meines Buches Lebensgefährte

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meines Buches Lebensgefährte
Lebensgefährte
Daniel Dreiucker
b 21.06.2001
Version vom 7. Dezember 2010
Dieses Werk steht unter der
“Creative Commons Namensnennung - Keine kommerzielle Nutzung Keine Bearbeitungen 3.0 Deutschland” Lizenz.
Details unter
http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/
Für meine Sozia Fee, mit der ich lernte, eine neue Sprache zu sprechen.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
9
1 Die Schöpfungsgeschichte
13
2 Persönlichkeitsbildung
16
3 Versprochen!
20
3.1 Das zweite Versprechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
4 Das
4.1
4.2
4.3
4.4
4.5
4.6
Spielkind
Fireblade . . . .
R1 . . . . . . . .
Ninja . . . . . . .
GSX-R . . . . . .
Finale . . . . . .
Bekanntmachung
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24
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30
31
5 Hockenheimring
33
6 Über das Mopedoversum
38
7 Spielhölle
42
8 Gelbe Engel, selbst ernannte Freunde
46
9 Sachsenring
49
9.1 Erster Tag: Verzweiflung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
9.2 Zweiter Tag: Hoffnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53
9.3 Dritter Tag: Ekstase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
10 Kalter Entzug
59
11 Feindliche Übernahme
60
12 Verlieren oder nicht verlieren?
64
5
13 Medizinisches
69
13.1 Mopedopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
13.2 Der Hämoglobinschieber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72
13.3 Der Kurvenatmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
14 Relativistisches Motorradfahren
74
15 Von der (Un-)Sterblichkeit
76
16 Zurück ins Mopedoversum
16.1 Wer rastet, der rostet . . . . . . .
16.2 Hatte ich nicht eben noch Profil? .
16.3 “Die Spinnen, die Mopedonauten!”
16.4 Rückzug . . . . . . . . . . . . . . .
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82
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Vorwort
Das hier vorliegende Werk ist das Ergebnis von zu viel Nachdenken über das
Motorradfahren, erdacht, oder vielleicht vielmehr ersponnen, von Menschen,
die mit dieser Welt nie so gut klar kamen wie sie es eigentlich sollten und
gerne aus ihr flüchteten. “Das Glück der Erde liegt auf dem Rücken der
Pferde” und diesen nach Intensität strebenden Menschen war ein Pferd nicht
genug, es mussten dutzende wenn nicht gar über hundert auf einmal sein.
So kamen sie, schon vor langer Zeit, und auf verschiedenen Umwegen, zum
Motorrad. Sie hatten nie direkt nach dem gesucht was sie dann darin fanden,
aber sie fanden etwas, und ihr Leben wurde bereichert. Dieses Gefährt –
in seiner ursprünglichen Form eine leblose Maschine – wurden ihnen zum
Freund, zum engen Verbündeten und letztendlich zum Lebensgefährt.
Unter diesem Hintergrund entstand diese wilde Sammlung von Geschichten, von Ideen und Hirngespinsten rund um das Fahren und dem Objekt –
Subjekt? – Motorrad. Manche Ideen in diesem Werk habe ich zusammen
mit meiner Sozia entdeckt, andere mit befreundeten Motorradfahrern. Es
war dabei nie das Ziel, diese einmal aufzuschreiben oder auf andere Art
und Weise für einen größeren Kreis zugänglich zu machen. Wir hatte ja
noch nicht einmal das Ziel diese zu erarbeiten, wir haben sie nie gesucht, sie
tauchten einfach in unseren Köpfen auf und ließen sich nicht mehr daraus
vertreiben. Hiermit banne ich sie auf Papier, um sie niemals zu vergessen,
um sie zu beobachten während sie wachsen und sich entwickeln. Denn entwickeln tun sie sich noch immer und so lange das so bleibt, betrachte ich
dieses Werk auch nicht als vollendet.
Andere Teile in diesem Werk sind Berichte über meine eigenen Erlebnisse, aufgeschrieben um meine Sicht der Dinge zu konservieren und weil man
mit gebrochenen Knochen ohnehin nichts besseres zu tun hat. Diese werden
sich zumindest inhaltlich nicht mehr verändern. Natürlich ändern sich meine
Ansichten und Meinungen, jedoch sollen diese Kapitel festhalten, wie ich die
Situationen damals erlebt habe.
Diese Sammlung von Mythen und Gleichnissen ist vielleicht auch ein
Versuch das Unerklärbare zu erklären. “If I had to explain, you wouldn’t
understand”. Der Versuch zu erklären, was das Motorradfahren ausmacht,
ist zum Scheitern verurteilt, weil keine Erklärung die vielen verschiedenen
9
Aspekte zusammenfassen könnte. Obwohl ich das weiß, obwohl ich die Sinnlosigkeit dieses Vorhabens schon lange erkannt habe, habe ich doch immer
wieder versucht es zu erklären, so auch in manchen Kapiteln des vorliegenden
Werkes. Vielleicht kam hierbei etwas so abstraktes und weltfremdes heraus,
dass es niemanden außer mir und meiner Sozia irgendetwas erklären kann.
Doch es hat immerhin geholfen, es mir selbst zu erklären, denn ich selbst
befinde mich noch mitten in einem Prozess des Erkennens: des Erkennens
wieso das Fahren zu meinem Weg geworden ist und weshalb sich dieser so
absolut und unumgänglich richtig anfühlt. Und es erklärt mir auch, warum
ich noch am Leben bin. Das bin ich nämlich nicht obwohl ich Motorrad
fahre, sondern, davon bin ich überzeugt, gerade weil ich Motorrad fahre.
Je mehr ich über das Fahren nachdenke, je mehr ich mit meiner Sozia
über das Fahren diskutiere, umso klarer wird mir – uns –, dass es nicht
nur um das Fahren geht. Das Fahren ist nur ein Teil von etwas größerem.
Oder eher, das Fahren ist eins mit etwas größerem. Was man beim Fahren
erlebt, die Erkenntnisse, die man dabei gewinnt, lassen sich nicht selten auf
alles andere übertragen. Ich bin schon lange sehr geübt darin, Dinge zu erklären, indem ich sie in Gleichnisse rund um das Motorradfahren verpacke.
Es ist faszinierend, wie mit solch einer simplen Technik die kompliziertesten
Sachverhalte mit wenigen Bildern so darstellen kann, dass sie sogar verstanden werden. Also, zumindest von Motorradfahrern verstanden werden. Noch
viel faszinierender finde ich jedoch den umgekehrten Weg, wie man anhand
des Motorradfahrens alles, einfach alles erklären kann, was im Leben eines
Menschen von Bedeutung ist.
Zu guter Letzt möchte ich nochmals darauf hinweisen, dass es sich bei
allen Kapiteln um Hirngespinste handelt. Nichts davon ist real, sämtliche
Angaben sind frei erfunden, entsprangen nur der dichterischen Freiheit. In
Wirklichkeit fahre ich gar nicht Motorrad. Ich möchte allen dringendst davon abraten sich von irgendetwas in diesem Buch inspirieren zu lassen. Ein
Verhalten, das gegen die Straßenverkehrsordnung verstößt kann und darf
nicht geduldet werden.
Kapitel 1
Die Schöpfungsgeschichte
Die Welt war schon alt als der Mensch das erste mal auf ihr wandelte. Groß
war sie, diese Welt, so groß, dass ein einzelner Mensch keine Chance hatte sie ganz zu sehen, denn er war langsam. Überhaupt merkte er, dass er
von Kopf bis Fuß unterdurchschnittlich war. Er konnte nicht fliegen wie die
Vögel, er konnte nicht unter Wasser atmen wie die Fische, er konnte nichts
sehen wenn es dunkel war und er hatte keine Klauen oder Panzer um im
Kampf zu siegen. Nur eines gab es, in dem er allen anderen Bewohnern
dieser Welt überlegen war: Er konnte lernen, schneller und perfekter als jeder andere Bewohner dieses Planeten. Und er lernte schnell, dass er diese
Welt zu seinem Vorteil formen konnte, er konnte Werkzeuge entwickeln um
seine Unzulänglichkeiten zu verschleiern und er konnte Gefährten finden.
Einen seiner wertvollsten Freunde fand er im Pferd, denn es half ihm seinen schlimmsten Makel, die Langsamkeit, zu überwinden. Das Pferd wurde
gleichermaßen zu seinem Gefährt und zu seinem Gefährten. So bereiste der
Mensch die Welt mit seinem neu gefunden Gefährten, und er sah, dass es
gut war, denn es war schneller als zuvor. Und es war nicht nur schneller,
sondern erstaunlicher Weise fühlte es sich an als hätte er nun vier Beine, als
würde er mit einem Male viele hundert Kilo mehr wiegen und doch die volle
Kontrolle darüber haben. Endlich war er frei, hoch über dem Boden schwebend erkannte der Homo sapiens ephippiatus: “Das Glück der Erde liegt auf
dem Rücken der Pferde”. Manche wollten immer schneller und weiter reiten
und diese Menschen, die nur noch für das Reiten lebten, die von Kopf bis
Fuß Reiter waren, erschufen ein neues Wort für sich: Ritter. Doch ihr Hobby
war gefährlich, Pferd und Ritter konnten stürzen und sich verletzen und vor
allem die Pferde trugen oft solch schwere Verletzungen davon, dass sie nie
wieder laufen konnten. Um beides zu minimieren baute der Ritter Panzer
für sich und sein Pferd und er nannte diese Panzer Ritterrüstung. Und für
viele Jahre lebten die Ritter glücklich und widmeten ihr Leben den Wundern
der Welt und – natürlich – ihren Pferden.
Doch der Mensch war schwach, er versklavte seinen neuen Freund, spann13
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KAPITEL 1. DIE SCHÖPFUNGSGESCHICHTE
te ihn vor den Karren und schlug mit der Peitsche nach ihm. Er baute
Straßen, hässliche Straßen ohne Kurven und ohne Grip, aber schnell war er
nun ohnehin nicht mehr. Die Jahre vergingen und die Idee der Ritter geriet
in Vergessenheit. Man hatte noch ihre Rüstungen, aber man hielt sie für
gewöhnliche Kampfanzüge, belächelte sie, weil man nun doch viel bessere
Waffen hatte, gegen die diese Rüstungen nicht halfen. Man verkannte die
Pionierleistung der Ritter, vergaß was sie getan hatten und stempelte sie als
wilde Raufbolde oder romantische Kampfhünen ab.
Das Rittertum ging verloren in dieser dunklen Zeit, aber was nicht verloren ging, das waren die Reiter. Noch immer gab es Menschen die Pferde
liebten und, ohne sich dessen bewusst zu sein, die Tradition der Ritter weiter
trugen. Und während die Reiter ritten gab es noch andere, die nichts von den
Freuden des Reitens wussten und doch genau das suchten, was die Reiter auf
ihren Pferden lebten. Sie nannten sich Sucher. Sie überlegten, suchten und
experimentierten und endlich hatte einer von ihnen eine revolutionäre Idee:
er ordnete die Räder der Wagen neu, nicht mehr nebeneinander, sondern
hintereinander in einer Reihe! Nicht um Lasten zu transportieren, sondern
nur für Menschen und er nannte seine Entdeckung Laufmaschine. Und die
Sucher sahen, dass es gut war, denn sie konnten ohne Anstrengung einen
Berg hinunter rollen und hatten unvorstellbaren Spaß dabei. Sie entdeckten
etwas, das ihnen bei der Konstruktion der Laufmaschinen gar nicht in den
Sinn gekommen war: Sobald sie rollten, waren sie in der Lage die Füße vom
Boden zu nehmen und nur noch mit Hilfe des Lenkers das Gleichgewicht zu
halten. Sie mussten gar nicht genau verstehen, wie sie das machten, mit ein
wenig Übung klappte dies von ganz alleine, es war sogar sehr einfach, viel
einfacher als zu erklären wie sie dies genau taten. Sie hatten einen kleinen
Teil von dem gefunden, was sie gesucht hatten, und fortan nannten sie sich
nicht mehr Sucher, sondern Finder.
So schön die Laufmaschinen bergab auch sein mochten, bergauf und
auf der Geraden war die Sache leider noch nicht so einfach. Sie mussten
sich ständig mit den Beinen vom Boden abstoßen und verloren sehr schnell
an Geschwindigkeit. Die Finder überlegten weiter, schufen neue Entwürfe,
bauten und entwickelten und sie fanden, sie er fanden: Pedale. Mit diesen
Pedalen verwandelten sie die Laufmaschinen in Fahrräder. Sie sahen, dass es
gut war, denn auf der Ebene kamen sie nun schon deutlich schneller voran
und sie schafften es sogar auf der Ebene Kurven zu fahren, ohne selbst den
Boden berühren zu müssen. Aber noch immer war ihr Vorwärtskommen mit
großen Mühen verbunden, vor allem wenn ihr Weg sie bergauf führte, und
sie waren auch nicht sonderlich schnell.
Wieder machten sich die Finder, die sich nun auch Erfinder nannten,
ans Werk, schufen weitere Entwürfe, bauten und entwickelten. Es dauerte lange, sie fanden viele Verbesserungen, entdeckten als Zwischenstufe das
Hochrad, dann die Kette mit Übersetzung, verbesserten die Stabilität und
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verringerten das Gewicht des Fahrrads. Dies waren alles Schritte in die richtige Richtung, aber sie waren immer noch noch nicht zufrieden. Eines Tages
jedoch – Heureka! – fanden sie die Lösung: ein Fahrrad mit Motor, ein. . .
Motorrad! Ohne Mühen konnten sie nun sogar Berge hinauf fahren und sie
sahen, dass es gut war. Es war nicht einfach nur gut, es war fantastisch! Die
Erfinder merkten, dass sie eins mit ihrem Motorrad werden konnten, es war
als fühlten sie den Weg, den sie entlang fuhren, mit den Reifen selbst. Das
war ein großartiges Gefühl, für die Erfinder war es eine ganz neue Erfahrung,
wobei es für die Reiter schon lange eine Selbstverständlichkeit war.
Der Sucher war am Ziel seines langen Weges, die Welt schrumpfte ein
wenig vor ihm, denn es war nun nicht mehr unmöglich, dass der Mensch
sie komplett bereiste. Er hatte ein Gefährt gefunden, mit dem er seinen
schlimmsten Makel, die Langsamkeit, überwinden konnte. Der Mensch hatte
auch sich selbst neu entdeckt, er war der Homo sapiens ephippiatus motorus,
und während er auf seinem Motorrad durch die Welt glitt, erkannte er: “Das
Glück der Erde liegt auf dem Rücken der Pferde. . . -stärken!”
So kam es, dass auf der Welt nicht nur allerlei Lebewesen ein Zuhause
fanden, sondern auch die Motorräder, die man wohl nicht als Lebewesen im
engeren Sinne, jedoch auch nicht als leblos bezeichnen konnte. Und in einer
Zeit, in der der Leistungswahn beim Motorradbau schon fast seinen Höhepunkt erreicht zu haben schien und die fossilen Brennstoffe noch in einer
Menge zur Verfügung standen, dass viele sie bedenkenlos verschwendeten,
zu jener Zeit entstand die nun folgende Geschichte.
Kapitel 2
Persönlichkeitsbildung
Ich kam nachmittags nach einem Persönlichkeitsbildungsseminar von meiner Firma nach Hause. Schon den ganzen Weg starrte ich aus den S-BahnFenstern, sah den blauen Himmel und konnte es kaum erwarten endlich auf
meine X-Eleven zu steigen. Ich hatte die Schnauze von der ganzen Teamarbeit gestrichen voll, und es war Zeit meine egozentrische Seite mal wieder
im Straßenverkehr auszuleben. Ich deckte die Maschine ab, verpasste der
Kette eine Ladung Dry-Lube und zog mich um. Dann konnte es losgehen.
Wie immer fuhr ich die ersten Kilometer verhalten um dem Motor Zeit zum
aufwärmen zu geben.
Mein Ziel war meine Hausstrecke, der Motor war warm noch bevor ich
am Ortsausgang angelangt war. Ich blieb noch hinter einem Auto und hielt
mich an die Geschwindigkeitsbegrenzung. Nach dem Ortsausgang ging es
bergauf in zwei Rechts-Links Kombinationen. Ich zog nach der Verkehrsinsel am Ortsausgang auf die linke Spur, überholte das Auto und warf die
Dicke in die erste Rechtskurve und beschleunigte. Die Linkskurve hatte einen
größeren Radius, so konnte ich am Gas bleiben. Vor der nächsten Kombination musste ich das Gas ein wenig zurücknehmen, die Rechtskurve war für
höchstens 120 gut. Ab dem Scheitelpunkt drehte ich den Hahn wieder auf,
nahm die Linkskurve und musste für eine enge 180° Kehre abbremsen. Ich
schaltete herunter, ein deutlich hörbares Knacken im Getriebe signalisierte
mir, dass ich im ersten Gang angekommen war. Ich hatte vor gehabt, die
Kurve im Zweiten zu fahren, nun aber war ich bereits am Einlenkpunkt, und
ein bisschen mehr Power schadete nie, man musste nur vorsichtig ans Gas
gehen. Das Hinterrad rutschte leicht beim Herausbeschleunigen, hatte aber
gleich wieder Grip und ich warf die Maschine in eine Linkskurve. Ich musste
etwas vom Gas um die nächste Rechtskurve zu kriegen, die direkt an die
Linkskurve anschloss. Ich holte nach links aus und legte die X-Eleven tief in
die Rechtskurve. Der Straßenbelag war an dieser Stelle der reinste Flickenteppich, aber das Fahrwerk ließ sich noch nicht aus der Ruhe bringen. Der
Helm sauste dicht an der Leitplanke vorbei und entfernte sich erst wieder
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von ihr als die Kurve in eine Gerade überging.
Was ich als meine Hausstrecke bezeichnete war eine etwa 120 km lange
Strecke, die ich in beide Richtungen praktisch auswendig kannte. Die Strecke
zog sich über mehrere kleine Berge und viele Ortschaften, sie enthielt kaum
gerade Stücke sondern nur Kurven in jeder erdenklichen Form. Bei den engsten schliff die Fußraste schon bei 50 km/h, andere Kurven waren für 200 gut,
und manche waren so weit, dass ich sie mit meiner Dicken nicht am Limit
fahren konnte. Leider war der Straßenbelag an vielen Stellen mit Bitumenstreifen oder Unebenheiten durchzogen, hinzu kam das Problem, das man in
manchen Kurven nicht mal 50 m weit sehen konnte. Ich folgte dem gewohnten Weg noch 20 Minuten und kam dann zu einem meiner Lieblingsabschnitte. Dieser Teil meiner Hausstrecke ging über mehrere sehr enge Kurven mit
gutem Belag, die ich schon kurz nachdem ich meinen Führerschein gemacht
hatte, immer mit meiner 650er DR rauf und runter geheizt war bis die Fußrasten und der Hauptständer Funken sprühten. Die ersten beiden Kurven
waren noch vor dem Ortsausgang, ich fuhr sie gemütlich im zweiten Gang
und versuchte die ideale Linie zu finden, um mich schon mal für die nächsten Kurven einzustimmen. Nach der zweiten Kurve war das Ortsschild noch
etwa 100 m entfernt und ich hing voll am Gas. Der Motor brummte und
das brachiale Drehmoment der X-Eleven schob mich vom unteren in den
mittleren Drehzahlbereich. Das Brummen wurde zu einem Dröhnen als ich
das Ortsschild passierte, der Zeiger des Drehzahlmessers kletterte beharrlich weiter und das Schieben des Drehmomentes vermischte sich mit dem
Vorwärtsziehen der Leistung. Ich kam bei 9 000 U/min am Punkt der maximalen Leistung an, das Geräusch aus den Serienendschaldämpfern glich
nun dem heiseren Kreischen einer Turbine. Die erste Kehre ging nach rechts
und hatte einen sehr engen Radius. Ich betätigte den Handbremshebel und
das Vorderrad versank im Asphalt. Ich drückte die Maschine nach links,
warf mich dann mitsamt Motorrad nach rechts und gab wieder Gas. Das
Kratzen war deutlich zu hören und im rechten Bein zu spüren dann war
ich um die Kurve rum und die Fußraste kam wieder frei. Ich blieb am Gas
und fuhr in eine Linkskurve, die sich langsam immer enger zog. Die ersten
90° der Kurve konnte ich im oberen Drehzahlbereich fahren, dann musste
ich kurz abbremsen, da die nächsten 90° deutlich enger waren. Es folgte eine Linkskurve und dann kam wieder ein kurzes Beschleunigungsstück, ich
ließ den Pferden noch mal freien Lauf und bremste dann die Rechts-Links
Kombination an, die auf mich zuraste. Die Kombination bestand aus zwei
engen Kurven, so dass man nur Sekundenbruchteile nachdem man noch mit
der rechten Fußraste Funken sprühte schon die Linke auf den Boden bekommen konnte. Ich erwischte die Kurve gut, danach kam wieder eine kurze
Gerade, die reichte, um den Zweiten kurz vor den roten Bereich zu drehen
bevor ich das Vorderrad wieder im Asphalt versinken ließ um die nächste
Rechtskurve anzubremsen. Die Kurve war etwas weiter als die davor, aber
immer noch sehr eng. Man konnte sie daher etwas schneller nehmen, und
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KAPITEL 2. PERSÖNLICHKEITSBILDUNG
hatte somit auch mehr Kraft an der Kette zur Verfügung. Ab dem Scheitelpunkt beschleunigte ich scharf, der 180er Michelin konnte die Kraft nicht
auf die Straße bringen und zog einen schwarzen Strich bevor er anfing wegzurutschen. Ich ging vom Gas und fing die Maschine gerade noch so ab,
richtete das Motorrad kurz auf und warf es dann in eine Linkskurve. Ich
beschleunigte etwas vorsichtiger, der Rutscher gerade hätte ins Auge gehen
können, und ich hatte wenig Lust den Boden mit etwas anderes als meinen
Reifen oder den Fußrasten zu berühren. Es folgte wieder eine kurze Gerade
und dann wieder eine Rechts-Links Kombination. Diese Kombination verlief
fast genauso wie die davor, nur dass das Stück zwischen den Kurven leicht
bergab ging. Diese Kurven waren die letzten, jetzt ging es fast flach einige
hundert Meter geradeaus und dort in einen Wald hinein.
Ich hielt an der Einfahrt zu ein paar Weinbergen und wendete. Ich kannte den Weg in die andere Richtung nicht ganz so gut, hinzu kam, dass man
bergab immer einen längeren Bremsweg hatte und deshalb war ich nicht genauso schnell wie bergauf. Trotzdem berührte die Fußraste mehrere Male den
Asphalt. Auf der letzten Geraden überholte ich ein Auto, warf die Maschine
in die letzten Kurven und hielt kurz hinter dem Ortsschild um zu wenden.
Der Autofahrer, an dessen Außenspiegel ich soeben vorbeigerast war, warf
mir einen bösen Blick zu. Ich zuckte innerlich mit den Schultern, brachte
das Getriebe in den Ersten und war schon wieder auf den Weg bergauf. Ich
schalte kurz vor dem roten Bereich in den Zweiten, blieb noch kurz am Gas
und bremste dann für die scharfe Rechtskehre und beschleunigte schnell wieder aus der Kurve heraus. Auf der Geraden und der anschließenden leichten
Linkskurve kam ich auf fast in den roten Bereich im Zweiten, bremste dann
scharf ab und hielt mich rechts, machte einen kleinen Schwenker und legte
die X-Eleven tief in die enger werdende Linkskurve. Ich erwischte die Linie
ideal und hing sofort wieder am Gas. Beim Herausbeschleunigen aus der
folgenden rechts-links Kombination verlor der 180er schon wieder den Grip
und diesmal setzte mehr als nur die Fußraste auf.
Ich zog an der Zigarette. Das Nikotin beruhigte mich. Ich kam mir vor,
als sei ich eben erst in einem fremden Bett aufgewacht, ich wusste weder
genau was ich gerade gemacht hatte noch wo ich war. Ich stand in der Hose
meines Lederkombis im Gras neben einer Kurve. Ich drehte mich langsam
im Kreis und sah mich um. Da stand meine X-Eleven im Gras, mein Helm
und meine Jacke lagen am Straßenrand. Etwas entfernt davon stand ein
Roller, neben mir stand ein Typ Anfang zwanzig, der auch eine rauchte.
Erinnerungsfetzen schwirrten durch meinen Kopf. Ich war in der Linkskurve
weggerutscht, fast 50 m über die Straße und dann links die Böschung runter. Zumindest sah die Straße danach aus. Der Rollerfahrer hatte gehalten
und mir geholfen die X-Eleven aufzuheben und etwas näher an die Straße
zu schieben, zumindest vermutete ich das. Ich wusste, dass die X-Eleven an
beiden Seiten zerkratzt war, konnte mich aber nicht mehr daran erinnern
19
sie mir angesehen zu haben. Ich wusste auch, dass der Kerl neben mir bis
letztes Jahr eine Ninja gefahren war, aber wann hatte er mir das erzählt?
Ich blickte in meine Hände und sah neben der Zigarette mein Handy und die
ADAC-Clubkarte. Ich drückte die Wahlwiederholung und sah, dass ich die
Nummer vom ADAC schon gewählt hatte. Jetzt erinnerte ich mich auch daran, dass ich den Rollerfahrer gefragt hatte zwischen welchen Ortschaften wir
waren. Danach musste ich telefoniert haben, aber das Gespräch war, wenn
es denn je stattgefunden hatte, aus meinem Gedächtnis verschwunden. Ich
versuchte ruhig zu atmen und in mich hinein zu horchen. Kopfschmerzen?
Schmerzen im Nacken? Nein, konnte aber noch kommen. Sonst irgendwo
Schmerzen? Meine linke Hand tat weh, ich bewegte die anderen Gliedmaßen
vorsichtig, konnte aber keine weiteren Schmerzen spüren. Der kleine Finger
meiner linken Hand schien doppelt so dick wie normal zu sein. Ich machte
mir Hoffnung keine ernsthaften Verletzungen zu haben und überlegte, wie
es weitergehen sollte. Ich wagte es nicht den Rollerfahrer zu fragen ob ich
wirklich beim ADAC angerufen hatte, ich fürchtete für total bekloppt gehalten zu werden. Wer weiß, was ich bisher schon für merkwürdige Dinge
von mir gegeben hatte. Und außerdem hätte er bestimmt was gesagt wenn
ich den ADAC noch nicht gerufen hätte. Der Rollerfahrer blieb noch eine
weitere Zigarette lang, dann machte er sich auf den Weg.
Ich wartete allein am Straßenrand. Es kamen Autos und vereinzelt ein
paar Motorradfahrer vorbei, einige hielten um zu Helfen und die Erleichterung war jedes Mal in ihren Gesichtern zu sehen, wenn ich ihnen sagte, dass
ich schon allein zurecht käme. Meine Aufmerksamkeit galt vor allem den
Motorradfahrern, ich wartete darauf, dass endlich jemand die Kurven mit
einer anständigen Geschwindigkeit nahm. Von außen betrachtet sahen die
Schräglagen ganz passabel aus, aber niemand erreichte auch nur annähernd
meine Geschwindigkeiten. Ich stellte mir vor, wie es wohl ausgesehen hatte,
als ich mit meiner Dicken den Berg hoch geheizt war. Ich hätte Videoaufnahmen von ihr machen sollen solange sie noch schön gewesen war, aber nun
war es ohnehin zu spät. Mein Konto hatte sich noch nicht einmal von den
Ausgaben für den Satz Felgen erholt, die ich Anfangs der Saison zerstört
hatte. Bisher hatte ich alle Arbeiten in einer Vertragswerkstatt erledigen
lassen, aber diese Zeiten waren nun wohl leider vorbei. Dennoch versprach
ich ihr, als sie auf den ADAC-Abschlepper verladen wurde, dass ich sie technisch mindestens wieder in den gleichen, wenn nicht einen besseren Zustand
bringen würde.
Kapitel 3
Versprochen!
Dass ich meiner Dicken versprach sie wieder aufzubauen, ohne genau zu
wissen was defekt war, war keine spontane Spinnerei, sondern vielmehr eine
Entscheidung, die schon lange vor dem Unfall gefallen war. Es war mein
voller Ernst, ich würde nie ein Versprechen geben wenn ich nicht auch bereit
dazu wäre, alles in meiner Macht stehende zu tun um dieses Versprechen
einzulösen.
Mit der Zeit entwickelte man eine gewisse Routine im Umgang mit
Unfällen, ein Automatismus, ähnlich dem des Suchens der Ideallinie. Dieser
Automatismus, “Modus Problemlösung”, bestand aus einem fest eingefahrenem Programm, das abgespielt wurde, solange ich körperlich dazu in der
Lage war: Die Maschine, unfähig sich selbst zu helfen, musste beschützt und
sicher nach Hause gebracht werden, danach konnte man sich immer noch um
die eigenen Wunden kümmern. Während diese heilten, wurde die Reparatur
organisiert und nach Möglichkeit durchgeführt.
Nach einem Unfall kann man sich viele Gedanken machen – gerade wenn
man verletzt ist oder die Maschine beschädigt ist, denn dann hat man die
Zeit dazu – und es fällt einem leicht ins Grübeln zu geraten. Wie genau
kam es zu dem Unfall? Selten beruht ein Unfall auf einem einzelnen Ereignis, sondern ist das Ergebnis vieler einzelner Fehler, Fehlentscheidungen
oder kleiner Risiken, die man bereit war einzugehen. Welches war der erste Fehler in der Kette der Ereignisse, der schließlich alles andere zur Folge
hatte? Selbst wenn ein Unfall nicht die direkte Folge eines Fehlers ist, den
man selbst begangen hat, so wäre man doch meist in der Lage gewesen,
die Situation schon frühzeitig zu entschärfen. An welchen Stellen hätte man
eingreifen können, nein, eingreifen müssen? Wäre es nicht um eine Haaresbreite noch viel schlimmer ausgegangen? Es lohnte sich über all diese Fragen
nachzudenken und nach Antworten zu suchen, denn jeder Fehler war auch
eine Chance. Eine Chance etwas zu erkennen und daraus zu lernen.
Der rote Faden, der zu diesem Unfall führte, war nicht zu übersehen. Ich
hatte den rutschenden Hinterradreifen nicht nur ignoriert, ich hatte ihn sogar
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21
begrüßt. Wild auf diesen Adrenalinkick, den der Tanz auf der Außenkante
des Reifens erzeugte, hatte ich die Zeichen missachtet und mir vielleicht
sogar eingebildet, ich könnte das alles kontrollieren. Damit nicht genug, ich
hatte auch noch umgedreht um die gleiche Strecke noch einmal zu fahren,
obwohl ich mich davor schon am Limit bewegt hatte, und es war klar, dass ich
beim zweiten Mal noch schneller, noch offensiver fahren würde. Es brauchte
keinen Unfall um mir dessen bewusst zu werden, es war mir schon während
des Fahrens bewusst gewesen. Das Problem war nur, in diesem Moment
war es mir schlicht und ergreifend egal gewesen. Das Verlangen nach dem
Kick hatte alles andere in den Schatten gestellt. Jetzt, da ich eine verbeulte
Maschine hatte, war es mir allerdings nicht mehr egal. Jetzt kotzte es mich
an.
Eine denkbare Folge dieses Gedankengangs wäre eine Infragestellung
meines Hobbys: Wenn ich aus einer spontanen Laune heraus deutlich erkennbare Risiken für Leib und Maschine einging, wäre es dann nicht gesünder auf
das Fahren zu verzichten? Ich war inzwischen an einem Punkt, an dem ich
bereits die Übersicht über all meine Unfälle verloren hatte, insofern war es
nicht das erste Mal, dass sich diese Frage stellte und ich kannte die Antwort
bereits. Die Antwort war ein klares und deutliches “Nein”. Es wäre nicht
gesünder. Das Fahren konnte zu Unfällen führen und damit zu Schmerzen,
Verletzungen und vielleicht würde es irgendwann mein Tod sein. Es war ein
Risiko, und angesichts meiner Person sicherlich kein geringes. Den Glauben,
dass dies mein letzter Unfall gewesen sein könnte, müsste man als Wahnvorstellung bezeichnen. Dennoch war es gesünder, es war ein geringeres Risiko
als das Nicht-Fahren, denn was mir damit blühte, dessen war ich mir nur allzu gut bewusst: Kein Grund mehr morgens aufzustehen, kein Grund mehr
mich durch den Alltag zu quälen und mich für ein paar Euro die Stunde
ausbeuten zu lassen, keine Hoffnung mehr, keine Kraft mehr um dem ganzen Scheiß, den das Leben zu bieten hat, auszuhalten. Nicht mehr zu fahren
würde für mich den langsamen aber sicheren Tod bedeuten. Vielleicht nicht
den körperlichen, jedoch zumindest den seelischen. Eben deswegen war das
Versprechen, die X-Eleven zu reparieren, keine spontane Spinnerei, sondern
eine bewusste Entscheidung, die ich nicht unüberlegt getroffen hatte. Es
war kein Versprechen an ein lebloses Stück Metall, es war ein Versprechen
an mein Lebensgefährt, es war ein Versprechen an mich persönlich und es
war ein Versprechen an das Leben selbst.
Meine Studienzeit war geprägt von einem notorischen Geldmangel. Das
fehlende Geld machte sich vor allem beim Reparieren der X-Eleven bemerkbar und zwang mich dazu, mein Sklavenleben an der Tankstelle wieder aufzunehmen und mich fast ausschließlich von belegten Broten und Leitungswasser zu ernähren. Der Schaden an meiner Dicken war – mal abgesehen
von dem Totalschaden an meiner ersten X-Eleven, den ich nicht reparieren
musste – der erste, der nicht mit ein paar offensichtlichen Handgriffen zu
22
KAPITEL 3. VERSPROCHEN!
reparieren war. Neben einigen Kleinigkeiten, wie abgerissene Blinker und
Fußrasten, war der Lenker gebrochen und die Gabel verbogen. Für mehr als
neue Gabelbrücken und einen neuen Superbikelenker reichte es erstmal nicht
und ohne die Hilfe eines guten Freundes, der mir außer mit seiner Freundschaft auch noch mit Werkzeug und Know-How zur Seite stand, hätte ich
die Dicke wohl nicht wieder so schnell auf die Straße bekommen.
Mit dieser neuen Ausrüstung analysierte ich den technischen Faktor des
Unfalls: Die Reifen. Die Michelin Pilot Road waren die dritte Sorte Reifen,
die ich auf einer X-Eleven fuhr. Mein erster Satz Reifen, die Serienbereifung,
waren Michelin Macadam gewesen und mir wurde erst bewusst wie grottenschlecht diese Reifen waren, als ich danach mit Bridgestone Reifen über den
Asphalt geglitten war und einen Vergleich hatte. Es war ein Unterschied wie
Tag und Nacht und zum ersten Mal erlangte ich eine Vorstellung von dem
Einfluss, den Reifen auf das Fahrverhalten eines Motorrads haben konnten.
Aufgrund dieser Erkenntnis wollte ich mehr Reifen testen um den besten zu
finden und war wieder bei Michelin gelandet, da dieser im Forum recht guten Anklang fand und eine hohe Laufleistung aufzuweisen hatte. Der Reifen
vermittelte auch ein recht gutes Gefühl, jedoch ließ der Grip zu wünschen
übrig, wovon mich nicht zuletzt mein Unfall überzeugt hatte. Da die Dicke
nun wieder fahrbar war, suchte ich mir einen Kreisverkehr mit wenig griffigem Asphalt und drehte ein paar Runden. Ich fühlte mich nicht wirklich
wohl, der Reifen war offenbar an seiner Haftungsgrenze, dabei war ich nur
wenig schneller als die Autos unterwegs. Obwohl die Verschleißgrenze noch
nicht erreicht war investierte ich meinen letzten Kreuzer in einen Satz Continental ForceMax. ForceMax hörte sich vielversprechend an, aber Marketing
und Realität sind oft zwei verschiedene Welten. Nicht so bei diesem Reifen.
Ein erster Test im selben Kreisverkehr zauberte mir ein breites Grinsen ins
Gesicht: Der Reifen war kaum eingefahren, aber er haftete wie Klebstoff.
Mit schleifender Fußraste drehte ich Runde um Runde bis die Autofahrer
genervt hupten. Ok, genug getestet. Diese Reifen waren genial. Die prognostizierte Laufleistung war zwar nur halb so hoch wie beim Pilot Road, aber
es würde sich sogar finanziell lohnen wenn man die Reparaturkosten mit
einrechnete.
Die Dicke war damit zwar wieder fahrbar, aber die Front war noch nicht
komplett gerade und somit mein Versprechen, all ihre defekten Teile durch
gleich- oder höherwertige zu ersetzen, noch nicht erfüllt. Es dauerte bis zur
nächsten Saison um Geld und Teile zu beschaffen, aber es hatte sich gelohnt:
Eine gebrauchte XX-Gabel1 inklusive aller Gabelbrücken, neue, progressive
Gabelfedern von Wilbers, ein Emil-Schwarz-Lenkkopflager und gebrauchte
BOS-Endschalldämpfer. Die Endschalldämpfer waren aufgrund eines weiteren, kleinen Sturzes notwendig geworden. Das Ergebnis war eine X-Eleven,
1
Mir wurde gesagt, sie sei baugleich zur Gabel der X-Eleven. Das stimmte zwar nicht
ganz, aber es ließ sich damit arbeiten.
3.1. DAS ZWEITE VERSPRECHEN
23
die sich trotz ihrer rund 250 Kilo – immerhin waren es schon ein paar Pfund
weniger geworden – wie ein Fahrrad in die Kurven legen ließ und sich dabei
endlich auch dick anhörte. Das tiefe, Bass-lastige Blubbern der BOS verlieh
der Dicken schon im Stand eine andere Aura. Das vorher so unscheinbare,
leicht zu unterschätzende Motorrad ließ nun schon an der Ampel die wahre Power erahnen. Der brachiale Sound passte perfekt zu dem gewaltigem
Druck, mit dem die Maschine aus dem Drehzahlkeller herausbeschleunigte,
sobald man am Gas drehte. Ihre Handlichkeit sah man ihr im Stand jedoch
nicht an, davon konnte man sich nur überzeugen, wenn man es schaffte, mir
mehr als ein oder zwei Kurven hinterher zu kommen.
3.1
Das zweite Versprechen
Mit dem Studium kamen auch die Prüfungen. In der Prüfungswoche und den
Wochen davor lagen die Nerven bei meinen Kommilitonen und mir blank.
Studententypisch waren wir Saisonarbeiter, schoben jedes Semester einen
größeren Berg an unerledigter Arbeit vor uns her bis dieser uns direkt vor
den Prüfungen zu erdrücken drohte. Dass wir weder einen freien Tage zwischen den Vorlesungen und den Prüfungen noch zwischen Prüfungen selbst
hatten, trug nicht dazu bei die Situation zu entspannen. So manch einer verfluchte die Entscheidung, nicht einfach eine gemütliche Ausbildung angefangen zu haben, und neben der allgemein anerkannten Methode – regelmäßige
Besäufnisse – entwickelte jeder seine eigenes Konzept, um durchzuhalten.
Mein Ansatz bestand darin, mir eine Belohnung zu versprechen: “Leg ein
anständiges Diplom hin, dann kriegst du dafür in der ersten Saison danach
auch ein neues Motorrad!” Was das Motorradfahren angeht war ich ein Junkie, und als solcher konnte ich diesem Angebot natürlich nicht widerstehen.
So kam es, dass ich viele Monate später vor der Entscheidung stand, welches
Motorrad mein neues Lebensgefährt werden sollte.
Kapitel 4
Das Spielkind
Das neue Motorrad würde natürlich mein Zweitmoped werden. Die X-Eleven
war technisch in einem top Zustand und nach über 40 000 km, die wir zusammen unterwegs gewesen waren, waren wir nicht nur ein eingespieltes
Team, sondern auch gute Freunde geworden. Ich hätte es nicht übers Herz
gebracht, sie einem Wildfremden zu verkaufen und da sie optisch einen verbeulten und eher ungepflegten Eindruck machte, wäre finanziell ohnehin
nicht mehr viel zu holen gewesen. Somit waren die Bereiche Tourer und
Nakedbike in meinem Fuhrpark bereits abgedeckt, die neue Maschine sollte diesen erweitern, eine neue Nuance hinzufügen, neue Herausforderungen
und Möglichkeiten bieten. Da fehlten natürlich noch einige: Eine Crosser
um ins Gelände zu fahren, eine Supermoto zum Driften und Spaß haben,
ein altes, widerstandsfähiges Bike um Stunts zu üben, eine Trial-Maschine,
eine reinrassiger Rennhobel... und dann, nur der Vollständigkeit halber, noch
eine Reiseenduro und eine Chopper. Ein Wheelie-Kurs (mit gestellten Motorrädern) und zwei Touristenfahrten auf dem Hockenheimring konnten die
Entscheidung zumindest etwas einschränken: entweder eine leichte Supermoto mit wenig Kubik – diese könnte ich dann auch für Stunts verwenden und
mit anderen Reifen auch im Gelände einsetzen – oder eine Rennmaschine.
Als ich den Hockenheimring zum dritten Mal mit meiner X-Eleven besuchte
und mich durch das dichte Getümmel bei den Touristenfahrten quälte wurde langsam klar, dass ich eine Rennmaschine brauchte. Nicht, dass es mit
der Dicken langweilig war, im Gegenteil. Das Fahren auf der abgesperrten
Strecke hatte seinen ganz eigenen Reiz, denn die vielen Unzulänglichkeiten der öffentlichen Straßen und die daraus entstehenden Unterbrechungen
des Fahrflusses fehlten. Selbst mit der Dicken ließ ich die meisten anderen
stehen, auch wenn man ab 230 km/h ihr Gewicht merkte und es auf der
langezogenen Parabolika-Kurve etwas zäh wurde. Wie viel Spaß musste das
erst mit einer entsprechenden Maschine machen. 50 kg weniger, dafür 50 PS
mehr, Schräglagenfreiheit ohne Ende! Und schick aussehen tun sie ja auch,
die Joghurtbecher.
24
4.1. FIREBLADE
25
Als erstes deckte ich mich mit Literatur ein um eine Marktübersicht zu
gewinnen. Mir wurde schnell klar, das mein Rennerle eine 1000er sein musste
und nicht zu alt sein durfte, denn bei den älteren Semestern lag die Leistung “nur” im Bereich der X-Eleven und etwas mehr durfte es schon sein.
Eine ganz neue würde aufgrund meiner Tendenz Motorräder irgendwann zu
zerlegen jedoch keinen Sinn machen. Die Italiener bauten zwar echt schöne
Motorräder, schienen den Japanern aber immer einige Jahre hinterherzuhinken und trotzdem ein paar Tausender mehr zu kosten. Eine BMW kam
nicht in Frage (Die S 1000 RR war noch nicht auf dem Markt), KTM und
die amerikanischen Marken schieden ebenfalls in der ersten Runde aus. Ab
hier konnte mir die Literatur nicht mehr weiter helfen, die technischen Unterschiede der einzelnen Maschinen waren marginal und auch wenn die eine
oder andere Maschine in Testberichten ein paar Zehntel schneller war, so
machte das in der Praxis keinen Unterschied, denn der leistungsbegrenzende Faktor würde sicherlich mein Können und nicht mein Motorrad sein.
Ich erkannte, dass es überhaupt nicht darum ging mich für ein Motorrad
zu entscheiden. Die Entscheidung war schon längst gefallen, ich musste sie
lediglich noch erkennen. Irgendwo da draußen stand sie schon und wartete.
Wartete sehnsuchtsvoll darauf, dass ich sie abholte um so mit ihr zu fahren,
wie es ihre Konstrukteure im Sinn hatten als sie jedes kleine Teil auf Gewicht
und Leistung hin optimierten. Das geeignetste Mittel um mein Schicksal zu
erkennen schienen mir Probefahrten zu sein. Ich verstehe darunter jedoch
mehr als manche Händler, ein paar Minuten um den Block zu fahren hilft
mir nicht wesentliche Eigenschaften eines Motorrads zu erkennen, das über
150 PS hat. Ich versuchte jedes Bike lange genug zu mieten um damit meine
komplette Hausstrecke zu fahren, nur dort, wo ich den Vergleich zur Dicken
direkt hatte, jede Bodenwelle, jedes Schlagloch und jeden Bitumenstreifen
kannte, hatte ich die Chance ein wenig mehr über mein neues Motorrad zu
erfahren. Auf der Liste der zu fahrenden Motorräder standen eine Suzuki
GSX-R 1000, eine Honda Fireblade, eine Kawasaki ZX-10 R, eine Yamaha
R1 und eine Ducati 1098, alle in ihrer aktuellen Version. Ein aktuelles Modell
würde zwar nicht viel über die Vorgängermodelle verraten, aber irgendwo
musste man schließlich anfangen, also wieso nicht mit dem, was am meisten
Spaß machte.
4.1
Fireblade
Die Fireblade war die erste. Mein Honda Händler vermietete mir seinen
Vorführer gerne, verlangte aber eine ordentliche Menge Geld dafür, die ich
wiederbekommen würde, falls ich die Maschine letzten Endes kaufte. Die
Art und Weise, wie er dies sagte, verriet mir sofort, dass er nicht im entferntesten daran glaubte, dass ich tatsächlich vor hatte ein Motorrad zu kaufen.
26
KAPITEL 4. DAS SPIELKIND
Ich bekam den Schlüssel und stand kurz darauf alleine im Hof vor einer
glänzenden, schwarz-weiß lackierten 2008er Fireblade. Bis auf die eingedellte Schnauze, die aber weniger schlimm wirkte als auf den Fotos, war die
Fireblade eine Augenweide. Kaum zu glauben, dass dieses winzige Motorrad
nur 137 ccm weniger hatte als meine Dicke und einiges mehr an Leistung.
Beherzt schwang ich mein rechtes Bein über sie und saß das erste Mal auf
einem Superbike. Ich wippte sie mit meinen Oberschenkeln leicht von rechts
nach links.
“Wenn du dich je wieder auf ein anderes Moped setzt, wirst du dir vorkommen wie eine Schwuchtel!” hallte es in meinem Ohren. Es waren die
Worte des Dickentreibers, der mir meine erste X-Eleven verkauft hatte. Er
hatte recht gehabt, dieses dünne Ding unter mir fühlte sich nicht wie ein
Motorrad an, viel eher wie ein Fahrrad. Ich ergriff den Lenker und wurde
noch mehr an mein Fahrrad erinnert: Statt hinter dem Lenker, wie ich es
jeher gewohnt war, saß ich nun über dem Lenker und das Gewicht meines
Oberkörpers lastete auf meinen Händen. Wie sollte man denn so fahren?
Unsicher und wie ein blutiger Anfänger rollte ich die Maschine aus dem Hof
und musste beide Füße zur Hilfe nehmen um die Maschine über den Bordstein und um die Kurve zu bekommen. Ich fuhr los, meine Füße fanden die
Rasten und eine Gerade bot mir Zeit meine Gelenke zu sortieren und ein
wenig Slalom auf meiner Spur zu fahren. Nach ein paar hundert Metern kam
der erste Kreisverkehr, leicht locker flockig legte ich die Blade nach rechts,
links und wieder nach rechts. Die Unsicherheit war verschwunden und dem
tiefen Gefühl der Zuversicht gewichen, so wie ich es immer empfand wenn
ich auf einem Motorrad saß. Ich war bereit der Blade meine Hausstrecke zu
zeigen.
Es war das erste Mal seit Jahren, dass ich diese Strecke mit einem anderen Motorrad als meiner Dicken fuhr. Ich war sicherlich ein wenig langsamer,
vor allem weil ich es nicht übertreiben wollte, aber bei weitem nicht langsam. Das Fahrwerk und die Straßenlage der Fireblade waren großartig, vor
allem bei holprigem Belag oder hohen Geschwindigkeiten war eine deutliche
Verbesserung gegenüber der Dicken zu spüren. Auch mit der Sitzposition
kam ich schnell zurecht, sie war angenehm und lud zum sportlichen Fahren ein. Enttäuschend war jedoch die Power um unteren Drehzahlbereich.
Ich hatte natürlich damit gerechnet, dass eine Rennmaschine mit dem brachialen Druck einer 1100er Tourer nicht würde mithalten können, aber bei
1000 ccm hätte ich doch mit wenigstens etwas “Schiebemoment” gerechnet.
Davon war jedoch nichts vorhanden, so dass ich mich genötigt sah, außerorts
im dritten Gang oder besser darunter zu fahren. Dies verstärkte die einzige
negative Eigenschaft der Fireblade jedoch noch mehr: extreme Lastwechselreaktionen. Ich konnte nicht sagen ob es an mir oder der Vorführmaschine
lag, aber ich schaffte es nicht sanft Gas anzulegen.
Knapp drei Stunden später fuhr ich gekonnt auf dem Hof meines Händlers ein und stellte die Maschine hin, als würde ich schon Jahre mit ihr
4.2. R1
27
fahren. Kurze Zeit später saß ich wieder auf meiner Dicken und fühlte mich
an meinen Bürostuhl erinnert. Alles war vor mir, vor allem der Lenker. Wie
sollte man denn so fahren? Unsicher und wie ein blutiger Anfänger rollte
ich die Maschine aus dem Hof und musste beide Füße zur Hilfe nehmen um
die Maschine über den Bordstein und um die Kurve zu bekommen. Ich zog
leicht am Gas und mir wurden fast die Arme ausgerissen. Das ist Drehmoment! Wieder half mir die Gerade meine Sitzposition zu korrigieren und den
anschließenden Kreisverkehr nahm ich sauberer und schneller als mit der
Blade. Puhh, doch nicht alles verlernt.
4.2
R1
Eine Woche später folgte die Yamaha YZF-R1. Der Händler hatte sein
Geschäft nahe dem Beginn meiner Hausstrecke, was schon mal ein gutes
Zeichen war. Ich hatte mich schon Tage davor telefonisch angemeldet, aber
davon schien in dem Laden niemand etwas zu wissen. Irgendwann schien ich
bei jemanden gelandet zu sein, der tatsächlich befugt war eine Entscheidung
zu treffen.
“Probefahrt mit der R1? Hmmm. . . ”, die Begeisterung stand ihm ins
Gesicht geschrieben als er in irgendwelchen Papieren wühlt.
“Ja. . . die könnte man wohl schon mal kurz raus geben. 20 Minuten?”
Nein. Nein, ganz bestimmt nicht. Ich will das Ding für mindestens drei
Stunden, und ich will auch nicht schmarotzen, ich bin auch bereit dafür
zu zahlen.
“So was machen wir eigentlich nicht.” Ach so, der, mit dem ich telefoniert hatte, hatte wohl keine Ahnung und die Mietpreise standen nur zufällig
auf der Homepage. Ich hatte eigentlich schon gar keine Lust mehr, der Kerl
hatte offensichtlich keinerlei Interesse an einem neuen Kunden, dann schaffte
ich es doch ihm 2 Stunden aus dem Ärmel zu leiern. Ein Mechaniker schob
mir die R1 nach draußen und wollte wissen, ob er mir noch irgendwelche
Bedienelemente erklären solle. Ich verneinte, ich wäre zwar noch nie eine R1
gefahren, aber Motorradfahren könne ich und da er mich anscheinend für
vollkommen unerfahren hielt, betonte ich, dass ich mit der Fireblade gut
zurecht käme. Er erklärte mir alles, vom Schalter für den Blinker bis zum
Gasgriff ohne dass ich ihn stoppen konnte. Ich hörte kaum zu und betrachtete die R1. Traumhaft sah sie aus, schwarz-grau, mit einer geschmeidigen
Underseat-Auspuffanlage. Eine klassische Schönheit. Endlich gelang es mir,
ihm die Yamaha zu entreißen und mit ihr zu fliehen. Ich tätschelte ihr den
Tank, für die nächsten zwei Stunden war sie in guten Händen.
Die Lektionen der Fireblade ließen sich direkt übertragen, ich kam mit
der Sitzposition von Anfang an zurecht, fühlte mich aber bis zum Ende nicht
ganz so wohl wie auf der Honda. Der Underseat hatte einen schönen tiefen
28
KAPITEL 4. DAS SPIELKIND
Klang ohne übertrieben laut zu sein. Vielleicht war es nur der psychologische
Effekt des Sounds, aber die Yamaha schien von unten raus mehr Power
zu haben. Auf dem ersten Beschleunigungsstück der Strecke wurde mir ein
neues Feature vorgeführt: Der Schaltblitz. Ich probierte ihn bis in den vierten
Gang aus kam zu dem Entschluss, dass es ein durchaus sinnvolles Extra war.
Ich war schon etwas mutiger als mit der Honda und probierte verschiedene Sachen, bis mir in einer Rechtskurve das Vorderrad wegrutschte. Die
Kurve war durchzogen von riesigen Bitumenflächen, auf der ich mit meiner
X-Eleven immer Respekt hatte. Die Fireblade hatte mir den Respekt teilweise genommen, sie schien nur unwesentlich weniger Haftung in dieser Kurve
zu haben. Mit der R1 war ich daher etwas schneller unterwegs und merkte sofort, dass ich mich außerhalb der Haftungsgrenze der Reifen bewegte.
Was mich dennoch erstaunte war die Leichtigkeit, mit der sich diese Situation meistern ließ: Selbst beim Rutschen schien das Fahrwerk nicht aus der
Ruhe zu kommen, sondern wanderte mehr oder weniger kontrolliert einen
knappen Meter nach links, wo wieder griffiger Asphalt war. Ohne genauerer Tests ließ sich natürlich nicht sagen, ob das nun an der Geschwindigkeit,
den Reifen, der Temperatur oder dem Motorrad lag, dennoch verstärkte dies
mein Gefühl, dass die Blade besser zu mir passte.
4.3
Ninja
Mein nächstes Stelldichein hatte ich mit der 10er Ninja von Kawasaki. Der
Händler hatten recht kleinen Familienbetrieb in einem nahe gelegenem Industriegebiet und war deutlich unkomplizierter als der Yamaha Händler.
Kurzfristig noch eine Z 1000 für meinem Kumpel? Ist leider grad weg, wie
wär’s mit der 750er?
“Bringt sie halt bis Ladenschluss wieder und im Falle eines Falles krieg’
ich 2 000 Euro. Ansonsten, viel Spaß!” Mit diesen wohlwollenden Worten
wurden uns die Schlüssel überreicht und ich stand vor dem nächsten Superbike.
Grün.
Wohl das einzige Bike, dass man in so einer Farbe anmalen konnte und
das dadurch nicht verunstaltet aussah. Im Gegenteil.
Giftig?
Wirkte zumindest so. Sie war laut Datenblatt die stärkste, 188 PS ohne
und 200 PS mit Ram-Air. Nicht, dass es einen wirklichen Unterschied machte, Power hatten sie alle. Jedoch konnte man vor 200 PS in einer giftgrünen
Verpackung einfach nur Respekt haben.
Die Ausfahrt mit der Ninja war die bisher längste und langsam bildete
ich mir ein, mit diesen Sportlern ganz gut zurecht zu kommen. Ein kurzer
Ausflug auf eine unbegrenzte Bundesstraße ließ den Digitaltacho auf über
4.4. GSX-R
29
280 krabbeln und den Schaltblitz in jedem der ersten fünf Gänge leuchten.
Das Biest hatte wirklich Power! Für eine kurze Zeit wechselten wir die Motorräder und ich fuhr die Z 750, mit der ich allerdings nicht so gut klar kam,
ebenso wenig wie mein Mitfahrer mit der ZX-10R, so dass wir schnell wieder
zurück tauschten.
Bis auf ein klapperndes Geräusch zwischen 3 500 und 4 500 U/min fand
ich nichts negatives an der Ninja, aber auch nichts, das mich spontan vom
Hocker gehauen hätte. Das Gesamtpaket stimmte jedoch, bis auf ein Warnblinklicht hatte sie jeden technischen Schnick-Schnack, den man sich wünschen konnte und zusätzlich noch kleine Details, wie der Drehzahlmesser,
dessen grüner Bereich erst bei 6 000 U/min anfing. Die Entscheidung, welches mein neues Motorrad werden würde, schien ein Kopf-an-Kopf Rennen
zu werden.
4.4
GSX-R
Es folgte die GSX-R 1000. Der nächstgelegene Suzuki Händler lag recht weit
entfernt am anderen Ende der Stadt und wollte mir die Gixxer partout nicht
vermieten, sondern nur zu einer Probefahrt ausleihen. Wenigstens konnte ich
ihn überzeugen, sie mir lange genug zu geben um auf eine Strecke zu fahren,
die ich kannte, wenn es schon nicht bis zu meiner Hausstrecke reichte. Sie war
– natürlich – blau-weiß lackiert, der typische GSX-R Look eben. Im Prinzip
sehr schön, aber leider versaut von zu vielen Fahrern, die diese Maschine nur
gekauft hatten weil sie reihenweise Testberichte gewonnen hatte, aber nicht
in der Lage waren, dieses Bike auch artgerecht zu bewegen. So sah man allzu
häufig traurige Gixxer mit großen Angststreifen am Hinterrad an Eisdielen
oder Motorradtreffs herumstehen.
Ich fuhr die erste Viertel Stunde, dann kamen Zweifel auf, ob ich im
richtigen Mapping war, denn irgendwie hatte sie zu wenig Power. Also, nicht
wirklich “zu wenig” sondern eher “nicht viel zu viel”. Der Händler hatte
mir vor der Fahrt gezeigt wie ich das Mapping einstellte, dabei musste er
vergessen haben es wieder von der Regeneinstellung zurück zu stellen. Hatte
er nicht. Dann muss es an der Drehzahl liegen! Ab auf die nächste Gerade,
das Getriebe in den ersten bringen und dann gib ihm! Die GSX-R setzte sich
in Gang, fing im mittleren Drehzahlbereich an zu kreischen und zu rennen.
Gleich, gleich passiert’s!
“Nänänänä. . . ” tönte der Motor. Drehzahlbegrenzer? Wo war der Schaltblitz? Und viel wichtiger, wo war das Ziehen an meinen Armen? Ich versuchte
es noch einmal, dann nochmal mit einem anderen Mapping, kam aber zu keinem befriedigendem Ergebnis. Der Schaltblitz schien nicht zu funktionieren
und die Suzuki ging zwar ab, fühlte sich dabei aber sehr unspektakulär an.
Zurück beim Händler fragte ich, wieso der Schaltblitz nicht tat. “Der
30
KAPITEL 4. DAS SPIELKIND
tut schon, du wirst auf einer Landstraße nur nicht in den Drehzahlbereich
kommen!” lachte er. Ich lachte auch, aber wahrscheinlich nicht über den
gleichen Witz.
4.5
Finale
Auf eine Fahrt mit einer 1098er Ducati musste ich leider verzichten. In
ganz Deutschland gab es nur eine handvoll Ducati Händler mit einer 1098er
Vorführer und der einzige, der annähernd in meiner Nähe war, verlieh die
Maschine nicht Stundenweise sondern erst ab mehreren Tagen und verlangte
dafür ein kleines Vermögen.
Ich begann den Gebrauchtmarkt zu durchforsten, in der Hoffnung mich
so von meiner Maschine finden zu lassen. Die Suche verlief enttäuschend, irgendwie schien niemand seine gut erhaltene Rennmaschine zu einem Spottpreis loswerden zu wollen. Ein Kollege empfahl mir mich nach Grauimporten
umzusehen, er hatte bisher alle seine Autos so gekauft. Im nahen Ausland
waren die Motorräder auch nicht deutlich billiger, aber im Internet stieß
ich auf mehrere Quellen für neue, grau importierte Maschinen, die günstiger waren als manche Gebrauchte. Komischerweise schienen viele Händler
genau die gleichen Maschinen zum selben Preis anzubieten. Das roch zwar
irgendwie nach Verarsche, aber solange mir wenigstens einer ein Motorrad
verkaufte, sollte es mir egal sein. Die Auswahl war nicht sonderlich gut, aber
das Vorjahresmodell der Ninja war auf Lager und ein echtes Schnäppchen.
Nur ausprobieren musste ich sie vorher.
Ich ging zu einem lokalen, großen Gebrauchthändler, der mir schon immer unsympathisch gewesen war, und gab vor mich für eine seiner 2006er
Ninjas zu interessieren. Sie hatten entweder über 20 000 km auf der Uhr
oder kosteten mehr als die neue, aber kaufen wollte ich sie dort ja nicht.
Ich bekam eine ausgeliehen, aber nur für eine kurze Zeit und in einer mir
unbekannten Gegend, so dass ich sie nicht komplett ausreizen konnte. Das
Vorjahresmodell war auch ein super Motorrad, ich konnte kaum Unterschiede zum aktuellen Modell feststellen. Nur optisch war die 2006er in grün
einfach nicht schön. In schwarz sah sie ganz gut aus, und letzten Endes ging
es ja darum ein Motorrad zum Fahren und nicht zum Bewundern zu kaufen.
Ich bestellte die Graue in schwarz. Nach einiger Telefoniererei stellte sich
heraus, dass die Maschine zwar auf Lager war, jedoch war das Lager nicht in
Deutschland und die Maschine hatte noch keine deutschen Papiere. Zudem
musste das amerikanische Modell noch an Blinkern und an der Tachoeinheit
umgebaut werden. Das alles sollte drei bis vier Wochen dauern, ich müsste
mich aber um nichts kümmern. Nach zwei weiteren Wochen stellte sich heraus, dass die Maschine wohl doch nicht auf Lager war, aber er könnte mir
eine GSX-R zum gleichen Preis anbieten. Ich lehnte ab. Weder wollte ich
4.6. BEKANNTMACHUNG
31
ein willkürliches Motorrad kaufen, nur weil dieses zufällig im Lager stand,
noch war ich der Überzeugung, dass ich mit diesem Händler überhaupt ein
zufriedenstellendes Geschäft abwickeln konnte.
Ich stand wieder am Anfang. Rund zwei Monate waren seit meiner ersten Probefahrt vergangen und langsam machte es keinen Spaß mehr. Ich
hatte noch nie Probleme gehabt ein Motorrad zu kaufen. Bisher hatte ein
leichter Gedanke an ein neues Motorrad ausgereicht und schon stolperte ich
über das perfekte Angebot für mein Traumbike. Ich setzte meine Suche fort,
konzentrierte mich auf 2004er Ninjas und kam zufällig auf die Homepage des
Kawasaki Händlers, bei dem ich die 2008er Probe gefahren war. Ich klickte auf die Kategorie “Angebote” und wusste, dass sie mich gefunden hatte:
Eine grüne 2008er Ninja strahlte mir entgegen, als Tageszulassung und deutlich unter dem Listenpreis. Ein kurzer Anruf beim Händler bestätigte meine
Hoffnung: 0 km und Garantie ab dem Tag an dem ich sie kaufte. Es war
absolut unsinnig eine neue Maschine zu kaufen. Jedoch kaufte ich lieber eine
neue Maschine als fast den selben Preis für eine gebrauchte auszugeben.
Am nächsten Samstag stand ich im Verkaufsraum meines neuen Händlers, streifte um die ausgestellten Ninjas herum und überlegte, auf welche
Extras ich nicht verzichten konnte.
“Kann ich dir helfen?” fragte die Frau des Händlerehepaars.
“Ja, ich will eine ZX-10 R kaufen! In grün.” Ich wurde mit Kaffee versorgt
– gutes Zeichen! – und wir erledigten den Papierkram und diskutierten die
Einzelheiten. Später erklärte sie mir, sie hätte noch nie so schnell ein Motorrad verkauft. Kein Wunder, ich hatte noch nie so lange gebraucht ein
Motorrad zu kaufen und kannte inzwischen die Datenblätter aller japanischen Superbikes der letzten paar Jahre auswendig.
Eine Woche nachdem ich die Maschine mit meinem Wunschkennzeichen
abgeholt hatte, stand ich auch schon wieder bei meinem Händler. Nein,
es gab keine Probleme, es war Zeit für die erste Inspektion. Das Einfahren
hatte ich an nur zwei Tagen erledigt, die ersten 500 km mit maximal 98 km/h
und auf den nächsten 500 km durfte ich sogar 148 km/h fahren. Mit anderen
Worten, ich durfte die ersten 1 000 km nicht einmal bis in den grünen Bereich
drehen, und das hatte eine Menge Selbstbeherrschung erfordert. Aber diese
Zeiten waren nun vorbei, ab jetzt ging das Kennenlernen erst richtig los!
4.6
Bekanntmachung
Ich war nervös. Heute ging es darum mein neues Lebensgefährt mit meiner
Sozia bekannt zu machen. Meine Sozia und ich waren seit dem Kauf der
Ninja noch einige Male mit der Dicken unterwegs gewesen, für die nächste
Ausfahrt wurde die Wahl der Maschine mir überlassen. Ich konnte mir nicht
vorstellen, dass man sich auf diesem kleinen Sitz wohl fühlen konnte, und
32
KAPITEL 4. DAS SPIELKIND
meine Sozia konnte es sich auch nicht vorstellen. Sie schien es auch als Affront
gegenüber der X-Eleven zu empfinden, dass ich es überhaupt gewagt hatte
ein weiteres Motorrad zu kaufen. Dies alles verriet ihr Blick als sie neben
der Ninja stand. Ein Bisschen wie ein kleines Kind, das nicht das in dem
Weihnachtsgeschenk vorfand, auf das es gehofft hatte, sondern statt dessen
einen Pullover.
Zwei oder drei Stunden später standen wir wieder an genau der selben
Stelle, wieder neben der Ninja. Meine Sozia strahlte über beide Ohren und
lachte. Die Ninja hatte auch sie in ihren Bann gezogen und würde sie so
schnell nicht mehr loslassen. Ihren Kosenamen bekam sie erst später: Spielkind.
Kapitel 5
Rennstreckentraining auf
dem Hockenheimring
Es war 5 Uhr morgens als der erste Wecker klingelte. An einem normalen
Tag hätte mich das nur dazu bewegt zu fluchen und auf die Sleep-Taste meines Weckers zu hauen, nicht so an diesem Morgen. Ich sprang auf, schaltete
den Wecker aus und war auch schon zur Stelle als der zweite Wecker, den ich
zur Sicherheit gestellt hatte, ebenfalls zu klingeln begann. Für die meisten
Menschen würde dies ein normaler und unspektakulärer Mittwoch werden,
aber ich hatte mehr vor, ich wollte einen Traum wahr werden lassen. Einen
Tag lang Rennstreckentraining auf dem Hockenheimring, natürlich mit der
Ninja. Ich war selbst darüber erstaunt wie ruhig und konzentriert ich war.
Die Anspannung hatte sich in den letzten Tagen zunehmend gesteigert und
fand am Tag vor dem Training ihren Höhepunkt, als ich mich wie ein kleines
Kind am Tag vor Weihnachten verhalten hatte. Aber jetzt war die Anspannung verflogen und einem Gefühl tiefer Zuversicht gewichen. Dies würde ein
großartiger Tag werden, dessen war ich mir sicher.
Meine Sozia hatte bei mir geschlafen und würde mich begleiten. Gegen
6 Uhr saßen wir auf der Ninja und kamen kurz vor 8 Uhr auf dem Hockenheimring an. Die Atmosphäre auf meinem ersten Rennstreckentraining zog
mich sofort in ihren Bann. Von jung bis alt, von Amateur bis Vollprofi war
alles vertreten. Ich ließ meinen Blick über die Motorräder und ihre Fahrer
schweifen. Es waren ein paar Straßenmaschinen vertreten, aber die Mehrheit bildeten die Supersportler unterschiedlicher Baujahre, von denen ein
beträchtlicher Teil mit Rennverkleidung und Slicks ausgestattet war. Alle
Anwesenden, egal ob in Lederkombi, Textilklamotten oder Straßenkleidung,
hatten einen selig-glücklichen Gesichtsausdruck. Auch bei mir stellte sich
dieser sofort ein: Hier war ich richtig. Inmitten einer Welt, die sich selber immer weiter einengte, sich immer engere Grenzen des Erlaubten und
Akzeptierten setzte um ein kleines Stückchen mehr Sicherheit und Kontrollierbarkeit zu schaffen, inmitten dieser Welt lag eine andere Welt, deren
33
34
KAPITEL 5. HOCKENHEIMRING
Bewohner sich dazu verschrieben fühlten ihren Horizont zu erweitern, die
Grenzen des Kontrollierbaren auszutesten und dabei bewusst Sicherheitsrisiken in Kauf nahmen. Hier, an diesem Ort, hatten sie sich eingefunden.
Nach dem “wieso?”, das sonst so unmöglich zu erklären war, würde hier niemand fragen, denn alle wussten es. Alle kannten es. Die Umwandlung von
Benzin in Glücksgefühle war hier normal. Ich sah meine Sozia an und ihr
breites Grinsen verriet, dass sie das gleiche spürte.
Meinen Stammparkplatz fand ich neben dem Transporter von Egon.
Egon fuhr auch eine 2008er ZX10-R, hatte schon einige Jahre mehr auf dem
Buckel als ich und das bessere Equipment: Seine Ninja glänzte mit Rennverkleidung, war aufgebockt und hatte Reifenwärmer angelegt. Egon selbst,
mit maßgeschneidertem Dainese Einteiler in Ninja-grün, war mit seiner Frau
angereist, die ebenfalls an dem Training teilnahm, allerdings mit einer 6er
Fazer. Beides waren sehr nette Menschen, aber etwas anderes hätte ich an
einem solchen Ort auch nicht erwartet.
Nach der Versorgung mit Kaffee ging ich zur Fahrerbesprechung. Es wurde wenig unbekanntes erzählt, aber es reichte um eine wohlige Gespanntheit
auf den ersten Turn zu erzeugen. Ich war in der mittleren Gruppe, und zwischen den 20 Minuten langen Turns hatte ich jeweils 40 Minuten Pause.
Meine Sozia nahm auf der Tribüne platz und ich ging zum Start meines ersten Turns. Die ersten zwei Runden fuhr ein Instruktor mit Hängetittenguzzi
vor. Da Reifen und teils die Motoren noch kalt waren fuhr der Instruktor
recht langsam, aber eine sehr schöne und sanfte Linie. Als der Instruktor in
die Box zurück kehrte zog das Tempo an, blieb aber immer noch gemütlich.
Das Feld zog sich auseinander und ich reihte mich hinter eine andere Ninja
ein, deren Fahrer etwa die gleiche Geschwindigkeit fuhr wie ich, und feilte
an meiner Kurvenlinie.
Über den Vormittag steigerte ich meine Geschwindigkeit und tastete
mich an das Überholen ran. Einen Motorradfahrer auf der Rennstrecke zu
überholen ist etwas ganz anderes als ein Hindernis im Straßenverkehr. Der
Fahrer sieht nicht nach hinten und wird natürlich die volle Straßenbreite
ausnutzen. Auf der Geraden ist es kein Problem, bei Kurven muss man sich
den anderen Fahrer ein wenig zurecht legen. Das Überholen beim Anbremsen war oft einfach, da viele Fahrer in meiner Gruppe die Kurven langsam
anbremsten oder die letzten Meter rollten. Bei schnelleren Fahrern hatte
ich damit allerdings Schwierigkeiten. Ich hatte bei manchen Kurven noch
Probleme die richtige Geschwindigkeit zu finden um sie sauber zu fahren,
falls ich zu langsam war, oder wegen zu hoher Geschwindigkeit korrigieren
musste, konnte ich den eben überholten Fahrer stören und im schlimmsten
Fall einen Unfall herbei führen. Daher spezialisierte ich mich schon früh auf
das Überholen am Kurvenausgang, was nicht zuletzt wegen der wahnsinns
Power der Ninja unglaublichen Spaß machte. Lenkte man die Kurve etwas
später als der Vorausfahrende ein, so konnte man, nachdem dieser den Scheitelpunkt der Kurve passiert hatte, innen vorbei ziehen. Durch das späte und
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damit starke Einlenken war zwar am Kurveneingang die benötigte Schräglage größer, aber beim Kurvenausgang, während dem Überholen, war die Linie
weiter und ließ höhere Geschwindigkeiten zu. Und höhere Beschleunigung,
da kam die Ninja ins Spiel. Kurve etwas später einlenken, warten bis der
Vorausfahrende zum Kurvenausgang fährt, eigenen Scheitelpunkt bestimmen und die Ninja laufen lassen. Kontrolliert laufen lassen, denn die volle
Power der Ninja hätte einen sofort aus der Kurve katapultieren. Es gab aber
auch Gelegenheiten die ganze Motorleistung der Ninja einzusetzen: die Geraden. Über den ganzen Tag hatte es mich jedes mal aufs Neue erstaunt wie
die Ninja abging wenn man ihr die Sporen gab. Von unten raus nach der
Spitzkehre oder auf der Parabolika, auf der ich am Nachmittag regelmäßig
die 299 erreichte, es war immer das gleiche Bild:
Ein kurzes Zögern noch falls ich nach der Kurve im Drehzahlkeller – also
unter 8 000 U/min – war, dann zog es an und einen Moment später kam
es einem vor als säße man auf einer Rakete. Das turbinenartige Kreischen
der Ninja verkündete ihr Kommen und veränderte die Welt: Eben noch fahrende Motorräder waren plötzlich stehende Hindernisse. Der Fahrer wurde
relativistischen Effekten ausgesetzt und erkannte wie sich Raum und Zeit
veränderten. Der nächste Kurveneingang war nicht mehr weit weg sondern
praktisch schon da. Das Blickfeld wurde schmal und umfasste nur noch die
Straße, die die volle Aufmerksamkeit erhielt, lediglich einzelne Hirnzellen
wurden auf den Schaltblitz angesetzt. Die Motorräder vor der Ninja zerfielen in drei Gruppen: Hindernisse, denen sofort ausgewichen werden musste,
Hindernisse, denen im Bruchteil einer Sekunde ausgewichen werden musste
und andere 1000er, die Vollgas gaben. Die letzte Gruppe war eher selten,
und die Ninja konnte auch ihnen wenigstens ein paar Meter abknöpfen.
In der Mittagspause aßen wir Pizza und ich diskutierte mit meiner Sozia
über meine Schwachstellen. Es war schön sie dabei zu haben und das alles mit
ihr teilen zu können. Verbessern wollte ich jeden Fall mein Hanging-Off, da
ich noch Schwierigkeiten hatte den Oberkörper aus der Linie zu nehmen und
noch nie das Knie auf dem Boden hatte. Ich suchte einen Instruktor auf und
er verbesserte meine Position auf seiner Hängetittenguzzi und beantwortete
alle meine Fragen. Die Nachmittagturns nutzte ich um dies zu trainieren und
fand auch bald eine Position auf der Ninja in der sich alles richtig anfühlte.
Man musste nur etwas zurück rutschen, die Hüfte aufklappen und mit dem
Oberkörper die Kurve beginnen. Der kurvenäußere Oberschenkel hält dabei
den Körper, auf den Händen ist kein Gewicht, und der kurvenäußere Unterarm liegt am Tank an. Zudem legte ich mir für einige Kurven Bremspunkte
fest, die sich als sehr Vorteilhaft für den Überholvorgang beim Anbremsen
herausstellten. All dies führte dazu, dass ich in den späten Turns einer der
schnellsten in der mittleren Gruppe war.
Im letzten Turn war ich frühzeitig am Start um wenig Verkehr vor mir
zu haben. Tatsächlich waren nur drei Bikes vor mir, alle drei hatten eine
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KAPITEL 5. HOCKENHEIMRING
Rennverkleidung und Slicks. Einer der dreien fiel schon frühzeitig nach dem
Start zurück, ich blieb an den andern dran und wartete bis meine Reifen
richtig auf Temperatur kamen. Die beiden schienen zusammen zu gehören,
da sie sich hin und wieder nach einander umdrehten und Plätze tauschten.
Sie waren nicht schneller als ich, ein paar Reserven hatte ich noch, aber vorbei kommen stellte sich als nicht ganz einfach heraus. Ich konnte nicht beide
auf einmal überholen, ich hatte zwar immer wieder den hinteren, doch kam
dann meist eine Gruppe mit Instruktor und ich wurde wieder einkassiert.
Auf einer Geraden mit Instruktorengruppe überholte ich auf der anderen
Seite und kam als einziger an der gesamten Gruppe vorbei. Ich warf mich
in die nächste Kurve und gab Gas. Diesen Vorsprung musste ich zum frei
Fahren nutzen, das letzte Mal für diesen Tag . . .
Es war das letzte Mal für eine ganze Weile. Ein paar Kurven später,
bei der Einfahrt ins Motodrom, legte ich einen astreinen Lowsider hin. Zu
schnell? Zu stark beschleunigt? Ein dummer Lenkimpuls beim Hanging-Off?
Oder hatte ich die Stelle erwischt, an der den ganzen Tag schon die Sand
lag? Die genaue Ursache blieb erstmal ungewiss, aber die prinzipielle Ursache
war offensichtlich. Eine Überdosis Flow. Die war auch nach dem Unfall noch
da und begleitete mich ins Krankenhaus. Waren alle Motorradfahrer nach
Unfällen so gut gelaunt wie ich?
Solch eine Überdosis hält leider nicht lang. Die restlichen Folgen dafür
umso länger. Die Ninja sah schrecklich aus. Es hatte sie nicht nur gelegt,
durch den Schwung hatte sie sich im Kiesbett auch noch überschlagen und
dabei alles verloren, was sie nach Ninja aussehen ließ. Verkleidungsteile,
Scheibe, Hebel, Blinker, Heck, nichts mehr war da wo es hingehörte, sondern lag über die Auslaufzone verteilt. Gerade einmal 9 000 km hatte ich
gebraucht um dieses geile Bike in einen Schrotthaufen zu verwandeln.
Wieder einmal brachte der ADAC mein Lebensgefährt, meine Sozia und
mich nach Hause, wobei wir Menschen direkt im Krankenhaus abgeholt wurden. In den nächsten Wochen des Verzweifelns und Bangens stellte sich
glücklicherweise heraus, dass die Ninja zwar böse zugerichtet war, es sich
aber lohnte sie wieder zu reparieren. Rahmen, Motor und Fahrwerk waren
bis auf ein paar Kratzer noch in Ordnung. Der Hinterreifen war seitlich komplett blau angelaufen und glänzte ölig. Der letzte Turn, bei dem ich schon
früh viel von meinem Reifen abverlangte, war zu viel für den Straßenpneu
gewesen. Materialfehler, kein Fahrfehler. Es war natürlich trotzdem mein
Fehler, ich hätte es merken müssen, hätte mehr auf meine Reifen hören
müssen. Ein paar Wochen später war meine Ninja wieder fast die Alte. Den
neuen Verkleidungsteilen fehlten die Aufkleber, und viele Teile, unter anderem Rahmen und Endschalldämpfer, waren mit Kratzspuren übersät. Aber
was zählte, war, dass sie technisch wieder einwandfrei war. Wir würden wieder fahren, auf dem gleichen Niveau wie davor wenn nicht sogar noch besser,
und das war das wichtigste.
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Bei mir hatte es das Schlüsselbein erwischt. Das war nicht wirklich tragisch, man könnte von Glück im Unglück reden. Man könnte auch von Pech
reden, schließlich hätte ja auch einfach gar nichts passieren können. Egal wie
man es sah, es blieb eine scheiß Verletzung die über Wochen nervte und die
Saison erstmal auf Eis legte. Ich wusste, dass das mein eigenes Verschulden
war, wie immer in solchen Fällen, und manchmal fragte ich mich auch wie
man so dämlich sein konnte. Es war ein absehbares Muster, immer das Gleiche. Und doch konnte ich es nicht ablegen. Vielleicht wollte ich es auch gar
nicht. Weil ich nicht einfach aufhören konnte Unfälle zu bauen ohne gleichzeitig damit aufzuhören am Limit zu fahren. Und das versuchte ich nun
mal, sei es mein eigenes oder das der Maschine. Das war der Katalysator
für die Reaktion, die Benzin in Glückshormone umwandelte. Ohne könnte
ich es auch gleich bleiben lassen. Es kotzte mich an, dass das alles kaputte
Motorräder und gebrochene Knochen mit sich brachte, und ich versuchte
alles um beides zu minimieren. Aber ich würde das in dieser Welt tun, der
Welt, in der die Menschen noch so sein konnten wie sie wollten, nicht in
der anderen. Und mit einem Mal erkannte ich, was diese Welt war, wie sie
aussah und dass sie einen Namen hatte: Diese Welt war das Mopedoversum.
Kapitel 6
Über das Mopedoversum
Viele Menschen verbinden das Motorradfahren mit Freiheit, meist ist dabei gar nicht genauer spezifiziert was genau diese Freiheit ist. Falls ein Laie
darüber nachdenkt, wird er wahrscheinlich zu der Vorstellung gelangen, dass
es sich um die Freiheit handelt, sich unabhängig von anderen von Ort zu
Ort zu bewegen. Vielleicht denkt er auch ein bisschen an die Anarchie, die
der Motorradfahrer lebt, sei es der “Raser”, der sich über die Straßenverkehrsordnung hinwegsetzt, oder der “Rocker”, der in Bars über die Stränge
schlägt. Das stimmt zwar alles, aber er übersieht den wesentlichsten Teil, von
dem selbst erfahrene Biker nur eine grobe Ahnung haben, eine substanzielle
Komponente, die dieser zwar spürt, aber die er meist nicht erklären könnte.
Der Laie weiß nämlich nicht, dass der Motorradfahrer, in dem Moment wo
er die Beine vom Boden nimmt und sich seiner Maschine anvertraut, zum
Mopedonauten1 werden kann!
Der Mopedonaut ist ein Reisender, er vermag es nicht nur, sich nach
der gemein geläufigen Vorstellung von A nach B zu bewegen, wie es jeder
Motorrad- und auch Autofahrer kann, er ist außerdem in der Lage, in eine
sonst verschlossene Parallelwelt zu reißen, die übrigen Menschen unbekannt
ist, und selbst ihr Besuchender vermag es nicht immer zu erkennen, wenn
er sich in ihr befindet. Diese Parallelwelt ist das Mopedoversum. Wie eine
zusätzliche Schicht umgibt es die unsere Welt, unsichtbar, aber nicht unfühlbar liegt es darüber, um sie herum und in ihr darin. Wie Adern ist es angeordnet, dünne Linien, die unseren Planeten umschließen. Es entsteht immer
dort, wo positive Emotionen beim Motorradfahren freigesetzt werden, und
teilweise auch dort, wo sie nach dem Fahren noch gelebt werden. Die Linien
sind stark an schönen Bergstraßen, verdichten sich an deren Kurven, und
bilden an deren Treffpunkten kleine Knoten. Es heißt, einige dieser Punkte
seien sogar beweglich, verwachsene Emotionen an einer Maschine, immer
mobil, und immer Teil des Mopedoversums. Die größten und stärksten die1
Dieser Neologismus hat seinen Ursprung in den Worten Moped, Torpedo und dem
griechischem nautēs (Seefahrer/Matrose)
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ser Knoten sind immer unbeweglich und entstehen meist an Rennstrecken,
wo sie selbst Jahre nachdem die Rennstrecke nicht mehr existiert, noch eine
mächtige Aura ausstrahlen können. Diese bilden eine Art Portal, und auf
ein Mal ist es sogar Nicht-Mopedonauten möglich, in dieses Mopedoversum
zu gelangen, obwohl sie es meist nicht erkennen können.
Mopedonauten sehen einander selten als völlig fremde, selbst wenn sie
sich nie vorher getroffen haben. Das Wissen um das Mopedoversum lässt
eine Gemeinsamkeit entstehen, die die Unterschiede, die sonst so viel zu bedeuten scheinen, verblassen lassen. Mopedonauten sind es gewohnt einander
zu grüßen wenn sie sich erkennen, und falls sie Zeit haben um abzusteigen
so werden sie sich duzen, das “Sie” bleibt reserviert für die Bewohner anderer Welten. Sollte ein Mopedonaut inmitten seinesgleichen ein Problem
haben, so kommt er meist nicht mal dazu um Hilfe zu fragen bevor sie ihm
angeboten wird.
Im Mopedoversum riecht und redet man Benzin, spürt Vibrationen, hört
Motoren und empfindet Freude. Es handelt sich um eine Welt, in der die
Bedeutung vieler Dinge reduziert ist. Reduziert auf das – aus der Sicht des
Mopedonauten – Wesentliche. Die Welt verliert dadurch jedoch nicht an
Komplexität, denn obwohl viele, sonst wichtige Teile in der Bedeutungslosigkeit verschwinden, gewinnen andere Alltäglichkeiten in gleichem Maße an
Relevanz, simple Belangenlosigkeiten werden zu wichtigen Themenkomplexen. Ausgeschlossen aus dem Mopedoversum sind beispielsweise das Morgen
und das Gestern, sowie alle damit verbundenen Hoffnungen und Sorgen. Die
betrachtete Zeitspanne von Vergangenheit bis Zukunft komprimiert sich oft
auf wenige Augenblicke, bestehend aus wenigen Kurven, die sich gegenseitig beeinflussen. Darüber hinaus lohnt es sich nicht einen Gedanken zu verschwenden, und die Gegenwart bietet genug, dass Aufmerksamkeit erfordert:
Die Kurven werden zur Kurvenkombination, in ihr formen sich Linien und
Punkte: Ideal-, Renn- und Kampflinien, Brems-, Einlenk- und Scheitelpunkte sowie dergleichen mehr. Der Mopedonaut vermag einige oder auch alle
zu erkennen, er kann mit diesen Punkten und Linien experimentieren, sie in
seinem Geiste verschieben und sich für den Weg entscheiden, der ihm richtig
erscheint. Die Komplexität der Experimente kann vom Mopedonauten frei
gewählt werden, er ist der Souverän, jederzeit in der Lage den Schwierigkeitsgrad anzuheben oder abzusenken, so dass er nie über- aber auch nie
unterfordert ist. Mit einer spielenden Leichtigkeit bewegt er sich durch diese
Welt, eine Unbeschwertheit, wie er sie sonst nur schwer finden kann. Wenn er
hier eine Herausforderung sieht, denkt er sich: “So könnte es funktionieren”,
durchbricht alle Einschränkungen und lässt seine Ängste hinter sich. Und er
stellt fest, dass es tatsächlich funktioniert. Seine Wünsche und die Realität
sind nicht mehr zwei verschiedene Dinge sondern ein und dasselbe. Er kann
beobachten wie sich seine Vorstellungen direkt vor ihm in die Wirklichkeit
verwandeln. Hoffnung braucht er nicht mehr, denn er hat Gewissheit. In
dieser Welt scheinen ihm alle Gesetze in die Hände zu spielen: Schwerkraft,
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KAPITEL 6. ÜBER DAS MOPEDOVERSUM
Reibung, Massenträgheit, Zentripetal- und -fugalkräfte, ja, die ganze Physik
scheint auf seiner Seite zu sein. Diese Welt liebt ihn, und es fällt ihm leicht
sie auch zu lieben.
Jeglicher Stress, sämtliche Verkrampfungen fallen von ihm ab, wie Dämonen längst vergangener Tage kommen sie ihm vor, Erinnerungen an einen
bösen Traum, der immer weiter aus dem Gedächtnis verschwindet. Der Mopedonaut hat keine Eile, er ist die Ruhe selbst. Das Hier ist gut, das Eben
war in Ordnung, und das Gleich wird fantastisch werden. Gemütlich wie in
einem Sessel gleitet er durch diese Welt, die er mittels einer simplen Geste
der rechten Hand verwandeln kann. Ein Gedanke, ein Geistesblitz, wandert
dann durch den Arm ins Mopedo, entlädt sich dort und vermag den Kraftstoff zu entzünden. Tausende kleiner Explosionen pro Minute werden ausgelöst, diese zerstören nicht, sie befreien und erschaffen. Befreien die Kraft,
die in dem Stoff gefangen war. Wie eine mächtige Welle breiten sie sich aus,
brechen dröhnend aus den Schalldämpfern heraus, durchströmen den Mopedonauten und seine Umgebung und erschaffen eine geisterhafte Macht,
die wie eine riesige, unsichtbare Hand das Mopedo nach vorne drückt. Auch
am Mopedonauten geht diese Welle nicht spurlos vorbei, die Explosionen
durchströmen auch ihn, pulsieren durch seine Adern und jede einzelne Explosion verwandelt sich in ein Glückshormon. Eine angenehme Anspannung
stellt sich ein, ein Überschuss an Energie, der alles möglich erscheinen lässt,
der alle Grenzen verschwimmen lässt. Der Mopedonaut weiß, dass er alles
tun könnte, und doch tut er nur das eine: Er ist. Er ist das Mopedo, er ist
die Kurve, er ist die Welt, aber vor allem ist er das, was er tut. Er ist das
Fahren, und das Fahren ist Leben.
Es darf aber nicht verschwiegen werden, dass das Mopedoversum eine
Gefahr birgt. Es ist keine Gefahr für Leib und Leben, wie man vielleicht
vermuten möchte, denn Emotionen haben so etwas nicht. Leib und Leben
sind zwar in der uns gewohnten Welt gefährdet, aber nicht im Mopedoversum, allenfalls wird man schlagartig aus dieser Parallelwelt hinausgeschleudert. Hinausgeschleudert zurück in die uns so bekannte Welt, die die einzige
ist, in der Tod und Verzweiflung existieren. An dem Verlassen dieser Parallelwelt besteht die Gefahr, nicht nur durch ein plötzliches Ereignis, sondern auch durch das normale, langsame Zurückkehren in den Alltag. Sogar
das gewöhnliche Absteigen von der Maschine kann den Mopedonauten dazu
zwingen, diese Parallelwelt zu verlassen. Die Rückkehr in eine Welt, in der
Verzweiflung existiert, kann ein Schock sein, der umso härter wirkt, je enger
man mit dieser Parallelwelt in Verbindung war. Die spielende Leichtigkeit
aus dem Mopedoversum kann nicht bewahrt werden, und wenn ein starker
Mopedonaut dennoch versucht sie mitzunehmen, dieses “So könnte es funktionieren” weiterhin zu Leben, so wird er meist bitterlich enttäuscht werden.
Es funktioniert einfach nicht mehr. Was er auch anstellt, alles ist mit Mühen
und Arbeit verbunden, langweilt oder überfordert ihn, und er merkt bald,
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dass das meiste den Aufwand einfach nicht wert ist. Aber er kann sich dem
allen nicht entziehen, denn diese Welt ist geprägt von Notwendigkeit und
Zwang.
Starke Sehnsüchte an das gute und liebevolle, dennoch mächtige und
faszinierende Mopedoversum schaffen Entzugserscheinungen, der ehemalige
Mopedonaut findet sich nicht mehr so gut zurecht in dieser ihm angeboren,
doch am liebsten verlassenen Welt. Er kann seine Gedanken nicht vom Mopedoversum reißen, versucht anderen von ihm zu erzählen, doch stößt bei
jedem, der nie selbst dorthin gereist ist, auf keinerlei Verständnis. Als absurdes Hobby oder gar Verschwendung von Ressourcen werden seine Reisen
abgetan, die Schlingen des Alltags werden um den Mopedonauten gelegt, er
verliert durch solche fruchtlosen Diskussionen noch mehr den Kontakt zum
Mopedoversum. Er ist gezwungen sich zu entscheiden, welcher der beiden
Welten er sich entzieht. Ob er das Mopedoversum in sich verbirgt und dort
aufbewahrt um in dieser normalen Welt zurecht zu kommen, oder ob er ins
Mopedoversum flieht. Dazu schwingt er sich auf sein Motorrad, lässt den
Alltag hinter sich und erlebt die schönsten Seiten des Lebens als Mopedonaut. Jedoch ist dies teilweise nicht möglich, und so kann der Mopedonaut
nur in Gedanken in diese seine bevorzugte Welt fliehen. Teilweise schweift
sein Blick einfach in die Ferne, in Gedanken durch die Kurven heizend, oder
er überlegt sich die Ideallinie beim Laufen. Es sind auch Fälle beobachtet worden, in denen der Mopedonaut versuchte mit einer Art Brummen
die Geräusche seines Mopedos nachzuahmen, oder sich ohne Motorrad in
Schräglage zu legen.
Dies ist die Gefahr des Mopedoversums. Es vermag den Mopedonauten
zu begeistern und süchtig zu machen bis ihm alles andere unvollkommen
und unwichtig erscheint. Mir persönlich ist es so ergangen. Und ich liebe es.
Kapitel 7
Spielhölle
Es gibt immer wieder Zeiten, in denen man nicht Motorradfahren kann und
die man dann eigentlich für sinnvolleres verwenden könnte. Oder aber man
sucht nach Ersatzhandlungen, denn alles, was nichts mit Motorrädern zu
tun hat, ist schließlich doof. Neben Schrauben, Putzen, Bücher lesen oder
schreiben gibt es noch eine riesige Sparte an Spielen, vor allem Computeroder Konsolenspiele. Das diese niemals so gut sind wie Motorradfahren an
sich versteht sich von alleine, da wesentliche Elemente fehlen: Ohne eine
wirkliche Gefahr wird der Adrenalinpegel eher selten ein befriedigendes Niveau erreichen, zudem fehlt fast das komplette sensorische Erleben, zum
Beispiel die Fliehkräfte, die Schräglage, die Rückkopplung der Reifen und
des Lenkers, der Fahrtwind und vieles mehr. Und die Bedienung lässt in
den meisten Fällen auch zu wünschen übrig: Tastatur? Gamepad? Joystick?
Lenkrad??? Alles ziemlich weit weg von einem Motorrad.
Die Grafik kann mit der Realität oft auch nicht mithalten, wobei es
hier einige Ausnahmen gibt. Bestimmte Lichteffekte wie Spiegelungen oder
Flammen, die zum Beispiel aus dem Auspuff schlagen, sehen in der virtuellen
Welt nicht selten sehr spektakulär aus.
Zumindest theoretisch gibt es auch noch viele weitere Vorteile: Die Kosten sind im Vergleich zum echten Motorradfahren minimal, man kann viele
Motorräder und Strecken ausprobieren, man ist unabhängig vom Wetter
oder anderen äußeren Einflüssen, niemand wird einem den Führerschein abnehmen und jeglicher Schaden am Motorrad oder am Fahrer bleibt rein
virtuell. Darüber hinaus hat man die Möglichkeit viele Dinge an seine Vorlieben anzupassen, zum Beispiel die Lautstärke, die Menge an Verkehr, falls
man auf öffentlichen Straßen unterwegs ist, oder das Können der Rivalen.
Und – jetzt kommt der Punkt wo ich das größte Potential von Spielen sehe
– es sind Dinge möglich, die sich in der Wirklichkeit einfach nicht realisieren
lassen: Ein Slow Motion Modus etwa: Man erblickt eine Gefahrensituation
und – zack! – man verlangsamt die Zeit und kann sich in aller Ruhe überlegen
wie man sich aus der Situation wieder heraus windet.
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Fuck! Gerade ist er mit über 200 Sachen um die uneinsichtige Kurve herum gekommen und jetzt ist die ganze Straße blockiert. Blechkisten, LKWs,
Traktoren, alle Alpträume auf einmal und nur noch 50 m bis zum Aufprall.
Ein Druck auf den richtigen Knopf und die Situation entspannt sich. Ohne
dass ein Abbremsen spürbar war bewegt sich nun alles in Zeitlupe und er hat
eine Chance in Ruhe eine Linie durch all die Hindernisse zu legen.
Das Feature, das ich mir am ehesten auch für das Real Life wünsche,
wäre der Replay Modus. Hat irgendetwas nicht so geklappt, wie man sich das
vorgestellt hat, kann man einfach ein Stück zurück spulen und es nochmal
versuchen.
Die Zeit bewegt sich zwar zäh wie Honig, aber das ändert leider nichts
an der Tatsache, das kein Fluchtweg zwischen den Traktoren und LKWs
mehr frei ist. Zum Bremsen reicht ihm der Platz nicht mehr, er hätte die
Kurve schon viel langsamer anfahren müssen. Na gut, diesmal ein anderer
Knopf und alles bewegt sich rückwärts. Er fährt, mit dem Hinterrad voran,
in die Richtung, aus der er eben kam, und sobald er genügend Abstand zur
Kurve hat ändert sich die Richtung wieder. Er bremst diesmal, hört dabei
auf das eindeutige Bauchgefühl, welches ihm sagt, hinter der Kurve sei die
Straße blockiert.
Auch immer wieder beliebt ist der “Turbo”, man drückt irgendeinen
ominösen Knopf und auf einmal geht die Post ab. Turbolader und Lachgaseinspritzung gibt es zwar auch im echten Leben, aber die kommen einfach
nicht an die virtuelle Umsetzung ran, denn in der Realität muss man die
physikalischen Kräften auch noch irgendwie auf die Straße kriegen, bei der
Umsetzung in Bits und Bytes lässt sich das einfacher bewerkstelligen.
Die Hindernisse haben Zeit gekostet, zu viel Zeit und das Ziel ist noch
weit entfernt. Aber zum Glück gibt es diesen einen großen, roten Knopf. Er
macht sich hinter seiner Verkleidung klein, duckt sich, dann betätigt er den
Knopf. Der Welt ihm ihn herum verschwimmt, Lichtblitze rasen an ihm vorbei. Oder rast er und das Licht steht? Die Anzeige des Tachos erreicht atemberaubende Zahlen: 300, 400, 500. Er saust durch die Kurven, kaum bemerkend dass er trotz der abnormen Geschwindigkeiten kaum mehr Schräglage
braucht.
Mein absoluter Favorit unter den Dingen, die nur in die Welt der Computer gehören, ist Gewalt. In der wirklichen Welt finde ich Gewalt zum
Kotzen, denn dort gibt es Opfer und Konsequenzen, dort bin ich absoluter
Befürworter des Pazifismus. Jedoch bin ich in der Lage Fiktion und Realität
zu trennen, und ohne die negativen Seiten macht Gewalt durchaus Spaß.
Die Energie des Turbos ist aufgebraucht, doch noch immer ist er unglaublich schnell unterwegs. Nichts darf ihn jetzt bremsen wenn er noch
Chancen auf den Sieg haben will. Natürlich verengt sich in genau diesem
Moment die Straße und ein Bus versperrt die einzige Spur. Er hatte damit gerechnet. Ein weiterer Knopf, ein Fadenkreuz erscheint, bewegt sich
auf den Bus zu. . . “haste la vista, baby”. Eine Rakete, ein Lichtblitz, ein
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KAPITEL 7. SPIELHÖLLE
Knall. Er rast weiter, weiter durch den riesigen Feuerball, an dessen Stelle
sich eben noch der Bus befunden hatte, welcher nun durch die Luft wirbelt.
Der Einschlag der Rakete hat natürlich kein Schlagloch hinterlassen. Wieso auch? Aus dem Augenwinkel sieht er die kreischenden Kinder, die durch
den Bus geschleudert werden, aber er hat sie schon vergessen als der Bus
die Böschung platt walzt.
Es müsste also machbar sein, ein vernünftiges Motorradspiel zu produzieren. Leider gibt es das bisher aber nicht, oder ich war einfach nicht in der
Lage eines zu finden. Es scheitert meist an irgendwelchen Selbstverständlichkeiten, wodurch Spiel entweder frustrierend oder langweilig gemacht wird.
Meistens beides. Bei Arcade-Spielen, also Spiele die auf Spielspaß statt auf
Realismus ausgelegt sind, hat man oft den Eindruck, die Entwickler seien
nie in ihrem Leben auf einem Motorrad gesessen und haben einfach bei
einem bestehenden Autorennspiel die Grafiken von Autos durch Grafiken
von Motorräder ersetzt, ohne sich auch nur für fünf Cent Gedanken um die
veränderte Fahrphysik zu machen. Als Ergebnis hat man dann Motorräder,
die anfangen zu Driften und zu Übersteuern wenn man in der Kurve beginnt
zu bremsen. Das muss doch besser gehen!
Zum Glück gibt es ja auch noch Simulationen, die tendenziell auf Realitätsnähe ausgelegt sind und bei denen man schon eher den Eindruck hat,
es ginge irgendwie um Motorräder. Ein großer Vorteil sind hier die teilweise sehr realistischen Strecken, die es einem erlauben sich den Verlauf und
die Ideallinie einzuprägen bevor man sie das erste mal in echt befährt. Bei
diesen Spielen hapert es dann meiner Meinung nach an der Steuerung oder
dem wichtigsten Element des Motorradfahrens: der Möglichkeit des weiten
Blicks voraus. Ich habe mal ein Spiel gespielt, das hätte man schon fast
als gutes Motorradspiel bezeichnen können wenn da nicht dieses eine Problem gewesen wäre: Man hat nichts gesehen! Ich bin Motorradfahrer, meine
wichtigste Fähigkeit als solcher ist vorausschauend fahren zu können, und
dazu muss ich meinen Kopf bewegen können. Das kann man aber in keinem Motorradrennspiel, eine ordentliche Blickführung wird einem schlicht
unmöglich gemacht, denn die Strecke geht entweder links oder rechts vom
Bildschirm weiter. Als einzige Hilfe bleibt vielleicht noch die kleine Karte,
die in irgendeiner Bildschirmecke versteckt ist. Diese ist aber komplett nutzlos, wenn man versucht eine vernünftige Linie zu legen. Vor allem Kehren
verwandeln sich in Schikanen, die nahezu nicht zu meistern sind und einem
das letzte Quäntchen Spielspaß rauben.
Noch zu erwähnen wären dann die Automatenspiele, bei denen eine Art
Motorradatrappe angebracht ist, auf denen der Spieler sitzt. Das Motorrad
ist beweglich und der Spieler kann sich damit in die Kurven legen, und er hat
einen “richtigen” Gasgriff und einen Bremshebel. Von der Idee her super,
die Umsetzung aber meist genauso weit von einem echten Motorrad entfernt
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wie alle anderen Arcade-Motorradspiele: Bei den Automaten, die ich bis jetzt
gesehen habe, waren die Lenker immer starr angebracht und nur der Rest
des Motorrads beweglich und dadurch geht jeder Versuch dieses Ding wie
ein normales Motorrad zu bedienen gehörig in die Hose: Ein leichter Druck
am starren Lenker schiebt den Körper natürlich von diesem weg, was bei
mir immer damit endete, dass ich in die falsche Richtung lenkte. Zumindest
bei langsameren Kurven, bei den schnelleren konnte ich mich trotz nicht
vorhandener Fliehkräfte halbwegs mit dem Hanging-Off anfreunden, auch
wenn hier mal wieder die fehlende Möglichkeit zur Blickführung störte. Als
ich das erste Mal einem solchen Automaten inmitten eines Motorradurlaubs
begegnete konnte ich nicht widerstehen und saß kurz darauf in kompletter
Montur auf dem Plastikmotorrad. Auf dem zweiten Plastikmotorrad nahm
ein Freund in ebenfalls kompletter Montur platz und wir machten uns bereit
endlich Mal ein richtiges Rennen gegeneinander zu fahren. Keiner von uns
erreichte das Ziel bevor die Zeit abgelaufen war.
Als ich ein paar Jahre später in einem Urlaub mal kein Motorrad hatte, dafür aber ein Spielsalon in meiner Nähe, schaffte ich es mich an diese
komischen Plastikmotorräder zu gewöhnen und auch Rennen zu gewinnen.
Es waren einige Stunden Spielzeit nötig, aber dann konnte ich mir aus gewonnen Skins und Anbauteilen ein virtuelles Motorrad bauen, das fast wie
meine Ninja aussah.
Abschließend bleibt leider nur zu sagen, dass Computerspiele keine brauchbare Alternative zum echten Motorradfahren darstellen. Schade eigentlich,
denn vor allem die Automatenspiele hätten echt Potential. Vielleicht wird
die Situation mit der Zeit besser, aber falls nicht werde ich mir wohl eines Winters mein eigenes Automatenspiel bauen müssen, aber natürlich aus
einem echten Motorrad und nicht aus Plastik.
Kapitel 8
Gelbe Engel und selbst
ernannte Freunde
Der Allgemeine Deutsche Automobil Club, kurz ADAC, hat ursprünglich
als Motorradclub angefangen. Als solchen nutze ich ihn auch, ein Auto habe
ich nicht, aber ich bin dem ADAC sehr dankbar für jedes Mal wenn sie mein
Motorrad oder mich geholt haben. Jedes Mal wenn ich im Graben lag wusste ich diese Mitgliedschaft zu schätzen. Ohne Diskussion wird einem einfach
geholfen, das kann ich nicht mal von meinem Arzt behaupten. Vor allem,
sie hätten ja allen Grund zu diskutieren, wenn ich Depp – schon wieder –
selbstverschuldet im Graben lande und verzweifelt beim ADAC anrufe. Aber
nein, die nette Dame am Telefon ist freundlich, im Vergleich zu andern Hotlines kompetent, spendet Trost und verspricht umgehend Hilfe. Gut, mit den
Zeitangaben sollte man es nicht immer so genau nehmen. Doch sie kommen.
Jedes mal. Während dem Deutschlandspiel bei der Fußballweltmeisterschaft
oder mitten in der Nacht. Nach Frankreich oder auch ins Krankenhaus.
Die Fahrer an sich sind dann wieder eine ganz andere Sache. Im Grunde
sind die meisten nett und hilfsbereit, aber ihnen fehlt es dann doch meist am
nötigen Einfühlungsvermögen. Nicht selten wird mein Lebensgefährt dann
behandelt, als wäre es nur ein kaputtes Motorrad. Mit Gewalt wird meine
Liebste auf den Abschlepper gehievt und dann mit teils abenteuerlichen,
improvisierten Methoden irgendwie festgezurrt. Hilflos, ängstlich und allein
muss sie sich fühlen wenn sie so auf dem LKW steht, verletzt, nicht mehr in
der Lage sich selber fortzubewegen, sondern angekettet von einem Fremden.
Und dann auch noch auf einem Zweispurfahrzeug! Das lehnt sich in den
Kurven sogar in die falsche Richtung. Ich kann dann nur hoffen, dass meine
Worte des Trosts sie erreichen, dass mein Versprechen, ihre kaputten Teile
durch gleichwertige oder noch bessere zu ersetzen, bei ihr ankommt und sie
beruhigt.
Die Fahrten nach Hause sind dann auch immer wieder eine Erfahrung
wert, da die meisten Abschleppfahrer natürlich wissen wollen was passiert
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ist. Ich lasse in solchen Fällen, wenn ich Außenstehenden erkläre was passiert
ist, immer die Details weg, vor allem Zahlen wie Geschwindigkeiten. Realistische Beschreibungen führen entweder dazu, dass einem ohnehin nicht
geglaubt wird, oder dazu, dass man sofort in die Kategorie Irrer-KinderÜber-Den-Haufen-Raser-Der-In-Die-Gaskammer-Gehört gesteckt wird.
ADAC-Fahrer sind selten selbst Motorradfahrer, und wenn Zweispurfahrer einem verunglückten Motorradfahrer begegnen, dann merkt man recht
schnell wie der Zweispurfahrer ganz unwillkürlich die Rolle der väterlichen
Vernunft einnimmt und versucht den verrückten Motorradfahrer zurück auf
den rechten Weg zu bringen. “Ich bin früher auch Motorrad gefahren, aber
dann sind zwei oder drei meiner Freunde gestorben”, erzählte mir ein Fahrer
einmal in bedeutungsschwangerem Ton. Zwei oder Drei? Sollte man so was
nicht etwas genauer wissen? Oder zu meiner Sozia, nachdem wir bei einem
Wheelie abgeflogen waren und eingesammelt wurden: “Na, sie setzen sich
jetzt wohl auch nie wieder hinten auf ein Motorrad drauf?” Zum Glück ist
meine Sozia eben meine Sozia, und eine angenehme Wärme stieg in mir auf
als sie erklärte, dass sie wisse worauf sie sich einlasse und es auch weiterhin
zu tun gedenke.
Der Fahrstil der Abschleppfahrer spricht dann wieder Bände. Ich kann
einen Menschen, der über die Rücksichtslosigkeit der Motorradfahrer philosophiert, nicht ernst nehmen wenn er gleichzeitig mit einem LKW kaum einsehbare Kurven auf eine Art und Weise schneidet, die es praktisch unmöglich
machen würde, einem entgegenkommendem LKW oder Bus auszuweichen.
Ein anderer Fahrer hat es in tiefster Nacht auf über 120 km Autobahn nicht
einmal geschafft die rechte Spur zu verwenden, obwohl dort nur alle paar
Kilometer ein einzelner Lastwagen fuhr. Das beruhigt dann auch wieder ein
bisschen, ich bin wohl doch nicht der einzige, der sich nur an die Verkehrsregeln hält, die er für sinnvoll erachtet.
Zu Hause angekommen reicht eine einzige Unterschrift und ein paar weitere Angaben und der ganze Papierkram ist erledigt. Meine Worte des Dankes können nicht ausdrücken wie viel mir seine Arbeit bedeutet. Er hat meine
Maschine nach Hause gebracht in einem Moment, in dem ich es selbst nicht
mehr konnte. Er erkennt es nicht, für ihn ist es nur ein Job, aber für mich
ist er ihr Retter, und dadurch auch mein Retter. Der gelbe Engel zieht von
dannen, er erwartet keine weitere Gegenleistung.
Ich kann nur davon abraten, statt des ADACs die Polizei zu rufen! Dieser
Verein, der sich so selbstherrlich als mein Freund und Helfer bezeichnet, ist
weder freundlich noch hilfsbereit. Ich musste das einmal feststellen, als ein
Kumpel hinter mir stürzte weil er aufgrund einer tiefen Spurrille in einer
Kurve den Kontakt zum Boden verlor. Die Spurrille war kaum zu sehen und
zog sich direkt durch die Ideallinie von Einspurfahrzeugen. Es war nichts
schlimmes passiert, jedoch war die Kurve voller Bremsflüssigkeit, und das
an einem Wochenende und auf einer Strecke, die von Motorradfahrern be-
48
KAPITEL 8. GELBE ENGEL, SELBST ERNANNTE FREUNDE
vorzugt befahren wurde. Aber wozu hatte man einen Freund und Helfer,
der musste doch wissen, was zu tun war. 45 Minuten später, die wir damit verbracht hatten allen Motorradfahrern zuzuwinken, damit sie nicht auf
der Bremsflüssigkeit ausrutschten, waren sie dann auch schon da, natürlich
ohne Warnschilder oder irgendwelchem Bindemittel um die Situation zu
entschärfen. Als erstes wurden Strafzettel verteilt, denn, wer abflog musste
ja schließlich zu schnell gewesen sein, hatte sich zumindest nicht der Situation entsprechend verhalten. Die Logik ist irgendwie verständlich, aber dann
möchte ich doch auch bitte immer dann, wenn ich nicht abfliege, auch keinen
Strafzettel. Der freundliche Bulle betonte dann auch noch wie nett er sei und
dass man ihm dankbar sein sollte, denn schließlich könnte er noch teurere
Strafzettel verteilen. Wer solche Freunde hat braucht keine Feinde mehr.
Die rutschige Stelle mitten in der Kurve interessierte ihn nicht, schon klar,
falls einer abflog weil er nicht damit rechnete, dass mitten in einer Kurve
eine ölige Spurrille war, dann war er ja ohnehin selber schuld. Ich für meinen
Teil werde keine Polizei mehr rufen, wenn es nicht absolut unumgänglich ist.
Und falls jemand anderes fragt, ob er denn nicht lieber die Polizei rufen soll,
am besten gar nicht erst diskutieren sondern gleich lügen: “Die sind schon
unterwegs, fahren sie ruhig weiter, ich komm zurecht.”
Auch wenn mein Freund und Helfer am Straßenrand steht und mich zu
sich winkt, ist dies im Allgemeinen kein erfreuliches Wiedersehen. Denn er
hat kein Interesse an einem gemütlichen Plausch oder am Austausch von
Nettigkeiten, er möchte lieber eine ernsthafte Diskussion über die Regeln
der Straßenverkehrsordnung führen. Diese Regeln sind ein zweischneidiges
Schwert, auf der einen Seite sind Regeln natürlich notwendig, allein um das
Verhalten der anderen Verkehrsteilnehmer grob abschätzen zu können. Auf
der andere Seite sind diese Regeln, vorsichtig ausgedrückt, im Fokus etwas
einseitig in Richtung Sicherheit ausgelegt. Der verbleibende Spielraum reicht
selten zum befriedigenden Motorradfahren, sofern man damit auch nur im
Entferntesten das Fahren in der Nähe des eigenen Limits oder dem der Maschine verbindet. Der Mopedonaut an sich ist ja wendig und passt sich den
Gegebenheiten an und so kann es schon mal vorkommen, dass diese Regeln
vom Mopedonauten ein klein wenig phantasievoller ausgelegt werden. Der
Tacho der Ninja lässt sich beispielsweise auf Meilen statt Kilometer einstellen, und mit einem Male erscheinen die runden Schilder mit Zahlen darauf
gar nicht mehr so weit von der Realität entfernt zu sein. Die Polizei ist da
weniger flexibel und wird dieser Neuinterpretation der Regeln nicht folgen, es
entsteht somit zwangsläufig eine Diskrepanz beider Interpretationen. Dieser
Spannungszustand wird gelöst durch das Verteilen von Geld- und anderen
Strafen, wobei der Mopedonaut immer der Benachteiligte ist. Ein Grund
mehr also sich andere Freunde zu suchen, denn das Geld lässt sich viel besser in Benzin, Reifen und vor allem Rennstreckentrainings investieren.
Kapitel 9
Rennstreckentraining auf
dem Sachsenring
9.1
Erster Tag: Verzweiflung
Das Training auf dem Hockenheimring lag schon gute vier Monate zurück,
die Ninja war repariert und mein Knochen zusammengewachsen. Die Ninja
sah zwar nicht mehr so gut aus wie sie das einmal tat und die inzwischen
verschobenen Knorpel in meiner Schulter rieben auch noch an ungewohnten Stellen aneinander und verursachten dadurch leichte Schmerzen, doch es
würde reichen um weiter zu machen. Dass ich weiter machen würde, stand
außer Frage, nicht aus Sturheit – obwohl die wohl auch ausgereicht hätte –
sondern aus Überzeugung. Erfreulich war das Ende meines letzten Trainings
nicht gewesen, aber bis zu diesem Punkt war der Tag perfekt gelaufen. Selten
hatte ich so viel Spaß gehabt und im Übrigen hatte ich Talent. Diese Behauptung war sicher anmaßend, schließlich war ich am Ende auf der Fresse
gelandet, aber davor hatte ich mich schneller als jeder andere entwickelt und
letztlich jeden einzelnen in meiner Gruppe stehen lassen. Das lag sicher zum
Teil daran, dass ich in solchen Situationen furchtloser bin als andere, aber
das konnte nicht alles sein, dazu gehörte auch ein gewisses fahrerisches Geschick und darauf galt es aufzubauen. Der Fehler auf dem Hockenheimring
war akzeptabel solange er sich nicht wiederholte, um damit abschließen zu
können musste ich wieder auf die Rennstrecke, musste wieder den gleichen
Zustand des Flows erreichen und das ohne meine Maschine zu legen. Das
war mein Ziel für dieses Training.
Diesmal wollte ich einige Dinge anders – besser – machen. Das Training
ging diesmal 2½Tage und ich hatte einen nagelneuen Satz Rennreifen auf der
Ninja. Gut, fast nagelneu. Ich hatte es mir nicht nehmen lassen die Reifen
auf einer kurzen Runde über meine Hausstrecke einzufahren um zu sehen
ob ich einen Unterschied feststellen würde. Es war in der Tat ein deutlicher
Unterschied, sanft wie auf Socken glitten die Reifen über den Asphalt, und
49
50
KAPITEL 9. SACHSENRING
selbst auf Bitumen und Kanaldeckeln aus Metall schienen sie am Boden zu
kleben. Da die Reifen die Fahrt zum Sachsenring kaum überstanden hätten
und ich ohnehin keine Straßenzulassung mit ihnen hatte, hatte ich mir einen
Sprinter geliehen. Mit der Ninja darin wurde dieser zum “Mopedoporter”. So
ein Mopedoporter ist super, denn neben dem Notwendigsten kann man auch
noch alles andere mitnehmen. Motorrad, Werkzeug, Verpflegung, Bier, Matratze, Kleidung, komplette Ersatzausrüstung, Sozia. . . für alles war genug
Platz.
Am Sonntag Nachmittag kamen wir in Sachsen beim Hotel an. Diesmal
war der ADAC der Veranstalter und alles schien eine Ecke luxuriöser zu
sein, zumindest das Hotel machte auf mich, der ich doch als schwitzender,
ungepflegter Biker gekommen war, einen zu schicken Eindruck. Am Empfang
wurde ich mit allerlei Papierkrams versorgt und bekam zwei riesige Aufkleber mit Ziffern, die ich auf mein Mopedo kleben sollte, bevor ich mich zur
technischen Abnahme zu melden hatte. Ich klebte ja zu gern irgendwas auf
mein Motorrad nur um es danach wieder abzufummeln, aber in diesem Fall
war es wohl sinnvoll. Ich rollte zur technischen Abnahme und verstand die
Welt nicht mehr. Es handelte sich um eine Mini-TÜV-Prüfung, Blinker und
Lichter wurden kontrolliert und danach wurde der nächste gottverdammte
Aufkleber auf meine Maschine gepappt. “Technisch in Ordnung” stand darauf, ach nee, das hätte ich auch so gewusst. Hatte ich nicht erst beim letzten
Training meine komplette Beleuchtung und die Spiegel abkleben müssen?
Das fand ich auch durchaus sinnvoll, also was sollte dann das hier?
Zurück im Mopedoporter setzten meine Sozia und ich uns auf die Matratze und öffneten das erste Bier. Dieser Schock musste erstmal verdaut
werden. Dabei gingen wir die Papiere durch.
“Überholt wird grundsätzlich nur mit der ganzen Gruppe!” “Innerhalb
der Gruppe wird nicht überholt!” Mh, machte wohl Sinn, aber wie sollte
man so voran kommen? Und es würde ja wohl auch freie Turns geben?
“”. . . Blinker links setzen und warten, bis die vorausfahrende Gruppe
Platz macht. [. . . ] Überholt werden darf erst, wenn alle in der zu überholenden Gruppe [ebenfalls] den Blinker gesetzt haben!” Was? Das war ja
schlimmer als im Straßenverkehr. Sollte das ein Sicherheitstraining werden
oder ein Rennstreckentraining?
“Jeder Teilnehmer muss seinen Hintermann beobachten und ist für ihn
verantwortlich”. Das durfte doch nicht wahr sein. Jeder vernünftige Mensch,
der auf die Rennstrecke ging, wusste doch, dass der Überholende die Verantwortung trug und man sich tunlichst nicht von dem Geschehen hinter sich
ablenken lassen sollte. Und überhaupt, meine Spiegel waren nicht darauf
ausgelegt, dass ich darin was sah. Wie sollte ich mich auf meine Linie konzentrieren wenn ich im Rückspiegel kontrollieren musste ob sich der Depp
hinter mir ins Kiesbett legte oder nicht? Das war doch nicht meine Aufgabe!
Sollten sich die Streckenposten um so was kümmern.
Die Person vor mir musste ja dann auch für mich “verantwortlich” sein.
9.1. ERSTER TAG: VERZWEIFLUNG
51
Die Teilnehmerliste verriet wer das war: Tanja mit ihrer R6. Ich war kurz
davor loszuschreien. Hatte ich tatsächlich fast 800 Euro plus Rennreifen,
Sprinter und Sprit dafür ausgegeben um zwei Tage hinter einer kack R6
herzugurken? Und dann noch hinter einer Tanja? Ich hatte ja eigentlich keine
Vorurteile gegenüber Frauen auf Motorrädern, ich fand das sogar Klasse,
aber das hörte sich echt so an als würde mir jemand die ganze Zeit im Weg
sein.
Es gab Regeln für alles. Jede Kleinigkeit war aufgeführt, nur eine Sache wurde nirgends erwähnt: freies Fahren. Ich war in einem verdammten Kindergarten gelandet. Ich hatte zwei Monatsgehälter verschwendet
um in einem dekadentem Hotel zu wohnen und tagsüber mit verweichlichten Möchtegern-Rennfahrern über den Sachsenring zu schleichen, die wahrscheinlich nur dort waren, um einmal im Leben was erlebt zu haben. Aber
bitte ohne Risiko. Danach möchte man ja wieder unbeschadet zu seinem
normalen Leben zurück kehren.
Meine Sozia und ich versuchten dem Ganzen etwas positives abzugewinnen während wir weiter Bier tranken. Schließlich ging es auf eine Rennstrecke, den Organisatoren musste klar sein, dass die Leute dort Gas geben
wollten. Und es war schließlich der ADAC, auch wenn sie Sicherheit groß
schrieben, sie würden bemüht sein, dass jeder Teilnehmer auf seine Kosten
kam, oder? Es fanden sich viele gute Argumente für die Regeln, dennoch
wurde ich das Gefühl nicht los, dass ich am falschen Ort gelandet war.
Ein Streifenhörnchenwagen fuhr langsam am Mopedoporter vorbei, während meine Sozia und ich mit Bier in der Hand auf der Ladefläche saßen. Ich
seufzte entnervt und machte mich daran Führerschein und Fahrzeugpapiere
zu suchen, denn so wie der Tag bis jetzt gelaufen war würden sie hundert prozentig zurück kommen. So war es dann auch, wenige paar Sekunden später
kam der Wagen wieder, diesmal rückwärts, und parkte hinter dem Sprinter
ein. Das Gesicht meiner Sozia war gezeichnet von Panik, so dass ich mich
entschloss, das Reden zu übernehmen und aufstand. Mir war die Situation
selbst nicht geheuer, aber wenn man ohnehin keine Wahl hat schadet es nur
zu zögern. Verbrochen hatten wir nichts, zumindest kam mir nichts offensichtlich illegales in den Sinn, das wir getan hätten, beruhigend war diese
Tatsache allerdings nur begrenzt, denn bei Bedarf war jeder Bulle in der
Lage irgendeine widersinnige Regel aus dem Hut zu zaubern, gegen die man
garantiert verstoßen hatte oder zu der man erst einmal beweisen musste,
dass man nicht dagegen verstoßen hatte.
Sie waren zu zweit, das Männchen stieg aus während das Weibchen im
Wagen wartete. Das war mir ganz recht, denn er machte einen umgänglichen
Eindruck während sie nur mit missfälliger Miene vom Beifahrersitz herüber
blickte. War es möglicherweise nur ein Trick, die nach vielen Jahren im
Dienst antrainierten Rollen von “guter Bulle, böser Bulle”? Wollten sie mich
nur weich kochen? Um Chancengleichheit herzustellen, entschied ich mich
52
KAPITEL 9. SACHSENRING
für meine Rolle: “Guter Junge.” Er fing an zu reden und es fiel mir schwer
ihn zu verstehen und noch schwerer ihn ernst zu nehmen. Nicht, dass ich
sächsisch nicht interessant fand, aber wie jeder ungewohnte Dialekt erinnerte
mich auch sächsisch eher an eine Comedy-Sendung als an eine ernsthafte
Unterhaltung. Meine Papiere wurden indes dem Drachen im Wagen gereicht,
der diese noch missfälliger betrachtete als mich, während mir der Sachse
mit der dicken Hornbrille auf den Zahn fühlte. Natürlich wollte er wissen
wieso wir Sonntag Abends im Industriegebiet in einem Sprinter mit einer
Matratze saßen. Ich erzählte ausschweifend vom Rennstreckentraining des
ADAC, vom Hotel, das dieser gebucht hatte, schwärmte vom Sachsenring
und fragte den Polizisten darüber aus. Er schien mir alles abzunehmen, ich
hatte auch nichts unwahres erzählt, lediglich ein paar Details nicht erwähnt.
Ich hatte wirklich ein Bett im Hotel, aber eben nur eins und wir waren zu
zweit. Ich bekam meine Papiere wieder und sie zogen von dannen. Was blieb
war ein mulmiges Gefühl, dass sie Nachts wieder kommen könnten.
Der nächste Programmpunkt war das Abendessen mit der Gruppe. Super, eine Runde Kennelernspielchen mit anschließendem Gruppenkuscheln,
genau das was ich jetzt brauchte. Meine Sozia durfte nicht mit, da sie für die
komplette Veranstaltung nicht angemeldet war. Ich kam als letzter an den
Tisch meiner Gruppe, begrüßte die Anwesenden kurz, konzentrierte mich
auf das Essen und lauschte den Gesprächen meiner Gruppe. Hätte es zu
dem Essen noch Spätzle gegeben wäre es wohl die perfekte Mahlzeit gewesen. Die Konversation konnte da nicht annähernd mithalten. Die meiste Zeit
redete der Instruktor unserer Gruppe, eine hemmungslose Laberbacke. Er
warf mit Anekdoten aus seiner “Rennfahrerkarriere” um sich, die leider keinerlei nützliche Informationen enthielten, und fragte nach und nach alle am
Tisch über ihre Erfahrungen aus. Das Pärchen Mitte vierzig hatte immerhin
schon einige Trainings mitgemacht, für den Rest war, wie ich es befürchtet
hatte, die Rennstrecke Neuland. Tanja schätzte ich auf Anfang dreißig, ihre
Geschichten ließen immerhin darauf schließen, dass sie nicht ganz langsam
unterwegs war. Dann meldete sich der Organisator zu Wort. Er brauchte
mindestens zwanzig Minuten um allen Sponsoren und Helfern zu danken,
und ich fragte mich ob man es wohl als unangebracht empfinden würde,
wenn ich anfinge ihn auszubuhen und mit Tellern und Besteck nach ihm zu
werfen. Unter den ganzen Instruktoren befand sich auch ein Bulle, was auch
nicht dazu beitrug, dass ich mich wohler fühlte. Ich spielte mit dem Gedanken an eine unauffällige Flucht, aber andererseits würde er sicher gleich mit
wichtigen Information rausrücken, die ich nicht verpassen durfte. Gefühlte
zwei Stunden später war er endlich fertig, die einzige sinnvolle Information
war die Wegbeschreibung zum Sachsenring, das hätte mir aber auch mein
Navi verraten können. Als nächstes Stand eine Kennenlernrunde auf dem
Programm. Ich setzte meinen Fluchtplan in die Tat um. Nicht mehr in der
Lage mich mit diesen Menschen, die so erfolgreich dabei waren meine Hoff-
9.2. ZWEITER TAG: HOFFNUNG
53
nungen auf zwei schöne Tage zu zerstören, außeinanderzusetzen, schlich ich
mich Richtung Toilette aus dem Raum und verschwand zu meiner Sozia.
9.2
Zweiter Tag: Hoffnung
Los ging es am zweiten Tag um 7:45 Uhr mit der Fahrt zum Sachsenring.
Eine unmenschliche Zeit, aber was tut man nicht alles fürs Motorradfahren.
Auf der Ninja zu sitzen sorgte von allein für etwas bessere Laune als am Tag
zuvor, auch wenn ich immer noch befürchtete, dass dieses Training meine
ursprünglichen Erwartungen und Hoffnungen nicht würde erfüllen können.
Ich stellte mich in meiner Gruppe auf und unser Instruktor wies uns an, auf
den Fahrer zwei Plätze vor uns zu schauen und die selbe Linie zu fahren.
Der erste Turn wurde in sehr gemütlichem Tempo gefahren, mein Laptimer
zeigte Zeiten um die drei Minuten pro Runde. In der Pause zum zweiten
Turn ging unsere Gruppe zur Kreisbahn und ich hatte schon die Hoffnung ich
könnte einmal unter professioneller Anleitung an meinem Hanging-Off feilen,
aber es stand eine andere Übungsaufgabe an: Blickschulung. Auch wenn ich
nicht dachte, dass ich auf diesem Gebiet nach jahrelangem, konsequentem
Üben noch viel neues lernen konnte, gab ich mir Mühe und hoffte noch den
einen oder anderen Tipp mitzunehmen. Außer einem kurzen Lob konnte
ich aber nichts mitnehmen, die anderen hatten deutlich mehr Lernbedarf.
Man sollte meinen für einen erfahrenen Motorradfahrer kann es nicht weiter
schwierig sein eine einfache Anweisung wie den weiten Blick voraus auf einer
Kreisbahn umzusetzen, aber da hatte ich wohl zu viel von meiner Gruppe
erwartet. Selbst das Pärchen mit Streckenerfahrung schaffte es nicht, den
Kopf weiter als rund zwanzig Grad zu drehen und ich fragte mich, wie sie
bisher wohl überlebt hatten. Immerhin stellte sich unser Instruktor ganz gut
an, seine Erklärungen waren richtig und hilfreich.
Im zweiten und dritten Turn steigerten wir die Geschwindigkeit langsam, hatten aber immer noch Rundenzeiten von über 2’30 min, was es nicht
nötig machte, auch nur einmal zu schalten. Ich konnte alles im fünften Gang
fahren und der arme Zeiger des Drehzahlmessers schaffte es kaum in den
grünen Bereich, der bei der Ninja bezeichnender Weise erst bei 6 000 U/min
begann. Ich fing an die Anweisung, immer auf den Fahrer zwei Positionen
vor mir zu schauen, zu ignorieren, denn dies hinderte mich daran, die Strecke
kennen zu lernen. Ich versuchte statt dessen den Blick wie gewohnt auf den
Kurvenausgang oder den nächsten Kurveneingang zu richten und meinen eigenen Bewegungsentwurf zu entwickeln. Diesen konnte ich denn immer noch
anhand der Linie des Instruktors korrigieren, wobei ich aber explizit auf die
Linie des Instruktors achtete, denn der Rest der Gruppe fuhr teilweise den
letzten Scheiß zusammen. Das Konzentrieren auf die eigene Linie half mit
tatsächlich, den doch recht uneinsichtigen Kurs auswendig zu lernen.
54
KAPITEL 9. SACHSENRING
Für den vierten Turn konnte ich endlich in eine schnellere Gruppe wechseln. Mein neuer Instruktor, Gero, fuhr eine 2009er Repsol Fireblade und
war mir von Anfang an sehr sympathisch. Er schwang keine großen Reden
sondern gab kurze, klare Anweisungen, hörte immer viel auf die Stimmung
in der Gruppe und zeigte dabei viel Einfühlungsvermögen. Der erste Turn
in dieser Gruppe zauberte mir endlich dieses so wohl vertraute Lächeln ins
Gesicht. Geschätzte 2’10 min pro Runde. Wir waren endlich bei einer Geschwindigkeit angekommen, die auch Schräglage erforderte, und nachdem die
Ninja sogar einmal aufsetzte wurde es auch sinnvoll sich mit dem Körper ins
Hanging-Off zu begeben. Ich war immer noch innerhalb meiner Wohlfühlgrenze, mehr Speed wäre zwar drin gewesen, aber dann hätte die Gefahr
bestanden die Linie auch mal zu versauen, was mir so an diesem Tag bei
nur einer einzigen Kurve passierte.
Vor der Mittagspause kam dann die nächste gute Nachricht: Für den
Nachmittag war ein freier Turn geplant! Dies war anscheinend kurzfristig
von den Veranstaltern festgelegt worden, und war daher nirgends auf dem
offiziellem Zeitplan zu finden.
Als Zielzeit hatte ich die 1’50 min angepeilt. Dies war die Zeit, die ein
Bekannter von mir fuhr, der schon auf dem Bock saß als ich noch in den
Windeln lag. Dieser Bekannte fuhr auch eine 10er Ninja, eine 2004er, und
hatte schon deutlich mehr Rennstreckenerfahrung als ich. Es war nicht meine
oberste Priorität diese Zeit zu knacken, wichtiger war es heil nach Hause
zu kommen, aber es war immerhin eine Messlatte, ein Punkt, an dem sich
orientieren konnte.
Im freien Turn könnte ich auf den Geraden schneller Fahren als in der
Gruppe, da die Ninja natürlich eine der stärksten Maschinen war, also würde
das meine Zeit schon ein wenig nach unten korrigieren. Allerdings bot der
Sachsenring kaum Geraden, eigentlich nur die Start-Ziel-Gerade und ein
kurzes Stück vor der Sachskurve, an allen anderen Stellen würden sich die
Power der Ninja nicht in bessere Zeiten umwandeln lassen. Im Gegenteil, in
den vielen, teils langsamen Kurven musste man mit der Ninja sehr vorsichtig
sein um nicht mit einem Low- oder Highsider abzusteigen. Am spannendsten
aber war für mich die Frage, wie viel von dem gelernten ich auch alleine Umsetzen konnte. Der Sachsenring bot mehrere “blinde” Kurven, Kurven also,
die man nicht vollends einsah und die man daher genau kennen musste um
eine schnelle Linie fahren zu können. Ein Fehler in einer dieser Kurven wirkte sich nicht nur auf diese eine Kurve aus, sonder beeinflusste im dümmsten
Fall die komplette Kurvenkombination, wenn der Fahrer zum Korrigieren
gezwungen war. Genügend Chancen also, um die Rundenzeit auch steigen
zu lassen. Meine ersten 15 Minuten freies Fahren auf dem Sachsenring endeten, trotz gelber Flagge in den letzten Runden, mit immerhin drei 1’52.xx
Zeiten und dem zufriedenen Gefühl, doch nicht in einem Kindergarten gelandet zu sein. Ich hätte gerne mehr Zeit gehabt zum alleine Fahren gehabt,
9.3. DRITTER TAG: EKSTASE
55
aber es stand ja noch ein weiterer Tag bevor, und es musste ja auch nicht wie
bei dem anderen Fahrer aus unserer Gruppe enden, der im freien Turn seine
Maschine wegschmiß. Passiert war zum Glück nicht viel, ein paar Kratzer
an der R1 und am Lederkombi, und natürlich der gebrochene Stolz.
In einer Pause berichtete mir meine Sozia von dem einzigen anderen Fahrer einer 2008er Ninja, der unter den freien Fahrern war und seine Rundenzeiten begutachtete: “Verdammt, da reiß ich mir den Arsch auf und wieder
nur eine 1’52!”. Wie ich später erfuhr, war dieser Fahrer schon ein alter Hase
auf dem Sachsenring. Wieso denn Arsch aufreißen? So eine Zeit geht doch
auch ganz gemütlich, selbst wenn man den ersten Tag auf dem Sachsenring
war.
Wir fuhren an diesem Tag noch einen weiteren Turn mit Instruktor und
dann verabschiedete wir die meisten, da alle der ursprünglichen Gruppe nur
für den ersten Tag des Trainings angemeldet waren.
Nach einem Abendessen, dass genauso gut und reichhaltig wie das am
Abend davor war, tranken meine Sozia und ich noch zwei Bier und waren
bereits vor 10 Uhr abends am Ende unserer Kräfte. Motorradfahren kann
echt anstrengend sein.
9.3
Dritter Tag: Ekstase
Der dritte Tag fing noch besser an als der zweite aufgehört hatte. In meiner
Gruppe gab es außer mir nur noch einen Teilnehmer – dieser fuhr, wie der
Instruktor, eine Repsol Fireblade – so dass wir zu dritt über die Strecke
heizten und das Tempo nochmal deutlich anziehen konnten. Wir fuhren in
etwa die Kurvengeschwindigkeiten, die ich in meinem freien Turn am Vortag
gefahren war, und für mich lief es prima. Der andere Teilnehmer in der
Gruppe schien aber zunehmend an seine Grenzen zu stoßen, musste häufiger
korrigieren oder sich in Kurven ein Stück zurück fallen lassen. Gero erkannte
das auch als wir nach dem Turn in kleiner Runde beisammen standen, und
wir wollten die Geschwindigkeit ein wenig drosseln.
Dann fragte er meine Sozia, Fee, ob sie nicht auch mal mit wolle. Ich hatte
am Abend zuvor meinen ersten Instruktor gefragt und die gleiche Antwort
wie am Hockenheimring erhalten: So was sei nicht möglich. Gero sprach mit
dem Veranstalter und machte es möglich! Falls Gero es mir zutraute, könne
ich sie mitnehmen. Für Gero bedeutete das, wenn ich es mir zutraute, könne
ich sie mitnehmen, was wiederum bedeutete, dass ich Fee fragte ob sie es
sich denn zutrauen würde. Das stand natürlich außer Frage, schließlich ging
es hier um meine Sozia, die nicht etwa bei mir mitfuhr weil sie Zeit mit mir
verbringen wollte, sondern weil sie das gemeinsame Fahren ebenso liebte wie
ich, und das seit 8 Jahren und 30 000 km. Zum Glück hatten wir auch Fees
Sachen, ohne genau zu Wissen wieso, in den Mopedoporter gepackt.
56
KAPITEL 9. SACHSENRING
Fee war das ganze Training über eine super Begleitung und eine große
Hilfe gewesen. Nach jedem Turn stand sie mit einer gedrehten Zigarette
bereit, hatte mehr Überblick darüber wo ich meine Sachen gelassen hatte
als ich und hörte sich meine Berichte an. Am ersten Tag hatte sie mich vor
dem Verzweifeln bewahrt und am zweiten meine immer größer werdende
Freude geteilt. Sie war mein Rückzugsort, ein Stück zu Hause, das ich dabei
hatte. Jetzt hatte ich die Möglichkeit sie an diesem Event direkt teilhaben
zu lassen, ihr die ganze Strecke zu zeigen anstatt sie nur den kleinen Teil
sehen zu lassen, den sie als Zuschauer überblicken konnte. So sehr es mich
auch freute endlich mit meiner Sozia mal über den Ring zu heizen, kam
es wohl nicht annähernd an ihre Freude heran. Fee war komplett aus dem
Häuschen, überdreht wie ein kleines Kind vor Weihnachten und mit diesem
breiten Grinsen im Gesicht, wie es nur bei Mopedonauten, Verliebten oder
Heroin-Junkies vorkam.
Wir fuhren wieder in der selben Konstellation auf die Strecke, nur dass
ich diesmal meine Sozia dabei hatte. Das Fahrwerk der Ninja war weder für
zwei Menschen ausgelegt noch ideal eingestellt, so dass wir aufgrund der begrenzten Schräglagenfreiheit etwas langsamer unterwegs waren als im Turn
davor. Langsamer, aber keinesfalls langsam. Meine Sozia war Profi und wir
waren das schnelle Fahren gewohnt, so dass selbst Hanging-Off möglich war
wenn sie hinten drauf saß. Wie sie es schaffte, sich mit nur zwei Fingern
der kurvenäußeren Hand am Tank noch wohl zu fühlen, während wir mit
schleifendem Ständer durch die Kurve heizten, war mir ein Rätsel. Aber sie
konnte es. Der ebene Asphalt auf dem Sachsenring ließ es zu, die Maschine durch die kompletten Kurven Funken sprühen zu lassen, was innerhalb
von einem Turn den halben Seitenständer und einen Teil der Katalysatorabdeckung abrubbelte. Trotz erhöhtem Schwierigkeitsgrad waren wir eine der
schnellsten Gruppen im Feld und holten zwei der anderen drei Gruppen bis
zum Ende des Turns ein. “Das waren die besten zwanzig Minuten meines
Lebens!” erwiderte meine Sozia auf Geros Frage, wie es ihr gefallen habe.
Ich war der einzige, der ihr glaubte.
Der nächste freie Turn stand an und ich fuhr ihn alleine um mich nochmals an der 1’50 zu versuchen. 1’51 kam dabei heraus, und der Schock meinen Zimmernachbarn keine 100 m vor mir mit einem Highsider absteigen zu
sehen. Passiert war zum Glück nicht viel, nur die Hängetitten seiner BMW
hatten etwas abbekommen. Wieso baut man den Motor auch so, dass er
zwangsläufig als erstes Bodenkontakt bekommt?
Da mein verbliebener Gruppenkollege trotz Startverbots wegen zu lauter
Auspuffanlage an dem freien Turn teilnahm, wurde er vollends gesperrt. Die
Gruppe wurde daraufhin aufgelöst, was sehr bedauerlich war, denn nur Gero
und ich in einer Gruppe hätten sicherlich tierisch abgehen können. Für den
Nachmittag wurde daher für mich eine neue Gruppe gefunden, die schnellste
im ganzen Feld, was bedeutete, dass ich Fee erstmal nicht mehr mitnehmen
9.3. DRITTER TAG: EKSTASE
57
konnte. Ich hatte erst Zweifel, ob ich als Neuling mit der schnellsten Gruppe mithalten könnte, sie bestand ausschließlich aus Rennmaschinen mit erfahrenen Fahrern. Dann lernte ich die Gruppe kennen und wurde gefragt
welche Maschine ich fuhr. Ich zeigte auf meine ZX-10R. Erstaunen machte
sich breit, als meine Maschine als die erkannt wurde, die Fahrer aus dieser
Gruppe beim freien Turn überholt hatte. Meine Antwort bestand aus einem
breiten Grinsen, ein schöneres Kompliment hatte ich noch nie bekommen.
Der Instruktor war der Bulle, der am ersten Abend vorgestellt wurde,
und auch wenn dieser den typischen, unsympathisch und strengen Gesichtsausdruck eines Bullen hatte wenn er nicht gerade über das Fahren sprach,
konnte er doch auch anders. Sobald er über Turns, Kurvenlinien und Motorräder sprach, blühte er richtig auf, zeigte Menschlichkeit und war sogar
sympathisch. Die Gruppe selbst war der reinste Wahnsinn. Ich konnte ihre
Geschwindigkeit zwar halten, hatte aber ordentlich zu kämpfen. Obwohl wir
auf den Geraden recht gemütlich fuhren hatten wir Zeiten von deutlich unter 2 Minuten. Endlich konnte ich auf hohem Niveau lernen, wozu auch die
Besprechungen beitrugen, in denen wir die verschiedenen möglichen Linien
diskutierten.
Der vorletzte Turn am Nachmittag war wieder frei, ich ließ mindestens
einen Instruktor stehen und knackte endlich die 1’50 min. Drei 1’49er Zeiten
in Folge. Ich beendete den Turn frühzeitig. Es wäre noch mehr drin gewesen,
in den Kurven war ich noch lange nicht am Limit der Reifen, aber mein Ziel
war erreicht, jetzt bloß nicht die Maschine legen.
Für den letzten Turn wechselte ich in eine langsamere Gruppe um nochmals Fee mitzunehmen. Ich dachte an eine etwas langsamere Gruppe, aber
die Gruppe in der wir landeten war schon beinahe so langsam wie meine
erste Gruppe. Wir fuhren direkt hinter dem Instruktor, der eine absolut
schreckliche Linie fuhr. Ich unterhielt mich nach dem Turn mit meiner Sozia
über seine Linie, und obwohl sie nur 35 Minuten auf dem Sachsenring mitgefahren war hatte sie schon deutlich mehr drauf als unser letzter Instruktor.
Ich kann gar nicht sagen wie stolz ich auf sie war!
Am Tag darauf ging es nach Hause, begleitet von einem Gefühl der tiefen
Zufriedenheit, dass diesmal nichts passiert war. Aber wie heißt es so trefflich,
man soll den Tag nicht vor dem Abend loben. Nach insgesamt fast 1 000 km
Fahrt mit dem Mopedoporter und über 400 km auf dem Sachsenring, in
der vorletzten Kurve, nur noch ein paar hundert Meter vom Ziel entfernt,
tat es einen Schlag. Die Ninja war umgefallen. Der Spanngurt war gerissen,
wieder ein Materialfehler und natürlich trotzdem meine Schuld. Ich hätte
sie doppelt sichern müssen. Nochmal passiert mir das nicht.
Passiert war zum Glück nichts weiter, sie war direkt auf die Lederkombis
gefallen, die wir – unordentlich wie wir sind – einfach auf den Boden des
Mopedoporters hatten liegen lassen. Nicht ein neuer Kratzer, nur der Bremshebel und der Endschalldämpfer waren leicht verbogen, was mein Händler
58
KAPITEL 9. SACHSENRING
nach einem professionellem Blick mit zwei kräftigen Schlägen wieder zurecht
rückte. Ein weiterer professioneller Blick auf meine Reifen offenbarte den
nächsten Fehler: Zu hoher Verschleiß, da ich keine Reifenwärmer verwendet
hatte. Ich dachte immer diese Sockenwärmer seien nur dazu da, damit man
es von Anfang an richtig krachen lassen konnte, aber er erklärte mir, dass
der Verschleiß mit kalten Rennreifen um ein 15faches höher liegt und jeder
Aufwärm/Abkühl-Zyklus den Reifen schadete. Ich merkte wieder einmal, in
welch guten Händen meine Liebste bei ihm war, und ließ sie dort damit er
ihr wieder Straßenreifen aufziehen konnte.
Nachdem dieses Training so gut gelaufen war, war es sicher, dass es
ein weiteres geben würde. Die Strecke stand noch nicht fest, aber um diese
auszusuchen hatten Fee und ich ja den ganzen Winter Zeit. Am liebsten
wären wir direkt nach Spanien gefahren, um die kalte Jahreszeit auf den
Strecken dort zu überstehen, weit weg von den Festlichkeiten wie Weihnachten und was sonst alles anstand. Leider machte mein Kontostand dies
unmöglich, die Erinnerungen an dieses Training mussten uns reichen um den
Winter zu überstehen. Im Nachhinein musste ich sagen, der ADAC hatte es
richtig gemacht. Der Sachsenring hätte zu viele Opfer gefordert, wenn es
hauptsächlich ungeregelte, freie Turns gegeben hätte und es war gut gewesen, die Strecke erstmal mit einem Instruktor kennen zu lernen. Für den
Hockenheimring hingegen hätte ich mir dieses Konzept nicht so gut vorstellen können, dort ist die Linie bis auf einige Passagen zu offensichtlich.
Der Hockenheimring ist schön, aber der Sachsenring hat mir deutlich besser
gefallen, da sich die Detailarbeit aufgrund der vielen Kurvenkombinationen
echt auszahlt. Allerdings, das muss man auch sagen, ist er nicht einmal so
schnell wie meine Hausstrecke.
Kapitel 10
Kalter Entzug
Kalter Entzug, auch Totalentzug genannt, bezeichnet bekanntlich das abrupte Absetzen einer Droge ohne irgendwelche Ersatzstoffe. Wieso man allerdings von einem kalten Entzug spricht wird gemeinhin missverstanden. Der
Begriff hat nämlich nichts mit dem amerikanischen “cold turkey” zu tun,
auch wenn man dies vielleicht vermuten könnte. Schließlich hat ein Entzug
nichts mit Geflügel und meist auch nichts mit Türken zu tun.
Der eigentliche Ursprung des Begriffs liegt natürlich im Motorradfahrerjargon. Denn der Motorradfahrer, zumindest in unseren Breitengraden,
wird Jahr für Jahr mit einer der unangenehmsten Erscheinungen von Mutter Natur konfrontiert: dem Winter, oder eben, der kalten Jahreszeit. Durch
den Winter kann er gezwungen werden, wenn die Straßen erst einmal voller
Eis und Schnee liegen, auf das Motorradfahren zu verzichten. Und selbst
wenn er nicht abrupt dazu gezwungen wird, so muss er sich doch deutlich
einschränken, da der kalte Asphalt für die ebenfalls kalten Reifen nur noch
minimalen Grip bietet. Dem Motorradfahrer wird somit seine liebsten Droge
entzogen, sofern er weder einen Ersatz finden noch in wärmere Gefilde fliehen
kann. Dieses grauenvolle Schicksal, das der Motorradfahrer dann durchleben
muss, ließ erstmals den Begriff des kalten Entzuges entstehen, erst später
wurde er auch für andere Drogen verwendet.
Die schrecklichen Schmerzen, die man weiterhin mit einem kalten Entzug
verbindet, haben ihren Ursprung selbstverständlich auch bei den Motorradfahrern. Es sind keine direkten, körperlichen Entzugserscheinungen wie bei
vielen anderen Drogen, sondern die Folgen wenn es der Motorradfahrer nicht
wahrhaben will, dass der Winter ihm seiner Droge beraubt und er sich dennoch auf seine Maschine schwingt um durch die Kurven zu heizen. Dies
endet dann meistens mit gebrochenen Knochen und eben Schmerzen. Dies
ist aber nicht weiter tragisch, falls die Knochen bis zum Frühling wieder
zusammengewachsen sind.
59
Kapitel 11
Feindliche Übernahme
Es war Sonntag und meine Sozia und ich saßen an einem bekannten Motorradtreffpunkt nahe einem See. Die Saison neigte sich dem Ende zu, und
es war unsere letzte Ausfahrt bevor ich für einige Wochen ins Ausland
verschwinden würde. Das Wetter hatte den Meteorologen mal wieder ein
Schnippchen geschlagen, die Sonne wärmte die Straßen, und so war der
Treffpunkt von Motorrädern nur so überfüllt. Wir saßen etwas abseits der
restlichen Meute und diskutierten, wie wir weiter fahren würden. Wir wollten unbedingt noch die “Rennstrecke” fahren, schließlich konnte es das letzte
Mal für diese Saison sein, und in solchen Momenten verfiel man dann immer
leicht in Panik und wollte noch so viel wie möglich mitnehmen um über die
harte Zeit des kalten Entzugs zu kommen.
Was wir liebevoll “Rennstrecke” nannten war eigentlich Teil einer öffentlichen Bundesstraße. Ein gut zehn Kilometer langer Abschnitt, der sich mit
verschiedenen Kurvenradien einen Berg hinab schlängelte und am Ende meiner immer wieder erweiterten Hausstrecke lag. Den Namen bekam das Stück
vor allem wegen dem Straßenbelag: Von der Breite für LKWs ausgelegt,
griffig und ohne böse Überraschungen lud er gerade dazu ein, es mal wieder ordentlich krachen zu lassen. Große, rot-weiße Schilder an den Kurven
und sogar einige rot-weiß lackierte Leitplanken trugen ihr Übriges zu diesem
Flair bei. Damit endeten aber auch schon die Gemeinsamkeiten mit einer
Rennstrecke, der Abschnitt war von Autos und unter der Woche auch von
LKWs stark befahren, und die “Auslaufzonen” bestanden aus Leitplanken,
Abgründen und Bäumen. Einige Holzkreuze am Straßenrand unterstrichen
die Nicht-Eignung als Rennstrecke zusätzlich. Grund genug also, sich zusammen zu reißen und diese Strecke nur mit ordentlich Sicherheitsreserven
zu fahren, das Fahren am Limit sollte man sich für eine echte Rennstrecke aufheben. Soweit die Theorie. Die Praxis sah da aber ganz aus. Echte
Rennstrecken gab es viel zu wenig, sie waren zu weit weg, man konnte nicht
einfach mal drauf wenn man Lust dazu hatte und es kostete ein Vermögen.
Es war also praktisch Notwehr, Straßen wie dieses Stück Bundesstraße zur
60
61
inoffiziellen Rennstrecke zu erklären. Keiner tat das gern, aber was sollte
man denn sonst machen?
Wir schwangen uns auf die Ninja und fuhren los. Die Zeit war schon recht
knapp und es war noch ein weites Stück zu fahren, weswegen ich der Ninja
die Sporen gab und sie ordentlich laufen ließ. Es war eigentlich nicht meine
Art auf Geraden oder zu sonstigen unsinnigen Anlässen schnell zu fahren,
das kostet lediglich Reifen, Benzin und höchstwahrscheinlich irgendwann
den Führerschein. Ich hob mir das normalerweise für schöne Kurven auf,
aber an diesem Tag war einfach keine Zeit. Und auch wenn es nichts mit der
eigentlichen Perfektion zu tun hatte, die ich sonst zu erreichen versuchte,
machte es trotzdem riesigen Spaß die 188 PS der Ninja auf der gesamten
Strecke zu Nutzen.
Die Strecke, die wir zu fahren hatten, bestand zu einem großen Teil aus
schnellen Kurven, die immer wieder von Geraden unterbrochen wurden. Ich
ließ jedes Auslaufenlassen bleiben, ab jetzt gab es nur noch Gas oder Bremse.
Laut kreischend bahnte sich die Ninja mit oft über 200 Sachen ihren Weg
über die Landstraßen. Die Landschaft flog nur so dahin, die Blechkisten, die
wir überholten, ebenso und die verkürzte Zeitspanne zwischen den Kurven
sorgte dafür, dass der Adrenalinpegel nie abfiel.
Ich weiß nicht wie lange wir gebraucht hatten, aber so schnell waren
wir noch nie am Beginn der Rennstrecke angekommen. Ich nutzte die lange
Gerade auf der Bergkuppe, ließ das Gas offen und zog mit 230 an allen Autos vorbei, die uns sonst gleich den Weg versperrt hätten. Ab jetzt ging es
bergab, die erste langezogene Linkskurve konnte noch mit über 150 gefahren werden, danach musste ich für eine enge Rechtskurve weiter abbremsen.
Hanging-Off hat auf öffentlichen Straßen nichts zu suchen, aber dies war
ja eine Rennstrecke, also runter vom Sitz und mit trotzdem noch schleifender Maschine durch die Kurve. Ab dem Scheitelpunkt öffnete ich das vorher schon angelegte Gas um die kurze Gerade optimal zu nutzen, nahm die
Rechte Hand vom Lenker grüßte zwei andere Irre, die mir auf ihren Rennmaschinen entgegen kamen. Dann musste die nächste Linkskurve angebremst
werden, es folgte eine schöne Gerade die erst steil bergab und dann gleich
wieder bergauf verlief. Für einen paar Augenblicke wurden meine Sozia und
ich gegen den Boden gepresst, dann schoss die Ninja auch schon wieder mit
200 Sachen aufwärts auf eine schöne rechts-links Kombination zu. Die rechte Spur war an dieser Stelle über vier Meter breit und ließ sich wunderbar
ausnutzen um die Geschwindigkeit nicht unter 150 fallen zu lassen.
Es folgte eine kleine Pause in Form einer Ortschaft. Das Dorf hatte zwar
auch ein paar schöne Kurven, die mit 120 sicherlich sehr viel Spaß gemacht
hätten, aber ein bisschen Anstand hatte ich dann doch noch, also fuhr ich
schön gemütlich und freute mich auf das nächste Stück. Ich war gezwungen das Gas schon vor dem Passieren des Ortsausgangs zu öffnen, da ich
sonst nicht in der Lage gewesen wäre, die anschließenden Kurven am Limit zu fahren. Die Bebauung und Parkplätze hatten aber geendet, so dass
62
KAPITEL 11. FEINDLICHE ÜBERNAHME
die Umgebung gut einsehbar war. Sie wurde von mehreren Motorradfahrern bevölkert, die deutlich abseits des Straßenrandes eine Pause einlegten
und sicherlich ein bisschen Action sehen wollten. Direkt neben ihnen war
eines dieser Schilder, von denen im Laufe der Saison einige in dieser Gegend
aufgestellt wurden: “Raser verlieren” war darauf zu lesen. Die Bedeutung
dieses Schildes war offensichtlich: Der zweite Abschnitt war noch besser als
der erste! Er begann mit einer wunderschönen, ebenen, rechts-links-rechts
Kombination durch ein gut einsehbares Waldstück. Die Kurven hatten alle
ungefähr den gleichen Radius und wären für rund 150 gut gewesen, ich musste aber eine etwas umständlichere Linie fahren um Blechkisten auf beiden
Spuren auszuweichen. Gleich darauf folgte eine lange, etwas weitere Linkskurve, die aber nicht komplett einsehbar war und seitlich eine rot-weiße
Leitplanke hatte, die irgendwie an zu hoch angebrachte Curbs erinnerte. In
dieser kamen mir die nächsten Mopedonauten entgegen, ihren Schräglagen
nach zu schließen hatten sie genauso viel Spaß wie ich.
Es folgten einige recht weite Kurven und eine Bergkuppe, dann ging es
bergab in ein schönes, aber leider schlecht einsehbares Waldstück, das von
einigen Blechkisten verstopft war. Die Gegenfahrbahn war von Rennmaschinen blockiert, die von ihren Fahrern den Berg hoch geprügelt wurde. Das war
ja heute wirklich die reinste Rennstrecke. Ich hing einen Moment hinter den
Autos fest, kam dann vorbei und konnte wieder Gas geben. Ich raste durch
eine langezogene Linkskurve auf ein Cabrio zu, dieses war gerade auf der
Höhe eines riesen Schildes, welches anzeigte, dass die nächste Rechtskurve
sehr gefährlich sei und nur mit maximal 40 durchfahren werden durfte. Aus
der sehr schlecht einsehbaren Kurve kamen vier oder fünf Fahrer mit teils
schleifenden Knien den Berg hinauf, Fahrer und Beifahrer des Cabrios strecken Arme und Mittelfinger in die Höhe. Ich fasste dies als Einladung auf,
grüßte die mir entgegen kommenden Wahnsinnigen, zog mit 20 cm Abstand
an dem Cabrio vorbei und warf die Ninja in die “gefährliche” Rechtskurve. Die nächsten Kurven wurden schon wieder von Bürgerkäfigen verstopft,
was es mir leider unmöglich machte in einer Rechtskurve eine ordentliche
Show hinzulegen. Neben dieser Kurve befand sich ein kleiner Parkplatz mit
Bänken, auf denen sich einige Motorradfahrer zum Zuschauen platziert hatten.
Eine Kurve später war die Rennstrecke leider schon zu Ende, aber das
bedeutete natürlich nicht, dass wir jetzt aufhören mussten zu fahren. Ich
drehte um, die Ninja kreischte und der Drehzahlmesser schnellte in die Höhe
als wir wieder Fahrt aufnahmen. Freundlich und gut gelaunt, wie ich in
solchen Situationen nun mal bin, grüßte ich auch die Beiden im Cabrio, die
mir in dem Moment entgegen kamen. Die Kurve neben dem Parkplatz war
diesmal frei, und ich hoffe ich konnte eine sehenswerte Vorstellung bieten.
Wahrscheinlich kam es sehr selten – wenn überhaupt – vor, dass jemand
diese Kurve mit Sozius schneller nahm.
Auf dem Weg nach oben kamen uns die ganzen Rennmaschinen wieder
63
entgegen. Heute waren wir eindeutig in der Überzahl, wir hatten die Welt
auf den Kopf gestellt. Wir waren nicht auf der Straße der Autos unterwegs,
die Autos hatten sich auf unsere Straße verirrt. Dies war keine Bundesstraße
mehr, die Straßenverkehrsordnung hatte ihre Gültigkeit verloren, die Mehrheit hatte entschieden. Hier hatten wir uns ein neues Zuhause erschaffen,
eine Stück Mopedoversums. Es gab eine neue Rennstrecke in Deutschland,
genau hier verlief sie, und Autos die von A nach B wollten hatten hier
nichts verloren. Ihre Fahrer konnten einem schon fast Leid tun, denn auch
sie merkten es. Sichtlich überfordert zuckelten sie den Berg rauf und runter, versuchten möglichst nahe am Straßengraben zu fahren, was nur dazu
führte, dass auf der Spur neben ihnen die Motorräder gleichzeitig überholten und ihnen entgegen kamen. Von wegen “Raser verlieren”. Dies war kein
Wettkampf, aber wenn es einer gewesen wäre, dann hätte das Ergebnis “Raser gewinnen” lauten müssen. Wir drehten oben nochmals um und fuhren
die Rennstrecke ein zweites mal nach unten, dann machten wir uns auf den
Weg nach Hause. Die Ortschaft am unteren Ende der Strecke verkündete auf
großen Plakaten: “Schönach ist offen!”. Wie recht sie hatten. Verkehrsoffene
Sonntage waren mir viel lieber als verkaufsoffene.
Kapitel 12
Verlieren oder nicht
verlieren?
Die Schilder mit der Aufschrift “Raser verlieren”, die überall in der Umgebung meiner Hausstrecke aufgestellt waren, zeigten eine Straße, auf der ein
Helm und eine Motorradjacke lagen, die beide mit Kreidestrichen umkreist
waren. Wieso der Helm mitten auf der Straße lag, aber weder ein Kopf darin steckte noch Blut daran klebte, erklärte das Bild leider nicht. Aber seit
es in Mode gekommen war, lieber einen Amateur vor Photoshop zu setzen
als einen vernünftigen Fotografen anzustellen, war ich daran gewöhnt, dass
man den gesunden Menschenverstand ausschalten sollte, sobald man Plakate
betrachtete.
Diese Schilder regten tatsächlich zum Nachdenken an, jedoch sicherlich
nicht in dem Sinne, wie es beabsichtigt war. Zum einen regte der Platz vor
und nach dem kurzen Satz zwangsläufig meine Fantasie an, indem ich mir
überlegte wie man ihn auf amüsante Art und Weise erweitern könnte.
Raser verlieren hier Gummi.
Ob es wohl möglich war bei der Polizei oder dem Verkehrsamt eine Karte
zu bekommen, auf der all diese Schildern verzeichnet waren? Das wäre super,
nicht nur um sie alle vollzuschmieren, sonder auch um neue Strecken zu
finden.
Super Straßen für Raser, verlieren Sie sich nie wieder auf langweiligen
Geraden!
Zum anderen stellten sich einige Fragen welche Aussage mit dem Schild
überhaupt getroffen werden sollte. Als erstes kam die Frage auf, ob ich damit
überhaupt angesprochen war. Ich würde mich selber nicht als “Raser” bezeichnen, denn unter einem Raser verstehe ich eher jemanden, der versucht
ohne Sinn und Verstand so schnell es geht voran zu kommen, dabei vielleicht
noch andere Verkehrsteilnehmer belästigt und gefährdet. Das traf auf mich
im Normalfall nicht zu, ich fuhr um des Fahrens willen und nicht weil ich
es eilig hatte. Dass ich mich dabei nicht selten außerhalb der Straßenver64
65
kehrsordnung bewegte, hatte seinen Grund in den Kurvenradien, die eben
ein gewisse Geschwindigkeit erforderten, falls man Wert auf eine passable
Schräglage legte. Andere Verkehrsteilnehmer belästigte ich soweit möglich
nicht, wobei diese das unter Umständen anders interpretieren würden.
Es ist nur ein Raser, verlieren Sie nicht die Nerven!
Wie dem auch sei, die Wortwahl “Raser” war vielleicht nicht hundertprozentig zutreffend, aber der unwissende Autor hatte wohl doch Fahrer wie
mich im Sinn, die erste Hälfte des Satzes schien also klar zu sein.
Die zweite Hälfte des Satzes war weniger eindeutig. “Raser verlieren”.
Es gab ein Subjekt und ein Prädikat, aber wo war das Objekt? Was verlor
der Raser angeblich?
Raser verlieren keine Zeit.
Dieser Satz hätte wenigstens eine Aussage. Das Wort “verlieren” ohne
eine genauere Umschreibung war eigentlich nur bei Spielen oder Wettkämpfen geläufig. Aber befanden sich Raser in einem Wettkampf und, falls ja,
gegen wen und um was ging es?
Raser verlieren nicht!
Gegen die Autofahrer? Ich fand es nicht gerade wünschenswert, da einen
Wettkampf hinein zu interpretieren, dass Verhältnis war ohnehin schon angespannt genug. Ein Wettkampf unter den Rasern selbst konnte es aber auch
nicht sein, schließlich wäre dann nicht nur der Verlierer ein Raser sondern
auch der Gewinner. Oder war es ein Wettkampf gegen die Polizei?
Willste nicht den Raser verlieren, musste ihn schnell einkassieren.
Zumal, um was sollte es gehen? Dem Bild nach zu urteilen kam eigentlich
nur ein Wettkampf in Frage: Wer am längsten überlebte, gewann. Wenn man
daraus einen Wettkampf machen würde, hätten wir Krieg auf den Straßen,
das wäre das Carmageddon. Keiner konnte das wollen. Außer vielleicht einer
kleinen, militanten Minderheit der Anwohner, denen die Mittel und Wege
egal waren, Hauptsache sie hatten endlich wieder etwas Ruhe.
Es ging anscheinend nicht um einen Wettkampf, die Aussage war vielleicht bewusst unbestimmt gehalten, erdacht von einem großen Philosophen,
der es leider nie weiter gebracht hatte als zum Werbetexter.
Aus der Sicht der Raser, verlieren Tätigkeiten abseits der Straße da nicht
an Bedeutung?
Ungewissheit schuf Angst, und Angst konnte dazu führen, dass man
sich vorsichtiger verhielt. Man könnte beim Aufstellen der Schilder die Hoffnung gehabt haben, dass der Raser vorsichtiger und damit langsamer fahren
würden. Dieser Trick war ein Klassiker, er hatte sogar schon einen Bart,
man fand ihn an fast jedem Ortseingang: “Stationäre Radarkontrollen”.
Funktionierte vielleicht beim ersten Mal, danach aber auch nie wieder, reine
Geldverschwendung. Auf der einen Seite wurde gejammert, dass es zu viele
Verkehrsschilder gab, auf der anderen Seite wurden noch mehr – und sogar
riesengroße – Schilder aufgestellt, die keinerlei nützliche Information enthiel-
66
KAPITEL 12. VERLIEREN ODER NICHT VERLIEREN?
ten. Vielleicht war es auch nicht als philosophische Meisterleistung gedacht,
sondern nur das Ergebnis eines immer näher rückenden Abgabetermins.
“Findest du nicht in den nächsten fünf Minuten einen Spruch über Raser, verlieren wir den Auftrag!”
Was auch immer die Idee hinter den zwei Worten gewesen sein mochte,
letzten Endes lief es darauf hinaus, das Väterchen Staat mal wieder glaubte
zu wissen, wie ich mein Leben zu leben hatte. Er versuchte das ständig, dabei kannte er mich nicht. Wie konnte es sich irgendjemand, der mich nicht
kannte, anmaßen mehr über die Richtigkeit oder Falschheit meines Lebensstils zu wissen als ich? Nur weil es für die meisten Menschen in diesem Land
zutraf? Es schien unglaublich schwierig zu sein Menschen als Individuen zu
betrachten, viel einfacher war es sie alle über einen Kamm zu scheren. Man
bildete einen Durchschnitt über alle, nannte ihn Otto Normalverbraucher1
und jeder, der davon abwich, mit dem musste etwas nicht stimmen. Dabei
gab es diesen Otto Normalverbraucher nicht, niemand war so, aber anstatt
dies als gegebene Tatsache zu akzeptieren – zu feiern – schienen sich die
Menschen gegenseitig einzureden, sie müssten sich immer mehr auf diese
Norm zubewegen. Dort, wo die Überzeugungsarbeit versagte, da wurden
Gesetze geschaffen, und zwar in einem demokratischen Prozess. Demokratie, die Macht des Volkes. Aber wer war dieses Volk? War dieses Volk ein
Haufen von 82 Millionen deutschen Micheln, die alles das gleiche wollten,
nämlich das, was die Mehrheit wollte? Und wer etwas anderes wollte war im
Unrecht?
Auch Rauchen war inzwischen out. Wir hatten so lange mit Steuergeldern Werbekampagnen finanziert und die Tabaksteuern erhöht, so lange in
die Richtung gesteuer t, die wir für richtig hielten, bis es eine deutliche Mehrheit gab, die nicht rauchte. Und weil die Raucher in der Minderheit waren,
war es okay ihnen das Rauchen in Lokalen und an allen anderen Orten wo es
uns störte zu verbieten. Es reichte nicht wenn es mehr Nichtraucher-Lokale
gab als Lokale, in denen geraucht werden durfte, im Namen der Mehrheit
schufen wir in jedem Lokal ein Platz nur für Nichtraucher, oder eben Raucher, die nicht rauchten. Über 20 Millionen Raucher hatten Pech, sie mussten
zurück stecken, selbst wenn kein einziger Nichtraucher anwesend war.
Ginge es immer nur darum, andere zu schützen, so hätten solche Vorhaben durchaus eine gewisse Berechtigung. Natürlich hatten die Blechkistenfahrer ein Recht, nicht reihenweise von Rasern umgebracht zu werden, ebenso mussten Nichtraucher einen Platz mit unverpesteter Luft haben. Jedoch
machte man dort nicht halt, man schuf Gesetze, deren Wirkungslosigkeit
von Anfang an klar war, nur um “ein Zeichen zu setzen”. Nicht selten ging
es auch nur darum, die Menschen vor sich selbst zu schützen. Wunderschöne
Motorradstrecken wurden gesperrt, weil zu viele Fahrer darauf verunglück1
Im englischen nannte man ihn noch passender: Joe Average
67
ten. Im Auto bestand Anschnallpflicht, auf dem Motorrad Helmpflicht, ich
durfte selbst zu Fuß nicht bei Rot über die Straße. Warum? Ich wäre nie ohne Helm Motorrad gefahren, aber konnte man mir nicht zutrauen selbst eine
entsprechende Entscheidung zu treffen und es notfalls akzeptieren wenn ich
keinen Helm tragen wollte? War ich etwa nicht alt genug, musste ich mich
Zeit meines Lebens wie ein kleines Kind behandeln lassen, das nicht in der
Lage war die Konsequenzen seines Handelns abzuschätzen? Zum Teufel noch
mal, war es nicht einzig und allein meine Entscheidung ob ich mir meinen
Schädel einrannte oder nicht?
Wir lebten in einem freien Land. Es stand einem frei alles zu tun, was
man wollte, solange es die Mehrheit für richtig hielt. Bei allem anderen lief
man Gefahr gegen irgendwelche Gesetze zu verstoßen. Willkommen in der
totalitären Demokratie, die Antithese zur Toleranz.
Wir wurden in dieses System hinein geboren, von klein auf wurde uns
erzählt, dass dies die beste Regierungsform überhaupt sei und die anderen seien die Bösen—. Jeder Außenstehende hätte solch eine Einstellung für
Gruppennarzissmus gehalten, aber nicht wir, wir wagten es nicht auch nur
kurz inne zu halten und darüber nachzudenken. Stattdessen kämpften unsere Soldaten in anderen Ländern um auch diese zu befreien. Ob sie befreit
werden wollten mussten wir nicht erst fragen, es war selbstverständlich, dass
sie so sein wollten wie wir, die Mehrheit dachte schließlich so, und wie könnte irgendwer anders sein wollen als die Mehrheit. Ein moderner Kreuzzug
unter dem Deckmantel der Menschenrechte.
Diese eine Mehrheit, die Raucher gängelte, alle dazu zwang sich anzuschnallen und Kriege führte, fand auch das Rasen auf öffentlichen Straßen
schlimm. Die Gesetzte gab es schon längst aber eine vermaledeite Minderheit
ignorierte sie einfach! Um ihre Einhaltung zu unterstützen probierte man es
mal mit Schildern, eher eine Alibi-Handlung, jedoch besser als nichts, man
konnte sich zumindest nicht vorwerfen lassen, man hätte nichts getan um
den Abtrünnigen zu helfen. Und um mich von etwas zu überzeugen, von
dem ich nicht überzeugt werden wollte, wurden natürlich auch noch meine
Steuergelder verschwendet.
Die Schilder sollten suggerieren, dass sich das schnelle Fahren nicht lohnte weil es Gefahren barg. Baaam! Denkfehler! Nichts kapiert! Hier wurden
wieder die Maßstäbe der Mehrheit angelegt, aber nicht meine. Nur weil Otto
Normalverbraucher dachte, es sei die oberste Priorität sicher und unverletzt
ins Altenheim zu kommen, mussten noch lange nicht alle so denken. Ich legte
es nicht darauf an so schnell wie möglich ins Grab zu kommen, aber wenn ich
mich entscheiden musste zwischen einem frühem Tod und der Parodie eines
Lebens, dessen oberste Priorität nicht das Leben, das Erleben, das Erfahren
war, sondern in dem es nur um das Nicht-Sterben ging, dann war meine
Entscheidung klar: Lieber ein paar Jahrzehnte gelebt als ein Jahrhundert
dahinvegetiert.
Auch gesamtgesellschaftlich schien diese Haltung, die die Menschen um
68
KAPITEL 12. VERLIEREN ODER NICHT VERLIEREN?
jeden Preis am Leben halten wollte, wenig Sinn zu ergeben. Es war absehbar, wie dies zu einem immer größeren Berg an Problemen führen würde:
Die Zahl der Rentner stieg stetig und damit auch die Zahl derer, die auf Hilfe
angewiesen waren, gleichzeitig hatten die Rentner immer weniger finanzielle Möglichkeiten, denn die Rente sank stetig2 . Der Mensch war genetisch
nicht auf solch eine Lebensspanne ausgelegt, selbst wenn man den Körper
mit allerlei medizinischen Wundern am Leben halten konnte, auf den Alterungsprozess des Hirns konnte man nur wenig Einfluss nehmen. Für viele
würde der Lebensabend nicht angenehm werden, mehr oder weniger alleine,
alle um einen herum verrecken nach und nach, und, wenn man richtig Pech
hatte, musste man hilflos zusehen wie man langsam verblödete oder zerfiel,
wie alles woran man mal sein Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl geknüpft
hatte langsam abhanden kam.
Ohne Raser verlieren wir die Organspender!
Der durchschnittliche Raser an sich war gesamtgesellschaftlich wertvoll,
er arbeitete fleißig, zahlte Steuern – vor allem Öko- und Benzinsteuer –
und gab unter Umständen sozialverträglich früh den Löffel ab. Eigentlich
sollte dieses Verhalten subventioniert werden, die Rentenkasse müsste meine
Reifen zahlen.
Raser verlieren irgendwann das Leben. . .
Das traf auf alle Menschen zu, auf Raser wie auf Gutmenschen. Aber
was vor dem Tod kam und wie der Tod kam, dass sollte jeder für sich selber
entscheiden dürfen, jeder sollte Verantwortung für sein Leben übernehmen
anstatt zuzulassen, dass andere diese Verantwortung an sich rissen. Ich hatte mich dafür entschieden, “Raser” zu werden. Denn Raser verlieren nicht.
Raser gewinnen. Keinen Wettkampf, kein Spiel, sondern etwas viel, viel wertvolleres: Freude am Leben.
Raser verlieren ohne das Fahren ihre Therapie.
Eine meine größten Ängste war, dass eine Amok laufende Politik es irgendwann schaffen würde mir auch das noch zu nehmen. In ihrem nicht zu
bändigendem Kontrollwahn würden sie es eines Tages unmöglich machen, zu
rasen. Durch lückenlose Überwachung, oder technische Spielereien wie ein
Motormanagement, das es nicht zuließ die Höchstgeschwindigkeit zu überschreiten, würden sie versuchen mir das letzte Bisschen Freude in meinem
Leben zu nehmen. Und dann würde ich rennen, wohin wusste ich nicht,
Hauptsache weg von ihrer Kontrolle. Solange es noch einen Ort auf diesem
Planeten gab, den ich in ein Portal zum Mopedoversum verwandeln konnte,
solange hatte ich nicht verloren.
2
Nicht die absolute Zahl, aber die Kaufkraft, denn die Teuerungsrate lag immer über
etwaigen Rentenerhöhungen.
Kapitel 13
Medizinisches
“Erlebnisse sind Bewusstseinsvorgänge, in denen
der Mensch tief innerlich und ganzheitlich von der
Sinn- und Wertfülle eines Gegenstandes ergriffen wird.”
(Kurt Hahn1 )
Erfahrungsgemäß hilft das Motorradfahren bei allerlei körperlichen und
psychischen Leiden. Schnupfen, Halsschmerzen, Spätfolgen von Knochenbrüchen, Müdigkeit, Niedergeschlagenheit und sogar Rückenschmerzen (!)
konnten schon durch eine Ausfahrt über die Hausstrecke geheilt werden.
Meine Sozia und ich haben oft darüber gescherzt, dass das Fahren unsere
Therapie ist und tatsächlich ergeben sich erstaunliche Parallelen zu Ansätzen
in der heutigen Erlebnistherapie beziehungsweise Erlebnispädagogik.
Darüber hinaus entdeckten wir auf unseren Reisen ins Mopedoversum
auch noch einige wenig bekannte, doch umso faszinierendere medizinische
Phänomene unter Motorradfahrern, die es teilweise sogar erzwingen, dass
ein Fahrer schnell fahren muss um am Leben zu bleiben. Zwei dieser seltenen
Erscheinungen, der Hämoglobinschieber und der Kurvenatmer, werden im
Anschluss vorgestellt.
13.1
Mopedopie
Mopedopie ist ein Fachbegriff aus der Medizin und bezeichnet eine Therapie unter Zuhilfenahme eines oder mehrerer Mopedos. Der behandelnde
Therapeut, der nicht selten sich selbst behandelt, wird selbstverständlich
Mopedopeut genannt.
Während die meisten Therapien darauf abzielen ein bestimmtes Leiden
oder eine eng umgrenzte Familie von Problemen zu lindern, befasst sich
1
Diese Quellenangebe könnte falsch sein. Ich habe das Zitat aus Wikipedia, dort wurde
leider kein Autor genannt, an anderen Stellen wurde jedoch Kurt Hahn genannt.
69
70
KAPITEL 13. MEDIZINISCHES
die Mopedopie mit dem Gesamtwohlsein des Patienten. Dazu verbindet sie
Ansätze und Ideen aus östlicher und westlicher Lehre, aus modernen psychologischen Erkenntnissen und aus Methoden, die schon seit Jahrtausenden in
der Tierwelt existieren. Mopedopie wird selten bewusst betrieben oder bei
diesem Namen genannt, es ist meist ein Prozess im Unterbewusstsein, der
Mopedonaut spürt, dass es wieder eine Dosis Mopedopie braucht, ebenso wie
jemand mit gebrochenem Herzen spürt, dass er dringend eine Tafel Schokolade2 braucht.
Das einleitende Zitat zu Beginn des Kapitels stammt aus der Erlebnispädagogik und soll den Begriff “Erlebnis” definieren. Nach dieser Definition ist Motorradfahren das ultimative Erlebnis, denn was außer dem
Herbrennen hinterlässt dieses tiefe, unzweifelhafte Gefühl seine Zeit sinnvoll verbracht zu haben, wie kann man danach vor einem Motorrad stehen
und nicht innerlich von dessen Wertfülle überzeugt und ergriffen sein. Nach
Kurt Hahn3 ist vor allem die Qualität des Erlebnisses entscheidend damit
eine heilsame Wirkung entfaltet wird, mit anderen Worten eine Mopedopie
kann nur Wirkung zeigen, wenn der Fahrer eine gute Linie mit ordentlich
Schräglage fährt.
Weitere Merkmale einer guten Erlebnispädagogik sind die “Ernsthaftigkeit und Unmittelbarkeit der Situation, Echtzeit, Direktheit und Authentizität”. Merkmale, auf die wir immer mehr verzichten in einer Welt, die
in Watte gepackt ist und zu der wir oft nur noch über Elektronik Kontakt
haben. In der Mopedopie jedoch sind alle Elemente zu finden: Die Ernsthaftigkeit des Motorradfahrens kann wohl kaum in Frage gestellt werden, denn
Unaufmerksamkeiten und Fehler können fatale Folgen haben (man vergleiche hierzu mal andere Erlebnistherapieformen, zum Beispiel mit Delphinen.
Delphine sind echt voll knuffig, aber ernst kann ich die nicht nehmen). Die
Unmittelbarkeit wird uns schlagartig bewusst wenn wir einen Lenkimpuls
einsetzen, die Echtzeit wenn wir auf eine Gefahrensituation reagieren und
sie bewältigen, ehe der Schreck überhaupt Zeit hatte uns in die Glieder zu
fahren. Was kann direkter sein als in einer schnellen Kurve jede noch so
kleine Unebenheit des Asphalts zu spüren, was authentischer als bei voller
Fahrt den Kopf im Wind zu haben?
Als letzten Punkt verlangt die Erlebnispädagogik noch die Erfahrung
des Lernens, auch dieser Aspekt ist in der Mopedopie zu Hause: Das Fahren steckt voller kleiner Details, die perfektioniert werden können aber nicht
müssen, so dass der Fahrer ständig in der Lage ist auf hohem Niveau zu
lernen ohne sich zu überfordern. Er bekommt außerdem eine direkte Rück2
Oder Vanillepudding mit Sahne, Schokosoße und Schokostreuseln ;)
Ich habe, was die Erlebnispädagogik angeht, nichts ordentlich recherchiert sondern
verlasse mich mehr oder weniger blind auf Wikipedia. Mehr Aufwand erschien mir für ein
Kapitel, das eigentlich gar nichts ernst gemeint ist, nicht angemessen. Im Bezug auf das
Fahren habe ich selbstverständlich ausführlichst recherchiert!
3
13.1. MOPEDOPIE
71
meldung wenn er das gelernte anwendet.
Des weiteren ist Mopedopie natürlich – obwohl es auf den ersten Blick
von außen nicht so aussieht – auch ein Sport, und bringt damit alles positive mit, das man auch aus anderen Sportarten kennt. Wer nicht glaubt,
dass Motorradfahren auch anstrengend sein kein, der sollte mal mit über 120
einen engen Slalom fahren, in aufrechter Sitzhaltung ein Nakedbike mit 250
über die Autobahn jagen oder sich länger ins Hanging-Off begeben ohne den
Lenker zu belasten. Dieser Sport regt den Stoffwechsel an stärkt das Immunsystem. Der Fahrer atmet frische Luft (deswegen muss man Autos immer
überholen!), die Konzentrations- und Leistungsfähigkeit wird gesteigert und
kann auch sofort in bessere Fahrleistungen umgesetzt werden. Endorphine werden ausgeschüttet und zum seelischen Wohlbefinden gesellt sich das
körperlich.
Mopedopie ist auch ein Gehirntraining. Denn anstatt nur für sich selbst
zu denken, was ja schon schwer genug sein kann, muss man noch für Dutzende weitere Verkehrsteilnehmer mitdenken. Die komplette Umgebung muss
ständig mit hoher Konzentration abgesucht werden, um Nachlässigkeiten
wie Nicht-Blinken und generelle Unachtsamkeit auszugleichen. Diese geistige und körperliche Betätigung verlangsamt den Alterungsprozess, das Fahren hält somit doppelt jung, denn zusätzlich wirkt noch die physikalische
Verjüngung der Relativitätstheorie4 .
Doch damit nicht genug, meine Damen und Herren, die Mopedopie vollbringt noch mehr Wunder! Sie ist nämlich auch eine ausgezeichnete Physiotherapie. Die ergonomische Sitzhaltung, gestützt durch den Lenker, fördert
die koordinierte Muskelaktivität und kann Fehlhaltungen vorbeugen. Viel
wichtiger jedoch ist die beruhigende, entspannende und heilsame Wirkung
der Vibrationen. Katzen schnurren nicht nur bei Wohlbefinden, sondern auch
wenn sie Schmerzen haben. Man glaubt, dies hat seinen Grund in der heilsamen Wirkung auf Knochenbrüche, denn es ist tatsächlich erwiesen, dass
eine Schwingung von 20 – 50 Herz das Knochenwachstum beschleunigt. Diese
Schwingung findet man freilich auch auf dem Motorrad!
An einem Motorrad findet man je nach Modell eine Vielzahl von Schwingungen, die teilweise ausgeglichen werden oder mit anderen Schwingungen Resonanzen bilden, eine allgemeingültige Aussage, welche Frequenzen
tatsächlich existieren, ist daher schwierig. In erster Näherung ist dies jedoch
noch recht anschaulich. Geht man davon aus, dass jedes Mal, wenn das
Kraftstoff-Luft-Gemisch entzündet wird, ein Impuls entsteht, so erscheint es
offensichtlich, dass der Kraftstoff 20 – 50 mal pro Sekunde gezündet werden
müsste, also 1200 – 3000 mal pro Minute. Ein Einzylinder-Zweitaktmotorrad
– dieses zündet pro Umdrehung genau ein Mal – entfaltet seine heilsame
Wirkung demnach bei 1200 – 3000 U/min. Viertakter zünden nur bei jeder
4
Dazu an anderer Stelle mehr
72
KAPITEL 13. MEDIZINISCHES
zweiten Umdrehung, ein Viertakt-Einzylinder wirkt damit zwischen 2400 –
6000 U/min heilsam. Bei Mehrzylindermaschinen muss diese Zahl noch durch
die Anzahl der Zylinder geteilt werden, die X-Eleven und die Ninja heilen
aufgrund ihrer vier Zylinder zwischen 600 – 1500 U/min, also nur bis wenig
über die Leerlaufdrehzahl. Man sieht, dass Mopedopie auch mit gebrochenen Knochen sinnvoll sein kann, jedoch muss man beachten, dass man die
Drehzahl niedrig genug hält. Des weiteren sollte der Mopedopeut natürlich
in der Lage sein die Maschine zu kontrollieren, es nützt wenig wenn die
Knochenbrüche zwar schneller heilen, aber ständig neue entstehen. Vierzylindern bieten da aufgrund ihrer heilsamen Wirkung bei der Leerlaufdrehzahl
die Möglichkeit den Patienten auf eine stehende Maschine zu setzen, auch
wenn dies natürlich die anderen Aspekte der Mopedopie nicht zur Geltung
kommen lässt.
Trotz dieser Vielzahl an positiven Effekten der Mopedopie, wird sie von
der Schulmedizin immer noch nicht als allgemein anerkannte Behandlungsmethode betrachtet. Ebenso wenig wird meine Arbeit als Mopedopeut, der
ich doch regelmäßig meine Sozia und mich behandle, allgemein anerkannt
und damit auch nicht entlohnt. Rechnungen über Benzinkosten und sonstige
Aufwendungen werden von den Krankenkassen zurückgewiesen! Die einzige
Erklärung, die ich mir vorstellen kann, ist, dass zu wenig Lobbyisten in Berlin für die Mopedopie eintreten, sich ihr womöglich sogar entgegenstellen
um weiterhin mit unwirksameren Behandlungsmethoden Geld zu verdienen.
Pfui!
13.2
Der Hämoglobinschieber
Ein Hämoglobinschieber ist ein Motorradfahrer mit einer seltenen Krankheit, man erkennt ihn an glühend roten Händen und einer roten Nase, wenn
dieser gerade nach einer starken Bremsung von seiner Maschine gestiegen ist
und Helm und Handschuhe ab- beziehungsweise ausgezogen hat. Der Grund
hierfür liegt in einer Störung des Herz-Kreislaufsystems, der Körper des
Hämoglobinschiebers ist nicht in der Lage eine gleichmäßige Verteilung der
roten Blutkörperchen sicherzustellen, wenn diese starken Beschleunigungskräften ausgesetzt sind. Das Blut rutscht regelrecht nach vorne, wenn der
Fahrer in die Eisen langt, und sammelt sich an den vordersten Punkten des
Körpers, also der Nase und den Händen. Nach einer kurzen Pause verteilt
sich das Blut aber wieder wie gewohnt, die Clownsnase verschwindet.
Selbstverständlich tritt das Phänomen auch in die andere Richtung auf,
also beim Beschleunigen. Hierbei fängt dann der Hintern rot zu leuchten an,
die stärke hängt hierbei vom Leistungs/Gewichtsverhältnis des Motorrades
ab. Falls man hinter einem solchen Fahrer fährt sollte man dies tunlichst
nicht mit dem Bremslicht verwechseln!
13.3. DER KURVENATMER
73
Sollte der Hämoglobinschieber auch noch Bluter sein wird es richtig eklig
und vor allem lebensgefährlich, denn durch das starke Hämoglobinschieben
entstehen feine Risse in der Haut aus der das Blut fortan bei jedem Bremsen
oder Beschleunigen heraus spritzt. Dies ist aber zum Glück nur eine Theorie
und konnte bisher nicht in freier Wildbahn beobachtet werden.
13.3
Der Kurvenatmer
Während das Hämoglobinschieben vergleichsweise harmlos und sogar amüsant ist, ist das zweite medizinische Phänomen, der Kurvenatmer, eine sehr
ernstzunehmende Sache. Im eigentlichen Sinne hat es nichts mit Kurven zu
tun, sondern wieder mit den Kräften beim Beschleunigen und Bremsen, aber
dies wird nun mal meistens nach und vor Kurven praktiziert. Der Kurvenatmer ist von diesen Kräften abhängig, er braucht sie zum Überleben, denn
ohne sie kann er nicht atmen. Dies liegt an einer stark unterentwickelten
Brustkorbmuskulatur, der Kurvenatmer ist aus eigener Kraft nicht in der
Lage seine Lungen zu füllen und wieder zu leeren. Um nun doch atmen zu
können muss er mit offenem Mund Motorrad fahren und die Massenträgheit
der Luft ausnützen: Beim Bremsen strömt die Luft aus seiner Lunge, beim
Beschleunigen wird sie mit frischer Luft gefüllt (Er muss dabei natürlich
einen Helm tragen, sonst könnte er aufgrund des Fahrtwindes niemals ausatmen).
Es ist verständlich, dass diese Kurvenatmer eine sehr schweres Leben
haben. Jede Pause kann den sofortigen Tod bedeuten, immer sind sie auf
freie Straßen und nie endende Strecken angewiesen. Wenn man einen sehr
schnellen Motorradfahrer sieht, der jede kurze Gerade zum wilden Beschleunigen und anschließendem Abbremsen verwendet, sollte man immer bedenken, dass es sich vielleicht nicht um einen rücksichtslosen Rowdy, sondern
um einen schwer kranken Motorradfahrer handeln könnte. Man sollte also
Mitleid haben und ihm den Weg frei machen, damit er noch ein bisschen
länger zu leben hat.
Kapitel 14
Relativistisches
Motorradfahren
Ein materielles Motorrad ist physikalisch nicht ein räumliches Ding,
sondern durchaus ein raum-zeitliches Gebilde.
(frei nach Max Born)
Die Lichtgeschwindigkeit, also die Geschwindigkeit mit der sich Licht
(im Vakuum) ausbreitet, beträgt rund 299 792,458 km/s und bildet auch eine physikalische Obergrenze für alle bewegten Körper, sogar für Mopedos.
Das kein Mopedo jemals schneller reisen wird ist zwar schade, aber nicht
wirklich tragisch, denn es würden schon vorher eine Reihe von Problemen
auf den Mopedonauten zukommen, die ihm den Spaß am Fahren verderben
würden: Unter anderem würde er, da die Erde ja nicht flach ist, schon deutlich früher aus der Erdumlaufbahn katapultiert, was ein gewisses Problem
darstellt, denn nach bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnissen ist die Erde
der einzige Planet, auf dem es asphaltierte Straßen gibt.
Auch wenn der Mopedonaut es niemals schaffen wird schneller als das
Licht zu sein, so ist er doch in der Lage sich dieser Geschwindigkeit anzunähern, und falls er nahe an diese Grenze herankommt wird er die Auswirkungen der Relativitätstheorie zu spüren bekommen. Eine Kawasaki Ninja
schafft über 0.083 km/s und eine Honda X-Eleven immerhin über 0.0778 km/s1 .
Abgerundet fehlen da nur noch rund 299 792 km/s, moderne Mopedos sind
also schon relativ nahe an der Geschwindigkeit des Lichts!
Die Effekte der Relativitätstheorie entziehen sich im Allgemeinen der
Anschaulichkeit, daher hier die wichtigsten Schlussfolgerungen für Mopedonauten möglichst einfach zusammengefasst2 :
1
Laut Tacho, im Lederkombi auf dem Tank liegend...
Der folgende Abschnitt erhebt nicht den Anspruch 100% wissenschaftlich korrekt zu
sein beziehungsweise jedes Detail der Auswirkungen zu Ende gedacht zu haben. Die Grundideen stimmen jedoch.
2
74
75
Für sich bewegende Mopedos und für Mopedos unter Einfluss eines Gravitationsfeldes ergibt sich ein Effekt, der Zeitdiletation genannt wird. Dem
normalen Gravitationsfeld der Erde ist das Mopedo selbstverständlich immer ausgesetzt, jedoch ergibt sich durch die Äquivalenz von Beschleunigung
und Gravitation folgender Zusammenhang: Je stärker der Mopedonaut beschleunigt, umso stärker das Gravitationsfeld und umso stärker auch die
Auswirkungen der Zeitdiletation. Diese Auswirkung der Zeitdiletation ist:
“Bewegte Uhren gehen langsamer”. Die Zeit vergeht für den Mopedonauten also langsamer als für den Rest der Welt: Während die Welt um ihn
herum wie gewohnt dem Zahn der Zeit unterworfen ist, durchbricht er diese
Beschränkung und altert langsamer. Das heißt nichts weiter, als dass das
Reisen auf einem Mopedo – je schneller die Fahrt und je stärker die Beschleunigung – dem Mopedonauten hilft die Jugend zu erhalten, und das
nicht nur im übertragenen Sinn, sondern als eine wissenschaftlich erwiesene
Tatsache!
Ein weiterer Effekt, dem ein schnelles Mopedo ausgesetzt wird, ist die
Krümmung des Raumes, wobei vor allem die relativistische Längenkontraktion von Bedeutung ist. Dadurch nimmt der Reisende, also der Mopedonaut,
alle ruhenden Längen als verkürzt war. Auch fahrende Blechkisten fallen
aufgrund ihrer geringen Geschwindigkeit im Vergleich zum Mopedo in diese
Kategorie und verkürzen sich somit ebenfalls. Das bedeutet, je schneller das
Mopedo unterwegs ist, desto kürzer wird damit die Strecke, die zum Überholen benötigt wird. Nicht nur als direkte Folge der höheren Geschwindigkeit
wird der Überholvorgang verkürzt, sondern zusätzlich durch den zusammengestauchten Raum, der das Auto schrumpfen lässt und es dem Mopedonauten ermöglicht weniger Strecke auf der Überholspur in Anspruch zu
nehmen3 . Von außen betrachtet mag so ein Überholmanöver immer noch
waghalsig aussehen, denn für die – ruhenden – Autofahrer hat sich der Weg
ja nicht verkürzt. Die ruhenden Autofahrer nehmen allerdings das bewegte
Mopedo als kürzer wahr als sie das bei einem ruhendem Mopedo tun würden,
dies fällt ihnen im Allgemeinen aber nicht auf, da sie von Mopedos ohnehin
keine Ahnung haben.
Es ist wichtig zu verstehen, dass es sich hierbei nur um eine Längenkontraktion handelt, nicht um eine Breitenkontraktion. Eine Breitenkontraktion hätte fatale Folgen, denn mit zunehmender Geschwindigkeit würden
somit auch alle Lücken kleiner werden und den Mopedonauten immer weniger Handlungsspielraum lassen. Aber wie immer ist die Physik eben auf
der Seite des Mopedonauten, eine relativistische Breitenkontraktion gibt es
nicht!
3
Die Überholspur verkürzt sich allerdings auch
Kapitel 15
Von der (Un-)Sterblichkeit
“Glaubst du an ein Leben nach den Tod?”, fragte der Revolvermann.
“Ich glaube, es ist das hiesige”, antwortete der Grenzbewohner.
(Stephen King, “Schwarz”)
Als Motorradfahrer wird man oft man mit dem Tod konfrontiert, denn
auf der Straße ist das Fahren auf der richtigen Seite des Limits nicht selten
auch der Punkt, an dem man gerade noch am Leben bleibt. Passstraßen, an
denen auf der einen Seite eine Felswand ragt, auf der anderen Seite der Abgrund, oder sich zuziehende Rechtskurve sind solche Situationen, an denen
das Leben am seidenen Faden hängt. Ein kleiner Fehler könnte schon das
Ende bedeuten, den Sturz in die Tiefe oder den Zusammenprall mit dem
Gegenverkehr. Dieses Risiko ist immer da und auch wenn man selbst keinen Fehler macht kann der Fehler eines anderen Verkehrsteilnehmers zum
gleichen Ergebnis führen.
Ich hatte nie Angst vor dem Tod, das ist wahrscheinlich normal solange man jung und gesund ist, und es ist sicherlich eine Grundvoraussetzung
um das schnelle Motorradfahren zu erlernen. Zu meinen Anfangszeiten habe
ich, enttäuscht von dem, was das Leben zu bieten hatte, den Tod bewusst
herausgefordert, bin über die Grenzen von Mensch und Maschine hinausgegangen um zu sehen was passiert. Passiert ist immer das selbe: Es fühlte
sich geil an. Es fühlte sich so an, wie das Leben sich immer anfühlen sollte:
lebendig und voller Abenteuer.
Ich glaube nicht an Himmel oder Hölle, wie es das Alte Testament verspricht, und auch für den Gedanken an Wiedergeburt, wie er bei den Buddhisten vorherrscht, konnte ich mich nie erwärmen. Ich weiß nicht, was nach
dem Tod kommt, ob es ein Leben oder irgendetwas anderes danach gibt,
und kein Mensch wird es je schaffen dies endgültig zu beweisen oder zu widerlegen. Jeder hat eine andere Vorstellung davon was kommen mag, wobei
es mir so vorkommt als vertreten viele die Meinung, die ihnen am besten
gefällt, und nicht etwa die Meinung, für die sie am meisten Anhaltspunkte
finden.
76
77
So vielleicht auch bei mir, ich bevorzuge die Vorstellung, dass dieses
Leben das einzige ist, das ich habe, und dass keine Notwendigkeit besteht
mich hier auf ein Leben vorzubereiten, das erst danach kommt. Ich will gar
kein anderes Leben. Dieses eine reicht, es hat mir alles gegeben, was ich
wollte, und es hat mir alles genommen, was ich hatte.
Eine wichtige Konsequenz für mich ist, dass man darauf achten sollte
ein Leben vor dem Tod zu haben und nicht nur eine Existenz. Für mich
bedeutet dies Fahren, auch wenn dabei immer ein Risiko mit fährt. Nur,
wie hoch ist dieses Risiko eigentlich, oder vielleicht viel entscheidender, wie
wird dieses Risiko überhaupt wahrgenommen? Früher, als meine Sozia noch
eine blutige Anfängerin war, waren sie und ich noch nicht eins wenn wir auf
dem Motorrad saßen und wir nahmen die Welt noch mit zwei getrennten
Paar Augen wahr. Damals hat sie Situationen gezählt, in denen wir ihrer
Meinung nach nur noch eine Haaresbreite von einem Unfall mit schweren
Folgen entfernt waren. Obwohl ich mit ihr deutlich vorsichtiger unterwegs
war als alleine, kam sie nicht selten auf eine zweistellige Zahl pro Ausfahrt,
und doch ist uns beiden nie etwas zugestoßen. Auch wenn ich allein unterwegs war ist es immer verhältnismäßig glimpflich ausgegangen. Da stellt
sich schnell die Frage, wieso es nie schlimmer endete. Hatte ich einfach nur
Glück? Oder bin ich so gut, dass ich jede Situation meistern kann? Fahre
ich vielleicht so vorsichtig, dass ich immer genug Reserven habe? Habe ich
einen kompetenten Schutzengel, oder gibt es einen Motorradgott, der mich
in sein Herz geschlossen hat?
Kognitiv betrachtet, würde ich die Antwort irgendwo zwischen Glück
und Können ansiedeln. Aus emotionaler Perspektive weiß ich, dass es an etwas anderem liegt: Wenn ich fahre bin ich schlicht und ergreifend unsterblich.
Die Geschichtsbücher lehren uns, dass es bisher noch jeden erwischt hat. Niemand ist unsterblich, und das ist wohl auch gut so, denn sonst gäbe es noch
mehr Menschen, die in Blechkisten die Straßen verstopfen würden. Aber auf
dem Motorrad fühlt es sich so an! Die Diskrepanz zwischen diesem Gefühl
und der von außen wahrgenommen Wirklichkeit ist natürlich enorm, denn
der seidene Faden, an dem das Leben hängt, könnte kaum dünner sein als
in den Momenten, in denen sich der Mopedonaut mit nur einer wenig Zentimeter messenden Knautschzone mit Geschwindigkeiten bewegt, für die sein
Körper niemals ausgelegt war. Dennoch, die Lederkombi alleine wirkt, sobald
man sie anhat, wie eine beinahe undurchdringliche Ritterrüstung. Das liegt
nur zu einem kleinen Teil an dem dicken, widerstandsfähigen Leder und den
Protektoren, viel mehr jedoch wiegt die psychologische Komponente, denn
das Tragen dieses Anzugs ist in den Rezeptoren direkt verknüpft mit dem
Fahren. Sitzt man dann auch noch auf der Maschine, kann einem scheinbar
nichts mehr passieren. Eine riesige Seifenblase bildet sich um einen, die alles unangenehme, alles schlechte dieser Welt abprallen lässt. Extrem wendig
und mit einer Perspektive, die ihn über die meisten Autos hinwegblicken
78
KAPITEL 15. VON DER (UN-)STERBLICHKEIT
lässt, ist der Mopedonaut in der Lage alle äußeren Einflüsse zu erkennen
und in seine Handlung zu integrieren. Der erfahrene Mopedonaut entwickelt
den berühmten siebten Sinn, das kommende Geschehen um ihn herum offenbart sich ihm, fast so als könne er wenige Augenblicke in die Zukunft
sehen. Abbiegende Autofahrer werden als solche erkannt lange bevor sie den
Blinker setzen1 . Der Instinkt rät plötzlich zur Vorsicht, doch erst wenn man
die Blechkiste in weitem Bogen überholt driftet diese langsam von der eigenen Spur und der Mopedonaut erkennt das Handy am Ohr des Fahrers. Das
Kind, das eben hinter einem parkenden Auto verschwand, wird zu exakt zu
dem vorhergesehenen Zeitpunkt auf die Straße rennen. Das ausgeschaltete
Blaulicht der Jungs vom Trachtenverein wird über zig Spuren und hunderte
von Metern aus dem Augenwinkel heraus registriert.
Das frühzeitige Erkennen dieser mannigfaltigen Gefahren und die daraus
resultierende Möglichkeit ihnen schon im Ansatz zu entgehen lässt bei dem
Mopedonauten den Eindruck entstehen, all dies in gewisser Weise auch kontrollieren zu können. Immer scheint er aktiv agieren zu können, statt zum
passiven reagieren gezwungen zu werden. Dieser Eindruck wird verstärkt
durch die große Bewegungsfreiheit die er sowohl auf dem Motorrad – kein
Gurt, kein Dach schränken ihn ein – als auch, viel entscheidender, mit dem
Motorrad hat. Immer bleibt ihm ein Freiraum, ein Spielraum: Die Fahrbahn,
für Autos ausgelegt, bietet ihm genug Platz um einen ungezwungen Slalom
zu fahren. Und dann ist da auch noch der Raum vor ihm! Schon kleinere
Motorräder sind heutzutage so übermotorisiert, dass der Mopedonaut allen
anderen Verkehrsteilnehmern leistungstechnisch weit überlegen ist. Dieser
Leistungsüberschuss, dieser Überschuss an Motorkraft stellt nicht zuletzt
auch eine Macht dar. Der Mopedonaut hat die Macht andere Verkehrsteilnehmer einfach mal so, quasi mühelos, zu überholen. Während der Fahrer,
der in seiner Blechkiste eingesperrt ist, ewig hinter einem Bus oder Traktor
gefangen sein kann und gezwungen ist der Dinge zu harren, die da kommen
mögen, während dessen ist der Motorradfahrer Herr der Lage. Natürlich
kann auch er aufgehalten werden, aber er wird deutlich früher an den Hindernissen vorbei kommen, deutlich leichter einen anderen Weg finden, deutlich öfter gar nicht darauf angewiesen sein, jetzt auf eben dieser Straße zu
fahren. Wenn er dann doch überholt kann er einfach am Gas reißen, und
in wenigen Sekunden sind die Unannehmlichkeiten aus seinem Rückspiegel
verschwunden.
Für den Mopedonauten gibt es keine Hindernisse oder Unmöglichkeiten,
nur Randbedingungen, die in die Entscheidungsfindung, in die Berechnung
der idealen Linie einfließen. Diese Randbedingungen begrenzen nicht, sondern bergen neue Möglichkeiten, erschaffen neue Wege und der Fahrer kann
sich nach belieben einen aussuchen. Er kann somit jederzeit seinen eigenen
1
Was diese wahrscheinlich ohnehin nicht tun wollten. “Wozu blinken, ich weiß doch wo
ich hin will!”
79
Weg gehen, oder besser fahren, und das immer wieder, jede Kurve bietet
die gleiche Erfahrung: Randbedingungen erkennen, Möglichkeiten ausloten,
einen Entwurf für das Durchfahren erstellen und diesen dann mit einer spielerischen Leichtigkeit umsetzen. Es ist ein schöpferischer Akt, wie das Komponieren eines Musikstückes oder das Malen eines Gemäldes. Wenn er die
richtigen Töne trifft, den Pinsel mit dem richtigen Schwung führt, dann wird
er sogleich das Ergebnis seiner Schaffens bewundern können: Eine Linie, die
ohne Haken, Ruckler und Korrekturen auskommt, die geschmeidig und wohlgeformt ist, kurzum, eine Linie die einfach cremig ist. Der Mopedonaut tut
dies alles aus einem einzigen, simplen Grund: Freude.
Ich denke es ist das Maß an Präzision, Kontrolle und Richtigkeit, dass
dieses Gefühl der absoluten, unantastbaren Sicherheit entstehen lässt. Das
Gefühl, unsterblich zu sein.
Leider war ich bisher nicht in der Lage, dieses Gefühl beim Absteigen
vollständig zu behalten. Kaum ist man von der Maschine abgestiegen, schon
beginnt die Seifenblase zu platzen. Man lässt seine Maschine alleine und
ist nicht mehr in der Lage sie zu beschützen, nur ein winzig kleiner Seitenständer hindert sie am sofortigen Umfallen. Der Boden unter den Füßen
fühlt sich komisch und fremd an, man versucht zu laufen doch es kommt
einem vor als würde man torkeln. Eben war man noch durch die Reifen direkt mit dem Asphalt und der Welt verbunden, nun ist man von dem Boden
durch eine dicke Schicht namens Schuhsohle getrennt. Man erkennt, dass
Dinge passieren könnten, die man nicht unter Kontrolle hat, nicht verhindern kann. Dinge, die man nicht vorhersehen kann, auf die man nur passiv
reagieren kann. Die Präzision und die Freude gehen verloren, die Sterblichkeit kehrt zurück.
Randbedingungen und Hindernisse sind überall, und es ist nicht mehr
möglich, einfach einen Weg um sie herum zu wählen. Die möglichen Wege
werden limitiert, schließen sich teils gegenseitig aus und zwingen zu einer
permanenten Kompromissbildung. Unbeholfen, ungeübt und grobmotorisch
geht diese Kompromissbildung vonstatten, nichts ist mehr vorhanden von
der Perfektion bei der Auswahl einer Kurvenlinie. Wie bei einem Fahrer,
der seinen Blick vor das Vorderrad richtet statt auf den Kurvenausgang
und dadurch ständig gezwungen ist zu korrigieren. Und natürlich ist genau
das das Problem, dieser Fixpunkt, der auf der Straße so offensichtlich ist,
fehlt. Wo ist der Kurvenausgang abseits des Motorrads, wie kann ich ihn
finden? Es müsste ein Ziel sein, etwas, das man erreichen möchte. Aber
müsste man mich sich dann nicht auf ein einzelnes Ziel beschränken, so wie
man nur einen Kurvenausgang anpeilt? Sonst gerät man doch gerade in das
Dilemma, das man Kompromisse bilden muss, und wo Kompromisse sind, da
geht die Perfektion verloren. Andererseits, wie kann ein einziges Ziel all die
widersprüchlichen Bedürfnisse erfüllen, die der Mensch hat? Unabhängigkeit
und Geborgenheit, Dauerhaftigkeit und die Möglichkeit, Dinge zu ändern.
80
KAPITEL 15. VON DER (UN-)STERBLICHKEIT
So sehr ich es auch versuche, ich finde den einen Kurvenausgang im Alltag nicht. Gefangen im Sumpf meiner eigenen, unklaren Bedürfnisse schwanke ich von links nach rechts, vor und zurück. Mal will ich das eine, mal das
andere. Erfülle ich meine Wünsche jetzt, werde ich nie das größere Ziel
erreichen, strebe ich auf das größere Ziel zu, gehe ich an meinen nicht erfüllten Wünschen zugrunde. Nur auf dem Motorrad, da ist alles so unglaublich einfach. Unabhängig vom Rest der Welt und gleichzeitig geborgen und
beschützt im Schoß der Maschine. Die Stabilität des Fahrwerks steht nicht
im Widerspruch zur Wendigkeit des Motorrads. Ganz man selbst sein und
doch eng mit der Welt verbunden. Als Mopedonaut ist die Perfektion zum
Greifen nahe, nichts kann passieren und man wird für eine gewisse Zeit unsterblich. So hebt sich aus dem Schleier des Alltags dieses eine Ziel hervor,
das Bestand hat: Zurück ins Mopedoversum, an den einzigen Ort, an dem
die Welt so ist, wie sie sein sollte.
Kapitel 16
Zurück ins Mopedoversum
“Zurück ins Mopedoversum” ist manchmal leichter gesagt als getan, denn
Alltag und Wetter machen einem nicht selten einen Strich durch die Rechnung. Um all dem zu entkommen hilft manchmal nur eines, die komplette
Flucht aus dem Alltag, ein Urlaub im Mopedoversum.
Das Mopedoversum stellt zwar eine eigene Dimension dar, ist jedoch
räumlich mit den allgemein bekannten Dimensionen überlagert. Den Teil des
Mopedoversums, in dem ich bevorzugt Urlaub mache, nennt man im Alltag
“französische Alpen”. Diese bieten eine nahezu perfekte Kulisse um sich
im Mopedoversum zu verlieren, majestätische Berge und verträumte Täler,
und immer dazwischen: Straßen mit Kurven. Traumhaft viele Kurven und
Kehren, in jeder erdenklichen Form und Qualität, keine Kombination, die
es nicht gibt, und gleichzeitig eine minimale Dichte an Ampeln, Ortschaften
und Kreuzungen.
Ja, Frankreich ist toll, ich finde auch französisch toll, nur mit der Sprache habe ich so meine Probleme: Ich verstehe kein Wort wenn ich mich mit
einem Franzosen unterhalte. Man hat zwar über Jahre hinweg versucht mir
das einzutrichtern, jedoch mit mäßigem Erfolg. Ich habe damals auch nicht
eingesehen wieso ich das lernen sollte, hätte man mir damals vom Mopedoversum erzählt, hätte ich es vielleicht eingesehen. In den ersten zwei Jahren
konnte ich sogar noch ein paar Grundlagen erlernen, doch ab dann erging
es mir, wie es mir heute ergeht wenn ich mich mit einem Franzosen unterhalte: Ich verstehe kein Wort. Das meine ich genau so, wie ich es schreibe,
ich verstehe keine Wörter. Die Leerzeichen und die Satzzeichen existieren
scheinbar nur auf dem Papier, im französischen scheint es keine Wörter zu
geben, es ist ein einziger Ausguss von Lauten, unmöglich zu erkennen wo
ein Wort anfängt oder endet. Je nachdem wer so spricht kann das unglaublich sexy klingen, aber zur Verständigung hilft es nicht. Leider beherrschen
Franzosen seltenst eine andere Sprache und wenn doch können sie es gut
verbergen. Aber das sind alles Probleme aus dem Alltag, im Mopedoversum
ist das alles kein Problem: Zwei Finger zum Gruß erheben und alles ist klar,
81
82
KAPITEL 16. ZURÜCK INS MOPEDOVERSUM
egal aus welchem Land der entgegenkommende Fahrer stammt.
Es gibt jedoch ein französisches Wort, dass ich auf meinen Reisen kennen
und lieben gelernt habe: Col. Col bedeutet “gut” oder “toll”. Man findet
dieses Wort auf allerlei Straßenschildern in den Bergen und die Pfeile deuten
immer auf Strecken, die zu befahren es sich lohnt.
16.1
Wer rastet, der rostet
Das Setup und die Zielsetzung meiner Reisen ins französische Mopedoversum hatte sich über die Jahre gewandelt. Inzwischen war ich in sehr kleinen
Gruppen unterwegs, die letzten Jahre nur zu zweit, und was anfänglich als
eine sehr lange Ausfahrt begonnen hatte, war inzwischen ein intensiver Trainingslehrgang. Ausgerüstet mit Literatur1 und einem Trainingsplan wurden
an jedem Tag wenige Details so lange geübt, bis sie sich in unser Unterbewusstsein gefressen hatten und von nun an zu unserem fest eingefahrenen
Handlungsrepertoire gezählt werden konnten. Je nach Strecke konnten unterschiedliche Dinge trainiert werden, selbst innerorts kann man noch an
kleinen Details feilen: Das richtige Schalten zum Beispiel, das ein Groß der
Motorradfahrer leider schon als perfekt gekonnt ansah wenn sie es schafften
irgendwie einen anderen Gang reinzuhämmern, oder das Präzise über- oder
umfahren von Kanaldeckeln und ähnlichem. Die Bergpässe, die wir schon wenige Stunden nach unserer Abfahrt erreichten, boten natürlich noch mehr
Möglichkeiten: Angefangen von der Blickschulung über das korrekte Legen
von Einlenk- und Scheitelpunkten, bis hin zu allem anderen, was das Motorradfahren ausmachte. Die Umgebung bot alle Möglichkeiten, es war das
Schlaraffenland der Mopedonauten. Die Straßenschilder kündeten von der
schönen Zukunft: “Kurven auf 26 km” oder, in Italien, Achtung “33 Tornanti2 ” und dann jede einzelne Kurve nummeriert! Der “Col de la Bonette”3
war mit 2 802 m die höchste asphaltierte Straße in den Alpen, und die Cote d’Azure war mit 0 m Höhe nur rund 2 Stunden entfernt. Der “Col des
Champs”, das “Toll der Champions”, war wahrlich für Champions und hatte Kurven die selbst für Fahrräder eng waren, der “Col Agnel”, das “Toll
der Engel”, war himmlisch zu befahren mit seinen riesigen, nummerierten
Kehren, die für LKWs ausgelegt waren.
Wir wechselten gelegentlich die Führung, gaben uns in Pausen Feedback
und erörterten unsere Erfolge und Fehler. Ich hatte an meiner Dicken einen
Fehlerzähler angebracht, den ich immer betätigte wenn irgendetwas nicht
so klappte wie es hätte klappen sollen, jeder Schaltvorgang der auch nur
1
Das Übungsbuch von Bernt Spiegel leistet gute Dienste, man sollte aber das eigentlich
Buch vorher gelesen haben. (Nein, ich bekomme leider kein Geld für diese Werbung)
2
dt. Spitzkehren (oder so was in der Art)
3
“Bon” hieß übersetzt “gut”, soviel wusste ich noch. Übersetzt musste der Pass in etwa
”Toll der Gutheit” heißen. Verdammt, diese Franzosen hatten es einfach drauf passende
Name für geile Straßen zu finden!
16.2. HATTE ICH NICHT EBEN NOCH PROFIL?
83
ein “Klack” erzeugte wurde gezählt. Das Hauptaugenmerk lag nicht darauf
möglichst wenig Fehler zu machen, sondern möglichst viele der Fehler, die
ich machte, auch zu erkennen um daran arbeiten zu können.
Ein Motorradfahren, bei dem das Augenmerk darauf liegt einzelne Aspekte zu perfektionieren, ist kaum anstrengender als normales Fahren, aber
noch befriedigender. So war es klar, dass wir uns nach über zehn Stunden
Fahrt entschlossen: “Ach, ein Pass geht noch bevor wir uns ein Hotel suchen
müssen!”
Die Erfolge dieses Trainings dokumentierten Videos, die wir auf einigen Bergpässen machten: Sportlich schnell, aber in keinster Weise hektisch,
huschten wir über uns unbekannte Straßen mit einer Präzision entlang,
die man sonst höchstens bei olympischen Synchronschwimmern beobachten konnte. Es sah aus wie ein ungezwungener Tanz und genauso fühlte es
sich auch an. Diese Leichtigkeit und Präzision war keine kurzzeitige Erscheinung sondern fast eine Konstante. Keine Hektik, keine unbedachte Reaktion,
trotz allerlei unerwarteter Hindernisse. Die Straße lag plötzlich voller Steine?
Kein Grund zur Panik, da ist in 5 cm breiter freier Abschnitt, dieser wird
schlagartig in den Bewegungsentwurf eingebaut und ohne dass das Motorrad einmal zuckt wird die Stelle umfahren als hätte es kein Problem auf der
Straße gegeben. Ein Schwertransporter versperrt plötzlich den Weg und der
Asphalt ist nicht griffig? Alles scheint einkalkuliert, ohne aufsteigende Panik,
ohne Blockieren wird das Motorrad mit Gefühl aber auch mit Bestimmtheit
an genau der Stelle zum Stehen gebracht, wo der Transporter vorbei fahren
kann. Eine 80 cm breite Lücke? Reicht ewig, die Dicke hat an der breitesten
Stelle nur 78 cm. Ein nicht endender Flow, Zentimeter für Zentimeter, Kurve
für Kurve, Tag für Tag.
Abgesehen von dem Fahren war an unseren Urlauben wenig geplant. Wir
hatten kaum Gepäck, aber eine Bleibe in den Bergen Frankreichs und eine
grobe Vorstellung auf welchem Weg wir dorthin wollten. Ein paar Karten,
solche mit Straßen und solche mit Geld darauf, sowie der Zufall würden
den Rest erledigen. Das Glück war uns immer hold, wir fanden immer eine
Tankstelle bevor es zu spät war, das gleiche galt für freie Zimmer in Hotels.
Obwohl beides teilweise sehr knapp war.
16.2
Hatte ich nicht eben noch Profil?
Reifen, die nur rund 4 000 km lang halten sind nicht gerade praktisch wenn
man für über 4 000 km unterwegs sein möchte. Sollte man deswegen aber auf
die Idee kommen sich Tourenreifen aufzuziehen begeht meinen schweren Fehler, denn es ist weniger unangenehm sich mit Händen und Füßen fuchtelnd
einen neuen Reifen zu kaufen als den Hang eines Bergpasses runterzurutschen, weil einem der Grip im entscheidenden Moment ausgegangen war.
Wie kurz die Reifen dann aber tatsächlich hielten, wenn man 10 Stunden
84
KAPITEL 16. ZURÜCK INS MOPEDOVERSUM
am Tag aus Kurven herausbeschleunigte, erstaunte mich dann doch immer
wieder.
“Wohoastndoingummigloassn?” sprach mich ein fremder Mopedonaut
auf einem Pass an. Ich verstand kein Wort, was ich in Frankreich ja gewohnt
war, und schaute ihn nur fragend an während ich mir eine Antwort überlegte.
”Wo hoast’n doin Gummi gloassn?” wiederholte er und ich merkte, dass
er tatsächlich eine mir bekannte Sprache sprach.
“Na, auf der Straße! Der Vars hat ihm den Rest gegeben, seit dem ist
er nur noch ein Slick. . . ” antwortete ich. Das war nicht ganz die Wahrheit,
der Reifen hatte schon noch Profil, aber nur in der Mitte. Immerhin, die
Karkasse schimmerte noch nicht hindurch, er würde also noch eine Weile
heben. Komisch, in Deutschland hatte er noch knapp 3 mm gehabt und wir
waren noch keine tausend Kilometer unterwegs. Aber so schien es immer zu
sein wenn ich in Frankreich unterwegs war, unglaublich wie viel Geld man
in zwei Wochen für Reifen ausgeben konnte.
Auch wenn diese in keinem Verhältnis zu den Nachteilen standen, Vorteile hatte das ungleichmäßig abgefahrene Profil dennoch: Zum einen musste
man kein schlechtes Gewisses haben wenn man auf der Geraden mal am
Gas riss und zweitens war solch ein Reifen zwar nicht mehr zu viel gut, zu
einem taugte er aber perfekt, nämlich für Bremsübungen. Und ein Motorradtraining ist nicht komplett wenn man die wichtigste Disziplin auslässt.
Wir fanden eine wenig befahrene Straße, markierten den Bremspunkt und
legten los. Wir waren beide nicht in der Lage uns viel zu steigern, ein stärkeres Bremsen führte immer zu einem blockierenden Rad. Immerhin lagen wir
auf gleichem Niveau und eine Distanzmessung zeigte, dass wir auch schon
sehr nahe an den Literaturwerten für eine ideale Bremsung waren.
Neue Reifen mussten dann vor Ort gekauft werden und das war immer
wieder ein kleines Abenteuer. Wir kauften immer bei dem gleichen Motorradhändler, ich würde ihn nicht gerade als “den Händler meines Vertrauens”
bezeichnen, jedoch gab es keine mir bekannte Alternative in dieser Gegend.
Das Problem mit diesem Händler war jedes Mal, das er keine Anstalten
machte mir die Reifen zu verkaufen, die ich wollte, sondern nur bereit war
die Reifen zu verkaufen, die er ohnehin auf Lager hatte. Bei meinem ersten Reifenkauf war ich schlecht vorbereitet, hatte aber ein paar Tage Zeit
eingeplant, so dass er Reifen hätte bestellen können.
Ich zeigte auf meinen Reifen, der praktisch kein Profil mehr hatte und
warf mit den wenigen französischen Worten um mich, die ich noch kannte und von denen ich glaubte, sie könnten erläutern was ich vor hatte.
“Jö wö attachee la.” Das mit dem Satzbau und der Grammatik hatte ich
schon lange aufgegeben. Er führte mich zu einem Stapel Reifen und zeigte einen in der passenden Größe. Von seiner Antwort verstand ich natürlich
kein Wort, aber den Reifen erkannte ich, ein Michelin Pilot Road, der Reifen
meiner Alpträume.
16.2. HATTE ICH NICHT EBEN NOCH PROFIL?
85
“Continental ForceMax?” fragte ich, unfähig einen Satz darum herum
zu bilden. Er hatte gemerkt, dass ich ihn nicht verstand und begab sich zu
mir auf das Kleinkindniveau: Seine Antwort bestand aus einem Schütteln
seines Kopfes und des erhobenen Zeigefingers, und ich verstand sogar die
zwei Worte “No” und “Michelin”.
“Non Michelin. Continental ForceMax!” Ich warf noch mit ein paar Wochentagen um mich in der Hoffnung, ihn zu überzeugen einen anderen Reifen
zu organisieren.
“Non. Non. Michelin. Michelin!” er klopfte auf den Reifen.
Ich hätte gerne gefragt was genau das Problem war, dachte er ich brauchte sofort einen Reifen, war er prinzipiell nicht in der Lage Continental Reifen
zu bestellen oder wollte er aus welchem Grund auch immer keine anderen
Reifen verkaufen? Jedoch reichte mein bescheidenes französisch für solch
eine Frage nicht aus. Für die Antwort erst recht nicht.
Unwillig mir meinem Urlaub von Pilot Roads verderben zu lassen, versuchte ich es weiter.
“Continental ForceMax?”
“Non. Michelin.”
“Coonnntiiinneeennntaal!”
“Michelin.”
Wir wurden langsam lauter und begannen energisch mit den Armen zu
fuchteln, nicht unfreundlich oder ärgerlich, sondern eher um unseren Aussagen mehr Nachdruck zu verleihen. Vielleicht würde der Gegenüber ja verstehen, wenn man nur etwas deutlicher wurde.
“Non Michelin. Non Pilot Road. Continental!!”
“Michelin!!”
Es führte zu nichts. Er hatte mindestens schon dreißig Mal “Michelin”
gesagt, ich fast ebenso oft “Continental”, aber an diesem Punkt kamen wir
einfach nicht weiter. Ich versuchte es mit “Bridgestone” und “Pirelli”, erhielt
jedoch immer die selbe Antwort: “Michelin!” Das Ganze erinnerte an eine
Komödie, wir standen uns mit wedelnden Armen gegenüber, jeder sprach
nur dieses eine Wort, als wäre es der Inbegriff seines tiefsten Glaubens:
“Michelin!” – “Continental!”
Wenn er doch nur verstehen würde, dann hätte er gewusst, dass ich mit
einem “Pilot Road” nichts anfangen konnte, zumindest nicht auf Straßen,
deren Verlauf auch Kurven enthielt. Ich versuchte es ihm zu erklären und
die Komödie nahm ihren Lauf. Da ich kein französisch sprach und er weder
deutsch noch englisch flüchtete ich in Zeichensprache und Geräusche. Ich
zeigte auf mein Motorrad, dann auf meinen Reifen und sagte: “Michelin”,
mit meiner linken senkrechten Handfläche ahmte ich mein Motorrad nach,
mit der rechten den Gasgriff. Mein virtuelles Motorrad beschleunigte, dazu
versuchte ich möglichst realistische Motorengeräusche zu erzeugen. Ich simulierte seine Schräglage indem ich die Handfläche kippte und ließ es eine
Kurve fahren. Ich beschleunigte es aus der Kurve heraus und dann – zack! –
86
KAPITEL 16. ZURÜCK INS MOPEDOVERSUM
machte meine Handfläche einen Highsider und überschlug sich. Ich lief um
mein Motorrad herum – die X-Eleven, nicht meine Handfläche – und zeigte
auf all ihre Macken. Ich zeigte auf die Delle am Tank und sagte “Michelin
Pilot Road.” Die Kratzer in der Verkleidung, “Michelin Pilot Road!” Die
Schrammen am Endschalldämpfer, “Michelin Pilot Road!!!”
Stille kehrte für einen Moment ein. Ich richtete meine Handfläche wieder
auf und verkündete: “Continental ForceMax!” Meine Handfläche beschleunigte, fuhr Kurven und erreichte atemberaubende Schräglagen, verlor nicht
einmal die Haftung bis sie schließlich mit einem “Wuschh” davon fuhr. Ich
fügte noch ein “Trä biän” an und wartete auf seine Reaktion.
Ich weiß nicht wie viel von meinem Schauspiel dazu beigetragen hatte ihm meine Situation verständlicher zu machen und wie viel eher dazu
beitrug, dass ich nun für komplett bescheuert gehalten wurde, aber es lief
darauf hinaus, dass ich am Ende Metzeler Sportec M3 bekam, von denen ich
noch nie etwas gehört hatte. Diese Reifen waren für meine Maschine zwar
nicht zugelassen, aber das störte den Franzosen nicht im Geringsten und seine Reaktion auf das Wort “TÜV”, anscheinend das einzige deutsche Wort,
das es kannte, zeugten von großer Lebensweisheit: Er lachte, wiederholte das
Wort, lachte weiter, und machte sich daran mir die Metzeler aufzuziehen.
In der Tat passten die Metzeler sehr gut zum Fahrverhalten der X-Eleven
und bereiteten mir noch viel Freude.
16.3
“Die Spinnen, die Mopedonauten!”
Wenn ich mit der X-Eleven in Frankreich unterwegs war, kam es sehr selten
vor, dass jemand den Bedarf verspürte mich zu überholen. Es kam natürlich
vor, denn wir fuhren eher selten am Limit, und ich hatte damit im Normalfall
auch kein Problem, klemmte mich vielleicht dahinter um zu sehen ob ich
noch was lernen konnte oder ließ den oder die anderen von dannen ziehen.
Nur in einem Jahr erlaubten sich zwei Fahrer schon bei unserer Hinfahrt nach Frankreich eine solche Dreistigkeit, dass mein Mitfahrer und ich
diese nicht einfach ignorieren konnten. Es war ein ungeschriebenes Gesetz,
dass Motorradfahrer an Ampeln vorfahren dürfen, so taten wir es auch an
dieser Ampel, die den Verkehr am Fuß des Col de l’Iseran immer nur in
eine Richtung an einer Baustelle passieren ließ. Die Straße war aufgrund der
Bauarbeiten für einige Minuten komplett gesperrt und die Wartezeit reichte für eine längere Zigarettenpause, in der sich die Fläche um die Ampel
mit Motorrädern füllte. Wir waren die ersten Motorradfahrer an der Ampel
gewesen und somit an erster Stelle als die Ampel endlich auf grün schlug.
Ich wollte innerhalb des Baustellenbereiches nicht zu schnell fahren, die
Straße war verschmutzt und vereinzelt standen Bauarbeiter am Rand, ich
überschritt die erlaubten 30 km/h daher nur um rund 100 Prozent als plötz-
16.3. “DIE SPINNEN, DIE MOPEDONAUTEN!”
87
lich eine Ducati Monster an mir vorbei dröhnte. Ich weiß nicht genau wieso
ich das als eine solche Frechheit empfand, es lag irgendwie an der Baustelle
und der Tatsache, dass der Ducatifahrer gar nicht wissen konnte wie schnell
oder langsam ich eigentlich unterwegs war, sondern dass er mich aus dem
puren Verdacht, ich sei ja ohnehin zu langsam, überholt hatte. Und mit Sicherheit würde mir seine pissige Monster in der ersten Kurve im Weg herum
stehen! Es mochte bergauf gehen und seine Maschine war gut und gerne 60
bis 80 Kilo leichter, aber 1137 ccm waren nun mal 1137 ccm und das reichte
allemal für eine Monster. Das alles schoss mir in dem Augenblick durch den
Kopf, als die rote Maschine an mir vorbei zog, und gleichzeitig wurde mein
Jagdinstinkt geweckt und Hand und Fuß arbeiteten wie automatisch um
das Getriebe auf eine Verfolgungsjagd einzustellen. Gut Schalten zu können
war in solchen Momenten Gold wert. Die X-Eleven schob nach vorne, ich
warf einen kurzen Kontrollblick in den Rückspiegel um mich zu vergewissern, dass mein Mitfahrer dran blieb, doch anstatt der 1200er Bandit sah
ich eine weitere Monster, die gerade ihren Überholvorgang abbrach, weil ihr
wohl die Puste ausging. Ich sah wieder nach vorne, das Ende der Baustelle
war fast erreicht. Showtime. Sie würde es mit Glück bis zur ersten Geraden
schaffen bis ich sie einkassierte, aber keinen Meter weiter.
Die Monster schoss dröhnend los, die X-Eleven, damals noch mit den
Serienendschalldämpfern, schnurrte hinterher. Vor der ersten Kurve ließ ich
mich ein paar Meter zurück fallen, da ich damit rechnete, dass der Fahrer
gleich in die Bremsen steigen und dann um die Kurve schleichen würde. Zu
meinem Erstaunen bremste er nicht und als ich um die Kurve herum war
hatte ich tatsächlich noch ein paar Meter verloren. Ich schaltete das Getriebe
in den nächsttieferen Gang und sauste hinterher, vielleicht hielt er doch
länger aus als bis zur ersten Geraden. Der Fahrer vor mir flog nur so durch
die Kurven, doch ich verlor keinen Meter mehr und konnte die Lücke sogar
wieder schließen. Die rote Monster war wirklich ein passendes Motorrad für
den Fahrer vor mir, denn er hatte Feuer im Arsch, das stand außer Frage. Mir
war noch nie jemand begegnet, der mit solchen Geschwindigkeiten auf einem
Alpenpass unterwegs war. Also, außer mir selbst und meinem Mitfahrer,
natürlich.
Wir prügelten unsere Maschinen weiter den Berg rauf und ich musste
mit allem arbeiten was ich hatte um dran zu bleiben: gute Linie, Drehzahl
und Risikobereitschaft. Die Monster hinter mir fiel einige Meter zurück, von
ihr schien keine Gefahr auszugehen. Mein Mitfahrer klebte dahinter. Nach
einigen Minuten lag Val-d’isère vor uns. Mein Adrenalinpegel war bereits
jenseits von Gut und Böse und eine kleine Pause konnte nicht schaden.
Jedoch schien der Monster-Fahrer das anders zu sehen und stellte mich vor
ein moralisches Dilemma: Mit über hundert Sachen durch die Ortschaft oder
alleine weiter fahren? Ich entschied mich für einen faulen Kompromiss, raste
wie eine gesengte Sau durch die Ortschaft, verlor dennoch mehrere hundert
Meter auf die Ducati vor mir und wurde von der zweiten Ducati überholt.
88
KAPITEL 16. ZURÜCK INS MOPEDOVERSUM
Als die Bebauung nachgelassen hatte zog ich das Gas wieder an und
war am Ortsausgang auf knapp 180. Es folgte eine lange Gerade auf welcher
der zweite Ducati-Fahrer, der etwa hundert Meter hinter dem ersten fuhr,
fast von einem LKW abgeschossen wurde, der von einer Seitenstraße auf die
Hauptstraße einbiegen wollte. Der LKW blieb mitten auf der Straße stehen
und der etwas mehr als ein Meter breite Durchgang reichte uns um nicht
wesentlich langsamer zu werden. Was nun folgte war ebenso offensichtlich
wie irrsinnig: Ich musste aufholen. Ich fuhr diesen Pass zwar nicht zum
ersten Mal, aber ich war ihn nicht annähernd oft genug gefahren um auch
nur grob den Straßenverlauf zu kennen, daher musste ich alles auf Sicht
fahren. Ich jagte um die Kurven, drehte die Maschine in jedem Gang bis kurz
vor den roten Bereich und holte langsam auf. 50 m noch bis zum hinteren.
Der Asphalt war von ungleichmäßiger Qualität und vereinzelt lagen dort
kleine oder auch größere Steine, so dass es den 180er hin und wieder ein
paar Zentimeter versetzte, aber der ForceMax fing sich sofort wieder sobald
er erneut Bodenkontakt bekam. Ich raste in einen unbeleuchteten Tunnel
hinein, der an den Seiten offen war. Zum Glück hatte ich ein Sonnenvisier,
das ich öffnen konnte, so musste ich die Sekundenbruchteile, die meine Augen
gebraucht hätten um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, nicht abwarten.
Der Tunnel machte eine Rechtskurve, eine riesige, dunkle Pfütze mitten
auf der Ideallinie schaffte es meine Aufmerksamkeit zu fesseln und ich sah
zu spät, dass die Kurve sich stark zuzog. Ich kam auf die Gegenfahrbahn,
auf der zum Glück gerade kein Auto unterwegs war. Dort befand ich mich
anscheinend in guter Gesellschaft, die Ducati vor mir schlingerte ebenfalls
über die falsche Fahrbahnseite bis ihr Fahrer sie zurück auf die rechte Spur
zwang.
Ich war wieder dran, bis zum Pass war es aber noch ein gutes Stück.
Irgendwie schienen sie das Tempo noch weiter anzuziehen und der Straßenbelag wurde schlechter. Immer wieder verlor ich ein paar Meter bis ich eine
Kurve hinterher hing, dann holte ich wieder auf und hatte sogar noch ein
paar Reserven. Das arme Serienfahrwerk meiner Dicken kam zunehmend an
seine Grenzen, in einer langezogenen Rechtskurve schlug bei einem Schlagloch, das ich übersehen haben musste, die Gabel durch und irgendetwas
unnachgiebiges, wahrscheinlich der Motorblock, setzte auf. Ich reagierte instinktiv, brachte die Fuhre und das Lenkerschlagen unter Kontrolle, fixierte
den Kurvenausgang und hing auch schon wieder am Gas. Ich schaffte es bis
zum Gipfel dran zu bleiben, dort war eine Pause fällig, die Ducati-Fahrer
dachten offenbar genauso. Ich stellte die Dicke ab und hatte Mühe auf meinen wackeligen Beinen zu stehen. Ich war gespannt auf ihre Gesichter, waren
es junge Wilde oder Alte Hasen? Sie nahmen die Helme ab, beide waren
rund zwei Jahrzehnte älter als ich. Zu gerne hätte ich mich auch mit ihnen
unterhalten, aber bei meinem französisch war das aussichtslos. Aber ein zufriedenes, adrenalininduziertes Lächeln und ein anerkennendes Nicken auf
beiden Seiten sagten mehr als tausend Worte. Willkommen im Mopedover-
16.4. RÜCKZUG
89
sum, Irrer, danke für den Schuss.
Kurz darauf kam mein Mitfahrer an, wir machten Pause und gaben den
Monstern einen ordentlichen Vorsprung. Wir hatten es schon übertrieben
und schließlich hatten wir auch noch ein paar hundert Kilometer vor uns.
Zwei Jahre später fuhren wir, in gleicher Konstellation, wieder Richtung
Mopedoversum und kamen auch den Col de l’Iseran hinauf. Wir hatten Vald’Isère schon passiert und waren recht gemütlich unterwegs, aber in meinem
Kopf spukten die Erinnerungen an unsere wilde Hetzjagd, die diese Strecke
wieder wachgerüttelt hatte. Irgendwie fehlten mir die irren Ducati-Fahrer.
Ich sah ihn im Rückspiegel kommen und konnte mir ein Grinsen nicht
verkneifen. Es war kein Ducati-Fahrer, aber er war flott unterwegs und überholte gerade meinen Mitfahrer, der mit Sicherheit das selbe dachte wie ich.
Eine recht alte Rennmaschine von Suzuki zog an mir vorbei und ich klemmte mich mit knapp 100 m Abstand dahinter. Der Fahrer fuhr Hanging-Off,
nutzte großzügig beide Fahrbahnspuren und war dennoch ein gutes Stück
entfernt von der Geschwindigkeit der Ducati-Fahrer. Ich machte mir einen
Spaß daraus jede Kurve ein wenig schneller zu fahren obwohl ich natürlich
nur eine Spur nutzte und langsam holten wir auf. Er beschleunigte wild und
bremste vor jeder Kurve stark ab während wir ihm mit deutlich sanfterer
Fahrweise in jeder Kurve ein paar Meter abnahmen.
Es musste sicherlich enttäuschend sein, wenn man es selbst mit solch einem übertriebenen Fahrstil nicht schaffte mit einer Rennmaschine zwei Tourer abzuhängen, aber seine Reaktion fand ich dann doch etwas übertrieben.
Auf einer langen Geraden gab er Gas und vergrößerte den Abstand, dann
fiel plötzlich ein kleiner Gegenstand von seinem Motorrad ab, überschlug
sich und kam auf mich zugerast. Ich wich aus, umfuhr den Gegenstand,
versuchte zu erkennen was es war und ich sah, dass es sich um ein Öldose
handelte als sie genau neben mir aufplatzte. Mindestens ein halber Liter Öl
bildete auf der Straße eine Pfütze. Bei Mario-Kart oder ähnlichem war das
ja noch lustig, aber im wirklichen Leben mitten auf einer Passstraße? Mein
Mitfahrer konnte noch halten und das Öl wenigstens grob beseitigen. Der
Suzuki-Fahrer hatte uns damit tatsächlich abgehängt, aber als fair konnte
man diese Herangehensweise nicht bezeichnen. . .
16.4
Rückzug
Auch der schönste Urlaub war irgendwann zu Ende, denn schließlich musste
das Geld, das man in dieser Zeit zum Fenster raus warf, auch irgendwann
verdient werden. Der Heimweg war dann aber immer noch mehr Ziel als
Weg und wir nahmen so viel Pässe wie möglich mit. Wir starteten also im
Morgengrauen und kamen schon am frühen Nachmittag an der Grenze von
Frankreich zur Schweiz an.
90
KAPITEL 16. ZURÜCK INS MOPEDOVERSUM
Wir hatten schon einen großen Teil der Strecke geschafft, und da jede Übernachtung den Gegenwert von mehreren Tankfüllungen kostete, beschlossen wir in den letzten Jahren spontan einfach nicht anzuhalten. Auf
direktem Weg war das kein Problem, aber fast 1 000 km über die Landstraße inklusive rund einem Dutzend Gebirgspässe war eigentlich zu viel für
einen Tag. Auf der anderen Seite, die Strecken, die wirklich Konzentration
erforderten, wurden bereits am Beginn des Tages befahren, in der Schweiz
hatten wir noch wenige Pässe geplant. Zudem durfte man dort ohnehin nur
schleichen und ab Deutschland war die Autobahn gut genug, die könnte man
notfalls auch Nachts fahren. Alles kein Problem.
Wir unterschätzten die Schweiz jedes Mal, selbst wenn die Erfahrungen
aus dem Vorjahr noch präsent waren. Auf der Karte war dieses Land so winzig, aber man brauchte eine Ewigkeit um es zu durchqueren. Das lag zum
einen daran, das wir ein Talent hatten in der Schweiz vom Weg abzukommen
und erstmal eine Zeit lang in die falsche Richtung zu fahren, zum anderen an
den Geschwindigkeitsbegrenzungen und dem, was die Leute daraus machten. Alle paar Meter wurden einzelne Häuser als Ortschaften deklariert und
die Geschwindigkeit auf 50 begrenzt. Jedes Land interpretiert diese Begrenzungen etwas anders, in Deutschland waren +15% typisch. In der Schweiz
-10%. Wo 50 erlaubt war, wurde 45 gefahren. Konsequent. Und überall Ferraris und Porsche, was wollte man denn mit so einer Karre in so einem
Land anfangen? Die Landstraßen waren verstopft, Überholvorgänge daher
nur selten möglich. Der Weg zog sich, langsam, unendlich langsam kamen
wir voran, die Zeit verging nicht. Nichts erforderte Konzentration, keinerlei Abwechslung. Bei dieser Geschwindigkeit gab es nur noch Geraden. Die
Sonne brannte auf uns herab und es gab keinen kühlenden Fahrtwind mehr.
Die Lust war uns vergangen, aber jetzt waren wir schon fast durch, nur noch
ein Bisschen durchhalten. Musik half in solchen Fällen, jedoch war ich meist
ohne Musik-Player unterwegs. In einem Jahr fing ich sogar an zu dichten.
Es war ein schreckliches Gedicht, aber es half um mich ein paar Stunden abzulenken und am Ende enthielt es alles, was ich je über das Fahren gelernt
hatte.
Im selben Jahr hatten wir uns mal wieder leicht verfahren und den
Grenzübergang nicht gefunden, es war kurz nach Mitternacht und wir standen mitten in Basel. Deutschland war zum Greifen nah, aber wo war der
Weg? Wir fuhren über eine Stunde im Kreis, versuchten nach dem Weg zu
fragen oder mit Hilfe der Schilder weiter zu finden, landeten aber jedes mal
an der gleichen Stelle: an der Autobahn Richtung Deutschland, die natürlich
eine verdammte Vignette erforderte. Wir waren schon kurz davor ohne Vignette die Grenze zu überqueren und auf die Konsequenzen zu scheißen, als
wir endlich einen kompetenten Fußgänger fanden, der uns den richtigen Weg
zeigen konnte. In wenigen Stunden würden wir zu Hause sein.
Diese wenigen Stunden zogen sich dann noch mehr in die Länge als wir
befürchtet hatten. Es war nebelig und kalt und wir kamen nicht gut voran,
16.4. RÜCKZUG
91
zudem hatten wir Mühe nicht einzuschlafen und vom Motorrad zu fallen.
Wenige Kilometer, bevor wir in der Heimat ankamen, fuhr ich an einer Tankstelle raus, ich brauchte dringend etwas um wach zu werden. Ich hatte es
die letzten Stunden mit lautem Singen versucht und hatte den Text von “I
will survive” immer und immer wieder in meinen Helm gebrüllt. Meinem
Mitfahrer war es auch nicht besser ergangen, er hatte begonnen jede seiner
Handlungen mit einem schreienden Kommentar zu begleiten, “Ich wechsele
die Spur”, “Ich schaue auf den Tacho” und das auch seit mehreren Stunden.
Wir tranken einen Kaffee, der nichts half, dann fingen wir an uns zu prügeln.
Nicht richtig, nur um wach zu werden und Motorradkombis mit Protektoren
bieten ein gutes Ziel um sich mal auszutoben. Durch die Bewegung gestärkt
schafften wir die letzten Meter bis nach Hause, 21 Stunden hatten wir gebraucht, so lange wie noch nie. Endlich angekommen kam einer dieser sehr,
sehr seltenen Momente: Ich freute mich den Sitz meines Motorrades gegen
mein Bett eintauschen zu können.
Aber nur um in meinen Träumen sofort wieder ins Mopedoversum zu
fliehen, versteht sich.