Die Ursachen der industriellen Revolution in England

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Die Ursachen der industriellen Revolution in England
Studiengang Volkswirtschaftslehre
Wirtschafts- und Lehrgeschichte
Die Ursachen der industriellen Revolution in England
Von
Claus Lapicz (Heidelberg)
Jörg Cezis (Ulm)
Vorgelegt bei
Dr. Gerhard Pfister
Im
Wintersemester 2005/2006
Inhaltverzeichnis
Inhaltverzeichnis ...................................................................................................... ii
Abbildungsverzeichnis ........................................................................................... iii
Tabellenverzeichnis ................................................................................................ iii
1
Einleitung ........................................................................................................... 1
2
Überblick ............................................................................................................ 1
2.1
2.2
3
Begriff........................................................................................................... 1
Datierung...................................................................................................... 2
Die industrielle Revolution im Detail ............................................................... 3
3.1
Begleiterscheinung: Bevölkerungsexplosion ................................................ 3
3.2
Grundlegende Entwicklung: das Fabriksystem ............................................ 5
3.3
Sektorale Entwicklungen .............................................................................. 6
3.3.1
Primärer Wirtschaftssektor .................................................................... 6
3.3.2
Sekundärer Wirtschaftssektor ............................................................... 7
3.3.3
Tertiärer Wirtschaftsektor ...................................................................... 9
4
Triebkräfte........................................................................................................ 10
4.1
Gesellschaft ............................................................................................... 10
4.2
Erfindung und Vermarktung ....................................................................... 12
4.2.1
Inventionsfähigkeit .............................................................................. 12
4.2.2
Innovationsfähigkeit ............................................................................ 13
5
Der Kern der industriellen Revolution in England........................................ 14
5.1
5.2
Entwicklungen und Triebkräfte im Zusammenhang.................................... 14
England nicht in Indien ............................................................................... 14
6
Gesellschaftliche Auswirkungen: die soziale Frage .................................... 16
7
Zusammenfassung.......................................................................................... 17
Literaturverzeichnis ................................................................................................. A
Ehrenwörtliche Erklärung ........................................................................................ B
ii
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Grundlegende Innovationen im Zeitalter der industriellen Revolution.... 6
Abbildung 2: Zusammenhänge der industriellen Revolution..................................... 14
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Die jährliche Zunahme des realen Prokopfeinkommens in England (in %) 2
Tabelle 2: Die Beschäftigen nach Wirtschaftssektoren in England von 1801 - 1901 (in
%) ........................................................................................................................ 2
Tabelle 3: Bevölkerung und Wachstum in England von 1800 bis 1910 ...................... 3
Tabelle 4: Ausgewählte Emigration aus England von 1841 - 1915............................. 3
Tabelle 5: Mortalität in England im Zeitraum von 1700 bis 1910 ................................ 4
Tabelle 6: Chronik der Mechanisierung des Spinnen und Webens ............................ 8
Tabelle 7: An der Entwicklung der Dampfmaschine beteiligte Gelehrte ................... 13
iii
1 Einleitung
Die industrielle Revolution ist ein weitgehend untersuchtes Phänomen. Dieser
Prozess ist von großer wirtschaftsgeschichtlicher Bedeutung. Er erklärt anschaulich
die volkswirtschaftlichen Zusammenhänge, auf denen auch noch unsere heutige
Gesellschaftsform, die moderne Industrienation, fußt. Die Ursprünge fanden sich in
England. Warum? Dies wird diese Arbeit erläutern.
Diese Arbeit geht den Ursachen für die industrielle Revolution in England auf den
Grund. In einem Überblick wird zunächst der Begriff bestimmt und eine Datierung
vorgenommen. Anschließend werden Bevölkerungswachstum, die Einführung des
Fabriksystems sowie Entwicklungen in den einzelnen Wirtschaftsektoren vorgestellt.
Anschließend werden die Triebkräfte untersucht, welche die industrielle Revolution in
England eingeleitet haben. Nach einer Zusammenfassung wird die Begründung,
warum die industrielle Revolution als erstes in England stattgefunden hat, im
Vergleich zwischen England und Indien diskutiert. Abschließend wird gezeigt, wie die
industrielle Revolution die Gesellschaft verändert hat.
2 Überblick
2.1 Begriff
Der Begriff der industriellen Revolution ist wird vielfach verwendet. Aus dem
Lateinischen leitet dieser Abschnitt zu Beginn das Wort her. Anschließend werden
die Bedeutung als sowohl als geschichtlicher Eigenname und die Verwendung des
Begriffs als Definition eines Phänomens vorgestellt.
Der Begriff industrielle Revolution lässt sich aus dem Lateinischen herleiten.
Industriell ist auf das Nomen industria: Fleiß. Revolution leitet sich vom Präfix re-:
zurück und dem Verb volvere: drehen ab. Daraus zeigt sich die ursprüngliche
Bedeutung, nämlich als “dramatic and widereaching change“ (Concise 2002:1226).
Diese Umwälzungen sind so gravierend, dass Carlo Cipolla (1976: 1) die industrielle
mit der neolithischen Revolution vergleicht. Hierbei wurden die Jäger- und Sammler
in der Agrargesellschaft der Jungsteinzeit sesshaft. Der nächste große
Lebenswandel der Menschheit erfolgte mit der industriellen Revolution. Er
„verwandelte die Menschen von Bauern und Schafhirten in Bediener von Maschinen,
welche mit lebloser Energie angetrieben wurden“ (ebd.) Ausgehend von England,
erfasste der gesellschaftliche und wirtschaftliche Wandel die Welt. Damit wird der
Begriff industrielle Revolution als geschichtlicher Eigenname verwendet.
Die industrielle Revolution ging mit einer Vielzahl von Veränderungen einher. Um
diese abgegrenzt von anderen Entwicklungen gezielt untersuchen zu können, muss
das Phänomen definiert werden. Allerdings droht die „Abstraktion von den
Merkmalen einer ganz bestimmten geschichtlichen Konstellation eines Landes [..]
den Terminus so sehr zu entleeren, daß (sic!) er auf fast beliebig wiederholbare
Phänomene anwendbar wird“ (Siegenthaler 1978: 143). Deshalb wird die industrielle
Revolution mit dem Beginn einer neuen Epoche verknüpft. David Landes (1965: 274)
beschreibt dies mit folgenden Worten: „The words `industrial revolution` usually refer
to that complex of technological innovations which [..] gives birth to a modern
economy” Auch Bairoch 1963 :10) sieht dies ähnlich: “période de passage graduel
des types de sociétés pré-industrielles à ceux de sociétés industrielles”. Der Beginn
der durch die industrielle Revolution eingeleiteten Epoche macht Simon Kuznets
(nach Siegenthaler 1978: 144) an modernem Wirtschaftswachstum fest.
1
2.2 Datierung
Mit dem Bezug zu modernem Wirtschaftswachstum lässt sich die industrielle
Revolution datieren. Für Kuzents (ebd.) zeichnet sich modernes Wachstum durch
deutlich höhere Wachstumsraten gegenüber der Vorperiode sowie strukturelle
Veränderungen aus. Letztgenanntes lässt sich beispielsweise an dem Wandel in den
Wirtschaftssektoren festmachen.
Bei der Untersuchung von Wachstumsraten in England (Tabelle 1) fällt auf, dass seit
den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts das Prokopfeinkommen zugenommen
hat. Hierbei sind auch die Auswirkungen von Bevölkerungsexplosion (vgl. 3.1) und
Kontinentalsperre1 zu beachten.
Tabelle 1: Die jährliche Zunahme des realen Prokopfeinkommens in England (in %)
1745/1765 – 1765/1785
1765/1785 – 1785/1805
1801/1811 – 1831/1841
1831/1841 – 1861/1871
0,0
0,9
1,5
1,0
Quelle: Siegenthaler 1978: 148
Ähnliches zeigt sich bei der sektoralen Beobachtung der Beschäftigten in England
Tabelle 2). Im gesamten 19. Jahrhundert wurden im Agrarsektor Arbeitskräfte
freigesetzt. Nahezu alle wurden im Industriesektor als Beschäftigte aufgenommen.
Tabelle 2: Die Beschäftigen nach Wirtschaftssektoren in England von 1801 - 1901 (in %)
Jahr
1801
1851/61
1901
Sektor I
35
20
9
Sektor II
29
43
54
Sektor III
36
37
37
Siegenthaler 1978: 149
Beide Untersuchungen zeigen, dass die industrielle Revolution im Zeitraum um die
Wende vom 18. ins 19. Jahrhundert stattgefunden hat. Ferner sieht man bei der
sektoralen Untersuchung der Beschäftigten, dass ein Übergang von der Agrar- zur
Industriegesellschaft stattgefunden hat (vgl. 2.1).
Im Zusammenhang der Verwendung von Datenmaterial soll an dieser Stelle2 auf das
Adäquationsproblem eingegangen werden. Damit sind alle Schwierigkeiten
verbunden, wie sich die Realität mit Daten beschreiben lassen kann. Diese bestehen
im Wesentlichen darin, dass kein ausreichendes Datenmaterial verfügbar ist. Im
betrachteten Zeitraum fand noch kein System volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen, wie es heute genutzt wird, Anwendung. Vielmehr wurden Berichte durch Einzelne
oder Organisation verfasst. Hier ist beispielsweise Adam Smith (1776) zu nennen,
der akribisch genau die Getreideproduktion untersucht. Auch die Kirche bediente
sich der Statistik. In Pfarrregistern wurden Geburten, Heiraten und Sterbefälle,
manchmal auch Migration, erfasst. „In England gehen die ältesten anglikanischen
Pfarrverzeichnisse auf das Jahr 1538 zurück, aber die meisten erhaltenen beginnen
im 17. Jahrhundert, und die von abgespaltenen oder anderen Kirchen sind noch
neueren Ursprungs“ (Armengaud 1978: 12). Ein Großteil des Datenmaterials ist
1
Die Kontinentalsperre war eine von Napoléon I. Bonaparte verhängte Wirtschaftsblockade in der Zeit
von 1806 bis 1813. Das England sollte durch einen Wirtschaftskrieg geschwächt werden.
2
Im weiteren Verlauf der Arbeit wird nicht weiter auf die statistischen Schwierigkeiten eingegangen.
2
somit nicht repräsentativ oder nicht in vollem Umfang verfügbar. Daher wird mit
Schätzungen gearbeitet.
3 Die industrielle Revolution im Detail
Was macht die industrielle Revolution aus? Dieser Frage soll in diesem Abschnitt
nachgegangen werden. Zunächst wird die Bevölkerungsexplosion untersucht.
Anschließend werden sowohl verschiedene Entwicklungen betrachtet. Hierbei wird
das Fabriksystem als grundlegende Entwicklung behandelt, bevor auf die einzelnen
Wirtschaftssektoren näher eingegangen wird.
3.1 Begleiterscheinung: Bevölkerungsexplosion
Die Bevölkerung hat sich im untersuchten Zeitraum vervielfacht. Und zwar so stark,
dass man von einer Bevölkerungsexplosion sprechen kann. Dieser Abschnitt zeigt
das Wachstum der Bevölkerung von England und geht auf Zusammenhänge im
Bereich Migration, Ernährung und Medizin ein. Obwohl die Bevölkerungsexplosion
mehr als Begleiterscheinung denn als eine Ursache für die industrielle Revolution
angesehen werden kann, hat sie diese dennoch begünstigt.
Tabelle 3 zeigt das Wachstum der Bevölkerung in England. Die Wachstumsraten
liegen bis 1900 immer über 60%. Erst 1910 ist ein Rückgang zu verzeichnen. Dieser
ist auf die verstärkte Emigration und den Rückgang der Geburtenziffer
zurückzuführen.
Tabelle 3: Bevölkerung und Wachstum in England von 1800 bis 1910
Jahr
Bevölkerung in Mio.
Wachstumsrate in %
1800
10,9
68,2 *
1850
20,9
91,4
1900
36,9
76,6
1910
40,8
10,6
* Dieser Wert kennzeichnet das Wachstum der Gesamtbevölkerung Europas im Zeitraum von 1750 bis 1800; Quelle:
Armengaud 1976: 16f.
Im 18. Jahrhundert wanderten ungefähr 1,5 Millionen Menschen von Großbritannien
in die Neue Welt aus. (Armengaud 1978: 36). Nach 1840 stieg die Auswanderung
massiv an. Die Fünfjahresvolumen der Emigration aus England betrugen ab Mitte
des 19. Jahrhunderts mindestens 600.000 Menschen (Armengaud: 1978: 40). In
einigen Perioden lag sie sogar darüber (Tabelle 4).
Tabelle 4: Ausgewählte Emigration aus England von 1841 - 1915
Jahre
1841 – 1845
1846 – 1850
1881 – 1885
1886 – 1890
1901 – 1905
1906 – 1910
1911 – 1915
Fünfjahresvolumen
Auswanderer (in 1.000)
400
1.030
1.200
1.200
1.170
1.670
1.789
Quelle: Armengaud 1978: 40
Die Ursachen hierfür liegen in „politischen und wirtschaftlichen Krisen von 1845 –
1848, der Abschaffung der Grundherrschaft in Zentraleuropa und der Goldfund in
Kalifornien und Australien“ (Armengaud 1978: 38). Die Auswanderung wurde
ebenfalls „durch das Aufkommen von Dampfschiffen und Eisenbahnen, die das
Reisen sicherer, schneller und billiger machten“ (ebd.), gefördert (vgl. 3.3.3.2).
3
Ebenfalls war England das Ziel von Migration. Einerseits strömten von der
Hungersnot3 Getriebene aus Irland, andererseits religiöse Verfolgte Juden aus
Russland dorthin. Waren 1871 noch 105.000 Ausländer in Großbritannien, erhöhte
sich deren Zahl um 186 % auf 300.000 im Jahre 1914. (Armengaud 1978: 37f.)
Die Auswirkungen der Migration haben sich auf die demografische Entwicklung
Englands ausgewirkt. Weitaus größer dürften die Einflüsse von Ernährung und
Medizin sein, auch wenn sie schwerer quantifizierbar sind.
Die Ernährung der Bevölkerung profitierte von Verbesserungen in der Landwirtschaft
(vgl. 3.3.1.1). So konnten die Produktion landwirtschaftlicher Güter gesteigert und
Ernteschwankungen verringert werden (Armengaud 1978: 22). Auch neue
Transportmethoden (vgl. 3.3.3.2) halfen ab Mitte des 19. Jahrhunderts, die
Bevölkerung besser zu versorgen. „Diese Entwicklung sorgte für reichhaltigere und
vielfältigere Kost mit außergewöhnlich hohem Anteil an tierischen Eiweißen“ (Landes
1999: 232f.). Die relativ gut genährte Bevölkerung war somit leistungs- und
widerstandsfähiger gegenüber Krankheiten.
Wie auf anderen Gebieten der Wissenschaften, bediente sich auch die Medizin der
wissenschaftlichen Methode (vgl. 4.2.1). Krankheitsbilder wurden beschrieben und
empirisch untersucht. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde geimpft4 und Chinin5
gegen Fieber eingesetzt. (Armengaud 1978: 22ff.). „Abführmittel, Heilwasser, Diät
und Aderlaß (sic!) begannen jene magischen Kuren zu verdrängen, die so lange die
Stellung gehalten hatten“ (Armengaud 1978: 24).
Tabelle 5: Mortalität in England im Zeitraum von 1700 bis 1910
Jahrzehnt
1701 – 1710
1731 – 1740
1791 – 1800
1841 – 1850
1851 – 1860
1861 – 1870
1871 – 1880
1881 – 1890
1891 – 1900
1901 – 1910
Sterbeziffer in %
28,5
35,5
26,5
22,4
22,3
22,5
21,2
19,0
18,1
15,5
Quelle: Armengaud 1978: 24f.
Die bessere Ernährung und die Fortschritte auf dem Bereich der Medizin haben die
Sterblichkeit verringert. In England sank die Mortalität erheblich (Tabelle 5). Obwohl
3
„Die als Große Hungersnot (engl. Great Famine, Irish potato famine oder irisch An Gorta Mór) in die
Geschichte Irlands eingegangene Hungersnot zwischen 1846 und 1851 war die Folge mehrerer
Kartoffelmissernten zwischen 1846 und 1849. Auslöser war die durch den Pilz Phytophthora infestans
verursachte Kraut- und Knollenfäule, die in mehreren aufeinander folgenden Jahren die gesamte
Kartoffelernte vernichtete.“ (Wikipedia 2005c)
4
Edward Jenner impfte 1796 das erste Mal mit Kuhpocken (lat. vaccina) und beschrieb seine
Methode als Vaccination.
5
Das schmerzstillende, betäubende und fiebersenkende Chinin wurde 1820 von Pierre Joseph
Pelletier und Joseph Bienaimé Caventou entdeckt.
4
sie zu Beginn des 18. Jahrhunderts anstieg6, sank sie ab 1740. Die sinkende
Mortalität beruht nach Armengaud (1978: 28) hauptsachlich im Rückgang der
Säuglings- und Kindersterblichkeit. Dadurch erreichten mehr Menschen das
geschlechtsfähige Alter. Dies hatte wiederum Auswirkungen auf die Geburtenziffer.
Wie hat sich die Geburtenziffer entwickelt? Die Geburtenrate ist gegen Ende des 19.
Jahrhunderts in Europa gesunken. Ausgehend vom Hochpunkt in den Jahren 1862 –
1876, wo die Geburtenrate bei 35 je Tausend gipfelte, fiel sie auf 30 Geburten je
Tausend im Jahre 1896. Auf welche Ursachen lässt sich dies zurückführen?
Armengaud (1978: 33) macht hierfür wirtschaftliche und soziale Veränderungen
verantwortlich. Die Ursachen der sinkenden Geburtenziffer liegen in „der
Verringerung
der
Säuglingssterblichkeit
infolge
eines
verbesserten
Gesundheitswesen(s); der Industrialisierung; dem Trend zum Individualismus, dem
Wunsch, auf der sozialen Leiter höherzusteigen (sic!); der Ausbreitung der Bildung;
der Emanzipation der Frau; dem Rückgang der Religiosität und ihrem Ersatz durch
rationalistische Normen“ (ebd.).
Wie sich gezeigt hat, wuchs die Bevölkerung Englands im betrachteten Zeitraum
explosionsartig. Ursachen liegen in der besseren Ernährung und medizinischem
Fortschritt. Beide haben den Rückgang der Sterbeziffer erlaubt, und zwar in dem
Ausmaß, dass die rückläufige Geburtenrate dies nicht kompensieren konnte.
3.2 Grundlegende Entwicklung: das Fabriksystem
Zahlreiche einander ähnelnde, aufeinander aufbauende und sich verstärkende
Erfindungen in unterschiedlichen Schlüsselindustrien (vgl. 3.3) ermöglichten
produktivitätssteigernde Substitution. Dies beschleunigte die fortschreitende
Mechanisierung und gestattete die Einführung des Fabriksystems7. (Landes 1999:
205) David Landes (ebd.) fasst die Grundgedanken der Innovationen wegen deren
großen Zahl auf drei zusammen, wovon die ersten beiden die Fabrik im engeren
Sinne kennzeichnen:
•
„Ersetzung menschlicher Fertigkeit und Anstrengung durch die – ebenso
schnell wie gleichmäßig, präzise und unermüdlich arbeitende – (Arbeits-)
Maschine“ (ebd.)
•
„Ersetzung belebter durch unbelebte Kraftquelle, insbesondere durch die
Erfindung von (Kraft-)Maschinen, die Wärme in Arbeit umwandeln und
damit eine nahezu unerschöpfliche Zufuhr von Energie eröffnen“ (ebd.)
•
„Verwendung neuer Rohmaterialen in größeren Mengen, vor allem die
Ersetzung pflanzlicher und tierischer Substanzen durch anorganisch und
schließlich synthetisch hergestellte Materialien“ (ebd.).
Diese Substitutionen stehen im Mittelpunkt der industriellen Revolution. Die
Produktivität konnte so stark gesteigert werden, dass das Einkommen erheblich
wachsen konnte (vgl. Tabelle 1). Weder die Kontinentalsperre noch die
Bevölkerungsexplosion (vgl. 3.1) konnten diese Produktivitätszuwächse schmälern.
Im folgenden Abschnitt wird gezeigt, welche einzelnen Entwicklungen in den
jeweiligen Wirtschaftssektoren stattgefunden und wie sie sich ausgewirkt haben.
6
Dies ist auf den vermehrten Genuss von Gin zurückzuführen (Armengaud 1978: 24)
Auch heute noch gilt die Fabrik als Symbol für die Industrie, wie beispielsweise auf Verkehrsschildern zu sehen ist.
7
5
Abbildung 1: Grundlegende Innovationen im Zeitalter der industriellen Revolution
Abbildung 1 zeigt beispielhaft Anwendungsmöglichkeiten der von Landes (1999: 205)
genannten grundlegenden Innovationen. Auf die Details wird im Folgenden näher
eingegangen.
3.3 Sektorale Entwicklungen
3.3.1 Primärer Wirtschaftssektor
3.3.1.1 Die Agrarrevolution
Zeitlich ist die Agrarrevolution der industriellen vorgelagert. Dies lässt sich ebenfalls
(vgl. 2.2) an einem Anstieg der Wachstumsraten festmachen. "Während die
englischen Getreideexporte im 17. Jahrhundert völlig unbedeutend gewesen waren,
stieg nach 1700 der Export von Getreide und mehr steil an, um im Jahre 1750 die
Rekordhöhe von 200000 Tonnen oder 30 kg pro Kopf der Bevölkerung zu erreichen"
(Bairoch 1978: 300). Die Agrarrevolution vollzog sich demnach um 1700.
Worin bestand die Agrarrevolution? Im weitesten Sinne versteht man darunter den
schnellen Transfer landwirtschaftlicher Techniken von dicht besiedelten Gegenden
auf Gebiete mit geringer Bevölkerung. Um welche Techniken handelt es sich hierbei?
Paul Bairoch (1978: 304ff.) nennt sechs wesentliche Methoden, die im Folgenden
vorgestellt werden.
Die mittelalterliche Agrargesellschaft nutzte die landwirtschaftliche Fläche in der so
genannten Zwei- oder Dreifelderwirtschaft. Hierbei wurde auf den Nutzflächen
einerseits Getreide angebaut. Andererseits lagen die Felder regelmäßig brach, um
den Boden nicht auszulaugen. Die Bodenfruchtbarkeit konnte durch Ausdehnung des
Fruchtwechsels erhöht werden. Dies gelang durch die Kombination von Ackerbau
und Viehzucht. Mit der Zeit wurde so das Brachland zu Gunsten des kontinuierlichen
Fruchtwechsels verringert. (Bairoch 1978: 304) Der Produktionsfaktor Boden wurde
also effizienter genutzt.
6
In der Folge des Einsatzes der neuen Fruchtwechseltechniken, mussten neue
Fruchtarten eingeführt oder vermehrt angebaut werden. „Unter den im größten Teil
Europas entweder neu eingeführten oder verbreiteter angebauter Nahrungs- und
Futterpflanzen waren hauptsächlich Rüben, Klee und andere unbedeutendere
Futtermittel, Raps, Hopfen, Buchweizen, Mais, gelbe Rüben, Kohl und schließlich die
Kartoffel“ (Bairoch 1978: 305). Durch die Einführung neuerer Fruchtarten und den
verstärkten Fruchtwechsel konnte der Boden noch besser genutzt werden, ohne ihn
auszulaugen.
Die landwirtschaftlichen Erträge konnten durch die Verbesserung der traditionellen
landwirtschaftlichen Geräte und Einführung neuer Geräte noch weiter gesteigert
werden. Zu den neuen Hilfsmitteln gehörten der Pflug, die Sense, die Sämaschine
und der Hufbeschlag. (ebd.) Zunächst konnte so Arbeit durch Kapital ersetzt werden.
Später wurden die neuen Geräte auch mit Eisen (vgl. 3.3.2.2) gefertigt. Die
Kapitalproduktivität konnte so noch weiter gesteigert werden.
Weiterhin legte man nunmehr8 Wert auf sorgfältige Auswahl des Saatguts und der
Zuchttiere. So konnten die Erträge vor allem in der Viehzucht gesteigert werden.
(ebd.) Später trug das verbesserte Transportwesen dazu bei, den Genpool nochmals
zu vergrößern. Missbildende Inzucht und Kreuzungen (Armengaud 1978: 22)
konnten so immer mehr vermieden werden.
Ebenfalls in dieser Zeit konnte durch Rodung und die Trockenlegung von Sumpfland
Ackerland gewonnen und verbessert werden. (Bairoch 1978: 305f.) Der
Produktionsfaktor Boden wurde wieder vergrößert.
Die gestiegenen Erträge und der Anbau von Futterpflanzen ermöglichten den
verbreiteten Einsatz von Pferden für landwirtschaftliche Arbeiten. Allein dadurch,
aber auch durch den Einsatz von landwirtschaftlichen Geräten konnten die Erträge
gesteigert werden. (Bairoch 1978: 306)
3.3.1.2 Bergbau
Eine weitere wichtige Veränderung im ersten Sektor war das Vorantreiben des
Bergbaus. In Folge der Holzknappheit wurde Kohle9 das erste Mal um 1600
abgebaut. „Als erste nutzte die englische Industrie damals Kohle als Brenn- und
Rohstoff und verwendete sie bei der Glasherstellung ebenso wie beim Bierbrauen,
Färben, Backstein- und Ziegelbrennen, Schmieden und Verhütten" (Landes 1999:
208).
Mehr als einhundert Jahre später, 1713, gelang die so genannte Verkokung10. 1740
wurden Hochöfen flächendeckend mit Koks beschickt. Damit wurde eine wichtige
Vorraussetzung für die Gewinnung von Stahl (vgl. 3.3.2.2) gelegt. (ebd.)
3.3.2 Sekundärer Wirtschaftssektor
3.3.2.1 Textilindustrie
Auch in der Textilindustrie wurde der Arbeitsprozess revolutioniert. „Hätten die
genialen Ideen von Hargreaves und Arkwright nicht das Baumwollkardieren und
8
Dieser Prozess ist auch heute nicht abgeschlossen. Dies zeigen aktuelle Entwicklungen im Bereich
der Gentechnik.
9
Hier ist von Steinkohle die Rede. Holzkohle wurde weitaus früher verwendet.
10
Die Umwandlung von Kohle in Koks bezeichnet man als Verkokung. Hierbei wird asche- und
schwefelarme Fettkohle bei ca. 1000° C trockenen destilliert.
7
-Spinnen von Grund auf verändert, dann wäre die Wollmanufaktur wohl bis zum
heutigen Tag geblieben, was sie seit eh und je war… Daß (sic!) es der Gesellschaft
insgesamt gut getan hätte, es wäre geblieben wir immer, will ich gern zugestehen;
aber nach der Entdeckung der verbesserten Baumwollproduktion war das nicht mehr
möglich.“ (Rees 1819, nach Randall 1991: 13, nach Landes 1999: 210)
Tabelle 6 zeigt wichtige Entwicklungen die zur vollständigen Mechanisierung in der
Textilindustrie beigetragen haben. Ihnen gingen Veränderungen im Arbeitsprozess
des Spinnens und Webens voraus, welche die Produktivität erheblich gesteigert
haben.
Tabelle 6: Chronik der Mechanisierung des Spinnen und Webens
1766
1769
1779
1787
1830
„Spinning Jenny“
„Waterframe“
„Spinning Mule“
mechanischer Webstuhl
Self-actor
James Hargreaves
Richard Arkwright
Samuel Crompton
Edmond Cartwright
Richard Roberts
Quelle: Landes 1999: 210f.
Wichtig für die Mechanisierung ist die Aufteilung des Arbeitsprozesses in eine
Abfolge von Wiederholungen. Genau dies konnte durch die dargestellten
Entwicklungen erreicht werden. Möglich war dies, da die Baumwolle eine festere und
leichter handhabbare Faser ist als Wolle. (Landes 1999: 209).
3.3.2.2 Eisen- und Stahlindustrie
Auch die Eisen- und Stahlindustrie wurde von technologischen Neuerungen erfasst.
Diese lassen sich an der Entwicklung des Stahls aufzeigen.
1709 gelang Abraham Darby zufällig die erste Koksverhüttung. Gut dreißig Jahre
später wurden die Hochöfen mit Koks beschickt. Das hieraus gewonnene Gusseisen
eignete
sich
jedoch
nur
zur
Herstellung
von
wenig
belastbaren
Gebrauchsgegenständen, nicht jedoch für den Maschinenbau. Hierfür wird Stahl
benötigt, der weitaus belastbarer als Gusseisen ist. (Landes 1999: 207f.)
Ein erster Schritt in diese Richtung gelang Henry Cort um 1783. Er entwickelte das
so genannte Puddel-Verfahren. (Landes 1999: 208) Hierbei wird die schon zäh
werdende Roheisenmasse mit Stangen gewendet, so dass möglichst viel der
Oberfläche mit der Umgebungsluft in Berührung kommen kann. (Wikipedia 2005d) In
diesem Prozess wird das Roheisen gefrischt11, so dass man als Endprodukt Stahl
erhält. Da das Puddel-Verfahren sehr arbeitsintensiv ist, wurde der hieraus
gewonnene, teure Stahl nur für „kleinere Gegenstände (Waffen, Rasiermesser,
Federn, Feilen)“ (Landes 1999: 208) verwendet.
Dies änderte sich mit der Erfindung des Flussstahls. Henry Bessemer entwickelte im
Jahre 1856 das nach ihm benannte Bessemer-Verfahren. Hierbei wird Luft durch die
Bodendüsen des Konverters geblasen und so das Roheisen zu Stahl gefrischt. Von
nun an konnte der für den Maschinenbau essentielle Rohstoff in großen Mengen
hergestellt werden. Dies brachte spürbare Verbesserungen im Transportwesen mit
sich (vgl. 3.3.3.2). (Landes 1999: 208)
Die nächste wichtige Veränderung war die „Ersetzung der Umkehr- durch die
Drehbewegung: Von nun an stellte man Bleche her, indem man sie walzte statt zu
11
Als Frischen bezeichnet man die Reduktion des Kohlenstoffanteils in Eisen mit Hilfe von Sauerstoff.
8
hämmern; Drähte, indem man Metall auf der Ziehbank durch immer engere Löcher
zog; Löcher, indem man sie bohrte, statt sie zu schlagen; und Hobeln und Formen
erledigte man nicht mehr mit Meißel und Hammer, sondern mit der Drehbank.“
(Landes 1999: 209).
3.3.3 Tertiärer Wirtschaftsektor
3.3.3.1 Finanzsektor
Die fortschreitende Mechanisierung war zunehmend kostenintensiver. Es ist also
kaum verwunderlich, wenn die Entstehung des Finanzsektors ebenfalls um die Zeit
der industriellen Revolution beginnt. Hier soll kurz auf die Bank of England und die
Kapitalgesellschaften eingegangen werden.
Gegen Ende des 17. Jahrhunderts war die englische Regierung beinahe bankrott
und das Geld- und Kreditwesen verfallen. Eine Zentralbank musste etabliert werden.
1694 machte der Schotte William Paterson der Regierung den Vorschlag ein
Darlehen zu gewähren. Dafür wollten die Kreditgeber Direktoren und Anteilseigner
der Bank of England sein. Sie beanspruchten auch das alleinige Recht, in Höhe des
Darlehens Banknoten auszugeben und Bankgeschäfte zu betreiben. (Wikipedia
2005a)
Der Bank of England oblag die Kontenführung der Regierung und deren
Finanzierung. Als sich im 18. Jahrhundert die Regierung Geld bei der Zentralbank
lieh, entwickelte sich das Konzept der Staatsschuld. Als Geschäftsbank gab die
englische Zentralbank Banknoten gegen Einlagen aus, die ab 1833 als gesetzliches
Zahlungsmittel galten. 1844 erhielt die Bank of England das Notenmonopol12 und
band die Währung an einen Goldstandard. Damit oblag der englischen Zentralbank
fortan die Aufgabe, Preisstabilität zu gewährleisten. Ab 1870 lag die Bestimmung der
Leitzinsen in Verantwortung der Bank of England. (ebd.)
In knapp 200 Jahren wurde in England ein Banksystem aufgebaut, das die
Geldfunktionen sicherstellte. Ebenso konnte die Finanzierung durch Losgrößen- und
Fristentransformation vorgebeugt werden.
In welcher Lage befanden sich die Unternehmen? Zu Beginn der industriellen
Revolution war der Kapitalbedarf noch relativ niedrig. Investitionen konnten über den
Cash-Flow, Ersparnisse oder aus im persönlichen Umfeld geliehenen Mitteln
finanziert werden. Banken vergaben nur kurzfristige Kredite, was mitunter Kreditlinien
gleichkam. (Landes 1999: 271)
Mit Fortschreiten der Industrialisierung wurden die Investitionen jedoch immer
kostspieliger. Problematisch erwies sich hierbei, dass die Bildung von
Kapitalgesellschaften mit frei übertragbaren Anteilen durch den Bubble Act von 1720
nicht gestattet war. Um die Jahrhundertwende begann jedoch eine Trendwende. Das
Parlament oder die Krone legitimierte staatlich konzessionierte Kapitalgesellschaften
mit beschränkter Haftung. Ab 1856 gab es auch uneingeschränkte
Kapitalgesellschaften. (Landes 1999: 271ff.)
12
Privatbanken, die vor 1844 Banknoten ausgeben durften waren weiterhin dazu berechtigt, falls sie
entsprechende Sicherheiten hinterlegten.
9
3.3.3.2 Transportwesen
Auch im Transportwesen erfolgten, anfangend im 18. Jahrhundert, wesentliche
Fortschritte sowohl im Land- und Wasserverkehr, als auch in der
Fahrzeugentwicklung.
Mautpflichtige Straßen und Kanäle, welche eigens für Industrie und Bergbau
angelegt wurden, erleichterten die Arbeitsteilung erheblich. So senkte die
Direktverbindung zwischen Rohstoffen, Produktionsstätten und Märkten die
Transaktionskosten erheblich, und das trotz Maut. (Landes 1999: 231) Dadurch
wurden Spezialisierung und das Wachsen der Märkte weiter begünstigt.
Der Maut förderte ebenfalls Privatleute beim Bau von Verkehrswegen. Die
Bevölkerung passte das rege genutzte Verkehrsnetz ihren Bedürfnissen beliebig an.
Anders war es in anderen Teilen Europas. David Landes (1999: 231f.) führt hierbei
das Beispiel Frankreichs an. Der Reisende Arthur Young sprach „zwar mit
Bewunderung von den breiten, gut gezogenen französischen Landstraßen, klagte
aber über die Unterkünfte und Gasthäuser. Der französische Monarch hatte, um die
Überwachung des Landes zu erleichtern und den Handel zu erleichtern einige
wenige Prachtstraßen durchs Königreich bauen lassen – und Young fand sie leer
vor. Die britischen Investoren hatten, aus den guten Gründen des Geschäfts, sehr
viel mehr gebaut und zusätzlich für Gasthäuser gesorgt, in denen die Benutzer
unterkommen und essen konnten.“
Auch in der Fahrzeugentwicklung konnten Fortschritte erzielt werden. Hierbei hat
sich besonders Richard Trevithick (1771 – 1833) durch die Erfindung der
Dampflokomotive hervorgetan. Dieser Erfindung ging die Hochdruckdampfmaschine
voraus. Jene baute er beispielsweise in 1803 in eine Postkutsche ein. Die
Betriebskosten, die unter anderem auch durch explodierende Kessel verursacht
wurden, überstiegen jedoch die der konventionellen Pferdepostkutsche. Die
Dampfpostkutsche konnte sich daher nicht durchsetzen (vgl. 4.2.2). Bereits ein Jahr
später baute Trevithick die erste Dampflokomotive. Auch sie war erfolglos, da die
gusseisernen Schienen ihre schwere Last nicht trugen. Trotzdem setzte die
Entwicklung der Eisenbahn nicht aus. (Wikipedia 2005b)
Spätestens 1856 erfuhr das Transportwesen weitere Verbesserungen. Der weitaus
billigere Flussstahl (vgl. 3.3.2.2) konnte für Eisenbahn und Schifffahrt eingesetzt
werden. „Stahlschienen hielten länger und trugen größere Lasten; Stahlschiffe hatten
dünnere Wände und trugen gleichfalls größere Lasten“ (Landes 1999: 208).
4 Triebkräfte
4.1 Gesellschaft
Was hat England über die materiellen Aspekte hinaus befähigt, als erste die
industrielle Revolution einzuleiten? Hierbei sind in erster Linien Institutionen bzw. die
Rahmenordnung einer Gesellschaft zu nennen. (Landes 1999: 232) Bevor die
Untersuchung detailliert auf die englische Gesellschaft eingeht, werden zunächst
Attribute einer Gesellschaft vorgestellt, die für die industrielle Revolution den idealen
Rahmen bieten.
David Landes (1999: 233f.) stellt die Merkmale einer idealtypischen Wachstums- und
Entwicklungsgesellschaft vor. Diese ist, so führt er an, „theoretisch am besten
geeignet, materiellen Fortschritt und allgemeinen Wohlstand zu sichern“ (ebd.).
10
Diese Gesellschaft müsste zunächst in der Lage sein Allokation, Distribution und
Produktion effizient zu gestalten, ihre Ressourcen richtig einzusetzen, zu verwalten
und zu verfertigen wissen. D.h. die entsprechende Volkswirtschaft wäre in der Lage,
knappe Ressourcen (z.B. über einen Markt) optimal zuzuweisen, die ideale
Faktorkombination für den gewinnmaximalen Güterausstoß zu wählen und das
Einkommen nutzenmaximal unter der Bevölkerung zu verteilen. (ebd.)
Sie müsste weiterhin in der Lage sein, Invention und Innovation (vgl. 4.2.1 und 4.2.2)
beständig voran zu treiben. Dies beschreibt die Fähigkeit, technischen Fortschritt zu
produzieren und diesen profitabel zu machen. Hierbei müssen auch Aspekte der
Bildung miteinbezogen werden. (ebd.)
Diese Gesellschaft würde Konkurrenz und Wettbewerb fördern. Die Vorteile hiervon
liegen auf der Hand: die Konsumenten haben hier maximalen Nutzen- (bessere
Produkte) und Kostenvorteile (billigere Produkte). Dadurch würde Unternehmertum
und Initiative gestärkt, was wiederum der Innovation dienlich wäre. (ebd.)
Auch würde in dieser Gesellschaft keine Diskriminierung „aufgrund nebensächlicher
Kriterien (Rasse, Geschlecht, Religion, etc.)“ (ebd.) stattfinden. Soziale Mobilität wäre
allein durch eine objektive Entlohnung der Arbeitsergebnisse möglich. (ebd.)
Individuelle Freiheitsrechte würden in dieser Idealgesellschaft Übergriffe seitens des
Staates oder von Privatpersonen verhindern. Verfügungsrechte würden
Privateigentum garantieren und somit auch Investitionen fördern. (ebd.)
Welche dieser idealtypischen Voraussetzungen erfüllte England? Landes (1999: 234)
führt hierbei in erster Linie den englischen Nationalismus an. Hierzu zählen die
gemeinsame Identität der Bevölkerung und eine gewisse Loyalität untereinander.
Diese Attribute, welche die englische Gesellschaft mitbrachte, führten zu der hohen
Kollektivleistung, die für die Industrialisierung von Nöten war.
Auch genossen die Engländer sehr früh die Gleichheit vor dem Gesetz. Sie waren
früher Staatsbürger während anderenorts noch von Untertanen gesprochen wurde.
Dies hat mit Sicherheit die Entstehung des Unternehmertums gefördert. Mit dazu
beitragen hat sicherlich auch, dass in England bereits im Mittelalter die Hörigkeit13
aufgehoben wurde. (Landes 1999: 234f.)
England bot seine Bürgern Freiheit und Sicherheit, auch den ärmeren die wie überall
gegeben waren. Dieses Maß an gewisser und begründeter Ruhe ließ seine
Bevölkerung mit größerer Akzeptanz und Gelassenheit den Wandel der Strukturen
erwarten als andere Völker. Auch dadurch wurde das Unternehmertum gefördert, da
die Risiken eines sozialen Abstiegs relativ gering waren. (Landes 1999: 235f.)
Der in England eher als in anderen Nationen verbreitete Kalvinismus war mit
Sicherheit ein ebenso förderliches Element. Die Überzeugung, dass die Existenz im
Jenseits bereits im Diesseits determiniert sei, war vorherrschend. Damit erübrigte
sich die Frage, ob man Gottes Gnade hatte oder nicht. Daraus zog man den Schluss,
dass Wohlstand und Reichtum als von Gott gewollt anzusehen seien. Dies brachte
zweifelsfrei Vorteile hinsichtlich der Kapitalisierung der Gesellschaft mit sich. „Arbeit,
Ehrlichkeit, Ernsthaftigkeit, sparsamer Umgang mit Geld und Zeit (beides hat uns
Gott nur geliehen)“ (Landes 1999: 193). Diese Tugenden blieben auch nach dem
13
Als Hörige wurden im Mittelalter freie Bauern oder auch unfreie Bauern (Leibeigene) bezeichnet, die
in Abhängigkeit eines Grundherrn stehen und an einen Bauernhof gebunden (Schollenpflicht) waren,
der diesem gehörte. Ihnen war ausschließlich bewegliches Eigentums erlaubt.
11
Abklingen des festen Glaubens an die Vorherbestimmung der Gesellschaft erhalten.
(ebd.)
4.2 Erfindung und Vermarktung
4.2.1 Inventionsfähigkeit
Als wesentliche Triebkraft begründet die Häufung von technischem Wissen den
Durchbruch der industriellen Revolution. Sie wurde durch bestimmte
Basisinnovationen eingeleitet. David Landes (1999: 218ff.) sieht hierfür die
zunehmende Autonomie der Wissenschaften, die wissenschaftliche Methode und die
routinierte Forschung als Voraussetzungen. Diese erweisen sich gleichzeitig auch als
Grund, warum sich die industrielle Revolution über eine lange Frist vollzogen hat.
Dies alles ist Gegenstand dieses Abschnitts.
Spätestens seit dem Zeitalter der Aufklärung14 haben die Wissenschaften
angefangen, sich gegen die Lehrmeinung des Vatikans zu behaupten. Unterstützt
wurde diese Entwicklung einerseits durch weltliche Machtinteressenten, die den
alleinigen Machtanspruch der Kirche lockern wollten. Andererseits wurde die
Autorität der römisch-katholischen Kirche durch Martin Luthers Reformation
untergraben. Fortan zählte nicht mehr die Meinung der Kirche. Viel größeres Gewicht
wurde auf tatsächliche Beobachtungen gelegt. (Landes 1999: 219)
Durch die Beobachtung konnten Tatsachen nachvollzogen werden. Die Mathematik15
erleichterte dies, da sie es erlaubte, Beobachtungen formal wiederzugeben. Dies
ermöglichte nun die Entwicklung einer wissenschaftlichen Methode. Durch das
Experimentieren konnten mathematisch erfassbare Beobachtungen kausal verknüpft
und zu komplexen Zusammenhänge abstrahiert werden. Allerdings mussten die
Beobachtungs- und Verarbeitungsmöglichkeiten präziser und leistungsfähiger
werden. Weitere Erfindungen in den Gebieten der Optik, Längen- und Zeitmessung
sowie Mathematik, wie beispielsweise das Teleskop, der Nonius, die Pendeluhr und
die Differential- und Integralrechnung erleichterten dies. (Landes 1999: 220ff.)
Die Intellektuellen tauschten sich routinemäßig über ihre wissenschaftlich gewonnen
Erkenntnisse über die Grenzen hinweg aus. Dies wurde von mehreren Faktoren
begünstig, welche die Transaktionskosten für diesen Austauschprozess erheblich
gesenkt haben. So ermöglichte das früh entwickelten Kurier- und Postwesen
persönliche Besuche und den schriftlichen Gedankenaustausch per Brief. Durch die
von allen verstandene Bildungssprache Latein konnte dadurch ein größeres
Publikum miteinbezogen werden. Mit der Zeit bildeten sich Gesellschaften von
Gelehrten aus, welche die Verbreitung der neuen Erkenntnisse, beispielsweise durch
Fachvorträge und Zeitschriften, förderten. (Landes 1999: 222f.)
Die Erkenntnisse, die durch die wissenschaftliche Methode gewonnen werden
konnten, wurden praktisch angewendet. An einem Beispiel aus der Mechanik soll
gezeigt werden, warum sich die industrielle Revolution über einen so langen
Zeitraum erstreckt. Aufeinander aufbauende Erkenntnisse von verschiedensten
14
Das Zeitalter der Aufklärung umfasst die Epochen der Renaissance und des Humanismus. Im 16.
bis 18. Jahrhundert wurde das Weltbild der Antike wieder aufgegriffen und kritisch reflektiert. Der
Mensch stand dabei im Vordergrund. Althergebrachte Denkmuster wurden überholt und neues
Wissen gutgeheißen.
15
Roger Bacon (nach Landes 1999: 220) äußert dazu: „Sämtliche Kategorien sind abhängig von der
Kenntnis der Quantität, also von etwas, was die Mathematik abhandelt, und daher hängt die gesamte
Kraft der Logik an der Mathematik.“
12
Wissenschaftlern über Vakuum und Luftdruck haben schließlich zur Basisinnovation
Dampfmaschine16 geführt. Diese ermöglichte nun die Entstehung von Fabriken, was
als Sinnbild der industriellen Revolution aufgefasst werden kann. Die Dauer des
Entwicklungsprozess erstreckt sich von Beginn des 17. Jahrhunderts bis hin zur
Erfindung der Dampfmaschine im späten 18. Jahrhundert. (Landes 223f.)
Tabelle 7: An der Entwicklung der Dampfmaschine beteiligte Gelehrte
1602 – 86
1662
1690
1712
1765
Otto von Guericke
Robert Boyle
Denys Papin
Thomas Newcomen
James Watt
Vakuumluftpumpe
Gasgesetz
Dampfdruckzylinder
Atmosspärische Dampfmaschine
Niederdruckdampfmaschine
Quelle: Landes 1999: 224
4.2.2 Innovationsfähigkeit
Der vorangehende Abschnitt veranschaulicht, warum die industrielle Revolution ein
langer Prozess war. Es dauerte, bis einzelne Entwicklungen vereinigt und damit die
Grundvoraussetzung wirtschaftliche Verwertbarkeit geschaffen hatten. Hier soll
anhand eines Vergleichs zwischen Seiden-, Woll- und Baumwollverarbeitung gezeigt
werden, dass kurzfristig, neben der Innovation selbst, auch die Fähigkeit einer
Volkswirtschaft, die Erfindung gewinnbringend zu nutzen, ausschlaggebend ist.
Im 14. Jahrhundert wurde in Italien die Technik des mechanischen Seidenzwirnens
entdeckt. Mittels Wasserkraft konnte fortan Seidengarn hergestellt werden. In
England errichtete Thomas Lombe 1716 eine entsprechende Fabrik, deren
Produktion seiner Zeit den Bedarf des gesamten Landes deckte. Seide wurde nur
von einem kleinen und wohlhabenden Kundenkreis nachgefragt. Die geringe
Nachfrage ist der Grund, warum die Seidenindustrie nicht zur industriellen Revolution
geführt hat, obwohl sie der von Baumwolle nicht unähnlich ist. (Landes 1999: 224f.)
Ähnlich verhielt es sich mit Wolle, die lange Zeit vor der Kolonialisierung als Rohstoff
in der Textilbranche vorherrschend war. Ab dem 14. Jahrhundert wurde die Wolle im
Verlagssystem verarbeitet. Hierbei lieferte ein so genannter Verleger Rohmaterial
und Werkzeug an die Landbevölkerung und kaufte die Fertigprodukte. Der Gewinn
war beträchtlich, da der Marktpreis über den Löhnen lag, die der Verleger zahlte. Die
mitunter Ausbeutung gleichzusetzenden monopolistischen Strukturen des
Verlagswesens haben hier jedoch die industrielle Revolution verhindert. (Landes
1999: 225)
Um den Gewinn weiter zu steigern wurden Versuche unternommen, Wolle mit
Spinnmaschinen zu verarbeiten. Wegen der vergleichsweise ungünstigeren
Beschaffenheit der Faser (vgl. 3.3.2.1) gelang allerdings kein Durchbruch. Man
konzentrierte sich dann auf die Baumwolle, die auch im Verlagssystem verarbeitet
wurde. Die Mechanisierung der Baumwollfertigung war eine wichtige Triebkraft für
die industrielle Revolution. Einerseits war das Verlagssystem wegen der hohen
Transportkosten relativ teuer. Andererseits zahlten die Verleger höhere Löhne, als
die Nachfrage nach Baumwolle stieg. Dies wurde zum massiven Problem, als die
Arbeiter ihr gestiegenes Einkommen für mehr Freizeit aufwendeten. Weiterhin
begannen die sie, sich auf Kosten der Verleger zu bereichern, indem sie
Konkurrenten bedienten und Rohmaterial für den eigenen Bedarf verwendeten. Die
16
Die Dampfmaschine kann deshalb als Basisinnovation bezeichnet werden, da durch sie die
Umwandlung von Wärme in Arbeit ermöglicht wurde.
13
Verleger reagierten mit strengen Qualitätskontrollen. Als alle Versuche, die Spinner
und Weber zu disziplinieren scheiterten, gingen die Verleger dazu über, große
Werkstätten zu bauen, in denen die Arbeiter unter Aufsicht arbeiten sollten. Hierfür
mussten sie jedoch wieder höhere Löhne zahlen, da die Arbeiter lieber zu Hause als
in einer Werkstatt arbeiteten. „Solange die Arbeitsmittel in der Fabrik dieselben
blieben wie im Bauernhaus, war die Produktion teurer als zuvor“ (Landes 1999: 227).
Mit der Mechanisierung der Baumwollfertigung (vgl. 3.3.2.1) änderte sich dies, da die
Produktivität der Protofabriken die der ländlichen Bevölkerung überstieg, und so
Kosten gedrückt und höhere Einkommen erwirtschaftet werden konnten. (Landes
1999: 226f.)
Wie sich gezeigt hat, sind die Veränderungen in der Baumwollfertigung tief greifend.
Die Umwälzungen veränderten Gesellschaft und Wirtschaft maßgeblich.
Ausschlaggebend für den Durchbruch ist einerseits die langfristig entwickelte
Technologie. Jedoch muss diese auch gewinnbringend eingesetzt werden können.
5 Der Kern der industriellen Revolution in England
5.1 Entwicklungen und Triebkräfte im Zusammenhang
Wie sich in den vorangehenden Abschnitten gezeigt hat, hängen die
unterschiedlichsten Entwicklungen in den Wirtschaftssektoren mit den Triebkräften
zusammen. Abbildung 2 stellt dies schematisch dar.
Wie man sieht und ausführlich diskutiert wurde, sind alle Entwicklungen mit den
ausschlaggebenden Triebkräften verknüpft. Daher kann man sagen, dass die
Fähigkeit der Vermarktung des technischen Fortschritts die wesentliche Ursache für
die industrielle Revolution in England war. Der folgende Abschnitt veranschaulicht
dies, indem England und Indien verglichen werden.
Abbildung 2: Zusammenhänge der industriellen Revolution
5.2 England nicht in Indien
Bezug nehmend auf die Baumwollindustrie stellt sich die Frage, warum die
industrielle Revolution nicht in Indien stattgefunden hat. Indien hatte im 17. und 18.
Jahrhundert die erste Baumwollindustrie. Sie war gekennzeichnet durch hohen
Exportbeitrag sowie hohe Qualität und Vielfalt. Eine produktivitätssteigernde
14
Mechanisierung blieb jedoch aus. (Landes 1999: 242) An diesem Beispiel soll
anhand der Triebkräfte, welche die industrielle Revolution in England eingeleitet
haben, gezeigt werden, warum jene in Indien ausblieb.
Wie ersichtlich wurde, sind Innovationen möglich, da jemand von ihnen profitiert und
sie deshalb voranbringt. Wer wäre also Nutznießer einer Mechanisierung der
indischen Baumwollindustrie gewesen? Es gab in Indien ebenso ein Verlagssystem
in der Bauwollindustrie wie in England (vgl. 4.2.2) mit den Interessengruppen der
Arbeiter, Zwischenhändler und Handelsgesellschaften bzw. Kaufleute. Aus der
erstgenannten Gruppe heraus, den Spinnern und Webern, konnte auch in Indien
keine Neuerung hin zur kapitalgestützten Mechanisierung erwartet werden. Weder
der Wille noch die Mittel standen den Arbeitern zur Verfügung. Vielmehr ergaben sie
sich einer gewissen Gewohnheit. Es hätten indische Zwischenhändler oder die
europäischen Handelsgesellschaften sein müssen, die einen solchen Wandel
herbeiführten. Doch auch aus deren Positionen kam es zu keinem Anstoß für eine
Technisierung. (Landes 1999: 242f.)
Ein einfacher und vielleicht auch der einzige Grund für das Nichteinsetzen der
Mechanisierung ist im flexiblen Arbeitskräfteangebot der indischen Volkswirtschaft zu
sehen. Ökonomisch lässt sich begründen, warum es für die Zwischenhändler und
Kaufleute billiger war zusätzliche Arbeiter einzusetzen, anstatt auf technischen
Wandel zu setzen. Mehr und billige Arbeitskraft ließen sich denkbar einfach aus den
Reihen der unberührbaren Kaste oder dem Heer mittelloser Frauen rekrutieren.
Wenn auch schwierig, konnten Arbeiter auch konzentriert werden, was in anderen
Industrien wie dem Schiffbau auch zu Größenvorteilen und Einsparungen führte. In
der Baumwollindustrie ließ sich der "Familienbetrieb" jedoch nicht ersetzen. (Landes
1999: 243)
Ein weiterer Grund der Verhinderung der industriellen Revolution in Indien ist die
Notwendigkeit von Werkzeugen, Geräten und Maschinen. „In Indien wird nur selten
der Versuch gemacht, etwas mit Maschinen zu erledigen, was auch mit menschlicher
Arbeit getan werden kann" (ebd.). Für eine industrielle Revolution sind die genannten
Hilfen jedoch unerlässlich. In Indien wird harte Arbeit als Karma gesehen. Von
Arbeitern wie auch Unternehmern war daher in dieser Hinsicht keine Änderung zu
erwarten. Diese Gleichgültigkeit gegenüber Neuerungen führte dazu, dass ein jeder
Beteiligter keine Motivation hatte, sich zu verändern. (ebd.)
Die Zwischenhändler hatten andere Möglichkeiten der Kontrolle der Arbeiterschaft
als in England (vgl. 4.2.2). Unangekündigte Besuche in den häuslichen Werkstätten
der Weber und Spinner waren Gang und Gebe und wurden beidseitig akzeptiert.
Auch die Handelsgesellschaften stellten sich gut auf die Eigenartigkeit des indischen
Baumwollmarktes ein. Zeitweilige Ausfälle, lange Lieferwege etc. wurden
beispielsweise durch große Lager in den Verschiffungshäfen überbrückt. Diese und
andere Lösungen waren immer noch kostengünstiger als eine aufwendige
Technisierung des Landes. (ebd.)
Aus diesen Besonderheiten Indiens heraus war kein erforderlicher Druck für
Innovation vorhanden, selbst wenn die Invention möglich war oder von anderswo
hätte importiert werden können. Indiens Gesellschaft brachte nicht dieselben
Voraussetzungen wie England und dessen Bevölkerung (vgl. 4.1) mit. (Landes 1999:
243f.)
15
6 Gesellschaftliche Auswirkungen: die soziale Frage
Die soziale Frage betrachtet die sich ändernden sozialen Verhältnisse im Zuge der
industriellen Revolution (Wikipedia 2005e). Die einsetzende Industrialisierung konnte
die Lebensbedingungen kurzfristig verbessern. Dies ging einher mit der starken
Arbeitsnachfrage und den daraus resultierend höheren Einkommen der
Arbeiterschaft. Es bleibt auch hier zu bedenken, dass dies lediglich eine geringfügige
Verbesserung, ausgehend vom vorher gegebenen Einkommen, welches dem
Existenzminimum entsprach, war. Bereits mit dem Eintreten der ersten "industriellen"
Krisen (1817 – 1818; 1825) begannen, die anfänglichen Besserungen steten
Senkungen der Einkommen zu weichen. Gegenteilig zur Verarmung der
Arbeiterschaft erreichten die Unternehmensgewinne neue Höchststände was den
Graben zwischen den gesellschaftlichen Klassen weiter vertiefte. (Bergier 1978: 282)
Eine direkte Folge der Industrialisierung war die Urbanisierung. Große Teile der
Landbevölkerung zogen in die Städte, um dem auch durch die Industrialisierung
verursachten Elend zu entgehen. Die zuvor so verbreitete Heimarbeit (vgl. 4.2.2)
verlor zunehmend an Bedeutung durch die industrielle Massenfertigung. Somit fiel
diese Nebenverdienstmöglichkeit weg. Durch die erreichten Fortschritte in der
Landwirtschaft (vgl. 3.3.1.1) wurde die kleine Landwirtschaft unrentabel und führte
zum Verkauf dieser kleinen Höfe und zum Wegzug ihrer Bewirtschafter in die
aufstrebenden Städte. (Wikipedia 2005e)
In den Städten angekommen war es um die Lebensbedingungen jedoch keineswegs
besser bestellt. Das starke Wachstum der Bevölkerung führte mitunter zu sinkenden
Löhnen, steigenden Preisen und Wohnungsnot. Mangelnde Hygiene und
Überarbeitung waren die Probleme welche die Industrialisierung mit sich brachte und
die sich in den Städten sehr deutlich offenbarten. (Bergier 1978: 276)
Die Arbeitsbedingungen in den Fabriken, der entstandenen Industriezentren, waren
katastrophal. Das noch ungewohnte Verhältnis von Mensch zu Maschine, die
Monotonie, die Schwere der Arbeit und die noch mangelhaften Gesundheits- und
Sicherheitsvorkehrungen machten das Leben der Fabrikarbeiter nahezu unerträglich
und kurz. Die Lebenserwartung eines Fabrikarbeiters lag bei 20 Jahren, Laster wie
die Alkoholsucht und eine verbreitete Resignation gefährdeten einen großen Teil der
Bevölkerung, das so genannte Proletariat. Auch um die Frauen und Kinder war es,
wenn auch in anderer Weise, schlecht bestellt. (Bergier 1978: 282f.) Die geringen
Löhne der Familienväter zwangen auch die Frauen und Kinder in die Fabriken, da
andernfalls kein Auskommen möglich war. (Wikipedia 2005e)
Gerade die Frauen- und Kinderarbeitet waren Ziel der ersten restriktiven
Arbeitsgesetze. Es galt zu Unterbinden, dass diesen beiden Gruppen kontinuierlich
dasselbe Maß an Arbeit zugemutet wurde wie den erwachsenen Männern des
Proletariats. Erste Ansätze hierzu kamen zunächst in England ab 1830 auf,
anderenorts verging noch mehr Zeit. Es war, über die augenscheinliche der
Ausbeutung zu verhindern hinaus, das Ziel die unübersehbaren Folgen gerade der
Kinderarbeit zu verhindern. Viele die als Kinder, teilweise bereits im Alter von drei
Jahren, zur Arbeit gezwungen waren, drohten aufgrund der gesundheitlichen
Beeinträchtigungen in späteren Jahren wegen ihren Behinderungen ganz als
Arbeitskraft auszufallen. (Bergier 1978: 287f.)
Die unzureichenden Lebensbedingungen der Schar von Arbeitern in allen Nationen,
welche die industrielle Revolution mitmachte legte denn auch die Grundlage für die
Arbeiterbewegung, von sozialen Aspekten bis hin zum revolutionären sozialistischen
Gedanken. (Wikipedia 2005e) Diese Entwicklung erwies sich als mühsamer und
16
langer Weg da die mehrheitlich ungebildete und diskriminierte Arbeiterschaft erst
langsam ein Bewusstsein für ihre eigene Situation entwickelte. Die ersten Kämpfer
für diese Schicht kamen nicht einmal mehr aus deren Reihen sondern aus Bürgertum
und dem Feld der Intellektuellen. Marx und Engels forderten Besserungen und
schließlich sogar die Revolution der Arbeiter (Bergier 1978: 294)
Es kam jedoch auch von anderer Seite Unterstützung für die schlecht gestellte
Arbeiterschar. So engagierten sich auch Unternehmer wie etwa Alfred Krupp (18121887) für bessere Bedingungen, zumeist jedoch nur für die eigenen Angestellten in
Form von medizinischer Versorgung oder Werkswohnungen. (Wikipedia 2005e)
7 Zusammenfassung
Die industrielle Revolution bezeichnet den Epochenwechsel in England beginnend
Ende des 17. Jahrhunderts. Der maßgebliche Inhalt dieser Entwicklung war die
Ersetzung von Arbeit durch Kapital mit Hilfe technischer Neuerungen. Die
Neuerungen für die Gesellschaft und die, die ihr folgten, waren immens. Die Nation
entwickelte sich von der Agrargesellschaft hin zu einer modernen Industrienation.
Triebkräfte dieses Prozesses waren in der Gesellschaft selbst zu finden: die
Fähigkeit zur Invention und Innovation. Abschließend bleibt festzuhalten, dass die
Ursachen der industriellen Revolution in England vor allem in der Fähigkeit des
Empire, Innovationen voranzubringen lagen.
17
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Gro%C3%9Fe_Hungersnot_in_Irland, 19.12.2005
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Wikipedia (2005e): Soziale Frage, http://de.wikipedia.org/wiki/Industrielle_Revolution
#Die_soziale_Frage, 19.12.2005
A
Ehrenwörtliche Erklärung
Wir erklären hiermit ehrenwörtlich, dass die
1. vorliegende Arbeit selbstständig und ohne fremde Hilfe angefertigt wurde,
2. in dieser Arbeit von
gekennzeichnet sind.
Dritten
verwendeten
Gedanken
namentlich
Nürtingen, 19.12.2005
Claus Lapicz
Jörg Cezis
B