Quantifizierung der Kraftfähigkeiten und der

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Quantifizierung der Kraftfähigkeiten und der
Kraftfähigkeiten bei Achillessehnenbeschwerden
Originalia
Hirschmüller A, Baur H, Müller S, Mayer F
Quantifizierung der Kraftfähigkeiten und der
neuromuskulären Effizienz bei Gesunden und Läufern mit
chronischen Achillessehnenbeschwerden
Quantification of strength capacities and neuromuscular efficiency in healthy runners
and runners with Achilles tendon complaints
Abteilung Rehabilitative und Präventive Sportmedizin, Medizinische Klinik, Universitätsklinikum Freiburg
Zusammenfassung
Summary
Veränderungen der neuromuskulären Regulation mit der Folge reduzierter Kraftfähigkeiten werden ursächlich mit Beschwerden des MuskelSehnen-Apparates in Verbindung gebracht. Ziel der Studie war, Unterschiede der Kraftleistungsfähigkeit in Abhängigkeit der muskulären Aktivierung bei Läufern mit chronischen Achillessehnenbeschwerden (AT)
und Gesunden (CO) darzustellen. Über die Definition des Quotienten
ε_dyn sollte die dynamische neuromuskuläre Effizienz erfasst werden.
Bei 92 Läufern wurden die maximalen exzentrischen (Ecc 60°/s) und
konzentrischen (Con 60°/s) Drehmomente (DM) der Plantarflexion (PF)
und Dorsalextension (DE) des Sprunggelenks gemessen. Parallel dazu
fand eine Amplitudenanalyse (MVC-normalisiert, AEMG) der Mm. tibialis anterior (TA), gastrognemii (GL und GM) und soleus (SOL) statt
(ANOVA, α=0,05). ε_dyn wurde definiert als intraindividueller Quotient
aus DM und AEMG.
Die Patienten zeigten bei PF, nicht jedoch bei DE, geringere DM für Con
und Ecc (p<0,05) sowie eine höhere AEMG in GM, GL und SOL (p<0,01).
Für ε_dyn ergaben sich in PF höhere Werte für CO gegenüber AT.
Läufer mit AT weisen trotz geringerer Kraftleistungsfähigkeit eine höhere Aktivierung der Arbeitsmuskulatur auf. Die geringere Effizienz ausgedrückt durch die neue Größe ε_dyn, könnte als Ausdruck einer alterierten neuromuskulären Kontrolle verstanden die Wirksamkeit von
sensomotorischem Training bei Sehnenbeschwerden erklären.
Changes in neuromuscular regulation with resultant reduction in
strength capacity are causally associated with complaints of the muscletendon apparatus. This study was designed to depict possible differences in strength performance capacity in dependence on muscular activation pattern between runners with chronic Achilles tendon complaints (AT) and healthy runners (CO). The dynamic neuromuscular
efficiency was to be recorded by defining a quotient ε_dyn.
The maximum eccentric (Ecc, 60°/s) and concentric (Con 60°/s) torques
(DM) of plantar flexion (PF) and dorsal extension (DE) were determined
in the ankles of 92 runners (AT n=72; CO, n=20). In parallel, an amplitude analysis (MVC-normalized, AEMG) was made of the Mm. tibialis anterior (TA), gastrognemii (GL and GM) and soleus (SOL) (ANOVA,
α=0.05). An intraindividual quotient ε_dyn of DM and AEMG was defined.
The patients showed lower DM in PF, unlike in DE, at Con and Ecc
(p<0.05) and higher AEMG in GM, GL and SOL (p<0.01). For ε_dyn there were higher PF values for CO compared to AT.
Discussion: AT-runners show higher activation of the exercised musculature, despite lower strength performance capacity. The newly-defined
quantity ε_dyn can be applied as a useful measure for assessing dynamic neuromuscular efficiency. Lower neuromuscular efficiency, as an
expression of uncoordinated neuromuscular control, could explain the
efficacy of sensorimotor training in tendon complaints.
Schlüsselwörter: Kraft, Drehmoment, Achillessehne,
Elektromyographie, neuromuskuläre Effizienz
Key words: Strength, Achilles tendonitis, torque, electromyography,
neuromuscular efficiency
Einleitung
Achillessehnenbeschwerden sind nach wie vor eines der
häufigsten chronischen Krankheitsbilder bei Leistungssportlern, insbesondere bei Langstreckenläufern (11, 20,
27). Trotz intensiver Forschung der letzten Jahre sind
Ätiologie, Pathophysiologie und wirksame konservative
Therapieformen des komplexen Krankheitsgeschehens
nach wie vor nicht abschließend geklärt (21, 25).
Bei der multifaktoriellen Ätiologie werden verminderte absolute Kraftfähigkeiten und muskuläre Dysbalancen
als für die Beschwerdeentstehung mitentscheidend angesehen (3, 22, 25). Haglund-Akerlind und Ericsson (11) fanJahrgang 56, Nr. 2 (2005)
den bei Läufern, die anamnestisch Achillessehnenbeschwerden angaben, im Vergleich zu gesunden Läufern
signifikant niedrigere Drehmomente bei exzentrischer Arbeitsweise der Wadenmuskulatur. Bei konzentrischem
Modus konnten sie hingegen keine Unterschiede nachweisen. McCrory et al. (20) untersuchten signifikante Differenzierungsmerkmale zwischen Läufern mit unilateraler, nichtinsertionaler Tendinose der Achillessehne und
gesunden Läufern und zeigten statistisch signifikante Unterschiede, unter anderem im maximalen Drehmoment
der Plantarflexion im OSG mit 180°/sec und der Dorsalextention mit 60°/sec, während sich das maximale
Drehmoment der Plantarflexion mit 60°/sec nicht signifi-
DEUTSCHE ZEITSCHRIFT FÜR SPORTMEDIZIN
39
Kraftfähigkeiten bei Achillessehnenbeschwerden
kant unterschied. Zusätzlich konnten sie zeigen, dass diese verminderten Kraftfähigkeiten für das verletzte und das
gesunde Bein gleichermaßen nachzuweisen waren. Alfredson et al. (4) stellten bei Achillessehnenpatienten im
akuten Zustand hingegen signifikante Unterschiede im
Drehmoment zwischen gesundem und krankem Bein fest,
die sich nach 3 Monaten Therapie nicht mehr nachweisen
ließen. Eine gesunde Vergleichsgruppe wurde jedoch in
dieser Untersuchung nicht gemessen.
Die unterschiedlichen,
Tabelle 1: Anthropometrische Daten der
unsystematisch eingesetzProbanden: Laufalter=Trainingsjahre
ten Therapieansätze wurAT
CO
den bis dato unzureichend
Alter
39,4 (±6,3) 28,7 (±7,9)
Größe 178,2 (±5,7) 180,6 (±6,1) in randomisierten, konGewicht 74,0 (±7,9) 72,7 (±9,6) trollierten Studien evaLaufalter 13,8 (±8,7)
8,2 (±4,6)
km/Wo 49,6 (±5,2) 37,0(±12,7) luiert (21, 25). McLauchlan et al. (21) und Almekinders et al. (6) folgern in ihren Cochrane-Reviews zur
Therapie akuter und chronischer Achillessehnenbeschwerden bzw. Sehnenbeschwerden im Allgemeinen,
dass derzeit eine nur insuffiziente Evidenz bezüglich der
Wirksamkeit der unterschiedlichen Therapieformen festzustellen ist. In den letzten Jahren wird der Verbesserung
der Kraftfähigkeiten ein zunehmend größerer Stellenwert
eingeräumt (5, 25). Insbesondere exzentrisches Krafttraining scheint therapeutisch vielversprechend zu sein (2,
13, 18, 23, 28). Niessen-Vertommen et al. (23) zeigten eine größere Schmerzminderung bei exzentrischem Krafttraining im Vergleich zu konzentrischem. Erste Ergebnisse mit „heavy load eccentric calf muscle training“ im Rahmen einer prospektiven Studie von Alfredson et al. (3),
konnten in einer randomisierten Multicenterstudie bestätigt werden (18). Hierbei zeigten die Autoren auch, dass
ein exzentrisches Trainingsprogramm zu einem besseren
klinischen Outcome führt als konzentrisches Training.
Einschränkend ist anzumerken, dass das Follow-up jeweils nur 3 Monate betrug. Silbernagel et al. (28) beobachteten die Patienten nach randomisierter Gruppenzuteilung über einen Zeitraum von 12 Monaten. Sie berichten ebenfalls über eine im Vergleich zu der Kontrollgruppe
größere Schmerzreduktion in der Gruppe, die ein exzentrisches Trainingsprogramm absolvierte.
Bei alledem ist jedoch unklar, ob dieser sowohl kausale als auch therapeutische Einfluss veränderter Kraftfähigkeiten pathogenetisch in erster Linie einer muskulären
Atrophie, veränderten neuromuskulären Regulationsmechanismen oder einer Kombination der beiden zuzuschreiben sind. Ziele der Studie waren somit, zunächst mögliche Unterschiede der konzentrischen und exzentrischen
Kraftleistungsfähigkeiten zwischen Patienten mit chronischen Achillessehnenbeschwerden (AT) und Gesunden
(CO) darzustellen. Über die parallele Erfassung der muskulären Aktivierung sollten zusätzlich mögliche neuromuskuläre Unterschiede und deren Einfluss auf die Kraftleistungsfähigkeiten erfasst werden. Darüber hinaus wurde über die Definition des Quotienten ε_dyn versucht, die
dynamische neuromuskuläre Effizienz zu quantifizieren.
40
Material und Methoden
Probanden: 92 männliche Läufer mit einem individuellen
Trainingsumfang von über 32 Kilometern pro Woche
wurden in die Studie eingeschlossen. Die Studienteilnahme erfolgte freiwillig und nach schriftlicher Aufklärung.
Die Patientengruppe umfasste 72 Läufer mit chronischen,
unilateralen, nichtinsertionalen, bisher unbehandelten
Achillessehnenbeschwerden (AT n=72); die Kontrollgruppe umfasste 20 beschwerdefreie Läufer (CO n=20). Die
Einschlusskriterien waren: Trainingsumfang von über
32km pro Woche, Alter zwischen 18 und 50 Jahren, keine Voroperationen an den unteren Extremitäten oder der
LWS, keine aktuellen klinischen Symptome an der unteren Extremität und der LWS mit Ausnahme der Achillessehnenbeschwerden in der Patientengruppe. Vor Studieneinschluss wurden alle Patienten von einem unabhängigen
Prüfarzt
orthopädisch
untersucht
und
unterschrieben eine mit der Ethikkomission der Universität abgestimmte Einverständniserklärung. Die aus Tabelle 1 ersichtlichen anthropometrischen Daten wurden in
den vorab erstellten Case Report Forms dokumentiert.
Messungen: Nach einer ca. 10-minütigen Aufwärmphase auf dem Laufband wurde zunächst das individuelle Bewegungsausmaß beider Sprunggelenke auf einem
isokinetischen Kraftmessgerät (LIDO-ACTIVE, Loredan
Inc.) getestet und anschließend nach mehreren Probeversuchen die maximalen konzentrischen (Con) und exzen200
180
Maximales Drehmoment (Nm)
Originalia
*
AT
CO
160
140
n.s.
n.s.
CON
ECC
120
*
100
80
60
40
20
0
Dorsalextension
CON
ECC
Plantarflexion
Abbildung 1: Mittelwert und 95 % Konfidenzintervall der maximalen Sprunggelenksdrehmomente bei Patienten mit chronischen Achillessehnenbeschwerden (AT) und Gesunden (CO) für die konzentrische (CON) und exzentrische
(ECC) Dorsalextension und Plantarflexion (n.s.: nicht signifikant, *: p<0,05)
trischen (Ecc) Drehmomente (DM) der Plantarflexion (PF)
und Dorsalextension (DE) beider Sprunggelenke gemessen
(60°/Sekunde, Bewegungsausmaß 50°). Von den jeweils 5
zyklisch ausgeführten Bewegungen wurden die 3 besten
Versuche ausgewählt und die maximalen Drehmomente
gemittelt. Parallel dazu fand die bilaterale Ableitung der
elektromyographischen Aktivität der Mm. tibialis anterior (TA), gastrognemius medialis und lateralis (GL und GM)
und soleus (SOL) statt. Die Registrierung der Rohsignale
erfolgte mit einer Aufzeichnungsfrequenz von 1000 Hz
mittels bipolar angebrachten Oberflächenelektroden. In
DEUTSCHE ZEITSCHRIFT FÜR SPORTMEDIZIN
Jahrgang 56, Nr. 2 (2005)
Kraftfähigkeiten bei Achillessehnenbeschwerden
ε_dyn =
DM
A_EMG
→ε_dyn_pf_gm (DM bei PF, Aktivierung des M. gastrognemius medialis)
→ε_dyn_pf_gl, (DM bei PF, Aktivierung des M. gastrognemius lateralis)
→ε_dyn_pf_sol, (DM bei PF, Aktivierung des M. soleus)
→ε_dyn_pf_ta (DM bei DE, Aktivierung des M. tibialis anterior)
Statistik
Die anthropometrischen Daten wurden aus den Case Report Forms in eine Datenbank eingegeben und später auf
einem Ausdruck manuell überprüft. Alle ausgewerteten
Daten wurden anhand eines Range-checks auf ihre Plausibilität analysiert, ausreißende Werte bis zu den Rohdaten zurückverfolgt und gegebenenfalls neu berechnet. Für
eine zusätzliche Überprüfung der Plausibilität wurden
stichprobenweise 10 % der Werte der Originaldaten neu
berechnet und mit den Einträgen in der Datenbank vergJahrgang 56, Nr. 2 (2005)
lichen. Mehr als 95 % der Werte mussten dabei übereinstimmend berechnet sein. Generelle Drop-outs wurden
nicht verzeichnet.
Die statistische Auswertung erfolgte zunächst deskriptiv mittels Darstellung des Mittelwertes und des 95 %
Konfidenzintervalls. Im Rahmen der hypothesenprüfenden Auswertung erfolgte die Überprüfung auf statistische
Signifikanz mittels univariater, multifaktorieller Varianzanalyse (ANOVA, JMP statistical software) auf dem zweiseitigen Signifikanzniveau von 5 % (α=0,05). Die Mittelwertdifferenzen zwischen den Gruppen wurden anschließend mit dem Post hoc-Test nach Tukey-Kramer
ebenfalls auf einem Signifikanzniveau von 5 % getestet.
150
EMG-Amplitude (% MVC)
Neutral-Null-Stellung wurden im Faserverlauf der entsprechenden Muskelgruppen nach dem von Winter und
Yack 1987 angegebenen Schema im Abstand von 2 cm
Elektroden (MEDICOTEST, „blue sensor“ P-00-S) auf den
Muskelbauch aufgeklebt und eine Referenzelektrode auf
der Patella angebracht (31). Zur besseren Fixierung der
Elektroden und zur Reduktion von Störsignalen wurde die
Haut vor dem Anbringen rasiert, gereinigt, mit feinem
Schmirgelpapier aufgeraut, von losen Epithelien befreit
sowie der kutane Fettfilm mit Alkohol entfernt. Nach der
anschließenden Messung des Hautwiderstandes wurde
dieses Verfahren bei einem Wert >5 kOhm wiederholt, da
ein Wert <5kOhm als Voraussetzung für die Durchführung
der Messung definiert wurde. Vor jeder Messung wurden
die Signale der zu untersuchenden Muskeln getestet und
ein Nullabgleich durchgeführt. Die Prozessierung der
Rohdaten erfolgte durch Gleichrichtung (Full Wave Rectification; 31) und Glättung der Signale (Root Mean Square, 50ms; 7, 8) sowie durch Normalisierung auf die EMGAmplitude einer maximalen willkürlichen Kontraktion
(MVC; 7, 19). Zur Ermittlung dieser MVC-Werte wurden
maximale isometrische Kontraktionen bei 4 verschiedenen Winkelstellungen durchgeführt (30°PF, 15°PF, 0°,
15°DE) und die EMG-Amplitude der Bewegung mit dem
höchsten Drehmoment zur Berechnung extrahiert. Nach
Signalbearbeitung erfolgte eine Mittelung von drei Bewegungszyklen zu einem Ensemble Average (19, 31).
Die neu definierte Messgröße ε_dyn - berechnet als intraindividueller Quotient aus dem maximalen Drehmoment und der normalisierten Amplitude der entsprechenden Muskeln – sollte als Maß der neuromuskulären Effizienz in dynamischen Bewegungen dienen. Das maximale
Drehmoment der Plantarflexion wurde hierbei zur Aktivierung der Plantarflexoren M. gastrognemius medialis,
lateralis und soleus, das der Dorsalextension zur Aktivierung des Fußhebers M. tibialis anterior ins Verhältnis gesetzt. Nachstehende Abbildung zeigt die Formel und die
abgeleiteten Messgrößen:
Originalia
140
*
*
AT
*
CO
120
*
100
*
*
80
60
40
20
0
GL
GM
konzentrisch
SOL
GL
GM
SOL
exzentrisch
Abbildung 2: Mittelwert und 95 % Konfidenzintervall der MVC-normalisierten EMG-Amplituden der Mm. gastrognemii lateralis (GL) und medialis (GM)
und des M. soleus (SOL) für die konzentrische und exzentrische Plantarflexion bei Patienten mit chronischen Achillessehnenbeschwerden (AT) und Gesunden (CO). *: p<0,05
Ergebnisse
Kraftfähigkeiten
In der Plantarflexion fanden sich geringere Drehmomente bei den Achillessehnenpatienten sowohl bei exzentrischer als auch bei konzentrischer Arbeitsweise (p<0,05;
Abb. 1). Hingegen konnten bei der Dorsalextension keine
Unterschiede zwischen den beiden Gruppen nachgewiesen werden (p>0,05; Abb. 1). Ebenso wurden in keiner der
Testsituationen (PF, DE, Con, Ecc) Unterschiede zwischen
den beiden Beinen festgestellt. Dies gilt für die gesunde
Vergleichsgruppe und die Patientengruppe gleichermaßen, d.h. die Drehmomente des verletzten Beines bei
den Patienten unterschieden sich nicht signifikant vom
gesunden Bein (p>0,05). In den Abbildungen wurden daher stets beide Beine zusammengefasst. Exzentrisch werden in beiden Gruppen höhere Drehmomente gefunden
als konzentrisch. Diese sind außerdem bei Plantarflexion
deutlich höher als bei Dorsalextension (p<0,05; Abb. 1).
Elektromyographie
Die auf die maximale isometrische Kontraktion normalisierten Amplituden der dynamischen Bewegungen unterscheiden sich analog zu den Drehmomenten lediglich
in der Plantarflexion. Hier finden sich bei den Läufern mit
chronischen Achillessehnenbeschwerden in allen Plantar-
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41
Kraftfähigkeiten bei Achillessehnenbeschwerden
flexorenmuskeln (GM, GM, SOL) höhere Amplituden bei
beiden Bedingungen (p<0,05, Abb. 2). Bei Dorsalextension konnten für den M. tibialis anterior keine Gruppenunterschiede gefunden werden (p>0,05; Abb. 3). Beindifferenzen lassen sich ebenfalls nicht nachweisen. Die EMG
Amplituden sind bei konzentrischer Arbeitsweise höher
als bei exzentrischer (Abb. 2, 3). Dies ist in der Patientengruppe deutlich stärker ausgeprägt als in der Kontrollgruppe.
Quotient ε_dyn
Die Berechnung des Quotienten zur Quantifizierung der
neuromukulären Effizienz ergab in der Plantarflexion für
GM, GL und SOL statistisch signifikant niedrigere Werte
in der Patientengruppe im Vergleich zur Kontrollgruppe
(p<0,01; Abb. 4). Die Effizienz scheint hier bei den Patienten geringer zu sein. In der Dorsalextension finden
EMG-Amplitude (% MVC)
120
n.s
AT
100
CO
n.s
80
60
40
20
0
konzentrisch
exzentrisch
Abbildung 3: Mittelwert und 95 % Konfidenzintervall der MVC-normalisierten EMG-Amplitude des M. tibialis anterior (TA) für die konzentrische und
exzentrische Dorsalextension bei Patienten mit chronischen Achillessehnenbeschwerden (AT) und Gesunden (CO). n.s.: nicht signifikant
sich die Unterschiede wiederum nicht (TA; p>0,05; Abb.5).
Bei exzentrischer Belastung sind die berechneten Quotienten deutlich größer als bei konzentrischer sowohl bei
Dorsalextension als auch bei Plantarflexion (Abb. 4, 5).
Zusammenfassung und Diskussion
Veränderungen der Kraftfähigkeiten bei Patienten mit
chronischen Achillessehnenbeschwerden und deren therapeutische Beeinflussung durch exzentrisches Krafttraining traten in den letzten Jahren zunehmend in das Interesse klinischer Forschung. Es konnte gezeigt werden,
dass exzentrisches Krafttraining einen viel versprechenden Ansatz in der komplexen Therapie dieses Krankheitsbildes darstellt (3, 18, 23, 28). Der Einfluss neuromuskulärer Regulationsmechanismen blieb dabei jedoch bisher weitgehend unbeachtet. Das Ziel der vorliegenden
Studie war daher, neben der Erfassung konzentrischer und
exzentrischer Kraftfähigkeiten, durch die simultane
Registrierung elektromyographischer Aktivierungsmuster
eine Aussage über die wechselseitige Beeinflussung von
muskulärer Aktivierung und absoluten Kraftfähigkeiten
zu treffen. Über die Definition des Quotienten ε_dyn aus
42
Quotient _dyn (Nm/ % MVC)
Originalia
7
6
5
AT
*
CO
*
*
*
*
*
4
3
2
1
0
GL
GM
SOL
konzentrisch
GL
GM
SOL
exzentrisch
Abbildung 4: Mittelwert und 95% Konfidenzintervall des Quotienten ε_dyn
für die Mm. gastrognemii lateralis (GL) und medialis (GM) und den M. soleus
(SOL) bei konzentrischer und exzentrischer Plantarflexion von Patienten mit
chronischen Achillessehnenbeschwerden (AT) und Gesunden (CO). *: p<0,05
Drehmoment und muskulärer Aktivierung wurde darüber
hinaus versucht, dieses Zusammenspiel im Sinne einer
neuromuskulären Effizienz zu quantifizieren.
Die Ergebnisse zeigten, dass Läufer mit chronischen
Achillessehnenbeschwerden geringere Drehmomente der
Plantarflexion aufweisen als gesunde Läufer. Dies unterstützt die Ergebnisse von McCrory et al. (20), die das maximale Drehmoment bei 180 Winkelgrad pro Sekunde als
ein signifikantes Differenzierungsmerkmal zwischen
Läufern mit Achillessehnenbeschwerden und gesunden
Läufen identifizierten. Haglund-Akerlind und Eriksson
(11) fanden bei Läufern mit Achillessehnenproblemen
ebenfalls signifikant geringere Drehmomente der Plantarflexoren bei exzentrischer Arbeitsweise. Konzentrisch
fanden sie jedoch keine Unterschiede. Analog zu McCrory
et al. (22) zeigten sich diese verminderten Kraftfähigkeiten für das verletzte und das gesunde Bein gleichermaßen.
Einschränkend ist festzuhalten, dass das Durchschnittsalter der Probanden der Kontrollgruppe 10 Jahre unter dem
der Achillessehnenpatienten lag, was zunächst den
Schluss einer altersbedingten Verminderung der Kraftfähigkeiten nahe legt. Aus den folgenden Gründen ist dies
jedoch als Erklärung der Gruppenunterschiede höchstwahrscheinlich nicht ausreichend. Die Angaben in der
Literatur wann der Alterungsprozess der Muskulatur und
des neuromuskulären Systems einsetzt variieren zwischen
dem 40. und 60. Lebensjahr, während die Veränderungen
darunter geringen Ausmaßes oder gar nicht vorhanden zu
sein scheinen (12, 30). So schreibt Häkkinen „human
muscle strength reaches its peak between the ages of 2030 years after which time it remains unchanged or
slightly decreases for more than 20 years” (12). Vandervoort beschreibt eine Abnahme der Muskelkraft bei isometrischer Kontraktion ab dem 60. Lebensjahr: „..age in
the 40s and 50s involves some slowing of contraction but
changes in the absolute muscle strength are minor until
about the sixth decade of life” (12). Eine altersbedingte
Drehmomentsdifferenz von 10-20 % erscheint somit bei
einem mittleren Alter unter 40 Jahren sehr unwahrscheinlich. Desweiteren konnten Unterschiede in der vorliegenden Studie nur für die Plantarflexion gefunden
werden. Die Dorsalextension ist nicht betroffen, was geht man von einem generellen Alterungsprozess aus ebenfalls nicht zu erwarten wäre.
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Jahrgang 56, Nr. 2 (2005)
Kraftfähigkeiten bei Achillessehnenbeschwerden
Quotient _dyn (Nm/ %MVC)
Trotz geringeren Kraftfähigkeiten bei Plantarflexion
fand sich eine höhere - auf die MVC normalisierte - muskuläre Aktivierung der Wadenmuskulatur. Der berechnete Quotient ε_dyn ergab für die Plantarflexion statistisch
signifikant geringere Werte in der Patientengruppe. Für
die Dorsalextention und den M. tibialis anterior konnten
hingegen wiederum in keiner der gemessenen Größen statistisch signifikante Unterschiede festgestellt werden.
Läufer mit Achillessehenbeschwerden scheinen also nicht
nur in der absoluten Kraft der für die Pathologie entscheidenden Bewegung Defizite gegenüber Gesunden
aufzuweisen. Auch die Ansteuerung der entsprechenden
1,4
1,2
n.s.
AT
CO
1
0,8
0,6
n.s.
0,4
0,2
0
TA
TA
konzentrisch
exzentrisch
Abbildung 5: Mittelwert und 95 % Konfidenzintervall des Quotienten ε_dyn
für den M. tibialis anterior (TA) bei konzentrischer und exzentrischer Dorsalextension von Patienten mit chronischen Achillessehnenbeschwerden (AT)
und Gesunden (CO). n.s.: nicht signifikant
Arbeitsmuskulatur ist im Vergleich zu Gesunden verändert. Die höhere Ansteuerung der Arbeitsmuskulatur bei
dynamischer Bewegung könnte als Hinweis auf eine
höhere Beanspruchung der neuromuskulären Bewegungskontrolle gedeutet werden. Daraus könnte weiter geschlossen werden, dass eine alterierte neuromuskuläre
Koordination möglicherweise bereits bei der Pathogenese
der Kraftminderung und der konsekutiven Beschwerdeentstehung eine Rolle gespielt hat. In diesem Fall
spräche der fehlende Beinunterschied in der Patientengruppe ebenfalls für die pathogenetische Bedeutsamkeit
der verminderten neuromuskulären Effizienz, denn die
Defizite scheinen nicht auf die verletzte Extremität im
Sinne einer „Schonhaltung“ beschränkt zu sein, sondern
in übergeordneten Zentren zu liegen und somit beide Extremitäten gleichermaßen zu beeinflussen. Dies unterstützt auch die bekannte Tatsache, dass die von den chronischen Sehnenpathologien betroffenen Läufer im Laufe
der Zeit häufig bilaterale Beschwerden aufweisen (1, 10).
Aus den vorliegenden Ergebnissen kann weiterhin geschlossen werden, dass sensomotorisches Training, das
zusätzlich zur Verbesserung der Kraftfähigkeiten auch die
veränderte neuromuskuläre Ansteuerung berücksichtigt,
das Krankheitsbild präventiv und therapeutisch positiv
beeinflussen könnte.
Der neu definierte Quotient ε_dyn scheint hierbei mit
einigen Einschränkungen ein sinnvolles Maß zur Beurteilung der neuromuskulären Effizienz zu sein. Allerdings
Jahrgang 56, Nr. 2 (2005)
Originalia
wird beispielsweise die Quantifizierung der EMG-Amplitude unter nicht stationären Bedingungen kritisch diskutiert. Der Einfluss der maximalen isometrischen Kontraktion, die durch die Normalisierung in die Berechnung des
Quotienten eingeht, ist bei der Beurteilung zu berücksichtigen. Eine bezüglich aller Qualitäten veränderte neuromuskuläre Ansteuerung der Muskulatur kann durch diese
Normalisierung verschleiert werden. Bei der Interpretation ist es aus dem Wert des Quotienten allein ebenfalls
nicht möglich die Ursache eines eventuell detektierten
Unterschiedes zu erkennen, da sowohl Unterschiede im
Drehmoment als auch in der EMG-Aktivität bei isometrischer oder zyklischer Bewegungsausführung in die
Berechnung eingehen.
Es konnte gezeigt werden, dass eine Differenzierung
von Gesunden und Patienten mit Sehnenbeschwerden im
Gruppenvergleich anhand des Quotienten möglich ist.
Von der Möglichkeit einer diagnostischen Erkennung von
Patienten im Einzelfall ist bislang allerdings nicht auszugehen. Das Ziel anderer Studien sollte jedoch sein, weitere viel versprechende Messgrößen zu identifizieren, so
dass vielleicht durch eine Kombination verschiedener
Messgrößen in Zukunft eine Einzelfalldiagnose möglich
wird. Beeinflussung der Sehnenbeschwerden und Veränderungen des Quotienten durch sensomotorisches Training sollten ebenfalls in weiteren prospektiven, randomisierten klinischen Studien überprüft werden.
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Korrespondenzadresse:
Dr. med. Anja Hirschmüller
Abteilung für Rehabilitative und Präventive Sportmedizin
Medizinische Klinik
Universitätsklinikum Freiburg
Hugstetter Straße 55
79106 Freiburg
E-mail: [email protected]
DEUTSCHE ZEITSCHRIFT FÜR SPORTMEDIZIN
Jahrgang 56, Nr. 2 (2005)