Europäisierung und Modernisierung

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Europäisierung und Modernisierung
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Probleme und Interpretationen
25. Mchitarjan, /rino: Das "russische Schulwesen" im europäischen Exil: zum bildungspoliti­
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28. Raeff Mare: Russia Abroad. A Cultural History of the Russian Emigration, 1919-1939.
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29. Richrer-Eber/, Ure: Ethnisch oder National? Aspekte der russlanddeutschen Emigration in
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30. Rossija v izgnanii. Sud'by rossijskich emigrantov za l1lbeZom [Russland in der Verban­
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31. Russische Emigration im 20. Jahrhundert: Literatur - Sprache - Kultur. Hrsg. v. Frank
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32. Russische Emigration in Deutschland 1918 bis 1941. Leben im europäischen Bürgerkrieg.
Hrsg. v. Karl Schlägel. Berlin 1995.
33. Russkaja emigracija do 1917 goda - laboratorija liberaJ'noj i revoljucionnoj mysli [Russi­
sche Emigration vor 1917 ­ Laboratorium liberalen und revolutionären Denkens]. Hrsg. v.
B. V /Inan 'ie, Ju. Serrer. S.-Peterburg 1997.
34. L.akharov, Vusilii: No Snow on their Boots. About the first Russian Emigration to Britain.
London 2004.
Lutz Häfner
Europäisierung und Modernisierung
Einleitung
Die Schlagworte Europäisierung und Modemisierung sind in verschiedenen Variationen
seit nunmehr drei Jahrhunderten Ausdruck einer spezifischen Konzeptualisierung des rus­
sischen Geschichtsverlaufs (/'Historiographie, Forschungsrichtungen). Sie beanspruchen
einen Prozess zu kennzeichnen, der Russland auf den Weg nach Europa respektive in die
Modeme fuhrte oder auch heute noch fuhrt. Dies impliziert zunächst, Russland an sich sei
weder europäisch noch modem. Die Europäisierung Russlands wirft mithin zuerst die
Frage auf, was man eigentlich unter Europa verstehen möchte. In diesem Zusammenhang
gibt die Komparatistik Auskunft über Phasen europäischer Geschichtsverläufe, die Russland
nicht durchlief ­ wie etwa die Renaissance - bzw. Entwicklungen, die auch in der russi­
schen Geschichte zu beobachten s.ind - wie z. B. die europäische Expansion . .
Unterschwellig werden in der Tradition der Aufklärung die Begriffe "Europa" und
"Modeme" positiv konnotiert und mit Russland kontrastie11. "Europa" und "Moderne"
verkörperten den zivilisatorischen Fortschritt der westlichen Welt, Russland sei mit dem
Prädikat der Rückständigkeit zu versehen. Diesen Rückstand aufzuholen, bedeute Russ­
land zn europäisieren und zu modemisieren. Hier stellt sich die Frage, welche Kräfte die­
sen Prozess auslösen. Geht man von einer expansiven Außenwirkung Europas aus, die
auf Russland eine zwanghafte Sogwirkung ausübt oder ist die Europäisierung Russlands
das Resultat gezielten HandeIns einiger weniger Personen in Russland selbst? Femer
stellt sich das Problem, ob die Europäisierung Russlands den russischen Geschichtsver­
lauf präjudiziert. Stellt der Begriff der Europäisierung dem russischen Geschichtsverlauf
ein finales Ziel, so dass man die russische Geschichte in einen teleologischen Rahmen
zwängt? Schließlich ist bei der Reflexion dieser Fragen zu berücksichtigen, dass bislang
Europa und die Modeme sich selber ständig fortentwickelt haben. Die Europäisierung
und Modemisierung Russlands läuft auf ein bewegliches Ziel zu. Dies macht den Diskurs
über die Europäisierung und die Modemisierung Russlands zu einer unendlichen Ge­
schichte.
Der Ursprung dieses Diskurses lässt sich demgegenüber aber eindeutig feststellen.
Russlandreisende aus allen Regionen Europas stimmten im 16. und 17. Jahrhundert in ih­
ren Reiseberichten darin überein, dass es sich beim /'Moskauer Reich um ein barbari­
sches Land handele und dass die Moskauer ein "sklavisches" Volk seien, das von der eu­
ropäischen Kultur unberührt geblieben sei. Dieses Bild eines fremden und von Europa
differenten Russlands bildete die Grundlage fur die Vorstellung europäischer Geistesgrö­
ßen der Aufklärung im 18. Jahrhundert, Russland sei ein weißes Blatt Papier, auf dem
man die europäische Zivilisation in Reinform niederschreiben könne. Die vermeintliche
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Probleme und Interpretationen
Rückständigkeit Russlands ve rbanden Philosophen wie Gottfried Wilhelm Leibniz und
Franl(ois Marie Voltaire mit der Hoffnung auf einen umso schnelleren Lernprozess des
Landes von Europa. Diese Denkfigur hat Manfred Hildermeier das "Privileg der Rück­
ständigkeit" genannt (---12). Sie fand Eingang in die Regierungspolitik Peters 1. wie auch
in den Russlanddiskurs der *Intelligencija. Auch verfolgten die *Bolschewiki das sowje­
tische Experiment mit dem festen Vorsatz, den Westen einzuholen und zu überholen.
Diese Sicht auf die Geschichte Russlands konkurrierte in Russland selbst bzw. unter den
Russen stets mit anderen Geschichtsinterpretationen eSonderweg und "Eigenart").
Eine bereits im 18. Jahrhundert vereinzelt einsetzende Kritik an der Rigorosität der
petrinisch-romanovschen Europäisierung erreichte ihren vorläufigen Höhepunkt in der
Auseinandersetzung zwischen den sogenannten *Westlern und *Slavophilen in den
1830er und I 840er Jahren. Kernpunkt der Debatte war das Verhältnis von Russland zu
Europa, wobei im Gegensatz zu den Slavoph.ilen die Westler sich überzeugt zeigten, dass
Europa auch fortan das Leitbild der Zukunft Russlands sein solle. In populären Metaphern
wie de~enigen von St. Petersburg als Russlands "Fenster nach Europa" kommt zum Aus­
druck, erst Peter I. habe Russland nach Westen geöffnet und einen unilinearen Reform­
prozess in Russland initiiert, der in seiner Zielrichtung Russland zu einem europäische.D
Land mache. Eine solche simplifizierende Sichtweise hat als überholt zu gelten. Schon im
17. Jahrhundert führte die "Ruthenisierung" zu einer Verwestlichung der russischen Kul­
tur, wie Hans-Joachim Türke in seiner Arbeit zum ukrainischen Einfluss im Moskauer
Reieh gezeigt hat (---26).
Unter zwei Gesichtspull.kten soll im Folgenden die Erörterung des Geschichtsproblems
von der Europäisierung und Modernisierung Russlands erfolgen: (1) strukturgeschichtlich
sowie (2) kulturgeschichtlich . Zum Schluss folgt ein Ausblick auf aktuelle Forschungs­
diskussionen.
Strukturgeschichte der Modernisierung
Seitdem im späten 15. Jahrhundert das Sammeln der Länder der Rus' mit dem Entstehea
des Moskauer Reiches seinen Abschluss gefunden hatte, sah sich der russische Staat \\;e
auch alle übrigen Staaten Europas der Mächtekonkurrenz ausgesetzt. In Diplomatie und
Krieg, aber auch im Wirtschaftsleben standen Länder in Konkurrenz um Einfluss und
Herrschaft, die zu Neuerungen zwang und nicht ohne Rückwirkungen auf die innere Lage
der Gesellschaft bleiben konnte. In diesem Zusammenhang müssen die Anwerbung aus­
ländischer Fach.kräfte und die Neuerungen in Repräsentation, Administration, Militär und
Wirtschaft in Russland seit dem späten 15. Jahrhundert gesehen werden. Einen bedeuten­
den Platz nehmen dabei die Reformen Peters I. ein. Peter sah im westlichen Europa sei
großes Vorbild. Er bewunderte den Stand von Wissenschaften, Künsten und Technikea
und wollte diese für sein Land fruchtbar machen. Hinter der konkreten Umsetzung scin.:r
Reformen stand jedoch der Krieg als der Vater aller Dinge. Die petrinischen Reformen
von Heer, Verwaltung und Wirtschaft und ihre gesellschaftlichen Auswirkungen folgt,
den machtpolitischen Imperativen des "Großen Nordischen Krieges.
Nicht nur zu Peters Zeiten lässt sich diese mobilisierende Wirkung des Krieges be­
obachten. Der *Krimkrieg machte die technologisch-logistische Unterlegenheit Russ-
Europäisierung und Modernisierung
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lands im europäischen Mächtekonzert augenfällig und ebnete den Weg fur die *Großen
Reformen der I 860er Jahre. Mobilisierte der Krieg in diesem Fall die Staatsgewalt, so
TÜttelte der verlorene Krieg gegen Japan 1904-1905 die ?Öffentlichkeit aufwld mündete
in Russlands erste Revolution . Mit anderen Worten : Russland wandelte nicht unbedingt
auf dem Pfad der Modernisierung, weil der eine oder andere *Zar aus freiem Willen das
Land nach westeuropäischem Vorbild umzugestalten dachte. Vielmehr galt es schlicht,
ein riesiges Reich zusammenzuhalten, zu verwalten und in außenpolitischer Konkurrenz
mit anderen Mächten zu bestehen und zu expandieren. Dies schuf Modernisierungszwänge,
denen man sich in Russland je länger desto weniger entziehen konnte.
Modemisierung beschränkt sich dabei nicht auf äußere Erscheinungen in Verwaltung
eStaat, Herrschaft, Institutionen), Militär eKrieg, Militär), ?Technik und ?Wirtschaft,
sondern fuh.rte auch zu gesellschaftlichem Wandel und sozialer Differenzierung. Die
westliche Modernisierungsforschung der I 960er und 1970er Jahre hat dabei den Zeitraum
von 1860 bis 1940 als die Transformationsphase akzentuiert, in der Russland den mar­
kanten Wandel von der vormodemen agrarischen zur modemen industriellen ?Gesell­
schaft vollzog. Schlagworte wie die zunehmende Herrschaftsausübung durch die ?Büro­
kratie, Industrialisierung, ?Urbanisierung, demographischer Übergang (?Demographie,
Bevölkerungsverteilung) und A Iphabetisierung sind Bausteine dieses Prozesses.
Dabei muss man diesen Prozess nicht notwendigerweise als die Verminderung eines
West-Ost-Gefälles betrachten. Hans-Heinrich Nolte hat Immanuel Wallersteins Weltsys­
tem aus der spezifischen Perspektive des Russlandhistorikers fortentwickelt (--- 18). Das
Weltsystem lässt sich voll ausgebildet ab dem 16. Jahrhundert beobachten. Handelsströme,
Geldtransfers und Arbeitsmigrationen lassen ein sozioökonomisches System von Zentren,
Halbperipherien und Peripherien erkennen, in dem jeder Region eine bestimmte Funktion
zukommt. Während in den Zentren die jeweils differenziertesten Arbeitsprozesse ablaufen
und hohe Profite erzielt werden, exportieren die Halbperipherien vomeh.mlich Rohstoffe
und Halbfertigprodukte. Die Peripherien sind weitgehend von den Zentren kolonisiert.
Auf der sozioökonomischen Analyseebene stellt dieses weltsystemische Konzept Russ­
land und die Sowjetunion als eine von vielen Halbperipherien in einen globalgeschichtli­
chen Kontext, der Rückständigkeit und nachholende Modemisierung nicht als spezifisch
russische Probleme erscheinen lässt. Des Weiteren postuliert dieses Konzept einen Zu­
sammenhang zwischen sozioökonomischer Stellung im Weltsystem und der politischen
Verfassung. Für halbperiphere Staaten wie Russland wird von autoritären Regimen aus­
gegangen. In diesen Zusammenhang passen die vielfältig zwischen Skepsis und Opti­
mismus changierenden Aussagen der neueren Forschung zu den Fragen von Zivilgesell­
schaft und Öffentlichkeit in der russischen Geschichte. Erheblich schwieriger wird es
jedoch sein, kultur- und mentalitätsgeschichtliche Arbeiten in das hochaggI'egierte Kon­
zept des Weltsystems zu integrieren.
Kulturgeschichte der Europäisierung
Spitzt man die Diskussion der Westler und Slavophilen im zweiten Drittel des 19. Jahr­
hunderts zu, so hätten Russland lediglich zwei Entwicklungspfade offen gestanden: zurück
zum orthodoxen Altrussland der vorpetrinischen Zeit oder voran in Richtung entweder des
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Probleme und Interpretationen
westeuropäischen Liberalismus oder eines russischen Agrarsozialismus. Einig waren sich
beide Lager darin, dass die russischen Herrscher seit Peter I. der Gesellschaft immense
Entwicklungssprünge in Richtung europäische Moderne abverlangten. Jedoch stellte die
Europäisierung Individuen nicht zwangsläufig vor die Alternative zwischen den Identi­
tätsangeboten eines orthodox-national-konservativen Russenturns oder eines progressiven
Europäertums. Wie kulturanthropologisch inspirierte Ansätze der letzten Zeit zeigen.
stellt sich Europäisierung erheblich komplexer dar, wenn man sich den einzelnen Men­
schen und dessen Vorstellungs- und Lebenswelt oder bestimmte Diskurse zum Untersu­
chungsobjekt erwählt.
Fallstudien wie z. B. die Arbeiten von Marc Raeff über lvan Pososkov (-20) und von
Robert O. Crummey über Andrej Borisov (-+8) zeigen, dass sich in Lebensentwürfen
konkreter Personen Tradition und Moderne nicht als unvereinbarer Gegensatz gegenüber­
stehen mussten. Vielmehr geben sie Aufschluss über eine selbstbestimmte und selektive
Rezeption westlichen Kulturguts, das dem Wandel eigener Ansichten unterlag und je nach
den Gegebenheiten russischen Erfordernissen adaptiert wurde. Auf der makrohistorischen
Ebene kann es durchaus sinnvoll sein, den verwestlichten Gruppen Adel, Bürokratie
und Inlelligencija die Bewohner des russischen Dorfes - getrennt durch einen kulturellen
Graben _. entgegenzusetzen. Eine mikrohistorische Betrachtungsweise des einzelnen "ver­
westlichten" Menschen und dessen Lebenswelt stellt jedoch die Totalität dieser Verwestli­
chung in Frage. Sie zeigt jeweils individuelle Synthesen des Eigenen und des Fremden.
die die polare Gegenüberstellung von Russland und Europa nicht zulassen. Orlando Figes'
Kulturgeschichte Russlands kann inzwischen als groß angelegte Bestätigung dieses Be­
fundes gelesen werden (-9).
Weitere Beispiele lassen sich ergänzen. Im 19. Jahrhundert führten europäische Natio­
nalökonomen eine Debatte über den Zusammenhang von Priv ateigentum und Produktivität
in der Ökonomie im Allgemeinen und der Landwirtschaft im Besonderen. Russische Au­
toren trugen zu diesem Diskurs wesentlich bei. Sie verdeutlichten, dass es für Russland
nicht den einen Westen gab, sondern viele verschiedenartige europäische Vorbilder.
Russlands Suche nach dem wahren Westen - so die amerikanische Historikerin Esther
Kingston-Mann - offenbart, wie fragwürdig es ist, Europa respektive die westliche Welt
und die Moderne als deckungsgleich zu betrachten (-14). Europa und der Westen prä­
sentieren sich vielmehr als äußerst heterogene Gebilde, die nicht in ihrer Gänze an der
Spitze eines wie auch immer gearteten zivilisatorischen Fortschritts stehen.
Aktuelle Forschungsdiskussionen
Die jüngsten Diskussionen um den Stellenwert von Modernisierung und Europäisierung
kreisen in der Russlandgeschichtsschreibung um die Deutung des Jahres 1917 (?Revolu­
tion und Bürgerkrieg), den .l'Stalinismus und die .l'Sowjetunion. Der liberalen Deutungs­
tradition, die der Geschichte des späten Zarenreiches zumindest partielle Affinität zu zivil­
gesellschaftlichen Entwicklungspfaden einräwnt (-13), ist vehement eine konträre Deutung
entgegengestellt worden. Ihr zufolge ging das Zarenreich 1917 nicht an einem Defizit.
sondern an einem Überfluss von Modernisierung westlicher Provenienz zugrunde. Die
Großen Refornlen gelten hier als kulturelle Überfremdung, gegen die sich ostslavische
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Bauern und nichtrussische Regionen 191 7 gleichermaßen zur Wehr gesetzt hätten (- 5).
Diese Argumentationsweise weist jedoch dem letzten Halbjahrhundert zarischer Herr­
schaft ungebührlich mehr kausales Gewicht für ihren Untergang im Februar 191 7 zu als
den extremen Beanspruchungen des Ersten Weltkriegs, der unabhängig von verschiedenen
zivilisationsgeschichtlichen Konstellationen die Kontinentalimperien des östlichen Europa
untergehen ließ. Zudem operiert diese These mit einem impliziten Vergleich zwischen einer
normativ aufgeladenen Erfolgsgeschichte Europas und einer empirisch erfassten histori­
schen Realität Russlands. Vergleiche, die Russland allein auf der empirischen Ebene mit
anderen Gesellschaften in ein Verhältnis bringen, mögen zu einer anderen Einschätzung
des Modemitätspotentials im späten Zarenreich kommen.
Die Geschichte des stalinistischen Terrors ist zuletzt als Versuch gedeutet worden, jene
moderne Ordnung, die sich allein reformerisch nicht erzielen ließ, auf dem Wege der
.l'Gewalt in der Sowjetgesellschaft zu implementieren. "Ordnung durch Terror" lautet das
Schlagwort, das die Gewalt als sowjetische Reaktion in Situationen begreift, in denen
sich zeigte, dass die Vorstellungswelten der Beherrschten und die der Sowjetoberen - auf
ihr Projekt der Modeme fixiert - nicht miteinander kompatibel waren (-6, 17).
Einen umfassenden Versuch, die gesamte Geschichte der Sowjetunion auf ihren mo­
dernen Gehalt hin zu befragen, hat zuletzt Stefan Plaggenborg unternommen. (-19) Das
Anliegen seines Buches ist ein Doppeltes: Hier soll nicht allein nach dem Spezifikum der
sowjetischen Modeme gefragt werden, sondern auch die Bedeutung der Sowjetgeschichte
für modernisierungstheoretische Reflexionen gewogen werden.
Auswahlbibliographie
Quellen
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ständnisses. Hrsg. v. Dmitrij Tsr.:hiZewskij, DieleI' Groh. Darrnstadt 1959.
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Darstellungen
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4. Amburger, Erik: Die Anwerbung ausländischer Fachkräfte für die Wirtschaft Russlands
vom 15. bis ins 19. Jahrhundert. Wiesbaden 1968 .
5. Baherowski, Jörg : Auf der Suche nach Eindeutigkeit. Kolonialismus und zivilisatorische
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Probleme und Interpretationen
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Gewalt
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Main 1992 (erstmals 1913 unter dem Titel "Russland und Europa" erschienen).
Die Anwendung von physischer Gewalt gegen den menschlichen Körper ist von der
17. Modeme Zeiten? Krieg, Revolution und Gewalt im 20. Jahrhundert. Hrsg. v. Jörg Babe­
Russlandhistoriographie
als eigenes Untersuchungsgebiet erst in den letzten Jahren ver­
rowski. Bonn 2006.
stärkt in den Blick genommen worden. Dabei ist die Gewaltträchtigkeit nicht erst seit Stalins
18. Nolte, Hans-Heinrich: Die eine Welt. Abriß der Geschichte des internationalen Systems.
Terror konstitutiver Bestandteil des westlichen Russlandbildes. Ausländische Beobachter
2. Aufl. Hannover 1993.
19. Plaggen borg, Ste/an: Experiment Moderne. Der sowjetische Weg. Frankfurt am Main 2006.
tendieren seit langer Zeit dazu, Russland mit dem Hinweis auf eine angebliche besondere
20. Raejf Marc: The Two Facets of the World oflvan Pososhkov. In: FOG 50 ( 1995), S. 309­
Neigung der Russen zu gewalttätigen Handlungen als "barbarisch" aus einern "zivilisielten"
Europa auszugrenzen. Seit der Regierungszeit Ivans IV., des "Schrecklichen", verfestig­
328.
21. Reformen im Russland des 19. und 20. Jahrhunderts. Westliche Modelle und russische Er­
ten sich die Stereotype von der besonderen Gewaltaffinität der russischen Geschichte. Die
fahrungen. Hrsg. v. Dietrich Beyrau u. a. Frankfurt am Main 1996.
I'Revolutionen von 1917, der Bürgerkrieg und vor allem die Gewaltkultur der *Bol­
22. Russia in the European Context 1789-1914. A Member of the Family. Hrsg. v. Susan P.
schewiki mit ihrem Gipfel im I'Stalinismus wurden häufig als Fortsetzung genuin russi­
MeCa//ray; Michael Melancon. New York 2005.
scher "Anlagen" verstanden, wobei sich die Angst vor "dem" Russen mit der vor den
23. Scheidegger, Gabriele: Perverses Abendland - barbarisches Russland. Begegnungen des
Kommunisten
vermischte. Historische Gewaltforschung bedarf also der theoretischen und
16. und 17. Jahrhunderts im Schatten kultureller Missverständnisse. Ziirich 1993.
methodischen Vorsicht, um nicht alte Fremdbilder ungewollt zu verfestigen. Gerade eine
24. Schelling, Alexander v.: Russland und Europa im russischen Geschichtsdenken. Berlin 1948.
um historische Aufklärung bemühte Geschichtsforschung aber darf über die Gewalt­
25. Ders.: Russland und der Westen im russischen Geschichtsdenken der zweiten Hälfte des
Stereotype die "tatsächliche" historische Gewalt in der russischen und sowjetischen Ge­
19. Jahrhunderts. Hrsg. v. Hans-Joachim Torke. Berlin 1989 (= FOG 43).
schichte nicht vergessen.
26. Torke, Hans-Joachim: Moskau und sein Westen. Zur "Ruthenisierung" der russischen
Kultur. In: Berliner Jahrbuch ftir osteuropäische Geschichte 1996/1, S. 101-120.
27. Wallers tein , fmmanu el: The Modem World-System. 3 Bde. New York 1974-1989.
Theoretische Voraussetzungen historischer Gewaltforschung
28. Waugh, Duniel c.: We Have never Been Modern. Approaches to the Study of Russia in
the Age ofPeter the Great. In: JBfGOE NF 49 (2001), S. 321-345.
Modeme historische Gewaltforschung versucht, die vielfältigen Gewalthandlungen von
29. Wo/ff Larry: In venting Eastem Europe. The Map of CiviJization on the Mind of the En­
der Gewalt zwischen den Geschlechtern und in der Familie bis hin zum I'Krieg als ver­
lightenment. Stanford 1994.
schiedene Ausprägungen eines Phänomens zu begreifen. Weithin besteht Konsens , dass
Martin Ausr
die Entwicklung der modemen Industriegesellschaft keineswegs zur Einhegung der Ge­
walt filhrte, sondern im Gegenteil diese erst in "industriellem" Maßstab möglich machte.
Im Zentrum der meisten Untersuchungen steht die Anwendung physischer Gewalt. Angelehnt
an eine Definition des Soziologen Heinrich Popitz bezeichnet Gewalt somit Aktionen ge­
gen den menschlichen Körper selbst oder deren massive und glaubwürdige unmittelbare
Androhung. Popitz wies auf die "Entgrenzung des menschlichen Gewaltverhältnisses"
hin. Es gibt Hemmungen, aber "in Zeiten der Anomie brechen diese Hemmungen auch
kollektiv zusammen" (-+32, S. 48ff.). Modeme Gewaltforschung kann dabei an zahlrei­
che Vorarbeiten anknüpfen wie z. B. an die Erforschung des sozialen Protestes, an Stu­
dien zur Geschichte der Disziplinierungsgewalt des sich entwickelnden modemen Staates
und viele andere von der Geschlechter- und Militärgeschichte bis hin zur Ethnologie. Ne­
ben kollektiv handelnde Gewaltakteure und kollektiv betroffene Gewaltopfer treten damit
zunehmend auch die individuelle Ausübung von Gewalt und die Frage nach der Bezie­
hung zwischen Strukturen und Akteuren.