkulturelle Angebote und Öffnung
– Berücksichtigung in der Förderung
Kultur- und Bildungsangebote müssen sich für neue Formen der Kulturen öffnen und die
bestehende kulturelle Vielfalt in Deutschland widerspiegeln. Damit verbunden ist die notwendige
Öffnung für Menschen mit Migrationshintergrund insbesondere in den Gremien, Kuratorien und
Jurys für Kunst- und Kulturförderung und ihre Vertretung auf allen Ebenen der Kultureinrichtungen vorzusehen. Migrantinnen und Migranten müssen zu einem festen Bestandteil im Selbstverständnis der Kultureinrichtungen, ihren inhaltlichen Programmen, den Gremien und dem Personal
werden. Es sollte aber auch in ihrem eigenen Interesse liegen, die Möglichkeiten und Angebote zu
nutzen. Neben den bereits als interkulturell offen zu bezeichnenden Volkshochschulen, Bibliotheken, soziokulturellen Zentren und Migrantenvereinen sollten sich auch Theater, Oper, Museen und
die Musik- und Jugendkunstschulen interkulturell öffnen. Sie werden ihrer sozialen Mitverantwortung, die ihnen nicht nur aus der Förderung durch öffentliche Mittel erwächst, nur gerecht,
indem sie den interkulturellen Dialog als Schwerpunktaufgabe verstehen. Der Zugang kann beispielsweise durch den kostengünstigen oder –freien Zugang von Kindern und Jugendlichen zu
Theatern, Oper und Museen gefördert werden. Auszeichnungen und Preise können beispielhafte
Projekte unterstützen und ihre Erfahrungen in der interkulturellen Arbeit auch für andere praktisch nutzbar machen. Zudem könnte ein bundesweiter „Fonds Interkultur“ gezielt Projekte auf
allen Ebenen fördern, die interkulturell angelegt nachhaltig und langfristig arbeiten.
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Interkulturelle Vernetzung und Zusammenarbeit
Durch die Förderung und Vernetzung von Programmen und Projekten, die auf die Entwicklung
integrativer Projekte der Kulturarbeit ausgerichtet sind, ließe sich dieser Aspekt verstärken. Eine
Evaluation von best-practice-Beispielen, möglicherweise aus Mitteln des Bundes gefördert, könnte
Erkenntnisse für die zukünftige Konzeption solcher Projekte bringen. Verantwortung des Bundes
sollte es sein, eine großflächige Vernetzung bestehender Projekte und mit interkultureller Arbeit
beschäftigter Kultureinrichtungen auf der Ebene der Kommunen, der Länder und des Bundes
herzustellen. Durch die Erfassung in einer Datenbank könnte dies gefördert werden. Ziel sollte
eine weitreichende Vernetzung zwischen kulturellen Anbietern wie Kultureinrichtungen und
Künstlern einerseits und kulturellen Nachfragern wie Schulen und Kindertageseinrichtungen andererseits sein.
……………………………………………………………………………………………………………….
Interkulturelle Kompetenz
Um den interkulturellen Dialog und Austausch zu einem Schwerpunktthema von Kultureinrichtungen zu machen, bedarf es entsprechend ausgebildeter Mitarbeiter. Durch gezielte Aus- und
Weiterbildung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, den Lehrerinnen und Lehrern und den
Erzieherinnen und Erziehern kann eine Professionalisierung der interkulturellen Vermittlung und
Kompetenz erreicht werden. Erfordernisse interkultureller Kompetenz sollten in den Leitbildern
und Organisationszielen von Kultureinrichtungen verankert werden. Selbstverpflichtungen und
Qualitätsstandards und der Austausch mit anderen Einrichtungen, um vorbildhafte Beispiele
bekannt zu machen, bieten Handlungsansätze.
……………………………………………………………………………………………………………….
Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik
Die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik als originäre Zuständigkeit auf Bundesebene sollte
ebenfalls genutzt werden, um durch eine Intensivierung des kulturellen Austauschs zur Integration durch Kultur beizutragen. Dieser Austausch kann sich auf alle Ebenen unserer Gesellschaft
beziehen und sowohl die großen Mittlerorganisationen wie Goethe-Institut und DAAD, aber auch
die Kulturinstitutionen, Verbände, Stiftungen und Netzwerke bis hin zu den Städtepartnerschaften und einzelnen Musikvereinen umfassen. Die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik eröffnet
nicht nur die Möglichkeit, das Bild Deutschlands in der Welt in allen kulturellen Facetten, Formen
und Farben darzustellen, sondern auch ein Fenster der Vielfalt der Kulturen in Deutschland zu
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öffnen. Als ganz wesentlich ist in diesem Zusammenhang die Intensivierung der verschiedenen
Formen des kulturellen Jugendaustauschs zu erachten. Der Prozess der europäischen Integration
bietet hier vielfältige Ansatzpunkte und Möglichkeiten die bestehende Offenheit und Begeisterung der jungen Menschen am Kennenlernen anderer Kulturen und des Austauschs miteinander
zu befördern.
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Integrationsfunktion der Medien
Medien kommt im Prozess der Integration eine hohe Verantwortung zu. Sie prägen die
öffentliche Wahrnehmung ihrer Nutzer und leisten einen wichtigen integrationspolitischen
Beitrag. Insofern sollte Medienpolitik die Medien in ihrem Bemühen unterstützen, innerhalb ihres
Angebots und ihrer Formate integrative Aspekte stärker herauszuarbeiten und die bestehende
kulturelle Vielfalt entsprechend abzubilden. Dies kann auf unterschiedlichen Wegen erfolgen, zu
denen die gezielte Personalgewinnung, -entwicklung, und –einsatz von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit Migrationshintergrund in den Medien, die Schulung interkultureller Kompetenzen,
das Angebot von Spracherwerbsformen in den Medien (bspw. Deutschsprachkurse der Deutschen
Welle in den Heimatländern von Migranten) und die Entwicklung von Medienkompetenz für Menschen mit Migrationshintergrund gehören. Fremdsprachige, sog. Ethno-Medien, stellen eine nicht
zu unterschätzende Ergänzung zur Nutzung hiesiger Medien dar und werden von Migrantinnen
und Migranten als besonders glaubwürdig wahrgenommen. Verstärkte Kooperationen deutscher
mit den Medien der Herkunftsländer von Migranten (bspw. der Türkei) können diese Potenziale
nutzen. Multilinguale Programme bilden nicht nur die bestehende gesellschaftliche Heterogenität
ab, sondern bilden eine Brücke zwischen den verschiedenen Ethnien in der Gesellschaft.
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Ausblick und die Beschreibung einer neuen
Kulturpolitik der Anerkennung
Die interkulturelle Dimension von Kulturpolitik muss stärker berücksichtigt werden. Dafür
müssen entsprechende Konzepte und auch Etats geschaffen werden. Zugleich braucht es eine
neue kulturpolitische Leitidee, mit der Kultur und Kulturpolitik ihrer ganz expliziten gesellschaftlichen Rolle gerecht werden kann. Angesichts der in den letzten Jahren vor allem auf kommunaler
Ebene notwendig gewordenen Abwehr gegen Sparauflagen gilt es, diese wesentlichen gesellschaftspolitischen Legitimationsgründe für die Förderung von Kunst und Kultur deutlicher hervorzuheben. Bereits seit einiger Zeit versucht man, Interkultur und Migrantenkultur in der Kulturpolitik zu berücksichtigen. Jedoch fehlt bisher ein stimmiges Konzept, was genau Kulturpolitik
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damit will. Erst, wenn diese Frage beantwortet ist, können Strukturen zur Förderung, konkrete
Handlungsfeldern und Zuständigkeiten definiert werden.
Zu einem Konzept einer neuen Kulturpolitik der Anerkennung - das heißt der Anerkennung des
Anderen und der kulturellen Unterschiede - gehört auch, dass man nicht länger von einem zu stark
geschlossenen, auf die nationale Dimension fixierten Kulturbegriff ausgehen sollte. Es ist vielmehr
notwendig, Kultur als ein Ergebnis des Einflusses von vielen Kulturen, von vielfältigen Einflüssen
und Vernetzungen sowie beständigen Veränderungen zu verstehen. Damit zu verbinden sind als
allgemeinverbindlich anerkannte Regeln des Konfliktaustauschs und der Verständigung, zu denen
die unbedingt notwendige Akzeptanz unseres Wertesystems gehört, das sich in Verfassung und
Gesetzen widerspiegelt. Eine Kultur der Anerkennung ist das Gegenteil zu einer Kultur der
Abgrenzung und Intoleranz, die verengt ist auf das Konzept einer übergeordneten und überlegenen kulturellen Identität, einer Leitkultur. Mit einem Verständnis für die kulturellen Unterschiede,
dem Kennenlernen anderer kultureller Ausdrucksweisen und dem Respekt vor anderen Kulturen
auf allen Seiten kann aus dem Fremden das vertraute Andere werden. Gemeint ist damit nicht ein
bloßes Nebeneinander, dass neben der Beliebigkeit bis hin zu Desinteresse und der Entwicklung
von Parallelgesellschaften führen kann. Eine Kultur der Anerkennung erfordert entsprechende Anstrengungen der Einwanderungsgesellschaft insgesamt.
Aus diesem Ansatz einer neuen Kulturpolitik der Anerkennung ergeben sich vielfältige Schlussfolgerungen. Förderkonzepte und –kriterien müssen neu definiert, Prioritäten neu gesetzt werden.
Der beidseitige Zugang zur Kultur ist Voraussetzung, d. h. kulturelle Minderheiten müssen gleichberechtigt am kulturellen Leben teilhaben und ihren kulturellen Beitrag einbringen können.
Genauso muss der Mehrheitsgesellschaft die Begegnung mit anderen Kulturen ermöglicht werden.
Wir verfügen über eine sehr plurale kulturelle Identität. Damit geht ein Grundverständnis von
kultureller Teilhabe einher, die als Voraussetzung einer Kultur der Anerkennung gelten muss. Eine
Kultur der Anerkennung fördert das gegenseitige Verständnis, ermöglicht die Teilhabe aller an der
Gesellschaft, befördert den Austausch und Dialog innerhalb der Gesellschaft und ist zutiefst sozialdemokratische Politik.
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Förderbereiche von
besonderer Bedeutung
Dr. Ingrun Drechsler
Kulturförderung in den neuen Ländern und in
Berlin
„Die neuen Länder haben eine alte und vielfältige Kulturlandschaft in das vereinigte Deutschland eingebracht. In den Jahren der Teilung waren Kunst und Kultur – trotz unterschiedlicher gesellschaftlicher Rahmenbedingungen – für die Menschen in Ost und West eine wichtige Brücke
zueinander und verbindendes Element einer fortbestehenden, deutschen Kulturnation“, steht im
Bericht der Enquete-Kommission.
Der Einigungsvertrag formuliert in Artikel 35 (2), die kulturelle Substanz in dem in Artikel 3 genannten Gebiet darf keinen Schaden nehmen, obwohl die Bestimmung dessen, was der kulturellen Substanz zuzuordnen ist, nicht festgelegt wurde, wirkte diese Formulierung wie ein Leitsatz.
Weiter wird im Einigungsvertrag formuliert:
Die Erfüllung der kulturellen Aufgaben einschließlich ihrer Finanzierung ist zu sichern,
wobei Schutz und Förderung von Kultur und Kunst den neuen Ländern und Kommunen
entsprechend der Zuständigkeitsverteilung des Grundgesetzes obliegen. (3)
Die bisher zentral geleiteten kulturellen Einrichtungen gehen in die Trägerschaft der
Länder oder Kommunen über, in denen sie gelegen sind. Eine Mitfinanzierung durch
den Bund wird in Ausnahmefällen, insbesondere im Land Berlin, nicht ausgeschlossen.
(4)
Zum Ausgleich der Auswirkungen der Teilung Deutschlands kann der Bund
übergangsweise zur Förderung der kulturellen Infrastruktur einzelne kulturelle
Maßnahmen und Einrichtungen in dem in Artikel 3 genannten Gebiet mitfinanzieren.
(7)
Grund genug für die Enquete-Kommission vierzehn Jahre nach der Formulierung des Einigungsvertrages die Frage zu stellen, wie die damaligen Festlegungen gewirkt haben. Ausdrücklich hat
die Kommission in ihren Beratungen wert darauf gelegt deutlich zu machen, dass sie sich nicht an
einer allgemeinen politischen Debatte und den Auseinandersetzungen zum Thema Entwicklung
in den neuen Ländern beteiligen will. Der Schwerpunk der Enquete-Kommission sollte darauf gerichtet sein mit den ihr zu Gebote stehenden Mitteln der Frage nachzugehen, wie die Förderpolitik
des Bundes gewirkt hat und ob die Regelungen im Einigungsvertrag ( Art.35 (7) verbraucht sind.
Unstrittig war die Feststellung, dass vor dem Hintergrund einer schwachen Wirtschaftskraft, geringerer Einkommen und Vermögen die Kulturfinanzierung in den neuen Ländern nicht aus
eigener Kraft geschultert werden konnte. Nie in Frage gestellt wurde dabei die gemeinsame Verantwortung des Bundes und der Länder. Diesem Anliegen trug der Einigungsvertrag mit seinem
Artikel 35 in besonderer Weise Rechnung. Auch sah sich der Bund für das Erbe Preussens in der
Verantwortung. Im Einigungsvertrag heißt es dazu:
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Die durch die Nachkriegsereignisse getrennten Teile der ehemals staatlichen preußischen Sammlungen (unter anderem Staatliche Museen, Staatsbibliotheken, Geheimes
Staatsarchiv, Iberoamerikanisches Institut, Staatliches Institut für Musikforschung) sind
in Berlin wieder zusammenzuführen. Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz übernimmt
die vorläufige Trägerschaft. Auch für die künftige Regelung ist eine umfassende
Trägerschaft für die ehemals staatlichen preußischen Sammlungen in Berlin zu finden.
(5)
Basierend auf Art.35 (7) des EV legte der Bund in den ersten Jahren nach der Vereinigung verschiedene Programme wie z. B. das Infrastrukturprogramm, das Substanzerhaltungsprogramm und das
Denkmalschutzprogramm auf. Diese Programme wurden 1993 durch die damalige Regierungskoalition nach Aussagen aller Akteure in den Ländern viel zu früh beendet. Mit dem nach 1995 aufgelegten Denkmalschutzprogramm „Dach und Fach“ und der Finanzierung der „Leuchttürme“ konnten noch einmal national bedeutsame Einrichtungen seitens des Bundes mitfinanziert und vor
dem Verfall gerettet werden.
Nach der Regierungsübernahme von rot-grün wurde ab 1998 das Programm „Kultur in den neuen
Länden“ wirksam. Obwohl gerade die Zusammenarbeit von Bund, Ländern und Kommunen beispielhaft war, erwies sich die Diskontinuität der Förderung in den ersten Jahren als ein Defizit.
Unbestritten bleibt die Feststellung, dass die schwache Wirtschaft und die anhaltende Abwanderung junger Menschen dazu führen, dass die kulturelle Substanz im Osten Deutschlands dauerhaft nicht gesichert werden kann. Deshalb bedarf es auch künftig einer nachhaltigen Förderpraxis
seitens des Bundes.
Die Enquete-Kommission schlägt deshalb vor, aus den Zuweisungen des Bundes aus dem Solidarpakt II (52 Milliarden Euro bis 2019) 2 Prozent, das wären ca. 64 Millionen Euro jährlich, zielgenau
für Kulturprojekte und Kultureinrichtungen auszuweisen.
Ebenso schlägt die Enquete-Kommission vor, die verschiedenen Fördermöglichkeiten des Bundes
mit denen des EU-Strukturfonds besser zu verknüpfen, um die kulturelle Vielfalt zu erhalten.
Übereinstimmung bestand insgesamt in der Feststellung, dass die Förderung der Kultur in den
neuen Ländern zwingend notwendig war und auch noch Jahre notwendig bleiben wird, um die
kulturelle Substanz in den ostdeutschen Bundesländern zu erhalten und die kulturelle Infrastruktur zu entwickeln. Wichtig war dabei ebenso die Feststellung, dass der Bund auch eine besondere Verantwortung für Berlin hat.
Unstrittig war dabei die Feststellung, dass Berlin zwar nicht Deutschlands Kulturhauptstadt ist, da
es viele Kulturmetropolen in unserem Lande gibt, sich aber so wie andere Hauptstädte auch wesentlich über seine Kultur definiert. Hierbei kann Berlin auf einen großen kulturellen Reichtum
verweisen. Die Fülle historischer Zeugnisse, die günstige geopolitische Lage und die Wahrnehmung der repräsentativen Funktion führen dazu, dass die Stadt zum Anziehungspunkt gerade
junger Künstlerinnen und Künstler wird. Das reichhaltige kulturelle und architektonische Erbe, das
einen Teil der gesamtstaatlichen Repräsentation in der Stadt ausmacht, bedarf der finanziellen
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Förderung und Unterstützung des Bundes. Dieser Verpflichtung ist der Bund nachgekommen,
indem er im Rahmen eines Hauptstadtkulturvertrages wichtige kulturelle Einrichtungen entweder
ganz in die finanzielle Obhut des Bundes überführt hat oder Einrichtungen finanziell dauerhaft
unterstützt. Ein weiterer Beleg für die Verantwortung, die der Bund Berlin gegenüber wahrnimmt,
ist die jährliche Zuweisung von 10 Millionen Euro im Rahmen des Hauptstadtkulturfonds. Mit der
Einfügung einer Berlin-Klausel in Artikel 22 Abs. 1 GG wurde eindeutig bekundet, dass die Repräsentation in der Hauptstadt Berlin Aufgabe des Bundes ist. Da diese Repräsentation stark über die
Kultur erfolgt, steht der Bund hier auch in der Förderpflicht. Unberührt davon bleibt die Forderung
an das Land Berlin, seinen Anteil ebenfalls zu tragen.
Die Enquete-Kommission empfiehlt in diesem Zusammenhang dem Deutschen Bundestag, bei
der Erarbeitung der bundesgesetzlichen Regelung zu Artikel 22 Abs. 1 GG „Kultur als einen wesentlichen Teil der Repräsentation des Gesamtstaates zu normieren und die sich daraus ergebenden
Zuständigkeiten und Verpflichtungen des Bundes bei der Kulturförderung in der Hauptstadt
festzulegen“.
Zu den Empfehlungen der Enquete-Kommission gehört auch, den Hauptstadtkulturfonds als eine
unverzichtbare kulturelle Förderung zu stärken.
Ihrer kulturellen Attraktivität verdankt Berlin, dass die Stadt als Magnet auf Künstlerinnen und
Künstler wirkt, als Metropole an Bedeutung gewinnt und sich für Touristen immer mehr zu einem
attraktiven Reiseziel entwickelt.
……………………………………………………………………………………………………………….
Förderung der UNESCO – Welterbestätten
Der Einsetzungsbeschluss der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ beginnt mit dem
Satz: „Die deutsche Geschichte mit all ihren Wechselfällen hat eine einzigartige schützenswerte
Kulturlandschaft hervorgebracht …..“.
In Deutschland umfasst die Liste der UNESCO-Welterbestätten allein 32 herausragende Stätten
unseres nationalen Kulturerbes.
Aachener Dom <Datum der Aufnahme: 1978>, Speyerer Dom (1981), Würzburger Residenz und
Hofgarten (1981), Wallfahrtskirche „Die Wies“ (1983), Schlösser Augustusburg und Falkenlust in
Brühl (1984), Dom und Michaeliskirche in Hildesheim (1985), Römische Baudenkmäler, Dom und
Liebfrauenkirche von Trier (1986), Hansestadt Lübeck (1987), Schlösser und Parks von Potsdam und
Berlin (1990), Kloster Lorsch (1991), Bergwerk Rammelsberg und Altstadt von Goslar (1992), Altstadt
von Bamberg (1993), Klosteranlage Maulbronn (1993), Stiftskirche, Schloss und Altstadt von
Quedlinburg (1994), Völklinger Hütte (1994), Grube Messel (1995), Kölner Dom (1996), Das Bauhaus
und seine Stätten in Weimar und Dessau (1996), Luthergedenkstätten in Eisleben und Wittenberg
(1996), Klassisches Weimar (1998), Wartburg (1999), Museumsinsel (1999), Gartenreich Dessau-
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Wörlitz (2000), Klosterinsel Reichenau (2000), Industriekomplex Zeche Zollverein in Essen (2001),
Altstädte von Stralsund und Wismar (2002), Oberes Mittelrheintal (2002), Dresdner Elbtal (2004),
Rathaus und Roland in Bremen (2004), Muskauer Park (2004), Grenzen des Römischen Reiches:
Obergermanisch-raetischer Limes (2005), Altstadt von Regensburg mit Stadtamhof (2006).
Diese Welterbestätten umfassen Kirchen, Dome, Altstadtkerne, Industrieanlagen, Museumsareale,
Gartenanlagen, Schlösser und Kulturlandschaften. Nicht nur die Stätten selbst weisen eine große
Unterschiedlichkeit auf, auch ihre Trägerformen sind höchst verschieden: von öffentlicher Hand
über Kirchen bis zu Stiftungen.
Deshalb war es selbstverständlich, dass die Enquete-Kommission sich dieses Themas intensiv
angenommen hat. Die in der Arbeitsgruppe Welterbestätten arbeitenden Mitglieder der EnqueteKommission verständigten sich darauf, Stellungnahmen der wichtigsten Institutionen, die mit
dem Welterbe befasst sind, einzuholen. Darüber hinaus sollte eine Anhörung in der Welterbestätte „Zeche Zollverein“ durchgeführt werden und ein Gutachten in Auftrag gegeben werden.
1972 wurde das „UNESCO-Übereinkommen zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt“
formuliert. Die UNESCO wurde als Instrument der Vereinten Nationen eingerichtet, um die
Bemühungen um eine friedliche Welt kulturpolitisch zu begleiten und zu befördern. Dazu dient
auch das Programm der Welterbestätten. Es ist das erfolgreichste und bedeutsamste Programm
der UNESCO, das seit 1972 von über 180 Staaten unterzeichnet wurde. Die Liste der
Welterbestätten umfasst gegenwärtig ungefähr 850 Kultur- und Naturstätten von „außergewöhnlichem und universellem Wert“. Diese Stätten sollen gemeinsamer Besitz aller Menschen
sein. Hierin liegt die friedensstiftende Idee, die durch Kultur gestärkt werden soll. 1977 wurde
durch Bundesgesetz das UNESCO-Übereinkommen ratifiziert. 32 Kultur- und Naturdenkmale aus
Deutschland sind seit der Ratifizierung auf die Liste gesetzt worden und stehen damit unter dem
Schutz der UNESCO. Die Aufnahme in die UNESCO – Welterbeliste ist für die ausgewählten Städte
und Regionen nicht nur eine große Auszeichnung sondern auch eine Verpflichtung. Natürlich gibt
es feste Kriterien, die zu erfüllen sind, um als Denkmal auf die Liste der Welterbestätten zu
gelangen. Wichtig ist dabei, einen Erhaltungsplan zu entwickeln, denn mit der Zuerkennung des
Status einer Welterbestätte verpflichtet sich dessen Träger zum Schutz und damit zum Erhalt der
Stätte. Die Träger der meisten Welterbestätten setzen erhebliche finanzielle Mittel zum Erhalt und
zur Pflege der Stätten ein. Führt man sich vor Augen, wie unterschiedlich die Welterbestätten
strukturiert sind, fügt hinzu, dass Stätten manchmal länderübergreifend sind oder als Altstadtkerne viele Einzeldenkmale unterschiedlichster Träger umfassen, dann erahnt man, wie schwierig
sich eine Systematik nach Trägerschaft, Zuständigkeit und Förderung gestaltet. Hinzu kommt,
dass die moderne Stadtentwicklung, wie die Beispiele um den Kölner Dom und das Dresdner Elbtal
zeigen, im Spannungsverhältnis zum Schutz des Welterbes stehen. Es muss eine Balance gefunden werden zwischen der Chance, die für eine Region die Welterbestätten bieten und der Verpflichtung, die diese Stätten der Region auferlegen. Hier muss Rechtssicherheit geschaffen werden.
In diesen Fragen zu vermitteln und die Umsetzung der Welterbekonvention zu begleiten, bemüht
sich die Deutsche UNESCO-Kommission (DUK). Die DUK ist eine Mittlerorganisation des Auswärtigen Amtes und untersteht diesem. Die DUK scheint die am besten geeignetste Mittlerin und
Vertreterin der Belange der Welterbestätten zu sein. Mit ihrer Hilfe muss es gelingen, durch Managementpläne eine bestmögliche Vernetzung und Kooperation der Welterbestätten zu erreichen,
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um neue Finanzierungsmöglichkeiten zu erschließen. Zwar trägt der Bund zur Finanzierung der
Welterbestätten ebenso bei wie die Länder und Kommunen, die Finanzierung gestaltet sich aber
schwierig und die Finanzmittel reichen nicht aus. Vor allem in Ostdeutschland sind die Finanzvolumina so gering, dass die Kommunen ihren Anteil an der Finanzierung oft nicht übernehmen
können.
Aus der Analyse der Befragungen, der Anhörung und des Gutachtens hat die Enquete-Kommission
u. a. folgende Handlungsempfehlungen formuliert.
Die Enquete-Kommission empfiehlt der Bundesregierung:
•
ein Vertragsgesetz zur Umsetzung der UNESCO-Welterbekonvention in Abstimmung mit den
Ländern auf den gesetzgeberischen Weg zu bringen;
•
beim Staatsminister für Kultur und Medien das bestehende Referat für die Angelegenheiten
der deutschen UNESCO-Welterbestätten so auszustatten und mit Kompetenzen zu versehen,
dass die Aktivitäten der verschiedenen Bundesressorts koordiniert und abgestimmt werden
können und dass in Welterbe-Konfliktfällen eine qualifizierte Mediation angeboten werden
kann sowie die Zuweisung von Bundesmitteln an die Verpflichtung zur Teilnahme an einer
Mediation im Konfliktfall zu knüpfen;
•
das Sonderprogramm des Bundes zur Förderung des städtebaulichen Denkmalschutzes mit
seinen besonders günstigen Rahmenbedingungen der Kofinanzierung fortzuführen;
•
sich dafür einzusetzen, dass Bund und Länder die rechtlichen und finanziellen Voraussetzungen in ihrem Programm schaffen, in welchem die Deutsche Stiftung Denkmalschutz
den Kofinanzierungsanteil des Trägers in besonderen Fällen übernehmen kann. Die Deutsche
Stiftung Denkmalschutz muss für diesen denkmalpflegerischen Mehraufwand in Bezug auf
die deutschen Welterbestätten finanziell besser ausgestattet werden;
•
die nationale und internationale Vernetzung, zum Beispiel durch Partnerschaften und Patenschaften von Stätten gleichen Typs, projektbezogen durch Zuweisung von Bundesmitteln zu
fördern;
•
sich gegenüber der Europäischen Union dafür einzusetzen, dass diese bessere Förderungsmöglichkeiten für die europäischen Welterbestätten schafft;
•
eine Untersuchung in Auftrag zu geben, die die Möglichkeiten der Welterbestätten analysiert,
ihre Einnahmesituation nachhaltig zu verbessern;
•
sich bei den Ländern dafür einzusetzen, dass der Bildungsauftrag der Welterbestätten durch
engere Kooperation mit Schulen weiterentwicklelt und der Welterbegedanke im Unterricht
sowie in der außerschulischen kulturellen Bildung verankert wird;
•
sich gegenüber der Deutschen Bahn dafür einzusetzen, dass diese ein Interrail-Ticket einführt,
dass es Jugendlichen ermöglicht, europäische Welterbestätten preisgünstig zu besuchen;
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•
zur verbesserten nachhaltigen Nutzung des kulturtouristischen Potenzials der Welterbestätten dadurch beizutragen, dass sie auf eine intensivere Zusammenarbeit dieser mit der
Deutschen Zentrale für Tourismus (DZT) dringt (z. B. informative Broschüre über alle Welterbestätten im Sinne einer Welterbestraße/Welterbe-Routen);
•
sich in der Europäischen Union und gegenüber der Europäischen Kommission für die Einrichtung und Förderung einer Europäischen Weltkulturerbe-Stiftung einzusetzen.
Die Enquete-Kommission empfiehlt dem Deutschen Bundestag:
•
im Haushalt des Staatsministers für Kultur und Medien dem Schutzauftrag der Konvention
entsprechende finanzielle Mittel für die Förderung und Finanzierung der deutschen UNESCOWelterbestätten bereitzustellen;
Die Enquete-Kommission empfiehlt den Welterbestätten
•
sich Managementpläne zu geben und ihre Vernetzung untereinander zu verbessern. Es sollte
für jede Stätte ein Koordinator tätig werden, der intensiv mit den Denkmalbehörden, der
Deutschen UNESCO-Kommission, dem UNESCO-Welterbestätten e. V., der Deutschen Stiftung
Denkmalschutz und den übrigen deutschen Welterbestätten die Zusammenarbeit organisiert.
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Älter, weniger und bunter:
Auswirkungen des demographischen Wandels auf
die Kultur
Der demografische Wandel beschäftigt die Öffentlichkeit nicht erst seit der Veröffentlichung
des Berichts der Enquete-Kommission „Demografischer Wandel – Herausforderungen unserer älter werdenden Gesellschaft an den Einzelnen und die Politik“ im Jahre 2003.
Der Bericht, aber auch die in jüngster Zeit zahlreich erschienenen Publikationen zu dem Thema
gingen nicht der Frage nach, welche Auswirkungen der demografische Wandel auf die Kultur haben wird und wie die Kulturpolitik darauf reagieren sollte. Lediglich die Ständige Konferenz der
Kulturminister der Länder hat 2004 Empfehlungen zu den Auswirkungen des demografischen
Wandels auf die Kultur formuliert.
Deshalb war es zwingend erforderlich, dass die Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ sich
dieser Frage annahm. Die Enquete-Kommission hat sich in Gesprächen mit Experten und der
Hinzuziehung aktueller Analysen aus den Bundesländern einen hinreichenden Überblick verschafft.
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Veränderungen der Bevölkerungsstruktur, die anhaltend von der statistischen Norm abweichen,
bezeichnet man allgemein als demografischen Wandel. Die Ursachen sind mehrschichtig: Geburtenrückgang, steigende Lebenserwartung, Probleme am Ausbildungsmarkt, fehlende Arbeitsplätze. Eine Abwanderung nach „außen“ gab es in Deutschland in den letzten Jahrzehnten ständig, ohne dass gravierende Folgen zu verzeichnen waren. Als weitaus problematischer sind in
Deutschland die Folgen der Binnenwanderung anzusehen. Konnte die dramatische Wanderungsbewegung von Ost nach West bis 1961 in der DDR durch eine höhere Geburtenrate in ihren Folgen
noch etwas kaschiert werden, werden die Folgen für den demografischen Wandel in den neuen
Ländern durch die Transformationsprozesse nach 1990 dramatisch und als beispiellos angesehen.
Es wird von einem Bevölkerungsverlust von ca. 25 Prozent ausgegangen.
Auch wenn die Enquete-Kommission zur Kenntnis genommen hat, dass sich auch in Regionen wie
dem Ruhrgebiet, dem Saarland, dem Norden Schleswig-Holsteins und im Süden Niedersachsens
ein starker demografischer Wandel abzeichnet, entschied sich die Kommission dafür, beispielhaft
für den dramatischen Wandel in den neuen Ländern die Stadt Schwedt an der Oder auszuwählen
und dort eine Anhörung durchzuführen. Es wurde davon ausgegangen, dass hier gewonnene
Erfahrungen und Erkenntnisse zu Lösungsansätzen verdichtet werden können, die auch für andere
Regionen als gültig angesehen werden können.
Da aufgrund unserer föderalen Verfasstheit die Kommunen den Hauptanteil an den Kulturausgaben tragen, schlagen sich sinkende Einwohnerzahlen in zurückgehenden öffentlichen Einnahmen
sehr schnell nieder. Eine Folge könnte sein, Breite und Qualität der Kultureinrichtungen und damit
des Kulturangebots der geringeren Finanzkraft anzupassen. Dort, wo Kommunalpolitiker (mit
Unterstützung der Länder) es als Herausforderung betrachten, das kulturelle Angebot trotz Bevölkerungsrückgang zu erhalten und die Möglichkeiten der Stadt und Region anzupassen, zeigen die
Bemühungen durchaus Erfolge, wie das Beispiel Schwedt zeigte. Hierfür muss begriffen werden,
dass Kulturschaffende – also die Akteure selbst – ebenso stark vom demografischen Wandel
betroffen sind wie öffentliche und private Kultureinrichtungen und auch die vielfältigen Rezipienten. Gelingt es der Kulturpolitik hier Raum zu schaffen und Konzepte zu entwickeln, kann sie
durchaus zum Gestalter eines gesellschaftlichen (demografischen) Wandels werden. Als ein gelungenes Beispiel wurden langfristige, mit den Nachbarkommunen abgestimmte Kulturentwicklungspläne genannt. Ziel der Kulturentwicklungsplanung ist es, kulturelle Institutionen stärker,
kommunen-, regionen- und vielleicht auch länderübergreifend zu nutzen, um durch diese Form
der Zusammenarbeit lokale Bevölkerungsrückgänge zu kompensieren. Ein besonderer Schwerpunkt ist hier auch die gemeinsame Nutzung und Finanzierung von öffentlichen Gebäuden. (Wie
es der Stadt Schwedt gelungen ist, ihr uckermärkisches Theater zu einem kulturellen Zentrum zu
entwickeln, kann im Enquete-Bericht nachgelesen werden.)
Die Enquete-Kommission hat sich in ihren Kapiteln Lage und Strukturwandel der öffentlichen
Kulturförderung (u. a. Theater, Bibliotheken, Museen) der kulturellen Bildung, der Interkultur/Migrantenkulturen und zur Umlandfinanzierung immer auch der Frage der Auswirkung durch den
demografischen Wandel gestellt.
Kultur kann Ursachen der Arbeitslosigkeit ebenso wenig beseitigen, wie den demografischen
Wandel aufhalten. Aber Kultur ist in der Lage, den durch Demografie forcierten gesellschaftlichen
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Wandel zu gestalten und Identität zu stiften und kommunikative Räume zu schaffen, die die
gesellschaftliche Teilhabe aktiviert. Vor diesem Hintergrund empfiehlt die Enquete-Kommission
deshalb den betroffenen Ländern und Kommunen, sich mit den Auswirkungen des demografischen Wandels aktiv und intensiv auseinanderzusetzen, eine langfristige Kulturentwicklungsplanung zu initiieren und die Chancen dabei zu nutzen, verstärkt Künstlerinnen und Künstler sowie Aktive in der Kulturpolitik an diesem Prozess zu beteiligen.
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Staatsziel Kultur als Ausdruck
staatlicher Verantwortung für
Kunst und Kultur
Joachim Bühler
Eine der zentralen Handlungsempfehlungen der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“
ist die Forderung das Grundgesetz um ein Staatsziel Kultur zu erweitern. In ihrem Zwischenbericht
(BT-Drs. 15/5560) hat die Enquete-Kommission dem Deutschen Bundestag im Sommer 2005
empfohlen, das Grundgesetz um einen Artikel 20 b „Der Staat schützt und fördert die Kultur“ zu
ergänzen. Was hat die Kommission dazu bewogen?
Was ist eine Staatszielbestimmung und welche Auswirkungen hat sie für die kulturelle Infrastruktur in Deutschland? Werden kulturelle Aufgaben damit zur kommunalen Pflichtaufgabe? Handelt
es sich um einen staatlichen Eingriff in die Kunstfreiheit? Und schließlich welche gesellschaftspolitische Relevanz besitzt ein Staatsziel Kultur?
Die Kommission griff mit der Auseinandersetzung über eine Kulturstaatszielbestimmung eine Diskussion auf, die bereits seit Anfang der 1980er Jahre in unterschiedlicher Intensität geführt wird.
Unter der damaligen sozial-liberalen Bundesregierung wurde eine Sachverständigen-Kommission
einberufen, die in ihrem Schlussbericht dafür plädierte, den Schutz der Kultur als Staatszielbestimmung im Grundgesetz zu verankern. Nachdem der Gesetzgeber den Vorschlag nicht umgesetzt
hatte, geriet dieser aus dem Blickfeld der öffentlichen Diskussion und gewann erst nach der Wiedervereinigung erneut politische Relevanz. Die gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat, die in den Jahren 1992 und 1993 Verfassungsänderungen erarbeitete, beschäftigte sich daraufhin erneut mit einer kulturellen Staatszielbestimmung. Die SPD sprach sich damals für ein Kulturstaatsziel aus. Der von der SPD eingebrachte Antrag konnte sich allerdings aufgrund der damaligen Mehrheitsverhältnisse nicht durchsetzen. Der Gesetzgeber entschied sich
mit der Einführung von Artikel 20 a GG ausschließlich für den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen. 2002 wurde auch der Tierschutz in der Verfassung verankert. Der Schutz der geistigideellen Lebensgrundlage stößt hingegen auf Vorbehalte und konnte bisher keinen Einzug in das
Grundgesetz finden. Die Enquete-Kommission erörterte diese Vorbehalte unter anderem bei einer
öffentlichen Anhörung mit verschiedenen Staatsrechtlern.
Verfassungsrechtlich ist anzuführen, dass eine Staatszielbestimmung die Staatsgewalt auf die
Verfolgung eines bestimmten Ziels, in diesem Fall auf den Schutz und die Förderung von Kultur,
rechtsverbindlich festlegt. Sie bindet alle staatlichen Ebenen (Judikative, Exekutive und Legislative), nicht nur den Gesetzgeber. Staatzielbestimmungen verpflichten den Staat, sich mit einer Sache zu befassen, ohne zu bestimmen wie die Befassung konkret aussehen soll. Ein Staatziel schreibt
dem Staat nicht vor, wie er sich zu verhalten hat, sondern nur dass er sich mit dem Thema beschäftigen muss. Nicht wie, sondern ob Kultur grundsätzlich förderungswürdig und schützenswert ist, legt ein Kulturstaatziel fest.
Mit Ausnahmen von Sachsen, das mit dem Sächsischen Kulturraumgesetz Kultur zu einer
pflichtigen Aufgabe der Kommunen erklärt, ist Kultur eine freiwillige Selbstverwaltungsaufgabe
der Kommunen. Auf den ersten Blick ändert sich an diesem Rechtszustand, auch mit einem Kulturstaatsziel im Grundgesetz, nichts. Grundsätzlich können mit einem Staatsziel kulturelle Aufgaben
nicht zur Pflichtaufgabe der Kommunen erklärt werden. Kommunale Pflichtaufgaben regeln Gemeindeordnungen der Länder und nicht der Bund.
Auf den zweiten Blick zeigt sich jedoch, dass durch ein Staatsziel Kultur nachhaltig politische Akzente gesetzt werden. Ein Staatsziel Kultur kann das berühmte Zünglein an der Waage sein, wenn
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es darum geht, kulturelle Einrichtung zu erhalten oder neue Projekte anzustoßen. Der Verfassungsrang wird damit zu einem gewichtigen Argument bei haushaltspolitischen Zielkonflikten.
Bei der Entscheidung ob z. B. im kommunalen Bereich ein Straßenausbau auf Kosten der kulturellen Infrastruktur erfolgen soll, würde das durch die kulturelle Staatszielbestimmung begründete
Abwägungsgebot greifen. Ferner sind kulturpolitische Entscheidungen stark durch öffentliche
Debatten geprägt. Ein Staatsziel Kultur gibt kulturellen Projekten ein zusätzliches kulturpolitisches
Argument und stärkt damit die Position aller, die sich kulturpolitisch engagieren.
Im Unterschied zu Grundrechten begründen Staatzielbestimmungen keine einklagbaren Rechte
der Bürgerinnen und Bürger, mit der etwa die geplante Schließung eines Theaters abgewendet
werden kann. Allerdings können im Rahmen eines so genannten Normenkontrollverfahrens der
Deutsche Bundestag, die Bundes- oder eine Landesregierung sowie das Bundesverfassungsgericht
bestehende Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüfen lassen. Ferner würden die Belange
der Kultur bei Gerichtsentscheidungen durch eine Staatszielbestimmung gestärkt. Die Erfahrungen aus den Staatszielbestimmungen Tier- und Umweltschutz bestätigen dies. Viele Urteile gegen
Tierquälerei wurden mit Rückbezug auf Artikel 20 a GG begründet. Auch der Umweltschutz muss,
seitdem er Verfassungsrang genießt, z. B. bei städtebaulichen Maßnahmen verstärkt beachtet
werden. Mit einem Kulturstaatsziel müssten auch kulturelle Anliegen stärker berücksichtigt werden. Wie wichtig das sein kann, verdeutlicht nicht nur der Streit um das Dresdner Elbtal.
Kritiker einer Staatszielbestimmung haben in der Anhörung der Enquete-Kommission eingeworfen, dass eine kulturelle Staatszielbestimmung überflüssig sei, weil das Bundesverfassungsgericht
aus Artikel 5 GG ableitet, dass der Staat Kultur zu schützen und zu fördern habe. Eine erneute Nennung im Grundgesetz ist nach Meinung der Kritiker daher nicht nötig. Diesem „Überflüssigkeitsargument“ kann mit dem Einwand begegnet werden, dass es in der Natur der Sache liegt, dass sich
aus Grundrechten sehr wohl auch Staatsziele begründen lassen. Die Sozialbindung des Eigentums
(Artikel 14 Abs.2 GG) ist z. B. ein Teil des Sozialstaatsgebots. Trotzdem würde niemand auf die Idee
kommen, dass deutlich umfassendere Sozialstaatsprinzip aus Artikel 20 GG zu streichen, nur weil
es aus Artikel 14 GG destillierbar ist.
Ein weiterer juristischer Kritikpunkt ist der vermeintlich vage Begriff von „Kultur“. Gegner der kulturellen Staatzielbestimmung verweisen auf den unbestimmten Kulturbegriff und halten diesen
als Verfassungsnorm für zu unklar und unberechenbar. Die unterschiedlichen Kulturbegriffe seien
so umfassend, dass eine sinnvolle Abgrenzung zu anderen Lebensbereichen nicht möglich ist.
Dieser Einwand ist durchaus plausibel, aber letztendlich nicht stichhaltig. Im öffentlich-rechtlichen Schrifttum besteht weitgehend Einigkeit, dass Kultur ein Sammelbegriff für bestimmte Tätigkeiten geistig-schöpferischer Arbeit ist. Dazu gehört Wissenschaft, Bildung und Kunst. Alle drei
Begriffe sind hinreichend aufgearbeitete Rechtsbegriffe und damit justiziabel. Der Kritikpunkt
eines zu unbestimmten Kulturbegriffs ist im Ergebnis nicht überzeugend.
Wie weit die Debatte geführt wird, zeigt auch die Befürchtung vereinzelter Skeptiker, ein Staatsziel gefährde die Kunstfreiheit. Schutz und Förderung von Kunst und Kultur sind nicht gleichzusetzen mit einer Staatskunst im Sinne einer staatlichen Definitionshoheit über Kunst und Kultur.
Das ist unvereinbar mit dem Wesen einer demokratischen Gesellschaft. Art. 5 GG garantiert die
Freiheit von Kunst und Kultur, auch ein Staatsziel Kultur würde daran nichts ändern. Es gibt zwar
auch in demokratischen Regierungsformen Staatskunst, die bezieht sich allerdings auf Zeichen
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und Symbole, welche den Gesamtstaat repräsentieren sollen. Dazu zählt z. B. die Deutsche Flagge,
die Nationalhymne oder auch die Architektur von Regierungsgebäuden.
Auch eine Verzerrung der Kompetenzordnung zwischen Bund, Ländern und Kommunen wird es
nicht geben. Eine Kompetenzverschiebung entspricht allerdings nicht der Idee einer Staatszielbestimmung. Staatszielbestimmungen richtet sich grundsätzlich an alle staatlichen Einrichtungen.
Die Verpflichtung gilt sowohl für den Bund als auch für die Ländereinrichtungen oder die kommunalen Institutionen. Eine kulturelle Staatszielbestimmung begründet keine Kompetenzverschiebung zu Gunsten des Bundes. Eine Kompetenzverschiebung ist auch deshalb nicht möglich, weil
fast alle Landesverfassungen dem Schutz und der Förderung von Kultur Verfassungsrang einräumen. Auch die Europäische Union bekennt sich mit Artikel 151 des EG-Vertrages zum Schutz
und zur Förderung von Kultur. Nur das deutsche Grundgesetz weist in diesem Bezug eine Lücke
auf.
Diese Lücke wiegt umso so schwerer, weil es neben den juristischen Argumenten starke gesellschaftspolitische Gründe für eine kulturelle Staatszielbestimmung gibt. Der Staat ist mehr als ein
Tableau von Gesetzen. Thomas Hobbes, der als einer der größten Verfechter von staatlicher Autorität gilt, musste bereits feststellen, dass ein politisches Gemeinwesen nicht nur aus Recht und
Gesetz bestehen kann. Ein Gemeinwesen braucht eine Wert- und Sinnordnung, die einen „geistigen Gesamtzusammenhang“ (Rudolf Smend) darstellt. Ausdruck einer Wert- und Sinnordnung
ist in modernen Staaten die Verfassung. Verfassungen legen nicht nur die grundsätzlichen „Spielregeln“ einer Gesellschaft fest, sondern sind ebenso Ausdruck der Wertordnung die einer Gemeinschaft zu Grunde liegen. Die Menschenwürde ist in diesem Kontext nicht nur ein Abwehrrecht gegenüber staatlichen Eingriffen, sondern auch ein Bekenntnis zur humanistischen Aufklärung. Der
Verfassung kommt eine wichtige Aufgabe zu. Sie ist Mittler zwischen Bürger und Staat. Einerseits
sichert sie die Rechte des Einzelnen gegenüber dem Staat und anderseits entsteht durch die Bekenntnisse in der Verfassung eine politische Integrationskraft, welche die Individuen zu einer politischen Gesellschaft verbindet. Dafür muss die Verfassung Wertangebote bereithalten, die von
den Mitgliedern geteilt werden. Tier- und Umweltschützer kommen mit dem Tierschutz und dem
Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen in Artikel 20 a GG auf ihre Kosten. Ein maßvoller Umgang mit natürlichen Ressourcen und der Schutz der materiellen Lebensgrundlagen sind zum
Grundverständnis unserer Gesellschaft geworden und finden daher auch zu Recht ihren Ausdruck
in der deutschen Verfassung. Die geistig-ideelle Dimension wird als Lebensgrundlage des Menschen hingegen nicht ausreichend berücksichtigt. Ein Staat, der sich wie die Bundesrepublik als
Kulturnation versteht, sollte kulturelle Identifikationsmöglichkeit in seiner Verfassung markieren.
Eine kulturelle Staatszielbestimmung unterstützt nicht nur die Arbeit von Künstlern, Kultureinrichtungen und Kulturpolitkern. Vielmehr ist eine kulturelle Staatzielbestimmung Ausdruck einer
modernen Gesellschaft.
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Kurzbiografien
Prof. Dr. Susanne Binas-Preisendörfer
Geschäftsführerin der Berliner Kulturveranstaltungs GmbH, seit März 2005 Lehrstuhl für Musik
und Medien an der Universität Oldenburg; seit 2003 sachverständiges Mitglied in der EnqueteKommission „Kultur in Deutschland“.
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Joachim Bühler
Diplom-Politologe, Studium der Politikwissenschaften am Otto-Suhr-Institut an der Freien Universität Berlin, Wissenschaftlicher Mitarbeiter von Siegmund Ehrmann, MdB.
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Dr. Michael Bürsch, MdB
Jurist, 1988 - 1993 Staatssekretär für Bundes- und Europaangelegenheiten des Landes SchleswigHolstein, MdB seit Juni 1997, in der 14. Wahlperiode Vorsitzender der Enquete-Kommission
„Bürgerschaftliches Engagement“. Seit 2003 Vorsitzender des Unterausschusses „Bürgerschaftliches Engagement“.
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Dr. Ingrun Drechsler
Referentin in der SPD-Bundestagsfraktion.
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Siegmund Ehrmann, MdB
Städtischer ltd. Verwaltungsdirektor a. D., Moerser Kulturdezernent a. D., MdB seit 2002, stv. Vorsitzender des Ausschusses für Kultur und Medien, stv. Vorsitzender der Enquete-Kommission
„Kultur in Deutschland“, Sprecher der SPD-Arbeitgruppe in der Enquete-Kommission.
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Monika Griefahn, MdB
Diplomsoziologin, 1990 – 1998 Umweltministerin in Niedersachsen, MdB seit 1998, 1998 – 2000
Sprecherin der Arbeitsgruppe Kultur und Medien der SPD-Fraktion, in der 14. und 15. Wahlperiode
Vorsitzende des Ausschusses für Kultur und Medien, seit Dezember 2005 Sprecherin der Arbeitsgruppe Kultur und Medien der SPD-Fraktion, Sprecherin der SPD-Fraktion im Unterausschuss
Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik.
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Steffen Reiche, MdB
Theologe, 1989 Mitbegründer der SDP, 1994 – 1999 Minister für Wissenschaft, Forschung und
Kultur und 1999 – 2004 Minister für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg, seit 2006
Präsident des Leichtathletikverbandes Brandenburg, MdB seit 2005.
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Prof. Dr. Oliver Scheytt
Jurist, seit 1993 Kulturdezernent der Stadt Essen, bis Anfang 2007 auch für die Ressorts Bildung
und Jugend zuständig, Geschäftsführer der RUHR 2010 GmbH, seit 2003 sachverständiges
Mitglied für die SPD in der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“.
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Prof. Dr. Wolfgang Schneider
Studium der Germanistik und Politischen Wissenschaften, Direktor des Instituts für Kulturpolitik
der Universität Hildesheim, seit 2003 sachverständiges Mitglied für die SPD in der EnqueteKommission „Kultur in Deutschland“.
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Dr. Dieter Swatek
Volkswirt, Staatssekretär a. D., Geschäftsführer des Multimedia Campus Kiel, seit 2003 Sachverständiges Mitglied für die SPD in der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“.
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Simone Violka, MdB
Finanzbuchhalterin, MdB seit 1998, seit 2005 Vorsitzende der sächsischen Landesgruppe, seit
2006 stv. Vorsitzende der „Youngsters“ der SPD-Fraktion.
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Lydia Westrich, MdB
Finanzbeamtin, MdB seit 1990, Mitglied des Ältestenrates. Seit 2005 stv. Sprecherin der
Arbeitsgruppe der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“.
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Notizen
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