CLASSIC LADY°Masuren

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CLASSIC LADY°Masuren
Classic Lady° Masuren
Foto: Claudia Diemar
www.azur.de
Alleen, Traumpfade, Wälder und Seen.
Mit Schiff und Rad durch das ehemalige Ostpreußen.
In Begleitung von Seeadlern und Kormoranen.
Masurische Rhapsodie
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Im Jagdhaus von Galkowo werden die Gäste der Classic Lady nach einer
Stärkung auf der Terrasse im Salon Marion Dönhoff empfangen.
Auch wenn die Touren auf sandigen Wegen zuweilen ordentlich in
die Waden gehen, die Radler sind in bester Stimmung.
Kapitän Tomasz Biadun genießt am Anleger in Piaski die Nachmittagssonne
bei einer kleinen Pause vor der Tür des Steuerhauses.
Gut getarnt im dichten Schilfgürtel: Am Ufer des GrunwaldzkiKanals lauert ein Reiher auf einen Happen Fisch als Beute.
Fotos: Claudia Diemar
Sechs Seen und
fünf Kanäle an
einem einzigen Tag
– zwei Passagiere
haben ihre Räder
am Bug verstaut
und bleiben wegen
der schönen Strecke
heute an Bord.
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„Meister Wojtek“ wird der Weißstorch in Polen genannt. Hier brütet
er auf dem Turm der bildschönen Backsteinkirche von Weissuhnen.
Gleich geht es los: Reiseleiter Zygmunt Matusak neben den in Reih
und Glied aufgestellten Fahrrädern am Steg von Wilkasy.
Blick von der Brücke aufs Bootsgewimmel: Viel Andrang herrscht vor
der Guschiener Schleuse nahe dem Ort Niedersee (Ruciane Nida).
Natur pur - idyllisch mäandert der Fluss Kruttinna durch den
Auwald mit Biberburgen im Schilf und Seerosen auf dem Wasser.
Fotos: Claudia Diemar
Uralte Eichbäume ragen
wie Skulpturen am Ufer des
Spirdingsees auf, der auch
„Masurisches Meer“ genannt
wird. Die Gegend ist als
Landschaftspark geschützt.
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Segelboote auf dem
Löwentinsee: Die Masurische
Seenplatte ist vor allem im
Sommer ein beliebtes Revier
für Wassersportler.
mäßig eingerichtet. Die Betten sind bequem und dank
des Schiebesystems der Nachtschränkchen nach Gusto
mühelos als Einzel- oder Doppelbetten anzuordnen.
Vor dem Klappfenster ist ein Mückennetz gespannt.
Ein Ventilator wirbelt die größte Hitze weg, aber auf
eine Klimaanlage muss man verzichten, was im Hochsommer zur schweißtreibenden Angelegenheit werden
kann. Es soll schon Sommernächte gegeben haben, bei
denen die Hitze im Bauch der Lady so groß wurde, dass
man, um ein wenig Luftzug zu bewirken, einfach in allen Kabinen die Türen offen ließ und so praktisch wie
auf einer Hütte in einer Art Massenlager schlief. Gut,
dass die Classic Lady in aller Regel von eher sportiven
Gästen gebucht wird, die mitnichten wegen der üblichen
Verwöhnungen auf Kreuzfahrten gekommen sind.
An Bord gibt es zwei Mahlzeiten täglich, ein Frühstücksbuffet und ein Abendessen, bei dem jeweils zweierlei Suppen und Salate gereicht werden, aber nur ein
Hauptgericht serviert wird. Für Vegetarier gibt es auf
Wunsch eine fleischlose Variation. Die Qualität der
Küche ist mit „gutbürgerlich“ treffend beschrieben. Am
ersten Abend gibt es Pilz- und Tomatensuppe, nach den
Salaten kommt ein farcierter Barsch mit Kartoffelpüree
und zum Abschluss eine leckere Torte, die als „Honigkuchen“ angekündigt wird. Das Restaurant, das auch
als einziger Gemeinschaftsraum fungiert, hat große Panoramafenster. Unter jedem Bett liegt ein persönlicher
Liegestuhl, mit dem man es sich oben auf dem Sonnendeck gemütlich machen kann.
Aber derlei Bequemlichkeiten sind für die Passagiere
zweitrangig. Wer die Classic Lady wählt, will vor allem
in die Pedale kommen. Rund 270 Kilometer werden an
den sechs Tourentagen insgesamt abgeradelt. Die meiste Zeit fährt man auf Forstwegen, zuweilen auch auf
sandigen Pisten und kleinen Nebenstraßen durch Wald
und Wiesen, entlang wie aus der Zeit gefallener Dörfchen mit Storchenpaaren auf den Dächern. Die stabilen
7-Gang-Citybikes der Marke BBF sind gut gewartet.
kommen viele kleinere Weiher und Tümpel. Einige
der großen Seen sind mit Kanälen aus dem 19. Jahrhundert verbunden und schaffen so ein zusammenhängendes schiffbares System von Wasserwegen. Um
diesen feuchten Naturraum zu erleben, sind die Passagiere gekommen – und um sich darin aktiv zu bewegen. Denn nicht nur die Classic Lady dient als Fortbewegungsmittel dieser Reise, sondern ebenso die
Leihfahrräder, mit denen täglich zu Touren zwischen
30 und 70 Kilometern aufgebrochen wird.
Schon als die Gäste in Warschau zum Transfer zusammentreffen, ist klar, dass sich hier nicht die übliche
Kreuzfahrerklientel eingefunden hat. Die Teilnehmer
sind im Schnitt jünger und trainierter, als man es sonst
von Schiffsreisenden gewohnt ist. Am Flughafen Frédéric Chopin steigt die erste Gruppe in den Bus, am Zentralbahnhof kommt der zweite Schwung hinzu. Dann
geht es über die Autobahn und später über Chausseen
nach Norden. Vier bis fünf Stunden dauert der Transfer,
je nach Verkehr, bis Masuren erreicht ist. Auf der letzten Etappe ist die Überlandstraße gesäumt von Verkäufern, die Pfifferlinge und Heidelbeeren, die Schätze der
masurischen Wälder, feilbieten. Endlich ist das RadlerResort in Piaski in einem lichten Kiefernwald am Beldahnsee erreicht. Direkt am Ufer liegt das einfache
Hotel mit einem schmucken Herrenhaus und einem Anleger, an dem das Schiff auf seine Passagiere wartet.
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echsundvierzig Personen haben Platz an Bord
der Classic Lady. Zu den knapp 40 Passagieren
kommt die Besatzung hinzu: Kapitän Tomasz
Biadun, der junge Koch Pawel Zalewski, das
Quartett der Kellner, die gleichzeitig als Matrosen arbeiten. Das Damentrio für den Reinigungsservice reist
stets zum jeweils nächsten Anleger an.
Der neben dem Schiffsführer wichtigste Mann an
Bord ist Reiseleiter Zygmunt Matusak, eigentlich Lehrer
von Beruf. Zygi, wie er gerufen werden will, spricht nicht
nur exzellentes Deutsch und verfügt über einen Schatz
an Anekdoten und Geschichten aus dem alten Ostpreußen und modernen Masuren, sondern fährt auch bei den
geführten Radtouren voraus, flickt fachkundig platte
Reifen oder schraubt flugs ein loses Schutzblech fest.
Wer will, kann aber auch auf Zygis überaus angenehme Begleitung verzichten und auf eigene Faust
seinen Weg suchen. Die Reederei stellt dafür eine Broschüre mit Wegbeschreibungen und Routenvorschlägen
samt fakultativer Abstecher oder Abkürzungen zur Verfügung. Aber jetzt will jeder erst einmal seine Kabine
beziehen.
Die Classic Lady ist zwar das größte Schiff, das in
Masuren unterwegs ist, aber eine Lady ohne jede Allüren, also kein Luxusweibchen. Die Kabinen sind inklusive des Bades elf Quadratmeter groß und zweck-
eine Tortur im Masur“, versichert Reiseleiter
Zygi seinen Gästen. Aber ein wenig trainiert
sollte man schon sein. Die jüngste Teilnehmerin ist um die 30, die älteste knapp 80
Jahre alt, aber eine stramme Radlerin. Die Gäste, die
dieses Mal an Bord sind, stammen aus allen Teilen
Deutschlands. Die „Exoten“ unter den Passagieren sind
das Damen-Duo Beate und Maria aus dem Schweizer
Kanton Glarus sowie die Französin Agnès mit charmantem Akzent, die aber schon lange in Deutschland
lebt. Und weil dies keine Luxuskreuzfahrt ist, trifft man
auf ein breites Spektrum an Berufen: das Bauernpaar
aus Norddeutschland, den Schulhausmeister und die
Mathelehrerin aus Sachsen, das Ärztepaar aus Hamburg, den Ingenieur aus Frankfurt.
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asuren begrüßt die neuen Gäste mit herrlichstem Wetter: Kornblumenblau leuchtet der Himmel, und der Wind von Osten ist von prickelnder Frische. Nach der
ersten, angenehm kühlen Nacht an Bord sucht
sich jeder Passagier in der „Fahrradschmiede“ einen
passenden Drahtesel aus, der die ganze Woche über
das persönliche Gefährt bleibt. Hier wird noch ein
Sattel verstellt, da eine Packtasche angebracht, dann
kann es losgehen.
Gemeinsam radeln wir ins nächste Dorf Weissuhnen,
heute Wejsuny genannt, ein gemütliches, verschlafenes
Nest mit zwei kleinen Dorfläden. Wir kaufen Wasser,
Wogende Kornfelder und rauschende
Ulmen an einer wenigbefahrenen
Landstraße an der Strecke vom
Warnolty- zum Spirdingsee.
Brot, Käse und Obst für ein Picknick, weil wir einen
Teil der Tages auf eigene Faust unterwegs sein wollen.
Die Strecke ist pure Idylle: Auf einer wenigbefahrenen
Nebenstrecke unter riesigen Ulmen als Chausseebäumen geht es an wogenden Kornfeldern vorbei. Bald ist
der Spirdingsee erreicht, mit 114 Quadratkilometern das
größte Gewässer der Masurischen Seenplatte. Niedwiedzi Rog, übersetzt „Bärenwinkel“, nennen sich Weiler
und kleiner Hafen am Ufer. Bären sehen wir keine, dafür aber eine überaus idyllische Landschaft, teils mit
Schilf gesäumt, teils mit sandigen Stränden, an denen
Familien den Sonntag verplantschen.
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lleen alter Bäume, Traumpfade, Wälder
und Seen aus dem Märchenbuch“,
schrieb Wolfgang Koeppen in „Es war
einmal in Masuren“. Ostpreußen hieß
die Region einst. Aber die Gäste des
Schiffes Classic Lady sind nicht
gekommen, um der Vergangenheit nachzusinnen, sondern die
Gegenwart zu erleben. Masuren ist die grüne Lunge
Polens: Endlose Wälder mit Kiefern, Birken und Buchen wechseln sich ab mit unzähligen Seen, deren
blaue Augen den hohen Himmel spiegeln. Etwa 3000
dieser Seen sind mehr als einen Hektar groß, dazu
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Im Dorflädchen gönnen wir uns ein Eis als Belohnung
und frische Sauerkirschen vom Bauern, die eben eingetroffen sind. Der Rest des Nachmittags wird in den bequemen Liegestühlen auf dem Sonnendeck verträumt,
während Surfer und Segler dekorativ über den See flitzen.
Später sind auch die anderen Radler zurück, und
die Classic Lady legt zum ersten Mal ab, passiert den
lang gestreckten, schmalen Beldahnsee Richtung
Norden, zieht eine weite Schleife durch den Spirdingsee und biegt schließlich in den direkt abzweigenden
Nikolaiker See ein. Das intensive Licht lässt das Wasser tief blau und die Wälder herrlich grün leuchten.
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ekannt ist unser heutiges Ziel aus dem Buch
„Die Reise nach Nikolaiken“ von Arno Surminski, der Masuren als vergangenes Idyll
beschrieb: „Land, das ohne Eile beginnt, das
gerne die Zeit verschläft.“ Für das heutige Nikolaiken
trifft das nicht zu. Der Ort ist das Zentrum des masurischen Sommertourismus. Kneipen und Cafés reihen
sich am Ufer, Sportboote liegen zu Dutzenden an den
Stegen.
Doch wir sind spät dran. Das Dinner wird schon
serviert, und die Zeit reicht nur für einen Verdauungsspaziergang an unserer Uferseite. Macht nichts, denn
nach Nikolaiken werden wir noch einmal kommen und
es mit Muße durchstreifen können.
Frühmorgens laufen brummelnd die Motoren an,
und die Lady legt ab. Hinter den zwei Brücken heißt
das Wasser, auf dem wir schwimmen, nun Talter See,
später Ryn-See. Während gemütlich gefrühstückt wird,
schiebt sich die Classic Lady bis zum Städtchen Rhein
an dessen Ende vor. Auf die Radler der geführten Gruppe wartet heute die anstrengendste Tour der gesamten
Woche. Knapp 70 Kilometer, zum Teil mit in die Waden
gehenden Sandpisten, sind zu bewältigen. Dazu kommt
ein längerer Spaziergang durch das einstige Führerhauptquartier Wolfsschanze, diesem zu Bunkerbeton
geronnenen Irrsinn faschistischen Größenwahns. Längst
hat die Natur die vor dem Abzug noch gesprengten Anlagen überkrautet, wo Stauffenbergs Attentat auf den
Diktator scheiterte.
Nach dem ausführlichen Besuch dieser bedrückenden Fragmente geht der Weg der Radler weiter in
Richtung Osten über Doba, Kamionki und das Ufer des
Kissain-Sees nach Gizycko, das zu ostpreußischer Zeit
Lötzen genannt wurde.
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ssen kann man alles, wissen aber nicht“, meint
Reiseleiter Zygmunt und erzählt deshalb wie
immer nach dem Abendessen ein wenig über
die Region und die Radlerroute am nächsten Tag. Immerhin werden wieder rund 56 Kilometer
auf dem Programm stehen. Doch bis Mittag kommt die
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eil das Schiff heute eine besonders interessante Route fährt und wir die Wolfsschanze von einer Studentenfahrt nach Polen
kennen, bleiben wir an Bord und dürfen
Kapitän Biadun auf der Brücke Gesellschaft leisten. Das
Schiff legt wieder ab, fährt zunächst ein Stück auf gleicher Strecke zurück, biegt dann links ab in den TalckiKanal, durchquert den gleichnamigen See, fädelt sich in
den Grunwaldzki-Kanal ein und passiert einen weiteren
See mit raschelndem Schilfgürtel. Dann zieht die Classic
Lady in den nächsten Kanal namens Miodunski, durchmisst mit nordöstlichem Kurs den Szymon-See, dem der
springen vor der warmen Dusche noch schnell vom
Steg in den See, um eine Runde zu schwimmen. Knapp
über 20 Grad hat das Wasser, in heißen Sommern kann
es dagegen durchaus karibische Temperaturen von bis
zu 28 Grad erreichen. Küchenchef Pawel serviert zum
Dinner köstlichen Zander in Mandelkruste.
apitän Tomasz Biadun ist Mitte 40, hat aber
bereits mit 27 Jahren das Kapitänspatent
erhalten und darf daher als erfahrener
Schiffsführer gelten. An diesem Morgen gibt
es nur eine kritische Situation zu meistern. Bei der
schmalen Einfahrt in einen der Kanäle wartet ein
Sportboot nicht ab, sondern passiert die Classic Lady an
der heikelsten Stelle, wo sie gegen die Drift ansteuern
muss. Aber die Sache geht gut. „Ein wenig Stress muss
manchmal sein“, kommentiert der Kapitän locker, der
abends auch schon mal an der Bar steht und das gute
regionale Lomza-Bier zapft. An Bord der Classic Lady
packt jeder an, wo er gerade gebraucht wird, da macht
der Kapitän keine Ausnahme.
Rasend schnell trübt sich das Wetter ein. Die Lichtmasten am Ufer schicken ihre Signale in immer kürzeren Abständen. Scharenweise kommen uns Segler
unter Motor entgegen, um wegen der Sturmwarnung in
den nächsten Hafen zu gelangen. Kurz vor dem Anleger in Wilkasy, einem Vorort von Lötzen, passieren wir
noch den Kanal Kula mit nur ganzen 110 Metern Länge.
Dann ist der Löwentinsee erreicht. Zwei Nächte werden
wir in Wilkasy liegen.
Der Wind hat aufgefrischt. Noch einmal kommt die
Sonne durch, und wir erklimmen die einhundert Stufen hohe Holztreppe zum Café einer Ferienanlage hinter
dem Anleger, um bei Waffeln und Tee das Panorama
zu genießen. Als wir wieder am Schiff sind und die
Räder klarmachen wollen, setzt der Regen ein, erst nieselnd, dann immer heftiger. Also machen wir es uns in
der Kabine gemütlich, nehmen „So zärtlich war Suleyken“ von Siegfried Lenz zur Hand und ergötzen uns an
seinen kongenialen Geschichten über masurische Lebensart und Bauernschläue.
Erschöpft und durchnässt treffen irgendwann auch
die Radler von der großen Tour ein. Die Sportivsten
Tierische Begegnungen: In der zoologischen
Forschungsstation in Popielno lassen
sich die seltenen Tarpanpferde aus
nächster Nähe bewundern.
Gruppe aus Lötzen nicht heraus. Zu viel ist hier zu sehen: die mächtige Festung Boyen etwa, Mitte des 19.
Jahrhunderts erbaut, um russischen Truppen den Weg
ins Herz Preußens zu versperren. Im Zweiten Weltkrieg
hatte sie keine militärische Bedeutung mehr. Gemunkelt
wird aber, dass irgendwo die Pläne zur Wiederauffindung des legendären Bernsteinzimmers versteckt sein
könnten, das genau hier nach dem „Endsieg“ hätte ausgestellt werden sollen und bis heute nicht auffindbar ist.
Weniger Mysteriöses gibt es am nächsten Stopp zu
entdecken. Neben den zu einem stilvollen Hotel umfunktionierten Ruinen der Kreuzritterburg aus dem
▼
Auf der Terrasse des Herrenhauses am
Anleger von Piaski wird am vorletzten Abend
ein zünftiges Grillfest mit Blick auf den
Beldahnsee gefeiert.
immerhin fast zweieinhalb Kilometer lange SzymonskiKanal folgt. Lang, schmal und in anmutigen Biegungen
zieht sich daraufhin der Jagodne-See dahin. Kapitän
Biadun macht uns unterwegs auf Fischadler, Haubentaucher und Kormorane aufmerksam. Störche staken
am Ufer auf der Suche nach Futter für die Jungen.
„Meister Wojtek“ wird der Weißstorch in Polen genannt. Immerhin ein Viertel aller weltweit vorkommenden Weißstörche brüten in Polen. Mit etwas Glück
kann man in Masuren auch seltene Schwarzstörche
beobachten. Beide gehören zu den „Oststörchen“, deren
Überwinterungsroute über den Bosporus und den Sinai
nach Afrika führt, während die Kollegen im westlichen
Europa über die Meerenge bei Gibraltar auf den Schwarzen Kontinent reisen. In Masuren sind im Sommer in
jedem noch so kleinen Weiler mindestens ein halbes
Dutzend Storchennester zu sehen.
Aber der Wind ist frisch, und trotz des Hochsommers
hat jeder auf dem Sonnendeck inzwischen eine dicke
Jacke übergezogen. Direkt gegenüber vom schmucken
Städtchen Nikolaiken, polnisch Mikolajki, wird festgemacht. Neben uns liegt der stolze Großsegler
Chopin, der sich für Dinner-Cruises buchen lässt.
Fotos: Claudia Diemar
Während die geführte Gruppe einen weiten Bogen mit
Besichtigung des Städtchens Johannisburg (Pisz) schlägt,
strampeln wir durch einen Wald mit Eichgiganten, versuchen dann eine abgekürzte Schleife nach Süden zu
ziehen, die leider im Kiesbett der gerade in Generalüberholung befindlichen Landstraße endet. Also wieder
zurück nach Weissuhnen mit seiner schön renovierten
protestantischen Kirche: Backstein-Neogotik gepaart mit
Jugendstil-Elementen, von Storchennestern gekrönt. Anders als sonst im katholischen Polen sind evangelische
Kirchen in Masuren häufig anzutreffen – ein Erbe der
ostpreußischen Zeit, als die Region noch vom Ritterorden
geprägt und Heimat von Millionen Deutschen war.
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Flussfahrt
Fahrradtour
Leerfahrt
Land der
tiefen Wälder und
stillen Seen
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Einfach nur treiben lassen: Eine
beschauliche Fahrt im Stakerboot
auf der Kruttinna, dem wohl
romantischsten Flusslauf Polens.
einen Eindruck vom einst archaischen Landleben
vermittelt. Das Highlight auf dem Heimweg: Ein kapitaler Elchbulle nascht am Rapsfeld und kreuzt den
Weg, als er die Ritter der Pedale auf sich zukommen
sieht. Ein beeindruckender Anblick, aber die Szene
ist viel zu schnell vorbei, um sie mit der Kamera festzuhalten.
Tierisch sind auch die Begegnungen am nächsten
Tag. Die Nacht über lag die Classic Lady noch einmal
in Nikolaiken. Am Morgen geht es für die Radler am
Seeufer nach Süden, mit der Fähre wird bei Wierzba
übergesetzt. Der Höhepunkt der heutigen Tour ist ein
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teils ausgebrannte Jagdhaus hierher versetzen, und zu Ehren ihres
journalistischen Vorbildes richtete
Renate Marsch-Potocka den Salon
mit dem Namen der Gräfin ein.
Gebannt hören die Gäste die vom
Band abgespielte Erinnerung Marion Dönhoffs an die Flucht durch
Eis und Schnee aus Ostpreußen
auf ihrem Pferd Alarich.
Besuch der zoologischen Forschungsstation in Popielno, wo sich Tarpanpferde bewundern und zahme Biber streicheln lassen. Seidenweich ist ihr Fell und der
mächtige Paddelschwanz so warm wie ein Heizkissen.
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urück am Ausgangspunkt in Piaski wartet
die Classic Lady schon auf die Gäste. Es hat
aufgeklart, und der Tag vergeht mit kitschig
schönem Abendrot. Weil Koch Pawel heute
seinen freien Tag hat, übernimmt die Küche des RadlerResort-Hotels zusammen mit den Matrosen der Classic Lady das kulinarische Ruder. Auf der Terrasse des
Herrenhauses wird ein zünftiges Grillfest veranstaltet. Zur Unterhaltung spielt eine Dreimannkapelle auf
und sorgt für beste Stimmung. Einige der Passagiere
schwingen ausgelassen das Tanzbein.
Am letzten Tag ist die sommerliche Wärme zurück.
„Ein bisschen Sand muss sein“, trällert der drahtige
Schulhausmeister Andreas aus Dresden schon beim
Frühstück zur Einstimmung auf die letzte Tour, der
schönsten der gesamten Woche. Frei nach dem Motto:
das Beste zum Schluss! Wald und Wiesen wechseln
sich munter ab, in Eckertsdorf, heute Wojnowo, wird
eine bildschön renovierte orthodoxe Kirche besucht,
ein Stück weiter ein Kloster. In Kruttinnen schmausen
die Radler auf einer Terrasse am Fluss ein Pilzragout,
bevor es zu einer erholsamen Fahrt mit den Stakerbooten auf den Fluss geht. Einem Gondoliere ähnlich
stakt uns Bootsführer Pjotr lautlos durch das Idyll.
Wie ein masurischer Amazonas wirkt die Szenerie:
Wald wächst bis ins Wasser hinein, Schwäne mit flaumigen Küken treiben hoheitsvoll vorbei, ein Eisvogel
sirrt durchs Unterholz, Biberburgen sind zu bizarren
Gebilden getürmt, und Kanuten tummeln sich scharenweise auf dem wohl romantischsten Flusslauf Polens.
Kühl und klar fließt die Kruttinna dahin. Rot leuchtende „Blutsteine“ liegen am Grund, Algen treiben wie
Nixenhaar im Wasser, das grüngolden die Wildnis am
Ufer spiegelt. „Vergesst einmal alle Aktivität und lasst
euch ganz meditativ treiben“, hatte Reiseleiter Zygi
gesagt. Ein guter Rat!
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anz verzaubert steigen wir wieder auf die
Räder, erreichen nach nur einer halben
Stunde Fahrt in Galkowo ein schmuckes
Jagdhaus, wo es im Bauerngarten Zuckerei mit frischen Himbeeren gibt. Dann begrüßt Renate Marsch-Potocka, ehemalige Journalistin und
Polen-Korrespondentin der dpa, persönlich die Radler
und führt sie in den Salon Marion Dönhoff unterm
Dach. Das Jagdhaus stand nämlich ursprünglich im
70 Kilometer entfernten Dorf Steinort und gehörte
der Familie Lehndorff, mit der Marion Dönhoff verwandt war. 2007 ließ Familie Potocka das ruinöse,
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Fotos: Claudia Diemar, Infografik: www.AxelKock.de für AZUR
14. Jahrhundert findet sich eine Drehbrücke über den
Luczanski-Kanal, die bis heute alle halbe Stunde manuell mit einem Steuerrad bewegt wird. Nach Besichtigung des Stadtzentrums mit der vom preußischen
Hofarchitekten Schinkel erbauten Kirche geht es unter
tief hängenden Wolken vorbei am Goldaper See und
zurück zum Schiff nach Wilkasy.
Auch am nächsten Tag gibt sich das Wetter düster. Aber die Radler haben Glück. Der einzig schlimme Guss kommt herunter, als die Gruppe gemütlich in
der Wirtsstube des Landhotels von Christel Dickti im
Dorf Safry bei Kaffee und Kuchen sitzt. Vorher wurde
Familie Dicktis privates Hofmuseum besichtigt, das
ie letzten Kilometer zurück über Sandpisten
werden zum anstrengenden Schlussakkord. Hinter der rechten Kniescheibe macht
sich ein fieser Schmerz breit. Aber
es ist ja nicht mehr weit bis zum
Anleger der Classic Lady.
Ein Kleeblatt von individuellen
Radlern hat an diesem Tag mehr
Pech. Dreimal hintereinander platzt
ein Reifen an ein und demselben
Drahtesel. Damit sind alle mitgeführten Ersatzschläuche dahin. Ein
Anruf beim Schiff genügt, und Kapitän Biadun persönlich schnappt
sich das Auto des Radler-Resorts
und bringt den Gestrandeten ein
Ersatzrad. Wenn das kein vorbildlicher Einsatz ist! Und beim letzten
Dinner unterstützt der Kapitän das
Kellnerquartett beim Servieren und
schenkt, wie fast jeden Abend, auf
Wunsch einen Verdauungsschnaps
ein. Reiseleiter Zygi liest noch ein
wenig vor. Diesmal ein Gedicht
von Fritz Berger über Ostpreußen.
Und dann greift ein Gast spontan
zur Mundharmonika und gibt Seemannslieder zum Besten.
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s ist lange hell, und am
Abend ist der Himmel so
blitzblau wie zu Beginn
der Reise. Kein Lüftchen
regt sich. Der Beldahnsee liegt still
wie ein Spiegel. Die Masten eines
Seglers ziehen vor der glühend
untergehenden Sonne vorbei. Die
blaue Stunde danach wird zum Gemälde. Und die Mücken summen
leise dazu.
Text: Claudia Diemar
Lötzen
Wilkasy
Deutschland
Rhein
Die unberührte Natur
Masurens aktiv erleben und
durch idyllische Dörfer
und Städtchen bummeln.
Polen
Szymonka
Nikolaiken
Masuren
Die Masurische Seenplatte
im Nordosten Polens ist eine
der schönsten polnischen
Landschaften. Sie besteht aus
etwa 3000 größeren und kleineren Seen in einer von der
letzten Eiszeit geschaffenen
Moränenlandschaft. Charakteristisch sind die glazialen
Rinnen zwischen den Hügeln,
entstanden durch die abtragende Wirkung der Schmelzwässer beim Abschmelzen
der Gletscher, die später die
Seen aufnahmen. Rund 15
Prozent der Gesamtfläche
Masurens sind von Wasser
bedeckt. Die Seenplatte hat
eine Größe von etwa 1700
Quadratkilometern. Die größten Wasserflächen bilden
der Spirdingsee (Jezioro
Sniardwy), im Volksmund
auch „Masurisches Meer“
genannt, mit einer Fläche
von 114 Quadratkilometern,
sowie der Mauersee (Jezioro
Mamry) mit 105 Quadratkilometern.
An insgesamt fünf verschiedenen Orten legt das Schiff
im Laufe der Reise an.
Piaski am Beldahnsee ist
Start- und Schlusspunkt der
Tour, ein idyllisch-einsamer
Platz mit einem RadlerResort (Hotel). Das nächste
Dorf ist Weissuhnen mit einer
sehenswerten Kirche.
Nikolaiken (Mikolajki) hat
knapp 4000 Einwohner, liegt
malerisch zwischen zwei Seen
und entwickelte sich vom
Fischerdorf zum beliebten
Ferienort. Am nahen Luknainer See befindet sich die
größte Höckerschwankolonie
Europas.
Rhein (Ryn) am gleichnamigen See prunkt mit einer
gotischen Ordensritterburg
0
10 km
Piaski
aus dem 14. Jahrhundert.
Lötzen (Gizycko) ist die
Sommerhauptstadt Masurens
und eines der Segelzentren
der Region. Die heutige Kreisstadt mit 30.000 Einwohnern
nahm ihren Anfang mit der
Ordensritterburg aus dem 14.
Jahrhundert. Am westlichen
Rand der Stadt wurde 1844
bis 1859 eine der mächtigsten Festungen Preußens
erbaut, die nach dem damaligen Kriegsminister benannte
Feste Boyen in Gestalt eines
unregelmäßigen Polygons mit
sechs Bastionen. Sehenswert
sind die Schinkel-Kirche im
Zentrum sowie die drehbare
Brücke über den Kanal. Der
Schiffsanleger der Classic
Lady befindet sich in Wilkasen (Wilkasy) am Stadtrand.
Szymonka ist ein kleiner
Weiler, der als Startpunkt von
einer der Radtouren dient.
Wichtige weitere Punkte
auf den Radrouten sind
Kruttinnen (Krutyn), das
Zentrum des Kajaksports auf
dem idyllischen Flüsschen
Krutynia sowie das „Wolfsschanze“ genannte ehemalige
Führerhauptquartier nahe der
Stadt Rastenburg (Ketrzyn).
Anreise
Per Zug oder Flug (z. B. LOT
oder Lufthansa) nach Warschau oder Danzig, von dort
mit kostenlosem Bustransfer
nach Masuren.
BESTE REISEZEIT
Früh- und Spätsommer. Im
Hochsommer kann es wegen
des schon kontinentalen
Klimas sehr heiß werden.
RESTAURANTTIPP
„La Bibliotèque“ im Hotel St.
Bruno im ehemaligen Kloster
in Lötzen (Gizycko). Gehobene regionale und internationale Küche in elegantem Ambiente mit Blick auf Park und
Kanal. Hauptgerichte ab ca. 8
Euro. www.hotelstbruno.pl
WÄHRUNG
1 Zloty = 0,24 Euro (Stand:
Nov. 2013). Der Umtausch ist
am günstigsten in den Wechselstuben der größeren Orte.
SOUVENIRS
Bernstein von der nahen Ostseeküste, Bunzlauer Keramik,
Handgestricktes, getrocknete
Pilze sowie Honig.
LESETIPP
Travis Elling,
Masuren,
Komet Verlag,
6,99 Euro
INFO
www.polen.
travel
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