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BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 4 C 5.12
OVG 7 A 2444/09
Verkündet
am 5. Dezember 2013
Schmidt
Amtsinspektorin
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 5. Dezember 2013
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Rubel
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Gatz, Petz, Dr. Decker und
Dr. Külpmann
für Recht erkannt:
Die Revision des Beigeladenen gegen das Urteil des
Oberverwaltungsgerichts für das Land NordrheinWestfalen vom 28. Februar 2012 wird zurückgewiesen.
Der Beigeladene trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
Gründe:
I
1
Der Kläger wendet sich gegen einen dem Beigeladenen erteilten Vorbescheid
für eine grenzständige Bebauung.
2
Kläger und Beigeladener sind Eigentümer zweier benachbarter Grundstücke in
K…. Diese sind mit einem Doppelwohnhaus mit jeweils zwei Geschossen und
einem Dachgeschoss bebaut. Das Gebäude verfügt über ein Satteldach mit
einer Firsthöhe von 11,60 m. Die Haushälften stehen mit vier bzw. sechs Metern Abstand zur festgesetzten Baufluchtlinie. Die Haushälfte des Beigeladenen
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wurde 1954, die des Klägers 1971 errichtet. Die übrige Bebauung der Straße
besteht auf der einen Straßenseite - abgesehen von einem freistehenden zweigeschossigen Wohngebäude - aus zwei- oder mehrgeschossigen Häusern,
Doppelhäusern oder Hausgruppen, auf der anderen Straßenseite herrscht eine
zwei- bis dreigeschossige Bebauung mit Doppelhäusern oder Hausgruppen vor.
Außer einem Fluchtlinienplan fehlen bauplanerische Festsetzungen.
3
Der Beigeladene beabsichtigt auf seinem Grundstück die Errichtung eines 15 m
hohen viergeschossigen Wohn- und Geschäftshauses mit zusätzlichem Staffelgeschoss und Flachdach. Es soll anstelle der bestehenden Haushälfte ohne
Einhaltung von Grenzabständen und unter Ausnutzung der Baufluchtlinie errichtet werden. Für das Vorhaben erteilte das Bauaufsichtsamt der Beklagten den
streitgegenständlichen planungsrechtlichen Vorbescheid.
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Das Verwaltungsgericht wies die gegen den Vorbescheid erhobene Klage ab.
Auf die Berufung des Klägers hat das Oberverwaltungsgericht der Klage stattgegeben und den streitgegenständlichen Vorbescheid aufgehoben. Der Vorbescheid sei rechtswidrig, weil das geplante Vorhaben mit § 34 Abs. 1 BauGB
unvereinbar sei. Es füge sich nach seiner Bauweise nicht in die Eigenart der
näheren Umgebung ein, die in offener Bauweise gebaut sei. Das Vorhaben des
Beigeladenen beseitige das bestehende Doppelhaus, ohne ein neues Doppelhaus zu schaffen. Die beiden Haushälften würden vielmehr bei Realisierung
des Vorhabens den Eindruck disproportionaler, zufällig in grenzständiger Weise
nebeneinander gestellter Baukörper erwecken. Auf diesen Verstoß gegen § 34
Abs. 1 BauGB könne sich der Kläger berufen. Denn mit der Doppelhausbebauung gingen die Grundstückseigentümer ein nachbarliches Austauschverhältnis
ein, das nicht einseitig aufgehoben oder aus dem Gleichgewicht gebracht werden dürfe.
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Mit seiner vom Bundesverwaltungsgericht zugelassenen Revision macht der
Beigeladene geltend, die Rechtsprechung zur nachbarschützenden Wirkung
von Festsetzungen nach § 22 Abs. 2 Satz 1 BauNVO (Urteil vom 24. Februar
2000 - BVerwG 4 C 12.98 - BVerwGE 110, 355 <362 f.>) könne auf den unbeplanten Innenbereich nicht übertragen werden. Die maßgeblichen Fälle seien
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über das Gebot der Rücksichtnahme nach § 34 Abs. 1 BauGB zu lösen. Danach sei die Klage abzuweisen. Auf den Kläger sei umso weniger Rücksicht zu
nehmen, als dieser sein Grundstück baulich nicht vollständig ausnutze.
6
Die Beklagte schließt sich dem Standpunkt des Beigeladenen an.
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Der Kläger verteidigt das angegriffene Urteil.
II
8
Die zulässige Revision ist unbegründet. Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts
beruht nicht auf einer Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 VwGO). Der
streitgegenständliche Vorbescheid ist rechtswidrig (1.) und verletzt den Kläger
in seinen Rechten (2.) (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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1. Das Oberverwaltungsgericht hat ohne Verstoß gegen Bundesrecht angenommen, dass sich das Vorhaben des Beigeladenen entgegen § 34 Abs. 1
Satz 1 BauGB nach der Bauweise nicht in die Eigenart der näheren Umgebung
einfügt.
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a) Das Vorhaben des Beigeladenen ist hinsichtlich seiner Bauweise planungsrechtlich an § 34 Abs. 1 BauGB zu messen, da es insoweit an bauplanerischen
Festsetzungen fehlt und das Vorhaben innerhalb eines im Zusammenhang bebauten Ortsteiles liegt. Maßstabsbildend im Sinne dieser Vorschrift ist die Umgebung, insoweit sich die Ausführung eines Vorhabens auf sie auswirken kann
und insoweit, als die Umgebung ihrerseits den bodenrechtlichen Charakter des
Baugrundstücks prägt oder doch beeinflusst (stRspr, Urteil vom 26. Mai 1978
- BVerwG 4 C 9.77 - BVerwGE 55, 369 <380> = Buchholz 406.11 § 34 BBauGB
Nr. 63 S. 48). Das Oberverwaltungsgericht hat als nähere Umgebung die beiden Seiten der R…straße in den Blick genommen (UA S. 9), die Beteiligten haben hiergegen Einwände nicht erhoben.
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b) In dieser Umgebung befindet sich nach den Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts eine Bebauung mit Doppelhäusern, Hausgruppen und wenigen
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Einzelhäusern, die das Oberverwaltungsgericht als offene Bauweise bezeichnet.
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Mit diesen Bezeichnungen greift das Oberverwaltungsgericht ohne Rechtsfehler
auf Begriffe der Baunutzungsverordnung zurück. Denn deren Vorschriften können im unbeplanten Innenbereich als Auslegungshilfe herangezogen werden
(Beschluss vom 27. Juli 2011 - BVerwG 4 B 4.11 - BRS 78 Nr. 102 Rn. 4; Urteile vom 23. März 1994 - BVerwG 4 C 18.92 - BVerwGE 95, 277 <278> = Buchholz 406.11 § 34 BauGB Nr. 168 S. 9 und vom 15. Dezember 1994 - BVerwG
4 C 19.93 - Buchholz 406.11 § 34 BauGB Nr. 173 S. 30). Sie enthalten definitorische Grundsätze, was etwa die Begriffe der offenen oder geschlossenen Bauweise meinen (Beschlüsse vom 7. Juli 1994 - BVerwG 4 B 131.94 - juris Rn. 3
und vom 11. März 1994 - BVerwG 4 B 53.94 - Buchholz 406.11 § 34 BauGB
Nr. 166 S. 6). Aus diesem Grund konnte das Oberverwaltungsgericht auch auf
den Begriff des Doppelhauses der Baunutzungsverordnung zurückgreifen, als
es die Eigenart der Umgebungsbebauung, die bestehende Bebauung auf den
Grundstücken des Klägers und des Beigeladenen und das streitgegenständliche Vorhaben gewürdigt hat.
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Im Sinne des § 22 Abs. 2 Satz 1 BauNVO ist ein Doppelhaus eine bauliche Anlage, die dadurch entsteht, dass zwei Gebäude auf benachbarten Grundstücken
durch Aneinanderbauen an der gemeinsamen Grundstücksgrenze zu einer Einheit zusammengefügt werden. Kein Doppelhaus bilden dagegen zwei Gebäude,
die sich zwar an der gemeinsamen Grundstücksgrenze noch berühren, aber als
zwei selbständige Baukörper erscheinen. Ein Doppelhaus verlangt ferner, dass
die beiden Haushälften in wechselseitig verträglicher und abgestimmter Weise
aneinandergebaut werden (Urteil vom 24. Februar 2000 - BVerwG 4 C 12.98 a.a.O. S. 357 ff. = Buchholz 406.12 § 22 BauNVO Nr. 7 S. 3 ff.; Beschluss vom
23. April 2013 - BVerwG 4 B 17.13 - BauR 2013, 1427 Rn. 5). Diese Begriffsbestimmung bezeichnet den Begriff des Doppelhauses im Sinne bauplanungsrechtlicher Vorschriften (Beschluss vom 10. April 2012 - BVerwG 4 B 42.11 ZfBR 2012, 478, juris Rn. 9), also auch für den unbeplanten Innenbereich.
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Die knappen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts zur Umgebungsbebauung bieten keinen Anlass für die Annahme, das Oberverwaltungsgericht
habe bei der Feststellung von Doppelhäusern in der näheren Umgebung einen
hiervon abweichenden Begriff des Doppelhauses zugrunde gelegt. Nach den
Urteilsgründen handelt es sich bei dem gegenwärtigen Gebäude des Klägers
und des Beigeladenen „auch“ um ein Doppelhaus (UA S. 9). Diese Formulierung setzt einen einheitlichen Begriffsinhalt voraus. Damit steht fest, dass sich
in der näheren Umgebung des klägerischen Grundstücks nur solche einseitig
grenzständigen Haushälften befinden, die das begrifflich geforderte Mindestmaß an Übereinstimmung aufweisen und deshalb Doppelhäuser im Sinne des
Senatsurteils vom 24. Februar 2000 (a.a.O.) sind. Diese mit Revisionsrügen
nicht angegriffene Feststellung bindet den Senat (§ 137 Abs. 2 VwGO), insbesondere ist sie nicht zweifelsfrei aktenwidrig (vgl. Kraft, in: Eyermann, VwGO,
13. Aufl. 2010, § 137 Rn. 70).
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c) Damit prägen solche Gebäude die nähere Umgebung, die bei bauplanerischer Festsetzung einer offenen Bauweise zulässig sind (vgl. § 22 Abs. 2
Satz 1 BauNVO). Dennoch bestimmt sich die Zulässigkeit des Vorhabens des
Beigeladenen hinsichtlich der Bauweise nicht nach § 22 Abs. 2 Satz 1 BauNVO.
Die Vorschrift richtet sich an die planende Gemeinde (vgl. Urteil vom
16. September 1993 - BVerwG 4 C 28.91 - BVerwGE 94, 151 <154> = Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 118 S. 97). Anders als § 34 Abs. 2 BauGB für
die Art der baulichen Nutzung verweist § 34 Abs. 1 BauGB hinsichtlich des Einfügens nach der Bauweise selbst dann nicht auf den Maßstab der Baunutzungsverordnung, wenn die nähere Umgebung der dort definierten offenen oder
geschlossenen Bauweise entspricht. Den rechtlichen Maßstab bestimmt vielmehr § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB, wonach sich das Vorhaben des Beigeladenen
nach seiner Bauweise in die nähere Umgebung einfügen muss.
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Nach Auffassung des Oberverwaltungsgerichts beseitigt das Vorhaben des
Beigeladenen das bestehende Doppelhaus, führt aber nicht zur Entstehung eines neuen Doppelhauses. Es stützt sich für diese Würdigung auf quantitative
Abweichungen, die zwei zusätzlichen Vollgeschosse und ein Staffelgeschoss,
die unterschiedliche Höhe der Gebäudehälften und die Erweiterung im vierge-
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schossigen Bereich sowie die zusätzliche Erweiterung im zweigeschossigen
Bereich. Hinzu träten qualitative Gesichtspunkte, insbesondere die unterschiedlichen Dachformen (Satteldach auf der einen, Flachdach auf der anderen Seite). Diese Würdigung verstößt nicht gegen Bundesrecht. Zwar mahnt das Urteil
vom 24. Februar 2000, den Begriff des Doppelhauses nicht bauordnungsrechtlich zu überladen. In dem städtebaulichen Regelungszusammenhang beurteilt
sich die Frage, ob zwei an der gemeinsamen Grundstücksgrenze errichtete
Gebäude noch ein Doppelhaus bilden, allein nach dem Merkmal des wechselseitigen Verzichts auf seitliche Grenzabstände, mit dem eine spezifisch bauplanerische Gestaltung des Orts- und Stadtbildes verfolgt wird (BVerwGE 110, 355
<361> = Buchholz 406.12 § 22 BauNVO Nr. 7 S. 6). Dennoch hängt die Qualifizierung zweier Gebäude als Doppelhaus nicht allein davon ab, in welchem Umfang die beiden Gebäude an der gemeinsamen Grundstücksgrenze aneinander
gebaut sind. Es kann daher das Vorliegen eines Doppelhauses mit Blick auf die
bauplanungsrechtlichen Ziele der Steuerung der Bebauungsdichte sowie der
Gestaltung des Orts- und Stadtbildes geprüft und ein Mindestmaß an Übereinstimmung verlangt werden (Beschluss vom 10. April 2012 - BVerwG 4 B 42.11 a.a.O. Rn. 12). Die Würdigung des Oberverwaltungsgerichts, bei Verwirklichung
des Vorhabens des Beigeladenen entstände der Eindruck disproportionaler,
zufällig in grenzständiger Weise nebeneinander gestellter Baukörper, wahrt diesen bundesrechtlichen Maßstab.
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d) Das Vorhaben des Beigeladenen fügt sich damit in den Rahmen der Umgebungsbebauung nicht ein. Denn seine Verwirklichung führt nicht zu einem Doppelhaus, sondern zu einer einseitig grenzständigen Bebauung, für die es in der
Umgebung an Vorbildern fehlt. Das Oberverwaltungsgericht hat auch ohne Verstoß gegen Bundesrecht angenommen, dass das Vorhaben geeignet ist, bodenrechtlich beachtliche Spannungen zu begründen (Urteile vom 26. Mai 1978
- BVerwG 4 C 9.77 - BVerwGE 55, 369 <386> = Buchholz 406.11 § 34 BBauGB
Nr. 63 S. 53 und vom 13. März 1981 - BVerwG 4 C 1.78 - Buchholz 406.19
Nachbarschutz Nr. 44 S. 7). Bodenrechtlich beachtliche und bewältigungsbedürftige Spannungen sind dadurch gekennzeichnet, dass das Vorhaben die
vorhandene Situation in bauplanungsrechtlich relevanter Weise verschlechtert,
stört oder belastet und das Bedürfnis hervorruft, die Voraussetzungen für seine
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Zulassung unter Einsatz der Mittel der Bauleitplanung zu schaffen (Urteil vom
16. September 2010 - BVerwG 4 C 7.10 - Buchholz 406.11 § 34 BauGB Nr. 212
Rn. 23). Hierfür reicht die mögliche Vorbildwirkung des Vorhabens (Urteil vom
26. Mai 1978 a.a.O.), die ein Bedürfnis nach planerischer Gestaltung auslösen
kann (vgl. § 22 Abs. 4 BauNVO).
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2. Das Oberverwaltungsgericht hat in Übereinstimmung mit Bundesrecht angenommen, dass dieser Rechtsverstoß Rechte des Klägers verletzt. Diese Auffassung wird in der Literatur geteilt (Blechschmidt, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/
Krautzberger, BauGB, Stand Juni 2013, § 22 BauNVO Rn. 50; Upmeier, Mampel, BRS-Info 4/2012, S. 19; Aschke, in: Ferner/Kröninger/Aschke, BauGB,
3. Aufl. 2013, § 22 BauNVO Rn. 16; Wolf, Drittschutz im Bauplanungsrecht,
Band 11, 2012, S. 175 f.).
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a) Ein Drittschutz kann weder direkt noch analog aus § 22 Abs. 2 Satz 1
BauNVO hergeleitet werden. Die Vorschrift entfaltet selbst im beplanten Bereich
keinen Nachbarschutz. Nachbarschutz vermittelt hier vielmehr die planerische
Festsetzung (Urteil vom 24. Februar 2000 a.a.O. S. 362 = Buchholz 406.12
§ 22 BauNVO Nr. 7 S. 7), an der es im unbeplanten Bereich fehlt.
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b) Der vom Oberverwaltungsgericht angenommene Drittschutz folgt vielmehr
aus dem Gebot der Rücksichtnahme.
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Ein Nachbar, der sich auf der Grundlage des § 34 Abs. 1 BauGB gegen ein
Vorhaben im unbeplanten Innenbereich wendet, kann mit seiner Klage nur
durchdringen, wenn eine angefochtene Baugenehmigung oder ein planungsrechtlicher Vorbescheid gegen das im Tatbestandsmerkmal des Einfügens enthaltene Gebot der Rücksichtnahme verstößt (stRspr, Beschluss vom
13. November 1997 - BVerwG 4 B 195.97 - Buchholz 406.11 § 34 BauGB
Nr. 189 S. 59; Urteil vom 23. Mai 1986 - BVerwG 4 C 34.85 - Buchholz 406.11
§ 34 BBauGB Nr. 114 S. 64). Ein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme setzt dabei einen Verstoß gegen das objektive Recht voraus (Urteil vom
26. September 1991 - BVerwG 4 C 5.87 - Buchholz 406.19 Nachbarschutz
Nr. 103 S. 76 <insoweit nicht in BVerwGE 89, 69 abgedruckt>). Er kann vorlie-
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gen, wenn ein Vorhaben zwar in jeder Hinsicht den aus seiner Umgebung hervorgehenden Rahmen wahrt, sich aber gleichwohl in seine Umgebung nicht
einfügt, weil das Vorhaben es an der gebotenen Rücksicht auf die sonstige,
also vor allem auf die in seiner unmittelbaren Nähe vorhandene Bebauung fehlen lässt (Urteil vom 26. Mai 1978 - BVerwG 4 C 9.77 - BVerwGE 55, 369
<385 f.> = Buchholz 406.11 § 34 BBauG Nr. 63 S. 52). Ein Verstoß gegen das
Rücksichtnahmegebot kann auch vorliegen, wenn sich ein Vorhaben objektivrechtlich nach seinem Maß der baulichen Nutzung, seiner Bauweise oder seiner
überbauten Grundstücksfläche nicht in die Eigenart der näheren Umgebung
einfügt (Beschluss vom 11. Januar 1999 - BVerwG 4 B 128.98 - Buchholz
406.19 Nachbarschutz Nr. 159 S. 3). Drittschutz wird gewährt, wenn in qualifizierter und individualisierter Weise auf schutzwürdige Interessen eines erkennbar abgegrenzten Kreises Dritter Rücksicht zu nehmen ist (Urteil vom 13. März
1981 - BVerwG 4 C 1.78 - Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 44 S. 99). Es
kommt darauf an, dass sich aus den individualisierenden Tatbestandsmerkmalen der Norm ein Personenkreis entnehmen lässt, der sich von der Allgemeinheit unterscheidet (Urteil vom 19. September 1986 - BVerwG 4 C 8.84 - Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 71 S. 56).
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Dies ist hier der Fall: Die Zulässigkeit einer Bebauung als Doppelhaus setzt den
wechselseitigen Verzicht auf seitliche Grenzabstände an der gemeinsamen
Grundstücksgrenze voraus. Dieser Verzicht bindet die benachbarten Grundeigentümer bauplanungsrechtlich in ein Verhältnis des gegenseitigen Interessenausgleichs ein. Ihre Baufreiheit wird zugleich erweitert und beschränkt.
Durch die Möglichkeit des Grenzanbaus wird die bauliche Nutzbarkeit der
Grundstücke erhöht. Das wird durch den Verlust seitlicher Grenzabstände an
der gemeinsamen Grenze, die Freiflächen schaffen und dem Wohnfrieden dienen, „erkauft“ (Urteil vom 24. Februar 2000 - BVerwG 4 C 12.98 - BVerwGE
110, 355 <359> = Buchholz 406.12 § 22 BauNVO Nr. 7 S. 4). Diese Interessenlage rechtfertigt es, dem Bauherrn eine Rücksichtnahmeverpflichtung aufzuerlegen, die eine grenzständige Bebauung ausschließt, wenn er den bisher
durch das Doppelhaus gezogenen Rahmen überschreitet. Sie ist im beplanten
und unbeplanten Bereich identisch. Dass die Rücksichtnahmepflichten im beplanten Gebiet auf einer planerischen Konzeption beruhen, führt auf keinen
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Unterschied. Denn im Fall des § 34 Abs. 1 BauGB ergeben sich die Beschränkungen der Baufreiheit regelmäßig aus der Umgebungsbebauung und nicht aus
einer planerischen Konzeption.
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Sachgesetzlichkeiten (Beschluss vom 19. Oktober 1995 - BVerwG 4 B 215.95 Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 131 S. 12) fordern keine unterschiedliche
Behandlung. Dass der Zulässigkeitsmaßstab bei § 34 Abs. 1 BauGB stets weniger scharf ist, lässt sich nicht sagen. Allerdings ist einzuräumen, dass den
Nachbarn größere Hinnahmepflichten treffen, wenn die maßgebliche Umgebungsbebauung eine größere Wahlfreiheit als eine planerische Festsetzung
eröffnet (vgl. Beschluss vom 11. März 1994 - BVerwG 4 B 53.94 - Buchholz
406.11 § 34 BauGB Nr. 166). So liegt es hier nicht, weil die Umgebungsbebauung nach den tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts einen
vergleichsweise engen Rahmen setzt. Anders als bei Festsetzungen nach den
§§ 16 ff. BauNVO und § 23 BauNVO (vgl. Beschluss vom 19. Oktober 1995
a.a.O. S. 13) hängt es im Übrigen auch im beplanten Gebiet nicht vom Willen
der Gemeinde ab, ob Festsetzungen nach § 22 Abs. 2 Satz 1 BauNVO hinsichtlich der Nachbarn von Doppelhäusern dem Schutz des Nachbarn dienen.
Schließlich kann für die „Doppelhaus“-Fälle eine so einheitliche Interessenlage
angenommen werden, dass es jedenfalls grundsätzlich einer Betrachtung der
konkreten Situation nicht bedarf. Dass hier ausnahmsweise etwas Anderes gelten könnte, ist nicht ersichtlich. Namentlich reicht der Hinweis des Beigeladenen
nicht aus, dass die bestehenden Haushälften die Bebauungsmöglichkeiten derzeit nicht vollständig ausnutzen. Dies betrifft das Maß der baulichen Nutzung,
berührt aber das nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB zu erfüllende Erfordernis eines Einfügens nach der Bauweise nicht.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
Prof. Dr. Rubel
Dr. Gatz
Dr. Decker
Petz
Dr. Külpmann
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Beschluss
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren auf 18 750 €
festgesetzt (§ 47 Abs. 1, § 52 Abs. 1 GKG).
Prof. Dr. Rubel
Dr. Gatz
Dr. Decker
Petz
Dr. Külpmann
Sachgebiet:
BVerwGE:
ja
öffentliches Baurecht
Fachpresse:
ja
Rechtsquellen:
BauGB
BauNVO
VwGO
§ 34 Abs. 1
§ 22
§ 113 Abs. 1
Stichworte:
Unbeplanter Innenbereich; offene Bauweise; Doppelhaus; Baunutzungsverordnung als Auslegungshilfe; Drittschutz; Gebot der Rücksichtnahme.
Leitsatz:
Ist ein unbeplanter Innenbereich in offener Bauweise bebaut, weil dort nur Einzelhäuser, Doppelhäuser und Hausgruppen im Sinne von § 22 Abs. 2 BauNVO
den maßgeblichen Rahmen bilden, so fügt sich ein grenzständiges Vorhaben
im Sinne von § 34 Abs. 1 BauGB grundsätzlich nicht nach der Bauweise ein,
das unter Beseitigung eines bestehenden Doppelhauses grenzständig errichtet
wird, ohne mit dem verbleibenden Gebäudeteil ein Doppelhaus zu bilden. Ein
solches Vorhaben verstößt gegenüber dem Eigentümer der bisher bestehenden
Doppelhaushälfte grundsätzlich gegen das drittschützende Gebot der Rücksichtnahme.
Urteil des 4. Senats vom 5. Dezember 2013 - BVerwG 4 C 5.12
I. VG Köln
II. OVG Münster
vom 29.09.2009 - Az.: VG 2 K 5456/07 vom 28.02.2012 - Az.: OVG 7 A 2444/09 -