Brief Sepp Wasensteiner 8/13

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Brief Sepp Wasensteiner 8/13
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“Wer früher stirbt ist länger tot” ist der Titel eines bekannten bayerisch bodenständigen
Filmes. In der Tat war ich um einiges dem Tod als dem Leben näher. Am 31. Juli, nachmittags
so kurz vor fünf Uhr wollte ich mit zwei reparaturbedürftigen Druckern unterm Arm eine
stark befahrene Strasse in unserer Pfarrei, die Verlängereung einer Strasse vom Zentrum
über die einzige Brücke Codós, überqueren. Ich kam nur bis zur Mitte, von da ab weiss ich
nichts mehr. Eine knappe Stunde später bin ich im Krankenhaus wieder aufgewacht, ohne zu
wissen, was geschehen war und wo ich war.
Augenzeugen halfen mir, den Unfall zu rekonstruieren: Ich hatte bereits die Hälfte der
Strasse überschritten, als ein Motorradfahrer mit überhöhter Geschwindigkeit in die
Gegenfahrbahn eintrat, weil er die übrigen Fahrzeuge auf seiner Spur überholte. Ich hatte
ihn nicht bemerkt, da ich ja nur noch den Verkehr von rechts kommend beobachtete. Er
erfasste mich und schleuderte mich zu Boden, wo ich bewusstlos auf der Strasse liegenblieb.
Er selbst kam mit seinem Beifahrer, zwei junge Kerle, so ca. 80 Meter entfernt zu Fall, stand
auf und fuhr davon. Wahrscheinlich hatte er wie die meisten hier, keinen Führerschein.
Jemand soll geschrien haben „Man hat den Padre getötet“. Ein Mann hat mich von der
Strasse weggezogen und in einen Liegestuhl gelegt. Man rief den Sanka an, der auch gleich
kam. Ich blutete an Kopf, Schultern, Arm, Fuss und Zehen, lauter Schürfwunden. Das linke
Bein war in kürzester Zeit stark angeschwollen. Überhaupt war die ganze linke Seite von
Kopf bis Fuss stark lädiert. Der Sanka fuhr mich ins Krankenhaus. Später teilte mir die
Krankenschwester vom Sanka mit, dass sie sehr besorgt war, weil mein Blutdruck bei 220
war. Im Krankenhaus angekommen kam auch mein Bruder Jak und fragte, ob ich mich an
irgendetwas aus meinem Leben erinnerte. Ich verneinte es. Da entschied dann Jak, dass man
eine Schädeltomographie machen lassen sollte. Da das städtische Krankenhaus keine solchen
Apparate hat, wurde ich in ein Privatkonsultorium gefahren. Kosten: 130 Euros.
Grosszügigerweise spendierte der Bürgermeister die Tomographie. Und wenns einen Armen
erwischt, der keinen Spender und kein Geld zum Zahlen hat? Dann wird halt keine gemacht.
Die Tomographie ergab Gott sei dank keine Veränderungen im Schädelbereich, und das Laudo
des Neurologen bestätigte, dass alles im normalen Bereich sei.
Da ca. eine halbe Stunde nach meinem Unfall gleich in der Nähe zwei Motorradfahrer frontal
zusammenfuhren und auf der Stelle tot waren, verwechselte man die Meldungen und es
zirkulierte die Notiz in der Pfarrei, dass ich gestorben sei.
Dann wurde ich stationär im Krankenhaus aufgenommen. Das Röntgenbild des linken Beins
ergab, dass das Wadenbein gebrochen war, wahrscheinlich wo mich der Vorderreifen des
Motorrads erwischt hat. Man gipste das Bein bis übers Knie ein, schnitt aber nach einer
gewissen Zeit, wie lange weiss ich nicht, denn an all das kann ich mich nicht mehr erinnern,
den Gips wieder halb ab, weil ich wohl über starke Schmerzen klagte, die wohl daher kamen,
dass das Bein immer noch mehr anschwoll. Man sah kein Knie, keinen Knöchel und
Zehenwurzelknochen. Alles war so angeschwollen und dick wie ein einziger Baumstamm. Viel
gravierender als der Wadenbeinbruch waren die Muskelquetschungen, blauen Flecken,
Prellungen und Blutergüsse, die die Schwellungen und starken Schmerzen verursachten. Die
linke Seite, von den Zehenspitzen bis zur Hüfte war blau, und interessant, dass die
Hämatome nach einer Woche noch zunahmen. Man hatte den Eindruck, dass das gestockte
Blut von innen an die Oberfläche trat. Der ganze Unterschenkel war taub, „pelzig“, und erst
jetzt, nach über vier Wochen, kommt langsam das Gefühl wieder zurück.
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Über das Schienbein verstreut wuchsen dann einige grosse Wasserblasen, wohl wegen der
Schwellung oder der Hitze des Beins. Sie wurden jeden Tag dunkler, bis dunkelgelb.
Die Hitze war unerträglich im Krankenhaus, bei fast 40º Celsius ohne Aircondition auf einer
Gummimatratze in einem Raum mit nur einem Fenster. Trotz Ventilator, der Tag und Nacht
lief, war ich immer nassgeschwitzt, vor allem auf dem Rücken. Bereits nach ein paar Tagen
begann der Rücken stark zu jucken, wurde rot und es wuchsen kleine Bläschen. Da es im
Krankenhaus keine Urinflasche für Männer gab, schnitt man einfach eine Plastik-Pet-Flasche
ab, die die gleichen Dienste tat. Gott sei Dank hatte ich die ersten drei Tage keinen
Stuhlgang, sodass ich nicht aufstehen musste. Das Bein schmerzte stark, vor allem, wenn ich
mich rührte, sodass ich auch nachts kaum schlafen konnte. Dazu kam der Lärm von den
Nachbarzimmern, denn die Türen müssen ja wegen der Hitze offen stehen. Da das
Krankenhaus viel zu wenig Personal hat, müssen bei jedem Patienten Tag und Nacht
Angehörige dabei sein, die Handlangerdienste machen wie beim Baden und Essen helfen,
sowie Fliegen und Mücken vertreiben, Infusionsflaschen zudrehen, etc. In einem der
Nachbarzimmer lag ein Opa, der sich absolut nicht mit seiner Enkelin verstand, und die zwei
stritten lautstark, vor allem nachts.
Es kam sehr viel Besuch für mich, war anstrengend. Jeder fragt, wies geht, streichelt über
das kaputte Bein und seine Wasserblasen, streichelt über die Haare und das Gesicht. Die
Leute lieben den Körperkontakt. Aber schlimmer ist der Besuch von den Kranken selber im
Krankenhaus: man hörte, ein Padre liege hier. Es kommt eine Patientin voller Schläuche, fast
Mitternacht, die an einem unerklärlichen Durchfall leidet, ein anderer hat Grippe und hohes
Fieber, Angehörige anderer Patienten schauen neugierig rein, es ist schon Mitternacht,
erzählen Geschichten, die einen eigentlich gar nicht interessieren..........
Die Krankenschwestern kommen nur alle sechs Stunden zum Spritzen und Tabletten
übergeben. Da sie immer doch viel Luft in den Spritzen lassen, die ja dann auch in die Adern
geht, fragte ich, ob denn das nichts mache. Ja gut ist es nicht, meinte eine. Ich sagte dann,
wenn sie nicht mit der Nadel von unten nach oben, sondern von oben nach unten spritzen
würde, dann bliebe die Luft ja in der Spritze. Aber Belehrungen mögen sie gar nicht, vor
allem nicht von Patienten.....
Interessant war auch, dass sie es im Krankenhaus nicht schafften, die verschiedenen Dienste
voneinander zu trennen: Mahlzeiten, Schwestern zum Spritzen und Zimmerputz kamen
meistens zur gleichen Zeit.
Einmal kamen die Handwerker, um eine lockere Kloschüssel und ein Waschbecken zu
reparieren. Mit dem Schlagbohrer dröhnte nicht nur das ganze Zimmer, sondern auch der
Kopf bei dem, der eh schon an starken Kopfschmerzen und Schwindel litt.
Arztvisite hielt sich in Grenzen. Es gab Tage, da kam ein Arzt, andere, da kam keiner, jeden
Tag wars ein anderer, und ich hatte den Eindruck einer wusste nicht viel vom anderen. Wegen
der Wasserblasen am Schienbein sollte ich Antibiotika bekommen, alle sechs Stunden, sagte
ein Arzt. Einmal vergass es die Schwester am Schluss ihrer Arbeitszeit. Ich sagte es der
nächsten, aber die weigerte sich, na ja, so vergingen halt zehn Stunden bis zur nächsten.
Dann kam eines Mittags die Krankenschwester und sagte: Heute gibts nur Schmerzmittel,
denn die Antibiotika sind ausgegangen. Ich sagte ihr, wenn sie was gesagt hätte, dann hätte
ichs halt kaufen lassen. Dann kam die nächste Schwester nach so zehn Stunden und sagte,
jetzt hätten sie die Antibiotika umgestellt und jetzt erhielte ich die eine Dosis alle sechs
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und die andere via Infusion alle acht Stunden. Ich hatte den Eindruck, das war mit niemand
abgesprochen, sondern das hatte sie alleine entschieden.
Bei der Visite meinte der Arzt ich solle noch zur Beobachtung bleiben, aber was soll man
denn beobachten, wenn die Medikamente ausgehen?
Unser Bischof, Dom Sebastião, der mich auch besuchte, sagte mir: Padre José, Du musst hier
unbedingt so schnell wie möglich raus, sonst kriegst Du noch eine Krankenhausinfektion.
Schliesslich entliess mich der Arzt nach sechs Tagen aus dem Krankenhaus. Vorher saugte er
mit einer Spritze die grösseren Wasserblasen am Schienbein aus und schrieb mir Antibiotika
und ein schmerz-, sowie entzündungshemmendes Mittel auf, vergass aber die Anzahl. So
kaufte ich von beiden ein paar Schachteln in der Apotheke und wurde vom Krankenwagen
nach Hause gefahren.
Hier erhole ich mich jetzt sichtlich und werde von meinen Mitbrüdern, vor allem Jak und
Roberto, meinem brasilianischen Kaplan, liebevoll und aufmerksam versorgt, Es fehlt mir
nichts. Tagsüber liege ich in einer Hängematte, nachts schlafe ich im Bett. Nach ein paar
Tagen war der Rücken wieder ausgeheilt von den Wasserblasen, die Narben der
Schürfwunden fielen nach ein paar Tagen ab. Umschläge mit heissem Wasser und kaltem
Lehm halfen, die Entzündung in Griff zu bekommen. Ein Fieber, das immer nur nachmittags
kam, verliess mich nach zwei Wochen nach dem Unfall, als ich die Antibiotika absetzte und
anfing, aufzustehen.
Einmal die Woche, am Mittwoch, besucht mich ein guter Orthopäde aus der Pfarrei, der
auswärts arbeitet, und gibt Ratschläge. Heute noch, nach drei einhalb Wochen zu Hause und
über vier Wochen nach dem Unfall, ist die Wade verschwollen und noch etwas blau, nicht vom
Bruch, sondern von den Quetschungen und Blutergüssen. Die dominierende Farbe des Beins
ist inzwischen grün-gelb. Die Schmerzen werden bereits weniger, ich unterscheide
inzwischen gut zwischen Knochen- und Muskelschmerzen. Ich hoffe, bald wieder ins
„normale“ Leben zurückkehren zu dürfen.
Ich kann nur Gott danken für seinen Schutz und Segen, und für die 1000 Schutzengel und die
unzähligen Heiligen, die meine Fürsprecher sind und waren, und für die vielen Gebete um
meine Genesung..
Denn für die Schwere des Unfalls war ich viel näher dem Tod als dem Leben.
Auf der vielbefahrenen Strasse hätte ich gleich von einem anderen Fahrzeug überfahren
werden können: Motorrad, Auto, oder einem der vielen Lastwägen.
Der harte Aufprall mit dem Kopf auf die Teerstrasse hätte mich gleich das Leben kosten
können, oder einen Schädel(basis)bruch zue Folge haben können.
Ich könnte mein Leben lang im Koma liegen oder mein Bewusstsein für immer verloren haben.
Wenn ich auf den Rücken aufgeschlagen wäre, könnte ich ein Leben lang querschnittgelähmt
und an einen Rollstuhl gefesselt sein.
Ich könnte einen Beckenbruch, Oberschenkelhalsbruch oder einen anderen offenen Bruch
haben und monatelang, jahrelang – bei den Temeraturen hier – unbeweglich im Gips liegen.
Die Plastiksplitter der zerbrochenen Drucker hätten mir die Lunge durchbohren können...
Der hohe Blutdruck beim Unfall hätte leicht eine Ader im Gehirn platzen lassen können, da es
sowieso schon angeschlagen war.
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Es hätte Komplikationen bei der Regenerierung geben können. Ich hätte eine äusserliche
Infektion am Bein, oder eine innere durch das gestockte Blut bekommen können, eine
Thrombose, bei den fehlenden Medikamenten.........
Und und und – ich denke an die vielen Invaliden, unschuldige Opfer von Motorradunfällen in
Codó, Krüppel für ihr Leben lang, wenn sie nicht gleich gestorben sind.
Statt dessen habe ich nur eine saftige Gehirnerschütterung, ein paar paar starke Prellungen
und einen Wadenbeinbruch, brauche keinen Gips, kann jeden Tag aufstehen, duschen, und
jeden Tag gehts mir besser. In einer Woche werde ich auftreten dürfen, sagt der
Orthopäde. Vielleicht kann ich zum Raimundofest am 31. August schon hinüberfahren.
Die starken Kopfschmerzen wurden sichtlich weniger, als ich nach zwei Wochen aufstand und
mich bewegte. Es waren wohl auch Probleme einer schlechten Blutzirkulation. Vor allem
nachts, mit dem Kopf tief liegend, nahmen die Schmerzen zu und schwitzte – nur der Kopf.
Es bleiben jetzt noch etwas Kopfschmerzen und Schwindelgefühle. Die Medikamente sind
inzwischen alle aus, ich nehme keine mehr. Ich liege noch viel, alles strengt an, ich werde
leicht müde, schwitze auch gleich. Das Bein tut weh, wenn ich es auf den Boden setze, denn
dann schiesst das Blut ein und staut sich, und das Bein wird hart. Nachts wache öfter mal
auf, wenn eine Hand und ein Arm, oder auch beide eingeschlafen sind. Ich werde, wenn ich
wieder einigermassen gehen kann, und wieder einigermassen normal lebe, noch von einem
Neurologen Nachuntersuchungen am Kopf machen lassen. So bin ich guter Dinge.
Ein solcher Moment des Unfalls, wo man nahe dem Tod steht, verändert nocheinmal radikal
das Leben. Man spürt seine eigene Kleinheit und Unfähigkeit, sein Schicksal zu bestimmen
(ähnlich wie bei meiner Krankheit im Jahre 2007).
Zugleich wächst ein ganz neues Vertrauen: das Leben hängt allein an der Entscheidung des
Willens Gottes. Wir können gar nichts bestimmen. Das gibt eine grosse Gelassenheit. Andere
mit viel leichteren und weniger gravierenden Unfällen sind schon gestorben. Warum? Gott
weiss es.
„Meine Stunde ist noch nicht gekommen“. Ich habe wohl noch eine Aufgabe, eine Mission, und
die muss ich ernst nehmen und verantwortungsvoll erfüllen. Mit neuem Vertrauen stelle ich
Gott mein Leben wieder zur Verfügung. Ich glaube, der Unfall hat mir geholfen, mehr in der
Vorsehung Gottes zu leben.
Codó, 29. August 2014
Liebe Grüsse
Eurer Sepp
PS: Im Anhang eine paar Bilder von „daheim“. Das Plastik über dem Bein ist, weil ich gerade
Kompressen mit heissem Wasser mache. Die Bilder sind vom pallottinischen Studientag
letzten Montag, den 25. August mit den Schwestern in unserem Haus.
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