Zürich: wanderbar - Zürcher Kantonalbank

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Zürich: wanderbar - Zürcher Kantonalbank
Zürich: wanderbar
Die «Züri-Reihe» der Zürcher Kantonalbank
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Impressum
Herausgeberin:
Zürcher Kantonalbank,
Zürich 2004
Konzept und Redaktion:
Othmar Köchle, Simon Netzle
Zürcher Kantonalbank
Gestaltung:
Iwan Raschle
Grafischer Gestalter SGD SWB
8626 Ottikon
Bildbearbeitung, Lithos:
Lithwork Phoenix AG
Druck:
Zürichsee Druckereien AG, Stäfa
Einband:
Buchbinderei Burkhardt AG,
Mönchaltorf
Copyright:
Zürcher Kantonalbank, 2004
Nachdruck der Beiträge in Absprache mit der Redaktion unter
Quellenangabe; Belegexemplar
erwünscht.
Inhalt
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Editorial
Liebe Leserin, lieber Leser
Zürich ist «wanderbar». Wer sich zu Fuss auf den Weg durch unseren Kanton macht, erkennt, wie nahe das «Gute» liegt. Ich denke an
Stimmungen an den Seeuferwegen am Greifensee, an die Aussicht
vom Üetliberg und entlang der Albiskette, an die Uferwege der Sihl,
der Limmat, der Thur oder der Töss, wo man immer wieder auf das
Lichterspiel im Wasser blickt. Selbst wenn wir uns nach Stränden auf Bali
sehnen, Abenteuer in Neuseeland erleben wollen oder von alten Kulturen
in Mexiko träumen – vergessen wir darob die wunderbaren Landstriche
in nächster Nähe nicht.
Die Zürcher Kantonalbank ist die nahe Bank. Da liegt es nahe, diese
Ausgabe der beliebten Züri-Reihe dem Wandern zu widmen. Dabei
denken wir nicht nur an das Unterwegs-Sein in Musse, sondern öffnen
das Thema. Die Rede ist in den acht Texten, die hier vorliegen, von den
Volkswanderungen, Werner Catrina hat eine organisierte Wanderung des
ZAW begleitet und sich dabei Gedanken zum Wandern gemacht, von
Auswanderern und Einwanderern, von Papier- und virtuellen Landschaften,
von der Geschichte des Wanderns in der Schweiz. Es kommen Zürcher
zu Wort, die eine besondere Beziehung zum Unterwegs-Sein haben und
Erich Grasdorf legt dar, weshalb es sich lohnt in die Nähe zu schweifen.
Schliesslich erzählt Peter Zeindler eine Wander-Kurzgeschichte, die ein
überraschendes Ende findet.
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Dieser Band der Züri-Reihe fügt sich ein in unser Engagement für die
Erholungsräume im Kanton Zürich, sei es unsere Zusammenarbeit mit den
Zürcher Wanderwegen ZAW, seien es die sechs ZKB Rastplätze, die wir
an einigen der schönsten Orte im Kanton der Öffentlichkeit übergeben
konnten oder sei es unsere Stiftung Botanischer Garten Grüningen, dieses
idyllische Kleinod im Zürcher Oberland.
Wir wünschen Ihnen viele neue Einsichten, Ausblicke und Überraschungen
ebenso bei der Lektüre der Züri-Reihe wie bei eigenen Entdeckungen im
«wanderbaren» Zürich.
Für das ZKB Präsidium
Liselotte Illi
PS: Übrigens, in der kleinen Wanderbroschüre, die wir in die hintere
Umschlagseite eingesteckt haben, finden Sie einige Vorschläge, wo im
Kanton Zürich Entdeckungen auf Sie warten.
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Radiowanderungen bewegten in den
Siebzigerjahren die Massen. Der moderne
Mensch wandert lieber zu zweit, mit der
Familie oder in kleinen Gruppen. Dennoch
lebt die Volkswanderung weiter. Unterwegs
mit 172 Ausflüglern an einer vom Verein
Zürcher Wanderwege (ZAW) organisierten
Tour über den Dättenberg. Text und Bilder:
Werner Catrina
Die Wanderer lassen sich einfangen vom Zauber der Nähe, vom Reichtum einer
unbekannten Landschaft
Vom Volksmarsch
zum individuellen
Wandern
D
er Bahnhof Bülach döst am zweiten Sonntag im November in
der fahlen Spätherbstsonne vor sich hin. Eine kleine Gruppe mit
Rucksäcken, bunten Windjacken und Wanderschuhen wartet gegen
Mittag auf den Start des Fussmarsches über den Dättenberg. Kurz nacheinander fahren die Züge aus Zürich und Winterthur ein, und plötzlich
füllt sich der Platz mit sportlich gekleideten Menschen. Angeführt vom
Wanderleiter Hans Keller des Vereins Zürcher Wanderwege, welcher
die Tour organisiert, setzen sich schliesslich 172 Personen plaudernd
und lachend in Bewegung; überwiegend Senioren, dazwischen, ganze
Familien und auch ein paar Studentinnen. Nach dem Marsch durch
Bülachs Agglomeration vorbei an Gewerbebauten und Wohnblocks bewegt sich der lange Zug über einen Feldweg durch Äcker und Wiesen
nach Norden zum Höhenrainwald. Eine junge Musiklehrerin begleitet ihre
Mutter bereits zum dritten Mal auf einer ZAW-Wanderung. «Es gefällt
mir, dass man sich ohne Anmeldung spontan zum Mitmachen entschliessen kann», lobt die Tochter, «und ich schätze die lockere Atmosphäre.»
«Wir sind schon auf den Lofoten gewandert, erlebten Outdoor-Ferien
in Patagonien und schlugen uns durch den Amazonasdschungel», erzählt ein Geschäftsmann aus Wetzikon in Begleitung seiner Frau beim
Einschwenken in den Höhenrainwald, «doch die Wanderwege im Kanton
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Macht sich auf, den Erholungsraum vor der Haustüre zu entdecken:
eine bunt gemischte Wandergruppe am Bahnhof Bülach.
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Zürich überraschen und begeistern uns immer wieder neu. Viele realisieren nicht, welchen attraktiven Erholungsraum wir quasi vor der Haustüre
haben».
Zwei Dutzend Wanderungen pro Jahr
Jahr für Jahr organisiert die ZAW in Zusammenarbeit mit den SBB zwischen März und Oktober zwei Dutzend Wanderungen an Sonntagen,
mehrere Mittwochswanderungen und sogenannte «Telefonwanderungen»
(Vorschläge abzufragen beim Wandertelefon 056 496 85 49), dazu
kürzere Spaziergänge inklusive Schneetouren im Winter. Ein erfahrenes Team von Leiterinnen und Leitern konzipiert die Ausflüge verschiedener Schwierigkeitsgrade, deren Startpunkt immer durch öffentliche
Verkehrsmittel erreichbar ist. Alle Ausflüge – oftmals auch zu attraktiven
Wanderpfaden in anderen Kantonen – werden im kostenlosen, von der
Zürcher Kantonalbank finanzierten ZAW-Jahresprogramm publiziert.
Die Touren sind perfekt, aber unaufdringlich organisiert. Der Leiter marschiert jeweils an der Spitze, ein weiteres Mitglied des Vereins bilden das
Schlusslicht und sorgt dafür, dass niemand zurückbleibt. Sie sei Witwe, erklärt eine seit vielen Jahren in Winterthur wohnhafte gebürtige Deutsche.
«Ich bin wenn immer möglich auf allen ZAW-Wanderungen mit dabei»,
erklärt sie, «ich kenne inzwischen manche andere Stammgäste, habe
gute Freunde gewonnen und entdecke auf jeder Tour eine neue Gegend
meiner Wahlheimat». Die aufgelockerte Schar passiert jetzt das Ried
Bömösli, ein vom Naturschutzverein Bülach betreutes Kleinod, über dem
Libellen kreisen. Sanft steigt der Wanderweg auf zum Petersboden mit
Aussicht auf das liebliche Hügelland mit der Alpenkette im Hintergrund.
Mit 518 Metern über Meer liegt dieser höchste Punkt der Wanderung,
knapp hundert Meter über dem Bülacher Bahnhof. Die Wanderer lassen
sich einfangen vom Zauber der Nähe, vom Reichtum einer unbekannten
Landschaft nur zwei Dutzend Kilometer entfernt von der grössten Stadt
der Schweiz.
Es begann vor 70 Jahren
Der Verein Zürcher Wanderwege, Schirmherr über die Wanderpfade des
Kantons, blickt auf eine lange Geschichte zurück. In der Wirtschaftskrise
der Dreissigerjahre suchten Bürgerinnen und Bürger nach sinnvoller
Beschäftigung und gründete 1933 die Zürcherische Arbeitsgemeinschaft
für Wanderwege, die sich auch als Gegenpol zur aufziehenden
Motorisierung verstand. 14 Wanderrouten, die sternförmig von Zürich
aus in alle Teile des Kantons führten, bildeten das Startkapital der
Arbeitsgemeinschaft, die rasch mit der systematischen Signalisierung der
Pfade begann. Im Zweiten Weltkrieg mussten allerdings alle Wegweiser
aus militärischen Gründen verschwinden und in der Hoffnung auf bessere
14 Wanderrouten führen von Zürich aus sternförmig in alle Teile des Kantons
Zeiten eingelagert werden. In der Aufbruchstimmung der Nachkriegszeit
wuchs das Netz der Wanderwege rasch. 1950 erschien im Verlag Orell
Füssli erstmals die Wanderkarte des Kantons Zürich und eröffnete einem
erfreuten Publikum neue Perspektiven des bevölkerungsreichsten Kantons
der Schweiz. Wandern in grossen Gruppen gewann im ganzen Land an
Popularität.
Radiowanderungen als Volksbewegung
Der Obwaldner Pionier Albert Rohrer erfand Anfang der Sechzigerjahre
fast zufällig die Radiowanderungen: An einer Sendung im Radiostudio
Zürich über die Wunder der Natur sprach man auch übers Wandern,
und Rohrer schlug vor, Wanderungen am Radio zu organisieren. Der
Verein Schweizer Wanderwege, wo Rohrer als Mitglied der Technischen
Kommission wirkte, nahm die Idee begeistert auf. Radiowanderungen,
von vielen mit Freude erlebt und von andern belächelt, entwickelten sich
zu einer Art Volksbewegung. Nach und nach organisierte jede Sektion
des Vereins Schweizer Wanderwege Radiowanderungen mit zuweilen
über Tausend Sommerfrischlern!
Nach Spitzen in den Siebziger und Achtzigerjahren ebbte die
Faszination an diesem Massen-Naturerlebnis ab, 2003 fand die allerletzte Radiowanderung statt. Auch die Teilnehmerzahlen der geführten
ZAW-Wanderungen nahmen in den letzten Jahren eher ab und liegen
jetzt im Schnitt bei etwa 120 Personen. Immer mehr Naturbegeisterte
wandern jedoch individuell, mit der Familie oder mit Freunden auf den
vom Verein Zürcher Wanderwege gemachten Routenvorschlägen.
Wanderwege – auch in der Bundesverfassung
62 000 Kilometer Wanderwege erschliessen Täler und Berge der
Schweiz, was dem anderthalbfachen dem Erdumfang entspricht! Bereits
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in der Bundesverfassung von 1874 steht im Artikel quater 93: «Der Bund
stellt Grundsätze auf für Fuss- und Wanderwegnetze. Die Anlage und
Erhaltung von Fuss- und Wanderwegnetzen sind Sache der Kantone. Der
Bund kann ihre Tätigkeit unterstützen und koordinieren.» Das einschlägige
Bundesgesetz aus dem Jahr 1985 umschreibt detailliert die Förderung der
Fusswegnetze durch Bund und Kantone und schafft die Voraussetzungen,
um aus der Schweiz ein Eldorado für Wandervögel zu machen. Knapp
zwei Drittel der Wege sind – wie es die Wanderer lieben – naturbelassen. Weil die Wege möglichst an den öffentlichen Verkehr angebunden
sind, beginnen sie in den Ortszenteren und sind deshalb anfangs geteert.
Manche Wanderwege dienen auch der Land- und Forstwirtschaft oder
der Armee und sind deshalb mit Belag versehen; verglichen mit andern
Ländern ist der Anteil an naturbelassenen Wanderwegen in der Schweiz
jedoch sehr hoch. Die Menschen lieben Wanderpfade mit attraktiver
Aussicht, deshalb ist zum Beispiel der Gratweg vom Zürcher Üetliberg
zur Felsenegg hoch über Adliswil mit Aussicht auf See und Alpen einer
der meistfrequentierten im Lande.
Warum wandert der moderne Mensch?
Während im Südosten die verschneiten Glarner Alpen in der
Nachmittagssonne schimmern, bewegen sich die Wanderer in einem lockeren Zug durch die liebliche Zürcher Unterländer Landschaft. Es muss
tiefer liegende Gründe geben, weshalb heutzutage so viele Menschen in
der Freizeit wandern. Antworten darauf gibt Dr. Rainer Brämer, der an
der Universität Marburg als Natursoziologe forscht und lehrt. «Wir leben
heute immer mehr hinter Glas; hinter den Fenstern von Wohnungen,
Büros, Schulen und Shopping Centers, und wenn wir uns im Auto, der
Bahn oder im Flugzeug fortbewegen, sitzen wir wiederum hinter Glas»,
erläutert der Fachmann, «Berufsleben und Freizeit spielen sich zudem oft
vor Computer- und Fernsehschirmen ab. Für die wirkliche Natur, ja nur für
ein schlichtes Draussen ausserhalb der Glasmenagerie, bleiben da kaum
mehr als zehn Prozent unserer täglichen Wachzeit».
Obwohl der Umweltschutz in den letzten Jahren in der öffentlichen Debatte
an Bedeutung verloren hat, behielt die Natur einen hohen Stellenwert als
Erholungsraum. 90 Prozent der Deutschen – bei den Schweizern sind die
Zahlen wohl ähnlich hoch – empfinden sich als Naturgeniesser, lieben
Pflanzen im Haus, in Parks und in Wäldern und wandert gern in schönen
Landschaften. Der Natursoziologe kommentiert: «Für viele wird die Natur
zu einer Art Kulisse für die Freizeit.»
Angesichts der Hochstimmung der Wanderer am Dättenberg drängt sich
die Frage auf, welche Landschaften die modernen Mensch am stärksten ansprechen. «Die zahlreichen Studien zur Landschaftsästhetik haben
einerseits gezeigt, dass wir in der Regel eine besondere Zuneigung zu
der Landschaftsformation entwickeln, in der wir aufgewachsen sind», erklärt Rainer Brämer, «darüber hinaus gibt es jedoch nahezu weltweit
erstaunlich einheitliche Vorstellungen davon, was eine schöne Landschaft
ausmacht». Ob Europäer, Amerikaner oder Asiaten empfinden die
meisten Menschen Szenerien gleichermassen als schön, die eine relative Naturnähe ohne künstlich-technische Elemente zeigen, jedoch nicht
mit Wildnis gleichzusetzen sind. Eine offene Vegetation nach Art einer
Parklandschaft mit Wald und Wiesen wird als schön empfunden, dazu
natürliche Gewässer und Hügel oder Berge im Hintergrund. Als besonders attraktiv gilt ein See, in dem sich die Landschaft spiegelt. Bei
der Frage nach den Ursachen dieses naturästhetischen Gleichklangs,
verweist der Wissenschafter auf die menschliche Gattungsgeschichte.
«Eine genauere Analyse zeigt, dass die heute als schön empfundenen
Landschaftselemente günstig für das Überleben waren», erklärt Brämer,
«angefangen vom lebensnotwendigen Wasser zu übersichtlichen,
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Die Menschen plaudern miteinander, geniessen eine Frucht oder ein Sandwich;
die Stimmung könnte nicht entspannter und friedlicher sein.
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bewegungsfreundlichen Landschaftsstrukturen bis zu jenem sicheren
Waldrand, der zugleich Sicht und Rückzugsmöglichkeiten bietet.» Der
Natursoziologe weiter: «Was damals das Wohlgefühl von Sicherheit
und Geborgenheit vermittelte, ruft in uns offenkundig auch heute noch
ähnliche Empfindungen hervor, ohne dass wir deren Ursachen mangels
unmittelbarer Bedrohung noch erkennen können.»
Professionell markierte Wanderwege
Was die ZAW leiste, sei einmalig, lobt eine fitte Dame auf der spätherbstlichen Wanderung rund um Bülach. Sie wandere oft auch im
Ausland, aber so gut beschriftete Wege habe sie nirgendwo auf der
Welt gesehen. Kein Zufall; denn der Verein Zürcher Wanderwege, der
früher Zürcher Arbeitsgemeinschaft für Wanderwege hiess, besorgt
die einheitliche Markierung mit den informativen gelben Wegweisern
professionell und mit grosser Sorgfalt. Ausser dem Geschäftsführer und
Technischen Leiter Heinz Binder engagieren sich 35 Kreisleiter und über
180 Ortsmitarbeiter in der Organisation. Oberhalb Eschenmoosen ist
auf der Zürcher Unterländer Wanderung jetzt eine zweite Ruhepause
angesagt, Bülach liegt unten in der Ebene, dahinter starten und landen
die Flugzeuge auf den Pisten von Kloten und verbinden die Schweiz mit
der weiten Welt. Die Menschen plaudern miteinander, geniessen eine
Frucht oder ein Sandwich; die Stimmung könnte nicht entspannter und
friedlicher sein.
6 000 Mitglieder – 2 700 Kilometer Wanderwege
Rund 6 000 Mitglieder zählt der Verein Zürcher Wanderwege; praktisch
alle Gemeinden des Kantons sind zudem Mitglieder und zahlen ihren
Obolus, der aufgrund der Bevölkerungszahl erhoben wird. Wie Heinz
Binder im ZAW-Büro in Adliswil erklärt, wird der Verein immer wieder
mit Legaten und testamentarische Vergaben bedacht. «Das hilft uns,
die vielen Aufgaben wie die Markierung der Wanderwege, der Ersatz
beschädigter Wegweiser und das Signalisieren neuer Wege zu erfüllen», sagt der Geschäftsführer und Technische Leiter. Die Publikation von
Wanderbüchern, Broschüren und Wanderkarten und die Organisation
der Wanderungen gehören weiter zum Pflichtenheft des ZAW. Der Verein
verfügte über ein jährliches Budget von rund 600 000 Franken, wovon
die Hälfte der Markierung des 2 700 Kilometer messenden kantonalen
Wanderwegnetzes dient. Weil die ZAW die Markierung als Auftrag
des Regierungsrates erfüllen, werden diese Kosten vom Kanton zurückerstattet.
Laufen und Wandern als Megatrend
«Laufen ist relativ einfach auszuüben, gesund und sozial anerkannt»,
erklärt der Soziologe Markus Lamprecht. Als Gegenpol zum Wandern
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in der freien Natur haben sich denn auch als neueres Phänomen die
Massenläufe in den Städten wie der populäre Zürcher Silvesterlauf oder
die Course de L‘Escalade in Genf etabliert. Über 20 000 Läuferinnen und
Läufer joggen jeweils Anfang Dezember zur Erinnerung an Catherine
Cheynel durch die Rohnestadt; die Männer laufen 7.25, die Frauen 4.78
Kilometer. Die mutige Genferin hatte in der Nacht vom 11. auf den 12.
Dezember 1602 einem angreifenden savoyischen Soldaten eine Pfanne
auf den Kopf gehauen und damit den erfolgreichen Widerstand gegen
die anstürmenden feindlichen Truppen eingeleitet. 400 Jahre danach ist
die Pfanne von Mère Royaume, die «Marmite», das Symbol des Genfer
Volkslaufes und eines überschäumenden Volksfestes.
Doch längst nicht das ganze Volk wandert oder joggt. Ein Drittel der
Schweizer Bevölkerung treibt überhaupt keinen Sport und bewegt sich
nur minimal, ein weiteres Drittel ertüchtigt den Körper gelegentlich, während sich ein Drittel konsequent sportlich betätigt. Moderne Jogger und
Wanderer sind oft im trendigen Outfit unterwegs, was die Umsätze einer
ganzen Branche beflügelt.
Fazit: Die Radiowanderung ist Geschichte, und die geführte ZAW-Touren
verzeichnen eher sinkende Teilnehmerzahlen, doch Wandern gilt als gesellschaftlicher Megatrend. «Die Zahl der Wanderer steigt», ist Heinz
Binder überzeugt, «doch wer wandert, ist heute weniger in Massen unterwegs, sondern erlebt die Natur mit der Familie oder wandert individuell
mit Freunden».
Die Bülacher Wanderung geht bei sinkender Sonne zu Ende. Nochmals
steigt der Weg an, diesmal auf den Rüebisberg, um dann sanft abzufallen. Nach dreieinhalb Stunden und 12 Kilometern in den Beinen errei-
chen die Naturfreunde Bülach, wo die einen einkehren und andere den
nächsten Zug nach Hause nehmen. Und immer wieder hört man zum
Abschied: «Auf Wiedersehen bei der nächsten ZAW-Wanderung!»
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Wandern – auswandern, einwandern:
Menschen verlassen ihr Zuhause und versuchen ihr Glück anderswo – seit Menschengedenken. Eine Spurensuche. Demgegenüber
erzählen Einwanderer aus den ehemaligen
Siedlungskolonien, wie sie in die Schweiz
gekommen sind und wie sie dieses Land
erleben.
Text: Christian Felix, Bilder: Marco Carocari
Röbi ist Bob,
Sepp ist Joe
S
chlag zwölf rollt das Gatter beim Portier zurück, die ersten hungrigen Arbeiter drängen sich durch den breiter werdenden Spalt, ge-
folgt von Hundertschaften, die in kürzester Zeit die Kappeligasse füllen,
dann die Weitegasse hinunterströmen zur Kantine der Adolph Saurer
AG. Der Malerlehrling Robert, wohnhaft Weitegasse 11, beobachtet die
Herde vom Garten aus. Das Jahr? Wohl 1947 oder 1948. Roberts Vater
Robert ist Lastwagenfahrer bei der Adolph Saurer AG – Lastwagen,
Stickmaschinen, Webmaschinen –, Mutter Mathilde und Vater putzen
abends zusammen die Büros der Firma, alle Untermieter im Elternhaus,
der Mann von Tante Trudi nebenan und deren Untermieter und überhaupt
alle, alle die Tanten, Onkel, die in Arbon geblieben sind, Anna, Werner
und Hugo, alle arbeiten für die Firma, im Exportbüro, im Magazin und
vor allem in der Giesserei. Ein Onkel nämlich hat es bis zum Direktor der
Giesserei gebracht.
Ohne mich!
«Ohne mich», sagt sich der junge Robert, «ich werde nie um zwölf
zum Tor hinaus kommen, um halb zwei hinein, um sechs raus, sieben
rein. Nie». Drei Brüder des Vaters sind ausgewandert, Onkel Dölf nach
Amerika, wo er es zum Millionär gebracht hat. Robert Senior selbst hat
es in den Dreissigerjahren auch versucht. Doch die USA geizten mit Visa.
Allein in Alaska waren Einwanderer noch willkommen. Als endlich die
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Schiffkarten unterwegs waren, bekam die Familie dann doch keine Einwanderungsbewilligung. Jetzt will der junge Robert sein Glück wagen.
Der Direktor-Onkel kennt eine Familie in Auckland, Neuseeland.
Über die Gründe der Schweizer Auswanderung nach Übersee sind
Bände geschrieben worden. Die Schweiz war im 19. und im frühen
20. Jahrhundert ein Auswanderungsland, soviel steht fest. «Ein armes
Auswanderungsland», wird gelegentlich kolportiert. Klingt interessant,
stimmt aber nicht. Spätestens mit dem Dreissigjährigen Krieg 1618 bis
1648 wurde die Schweiz ausgesprochen wohlhabend. Der Krieg verschonte die Eidgenossen und begünstigte das einträgliche Söldnerwesen,
den Kriegsdienst für Fremde Herrscher, die Urform schweizerischer
Auswanderung in der Neuzeit. Später, 1748, bezeichnete der Dictionnaire
Universal de Commerce Zürich als «un véritable Pérou«, als ein wahres
Peru, in Anspielung auf das märchenhaft reiche Silberland in den Anden.
Die Schweiz war kein kontinentales Irland; also kein Massenexodus
wegen Hungersnot und dergleichen.
Dem allgemeinen Wohlstand und den geordneten Verhältnissen zum
Trotz gab es, gibt es in der Schweiz ein Oben und ein Unten. Schweizer
Arbeitern und Kleinbauern standen zwar nicht schlechter da als die unteren Klassen in anderen Ländern; möglicherweise sogar eher besser. Arm
ist man aber letzlich im Vergleich zu anderen, besser gestellten. Insofern
ist auch arm, wer sich gegenüber anderen arm vorkommt. Gerade in der
Schweiz, in einem Land, in dem es einem fast schon per Dekret gut zu
gehen hat, mag es besonders demütigend sein, zu den Habenichtsen
zu gehören. Vor allem aber: In der Schweiz waren die Karten verteilt.
Bis weit ins 19. Jahrhundert hatten immer dieselben Familien das Geld
und das Sagen, immer dieselben sich einzuschränken und den Mund zu
halten. Joseph Küng, alias Joe King, der aus
Benken in der Lindtebene 1878 in die USA auswanderte, schrieb:
«Die Lebensbedingungen unserer Familie waren
seit Generationen dieselben, denn in einem traditionellen Land wie der Schweiz konnte sich die
Situation der Arbeiterklasse nur verändern, wenn
man – wie in unserem Fall – auswanderte.»
Der Fabrikarbeiter, der mit der Herde die
Weitegasse hinunter der Kantine zueilte, mag
Stephen Holyer, 35, IT-Spezialist,
zufrieden gewesen sein. Angenommen, die
Texas, USA.
Beförderung zum Vorarbeiter stand an. Dann,
so rechnete er, würde er es sich leisten können,
«Im Auftrag meiner Firma kam ich
für einen Aufschlag von 50 Rappen in der be-
mehrmals nach Zürich. Ich verliebte
dienten Abteilung der Saurer-Kantine zu essen,
mich in die Stadt. Vor drei Jahren zog
statt im Selbstbedienungsteil. Die sozialen
ich hier her. Das Freizeitangebot hier
und wirtschaftlichen Verhältnisse sind wissen-
ist fantastisch: die Oper, Biken am
schaftlich zu quantifizieren. Die Befindlichkeit
See, Wintersport in den Bergen. Ich
des Einzelnen ist es nicht. Die Mehrheit der
brauche dazu nicht einmal ein Auto.
Schweizer-Arbeiter trennten vielleicht nur die
Inzwischen spreche ich Deutsch,
50 Rappen vom Glück.
doch leider nur wie ein dreijähriges
Schiff ahoi!
Nicht so den jungen Robert. Bei ihm war es der
halbe Erdumfang. Ein Foto aus dem Jahr 1950
zeigt den 20-Jährigen an Bord der «Toscana»,
als das Schiff eben durch den Suezkanal läuft.
Kind. Das schränkt mich ein. Und
gelegentlich vermisse ich ein richtiges
Tex-Mex-Essen.»
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Neben ihm zwei Kollegen aus der Heimat, die ihn auf dem Weg ins
Südseeabenteuer begleiten. Einer davon ist sein bester Freund Arthur. Die
Befreiung aus der drückenden Schweizer Nachkriegszeit, die ägyptische
Sonne sorgen vorderhand für gute Laune. Ansonsten bietet die «Toscana»
ausser einwandfreien Spaghetti nichts von dem, was eine Schiffsreise
reizvoll macht. Der Kahn ist überladen mit italienischen Auswanderern
nach Australien. Robert holt sich an Bord ein Rückenleiden, dass chronisch wird.
Auswandererschiffe waren keine Queen Mary 2, und die Reise der
«Titanic» ist nur das bekannteste Beispiel einer Überfahrt, die für
Europamüde auf dem Meeresgrund endete. Dem Vater des schon zitierten Joe King hingegen wurde es eher heiss unter den Sohlen:
«Ende 1869 verliess (der Vater) die Schweiz und schiffte sich in Le Havre auf
einem Segelschiff, das in 38 Tagen den Atlantik überquerte, ein. Ungefähr
auf der Hälfte des Weges brach im Frachtraum Feuer aus. Nur die Warnung
des Kapitäns, Unruhestifter und Panikmacher würden in Ketten gelegt oder erschossen, war es zu verdanken, dass keine Panik ausbrach. Als das Schiff in
New York anlief, brannte es immer noch, das Feuer hatte aber unter Kontrolle
gebracht werden können.»
Auf der anderen Seite war die Reise oft der erlebnisreichste Abschnitt der
Emigration. Für viele, zumal im 19. Jahrhundert, gab es nie wieder eine
Gelegenheit, so weit von zu Hause wegzukommen, und soviel Neues
und Fremdes zu entdecken. Zudem lebte man auf der Reise noch vom
Ersparten oder von einem Kredit. Vorderhand blieb man vom Wissen
um die Lebensbedingungen am neuen Ort verschont. Joe King beschrieb
seine Fahrt auf dem Missouri nach Montana:
«Am interessantesten war es, wenn eine riesige
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Herde den Fluss überquerte und sich von nichts
und niemandem davon abhalten liess. Einmal
waren Büffel rund ums Schiff, das anhalten musste,
bis die Tiere das andere Ufer erreicht hatten. Man
kann sich das Gefühl der Passagiere bei diesem
Anblick vorstellen.»
Im Schweisse deines Angesichts
In Neuseeland arbeitet Bob, wie er nun
heisst, bei einem Schweizer Maler namens
Camenzind in Putaruru. (Das Maori-Wort be-
Marla Landolt, 44, Informatikerin
deutet «Eulennest».) Er teilt mit Kumpels das
und Ernährungsberaterin,
Zimmer, wird krank und immer schwächer.
Chicago, USA.
Der Arzt stellt Unterernährung fest. Bob hat
sich während Monaten in Take Aways ernährt,
«Die Liebe brachte mich 1988 in die
dann, angewidert von den landesüblichen Fish
Schweiz. Inzwischen bin mit einem
and Chips, fast gar nichts mehr gegessen. Das
Schweizer verheiratet und habe eine
ist, wie gesagt, um 1950.
achtjährige Tochter. Vor allen Dingen
mag ich die Landschaft in diesem
Wie ungleich steiniger und dornenvoll waren
Land. Sie lockt einen ins Freie, und so
die Startbedingungen im 19. Jahrhundert!
lebt man gesünder als in den USA.
Häufig überboten die ersten Jahre alles, was
Manchmal vermisse ich allerdings
die Siedler in Europa an Entbehrung und Not
den Tatendrang der Amerikaner.
je erlebt hatten. Joe King arbeite im rekordkal-
Mir fehlen auch Geschäfte hier, die
ten Winter 1880/81 in Helena, Montana, bei
sieben Tage 24 Stunden lang offen
einem Metzger. In der Stadt kannte er kaum
sind. Ich habe mich von Anfang an
jemanden und lernte auch niemanden kennen,
für Hochdeutsch entschieden und
sprach auch noch kaum Englisch.
spreche es fliessend.»
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Joe litt Hunger und schlich sich bei Feierabend in die Saloons, um sich
aufzuwärmen:
«… und wenn ich dann schliesslich in mein Zimmer ging, war es, wie wenn
ich in einen Eisschrank kommen würde. Das Eis glitzerte an den Wänden und
war so dick, dass man es leicht mit einem Spaten hätte abkratzen können.
Es war ein Wunder, dass ich mit meinem kalten Arbeitsplatz, meinem kalten
Zimmer und den dünnen Kleidern nicht erfror. Einmal schlief ich zwei Wochen
mit meinen Stiefeln an den Füssen, aus Angst, sie am Morgen nicht mehr
anziehen zu können …»
Im amerikanischen Westen war die Blockhütte die übliche Behausung:
geschälte Rundbalken, die Zwischenräume mit Lehm verstopft, das Dach
mit Torf bedeckt, eine Feuerstelle, Türe und ein Fenster, Küche und ein
einziges weiteres Zimmer. Bei Krankheit, Geburt oder Unfall war kein
Arzt da, bei Viehdiebstahl keine Polizei, bei Betrug und Streitigkeiten um
Land kein Friedensrichter. Die Kraft des eigenen Körpers war die einzige
Garantie für das Überleben. Doch die Kraft brachte Ertrag. Was jemand
in einem solchen Pionierland tut, hat einen unmittelbaren Effekt auf sein
Dasein. Packt er an, verdient er Geld; geht er klug vor, vermeidet er
Unglück. Die eigenen Arme und der eigene Kopf entscheiden über Erfolg
oder Misserfolg. Joe King hatte zunächst in der Schweiz eine sichere
Stelle als Gärtner. Der Meister riet ihm, zu bleiben und nicht mit der
Mutter zum Vater nach Montana auszuwandern.
«Würde ich seinen Rat befolgen, so hätte ich mit dreissig eine respektvolle
Position mit gutem Einkommen inne. Später bedauerte ich oft, seinen Rat
nicht befolgt zu haben. Jetzt bin ich jedoch überzeugt, das Richtige getan zu
haben, obwohl es lange gebraucht hat, dies zu beweisen.»
Auswanderer vermochten sich nur durch Härte
und Beharrungsvermögen aus dem Anfangstief
hoch rackern, so weit, bis sie die Stellung übertrafen, die in der Schweiz tüchtige Arbeiter
erreichen konnten: regelmässiger Lohn, geheizte Stube, Sonntagsbraten, eine Uhr und
ein Ableben in Ehren mit Blaskapelle – ohne in
den letzten Jahren noch armengenössig geworden zu sein. Lange nicht alle schafften diese
Wende. Wenig dokumentiert ist das Schicksal
jener, die im Streit erschossen wurden, die als
Säufer im Winter vor einem Saloon erfroren,
Arthur Morgan Rooks, 35, MBA
die am Ende als Viehdiebe am Galgen hin-
Student und Management-
gen, oder viel banaler, die sich als Knechte
praktikant, Chicago, USA.
oder Minenarbeiter zugrunde schufteten. Fast
nur die Erfolgreichen haben Zeugnisse ihres
«Mein Bauch sagt mir, dass ich in hier
Lebens hinterlassen, Fotos, Tagebücher oder
am richtigen Ort bin. Zürich ist die
Kinder.
perfekte Kombination von Gross- und
Kleinstadt. Ich kam vor zwölf Jahren
Bobs Freund Arthur kriegt die Kurve in Neu-
hierher, weil ich Auslanderfahrung
seeland nicht ganz. Einmal hat er zwar
sammeln wollte. Ich machte an
Glück. Sein Haus steht auf einem Grundstück,
der Zürcher Oper ein Praktikum in
auf dem ein Einkaufszentrum geplant ist. Er
Kunstmanagement. Als dunkelhäu-
kann seine Parzelle für ein Mehrfaches des
tige Person muss ich in der Schweiz
Einstandspreises verkaufen. Arthur besucht
zuerst immer eine Mauer überwinden
darauf als reicher Mann die Schweiz. Doch
und die Menschen von meinen
sein Vermögen schmilzt rasch. Er hat sich an
Fähigkeiten überzeugen. Zum Glück
das schöne Leben gewöhnt und spinnt fortan
spreche ich fliessend Deutsch und
eins ums andere merkwürdige Projekte, die
Schweizerdeutsch.»
ihm wieder das grosse Geld bringen sollen.
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Am Ende lebt er von der Sozialhilfe.
Bob reist 1956 in die Schweiz, diesmal schon auf dem Luftweg, mit der
französischen Gesellschaft UTA, über Nouméa, Saigon, Paris. In der
Heimat sucht er sich eine Frau. Unter Schweizer Auswanderern kursiert
der dringende Rat, auf jeden Fall eine Schweizerin zu heiraten, nur
schon wegen des Essens. Das hat Bob nach seiner Erfahrung mit den
Fish and Chips sicher besonders beherzigt. Er heiratet die Köchin Frieda,
die vorher im Hotel Unterstrass in Zürich am Herd gestanden hat. Mit
ihr eröffnet er mehrere Restaurants hintereinander, die «Geneva Bar«,
das «Lugano» … Pommes Frites-Tüte um Pommes Frites-Tüte kommt Geld
zusammen. Zwei Kinder werden in dieser Zeit in Neuseeland geboren,
Bob und Susan.
Go West!
Januar 2004, ein Anruf in Grand Valley, Ontario, Kanada. Ein leichtes
spitzes «Yeeeh» meldet sich am anderen Ende der Leitung: Joe Mazenauer.
Yeeeh – dazwischen Appenzeller Dialekt: «Wa wettsch wüsse?» Das
Thermometer in Süd-Ontario zeigt jetzt mittags minus 20 bis minus 25
Grad. Familie Mazenauer hat es geschafft, definitely. 250 Stück Vieh und
550 Hektaren Land gehören zum Hof, kein Vergleich zu den Appenzeller
«Hämetli», auf denen noch heute oft ein knappes Dutzend Kühe weiden.
Joe Mazenauer liebt Kanada wegen der Grösse, der Weite des Landes.
Da mag der Blizzard noch so eisig um Mazenauers Loghouse (Haus aus
Balken) pfeifen.
Landhunger trieb im 19. Jahrhundert zunächst Schweizer Auswanderer
fort. Nicht aus jedem Landesteil wanderten anteilmässig gleich viele
Menschen aus. Doch ob Prättigau, Maggiatal, St. Galler Oberland,
Aargauer Jura oder Klettgau – eine Gemeinsamkeit verband die stark
von Emigration betroffenen Bezirke: Hier warf
der Boden geringe Erträge ab. Erbteilung
herrschte vor, die Höfe waren zersplittert. Joe
King schrieb über seine Familie:
«Mein Grossvater starb, als mein Vater noch ein
Junge war. Er hinterliess ein kleines Stück Land,
und die Familie machte daraus, was sie konnte.»
Die Auswanderung aus der Schweiz erfolgte in
Wellen. Solange die Wirtschaft noch wesentlich auf dem Agrarsektor beruhte, hing der Kon-
André Yong Shen Kow, 37,
junkturverlauf von den Witterungsbedingungen
Elektroingenieur, Malaysia.
ab. Die Erntezyklen in Übersee und Europa
waren nicht deckungsgleich. Deshalb stimm-
«Meine Firma bot mir vor drei Jahren
ten auch die Konjunkturzyklen zwischen der
einen Job in der Schweiz an. Ich
Schweiz und dem wichtigsten Zielland, den
akzeptierte, weil ich die Kultur und
USA, nicht im selben Mass überein wie heute.
die Lebensweise eines fremden
Gute Konjunktur in Nordamerika, Krise in der
Landes kennen lernen wollte.
Schweiz, diese Kombination löste jeweils eine
Allerdings fühle ich mich hier nicht
neue Auswanderungswelle aus. Spitzenwerte
zugehörig, da ich die Landessprache
erreichte die Emigration in den Jahren 1850
nicht spreche, aber auch, weil
bis 1856 sowie 1880 bis 1885. Neben den
manche Schweizer glauben, wir
negativen Faktoren in der Heimat wirkte die
Asiaten seien hinter dem Mond. In
Sogwirkung aus dem Zielland. Gold! Als nach
Asien ist die Arbeit dein Leben. Hier
den spektakulären Goldfunden in Kalifornien
sind Berufs- und Privatleben getrennt.
dieses Wort durch die Schweizer Alpentäler
Das schätze ich sehr. In der Schweiz
hallte, erlebte manches Bergdorf einen wahren
bin ich ein freier Mensch.»
Exodus. Das Goldfieber entzog dem Maggiatal
34
in kurzer Zeit 1,5 Prozent der Bevölkerung, im Aargauer Jura waren es
bis 2 Prozent. Auf die Stadt Zürich gerechnet wären das 7 200 Personen.
Fussnote: Die meisten Schweizer kamen zu spät für das Goldfieber in den
amerikanischen Westen. Joe King schreibt über die Goldgräber:
«Die Goldsucher des alten Westens waren die interessantesten unter den
Einwanderern. Sie wurden von Berichten über die Goldfunde magisch angezogen. Manchmal wurden sie dabei reich, meistens aber wurden sie enttäuscht und führten ein Leben voll harter Arbeit ohne den üblichen Komfort.
Die meisten, die reich geworden waren, hatten sich nicht mehr unter Kontrolle
und gaben ihr Vermögen für Geldspiele, Alkohol und allgemeine Zerstreuung
aus und hofften dabei immer auf erneutes Glück.»
Gold war als Lockmittel spektakulär, wirtschaftliche Bedeutung indes hatte
der Eisenbahnbau in Nordamerika. Eisenbahnen erschlossen Neuland.
Jedes Mal, wenn mit einem Konjunkturaufschwung neue Linien durch die
Prärien und die Rockies getrieben wurden, zog eine neue Siedlerwelle in
den Westen. Mit jeder neuen Bahnschwelle schnürte irgendwo in Europa
ein Mensch sein Bündel. Überhaupt war das Auswandern ansteckend.
Ein Brief von einem erfolgreichen Auswanderer genügte, um eine halbe
Dorfjugend in Erregung zu setzten. Der Onkel in Amerika wurde zum
Synonym für Hoffnung.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts waren die Bahnen gebaut, die
Goldadern erschöpft und das Land verteilt. Von nun an trieben die industriellen Konjunkturzyklen die Menschen zum Aufbruch. Im klassischen
Schweizer Auswanderungskanton, im industrialisierten Glarnerland,
war das schon länger der Fall. Glarus war ohnehin ein Spezialfall.
Für die Glarner gab es einen besonderen Anziehungspunkt in den
USA: New Glarus, Wisconsin, war eine der wenigen funktionierenden Schweizer Kolonien in Übersee. Der Ort liegt im Dairy Belt, dem
Milchwirtschaftsgebiet, das sich in den
USA von Wisconsin über Illinois südlich der
Grossen Seen entlang bis zum Staat New
York im Osten erstreckt. Dieser Gürtel nahm
die meisten Schweizer Siedler in Nordamerika
auf. Fussnote: In den achtziger und neunziger
Jahren des 20. Jahrhunderts kauften, sozusagen als Nachzügler, viele Schweizer Bauern
im benachbarten Süd-Ontario Farmen.
New Glarus wurde mit Hilfe der Glarner
Regierung gegründet. 1845 liess sich dort eine
Peter David Nitz, 28, Händler von
Gruppe von 190 Pionieren aus dem Kanton
Design-Gegenständen, Upstate
nieder. Die Kolonie hatte den Zweck, in der
New York, USA.
schweren Wirtschaftskrise der 1840er-Jahre
für Not leidende Glarner eine neue Heimat zu
«Die Liebe brachte mich nach Zürich
schaffen. Die Emigration in der Gruppe oder
und sie hält mich weiter hier, neben
mindestens im Familienverband war gängig,
der hohen Lebensqualität. Die Trams
solange die Auswanderer Land bebauen woll-
sind pünktlich, die Stadt ist sauber.
ten. Ab etwa 1865 jedoch stieg der Anteil der
Ich mag Zürich, habe hier keinerlei
unverheirateten Männer auf 40 Prozent aller
Probleme, ausser der landestypischen
Schweizer Auswanderer. Gegen Ende des
Streitereien um die Waschküche.
Jahrhunderts verliessen auch vermehrt Frauen
Ja, das schon: Alles ist ein bisschen
ohne Männer die Schweiz. Im Industriezeitalter
eng in der Schweiz. In den USA gibt
wurde die individuelle Auswanderung zu
es mehr Platz. Nach sieben Jahren
Regel.
Zürich spreche ich ein wunder-
Haere ra, Lebwohl!
Irgendwann in den 1960er-Jahren an der
Weitegasse 11 zeigt Grossmutter Mathilde auf
den Zimmerboden. Da unten, ganz tief unten,
bares Gemisch von Schweizer- und
Hochdeutsch.»
36
auf der anderen Seite der Erde wohnt Röbi. Als ob er der Onkel da unten
Kopf stehen würde. Welche Wehmut mit Mathildes Bemerkung verbunden ist, wird erst klar, als auch ihre Tochter abreist, nach Südafrika, und
die Grossmutter in Tränen ausbricht. Auswanderung bedeutete Abschied,
vor allem, wenn statt einer ganzen Familie nur einer geht.
Von Robert aus Putaruru kommt höchstens ab und zu ein Brief, eine
Postkarte, ein Foto und zu Weihnachen eine Schallplatte mit MaoriLiedern: «Haera Ra – Lebwohl. E taku tau, taku manawa e – Meine
Liebe. Mein Herz.» Doch niemanden an der Weitegasse kommt es je in
den Sinn, nach Neuseeland anzurufen. Für ein solches Gespräch wagt
man es nicht einmal, den Hörer zu berühren, ohne die Furcht, dass man
damit gleich den ganzen Hausrat verpfändet. Umgerechnet auf die heutige Kaufkraft verschlang noch 1970 ein halbstündiger Anruf rund 1500
Franken! Inzwischen haben sich die Fernverbindungen revolutioniert.
(Zum Vergleich: Die Recherchenanrufe nach Auckland für diesen Text
kosteten 2004 sieben Franken.) Die Mazenauers aus Kanada reisen, seit
die Mutter alt geworden ist, jedes Jahr ins Appenzellerland.
Im 19. Jahrhundert jedoch bedeutete Auswandern oft ein endgültiges
Lebewohl. Man schloss die Haustüre für immer, küsste die Lieben zum
letzten Mal im Leben und liess die Katze zurück. Auswandern glich dem
Tod und der Seelenwanderung von einem Leben ins nächste. Selbst der
gewöhnliche Briefverkehr war zur Jahrhundertmitte kostspielig. Meist
versiegten die Nachrichten der Emigranten nach wenigen Jahren. In
Mümliswil, Engi oder Küblis wusste man nicht, ob der geliebte Sohn,
Schatz oder Bruder auf eine Goldader gestossen war oder gerade am
Galgen baumelte.
Die Auswanderer selbst teilen sich bis heute deutlich in zwei Gruppen, in
jene, die bald Mühe haben, Deutsch zu sprechen und jene, die Aromat
und Maggiwürze einfliegen lassen. Anders gesagt in Assimilierte und
Heimwehschweizer. Das Heimweh treibt bisweilen bizarre Blüten. In
Überseegegenden mit zahlreichen Schweizer Bewohnern stösst man zwischen den landestypischen Bungalows auf perfekte Chalets, Bernerhäuser
unter Palmen, auf Fahnen, Schnitzereien und Geranien.
Joe Mazenauer ist in den 24 Jahren, die er nun in Ontario lebt, zum
Kanadier geworden. Die Familiensprache ist Englisch, die Kinder sind im
Land aufgewachsen. Die Schweiz ist schön für Ferien, findet Joe, doch
um wieder dort zu leben? Never! In Kanada gibt es ohnehin alle europäischen Importprodukte zu kaufen. Die Frau kocht wie früher, und im
Winter steht auf der Farm in Grand Valley Fondue auf dem Tisch.
Bei Robert und Frieda ging der Graben durch die Familie. Bob fühlte sich
in Neuseeland heimisch, während seine Frau stilles Heimweh nach der
Schweiz litt. Sie arbeitete im Hintergrund, als Hausfrau, Köchin und lernte
daher nur mangelhaft Englisch. Heute pendelt Frieda von Sommer zu
Sommer zwischen Auckland und Zürich. Robert liegt in Neuseeländischer
Erde begraben. Derweil streben in der Weitegasse schon lange keine
Arbeiter mehr der Kantine zu.
37
Die Geschichte der Kartographie beschreibt
das gewaltige Projekt, sich ein Bild von der
Landschaft zu machen. Das geht von farbenprächtigen Landschaftsgemälden aus dem
17. Jahrhundert über die harte Vermessungsarbeit in den Alpen, von der Dufourkarte,
die klären sollte, wo die Landesgrenze verläuft, bis zur virtuellen, zentimetergenauen
Abbildung im neuen Atlas der Schweiz.
Von Daniel Speich.
Der Traum vom homogenen Bild zwang die eidgenössischen Feldmesser in die abgelegenen
Gegenden hinein. «Ingenieure im Nebel», Gemälde von Raphael Ritz (1829 – 1894)
Papierlandschaften –
Eine kleine Geschichte
der Kartografie
L
ewis Carroll, der Schöpfer von Alice im Wunderland, notierte 1893 in
einer kurzen Geschichte folgendes Gespräch:
«Wie gross sollte der Massstab einer Karte maximal sein?»
«Ungefähr sechs Inch auf die Meile.»
«Nur sechs Inch?», rief Mein Herr aus. «Wir haben schon eine Karte im
Massstab von sechs Yards auf die Meile gemacht, und wir versuchten
uns an einer mit hundert Yards zur Meile. Und schliesslich entwickelten
wir die grösste aller Ideen! Wir machten eine Karte unseres Landes im
Massstab von einer Meile zur Meile.»
«Habt Ihr sie oft benutzt?», fragte ich.
«Sie ist bisher noch nie ausgefaltet worden», sagte Mein Herr. «Die
Bauern wehrten sich dagegen: Sie sagten, die Karte würde das ganze
Land bedecken und kein Sonnenlicht mehr auf die Erde lassen. Deshalb
benützen wir heute das Land selbst als seine eigene Karte, und ich kann
Ihnen versichern, das ist fast ebenso gut.»
Landkarten und Pläne begleiten uns heute im Alltag überall: beim
Wandern in der Landschaft, beim Spaziergang in einer fremden Stadt,
beim Verfolgen von Kriegsereignissen im Fernsehen oder in der Zeitung.
41
Vermessungen und Pläne liegen allen Bauvorhaben zu Grunde und die
Katasterpläne garantieren sicheren Grundbesitz. Das Lesenkönnen von
Karten und Plänen kann überlebenswichtig sein, es gehört jedenfalls zur
Grundausstattung im modernen Leben. Doch je öfter man mit Karten hantiert, umso seltener stellt man sich die Frage, was diese Papierlandschaften
überhaupt sind, und wie es kommt, dass sie (meistens) recht gut funktionieren.
Die beste aller Karten
Das Gespräch von Lewis Carroll mutet absurd an. Da scheint ein Kartograf
im steten Bemühen um die möglichst naturgetreue Abbildung seines
Landes jede Verhältnismässigkeit aus den Augen verloren zu haben. Je
grösser der Massstab, umso detailreicher kann die Karte sein und umso
Legende Legende Legende Legende Legende Legende
exakter repräsentiert sie das abgebildete Land – bis sie schliesslich mit
diesem zusammenfällt. Die Karte 1:1 stellt wohl an Detailgenauigkeit alles
in den Schatten, was die Geschichte der Vermessung hervorgebracht
hat. Sie ist gewissermassen die beste aller Karten. Allerding: Wenn
sie zum Einsatz käme, läge sie als absolut landschaftsdominierendes
Element über dem dargestellten Land. Da sie aber in der Karte (also in
sich selbst) nicht eingezeichnet ist, würde sie im Fall ihrer Anwendung
das Land nicht angemessen darstellen. Gleichwohl hat die Vision der
totalen Deckungsgleichheit von Land und Karte in der Geschichte des
Kartenwesens stets als Leitmotiv gedient. Seit Jahrhunderten sind Vermesser
und Kartografen damit beschäftigt, die Welt immer genauer auszumes-
Legende Legende Legende Legende Legende Legende
44
sen und immer exaktere Karten zu zeichnen. Die Kartografiegeschichte
ist eine grosse Erfolgsgeschichte der zunehmenden Präzision, in deren
Verlauf die Übereinstimmung von Land und Karte, von Gegenstand und
Bild, stetig erhöht wurde. Oder anders gesagt: Man hat mit gigantischem Aufwand daran gearbeitet, die Relation zwischen der Karte (1)
und der Landschaft (1) in ein Verhältnis von 1:1 zu setzen. Freilich müssen sich Karten zwingend von ihrem Gegenstand unterscheiden, um
möglichst nahe an das dargestellte Objekt heranzukommen. Sie sind
immer Reduktionen davon. Sie zeigen Landstriche in einer verkleinerten
Abbildung und kommen deshalb nie ohne Verallgemeinerungen aus. Die
Arbeit der Kartografen besteht darin, über diese Ungenauigkeit hinweg
möglichst eindeutige Bezüge herzustellen. Doch die so entstehenden
Papierbilder der Landschaft stellen seit rund 200 Jahren nur den sichtbarsten Teil kartografischer Unternehmen dar, denn hinter ihnen steht ein
wachsendes Archiv von Messreihen und Tabellen. Heute können diese geografischen und topografischen Daten in digitalen Informationssystemen
nach Belieben aufeinander bezogen werden. Die bildhaften Pläne und
Karten sind lediglich der Ausdruck einer abstrakten Papierlandschaft, in
der sich die Realität weitgehend verdoppelt hat.
Das Schweigen der Kartografen
Ein unbestrittener Meilenstein der Schweizer Kartengeschichte ist Hans
Conrad Gygers (1599 – 1674) «Landtafel des Zürcher Gebiets» von 1667,
ein farbenprächtiges Gemälde des Zürcher Territoriums im ungefähren Massstab von 1:32 000. Während Jahrzehnten hatte der gelernte
Maler Gyger das Kantonsgebiet bereist und in akribischer Feldarbeit
ein ausserordentlich plastisches Geländebild geschaffen. Sein wichtigstes Werkzeug war dabei der Messtisch, ein dreibeiniges Ungetüm mit
flacher Zeichenplatte, auf die er Lineal und Winkelmesser legte, und
direkt, das heisst «planimetrisch», alle markanten Landschaftspunkte in
ihren relativen Positionen zu einander einzeichnete. So entstand auf dem
Zeichenblatt ein Netz von Kirchtürmen und Hügelkuppen, das anschliessend farbig mit den eigentlichen Karteninhalten ausgefüllt wurde. Das
Resultat war eine Karte, die in ihrer Detailtreue bis ins 19. Jahrhundert hinein einzigartig blieb. Aber die Landtafel war auch einzigartig, weil kaum
Kopien des Originals erstellt wurden. Vielmehr liess der Zürcher Rat, dem
Gyger sein Werk gegen eine bescheidene Entschädigung vermachte,
die Karte im innersten Kreis der kantonalen Obrigkeit verschwinden.
Kartografisches Wissen über territoriale Verhältnisse war in der Alten
Eidgenossenschaft ein streng gehütetes Geheimnis.
Legende Legende Legende Legende Legende Legende
46
Dieser Schleier des Geheimnisvollen umgab die Kunst der Kartografen
noch bis weit ins 19. Jahrhundert. Doch in dem Masse, wie sich die
Anforderungen an Genauigkeit und Präzision vermehrten, nahm auch
die Zahl der Mitarbeiter an vermessungstechnischen Unternehmen zu.
So waren etwa im «Drawing Room» der königlich englischen Kartografie
im Tower zu London um 1780 rund 50 Personen mit dem Erstellen von
Karten beschäftigt, und sie alle unterstanden strengster Schweigepflicht.
In Frankreich begann im frühen 18. Jahrhundert die erste systematische
Landesvermessung, die nicht mehr von einer Einzelperson hätte geleistet
werden können. Der Messtisch wurde in der Folge in den wissenschaftlichen Zentren der Welt zu einem zweitrangigen Hilfsmittel. Karten stützten
sich nun auf ein vermessungstechnisches Gerüst, das im Wesentlichen aus
berechneten Zahlen bestand.
Die Grundlage der neuen Kartenkunst war ein Triangulationsnetz.
Ausgehend von einer Basis, das heisst einer schnurgeraden Linie, deren
Länge irgendwo im Land mit Messstangen oder Messketten wirklich auszumessen war, wurde ein Netz günstig gelegener Aussichtspunkte bestimmt.
Von jedem dieser Gipfel und Kuppen mussten zwei weitere gleichartige
Punkte mit einem Theodolit, das heisst einem Winkelmessgerät, anvisiert
werden. Die festgestellten Winkelgrössen hatte man anschliessend fein
säuberlich zu notieren, so dass sie im zentralen Büro zu einem landesweiten Dreiecksnetz zusammengetragen werden konnten. Einfache Regeln
der Trigonometrie erlaubten es dort – vor der Unbill des Wetters und
der Mühsal der Beinarbeit gut geschützt –, die restlichen Werte zu berechnen. In einem zweiten Schritt schickte das zentrale topografische
Büro Kartografen ins Land hinaus, die das nackte Netz von Punkten mit
konkreten Karteninhalten wie der Vegetationsart, den Siedlungen, den
Strassen- und Gewässerläufen und der konkreten Geländeformation zu
ergänzen hatten.
Die Dufour-Karte oder: Wo ist eigentlich die Landesgrenze?
In der Schweiz war ein solches Vorgehen lange Zeit unmöglich, weil
den Kantonsregierungen der Alten Eidgenossenschaft die Mittel fehlten.
Weder die Räte von Bern noch jene von Basel, Zürich oder Genf waren
in der Lage, die nötige Zahl an kompetenten Feldmessern unter zentraler Leitung zu vereinen. Und weil sie alle davon überzeugt waren, dass
topografisches Wissen nicht in falsche Hände geraten sollte, unternahmen sie in vermessungstechnischen Angelegenheiten nichts. Die moderne
Schweizer Kartografie setzte erst mit der Entstehung bundesstaatlicher Institutionen ein, und sie stand – im Unterschied zu Deutschland,
Frankreich oder England – von Beginn weg nicht im Zeichen autoritärer Geheimhaltung, sondern baute fest auf die entstehende bürgerliche
Öffentlichkeit auf.
Anlässlich der Grenzbesetzung von 1809 musste der Eidgenössische
Generalstab schmerzlich feststellen, dass er die genaue Lage der zu verteidigenden Landesgrenze nicht im Detail kannte. Nun wurden mehrere
Fachkräfte unter der Leitung des eidgenössischen Oberstquartiermeisters
Konrad Finsler (1765 – 1839) ins Feld geschickt, um diesen Missstand
zu beheben. Doch ihre Bemühungen blieben bis zur Intervention der
Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft im Jahre 1828 weitgehend fruchtlos. Erst der topografische Wissensdurst dieser Vereinigung
interessierter Gelehrter ermöglichte es dem neuen Generalstabschef
Guillaume Henri Dufour (1787 – 1875) im Jahre 1833, die Tagsatzung,
das heisst den jährlichen Kongress der Kantonsdelegierten, zur Freigabe
der nötigen Mittel zu bewegen.
Im Jahre 1834 fanden die grundlegenden Basisvermessungen bei Aarberg
im Berner Seeland statt. Ihre exakte Länge wurde anschliessend mit der
französischen Vermessung abgeglichen und durch den triangulatori-
Legende Legende Legende Legende Legende Legende
48
schen Alpenübergang via die Bündner Alpen, den Johannes Eschmann
(1808-1852) bewerkstelligte, mit der Italienisch-Österreichischen
Vermessung verbunden. 1837 konnte die eidgenössische Militärbehörde
der Tagsatzung einen ersten gesamtschweizerischen Netzentwurf vorlegen. Im Begleitschreiben wurde Wert auf die Feststellung gelegt, die
Vorarbeiten zu einer Schweizerkarte bewiesen nichts weniger, als «dass
die in der Schweiz unternommenen trigonometrischen Vermessungen, in
Hinsicht auf Genauigkeit, auch den besten derartigen Arbeiten anderer
Länder in nichts nachstehen.» Nun war auch die Schweiz ins Rennen um
die exakteste Papierlandschaft eingestiegen und sollte auf dem Gebiet
bald führend sein.
Im Jahre 1845 erschienen das Blatt XVII («Vevey, Sion») und das Blatt XVI
(«Genf, Lausanne») der auf 25 Blätter angelegten neuen Schweizerkarte.
Als ob der Sonderbundskrieg von 1847/48, in dem Dufour die
Eidgenössischen Truppen befehligte, und als ob die Gründung des
Schweizerischen Bundesstaates im Jahre 1848 keinen Einschnitt bedeuteten, lief die Produktion ungebremst bis Mai 1865 weiter, als das letzte Blatt
druckfertig war. Zu diesem Zeitpunkt hatten insgesamt 57 952 Blätter des
kartografischen Programms die Fertigungsstätte verlassen. Sie alle gingen direkt ab der Druckpresse aus dem geschützten Raum obrigkeitlicher
Kontrolle hinaus in die Öffentlichkeit und wurden von den Mitgliedern
der Naturforschenden Gesellschaft ebenso wie von den Lehrern, den
Journalisten, den Kantonsingenieuren und den Universitätsprofessoren
sofort in Gebrauch genommen. Besonders interessiert zeigte sich der
1863 gegründete Schweizerische Alpenclub, der es sich vorgenommen
hatte, in seinen Exkursionen auch kartografisch aktiv zu werden. «An
der Hand unseres vorzüglichen schweizerisch-topographischen Atlasses
würden wir zum Theil systematisch die Hochgebirge bereisen, und un-
sere Schilderungen würden sich mit der Zeit in einem gediegenen geographischen Compendium, einer notwendigen Ergänzung der Karte
gewissermassen, zusammenstellen lassen», hatte Rudolf Theodor Simmler
(1833 – 1873) an der Gründungsversammlung des Vereins in Aussicht gestellt.
Mit den Höhenkurven zur Reliefomanie
Die Dufourkarte weckte vom Moment ihres Erscheinens an neue
Begehrlichkeiten. Im Gegensatz zur alten Kartenkunst, wie sie von Hans
Conrad Gyger im 17. Jahrhundert betrieben worden war, bestand das
neue Kartenwerk nicht nur aus den 25 in Kupfer gestochenen Blättern,
also gewissermassen aus sich selbst, sondern es verwies auf ein ganzes
Legende Legende Legende Legende Legende Legende
50
Arsenal an vermessungstechnischen Grundlagen, die im Topografischen
Büro in Genf gehortet wurden. Als Dufour 1865 in den Ruhestand trat,
übernahm Hermann Siegfried (1819 – 1879) nicht nur sein Amt, sondern
auch zwei Eisenbahnwaggons voller Instrumente, Datenblätter und
Originalaufnahmen. Siegfried sei sich wohl bewusst gewesen, schrieb
Dufour an den Bundesrat, welch wichtiges Werk er da übernahm: «Il a
bien senti l‘importance de ce document pour lequel la Confédération s‘est
imposé de si grands sacrifices pécuniaires.»
In enger Zusammenarbeit mit dem Schweizerischen Alpenclub und mit
der Naturforschenden Gesellschaft machte sich der neue Kartenchef umgehend daran, die erarbeiteten vermessungstechnischen Grundlagen,
die bisher erst im Massstab 1:50 000 erschienen waren, nun auch im
Massstab 1:25 000 zu publizieren. Der grössere Massstab versprach
grössere Übereinstimmung zwischen der Karte und dem Land. Zwar
waren wiederum vielfältige Arbeiten im Feld zu organisieren und zu
finanzieren. Aber im allmählich etablierten Bundesstaat floss Geld für
solche Projekte nun leichter. Das gesamte Triangulationsnetz wurde ab
1863 neu vermessen. Und insbesondere das so genannte «Nivellement»,
das heisst die Höhenmessungen, waren anzugehen, wofür Siegfried
den «Pierre du Niton» im Genfersee als Ausgangspunkt bestimmte.
Der Alpenclub verdankte die bundesstaatliche Initiative, indem seine
Mitglieder die neuen Landeskarten in 1:25 000 vielfach zur Anwendung
brachten. Und besonders gewinnbringend liessen sich die nationalen
kartografischen Grundlagen in der neuen Milizarmee einsetzen. 1888
publizierte das Militärdepartement ein eigenes «Handbuch über die
Terrainlehre, das Kartenlesen und die Recognoscirungen», in dem es den
Offizieren an Hand der Dufour- und Siegfriedkarten das operieren im
Terrain näher brachte.
Die Blätter des «Siegfried-Atlas» wurden ungemein populär, wobei die
Höhenlinien, mit denen das Gelände dargestellt war, besonderen Anklang
fanden. Mit einfachen Mitteln (Pauspapier, Schere, Karton und Leim)
machte sich Jung und Alt ausgehend von der Karte daran, dreidimensionale Geländemodelle herzustellen – eine eigentliche «Reliefomanie» erfasste das Land. Karten wurden nun auch zum Pflichtstoff in den Schulen,
1894 gab der Bund den Auftrag für eine nationale Schulwandkarte
aus. Und innerhalb der Kartografenzunft wurde mit Schattenwürfen
und Farbschummerungen experimentiert, um möglichst plastische
Geländebilder zu erzielen. Die Karte sollte die Erdoberfläche so zeigen, wie sie sich aus der Luft gesehen präsentierte. Sie sollte möglichst
52
naturgetreu sein. Aus dieser Kartografenschule, die im 20. Jahrhundert
massgeblich von Eduard Imhof (1895 – 1986) geprägt wurde, gingen
Kartenblätter hervor, die wegen ihrer Plastizität und Anschaulichkeit weltweit Furore machten.
Fotos von oben
In der kartografischen Gründerzeit des späten 19. Jahrhunderts wurde
auch die Verbindung der Landestopografie mit allen anderen amtlichen
Vermessungsarbeiten entwickelt. Bereits 1866 hatte ein Geometer festgehalten: «Die Katasterpläne dienen ... den Gemeinden und Staatsbehörden
zur Projektirung von Kanälen, Strassen und Eisenbahnnetzen und liefern
das beste Material zur Herstellung einer ausgezeichneten Landeskarte,
namentlich wenn damit die nöthigen Höhenmessungen verbunden werden.» Die Katastergeometer arbeiteten noch weitgehend nach der alten
Methode Gygers mit dem Messtisch. Doch 1911 schrieb ihnen das neue
Zivilgesetzbuch vor, ihre Grundbuchvermessungen auf die mathematischen Grundlagen der Landestopografie zu stellen. Auch die Geometer
begannen nun, Zahlen zu liefern, die sich mit den Daten des Bundes
verbinden liessen.
Von 1910 bis 1947 wurde das alte Dreiecksnetz erneut überprüft und um
rund 67 000 Punkte ergänzt. Zur Absicherung der Arbeit erstellten die
Ingenieure metallene Dreieckskonstruktionen, die noch bis in die 1980er
Jahre hinein auf vielen Aussichtspunkten der Schweiz standen und diese
als eidgenössische Triangulationspunkte auswiesen. Das Netz lieferte die
Grundlage für die Übersichtspläne des Katasters, die man in den folgenden Jahrzehnten im Massstab 1:5 000 bzw. 1:10 000 für die ganze
Schweiz herstellte. Dabei kam ab den 1920er-Jahren die neue Technik
der Luftbildfotogrammetrie zum Einsatz. Mit Hilfe von Spezialkameras
wurde das aufzunehmende Gelände von Flugzeugen aus fotografiert und
anschliessend im kartografischen Studio auf Papier umgezeichnet.
Rund hundert Jahre nachdem unter der Leitung Dufours die erste moderne Landesaufnahme begonnen hatte, entstand mit den neuen technischen Möglichkeiten, den verfeinerten Vermessungsgrundlagen und
mit der wachsenden Zahl von kartografischen Anwendungsgebieten
der Wunsch nach einem neuen offiziellen Landkartenprogramm. In welchem Massstab dies geschehen sollte, war allerdings heftig umstritten
und wurde zum Gegenstand eines «Kartenkriegs». Er fand sein Ende
1935, als ein Bundesgesetz die Neuausgabe von Landeskarten in der
Massstabsreihe von 1:25 000 bis 1:1000 000 verfügte. Die 1:50 000Serie wurde als erste in Angriff genommen und 1963 mit der Ausgabe
des Blattes «Domodossola» abgeschlossen. Die neuen Blätter 1:25 000
lagen 1979 vollständig vor.
Karten aus dem Automaten
Zu dieser Zeit zeichnete sich bereits eine technische Neuerung ab, die
Tief greifende Folgen haben sollte. Der Einzug des Computers führte die
Kartografie endgültig vom Papier der Karten weg und hin zur virtuellen Datenlandschaft. Allerdings sind die «Karten aus dem Automaten»,
die im Magazin des «Tages-Anzeigers» schon 1972 in Aussicht gestellt
wurden, erst in der jüngsten Vergangenheit Realität geworden. Die grossen Datenmengen, die zu verarbeiten sind, stellten lange ein technisches
Problem dar. Und der Computer wurde im Vermessungswesen einerseits
und im Bereich des Kartenzeichnens andererseits zunächst auf völlig unterschiedliche Weisen eingesetzt.
Die frühesten Anwendungen der Computertechnologie fanden in den
1960er-Jahren im Katasterwesen statt und auf das Jahr 1958 datieren
erste Experimente mit digitalen Höhenmodellen (DHM) am Massachusetts
Institute of Technology. Es begann ein langer Entwicklungsprozess, in
53
Legende Legende Legende Legende Legende Legende
54
dessen Zug nicht nur die Vermessung digitalisiert wurde, sondern insbesondere auch die Kartengrafik bildschirmfähig zubereitet werden musste.
Die ersten kommerziellen Geografischen Informationssysteme (GIS), die
in den 1980er-Jahren auf den Markt kamen, waren für Kartografen kaum
interessant, da sie grafisch wenig boten. Die Landestopografie beschaffte
sich stattdessen 1984 ein computergestütztes Grafiksystem, das ursprünglich für den Textildruck entwickelt worden war. Mit dieser Anlage führte
man ab 1988 einzelne Blätter der Landeskarte 1:25 000 nach. Ebenfalls
noch in den 1980er-Jahren wurden erste Versuche mit satellitengestützten
Positionierungssystemen (GPS) vorgenommen.
Erst in den 1990er-Jahren fanden die unterschiedlichen Computeranwendungen zusammen. Mit der Reform der amtlichen Vermessung
wurde 1993 der numerische Kataster rechtsverbindlich. Papierauszüge
werden seither nur noch zu Anschauungszwecken gemacht. 1994 schloss
die Landestopografie die satellitengestützten Messungen an ihrem neuen
Referenznetz ab, das zur Basis einer ganzen Reihe von digitalen Produkten
wurde. Heute sind neben den guten alten Landkarten - deren analoge
Nachführung 2001 eingestellt wurde – auch digitale Höhenmodelle
sowie vektorbasierte Datenbanken über die Landschaftsgestalt sowie
ein GPS-Positionierungsdienst mit Zentimetergenauigkeit im Angebot.
Die Zukunft der digitalen Kartografie liegt wohl bei Produkten wie dem
neuen Atlas der Schweiz, der 1999 als Gemeinschaftswerk des Instituts
für Kartografie der ETH Zürich, des Bundesamtes für Landestopografie
und des Bundesamtes für Statistik publiziert wurde. Der Trend geht weg
von fertigen Kartenwerken, immer mehr hin zu individuellen und personalisierten Auszügen aus einem allgemeinen Datensystem.
Die Benutzerinnen und Benutzer digitaler Karten können Ausschnitt,
Detailgrad und Karteninhalt nach Bedarf selber auslesen. Sie könnten
auch den Massstab 1:1 wählen, wenn sie genug Toner und Papier zur
Verfügung hätten. Die «grösste aller Ideen», die noch 1893 absurd schien,
hat sich realisiert. Die Karte ist freilich noch nie ausgefaltet worden, sondern bleibt auf elektronischen Datenträgern Platz sparend verstaut.
58
Die Schweizer sind ein Volk von Wanderern.
Das war nicht immer so. Die Begeisterung für
das zweckfreie Erleben der Natur entstand
aus der Schwärmerei einiger Engländer für
die Schweizer Landschaft. Es entspinnt sich
eine wechselvolle Geschichte, die verschiedene Schichten und Volksgruppen erfasst.
Von Hans Peter Treichler
Zwei Einheimische tragen eine ältere Touristin auf einer Sänfte, daneben eine
jüngere Begleiterin, Nähe Niederrickenbach NW. Fotografie, um 1895.
What a wanderful
way to see the world!
Eine sozialgeschichtliche Exkursion
W
enn ich diesen Beitrag mit einem Titel in nicht ganz korrektem
Englisch versehe, so hat das seinen tieferen Sinn. Zu den ersten
Fusstouristen im Alpenland gehörten Wanderer (jawohl: praktisch nur
Männer!) aus Übersee und den britischen Inseln. William Coxe schrieb
um 1800 seine dreibändigen Letters from Switzerland und rühmte darin
das Reisen zu Fuss. Lord Byron stapfte auf Bergpfaden durchs Berner
Oberland und liess im Versdrama Manfred einen wackeren Gemsjäger
auftreten, der sich prompt auf die Heldentaten Wilhelm Tells beruft. Und
eine viel zitierte Reisebeschreibung Mark Twains zeigt den Humoristen
und Autor des Tom Sawyer bei einem Fussmarsch auf den Rigi. Dabei
nehmen er und seine Kollegen sich während ausgiebigen Zwischenhalten
so viel Zeit für die anfänglich gut gefüllten Feldflaschen, dass der angeheuerte Bergführer säuerlich bemerkt, «eigentlich möchte er doch auf
dem Berg ankommen, solange er noch jung sei». Fusstouren sind etwas
für spleenige Angelsachsen, kein Zweifel; so erhält der junge Zürcher
Student Ernst Escher auf die begeisterten Briefe von seiner Wanderung
durchs Wallis eine «abkühlende Antwort» von zu Hause, «weil mein Vater
in solchen Touren unnütze Engländerei zu erblicken müssen glaubte».
Das war etwa 1830, und zu dieser Zeit war man in der Schweiz weder
naturliebender noch marschtüchtiger als anderswo. Das lustvolle und
59
Schulausflug von Innerschweizer Seminaristen auf die Gemmi; Fotografie, 1914
60
zweckfreie Erleben der Landschaft zu Fuss, die Wanderschaft als rundum
bereichernde und existenzielle Erfahrung: solche Ideale, solche unnütze
Engländerei wurde anderswo formuliert und verherrlicht, eben von britischen Romantikern wie Byron. Praktiziert wurde sie aber mit Vorliebe in der
Schweiz, diesem Land mit seiner Palette rasch wechselnder Landschaften,
seinem dichten Netz von alten Säumerpfaden und Alpwegen. Und mit
seinem Angebot an Maultiertreibern und Jungbauern, die schnell lernten,
dass ein paar Tage unterwegs als Führer schwärmender Naturfreunde
mehr einbrachten denn beim Einbringen von Wildheu. Ebenso schnell
lernten sie, dass die Schweiz, aller frühen Industrialisierung zum Trotz,
als urchig galt, als unberührt – und dass ein gelegentlicher Jutzer, eine
alte Trachtenjoppe bei den Fremden sehr gut rüberkamen, genau so wie
der Becher mit frischer Ziegenmilch, den man vor der knorrigen Berghütte
reichte.
Von der Landschau im Ancien Régime …
Dass die Schweiz heute mit ihrem ausgeschilderten Netz von 50 000
Kilometer Wanderwegen, ihren Hunderten von Herbergen und
Berghütten die Wandernation Nummer Eins der Welt geworden ist,
hat zum einen Teil mit dieser weitgehend importierten Verklärung von
Natur, Bergwelt und Unterwegssein zu tun. Auf hiesiger Seite entsprach
der Schwärmerei ein helvetischer Hang zum Augenschein vor Ort, zum
Sammeln von Eindrücken und Kenntnissen. Am bekanntesten unter den
frühen Wanderberichten: die «Vergnügte Schweizerreise», die der
Zürcher Vikar Hansrudolf Schinz im Jahr 1777 mit sieben Patriziersöhnen
der Stadt antrat – vielleicht das erste gut dokumentierte Wanderlager der
Geschichte. Was beim Reisen zu Fuss zählte (statt hoch zu Pferd oder in
der Kutsche), das war die Begegnung mit neuen Spezies, ob Menschen
oder Pflanzen, das waren die Erkenntnisschnipsel rund um den Landbau
und die Landessitte, die man später vielleicht als Pfarrherr oder Landvogt
nutzbringend anwenden konnte.
Dass in Bern in eben diesem Jahr 1777 eine «kurze Anleitung» im Druck
erschien, ist sicher kein Zufall. Hier bot ein Verleger Wagner zahlreiche
Tips für die Fusssreise durch die «merkwürdigsten Alpgegenden» rund um
Lauterbrunnen und Grindelwald an. Gerichtet war die Broschüre an auswärtige Reisende und an die jungen Herren des Ancien Régime, die sich
anschickten, die Bewohner ihrer Untertanengebiete ins Auge zu fassen.
Dringend ans Herz gelegt wurden diese frühen Wanderern eisenbeschlagene Bergstöcke und Nagelschuhe, zudem forderte die «Anleitung» unbedingt Fusseisen für eisige Stellen und Lederstrümpfe zum Schutz gegen
Insekten.
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… zum republikanischen Empfinden der Berge
Aber den mit Eisen und Leder bewehrten Gnädigen Herren blieben für ihre
gutgemeinten Wanderungen kaum zwanzig Jahre. Nach dem Einmarsch
französischer Truppen in die Eidgenossenschaft (1798), nach dem Sturz
des Ancien Régime und der Ausrufung der Republik kamen die Impulse
vorerst wieder von aussen. Beispielsweise vom dänischen Modedichter
Jens Baggesen, der in einer äusserst sentimentalen Verserzählung die
«Wallfahrt» oder «Lustfahrt» oder «Bergreise» dreier junger Bernerinnen
schildert (noch bleibt die Wortwahl etwas unklar). Die neun Gesänge von
Baggesens Parthenaïs erschienen 1803 und wurden eine Art Trendbuch,
das noch etwas zaghaft die neue Vokabel ausprobierte: Wandern, die
Wanderung.
«Nur ein Spiel war bisher die Wand’rung, / nur ein Spaziergang», warnt
im zweiten Gesang der Führer des Trios, der den etwas albernen Namen
Nordfrank trägt. Denn die drei Holden haben zu diesem Zeitpunkt den
Aufstieg von Lauterbrunnen nach Wengen vor sich. Zum «Körbchen mit
Brod» und zum «binsenumflochtenen Fläschchen mit Kirsch», die als
Proviant dienen, werden jetzt «unter die Schuh‘ ankrampende Sohlen»
gebunden. «Rings die Gewand aufschürzend, dass nicht solche sie hindre
im Gang», nehmen sie den Aufstieg unter die Füsse. Ihr Ziel: der Fuss der
Jungfrau, wo sie nach manchen Zwischenfällen ankommen und wo der
wackere Führer sich unter freiem Himmel mit einer der Töchter verlobt.
So gezwungen heute die Verse dieses Werkleins anmuten – sie gehören zu den frühen Auslösern der Wanderlust, die alle in den gleichen
Zeitraum fallen. Die Unspunnenfeste von 1805 und 1808 brachten dichtende und schwärmende Wanderer ins Land, unter ihnen den Bühnenautor
Zacharias Werner, der sich auf einer Fussreise über die Gemmi zum
Schicksalsdrama «Der 24. Februar» inspirieren liess. Zeitgleich erschien
Josef Weigls Oper «Die Schweizerfamilie», und auch hier wurde geschwärmt von der zeitlosen Schönheit der Bergwelt. Und 1807 publizierte der Zürcher Heinrich Keller sein Rigi-Panorama samt Beschreibung:
zum erstenmal erschien eine Monographie, die ein zentral gelegenes
Wandergebiet erschloss. Der Mann, von dem man sich staunend erzählte, er habe den Berg 32mal erstiegen, trug massgeblich dazu bei,
dass hier kurz später ein Berggasthaus eröffnet wurde. «Naturfreunde
im ganzen Land» hatten für das einfache Holzchalet Beitragszahlungen
geleistet. 1816 kam man auf etwa 300 Gäste im Jahr, zehn Jahre später
bereits auf 1500. Die Rigi wurde zum Herz des Schweizer Wanderlands,
und Meyers 32 Besteigungen lösten bald nur noch ein Achselzucken aus.
Berufsmässige Rigiträger, die wanderunwillige Damen und Herren per
Sänfte auf den Gipfel hievten, übertrafen seinen Rekord innert weniger
Jahre.
Ob hochgestemmt oder auf eigenen Füssen aufgestiegen – wer oben war,
durfte auf keinen Fall den Sonnenaufgang versäumen. Besucher brachen,
je nach Temperament, in Verzückung, Bewunderung oder Rührung aus
und bestätigten im Gästebuch, dass sie ihren empfindsamen Tribut geleistet hatten. Witzelte der Winterthurer Ulrich Hegner («Die Molkenkur»,
1812): «Empfindet man denn die Berge? Ja freilich, mein lieber Freund,
heutzutage muss das sein.»
Beruf Wanderführer
Die tiefgefühlte Bewegung vor einer hehren Landschaft: sie war in diesem
Zeitalter der Empfindsamkeit die Trophäe, die den Fusssreisenden belohnte. Rigi-Promoter Keller, der Zeichner und Kupferstecher war, brachte
1813 zudem erstmals eine handliche «Reisekarte der Schweiz» heraus
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Sonnenuntergang auf Rigi-Kulm, Holzstich nach einer Zeichnung von Gustave Roux, 1876
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– auch dies ein Stichdatum, im wahren Sinn des Worts. Wanderer fanden
sich nun ohne Führer zurecht, selbst wenn (und dies bis zum Ende des
Jahrhunderts) sehr oft in geführten Gruppen gewandert wurde, in der
Art heutiger Trecks: ein oder mehrere Führer, ein Maulesel für Gepäck
und Proviant. Nicht selten auch ein Char-à-banc, ein pferdegezogenes,
schmales Gefährt mit einer einzigen Längsbank. Schopenhauer (er war
als junger Mann in der Schweiz unterwegs) kam zu Fuss schneller vorwärts als «in diesem Rüttelding». Da die Sitzbank nur den Blick in eine
Richtung erlaubte, hatte der Fusswanderer die unvergleichlich bessere
Aussicht. Manche Fuhrhalter bestraften knickrige oder meckernde Gäste,
indem sie die bezahlte Fahrt, beispielsweise rund um den Thunersee,
zwar absolvierten – aber in die falsche Richtung. So dass ihre sitzenden
Gäste während Stunden auf düstere Hanglandschaften starrten, statt sich
an der Fernsicht über See und Bergketten zu erfreuen …
Der Erfolgsdramatiker Werner beklagte sich, er habe einen «nicht führen
könnenden, groben und eigensinnigen Führer» erwischt, der ihm höchstens Material für eine zukünftige Komödie liefere. Dabei unterschätzte
er, dass die nach Tag oder Woche bezahlten einheimischen Guides oft
zwischen den Mentalitäten vermittelten, dass sie die meist völlig overdressed anreisenden Wanderer vor Spott und Nepp schützten oder
den Einheimischen erklärten, weshalb sich der Fremde mit Klappsitz und
Zeichenblock gerade vor diesem unscheinbaren Hüttchen niederlasse.
Noch siebzig Jahre später musste Friedrich Nietzsches Hauswirt eine
solche Pufferfunktion übernehmen, wenn er den Philosophen auf seinen
tagelangen Wanderungen rund um Sils-Maria begleitete. Dieser Mann
namens Durisch, immerhin Präsident seiner Gemeinde, hörte sich stoisch
die stundenlangen Selbstgespräche und wilden improvisierten Gesänge
seines Gasts an. Während Nietzsche seine ersten «Zarathustra»-Notizen
genialisch mit «6000 Fuss jenseits von Mensch und Zeit» datierte, atmete
Durisch jedesmal auf, wenn er den seltsamen Fremden unbeschadet an
spottenden Hirtenbuben vorbei nachhause gelotst hatte.
Kritiker …
Führer schützten Wandersleute zudem vor Gefahren – eingebildeten oder
realen. Schopenhauer berichtet schaudernd vom jungen Wanderer, der
bei Chamonix trotz aller Warnungen des Guides den Gletscherweg verliess und in eine Gletscherspalte stürzte, «aus der er todt herausgezogen
wurde, mit zerrissenen Nägeln – ein Beweis, dass er nicht sogleich gestorben». Führer standen, ob am Rigi oder am Weissenstein, mit ihrem
Maultier bereit, um dem Gast einen unbeschwerten Aufstieg zu gewähr-
leisten und im richtigen Moment den Regenschirm hervorzuholen. Denn
der kundige Wanderer achtete darauf, «dass er nicht in Schweiss gerathe
und dann auf der Höhe in einem schneidenden Windzug zu erkälten
sich Gefahr laufe. Man nehme ferner immer den Regenschirm mit, der
bald gegen die Sonne, bald gegen den Luftzug, bald gegen den Regen
schützen kann.»
Das ist Originalton aus dem mehrhundertseitigen schweizerischen
Gasthaus- und Kurortführer eines Dr. Meyer-Ahrens, 1860 erschienen.
Der Autor war Mediziner und hatte nicht viel übrig für die überhandnehmende Sitte des Reisens zu Fuss. Nicht nur, dass dergleichen Exkursionen
den Wanderer in Schweiss geraten liessen und ihn direkt der Sonne aus-
Seilschaft mit Wanderern und Trägern (Maultieren); endlose Kolonne;
Tourismussatire, Zeichnung, 1870.
setzten; auf Anhöhen wie etwa dem Weissenstein drohten zudem das
Bergfieber und Schwindelanfälle. Weshalb sich die nötige Bewegung – so
Doktor Meyer – nicht im schattigen Hotelpark verschaffen? Oder auf den
gedeckten Wandelbahnen, welche die einzelnen Hoteltrakte miteinander
verbanden? Wer unbedingt rustikale Eindrücke sammeln wollte, brauchte
sich die Füsse ja nicht einmal in einem widerlichen Alpstall zu beschmutzen. Kurstätten wie Heinrichsbad oder Rosengarten im Säntisgebiet, darauf weist Meyers Kurortverzeichnis ausdrücklich hin, boten «Zimmer zum
Einathmen von Kuhstalluft» an. Hier stellte die Direktion Fässer mit Jauche
und Kuhmist in einem Anbau bereit; diese Gerüche, «dosiert eingeathmet», stärkten das Nervensystem.
… und Enthusiasten
Hier klingen unüberhörbar Vater Eschers Vorbehalte gegen die «unnütze Engländerei» der Fusstouren an. Offenbar hatte Meyer-Ahrens
noch nichts gehört von den Voyages en zic-zac, den populären
Reiseberichten Rodolphe Toepffers. Der 1799 geborene Genfer Autor
und Zeichner im Stil eines Wilhelm Busch schildert darin humorvoll und
gelassen die Wanderungen, die er mit seiner Frau zusammen während
Jahrzehnten unternimmt. Toepffers «Wanderung nach Schwyz» aus dem
Jahre 1838 klingt auch für heutige Ohren sympathisch und einleuchtend: «Gut ist es, auf die Reise ausser dem Rucksack noch eine rechte
Portion Mut, Entschlossenheit, Heiterkeit und gute Laune mitzunehmen,
für sein Vergnügen nicht auf die Sehenswürdigkeiten der Städte und die
Wunder der Landschaft zu rechnen, sondern auf sich selbst und auf seine
Kameraden.» Nur der Wanderer, meint Toepffer, ist unter den Reisenden
wirklich selbständig. «Es ist gut, alles mit sich zu führen: den Sack auf
dem Buckel, damit man nichts aufgeben und vorausschicken muss, und
die eigenen Beine, damit man den Fuhrmann nicht braucht.» Wer mit
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Terrasse vor Berghotel Faulhorn mit Touristen (Feldstecher, Sonnenschirm etc.)
Stich s/w als Repro, um 1880.
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der Kutsche durchs Land reist, verpasst das meiste: «Ach ihr, die ihr im
Wagen reist! Ich wollte, das euch zu eurem eigenen Besten ein Rad am
Wagen bricht! Dann ruft ihr vielleicht wütend aus: Gehen wir zu Fuss! Ihr
lasst euren Koffer da, nehmt eure Börse, etwas Wäsche und die Landkarte
und steht mit einem oder zwei Freunden auf der Landstrasse, sucht den
Schatten eines Baumes auf und stellt die Reiseroute fest. Und schon geht
euch ein Licht auf, ihr betrachtet eure Umgebung mit neuem Interesse, die
Orte und Dörfer der Landschaft nehmen Gestalt an! »
Die Lust an der Langsamkeit im Industriezeitalter
Veränderte sich um die Mitte des vorigen Jahrhunderts der Blick auf die
Landschaft? Spielte der Kontrast zwischen den Geschwindigkeiten eine
Rolle? Bezeichnenderweise begann sich das Wandern in dem Masse
durchzusetzen, als die Schweiz ihr Verkehrsnetz ausbaute: Erst wer mit
der Eilpost oder dem Dampfzug durch die Landschaft brauste, realisierte,
wie viel deutlicher die Dinge im Sinne Toepffers «Gestalt annahmen»,
wenn man zu Fuss ging. Entsprechend bauten denn auch die ersten organisierten Cook-Reisen immer wieder einen Wandertag ein, und dieser
blieb den Teilnehmenden oft als stärkster Eindruck ihrer Reise.
Solche Zufalls- oder Eintagswanderer brachte die Eisenbahn in immer
grösseren Mengen, als die Stammlinien Genfersee-Bodensee und BaselLuzern erst einmal fertig erstellt waren (1863). Dem passte sich auch die
Einwohnerschaft an. Entlang den populärsten Fusswegen postierten sich
im Sommer Alphornbläser und Spitzenklöpplerinnen; im Engelbergertal
gab es eine Hütte, wo das aus unzähligen Radierungen vertraute
Ausschenken eines Glas Milchs an den fremden Wandersmann regelrecht
inszeniert wurde. Das bescheidene Gasthaus auf der Rigi hatte sich zum
Grandhotel gemausert; als Gustave Flaubert völlig durchgeschwitzt ein-
traf, fragte er sich verdutzt, was denn eigentlich Kellner mit Frack, Weste
und Manschetten hier oben verloren hätten: «Da sie sehr zahlreich sind,
hat man den Eindruck, als würde man von einem Volk der Notare oder
von den zahlreichen Gästen einer Beerdigung bedient». Die Inszenierung
schien ihm so peinlich, dass er versucht war, «drei Kälber zu umarmen,
die ich auf einer Alm sah».
Das Wa-ah-ah-andern
Als Schulbub rätselte ich eine ganze Singstunde lang über die Liedzeile
«Wer wollte aber singen, / wenn wir schon Grillen fingen?»; da die
besungene Wandergruppe bereits «im Frühtau zu Berge» aufgebrochen
war, hatte sie offenbar schon zeitig mit dem Grillenfangen begonnen.
70
Aber wozu, weshalb? Schliesslich dämmerte mir, die Sache müsse mit
den in der gleichen Strophe zitierten misstrauischen Alten zu tun haben.
Tatsächlich lief sie etwa auf folgendes Argument hinaus: Wenn wir jungen Wandersleute uns auch schon mit närrischem Kleinkram abgäben, so
wie ihr (Grillenfangen!), würde überhaupt niemand mehr singen.
Vor lauter Verwirrtheit übersah ich damals das eigentliche Paradox dieser
«Frühtau»-Lieder: Weshalb sollte eine Gruppe wandernder Naturfreunde
überhaupt einen Gesang anstimmen, der wiederum von den Freuden der
Fussreise handelte, also gleichsam die Gebrauchsanweisung für etwas
darstellte, das man ohnehin tat? Was bedeutete es, wenn verschwitzte
Pfadfinder, am Lagerfeuer singend, sich gegenseitig versicherten: «Wir
wollen zu Land ausfahren» … «Auf, du junger Wandersmann»? Tatsächlich
stellten (und stellen) Fahrten- und Wanderlieder einen ungeheuren
Propagandaschub für die Sache dar – und dies vor allem im deutschsprachigen Bereich. Seit Wilhelm Müllers «Gedichten aus den Papieren eines
reisenden Waldhornisten», seit Schuberts Vertonungen seiner «Schönen
Müllerin», des «Lindenbaums», seit den ersten Chorsätzen für «Das
Wandern ist des Müllers Lust» ist die spätromantische Verherrlichung
des Fremd- und Unterwegsseins zum allgemeinen Kulturgut geworden.
Wanderlieder steuerte auch Eichendorffs «Taugenichts» bei (1826); und
wie bei Müllers neckischem Waldhornisten spielt auch hier die Leitfigur
des wandernden Musikanten die Hauptrolle - als Gegenpol zum prosaischen Bürger oder Bauer.
Wandervögel: Mit Hesse gegen den bürgerlichen Mief
Es war dieser Gegensatz zwischen weltoffener Freiheit und dem
auf Besitzmehrung erpichten Bürgertum, die selbst einen behäbigen
Villenbewohner wie Conrad Ferdinand Meyer dazu verleitete, sich selbst
als «Pilgerim und Wandersmann» zu stilisieren. Zu Beginn des neuen
Jahrhunderts berief sich auch die Wandervogel-Bewegung auf solch
malerische Leitbilder wie den mittelalterlichen Pilger, den Landsknecht
und den fahrenden Scholaren oder Handwerksburschen. 1901 in einem
Berliner Vorort begründet, hatte diese jugendliche Protestbewegung schon
zehn Jahre später ihre ersten Ableger in der Schweiz: Gymnasiasten und
Seminaristinnen, Lehrtöchter und junge Angestellte. Wandern galt als
Protest gegen die Enge der Städte, gegen das Mittelmass des Bürgertums.
«Der Wandervogel ist die Empörung», hiess es 1911 im schweizerischen
Vereinsorgan, «die Auflehnung, der wilde Aufrausch der reinen Kräfte
der Jugend gegenüber dem in Versachlichung und Mechanisierung erstarrten bügrerlichen Leben.» Eine «Landsgemeinde» des gleichen Jahres
auf der Zürichseeinsel Lützelau sollte die deutsche und schweizerische
Anhängerschaft zu einem «Süddeutschen Gau» vereinigen. Das Vorhaben
scheiterte indes, da die Schweizer die Unterteilung in Burschen- und
Mädchengruppen ablehnten und auch die persönliche Verpflichtung zur
Alkoholabstinenz nicht unterzeichnen mochten.
Kurz vor dem Ersten Weltkrieg erreichte der Schweizer Wandervogel
mit mehreren hundert Mitgliedern seine grösste Bedeutung. Gemeinsame
Wanderungen hiessen «Fahrten», man übernachtete im Heu, feierte
alte Bräuche wie die Sommersonnenwende und den Maibaum, sang
am Lagerfeuer die alten Volkslieder aus dem «Zupfgeigenhansl» oder
aus Otto Greyerz‘ «Röseligarten». Lieblingslektüre waren die Gedichte
Hermann Hesses und Hesse-Novellen wie «Knulp» oder «Unterm Rad».
Auch wenn die spätromantische Verherrlichung des Unbehaustseins zum
geregelten Alltag der meisten Mitglieder in krassem Gegensatz stand,
wirkte sich die liebenswürdige Bewegung indirekt weiter aus: Zahlreiche
Mitglieder trugen später als Lehrer und Lehrerinnen die Ideale der
Naturnähe und Wanderlust «ins Volk».
71
Und mit ihrem scherenschnittartigen Signet (Waldhaus und Tanne) erinnert noch heute die Jugendherberge-Bewegung, ebenfalls um 1900
begründet, an die Wandervogel-Ästhetik. Überhaupt brachte das erste
Jahrhundertdrittel eine ganze Reihe von Zusammenschlüssen, die im
Wandern und in der Begegnung mit der Natur ein Gegengewicht gegen
Industrialisierung und Vermassung sahen, etwa die Pfadfinderbewegung
oder die der SP nahestehende «Freie Jugend». 1905 im verrauchten
Restaurant «Schlauch» des Zürcher Niederdorfs gegründet, setzte sich
auch der «Touristen-Verein Naturfreunde» das Ziel, die Arbeiterschaft
«dem Einerlei des Alltags, der dumpfen Luft der Werkstatt oder Fabrik,
der trägen Atmosphäre der Stadt für kurze Zeit zu entrücken.» Vom
Wandern als Instrument des Klassenkampfs zeugt das Gründungsmotto:
Einheimische Trägerin trägt englischen Wanderer Huckepack über einen Bach.
Tourismussatire, Karikatur um 1860.
«Die Ketten entzwei, zu den Bergen empor / Dort öffnet dem Aug sich
das Weltentor.» Als Stützpunkte der Bewegung entstanden in Fronarbeit
erbaute Unterkünfte. Bis heute sind daraus rund 100 Naturfreunde-Hütten
geworden; an die Gründungsideale erinnert beispielsweise das Motto
unter dem Panorama des Passwanghauses bei Laufen: «Frei wollen wir
sein wie die Berge, frei soll die Arbeit werden!»
Wandern als Volksbewegung
Als ich vor einigen Jahren im Auftrag eines Westschweizer Verlags rund
um die Schweiz wanderte, wurde mir erstmals lebhaft bewusst, wie leicht
es Wanderfreunde hierzulande haben. Das im Entstehen begriffene Buch
handelte von den Grenzen und Grenzlandschaften der Schweiz, aber
wenn mich meine Route – ob im Jura, Wallis oder Tessin – ins benachbarte Ausland führte, harzte es mit dem Vorwärtskommen: ich landete in
Sackgassen, geriet auf privates Terrain, musste vor einem Zaun umdrehen.
In der Schweiz hatte ich die Landkarte nur gelegentlich konsultiert und
mich an die gelb oder rotweiss beschilderten Routen gehalten. Jenseits
der Grenze fühlte ich mich im Stich gelassen. Durchgehend markierte
Wege waren selten; manche endeten im Nirgendwo, andere auf geteerten Strassen mit regem motorisiertem Verkehr. Fragte ich Einheimische um
Auskunft, erntete ich skeptische Blicke: Männer mit Rucksack und festen
Schuhen ordnete man hier offensichtlich dem Schmugglergewerbe zu. Und
Wegweiser waren eine Sache, welche die ältere Generation auf diffuse
Weise mit den durchlittenen Weltkriegen verband – sie zeigten auch dem
Gegner die richtige Route. Über Entstehung und Ausweitung des Netzes
schweizerischer Wanderwege wird in diesem Band an anderer Stelle
berichtet. In gewisser Weise verkörpern seine nach Hunderttausenden
zählenden gelben Pfeile, die Markierungen an Baumstämmen und
Felswänden, aber auch die Raststätten, Feuerstellen und Ruhebänke die
73
Kinder einer Schulklasse mit Lehrer auf einer Wanderung, in Sonntagskleidung, in den
Händen mit Sträussen geschmückte Wanderstäbe («Maienstöcke»). Fotografie, um 1900.
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Botschaft der Wandervögel: Es gibt eine Welt ausserhalb der Städte und
Fabriken, und hier zählen andere Werte als Bilanzen und Jahresberichte.
Gegründet wurde die bundesweite Arbeitsgemeinschaft für Wanderwege
im Jahr 1934, aber bezeichnenderweise erhielt die Bewegung in den
1960er Jahren neuen Auftrieb. Die unzähligen Wanderbücher und –karten, die neu konzipierten Fernwanderwege, die seither entstanden, bilden
die direkte Antwort auf das Autobahnnetz, das innert einer Generation
das Land mit Betonbändern überzog. Der motorisierte Verkehr verleugnet
die Distanzen und lässt das Verhältnis von Raum und Zeit kippen. Wer
zu Fuss reist, stellt die Relationen wieder her, stellt die Tiefenschärfe neu
ein. Oder, um es mit dem liebenswürdigen Rodolphe Toepffer zu sagen:
«Und schon geht euch ein Licht auf, ihr betrachtet eure Umgebung mit
neuem Interesse.»
Stichdaten zur Schweizer Wandergeschichte
1730:
Das in ganz Europa erfolgreiche Lehrgedicht «Die Alpen» des Berners Albrecht
von Haller preist Schönheit und Unverdorbenheit der Schweizer Berge. Es löst
eine Welle der Schweiz-Begeisterung aus.
1773:
Vikar Schinz reist mit sieben Zürcher Bürgersöhnen zu Fuss durch die
Schweiz.
1777:
In Bern erscheint eine «kurze Anleitung» für Fussreisen «durch die merkwürdigsten Alpgegenden».
1793:
Ein Reiseführer Johann Gottfried Ebels gibt zahlreiche Tipps für Fusswanderer
in der Schweiz (mehrere Neuauflagen).
1803:
Jens Baggesens romantisches Versepos «Parthenäis» schildert eine
Fusswanderung zur Jungfrau.
1805/08:
Unspunnenfeste bringen zahlreiche auswärtige Reisende
ins Berner Oberland.
1807:
Heinrich Kellers Panoramen machen die Rigi bekannt.
1813:
Erste gedruckte Reisekarte der Schweiz erscheint.
1816:
Gasthaus auf dem Rigi eröffnet, Byrons Manfred schildert Berner Alpen.
1826:
Eichendorffs «Taugenichts»-Novelle popularisiert die Figur des
romantischen Wanderers.
ab 1838:
Der Genfer Rodolphe Toepffer veröffentlicht populäre illustrierte Berichte von
Fusswanderungen durch die Schweiz.
1863:
Erste Berghütte des Schweizer Alpen-Clubs.
1880:
Der Zürcher Fabrikant Adolf Guyer-Zeller lässt ein Wanderwegnetz im Tösstal
errichten.
1905:
Schweizer «Wandervogel»-Vereinigung und «Touristen-Verein Naturfreunde»
begründet; erste Jugendherbergen.
um 1920:
Hermann Hesses Novellen «Knulp» und «Wanderung» inspirieren die
Wandervögel.
1934:
Bundesweite Arbeitsgemeinschaft für Wanderwege begründet.
1982:
Die Schweizer Verkehrszentrale schreibt einen Wettbewerb für neue Songs und
Chansons zum Thema Wandern aus. Sie propagiert erste Fernwanderwege
Bodensee-Genfersee.
78
Weg-Menschen
Fünf Porträts von Susanne Wagner (Text) und Jürg Waldmeier (Bilder)
Fredy Lienhard
Betriebsleiter des ETH-Lehr- und Forschungwaldes
Die Mittagsstunden des 26. Dezembers 1999 wird Fredy Lienhard niemals vergessen. Es war der Tag, an dem der Sturm «Lothar» mit bis zu
241 Kilometern pro Stunde über die Schweiz brauste und verheerende
Schäden anrichtete. Auch im Wald am Üetliberg, den Lienhard in- und
auswendig kennt, lagen die entwurzelten Bäume herum, wie wenn ein
Riese mit ihnen Mikado gespielt hätte. «Es war plötzlich schwierig,
mich im Gelände zu orientieren», erklärt der Betriebsleiter des Lehr- und
Forschungswaldes der ETH Zürich. Es tat ihm weh zu sehen, wie langjährige Aufforstungsarbeit über Menschengenerationen mit einer Sturmböe
vernichtet worden war. Als auch noch der Holzpreis um 50 Prozent einbrach, wusste Fredy Lienhard, dass er sich etwas einfallen lassen musste,
um den 400 Hektaren grossen Wald weiter finanziell selbsttragend zu
bewirtschaften.
Auf einem Helikopterflug am Dreikönigstag sah er jedoch, wieviel vom
Wald trotz Lothar stehengeblieben war. Es war ein Schlüsselerlebnis: «Ich
realisierte, dass man die gewohnte Sichtweise verlassen und das Visier
öffnen muss, um zu einem Ziel zu kommen.» Diese veränderte Perspektive
führte ihn gedanklich nach Kalifornien, wo er auf einer Ferienreise
das erste Mal dem «Sequiadendron giganteum» begegnet war. Dem
Mammutbaum, der Tausende von Jahre alt werden, eine Höhe von 90
Metern und ein Durchmesser von von bis zu zwölf Metern erreichen kann.
Dieser faszinierende Baum schien Fredy Lienhard genau das Richtige, um
die baumlose Fläche bei Ringlikon wieder zu beleben.
«Mammutbäume symbolisieren Kraft und Nachhaltigkeit. Sie sind als
Sturmbrecher bekannt, weil sie sehr widerstandsfähig sind. Und ausserdem sind sie wunderschön», schwärmt Fredy Lienhard. Diese Begeisterung
half ihm, bei Industrie und Wirtschaft anzuklopfen und Unterstützung für
sein Projekt zu finden: eine Allee von 72 Mammutbäumen am Üetliberg,
die 2002 tatsächlich angelegt wurde. Zur Zeit machen die zwei Meter
hohen Mammutbäume ihrem Namen noch keine Ehre – es sind eher
Mammutbabys, welche die Allee säumen. Dabei sind sie bereits zehn
Jahre alt. Bei einem durchschnittlichen Wachstum von 70 Zentimetern
pro Jahr wird es noch Jahrzehnte dauern, bis sie eine stattliche Höhe
erreicht haben: Im Jahre 3500 sollen sie über 70 Meter hoch sein. Findet
es Fredy Lienhard aber nicht schade, dass er die volle Höhe der Bäume
nie erleben wird? «Es gehört zur Arbeit eines Försters, dass man für die
nächsten Förstergenerationen plant und arbeitet», räumt er ein. Und er
werde das Wachstum der Bäume verfolgen – so lange, wie er könne.
Seit die Allee von 350 m Länge steht, hat er nur positive Reaktionen aus
der Bevölkerung erhalten. Das Argument, es sei ein «fremder» Baum, der
nicht in die Schweiz gehört, kann er jedoch zurückweisen: Mammutbäume
waren vor der letzten Eiszeit auch bei uns heimisch. Neue Wege geht
Fredy Lienhard auch bei seiner Arbeit als Betriebsleiter. Hin und wieder
führt er Seminare durch, in denen ganze Firmenbelegschaften miteinander Wege bauen oder Bäume pflanzen, um den Teamgeist zu stärken.
Auch Fredy Lienhard schätzt das Zusammenspiel von administrativer und
praktischer Arbeit. Doch ursprünglich war es der Draht zur Natur, den
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Fredy Lienhard kann sich an Bäumen nie satt sehen.
Fredy Lienhard auf den Weg zum Försterberuf gebracht hat. Noch heute
schätzt er es, die Hälfte der Arbeitszeit draussen im Wald zu verbringen: bei Exkursionen, Besprechungen oder Arbeitsanweisungen. Auch
im Büro im Forsthaus Uitikon-Waldegg hat er den Wald stets vor Augen.
Wie sieht es aber in der Freizeit von Fredy Lienhard aus? Hat er nicht
einmal genug vom Wald? Fredy Lienhard winkt ab: Er könne sich an
Bäumen nie satt sehen. Trotzdem meidet er den Wald beispielsweise
an Wochenenden, wenn zig-Tausende von Städtern auf die Waldwege
des Üetlibergs ausschwärmen. Dann reist er lieber in die Wälder des
Reppischtal oder des Berner Oberlandes und pflegt dort seine Hobbys
im sportlichen Bereich.
Heinz P. Binder
Geschäftsführer und technischer Leiter des
Vereins Zürcher Wanderwege ZAW
Nicht immer war das Wandern eine Lust für Heinz P. Binder. Als Kind
waren ihm die sonntäglichen Wanderausflüge, die für ihn zu seiner leisen Enttäuschung oft nur in die nahe Umgebung führten, manchmal zu
eintönig. Viel mehr Spass bereiteten ihm hingegen die Wanderungen
einer Jugendgruppe, mit der er als junger Bursche durch Wälder und
Landschaft streifte. Damals hätte er wohl nie im Traum daran gedacht,
dass er eines Tages selber für die gelben Wegweiser verantwortlich sein
würde, die ihm von Kindheit an auf jeder Wanderung begegnet waren.
Heute wandert Heinz P. Binder immer noch aus Vergnügen – wobei er
für seine Wanderausflüge oder Wanderferien auch andere Kantone oder
das Ausland bevorzugt.
«Ich kann es nicht lassen, selbst in der Freizeit Wegweisertafeln und
Wege genau anzuschauen und zu vergleichen. Gemessen am Ausland
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Heinz P. Binder, Herr über 2700 Kilometer Wanderwege.
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schneidet die Schweiz punkto einheitliche Markierung sehr gut ab», erklärt Heinz P. Binder. Seit gut neun Jahren arbeitet der Kulturingenieur
als technischer Leiter und seit vier Jahren zudem als Geschäftsführer der
Zürcher Wanderwege ZAW; er ist deshalb mit dem 2700 Kilometer
langen Wanderwegnetz des Kantons Zürich bestens vertraut. Obwohl
die administrative Arbeit einen grossen Teil des Arbeitstages verschlingt,
bleibt ihm noch Zeit, um selbst ins Gelände zu gehen. Beispielsweise um
mit Mitarbeitern des kantonalen Tiefbauamtes Wanderwege zu besichtigen, die saniert werden müssen. Doch einer alleine könnte die Übersicht
über die 7 000 bis 8 000 Tafeln gar nicht behalten. Deshalb sind über
200 ehrenamtliche Kreisleiter und Ortsmitarbeiter für die Kontrollen der
Tafeln und Wege zuständig. Denn die postautogelben Schilder, die uns
bei jeder Wanderung immer so sauber entgegenstrahlen, müssen regelmässig gepflegt, unterhalten und gereinigt werden. Dies kann unterschiedlichen Aufwand bedeuten: Wegweiser am Waldrand sind tendenziell
häufiger von Moos befallen, andere werden von Vandalen verschmiert
oder sind von der jahrelangen Sonneneinstrahlung ausgebleicht. Hin und
wieder macht Heinz P. Binder selber eine Stichprobe und schaut nach,
ob in einem Gebiet alles in Ordnung ist: Manchmal ist eine Brücke sanierungsbedürftig oder es fehlt eine Zwischenmarkierung.
Was sind nun aber die Kriterien für einen idealen Wanderweg? Heinz
P. Binder: «Ein Wanderweg soll ausserhalb des Siedlungsraumes nicht
geteert sein, die Wanderer müssen vor Gefahren wie etwa dem fahrenden Verkehr sicher sein, und der Weg soll möglichst an attraktiven
Orten vorbeiführen. Das kann ein See, eine schöne Aussicht oder eine
schmucke alte Häuserzeile sein.» Natürlich entspreche nicht jeder Weg
diesen Ansprüchen. Aber die ZAW gebe sich Mühe, dass auch bei monotonen Abschnitten hin und wieder etwas Schönes zu sehen sei. Aus
diesem Grund werden pro Jahr ein paar Dutzend Wegabschnitte total
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verlegt. Beispielsweise wenn ein Weg plötzlich durch ein neu entstandenes Wohnquartier führt.
Es bleibt die Frage nach den Zeitangaben auf den Wegweisern. Wohl so
manchem Wanderer, so mancher Wandererin sind sie schon zu kurz oder
zu lang erschienen. Heinz P. Binder lächelt – er weiss, dass die Angabe
der Wanderzeit individuell wahrgenommen wird. «Grundsätzlich sind die
Zeiten so angegeben, dass ein beschauliches Wandern möglich ist und
die Wanderer den Anschluss an Bus und Bahn besser planen können.
Im horizontalen Gelände gehen wir von einer Wandergeschwindigkeit
von 4,2 Kilometern in der Stunde aus. Wir berücksichtigen damit auch
ältere Wanderer und Familien, die nicht gleich schnell sind wie die
Sportwanderer. Somit haben alle ein Erfolgserlebnis.»
Monika Melzer
Kundenberaterin bei Transa
«Am häufigsten fragen mich Schuhkunden, wie sie es vermeiden können, beim Wandern Blasen zu bekommen», erklärt Monika Melzer. Die
Kundenberaterin beim Travel-Outdoor-Geschäft Transa weiss nur zu gut,
wovon die Leute sprechen, wenn sie von Blasen an den Füssen reden
oder davon, körperlich total an die Grenzen zu kommen. Denn sie war
früher jedes Wochenende in den Bergen unterwegs: auf Klettertouren,
Wanderungen oder Schneeschuhwanderungen. Wenn es um den
Klettersport geht, kommt sie ins Schwärmen: «Am Klettern reizt es mich,
den Fels zu spüren, draussen zu sein. Der Bergwelt habe ich meine
allerschönsten Erlebnisse zu verdanken. Das Klettern gibt ein wunderbares Körpergefühl, jeder Muskel ist dabei nötig, und es schult den
Gleichgewichtssinn. Und manchmal musst du deine Grenzen akzeptieren
und umkehren, weil der Weg nicht machbar ist.»
Früher, als ihre heute dreijährige Tochter noch nicht auf der Welt war,
ging Monika Melzer auch oft auf Sport-Klettertouren, bei dem man sich
den schwierigsten Weg in der Wand heraussucht. Hatte sie es während solchen Touren niemals mit der Angst zu tun? «Doch, ich kenne
solche Situationen, in denen man überfordert ist. Der Kopf geht zu,
und die Muskeln sind wie gelähmt. Aber ein verantwortungsbewusster
Seilpartner oder Seilpartnerin – inzwischen klettern auch viele reine
Frauenseilschaften – wählt einen Weg, den man immer auch zurückgehen kann.» Heute bezeichnet sich Monika Melzer als Genussklettererin,
der es nichts ausmacht, unter ihrem eigentlichen Niveau zu klettern. Sie
geht gerne eine Woche lang bergsteigen, aber ebenso viel Spass macht
ihr eine leichte Wanderung im Toggenburg. Breit ist auch das Spektrum
der Kunden von Transa. Monika Melzer berät auch Senioren, die täglich
zwei Stunden mit ihrem Hund unterwegs sind, Stadtmenschen, die wasserfeste Schuhe für die Asphaltwanderung suchen, und junge Leute, die
es in ferne Länder zieht. Als besondere Herausforderung betrachtet es die
Kundenberaterin, wenn jemand einen «Wanderschuh für alle Fälle» sucht.
Wenn ein Schuh beispielsweise für eine Weltreise gekauft wird und wochenlange Regenfälle ebenso aushalten soll wie steinige Wanderwege
und heisse Temperaturen. «Multifunktionell sind gut gedämpfte, leichte
Trekkingschuhe mit trittsicherem Profil, die auch schlechtes Wetter aushalten», erklärt Monika Melzer, die sich wundert, dass manche Kunden
zehn Minuten vor Ladenschluss noch schnell einen Wanderschuh erstehen wollen: «Dafür soll man idealerweise eine bis zwei Stunden einplanen.» Monika Melzer schickt ihre Kunden mit den Probeschuhen treppauf,
treppab und rät ihnen, die Schuhe an der schrägen Bodenfläche auszuprobieren, mit dem Transa einen Steilhang simuliert. Weil sich unbequeme Stellen manchmal erst nach stundenlangem Wandern bemerkbar
machen, hat Monika Melzer einen weiteren Tipp auf Lager: «Es ist
sinnvoll, die Schuhe nach dem Kauf solange wie möglich zuhause in
der Wohnung zu tragen, die Treppe zum Keller hinauf- und hinunter zu
85
Monika Melzer, selbst Genussklettererin, schickt ihre Kundschaft auf den Steilhang.
steigen, damit man mögliche Druckstellen spürt. Die Kunden können die
Schuhe innert zehn Tagen umtauschen, falls sie nicht im Freien ausprobiert worden sind.»
Auch wenn Monika Melzer davon spricht, wie man sich beim Wandern
am besten kleidet, damit man nach dem Schwitzen nicht friert, klingt
es zu hundert Prozent authentisch, weil sie alles schon mal selber erlebt hat. «In die Welt des Kunden eintauchen», nennt sie die optimale
Kundenberatung. Sie schwört auf das Zwiebelprinzip, bei dem die Luft
zwischen die Schichten für Wärme sorgt. Und wie war das noch mal
mit den Blasen an den Füssen? Monika Melzer lächelt und verrät: «Der
Trick ist simpel: Mir helfen immer dünne Socken aus Polypropylen unter
den Wandersocken anziehen. Das verhindert die direkte Reibung auf
der Haut und hält diese durch die minimale Feuchtigkeitsaufnahme weitgehend trocken.»
Peter Lanz
Wegebauer und Wanderer aus Leidenschaft
Für Peter Lanz gibt es zwei Arten, zu wandern. Die eine ist das Wandern
in der Gruppe und die andere das Wandern mit sich selbst. Missen
möchte er keine dieser Varianten, denn beide bieten Vorzüge: «Wenn ich
mit einer Gruppe von Freunden wandern gehe, wählt immer wieder jemand anderer die Route aus. So lerne ich neue Wege und Landschaften
kennen. Alleine gehe ich gerne die Wege, die ich schon kenne.» Wenn
er ohne Menschenseele (höchstens mit seinem Hund) unterwegs ist, gehen
ihm in der ersten halben Stunde zahlreiche Gedanken durch den Kopf,
die ihn gerade beschäftigen. Doch je länger er wandert, desto weniger
denkt er. Auf die Frage, ob dieser Zustand meditativ sei, winkt er ab. Er
87
Peter Lanz, Wanderer aus Leidenschaft und Mitiniator des «Weg der Schweiz»
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drückt es lieber so aus: «Das Wandern lüftet den Geist. Wenn ich alleine wandere, konzentriere ich mich besser auf das Sehen, Riechen und
Hören.» Einsame Wanderungen verschaffen ihm auch die Möglichkeit,
inne zu halten, mitten im Gehen stehen zu bleiben und die Umgebung
zu betrachten. «Das muss nicht unbedingt an einem schönen Ort sein. Es
gibt überall Dinge, die sehenswert sind. Sei es ein mit Moos bewachsener
Stein oder ein bestimmter Lichteinfall durch die Bäume im Wald.»
Peter Lanz ist aber nicht nur als Privatmann ein Wanderer aus Leidenschaft,
der täglich mindestens zwei Stunden mit seinem Hund auf den Beinen
ist. Er ist auch Mitinitiator eines der bekanntesten Wanderwege unseres Landes. Der Weg der Schweiz wurde 1991 zum Jubiläum der
Eidgenossenschaft erstellt. Das Besondere dabei ist, dass jeder Kanton
für einen Teil des insgesamt 35 Kilometer langen Wanderweges rund um
einen Teil des Vierwaldstättersees verantwortlich war. Weil der Weg der
Schweiz der Bevölkerung gehören sollte, widmete man jedem Bewohner
und jeder Bewohnerin des Landes fünf Millimeter. Jeder Kanton hat einen
Weganteil, der sich nach der Anzahl Einwohner richtet.
Den gelernten Architekten Peter Lanz, der sich zuvor vor allem mit der
Gestaltung von Innenhöfen und Wohnstrassen einen Namen gemacht
hatte, reizte besonders die Vielseitigkeit der Aufgabe: «Teilweise übernahmen wir bestehende Wegstrecken, teilweise legten wir den Weg neu
an. Dazu gehörten auch kleine Felssprengungen, die Sanierung eines
Kanalisationsnetzes in einem Dorf, der Bau eines Treppenweges und
der Totalumbau eines alten Bunkers in ein Ferienlagerhaus.» Mittlerweile
haben unzählige Menschen das Zürcher Teilstück des Weges der Schweiz
bewandert, das von Seelisberg bis zum Dorf Bauen führt und prächtige
Aussichten bietet. Den gesamten Weg der Schweiz, der 35 Kilometer
lang ist, hat Peter Lanz schon einige Male bewandert. Heute ist er vorwie-
90
gend in seiner Wahlheimat Mallorca zu Fuss unterwegs, wo er mehrere
Monate im Jahr verbringt. Wenn er in der Schweiz ist, zieht es ihn hin
und wieder in die Gegend um Fischental, wo er vor neun Jahren den
Jubiläumsweg der Zürcher Kantonalbank anlegte und unter anderem mit
Hilfe von Banklehrlingen eine Holzbrücke über den Weissenbach baute.
Als junger Mann wanderte er einmal mit zwei Kameraden und zwei
Hunden von Tarasp nach Venedig und legte die Strecke in einer Woche
zurück: «Zu Fuss sieht man einfach viel mehr. Bis in die Poebene bewegten wir uns immer durch Alpenwiesen und Wälder, aber dann
kamen auch Asphaltstrassen. Am Schluss mussten wir die Bahn nehmen,
weil die Hunde wunde Pfoten hatten.» Peter Lanz ist jedoch nicht nur
ein Naturwanderer, sondern er gewinnt auch Stadtwanderungen lustvolle Augenblicke ab. «Wenn ich in einer fremden Stadt bin, gehe ich
gerne stundenlang durch die Strassen, das ist unglaublich spannend. Ich
durchquere immer neue Quartiere und entdecke andere Winkel. Eine
Landschaft muss nicht grün sein, um begehenswert zu sein.»
Walter Ogi
Leiter der Blindenwandergruppe «Sohleblitz»
«Eigentlich ist das Begleiten von Blindenwanderungen ganz einfach. Die
Begleiter stellen ihre Augen zur Verfügung. Nicht mehr», stellt Walter
Ogi fest, der selber ein leidenschaftlicher Wanderer ist. Als er vor dreizehn Jahren das erste Mal blinde und sehbehinderte Menschen auf einer
Wanderung begleitete, war er beeindruckt davon, wie natürlich und locker es zu und her ging. Er und seine Ehefrau waren von einer blinden
Frau spontan angefragt worden, einmal auf eine Blindenwanderung mit-
zukommen. «Es überraschte mich, dass die Blinden mit einer Begleitung
einfach loswandern, ohne auf den Weg achten zu müssen. So frei und
unbeschwert, wie wenn sie etwas sehen könnten.» Das Ehepaar Ogi
begann regelmässig mit Blinden zu wandern. Seit 1994 ist Walter Ogi
ehrenamtlicher Leiter der Wandergruppe Sohleblitz und leitet, sofern das
Wetter mitspielt, rund zwei Wanderungen pro Monat.
Die Fähigkeit, unbekannte Leute zu motivieren, konnte er schon als nebenberuflicher Zivilschutzinstruktor und später als Feuerwehrkommandant
unter Beweis stellen. «Ich bin es gewohnt, etwas anzupacken. Eine
Blindenwanderung ist nicht viel anders als eine Zivilschutzübung. Es
braucht viel Organisation und Planung.» Ursprünglich hatte Walter
Ogi Innendekorateur gelernt. Später übernahm er eine Stelle als
Verantwortlicher für Zivilschutz, Sicherheit und Feuerwehr für eine internationale Firma. Heute arbeitet Walter Ogi hauptberuflich als Leiter
des technischen Dienstes in einem Heim für geistig Behinderte. Viel
Verantwortung trägt Walter Ogi auch wenn er mit seiner Wandergruppe
unterwegs ist. «Die sehbehinderte Person hängt sich beim Begleiter ein,
und die beiden gehen nebeneinander. Bei schmalen Wegen wandert
man hintereinander, wobei der Blinde sich am Rucksack des Begleiters
festhält.» Zur Aufgabe der Begleiter gehören auch Hinweise auf Wurzeln,
Äste oder schwieriges Gelände. Ungewöhnlich lange brauchte die
Wandergruppe «Sohleblitz» einmal für einen Weg entlang der Sihl. «Der
Weg führte durch das trockene Flussbett, das wie eine Geröllhalde war.
Die Begleiter mussten den blinden Personen jeden Schritt voraussagen.
Das klang ungefähr so: ‹Jetzt kannst du den linken Fuss anheben und
einen Schritt nach vorne machen.›» Schwierigkeiten ergeben sich hie
und da auch aus der mangelnden Kondition einzelner Teilnehmer. Doch
grundsätzlich sind die Wanderer der Gruppe Sohleblitz so gut trainiert,
dass sie problemlos vier bis fünfstündige Touren bewältigen können. Weil
91
Walter Ogi leiht blinden Wanderinnen und Wanderern seine Augen.
92
das Führen und Geführt-werden ein sensibles Miteinander ist, das viel
Vertrauen erfordert, muss die «Chemie» zwischen den beiden Menschen
stimmen. Als Leiter hat Walter Ogi deshalb stets ein Auge auf die einzelnen Teams. Achten muss er auch auf die herumtollenden Führhunde, die
auf Blindenwanderungen nicht «im Dienst» sind sowie auf die unbegleitenden Sehbehinderten, wenn sich das Licht plötzlich ändert. Das soziale
Engagement von Walter Ogi kommt aus seiner Jugend, als jeweils ein
geistig behinderter Mann in den Coiffeursalon seines Vaters kamen und
er sich in der Wartezeit um den Behinderten kümmern musste.
Am Anfang seiner Karriere als Wanderleiter pflegte Walter Ogi noch historisch interessante Ort und Tafeln vorzulesen, doch nicht alle sind an solchen Details interessiert. Wenig nützt es auch, von der schönen Aussicht
oder den bunten Laubbäumen zu erzählen – blind Geborene können
mit diesen Beschreibungen wenig anfangen. Wer das erste Mal hört,
dass Blinde gerne wandern, fragt sich sogleich naiv, was denn der Reiz
an einer Wanderung sein könnte, wenn man nichts sieht. Walter Ogi:
«Neben der schon erwähnten Freiheit, sich ohne Führhund oder Stock
sicher zu bewegen, freuen sich Blinde in erster Linie an der Bewegung,
der frischen Luft, den Geräuschen, den Gerüchen und am Erlebnis in der
Gruppe.»
Wer kennt sie noch, die versteckten Schätze
im Schweizerland, in den Zeiten von Ballermann und Billigflug, Schnorchelkurs und
Wüstentrip? Dabei liegen die Perlen direkt vor
der Haustür. Zu entdecken gibt es den besten
Käse im Pays d´Enhaut, ein Biosphärenreservat in der Innerschweiz oder die alte
Seebadi in Zollikon. Ein Plädoyer fürs
Nahreisen. Von Erich Grasdorf
Wie wäre es, zur Abwechslung, mit etwas Nahweh, mit einer Reise in die Nähe?
Das Lob der Nähe
A
ls ich meine erste grosse Reise machte und in Sydney landete,
fragte ich mich, ob ich sicher sein könne, am andern Ende der
Welt zu sein. Ich war in Frankfurt in einen Jumbo gestiegen, hatte
eine Zwischenlandung in Abu Dhabi erlebt, durfte bei einer zweiten
in Colombo das Flugzeug nicht verlassen und war 28 Stunden später
an einem Ort, von dem ich annehmen musste, er sei die grösste Stadt
Australiens. Kontrollieren, ob das stimmte, konnte ich nicht.
Wer sagte mir denn, dass der Kontrollturm, die Hangars, die
Empfangshalle nicht zu einem anderen Flugplatz gehörten oder Teile
eines Potemkinschen Dorfes waren: Kulissen einer Inszenierung – wie
die Flickenteppiche der Felder, der mäandernde Fluss im Hochland von
Dekhan und die Spinifex-Ödnis der Nullarbor-Plains, die unter mir vorbei
gezogen waren? Oder vorbei gezogen worden waren? Bestanden die
Spielzeugstädte dort unter vielleicht wirklich aus Spielzeughäusern? War
das alles nur aufgebaut, um mich zu foppen? Wurde nicht alles wieder
hinter mir abgebrochen, so wie die Fassaden der Mainstreet, wenn der
Western abgedreht ist?
Obwohl ich inzwischen an allen erdenklichen Ecken der Welt gelandet
bin, hat sich dieses Gefühl bei mir immer wieder sachte gemeldet. Bei
einer Bahnreise ins Tessin oder Autofahrt ins Wallis nie. Dabei nähert man
sich seinem Ziel zwar in einem für unsere Grosseltern noch unvorstellbar
97
Ruhig, geruhsam – und überwältigend schön: das Entlebuch.
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hohen, aber für unser Seelenleben doch zuträglichen Tempo. Man fährt
durch Dörfer, über- oder durchquert die Berge, mach Rast oder muss
umsteigen. Begegnet Menschen. Und selbst, wenn man im Stau steht –
was vermeidbar wäre – ist alles handfest und nachvollziehbar. Ganz klar:
Das Flugzeug ist in manchen Fällen für mich unersetzbar. Doch wenn ich
Ferien mache, verzichte ich lieber darauf. Da will ich nicht in knallvollen
Flughäfen hocken und auf verspätete Flieger warten.
Aber sagen Sie das jemandem, der mit etwas Glück für 39 Franken
plus Flughafentaxe zum Shopping nach London jetten kann, wenn die
Bahnfahrt von Zürich nach Bern retour (1.Klasse/Halbtax) 69 Franken
kostet. Und wer kann schon widerstehen, wenn er für eine Woche
Badeferien in Djerba nur 845 Franken (alles inbegriffen) auf den Tisch
des Reisebüros zu blättern hat? Also ich kann da ziemlich locker widerstehen. Und das nicht allein wegen des ausufernden Fluglärms und der
katastrophalen Ökobilanz der Jumbos, sondern – ganz egoistisch – mir
selbst zuliebe. Ich reise gern ohne Stress und Hetze. Darum vorzugsweise
in die Nähe. Sagen wir ins Entlebuch. Noch nie dort gewesen? Aber auf
Bali schon, oder? Da kennt man inzwischen jedes Sandkorn mit Vor- und
Nachnamen. Aber vielleicht muss man zuerst auf Ibiza, Kreta oder Kuba
gewesen sein, um das Entlebuch zu schätzen.
Im wilden Westen von Luzern
Das Entlebuch nämlich ist seit Kurzem ein von der Unesco anerkanntes
Biosphärereservat. Das heisst, dass dort Naturschutz, Landwirtschaft und
Tourismus traulich nebeneinander gedeihen. Und zwar dermassen, dass
es deutliche Anzeichen dafür gibt, dass es mit dieser vordem danieder
liegenden Region bergauf geht. Nicht nur, dass ich solche Entwicklung
gern unterstütze, ich finde es schlicht paradiesisch im Entlebuch: ruhig,
geruhsam und überwältigend schön. Wenn ich schon dort bin, kaufe ich
gleich Käse und Wurst mit dem Label «Echt Entlebuch». Denn wenn das
drauf steht, kann ich sicher sein, dass 90 Prozent der Wertschöpfung
aus dem Entlebuch stammen. Das gilt übrigens auch für die regionalen
Dienstleistungen, wie sie unter anderem von Restaurants und Hotels erbracht werden. Und die haben sozusagen unter dem Unesco-Protektorat
spürbar zugelegt – allein die Übernachtungszahlen um 5 Prozent. Das
scheint wenig, doch die Kurve zeigt nach oben. Zudem ist das Entlebuch
ein beliebtes Ziel für Tages-Exkursionen geworden. Sie haben sich verdoppelt. Als «Wilder Westen von Luzern» lockt das Reservat inzwischen
selbst Touristen aus Asien an.
Grandiose Landschaft: das Pays-d‘Enhaut.
Da stellt sich natürlich die Frage, warum ein Land wie die Schweiz, dessen Besuch ausländischen Touristen jährlich gut 12 Milliarden Franken
wert ist, von den Einheimischen oft links liegen gelassen wird? Fernweh?
Einverstanden. Aber wie wäre es zur Abwechslung mit etwas Nahweh?
Dann würde mehr Geld in dem Land bleiben, in dem es verdient wurde.
Um bei den Zahlen zu bleiben: Schweizer spendieren jährlich gut 10
Milliarden Franken für Auslandsferienreisen. Für Ferien in der Schweiz
knapp 10 Milliarden Franken. Bereits eine leichte Verschiebung zugunsten
der Inlandferien würde für ein so kleines Land wie die Schweiz einiges
bewirken. Davon würden nicht allein Restaurants und Hotels profitieren,
sondern das ganze Gewerbe, inklusive des bäuerlichen. Und damit ein
guter Teil der Volkswirtschaft. Das als kleine Anregung.
Natürlich ist das Entlebuch nur eine der Randregionen, der man touristisch unter die Arme greifen kann. Ich denke da zum Beispiel ans Paysd‘Enhaut. Breiten Sie eine Schweizer Karte aus und lassen Sie einen
Besucher tippen, wo sich das Waadtländer Oberland befindet. Er wird
wohl etwas zu suchen haben. Gefunden?
Auf der Suche nach dem besten Käse der Schweiz
Also dann: Bis ins frühe 20. Jahrhundert führten äusserst beschwerliche Wege ins und aus dem Tal. Die Menschen im Pays-d‘Enhaut führten ein abgeschiedenes Leben als Selbstversorger. Sie ernährten sich
vom Holzhandwerk, Milch- und Käsewirtschaft. Die Frauen spannen,
woben und stickten. Manche verstanden sich auf die hohe Kunst des
mehrfach komplizierten Scherenschnitts. Irgendwie mussten die Abende
herum gebracht werden. So viel zur Idylle, die so idyllisch wohl nicht
war. Doch obwohl die Bauernhöfe modernisiert, Strassen und Bahnlinie
gebaut wurden, hat sich vieles aus alter Zeit noch erhalten. Käse und
Scherenschnitte werden immer noch hergestellt. Genau das macht – zusammen mit der grandiosen Landschaft – den Reiz des Pays-d‘Enhaut aus.
Und wer in Rougemont den Tommes vaudoise vom Käser Michel Beroud
entdeckt, in Château-d‘Œx das kleine Musée du Vieux Pays-d‘Enhaut
oder dann die Heissluftballonwochen besucht, in Rossinière das grösste
aller Waadtländer Châlets bewundert hat, der sollte einen Abstecher in
Richtung Col des Mosses machen und bei der Ortseinfahrt von L‘Etivaz
halten. Denn von dort aus geht es in das Tal, von dessen der – meiner
Flachgezogene Felder, sanfte Hänge, Weiden: Der (vielen) unbekannte Thurgau.
Meinung nach – beste aller Schweizer Käse stammt. L‘Etivaz eben. Und
je nachdem wie man an- oder abreist, liegt das Schloss Gruyère oder
dann Gstaad am Wege.
Auf dem Sattel durch den Velokanton
Aber natürlich gibt es für Zürcherinnen und Zürcher weit näher gelegene
Ferienregionen. Eine davon lockt mit verträumten Seelein und dem Südufer
des «Schwäbischen Meers», mit Mooren und Riedlandschaften, flachgezogenen Feldern und eindrücklichen Obstbaumkulturen in den Ebenen,
sowie Weiden und Weingärten an sanften Hängen. Dazu malerische
Schlösser, Dörfer und Kleinstädte. Trotzdem ist diese Gegend all jenen unbekannt, für welche die Schweiz gleich hinter Winterthur aufhört. Dabei
war der Thurgau einmal Zürcher Untertanenland. Für besonders nahreisenswerten Teile des Kantons halte ich das Thurtal und den Seerücken.
Dort wiederum schätze ich die Gegend um das Dorf Ottoberg mit seinen
Riegelhäusern am meisten. Und das nicht nur, weil sich gleich nebenan
eines meiner Lieblingsweingüter befindet: das Schlossgut Bachtobel.
Übrigens wirbt der Thurgau für sich selber als Velokanton. Das hat was.
Und als überaus zweiradgängig erweist sich eine andere nahe gelegene
Region: das Zürcher Weinland. Schon einmal nach Andelfingen pedalt?
Weil wir gerade beim Velofahren sind: Ich wohne im Zürcher Oberland
und habe erfahren müssen, warum es so heisst. Weil es immer bergauf geht. Zum Beispiel auf den Bachtel. Die Tour nach Girenbad ist im
doppelten Sinn nahrhaft, weil dort Paul Bieri seinen Senne Flade käst
– ein würziges Mitbringsels für die Daheimgebliebenen. Für Geiss- und
Schafsmilchkäseliebhaber bieten sich Oberländer Alternativen: beim
«Geisse-Walti» Odermatt in Güntlisberg oder gleich gegenüber beim
103
Franz Koster in Faltigberg. Doch der Genuss will erstrampelt werden – es
sei denn, man kaufe die «natürli»-Käse im Zürcher HB beim Marinello.
Ich habe mir ein rechtes Stück Schweiz vom Velo aus angeschaut. Am
liebsten entlang der Flusstäler: Rhein, Aare, Tessin. Wobei zu sagen ist,
dass es Rhone abwärts mühsam werden kann. Der Gegenwind gleicht
das ohnehin leichte Gefälle mehr als aus. Bei Martigny musste ich windbedingt absteigen. Natürlich kannte ich die Strecken alle schon von der
Bahn oder dem Auto her. Aber ich kann glaubhaft versichern: Vom Sattel
aus betrachtet präsentiert sich die Landschaft ganz anders. Auch so gesehen: viel näher.
Entdecken, was vorher nicht da war: Auf einer «Wanderung» durchs Stadtquartier
Ich weiss nicht, was Sie so machen, wenn es zu Fuss bergauf und immer
weiter bergauf geht. Ich zähle dann meine Schritte so für mich hin. Oder
ich mache blöde Abzählverse wie Jaguar, Zebra, Nerz, Mandrill, Hai,
Muni, Muli, Langust und dann weiss ich nicht weiter, ausser, dass alles
Folgende sowieso auf -bär endet. Ich bin kein begnadeter Berggänger.
Für mich meinen es viele Wege sehr schnell ernst. So die Strasse vom
Ufer des Wägitalersees hinauf ins Dorf Innerthal und von da aus weiter nach oben zu den Bauernhöfen. Ich gehe diese Strasse trotzdem
gern. Vor allem im Winter. Dann komme ich mir vor, wie weit weg von
Zürich. Obwohl die nebelverhangene Stadt nur dreiviertel Autostunden
entfernt liegt. Am Wägitalersee kann ich winters die Basis für künftige
Gesichtsbräune legen. Das auch auf der Sonnenterrasse des Restaurants
Stausee. Der Imbiss und das Glas Wein gehören ins abschliessende
Relax-Programm.
Das Wägital ist das, was man ein Naherholungsgebiet nennt. Ein ziemlich unbekanntes. Im Sommer kann man um den See herum laufen
oder sich mit zwei PS vorneweg kutschieren lassen. Oder dann über
die Sattelegg hinüber ins Einsiedlerische wechseln. Aber mir gefällt es
dort im Winter am besten: Schnee, Sonne, Berge, See – Postkarte pur.
Vielleicht verschicken Sie eine an die Urlaubsadresse ihrer Nachbarn, die
gerade in der winterlichen Karibiksonne der neuen DDR, der Deutschen
Dominikanischen Republik, schmoren.
Die Stadtwanderung
Wobei für mich das In-die-Nähe-Reisen schon innerhalb der Zürcher
Stadtgrenzen beginnt. Ich schätze das von meinem Kollegen Benedikt
Loderer erfundene Stadtwandern extrem. Wenn ich in einem Quartier
zu tun habe, das ich längere Zeit vernachlässigt habe, nehme ich mir
105
Warum nicht, zum Beispiel, das malerische Elm besuchen?
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die Zeit, die Nebenstrassen zu erkunden. Jede Wette, dass man dort
etwas entdeckt, was vorher nicht da war. Auf jeden Fall eine neue Beiz.
Eine Stadt ist ja nie fertig gebaut. Nicht nur Zürich, auch andere Städte
habe ich mir erlaufen, selbst solch fussgängerfeindliche wie Los Angeles.
Und man verachte mir die Stadtrundfahrten nicht. Die durch Zürich ist
gerade für Zürcherinnen und Zürcher höchst erbaulich. Und sei es wegen
der Kommentare der überseeischen Gäste. «Nothing to write home
about», hörte ich eine Amerikanerin sagen, als wir am Opernhaus vorbeifuhren. Das hätte dem Herrn Perreira aber gar nicht erfreut. Doch die
Wasserkirche fand die gleiche hochtoupierte Dame dann «very nice».
Na, wenigstens das.
Eine weitere Möglichkeit, seine Stadt mit andern Augen zu sehen, ist
es, sich für ein langes Wochenende dortselbst in ein feines Hotel einzuquartieren. Sich sein Frühstück am Bett servieren zu lassen. Sich in
aller Ruhe in der Badewanne zu aalen. Einen Schaufensterbummel zu
machen. Abends ins Theater oder Kino zu gehen. Danach ohne Rücksicht
auf Strassenkontrollen einen Schlummerbecher oder mehr an der Bar zu
kippen. Am anderen Morgen ... da capo. Und was der Annehmlichkeiten
mehr sind, die eine rechte urbane Herberge zu bieten hat.
Eine Ausweitung dieser Idee heisst Wellnesswoche. Wobei man da nicht
im Städtischen verbleiben muss, sondern ins Ländliche ausweichen kann.
Angebote gibt es reichlich. Und was geboten wird, ist nicht ohne. Da
gibt es Solarien, Whirlpools. Massagen, Thalasso mit Wickel, Solebad,
Fitnessraum, Ayurveda, Saunalandschaft. Gewünschtes bitte ankreuzen
und ein Hotel danach aussuchen.
Seebadi an der Costa dorada
Es folgt mein nahe liegender Geheimtipp für sommerliche Badeferien:
die alte Seebadi in Zollikon. Die muss man einfach schätzen. Was heisst
schätzen? Lieben muss man die. Renoviert, wo es nötig war. Ansonsten
den Charme der Vorkriegszeit verströmend. Wenn dort kein mediterranes
Ambiente herrscht, dann weiss ich nicht, wo sonst. Da verzichtet man
gerne auf den Bagnino, der einem einen Liegestuhl in der drittletzten
Reihe am Strand von Rimini aufs Auge drückt – soweit man ihm nichts
in die Hand drückt. Und die Zolliker Seebadi ist wahrlich nicht die einzige attraktive Badegelegenheit rund um den See. Erholsamer als in der
Nähe, können Badeferien nicht sein.
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Wie bereits geschrieben: für Ferienreisen ins Ausland geben die
Schweizer jährlich gute 10 Milliarden Franken aus. Im Gegenzug
Ausländer in der Schweiz etwas über 12 Milliarden Was einen touristischen Devisenbilanzüberschuss – äxgüsi, so heisst das nun mal - von
rund 2 Milliarden Franken ergibt. Diese Zahlen beziehen sich auf das
Jahr 2002. Wenn Schweizer im Ausland also ferienhalber weniger ausgeben, als Ausländer in der Schweiz – warum dann mein Lob der Nähe?
Sicher nicht, um Ihnen Ihre Ferien in sagen wir Thailand, Neuseeland
oder Griechenland zu vermiesen. Ich weiss: Das könnte ich gar nicht.
Und ich will niemanden davon abhalten, sich den Sandstrand von Phuket
durch die Zehen rieseln zu lassen.
Aber ehrlich, haben Sie sich nach einer langen Rückreise nicht auch
schon so nudelfertig gefühlt, dass Sie gleich wieder Urlaub gebraucht
hätten? Und haben Sie sich nicht insgeheim gefragt, ob der Aufwand in
einem vernünftigen Verhältnis zum Ergebnis stand? Ich könnte hier des
weiteren den Zeigefinger heben und über die Ökonomie und Ökologie
der Fernreisen und Badeferien an entlegenen Stränden dozieren. Mache
ich nicht. Obwohl es nicht verboten ist, sich ein paar tiefere Gedanken
über die Folgen der touristischen Globalisierung zu machen. Inzwischen
kann zum Flugschein freiwillig ein Ökoticket gepostet werden. Mit dessen
Erlös werden dann Umweltschäden behoben. Das schmeckt stark nach
Ablasshandel und verhilft den Menschen, die unter den Anflugschneisen
siedeln, zu null Phon weniger Lärm.
Bei Vreneli und Vreni
Ich frage mich: Warum denkt, wer an seine nächsten Ferien denkt, nicht
ans Entlebuch? Oder ans Pays-d‘Enhaut? Wobei ich das Malcantone, die
Freiberge, die Bündner Herrschaft, die beiden Appenzell und die vielen
anderen erlebenswerten Schweizer Landschaften und Seen nicht einmal
erwähnt habe. Auch die Naturparks nicht. Denkt man beim Ferienplanen
nicht daran, weil die Nähe nichts hermacht? Zu wenig Prestige abwirft?
Weil man da nichts zu erzählen haben könnte? Es ist doch genau anders
herum. Wen interessieren schon die abendfüllenden Schilderungen des
Kamelritts vor der Kullisse der Pyramiden von Gizeh? Die hat man doch
von verschiedenen Personen bereits in etlichen Versionen gehört - sie
liefen immer aufs Gleiche hinaus. Aber wer hat Ihnen je davon berichtet, wie ihr oder ihm am Ufer des Rheins ein Glas Wein vom Eglisauer
Stadtberg geschmeckt hat? Oder wie der Aufstieg zum Vrenelisgärtli
war.
Oder der Besuch beim Zigerkäser Werner Elmer auf der Alp Obererbs
ganz hinten im Glarnerland – dort, wo im Dorf Elm sowieso alle Elmer
heissen? Oder dann Vreni Schneider. Eben.
109
112
Die Geburtstagswanderung
Eine Kurzgeschichte von Peter Zeindler.
Illustrationen: Herbert Seybold
E
r stand da und strahlte über das ganze Gesicht. Hinter ihm die
Hügelketten und stolzen Erhebungen des Zürcher Oberlands.
«Mit seinen knapp 1300 Metern handelt es sich beim Hörnli um den
eindrücklichsten Aussichtsberg unseres. An klaren Tagen, so wie heute,
kann es dort oben aufregend schön sein. Der Blick aufs Appenzellerland
und aufs Toggenburg ist atemberaubend. Und im Norden könnt ihr den
Schwarzwald sehen, im Süden die Alpen und ganz weit unten den
Zürichsee.»
Egon liess das Blatt mit dem Ausdruck aus dem Internet sinken und betrachtete die Wandergruppe mit einem kleinen hinterhältigen Lächeln,
das auch die wenigen Wandergesellen, denen es auffiel, nicht zu deuten
vermochten. Egon feierte seinen 50. Geburtstag, und wenn auch ein Teil
der Gäste diesem Jubiläum vorläufig noch mit einer gewissen Skepsis
gegenüberstand, liess sich keiner der Geladenen etwas anmerken.
«Happy Birthday!» schrieen seine Wanderkameraden.
Der Himmel über dem Zürcher Oberland leuchtete in einem makellosen
Blau. Die Wanderschuhe waren geschnürt. Die Gesichter glänzten fettig.
Es konnte losgehen.
«Muss es denn ausgerechnet eine Bergwanderung sein?», habe ich
Egon gefragt, als vor drei Wochen die Einladung zu dieser ganztägigen
Geburtstagsaktion bei mir eintraf.
«Das Leben ist eine Wanderung. Und eigentlich geht es immer bergauf»,
hatte er mir am Telefon erklärt. «Und später, einmal auf der Karriereleiter
oben angekommen, versucht man die Höhe zu halten und steuert einen
neuen Gipfel an. Ein symbolischer Akt.»
«Das behauptest du», gab ich verärgert zur Antwort und erinnerte mich
an mein schrumpfendes Bankkonto.
«Ich stehe im Zenith meines Lebens!» sagte Egon pathetisch.
Ein Hustenanfall unterbrach seine Behauptung.
«Du zahlst noch immer Alimente. Du hast kürzlich Dein Auto zu Schrott gefahren. Du hast nicht mit dem Rauchen aufgehört. Das nennst du Zenith!»,
wandte ich spöttisch ein. «Das ist doch bereits der Abstieg.»
Er schnaufte. Es tönte kurzatmig.
«Man muss in seinem Leben Zeichen setzen, mein Lieber», sagte er endlich mit fester Stimme. «An meinem 50. Geburtstag höre ich mit dem
Rauchen auf. Zwei Wochen später wird mein Sohn volljährig, und die
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Alimentszahlungen werden eingestellt, und...» Er machte den Satz nicht
zu Ende. Er hüstelte. Ich schwieg. Er kam auf das Thema zurück.
«Du bist doch dabei?»
«Selbstverständlich. Ich bin zwar beinahe zehn Jahre älter als du, aber
dir konditionell durchaus gewachsen. Wie lange soll die Wanderung
dauern?»
«So ungefähr fünf Stunden. Zwei Stunden von Steg auf das Schnebelhorn.
Dann zwei Stunden zum Hörnli. Und eine Stunde zurück nach Steg.»»
«Und wie viele Freundinnen und Freunde werden dir auf dieser
Geburtstagswanderung folgen?» fragte ich weiter.
Er zögerte, hüstelte dann und seufzte.
«Fünfunddreissig!» murmelte er.
«Fünfunddreissig? Du wirst doch fünfzig. Fünfunddreissig ist einfach
eine beliebige Zahl.» gab ich zu Bedenken. «Ein bisschen Symbolik
stünde einem runden Geburtstag nicht schlecht an. Das ist doch deine
Vorgabe.»
«Was soll das heissen?»
«Dass du zu deinem Fest fünfzig Mitwanderer hättest einladen sollen.
Das wäre doch sinnvoll. Oder mindestens die Hälfte. Wenn schon. fünfundzwanzig!»
Er grinste, dann seufzte er theatralisch.
«Wie soll ich fünfzig Mitwanderer verköstigen?» fragte er schroff. «Bei
meinem Einkommen!»
«Du wirst dir doch wohl noch fünfzig Salamibrote und ein paar Flaschen
Eistee leisten können! Oder etwa nicht?»
«Mein Lieber», sagte er nach einer langen Pause beinahe feierlich. «Es
geht doch nicht um den Zwischenproviant. So verarmt bin ich denn doch
noch nicht. Es geht um das Abendessen, das ich bereits in einem feinen
Restaurant im Tösstal bestellt habe. Die Belohnung für die Anstrengungen
des Tages. Und ich habe mich nicht lumpen lassen, das kannst du mir
glauben. Vier Gänge. Erlesene Weine.» Egon war nicht bekannt für seine
Grosszügigkeit! Und so überraschte mich die Tatsache schon etwas, dass
er sich seinen Geburtstag etwas kosten liess. Aber dass er sich auf die
Zahl 35 festgelegt hatte, wunderte mich schon. Vielleicht hatte es auch
damit zu tun, dass es gar nicht so viele Leute in seinem Leben gab, die
er als seine Freunde bezeichnen konnte. Fünfunddreissig war eine stolze
Zahl. So viele echte Freunde hatte nicht einmal ich. Ich schüttelte den
Kopf. Egon hatte sich übernommen. In jeder Hinsicht.
«Wir brechen auf, Freundinnen und Freunde!» rief Egon und hielt wie ein
Offizier, der seine Soldaten zum Angriff aufforderte, seinen Spazierstock
in die Luft.
Ich musterte meine Reisegefährten und versuchte, bekannte Gesichter zu
identifizieren.
Ein paar vertraute Köpfe waren schon darunter, einige von Egons
Berufskollegen
vom Fernsehen und vom Radio, die ich auch kannte, seine zwei Schwestern
und ein Schwager, seine Tennisclubpartnerinnen – und Partner und dann
natürlich ein paar Menschen, die er ausserhalb dieser Kategorien als
seine wahren Freunde oder Freundinnen bezeichnen durfte. Zu dieser
Gruppe zählte er auch mich, kannten wir uns doch schon seit Jahren,
hatten uns bei diversen Umzügen geholfen, hatten zusammen gekocht
oder uns in den Höhen literarischer Diskurse verirrt, dorthin, wo die Luft
dünn wird und die Argumente gewichtig.
Aber ich entdeckte auch ein paar Gesichter, die mir unbekannt waren
oder an die ich nur eine vage Erinnerung hatte. Vielleicht hatte ich sie
in einer Zeitung abgebildet gesehen oder ich kannte sie vom Bildschirm.
Möglicherweise aber war ich ihnen auch im Foyer des Opernhauses
oder der Tonhalle begegnet. Warum Egon jedoch diese Leute eingeladen
hatte, die mit ihm scheinbar gar nichts zu tun hatten, war mir schleierhaft.
Vielleicht wollte er sich ja auch nur mit ein paar prominenten Namen
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schmücken. Dieser Gedanke kam mir erst, als ich nach langem Nachdenken das Gesicht eines bekannten Schauspielers identifizierte. Vielleicht
wollte er sich mit diesen Leuten nur schmücken.
Freunde?
Wir setzten uns in Bewegung. Es war zwar erst zehn Uhr, aber der
Schatten des Waldes, in den wir eintauchten, war uns willkommen
«Wo ist da ein Weg?» rief plötzlich eine helle Frauenstimme.
Die Wandergruppe kam zum Stillstand. Alle schauten auf Egon, der sich
jetzt umdrehte.
«Erste Rebellion?» fragte er mit sanfter Stimme.
«Keine Rebellion», antwortete eine blondhaarige junge Frau, deren
Brillengläser beschlagen waren. Sie atmete bereits schwer. «Eine Frage.»
Ich war froh, dass die Frau diese Frage gestellt hatte. Auch mir war aufgefallen, wie mühsam dieser Anstieg war, dass Egon nicht dem Wanderweg
mit den gelben Markierungsrhomben folgte, sondern das Schnebelhorn
anscheinend im Sturm nehmen wollte. Immer wieder rutschte man auf
einem Ast, einer oder auf dem dürren Laub vom Vorjahr aus, das wie ein
dichter Teppich den Abhang bedeckte.
«Wo ein Wille, ist auch ein Weg», sagte Egon und zwinkerte der blonden Frau zu.
«Auf solche Lebensweisheiten haben wir gewartet!»
Dieser bissige Kommentar stammte ausgerechnet von Egons Radiokollegen,
der für Kirche und Religion zuständig war.
«Wandern bedeutet doch nicht, sich zu quälen», fügte er hinzu und
wischte sich mit einem schneeweissen Taschentuch über die Stirn.
«Wollt Ihr meutern?» fragte Egon. «Schon zu Beginn meiner
Geburtstagswanderung?»
«Da ist also kein Weg», konstatierte die Blonde ärgerlich.
«Es gibt das hier nicht, was ihr als Weg bezeichnet. Irgendwo unter dem
Laub windet sich eine Art Pfad den Abhang hinauf. Aber wir wählen
doch die Diretissima. Wie im richtigen Leben.»
Egon wandte sich ab und stapfte weiter.
«Vielleicht will er uns einfach nur umbringen», murmelte der
Kirchenverantwortliche vom Radio.
«Hast du diese Wanderung vorher schon einmal gemacht, Egon?» tönte
es von hinten.
Egon gab keine Antwort.
«Haben Sie wenigstens rekognosziert?» rief ein älterer Herr mit roten
Wollstrümpfen und einem Kinnbart, der mir bisher nicht aufgefallen war
und den Schluss der Gruppe bildete. Und ich hätte mich vielleicht trotz
seines konventionellen Wanderoutfits auch später nicht an ihn erinnert,
wenn er Egon nicht gesiezt hätte.
Ich liess mich zurückfallen. Eine Weile gingen wir stumm Seite an Seite.
Er rutschte trotz seines robusten Schuhwerks immer wieder aus.
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«Ich hätte die Einladung nicht annehmen sollen», sagte er verbittert, als er
einmal mehr ausgelitten war, den Sturz mit den Händen auffangen wollte
und sich dabei ausgerechnet auf einer stacheligen Brombeerranke aufstützte. Er stiess einen spitzen Schrei aus, aber niemand reagierte. Alle
waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt, hielten sich an Baumstämmen
und Ästen fest, um das Gleichgewicht zu halten.
«Gehören Sie zu Egons Freundeskreis?» fragte ich und half dem Mann
wieder auf die Beine. Er betrachtete mit weinerlichem Gesichtsausdruck
seine rechte blutende Hand, in der noch ein paar Stacheln steckten.
«Ich hasse die Natur!»
«Dann allerdings.»
«Ich bin Verleger. Ihr Freund Egon hat bei mir ein Manuskript liegen.»
«Ach!» sagte ich überrascht. «Egon schreibt also heimlich.»
«Naturgedichte.»
«Ausgerechnet. Da ist er ja an der richtigen Adresse.»
Ich klaubte ihm die kleinen Dorne aus dem Fleisch.
«Und?»
Der Verleger wirkte verlegen. «Ich habe sie gestern gelesen. Sie wirken
etwas antiquiert. Und überhaupt. Naturgedichte sind out. Und solche
Massenwanderungen auch.»
«Und das weiss Egon schon?»
Er schüttelte bedauernd den Kopf.
«Ein Geburtstag ist nicht der Zeitpunkt, einem Lyriker ohne Talent eine
Absage zu erteilen.»
Wir stapften weiter. Das heisst, ich stapfte weiter. Der Verleger, dessen
Gesicht jetzt so rot war wie seine Socken, war stehen geblieben. Ich
merkte es erst nach einer Weile, als ich mich nach ihm umschaute. Er
stand keuchend an einen Baum-stamm gelehnt und winkte mir matt zu.
«Kann ich Ihnen helfen?» fragte ich.
Er schüttelte den Kopf.
«Ich kehre um» rief er mir zu.
«Wegen der Naturgedichte?»
«Auch!»
«Dann gute Heimfahrt.»
Ich beeilte mich, wieder zu der Wandergruppe aufzuschliessen, die
allerdings nicht mehr kompakt war, sondern sich in einzelne Grüppchen
aufgelöst hatte. An der Spitze aber legte weiterhin Egon ein forsches
Tempo vor, das nur wenige mithalten konnten.
Noch bevor wir das rutschige Waldstück hinter uns gebracht hatten, stiess
ich auf ein zweites Opfer von Egons flottem Marschtempo. Die blonde
Frau mit der beschlagenen Brille lehnte erschöpft an einem Baum. Als
sie mich erkannte, versuch-te sie sich in einem Lächeln, das Hilflosigkeit
signalisieren sollte.
«Möchten Sie etwas trinken?» fragte ich die mir unbekannte Frau. «Ich
habe Tee in meinem Rucksack.»
Sie schloss die Augen und begann leise zu sprechen.
«Der du von dem Himmel bist, / Alles Leid und Schmerzen stillest, Den,
der doppelt elend ist, / Doppelt mit Erquickung füllest. Ach, ich bin des
Treibens müde! / Was soll all der Schmerz und Lust / Süsser Friede,
Komm, ach komm in meine Brust.»
Sie weinte jetzt lautlos.
«Sind Sie Schauspielerin?» fragte ich beeindruckt. «Ist dieses Naturgedicht
etwa von Egon?»
«Egon? Ich habe nur zitiert», sagte sie mit ersterbender Stimme. Goethe:
Wanderers Nachtlied .»
Ich war beschämt, dass ich das Gedicht nicht gleich wieder erkannt
hatte.
«Und jetzt?»
«Ich kann nicht mehr. Ich kehre um», murmelte sie.
«Sie sind nicht der erste. Egons Verleger hat auch schon aufgegeben.
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Wenn Sie sich beeilen, holen Sie ihn noch ein.»
«Das passt. Danke.»
«Passt? Wie meinen Sie das?»
«Literatur und Musik. Ich bin Egons Klavierlehrerin.»
Ich war überrascht. Egon war nicht nur unter die Literaten gegangen, er
nahm also heimlich auch Klavierstunden. Er war offensichtlich unterwegs
zu neuen Horizonten.
«Egon wird es bedauern.»
Sie stiess sich vom Baumstamm ab und ging mit vorsichtigen kleinen
Schritten talwärts.
«Er? Ich jedenfalls nicht», sagte sie verärgert. «Er ist leider sehr unmusikalisch», sagte sie zum Abschied. «Er sollte es lassen.»
Ich ging weiter. Egon hatte eine erste Rast angekündigt, und so war die
Gruppe denn auch endlich wieder kompakt. Aber dieses Schulreisegefühl,
das ich eigent-lich ganz gern wieder einmal, wenn auch nur ansatzweise,
gespürt hätte, wollte nicht aufkommen. Die Wanderer wühlten eher lustlos
in ihren Rucksäcken, bissen ohne Appetit in ihre Brote, und es wurde auch
kaum gesprochen. Dieser erste Teil von Egons Geburtstagswanderung,
der letzte Anstieg hatte Spuren hinterlassen.
«Deine Parforcewanderung hat erste Opfer gefordert», sagte ich zu
Egon, der seinen Rucksack über die Schulter schwang, ein Zeichen, dass
der Stundenhalt zu Ende war.
«Ach?» sagte er gleichgültig. «Wer ist denn auf der Strecke geblieben?»
«Dein Verleger und deine Klavierlehrerin.»
Ich grinste. Egon nahm es nicht zur Kenntnis.
«Ich wusste nicht, dass du Naturgedichte schreibst», fügte ich nach einer
kurzen Pause hämisch hinzu. «Wir befinden uns jetzt ja gewissermassen
am Busen derselben. Und dein Verleger hat sich aus dem Staub gemacht.
Er will deine Gedichte nicht.»
«Dann eben nicht» sagte Egon gleichgültig. «Er kann mit meiner Lyrik
ja ohnehin nichts anfangen, der Banause. Auf geht‘s, Freundinnen und
Freunde. Der Gipfel ruft.»
Die Wandergruppe, die um zwei Einheiten reduziert worden war, machte
sich murrend auf den Weg. Die Sonne brannte jetzt unbarmherzig auf
die gebeutelte Truppe, die sich wie Moses Gefolgsleute, die jetzt den
letzten steilen Aufstieg über den Weidehang zur baumlosen Gipfelkuppe
des Schnebelhorns in Angriff nahmen. Aber ohne göttliche Hilfe.
«Es gibt hier oben ein paar schöne Varianten», sagte Egon oben angekommen, und Stolz schwang in seiner Stimme mit.
«Was willst di damit sagen?» fragte seine älteste Schwester besorgt.
«Für Wanderer mit etwas Trittsicherheit stellt der voralpin anmutende
Hörnligübelweg eine besondere Herausforderung dar.»
«Was verstehst du unter Trittsicherheit?» fragte der Religionswissenschaft
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ler. Misstrauen klang in seiner Stimme mit. «Das fragst ausgerechnet du,
der du dich immer auf wundersamen Pfaden bewegst?» wunderte sich
Egon. «In unserm Fall macht die Nagelfluh die Westflanke des Hörnlis
besonders interessant. Wer mich liebt, folgt mir.»
Er wandte sich ab und schritt wacker aus, ein paar seiner Getreuen folgten ihm. Egons älteste Schwester hob abwehrend die Hand in die Höhe.
«Wir wählen die gefahrlosere Variante», sagte sie und scherte aus dem
Pulk aus. Ihr Schwager und der Kirchenmann folgten ihr, und nach einigem Zögern schlossen sich noch weitere Wanderer dieser Gruppe an.
Ich stellte fest, dass sich diese Einheit aus eher älteren Leuten und Frauen
zusammensetzte, die nicht sehr berggängig wirkten.
«Es gibt noch eine eine weitere Variante über die von Nagelfluh durchsetzte Westflanke,» sagte ich zum Rest der Wandergruppe, die, ich inbegriffen, noch aus vier Frauen und sieben Männern bestand. Unter ihnen
befand sich auch der bekannte Schauspieler, der demnächst die Rolle
des Hamlet spielen würde, wie er während der Rast beiläufig angemerkt
hatte. So eine Wanderung sei eine gute Gelegenheit, in der freien Natur,
nicht abgelenkt vom Alltagskram, den Text zu memorieren.
«Also?» fragte ich und faltete die Karte zusammen.
Die andern nickten stumm. Sie hatten mich anscheinend als Führer akzeptiert, denn Egon und seine Gefolgsleute waren schon ausser Sicht.
Wir brachen auf. Mit gesenkten Köpfen und vorsichtigen Schritten tasteten wir uns vorwärts. Nur manchmal blieb ich stehen und vergewisserte
mich, dass alle das Marschtempo mithalten konnten. Der Schauspieler
schien am meisten zu leiden, jedenfalls hatte er sich offensichtlich in einer
Textpassage verfangen, die zum europäischen Bildungsgut gehörte und
die nicht einmal ein Banause auswendig lernen musste. «Sein oder nicht
Sein, das ist hier die Frage», murmelte er vor sich hin. Und dann fiel er
hin und war nicht mehr dazu zu bewegen, aufzustehen. Eine junge Frau,
eine Kindergärtnerin, die mit Egons Neffen befreundet war, kümmerte
sich umgehend um den Hamletdarsteller, öffnete seinen Hemdkragen und
die obersten Knöpfe, kraulte sein Brusthaar und flösste ihm Tee ein.
«Soll ich dich einem Sommertag vergleichen? Holdseliger und milder
noch bist du ...» flüsterte der Schauspieler und schlug die Augen auf. Die
Kindergärtnerin errötete. «Shakespeare?» fragte sie.
Er nickte: «Ein Sonett.»
«Meine schönste Wanderung», sagte sie beinahe tonlos.
Der Schauspieler schloss die Augen. Ich schaute die Kindergärtnerin
fragend an. Sie nickte versonnen. Wir setzten unsere Wanderung fort.
Weit hinten, wie ich durch mein Fernglas erkennen konnte, beugte sich
der Kirchenexperte vom Radio über Egons ältere Schwester, die auf
einem Felsbrocken sass und die Arme hängen liess. Ihr Helfer fächelte
ihr mit seinem Taschentuch Kühlung zu, dann stand er auf und schwenkte
weit sichtbar sein weisses Tuch. Egons Jubiläums-Wandergruppe bereits
war bereits ordentlich geschrumpft. Wenn man den Verleger und die
Klavierlehrerin dazu zählte, die bereits frühzeitig resigniert hatten, waren
bis dahin bereits sechs Personen auf der Strecke geblieben.
Als meine Gefolgschaft einen schmalen Grat passierte und wir mit steigender Temperatur, als auch meine Kräfte schwanden, und ich, erlahmend,
einen kurzen Blick über meine Schulter riskierte, musste ich feststellen,
dass sich auch meine Gruppe dezimiert hatte. Ausser dem Schauspieler
und der Kindergärtnerin hatten noch zwei weitere Expeditionsmitglieder
resigniert, eine Frau, die für Radiowanderungen zuständig war und
Egons Hausmeister, der immer wieder umsonst kleine Reparaturen in der
Wohnung erledigt hatte und wohl nur deshalb eingeladen worden war.
Alles in allem waren nur noch 27 Geburtstagswanderer auf dem Weg
zum Hörnli.
Der Hausmeister befand sich mit der Frau vom Radio bereits wieder auf
dem Abstieg, vereinte sich weiter untern mit dem Kirchenspezialisten und
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Egons älterer Schwester, als wir uns dem erlösenden Hörnligipfel näherten.
Dort stand vor der altehrwürdigen Bergwirtschaft Egons Tochter zusammen mit ihrem Freund und winkte röhlich mit Proseccoflaschen.
«Herrlich diese Aussicht!» rief Egon begeistert, als er mit seiner Gruppe,
aus der noch zwei weitere Elemente eliminiert worden waren, neben uns
stand, das Glas in der Hand, den Blick in die Ferne gerichtet, hinunter
ins Appenzellerland und ins Toggenburg. Er holte zum zweiten Mal an
diesem Tag seinen Computerausdruck aus dem Rucksack und las seinen 25 übrig gebliebenen Gefolgsleuten daraus laut vor: «Dieser klassische Höhenweg im Zürcher Oberland ist vom Charakter her eine leichte
Wanderung im Wald und auf freiem Kammrücken zu zwei der schönsten
Aussichtspunkten unseres Kantons.»
Er schaute stolz in die Runde. Aber er erhielt keinen Applaus. Man
war zu erschöpft. Und der Geburtstags-Prosecco zeigte ebenfalls seine
Wirkung.
«Wir haben zehn Einheiten eingebüsst», flüsterte ich Egon zu.
Er strahlte. «Siehst du! So ganz ohne Symbolik verläuft mein Geburtstag
nicht. Fünfundzwanzig – die Hälfte von fünfzig ist übrig geblieben.»
Ich schaute ihn überrascht an.
«Du hast mit dieser Ausfallquote gerechnet?» fragte ich.
«Natürlich! – Wahrscheinlichkeitsrechnung. Erfahrungswerte ...»
«Dann geht‘s jetzt also wieder talwärts. Rechnest du mit weiteren
Verlusten?»
Egon schüttelte den Kopf. «Der Verleger, der nichts für die Natur übrig
hat, ist weg. Der aufgeblasene Schauspieler, die Klavierlehrein, die mich
quält, der Hausmeister, der keinen Nagel gerade einschlagen kann. Sie
haben es nicht verdient, in unserer Mitte zu tafeln. Es reicht.»
«Aber auch deine Schwester und ...»
«Das tut mir zwar leid, aber es war nicht zu vermeiden. Auch
Nahestehende müssen manchmal Opfer bringen. Besonders an
Geburtstagen.»
Er leerte sein Glas in einem Zug und schleuderte es weit von sich ins
Tal.
«Was für Opfer?» fragte ich mit Verspätung.
«Ich bin finanziell nicht auf Rosen gebettet, das weisst du. Ich habe im
Restaurant nur für 25 Personen reservieren lassen. Zehn mehr hätten mein
Budget gesprengt.»
«Ein perfider Plan?»
«Perfid? Ich habe mich an denen gerächt, die meine musischen
Fähigkeiten unterschätzen. Und ich weiss jetzt, wer zu mir hält, wer ein
echter Freund ist, auf den ich im Alter zählen kann.»
«Bravo!» murmelte ich.
«Los geht‘s!» rief er.
Die Wandergruppe, jetzt auf fünfundzwanzig Häupter reduziert, begann
den Abstieg. Egon marschierte an der Spitze, eine Zigarette zwischen
den Lippen. Die guten Vorsätze hatten sich in Rauch aufgelöst. Trotzdem
freute ich mich auf das viergängige Abendessen und auf einen guten
Tropfen. Es durfte selbst im Tösstal auch ein französischer Grand Cru
oder ein Nebbiolo d‘Alba aus dem Piemont sein.
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Ein Gespräch zwischen Theo Bächtold,
reformierter Pfarrer an der Kirche St. Jakob
in Zürich Aussersihl, passionierter Pilger und
Daniel Ambühl, früher Medienmann, heute
Künstler und unter anderem Gestalter der
Bildwege. Protokolliert von Othmar Köchle.
Bilder Jürg Waldmeier
Für viele der Beginn einer Reise zu sich selbst: Jakobsweg von Rapperswil nach Hurden.
Wege zu sich selbst
Aufbrechen
Theo Bächtold: Aufbruch ist immer wieder ein grosses Thema; mein persönliches Aufbrechen auf den Pilgerweg war aber eigentlich eine banale
Sache. Ich hatte nach 16 Jahren Dienst als reformierter Pfarrer einen
Studienurlaub zugute. Ich war sportlich, wollte mit meiner Frau schon
länger zu Fuss durch Europa und war seit meiner Studienzeit interessiert
an Kirchengeschichte. Irgendwann sind wir auf die Pilgerwege gestossen.
Ich begann Bücher zu lesen, Karten zu studieren, und am 23. Juli 1991
machten wir uns auf. Ich ging zuerst mal als «Student», wollte das Pilgern
verstehen lernen und wurde unvermittelt selber zum Pilger. Plötzlich wurde
der Jakobsweg gewissermassen mein Weg.
Daniel Ambühl: Was macht eigentlich ein reformierter Pilger?
Theo Bächtold: Seit etwa 1987 ist das Pilgern wieder an die Oberfläche
gekommen und gerade bei Reformierten auf viel Interesse gestossen.
Vor allem deshalb, weil die «Altlasten» des Pilgerns wie das Busse tun,
Ablass gewinnen etc. heute wegfallen. Die Reformierten haben das dankbar angenommen und das Auf-dem-Weg-Sein neu für sich entdeckt. Als
Religionslehrer im Kreis 4 hatte ich manchmal vielleicht zwei Reformierte
in der Klasse, der Rest war katholisch, orthodox oder Muslim. Erstaunlich
war, dass über das Pilgern alle sofort mitreden konnten. Pilgern, Auf-demWeg-Sein, hat in allen Konfessionen und Religionen eine sehr greifbare
Bedeutung.
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Pilgern ist keineswegs zweckfrei. Pilgern ist sehr zielgerichtet,
man hat jeden Tag seine Etappe zu absolvieren. Theo Bächtold
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Daniel Ambühl: Das Spannende am Wandern oder auch Pilgern ist doch
auch, dass man sich nicht kompetitiv oder sportlich betätigt, sondern
«müssig geht» im positiven Sinn. Indem man einfach nur unterwegs ist,
wird man offen für Erlebnisse, Begegnungen, ist bereit für Neues. Das hat
mich auch als Künstler interessiert, bei der Konzeption der Bildwege. Ich
wollte diese Leere beim Unterwegssein nutzen und mit der Bereitschaft,
sich auf Neues einzulassen, spielen. Dabei geht es mir im weitesten Sinn
um Bildung – Bildwege sind auch Bildungswege – indem ich Erlebnisse
mit Mitmenschen oder der Natur herbeiführe, die aus der Musse heraus
entstehen statt in der gewohnten Leistungsumgebung.
Theo Bächtold: Wie bist du zu den Bildwegen gekommen?
Daniel Ambühl: Es ist eine Krux mit den Bildern. Das Kunstwerk, wenn
es einmal in der Ausstellungshalle hängt, ist für die Betrachter völlig statisch. Er betrachtet es und geht zum nächsten. Die Geschichte, die ein
Kunstwerk zu erzählen hat, geht dabei verloren. Der Betrachter schafft
keinen Bezug zum Bild. Die Auseinandersetzung findet in der Ausstellung
nur auf der Oberfläche statt. Jedes Kunstwerk hat einen Anfang und ein
Ende. Bei Musik oder Literatur ist das leicht nachvollziehbar. Bei Bildern
muss die Geschichte freigelegt werden. Ich habe versucht, einen Weg
zu finden, damit die Betrachter in die Entstehung der Bilder miteinbezogen werden. Deshalb habe ich 1995 in Ascona den ersten Bildweg
geschaffen. Sieben Kupferplatten wurden einem Weg entlang verteilt.
Auf jeder ist ein Bild, das die Menschen, die sich auf den Weg machen,
mit Kreide auf ein Blatt Papier übertragen können. In Ascona waren es
sieben vollständige Bilder. Überlagert man die Bilder, sieht man nur noch
ein «Rauschen» – ausser der, der die Bilder kopiert hat, denn er kennt
die Bilder und kann sie im Rauschen wieder erkennen. Auf dem zweiten Bildweg in Berlin funktioniert es mit sieben Teilbildern, die sich nach
Abschluss des Weges zu einem ganzen Bild zusammenfügen. In Zürich,
auf dem dritten Weg, waren wieder verschiedene Bilder auf den Platten.
Einzelne Linien der Bilder fügten sich aber beim Übereinanderlegen zu
einem neuen Bild zusammen, dass man nur sehen konnte, wenn man alle
Bilder übertragen hatte.
Unterwegs sein
Theo Bächtold: Dein Anliegen ist mir sehr nah. Auch ich als Pilger möchte,
dass sich die Menschen, denen ich von meinem Weg erzähle, aufmachen.
Ich möchte nicht nur, dass sie von mir hören, was ich erlebe, sondern sie
sollen erleben, was der Weg mit ihnen macht. Ein Wort noch zum müssigen, zweckfreien Unterwegs-Sein. Das würde ich vielleicht als Spazieren
Pilger suchen das Im-Gehen-zur-Ruhe-Kommen, das Bei-sich-Sein.
bezeichnen. Pilgern ist keineswegs zweckfrei. Pilgern ist sehr zielgerichtet, man hat jeden Tag seine Etappe zu absolvieren. Aus der Herberge
wird man am Morgen durchaus «hinausgeschossen», auch wenns regnet.
Es ist also eher Aufgabe und «Geh-Arbeit» als Müssiggang. Ich wehre
mich auch gegen den Satz «Der Weg ist das Ziel», der ja bei jeder
Gelegenheit zitiert wird. Da könnten wir ja im Kreis gehen. Pilger haben
aber durchaus sowohl ein geografisches als auch ein spirituelles Ziel,
wenn sie unterwegs sind.
Daniel Ambühl: Als Wanderer bin ich – vielleicht im Gegensatz dazu
– ausschweifend. Ich lasse mich gern ablenken. Habe ich keine Zeit und
muss pünktlich irgendwo eintreffen, sehe ich unterwegs viel weniger, als
wenn ich mich mit Musse fortbewege. Beim Wandern, so glaube ich,
werden wir auch wieder geerdet. Heute, wo wir uns fortlaufend in virtuellen Räumen bewegen, verlieren wir den Bezug zu den alltäglichen
realen Dingen. Mir fällt auch auf, dass wir uns ständig in abgeschlossenen Räumen, in Kabinen aufhalten: die Wohnung, das Büro, das Auto,
die Gondelbahn, das Restaurant. Das alles ist bequem, und man friert
und schwitzt nicht. Die Sinnlichkeit und unser Bedürfnis nach echten
Erlebnissen wird aber nicht mehr befriedigt. Erstaunlich ist doch, dass
Kinder beispielsweise die Namen von allen Dinosauriern kennen, die vor
x Millionen Jahren ausgestorben sind, aber den Baum, der gerade vor
dem Fenster blüht, nicht benennen können. Man müsste den Menschen
vermehrt dazu verführen, die Dinge, die ihn umgeben, wieder mit dem
Namen zu kennen und ihre Geschichte zu erforschen.
Theo Bächtold: Beim Pilgern sind wir nicht gar so ausschweifend, da wir
natürlich immer unser Ziel vor Augen haben, aber es hat dennoch Platz,
dass man sich ob den kleinen Dingen am Wegesrand, sei es eine schöne
Blume oder ein Käfer, erfreut. Am Ende des Tages stellt sich dann oft das
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ein, was wir die Pilgertrance nennen. Der Schritt wird rund und der Atem
rhythmisch. Man gerät in einen Fluss, einen Trott und geniesst das. Dabei
kehrt sich der Blick nach innen. Die Aussenwelt fliesst vorbei, ohne dass
man sie ins Bewusstsein holt. Das sind die Momente, wo man das Gefühl
hat, dass man bei sich ist. Viele Pilger suchen das, dieses Im-Gehen-zurRuhe-Kommen, dieses Bei-sich-Sein.
Daniel Ambühl: Mir kommt es so vor, als ob man sich ein Stück weit vom
Körper entfernt. Man fliegt quasi mit. Wenn man Blattern hat an den
Füssen, spürt man sie nicht oder erst nachher wieder.
Theo Bächtold: Es gibt Strecken, die geeignet sind, in so einen Fluss zu
kommen. Zum Beispiel, wenn der Weg auf einer Krete verläuft. Da glaubt
man mit der Zeit zu fliegen. Oder in der Meseta, der endlosen Ebene, wo
es tagelang 40 Kilometer nur gerade aus geht. Als ich einmal mit einer
Konfirmandengruppe unterwegs war und wir auch einer Krete entlang liefen, wurden die sonst sehr gesprächigen Jungen plötzlich alle still. Nach
einiger Zeit kam so ein Bursche zu mir und meinte: Herr Kunz, ich glaube
ich habe einen Rausch. Das war ein starkes Erlebnis, wo sie erfahren
konnten, dass es Räusche geben kann, ohne dass man sich Rauschmittel
wie Alkohol oder andere Drogen zuführt.
Daniel Ambühl: Ich denke, dass das Wandern, die Begegnung mit der
Natur in gewisser Weise auch eine Begegnung mit dem Numinosen ist,
einfach ohne religiöses oder kirchliches Ritual. Die Wanderbewegung
ist ja noch nicht sehr alt, sie hat zu tun mit einer Rückwendung hin zur
Natur, weg von der industriellen Welt, in der wir uns bewegen. Sie hängt
damit eng mit der Sehnsucht nach dem Ursprünglichen zusammen. Was
für mich auch wichtig ist beim Unterwegs-Sein, sind die Geschichten, die
sich uns am Wegesrand präsentieren. Man wünscht sich häufig einen per-
sönlichen Führer, wenn man unterwegs ist, der die Geschichten erzählt,
die hinter allem versteckt sind. So werden dann aus den zweidimensionalen Bildern, die sich – ich benutze jetzt ein Klischee – die Japaner auf
der Europatour machen, zu Erkenntnissen, und man nimmt Anteil an der
Umgebung, man eignet sich die Dinge geistig an.
Theo Bächtold: Da fällt mir das Gedicht von der Wegwarte ein, das ich
vor Jahren einmal auf einer Pilgerreise vortrug. Die Wegwarte ist ja eigentlich nur eine kleine Blume, ein Unkraut könnte man fast sagen, aber
sie begleitet uns von hier bis nach Spanien. Eine Frau hat mir neulich
erzählt, dass sie sich noch genau an den Moment erinnere, als ich das
Gedicht rezitierte, und beim Anblick der Blume häufig daran zurückdenke. Durch das Gedicht hat sie sich die Blume, die sie vielleicht vorher nicht beim Namen kannte und wohl kaum wahrgenommen hatte, zu
eigen gemacht.
Daniel Ambühl: Man bewegt sich beim Wandern auch in einem dem
Menschen und der Umwelt angemessenen Tempo. Wenn ich mit dem
Auto an einem Baum vorbei rase, bekomme ich von seiner Grösse, vom
Schatten, den er wirft, von all den sinnlichen Eindrücken, die er vermittelt
gar nichts mit. Durch unser Tempo wollen wir Zeit gewinnen, leben aber
immer mehr in einer grossen Entfernung zur Natur und der Welt, die uns
umgibt. Das wird im heutigen Tourismus besonders anschaulich. Reist
man mit dem Flugzeug zum Beispiel nach Indien, so kommt man körperlich zwar dort an, aber man ist gar nicht richtig darauf vorbereitet, weil
man noch den ganzen Alltag mit sich dabei hat und nicht offen ist. Man
stelle sich vor, wir müssten, um nach Indien zu reisen, zu Fuss gehen.
Wir würden ganz anders auf dieses Erlebnis vorbereitet, man näherte
sich quasi behutsam an. Man wird aber schnell einmal als romantischer
Spinner abgestempelt und als Wanderer in der modernen Medienwelt
Entschleunigung statt Beschleunigung: Die beiden Wanderer
auf dem Holzsteg zwischen Rapperswil und Hurden.
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auch belächelt und abgewertet.
Theo Bächtold: Mit dem beschleunigten Lebensstil versuchen wir wohl
mehr in die uns gegebene Lebensspanne von Geburt bis Tod hinein zu
pressen, indem wir alles möglichst schnell tun. Beim Pilgern merkt man,
dass gerade durch die Langsamkeit mehr Erlebnisse möglich werden als
beim Pressieren. Tempo und Rhythmen sind beim Gehen ohnehin sehr
wichtig. Wer nicht in seinem eigenen Tempo geht, kann Kopfschmerzen
bekommen. Dies geschah mir einmal, als ich mit meiner Frau eine
lange Strecke einem Bahngeleise entlang ging. Der Schwellenabstand
zwang mich zu einem Rhythmus, der nicht meinem eigenen natürlichen
Gehrhythmus entsprach. Nach kurzer Zeit fühlte ich mich elend, während
es meiner Frau blendend ging.
Gehen und Rasten
Theo Bächtold: Zum Rhythmus gehört auch das Rasten. Mit meinen
Gruppen versuche ich, auf den Pilgerreisen immer auf eine Stunde
Marsch zehn Minuten zu pausieren. Ich lege grossen Wert auf diese
Regelmässigkeit. Wir legen auch sonntags immer einen Ruhetag ein,
was vielen Pilgern zuwider läuft. Alle natürlichen Vorgänge laufen ja in
Rhythmen ab: das Wachen und Schlafen, das Atmen, das Blühen und
Vergehen. Findet man einen regelmässigen Rhythmus zwischen Ruhen
und Gehen, stellt sich auf natürliche Weise ein Wohlbefinden ein.
Daniel Ambühl: Dieses natürliche Wohlbefinden, diese ausgleichende
Wirkung führt in meinen Augen auch dazu, dass Pilgern oder Wandern
ganz allgemein eine therapeutische Wirkung entwickeln kann. Das war
ja schon beim frühen Pilgern Teil der Idee: Der Straffällige, der sich nach
Santiago aufmacht, um von seinen Sünden befreit zu werden. Man ver-
traute auf die Läuterung, die so ein Weg auslöst. Heute wird das in moderner Form auch wieder eingesetzt, indem man Therapien anbietet, die
genau auf den Rhythmus, die Wiederholung, das Sich-aus-dem-KörperLösen, das wir angesprochen haben, setzen. Ich bin mir auch sicher,
dass das funktionieren kann, dass Wandern diese befreiende, reinigende
Wirkung auf Körper und Geist haben kann.
Theo Bächtold: Sören Kierkegaard schreibt darüber, dass er Krankheiten
quasi «wegwandern» konnte. Ich habe diesen Winter so einen Fall erlebt.
Ein Mann besuchte mich. Er war bleich, sah sehr schlecht aus und sagte,
er sei in letzter Zeit depressiv, habe von den Pilgerwegen gehört und
müsse jetzt einfach gehen. Dazu konnte er sich noch aufraffen. Er ist im
Winter losmarschiert und kam etwa vor vierzehn Tagen wieder zurück,
Ein Pilgerer und ein Wanderer unterwegs: Theo Bächtold und Daniel Ambühl
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braun gebrannt, der Körper voller Spannkraft. Er habe einen weiten Weg
gemacht, es sei super gewesen. Er wollte sofort an den Pilgerstamm, um
seine Erlebnisse mit anderen zu teilen.
Daniel Ambühl: Was du erzählst, zeigt doch schön, wie man sich beim
gehen selber wider nahe kommt. Man spürt sich und seinen Körper und
merkt: ich mag mich eigentlich. Gerade für Drogensüchtige, die total
entfremdet sind und sich nur noch in ihrem Elend wahrnehmen, kann es
extrem wichtig sein, sich selbst wieder positiv zu erfahren, sich selbst
wieder lieben zu lernen.
Ankommen
Theo Bächtold: Ankommen in Santiago ist für viele Pilger, vor allem für
Einzelpilger, ein wunder Punkt. Es stellt sich nicht selten eine Katerstimmung
ein und die Frage taucht auf: Was nun? Einige gehen noch bis Finis
terrae, das Kap am «Ende der Welt», was das Problem aber nur noch um
ein paar Tage verschiebt. Wir in der Gruppe versuchen es zu thematisieren, schon bevor wir ankommen. Wir sind ja bis zu sechs Jahren immer
wieder miteinander unterwegs. Da können viele gar nicht aufhören und
beginnen auf einer anderen Strecke wieder von vorn.
Daniel Ambühl: In Künstlerbiografien scheint das Problem auch auf.
Ein erfolgreicher Künstler läuft Gefahr, sich ständig zu reproduzieren.
Die Offenheit für Neues, andere Stilarten kann so verloren gehen. Die
Zeit, wenn etwas zu Ende geht und noch nichts Neues in Sicht ist, diese
Katerzeit, ist schwierig zu überstehen.
Theo Bächtold: Die Frage ist auch, was man nach dem Unterwegs-Sein in
den Alltag übersetzen kann. Wer über Jahre hinweg zu Fuss unterwegs
ist, nimmt eine gewisse Gelassenheit in den Alltag mit. Man lernt, die
Probleme Schritt für Schritt zu nehmen. Das gibt eine Ruhe. Durch das
Aufbrechen, Sich-Aufmachen und In-Bewegung-Sein, können sich Dinge
auch klären, kann ein Bewusstsein reifen und man kann Dinge im Leben
anpacken, die immer schon unter der Oberfläche lagen. Bei mir selber
hat das Pilgern ja bewirkt, dass ich ein schönes Landpfarramt im ältesten
Pfarrhaus des Kantons – eine tausendjährige Burg – aufgegeben habe
und in den Kreis 4 gezogen bin, mitten ins «Gheu», und die Pfarrei St.
Jakob übernommen habe. Ich habe den Jakobsweg zu meinem Weg
gemacht. Ich wollte, dass am St. Jakob auch ein Jakobspilger Pfarrer ist.
Meine Frau hat mit 47 Jahren nach dem 100tägigen Pilgerweg gemerkt,
dass sie noch ein Studium beginnen will. Andere beginnen für sich zu
schreiben, nachdem sie auf dem Weg ein Tagebuch führten. Wieder
andere beginnen zu malen.
Daniel Ambühl: Wenn wir vom Unterwegs-Sein zu sich selber sprechen,
heisst ankommen ja auch bei sich selber ankommen. Ich glaube, man
darf das nicht so verstehen, dass man weiss, wer man ist, nachdem man
unterwegs war. Unser Sein lässt sich nicht mit dem Bewusstsein fassen. Es
geht eher darum, sich selber nah zu sein, in seinen Entscheiden, im Tun
und Lassen. Ich würde deshalb lieber von einer Annäherung sprechen.
Theo Bächtold: Man kann das Pilgern auch als Suche verstehen. Die Suche
nach sich selbst, nach Sinn. Jetzt fällt natürlich das Erreichen des geografischen Ziels nicht mit einer Erleuchtung zusammen. Mit anderen Worten:
Die Suche und die Sehnsucht, die hinter dieser Suche steht, ist am Ziel
nicht zu Ende. Man hat vielleicht wertvolle Erkenntnisse für sich gewonnen in Teilaspekten seines Lebens. Die Sehnsucht treibt einem aber weiter,
man bleibt Suchender und ist immer auf dem Weg zu sich selber.
Zum Rhythmus gehört auch das Rasten, das Gespräch jedoch ruht nicht.
Zu Theo Bächtold
Theo Bächtold wurde 1945 in Heiden geboren. Ab 1954 lebte er in Zürich. Nach der
Ausbildung zum Primarlehrer am Seminar Unterstrass in Zürich und zwei Jahren Berufspraxis
in Primar- und Realschulen Theologiestudium am Baptist Theological Seminary in Rüschlikon
und an der Universität Zürich. Nach Abschluss des Studiums Heirat mit Annelis Frei und
dreijähriger Aufenthalt in Australien. Hier ist er Lehrer an einer High School und ist als
postgraduate student an der University of Queensland eingeschrieben. 1975 kehrt er in
die Schweiz zurück und nimmt eine Pfarrstelle in Rümlang an. Schwerpunkt seiner Arbeit
ist Religionsunterricht und Jugendarbeit (Aufbau einer Jugendberatungsstelle und eines
Jugendhauses). 1982 Wechsel nach Schlatt b. Winterthur. Mit dieser Stelle ist das
Übernehmen von Aufgaben in der Kantonalkirche verbunden: zunächst in der Seelsorge an
der Psychiatrischen Klinik Rheinau, später als Leiter eines Theologiekurses für Erwachsene.
1991 begeht er in seinem Studienurlaub zusammen mit seiner Frau den Jakobsweg und
wird vom Pilgervirus angesteckt. Als Jakobspilger wechselt er 1996 an die Kirche St. Jakob
am Stauffacher und baut in der Folge das Pilgerzentrum St. Jakob auf. Daneben bis 2002
Präsident des Trägervereins Boldern und Synodale. Mehr auf www.jakobspilger.ch
Zu Daniel Ambühl
Daniel Ambühl wurde 1958 in Zürich geboren. Die Konstante in seinem Leben ist die NeuOrientierung. Nach der Matur studierte er Pädagogik an der Universität Zürich gründete
aber bereits ein Jahr später eine Software-Firma, arbeitet als freier Redaktor bei der NZZ
und begann 1981 als Redaktor und Moderator beim Piratensender Radio 24 in Cernobbio.
Daneben ist er als Bassist und immer auch künstlerisch tätig. 1988 wechselt er als Redaktor,
Autor und Moderator zum Schweizer Fernsehen, wo er bis 1990 bleibt und den Telepreis
für die Eins:zu:Eins-Sendung vom Matterhorn erhält. Er wechselt wieder zu Radio 24 als
Moderationschef und macht eigene Sendungen aus dem Atelier Ompfl. Ab 1994 ist er
als freischaffender Künstler tätig in verschiedensten Projekten tätig, unter anderem erfindet er den Bildweg. Der Bildweg ist ein neuartiges Medium der Kunstvermittlung und des
Kunsterlebnisses im öffentlichen Raum. Die Ebenen von Zeit und Ort, Bild und Sprache,
Künstler und Betrachter werden im Bildweg zu einem Gesamtkunstwerk gefügt, welches
durch jeden Teilnehmer individuell vollendet wird. 1995 entsteht der erste Bildweg in
Ascona. An der Expo 02 begehen 30‘000 Personen den «Artwalk». Inzwischen sind bereits 16 Bildwege realisiert worden. Momentan sind vier Bildwege auf dem Schweizer
Jakobsweg und ein weiterer am Walensee geplant. Mehr auf www.danielambuehl.ch.
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Autoren- und
(3 Seiten)
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Bildnachweis
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