akzeptanz für

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akzeptanz für
AKZEPTANZ FÜR
Eine Standortbestimmung über
Chancen und Grenzen der
Bürgerbeteiligung in Deutschland
Vorwort
Peter Terium _ 07
Methodik
Erkenntnisinteresse: Orientierung
schaffen in der Diskussion
um Bürgerbeteiligung _ 10
Methodisches Vorgehen _ 12
In Kürze
Zusammenfassung: Schlüsselerkenntnisse der Untersuchung _ 16
Analyse
1. Mehr Handlungsspielraum durch
Partizipation: Die Konjunktur der
Bürgerbeteiligung _ 22
2. Beteiligungskultur:
Energiewende und Netzausbau
werden zum neuen Motor der
Debatte _ 29
3. Die Energie- als Standortfrage:
Eine überfällige Debatte _ 40
4. Warum Bürger protestieren:
Einsichten in ein überaus vielschichtiges Phänomen _ 48
5. Exkurs Stuttgart 21:
Blaupause in Sachen Demokratieverständnis _ 61
6. Vorhabenträger und NGOs:
Im Wettbewerb mit ungleichen
Waffen _ 69
7. Ratio und Empathie:
Erfolgsfaktoren für einen Dialog
auf Augenhöhe _ 77
8. Partizipation – aber wie? Bürgerbeteiligung in der Kontroverse _ 85
9. Die juristische Perspektive:
Braucht Bürgerbeteiligung neue
Rechtsgrundlagen? _ 100
10.Wunsch und Wirklichkeit:
Bürgerbeteiligung ist ein dauerhafter Lernprozess _ 109
Interviews
Ansichten, Einsichten, Aussichten _ 118
Kompendium
Akzeptanz von Großprojekten:
Ein Quellenverzeichnis zum Nachschlagen und Vertiefen _ 270
Literatur
Literaturverzeichnis _ 272
Peter Terium, Vorstandsvorsitzender RWE AG
die Erwartungen der Bürger an Unternehmen steigen zunehmend. Die Menschen fordern
immer mehr ein: neben Informationen und Transparenz auch immer mehr direkte Beteiligung –
insbesondere bei großen Infrastrukturprojekten.
Gerade die Energiewirtschaft steht durch die beschleunigte Energiewende vor besonderen Herausforderungen: Zur Umsetzung bedarf es einer entschlossenen Realisierung von Projekten, die
in der Öffentlichkeit nicht immer unumstritten sein werden. Wirtschaft, Politik und Gesellschaft
sind gefragt, gemeinschaftlich verantwortungsvolle Lösungen zu schaffen. Hierzu bedarf es
einer Dialog- und Diskurskultur, in der alle Seiten bereit sind, einander zuzuhören, neue Blickwinkel
einzunehmen und Konflikte offen und ehrlich zu thematisieren.
Die Energiewende mit ihren Konsequenzen wird Menschen und Wirtschaft noch über Dekaden
bewegen. Sie ist eine große Chance für Deutschland, wenn wir sie richtig anpacken. Wir müssen
es schaffen, sie zu einem generationenübergreifenden Gemeinschaftsprojekt zu machen. Als ein
wichtiger Investor in Deutschland und Europa sehen wir uns in der Verantwortung, diesen Beitrag
zu leisten – auch um unser Land als Industriestandort weiter stark zu halten.
Wir als RWE verstehen uns als Teil der Lösung und wollen die Zukunft gemeinschaftlich und nachhaltig mitgestalten. Mit der vorliegenden Untersuchung möchten wir relevanten gesellschaftlichen,
volkswirtschaftlichen und politischen Fragen nachgehen, Perspektiven zusammenbringen und
Impulse in der dynamischen und kontroversen Debatte rund um die Akzeptanz von Großprojekten
und Bürgerbeteiligung geben.
Dabei stimmen uns die Ergebnisse der Untersuchung zuversichtlich: Die Situation in Deutschland
ist deutlich weniger kontrovers und verhärtet als in der Öffentlichkeit gemeinhin angenommen.
Sicherlich wird es nicht immer möglich sein, alle Seiten ganz und gar zufriedenzustellen – dennoch
sind wir optimistisch, dass die Energiewende und die großen Fragen des Standorts Deutschland
von einer konsensualen und dialogorientierten Kultur getragen werden können, wenn sich jeder
seiner Rolle und seiner Verantwortung bewusst ist. Wir sind dazu bereit.
Auf den Dialog mit Ihnen freut sich
Vorwort 07
Erkenntnisinteresse:
Orientierung schaffen
in der Diskussion
um Bürgerbeteiligung
Die Diskussion um Bürgerbeteiligung
bei Infrastruktur- und Großprojekten
nimmt seit geraumer Zeit eine exponierte Stellung in der öffentlichen
und politischen Debatte ein. Projekte wie Stuttgart 21 oder jüngst
das Nein der Bevölkerung zur geplanten neuen Startbahn am Flughafen
München rücken dieses Thema
immer wieder in den Fokus. Und fast
schon reflexartig haben sich nach
Vorlage des Entwurfs für den ersten
nationalen Netzentwicklungsplan
Ende Mai 2012, der eine wichtige
Grundlage für den weiteren Ausbau
der Übertragungsnetze im Rahmen
der Energiewende ist, in einzelnen
Regionen Bürgerinitiativen gebildet.
10 METHODIK
Hat sich Deutschland tatsächlich zur
„Dagegen-Republik“ entwickelt?
Was zeichnet die aktuellen Proteste
aus? Wie gehen Vorhabenträger
damit um? Welche Rolle spielen die
unterschiedlichen Beteiligten –
Unternehmen, Genehmigungsbehörden, Politik, Medien, Bürgerinitiativen/NGOs, betroffene Bürger – in
diesem Prozess, welche Verantwortung tragen sie? Wie kann Bürgerbeteiligung bedarfsgerecht und zielführend gestaltet werden?
Dies sind nur einige der Fragen in
der Debatte über Protestkultur, Partizipation und Bürgerbeteiligung,
die sich in den letzten Monaten
dynamisch entwickelt hat. Ziel der
vorliegenden Untersuchung ist es,
die Diskussion rund um das Thema
Bürgerpartizipation aus verschiedenen gesellschaftlichen Blickwinkeln
zu beleuchten und Orientierung zu
schaffen. Dabei umfasst Bürgerbeteiligung ein breites Spektrum an
Möglichkeiten. Konkret versteht man
unter dem Begriff die Beteiligung
der Bürger an politischen Entscheidungen und Planungsprozessen.
Neben formellen Beteiligungsmöglichkeiten wie der direkten Demokratie oder der im Verwaltungsrecht vorgesehenen Bürgerbeteiligung – etwa
in der Bauleitplanung – finden auch
immer mehr informelle Formen der
Beteiligung Anwendung. Diese reichen von Bürgerpanels und Internetteilhabe über runde Tische und Mediationen bis hin zu Planungszellen.
Es geht deshalb nun für alle Seiten
darum, an einer besseren Umsetzung der Bürgerpartizipation zu
arbeiten und sie vor allem zum richtigen Zeitpunkt und in der richtigen
Form in die Projektplanung zu integrieren. Um den Prozess in den kommenden Jahren konstruktiv zu
gestalten, ist es grundlegend wichtig, die Hintergründe der Bürgerbeteiligung zu verstehen und ein
Gefühl für den Gestaltungsspielraum bei der Verwirklichung von
Großprojekten zu bekommen.
Erkenntnisinteresse 11
Methodisches
Vorgehen
Der Studie ging eine intensive Auseinandersetzung mit dem Untersuchungsgegenstand im Zeitraum von
Oktober 2011 bis August 2012 voraus.
Öffentliche Stimmen und Positionen
aus den Bereichen Politik, Medien,
Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft wurden genauso in die Analyse
mit einbezogen wie wissenschaftliche
Überlegungen, Studien und Befragungen. Das Kompendium, ein digitales Nachschlagewerk, umfasst eine
Auflistung von Quellen rund um das
Thema Akzeptanz von industriellen
Großprojekten sowie Chancen und
Grenzen von Bürgerbeteiligung bei
der Realisierung von Großprojekten in
Deutschland. Die Haupterkenntnisse
der inhaltlichen Auseinandersetzung
werden in der Analyse behandelt und
dargestellt. Zur Vertiefung und Untermauerung wird dort unter anderem
auf aktuelle Expertenstimmen zurückgegriffen, die im Rahmen einer
umfassenden Befragung gewonnen
werden konnten. Hierzu wurden Leitfadeninterviews mit Vertretern aus
verschiedenen relevanten Gesellschaftsbereichen geführt. Vor der
Auswahl der zu befragenden Personen wurden im Vorfeld alle gesellschaftlichen Bereiche definiert, die
12 METHODIK
für das Thema eine hohe Relevanz
haben. Diese sind:
Politik
Non-Profit-Bereich (Umweltschutzorganisationen, Gesellschaftspolitik, Kirche etc.)
Medien
Wissenschaft
Wirtschaft
Verwaltung
Insgesamt wurden Interviewanfragen an 58 Personen versendet.
Final konnten im Rahmen der Untersuchung zwischen März und August
2012 37 Personen aus Politik, NonProfit-Organisationen, Medien, Wissenschaft, Wirtschaft und Verwaltung interviewt werden.
Bei der Methode der Leitfadeninterviews waren keine Antwortmöglichkeiten vorgegeben, so dass die
befragten Personen frei berichten
und kommentieren konnten. Im
Kern der Interviews stand ein
Gesprächsleitfaden, die Interviewten konnten das Gespräch jedoch
um neue Themen und Gesichtspunkte erweitern. Der Fragenkatalog kam dabei je nach Verantwor-
tungsbereich der befragten Person
individuell zum Tragen, das heißt
nicht allen Interviewten wurden alle
Fragen gestellt. Die Dauer der Gespräche betrug zwischen 60 und 90
Minuten. Für die Veröffentlichung
wurden die Interviews der besseren
Lesbarkeit halber in Abstimmung
mit den Interviewten auf das
Wesentliche reduziert. Die Zitate
in der Analyse stammen teilweise
aus der Langversion der Gespräche
und lassen sich deshalb nicht alle in
den veröffentlichten Interviews wiederfinden. Die Befragung ist nicht
repräsentativ und spiegelt individuelle Sichtweisen wider. Durchgeführt wurde die Untersuchung
von Deekeling Arndt Advisors in
Communications GmbH im Auftrag
von RWE.
Aus der Auseinandersetzung mit
dem Thema Bürgerbeteiligung
gingen insbesondere vier Themenfelder hervor, die sich als erkenntnisleitend für die vorliegende
Untersuchung erwiesen und als
strukturelle Grundlage für den
Interviewfragebogen fungierten.
Dabei handelt es sich um die folgenden Themen:
Vermessung der gegenwärtigen
Protestkultur
Dieser Themenkomplex hat das Ziel,
die durch Stuttgart 21 in den Fokus
gerückte aktuelle Protestkultur zu
analysieren. Es wird den übergeordneten Fragen nachgegangen, woher
die Proteste rühren und wodurch sie
sich auszeichnen.
Energiewende: Widersprüche und
Friktionen
Auch im Kontext der Energiewende
spielt die Beteiligung der Bürger
immer wieder eine Rolle. Ziel dieses
Komplexes ist es, dieses Thema
sowie die mit der Energiewende im
Allgemeinen verbundenen Herausforderungen zu beleuchten.
Meinungsbildung und Teilhabe im
digitalen Zeitalter
Dieser Fragenkomplex soll Aufschluss darüber geben, welche Rolle
die (digitalen) Medien in der Protestbewegung einnehmen und wie
sie diese beeinflussen. Darüber hinaus werden die Anforderungen an
die Kommunikation seitens der
beteiligten Akteure aufgezeigt und
diskutiert.
Chancen und Grenzen von mehr
Bürgerbeteiligung
Abschließend soll ein Bild dessen
gezeichnet werden, wie Bürgerteilhabe konkret umgesetzt werden
kann und welche Chancen und Grenzen sie mit sich bringt.
Diese vier Themenfelder finden
auch in der folgenden Analyse in
erweiterter Form Niederschlag.
Methodisches Vorgehen 13
Zusammenfassung:
Schlüsselerkenntnisse
der Untersuchung
Mehr Bürgerbeteiligung:
ein Gewinn für Deutschland –
und eine Notwendigkeit für
die Energiewende
Die Debatten und praktischen
Bemühungen um Partizipation, die
gegenwärtig allerorten in Deutschland zu beobachten sind und die
sich in einem bemerkenswerten
politischen Aktionismus äußern,
gewinnen im Angesicht der Energiewende und des damit einhergehenden Netzausbaus enorm an Bedeutung. Deutschland wird diese große
Zukunftsherausforderung nur meistern, wenn es sich eine neue Dialogund Beteiligungskultur aneignet.
Denn für den Umbau der Energiesysteme hegen die Bundesbürger
zwar viel Sympathie. Doch so sehr
sie sich für eine Energieversorgung
aus erneuerbaren Quellen begeistern, so wenig sind den Menschen
offenbar bislang die faktischen
Zusammenhänge und tatsächlichen
Konsequenzen dieser „dritten
industriellen Revolution“ (Rifkin
2011) bewusst. Die Energiewende
16 IN KÜRZE
bringt zwangsläufig eine Flut von
Großprojekten mit sich. Wenn unser
Land dieses ehrgeizige Vorhaben
bewältigen will, ist aber nicht allein
über die Beeinträchtigungen zu verhandeln, die der Einzelne durch
mehr Windräder oder neue Stromtrassen wird erdulden müssen. Es
wird auch darüber zu reden sein,
welche Erwartungen die Gesellschaft an den Wirtschaftsstandort
Deutschland hat und welche finanziellen Lasten sie bereit ist, auf sich
zu nehmen für das große gemeinschaftliche Ziel der Energiewende.
Die aktuelle Partizipationsdebatte
ist also einerseits getrieben von der
Einsicht, dass die Energiewende
ohne einen intensiven Bürgerdialog
nicht zu machen ist. Zugleich ist sie
nach Einschätzung vieler Experten
die Antwort auf ein grundsätzlich
erstarktes Selbstbewusstsein der
Zivilgesellschaft. Bürger sind demnach heute eher bereit als früher,
Vorhaben zu hinterfragen und ihre
Bedenken öffentlich zu artikulieren.
Partikularinteressen werden den
Beobachtungen der Fachleute
zufolge vor allem von Anrainern großer Infrastrukturprojekte sehr vital
vertreten. Weil das Veto der Bürger
zur Normalität geworden sei, werde
auch der Protest auf der Straße zur
gutbürgerlichen Praxis, analysieren
Zusammenfassung 17
die Experten. Nach ihrem Dafürhalten sind Demonstrationen heutzutage gesellschaftlich akzeptiert. Sie
gelten je nach Blickwinkel als Ausdrucksform eines informierten und
emanzipierten Bürgertums oder
auch einer auf Besitzstandswahrung
ausgerichteten Wohlstandsgesellschaft. Wer gegen ein geplantes
Vorhaben protestiert, so die vorherrschende Sichtweise, sei kein Egoist,
sondern verleihe seiner persönlichen Sorge über einen ihm drohenden Nachteil Ausdruck und nehme
schlichtweg ein demokratisches
Recht wahr.
Dass der Protestbürger sich zunehmend unbeeindruckt davon zeigt,
wenn ein Projekt bereits einen
behördlichen Genehmigungsstempel trägt, sollten Planer daher als
Realität anerkennen, so die Empfehlung der Experten. Dieser „zivile
Ungehorsam“ ist nach ihrem Verständnis zunächst einmal natürliches Merkmal einer lebendigen und
im positiven Sinne streitbaren
Demokratie. Den Widerstand wollen
die Befragten daher auch nicht als
Vorboten einer drohenden gesellschaftlichen Revolte oder gar des
Untergangs unseres repräsentativen
18 IN KÜRZE
Staatssystems gedeutet wissen.
Wohl aber als Hinweis darauf, dass
in unserer Gesellschaft gewisse
Übereinkünfte neu ausbalanciert
werden müssen. Nach Meinung vieler Fachleute sind Vorhabenträger
gut beraten, sich von der Sichtweise zu lösen, dass eine Planung,
die auf dem Papier legal ist, automatisch auch in den Augen der übrigen Gesellschaft rechtens ist. Die
Legitimität eines Großvorhabens
lasse sich heute nicht mehr allein
mittels Paragraphen bemessen oder
gar verargumentieren, so ein mehrfach vertretener Standpunkt. Sie
berechne sich stattdessen zu einem
Gutteil immer auch aus der kritischen Resonanz der betroffenen
Öffentlichkeit auf das Projekt. Das
Ringen aller beteiligten Parteien um
eine Lösung, die nicht nur juristisch
wasserdicht, sondern auch gesellschaftlich konsensfähig ist, werde
somit zur Pflichtübung jeder Vorhabenplanung.
Proteste sind aber nicht allein durch
persönliche Interessen der Bürger
motiviert, sondern gedeihen in
Deutschland noch auf einem anderen Nährboden. Sie werden auch
dadurch gespeist, dass die Menschen sich zunehmend entfremdet
fühlen von den Verantwortungsträgern des Gemeinwesens. Ihnen ist
das Vertrauen abhandengekommen,
sowohl in die Politik als auch in
große Unternehmen, diagnostizieren Experten wie empirische Untersuchungen. Beiden begegnen Bürger mit zunehmender Skepsis. In
gleichem Maße wie die Unzufriedenheit mit den politischen und ökonomischen Eliten wächst offenbar das
Bedürfnis der Menschen, über Planungen mitzuentscheiden und die
Dinge selbst in die Hand zu nehmen.
Latente Zweifel daran, dass es den
Vorhabenträgern tatsächlich um
Gemeinwohlinteressen geht, sind
eine belegte und nicht zu unterschätzende Triebfeder des Widerstands – und damit auch der aktuellen Partizipationsdebatte. Stuttgart
21 hat nach Auffassung vieler Experten vor Augen geführt, dass es bei
der Auseinandersetzung nicht unbedingt nur um das Projekt geht. Stattdessen entzünden sich an derartigen Großvorhaben offensichtlich
auch grundlegende ungelöste Konflikte unserer Gesellschaft. Dazu
gehört wissenschaftlichen Erhebungen zufolge insbesondere das
Gefühl der Bürger, dass Politiker
über ihre Köpfe hinwegregieren und
Unternehmen nur ihre Profitinteressen verfolgen.
Vor diesem Hintergrund leuchtet es
ein, dass die Gegner von Großprojekten im Kampf um die Sympathien
der Bürger und die Deutungshoheit
über ein Projekt häufig die Nase
vorn haben. Das Ansehen von
NGOs in der Bevölkerung, so darf
aus den Ausführungen der Experten geschlussfolgert werden, ist
schlichtweg auch deshalb so hoch,
weil sich das Vertrauen in die Vorhabenträger auf einen dramatischen Tiefpunkt zubewegt. Diese
Polarisierung wiederum führt häu-
fig zu regelrechten Frontstellungen
zwischen Projektinitiatoren auf der
einen und Widersachern auf der
anderen Seite – eine Situation, in
der ein konstruktiver Diskurs kaum
mehr möglich scheint.
Kann mehr Bürgerbeteiligung dazu
beitragen, solche Eskalationen zu
vermeiden? Die Studie antwortet
darauf mit einem klaren Ja. Bürgerteilhabe ist ein lohnenswertes Unterfangen – für das konkrete Projekt,
aber auch für unser Gemeinwesen.
Sicher, Bürger zu beteiligen ist kein
Allheilmittel. Nie wird man alle
Betroffenen von einem Vorhaben
überzeugen können. Aber praktizierte Partizipation vergrößert Handlungsspielräume – und verkleinert sie
nicht etwa, wie noch immer von vielen Projektverantwortlichen befürchtet wird. In Beteiligung zu investieren, kann Prozesse unter dem Strich
beschleunigen und zu mehr Planungssicherheit verhelfen, lautet
eine der zentralen Erkenntnisse dieser Untersuchung. Denn wo Konflikte frühzeitig diskutiert und aus
dem Weg geräumt werden, kann
Akzeptanz wachsen und erhöhen
sich die Chancen für einen Konsens.
Auf diese Weise können Projektinitiatoren auch dem medialen Trend zur
Vereinfachung und Skandalisierung
entgegenwirken, der die öffentliche
Konfrontation häufig noch anfacht
und der von mehreren Experten kritisiert wird. Bürgerbeteiligung ist
damit auch ein Gewinn für unsere
Demokratie, die schließlich davon
lebt, dass im konstruktiven, bisweilen auch mühsamen Diskurs über das
Für und Wider mehrheitsfähige Entscheidungen und damit die Handlungsfähigkeit der Gemeinschaft hergestellt werden.
Wie aber ist Teilhabe in der Praxis zu
bewerkstelligen? Die möglicherweise ernüchternde Erkenntnis lautet: Patentrezepte für erfolgreiche
Bürgerbeteiligung gibt es nicht.
Aber es gibt – und das ist die gute
Nachricht – doch eine große Übereinstimmung in wesentlichen Punkten. Zum einen muss die bestehende Beteiligungspraxis dringend
reformiert werden. Denn den hohen
Anforderungen an eine Partizipation, wie sie heute verstanden und
von den Bürgern eingefordert wird,
genügen die derzeitigen Verfahren
im Verwaltungsrecht nicht mehr.
Daneben sollte Bürgerbeteiligung
zum selbstverständlichen Bestandteil jeder Projektplanung werden.
Partizipationsmaßnahmen sind kein
PR-Posten, sondern sie sind unverzichtbare kalkulatorische Größe bei
der Verwirklichung eines Großvorhabens. Beteiligung kann auch bedeuten, dass Bürger wirtschaftlich an
einem Projekt partizipieren. Gleichwohl muss Beteiligung von einer
neuen Qualität der Kommunikation
flankiert werden. In der frühzeitigen, transparenten und ergebnisoffenen Einbeziehung der Bürger
scheint dabei der Schlüssel zu mehr
Akzeptanz zu liegen. Der Bürgerdialog muss Raum lassen für den aus-
führlichen Austausch von Sachargumenten. Und er muss den Menschen
gleichzeitig das Gefühl vermitteln,
dass sie mit ihren Sorgen, Bedenken
und eigenen Ideen zu einem Projekt
gehört und ernst genommen werden. Bei dieser anspruchsvollen Aufgabe sind keineswegs nur die Unternehmen gefordert, auch die Politik
ist in der Mitwirkungspflicht. Sie
muss Position beziehen, die komplizierten Zusammenhänge erklären
und den Bürgern offen die Perspektiven und den Preis der Energiewende für Deutschland aufzeigen.
Last, not least lernen wir: Bürgerbeteiligung wird nicht von heute auf
morgen Erfolge zeitigen. Unsere
Gesellschaft hat unter den Vorzeichen der Energiewende gerade
erst damit angefangen, sich wieder
intensiver mit dem Thema Partizipation zu beschäftigen. Viele konkrete
Vorschläge zur Verbesserung der
Beteiligungspraxis liegen bereits auf
dem Tisch, die jetzt miteinander diskutiert werden müssen. Das gilt auch
für die noch offenen Fragen. Wie
repräsentativ sind Beteiligungsformate? Braucht Bürgerbeteiligung
verbindliche Standards? Und wären
mehr Volksabstimmungen über
Großprojekte ein Gewinn oder ein
Bremsklotz für Deutschland? Der
Austausch darüber sowie über praktische Erfahrungen und Best-PracticeBeispiele, wie sie unter anderem
bei den Konsultationen zum Netzausbau gesammelt werden, ist seinerseits wichtiger Baustein einer
neuen Partizipations- und Dialogkultur, zu der auch die vorliegende
Studie ihren Beitrag leistet.
Zusammenfassung 19
Podien weiterhin mit großem Eifer darüber debattiert, wie Deutschland in
Zukunft mit dem Thema Beteiligung umgehen will.
Auf Augenhöhe:
Vorhabenträger müssen sich im Dialog mit einer zunehmend
emanzipierten und streitbaren Zivilgesellschaft behaupten
Widerstand ist Konsens:
Bürgerproteste sind als Form der politischen Auseinandersetzung
heute weitgehend gesellschaftlich anerkannt
1
AUF
EINEN
BLICK
Mehr Handlungsspielraum
durch Partizipation:
Die Konjunktur
der Bürgerbeteiligung
Wenige andere Themen haben in den vergangenen Jahren einen solchen
Aufschwung erlebt wie die Diskussion um Bürgerbeteiligung. Die Ereignisse
rund um das umstrittene Bahnhofsprojekt Stuttgart 21, aber auch das klare
Nein der Bürger zum geplanten Ausbau des Flughafens München im Frühjahr 2012 haben die Verantwortlichen aufgerüttelt. Inzwischen trägt die
intensive Partizipationsdebatte in der Praxis erste Früchte. Beim dringend
notwendigen Ausbau der Energienetze soll nun aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt und in Sachen Bürgerteilhabe vieles anders und besser
gemacht werden. So sind die Bürger beim Netzausbau über konsultative Verfahren von Beginn an involviert und haben beispielsweise die Möglichkeit,
ihre Einwände auch online einzureichen.
Sehr wohl wissend, dass Erfolg oder Misserfolg der Energiewende nicht zuletzt
davon abhängt, ob es gelingt, bei den Menschen Verständnis und Akzeptanz
für die Transformationsmaßnahmen zu schaffen, genießt das Thema Bürgerbeteiligung in der Politik eine ausgesprochen hohe Aufmerksamkeit. Die Bundeskanzlerin rief eigens auf ihrer Hompage, der Wirtschaftsminister über einen
Online-Link zur Beteiligung an den aktuellen Konsultationsverfahren zum Netzausbau auf. Bereits im Frühjahr 2012 hatte Verkehrsminister Peter Ramsauer
ein „Handbuch Bürgerbeteiligung“ und sein Amtskollege des Innern, HansPeter Friedrich, einen neuen Gesetzentwurf zur frühzeitigen Einbindung der
Öffentlichkeit aus der Taufe gehoben (vgl. hierzu auch Kapitel 9 S.100 ff.).
Unterdessen wird landauf, landab auf Fachtagungen wie auf öffentlichen
22 ANALYSE
Beteiligung lohnt sich:
Partizipation ist ein Gewinn für die Gesellschaft und eine Bereicherung der parlamentarischen Demokratie
Akzeptanz durch Teilhabe:
Ein Ausbau der Bürgerbeteiligung kann Planungsprozesse verbessern
und Vorhabenträgern neue Handlungsspielräume eröffnen
Ohne Alternative:
Erfolgreich praktizierte Bürgerteilhabe ist notwendig, um Deutschland für große Zukunftsherausforderungen zu wappnen
Kritisches Hinterfragen
wird zur Norm
Zivilen Widerstand insbesondere gegen Groß- und Infrastrukturprojekte hat
es in Deutschland bereits in der Vergangenheit gegeben. Auch hat die Einbindung von Bürgern in die Planungsprozesse großer Bauvorhaben etwa bei
der Bauleitplanung durchaus Tradition. Neu ist allerdings, mit welcher Intensität und Priorität das augenscheinlich erstarkende Bestreben der Bürger
nach mehr Mitwirkung gegenwärtig in der Breite der Gesellschaft und auch
von den Medien behandelt wird.
Video-Podcast der Kanzlerin: „Es lohnt sich, die
Bürger zu beteiligen.“
Wie kommt es, dass dem Thema seit geraumer Zeit eine solche Aufmerksamkeit zuteilwird? Hängt es möglicherweise damit zusammen, dass die deutsche
Zivilgesellschaft insgesamt streitbarer geworden ist? Erfahrungen vor allem
bei der Durchsetzung großer Bauprojekte legen das zumindest nahe. So nehmen Bürger heute für sich in Anspruch, auch gegen solche Vorhaben zu protestieren, die bereits durch Parlamente und Behörden abgesegnet wurden.
Im Gegensatz zu früher sind ordnungsgemäße Genehmigungen allein kein
Garant mehr für die „geräuschlose“ Durchführung von Infrastrukturprojekten.
Nicht selten melden Bürger erst im Nachhinein ihre Bedenken an, fordern
1 Mehr Handlungsspielraum durch Partizipation 23
dann aber umso vehementer Mitwirkung und Mitbestimmung ein. Eine
Allensbach-Studie bestätigt dieses Phänomen: Demnach äußern 68 Prozent
der Bevölkerung Verständnis für Proteste gegen Bauprojekte, die bereits die
ordentlichen Genehmigungsverfahren durchlaufen haben (Institut für Demoskopie Allensbach, 2011: 7). Eine Lektion, die mancher Vorhabenträger erst
noch lernen muss, die aber in einem diskursiven Gemeinwesen als Realität
akzeptiert werden sollte, wie Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz
allen Beteiligten nahelegt: „Man darf nicht erschrocken sein, wenn nach einer
ordnungsgemäßen, unter großen Mühen veranstalteten und öffentlich auch
wahrgenommenen Planungsbeteiligung am Ende ein Planungsbeschluss steht –
und die Diskussion über das Vorhaben trotzdem noch einmal von Neuem
beginnt. So ist das eben.“ S. 258
Für den Bundestagsabgeordneten Oliver Krischer von Bündnis 90/Die Grünen ist ein solches Verhalten der Bürger durchaus plausibel: „Selbst wenn
man einen Planfeststellungsbeschluss durch die Gerichte durchgefochten hat,
ist es legitim, dass Menschen ein Projekt weiter hinterfragen, denn Bedingungen ändern sich oft sehr schnell.“ S. 214 Krischer hält diese Erkenntnis für
eine der wichtigsten Erfahrungen aus Stuttgart 21, auf die an anderer Stelle
noch ausführlicher eingegangen wird (vgl. Kapitel 6 S. 69 ff.). So viel steht
fest: Der strittige Bahnhofsneubau hat eine breite gesellschaftspolitische
Debatte zur Bedeutung und Gestaltung bürgerlicher Partizipation ausgelöst,
die bis heute fortdauert – wenngleich sie inzwischen unter veränderten Vorzeichen geführt wird (vgl. Kapitel 2 S. 29 ff.).
Aus der Mitte der
Gesellschaft
Ob, wie im Zusammenhang mit Stuttgart 21 vielfach unterstellt wurde, die
Quantität der Proteste in Deutschland tatsächlich zugenommen oder ob sich
nur ihre Qualität und Ausdrucksform verändert hat, darüber sind sich die
befragten Experten allerdings keineswegs einig. Eine Mehrheit ist der Auffassung, dass bürgerlicher Widerstand an sich nichts Neues ist. „Es gab auch
schon in der Vergangenheit Widerstand im großen Maßstab. Denken Sie an
Wyhl, Brokdorf, die Startbahn West in Frankfurt oder Gorleben“, sagt etwa
Regine Günther, Leiterin des Fachbereichs Klima- und Energiepolitik des
WWF. S. 179 Und auch Elisabeth Schick, Leiterin der Unternehmenskommunikation von BASF, betont, dass es „immer schon eine Herausforderung war,
große Infrastrukturprojekte oder auch Industrieanlagen zu realisieren. Die
Menschen im Vorfeld aufzuklären und mitzunehmen, war auch vor Stuttgart 21
wichtig.“ S. 249 Eine Einschätzung, die von vielen Interviewpartnern geteilt
wird. Dass es Proteste schon immer gegeben hat, bestätigt auch Professor
Dieter Rucht. Schon Anfang des 20. Jahrhunderts habe es beispielsweise
bürgerschaftlichen Widerspruch gegen den Bau von Wasserkraftwerken
gegeben. Allerdings ist der renommierte Konfliktforscher überzeugt, „dass
24 ANALYSE
Proteste insgesamt konsensfähiger geworden sind und weithin als normales
Mittel der politischen Auseinandersetzung akzeptiert werden. Durch die Verschiebung der Protestbeteiligten, die stärker aus der gesellschaftlichen Mitte
und nicht nur von Randgruppen oder objektiv benachteiligten Gruppen kommen, ist der negative Nimbus von Protestierenden als Außenseiter, Querulanten, Ideologen oder Radikale sukzessive in den Hintergrund gedrängt worden“,
analysiert der Sozialwissenschaftler. „Das erleichtert es dann auch eher protestfernen Menschen zu demonstrieren.“ S.245
Zu einem ähnlichen Befund kommt Professor Frank Brettschneider. Zwar sagt
auch er, Proteste habe es hierzulande schon immer gegeben, und verweist in
diesem Zusammenhang beispielhaft auf den umstrittenen NATO-Doppelbeschluss, der vor 30 Jahren die Bundesbürger auf die Straßen trieb. Doch
gleichzeitig räumt der Kommunikationstheoretiker mit Blick auf Stuttgart 21
ein, dass die Basis für diese Proteste „nicht mehr so homogen ist wie in den
achtziger Jahren.“ Die „Rahmung“ der Proteste, wie Brettschneider es nennt,
habe sich im Vergleich zu früheren Jahrzehnten geändert. S.144
Folgt man den beiden Wissenschaftlern, lässt sich also eine Verschiebung
der Proteste in die Mitte der Gesellschaft hinein beobachten. Eine Tatsache,
die gleichfalls die öffentliche Konjunktur des Themas erklären könnte:
Indem die Ausdrucksform des zivilen Demonstrierens das bürgerliche Zentrum erreicht, rücken auch die Debatten um Protest- und Beteiligungskultur
stärker in den Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit. In eine ähnliche
Richtung weisen die Einschätzungen des SPD-Bundestagsabgeordneten
Sören Bartol. Wie der Fachmann für Infrastrukturfragen ausführt, würden
Proteste heute von den meisten Leuten als ihr Bürgerrecht empfunden; entsprechend akzeptiert seien sie in der Bevölkerung. „Das Verständnis für Proteste geht heute in der Gesellschaft weit über die eigene Betroffenheit hinaus.“
S.136 Das zeigt auch die bereits zitierte Allensbach-Studie, derzufolge ein
Großteil der Bevölkerung bürgerlichen Protesten gegen große Bauprojekte
grundsätzlich verständnisvoll begegnen (vgl. Abb. 1.1). Eine Repräsentativumfrage bestätigt die allgemeine Sympathie und das Verständnis für Bürgerproteste, attestiert aber einer Mehrheit der Bürger, dass diese sich nicht im
„Nein“ eingerichtet hat (Konrad Adenauer Stiftung 2011: 2f.).
Verständnis für den „Widerstand der
Betroffenen“ – auch gegen Mehrheiten
Es haben Verständnis für Proteste von Anwohnern und für
Versuche, Projekte zu verhindern, auch wenn die Mehrheit der
Bürger das Projekt befürwortet:
83
%
76
78
%
%
64
%
gegen eine Hochspannungsleitung
gegen eine Hochspannungsleitung,
die mit Ökostrom versorgt und die
von der Mehrheit befürwortet wird
gegen eine Umgehungsstraße
gegen eine Umgehungsstraße, die
vom Durchgangsverkehr entlastet und
von der Mehrheit befürwortet wird
—
Abb. 1.1
Quelle: Institut für Demoskopie Allensbach, 2011
Mehr Bürgerbeteiligung?
Ja, bitte!
So unterschiedlich die Bewertungen der Motivation, Resonanz und der heutigen Ausprägungen ziviler Proteste auch sein mögen (zu Details vgl. Kapitel 4
S.48 ff.) – in einer Grundsatzfrage sind sich nahezu alle Experten einig:
Bürger noch stärker als bislang an der Planung großer Vorhaben zu beteiligen, ist eine Notwendigkeit in unserer Gesellschaft. Bittet man um eine pauschale Abwägung von Nutzen und Risiken aus Perspektive von Wirtschaft
1 Mehr Handlungsspielraum durch Partizipation 25
vorstand der Deutschen Bahn AG, hält Instrumente wie Volksentscheide
nicht für das Mittel der Wahl, denn „bei einem Volksentscheid fällt am Schluss
immer eine binäre Entscheidung mit Ja oder Nein. Das ist keine Kompromiss-,
sondern eine polarisierende Lösung mit einem Gewinner und einem Verlierer.“
Kefer will daher in aller Regel der parlamentarischen Demokratie und Diskussion den Vorzug geben. S.199 Aus Sicht von Rolf Martin Schmitz, Chief
Operating Officer und stellvertretender Vorstandsvorsitzender der RWE AG,
ist die Einführung von mehr Bürger- und Volksentscheiden keine Lösung.
„Zum einen ist das Risiko von Populismus sehr groß. Zudem haben wir in
Deutschland das System der repräsentativen Demokratie, das sich in den letzten Jahrzehnten bewährt hat.“ S.255 Dem stimmt Hildegard Müller zu. Man
dürfe nicht vergessen, „wie gut unsere Demokratie funktioniert“, findet die
Hauptgeschäftsführerin des Bundesverbandes der Deutschen Energie- und
Wasserwirtschaft (BDEW). S.231
und Politik, hebt eine deutliche Mehrheit der Befragten explizit auf die Chancen der Partizipation ab, die bei weitem überwiegen.
Bürgerbeteiligung könne dazu führen, dass Konflikte frühzeitig erkannt und
vernünftige Lösungen gefunden werden, meint etwa Rainer Baake, Direktor
der Stiftungsinitiative Agora Energiewende. „Das ist letztlich eine Erweiterung
des Handlungsspielraums der Politik und der Wirtschaft.“ S.127 Ähnlich die
Einschätzung von Roger de Weck, Generaldirektor der Schweizerischen Radiound Fernsehgesellschaft: Politik und Wirtschaft verlören zwar kurzfristig, aber
„gewinnen langfristig sehr viel mehr Handlungsspielraum“. S.155 Matthias
Heck, Senior Manager bei der australischen Investmentbank Macquarie,
spricht für viele seiner Experten-Kollegen, wenn er sagt: „Politik und Wirtschaft gewinnen durch Bürgerbeteiligung auf jeden Fall an Akzeptanz.“ S.186
Der gesellschaftliche Mehrwert von Bürgerbeteiligung scheint also unstrittig.
Einen interessanten Denkanstoß zur Dialektik des Themas liefert indes
Michael Bauchmüller; der Redakteur der Süddeutschen Zeitung gibt zu bedenken, dass das wohlfeile Credo pro Bürgerbeteiligung in der Konsequenz immer
auch die Bereitschaft zur Niederlage einschließen muss. „Jeder, der Bürgerbeteiligung will, nimmt auch in Kauf, dass sie natürlich Projekte verhindern kann.
Das ist eben die andere Seite der Medaille. Akzeptanz hat in Deutschland immer
ein bisschen Einbahnstraßencharakter. Man will sie immer nur bei den anderen
erzeugen. Der Vorhabenträger ist selten in der Lage, das zu akzeptieren.“
Wissenschaftler wie Dieter Rucht und Frank Brettschneider weisen direktdemokratischen Instrumenten denn auch nur eine sehr beschränkte Rolle zu.
Bürger- und Volksentscheide sollten nicht routinemäßig mitlaufen, sondern
seien ein „außergewöhnliches Instrument für politisch schwer lösbare Konf likte“, meint Ersterer. S.247 Für Brettschneider ist das Rufen nach Volksentscheiden ohnehin nur „ein Ref lex darauf, dass man mit der Art der Entscheidungsfindung in den Parlamenten unzufrieden ist“. Würden diese anders
verlaufen, wäre wahrscheinlich auch der Ruf nach Volksentscheiden nicht so
laut, mutmaßt der Kommunikationswissenschaftler. S.147
Auf dem Weg in die
plebiszitäre Gesellschaft?
Partizipation und Bürgerbeteiligung samt der gesellschaftlichen Auseinandersetzung darüber sind nach allgemeinem Dafürhalten Ausdruck eines
lebendigen und sich fortentwickelnden Gemeinwesens. Wer mit Experten
über diese Themen debattiert, findet sich schon bald in einer theoretischen Auseinandersetzung über das Demokratieverständnis in Deutschland wieder. Im Kern geht es dabei um die Frage, ob die repräsentative
Demokratie der Bundesrepublik mehr direktdemokratische Elemente
braucht, um in Zukunft den gewachsenen Ansprüchen an Bürgerbeteiligung
gerecht zu werden.
Laut einer Umfrage wünscht sich eine große Mehrheit von 81 Prozent der Deutschen mehr Beteiligungs- und Mitsprachemöglichkeiten im politischen Prozess
(Bertelsmann Stiftung 2011:11). 83 Prozent halten dies für ein Mittel, um das
Interesse der Menschen an Politik und Demokratie zu fördern (vgl. Abb. 1.2).
Helmut Klages stellt aber klar: „Es geht nicht darum, die Entscheidungsverhältnisse völlig zu verändern. Unsere parlamentarische Demokratie in eine Basisdemokratie zu verwandeln, kann nicht das Thema sein“, meint der emeritierte
Professor für empirische Sozialwissenschaften. Auch Volker Kefer, Technik26 ANALYSE
Kontrapunkt:
für ein Miteinander beider
Demokratieformen
4
Kann Ihrer Meinung nach durch mehr direkte
Beteiligung an politischen Entscheidungen das
Interesse der Menschen an Politik und Demokratie gefördert werden?
JA
83%
NEIN 16 %
Weiß nicht 1%
—
Abb. 1.2
Quelle: Spiegel/TNS Emnid, 2012
Im Gegensatz dazu befürwortet der bayerische Staatsminister des Innern,
Joachim Herrmann, ausdrücklich ein konstruktives Miteinander von repräsentativer und unmittelbarer Demokratie. Der CSU-Politiker fordert: „Wir
sollten uns von dieser sehr theoretischen Diskussion über das konstruierte
Gegeneinander von repräsentativer und direkter Demokratie lösen.“ Dass
beide Systeme oft als Alternativen gegenübergestellt werden, hält Herrmann für ebenso falsch wie die Auffassung, mehr unmittelbare Plebiszite
würden die repräsentative Demokratie aushöhlen. Ganz im Gegenteil entsprächen diese dem Grundgedanken der Demokratie. Das bedeute nicht,
dass man wieder zur attischen Demokratie zurückkehren sollte, schließlich
sei die repräsentative Demokratie akzeptiert. „Aber es gibt eben ab und zu
bestimmte Themen, bei denen Bürger selbst entscheiden wollen. Und dann
sollte dies auch möglich sein“, begründet der Unionspolitiker sein Plädoyer
für ein stärkeres Miteinander von repräsentativen und direktdemokratischen
Einflussmöglichkeiten. S.191
1 Mehr Handlungsspielraum durch Partizipation 27
Geteilt wird Herrmanns Auffassung vom Politikwissenschaftler Ulrich von
Alemann. Er hält die Einführung einer direkten Demokratie in Deutschland
zwar für keine Alternative. Trotzdem begrüßt er neben dem Ausbau informeller Beteiligungsmöglichkeiten auch mehr direkte Abstimmungen: „Wir können von beidem etwas mehr gebrauchen, ohne dass wir die grundsätzliche
Kompetenz der Parlamente untergraben. Die Grundlage ist die repräsentative
Demokratie. Unsere Demokratie sollte aber durch informelle und formelle
Formen der Bürgerbeteiligung ergänzt werden.“ S. 266
Schweizer Modell:
Sachkompetenz durch
Konsultation
Kann Deutschland in puncto direkter Demokratie von der Schweiz lernen? Die
meisten Experten sind bei dieser Frage eher zurückhaltend und vertreten die
Ansicht, dass beide Länder mit ihren historisch gewachsenen Systemen nicht
zu vergleichen seien. Das gilt auch für den Schweizer Roger der Weck. Pauschal will der Medienmanager weder dem deutschen repräsentativen noch
seinem heimischen direktdemokratischen Modell den Vorzug geben, jedes
Land habe schließlich seine eigene Tradition. Einen Vorteil der direkten
Demokratie führt de Weck aber doch ins Feld: „Wenn Bürger regelmäßig konsultiert werden, hat das einen pädagogischen Effekt. Ein Teil der Bevölkerung
erwirbt dank der ständigen Auseinandersetzung mit Sachfragen eine besonders
hohe demokratische Kompetenz.“ S. 152
Es bleibt festzuhalten: Ein Mehr an Bürgerbeteiligung kann nach Auffassung
fast aller Fachleute die Planungsprozesse in Deutschland verbessern, Handlungsspielräume von Politik und Unternehmen vergrößern und mehr Akzeptanz für künftig anstehende große Infrastrukturprojekte schaffen. Hier gibt
es offenbar noch Nachholbedarf in der deutschen Politik und Gesellschaft.
Auch wenn das bestehende repräsentative Demokratiemodell im Grundsatz
nicht infrage gestellt wird, ist offenbar ein kritischer Diskurs über die derzeitige Dialog- und Beteiligungspraxis notwendig. Nahezu alle Experten sehen
darin einen Weg, um den berechtigten Erwartungen der Bürger an Teilhabe
und Transparenz sowie den großen Zukunftsherausforderungen, vor denen
das Land steht, besser gerecht zu werden. Dazu zählt allen voran die Energiewende, der sich die Untersuchung im folgenden Kapitel widmet.
2
Beteiligungskultur:
Energiewende und Netzausbau werden zum
neuen Motor der Debatte
Waren es, wie eingangs dargestellt, zunächst vor allem die Geschehnisse
rund um Stuttgart 21, die den Anstoß zur aktuellen Partizipationsdebatte
gaben, verleiht ihr inzwischen ein weit bedeutsameres Thema Auftrieb. Die
anstehende Energiewende samt dem damit einhergehenden Ausbau der
Stromnetze ist für Deutschland nicht allein eine technologische Herausforderung. Sie ist vielmehr „eine der ganz großen Kernfragen“ unseres Landes,
wie es der SPD-Politiker Sören Bartol ausdrückt. Der Umbau unserer Erzeugungssysteme hin zu einer in Zukunft ausschließlich regenerativen und stärker dezentral organisierten Energieversorgung gleicht einer industriellen
Revolution. Mit entsprechend großem Nachdruck treiben derzeit Politik,
Unternehmen und Verbände das Thema voran. Um die Energiewende zu
beschleunigen, bestellte Bundeskanzlerin Angela Merkel Ende Mai 2012 die
Ministerpräsidenten der Länder zu einem Energiegipfel ins Kanzleramt ein.
Nur wenige Tage später veröffentlichten die Übertragungsnetzbetreiber
ihren Netzentwicklungsplan, und die Öffentlichkeit war zunächst in einem
ersten Schritt aufgerufen, bis Mitte Juli zum ersten Entwurf des Netzentwicklungsplans Stellung zu nehmen.
Kritisches Monitoring
Interessenverbände und Gewerkschaften flankieren derweil den Fortgang
der Energiewende durch eigene Erhebungen. So legten die Deutsche Energie28 ANALYSE
2 Beteiligungskultur 29
Agentur (dena) und die Beratungsgesellschaft Ernst & Young Anfang Juni
2012 erstmals ihren Deutschen Energiewende-Index (DEX) vor. Die Befragung, die quartalsweise durchgeführt wird, liefert ein Stimmungsbild zur
Lage der Energiewende aus Sicht der deutschen Wirtschaft (vgl. Abb. 2.1).
Zeitgleich hat der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) die Kompetenzinitiative Energie ins Leben gerufen. Die Initiative, deren zentrale Bausteine drei aufeinander aufbauende Studiensegmente sind, versteht sich
gleichfalls als unternehmerisches Monitoring der Energiewende. Eine ähnliche
Intention verfolgt die Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG
BCE). Mit ihrem ebenfalls im Juni 2012 vorgestellten Energie-Kompass, für
den neben Unternehmen auch die Bevölkerung befragt wird, will die Gewerkschaft in regelmäßigen Abständen überprüfen, inwieweit die formulierten
Zielsetzungen der Energiewende auch tatsächlich erreicht werden.
5
Stimmung der Akteure und Betroffenen der
Energiewende in Deutschland nach dem
Deutschen Energiewende-Index (DEX) im
2. Quartal 2012
100,80 insgesamt
(DEX-Wert, 0 = sehr negativ bis 200 = sehr positiv)
95,90 Energieverbraucher
97,40 Netzbetreiber
100,60 Energieversorgungsunternehmen
105,70 Hersteller/Zulieferer
Hohe Erwartungshaltung
Deutschland, so mag es der Beobachter wahrnehmen, scheint sich also derzeit sehr energisch dem ehrgeizigen politischen Vorhaben Energiewende zu
widmen. Die Zustimmung von Bevölkerung und Unternehmen zur Energiewende sei auch nach einem Jahr ungebrochen, diagnostiziert die IG BCE in
der Erstumfrage ihres Energie-Kompasses. Zurückhaltung ist dagegen bei
der Frage zu spüren, ob auch die Umsetzung bereits auf gutem Wege sei. So
108,30 Investoren
121,30 Politik/Verbände
—
Abb. 2.1
Quelle: dena/Ernst & Young, 2012
Nagelprobe Energiewende:
Der anstehende Umbau der Versorgungssysteme und der Netzausbau
stellen die bisherige Diskurs- und Beteiligungspraxis bei Großprojekten
auf den Prüfstand
AUF
EINEN
BLICK
Nachholbedarf:
Es gibt in Deutschland viel Sympathie für die Energiewende – aber in
der Breite der Gesellschaft noch kein ausreichendes Verständnis für
deren komplexe Zusammenhänge
Kraft des Dialogs:
Eine ehrliche Debatte über die Notwendigkeiten der Energiewende
kann dazu beitragen, bestehende Konflikte aufzulösen
Verantwortung wahrnehmen:
Politik wie Unternehmen müssen als Vorhabenträger die Energiewende
und ihre Folgen noch besser erklären
sind laut IG BCE-Umfrage nur 23 Prozent der Bürger und 13 Prozent der Firmen damit zufrieden, wie die Bundesregierung die Energiewende auf den
Weg bringt (IG BCE 2012: 17). Wie aus dem DEX hervorgeht, hat die deutsche
30 ANALYSE
Wirtschaft mit Blick auf die Energiewende insbesondere Bedenken hinsichtlich der rechtlichen und regulatorischen Rahmenbedingungen, der Wirtschaftlichkeit und der Versorgungssicherheit (Deutscher Energiewende-Index
2012, 3. Quartal 2012: 2).
Vieles von dem, was der Sommer 2012 an Entwicklungen und Erkenntnissen
hervorgebracht hat, deckt sich mit den bereits vorweg erhobenen Einschätzungen der Experten. Obwohl die Energiewende ein Langfristthema ist,
wird deutlich, dass die Erwartungshaltungen an ihr Gelingen schon heute
extrem hoch sind. Die zu verhandelnden Fragen berühren dabei ganz grundlegende Aspekte: Wie bewältigen wir den dringend notwendigen Netzausbau? Welche Erwartungshaltung haben wir eigentlich gegenüber der Energiesicherheit? Und welche materiellen und immateriellen Lasten sind wir (als
Verbraucher, als Gemeinwesen, als Wirtschaftsstandort) überhaupt bereit
auf uns zu nehmen für das mittelfristige Ziel einer klimaneutralen Stromversorgung? Das sind nur einige von vielen drängenden Fragen, über die in der
Gesellschaft im Zusammenhang mit der Energiewende debattiert werden
muss und in die die Bevölkerung in geeigneter Form mit einzubeziehen ist.
Dringender
Gesprächsbedarf
Nicht wenige Experten sehen hier erheblichen Nachholbedarf. In vielen
Interviews schwingt die Sorge mit, dass die Energiewende in ihrer ganzen
Bedeutungsdimension noch gar nicht hinreichend bei den Menschen angekommen ist. So bezweifelt etwa CSU-Politiker Joachim Herrmann, dass die
Bürger über die Konsequenzen schon restlos aufgeklärt seien. Vielen sei der
Umbau der Netzstrukturen mit Überlandleitungen oder die Notwendigkeit,
Reservekapazitäten zu schaffen, für den Fall, dass der Wind nicht weht und
die Sonne nicht scheint, nicht bewusst. S.188 BASF-Managerin Elisabeth
Schick führt an, den Menschen seien die physikalischen Zusammenhänge der
Energiewende überhaupt noch nicht klar, es fehle hier an ganz grundsätzlichem Wissen. „Es gibt kaum Verständnis dafür, woher Strom kommt, wozu
man neue Leitungen braucht und warum es problematisch ist, wenn man lange
Wege mit Energie überbrücken muss.“ S.250
Verständnis für Eigeninteressen der
Verbraucher
Das nach Auffassung vieler Fachleute bislang noch mangelhaft ausgebildete
Detailwissen zu den Erfordernissen und Auswirkungen der Energiewende
könnte mit ein Grund dafür sein, dass im Verhalten der Verbraucher gewisse
Widersprüche zu beobachten sind. Gemeint ist eine von vielen Experten
2 Beteiligungskultur 31
bestätigte Beobachtung: Zwar befürworten viele Bürger grundsätzlich die
Abkehr von der Kernenergie und die Energiewende als abstrakte Ziele.
Gleichzeitig setzen sie sich aber gegen konkrete Infrastrukturvorhaben wie
Stromtrassen oder Windräder zum Teil heftig zur Wehr. Zudem sind sie laut
einer aktuellen Allensbach-Umfrage auch nicht bereit, für den Ausbau der
erneuerbaren Energien höhere Kosten auf sich zu nehmen (Frankfurter Allgemeine Zeitung 2012, siehe Abb. 2.2).
Die meisten Fachleute halten solche Reaktionen allerdings für ein allgemein
menschliches und weniger für ein spezifisches Energiewende-Phänomen;
sie bringen durchaus Verständnis für die Ambivalenzen der Bürger mit.
Ähnlich wie Michael Vassiliadis schätzen dies auch andere Experten ein:
„Wenn eine Autobahn nah an Wohnbebauung gebaut werden soll, gibt es
dagegen auch Widerstände, obwohl man grundsätzlich Autobahnen befürwortet. Dieses Verhalten ändert sich nicht, nur weil es um die Energiewende
geht.“ S. 261 Schließlich gebe es, um es mit Sören Bartol auszudrücken,
„Interessenkonf likte nicht nur in Gesellschaften, sondern auch im Innern
eines jeden Menschen“. S. 137 Sozialwissenschaftler Dieter Rucht hält die
„Schelte auf die Egoisten, die zwar zu jeder Tages- und Nachtzeit nach Mallorca
f liegen, aber keinen Flughafen vor ihrer Haustür haben wollen“ auch für eine
wenig hilfreiche Simplifizierung und mahnt ein differenzierteres Bild der
Verbraucher an. S. 246
Der Schweizer Medienmanager Roger de Weck zeigt im gleichen Zusammenhang ein gewisses Verständnis für das „ewige Dilemma zwischen langfristigen und kurzfristigen Interessen“. Eine Inkohärenz, die seiner Meinung nach
allerdings nicht nur auf die breite Bevölkerung zutrifft. „Gerade die Eliten
beziehungsweise das Establishment in Deutschland hat diesen Widerspruch
vorgelebt. In weiten Teilen der Finanzwirtschaft überwiegen bis heute kurzfristige gegenüber langfristigen Überlegungen, obwohl die Krise jeden vernünftigen Menschen eines Besseren belehrt hat“, gibt de Weck zu bedenken. S.153
Bürgern wird
Kompetenz attestiert
Während ein Teil der Experten die Urteilskraft der Bevölkerung in Bezug
auf die Energiewende in Zweifel zieht, zeigen insbesondere Vertreter der
Umweltorganisationen durchaus Zutrauen in die Kompetenzen und die Konsensbereitschaft der Bürger. Sie sprechen den Verbrauchern heute schon die
Fähigkeit zu, Folgen und Notwendigkeiten der Energiewende zu überblicken.
Für den Direktor der Stiftungsinitiative Agora Energiewende, Rainer Baake,
ist die Erfolgsgeschichte der erneuerbaren Energien ein Beleg für die konstruktive Einstellung der Bürger zur Energiewende.
S.124 Ähnlich schätzt
das die Leiterin Klima- und Energiepolitik beim WWF Deutschland, Regine
Günther, ein. Wie Baake argumentiert sie, man hätte den Ausbau der Erneu32 ANALYSE
6
Energiewende: große Unterstützung, geringe
Zahlungsbereitschaft
Sind Sie bereit, für den Ausbau erneuerbarer Energien höhere
Energiepreise zu bezahlen?
Weniger als 1750 Euro Haushaltsnettoeinkommen
JA 27%
NEIN 61%
1750 Euro bis 3000 Euro Haushaltsnettoeinkommen
JA 28%
NEIN 55%
Mehr als 3000 Euro Haushaltsnettoeinkommen
JA 41%
NEIN 44 %
—
Abb. 2.2
Quelle: Institut für Demoskopie Allensbach/
FAZ-Grafik Walter, 2011
erbaren auf einen Anteil von heute 20 Prozent nicht erreichen können, wenn
die Verbraucher nicht hinter dieser Entwicklung gestanden hätten. S.178
Auch Hamburgs Regierungschef Olaf Scholz unterstellt den Bürgern einen
realistischen Blick auf die komplexe energiepolitische Situation: „Die meisten
Bürgerinnen und Bürger, die für den Ausbau der erneuerbaren Energien und
der Stromnetze sind, verstehen sehr wohl, dass das Folgen für sie persönlich
haben kann“, glaubt der SPD-Politiker. S.259
Dialog als Schlüssel
zur Akzeptanz
Trotzdem unterstreichen selbst jene Experten, welche die Bevölkerung in
Sachen Energiewende bereits für aufgeklärt halten, die Notwendigkeit einer
adäquaten gesellschaftlichen Auseinandersetzung. Große Einmütigkeit
besteht darin, dass nur ein offener Dialog bestehende Konflikte aus dem
Weg räumen kann. Die Menschen seien sehr wohl bereit, auch Einschränkungen hinzunehmen, fasst Grünen-Politiker Oliver Krischer die Meinung eines
Großteils der Fachleute zusammen. „Die Frage ist immer nur, wie werden solche Projekte begonnen? Wenn die Bürger verstehen, warum eine bestimmte
Entscheidung notwendig ist, dann sind sie auch bereit, Belastungen zu akzeptieren.“ S.212 In die gleiche Richtung geht die Einschätzung von Christoph
Bals. Die Beteiligung von Bürgern, etwa beim Netzausbau, steigere prinzipiell
die Akzeptanz; er schränkt aber ein, dass „nicht jeder direkt Betroffene, in
dessen Hinterhof eine Leitung verläuft, überzeugt“ werde. Großen Teilen der
Bevölkerung würde aber zumindest der Prozess „akzeptabler erscheinen“,
erklärt der Geschäftsführer von Germanwatch.
Fast alle Experten messen einer aufrichtigen Kommunikation mit schlüssigen
Begründungen große Bedeutung für den Umsetzungserfolg der Energiewende zu. „Politik und Wirtschaft müssen viel ehrlicher kommunizieren“, fordert beispielsweise Hans-Werner Fittkau, stellvertretender Redaktionsleiter
beim Nachrichtensender PHOENIX. S.167 Man könne sich nicht hinter
Geschäftsgeheimnissen verstecken, meint auch Rainer Baake. „Die Leute
wollen eine plausible und nachprüfbare Begründung dafür haben, warum beispielsweise eine Stromtrasse erforderlich ist.“ S.124 In Verbindung mit dem
Netzausbau hält auch Hans-Jürgen Brick, Mitglied der Geschäftsführung des
Übertragungsnetzbetreibers Amprion, Dialog für unabdingbar. „Information und Aufklärung sind ein zentrales Erfolgskriterium für die Schaffung von
Akzeptanz.“ S.148
Für Deutsche-Bahn-Vorstand Volker Kefer ist es außerdem wichtig, dass den
Menschen komplexe Zusammenhänge klar werden. „Wenn sich Leute eine
Meinung bilden sollen, dann müssen sie das möglichst in Kenntnis aller
Umstände tun. Bezogen auf die Energiewende heißt das: Die Bevölkerung
muss begreifen, wofür die Energiewende gut ist, wie sie durchgeführt werden
2 Beteiligungskultur 33
soll und welche Folgen sie hat.“ Für ein besseres Verständnis müsse die Argumentationskette deutlich gemacht werden, appelliert Kefer. S.197
Dass die Interpretation der Energiewende sich nicht in plakativen Visionen
erschöpfen darf, glaubt auch der Journalist Michael Bauchmüller; er hält
das Zukunftsbild einer Energieversorgung, die keine fossilen Rohstoffe
mehr braucht, für nicht ausreichend, selbst wenn die Idee positiv konnotiert sei. „Als Argument allein wird das nicht verfangen. Man wird niemanden von einer Trasse überzeugen können, nur weil er die Energiewende toll
findet – und deswegen bitte auch in seinem Garten einen Strommast aufstellt.“ S. 143
Herausforderung Netzausbau
In der Tat ist gerade im Zusammenhang mit dem Netzausbau eine gewisse
„kognitive Dissonanz“ zu beobachten, die sich darin äußert, dass Menschen
die Energiewende einerseits befürworten, aber gleichzeitig konkrete Projekte ablehnen. So halten zwar 79 Prozent der Deutschen den Ausbau
des Stromnetzes für notwendig (Putz & Partner 2011), dennoch formiert
sich entlang der geplanten Trassen häufig erheblicher Widerstand. AmprionGeschäftsführer Hans-Jürgen Brick erklärt sich dieses Phänomen wie folgt:
„Die Energiewende ist ein abstraktes Thema, das für die meisten Menschen
positiv besetzt ist. Beim Netzausbau hingegen denken viele Menschen ganz
konkret an die Leitung, die in ihrer Nähe gebaut wird. Und da schwindet die
Zustimmung dann dramatisch.“ S. 148
Ein Grund für die Ablehnung vor Ort dürften auch Zweifel an dem im
Netzentwicklungsplan vorgestellten Netzausbaubedarf sein. So vermisst
Christoph Bals, Geschäftsführer von Germanwatch, derzeit noch entsprechend aussagekräftige Nachweise und mahnte bereits in den Anhörungen
die Prüfung von Vorschlägen an, die den Bedarf reduzieren könnten. Dabei
gehe es „überhaupt nicht darum, den Start des Ausbaus in irgendeiner Form“
zu behindern, versichert der NGO-Vertreter. „Wir fordern aber eine Priorisierung des kurzfristig benötigten Netzausbaus.“ S. 132
Wenig Verständnis zeigt der Präsident der Bundesnetzagentur, Jochen
Homann, für diese Sichtweise. Dem Entwurf des Netzentwicklungsplans
liege eine im Detail ausgearbeitete Vorstellung darüber zu Grunde, wie der
Strombedarf und der Strommix des Jahres 2022 aussehen sollen. „Diese
Grundvorstellung ist nicht vom Himmel gefallen, sondern wurde unter anderem mit Umweltverbänden und den Bundesländern konsultiert“, rekapituliert
der Behördenvertreter das Verfahren und zeigt sich verwundert über derlei
Kritikpunkte, „insbesondere wenn sie von denjenigen kommen, die bei der
Ausarbeitung dabei waren und zugestimmt haben und jetzt plötzlich die
Grundlage wieder infrage stellen“. S. 193
34 ANALYSE
Trotz zwischenzeitlich geäußerter Bedenken gegen den Umfang der geplanten Trassen werden die frühzeitigen Beteiligungsverfahren im Rahmen des
Netzausbaus von vielen NGOs und Umweltverbänden durchaus goutiert. So
bezeichnet Germanwatch-Geschäftsführer Christoph Bals die neue Form der
Bürgerbeteiligung als „einen deutlichen Schritt nach vorne und als positiv“,
ein Verfahren, das für mehr Transparenz sorge, auch wenn es in vielen Punkten noch Verbesserungspotenzial gebe. S.134
Kostenfaktor Akzeptanz
Um zügig mit dem Netzausbau voranzukommen, muss in der breiten Bevölkerung um Akzeptanz geworben werden. Experten wie Jochen Homann
sind der Auffassung, dass man dabei im Einzelfall auch höhere Investitionen in Betracht ziehen sollte. Die im Vergleich mit Freileitungen teuren
und technisch noch nicht vollständig ausgereiften Erdkabel sollten nach
seinem Dafürhalten zwar nur dann genutzt werden, wenn es ökologisch
und wirtschaftlich sinnvoll sei. „Allerdings muss man neben den reinen
Investitionskosten auch die ‚Akzeptanz-Kosten‘ betrachten, die schon bei
kleinsten Verzögerungen beim Netzausbau entstehen. Wenn man alle Kosten
addiert, kommt man gelegentlich zu anderen Ergebnissen – im Einzelfall
kann also auch ein Erdkabel die wirtschaftlichere Alternative sein“, so Homanns
Rechnung. S.192
Diese Einschätzung teilt auch der Vertreter des Netzbetreibers Amprion:
„Derzeit gibt es nur für vier Pilotprojekte den rechtlichen Rahmen für Verkabelungen im Übertragungsnetz. Die Möglichkeit, in Zukunft vielleicht auch darüber hinausgehend zu verkabeln, kann einen Beitrag zu mehr Akzeptanz von Leitungsbau bedeuten“, glaubt Hans-Jürgen Brick. S.148 f. Ein noch klareres
Votum für Erdkabel gibt die Staatsrätin für Bürgerbeteiligung in BadenWürttemberg, Gisela Erler, ab. „Manche Trassen müssen einfach unter die Erde,
das ist State of the Art in einem reichen Land. Wir bauen die teuersten Straßen
und Häuser der Welt, daher müssen wir auch Lärmschutz, Strahlenschutz und
soweit wie möglich auch optischen Schutz gewährleisten. Natürlich muss nicht
jede Trasse untertunnelt werden, aber wenn sie direkt an einem Wohngebiet
vorbeiläuft, sollte sie unter die Erde gelegt werden.“ S.162
Christoph Bals dagegen bezweifelt, dass Erdkabel generell zu mehr Akzeptanz führen. „Dort, wo Erdkabel kein erhebliches Plus bedeuten, aber das
Mehrfache kosten, muss man den Sinn infrage stellen.“ Der Geschäftsführer
von Germanwatch erwartet in den nächsten Jahren Proteste auch gegen Erdkabel, und zwar „wenn die Bevölkerung sich bewusst ist, wie schwerwiegend
die Eingriffe in den Naturschutz sind“. Heute würden die für die Verkabelung
erforderlichen Eingriffe in die Natur von manchen Bürgern noch unterschätzt, meint Bals, der zugleich kritisiert: „Das Prinzip ‚aus den Augen, aus
dem Sinn‘ kann nicht die Grundlage für eine gründliche ökologische Abwägung
sein oder diese ersetzen.“ S.133
2 Beteiligungskultur 35
Interessenausgleich
mit Augenmaß
Um den Ausbau der Netze möglichst rasch voranzutreiben, bringen die
befragten Experten zudem Entschädigungszahlungen für betroffene Grundstückseigentümer ins Gespräch. Ein finanzieller Interessenausgleich erfordere dabei allerdings das richtige Augenmaß, wie Hans-Jürgen Brick deutlich
macht: „Selbstverständlich werden Grundstückseigentümer, deren Eigentum
durch unsere Leitungen belastet wird, von uns entsprechend entschädigt. Das
ist gute Praxis. Allerdings darf eine beliebige Höhe der Entschädigungssumme
nicht zu extrem steigenden Strompreisen führen“, so der Geschäftsführer von
Amprion. S. 150 Diese Haltung teilt auch der Präsident der Bundesnetzagentur, insbesondere mit Blick auf Forderungen aus der Landwirtschaft.
„Natürlich müssen Grundbesitzer entschädigt werden – allerdings häufig nicht
in dem Umfang, wie sie es gerne hätten. Einige haben die Vorstellung, dass sie
jährlich eine Rendite ähnlich wie die Netzbetreiber erhalten. Das halte ich für
unangemessen, insbesondere weil es gegenüber anderen Entschädigungen
nicht gerechtfertigt wäre“, befindet Jochen Homann. S.192 f.
Zum jetzigen Zeitpunkt führten allerdings weniger Akzeptanzprobleme zu
Verzögerungen, sondern die mangelhafte Koordination zwischen den Bundesländern, wie die Netzexperten darlegen. So käme man bei den laufenden
Projekten nur relativ langsam voran, weil die Planungs- und Genehmigungsverfahren auf Länderebene lägen, wie Jochen Homann bemängelt. „Wir
brauchen Leitungen von Nord nach Süd, die bis zu fünf Bundesländer durchqueren. Man muss den Ländern gar nichts Böses unterstellen, wenn man erwartet,
dass es bei der Abstimmung zwischen fünf Bundesländern zu Koordinierungsproblemen und Zeitverzögerungen kommt.“ Die Bundesnetzagentur plädiert
daher dafür, die Verantwortung für diese Projekte an den Bund zu übertragen. Allerdings stehe noch „die Frage im Raum, ob es gelingt, die Länder
davon zu überzeugen“, so Jochen Homann. S.193
Diskussionsbedarf zur
Rolle der Kohle
Zum Dialog über die Energiewende wird unter dem Stichwort Brückentechnologie auch eine Diskussion über den konventionellen Kraftwerkspark und
die zukünftige Rolle des Energieträgers Kohle gehören, wie in den Gesprächen deutlich wird. Die Expertenmeinungen differieren in diesem Punkt
erwartungsgemäß stark. Insbesondere Vertreter der Umweltverbände und
von Bündnis 90/Die Grünen lehnen neue Kohlekraftwerke ab. Bestehende
Anlagen müssten nicht sofort abgeschaltet werden. „Aber neue Kohlekraftwerke zu bauen, würde die Lage verschlechtern“, ist unter anderem Rainer
Baake überzeugt. Dass neue Kohlekraftwerke alte Strukturen zementieren,
36 ANALYSE
6.1
glaubt auch die Leiterin des Bereichs Klima- und Energiepolitik des WWF,
Regine Günther, denn „neue Kohlekraftwerke haben eine Laufzeit von rund
50 Jahren. Wenn wir unsere Klimaziele einhalten wollen, müssen alle fossilen
Kraftwerke spätestens 2050 abgeschaltet werden.“ S.177 Fachleute wie sie
befürworten in der Regel Gaskraftwerke als Übergangstechnologie. So auch
Christoph Bals von Germanwatch, für den der Energieträger Gas beim Ausbau Vorrang hat. Dies deckt sich auch mit dem Ergebnis der Befragung
des Deutschen Energie-Kompasses 2012: Demnach befürworten mehr als
drei Viertel der befragten Unternehmen den Ausbau von Gaskraftwerken
(IG BCE 2012: 7) (siehe Abb. 2.3).
Prioritäten beim Ausbau von Kraftwerken nach
Energieträgern (Befragte: Unternehmen)
Ausbauen
43 %
Erhalten
37%
Stark ausbauen
9%
Abbauen
10%
—
Abb. 2.3
Quelle: TNS Infratest, 2012
Ganz verzichten
1%
Eine Reihe von Experten, darunter der FDP-Generalsekretär Patrick Döring
und Gewerkschafter Michael Vassiliadis, halten dagegen neben Gas auch die
Kohle als Brückenenergie für den Übergang ins regenerative Zeitalter für
unverzichtbar. Man müsse vermitteln, „dass sich unsere Energieversorgung
ohne Kohleverstromung nicht aufrechterhalten lässt, bis wir Strom in dem Ausmaß speichern können, dass wir energieintensive Prozesse auch mit Energie
versorgen können“, sagt der IG-BCE-Chef und spiegelt damit die Meinung
mehrerer Experten wider. S.262 Stephan Kohler wagt gar eine Prognose:
Bis zum Jahr 2020 würden 20 bis 30 Prozent der zusätzlich benötigten Kraftwerksleistung weiterhin aus Kohlekraftwerken stammen, so der Vorsitzende
der Geschäftsführung der Deutschen Energie-Agentur (dena). S.210
Politik in der Verantwortung
Der offenbar so notwendige Diskurs über die komplexen Zusammenhänge
und die Folgen der Energiewende scheint in unserer Gesellschaft allerdings
noch nicht auf breiter Basis stattzufinden. Und wer soll diesen Dialog überhaupt führen? Unter den Experten besteht große Übereinstimmung darin,
dass hier im Wesentlichen die Politik in der Verantwortung ist. „Die endgültige Entscheidung über die Energiewende hat die Politik getroffen. Ihre Aufgabe ist es, den Bürgerinnen und Bürgern zu vermitteln warum“, befindet
Deutsche-Bahn-Manager Volker Kefer. S.197 Mit Blick auf die Energiewende
sei Leadership „eine klassische Führungsaufgabe für Politik“, meint auch Frank
Brettschneider. S.146
Ebenso wie der Kommunikationswissenschaftler sehen allerdings viele der
Fachleute an dieser Stelle erhebliche Defizite. Der Politik fehle „eine gewisse
initiatorische Kraft“, klagt der Generalsekretär des Nachhaltigkeitsrates,
Günther Bachmann. S.129 IG-BCE-Chef Michael Vassiliadis vergleicht die
Energiewende mit großen Projekten in Unternehmen. Dort verzeichne man
in der Regel nur dann Erfolge, wenn es einen Projektverantwortlichen und
ein festgelegtes Projektbudget gebe sowie definierte Meilensteine zur
Zielerreichung und Prozesse zum Nachsteuern. All das fehle jedoch bei der
Energiewende, beanstandet nicht nur der Gewerkschaftsfunktionär. S.261
Selbstkritisch räumt Thüringens Wirtschaftsminister Matthias Machnig ein:
2 Beteiligungskultur 37
„Wir haben nicht genügend deutlich gemacht, welche Aufgabe mit der Energiewende in den nächsten zehn Jahren verbunden ist. Das ist nicht wirklich
verstanden worden.“ S. 224
Unklare Verantwortlichkeiten kritisiert dena-Chef Stephan Kohler. Er vermisst
eine konkrete politische Roadmap für die Energiewende und fordert weiterhin: „Wir schlagen ein Ministerium vor, das federführend die Energiewende
koordiniert und es wirklich als Projekt versteht, bei dem alle Beteiligten in die
Pf licht genommen werden.“ S. 209
Folgen der Energiewende
nicht beschönigen
Zu den Erkläraufgaben der Politik gehört nach Überzeugung von Roland
Koch, Vorstandsvorsitzender von Bilfinger SE, auch die Thematisierung
unangenehmer Wahrheiten. Konkret kritisiert der frühere Ministerpräsident
von Hessen, dass die Bundesregierung es im Zusammenhang mit der Energiewende versäumt habe, „den Bürgern in der unmittelbaren Reaktion auf
Fukushima zu erklären, dass der Ausstieg aus der Kernenergie auch seinen Preis
hat“. Die Regierungsverantwortlichen hätten unterschlagen, dass die Energiewende zu Kostensteigerungen führen werde und Deutschland stärker von
Energielieferungen aus dem Ausland abhängig mache, so Kochs Vorwurf.
„Das ist ein Fehler und ärgerlich“, findet der Manager, denn unter dem damaligen Eindruck von Fukushima wären die Menschen bereit gewesen, diese Lasten zu akzeptieren. S. 206 Agora-Direktor Rainer Baake plädiert dafür, mögliche Friktionen der Energiewende offen anzusprechen. Als Beispiel führt er
mögliche Zielkonflikte zwischen Klimaschutz und Naturschutz an. „Alle sind
gut beraten, diese nicht zu ignorieren, sondern offensiv anzugehen.“ S.125
Industrie muss sich
besser erklären
Und welche Rolle kommt der Industrie bei der Energiewende zu? Unternehmen
hätten zum einen die Aufgabe, die Notwendigkeiten zu artikulieren, die sich aus
den von der Politik gesetzten Rahmenbedingungen ergäben, findet Frank Brettschneider. Zugleich müssten sie der Bevölkerung entsprechende Alternativen
aufzeigen, verlangt der Kommunikationswissenschaftler. „Die Industrie ist gefordert zu sagen: Erstens, es ist eine politische Vorgabe, Strom von Nord nach Süd zu
transportieren. Es gibt zweitens verschiedene Varianten, wie man diese Vorgabe
umsetzen kann. Jetzt haben wir uns drittens vor dem Hintergrund folgender Parameter für diese Variante entschieden.“ Volker Kefer formuliert den Arbeitsauftrag
an die Industrie so: „Aufgabe der Industrie ist es, aufzuzeigen, was technisch
möglich ist und welche Kosten mit der Umsetzung verbunden sind.“ S.197
38 ANALYSE
Eine Reihe von Experten moniert allerdings, dass Unternehmen sich noch
nicht ausreichend in den Erklärprozess zum Umbau der Energiestrukturen
einbringen. Hart ins Gericht geht Michael Fuchs mit der Industrie. Sie habe
bei der Energiewende bisher keine kluge Rolle gespielt. „Das liegt unter
anderem daran, dass sie widersprüchliche Interessen und keine einheitliche
Position hat“, beklagt der Unionspolitiker. Dass der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) seine gegensätzliche Interessenlage überwinden und
zu einer gemeinsamen Linie finden müsse, fordert nicht nur er. S.170
Mangelnde Koordination und Sprechfähigkeit in Sachen Energiewende wirft
dem Industrieverband auch Gewerkschaftschef Michael Vassiliadis vor.
Zukunftsfrage Deutschland
diskutieren
Wie also ist es in der Zusammenfassung um Deutschland und seine Energiewende bestellt? Offenbar eint die Vision einer regenerativen Stromversorgung die Gesellschaft. So deutlich aber die allgemeine Zustimmung zu der
Idee ist – der Zweifel, ob die Energiewende in der Praxis gelingen wird, und
die Unzufriedenheit mit der bisherigen Umsetzung stehen der theoretischen Euphorie entgegen. Es scheint noch einen großen Gesprächsbedarf zu
geben, um auf breiter Front ein gemeinsames Verständnis über die Chancen und faktischen Erfordernisse, aber auch die persönlichen Lasten der
Energiewende für den Einzelnen herzustellen. Ohne eine offene und ehrliche Kommunikation wird man nach dem Dafürhalten der meisten Experten
bestehende Konflikte und Missverständnisse nicht aus dem Weg räumen
können. In der Verantwortung sieht das Gros der Fachleute dabei die Politik.
Nach Auffassung von Roland Koch liegt es allerdings auch im ureigenen Interesse der Unternehmen, diesen Dialog über die Energiewende aktiv voranzutreiben. Sie müssten „den Menschen die Folgen erklären, die hinter den politischen Vorgaben stehen“. Versäumten die Unternehmen das, würden sie in
eine Frontstellung mit der Politik geraten, mahnt der Topmanager. Dann
drohe „die Gefahr großer demokratischer Spannungen, weil die Energiepreise
auch in Zukunft eine hohe Relevanz haben werden“. S.206 f.
Für den ehemaligen Spitzenpolitiker gehört zu der komplexen inhaltlichen
Auseinandersetzung mit der Herausforderung Energiewende zwingend
auch ein Diskurs über die Zukunft des Industriestandortes Deutschland. Koch
wie auch andere Experten sehen diesen zentralen Aspekt in der momentanen Debatte um den Umbau unserer Energieversorgung noch unterrepräsentiert – er soll daher im nachfolgendem Kapitel weiter vertieft werden.
2 Beteiligungskultur 39
die offenbar eine Reihe von Experten umtreibt, darunter den CSU-Politiker
Joachim Herrmann. Die Energiewende werde in absehbarer Zeit zu einer
zusätzlichen Verteuerung der Stromversorgung führen und könne Deutsch-
Blickwinkel erweitern:
Zur Diskussion der Energiewende gehört auch eine offene Debatte über
die Zukunft des Industriestandortes Deutschland
Zwischen Hoffen und Bangen:
Die Erwartungen an die Energiewende als Wirtschaftsmotor sind hoch –
aber auch die Furcht vor ökonomischen Risiken
3
Die Energie- als Standortfrage:
Eine notwendige Debatte
Wie in den Expertengesprächen klar wird, lässt sich die Energiewende nicht
losgelöst von der Frage nach dem Standort Deutschland diskutieren. Als
Industrie- und Exportland ist die Bundesrepublik auch in Zukunft auf eine
wettbewerbsfähige Stromversorgung angewiesen, darüber besteht Konsens
bei so gut wie allen befragten Fachleuten.
Weniger einig ist man sich bei der Frage, welche Risiken beziehungsweise
Chancen sich für die deutsche Volkswirtschaft mit dem ehrgeizigen Vorhaben Energiewende verbinden. Zu den Mahnern zählt unter anderem Stephan
Kohler. Das Gelingen des Projekts will der Vorsitzende der Geschäftsführung
der Deutschen Energie-Agentur nicht infrage stellen, macht aber deutlich:
„Der Punkt, an dem die Energiewende kippen kann ist, wenn wir den sehr starken Zubau der regenerativen Energien nicht mit dem Ausbau der Netze und
Speicher synchronisiert bekommen. Wenn wir nicht gleichzeitig in konventionelle Kraftwerksparks investieren, können wir die Versorgungssicherheit nicht
garantieren und werden Kosten und Preiseffekte haben, die uns im internationalen Vergleich zu stark belasten.“ S. 210
Deutlicher wird Matthias Heck, der ein schlüssiges Konzept der Politik vermisst: „Die Energiewende bedeutet ein erhebliches Risiko für den Industriestandort Deutschland und kann zu einer beschleunigten Deindustrialisierung
führen“, warnt der Senior Manager der australischen Investmentbank Macquarie
im Hinblick auf die Entwicklung der Energiepreise. S.184 Eine Problematik,
40 ANALYSE
AUF
EINEN
BLICK
Fruchtbare Kontroverse:
Ein streitbarer Dialog aller Beteiligten über die Frage nach dem Standort Deutschland kann der Meinungsbildung zur Energiewende wichtige
Impulse verleihen
Wert der Industrie:
Deutschland braucht ein noch stärkeres Bewusstsein für seine industrielle Wertschöpfung
land im innereuropäischen Wettbewerb benachteiligen, befürchtet der bayerische Innenminister. S.189 In der Tat belegen statistische Erhebungen,
dass Deutschland schon heute bei den Strompreisen für Industriekunden im
europäischen Ländervergleich mit 11,34 Euro je 100 Kilowattstunden einen
Spitzenplatz einnimmt (siehe Abb. 3.1). Die Sorge um den Industriestandort
Deutschland findet Hildegard Müller daher berechtigt. „Wir sind in einer Situation, in der es kein gutes Klima für Investitionen gibt, die wir für die Energiewende brauchen. Wenn die Preise für einige Industriebereiche zu teuer werden,
kann das auch bedeuten, dass diese Industrien abwandern“, zeigen sich die
Hauptgeschäftsführerin des Bundesverbandes der Deutschen Energie- und
Wasserwirtschaft (BDEW) wie auch andere Befragte besorgt. S.230
7
Höhe der Strompreise für Industriekunden in
ausgewählten europäischen Ländern im Jahr
2010 (in Euro je 100 kWh)
11,34 Euro
10,12 Euro
6,56 Euro
Gretchenfrage Energiewende
Deutschland
Entscheidet sich also die Zukunft des Industriestandortes an der Energiewende? „Ich würde es andersherum ausdrücken“, sagt Günther Bachmann,
der zu den Fachleuten gehört, die eher Chancen in dem Vorhaben erkennen.
„Wenn die Energiewende klappt, ist dies die Gretchenfrage für den Industriestandort. Der Industriestandort ist nicht die Konditionalisierung der Energiewende, sondern die Energiewende erfolgreich umzusetzen, ist die Erfolgschance
für den Industriestandort“, ist der Generalsekretär des Nachhaltigkeitsrates
überzeugt. Das Industrieland Deutschland werde mit der Energiewende
nicht nur technisierter und dezentralisierter, sondern es entstünden auch
Großbritannien
Frankreich
—
Abb. 3.1
Quelle: Eurostat, 2010
3 Die Energie- als Standortfrage 41
mehr Arbeitsplätze, prognostiziert Bachmann. S. 130 Das glaubt auch
Michael Bauchmüller von der Süddeutschen Zeitung. „Die Energiewende setzt
eher noch Innovationskräfte frei, als dass sie hemmt.“ Wenn sie funktioniere,
sei die Energiewende „ein wunderbares Anschauungsmodell für die Exportmärkte von morgen“, sagt der Journalist. S. 142
Für den thüringischen Wirtschaftsminister Matthias Machnig überwiegen
ebenfalls die Chancen. Die Energiewende mache den Industrie- und Innovationsstandort Deutschland mittelfristig wettbewerbsfähiger. Energie- und
Ressourceneffizienz werde sich in den nächsten Jahren zum Schlüsselthema
entwickeln und einen positiven Innovations- und Investitionsdruck auf die
deutschen Unternehmen ausüben, zeigt sich der Politiker überzeugt. S.227
SPD-Politiker Sören Bartol erwartet gar „einen gewaltigen Modernisierungsschub“, der Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit massiv stärken werde.
Christoph Bals fordert im Zusammenhang mit der Energiewende Transformationsbereitschaft von der deutschen Industrie ein. Sie müsse ihre Geschäftsmodelle so weiterentwickeln, dass sie „in der Klima-, Energie- und Rohstoffkrise dauerhaft tragfähig und damit ein Innovationsmotor für den deutschen
Standort“ würden, verlangt der Geschäftsführer von Germanwatch. „Hier
spielt die Musik, wenn man sich als Industrieakteur für die Zukunft aufstellen
will.“ Die Politik müsse für derartige Transformationsprozesse, wie etwa die
Ausrichtung auf weniger energieintensive Grundstoffe, einen Anreizrahmen
setzen, so Bals. S.134
Verschiedene Untersuchungen stützen die hohen Erwartungen der Experten.
So haben nach Angaben des Umweltbundesamtes (UBA) allein die erneuerbaren Energien schon heute gut 370.000 neue Jobs in Deutschland geschaffen.
630.000 weitere Arbeitsplätze seien möglich, wenn die für 2020 definierten
Klimaschutzziele konsequent umgesetzt würden, heißt es in der jüngsten
UBA-Jahrespublikation (Umweltbundesamt 2012: 3). Weltweit könnte der
Übergang zur Green Economy einer weiteren Studie zufolge in den nächsten
beiden Jahrzehnten gar 15 bis 60 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze entstehen lassen (International Labor Organization 2012).
Zwischen Hoffen und Bangen
Andere Experten äußern ebenfalls die Hoffnung, dass die Energiewende
Erneuerung und wirtschaftliche Schubkraft für den Standort Deutschland
bringt. Allerdings schwingt bei vielen neben Optimismus häufig eine
gewisse Skepsis mit, wie etwa bei Hildegard Müller, wenn sie den Blick auf
das Jahr 2050 richtet: „Wenn wir die Energieversorgung insgesamt umgebaut
haben werden, wird Deutschland ein modernes Land mit einer hochinnovativen
Energieversorgung und letztendlich mit ganz anderem Verbrauchsverhalten
sein. Das kann eine ganz spannende, tolle, interessante Welt sein, wenn wir es
bis dahin ordentlich hinbekommen.“ S. 230
42 ANALYSE
Unter dem Strich zeichnet sich in den Gesprächen mit den Experten ein sehr
ambivalentes Bild ab. Einerseits wird der Energiewende mit Blick auf die
wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands enormes Potenzial zugeschrieben.
Das Vorhaben könne zum Innovations- und Beschäftigungsmotor werden
und den Wachstum beflügeln, so die vielfache Hoffnung. Gleichzeitig treibt
aber viele Fachleute die Sorge um, der Umbau der Energieversorgung werde
womöglich nicht gelingen oder sich auf das Strompreisgefüge so negativ
auswirken, dass am Ende dem Industriestandort Deutschland eine dramatische Schwächung droht.
Über Zusammenhänge
aufklären
Und wie ist es in der Breite der Gesellschaft um das Wissen über die Zusammenhänge der Energiewende bestellt? Verstehen die Menschen die Bedeutung der Industrie für den Standort Deutschland (vgl. Abb. 3.2)? Die Bundesbürger hätten ein ausgeprägtes Bewusstsein dafür, dass sie dem
Industriestandort ein Wohlstandsniveau verdanken, das aufzugeben eher
risikoreich sei, meint Roland Koch. Und auch Hildegard Müller stellt fest, es
gebe einen „grundsoliden Stolz“ auf das Industrieland Deutschland. S.228
„Trotzdem fällt es offensichtlich schwer, diese abstrakte Erkenntnis und die
Erfordernisse einer künftigen Energiepolitik im Bewusstsein der Menschen übereinanderzubringen“, so die Einschätzung des Vorstandschefs von Bilfinger
SE, Roland Koch. S.207
Dass die Frage einer preisgünstigen Energieversorgung unweigerlich eine
Frage der Qualität des Industriestandortes Deutschland sei, hält Koch für
einen zentralen, aber noch vernachlässigten Aspekt in der Diskussion über
die Energiewende. Der ehemalige Politiker fordert dazu auf, sich stärker als
bislang mit den Rahmenbedingungen der energieintensiven Industrien auseinanderzusetzen, die sich in einem harten globalen Wettbewerb behaupten
müssen. „Wenn wir eine Energiepolitik betreiben, die diese Aspekte ausblendet, kann es sein, dass diese Wertschöpfungen alle abwandern“, mahnt der
Industriemanager. S.207 Im gleichen Zusammenhang gibt Volkswirtschaftsprofessor Justus Haucap, Vorsitzender der Monopolkommission, zu bedenken: „Selbst wenn die Industrie nicht abwandert, bleibt das Problem, dass
woanders andere Unternehmen konkurrenzfähiger sind, und dann schrumpfen
unsere Betriebe von allein zusammen.“ S.182
8
Die deutsche Industrie prägt die industrielle
Wertschöpfung in Europa
Anteil ausgewählter Länder an der industriellen Bruttowertschöpfung der Europäischen Union im Jahr 2010 in %
Rest-EU
31,6 %
Deutschland
26,7%
Großbritannien
10,9 %
Frankreich
10,6%
Spanien
7,6 %
Italien
12,7 %
—
Abb. 3.2
Quelle: Eurostat, 2010
„Die energieintensiven Branchen haben so viele Ausnahmeregeln, dass sie die
großen Profiteure der Energiewende sind“, kontert Christoph Bals, Politischer
Geschäftsführer von Germanwatch. Strompreise seien nach der Energiewende
für Einzelkunden, nicht aber für die Großabnehmer gestiegen. Bals warnt: „Die
Akteure dieser Branchen überziehen mit ihrem Geschrei derart, dass ihnen das
böse auf die Füße fallen kann.“ S.133
3 Die Energie- als Standortfrage 43
Bewusstsein für Wertschöpfungsketten schärfen
„Deswegen f ließt das nicht so stark in die Gesamtbewertung eines Projekts ein
wie die wahrgenommenen Risiken.“ S.145 Ähnlich äußert sich FDP-Generalsekretär Patrick Döring: „Das Argument zieht nicht mehr so, weil es uns besser
geht als allen anderen europäischen Ländern. Wir haben hier einen Trend zur
postmateriellen Sattheit.“ S.157
„Mehr Bewusstsein dafür, welchen Wert die Industrie für den Standort Deutschland hat“, verlangt dagegen Michael Vassiliadis. Um die industrielle Basis
zukunftsfähig abzusichern, bedürfe es schlagkräftiger Diskussionsketten, findet der Chef der Gewerkschaft IG BCE. „Diese durchhalten zu können, beginnt
schon bei der Debatte über die EEG-Befreiung für die Industrie. Viele Menschen verstehen nicht, warum es Ausnahmen für die Industrie gibt und dass
das Voraussetzungen sind, um überhaupt hier produzieren zu können“, illustriert Vassiliadis die Problematik. Das vielfach vorgebrachte Argument,
Deutschland sei ohnehin auf dem Weg in eine Dienstleistungsgesellschaft,
lässt er nicht gelten. „Dabei wird die Wertschöpfungskette ausgeblendet, denn
ein nicht unerheblicher Teil der Dienstleistungen ist ja industrienah.“ S.262
Diese Tatsache bestätigen aktuelle Erhebungen des Bundesministeriums für
Wirtschaft und Technologie (BMWi). Zwar habe sich der Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der Bruttowertschöpfung in Deutschland von 36,5 Prozent im Jahr 1970 auf 22 Prozent im Jahr 2011 verringert. Aus dieser Verschiebung könnte man aber nicht folgern, dass die Industrie an Bedeutung
Deutschland
verliert. Vielmehr sei dies Ausdruck von grundlegenden Veränderungen
im
26,7%
Wertschöpfungsprozess. Unternehmensnahe und produktbegleitende
Dienstleistungen gewinnen laut BMWi einen immer höheren Anteil; der reine
Frankreich
Wertschöpfungsanteil lasse dabei die tatsächliche volkswirtschaftliche
10,6 %
Bedeutung der Industrie nicht im vollen Umfang erkennen, die mit ihrer starItalien
12,7 %
ken Nachfrage nach Dienstleistungen einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung des tertiären Sektors leiste. (vgl. Abb. 3.3)
Dass solche komplexen volkswirtschaftlichen Zusammenhänge in den Köpfen nicht wirklich präsent sind, bestätigt Elisabeth Schick: „Das Thema ist in
den vergangenen Jahren in der öffentlichen Wahrnehmung stärker in den Hintergrund getreten. Wir müssen den Leuten aber wieder deutlicher machen, dass
jeder Arbeitsplatz in der Industrie weitere Arbeitsplätze in anderen Bereichen
nach sich zieht. Also auch der Bäcker und der Gastronom um die Ecke profitieren davon und noch viel mehr Beteiligte in der Dienstleistungskette“, erklärt
die Kommunikationsexpertin. S.248
Stellenwert umstritten
Nicht alle Experten sind allerdings davon überzeugt, dass solche ökonomischen Rationalitäten auch zwingend verfangen. Ihrer Auffassung nach haben
wirtschaftliche Nutzenargumente nicht mehr den Stellenwert wie noch vor
einigen Jahrzehnten. Aspekte wie Arbeitsplätze, Steuereinnahmen oder Aufschwung für die Region würden zwar positiv gesehen, aber mittlerweile als
selbstverständlich betrachtet, sagt etwa Professor Frank Brettschneider.
44 ANALYSE
Während Oberkirchenrat Eberhard Pausch glaubt, dass neben der Arbeitsplatzfrage zunehmend auch Aspekte wie Nachhaltigkeit, Umwelt und Frieden
bei der ethischen Beurteilung von Großprojekten eine Rolle spielen S.239,
meint Matthias Machnig: „Das Arbeitsplatzargument ist nach wie vor natürlich
ein gewichtiges, aber man muss auch immer dafür sorgen, dass eben die Beeinträchtigung der Lebenslagen von Menschen auch kalkulierbar sind.“ Hildegard
Müller schließlich macht die Akzeptanz derartiger Argumente vom jeweiligen
Konjunktur- und Beschäftigungsniveau abhängig. „Wenn es im Moment eine
hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland geben würde, wäre die Debatte eine
andere als bei der aktuellen guten wirtschaftlichen Situation.“ S.229
9
In Deutschland nimmt die Bedeutung der
Industrie gegen den Trend zu
Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der jeweiligen
nationalen Gesamtbruttowertschöpfung in %
Deutschland
22 %
Die Energiewende als
Versöhnungsformel?
Japan
18 %
Italien
14 %
Großbritannien
USA
2001 bis 2007
—
Abb. 3.3
Quelle: OECD, 2009
Angesichts ihrer Relevanz für die Zukunft Deutschlands drängt sich die Frage
auf, ob man die Energiewende gar als einen Gemeinwohl-Prüfstein für das
gesamte Land betrachten muss. Immerhin berührt der Umbau der deutschen
Energielandschaft substanzielle gesellschaftliche und volkswirtschaftliche
Interessen. Kann die Energiewende folglich eine Art „Versöhnungsformel“
sein, anhand derer die Grundlagen des gemeinsamen Lebens und Wirtschaftens in Deutschland neu miteinander verhandelt werden?
Die Meinungen darüber gehen auseinander. Oberkirchenrat Eberhard
Pausch ist davon überzeugt, dass das Land grundsätzlich eine solche Versöhnungsformel braucht. „Und zwar eine wie Mut für die Zukunft, die den
Menschen deutlich macht, dass man die Zukunft konstruktiv und verantwortlich gestalten kann.“ S.239 Politiker Michael Fuchs glaubt indes nicht, dass
die Energiewende dazu in der Lage ist. „Meine Befürchtung ist, dass uns die
Energiewende insgesamt auseinandertreibt“, so der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Union. S.170
Deutlich optimistischer zeigt sich in dieser Frage Michael Vassiliadis. „Wenn
die Energiewende vernünftig umgesetzt wird, kann sie ein identitätsstiftendes
Projekt für die Gesellschaft werden. Nach dem Motto ‚Wir sind Vorreiter und
zeigen Verantwortung‘. Das wäre eine große Chance“, meint der Gewerkschaftschef. S.262 Wissenschaftler Frank Brettschneider traut dem Projekt
diese Rolle ebenfalls zu, „denn die Energiewende tangiert viele Bereiche der
Gesellschaft, ist generationenübergreifend relevant und stößt auf eine breite
Akzeptanz, so wie Willy Brandts Ausspruch ‚mehr Demokratie wagen‘ in den
3 Die Energie- als Standortfrage 45
siebziger Jahren“. Gleichzeitig gibt auch er zu bedenken: „Das gemeinsame
Ziel muss allerdings noch deutlicher konkretisiert werden, daran mangelt es
noch.“ S. 147 Dem schließt sich auch der Präsident der Bundesnetzagentur
an. Die Energiewende habe das Potenzial einer gesellschaftlichen Versöhnungsformel, „sofern sie nicht zerredet wird und nicht in Verteilungsdiskussionen ausartet“. Es sei kein Zufall, dass die Energiewende eine so breite
Zustimmung erfahre – „denn eine große Mehrheit befürwortet ja, dass man
aus einer Risikotechnologie aus- und in eine Technologie einsteigt, die uns
auch ein Stück weit unabhängiger von Dritten macht“, so die Einschätzung
von Jochen Homann. S. 194
Warum also protestieren Menschen gegen bestimmte Infrastrukturvorhaben? Was bewegt sie zum Widerstand gegen Projekte, die doch vermeintlich dem Allgemeinwohl dienen? Und haben die Deutschen tatsächlich
einen besonderen Hang zum Protest? Das nachfolgende Kapitel widmet
sich ausführlich diesen für die Energiewende- und Partizipationsdebatte so
bedeutsamen Fragen.
Streitbarer Dialog tut not
Fasst man die Expertenmeinungen zusammen, lässt sich daraus Folgendes
ableiten: Wer sich mit Bürgern über den Umbau der Energieinfrastruktur auseinandersetzen, sie für das ehrgeizige Vorhaben Energiewende gewinnen,
aber auch ehrlich deren Auswirkungen vor Augen führen will, wird den Blick
erweitern und die Diskussion auf die Frage nach dem Standort Deutschland
ausdehnen müssen. Wie die Interviews mit den Fachleuten zeigen, müssen
Risiken wie Chancen der Energiewende offenbar noch deutlich intensiver
und in breiterem Kontext als bislang debattiert werden. Szenarien mit ihren
jeweiligen Konsequenzen sind im Detail zu erörtern und sorgfältig gegeneinander abzuwägen.
Auf einen Nenner gebracht, geht es bei der Diskussion der Energiewende
um die Frage: „In welchem Land wollen wir Deutsche eigentlich künftig
leben?“ In den Gesprächen mit den Fachleuten verfestigt sich der Eindruck,
dass nur in einem „streitbaren Dialog“ bei allen Beteiligten und den betroffenen Bürgern eine fundierte Meinungsbildung zu dieser überaus komplexen Fragestellung in Gang gesetzt und letztlich Verständnis und Akzeptanz
für bestimmte Implikationen, Pläne und Maßnahmen der Energiewende
geschaffen werden kann.
Empathie für Beweggründe
des Einzelnen
Dieser notwendige Dialog über das „große Ganze“ wird allerdings nur schwer
verfangen, wenn er über die Köpfe der Betroffenen hinweg geführt wird und
die individuellen Motivlagen des einzelnen Bürgers ausblendet. Denn bei der
Energiewende (wie auch in anderen Zusammenhängen) werden Beteiligung
und die Bereinigung bestehender Konflikte nur gelingen – auch das eine
Schlüsselerkenntnis aus den Expertengesprächen –, wenn die Projektverantwortlichen die Beweggründe der Skeptiker und Antagonisten verstehen,
antizipieren und vor allem ernst nehmen.
46 ANALYSE
3 Die Energie- als Standortfrage 47
wenn es ihren unmittelbaren Lebensraum betrifft. Bis auf wenige Ausnahmen
sind sich alle Befragten einig, dass das NIMBY-Phänomen bei Protesten eine
gewichtige Rolle spielt, wenn auch im Zusammenspiel mit anderen Beweggründen, wie eine Reihe von ihnen betont. „Das trifft sicherlich auf viele Projekte zu, aber längst nicht auf alle“, meint etwa Oliver Krischer, Bundestags-
Eigeninteressen vertreten:
Persönliche Betroffenheit ist ein zentrales und weithin akzeptiertes
Motiv von Bürgerprotesten
4
Besitzstand wahren:
Den Status quo zu verteidigen, kann auch Ausdruck der deutschen
Wohlstandsgesellschaft und eines emanzipierten Bürgertums sein
Warum Bürger protestieren:
Einsichten in ein
überaus vielschichtiges
Phänomen
Um es vorwegzunehmen: Auf die Frage, warum Bürger gegen Großprojekte
protestieren, findet sich keine pauschale Antwort. Fast alle Experten sind
sich einig, dass es den einen Grund nicht gibt. Im Gespräch mit ihnen offenbart sich vielmehr ein ganzes „Konglomerat“ an Beweggründen, wie Professor Frank Brettschneider es nennt, von denen einige weitestgehend unstrittig sind und andere durchaus kontrovers diskutiert werden. Es gibt offenbar
Ursachen, die eher auf psychologischer Ebene und beim einzelnen Individuum zu suchen sind – und solche, deren Ursprung in übergeordneten,
gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen zu liegen scheint. „Das macht es so
brisant, weil dadurch die Basis für den Protest nicht mehr so homogen ist“,
merkt Kommunikationstheoretiker Brettschneider an. S. 144
Not in my backyard!
Befragt man die Experten nach den Ursachen für den Protest, führen wie
Brettschneider viele an erster Stelle ein Phänomen auf, das unter dem
Namen NIMBY in der öffentlich-medialen Debatte Popularität erlangt hat.
Wann immer über die Motive von Protestierern theoretisiert wird, fällt mit
großer Wahrscheinlichkeit dieser Begriff. Grund genug, den viel zitierten
„Not in my backyard“-Effekt einmal ausführlich zu hinterfragen. Wie sich im
Dialog mit den Fachleuten herausstellt, ist es offenbar mehr als nur ein Klischee, dass Bürger sich bevorzugt dann gegen ein Projekt zur Wehr setzen,
48 ANALYSE
AUF
EINEN
BLICK
Vertrauenserosion:
Die Entkoppelung zwischen Bürgern und ihren Volksvertretern verstärkt das zivile Widerstandspotenzial
Misstrauen in die Wirtschaft:
Vorbehalte gegenüber großen Unternehmen erschweren die Vertrauensbildung zwischen Planungsträgern und der Bevölkerung
Stereotyp:
Die oft unterstellte Technikfeindlichkeit der Deutschen scheint eher
Klischee als tatsächlicher Treiber von Bürgerprotesten zu sein
abgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen. S.212 Günther Bachmann,
Generalsekretär des Nachhaltigkeitsrates, bestätigt das: „In der Regel kommen noch weitere Gründe hinzu, zum Beispiel weil man mit der großen Linie
unzufrieden ist.“ S.128 Und auch der Vorsitzende der Monopolkommission,
Justus Haucap, hat nicht den Eindruck, „dass sich das auf die Mehrheit der
Leute so reduzieren lässt“. S.181 Als „wahnsinnig übervereinfachend“ kritisiert Helmut Klages das NIMBY-Bild. Eine solche Antihaltung sei in der Bevölkerung nicht vorherrschend, betont der emeritierte Professor für Sozialwissenschaften, vertritt damit jedoch eher eine Minderheitsmeinung. S.201
Persönliche Betroffenheit
als Treiber
Das Gros der Befragten hält das NIMBY-Phänomen für evident. Auf 80 Prozent schätzt dena-Chef Stephan Kohler den Anteil derer, die demonstrieren,
weil sie von einem Projekt unmittelbar tangiert sind. S.208 Laut Professor
Dieter Rucht stellen NIMBY-Protestierer bei Infrastrukturprojekten die größte
4 Warum Bürger protestieren 49
Gruppe dar. Gerade bei Flughafenprojekten zeige sich, dass vor allem Grundstücksbesitzer gegen Ausbaupläne Stellung bezögen, weiß der Sozialwissenschaftler. S.244
„Die eigene Betroffenheit macht selbst den lahmsten Bürger mobil“, bringt
Michael Bauchmüller es auf den Punkt. „Der Deutsche wohnt in einer ohnehin
schon sehr zugebauten Umgebung und ist froh, wenn er überhaupt mal ein
Fleckchen finden kann, wo er nicht auf eine Bundesstraße trifft oder von einem
Flugzeug überquert wird. Also verteidigt er das bisschen Ruhe, das er sich in
seiner engsten Umgebung erobert hat, mit Händen und Füßen“, erklärt der
Redakteur der Süddeutschen Zeitung. S. 141 Mit der Nüchternheit des Wissenschaftlers, aber in der Tendenz vergleichbar, drückt es Ulrich von Alemann
aus: „Die eigene Betroffenheit und eine Angst vor Nachteilen im eigenen
Umfeld, die mit Veränderungen einhergehen“, sind für den Politikprofessor
wichtige Gründe für die Proteste. S. 264 (vgl. Abb. 4.1)
Viele Experten zeigen Verständnis für diesen Mechanismus, darunter Manfred
Güllner. Für den forsa-Geschäftsführer ist es nachvollziehbar, „dass man in
Stuttgart protestiert, weil man nicht jahrelang von seinem Balkon auf die Baustelle gucken möchte“. S. 172 f. Michael Vassiliadis, Vorsitzender der Industriegewerkschaft IG BCE, sieht die Sorge um die Verschlechterung der eigenen Lebensqualität ebenfalls als ein legitimes Motiv an. S. 260 Genauso
Frank Brettschneider, der offenbart: „Mal ganz ehrlich, wenn eine Stromüberlandleitung direkt über mein Haus führen würde, fände ich das auch nicht toll.
Das sollte man nicht als rein egoistisch darstellen.“ S.146
In Bezug auf Windkraftanlangen bewertet der Vorstandschef von REpower
Systems, Andreas Nauen, die NIMBY-Mentalität kritischer: „Aus der persönlichen Perspektive von Anwohnern mag eine skeptische Haltung berechtigt sein.
Sachlich ist sie aber nicht begründet. Denn es gibt keine Beweise dafür, dass
Immobilien oder Grundstücke durch Windräder in der Nachbarschaft an Wert
einbüßen. Tatsächlich geben Betroffene ihre kritische Position häufig auf, wenn
ein Windpark erst einmal fertig gebaut ist“, so Nauen. S.233
Mangelnder Gemeinsinn?
In den Augen vieler Fachleute ist das NIMBY-Phänomen Abbild gesellschaftlicher Realitäten. Doch ist unserer Gesellschaft tatsächlich der Sinn für das
Gemeinwohl abhandengekommen, wie einige Experten behaupten? Oder
andersherum gefragt: Entfalten sich bürgerliche Proteste auf dem Nährboden eines wachsenden Egoismus der Bürger? Dieser Aspekt wird überaus
kontrovers debattiert.
Energiemanager Johannes F. Lambertz hält es schlichtweg für eine Folge des
gesellschaftlichen Wandels, „dass jeder Einzelne primär seine eigenen Interessen verfolgt“. Der Vorstandsvorsitzende der RWE Power AG vermisst beim
50 ANALYSE
10
Zustimmung zur Aussage: Wenn in meiner
Umgebung ein Großprojekt wie ein Flughafen
oder ein Kraftwerk gebaut werden sollte,
würde ich mich dagegen engagieren.
32%
26%
21%
13 %
Stimme voll
und ganz zu
Stimme
eher zu
Lehne
eher ab
Keine Angabe: 2 %; weiß nicht: 5%
—
Abb. 4.1
Quelle: Dimap, 2011
Lehne voll
und ganz ab
Thema Gemeinwohl gesellschaftliche Vorbilder, weshalb es schwierig sei,
den einzelnen Bürger dazu zu motivieren. S.218 Professor Manfred Güllner
sieht die Wurzeln des heutigen Protestverhaltens in der 68er-Bewegung.
„Denn die hat ja die Individualisierung der Gesellschaft und die Selbstverwirklichung gefordert“, analysiert der forsa-Geschäftsführer. Öffentliche Tugenden hätten mittlerweile an Wert verloren. In einem brutaler gewordenen Alltag hätten die Leute gelernt, „dass sie ihre Interessen maximieren müssen.
Die Ellenbogen-Gesellschaft ist sozusagen internalisiert worden“, so Güllner.
S.173 In der Wahrnehmung von Roland Koch mangelt es der Gesellschaft
ganz allgemein an der Einsicht, dass Gemeinwohl auch die Hinnahme
bestimmter Einschränkungen bedeute. „Zum Beispiel wird schon das Aufstellen eines Glascontainers in einer Gemeinde von den Anwohnern als potenzielle
Ruhestörung wahrgenommen, die man nicht bereit ist hinzunehmen“, verdeutlicht der Vorstandsvorsitzende von Bilfinger SE den heutigen Geist. S.206
„Die Gesellschaft ist egoistischer geworden“, lautet nicht nur beim stellvertretenden PHOENIX-Redaktionsleiter Hans-Werner Fittkau das Fazit.
Nein, nur gewachsenes
Selbstbewusstsein!
Der Theorie vom fortschreitenden Verlust der Gemeinwohlorientierung wollen Experten wie der Werteforscher Helmut Klages so nicht zustimmen. „Die
Menschen sind heute nicht egoistischer als früher oder weniger bereit, Lasten
für das Allgemeinwohl zu tragen. Es gibt nur eine größere Sensibilität für
Verletzungen von Interessenlagen und ein aktiveres und selbstbewussteres
Selbstverständnis gegenüber der Politik“, differenziert er. S.200 Eine Einschätzung, die unter anderem von Dieter Rucht geteilt wird, der trotz Individualisierungstendenzen und stärkerer Ich-Bezogenheit vielen Menschen
unterstellt, „dass sie aus tiefster Überzeugung auf persönliche Vorteile verzichten und für die Allgemeinheit einstehen“. S.246 Auch Oberkirchenrat
Eberhard Pausch glaubt nicht, dass die Gemeinwohlorientierung gesunken
ist, und traut den heutigen Menschen eine gewisse Opferbereitschaft zu
Gunsten des Gemeinwohls zu. Die entsprechenden Belastungen müssten
allerdings gut begründet werden, fordert der Theologe. S.236
Germanwatch-Geschäftsführer Christoph Bals begrüßt ausdrücklich die kritische Begleitung durch die Bürger: „Wir haben eine Kaskade von Krisen durchlebt. Dass in so einer Situation die Bürger nachfragen, ob dieses oder jenes
Großprojekt Teil der Lösung oder Teil des Problems ist, ist in meinen Augen
eine ausgesprochen positive Tendenz.“
Parteien- und Demokratieforscher Ulrich von Alemann, der als einer der wenigen die These einer insgesamt eher gestiegenen Gemeinwohlorientierung
vertritt, bemüht einen Vergleich: „Auch die Moralschwelle wird durch die
Medien und die öffentliche Debatte eine andere Höhe erreichen. Generell sind
4 Warum Bürger protestieren 51
die Politiker oder die Moral aber nicht schlechter geworden. Richtig ist, dass die
Moralmaßstäbe steigen. Dasselbe gilt für die Gemeinwohlorientierung – subjektiv
besteht das Gefühl, dass sie abnimmt, objektiv nimmt sie eher zu.“ S.265 f.
Ein Beleg für diese Auffassung ist die kontinuierlich stabile Engagementquote,
die den Anteil freiwillig Engagierter in Deutschland zeigt (vgl. Abb. 4.2).
Saturierte Gesellschaft
Nicht wenige Experten interpretieren die NIMBY-Haltung als Ausdruck der
Saturiertheit unserer Gesellschaft. Zu ihnen gehört Michael Fuchs, der feststellt, Deutschland sei eine „Luxusgesellschaft“ geworden. „Die Leute sagen einfach: ‚Uns geht’s gut. Ach nee, das soll alles so bleiben, wie es ist.‘“ Diese Menschen sähen den direkten Zusatznutzen nicht, den die Maßnahmen ihnen
persönlich brächten, bedauert der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSUBundestagsfraktion. Das sei darauf zurückzuführen, dass „wir eine Gesellschaft
sind, die im Prinzip wesentliche Probleme nicht hat, weil alle Probleme weitestgehend gelöst zu sein scheinen.“ S. 168 Einen Zusammenhang zwischen Wohlstandsniveau und Protestbereitschaft stellt auch Hildegard Müller her. „Die
Menschen haben das Gefühl, dass es Deutschland gut geht, viel erreicht wurde
und dass das ausreicht.“ Deswegen sei die Toleranz gegenüber großen Infrastrukturvorhaben gering, so die Hauptgeschäftsführerin des BDEW. S.228
Elisabeth Schick diagnostiziert „eine neue Biedermeier-Bewegung“ gerade im
bürgerlichen Mittelstand. Diese kümmere sich nur „um ihren eigenen Lebensbereich – Familie, enger Freundeskreis – und alles, was vor der eigenen Haustür
stattfindet. Der Rest, also die Allgemeinheit, scheint da weniger relevant zu sein.
Deswegen spielt es für viele auch offensichtlich eine geringere Rolle, welchen
gesamtgesellschaftlichen Nutzen Großprojekte haben“, so die Beobachtung der
Leiterin der Unternehmenskommunikation von BASF.
S.250
ziert. Fast drei Viertel (73 Prozent) aller Befragten finden, dass sie nicht
vom derzeitigen Wirtschaftswachstum profitieren (ARD Deutschlandtrend/
Infratest dimap 2012).
11
Engagementquote (Anteil freiwillig
Engagierter an der Bevölkerung) in Deutschland
in den Jahren 1999, 2004 und 2009
Freiwillig Engagierte
(längerfristig)
2009
2004
19 99
Nicht öffentlich
Aktive
Öffentlich Aktive
(unverbindlich)
—
Abb. 4.2
Quelle: TNS Infratest, 2010
Vorbehalte gegenüber
Großunternehmen
Was das Verhalten der Unternehmen anbelangt, werden häufig einseitige
Profitorientierung und mangelhafte Ausrichtung auf die Interessen des Allgemeinwohls als Defizite benannt. In den Augen von Manfred Güllner und
anderen Befragten ist diese Wahrnehmung von den Unternehmen selbst
verschuldet. „Denn sie haben vor einigen Jahren verstärkt den ShareholderValue zum Hauptprinzip erhoben und die soziale Verantwortung von sich
geschoben“, analysiert der Meinungsforscher. S.173 Gerade die Energiekonzerne wollten in den Augen vieler Bürger nur ihre Geschäfte sichern, so
Stephan Kohler. S.211
Verlust des Vertrauens
in „die da oben“
Ein weiterer gewichtiger Motivationstreiber für Proteste liegt in der offensichtlichen Entkoppelung der Bürger von den wirtschaftlichen und politischen Eliten. Dass das Zutrauen in diese gesellschaftlichen Instanzen
schwindet, belegen zahlreiche Studien. So kann eine deutliche Mehrheit
der Deutschen (64 Prozent) nicht mehr erkennen, dass die Politik heute
noch Moral vermittelt. 57 Prozent verneinen das auch für die Wirtschaft
(vgl. Abb. 4.3). Lediglich 26 Prozent der Bundesbürger bringen Großunternehmen und Konzernen überhaupt Vertrauen entgegen, noch schlechter
steht mit 14 Prozentpunkten nur die Politik dar (VKU/TNS Emnid 2010: 2).
Angesichts dieses weit verbreiteten Misstrauens überrascht es kaum, dass
die Hälfte der Deutschen mit der sozialen Marktwirtschaft unzufrieden ist
und sich offenbar nur ungenügend mit dem derzeitigen System identifi52 ANALYSE
Viele Experten sehen in dieser Entwicklung eine zentrale Ursache für bürgerlichen Widerstand. So glaubt etwa Rainer Baake, Direktor der Stiftungsinitiative
Agora Energiewende, dass die Proteste häufig von Zweifeln daran getrieben
sind, „dass wirklich das Gemeinwohl hinter der Planung steckt“. S.124 Eine
Einschätzung, die von einem deutlichen Misstrauen der Menschen gegenüber
den Vorhabenträgern zeugt und die von zahlreichen Experten geteilt wird.
„Viele Menschen haben das Gefühl, dass man eigentlich keinem mehr glauben
kann“, fasst Manfred Güllner das zerrüttete Verhältnis zwischen den Menschen
auf der einen Seite und der Politik und den Unternehmen auf der anderen
Seite zusammen.
12
Vermitteln die folgenden gesellschaftlichen
Instanzen Ihrer Meinung nach heute Moral?
NEIN
64%
JA
6%
NEIN
57%
JA
6%
Politik
—
Abb. 4.3
Quelle: RAL-Institut, 2011
Wirtschaft
NEIN
44 %
JA
11%
Mit Blick auf die Energiewirtschaft führt Michael Bauchmüller den Aspekt der
Abhängigkeit ins Feld. „Von den Diensten eines Stromkonzerns, der Bahn oder
eines Telekommunikationsanbieters hängt der Einzelne ab. Solche Abhängigkeit macht skeptisch.“ S.141 Das belegt auch das Edelman-Trust-Barometer: Demnach hat die Bevölkerung sehr wenig Vertrauen in die vier großen
Energiekonzerne, insbesondere weil viele Kunden mit der Entwicklung der
Strompreise nicht einverstanden sind (FTD/Edelmann 2012). Der Journalist
attestiert den Deutschen außerdem ein ausgeprägtes Problem mit Obrigkeit
und Machtkonzentration. „Machtvolle Unternehmen in Deutschland werden
nicht als Global Player gesehen, die dieses Land im Ausland vertreten, sondern
als eine ungute Anballung von Macht und Einf luss.“ S.141 Diese Vermutung
teilt auch Johannes F. Lambertz: „Bei uns gilt grundsätzlich ‚small is beautiful’,
so dass große, internationale Unternehmen hier immer mit einer gewissen
Skepsis betrachtet werden.“ S. 217
Kirche
Eine Reihe unabhängiger Untersuchungen bestätigt die Experten in ihren
Einschätzungen. 81 Prozent der deutschen Bevölkerung haben wenig bis gar
4 Warum Bürger protestieren 53
kein Vertrauen zu Großunternehmen (vgl. Abb. 4.4). Während kleine Familienunternehmen in Deutschland mit positiven Eigenschaften wie Ehrlichkeit,
Seriosität und Glaubwürdigkeit assoziiert werden, schneiden große Unternehmen bei der Vertrauensfrage deutlich schlechter ab. Sie werden von den
Bundesbürgern als lobbyistisch, gierig und wirklichkeitsfern wahrgenommen
(Bertelsmann Stiftung 2009: 8).
Zweifel und Überforderung
Für Roger de Weck hat der Vertrauensverlust auch damit zu tun, dass viele
Unternehmen den Bürgern gegenüber aus einer vermeintlichen Position der
Überlegenheit heraus agieren. „Viele in der Wirtschaft nehmen die Haltung
ein: Wir haben die Argumente, die anderen haben die Emotionen, wir sind
ernst zu nehmen, die anderen sind unseriös, wir denken langfristig, die anderen sind keine Realisten. Genau diese Haltung weckt bei Bürgerinnen und Bürgern den Eindruck, nicht ernst genommen zu werden, und dann nehmen sie die
Wirtschaft und ihre Argumente auch nicht ernst.“ S. 154
Im Gegensatz zu nichtstaatlichen Organisationen, die mit Allgemeininteressen assoziiert würden, verbinde man mit Unternehmen Eigeninteressen,
erklärt Sören Bartol. Der Sozialdemokrat sieht darin eine Ursache für das
Vertrauensdefizit gegenüber der Wirtschaft. „Wir sind in Deutschland
gewohnt, Allgemeininteressen für gut und Eigeninteressen als etwas anrüchig
oder bedenklich einzuschätzen, obwohl unsere Wirtschaft davon lebt. Deswegen
haben Unternehmen oder die Wirtschaft immer einen schweren Stand, sobald
die Gegenseite Allgemeininteressen ins Feld führt.“ S. 139
Die Vorbehalte der Menschen hingen unter anderem damit zusammen, dass
die Wirtschaft insgesamt unübersichtlicher geworden sei, meint Johannes
F. Lambertz. Komplexe Zusammenhänge, die Unternehmen beispielsweise
zur Verlagerung von Produktionsstätten ins Ausland zwingen, seien dem Einzelnen heute nur schwer oder gar nicht zu vermitteln.
Erosion des Vertrauens in die Politik
Auch um das Verhältnis der Bürger zu ihren Volksvertretern ist es laut
Expertenmeinung nicht zum Besten bestellt. Hier sind es nach Auffassung
der Fachleute vor allem die Intransparenz und scheinbare Alternativlosigkeit politischer Entscheidungen, die zur Erosion des Vertrauens beitragen.
Der Verdruss der Bürger beziehe sich dabei weniger auf die allgemeine
Politik, merkt Ulrich von Alemann an. „Stärker als die allgemeine Politikverdrossenheit ist die Parteienverdrossenheit oder die Politikerverdrossenheit“,
so der Wissenschaftler. In der Tat vertrauen 78 Prozent der Deutschen
den politischen Parteien „eher nicht“ (Europäische Kommission/TNS Infratest 2011).
54 ANALYSE
13
Wie viel Vertrauen haben Sie zu
den Großunternehmen?
Wenig, gar
kein Vertrauen
81%
Sehr großes,
großes Vertrauen
18 %
Weiß nicht/keine Angabe
1%
—
Abb. 4.4
Quelle: Infratest dimap, 2008
Für den allgemeinen Unmut der Bürger gegenüber der Politik liefern die
Befragten gleich eine ganze Palette an Begründungen. Eberhard Pausch
identifiziert die Ursachen zum einen in der Abstraktheit und Komplexität
des politischen Apparats. „Das negative Bild zur Politik entsteht sicherlich
dadurch, dass die Politik für den Bürger zunächst einfach sehr abstrakt ist.
Der Staat ist ja auch ein unglaublich vielfältiges, komplexes und unübersichtliches Gebilde und die Akteure innerhalb des Großakteurs Staat sind ein Universum für sich. Es ist einfach schwierig, damit umzugehen“, glaubt der Kirchenvertreter. In der Wahrnehmung des Theologen wenden die Bürger sich
aber auch deshalb von der Politik ab, weil sie sich nicht wirklich zum Dialog
eingeladen fühlen. Pausch kritisiert die „oft präsentierte Rede von Alternativlosigkeit. Wenn ein Gesetzesentwurf dem Parlament vorgelegt wird, steht
da meistens: ,Alternativen: keine.‘ Das ist verheerend.“ S.237
Dem pflichtet Michael Bauchmüller bei: „Die Kombination aus Nicht-gehörtwerden und alternativloser Entscheidung ist wie der Wespenstich für den Allergiker. Das ist eine tödliche Kombination.“ Der Journalist führt das Unbehagen
außerdem auf die mangelnde Verlässlichkeit der politischen Organe zurück.
„Der Wahlkreisabgeordnete in seinem Bürgerbüro verspricht mitunter mehr, als
er am Ende halten kann oder die Politik schlussendlich einlöst. Die Erfahrung,
dass am Ende alles anders kommt, kennen die meisten Bürger.“ S.140
Eine Vielzahl von Studien spiegelt den Eindruck wider, dass Bürger sich von
politischen Prozessen häufig ausgeschlossen fühlen. So verneint mit 79 Prozent eine überdeutliche Mehrheit der Bundesbürger die Frage, ob das Volk
in Deutschland wirklich etwas zu sagen habe (Stern/forsa 2010). Laut einer
weiteren Untersuchung haben gar 94 Prozent der Befragten das Gefühl,
dass sie persönlich keinerlei Einfluss auf das Handeln der Regierung haben
(Friedrich-Ebert-Stiftung/USUMA 2010).
Distanz und mangelnde
Wahrhaftigkeit
Die Skepsis der Bürger gegenüber der Politik sieht Helmut Klages in einer
Interessenkollision beider Lager begründet: So sei „das politische System
aufgrund seiner Eigenkomplexität nach außen hin geschlossen, weil die Politik mit sich selbst genug beschäftigt ist“. Gleichzeitig gebe es aber „ein stark
zunehmendes Beteiligungsbedürfnis der Bevölkerung“, das durch ein höheres
Bildungsniveau, rationalere Orientierung im Berufsleben sowie eine ansteigende Informationsdichte durch Massenmedien befördert werde.
S.200 (vgl. Abb. 4.5)
Andere Experten führen die Kluft zwischen den Bürgern und der politischen
Klasse auf ein Anpassungsverhalten zurück, das durch wahltaktische Erwägungen diktiert wird. Das Bedürfnis der Menschen nach Authentizität und
14
Orientiert sich die Politik der schwarz-gelben
Bundesregierung eher am Gemeinwohl oder
eher an den Interessen einzelner gesellschaftlicher Gruppen?
Gemeinwohl 26%
Einzelinteressen 70%
Weiß nicht: 4%
—
Abb. 4.5
Quelle: ZDF Politbarometer/Forschungsgruppe Wahlen, 2010
4 Warum Bürger protestieren 55
Wahrhaftigkeit wird dabei durch die Volksvertreter offenbar nicht mehr ausreichend bedient, weshalb diese durch Vertrauensentzug abgestraft werden, so die These der Fachleute. „Früher waren Politiker erfolgreich, die Ecken
und Kanten hatten und bei denen man wusste, wofür sie stehen. Wenn ein Politiker heute so ist, verliert er wahrscheinlich die nächste Wahl. Die Konsequenz
ist, dass wir glatt geschliffene Politiker haben und sich die Glaubwürdigkeit
dieser Berufskaste – ähnlich wie bei den Managern – in den letzten Jahren
deutlich verschlechtert hat“, beschreibt Johannes F. Lambertz das Dilemma.
S. 216 f. Der Opportunismus der politischen Klasse müsse reduziert werden, fordert daher Thüringens Wirtschaftsminister Matthias Machnig. „Wir
müssen für notwendige Großprojekte auch öffentlich Verantwortung tragen
und von vornherein öffentlich für solche Projekte werben und uns nicht taktisch
oder opportun, je nachdem wie es gerade die politische Landschaft notwendig
macht, verhalten“, so der Appell des Politikers. S.224
Kollektive Visionen fehlen
Fragen, die auf Widersprüche in der Gesellschaft hindeuten“, so Krischer.
S.212 Patrick Döring hält persönliche Betroffenheit für den Hauptantrieb,
glaubt aber, dass neben dem Forschungsbereich die Proteste gegen Energieerzeugungsanlagen und große Industrieanlagen noch ideologisch
gefärbt seien. S.157 Für Frank Brettschneider trifft das eher auf die Aktivisten der Friedensbewegung und der Anti-Atomkraft-Bewegung zu, auch
wenn sich heute noch viele andere Gründe dazumischten. In der breiten
Öffentlichkeit spielten ideologische Motive kaum noch eine Rolle, urteilt
der Wissenschaftler. S.144
Ähnlich bewertet das Eberhard Pausch. „Eine bestimmte Weltanschauung ist
weniger wichtig, das war vielleicht in den siebziger und achtziger Jahren noch
der Fall“, sagt der Theologe. S.236
Weltanschauliche Motive
Die generellen Defizite im Verhältnis zwischen Bürgern und den politisch Verantwortlichen machen einige Experten am Beispiel der Energiewende konkret.
Die Politik finde nicht das richtige Framing für ihre Anliegen, rügt der Generalsekretär des Nachhaltigkeitsrats, Günther Bachmann. Ein Projekt wie die Energiewende müsse die Bevölkerung als Gemeinschaftsprojekt erkennen können,
das gemeinschaftlich umgesetzt werden muss. „Dazu gehört, dass von allen
Seiten nicht nur etwas gefordert/verlangt, sondern auch gegeben wird.“ S.128
Andere Befragte glauben, dass kämpferisch vertretene Weltanschauungen
sehr wohl noch eine Rolle bei Protesten spielen. „Es wäre zu vereinfacht zu
sagen, dass es den Leuten nur um ihr persönliches Immobilienvermögen geht,
so einfach ist es auch nicht“, sagt zum Beispiel Justus Haucap. S.181 Nach
Meinung von Manfred Güllner sind Ideologien unter anderem in der Energiediskussion anzutreffen. „Die Einstellung zur Energie ist generell sehr stark von
der parteipolitischen Orientierung abhängig.“ Ideologisch motiviert gewesen
seien auch die Proteste gegen die Arbeitsmarktreform Hartz IV. S.173
In eine ähnliche Richtung gehen die Überlegungen von Rolf Martin Schmitz.
„Die Politik wäre in der Pf licht, das gesamte Bild zu zeigen. Dazu kann auch
gehören, dass in der Nähe des eigenen Hauses Windkraftstandorte oder neue
Hochspannungsleitungen gebaut werden müssen. Solche Botschaften sind unpopulär. Trotzdem müssen sie unmissverständlich vorgetragen werden, sonst kann der
einzelne Bürger nicht nachvollziehen, warum er nun Lasten tragen soll.“ S.254
Ideologische Fronten sieht auch Rolf Martin Schmitz beispielsweise zwischen
Industrie und NGOs verlaufen. S.255 Mit Blick auf Stuttgart 21 spricht
Hans-Werner Fittkau von den „alten Hartnäckigen“, die seiner Einschätzung
nach bei dem umstrittenen Bahnhofsprojekt eine durchaus ideologische
Rolle gespielt hätten. „Das waren teilweise Leute aus der 68er-Bewegung, die
heute in Rente sind.“ S.164
Patt bei der Ideologiefrage
„German Angst“ – ein Klischee?
Im Zusammenhang mit Protesten wird nicht selten der Begriff der Ideologie
bemüht. Gemeint ist die Vorhaltung, Menschen agierten allein aus einer starren, übergeordneten weltanschaulichen Haltung heraus gegen ein bestimmtes Projekt – ohne zugänglich zu sein für rationale Fakten und Argumente der
Gegenseite. Wie beurteilen die Experten dieses Motiv? Sind Ideologien heute
noch ein Treiber für Proteste? Zustimmung und Ablehnung halten sich bei dieser Frage in etwa die Waage.
In der Kontroverse um große Infrastrukturprojekte wird bisweilen unterstellt,
dass die Gegner von einer typisch deutschen Technikangst getrieben seien;
eine irrationale Furcht vor Hochtechnologien würde manchem Bundesbürger
den sachlichen Blick auf das Vorhaben verbauen, so der latente Vorwurf. Die
Technikfeindlichkeit und das Dagegensein in der Bundesrepublik kritisiert
unter anderem der Journalist und Diplom-Ingenieur Gerhard Matzig. Der
Autor vertritt in einer viel beachteten Streitschrift die These, dass Deutschland sich mit seiner Technophobie seine Zukunft verbaue (Matzig 2011).
Politiker wie Sören Bartol und Oliver Krischer glauben nicht, dass weltanschauliche Positionen noch eine ausschlaggebende Rolle spielen. „Nein,
das sind keine ideologischen Gründe, sondern da geht es um grundsätzliche
56 ANALYSE
Nicht alle, aber doch eine Mehrzahl der Experten bestreitet das. „Das entspricht dem gängigen Vorurteil auf deutschen Chefetagen, hat aber mit der
4 Warum Bürger protestieren 57
Volkswirtschaftliche Verluste
Wirklichkeit wenig zu tun“, befindet etwa Roger de Weck. Wäre die deutsche
Grundkultur technologiefeindlich, hätte es die deutsche Wirtschafts- und
Erfolgsgeschichte niemals gegeben, so der Schweizer. „Es gibt berechtigte
Kritik gegenüber einigen Aspekten einiger Großtechnologien, aber ich sehe die
Deutschen in keiner Weise als einen Menschenschlag, der in dieser Hinsicht völlig anders geprägt wäre als andere. Angst ist kein deutsches Monopol.“ S.153
Gegen die „gängige Wahrnehmung, dass es in Deutschland eine enorme
Technikfeindschaft, ,German Angst‘ oder ,Hystérie Allemande‘, gibt“, wehrt
sich unter anderem Dieter Rucht. „Es ist schon so, dass die Proteste in
Deutschland im Schnitt etwas stärker als in vielen vergleichbaren Ländern
sind, aber das liegt nicht an der deutschen ,Volksseele‘ mit ihrem angeblichen
Hang zur Romantik, sondern daran, dass sich hier über Jahrzehnte Gruppen
gebildet haben, die Aufklärungs- oder auch Agitationsarbeit leisten und im
Allgemeinen besser organisiert sind als in den meisten übrigen Ländern. Um
diesen angeblichen deutschen Sonderfall zu relativieren: Es gibt an vielen
Orten der Welt intensive, vehemente Proteste, etwa gegen Wasserkraftwerke
in Indien, die Narmada-Staudämme. In Tokio gab es beim Flughafenprojekt
Narita mehrere tote Demonstranten. In Frankreich gab es auch im Zusammenhang mit Atomkraft heftige Proteste. In Norwegen gab es beim Bau von
Staudämmen Belagerungen und Blockaden. Vielleicht nicht in dieser Dichte
wie in Deutschland, aber doch in derselben Art und Vehemenz findet man
Proteste in vielen Ländern.“ S. 245 f. Zu glauben, dass persönlich betroffene Menschen in anderen Teilen der Welt vergleichbare Projekte einfach
hinnehmen, „wäre eine Verklärung der Lage“, findet auch Roland Koch. „Es
gibt keinen Grund zu glauben, der Rest der Welt tue sich einfacher mit diesen
Themen.“ S. 207
Deutschland sei kein Sonderfall, pflichtet Andreas Nauen bei, „denn ähnliche
Diskussionen gibt es auch in anderen Ländern, zum Beispiel in Kanada. Dort
herrscht vereinzelt sogar die irrationale Angst, dass Kühe, die unter Windrädern grasen, tot umfallen.“ S.234 Nach Einschätzung von Helmut Klages
bewegt sich die Protestbereitschaft „eher unterhalb des Mittelfeldes vergleichbarer Länder“.
Ulrich von Alemann spricht für mehrere Experten, wenn er feststellt: „Es ist
ein Mythos, dass sich hier und heute keine Großprojekte mehr durchführen
ließen. Es herrscht keine allgemeine Technikfeindlichkeit.“ Die Technikskepsis
sei in Deutschland vielmehr sehr unterschiedlich ausgeprägt. Vorbehalte
gebe es vor allem gegenüber Technologien, bei denen die Bevölkerung
konkrete Gesundheitsbeschwerden befürchte wie bei der Gentechnologie.
Andere Techniken, wie etwa im Telekommunikationsbereich, würden
dagegen völlig unkritisch bewertet und seien akzeptiert, obwohl immer
wieder auf mögliche Strahlungsschäden hingewiesen werde. „Proteste
etwa wie bei Stuttgart 21 können nicht grundsätzlich auf alle Großprojekte
in Deutschland übertragen werden“, so das Urteil des Parteien- und Demokratieforschers. S. 264
58 ANALYSE
Eine gegensätzliche Auffassung vertritt Michael Fuchs. Als Ursache dafür,
dass Teile der Bevölkerung Großprojekte oder bestimmte Technologien
ablehnten, benennt er explizit „ein Technikfeindlichkeitsproblem in Deutschland“. Das hohe deutsche Wohlstandsniveau führe dazu, dass die Bundesbürger neue Technologien mittlerweile höchst skeptisch betrachteten, so
die Wahrnehmung des Unionspolitikers. S.168
Protestierende in Strahlenschutzanzügen, Proteste
gegen Gen-Food
Diese Sicht wird auch von Elisabeth Schick geteilt. Im Vergleich zu aufstrebenden Tigerstaaten in Asien sei Fortschritt in Deutschland kein tragendes
Motiv mehr, „stattdessen macht sich eher eine Mentalität der Besitzstandswahrung breit. Der Deutsche ist tendenziell eher ein Bedenkenträger und detailverliebt. In Asien und auch in den USA sind die Menschen fortschrittsorientierter
und sehen stets auch die Chancen eines Projektes.“ S.249
Verhaltene Zustimmung zur These von der Technikskepsis der Deutschen
kommt von Gerd Landsberg: „Tendenziell besteht in Deutschland schon seit
Jahrzehnten im Vergleich zu Frankreich oder England eine gewisse Technikfeindlichkeit. Insofern sind Großprojekte auch schwieriger durchsetzbar“,
glaubt der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes. Dass durch die „sehr hohe Skepsis gegenüber Neuem volkswirtschaftlich etwas verloren geht“, findet Justus Haucap. Dieser Umstand sei
dabei nicht nur im Energiebereich anzutreffen, sondern auch in anderen
Wirtschaftszweigen wie etwa der Gentechnologie, so der Vorsitzende der
Monopolkommission.
Komplexität der Motive
Rekapituliert man die Summe der mit den Experten debattierten Aspekte,
ergibt sich ein sehr komplexes Bild der Protestkultur in Deutschland. Als Motivationstreiber zeichnen sich im Wesentlichen fünf Aspekte ab. Sie spiegeln
dabei weitestgehend die Logik von Professor Frank Brettschneider wider, der
zwischen fünf Gruppen von Protestgründen unterscheidet. S.144
Der NIMBY-Effekt ist unter den Fachleuten weitestgehend unstrittig. Die
persönliche Betroffenheit ist offenbar ein zentrales Motiv des bürgerlichen
Widerstands, für das Experten jeder Couleur durchaus Verständnis aufbringen. Puren Egoismus und mangelnden Sinn für das Gemeinwohl unterstellt
jedoch nur ein Teil von ihnen den Protestierern. Für die anderen Fachleute
ist das NIMBY-Verhalten eher Ausdruck eines gewachsenen Selbstbewusstseins der Bürger beziehungsweise Begleiterscheinung der saturierten deutschen Wohlstandsgesellschaft.
Einigkeit besteht darüber, dass neben Partikularinteressen eine Reihe anderer Aspekte den Protest befruchtet, etwa die projekt- oder sachbezogenen
4 Warum Bürger protestieren 59
Gründe, wie Brettschneider diese eher rationale Ebene nennt. Dazu gehören
etwa die Umweltfolgen und die Kostendimension eines Großprojekts. Diese,
um mit Rainer Baake zu sprechen, „altruistischen Motive“ S.124 spielen nach
Ansicht des Wissenschaftlers in der allgemeinen öffentlichen Diskussion eine
größere Rolle als die NIMBY-Mentalität.
Auffällig groß ist im Expertenkreis die Übereinstimmung in einem Punkt: Der
allgemeine Vertrauensverlust der Bürger gegenüber Politik und Vorhabenträgern ist einer der schwergewichtigsten Gründe für das zivile Aufbegehren in
Deutschland. Die Entkoppelung der Menschen von den wirtschaftlichen und
politischen Akteuren und Defizite in der Kommunikation befördern offenbar
in hohem Maße Misstrauen und Protest gegen Großprojekte. Ob dabei heute
noch Ideologien oder womöglich eine latente deutsche Technikangst eine
gewichtige Rolle spielen, darüber sind sich die befragten Fachleute uneins.
Fakt ist, dass eine Reihe der hier zusammengefassten Gründe auch bei Stuttgart 21 eine Rolle gespielt haben dürfte. Das umstrittene Bahnhofsprojekt
gilt als Metapher schlechthin und wird daher auch von den Experten immer
wieder als „Anschauungsobjekt“ zur Erforschung bürgerlicher Protestmuster
in Deutschland herangezogen. Den gesellschaftlichen, politischen und
medialen Mechanismen von Stuttgart 21 ist daher im nachfolgenden Kapitel
ein eigener Exkurs gewidmet.
5
Exkurs Stuttgart 21:
Blaupause in Sachen
Demokratieverständnis
Die Auseinandersetzungen um Stuttgart 21 beherrschten monatelang die
Schlagzeilen in Deutschland. Während die Volksabstimmung längst zu Gunsten des Bahnhofsneubaus entschieden wurde und die Bauarbeiten voranschreiten, ist das Projekt zu einer Art „Blaupause“ geworden, anhand derer
sich Wirkmechanismen studieren lassen, die auch bei der Realisierung künftiger Infrastrukturvorhaben zum Tragen kommen dürften.
Dabei stellt sich zunächst die Frage, warum ein Bahnhofsprojekt in BadenWürttemberg überhaupt bundesweit eine derartige Resonanz erzeugen
konnte. Einige Fachleute führen das auf die simple Tatsache zurück, dass
das Thema Bahnfahren für viele Menschen ein sehr naheliegendes Sujet ist.
„Faszination Eisenbahn. Jeder kann bei dem Thema mitreden“, meint der
Journalist Hans-Werner Fittkau. S.165 Der stellvertretende Redaktionsleiter des Fernsehsenders PHOENIX hat die Geschehnisse rund um Stuttgart 21
intensiv begleitet. Gleichzeitig ist die Bahn aber auch ein kollektives Ärgernis für viele Bürger. Für Patrick Döring gehört die Bahn „zu einem völlig
undurchsichtigen, merkwürdigen Teil unserer Gesellschaft. Sie bietet sich
geradezu als Lieblingsfeind an“, spitzt es der FDP-Generalsekretär zu. „Die
bundesweite Aufmerksamkeit ist den Erfahrungen vieler Menschen geschuldet,
die sie jeden Tag mit der Deutschen Bahn machen“, drückt den gleichen
Erklärungsansatz etwas nüchterner Oliver Krischer aus. „Dass man für ein
solches Projekt Milliardenbeträge ausgibt, aber auf der anderen Seite kleinste
Verbesserungsmaßnahmen bei der Bahnmobilität nicht finanzieren kann, weil
60 ANALYSE
5 Exkurs Stuttgart 21 61
um die finanzielle Dimension des Projekts eine Triebfeder für die Proteste
gewesen. Mit den Protesten gegen das Bahnhofsprojekt in Schwaben habe
sich ein lang gehegter Wunsch nach Partizipation entladen. Deutschland sei
reif für die Bürgerbeteiligungsfrage, glaubt der Journalist. „Stuttgart 21 war
da ein Kulminationspunkt.“ S.165
das Geld fehlt, dafür haben die Menschen kein Verständnis“, führt der Bundestagsabgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen aus.
Bahnhof als Metapher:
In Stuttgart 21 wurde nicht nur über ein Bauprojekt verhandelt –
sondern über das grundlegende Verständnis von Demokratie und
Beteiligung in unserer Gesellschaft
Zwei Paar Schuhe:
Obwohl ein Projekt wie der geplante Bahnhofsneubau juristisch legal
ist, ist es in der Wahrnehmung vieler betroffener Bürger noch lange
nicht legitim
AUF
EINEN
BLICK
Mit Fakten überzeugen:
Eine ausführliche Detaildiskussion schon im Vorweg eines Großprojekts kann offenbar Akzeptanz schaffen und eine Eskalation
verhindern
Stuttgarter Prototyp:
Der viel zitierte „Wutbürger“ ist empirisch belegt – auch wenn die
Begrifflichkeit umstritten bleibt
Sinnbild des Aufbegehrens
Einige Experten vertreten sehr nachdrücklich die Auffassung, dass sich in
den Ereignissen um Stuttgart 21 ein grundlegenderer Konflikt Bahn gebrochen hat. „Stuttgart 21 war ein Symbol dafür, dass Bürger nicht angemessen
mitgenommen wurden“, sagt etwa Sören Bartol. Die Zustimmung zu den Protesten habe nur in geringem Maße mit dem Projekt selbst zu tun gehabt.
„Bundesweit ging es eher um die Frage: ‚Wie werden Bürger beteiligt?‘ Es ging
um die Frage der Demokratie.“ S. 136
„Es lag jedenfalls nicht am Bahnhof, das allein hätte nicht zu so großer Aufmerksamkeit geführt“, glaubt auch Dieter Rucht. Nach Meinung des Sozialwissenschaftlers wurden bei Stuttgart 21 zwei allgemeine Themen mit verhandelt: „Erstens die Frage von Demokratieverständnis, Bürgerbeteiligung und
Transparenz. Und zweitens die Frage: Was bedeutet Fortschritt? Was bedeutet
Modernität?“ S. 244
Stuttgart 21 habe bei den Bürgern ein „Die-da-oben-Gefühl“ erzeugt, ist
Hans-Werner Fittkau überzeugt. Die Wahrnehmung, nicht richtig in die Planungen mit einbezogen worden zu sein, sei in Kombination mit der Sorge
62 ANALYSE
Dazu beigetragen hat laut Frank Brettschneider auch das damalige gesellschaftspolitische Umfeld in Deutschland. „Die allgemeine Stimmung vor dem
Hintergrund der Finanzkrise und die Perspektive der bevorstehenden Landtagswahl in Baden-Württemberg“ haben nach Auffassung des Professors für Kommunikationstheorie das Interesse an Stuttgart 21 überregional angekurbelt.
S.145 In dieser Situation habe sich die Frage gestellt, „ob die erheblichen
Investitionskosten und der verkehrswirtschaftliche Zusatznutzen eigentlich in
einem vernünftigen Verhältnis stehen“, ergänzt Thüringens Wirtschaftsminister Matthias Machnig.
Professionelle Kommunikation
Volker Kefer macht die besondere Dimension des Faktors Kommunikation
deutlich. Ingenieure tendierten dazu, sich sehr fachlich auszudrücken. „Etwas
so zu erklären, dass es die Öffentlichkeit einigermaßen nachvollziehen und verstehen kann, ist bislang nicht die große Kunst meiner Zunft“, so das selbstkritische Resümee des Ingenieurs und Technikvorstands der Deutschen Bahn AG.
Diese Erkenntnis habe inzwischen zu Veränderungen in der Argumentation
und auch in der Aufbereitung der Unterlagen geführt, betont der Topmanager.
S.198 Die Wichtigkeit einer einfachen Sprache betont auch der Präsident der Bundesnetzagentur: „Sie müssen diese komplizierten Zusammenhänge, die nur wenige Menschen wirklich im letzten Detail verstehen, in eine
bürgernahe Sprache übersetzen. Das ist eine große und ungewohnte Aufgabe
für eine Behörde“, meint Jochen Homann. S.195
Volker Kefer regt zugleich ein Nachdenken über die Begriffe Legalität und
Legitimation an: „Legal war bei Stuttgart 21 alles. Dass es auch legitim war,
wurde von den Projektgegnern in Abrede gestellt.“ Beides dürfe in der Gesellschaft nicht auseinanderdriften, mahnt der Bahn-Vorstand. S.199
Protest gegen Stuttgart 21
Folgt man manchen Experten, waren offenbar die Gegner des Bahnhofsprojektes im Hinblick auf die Kommunikation weitaus besser aufgestellt.
Laut Patrick Döring sind die Proteste bundesweit vermarktet worden. Auch
Stephan Kohler kommt zu dem Schluss: „Das professionelle Projektmanagement der Proteste hatte eine neue Qualität.“ Gepaart mit einer gut organisierten Medienkampagne habe man den Protesten so republikweite Aufmerksamkeit beschert, analysiert der Vorsitzende der Geschäftsführung
der Deutschen Energie-Agentur (dena). Für große Aufmerksamkeit sorgte
laut Frank Brettschneider nicht zuletzt die Einbeziehung öffentlicher Personen wie etwa des Schauspielers Walter Sittler. S.145
5 Exkurs Stuttgart 21 63
Spätes Erwachen
Dass die organisierten Proteste auf der Straße erst relativ spät einsetzten,
erklärt Dieter Rucht mit der weit zurückreichenden Historie des Projekts.
„Wenn man die Planungsgeschichte genauer verfolgt, dann war für die Stuttgarter lange nicht klar, ob dieses Projekt jemals Wirklichkeit wird.“ Nach einem
sich über Jahrzehnte erstreckenden Diskussionsprozess und dem gescheiterten Versuch eines Bürgerbegehrens im Jahr 2007 hätten „in der späten Phase
dann viele Leute gesagt: ‚Jetzt ist eben die letzte Gelegenheit und jetzt bin ich
auch mit dabei‘“, erläutert der Wissenschaftler.
Für Helmut Klages ist das verständlich, auch weil die Menschen sich schlichtweg nicht mehr daran erinnern könnten, „dass am Beginn der Planungen vor
zig Jahren eine Bürgerumfrage oder irgendeine größere Veranstaltung
gemacht worden war“, wie der emeritierte Professor für Sozialwissenschaften
sagt. S. 202 Anders sieht das der stellvertretende Fraktionsvorsitzende
der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Michael Fuchs: „Das Thema wurde zigmal
im Stadtrat von Stuttgart behandelt und alle Presseorgane haben darüber
berichtet. Die Bevölkerung hätte eigentlich informiert sein müssen.“ S. 169
Auch Rainer Baake hält die Kritik an den späten Protesten im Grundsatz für
berechtigt. Gleichzeitig schränkt der Direktor der Stiftungsinitiative Agora
Energiewende ein: „Auf der anderen Seite haben diejenigen, die geplant und
genehmigt haben, offensichtlich nicht das ihre dazu beigetragen, dass das Vorhaben und seine Folgen transparent wurden.“
Ambivalente Rolle der Medien
Eine Reihe von Experten billigt den Medien eine wichtige Rolle bei den Vorgängen rund um Stuttgart 21 zu. Dass die Demonstrationen vor dem Bahnhof in der bundesweiten Wahrnehmung so präsent waren, „ist sicherlich auch
der Berichterstattung geschuldet, denn über die Proteste wurde zur besten Sendezeit berichtet“, meint Manfred Güllner, Geschäftsführer von forsa. Wie
einige andere Experten auch sieht der Meinungsforscher das Verhalten der
Medien im Fall Stuttgart 21 nicht unkritisch. „Wenn die Medien so tun, als
gehöre es zum guten Ton, dass man in Stuttgart auf die Straße geht, und die
Bürger dann meinen, sie würden die Mehrheit verkörpern, dann gehen sie auch
eher zu den Protesten“, rügt Güllner die in seinen Augen bestehende Tendenz
der Medien, Zerrbilder zu produzieren. Frank Brettschneider bezeichnet diesen Effekt etwas neutraler als „ein sich selbst verstärkendes System“. Die nationale Aufmerksamkeit für Stuttgart 21 sei auch durch besonders medienwirksame Motive geschürt worden, glaubt der Wissenschaftler und erinnert
an „die starken Bilder, wie den Bagger beim Nordf lügel und weinende ältere
Frauen, die davorstanden“. S. 145
Insgesamt positiv beurteilt Volker Kefer die Rolle der Medien bei Stuttgart
21. Die Live-Berichterstattung sei ein sehr effizientes Mittel gewesen, um
64 ANALYSE
viele Menschen zu erreichen. Überrascht war der Bahn-Manager „von der
überwiegend ausgewogenen Berichterstattung. Mal mit einer Verstärkung des
einen Argumentes, mal mit einer Verstärkung des anderen, aber immer erfreulich sachlich.“ S.198
Seine eigene Zunft nimmt auch der Journalist Michael Bauchmüller in Schutz;
Stuttgart 21 sei kein leicht konsumierbares Medienspektakel gewesen, sondern „ein Prozess, der öffentlich zur Schau getragen wurde“, urteilt der Redakteur der Süddeutschen Zeitung. S.141
Web 2.0 als Katalysator
Eine besondere Dynamik haben den Protesten von Stuttgart 21 nach Meinung mehrerer Experten die digitalen Medien verliehen. Gerd Landsberg ist
überzeugt: „Was bei den Protesten gegen Stuttgart 21 neu war, waren die
starke Vernetzung über neue Kommunikationsformen (Facebook etc.), das hiermit verbundene schnelle Aktivieren der Protestierenden und ein Stück weit
auch die mediale Begleitung der Proteste.“
„Manchmal habe ich das Gefühl, es gab bei Stuttgart 21 ganze Bataillone von
Wutbürgern, die dann zu Hause saßen und diese Art von Öffentlichkeit mit organisierten“, sagt auch Hans-Werner Fittkau. Heute sei es viel schneller und einfacher, sich für Dinge zu interessieren und sich dann auch dafür oder dagegen
zu engagieren. „Früher hätte man ein Flugblatt in die Hand bekommen. Heute
geht man einfach ins Netz“, macht der PHOENIX-Journalist plastisch. S.166
In den Augen von Manfred Güllner verfälschen die neuen Medien das seiner Meinung nach ohnehin verzerrte Meinungsbild zusätzlich. Er kritisiert:
„Zum Beispiel sieht man bei Stuttgart 21 im Netz nur Gegner und denkt, die
ganze Welt sei gegen das Projekt. Menschen, die sich in der wirklichen Welt
nicht artikulieren, die tun das auch nicht im Netz.“ Das Internet berge die
Gefahr, dass bestimmte Meinungen einseitig dominierten, beklagt der
Demoskop. S.172
Lob der Transparenz
Dass sich am Ende eine offenbar „schweigende Mehrheit“ der Bahnhofsbefürworter durchgesetzt hat, halten viele Experten für eine bemerkenswerte Dialektik von Stuttgart 21. Mehrfach wird die Transparenz, die mit dem Schlichtungsprozess praktiziert wurde, als entscheidendes Moment hervorgehoben.
Rainer Baake etwa hält die Schlichtung für bereichernd, „weil sie von wirklich
sehr vielen Bürgerinnen und Bürgern verfolgt wurde – sicherlich auch von vielen,
die sich vorher wenig mit dem Thema auseinandergesetzt hatten. Diese Transparenz hat den Meinungsbildungsprozess enorm vorangetrieben“ (vgl. Abb. 5.1).
Nicht nur Bundesumweltminister Peter Altmaier lobt in diesem Zusammen-
15
Sollte zukünftig bei strittigen Großprojekten
wie Stuttgart 21 vor einer Entscheidung ein
Schlichtungsprozess stattfinden?
JA 74 %
NEIN 20%
Weiß nicht: 6%
—
Abb. 5.1
Quelle: ZDF Politbarometer/Forschungsgruppe Wahlen, 2010
5 Exkurs Stuttgart 21 65
hang die Rolle von Heiner Geißler: „Sein entscheidendes Verdienst besteht
darin, dass er für Transparenz gesorgt und den Eindruck vermittelt hat, dass
die Schlichtung ergebnisoffen war. Beides zusammen hat dazu geführt, dass
sich sowohl Befürworter als auch Gegner auf ein Verfahren einlassen mussten,
dessen Ausgang sie nicht kannten. Das hat die legitimierende Wirkung des
Schlichterspruches erheblich verstärkt.“ Die intensive argumentative Debatte
habe auch Menschen ohne unmittelbare Betroffenheit mobilisiert, so die Einschätzung des Spitzenpolitikers. S. 121
Schlüssel liegt im Detail
Eine Reihe von Fachleuten erkennt in dieser Detailliertheit der Auseinandersetzung einen ausschlaggebenden Faktor. „Bis zur Schlichtung waren die Diskussionen eher schlaglichtartig“, sagt Bahn-Vorstand Volker Kefer. „In der Schlichtung
hatten wird die Gelegenheit, im Detail und in Länge die einzelnen Themen auszudiskutieren. Dadurch konnten die Zuschauer beurteilen, wie tragfähig die Argumente sind.“ Ein weiterer großer Vorteil der Schlichtung sei gewesen, dass Befürworter sowie Gegner am Tisch saßen, „und zwar jeder Couleur. Da muss man sich
mit allen auseinandersetzen“, resümiert der Topmanager der Bahn. S. 196 f.
Die Sachlichkeit der Schlichtung hat auch Redakteur Michael Bauchmüller
beeindruckt: „Diejenigen, die das verfolgt haben, wurden angenehm überrascht und erlebten, mit welcher Ernsthaftigkeit dort gerungen wurde. Das ist
etwas, was man im politischen Prozess so normalerweise nicht vorfindet.“ Eine
komplexere Auseinandersetzung sei dem Wahlvolk offenbar durchaus zuzumuten, findet der Medienvertreter. S. 141 f.
Der Wutbürger – ein Stereotyp?
Über Stuttgart 21 zu reden, heißt auch, über einen Typus nachzudenken, der
wie kein anderer der Kontroverse um den Bahnhof seinen Stempel aufgedrückt hat: den 2010 vom SPIEGEL-Autor Dirk Kurbjuweit zum Leben erweckten Wutbürger (DER SPIEGEL Nr. 41/2010). Wissenschaftlich untersucht hat
den Wutbürger der Demokratieforscher Professor Franz Walter. Den empirischen Untersuchungen zufolge geht es dem sozial und materiell privilegierten Wutbürger in der Tat primär um eigene Interessen. Wie die Forscher vom
Göttinger Institut für Demokratieforschung unter anderem herausgefunden
haben, sind Grundstückseigentümer und Hausbesitzer bei dieser Gattung von
Protestierern überproportional vertreten (Walter 2011: 2–4). Dazu passt auch
die Feststellung der beiden Wissenschaftler Swen Hutter und Simon Teune,
Proteste seien „in erster Linie ein Mittelstandsphänomen und weniger ein Ausdrucksmittel der am stärksten Benachteiligten“ (Hutter/Teune 2012: 14). Wie
bewerten die Experten den Begriff, der noch im gleichen Jahr zum „Wort des
Jahres“ gekürt wurde? Ist der Typus des Wutbürgers tatsächlich repräsentativ? Oder doch nur eine Platitude? Wie sich im Gespräch mit den Fachleuten
66 ANALYSE
herausstellt, polarisiert die Vokabel. Eberhard Pausch hält sie für angebracht.
„Die Bürger und Bürgerinnen ärgern sich oft über bestimmte Dinge, insofern ist
das Wort von den Wutbürgern hier auch nicht unberechtigt“, findet der Oberkirchenrat. „Den Phänotypus gibt es wirklich“, bestätigt auch Hans-Werner
Fittkau. Er trete mit einer Vehemenz auf, die nicht demokratischem Duktus
entspreche, legitimiert der PHOENIX-Journalist den plakativen Begriff des
Wutbürgers. S.164 Ähnlich sieht das Stephan Kohler: „Man kann die Leute
schon als ‚Wutbürger‘ bezeichnen. Das sind eben Leute, die praktisch keine Veränderung in ihrer direkten Lebensumwelt haben möchten.“
Den vielbeschworenen Wutbürger gebe es, stimmt Rainer Baake zu. „Aber
das ist nicht die Mehrzahl und das sind nicht die Leute, die in der Lage wären,
einen solchen Protest auf die Beine zu stellen, wie wir ihn bei Stuttgart 21
erlebt haben.“
Unzulässige Vereinfachung
Wieder andere Fachleute empfinden den Begriff des Wutbürgers als völlig
unzutreffend. „Ich habe ihn selber auch schon verwendet“, räumt Journalist
Michael Bauchmüller ein, „aber der Begriff macht es sich zu einfach. Es ist nicht
einfach nur der Bürger, der jetzt mal seiner Wut freien Lauf lässt. Im Grunde
reduziert es diese Emotion einfach nur auf einen Wutausbruch. Aber es besteht
ja schon auch ein berechtigtes Interesse des Bürgers, und sei es nur, gehört zu
werden.“ Manfred Güllner hält es für „großen Unfug“, dass man Stuttgart 21 zu
einem Protest der Wutbürger hochstilisiert habe. „Die Mehrheit war vielmehr
voller Wut über die ‚Wutbürger‘ und hat sie durch das Votum abgestraft“, stellt
der forsa-Chef mit Blick auf die Volksabstimmung klar. S.172 Ähnlich kritisch gehen die Politiker Sören Bartol und Oliver Krischer mit der Phrase ins
Gericht. Der SPD-Bundestagsabgeordnete findet, „der Begriff reduziert Menschen, die eigentlich mitmachen und beteiligt werden wollen, auf eine Gefühlsregung. Für mich sind das Mitbürger, die mitwirken wollen und sich Zeit dafür
nehmen.“ In der Expertenkritik wird der Vorwurf deutlich, dass das Klischee
des Wutbürgers all jenen Menschen nicht gerecht wird, die aus echter Betroffenheit ihre Vorbehalte artikulieren. In einer demokratischen Gesellschaft
müsse es aber „etwas absolut Selbstverständliches“ sein, wenn Bürger sich mit
Empathie engagierten, hält der Grünen-Politiker fest. Dem kann Hans-Jürgen
Brick, Mitglied der Geschäftsführung von Amprion, aus der Praxis des Netzausbaus heraus nur beipflichten: „Wir haben es bislang bei unseren Leitungsbauprojekten nicht mit Wutbürgern zu tun, sondern mit Betroffenen, die ihre
Interessen zu Recht artikulieren.“ S.151
„Wutbürger“
Unionspolitiker Joachim Herrmann will daher auch lieber vom „Aktivbürger“
als vom Wutbürger sprechen. Bürgerliches Engagement sei „in einer demokratischen Gesellschaft wie der unseren absolut wünschenswert. Deswegen brauchen wir ‚Aktivbürger‘, die sich konstruktiv in die Gesellschaft einbringen und
dabei nicht nur ihre Wut äußern, sondern aktiv nach Lösungen suchen.“ S.189
5 Exkurs Stuttgart 21 67
Explosives Gemisch
Es bleibt zu rekapitulieren: Wenn man den Einschätzungen der Experten zu
Stuttgart 21 folgt, gab es bei dem Bahnhofsvorhaben offenbar ein brisantes
Zusammentreffen von allgemeinen gesellschaftspolitischen Entwicklungen
mit den ganz spezifischen Umständen zum Zeitpunkt des Spatenstichs. Die
heutzutage in weiten Teilen der Bevölkerung empfundene Entfremdung von
Politik und Wirtschaft (vgl. hierzu auch Kapitel 4, S.48 ff.) erzeugte vor dem
Hintergrund der Finanz- und Wirtschaftskrise und zusätzlich aufgeheizt
durch die Vorwahlkampfstimmung im Ländle eine Gemengelage, in der viele
Menschen offensichtlich gute Gründe fanden, das Projekt mit besonderem
Argwohn zu begleiten.
Gleichzeitig schienen die Stuttgarter Bürger trotz der in den Vorjahren ordnungsgemäß absolvierten Planungs- und Beteiligungsprozesse nicht das
Gefühl zu haben, in „ihr“ Bahnhofsprojekt hinreichend mit einbezogen worden zu sein. Das Beispiel Stuttgart 21 zeigt, dass behördliche Genehmigungsverfahren noch lange kein „Freifahrtschein“ für die reibungslose Durchführung eines Vorhabens sind und (rechtliche) Legalität und (moralische)
Legitimität in der Wahrnehmung vieler Menschen offensichtlich zweierlei
sind. Ein wichtiges Learning aus Stuttgart 21 besteht folglich darin, dass es
eine fortdauernde Notwendigkeit ist, selbst ein bereits genehmigtes Vorhaben ex post gegenüber den Bürgern immer wieder aufs Neue zu begründen
und zu „bewerben“.
Bei Stuttgart 21 wurde mit der Schlichtung und abschließenden Volksabstimmung nachgeholt, was im Vorweg versäumt worden war und was fast alle
Experten den Vorhabenträgern nahelegen: eine frühzeitige und ausführliche
Faktendiskussion des Projekts in all seinen Facetten. Die Mühen einer solch
detaillierten Auseinandersetzung scheinen sich zu lohnen. Im konkreten Fall
von Stuttgart 21 vermochten sie, wie die Experten darlegen, offenbar die
schweigende Mehrheit der Bahnhofsbefürworter zu mobilisieren. Gleichwohl
empfiehlt sich nach Meinung vieler Fachleute, solche Anstrengungen schon
deutlich früher zu unternehmen und nicht erst, wenn, wie im Fall von Stuttgart 21, der Konflikt bereits eskaliert und zum medialen Skandalthema herangewachsen ist.
Bevor es um die Frage geht, wie solch ein konstruktiver Dialog aller Parteien
möglicherweise auch ohne Schlichtung gelingen kann, erörtert die Untersuchung in folgendem Kapitel zunächst die Ausgangssituation zwischen Vorhabenträgern auf der einen und NGOs auf der anderen Seite. Dabei geht es
nicht nur um das instrumentelle, sondern auch um das „moralische“ Rüstzeug
der jeweiligen Interessengruppen.
68 ANALYSE
6
Vorhabenträger und NGOs:
Im Wettbewerb mit
unterschiedlichen Waffen
Wie kann die gesellschaftliche Auseinandersetzung um große Infrastrukturprojekte gelingen? Zur Beantwortung dieser Frage gehört auch eine möglichst objektive Einschätzung der „Wettbewerbsbedingungen“, unter denen
die beteiligten Akteure ihre jeweiligen Interessen durchzusetzen versuchen.
Im Expertenkreis wird diese Ausgangssituation sehr differenziert analysiert.
In den Augen der meisten Fachleute sind die NGOs den Projektplanern in
Sachen Deutungshoheit, Glaubwürdigkeit und Professionalisierung überlegen. Besonders die Geschwindigkeit und Mobilisierungsfähigkeit der NGOs
wird hervorgehoben.
Die durch die Fachleute attestierte hohe Glaubwürdigkeit und Meinungsmacht von NGOs wird durch empirische Untersuchungen belegt. So werden
einer Umfrage zufolge NGOs von Journalisten generell als glaubwürdige
Quellen herangezogen, nur Forschungsinstituten und Universitäten schenken die Medienvertreter ein noch höheres Vertrauen (vgl. Abb. 6.1).
16
Glaubwürdigkeit von NGOs im Vergleich zu
anderen möglichen Informationsquellen
(Viel) höher
(Viel) geringer
76%
Parteien
14%
65%
Die (Medien-)Arbeit der Nichtregierungsorganisationen genießt laut Folgeumfrage unter den Journalisten einen sehr guten Ruf. NGOs nehmen
demnach eine dem Pressewesen vergleichbare Rolle als vierte beziehungsweise eigenständige fünfte Gewalt im Staate ein. Nach Einschätzung der
Journalisten hat der Einfluss von NGOs in den vergangenen Jahren stetig
zugenommen und wird auch in Zukunft weiter wachsen (prmagazin
04/2012: 46 ff.).
Gleich
10%
12%
23%
12%
24%
Wirtschaftsverbände
64%
Unternehmen
16%
40 %
44%
Forschungsinstitutionen oder Universitäten
—
Abb. 6.1
Quelle: prmagazin/com.X, 2012
6 Vorhabenträger und NGOs 69
Christoph Bals, Geschäftsführer von Germanwatch, erklärt den Bedeutungszuwachs so: „An die Stelle der Romantik ist eine neue Ernsthaftigkeit getreten.
NGOs sind heute als Gesprächspartner stärker akzeptiert und werden ernst
genommen, weil die wissenschaftliche Untermauerung von dem, was sie sagen,
wesentlich größer ist.“ S. 135
Hohes Ansehen:
NGOs genießen in der Bevölkerung und bei den Medien eine
besonders hohe Glaubwürdigkeit und werden als wichtige Vertreter
gesellschaftlicher Interessen geschätzt
Emotionale Ressourcen:
Projektplaner werden mit materiellen Mitteln allein die Deutungshoheit der NGOs nicht kompensieren können
AUF
EINEN
BLICK
David gegen Goliath:
Verfestigte Rollenbilder verhelfen den NGOs im Vergleich zu den Vorhabenträgern häufig zu einem Sympathievorsprung
Miteinander statt gegeneinander:
Die Energiewende bietet die Chance, das Verhältnis zwischen NGOs
und Wirtschaft neu zu definieren
Lohnende Investition:
Wirtschaftliche Beteiligung der Bürger an Großvorhaben kann deren
Akzeptanz in der Bevölkerung steigern
Nach Auffassung vieler Experten machen die Fähigkeiten der NGOs und ihre
mediale Kompetenz den klaren Vorsprung wett, den auf der anderen Seite die
Unternehmen in Bezug auf ihre finanzielle Ausstattung und ihre Einflussmöglichkeiten haben. Folgt man den Fachleuten, herrscht trotz sehr unterschiedlicher Ausrüstung beider Parteien dennoch eine Art „Waffengleichheit“.
Der grüne Bundestagsabgeordnete Oliver Krischer beschreibt die Ausgangslage wie folgt: „Ein Unternehmen hat viel Geld und in der Regel auch
Zugang zu Medien. Wenn ein Unternehmen sich geschickt anstellt und seine
Möglichkeiten voll nutzt, ist es im Vorteil. Bürgerinitiativen engagieren sich
nach Feierabend und haben meistens nicht mehr als einen Computer zur Verfügung. Was sie allerdings Unternehmen oft voraus haben, ist, dass sie mit
Engagement, Begeisterung und Empathie – manchmal auch negativer Begeisterung – bei der Sache sind. Das kann man bei vielen Unternehmen nicht professionell generieren.“ Zu einem ganz ähnlichen Schluss kommt Politikwissenschaftler Ulrich von Alemann: „Die Projektbetreiber haben viel mehr
Ressourcen, um professionelle Kommunikationskampagnen einzusetzen. Die
Projektgegner dagegen, wie Bürgerinitiativen, haben in der Regel weniger
70 ANALYSE
Mittel. Nur diese wenigen Mittel sind häufiger mit einer höheren Glaubwürdigkeit und größerem Engagement – eben mit Herzblut, das auch mal
in Wallung kommen kann – verbunden.“ S.267
Von NGOs lernen?
Dass Vorhabenträger in puncto Kommunikation und Kampagnenfähigkeit
von den NGOs lernen können, ist eine häufig anzutreffende Einschätzung.
„Wenn die Unternehmen sich anschauen, wie die Umweltverbände agieren,
welche Leute sie engagieren, welche Medien sie einsetzen, dann müssen sie
anschließend selber entscheiden, ob sie nicht in ihrer eigenen Kommunikationsstrategie noch etwas verbessern können“, drückt der Direktor der Stiftungsinitiative Agora Energiewende, Rainer Baake, es diplomatisch aus. S.127
Deutlicher wird Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider, der
feststellt: „Große NGOs sind inzwischen richtig ausgefuchste KampagnenMaschinen, die genau wissen, was sie machen müssen, um Berichterstattung zu
generieren.“ Auch beim Einsatz von Social Media seien NGOs Unternehmen
allein vom Tempo her überlegen. S.146 Dies erklärt Regine Günther so:
„Social Media setzt ein gewisses Maß an Schnelligkeit voraus. Dies fehlt gerade
großen Unternehmen sehr häufig. Plakativ gesprochen: Bis in einem Unternehmen ein Foliensatz abgestimmt ist, können Wochen vergehen. Twittern muss
man aber in Minuten.“ S.179 NGOs erhielten auch viel Unterstützung von
Stiftungen und würden inzwischen über eine gute finanzielle Ausstattung
verfügen, stellt dena-Chef Stephan Kohler fest. „Hinzu kommt, dass sie die
Diskussion schnell und professionell bedienen.“ Nach Meinung von Bundesumweltminister Peter Altmaier haben NGOs auch deshalb einen Vorsprung, weil
sie oft monothematisch strukturiert seien und sich mit einem ganz konkreten
Vorgang beschäftigten. S.122 (vgl. Abb. 6.2)
17
Einfluss und Verhalten von NGOs
Bewertung auf einer Skala von:
1 =“stimme voll und ganz zu“ bis 6 =„stimme gar nicht zu“
Zustimmung (Skalenpunkte 1-3)
1
Gesamt
2
3
82%
NGOs sind eine wichtige gesellschaftliche Kraft,
die wie der Journalismus als Erweiterung der drei
klassischen Gewalten beschrieben werden kann.
1
2
3
76%
Medien übernehmen Informationen von
NGOs eher ungeprüft als von Unternehmen
oder der Politik.
1
2
3
63%
Unternhemen haben es schwer, Ihre eigene
Position in den Medien darzustellen, wenn sie von
NGOs kritisiert werden.
—
Abb. 6.2
Quelle: prmagazin/com.X, 2012
Günther Bachmann sieht zwar auch die Projektträger gut aufgestellt. „Initiatoren haben viele Vorteile, Informationen und ‚Macht‘ über das Wissen um
Vorläufe und technische Details“, so die Einschätzung des Generalsekretärs
des Nachhaltigkeitsrates. Allerdings setzten die Projektgegner oftmals Lerneffekte rascher um. „In den Startpositionen sehe ich keine großen Unterschiede, aber die Lernkurven verlaufen sehr unterschiedlich. Projektgegner wie
NGOs bewegen sich einfach schneller.“ S.131
David gegen Goliath-Bonus
Die Gruppierungen der Projektgegner seien mit sehr viel Enthusiasmus dabei
und verfügten häufig über ein erstaunlich großes Wissen, bestätigt Volker
Kefer. Gleichzeitig sieht er deren Rolle auch kritisch: „Die Kampagnen von
NGOs oder Bürgerinitiativen führen oft weg von der sachlichen Auseinandersetzung“, meint der Technikvorstand der Deutschen Bahn und wünscht sich,
„dass Inhalte und Sachargumente mehr in den Vordergrund kommen“. S.197 f.
6 Vorhabenträger und NGOs 71
Ähnlich beurteilt das Elisabeth Schick: „NGOs emotionalisieren auf jeden Fall
besser als Unternehmen, in dieser Hinsicht können wir sicherlich noch etwas lernen.“ Auf der anderen Seite seien Verbraucher zunehmend dafür sensibilisiert,
wenn etwas aufgesetzt oder aggressiv sei, meint die Leiterin der Unternehmenskommunikation von BASF. S. 251 „NGOs besitzen in der Bevölkerung
eine hohe Glaubwürdigkeit, insbesondere weil man ihnen keine Profitorientierung unterstellt“, erklärt der RWE-Manager Johannes F. Lambertz den Sympathiebonus der Projektgegner. S. 219 Dem stimmt Jochen Homann, Präsident der Bundesnetzagentur, zu. Man vermute bei NGOs, „dass sie etwas
Gutes tun. Damit haben sie automatisch eine bessere Position als die Industrie, der nur egoistische Motive unterstellt werden.“ S.194 Wissenschaftler
sprechen in diesem Kontext auch vom „Solidarisierungseffekt mit den vermeintlich Schwächeren, die sich eines übermächtigen Gegners erwehren
müssen“ (Bergmann 2012: 18 f.).
Dieter Rucht schließlich hält nichts davon, die Strategien der NGOs nachzuahmen. „Denn es ist nicht eine Frage des Kopierens von bestimmten Techniken der
Mobilisierung oder der Cleverness in der Imagewerbung.“ Stattdessen gehe es
darum, die Menschen ernst zu nehmen und mit ihnen eine offene und ehrliche Kommunikation zu pflegen. „Schwächen und Fehler einzuräumen, Nachteile zu benennen – dies alles gehört mit dazu“, ist der Sozialwissenschaftler
überzeugt. S. 246 Die wahrgenommene moralische Überlegenheit der
NGOs sei keine Frage der Technik, findet auch Hans-Werner Fittkau. „Der
Unternehmer an sich ist der Böse, selbst wenn der über Facebook alle Register
ziehen würde. Im Gegensatz dazu kommen die NGOs im Brustton der Überzeugung, des moralischen Impetus daher“, schildert der stellvertretende Redaktionsleiter von PHOENIX die kulturelle Herausforderung. S.166 Wichtiger
als die Auswahl der technischen Mittel sei, die Menschen so anzusprechen,
dass man verstanden und vor allem als glaubwürdig wahrgenommen werde,
meint im gleichen Zusammenhang Rainer Baake. S.127
Schulterschluss üben
Mehrere Experten sehen im Schulterschluss mit den Umweltverbänden und
Bürgerinitiativen einen wichtigen Aspekt der Beteiligungsarbeit, so etwa der
SPD-Bundestagsabgeordnete Sören Bartol: „Sowohl die Medienkompetenz als
auch die fachliche Kompetenz sind gestiegen. Die NGOs können sich auf ein
ganzes Geflecht an haupt- und ehrenamtlichen Experten stützen, wie man auch
bei Stuttgart 21 beobachten konnte. Für Betreiber und Behörden hat es den
Vorteil, dass sie sich dieses Know-how zu Nutze machen können. Das ist nicht
einfach ein Gegen-Know-how, sondern das ist fachliches Know-how.“ S.138 f.
NGOs frühzeitig einzubinden, empfiehlt auch Gerd Landsberg, „weil hier
häufig sehr versierte Experten arbeiten. Diese können ihr Fachwissen mit
einem Mehrwert für alle in die Planung einbringen. Wenn eine Kommune diese
Experten daher früh einbezieht und dann auch gemeinsam zu einer Projektent72 ANALYSE
wicklung im Konsens kommt, ist das jedenfalls sehr viel sinnvoller, als wenn der
Planungsträger bereits eine ‚fertige Planung‘ erstellt hat. Transparenz und
Ergebnisoffenheit sind daher auch hier die Gebote der Stunde“, so der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes. S.223 Was
die Energiewende anbetrifft, gebe es viele NGOs, die bereit seien, sich bei
Infrastrukturfragen konstruktiv einzubringen und ihre Verantwortung dafür
wahrzunehmen, betont Matthias Machnig. S.227
Das bestätigt NGO-Vertreter Christoph Bals. „Im Moment erleben wir im
Rahmen der Energiewende, dass sich die Wirtschaft wie die NGOs neu sortieren.“ Der Geschäftsführer von Germanwatch sieht die NGOs dabei nicht
mehr allein als Protest-, sondern auch als Gemeinwohlorganisationen. Dieses neue Rollenverständnis sei durchaus eine Herausforderung für die Nichtregierungsorganisationen, so Bals selbstkritisch. „Es geht darum, die Transformation der Gesellschaft gerade hin zu neuen Technologien, die eher Teil
der Lösung und weniger Teil des Problems sind, massiv voranzutreiben. Das ist
tatsächlich ein Punkt, wo viele Nichtregierungsorganisationen – auch wir als
Germanwatch – durchaus immer wieder ref lektieren müssen. Es ist als NGO
nicht nur unsere Aufgabe zu protestieren, sondern auch notwendigen Änderungen Legitimität zu verschaffen. Nicht umsonst unterstützen und verteidigen wir
den Netzausbau dort, wo er tatsächlich notwendig ist.“ S.135
David gegen Goliath – Stuttgart 21
Umstritten: Finanzabgabe
an Projektgegner
Könnte eine faire Sachauseinandersetzung dadurch begünstigt werden, dass
ein bestimmter Prozentsatz der gesamten Projektmittel den Gegnern zu
Kommunikationszwecken zur Verfügung gestellt wird? Ein entsprechender
Vorschlag des Parteienforschers Ulrich von Alemann S.264 f. wird unter
den Experten äußerst kontrovers diskutiert. Ein für viele wichtiger Aspekt ist
dabei die Finanzierung von Gegengutachten. Rainer Baake etwa hält es für
einen „ganz wichtigen Punkt, dass wir in den Verfahren die finanzielle Voraussetzung dafür schaffen, dass Gegner ihre Sachargumente gutachterlich prüfen
lassen können“. In der Forderung nach Finanzierung von Gegengutachten
stimmt neben anderen auch Sören Bartol mit ihm überein, der jedoch zu
bedenken gibt: „Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass NGOs von außen
finanziert werden wollen. Da gibt es eher ein großes Misstrauen.“
Gisela Erler hält den Vorschlag im Grundsatz für eine gute Idee. Zusätzlich zur
Finanzierung schlägt die Grünen-Politikerin und Staatsrätin für Zivilgesellschaft
und Bürgerbeteiligung der baden-württembergischen Landesregierung vor,
„die von einem Projekt betroffene Region oder Kommune durch Kompensationsdeals zu entschädigen, beispielsweise durch neue Sportplätze, Arbeitsplätze für
Jugendliche oder Trainingsprogramme“. S.162 Eine Auffassung, der Hildegard
Müller widerspricht: „Da wäre ich vorsichtig, denn bei Projekten, die der Allge6 Vorhabenträger und NGOs 73
meinheit dienen, müssen die Bürger als Teil dieser Gesellschaft auch gewisse
Lasten tolerieren“, findet die Hauptgeschäftsführerin des Bundesverbandes
der Deutschen Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW). S.229
Volker Kefer glaubt, dass über solche Fragen die Politik entscheiden sollte.
„Sie hat ja auch ein Interesse daran, Diskussionen möglichst ausgewogen stattfinden zu lassen.“ Bezahlen werde am Ende immer die Allgemeinheit. „Ein
Stück mehr an Demokratie kann also durchaus auch seinen Preis haben“, meint
der Bahn-Manager, betont aber zugleich, dass dieser in Relation zu den Budgets großer Infrastrukturprojekte eher im Promille-Bereich läge. S.197
Andere Fachleute wiederum begegnen dem Vorschlag mit deutlicher Zurückhaltung. „Den Vorschlag halte ich für nicht wirklich naheliegend; er zeigt lediglich, dass es auf beiden Seiten Akteure gibt, die dem jeweils anderen Lager
unterstellen, mit mehr und besseren kommunikativen Möglichkeiten ausgestattet zu sein“, urteilt Hamburgs Regierungschef Olaf Scholz. Gewerkschaftsfunktionär Michael Vassiliadis findet: „Das klingt sehr deutsch und auch ein
bisschen nach Klientelpolitik. Wir wissen, dass es am Ende die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer entweder mit der Lohnsteuer oder mit der Stromrechnung bezahlen.“ S. 263 Für Oliver Krischer macht es mehr Sinn, „von vornherein einen offenen Kommunikationsprozess zu organisieren und dafür das Geld
zu investieren“.
Der Vorschlag impliziere, dass im Moment keine Kommunikation auf
Augenhöhe stattfinden könne, so Industrievertreter Johannes F. Lambertz.
„Das ist unserer Erfahrung nach nicht der Fall.“ S. 218 Skeptisch zeigt sich
auch Hildegard Müller: „Bis jetzt kann ich nicht feststellen, dass der Widerstand gegen Projekte je am Geld gescheitert ist. Eine Aktion von Greenpeace
hat übrigens oftmals mehr Medienpräsenz als eine teure Medienkampagne
eines Unternehmens.“ S. 231 Für „absurd“ hält die Idee Manfred Güllner.
„NGOs und Bürgerinitiativen haben schon oft eine Resonanz, die gar nicht
ihrer wirklichen Verankerung bei den Bürgern entspricht.“ Eventuell sei es
nur eine kleine Minderheit, deren Vorschläge dann überproportional
berücksichtigt würden, begründet der forsa-Chef seine ablehnende Haltung. S. 174 Man müsse aufpassen, „dass das nicht wie Bestechung aussieht“, mahnt nicht zuletzt Wettbewerbshüter Justus Haucap.
Konsens:
Wer profitiert, akzeptiert eher
Im Gegensatz zu der äußerst umstrittenen Frage, ob Projektgegner von Projektträgern finanziell subventioniert werden sollen, herrscht in einem anderen
Punkt nahezu Übereinstimmung. Fast alle Experten sind der Überzeugung,
dass die wirtschaftliche Beteiligung der Bürger die Akzeptanz von Großvorhaben steigern kann.
74 ANALYSE
Skeptisch ist lediglich Manfred Güllner: „Wenn es nicht um Arbeitsplätze geht,
bin ich nicht sicher, ob irgendeine Art von finanzieller Bürgerbeteiligung etwas
bewirkt.“ Alle übrigen Befragten hingegen sehen darin ein wirksames und
probates Mittel. „Die Ökonomie ist definitiv eine Triebkraft“, glaubt nicht nur
Gisela Erler. S.162 Der Vorstandschef von REpower Systems, Andreas
Nauen, ist überzeugt: „Je mehr Beteiligung, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit von Protesten.“ S.234 Christoph Bals von Germanwatch hält finanzielle Beteiligung ebenfalls für sinnvoll: „Gut gemacht, kann es ein Instrument
des Benefit-Sharing sein.“
Dass eine wirtschaftliche Beteiligung sinnvoll ist, beweist laut Rainer Baake
das Erneuerbare-Energien-Gesetz, „weil zigtausende Bürger selbst zu Energieproduzenten und damit zu Profiteuren der Energiewende geworden sind“.
S.125 Zustimmung kommt auch von Gerd Landsberg: „Ja, es ist der richtige
Weg, dass man Bürger über Genossenschaftsmodelle beteiligt und für diese
einen greifbaren Mehrwert schafft. Denn man kann betroffenen Bürgern oder
Gemeinden nicht vermitteln, dass sie aus Gründen des Allgemeinwohls durch
den Überbau von Stromtrassen einseitig über die damit verbundenen Nachteile
die Lasten tragen sollen.“ Das bedeute nicht zuletzt Wertschöpfung für Kommunen. S.222 Dass die Region profitiert, ist für Oliver Krischer ebenfalls
ein Argument. Nach seiner Meinung hat sich das Modell der Bürgerbeteiligung insbesondere bei Windparks bewährt. „Ich kenne viele Fälle, wo es
keine Proteste gegen Windkraftanlagen gibt, sondern sogar die Forderung da
ist, mehr Flächen auszuweisen, weil die Leute das vor Ort selber machen und
da das eigene Kapital investieren.“ Die Menschen hätten ein anderes Verhältnis, wenn sie sagen können, „das ist unser Windrad, das da steht" oder
„unsere Solaranlage", als wenn die Anlage von einem Großkonzern oder
anonymen Investor errichtet werde, so der Grünen-Politiker. Mehr finanzielle
Beteiligung der Bürger gerade in der dezentralen Energieerzeugung hält
auch Krischers Politikerkollege Olaf Scholz für sinnvoll.
Laut Hildegard Müller fördern solche Modelle nicht nur die Akzeptanz der
unmittelbar Betroffenen, sondern führen „generell auch ein anderes Bewusstsein im Umgang mit der Sache herbei“. S.229 Ähnlich argumentiert Michael
Vassiliadis. Der Vorsitzende der Industriegewerkschaft IG BCE hält finanzielle
Beteiligungen für erfolgversprechend und sieht in ihnen „eine Basis nicht nur
für Akzeptanz, sondern für wirkliche Zusammenarbeit“. S.262
Auch inhaltlich
auseinandersetzen
Welchen Erkenntnisgewinn bringt die vorangegangene Analyse der Ausgangssituation? Sie zeigt, dass Unternehmen und Investoren trotz ihrer
finanziellen Überlegenheit offenbar gegenüber NGOs einen Wettbewerbsnachteil haben, was Aspekte wie Glaubwürdigkeit, Mobilisierungskraft und
6 Vorhabenträger und NGOs 75
Reaktionsgeschwindigkeit betrifft. Projektgegner mit Kapital zu unterstützen,
bleibt wohl auch deshalb eine umstrittene Idee. Sinnvoller erscheint dagegen
das Investment in Form von wirtschaftlichen Beteiligungen der Bürger, die
anscheinend den Zuspruch für Großvorhaben merklich erhöhen können. Das
allerdings darf nicht als Freibrief für Vorhabenträger verstanden werden, sich
der Kommunikation zu entziehen – im Gegenteil. Wie wichtig eine konstruktive inhaltliche Auseinandersetzung ist und wie allen Projektbeteiligten solch
ein Dialog auf Augenhöhe gelingen kann, untersucht das folgende Kapitel.
7
Ratio und Empathie:
Erfolgsfaktoren für einen
Dialog auf Augenhöhe
Die Auseinandersetzungen um Groß- und Infrastrukturprojekte, wie sie
im Zusammenhang mit der Energiewende anstehen, werfen grundsätzlich
Fragen zur Konflikt- und Diskurskultur all jener Akteure auf, die an den
entsprechenden Planungsverfahren beteiligt sind. Insbesondere in den
Kontroversen zwischen NGOs und der traditionellen Wirtschaft werden
von beiden Seiten gerne Stereotype bedient und wird Schwarzweiß malerei betrieben.
Wie kann die Gesellschaft es schaffen, diese Frontstellungen zu überwinden
und miteinander in den erforderlichen konstruktiven Dialog zu kommen,
den viele Experten gerade auch im Hinblick auf die Energiewende so dringend anmahnen? „Indem man den Graben verlässt. Einer muss damit anfangen“, so der Appell von Günther Bachmann, Generalsekretär des Nachhaltigkeitsrates. S.131 Dass Industrie und NGOs in der Vergangenheit in der Tat
zu wenig miteinander geredet hätten, räumt RWE-Vorstandsmitglied Rolf
Martin Schmitz ein. „Wir brauchen aber in Zukunft einen viel intensiveren Dialog miteinander, denn wir haben schließlich eine gemeinsame Verantwortung
für die Zukunft.“ S.255 Für eine frühzeitige Einbindung der Betroffenen
spricht sich auch die große Mehrheit der Fachleute aus. Noch hake es allerdings auf dieser diskursiven Ebene, so der SPD-Politiker Sören Bartol. Sowohl
den Behörden als auch manchem Betreiber falle es schwer, auf Augenhöhe
zu kommunizieren. „Stattdessen wird sehr stark von oben herab, formalistisch
und nach Vorgaben kommuniziert.“ S.138
76 ANALYSE
7 Ratio und Empathie 77
Für Projekte werben
Wie auch aus anderen Expertengesprächen hervorgeht, scheinen Politik und
Behörden sowie die Wirtschaft hier noch erhebliche Defizite zu haben. Unter
allen Befragten besteht eine bemerkenswerte Übereinstimmung darin, dass
Aufeinander zugehen:
Konflikte lassen sich eher überwinden, wenn Vorhabenträger aktiv
das Gespräch mit den betroffenen Bürgern suchen
Zuhören und verstehen:
Menschen für ein Projekt zu gewinnen, bedeutet auch, ihre Sorgen
und Vorbehalte ernst zu nehmen
Verschiedene Wege aufzeigen:
Zu einem konstruktiven Dialog gehört die ergebnisoffene Diskussion
echter Alternativen
AUF
EINEN
BLICK
Mit Fakten überzeugen:
Der intensive Austausch von Sachargumenten fördert einen Konsens
eher als aufwendige „PR-Schlachten“
Position beziehen:
Vorhaben und Zusammenhänge müssen immer auch durch die
Politik erklärt werden – die Bürger erwarten klare Statements
Einfache Formel:
Medien werden den komplexen Sachverhalten von Großprojekten oftmals nicht gerecht und produzieren daher Zerrbilder
vor allem Unternehmen ihre Kommunikation verbessern sollten, um in der
Bevölkerung mehr Akzeptanz für Infrastrukturvorhaben zu gewinnen – nicht
unbedingt in Bezug auf die Instrumente, sondern vielmehr was Art und
Inhalte betrifft. So sieht der Vorsitzende der Monopolkommission, Justus
Haucap, die Unternehmen in der Verantwortung, „sich vorher schon in die
Köpfe der potenziellen Betroffenen hineinzuversetzen und darüber nachzudenken, ob es möglicherweise wichtige Gründe geben kann, die gegen die Realisierung eines Projekts sprechen“. S. 183 Auch Matthias Machnig findet: „Unternehmen sollten frühzeitig Projekte zur Diskussion stellen und für diese Projekte
werben.“ Dabei müssten sie sowohl Themen wie den Naturschutz ernst nehmen als auch regional- und strukturpolitische Belange deutlich machen, so
der Wirtschaftsminister von Thüringen. S. 225 Den lokalen Bezug wieder
stärker in den Vordergrund zu stellen, empfiehlt Manfred Güllner insbesondere Energieunternehmen als vertrauensbildende Maßnahme. „Wenn das
Vertrauen in Unternehmen wächst, dann wächst auch das Vertrauen in die Pro78 ANALYSE
jekte, die das Unternehmen angeht“, ist der Geschäftsführer des Meinungsforschungsinstituts forsa überzeugt. S.175 „Wenn man den Menschen verständlich erklärt, worum es geht, und sie früh einbezieht, verringern sich aus
unserer Erfahrung die Konf likte drastisch“, so Andreas Nauen, der Vorstandsvorsitzende des Windindustrieunternehmens REpower Systems. S.234
„Nicht gegen allgemeine Entwicklungen ankämpfen, sondern verstärkt deren Folgen aufzeigen“, legt Rolf Martin Schmitz den Unternehmen als Maxime nahe.
S.254 Dabei sollten sie den Blick für das Ganze nicht vergessen, rät Michael
Vassiliadis. Sich bei einem konkreten Projekt um Glaubwürdigkeit zu bemühen, aber zur gleichen Zeit beispielsweise Personalabbau oder eine sehr unangemessene Erhöhung der Vorstandsbezüge anzukündigen, sei „völlig unglaubwürdig“, befindet der Gewerkschaftsvorsitzende der IG BCE. S.263
Handlungsbedarf erkannt
Bürger informiert zu halten, sei aufwendig, aber extrem wichtig, urteilt wie
fast alle Fachleute Roland Koch. „Gerade weil die Menschen heute so selbstbewusst sind und Einf luss nehmen wollen.“ Dem werde allerdings in den Entscheidungswelten mancher Unternehmern noch nicht genügend Platz eingeräumt, findet der Vorstandsvorsitzende von Bilfinger SE. S.206 Wie Koch
ist auch Investmentbanker Matthias Heck von der australischen Bank Macquarie davon überzeugt, dass heute die finanzielle Dimension von Bürgerbeteiligung eine rechnerische Größe für Unternehmen sein muss; diese müssten
die Bevölkerung stärker als Stakeholder betrachten, sagt der Finanzexperte.
„Ich sehe Bürgerbeteiligung mittlerweile als Bestandteil der wirtschaftlichen
Kalkulation von Unternehmen." S.186
Mehrere Experten denken, dass sich die Einsicht in derartige Notwendigkeiten bei den Investoren zunehmend durchsetzt. Auch wenn es noch Nachholbedarf gebe, ist sich Bayerns Innenminister Joachim Herrmann doch sicher,
„dass die Mehrzahl der Unternehmen langfristig einsehen wird, dass es sinnvoll ist, aktiv den Dialog zu suchen, und zwar schon aus Eigeninteresse. Es ist
wesentlich erfolgversprechender, wenn Unternehmen selbst auf die Bürger
zugehen, als das den Genehmigungsbehörden oder der Kommune vor Ort zu
überlassen.“ S.190 „Da entsteht eine völlig neue Kultur des Dialogs und des
Miteinanders“, zeigt sich auch Patrick Döring optimistisch. S.159
Politik soll Stellung beziehen
Seiner eigenen Zunft rät der FDP-Generalsekretär, sich bei der Beteiligung
der Bürger einzubringen und klar Position zu beziehen: „Gerade die Politik
gewinnt durch das Führen von auch komplexen Debatten Akzeptanz. Ich bin
der festen Überzeugung, dass wir die Debatten nicht anderen überlassen dürfen. Wir müssen mehr anerkennen, dass wir gewählt sind, um die Interessen
7 Ratio und Empathie 79
der Bevölkerung zum Wohle der Allgemeinheit zu vertreten, und durchaus parteiisch sein dürfen“, sagt der Berufspolitiker. Redakteur Michael Bauchmüller
von der Süddeutschen Zeitung verlangt von der Politik, dass sie für bestimmte
Technologien „auch in die Bütt steigt“. S. 143
Auf eine ähnlich kurze Formel bringt Johannes Lambertz seine Erwartungen
an die Politik: „Sie kann nicht nur Wellness verkünden, sondern muss deutlich
machen, dass alles Risiken und Nebenwirkungen hat“, fordert der Vorstandsvorsitzende der RWE Power AG. S. 216 Ebenfalls aus Sicht des privaten
Investors formuliert Rolf Martin Schmitz: „Die Politik trägt Verantwortung,
sich aktiv in den Prozess einzubringen. Sie muss sich positionieren und Nutzen
und Konsequenzen eines Projekts aus ihrer Perspektive erklären. Das Wichtigste
ist aber, dass man mindestens innerhalb von Koalitionen an einem Strang
zieht.“ S. 252 Nach Meinung von Roland Koch profitiert die Politik von Dialog- und Beteiligungsverfahren. „Je mehr man sich darauf einlässt, umso
weniger Raum gibt es letztlich für eine Empörung, die häufig aus der Nichtbeteiligung herrührt“, schildert der ehemalige Ministerpräsident von Hessen
seine Erfahrungen mit Mediationsverfahren, wie sie beim Ausbau des Frankfurter Flughafens praktiziert wurden. S. 204
Debatte um Lastenverteilung
Roland Koch sieht es zudem als Aufgabe von politisch Verantwortlichen an,
die mit einem Großprojekt zwangsläufig verbundenen Einschränkungen
gegenüber den Betroffenen zu erklären. „Regierungspolitik wird immer auch
darin bestehen, Lasten zu verteilen – und zu erklären, warum diese Lasten notwendig sind“, hält der Manager fest. S. 206 Für eine klare Rollenverteilung
plädiert Volker Kefer. „Wovon ich nichts halte, ist, wenn die Industrie versucht
die Rolle der Politik und umgekehrt die Politik die Rolle der Industrie zu übernehmen. Jeder sollte seine Rolle kennen und wahrnehmen.“ Die Politik sei im
großen Rahmen für die gesellschaftliche Meinungsbildung zuständig, findet
der Bahn-Vorstand. S. 197
Kraft der Argumente
Viele Experten halten eine sachbezogene Auseinandersetzung für das A und
O beim Werben um Akzeptanz für Großprojekte. „Unternehmen müssen weg
von der PR“, fordert etwa Sören Bartol. S.139 „Propaganda verbietet sich.
Sie müssen offen erklären, warum sie dieses oder jenes machen“, verlangt
auch FDP-Generalsekretär Patrick Döring von den Unternehmen. S.159
Für Roger de Weck geht es vor allem um Überzeugungskraft. In der heutigen
Interaktionsgesellschaft gewinne die Kraft der Argumente gegenüber der
Kraft der Interessen an Bedeutung, glaubt der Generaldirektor der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft. „Also muss man argumentieren,
80 ANALYSE
argumentieren und argumentieren.“ S.154 Dem kann Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz nur zustimmen: „Wer auf Argumente verzichtet und
nicht bereit ist, seine Fakten vorzutragen, darf sich nicht wundern, wenn die
Skepsis überwiegt. Ich werbe sehr dafür, auf die Kraft der Argumente und der
Fakten zu setzen.“ S.259 Das nehmen laut Rainer Baake genauso die Bürger
für sich in Anspruch: „Die Bürger wollen mit ihren Argumenten gehört werden
und erwarten, dass mit diesen Argumenten vernünftig umgegangen wird“, sagt
der Direktor der Stiftungsinitiative Agora Energiewende. S.126
In Alternativen denken!
Neben der Kraft der Argumente sehen auffallend viele Experten in der
Bereitschaft, Alternativen zu diskutieren, einen wesentlichen Erfolgsfaktor
für eine konstruktive Planungsdiskussion von Großprojekten. „Nur wo Handlungsspielraum da ist, kann man von ernsthafter Beteiligung sprechen“, findet
Germanwatch-Geschäftsführer Christoph Bals. „Man sollte sich auseinandersetzen mit den vorgetragenen Alternativmöglichkeiten und diese ernst nehmen,
statt sie mit Halbsätzen vom Tisch zu fegen. Das ist sehr mühsam, kann aber
am Ende schneller gehen, als wenn man 300 oder 400 Klagen gegen den Planfeststellungsbeschluss beim Verwaltungsgericht verhandelt“, ist auch Patrick
Döring überzeugt. S.159 Sein Politikerkollege Peter Altmaier glaubt, dass
der legitimierende Charakter von parlamentarischen Entscheidungen unter
anderem davon abhängt, „ob es aus Sicht der Betroffenen eine Chance gibt,
diese Entscheidungen zu revidieren“. Daher müsse man der Entscheidungsfindung eine stärkere Aufmerksamkeit widmen, was wiederum eine gewisse
Planungsunsicherheit bedeute. S.121 Für Thüringens Wirtschaftsminister
Matthias Machnig ist es wichtig, in einem diskursiven Prozess zu verdeutlichen, dass eine bestimmte Lösung erst nach Abwägung von verschiedenen
Alternativen beschlossen wurde.
In Richtung Unternehmen fordert Gisela Erler: „Vorstände müssen sich einfach
von dem Denken, dass ein angedachter Plan alternativlos sei, verabschieden.
Dieses Denken ist in einem Land, das so dicht besiedelt ist und dessen Bevölkerung so gebildet ist wie die unsrige, nicht mehr zeitgemäß.“ Die Wirtschaft
sollte sich von der Angst lösen, dass Bürgerbeteiligung Projekte endlos in die
Länge ziehe. Es gehe nicht darum, Projekte zu verzögern, sondern darum,
wie man sie verbessern kann, so die Staatsrätin für Bürgerbeteiligung der
baden-württembergischen Landesregierung. S.160 f. Es sei legitim, dass
Unternehmen zunächst intern verschiedene Alternativen diskutierten und
nicht sofort an die Öffentlichkeit gingen, findet Dieter Rucht. „Unternehmen
sollten allerdings mehr in Alternativen denken. Derzeit ist es so, dass Entscheidungen durch den Vorstand oder Aufsichtsrat gefällt und dann häufig als alternativlos präsentiert werden. Wenn es aber intern diskutierte Alternativen gibt,
wäre es sinnvoll, diese in der Kommunikation nach außen zu thematisieren und
öffentlich abzuwägen, so dass es für die Bürger klarer wird, warum man sich
für oder gegen eine Alternative entschieden hat. So kann man vermeiden, dass
7 Ratio und Empathie 81
nach langer Diskussion plötzlich eine Gruppe auf den Plan tritt und eine
andere und vielleicht nahe liegende Alternative fordert“, lautet die Empfehlung des Sozialwissenschaftlers. S.247
Ideen und Alternativen auch seitens der Bürger zu hören, findet Oliver Krischer
sinnvoll. Denn „für Probleme gibt es oft Lösungen, die nicht sofort auf der Hand
liegen“, so die Erfahrung des Bundestagsabgeordneten von Bündnis 90/Die
Grünen. S. 213 Für nicht glaubwürdig hält Justus Haucap das Argument der
Alternativlosigkeit. „An ein paar Stellen wird es Alternativen geben. Von daher
muss man auch eine gewisse Ehrlichkeit erwarten.“ S. 181 Oberkirchenrat
Eberhard Pausch hält fest: „Eine alternativlos vorgetragene Idee hat den Charakter der Nötigung, und das würden natürlich mündige Bürger und Bürgerinnen
nicht schätzen. Zu Recht.“ Der Theologe und Experte für Demokratiefragen
spiegelt damit die Meinung eines Großteils der Experten wider.
Und die Medien?
Die Diskurskultur zwischen den an einem Großvorhaben beteiligten Parteien
lässt sich schwerlich betrachten, ohne die Rolle der Medien zu beleuchten.
Denn eine Reihe von Experten vertritt die Auffassung, dass die Medien einen
wichtigen Anteil an der Meinungsbildung und auch an den Protesten zu
umstrittenen Projekten haben (vgl. dazu auch Kapitel 5, S. 61 ff.). Als problematisch empfinden mehrere Fachleute dabei die häufig verkürzte Darstellung
von komplexen Sachverhalten. „Die Medien stehen in einem Wettbewerb, der
sich in den letzten Jahren verschärft hat und der seriöse, längere, kontemplative
Artikel abgedrängt und in den Hintergrund geschoben hat. Das Kurzlebigere
dominiert“, bemängeln sowohl Günther Bachmann als auch Hildegard Müller:
„Die Medien sind heute von einer extremen Schnelligkeit und einer sehr kurzen
inhaltlichen Aufmerksamkeitsspanne dominiert. Damit passen sie sich dem heutigen Zeitgeist an, das ist auch völlig verständlich. Andererseits sind die Probleme so komplex geworden, dass sie gerne mal ausgeblendet werden.“ S.231
RWE-Vorstand Rolf Martin Schmitz bestätigt diese Einschätzung. „Leider stelle
ich häufig die Tendenz fest, dass es Medien in den letzten Jahren immer weniger um differenzierte Vermittlung von Inhalten und sachlichen Informationen
als um Emotionen geht. Das betrifft nicht nur Boulevardblätter, sondern auch
Wirtschaftszeitungen und vor allem verschiedene Formate im Fernsehen.“ Die
Medien passten sich der Aufnahmefähigkeit der Menschen an, die es heute
gewohnt seien, nur noch Stakkato-Nachrichten aufzunehmen. S.255
Wissenschaftliche Untersuchungen bestätigen die Wahrnehmung der Experten. Proteste erfüllten demnach viele der klassischen Aufmerksamkeitskriterien, die für Medien entscheidend seien. Es handele sich um Konfliktthemen,
die oft neuartig seien und sich auf griffige Formeln herunterbrechen ließen.
„Es ist insbesondere für Bildmedien einfacher zu transportieren als parlamentarischer Alltag“, schreibt Knut Bergmann, Fellow der stiftung neue verantwortung, in einem aktuellen Aufsatz. Die tägliche Kompromisssuche sei dagegen
82 ANALYSE
medial kaum abzubilden. Für Bergmann zählt die Simplifizierung zu den
Erfolgskriterien des Protests, „der auch eine Kommunikationsleistung ist“. Komplexe Fragen, auf die Experten wie Politiker genauso wenig wie Journalisten
und Bürger eine Antwort hätten, spielten jenseits der absoluten Qualitätsmedien kaum mehr eine Rolle, heißt es in seiner Analyse (Bergmann 2012: 18 f.).
Hans-Werner Fittkau vermisst eine sachliche, zielorientierte Aufklärung. „Was
ich beurteilen kann, ist, dass es einen generellen Trend zum Skandalisieren und
Hysterisieren gibt, der nicht gut in den Medien ist. Dieser aufgeregte Journalismus bezieht sich auch auf die Wirklichkeit bei solchen Auseinandersetzungen.“
Auch Patrick Döring konstatiert: „Journalisten spitzen lieber eine schon zugespitzte Position zu als eine abgewogene, normale unaufgeregte Haltung.“ Dazu
merkt Olaf Scholz an: „Es wäre gut, wenn die Medien sich häufiger eine Haltung
zutrauen würden. Es ist zum Beispiel nicht hilfreich, den Bau einer Anlage zu
skandalisieren und zugleich ihren Nichtbau, was durchaus vorkommt.“ S.259
Nach Frank Brettschneider wird dieser mediale Trend auch dadurch verstärkt,
dass in der Berichterstattung nachgewiesenermaßen Probleme zunehmend
häufiger thematisiert würden als Problemlösungen. „Damit entsteht der
Eindruck, als hätte die Gesellschaft immer größere Schwierigkeiten, die sie
lösen muss.“ S.145
Nicht pauschalisieren
Man dürfe nicht den gesamten Journalismus über einen Kamm scheren, sondern müsse differenzieren, meint dagegen Roger de Weck. „Man kann nicht
vom ‚Mediensystem‘ als Ganzem sprechen. Es gibt herkömmliche Medien, die
trotz wirtschaftlicher Krise eine intellektuelle Blüte erleben, während sich ein
Teil des Mediensystems der versuchten Volksverdummung schuldig macht“, so
der Schweizer. S.154 Auch Theologe Eberhard Pausch will über die Medien
kein Pauschalurteil fällen.
„Es gibt bei diesen Konflikten keine einfachen Wahrheiten“, meint Redakteur
Michael Bauchmüller. „Man kann manchen Medien sicher vorwerfen, dass sie
nicht immer mit der nötigen Tiefe an Themen herangehen, sich oft eher zum
Advokaten der scheinbar schwachen Bürger machen. Es ist aber nicht verwerflich,
wenn sie einer Stimmung im Volk Stimme verleihen und diese Stimmung dann
zur Mehrheitsmeinung wird“, nimmt der Journalist die Presse in Schutz. S.142
Verzerrtes Meinungsbild?
Hans-Werner Fittkau hält genau diesen Effekt für problematisch und macht
das am Beispiel Stuttgart 21 deutlich: „Dort entstand das Bild, das dann auch
wieder von Berichterstattern reproduziert wurde, dass die Protestler in der
Mehrheit sind. Die Medien verzerren das Meinungsbild und die schweigende
7 Ratio und Empathie 83
Mehrheit kommt nicht zu Wort“, bemängelt der Medienvertreter. Diese
Gefahr sieht auch Johannes F. Lambertz. Stuttgart 21 mache deutlich, dass
die Protestbewegung sowie das in den Medien gezeigte Meinungsbild auf
der einen Seite und der Bürgerwille auf der anderen Seite nicht dasselbe
gewesen seien. S. 216 (vgl. Abb. 7.1) Gewisse Verzerrungen durch die
Medien seien empirisch belegt, bestätigen die Wissenschaftler Swen Hutter
und Simon Teune. „Als gesichert gilt etwa, dass über teilnehmerstarke und
gewaltförmige Ereignisse eher berichtet wird“, heißt es in einer jüngstenErhalten
Publi37%
kation der Politik- und Protestforscher (Hutter/Teune 2012: 11).
Laut Wissenschaftler Dieter Rucht gibt es in den Medien tatsächlich eine
Tendenz, das Meinungsbild zu verzerren. Auflagenstarke Medien, dieAbbauen
stär10 %
ker von Schwankungen im Kaufverhalten abhängig seien, müssten sich allerdings auch ein Stück weit an der schweigenden Mehrheit orientieren. Dass
über die schweigende Mehrheit so wenig berichtet werde, liegt für Rainer
Baake in der Natur der Sache. „Wenn sie schweigen, werden sie nicht gehört.
Wenn sie gehört werden wollen, müssen sie sich äußern.“ Allerdings sei es
weder in einer repräsentativen Demokratie noch bei Volksentscheiden so,
dass diejenigen, die sich am lautesten artikulieren, automatisch Recht bekämen, relativiert der Umweltexperte diesen Effekt.
Von der Theorie zur Praxis
Lässt man die Empfehlungen der Experten Revue passieren, ergibt sich ein
klarer Arbeitsauftrag an die Vorhabenträger. Sie sind aufgefordert, den Dialog mit den Bürgern aktiv zu suchen und bei den Betroffenen mit Empathie
für die eigenen Pläne zu werben. Dabei scheint ein langer Atem gefragt zu
sein. Denn zu einem gelingenden Diskurs gehören offenbar sowohl die
ergebnisoffene Diskussion von Alternativen als auch eine detaillierte Sachargumentation. Im Idealfall können Planungsverantwortliche auf diese Weise
einen Kontrapunkt zu der häufig verkürzten und bisweilen skandalgetriebenen Medienberichterstattung setzen.
Weitestgehende Einigkeit besteht darin, dass die Einbindung der Bürger in
die Vorhabenplanung grundsätzlich ausgedehnt werden sollte, um potenzielle Konflikte frühzeitig zu erkennen und im Diskurs zu einer mehrheitlich
akzeptablen Lösung zu kommen. Wie Bürgerbeteiligung in der Praxis umgesetzt werden kann und worin dabei die Herausforderungen bestehen, damit
befasst sich eingehend das nächste Kapitel.
84 ANALYSE
18.1
Endgültiges Ergebnis der Volksabstimmung über
das Bahnprojekt Stuttgart 21 am 27.11.2011
PRO S21
58,9%
CONTRA S2141,1%
—
Abb. 7.1
Quelle: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg, 2011
8
Partizipation – aber wie?
Bürgerbeteiligung in der
Kontroverse
Über die Notwendigkeit, Bürger in die Vorhabenplanung intensiver einzubeziehen, und den Nutzwert entsprechender Anstrengungen gibt es einen allseitigen Konsens (vgl. hierzu auch Kapitel 1, S.22 ff.). Wie Meinungsumfragen
zeigen, korrespondiert die Expertensicht durchaus mit den Bedürfnissen der
Bürger. So halten 81 Prozent von ihnen mehr politische Beteiligungsmöglichkeiten für wünschenswert. Eine Mehrheit der Deutschen ist bereit, sich über
Wahlen hinaus an politischen Prozessen zu beteiligen – auch wenn nur eine
Minderheit (22 Prozent) glaubt, dass bürgerliche Mitbestimmung von Politikern gewollt ist (vgl. Abb. 8.1).
Viele Fachleute sehen in Bürgerbeteiligung einen Gewinn für das Gemeinwesen, so etwa Helmut Klages: „Wenn Bürgerbeteiligung richtig umgesetzt wird,
stärkt sie die Kommunikation zwischen den politischen Eliten und den Bürgern,
die zurzeit aus unterschiedlichen Gründen völlig unterentwickelt ist“, glaubt
der emeritierte Professor für empirische Sozialwissenschaften. Die Politik
gewinne an Legitimität und die Verwaltung an Planungssicherheit. S.203
Ähnlich argumentiert Justus Haucap. „Wenn man Bürgerbeteiligung und mehr
plebiszitäre Elemente mit Bedacht einführt, verbessert es die Kommunikation
und schafft Akzeptanz“, ist neben dem Vorsitzenden der Monopolkommission
eine Reihe anderer Experten überzeugt. Dazu gehört unter anderem Gisela
Erler. Nach Auffassung der baden-württembergischen Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung können Beteiligungsformate dazu beitragen,
„dass das Gros der beteiligten Bürger das Projekt besser versteht“. S.160
18
Meinungsbild zur Bereitschaft der Bürger zu
politischer Beteiligung
JA 81%
NEIN 16 %
Mehr politische
Beteiligungsmöglichkeiten
gewünscht
JA 60 %
NEIN 39 %
Bereitschaft zur Teilnahme an
politischen Prozessen über
Wahlen hinaus
JA 22 %
NEIN 76 %
Einschätzung: mehr
Mitbestimmung der Bürger
von Politikern gewollt
k. A. 3 %
k. A. 1%
k. A. 2 %
—
Abb. 8.1
Quelle: Bertelsmann Stiftung/TNS Emnid, 2011
8 Partizipation – aber wie? 85
Ein besseres Verständnis für die Projekte zu erhalten, ist auch für den Präsidenten der Bundesnetzagentur, Jochen Homann, ein wichtiges Ziel der Konsultationen im Rahmen des Netzausbaus, bei denen sich alle Bürger in unterschiedlichen Phasen online und offline beteiligen können: „Unser Ehrgeiz ist
es, dass jeder Bürger Informationen darüber erhält, warum bestimmte Dinge
gemacht und andere Dinge nicht gemacht werden. Transparenz heißt zuvorderst, dass alle vorliegenden Informationen umfassend dem Bürger zur Verfügung gestellt werden.“ S. 195
Beteiligung internalisieren:
Die Teilhabe der Bürger sollte als originärer Bestandteil der Projektplanung begriffen und praktiziert werden
Partizipation rechnet sich:
Konstruktive Bürgerbeteiligung bringt unter dem Strich einen Zeitgewinn und mehr Planungssicherheit
Verbesserungsbedarf:
Defizite und Hemmschwellen der bestehenden Beteiligungspraxis
machen eine Reform dringend erforderlich
Erfolgsparameter:
Transparenz und intensive Kommunikation sind das Fundament einer
gelungenen Bürgerbeteiligung
AUF
EINEN
BLICK
Zeitig beginnen:
Bürger möglichst frühzeitig in Planungen einzubinden, kann Widerstände reduzieren und im besten Fall Konflikte vermeiden
Mitwirkung ermöglichen:
Echte Beteiligung bedeutet, Bürgern tatsächlich die Einflussnahme
bei bestimmten Planungsaspekten einzuräumen
Ultima Ratio:
Volksentscheide sind kein Allheilmittel – Bürgerteilhabe sollte idealerweise beginnen, lange bevor sich Fronten verhärten
Nach den Erfahrungen von Frank Brettschneider und Joachim Herrmann geht
bereits von der Einladung zu einem Dialogprozess ein Positiveffekt aus.
„Schon allein die Ankündigung, ein solches Format durchzuführen, ist ja ein
Signal“, meint der Kommunikationstheoretiker. S. 147 Das kann Bayerns
Innenminister aus der Praxis heraus bestätigen: „Allein das Angebot hatte
schon eine gewisse Wirkung und hat Ressentiments abgebaut“, berichtet CSUPolitiker Herrmann von seinen Erfahrungen mit der Bürgerbeteiligung beim
Ausbau der A3 in Würzburg. S. 190
86 ANALYSE
Ohne Alternative
Ausschlaggebend scheint dabei die Wahrnehmung zu sein, mit seinen eigenen Interessen und auch Bedenken respektiert zu werden. „Wenn Bürger das
Gefühl haben, dass Vorhabenträger und Genehmigungsbehörden ihre Argumente ernst genommen und sachgerecht abgewogen haben, dann gibt es eine
gute Chance auf Akzeptanz“, sagt Rainer Baake, Direktor der Stiftungsinitiative Agora Energiewende. S.126 Das sieht Oliver Krischer ähnlich. Mehr
Bürgerbeteiligung bedeute, dass mehr Menschen eingebunden seien und
„dass es am Ende weniger Menschen geben wird, die das Gefühl haben, dass da
etwas über ihren Kopf hinweg geplant worden ist“.
Für den Bundestagsabgeordneten von Bündnis 90/Die Grünen gibt es
schlichtweg keine andere Option, als Bürgerbeteiligung auszubauen. „Man
muss sich ja immer fragen, was die Alternative ist. Die Alternative ist, man
macht es in der bisher praktizierten Form und dann geht man das Risiko ein,
dass man sich nicht verständigt und sich dann vor Gericht wiedersieht“, so Krischer. „Keine Risiken, sondern vor allem Chancen“, sieht auch Politiker Sören
Bartol. Voraussetzung seien die richtigen „Leitplanken“, so der sozialdemokratische Bundestagsabgeordnete. S.139
Befund: „nicht praxistauglich“
Doch wie ist es um diese „Leitplanken“ und die praktische Umsetzung von
Bürgerbeteiligung bei der Realisierung von Großprojekten in Deutschland
bestellt? Unter den Fachleuten besteht große Übereinstimmung, dass die
bislang bestehenden Möglichkeiten im formellen Verwaltungsrecht ungenügend beziehungsweise nicht praxistauglich sind.
„Auf dem Papier gibt es genügend Beteiligungsmöglichkeiten, die aber häufig
für den Bürger zu kompliziert sind. Die Rampe ist zu steil, um sie wirklich
wahrzunehmen“, illustriert Michael Bauchmüller von der Süddeutschen Zeitung die von zahlreichen Experten empfundene Diskrepanz zwischen Theorie und Wirklichkeit. „Wir haben aufwendige Planungsverfahren, die aber im
Ergebnis Bürgerbeteiligung eher verhindern als befördern“, glaubt auch Grünen-Abgeordneter Oliver Krischer. S.214 Ähnlich sieht das sein liberaler
Politikerkollege Patrick Döring: „Die verwaltungsrechtlichen Möglichkeiten reichen aus, aber sie haben für viele eine abschreckende Wirkung“, so der FDPGeneralsekretär. S.159
Eine Reihe von Fachleuten sieht die breite Bevölkerung mit den gegenwärtigen Beteiligungsformen überfordert. Die bestehenden Instrumentarien
seien „eine Sache für Spezialisten, weil es sich auf Bürgerseite nur wenige leisten können, sich durch die Pläne zu ackern. Man versteht ja größtenteils gar
nicht, was da steht, wenn man nicht gerade Bauexperte ist“, bemängelt Ulrich
von Alemann unter anderem die momentane Praxis der Verwaltungsbeteili8 Partizipation – aber wie? 87
gung über Planfeststellungsverfahren. S. 266 „Wichtig ist vor allem, die
Verfahren so verständlich zu machen, dass sich nicht nur spezialisierte Topanwälte, sondern auch normale Bürger beteiligen können“, verlangt daher die
Hauptgeschäftsführerin des Bundesverbandes der Deutschen Energie- und
Wasserwirtschaft (BDEW), Hildegard Müller. S.230 Die Notwendigkeit,
Unterlagen möglichst verständlich aufzubereiten, betont auch Jochen
Homann. Gleichzeitig müssten aber auch die Bürger eine gewisse Bereitwilligkeit zur detaillierten Sachauseinandersetzung mitbringen. „Das ist die
andere Seite von Bürgerbeteiligung: Man muss bereit sein, sich intensiv mit
dem Thema zu beschäftigen“, verlangt der Präsident der Bundesnetzagentur.
S.195 Harsche Kritik übt Dieter Rucht an der gegenwärtigen Situation.
„Viele bestehende Formen der Bürgerbeteiligung sind eine Farce“, so das
Urteil des Sozialwissenschaftlers. Das liege unter anderem an der erdrückenden Informationsfülle und an suboptimalen Verfahrensbedingungen.
Mit Auslegungsfristen von lediglich zwei bis vier Wochen, noch dazu nur zu
den Bürozeiten der Baubehörde, schließe man viele Menschen aus. „Das
größte Defizit ist aber, dass die Einspruchsverfahren in der Regel in einem
Stadium erfolgen, in dem schon so gut wie alles gelaufen ist“, hält Rucht fest.
Er plädiert daher für ein zweistufiges Verfahren mit einer öffentlichen
Anhörung zum Für und Wider des Projekts und einem späteren rechtsverbindlichen Planfeststellungsverfahren. S. 247
Modernere Bürgerbeteiligung
Kritisch gegenüber der aktuellen Verwaltungsbeteiligung äußert sich
auch Rainer Baake. „Die bestehenden Möglichkeiten im Verwaltungsrecht
reichen nicht aus; es muss dringend überarbeitet werden“, fordert er. Wie
Dieter Rucht kritisiert auch Baake die unzureichenden Möglichkeiten für
Bürger, bei den Verwaltungen Einsicht in die Pläne zu nehmen. „In Zeiten
des Internets ist das ein Unding. Planunterlagen müssen ins Netz gestellt
werden.“ S. 126
Für die Experten, die im Zusammenhang mit dem Netzausbau Beteiligung
praktizieren, ist das Internet ein wichtiges Vehikel, das jedoch erst in Kombination mit der persönlichen Einbindung der Bürger seinen Nutzen entfaltet.
So hält Jochen Homann es für richtig und notwendig, dass die erste Runde
der Konsultationen zum Netzausbau im Wesentlichen online stattgefunden
habe, fügt aber hinzu: „Online-Beteiligung allein ist allerdings nicht ausreichend, weil man dadurch viele Menschen nicht erreicht. Deswegen schalten wir
jetzt auch Hotlines und führen in der nächsten Runde in sechs verschiedenen
Städten Veranstaltungen durch. Die Beteiligung vor Ort ist vor allem wichtig,
um die Menschen in der Fläche zu erreichen.“ S. 195 Diese Einschätzung
teilt Hans-Jürgen Brick: „Das Internet spielt als zentrale Wissensplattform für
unsere Leitungsbauprojekte eine ganz wichtige Rolle. Es ersetzt allerdings nicht
das persönliche Gespräch vor Ort“, zeigt sich der Vertreter des Übertragungsnetzbetreibers Amprion überzeugt.
88 ANALYSE
Qualität statt Quantität
Deutschland brauche nicht ein Mehr an Beteiligung, sondern eine qualitative
Veränderung der Prozesse, glaubt Günther Bachmann. „Quantitativ haben
wir alle Möglichkeiten, die führen aber erstens zu langen Planungsprozessen
und zweitens erkennen die Menschen am Beginn eines Projekts die Bedeutung
einer Beteiligung oftmals nicht. Genau zu dem Zeitpunkt hätten sie aber den
meisten Einfluss und die Möglichkeiten nehmen ab, je mehr sie die Bedeutung
erkennen“, schildert der Generalsekretär des Nachhaltigkeitsrates das derzeitige Paradox. S.131
Für den Präsidenten der Bundesnetzagentur ist das nachvollziehbar: „Solange
Projekte abstrakt sind, haben Bürger meist wenige Einwände. Das ändert sich,
sobald es konkret wird“, so die Erfahrung von Jochen Homann. In der ersten
Runde der Konsultationen zu den Übertragungsnetzen seien nur rund 2.000
und damit deutlich weniger Bürgereingaben als erwartet eingegangen. „Das
liegt daran, dass die Projekte noch nicht konkret genug sind und vor allem der
genaue Verlauf der Leitungen noch nicht feststeht. Sobald es um konkrete Leitungsverläufe geht, wird die Beteiligung sicherlich stark zunehmen“, prognostiziert der Behördenchef. S.192
Mehr Transparenz und
Kommunikation
Selbst jene Experten, die die bestehenden Partizipationsformen im Prinzip
für ausreichend halten, fordern flankierend mehr Transparenz und Kommunikation ein. Zu ihnen gehört Michael Fuchs. Der stellvertretende Vorsitzende
der CDU/CSU-Bundestagsfraktion glaubt zwar, dass es ausreichend prozessuale Möglichkeiten für jeden Bürger gebe. „Vielleicht muss man das aber
noch ein Stück transparenter machen.“ S.169 Ähnlich ambivalent äußert sich
dena-Chef Stephan Kohler: „Aus meiner Sicht reichen die Beteiligungsmöglichkeiten aus. Die Frage ist, wann man mit der Kommunikation beginnt. Ich
denke, die Beteiligung der Bevölkerung über Kommunikation sollte früher
beginnen.“ S.211 Auch Justus Haucap findet, dass es im Verwaltungsrecht
schon heute gute Mitspracherechte gebe. „Was fehlt, ist eher die Kommunikation über die Mitspracherechte. Der breite Teil der Bevölkerung merkt viel zu
spät, dass etwas passiert.“ Für den Vorsitzenden der Monopolkommission ist
Bürgerbeteiligung „eher eine Frage der Kommunikation als der faktischen
Rechte“. S.183 „Viele Menschen sind allerdings nicht bereit, sich so tief in
die Themen einzuarbeiten“, ist die Erfahrung von Rolf Martin Schmitz. „Das
müssen Unternehmen berücksichtigen und parallel zu dem Genehmigungsverfahren intensiv mit den Menschen kommunizieren und die Pläne darlegen“, folgert der RWE-Vorstand, der die formellen Beteiligungsmöglichkeiten für ausreichend hält. S.255 Nicht viel anders fällt die Einschätzung von Matthias
Heck aus: „Möglichkeiten haben wir genug.“ Dennoch müsse man die Bevöl8 Partizipation – aber wie? 89
kerung „früher und proaktiver einbeziehen“, fordert der Senior Manager der
australischen Investmentbank Macquarie. S. 186
In der Tat sind sich die meisten Fachleute darin einig, dass die Kommunikation möglichst frühzeitig einsetzen muss. „Je früher man den Dialog sucht,
desto stärker kann man Widerstände reduzieren“, sagt Sören Bartol. S.139
Die im Verwaltungsrecht vorgesehenen Beteiligungsmöglichkeiten kämen
zu einem viel zu späten Zeitpunkt, kritisiert als einer von vielen Frank
Brettschneider, „nämlich dann, wenn es nicht mehr um Alternativen geht“.
Der Wissenschaftler stellt fest: „Die bestehenden Verfahren sind nicht dazu
geeignet, eine gesellschaftliche Diskussion über Alternativen zu führen, sondern sie sind dafür da, Rechtssicherheit herzustellen. Das ist eine ganz
andere Funktion, die absolut notwendig ist. Diese ersetzt aber nicht eine
zusätzliche Bürgerbeteiligung, die früher stattfinden sollte.“ Dabei gehe es
nicht um direkte Demokratie, sondern um Anhörungen und um Dialog-Verfahren, so der Kommunikationstheoretiker. S. 147
Dialog vor Verfahrensbeginn starten
Doch wann genau ist der beste Zeitpunkt, um Bürger an den Vorhabenplanungen zu beteiligen? Die Experten bleiben in diesem Punkt eher vage, nur
wenige benennen einen konkreten Termin. Nach Hildegard Müllers Meinung
könnte man den Scoping-Termin, an dem die Projekte vorgestellt werden, für
alle Bürger öffnen. S. 231 Helmut Klages beruft sich dagegen auf die Heidelberger „Leitlinien für mitgestaltende Bürgerbeteiligung“, nach denen
eine Information der Bevölkerung „spätestens drei Monate vor der Ersterörterung in einem kommunalen Gremium“ erfolgen soll. S.202 Patrick Döring
hält den Beginn des Raumordnungsverfahrens für geeignet, „weil es schon in
ein Verfahren eingebettet werden muss. Es kann keine Öffentlichkeitsbeteiligung stattfinden, nur weil jemand eine Idee hat.“ S. 159 Für Justus Haucap
muss das Projekt bereits „einen gewissen Reifegrad erreicht haben“. S. 183
„Man kann die Bevölkerung sicherlich nicht gleich bei der ersten Idee beteiligen. Ein Projekt muss schon hinreichend konkret sein“, findet auch Matthias
Heck. Er spricht sich dafür aus, die Bevölkerung ins Boot zu holen, wenn man
den Bauantrag stellt. S. 186
In den Augen von Günther Bachmann und anderen Experten ist das deutlich
zu spät. „Zuhören fängt irgendwo bei der Konzeptionierung eines Baus an
und nicht beim Bauantrag.“ Das Gros der Fachleute, darunter viele Politiker,
teilt die Auffassung, dass der Dialog schon in einem sehr viel früheren Stadium beginnen sollte. „Meines Erachtens ist es schon zu spät, wenn sie anfangen, den ersten Plan zu zeichnen, der über eine Skizze hinausgeht“, sagt
etwa Oliver Krischer. Ein Unternehmen oder die staatliche Planungsbehörde sollten an die Öffentlichkeit gehen, wenn sie sich darüber im Klaren
90 ANALYSE
seien, dass sie ein Projekt realisieren wollten. Zumindest in der betroffenen
Region sollte man darüber informieren, was man sich im Groben vorstellt,
meint der Grünen-Politiker. S.213 Für Hans-Werner Fittkau hängt der
Beginn der Bürgerkommunikation von der Dimension des Projekts ab. „Wenn
einer eine Standard-Windkraftanlage irgendwo hinstellt, ist das etwas anderes,
als wenn eine riesige Solaranlage in die Landschaft gebaut wird oder eine
Starkstromtrasse durch das Erzgebirge geplant ist. In diesen Fällen würde ich
immer sagen: so früh wie möglich.“ S.167
Bundesumweltminister Peter Altmaier hält es für das Entscheidende, „dass
man vor dem formalen Verwaltungsverfahren die Möglichkeit der Information
und Diskussion vorschaltet“ S.122, und ist mit dieser Haltung nicht allein.
Sein CDU-Parteikollege Michael Fuchs erachtet „eine frühere Öffentlichkeitsbeteiligung in Form von Bürgerforen oder kommunalen Zukunftskonferenzen“
für sinnvoll, die das anschließende Planfeststellungs- oder Genehmigungsverfahren bei Großvorhaben besser vorbereiten sollen. S.169 Dem SPDPolitiker Sören Bartol geht es ebenfalls darum, schon „vor dem Planfeststellungsverfahren konkrete Mitwirkungsmöglichkeiten zu schaffen“. Die SPD
fordere „einen Beteiligungstermin, bei dem die Pläne erörtert werden, und
weitere Termine, wenn Pläne geändert werden“. Die Anhörung sollte nicht nur
den im rechtlichen Sinne Betroffenen offenstehen, sondern allen Bürgern.
Private Betreiber seien als Planungsträger ebenfalls gut beraten, „sich kommunikativ sehr früh zu engagieren“, so der Sozialdemokrat. S.138
Ergebnisoffene Diskussion
Die meisten Fachleute begründen ihre Forderung nach frühzeitiger Einbindung der Bürger mit dem Argument, dass die Planungen dann noch ergebnisoffen und Projekte somit modifizierbar seien. Wie viele andere fordert auch
Michael Vassiliadis: „Bürgerbeteiligung muss zu einem Zeitpunkt erfolgen, zu
dem Einf lussnahme noch möglich ist. Unsere Praxis ist im Moment so, dass ein
Unternehmen ein größeres Projekt plant und dann auf die Genehmigungsbehörde zugeht. Wenn diese nach dem Planungsrecht ihren Erörterungstermin
durchführt und die Planung des Unternehmens bekannt gibt, ist das Projekt nur
noch mit einem sehr hohen Aufwand modifizierbar.“ Bürger, die an solchen
Terminen teilnähmen, fühlten sich dann verständlicherweise außen vor und
verstünden nicht, was da vor sich gehe, beschreibt der IG-BCE-Vorsitzende
die derzeitige Problematik. Der Gewerkschafter begrüßt daher den Ansatz,
„die Öffentlichkeit frühzeitig in die Planungsverfahren einzubeziehen und auch
Dialoge zwischen Unternehmen und Öffentlichkeit zu einem Zeitpunkt zu organisieren, an dem Unternehmensplanung noch gestaltbar ist“. S.263
Mit Nachdruck spricht sich dafür auch Rainer Baake aus. Er vermisst in
Deutschland einen Verfahrensschritt, in dem die Notwendigkeit einer Planung öffentlich erörtert und tatsächlich ergebnisoffen geprüft wird. „Aus
meiner Sicht sollte am Anfang eine ergebnisoffene Debatte über das Ob und
8 Partizipation – aber wie? 91
dann anschließend erst über das Wie geführt werden. Gegenwärtig legt eine
Genehmigungsbehörde Pläne meist erst dann aus, wenn sie sich bereits eine
vorläufige Meinung gebildet hat und für sie der Bedarf grundsätzlich feststeht.
Das schließt schon fast eine Ergebnisoffenheit der Prüfung im anschließenden
Verfahren aus. Deshalb haben die Bürger auch häufig das Gefühl, dass ihre
Einwände nur noch als lästig empfunden und pro forma abgearbeitet werden,
um zu einer rechtssicheren Genehmigung zu kommen. Auf diese Art und Weise
gewinnen wir keine Akzeptanz in der Bevölkerung“, so kritisiert der Direktor
der Stiftungsinitiative Agora Energiewende. S.126
Sören Bartol plädiert für frühzeitig beginnende und ergebnisoffene Verfahren,
„weil der respektvolle Umgang ganz schnell vorbei ist. Wenn ein Initiator mit
einer endgültigen Lösung kommt, bleibt dem anderen nur noch das Schimpfen.
Viele Konf likte schaukeln sich durch die Ohnmacht oder gefühlte Ohnmacht
der Gegner erst hoch“, illustriert der Politiker den Eskalationsmechanismus.
S. 138 „Bevor man sich in die Schützengräben eingegraben hat, sollte man
ein Projekt auf jeden Fall der Öffentlichkeit mit allen Vor- und Nachteilen vorstellen“, findet deshalb auch Johannes F. Lambertz, Vorstandsvorsitzender
der RWE Power AG. S. 219
Einige Experten machen deutlich, dass Bürgerbeteiligung nicht als „Placebo“
missverstanden werden darf. „Ergebnisoffenheit muss es in dem Sinne geben,
dass man idealerweise vor der Planung eines Projekts wirklich alle Alternativen
und Einwände gewissenhaft prüft“, sagt etwa Gisela Erler. S. 160 „Es darf
keine Alibi-Veranstaltung sein. Es wäre absurd, wenn ich einen wichtigen Einwand nicht anhöre, weil das Ergebnis schon feststeht“, betont auch Justus
Haucap. S. 183 Genauso sieht das Christoph Bals, Geschäftsführer von Germanwatch: „Wenn die Argumente tragen, müssen diese Argumente auch tatsächlich etwas verändern können.“ S. 135
Primat der Politik
Der Verwaltungswissenschaftler Helmut Klages stellt dagegen klar: „Bürgerbeteiligungsprozesse können in dem Sinne ergebnisoffen sein, als den Bürgern reale
Beteiligungschancen beziehungsweise reale Chancen des Gehörs und der Mitwirkung gegeben werden.“ Bürgerbeteiligung impliziere keinesfalls zwingend eine
reguläre Mitentscheidung oder Exklusiventscheidung der Bürger, wie das beim
Bürgerentscheid vorgesehen sei. „Das Letztentscheidungsrecht sollte vielmehr
bei den in der Verfassung vorgesehenen Instanzen bleiben“, so die Auffassung
des emeritierten Professors. Die Mehrheit der Bürger erwarte im Übrigen auch
nicht, die Entscheidungsaufgabe der Politik übernehmen zu müssen, meint
Klages, denn die Bürger akzeptierten ganz überwiegend politische Führung
und die Grundinstitutionen der parlamentarischen Demokratie. S.202
Das sieht Manfred Güllner genauso. „Den meisten Bürgern reicht es, alle vier
oder fünf Jahre ihr Urteil über die Arbeit der Politik abzugeben. Zwischen den
92 ANALYSE
Wahlen soll die Politik ordentlich arbeiten“, ist der forsa-Chef überzeugt.
„Daher sollte man nicht noch mehr unausgereifte Angebote zur Schein-Partizipation machen, sondern wieder zu einer Politik zurückkehren, die die Interessen aller Schichten der Bevölkerung beachtet.“ S.174 Michael Fuchs will
das Primat der Politik ebenfalls nicht infrage stellen: „Prinzipiell finde ich
Bürgerbeteiligung richtig, aber man muss auch eine Struktur finden, um die
Planungsverfahren nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag zu verzögern. Es
muss einen Zeitpunkt der endgültigen Entscheidung geben. Man muss irgendwann sagen, das machen wir jetzt so. Das ist Aufgabe und Verantwortung der
Politik“, stellt er klar. S.169
Verantwortlichkeit und
Finanzierung noch ungeklärt
Während die finale Entscheidungsbefugnis in Planungsverfahren also bei
Politik und Behörden gesehen wird, zeigen sich die Experten bei der Frage,
wer für die vorgelagerte Bürgerbeteiligung verantwortlich ist, unentschieden. Nur wenige Befragte beziehen zu diesem Aspekt konkret Stellung, darunter Matthias Heck, der findet: „Da liegt der Ball vor allem bei den Unternehmen“. S.186 Verbandsvorsitzende Hildegard Müller meint: „Derjenige, der
etwas umsetzen will, hat auch eine gewisse Verantwortung, solche Verfahren
anzustoßen. Die Politik hat dann die Verantwortung, die zeitlichen Restriktionen im Auge zu behalten, damit sie noch vernünftig sind und den Prozess nicht
künstlich verlängern oder verkürzen.“ S.231 Sören Bartol sieht „alle Beteiligten, die Behörden genauso wie private oder halbprivate Planungsträger, die
sich schon aus Eigeninteresse beteiligen sollten“, in der Verantwortung. „Aber
die Frage, wer den Prozess vor Ort führt, muss auch vor Ort entschieden werden. Die Vorgaben richten sich erst mal an die Behörden, diese können aber
mittelbar die Planungsträger in die Pflicht nehmen.“ S.138 Ähnlich differenziert Frank Brettschneider: „Wenn es ein übergeordnetes gesellschaftliches
Interesse gibt, dann ist der Treiber derjenige, der diese übergeordneten Interessen formuliert – also die Politik und die Verwaltung. Wenn es um sehr klar
benennbare Individualinteressen eines Unternehmens in einer räumlich
begrenzten Situation geht, dann ist es die Sache des Vorhabenträgers selbst.“
Und wer soll die Kosten für Maßnahmen zur Bürgerbeteiligung tragen? Analog zur Verantwortungsfrage müsse auch beim Thema Finanzierung einzelfallabhängig entschieden werden. „Das kann man nicht über einen Leisten
spannen. In einem Fall wird es der Investor sein, im anderen der Staat als
öffentliche Institution oder eine Gemeinde“, sagt Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz. Bei der Finanzierung gebe es ebenso wie bei den Formaten keine allgemeingültigen Regeln. S.257 Sein Parteikollege Sören Bartol
empfiehlt: „Die Planungsträger sollten die Kosten als einen Teil der Planungskosten tragen, so wie dies bereits heute zum Beispiel bei Naturschutzausgleichsmaßnahmen der Fall ist.“ S.138 Für eine Lastenteilung plädiert auch
8 Partizipation – aber wie? 93
Thüringens Wirtschaftsminister Matthias Machnig: „Da muss man BurdenSharing machen. Die Projektentwickler und auch die Öffentlichkeit müssen
dafür entsprechende Ressourcen zur Verfügung stellen.“ Partizipationspolitikerin
Gisela Erler formuliert ihre Erwartungen wie folgt: „Vorhabenträger sollten,
genauso wie sie für den Naturschutz aufkommen, auch ein Budget für Bürgerbeteiligung einplanen und die Kosten dafür entsprechend tragen.“ S.161
Zeitgewinn und
Planungssicherheit
Bei der Frage, welche Auswirkungen Bürgerbeteiligung auf die zeitliche
Dimension von Genehmigungsverfahren hat, sieht eine deutliche Mehrheit
der Fachleute keine Gefahr der Verzögerung für Großprojekte. Ganz im
Gegenteil sind die meisten Experten der Auffassung, dass Dialog- und Beteiligungsmaßnahmen unter dem Strich die Verfahren sogar beschleunigen –
und damit auch Planungssicherheit für die Vorhabenträger schaffen.
Zu den wenigen Experten, die sich bei diesem Fragenkomplex eher skeptisch zeigen, gehören Justus Haucap und Michael Vassiliadis. „Je mehr Leute
man beteiligt, desto häufiger muss man prinzipiell damit rechnen, dass auch
mehr Leute etwas sagen. Mit Stuttgart 21 haben wir das Paradebeispiel erlebt,
wie es nicht laufen sollte“, erklärt der Spitzenvertreter der Monopolkommission S.183, während der Gewerkschaftsvorsitzende zu bedenken gibt: „Mit
solchen Verfahren verbindet sich die Hoffnung, dass weniger Einspruchsverfahren stattfinden. Allerdings bin ich da skeptisch, denn das ist ja ein ideales Bild,
das davon ausgeht, dass diejenigen, die hinterher prozessieren, dieselben sind,
die vorher mit diskutiert haben.“ S.263 Auch Matthias Heck befürchtet,
dass die ohnehin schon langen Planungsprozesse sich durch Bürgerbeteiligung noch einmal verlängern könnten S.187. Regine Günther räumt ein,
dass „zur Wahrheit aber auch gehört, dass eine umfassende Beteiligung der
Betroffenen ein Spagat ist. Je mehr Menschen beteiligt sind, desto länger
könnte ein Verfahren dauern.“ S.178 f.
Volksentscheide:
Pro und Contra
„Natürlich kosten Dialogprozesse viel Zeit. Aber dieser Zeitaufwand lohnt
sich“, ist Joachim Herrmann überzeugt. Ein möglichst breiter Konsens sei
nicht nur unter demokratischen Gesichtspunkten erstrebenswert, sondern
könne unter dem Strich sogar einen Effizienzgewinn in der Verfahrensdauer
bedeuten. „Wenn man ein Projekt ohne Beteiligung durchboxt, ist das Risiko
von Demonstrationen oder Klagewellen und damit von Verzögerungen erheblich größer“, so seine Rechnung. S. 190 Dem schließt sich Rainer Baake an.
In den meisten Fällen würde Bürgerbeteiligung kürzere Verfahren bedeuten,
„denn wenn ein Vorhaben durch alle Verwaltungsgerichtsinstanzen gehen
muss, dauert das in der Regel viel länger als die Zeit, die man am Anfang für
einen Vorklärungsprozess investieren muss“. S. 127 Verwaltungswissenschaftler Helmut Klages hält die Befürchtung, dass Prozesse sich automatisch
verlangsamen, wenn Bürger beteiligt werden, ebenfalls für unbegründet.
„Zwar kommt dadurch ein zusätzlicher Zeitfaktor ins Spiel, dem man Rechnung
tragen muss. Wenn man alle Reserven nutzt, wird man aber am Ende einen
Zeitgewinn verbuchen können.“ S. 203
Kann mehr unmittelbare Demokratie ein Weg der effizienten Auseinandersetzung über Großprojekte sein? Unter den Experten sind direktdemokratische Verfahren wie Volksabstimmungen umstritten. Wenige von ihnen
befürworten derartige Instrumente ausdrücklich. Zu ihnen gehört Justus
Haucap, der von sich sagt: „Ich bin ein Freund von Bürgerbeteiligung und von
plebiszitären Elementen“, und mit Blick auf das Schweizer Modell der Direktdemokratie konstatiert: „Der gesamte vorherige Kommunikationsprozess
läuft ganz anders ab, weil auch jeder Politiker weiß, dass am Schluss das Volk
abstimmt.“ Hans-Werner Fittkau, der für ein konstruktives Nebeneinander
von direktdemokratischen und informellen Beteiligungsmöglichkeiten plädiert, betont die „ungeheuerliche Legitimität“ von Volksabstimmungen, wie
man sie bei Stuttgart 21 praktiziert habe. Derartigen Protesten sei durch
die Abstimmung die moralische Legitimität entzogen worden, glaubt der
Journalist.
„Nein, Bürgerbeteiligung verzögert Planungsverfahren nicht, weil es einfach
zusammengehört“, glaubt auch Hans-Werner Fittkau. Der stellvertretende
PHOENIX-Redaktionsleiter führt als Musterbeispiel den Bau der AllianzArena in München an, wo zwischen Ausschreibung und Realisierung nur
eine ganz kurze Spanne gelegen und frühzeitig ein intensiver Bürgerdialog
stattgefunden habe. „Im Endeffekt ist es für Unternehmen besser, die
Schwierigkeiten am Anfang statt am Ende des Prozesses zu kennen. Das
schafft für Unternehmer mehr Rechtssicherheit. Wenn ich Bedenken im Vorfeld klären kann und Menschen mitnehme, ist die Wahrscheinlichkeit, dass es
nachher Klagen gibt, sehr viel geringer“, resümiert Oliver Krischer für eine
Reihe von Fachleuten. S. 214
Zwar meint auch Olaf Scholz, dass eine Mitwirkung des Souveräns die
Akzeptanz eines Projektes verbessern kann. „Volksentscheide und Bürgerentscheide erhöhen ohne Zweifel die Legitimation dessen, was am Ende eines Entscheidungsprozesses herauskommt.“ Dennoch rückt Hamburgs Erster Bürgermeister zurecht: „Ein Allheilmittel in Sachen Akzeptanz sind Bürger- und
Volksentscheide nicht.“ Kompliziert werde es immer dann, wenn die zur Diskussion stehenden Themen sehr kleinteilig und die Bürger nur unter unverhältnismäßig großem Aufwand in die Lage versetzt werden könnten, zwischen Für und Wider abzuwägen. Problematisch sei zudem eine zu geringe
Beteiligung der Bürger an entsprechenden Verfahren, weil so die Legitimation für einen Entscheid fehle, so der Politiker. S.256
94 ANALYSE
8 Partizipation – aber wie? 95
Direktabstimmungen als
Ultima Ratio
Volksabstimmungen und Bürgerbegehren zählen nach der Teilnahme an
Wahlen zu den von den Deutschen bevorzugten Formen politischer Beteiligung, 78 Prozent der Bürger haben schon einmal an entsprechenden Abstimmungen teilgenommen beziehungsweise geben an, dass eine derartige
Teilnahme für sie infrage käme (vgl. Abb. 8.3).
Ähnlich zurückhaltend äußert sich eine Reihe anderer Fachleute. „Volksentscheide haben ihren Reiz, aber auch ihre Tücken“, sagt etwa Michael Bauchmüller. Kirchenvertreter Eberhard Pausch schränkt ebenfalls ein: „Die direkte
Demokratie macht die Demokratie sicherlich bunter und gibt den Bürgern auch
eine gewisse Kontrollfunktion in die Hand. Sie birgt aber auch Risiken“, erklärt
der Theologe und erinnert an die Entscheidung der Schweizer zum MinarettVerbot. „Sinnvoller sind aus meiner Sicht Bürgerbefragungen, die keinen absolut
zwingenden Charakter haben, aber als Impulse für politische Entscheidungen
respektiert werden müssen.“ S. 238 Michael Fuchs hält Volksabstimmungen
auf kommunaler Ebene für sinnvoll, „aber wir sind eine parlamentarische
Demokratie und wenn wir so weit gehen, dass wir über jedes Großprojekt oder
jede politische Maßnahme das Volk abstimmen lassen, tut das dem Land nicht
gut“. S. 169 Auch Manfred Güllner lehnt in den meisten Fällen Volksentscheide ab, weil direktdemokratische Elemente zum Teil zu verzerrten Einsichten führten; der forsa-Chef spricht sich stattdessen für eine stärkere kommunale Marktforschung zu umstrittenen Vorhaben aus. S.175
Experten wie Dieter Rucht und Gisela Erler halten Volksabstimmungen
ebenfalls nicht für das Mittel der Wahl, sondern lediglich für die Ultima
Ratio. „Es ist nicht unser Ziel, alles in die direkte Demokratie zu verschieben“,
meint die baden-württembergische Staatsrätin. „Aber was in den normalen
Verfahren nicht zu klären ist, sollte dann in einem Volks- oder Bürgerentscheid
geklärt werden können.“ S. 162 Für den Sozialwissenschaftler Rucht sind
direkte Abstimmungen generell nur „ein außergewöhnliches Mittel für schwer
lösbare Konf likte“. Schon gar nicht sollten sie am Anfang eines Projektes
durchgeführt werden, „weil zu diesem Zeitpunkt die Implikation von einzelnen Entscheidungen noch gar nicht klar ist“. Im Gegensatz zu Roger de Weck,
der genau dieses Procedere empfiehlt S. 152, ist Rucht überzeugt: „Ich
bin nicht für eine Hauruck-Lösung in dem Sinne, dass die Leute ganz am
Anfang abstimmen sollen, um dann das Projekt rigoros durchzuziehen oder
eben fallen zu lassen.“ S. 247
Königsweg gibt es nicht
Wie mehrere seiner Expertenkollegen glaubt auch der Joachim Herrmann,
dass es das ultimative Modell für Bürgerbeteiligung nicht gibt. In welcher
Form Bürger in die Planung von Großprojekten einbezogen werden sollten,
hänge vom jeweiligen Vorhaben ab. „Es gibt viele Projekte, wie zum Beispiel
den Bau einer neuen Stadthalle, bei denen es sinnvoll ist, wenn die Bürger vor
Ort grundsätzlich darüber entscheiden können, ob das Projekt überhaupt gewollt
ist.“ Es gebe „aber auch Projekte, bei denen es nicht um das Ob, sondern nur
um das Wie“ gehe, hält der Unionspolitiker fest, etwa wenn große Verkehrsinfrastrukturmaßnahmen bereits vom Bundestag beschlossen seien. S.190
19
Sollte künftig über Großprojekte wie Stuttgart 21
per Volksabstimmung entschieden werden?
Für Joachim Herrmann ist nicht zuletzt wichtig, dass man in der Diskussion
um direktdemokratische Verfahren die Spielregeln des Rechtsstaats deutlich
macht. „Plebiszite heißen eben nicht Willkür von Mehrheitsentscheidungen,
sondern Plebiszite haben sich im Rahmen der geltenden Rechtsordnung zu halten.“ So könnten Bürgerentscheide sich zum Beispiel nicht über den gesetzlichen Rechtsanspruch eines privaten Investors hinwegsetzen, wenn dieser
alle Voraussetzungen für die Genehmigung eines Projektes erfülle. S.191
Die Bürger indes halten viel davon, über Großprojekte mitzuentscheiden.
Laut einer Umfrage sprechen sich 71 Prozent der Befragten dafür aus, künftig
über derartige Vorhaben per Volksabstimmung zu entscheiden (vgl. Abb. 8.2).
96 ANALYSE
JA 71%
NEIN 25 %
Weiß nicht/keine Angabe: 3 %
—
Abb. 8.2
Quelle: Focus/TNS Emnid, 2010
Dass es keine Patentlösungen gebe, betonen auch andere Fachleute. „Man
sollte nicht nach der optimalen Methode suchen, denn die Anwendung der
Methode hängt von den jeweiligen Anforderungen in den einzelnen Projektphasen ab. Die Anforderungen sind ganz unterschiedlich, je nachdem, was die Zielsetzung ist“, glaubt Helmut Klages. S.202 „Mitten in der Innenstadt von Stuttgart ist die Situation völlig anders als bei einem Windrad in der Eifel“, stimmt
Johannes F. Lambertz zu. Es könne daher „keine One-size-fits-all-Lösung“ in
Sachen Bürgerbeteiligung geben. „Die Projekte sind unterschiedlich, deswegen
müssen auch die Instrumente unterschiedlich sein“, so der RWE-Manager.
S.219 Nach den Erfahrungen von Olaf Scholz hat sich ebenfalls herausgestellt, „dass es keine ultimative Lösung gibt. Mal hat sich das eine, mal das
andere Verfahren als hilfreich erwiesen. Die Suche nach einem Patentrezept in
Sachen Beteiligung sollte man daher aufgeben und stattdessen immer für neue
Konzepte offen sein“, fordert der Hamburger Regierungschef. S.257 Auch
Gerd Landsberg sieht „keinen Königsweg. Die Art und Form der Bürgerbeteiligung ist jeweils kontext- und projektabhängig.“ In einem Fall könnten offene
Kommunikationsformen wie das Internet sinnvoll sein, in einem anderen Fall
konkrete Erörterungsverfahren, so der Hauptgeschäftsführer des Deutschen
Städte- und Gemeindebundes. S.221 Die Fülle der Optionen verdeutlicht
auch eine Umfrage, laut der die Bürger sich von Volksentscheiden über die
Teilnahme an Bürgerforen bis zu Abstimmungen im Internet zahlreiche Möglichkeiten der politischen Beteiligung vorstellen könnten (vgl. Abb. 8.3.).
20
Welche Formen von politischer Beteiligung
praktizieren Sie/kämen für Sie infrage und
welche kommen nicht infrage?
Habe ich schon einmal gemacht
oder käme für mich infrage
Kommt für mich
nicht infrage
94 %
Teilnahme an Wahlen
5%
78 %
Volksentscheide, Bürgerbegehren
68 %
21%
29%
Abstimmungen über Infrastrukturprojekte
47%
53%
Teilnahme an einer Demonstration
39 %
60%
Teilnahme an einem Bürgerforum, einer Zukunftswerkstatt
34 %
65%
Mitgliedschaft in einer Bürgerinitiative
30%
69%
Mitgliedschaft in einer Partei
—
Abb. 8.3
Quelle: TNS Emnid, 2011
Best Practice Netzausbau
Aus Sicht der mit dem Netzausbau befassten Fachleute können die aktuell
praktizierten Beteiligungsverfahren zur Trassenplanung durchaus als mögli8 Partizipation – aber wie? 97
che Vorbilder für vergleichbare Projekte dienen. Positiv fällt das erste Zwischenfazit des Präsidenten der Bundesnetzagentur, Jochen Homann, aus:
„So viel Bürgerbeteiligung hat es noch nie bei einem Infrastrukturprojekt
gegeben. Vom ersten Tag an bestanden Transparenz und Bürgerbeteiligung,
sowohl in der Diskussion über die Energieszenarien der Zukunft als auch über
den Netzentwicklungsplan der Netzbetreiber.“ Homann hebt insbesondere
die frühzeitigen Stakeholder-Dialoge und Methodenkonferenzen hervor,
durch die „der Prozess ‚geerdet‘“ wurden und „Akzeptanzbarrieren vermieden“ werden konnten. „Das könnte vorbildlich auch für andere Verfahren und
Großprojekte sein“, meint der Behördenchef. S.195 Konsultative Verfahren,
wie sie bei der Netzausbauplanung eingesetzt werden, sollten bei jedem
Infrastruktur- oder Großprojekt zur Anwendung kommen, empfiehlt auch
Hans-Jürgen Brick. „Die Bürgerbeteiligung ist ein elementarer Bestandteil des
Konsultationsverfahrens und hat bereits jetzt positive Wirkung gezeigt. Das
soll auch in Zukunft so bleiben“, fordert das Mitglied der Geschäftsführung
von Amprion. S. 150
nen. Der Mehrwert einer konsequenten Bürgereinbindung, die idealerweise
nicht erst mit einem Volksentscheid, sondern bereits weit davor beginnen
sollte, scheint auf der Hand zu liegen: Offensichtlich profitieren Vorhabenträger bei der Verwirklichung von Großprojekten im Endeffekt durch einen
Zeitgewinn und mehr Planungssicherheit.
Sollte Bürgerbeteiligung folglich gesetzlich verankert werden? Ist es sinnvoll,
bestimmte Instrumente der Partizipation zur Pflicht zu machen, um im gesellschaftlichen Dialog den Weg für große Vorhaben zu ebnen, wie sie unter
anderem im Zusammenhang mit der Energiewende anstehen? Diesen Fragen
geht im Anschluss das vorletzte Kapitel der Studie nach.
Christoph Bals sieht in den Konsultationsverfahren einen verbesserten Rechtsrahmen, der mehr Transparenz bringt. „Das sollte analog auch für andere Großprojekte gelten“, findet ebenfalls der Geschäftsführer von Germanwatch.
Gleichwohl sieht Bals in Sachen Transparenz noch Optimierungsbedarf. Wichtig sei, insbesondere bei zentralen Argumenten zu erklären, warum sie nicht
aufgegriffen wurden. „Für die Akzeptanzbildung ist das wichtig, sonst kommen
dieselben Argumente beim nächsten Termin wieder auf den Tisch“, so der NGOVertreter. S. 134
Bürgerbeteiligung zur
Norm machen?
Unter dem Strich lässt sich zusammenfassen: Die Verfahren zur Bürgerbeteiligung, wie sie bislang im deutschen Verwaltungsrecht festgeschrieben sind,
bestehen offenbar den Praxistest nicht und sollten daher dringend überarbeitet werden. Dass diesen Reformbedarf auch die Politik erkannt hat, zeigt
unter anderem das „Handbuch für gute Bürgerbeteiligung bei der Planung
von Großvorhaben im Verkehrssektor“, das vor wenigen Monaten auf Initiative von Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer als Entwurfsfassung vorgelegt wurde und nach einer Phase der Online-Bürgerkonsultation im Herbst
2012 in endgültiger Version erscheinen soll (BMVBS 2012).
Die Partizipationsmöglichkeiten müssen aber nicht nur vereinfacht und „alltagstauglicher“ werden, sondern auch sehr viel stärker als bislang durch die
Projektverantwortlichen kommunikativ flankiert und transparent gemacht
werden. Nur durch eine frühzeitige Einbindung der betroffenen Bürger und
einen tatsächlich ergebnisoffenen Dialog werden Beteiligungsanstrengungen aus Sicht der Experten ihren Nutzen in Planungsprozessen entfalten kön98 ANALYSE
8 Partizipation – aber wie? 99
zelnen Ebenen“, fordert der stellvertretende Redaktionsleiter des Nachrichtensenders PHOENIX. S.167
Eine Meinung darüber, welche zusätzlichen Instrumente in Deutschland verankert werden sollten, will der Schweizer Roger de Weck sich nicht anmaßen.
Der Generaldirektor der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft ist
sich aber sicher, „dass sich Verfassungen oder Grundgesetze entwickeln müssen“.
9
Die juristische Perspektive:
Braucht Bürgerbeteiligung
neue Rechtsgrundlagen?
Partizipationsmaßnahmen können nach allgemeinem Dafürhalten bestehende Konflikte im Vorweg entschärfen und im besten Fall sogar zu einer
Akzeptanzsteigerung und damit Beschleunigung von Genehmigungsverfahren beitragen. Bürgerbeteiligung scheint also ein zentraler Erfolgsparameter
bei der Durchsetzung von Groß- und Infrastrukturprojekten zu sein. Doch
bedeutet diese Erkenntnis im Umkehrschluss, dass entsprechende Beteiligungsprozesse gesetzlich verankert und Vorhabenträger zur Bürgerbeteiligung verpflichtet werden müssen?
Diesem Gedankenspiel stimmt nur eine Minderheit der Experten zu. Sören
Bartol spricht sich zwar nicht für detaillierte Gesetzesvorschriften, aber
doch für die Definition von gewissen prozessualen Normen der Bürgerbeteiligung aus. Man brauche keine Instrumente im Sinne einer Mediation
oder einer Planungszelle. „Das wäre eine völlige Überregulierung und
würde den sehr unterschiedlichen Situationen vor Ort nicht gerecht“, meint
der SPD-Bundestagsabgeordnete. „Wir brauchen aber eine gesetzlich verpf lichtende Regelung formaler Standards: Wann muss ich beteiligen, wen
muss ich beteiligen, was muss ich offenlegen und wie muss ich meine Entscheidung am Ende begründen? In welcher Form die Vorgaben umgesetzt
werden, können Behörden wie auch Betreiber sehr gut selbst entscheiden“,
zeigt sich der Politiker überzeugt. S. 137 Diese Auffassung teilt auch
Hans-Werner Fittkau. „Man braucht natürlich klare Definitionen für die ein-
100 ANALYSE
AUF
EINEN
BLICK
Eigenverantwortung statt Überregulierung:
Bürgerbeteiligung sollte weniger de jure, sondern vielmehr vom Vorhabenträger aus eigener Motivation heraus betrieben werden
Mehr Spielraum:
Freie Hand bei den Instrumenten erlaubt eine flexible und der jeweiligen Situation angepasste Gestaltung von Bürgerbeteiligung
Planungsrecht verbessern:
Eine frühe Einbindung der Öffentlichkeit sollte Eingang finden in das
bestehende Planverfahren
Die Gesellschaft erfahre einen solchen Schub, dass sich auch die Institutionen eines Landes erneuern sollten, glaubt der Medienmanager. „Die neuen
Artikulationsmöglichkeiten müssen früher oder später in neue Instrumente
oder sogar in neue Institutionen münden, die den Bürgern eine stärkere Mitsprache eröffnen“, ist sich de Weck sicher. S.154 f.
Uneingeschränkt befürwortet wird die Verrechtlichung von Bürgerbeteiligung durch Gisela Erler und Helmut Klages, „denn wir haben in Deutschland eine rechtsstaatlich geprägte Kultur. Verbindlichkeit ist unter solchen
Voraussetzungen nur auf dieser Grundlage der rechtlich gesicherten Zuverlässigkeit herzustellen“, meint der emeritierte Sozialwissenschaftler. Er
bemängelt, dass es Planern und Betreibern derzeit freigestellt sei, Bürgerbeteiligung durchzuführen oder nicht. Klages verlangt stattdessen „eine
absolute Verlässlichkeit“, die nicht von Zufallsentscheidungen oder von
Opportunitätsüberlegungen abhängen dürfe. S.203 Auch die Staatsrätin
für Bürgerbeteiligung Gisela Erler fordert verbindliche Bürgerbeteiligung,
wie dies auch im „Leitfaden zur Bürgerbeteiligung für Bürger, Politik und
Verwaltung“ (2012) in Baden-Württemberg festgelegt wird. „Der Kern des
Leitfadens ist, dass die Verwaltung Bürgerbeteiligung verbindlich durchführen muss. Dabei ist man in der Wahl der Methoden frei, solange man alle
Akteure in angemessener Weise einbezieht“, so die Politikerin von Bündnis
90/Die Grünen. S.161
9 Die juristische Perspektive 101
Freiwilliger statt
verordneter Dialog
Mehrere andere Fachleute sehen gerade in der Freiwilligkeit das entscheidende Moment. „Dialog muss freiwillig sein, er kann nicht verordnet werden“,
meint etwa Johannes F. Lambertz. Kluge Unternehmen würden derartige
Formate durchführen, aber die Entscheidung darüber könne immer nur beim
Planungsträger selbst liegen, so die Sicht des Vorstandsvorsitzenden der
RWE Power AG. S. 219
Auch Oliver Krischer, Bundestagsabgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen,
hält von „Zwangsmechanismen“ im Vorfeld eines Planungsverfahrens nichts.
„Wir neigen in Deutschland dazu, von einem Extrem ins andere zu fallen. Solche
Verfahren sollten im allgemeinen Rahmen und nicht mit 27 Unterparagraphen
geregelt werden. Wir können Kriterien definieren und Verfahren entwickeln, die
einen empfehlenden Charakter haben, so dass sich Unternehmen oder öffentliche Planer daran orientieren können“, lautet sein Ratschlag. S. 214
Beteiligungsformate
nicht kodifizieren
gar nicht in der Lage. Rechtsstaatlich ist am Ende immer nur das Ergebnis
des Gerichts“, hält der Vorstandsvorsitzende von Bilfinger SE und studierte
Jurist fest. S. 204
Status quo beibehalten
In den Augen des Kommunikationstheoretikers Frank Brettschneider spricht
schon allein die bestehende Vielfalt der Beteiligungsformate gegen ein Reglement durch den Gesetzgeber. „Es gibt einen großen Instrumentenkasten,
welche Beteiligungsform in welchem Kontext sinnvoll ist. Geht es um das Entwickeln von Ideen, dann ist eine Planungszelle ein gutes Format. Geht es um
Feedback von betroffenen Bürgern zu den Vorhabenträgern, dann ist eine
Umfrage vielleicht geeignet oder ein großes Plenum. Geht es um das Austragen
und Entscheiden von Konf likten, dann sind eine Mediation oder ein runder
Tisch gute Formate“, beschreibt Brettschneider die Bandbreite der Einsatzmöglichkeiten. „Je nachdem, womit man es zu tun hat – Information, Kreativität oder Konflikte –, wird man zu unterschiedlichen Instrumenten greifen. Das
sollte man nicht alles rechtlich festschreiben“, findet der Wissenschaftler.
21
Ziele
Beispielhafte Formate
Ideen sammeln, Kommunikation und Energie bündeln
Moderationsmethode, Open Space
Visionen entwickeln, Zukunft gestalten
Zukunftskonferenz, Zukunftswerkstatt, Appreciative Inquiry,
Szenariotechnik
Konflikte bearbeiten, Standpunkte integrieren
Mediation, runder Tisch, Diskurs, Walt-Disney-Methode,
Konsensuskonferenz
Meinungen einholen, Bürger aktivieren
Aktivierende Befragung, Arbeitsbuchmethode, Bürgerpanel,
Community-Organizing
Planungsprozesse initiieren und gestaltend begleiten
Planungszelle, Bürgerforen, Kompetenzwerkstatt, GemeinsinnWerkstatt
Insbesondere mit Blick auf Konsensverfahren wie Mediationen oder runde
Tische stimmt Ulrich von Alemann dieser Auffassung zu. „Es sollte kein
rechtlich verbindliches Verfahren sein, das gleichberechtigt neben den Verwaltungsverfahren oder politischen Entscheidungsverfahren steht. Würde man die
Mediation rechtlich verbindlich machen, würde dies die Mediation unterlaufen.
Dann wäre der Charme der Freiwilligkeit beeinträchtigt“, ist der Parteien- und
Demokratieforscher überzeugt. S. 266 Mediationsprozesse oder runde
Tische müsse man nicht gesetzlich vorschreiben, findet auch Christoph Bals.
Stattdessen könne man möglicherweise Kriterien dafür entwickeln, wann solche Formate eingefordert werden können, „zum Beispiel, wenn eine bestimmte
Anzahl von Gebietskörperschaften einer Region dies fordert“. S.134 f. Eine
Verrechtlichung der Mediation hält ebenso Rainer Baake, Direktor der Stiftungsinitiative Agora Energiewende, für unklug. S.126 f. Gleichwohl machen
sowohl er als auch der Wissenschaftler Ulrich von Alemann unter Verweis auf
das Beispiel Frankfurter Flughafen deutlich, dass die Unverbindlichkeit von
Mediationsverfahren eine Problematik birgt. „Schwierig ist, wenn wie in Frankfurt ein Mediationsergebnis erreicht wurde, das anschließend von Politik und
Betreibern wieder über den Haufen geworfen wird. Da fühlt sich die Bevölkerung
verschaukelt“, so der Politologe von Alemann. S. 266
Hildegard Müller will aus ähnlichen Gründen nicht am Status quo rütteln.
—
„ManXXsollte die Wege der Partizipation nicht en détail durchstrukturieren, weil
Abb.
Bürgerbeteiligung auch von Informalität und Spontaneität lebt“, begründet die
Hauptgeschäftsführerin des Bundesverbandes der Deutschen Energie- und
Wasserwirtschaft (BDEW) ihren Standpunkt. Sinnvoller als eine gesetzliche
Regelung findet die Verbandsvertreterin ein „vernünftiges, begleitendes Projektmanagement für die Kommunikationsarbeit“. S.230 f. Dem widerspricht
Helmut Klages: „Man darf Bürgerbeteiligung nicht romantisch verstehen. Es
ist ein Fehler zu sagen, dass Bürgerbeteiligung etwas Spontanes sein muss, das
man nicht organisieren darf.“ S.202
Roland Koch schließlich findet, Mediation solle man nicht kodifizieren – „sondern sie schlichtweg betreiben“. Eine Normierung habe auch deshalb keinen
Sinn, weil die Mediation rechtsstaatliche Prozesse nicht ersetzt, „dazu ist sie
Aber auch Michael Vassiliadis stimmt zu, dass Beteiligung nicht verrechtlicht werden sollte. „Ich halte nichts von einer Verpf lichtung. Es liegt im
Grunde im Interesse des Antragstellers, aber auch in seiner Verantwortung,
102 ANALYSE
9 Die juristische Perspektive 103
Kommunikation herzustellen oder nicht herzustellen“, meint der Vorsitzende
der Gewerkschaft IG BCE. S. 263
Auch der Redakteur der Süddeutschen Zeitung Michael Bauchmüller ist
„kein Anhänger einer allumfassenden gesetzlichen Vorschrift für solche Prozesse“. Was der Gesetzgeber in der Tat besser regeln müsse, sei eine frühzeitige und umfassende Information der Bürger über die Planung und über die
Möglichkeiten der Beteiligung. „Es ist problematisch, wenn die Gruppe der
beteiligten Bürger und die Gruppe der betroffenen Bürger weit auseinanderfallen, weil zwischen Planung und Vollzug 20 Jahre vergehen. Dieses Problem
ist in der jetzigen Rechtslage groß und da liegt natürlich ein Dilemma“, stellt
der Journalist fest.
Eigeninteresse des Investors
Mehrere Experten sehen die Notwendigkeit von Gesetzesvorschriften auch
deshalb nicht, weil es ihrer Auffassung nach im Eigeninteresse der Vorhabenträger liegt, in einem umfassenden Maße Bürgerbeteiligung zu praktizieren. „Es liegt im Interesse der Investoren, auch ohne gesetzliche Pf licht eine
gesellschaftliche Akzeptanz zu finden, weil ansonsten wirtschaftliche Risiken
entstehen“, glaubt Matthias Heck. Der Senior Manager der australischen
Investmentbank Macquarie lehnt es daher ab, bestimmte Instrumente vorzuschreiben. S. 186 Darin stimmt er mit Patrick Döring überein. „Zu sagen, ab
einer Investitionssumme X muss man dieses und jenes tun, ist nicht sinnvoll“,
sagt der Generalsekretär der FDP. „Wir müssen keine neuen Wachstums- und
Investitionsbremsen erfinden und Bürgerbeteiligung vorschreiben. Ich bin
sicher, dass jeder private Investor dies ab einer gewissen Größenordnung von
selbst machen wird.“ S. 159
Sein Politikerkollege Matthias Machnig hofft ebenfalls auf die Einsicht der
Projektinitiatoren. Dem thüringischen Wirtschaftsminister „wäre es am allerliebsten, wenn das in die Unternehmenskultur einf ließen und ein Mentalitätswandel im Unternehmen stattfinden würde“. Es gehe auf Unternehmensseite
um die Einsicht, dass ein Preis für bestimmte Projekte eben eine frühzeitige
Akzeptanz sei, die vor Ort geschaffen werden müsse, so der Sozialdemokrat.
Erheblicher
Nachbesserungsbedarf
Debattiert wird derzeit in Deutschland über den Gesetzentwurf der Bundesregierung für eine „frühe Öffentlichkeitsbeteiligung“. Das Gesetz, das nach
Abschluss des parlamentarischen Verfahrens voraussichtlich im Herbst 2012
in Kraft treten soll, sieht vor, dass die zuständige Behörde auf den Investor
hinsichtlich einer frühen Einbeziehung der Bürger einwirken soll. Sehen die
104 ANALYSE
Experten darin einen sinnvollen Schritt? Die Mehrheit der Befragten bewertet das Papier zwar nicht als großen Wurf, sieht aber zumindest in der Tendenz richtige Ansätze. „Das vom Innenminister verkündete Ziel ist schon ein
Schritt in die richtige Richtung“, meint zum Beispiel Oliver Krischer. „Aber leider enthält der Gesetzentwurf kaum etwas, was tatsächlich mehr und neue Formen von Bürgerbeteiligung bringt. Zum Teil ist es sogar ein Rückschritt“,
bemängelt der Grünen-Politiker. „Wenn die Bundesregierung es in der Sache
ernst meint, wird sie noch ganz erheblich nacharbeiten müssen.“
Nachbesserungsbedarf sieht auch Helmut Klages. Für den Verfechter verbindlicher Beteiligungsverfahren ist auch beim Gesetzentwurf zur frühen
Öffentlichkeitsbeteiligung die Freiwilligkeit das Problem. „Das ist einer der
großen Kritikpunkte, denn das Innenministerium fordert da zwar mehr Bürgerbeteiligung bei Großprojekten, aber eben nur freiwillig.“ S.203 Die nicht
verpflichtende Soll-Klausel bemängelt ebenso Gisela Erler. „Deshalb schreien
auch die Verfahrensträger und die Wirtschaft nicht auf “, vermutet die Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung der baden-württembergischen Landesregierung. „Unsere Forderung an die Bundesregierung ist, dass
Bürgerbeteiligung als freies Extraverfahren vor dem Planfeststellungsverfahren
stattfinden muss und von den Vorhabenträgern in adäquater Weise finanziert
werden muss.“ S.161 f.
Zweifel an der Effizienz
Volker Kefer äußert sich aus anderen Gründen skeptisch zum bestehenden
Gesetzentwurf. „Das ist ein schwieriges Thema, weil es nicht immer gelingt,
Bürgerbeteiligung so zu orchestrieren, dass sie sich am Ende auch als effizient
erweist. Also mal angenommen, man diskutiert ein Projekt in der Öffentlichkeit,
aber die Diskussion stößt auf kein Interesse. Zu einem späteren Zeitpunkt,
wenn die Entscheidungen getroffen sind, gibt es plötzlich eine große Aufmerksamkeit. Hat man dann etwas falsch gemacht? Oder haben sich die Randbedingungen geändert? Lässt man dann sämtliche Randbedingungen zu, um die Diskussion noch mal aufzuwickeln? Man müsste da ganz klar festlegen, welche
Randbedingungen gelten, ansonsten haben wir keine Rechtssicherheit mehr.
Aus meiner Sicht wäre es sinnvoller, wenn man den Gesamtprozess besser fasst
und beschreibt und die Verfahren insgesamt strafft“, so die kritische Einschätzung des Bahn-Managers. S.199
Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider kommentiert den
Gesetzentwurf wie folgt: „Ein Problem der bestehenden Bürgerbeteiligung
ist ja gerade die Verrechtlichung. Das ersetzt man nicht dadurch, dass man
eine vorgezogene Bürgerbeteiligung ebenfalls verrechtlicht.“
Ulrich von Alemann schließlich stellt zum Thema fest: „Das kann vielleicht
ein wenig Wirkung haben. Wichtiger als Soll-Vorschriften durch den Gesetzgeber ist der Wille, ein solches Großprojekt möglichst gemeinsam durchzu9 Die juristische Perspektive 105
führen.“ Dazu bedürfe es eines „Vertrauensklimas anstelle einer feindlichen
Atmosphäre“, wendet sich der Wissenschaftler gegen entsprechende Gesetzesvorschläge.
Politiker: Reformbedarf
beim Planungsrecht
Nach Meinung fast aller Politiker sind es nicht die Beteiligungsvorschriften,
sondern vielmehr die Planungsverfahren, bei denen Reformbedarf besteht.
Durch eine verbesserte Genehmigungspraxis könnten Konflikte zum Teil vermieden und Bürger besser in die Projektplanung eingebunden werden, so
die Auffassung der Experten. „Ich werbe dafür, dass wir unser Planfeststellungsrecht verändern“, sagt Patrick Döring. Er schildert als Negativbeispiel
einen Fall, wo die Behörden für den Bau eines Kohlekraftwerks einen weiteren Planfeststellungsbeschluss forderten, obwohl sich auf dem Gelände
zuvor bereits eine kerntechnische Anlage befunden hatte. Solche zweifachen Planungsverfahren „und übrigens auch eine Menge Standortdiskussionen“ könne man sich ersparen, ist der FDP-Politiker überzeugt. Ebenso wenig
brauche man ein erneutes Raumordnungsverfahren, wenn zum Beispiel
neben zwei vorhandenen Gleisen ein drittes Gleis gelegt werden soll. „Der
Raum wird nicht neu geordnet“, so Dörings Auffassung. „Wo es abgearbeitet
ist, braucht es keine Doppelprüfung“, pflichtet Sören Bartol bei. „Wenn man in
dem ersten Verfahren wie einem Raumordnungsverfahren überprüft, welche
Trasse die umweltfreundlichste ist, dann muss man im Planfeststellungsverfahren nicht noch einmal eine Umweltverträglichkeitsprüfung mit genau denselben Schritten machen“, kritisiert der SPD-Abgeordnete die derzeitige Praxis.
Auch Oliver Krischer glaubt, dass man bei den Planungsverfahren zu Gunsten eines intensiveren Bürgerdialogs noch eine Menge entschlacken kann:
„Für die Diskussion über ein Projekt, seine Notwendigkeit und die Ausgestaltung müssen wir uns mehr Zeit nehmen. Im Gegenzug kann man dann im
Planverfahren das ein oder andere vielleicht verkürzen“, so die Rechnung des
Grünen-Politikers. S. 214
Unionspolitiker Joachim Herrmann möchte das Planfeststellungsrecht vereinheitlichen. „Die Verfahren sind zwar alle ähnlich, aber gerade in Detailvorschriften ist das eine nach dem Eisenbahnrecht, das andere nach dem Fernstraßenrecht und das dritte wieder nach einem ganz anderen Recht geregelt.
Die verschiedenen Detailvorschriften erschweren natürlich auch die Verständlichkeit der Verfahren für die Bürger“, bemängelt der bayerische Innenminister. „Von daher ist eine Angleichung sehr sinnvoll.“ S. 189
Wie seine Politikerkollegen ermuntert auch SPD-Bürgermeister Olaf Scholz
dazu, bestehende Regelungen auf den Prüfstand zu stellen: „Es empfiehlt
sich, immer wieder neu über Optionen im Rahmen unseres deutschen Verfas106 ANALYSE
sungs- und Verwaltungsgefüges nachzudenken.“ Für ihn ist dabei insbesondere die Frage von Interesse, ob ein Planungsverfahren auch die Möglichkeit eines Vergleichs eröffnen könne, der dann allerdings für alle Beteiligten
bindend sei. Scholz verweist in diesem Zusammenhang auf die USA, wo die
in einem Mediationsverfahren getroffenen Entscheidungen anders als in
Deutschland rechtsverbindlich seien. „Unser deutsches Verfahrensrecht
dagegen erlaubt es, dass auch nach einem solchen ,Vergleich‘ jeder noch
seine Interessen individuell durchsetzen kann“, beschreibt der Jurist die derzeitige Gesetzgebung. S.258
Das derzeitige Planungsrecht wird auch von Verwaltungsjuristen durchaus kritisch betrachtet. „Das Vorhaben ist bei Einleitung des Planfeststellungsverfahrens
durch den Antrag bereits so weit konkretisiert, dass es kaum noch Spielraum für
Alternativen gibt“, bemängeln etwa Bernhard Stüer und Dirk Buchsteiner in
einem Fachaufsatz. Nicht selten würden im Erörterungstermin hochkomplexe
Detailfragen behandelt, die für die allgemeine Zuhörerschaft kaum nachvollziehbar seien. „Auch diese Komplexität und Formalisierung des Verfahrens kann
in der Öffentlichkeit zu Verdruss führen“, schreiben die Rechtswissenschaftler.
Stüer und Buchsteiner diskutieren in ihrem Beitrag konkrete Verbesserungsmöglichkeiten des Planungsrechts. Anknüpfend an entsprechende Erfahrungen
in der Bauleitplanung, schlagen die Autoren für das Planungsverfahren eine
vorgezogene Öffentlichkeitsbeteiligung vor. Insbesondere bei bedeutsamen
und politisch umstrittenen Vorhaben könnten bestehende Mitwirkungsmöglichkeiten durch eine frühzeitige öffentliche Unterrichtung erweitert werden.
Als Formate für eine solche Vorerörterung unter Einbeziehung von Behörden
und Öffentlichkeit empfehlen die Juristen Informationsveranstaltungen oder
runde Tische (Stüer/Buchsteiner 2011: 2, 8).
Keine Überregulierung
Bilanziert man die Ausführungen der Experten, ergibt sich ein relativ klares
Bild: Während über eine Reform des derzeitigen Planungsrechts durchaus
nachgedacht werden sollte, scheint eine gesetzliche Verankerung von Bürgerbeteiligung in Deutschland nur für wenige Experten eine Option zu sein.
Nach der Mehrheitsmeinung stünde offenbar ein allzu enges rechtliches Korsett dem formulierten Anspruch an eine Partizipation im Weg, die auf den
freiwilligen Dialog und die Eigenverantwortung der Projektträger sowie flexible, der jeweiligen Situation angepasste Formate setzt. Wer ein Großvorhaben plant, wird heute schon aus Eigeninteresse das Gespräch mit den betroffenen Bürgern suchen und muss dazu nicht per Gesetz verpflichtet werden,
so die mehrheitliche Einschätzung. Gewisse formale Standards könnten allerdings helfen, Beteiligungsprozesse zu vereinheitlichen und für die Allgemeinheit transparenter zu machen.
Welche realistischen Erwartungen kann man demnach an Bürgerbeteiligung stellen? Sind entsprechende Maßnahmen der Königsweg zur Durch9 Die juristische Perspektive 107
setzung von künftigen Groß- und Infrastrukturprojekten? Oder nur
ein Erfolgsfaktor unter vielen? Das folgende Studienkapitel fasst
zum Abschluss die Chancen und Grenzen von Bürgerbeteiligung aus
Expertensicht zusammen.
10
Wunsch und Wirklichkeit:
Bürgerbeteiligung ist ein
dauerhafter Lernprozess
Die Erwartungen an Bürgerbeteiligung sind hoch. Die frühzeitige und gezielte
Einbindung der Menschen in die Vorhabenplanung soll auf möglichst breiter
Basis Akzeptanz schaffen, Prozesse idealerweise beschleunigen und bestehende Konflikte befrieden. Doch wie realistisch ist diese Vorstellung? Können
Beteiligungsverfahren tatsächlich all das leisten?
Eine Reihe von Experten hebt hervor, dass Bürgerbeteiligung allein noch
kein Garant dafür ist, dass ein Projekt ohne Widerstände der Bevölkerung
akzeptiert wird. „Man wird niemals alle Gegner von der Notwendigkeit des
Projekts überzeugen können“, stellt Gisela Erler fest. Das gelte insbesondere
dann, wenn es „einen Fundamentaldissens gibt, ob man das Projekt überhaupt braucht“, so die Einschätzung der baden-württembergischen Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung. S.160 Gerd Landsberg,
Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes, hält je
nach Projekt und Kontext den Einsatz verschiedener Beteiligungsformen
für durchaus empfehlenswert, relativiert allerdings: „Es muss aber klar sein,
dass man nie alle Wünsche befriedigen kann.“ S.222
Stephan Kohler rückt die Wirkmöglichkeiten von Bürgerbeteiligung ebenfalls
zurecht: „Der Anspruch, mit Beteiligungsverfahren 100 Prozent der Bevölkerung
hinter sich zu bekommen, ist falsch. Und wir sollten nicht so tun, als ob wir jeglichen Protest verhindern könnten. Das werden wir nicht hinbekommen, weil
die Interessen zu unterschiedlich sind“, warnt der Vorsitzende der Geschäfts-
108 ANALYSE
10 Wunsch und Wirklichkeit 109
führung der Deutschen Energie-Agentur (dena) vor überzogenen Erwartungen an das Thema Bürgerbeteiligung. Mit Blick auf die Energiewende, die
Einfluss auf die Landschaft und das Lebensumfeld der Menschen haben
werde, urteilt Kohler: „Das kann man nicht schönreden.“ S.211 Auch Rainer
Baake rät Vorhabenträgern zu einer nüchternen Sicht auf die Dinge. Wer ein
Diskrepanz:
Die hohen Erwartungen der Gesellschaft an Bürgerbeteiligung werden
heute in der Praxis noch nicht immer eingelöst
Beteiligung will gelernt sein:
Deutschland ist gerade erst auf dem Weg, sich eine Dialog- und
Partizipationskultur anzueignen
AUF
EINEN
BLICK
Realismus:
Bürgerteilhabe kann Akzeptanz fördern – wird aber niemals alle
Betroffenen für ein Großprojekt einnehmen können
Weiterer Diskussionsbedarf:
Die Frage, wie repräsentativ Beteiligungsverfahren tatsächlich sein
können und wo Partizipation möglicherweise an ihre Grenzen stößt,
bleibt vorerst offen
Großprojekt plane und in das Wohnumfeld der Menschen und in die Umwelt
eingreife, müsse sich kritischen Fragen stellen. „Am Ende eines Beteiligungsprozesses kann herauskommen, dass nicht alle Bürger überzeugt sind“, konstatiert der Direktor der Stiftungsinitiative Agora Energiewende. S.126 Dem
stimmt Regine Günther zu: „Bei allem Bemühen um einen Konsens: Es mag
einen Punkt geben, an dem die Interessen nicht zusammenzubringen sind.
Dann muss der Staat entscheiden.“ S. 178 Auch Jochen Homann folgert aus
den bisherigen Erfahrungen in den Konsultationsverfahren zum Netzausbau,
dass man „nicht jeden Einwand berücksichtigen“ könne, „weil es teilweise
auch gegensätzliche Positionen gibt“. S. 195
Nach Meinung von Helmut Klages besteht die Gefahr, dass Bürgerbeteiligung
ins Uferlose geht. Es müsse daher ein Zeitrahmen fixiert werden. „Bei Überschreitung dieses Zeitrahmens muss überlegt werden, ob man durch eine Umorganisation eingreift oder den Prozess vielleicht sogar abbricht“, empfiehlt der
emeritierte Professor für Sozialwissenschaften. S. 202
gestalten müssen. Zustimmung oder Ablehnung in Bezug auf Vorhaben würden sich über den meist sehr langen Zeitverlauf eines Projektes häufig verändern, meint etwa Eberhard Pausch. „Deshalb muss man kontinuierlich mit den
Menschen im Gespräch bleiben“, benennt der Oberkirchenrat die Aufgabe, vor
der alle Planungsverantwortlichen stünden. S.238
„Gerade wenn man an größere und längerfristige Projekte denkt, geht es ja
nicht nur um Augenblicksentscheidungen, sondern um Prozesse, die unter
Umständen über Jahre laufen“, ergänzt Helmut Klages. Daher gebe es auch
immer wieder neue Entscheidungen, durch die die Planung umgestoßen,
geändert oder neu formuliert werden müsse. „Es reicht also nicht, die Bürger
nur einmal zu beteiligen, selbst wenn diese Beteiligung ganz intensiv war“,
befindet der Verwaltungswissenschaftler. S.201 f.
Klages sieht zudem die Methodik der Bürgerbeteiligung noch nicht ausgereift. „Man kann nicht unbedingt davon ausgehen, dass sich immer dieselben
Bürger beteiligen, insofern gibt es keine gesicherte Beteiligungskontinuität,
was ja in vielen Diskussionen unterstellt wird. Es muss aber trotzdem sichergestellt werden, dass Ergebnisse einer Phase in die nächste Phase übernommen
werden und dass man nicht immer wieder von neuem anfängt. Dieses Organisationsproblem der Bürgerbeteiligung muss – und kann – durch methodische
Ansätze gelöst werden.“ S.202
Mit Blick auf die Erfahrungen bei den Konsultationen zum Netzausbau reflektiert Christoph Bals: „Die Behörden und auch die Übertragungsnetzbetreiber
müssen kompetent in Bezug auf geeignete Methoden der Bürgerbeteiligung
sein. Wir sehen mit Freude, dass die Netzbetreiber sich fortbilden und entwickeln. Wir sehen aber auch den weiteren Entwicklungsbedarf, übrigens auch auf
unserer Seite.“
Justus Haucap wiederum empfindet eine Diskrepanz zwischen Nutzen und
Kosten von Bürgerbeteiligung. Das Problem bestehe darin, dass die Betroffenheit lokal vor Ort entstehe, während der Nutzen möglicherweise globaler
Natur sei. Insofern, so die Überlegung des Vorsitzenden der Monopolkommission, sollten Entscheidungen nicht nur vor Ort getroffen werden, da man
so Gefahr laufe, den Nutzen im Vergleich zu den Kosten zu gering zu bewerten. „Das ist vielleicht das ökonomische Problem, dass der Nutzen auf einer
zentraleren Ebene entsteht und die Kosten auf einer dezentraleren Ebene anfallen“, fasst der Wettbewerbsexperte zusammen.
Methodik noch unausgereift
Wie repräsentativ ist
Bürgerbeteiligung?
Manche Fachleute sehen eine besondere Herausforderung darin, dass Vorhabenträger Bürgerbeteiligung als kontinuierlichen Prozess begreifen und
Noch längst nicht ausdiskutiert scheint zudem die Frage, inwieweit Bürgerbeteiligung repräsentativ sein kann. Deutlich wurde die Problematik
110 ANALYSE
10 Wunsch und Wirklichkeit 111
unter anderem im Vorfeld des Bürgerentscheids zum Ausbau des Münchner
Flughafens. Dort waren Anfang Juni 2012 die Bewohner der Landeshauptstadt, nicht aber die Bewohner der eigentlich betroffenen Gemeinden
in den Landkreisen Erding und Freising zur Abstimmung aufgerufen. Zwar
votierten die Münchner letztlich gegen die dritte Startbahn und damit wohl
im Interesse der Airport-Anlieger. Im Vorfeld allerdings hatte es berechtigte Diskussionen über die Frage gegeben, wie legitim ein Entscheid sein
kann, an dem die tatsächlich Betroffenen aus formalen Gründen nicht mitwirken dürfen.
Die Experten sind, was die Fragestellung der Repräsentativität betrifft,
unterschiedlicher Meinung. Manfred Güllner gibt zu bedenken: „Die Mitmachpolitik darf nicht dazu führen, dass man nur Partikularinteressen
Chancen gibt. Das wäre absolut fatal.“ Der Geschäftsführer des Meinungsforschungsinstituts forsa ist überzeugt, „dass vordergründig ‚bürgerfreundliche‘ Partizipationsangebote nicht zu mehr, sondern zu immer geringerer
Beteiligung führen. Zudem sprechen sie primär das ‚grüne‘ Bildungsbürgertum an und führen dazu, dass sich große Teile der Bevölkerung, die nicht
über die erforderlichen Fertigkeiten und Fähigkeiten im Umgang mit bürokratischen Ritualen verfügen, in immer stärkerem Maße von Entscheidungsprozessen ausgeschlossen fühlen“, beschreibt Güllner einen aus seiner Sicht
problematischen Verzerrungseffekt. S. 174
Auch Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz sieht in mangelnder
Beteiligung ein latentes Problem. In seinen Augen lohnt es sich daher,
„darüber nachzudenken, wie sichergestellt werden kann, dass Bürgerentscheide und Volksentscheide immer ausreichend legitimiert sind“. Eine solche Legitimation kann seiner Auffassung nach nur darin bestehen, „dass
die aufgerufene Bevölkerung einer Gemeinde, eines Stadtteils, eines Landes
oder der Bundesrepublik Deutschland genau weiß, worum es geht“. Die Themen solcher Verfahren müssten hinreichend öffentlich diskutiert werden,
verlangt der Politiker. „Und nicht zuletzt müssen sich genügend Bürgerinnen und Bürger an der Entscheidung beteiligen.“
S.256 f.
Dem hält Ulrich von Alemann entgegen: „In der Demokratie entscheidet
nicht immer die ganze Bevölkerung. Wir wollen Beteiligung, auch Wahlbeteiligung, nicht erzwingen. Wir können Demokratie auch nicht einfach nur
als Mehrheitsherrschaft definieren. Wir haben eine ganze Menge von Elementen, die der Mehrheitsherrschaft völlig entzogen sind, wie die Urteile
des Bundesverfassungsgerichts. Demokratie, wie wir sie in Deutschland
haben, ist – wie es Aristoteles ausdrücken würde – eine gemischte Verfassung. Die Aktivbürgerschaft ist immer eine Minderheit. Wenn ein informelles Beteiligungsformat, wie ein Mediationsverfahren, relativ offen und transparent durchgeführt wird, es nicht von vornherein bestimmte Gruppen
ausschließt und die betroffene Bevölkerung in einem vernünftigen Rahmen
einbezogen wird, dann sehe ich aus demokratietheoretischer Sicht keine
großen Probleme.“
S.266
112 ANALYSE
Auf gutem Weg
Proteste gegen 3. Startbahn in München
Während eine Reihe von Fachleuten auf die noch ungeklärten Fragen der Bürgerbeteiligung fokussiert, sehen einige andere Experten das Thema bereits
auf gutem Weg in Deutschland. „Im Grunde kriegen wir eine gelungene Bürgerbeteiligung gar nicht mit. In diesem Land wird ja permanent gebaut, wurden
permanent Bürger befragt und häufig eben auch reibungslos“, stellt Michael
Bauchmüller klar. „Nur da, wo es eben Widerstand, Mahnwachen, Feuer und die
Leserbriefe gibt, da wird es publik.“ Daher entstehe zuweilen die Wahrnehmung, dass hierzulande überhaupt nicht mehr gebaut werden könne, weil
überall sofort die Bürger auf den Barrikaden seien, beklagt der Journalist und
widerspricht nachdrücklich diesem Eindruck: „So ist es einfach nicht.“
Diese Sicht teilt Joachim Herrmann: „In der Praxis sieht man, dass Bürgerentscheide keineswegs pauschal zur Verhinderung von Projekten führen, denn in
der Gesamtsumme gibt es etwa genauso viele Bürgerentscheide, die sich am
Schluss mehrheitlich für ein Projekt ausgesprochen haben, wie Bürgerentscheide, die sich gegen ein Projekt ausgesprochen haben.“ Das weit verbreitete
Bild einer „Dagegen-Republik“ stimme daher nicht, vielmehr gebe es eine Vielzahl von Beispielen, bei denen sich eine demokratische Mehrheit von Bürgern
für ein Projekt ausgesprochen habe, so der bayerische Innenminister. S.191
Den Mehrwert von Bürgerbeteiligung als Fortentwicklung der Demokratie
hebt auch Gerd Landsberg explizit hervor. „Die repräsentative Demokratie hat
sich auf der Grundlage des Grundgesetzes in über 60 Jahren bewährt. Danach
werden die gewählten Vertreter, also auch die kommunalen Ratsmitglieder, von
den Bürgern zu Planungsentscheidungen legitimiert. Die repräsentative Demokratie lebt aber von dem Wissen und den Ideen ihrer Bürgerinnen und Bürger“,
betont der Spitzenvertreter der Kommunen. „Die Einbringung dieses Fundus
bedeutet gerade für die Städte und Gemeinden bei der Planung von Projekten
einen unschätzbaren Mehrwert. Dieses Potenzial zu aktivieren und vor Ort zu
nutzen ist daher eine dauerhafte Aufgabe insbesondere der Städte und
Gemeinden.“ S.220
Neue Kultur aneignen
Oliver Krischer glaubt, dass die Deutschen sich die dafür notwendige Diskurskultur erst noch aneignen müssen. „Diese Debatte ist sicherlich nicht einfach, weil es auch eine in Deutschland wenig praktizierte Kultur ist. Wir sind da
alle immer sehr preußisch: Bei uns kommt eine Behörde, legt einen Plan auf
den Tisch und das ist dann der Kampfpunkt. Es fehlt der Prozess, dass wir über
die Ausgestaltung des Projektes im Grundsätzlichen sprechen“, meint der Abgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen. S.214
Es bleibt festzuhalten: Deutschland setzt große Hoffnungen in die Bürgerbeteiligung, sollte sich dabei aber nach Einschätzung vieler Experten einen
10 Wunsch und Wirklichkeit 113
realistischen Blick für das Machbare bewahren. Politik, Unternehmen und
Bürger werden erst noch Erfahrungen sammeln und sich in der Praxis der
Partizipation üben müssen, ehe die Gesellschaft in vollem Umfang davon
profitieren kann. Offenbar ist Bürgerbeteiligung kein Allheilmittel, mit dem
sich alle Probleme und Konflikte auf einen Schlag lösen lassen, sondern vielmehr ein fortdauernder und wahrscheinlich auch mühsamer Lernprozess,
der allen Beteiligten ein hohes Maß an Konsensbereitschaft, aber auch
Engagement und eine neue Dialogkultur abverlangt. Oder, um es mit Sören
Bartol auszudrücken: „Wir müssen lernen, dass Beteiligung keine Werbestrategie ist.“ S. 138
Großprojekte
in Deutschland
Offshore-Windpark
Global Tech I
Kiel
Megabrücke
Fehmarnbelt
Rostock
Küstenautobahn A 20
Elbvertiefung
Hamburg
Kohlekraftwerk
Moorburg
JadeWeserPort
Tiefwasserhafen – Wilhelmshaven
Bremen
Atommüllendlager
Gorleben
Stadtautobahn
A 100
Berlin
Hannover
Flughafen
Berlin-Brandenburg
Kohlekraftwerk
Datteln
CO-Pipeline der Bayer AG
Krefeld-Uerdingen - Dormagen
Dortmund
1
3
City-Tunnel
Düsseldorf
Köln
2
Leipzig
Dresden
Erfurt
U-Bahn-Bau
Waldschlösschenbrücke
ICE-Bahntrasse
Erfurt - Nürnberg
Frankfurt
Hochmoselbrücke
Ürzig - Rachting
Flughafenerweiterung
4
Nürnberg
Saarbrücken
Karlsruhe
Rheintalbahn
Karlsruhe - Basel
Großprojekte (eine Auswahl)
1
2
3
4
114 ANALYSE
Stromtrassen
Emden - Osterath - Philippsburg
Wehrendorf - Urberach
Wilster - Goldhöfe
Lauchstädt - Meitingen
ICE-Bahntrasse
Stuttgart - Ulm
Freiburg
Katzenbergtunnel
Lörrach
Stuttgart
Stuttgart 21
München
Flughafenerweiterung
Dritte Startbahn
10 Wunsch und Wirklichkeit 115
Einsichten,
Ansichten,
Aussichten ...
Peter Altmaier
Bundesminister für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit, MdB _ 120
Dr. Roger de Weck
Generaldirektor, Schweizerische
Radio- und Fernsehgesellschaft
(SRG SSR) _ 152
Rainer Baake
Direktor, Agora Energiewende,
Smart Energy for Europe Platform
GmbH _ 124
Patrick Döring
Stellv. Fraktionsvorsitzender,
Generalsekretär, FDP-Bundestagsfraktion, MdB _ 156
Dr. Günther Bachmann
Generalsekretär, Rat für Nachhaltige
Entwicklung _ 128
Gisela Erler
Staatsrätin für Zivilgesellschaft
und Bürgerbeteiligung in
Baden-Württemberg _ 160
Christoph Bals
Politischer Geschäftsführer,
Germanwatch e.V. _ 132
Sören Bartol
Sprecher der Arbeitsgruppe
Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, SPD-Bundestagsfraktion,
MdB _ 136
Michael Bauchmüller
Korrespondent Parlament + Wirtschaft, Süddeutsche Zeitung _ 140
Prof. Dr. Frank Brettschneider
Lehrstuhlinhaber Kommunikationswissenschaften, Universität
Hohenheim _ 144
Dr. Hans-Jürgen Brick
Mitglied der Geschäftsführung,
Amprion GmbH _ 148
Hans-Werner Fittkau
Redakteur, Chef vom Dienst,
Reporter und Moderator,
PHOENIX _ 164
Dr. Michael Fuchs
Stellv. Fraktionsvorsitzender für
Wirtschaft, Mittelstand, Tourismus
und Petitionen, CDU/CSU-Bundestagsfraktion, MdB _ 168
Prof. Manfred Güllner
Geschäftsführer, forsa, Gesellschaft für Sozialforschung und
statistische Analysen mbH _ 172
Regine Günther
Leiterin Klima- und Energiepolitik,
WWF Deutschland _ 176
Prof. Dr. Justus Haucap
Direktor, Duesseldorf Institute for
Competition Economics (DICE) _ 180
Matthias Heck
Senior Manager, Macquarie Capital
Limited _ 184
Joachim Herrmann
Innenminister des Freistaats Bayern, Bayerisches Staatsministerium
des Innern, MdL _ 188
Jochen Homann
Präsident, Bundesnetzagentur für
Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen _ 192
Dr. Volker Kefer
Vorstand Technik, Systemverbund
und Dienstleistungen; Vorstand Infrastruktur, Deutsche Bahn AG _ 196
Prof. Dr. Helmut Klages
Em. Professor für empirische
Sozialwissenschaften, Deutsche
Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer _ 200
Roland Koch
Vorstandsvorsitzender,
Bilfinger SE _ 204
Oliver Krischer
Mitglied im Ausschuss für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit, Bundestagsfraktion Bündnis
90/Die Grünen, MdB _ 212
Dr. Johannes Lambertz
Vorstandsvorsitzender,
RWE Power AG _ 216
Dr. Eberhard Pausch
Oberkirchenrat, Evangelische Kirche
in Deutschland _ 236
Dr. Philipp Rösler
Bundesvorsitzender der FDP,
Bundesminister für Wirtschaft und
Technologie, MdB _ 240
Prof. Dr. Dieter Rucht
Leiter Wissenschaftszentrum
Berlin für Sozialforschung (WZB),
Honorarprofessor am Institut
für Soziologie, Freie Universität
Berlin _ 244
Dr. Gerd Landsberg
Geschäftsführendes Präsidialmitglied, Deutscher Städte- und
Gemeindebund _ 220
Matthias Machnig
Minister für Wirtschaft, Arbeit und
Technologie in Thüringen _ 224
Elisabeth Schick
Leiterin Unternehmenskommunikation/Governance, BASF SE _ 248
Hildegard Müller
Vorsitzende der Hauptgeschäftsführung, Bundesverband der Energieund Wasserwirtschaft e.V. _ 228
Dr. Rolf Martin Schmitz
Stellv. Vorstandsvorsitzender,
RWE AG _ 252
Andreas Nauen
Vorstandsvorsitzender,
REpower Systems SE _ 232
Olaf Scholz
Erster Bürgermeister der Freien und
Hansestadt Hamburg _ 256
Michael Vassiliadis
Vorsitzender, Industriegewerkschaft
Bergbau, Chemie, Energie _ 260
Prof. Dr. Ulrich von Alemann
Em. Professor für Politikwissenschaften, Universität
Düsseldorf _ 264
Stephan Kohler
Vorstandsvorsitzender,
Deutsche Energie-Agentur GmbH
(dena) _ 208
118 INTERVIEWS
Einsichten, Ansichten, Aussichten ... 119
Peter Altmaier
»Das Netz wird zur politischen
Artikulationsplattform für Protest.«
Bundesumweltminister Peter Altmaier über das nationale Gemeinschaftsprojekt
Energiewende und neue Beteiligungsmöglichkeiten im Internet.
Herr Bundesumweltminister,
Sie haben die Energiewende als
„bislang größte Herausforderung“ in Ihrem politischen Leben
bezeichnet. Wo sehen Sie die
Druckpunkte?
Der Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromversorgung beträgt
inzwischen 25 Prozent, sie sind somit
aus den Kinderschuhen heraus. Sie
müssen besser abgestimmt werden
auf den Ausbau der Netze, auf den
wir uns konzentrieren müssen. Wir
müssen uns auch mehr um Speicher
und um Lastmanagement kümmern.
Zur Person
Peter Altmaier ist seit Mai 2012 Bundesminister für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit. Mit seinem
Wechsel in die Bundesregierung
legte er sein Amt als Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/
CSU-Bundestagsfraktion nieder,
das er seit Oktober 2009 innehatte.
Zuvor war Altmaier parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium des Innern. Vor seiner Wahl
in den Deutschen Bundestag 1994
war der studierte Jurist Beamter der
Europäischen Kommission.
Wie lassen sich die Interessen
der unterschiedlichen Akteure
zusammenbringen?
Wir brauchen einen nationalen Konsens, der uns zusammenführt. Darin
müssen wir Ausbauziele und Ausbautempo klären, aber auch Netzausbau und -kosten. Strom darf
weder jetzt noch künftig zum Luxusgut werden.
Sie haben betont, dass Deutschland auch in Zukunft auf Strom
aus Gas und Kohle nicht verzichten könne. Wie wollen Sie hierfür
Akzeptanz schaffen?
Die erneuerbaren Energien werden
120 INTERVIEWS
noch viele Jahre auf konventionelle
Unterstützung angewiesen sein. Sie
sind keine Gegner, sondern ergänzen
sich gegenseitig.
Immer wieder gibt es in der
Bevölkerung auch Widerstände
gegen Projekte im Bereich der
Erneuerbaren. Wie lassen sich
solche Konflikte auflösen?
Solche Entscheidungen können nicht
im lokalen Kontext getroffen werden,
wo sie wirksam werden, sondern
müssen immer in den nationalen
Kontext gestellt und von überregionalen Stellen beschlossen werden.
Das ermöglicht eine Objektivierung
der Debatte und erhöht die Chancen,
dass lokale Widerstände relativiert
werden. Deswegen wollen wir beim
Um- und Ausbau der Stromnetze die
Bundesnetzagentur stärker einbinden, weil wir uns davon eine Objektivierung der Abläufe versprechen.
Haben Sie Verständnis dafür,
dass die Bürger trotz legitimer
Verfahren gegen Großprojekte
demonstrieren?
Das ist keine Frage des Verständnisses, sondern eine Frage der Beschreibung der Realität. Und die sieht so
aus, dass Bürger, besonders wenn es
sich um eine persönliche, unmittelbare Betroffenheit handelt, heute
wesentlich leichter zu mobilisieren
sind als in der Vergangenheit. Inwieweit parlamentarische Entscheidungen einen legitimierenden Charakter
haben, hängt davon ab, unter welchen Voraussetzungen sie getroffen
wurden, wie stark sie von der Öffentlichkeit wahrgenommen werden und
ob es aus Sicht der Betroffenen eine
Chance gibt, diese Entscheidungen
zu revidieren. Daher muss man der
Entscheidungsfindung eine stärkere
Aufmerksamkeit widmen, denn
ansonsten geht von diesem Prozess
keine legitimierende Wirkung aus.
Das bedeutet Planungsunsicherheit
und Ungewissheit darüber, ob
getroffene Entscheidungen auch
umgesetzt werden können.
War insbesondere die Intransparenz der Entscheidungen
Grund für die Proteste gegen
Stuttgart 21?
Ja. Es gibt bei einer nicht unerheblichen Zahl von Menschen den Eindruck, dass das politische System
insgesamt zu undurchsichtig geworden ist. Für sie ist die Legitimation
getroffener Entscheidungen generell fragwürdig und kann in Einzelfäl-
len Protest und Widerstand hervorrufen. Das sieht man auch am Erfolg
der Piratenpartei. Das Beispiel Stuttgart 21 zeigt allerdings, dass es
möglich ist, solche Debatten zu
beenden, wenn man eine Form der
Entscheidung findet, die als unanfechtbar gilt. Das war letzten Endes
der Volksentscheid. Nach meinem
Eindruck hat aber bereits der
Schlichterspruch von Heiner Geißler
die Debatte wesentlich abgekühlt.
Was konkret hat die Schlichtung
bewirkt?
Das entscheidende Verdienst von
Heiner Geißler besteht darin, dass er
für Transparenz gesorgt und den
Eindruck vermittelt hat, dass die
Schlichtung ergebnisoffen war. Beides zusammen hat dazu geführt,
dass sich sowohl Befürworter als
auch Gegner auf ein Verfahren einlassen mussten, dessen Ausgang sie
nicht kannten. Das hat die legitimierende Wirkung des Schlichterspruches erheblich verstärkt.
Hat die Schlichtung auch zum
Ausgang des Volksentscheids
beigetragen?
Da waren drei Dinge maßgeblich:
Erstens haben die Kritiker durch den
Schlichterspruch in erheblichem
Maße an Legitimation verloren.
Zweitens hat durch die intensive
argumentative Debatte der Bahn
und der Landesregierung ein Nachdenkprozess eingesetzt, der zur
Mobilisierung von Menschen ohne
unmittelbare Betroffenheit geführt
hat. Drittens hat der Umstand eine
Rolle gespielt, dass in der Referendumskampagne die grün-rote
Landesregierung selbst gespalten
war. Dazu kommt, dass der Bezugsrahmen durch die Volksabstimmung
vergrößert wurde. Je weiter man
sich vom Kreis der unmittelbar
Betroffenen entfernt, desto stärker
finden andere Argumente Berücksichtigung. Das hat dann am Ende
zum Votum für Stuttgart 21 geführt.
Wie stehen Sie grundsätzlich zu
Volksentscheiden?
Das System der repräsentativen
Demokratie hat sich seit 60 Jahren
bewährt. Die Entscheidungen in diesem System sind der plebiszitären
Demokratie weit überlegen. Allerdings können wir einen weitergehenden Ruf nach plebiszitärer
Demokratie nur dann vermeiden,
wenn wir es auf der Ebene davor,
das heißt der Legitimation der VerPeter Altmaier 121
fahren, wie es Niklas Luhmann
genannt hat, schaffen, Bürgerbeteiligung und Partizipation herzustellen,
die dann auch legitimierend wirken.
Wie sollte diese frühzeitige
Beteiligung genau aussehen?
Das Entscheidende ist, dass man vor
dem formalen Verwaltungsverfahren die Möglichkeit der Information
und Diskussion vorschaltet. Beteiligungsmöglichkeiten haben heute ja
über das Netz ganz andere Perspektiven, durch die man viel mehr Menschen erreichen kann.
Moment, in dem es erste Proteste
gibt, ist es fast schon zu spät, da
die Glaubwürdigkeit der eigenen
Argumente dann eingeschränkt ist.
Die Herausforderung ist, das Internet proaktiv zu nutzen, damit man
eine rationale Debatte für die
Zukunft sicherstellt.
Sind die Projektgegner den Unternehmen in puncto Transparenz
und Dialogbereitschaft voraus?
NGOs haben einen Vorsprung, weil
sie oft monothematisch strukturiert
sind und sich mit einem ganz kon-
»Natürlich hat die Politik eine
Verantwortung, Rahmenbedingungen zu schaffen.«
Sie haben ja angekündigt, auch
als Bundesumweltminister intensiv zu twittern – sollte sich die
Wirtschaft auch mehr auf Social
Media einlassen?
Ja, das ist ganz entscheidend. Die
allerwenigsten Großunternehmen
haben zum jetzigen Zeitpunkt eine
klare Vorstellung, wie sie mit der
exponentiellen Entwicklung des
Netzes umgehen sollen. Das ist
aber eine vitale Frage, weil ansonsten die Gefahr besteht, dass über
die Möglichkeiten des Netzes solche Großprojekte in Zukunft verhindert werden können. Das Netz wird
zunehmend zu einer politischen
Artikulationsplattform für Protest.
Das kann man nur dann vernünftig
balancieren, wenn man das Internet
auch als Plattform für Information,
Beteiligung und Diskussion nutzt,
bevor der Protest entsteht. In dem
122 INTERVIEWS
kreten Vorgang beschäftigen. Aber
auch NGOs haben im Moment die
Möglichkeiten des Internets noch
nicht umfassend erkannt und nutzen
sie noch nicht entsprechend. Das
geschieht im Augenblick nur bei
netzpolitisch relevanten Themen
wie Netzsperren, ACTA, Vorratsdatenspeicherung und Leistungsschutzrechten. Deshalb ist die Frage
noch nicht entschieden, ob das Netz
zu einer Verstärkung der Position
der NGOs und Bürgerinitiativen
führt oder ob es einen Beitrag zu
stärkerer Sachbezogenheit und Ausgewogenheit der Debatte zu leisten
vermag. Das hängt auch davon ab,
ob die Projektbetreiber rechtzeitig
die positiven Potenziale des Netzes
identifizieren und sich damit auseinandersetzen. Wenn man das nicht
tut und das erste Großprojekt über
das Netz verhindert worden ist, ist
das Netz nicht mehr neutral, sondern festgelegt.
Müssen Unternehmen also ihre
gängigen Handlungsmuster über
Bord werfen?
Der Punkt ist, dass auch ein Unternehmen Interesse daran hat, die
richtigen Entscheidungen zu treffen
und diese auch durchzusetzen. Im
Hinblick auf die externe Kommunikation haben Unternehmen lange nur
die Politik als Partner wahrgenommen. Das war so lange gerechtfertigt,
wie man davon ausgehen konnte,
dass politisch getroffene Entscheidungen auch umgesetzt werden.
Aber in dem Augenblick, in dem sich
mit den Grünen eine Partei dauerhaft etabliert hat, die sich einem
solchen Konsens oft verweigert und
dann ihrerseits den Transmissionsriemen der NGOs und der Gesellschaft nutzt, um Druck zu erzeugen,
werden alle Akteure gezwungen, die
breite Bevölkerung mit einzubeziehen. Ansonsten riskiert man, dass es
für Projekte keine Akzeptanz gibt.
Ist das alte Paradigma, dass die
Wirtschaft investiert und die
Politik die Rahmenbedingungen
dafür schafft, noch gültig?
Natürlich hat die Politik eine Verantwortung, Rahmenbedingungen zu
schaffen. Aber wir haben heute ein
politisches Mehrebenensystem, in
dem die einzelnen Akteure zwar
nicht verschwinden, aber in ihrem
Einfluss relativiert werden. Keiner
der Akteure kann den Prozess im
Ganzen steuern und gestalten, sondern es bedarf eines Zusammenwirkens unterschiedlichster Akteure,
wie der Medien, der Politik, NGOs
und der Bürger, um Großprojekte zu
realisieren. Das alles macht es natür-
lich sehr viel komplexer. Aber es ist
keine völlig neue Situation, denn
mit diesem Phänomen haben wir es
schon seit Anfang der achtziger
Jahre zu tun.
Kommt die Politik ihrer Aufgabe
nach, Lasten zu verteilen?
Die Politik hat einen grundlegenden
Bedeutungswandel erfahren. Bis
Mitte der siebziger Jahre bestand
Politik im Wesentlichen in der Verteilung des Zuwachses. Es gab
erhebliche Wachstumsraten mit
beträchtlichen Wohlstandsgewinnen, die verteilt werden mussten.
Man konnte entscheiden, ob man
sie stärker in soziale Sicherheit,
in Zukunftsprojekte, in Umweltschutz oder anderes investiert.
Es gab dann eine Zeit von Mitte
der siebziger bis Mitte der achtziger Jahre, in der es nicht mehr um
große Zuwächse ging, aber doch im
Wesentlichen um den Erhalt des
Status quo. Seit Mitte der neunziger
Jahre gibt es die Situation, dass die
Politik eigentlich überhaupt keine
Zuwächse verteilt, sondern nur noch
Lasten. Das ist für die Politik eine
sehr ungewohnte Situation. Es hat
aber in Deutschland besser funktioniert als in anderen EU-Ländern, weil
es einen gewissen Verantwortungskodex der politischen Klasse gibt.
Dieser hat verhindert, dass Fragen
wie Sozial- und Strukturreformen rein
populistisch ausgebeutet werden. Es
gab zwar die PDS bzw. Linkspartei,
aber im Wesentlichen war sich die
politische Klasse in diesem Punkt
einig. Das hat dazu geführt, dass
wir in Deutschland mehr Reformen
durchsetzen konnten als fast alle
anderen europäischen Länder.
Trotzdem ist die Fähigkeit der Politik, Lasten zu verteilen, begrenzt.
Peter Altmaier 123
Rainer Baake
»Die Bürger wollen mit ihren
Argumenten gehört werden.«
Rainer Baake über Bürgerbeteiligung, Zielkonflikte
und Lösungen bei der Umsetzung der Energiewende.
Welche Gründe stecken hinter
den Protesten gegen Großprojekte?
Zur Person
Rainer Baake ist seit April 2012
Direktor der Stiftungsinitiative
Agora Energiewende, die einen Dialog mit wichtigen energiepolitischen Akteuren über die praktische
Umsetzung der Energiewende
anstrebt. Davor war Baake sechs
Jahre lang Bundesgeschäftsführer
der Deutschen Umwelthilfe (DUH).
Vor dieser Tätigkeit war er Staatssekretär im Bundesumweltministerium,
wo er den Atomausstieg von 2000
mit auf den Weg gebracht hat.
124 INTERVIEWS
Diese Proteste sind meist getrieben
von persönlicher Betroffenheit und
von Zweifeln daran, dass wirklich
das Gemeinwohl hinter der Planung
steckt. Andere sorgen sich um das
Weltklima. Das ist kein egoistischer
Grund, sondern ein sehr altruistisches Motiv. In der Realität der Bürgerinitiativen vermischen sich die
Motive. Wenn ich mir anschaue, wie
nah manche Kraftwerke an Wohnbebauung errichtet worden sind,
dann kann ich nachvollziehen, dass
betroffene Menschen dagegen protestieren. Man muss kein Egoist
sein, um sich gegen die „erdrückende Wirkung“ eines Kühlturms
zu wehren.
Denken Sie, dass der Verbraucher schizophren ist, weil er auf
der einen Seite die Energiewende will, aber auf der anderen Seite gegen Windräder vor
seiner Haustür demonstriert?
Nein. Wenn das so wäre, dann
hätte es die Erfolgsgeschichte bei
den erneuerbaren Energien nicht
gegeben. 20 Prozent Anteil erneuerbarer Energien an der Stromver-
sorgung im Jahr 2011 – das hat
doch vor zehn Jahren niemand für
möglich gehalten. Das schließt
nicht aus, dass es hier und dort Proteste gibt, aber diese Proteste
haben die Entwicklung nicht aufhalten können, ganz im Gegenteil:
Die Bevölkerung will die erneuerbaren Energien.
Wie kann man bestehende Proteste auflösen?
Die Leute wollen eine plausible und
nachprüfbare Begründung dafür
haben, warum beispielsweise eine
Stromtrasse erforderlich ist. Da kann
man sich nicht hinter Geschäftsgeheimnissen verschanzen. Die zweite
wichtige Voraussetzung ist, dass
die Planer den Nachweis erbringen,
dass sie sich ernsthaft bemühen,
den Eingriff in das Wohnumfeld der
Menschen und den Naturhaushalt
so gering wie möglich zu halten.
Wenn man diese beiden Voraussetzungen erfüllt, hat man aus meiner
Sicht eine faire Chance, auch die
Bevölkerung zu gewinnen. Nicht
jeden Querulanten, da wird es
einige geben, die auch dann noch
dagegen sind und sagen, „not in my
backyard“, aber das ist nicht die
Mehrheit der Bevölkerung.
Wie steht es um den Netzausbau
in Deutschland?
Der Zusammenhang zwischen Energiewende und Netzausbau ist vielen Menschen lange Zeit nicht klar
gewesen. Inzwischen haben auf der
Bundesebene die meisten Parteien
und Umweltverbände verstanden,
dass das Netz zum Flaschenhals der
Energiewende werden kann. Das
sieht manchmal vor Ort oftmals leider noch anders aus.
Wie können Konflikte gelöst
werden?
Wir sind da auf einem guten Weg.
Die DUH hat vor einigen Jahren
einen runden Tisch eingerichtet
und zusammen unter anderem mit
Netzbetreibern und Bürgerinitiativen
nach Wegen für einen akzeptierten
Ausbau gesucht. Der Gesetzgeber
hat neue Regeln für ein transparentes Planungsverfahren aufgestellt.
Am Anfang steht die Klärung der
Frage, für welchen zukünftigen
Kraftwerkspark das Netz gebaut werden soll. Dann folgen die Netzplanung und die Prüfung von Alternativen. Dann die Trassenplanung.
Jeder Schritt mit Transparenz und
Bürgerbeteiligung. Allerdings müssen die Netzbetreiber und Behörden
diese neue Beteiligungskultur noch
einüben und sinnvoll ausgestalten.
Man muss aber deutlich und ehrlich
sagen: Ohne Eingriffe wird es nicht
gehen. Umso besser müssen diese
begründet sein. Das europäische
Naturschutzrecht schützt die sensiblen Naturräume recht effektiv. Aber
dadurch rücken Trassen oft nahe an
die Wohnbebauung heran. Dann
gibt es aus meiner Sicht drei Alternativen, Akzeptanz herzustellen:
Man nimmt längere Umwege in Kauf
oder man verlegt die Kabel unter die
Erde oder man baut eine Freileitung
und zahlt den betroffenen Hauseigentümern eine Entschädigung.
Minister und Abgeordnete, die die
Regeln für den Leitungsausbau
beschließen, sollten sich immer die
Frage stellen, ob sie das, was sie
ihren Mitbürgern zumuten, sich auch
selbst zumuten würden.
Wie kann man Konflikte zwischen
Energiewende und Natur-/Tierschutz auflösen?
Es gibt keine Form der Stromerzeugung, die ohne Eingriffe zu realisieren wäre, nirgendwo. Aber die Eingriffe haben bei den verschiedenen
Technologien unterschiedliche
Intensitäten. Es gibt bei der Energie-
wende Zielkonflikte zwischen Klimaschutz und Naturschutz, und alle
sind gut beraten, diese nicht zu
ignorieren, sondern offensiv anzugehen. Was wir brauchen, sind vernünftige Lösungen. Nehmen wir beispielsweise die Offshore-Windparks.
Deren Bau mit Rammtechnik kann
für die Schweinswale zu einer ernsthaften Bedrohung werden. Aber mit
Blasenschleiern lassen sich die
Schallpegel massiv reduzieren. Das
haben Tests gezeigt und deshalb
muss ihr Einsatz zukünftig zur Pflicht
werden. Vielleicht gibt es auch
andere Lösungen. Vielleicht werden
wir in Zukunft nicht mehr rammen,
sondern bohren. Hier ist die WindOffshore-Industrie gefordert, aktiv
nach Lösungen zu suchen. Wenn sie
das nicht täte, würde sie sich selbst
keinen Gefallen tun.
Steigt die Akzeptanz, wenn die
Bürger an den Projekten wirtschaftlich beteiligt sind?
Ja, das ist ein Teil der Erfolgsgeschichte des Erneuerbare-EnergienGesetzes, weil Zigtausende Bürger
selbst zu Energieproduzenten und
damit zu Profiteuren der Energiewende geworden sind. Sie machen
das aus umweltpolitischer ÜberzeuRainer Baake 125
gung – und auch, weil es eine gute
Geldanlage ist. Das ist aus meiner
Sicht einer der wesentlichen Gründe
dafür, warum das Erneuerbare-Energien-Gesetz, das im Jahr 2000 nur
mit knapper Mehrheit und gegen die
Stimmen der Opposition beschlossen
wurde, inzwischen von allen Parteien
im Bundestag gewollt ist.
Wie viel Einfluss brauchen Bürger, um große Infrastrukturprojekte zu akzeptieren?
Die Bürger wollen mit ihren Argumenten gehört werden und erwarten, dass mit diesen Argumenten
vernünftig umgegangen wird. Der-
mune entschieden werden. Da geht
es zum Beispiel darum, Windenergieanlagen im Norden mit Verbrauchszentren im Süden zu verbinden. Von der erforderlichen
Stromtrasse hat die auf halber Strecke dazwischenliegende betroffene
Gemeinde zunächst unmittelbar
überhaupt keinen Nutzen. In solchen Fällen kommt es vor allem darauf an, die Planung plausibel und
nachprüfbar zu begründen, das
legitime Interesse der Gesellschaft
an einer umweltfreundlichen Stromversorgung darzustellen und die
Sorgen und Einwände der Anwohner zu hören und ernst zu nehmen.
»Die Bevölkerung will
die erneuerbaren Energien.«
jenige, der ein Großprojekt plant
und in das Wohnumfeld und die
Umwelt eingreift, muss transparent
darlegen, warum diese Eingriffe
erforderlich sind. Er muss sich den
kritischen Fragen stellen. Am Ende
eines solchen Beteiligungsprozesses kann herauskommen, dass nicht
alle Bürger überzeugt sind. Aber
wenn sie das Gefühl haben, dass
Vorhabensträger und Genehmigungsbehörde ihre Argumente
ernst genommen und sachgerecht
abgewogen haben, dann gibt es
eine gute Chance auf Akzeptanz.
Sollte es bei allen Projekten im
Bereich der Energiewende mehr
Mitgestaltungsmöglichkeiten
geben?
Es kommt auf die Projekte an. Ein
nationaler Plan für Stromnetze kann
nicht von den Bürgern in einer Kom126 INTERVIEWS
Es gibt aber auch andere Bereiche
auf der kommunalen Ebene, wo es in
der Tat um aktive Gestaltung geht.
Es gibt inzwischen viele Gemeinden,
die sich selbst zum Ziel gesetzt
haben, zu 100 Prozent ErneuerbareEnergie-Dörfer zu werden. Das sind
Gestaltungsaufgaben, die auch
direkt von den Bürgern angegangen
werden und für die sie oftmals in
den Gemeinden auch Mehrheiten
gefunden haben.
Reichen die bestehenden Beteiligungsmöglichkeiten aus?
Die bestehenden Möglichkeiten im
Verwaltungsrecht reichen nicht aus;
es muss dringend überarbeitet werden. Das fängt mit vermeintlichen
Kleinigkeiten an. Um die Planungsunterlagen zu sichten, müssen sich
zum Beispiel in vielen Genehmigungsverfahren Bürger heute immer
noch freinehmen, weil die Pläne nur
werktags zwischen 9 und 16 Uhr in
der Gemeindeverwaltung ausliegen.
In Zeiten des Internets ist das ein
Unding. Planunterlagen müssen ins
Netz gestellt werden. Von erheblicher Bedeutung ist, dass wir in
Deutschland keinen Verfahrensschritt haben, bei dem die Notwendigkeit einer Planung öffentlich
erörtert und tatsächlich ergebnisoffen geprüft wird. Aus meiner Sicht
sollte am Anfang eine ergebnisoffene Debatte über das Ob und dann
anschließend erst über das Wie
geführt werden. Gegenwärtig legt
eine Genehmigungsbehörde Pläne
meist erst dann aus, wenn sie sich
bereits eine Meinung gebildet hat
und für sie der Bedarf grundsätzlich
feststeht. Das schließt schon fast
eine Ergebnisoffenheit der Prüfung
im anschließenden Verfahren aus.
Deshalb haben die Bürger auch häufig das Gefühl, dass ihre Einwände
nur noch als lästig empfunden und
pro forma abgearbeitet werden, um
zu einer rechtssicheren Genehmigung zu kommen. Auf diese Art und
Weise gewinnen wir keine Akzeptanz
in der Bevölkerung.
Halten Sie Mediationen für
sinnvoll?
Ja, aber eine Mediation funktioniert
nur in einem überschaubaren Kreis
von Personen. Sonst können sie
nicht mehr vernünftig diskutieren.
Dieser Personenkreis ist logischerweise kleiner als die Zahl der Betroffenen, aber Betroffene kann man im
formellen Zulassungsverfahren nicht
ausschließen. Würde man versuchen, einen Mediationsprozess mit
allen Betroffenen zu machen,
müsste dieser scheitern. Ich halte
daher nichts davon, die Mediation
ins Verwaltungsverfahrensrecht aufzunehmen. Gleichwohl kann sie im
Vorfeld eines Zulassungsverfahrens
durch einen fairen Interessenausgleich zur Befriedung beitragen.
Wichtig ist, dass sich am Ende eines
Prozesses alle Parteien an das Ergebnis einer Mediation halten – nicht
wie beim Frankfurter Flughafen, wo
das Mediationsergebnis „Ausbau
mit neuer Start- und Landebahn bei
gleichzeitigem Nachtflugverbot“
von der Landesregierung anschließend gekippt wurde. Das ist ein
abschreckendes Beispiel, weil die
Bürger durch den Moderationsprozess davon abgehalten worden sind,
Proteste zu organisieren. Sie haben
sich eingelassen auf eine solche
Moderation und sind hinterher an
der Nase herumgeführt worden. Das
ist das Schlimmste, was einer Moderation passieren kann, weil so Glaubwürdigkeit vernichtet wird.
In der Schweiz entscheiden die
Bürger grundsätzlich darüber,
ob ein Projekt realisiert werden
soll. Wäre das ein Modell für uns?
Ja, das finde ich absolut richtig.
Was halten Sie davon, Beteiligungsmodelle gesetzlich zu verankern?
Viel, wenn der Gesetzgeber kluge
Regelungen schafft. Eine Verrechtlichung der Mediation wäre unklug.
Die Medien haben bei Stuttgart
21 im Wesentlichen über die Projektgegner und ihre Argumente
berichtet. Gibt es Waffengleichheit zwischen Projektgegnern
und Projektinitiatoren?
Projektgegner sind häufig im Hinblick auf Kampagnenfähigkeit den
Projektplanern überlegen. Aber die
Kampagnenfähigkeit kommt oft erst
zum Zuge, wenn es schon zu spät ist.
Ein Vorschlag zur Herstellung von
„Waffengleichheit“ lautet: Zwei
Prozent der gesamten Projektmittel könnten Projektverantwortliche Projektgegnern zu Kommunikationszwecken, zur Erstellung
von Gutachten oder für Dialogmaßnahmen zur Verfügung stellen. Was halten Sie von diesem
Vorschlag?
Es ist ein ganz wichtiger Punkt, dass
wir in den Verfahren die finanzielle
Voraussetzung dafür schaffen, dass
Gegner ihre Sachargumente gutachterlich prüfen lassen können.
Können die Projektinitiatoren
in kommunikativer Hinsicht von
NGOs lernen?
Wenn die Unternehmen sich anschauen, wie die Umweltverbände
agieren, welche Leute sie engagieren, welche Medien sie einsetzen,
dann müssen sie anschließend
selbst entscheiden, ob sie nicht in
ihrer eigenen Kommunikationsstrategie noch etwas verbessern können. Wichtiger als die Auswahl der
technischen Mittel ist aber, die Menschen so anzusprechen, dass man
verstanden und vor allem als glaubwürdig wahrgenommen wird.
Ein Gegenargument ist, dass
Unternehmen durch mehr Mitsprachemöglichkeiten Planungssicherheit genommen wird.
Teilen Sie diese Auffassung?
Gesellschaft. Wenn einige mit Projekten, in die sie viel Zeit und Geld
investiert haben, die Erfahrung des
Scheiterns sammeln mussten, dann
ist es doch vernünftig, sich beim
nächsten Mal im Vorhinein zu fragen,
was man besser machen kann, damit
so etwas nicht noch einmal passiert.
Damit nimmt man im Zweifelsfall
auch längere Verfahren in Kauf,
oder?
In den meisten Fällen kürzere, denn
wenn ein Vorhaben durch alle Verwaltungsgerichtsinstanzen gehen
muss, dauert das in der Regel viel
länger als die Zeit, die man am
Anfang für einen Vorklärungsprozess investieren muss.
Verlieren Politik und Wirtschaft
durch mehr Bürgerbeteiligung
Handlungsspielraum?
Nein. Bürgerbeteiligung kann dazu
führen, dass Konflikte frühzeitig
erkannt und vernünftige Lösungen
gefunden werden. Anschließend
können Planungen schneller realisiert werden. Ich teile die Auffassung
nicht, dass Bürgerbeteiligung per se
zu Blockaden und Verlangsamung
führt. Bürgerbeteiligung ist ein gutes
Instrument, Planungen akzeptabel
zu machen und im Ergebnis auch zu
beschleunigen, weil man sich nicht
mehr vor Gericht wiedersieht, sondern die Konflikte im Vorfeld gelöst
hat. Das ist letztlich eine Erweiterung des Handlungsspielraums der
Politik und der Wirtschaft.
Nein, weil Unternehmen ja etwas
planen, um es zu realisieren. Mangelnde Akzeptanz hat Projekte
oft scheitern lassen. Unternehmen
agieren nicht in einem luftleeren
Raum, sondern sie sind Teil der
Rainer Baake 127
Dr. Günther Bachmann
»Vertrauen entsteht durch die
Kompetenz des Zuhörens.«
Dr. Günther Bachmann über neue Wege der Bürgerbeteiligung und
die Herausforderungen der Energiewende.
Es gibt immer mehr Proteste
gegen Großprojekte. Treibt nur
die eigene Betroffenheit die
Leute auf die Straße?
Zur Person
Der studierte Landschaftsplaner
war ab 2001 Geschäftsführer und ist
seit 2007 Generalsekretär des Rates
für Nachhaltige Entwicklung. Von
1983 bis 2001 war er Mitarbeiter im
Umweltbundesamt. Zudem ist er
Co-Vorsitzender der Arbeitsgruppe
Nachhaltigkeit des Netzes der
europäischen Nachhaltigkeitsräte.
Er hat in der Ethikkommission
Sichere Energieversorgung (April,
Mai 2011) mitgewirkt.
128 INTERVIEWS
Eine grundsätzliche Verweigerungshaltung sehe ich in Deutschland
relativ wenig. Sicherlich muss eine
eigene Betroffenheit vorhanden
sein, die gefühlt zu einer Verschlechterung der Lebensbedingungen
führt. In der Regel kommen noch
weitere Gründe hinzu, zum Beispiel,
dass man mit der großen Linie unzufrieden ist. Aber man kann nicht
allen Protestierenden eine komplexe
Weltanschauung unterstellen. Oft
entsteht Haltung auch aus einem
Reflex. So wie es der Reflex in Stuttgart war zu sagen: „Das lassen wir
jetzt einfach nicht durchgehen.“
Die Bevölkerung wehrt sich vor
allem gegen Entscheidungen
hinter verschlossenen Türen und
ist immens skeptisch gegenüber
Politik und Wirtschaft. Woran
liegt es?
Ein Phänomen ist, dass die Politik
nicht das richtige Framing für ihre
Anliegen findet. Die Energiewende
wird jetzt klein geklopft in einzelne
Bausteine, denen aber der übergreifende Rahmen fehlt, der die Ener-
giewende als das industrie- und
gesellschaftspolitische Mega projekt Deutschlands darstellt. Die
Bevölkerung muss ein Projekt als
ein Gemeinschaftsprojekt erkennen
können, das gemeinschaftlich
bewältigt werden muss.
Welchen Rahmen sehen Sie bei
der Energiewende?
Wenn man die „Green Economy“ in
einen Rahmen stellt als die Fortentwicklung der sozialen Marktwirtschaft
und als Wachstumsversprechen mit
der Orientierung auf Nachhaltigkeit,
das Wirtschaft und Staat brauchen,
dann erhielte die Energiewende eine
ganz andere Lesart.
Würde der Verbraucher dann
auch eher Windräder und
Stromleitungen vor der Haustür
akzeptieren?
Der Verbraucher akzeptiert auch
Deiche an der norddeutschen Küste.
Die sehen auch nicht schön aus,
aber er weiß, dass er sie braucht.
Und was unterscheidet einen Deich
von einer Stromleitung? Die müssen
keine Schönheitspreise gewinnen,
sondern sie sind da, um Sicherheit zu
bieten, und diese Sicherheit wird
anerkannt. Die entscheidende Frage
ist: Warum erkennt der Bürger den
Deich an der Küste als notwendiges
Übel an, aber nicht die Stromleitung?
Warum ist es so?
Möglicherweise, weil der eigene
Bezug zu dieser Infrastrukturanlage
nicht gegeben ist. Der fehlt, wenn
wichtige Infrastrukturvorhaben, die
eigentlich der Daseinsvorsorge dienen, privat organisiert werden. Kein
Mensch kommt auf die Idee, den
Deichbau zu privatisieren. Ich halte
es für fatal, die Energieleitungen privatisiert zu haben. Wenn wir insgesamt über Nachhaltigkeit nachdenken, dann denken wir im Kern darüber
nach, was das Gemeinwohlversprechen sein muss, und dieses Gemeinwohlversprechen kann ich weder einfach kaufen noch verkaufen.
Ist das eines der Probleme, dass
die Notwendigkeit der Energiewende für die Leute nicht sichtbar ist?
Das ist so. Die Energiewende leidet
bisher darunter, dass sie nicht hinreichend greifbar ist, außer bei den
Preisen. Bei der Energiewende gibt
es einen politischen Entschluss und
für die Menschen geht alles irgendwie weiter wie bisher. Die Summe der
Einzelmaßnahmen ergibt kein Ganzes. Der Politik fehlt eine gewisse initiatorische Kraft, um diese Weichenstellung zu verdeutlichen. Ich rede
nicht über billiges Marketing. In einer
hochkommunikativen Gesellschaft
muss man auch kommunikative Zeichen setzen. Mit ein paar Rechtsverordnungen kann man keine Energiewende machen.
Was können solche kommunikativen Zeichen sein?
Das Parlament sollte sein Haushaltsrecht nutzen, um solche langfristigen Zukunftsentscheidungen
einzuplanen. Die Ethikkommission
hat einen Beauftragten vorgeschlagen, analog dem Wehrbeauftragten, der für die parlamentarische
Begleitung der Energiewende steht.
Das ist ein Vorschlag, sicher gibt es
andere und womöglich instrumentell bessere. Aber dieser Vorschlag
hat eine Botschaft, und auf die
kommt es an. Mit einem „Mister
Energiewende“ würde Sichtbarkeit
geschaffen. Für solche Langfristplanungen müssen Sie personalisieren
und eine Legitimationsstruktur
schaffen. Das geht nicht auf dem
Weg von pluralen Roadmaps und
mit konkurrierenden Ministerien.
Auf der unteren Ebene muss man
für die Teilhabe der Bevölkerung
sorgen. Deswegen wäre es gut, die
Gewerbesteuer beim Leitungsbau
entlang der Trasse zu entrichten.
Also so etwas wie eine Konzessionsabgabe, die die Kommunen
entschädigt?
Im Kern ist das die Idee. Ich würde
nur das Wort „entschädigen“ nicht
benutzen, weil es impliziert, dass
einer einen Schaden hat und dieser
ausgeglichen werden muss. Das ist
Quatsch. Man muss den wirtschaftlichen Nutzen kommunizieren.
Welchen Beitrag muss die Wirtschaft zur Energiewende leisten?
Der Begriff „nachhaltiges Wirtschaften“ oder „Green Economy“ muss
mehr Bedeutung bekommen und viel
stärker im Denken der Unternehmen
verankert werden. Die deutsche
Wirtschaft als Sustainability made in
Germany sollte sich mal überlegen,
wie sie in einer Gemeinschaftsaktion
diese Sustainability made in Germany plausibel machen und damit
auch vor die Leute treten kann.
Für den Wandel zur „Green Economy“ braucht es mehr EngageDr. Günther Bachmann 129
ment der Wirtschaft. Was würden Sie sich wünschen?
Es wäre sehr wünschenswert, wenn
„die“ Wirtschaft respektive wichtige
Unternehmen selbst eine Roadmap
Energiewende mit den Zielen und
quantifizierten Maßstäben sowie
Kompensationen für „First Mover“
und energieintensive Anlagen entwickelten. Die deutsche Wirtschaft
sollte keine Angst davor haben, etwa
30 Prozent CO² -Einsparung analog
den EU-Entschlüssen zu fordern und
sich das selbst auch auf die Fahne zu
schreiben. Ich wünschte mir ein
anderes Rollenverständnis.
Würde sich die Wirtschaft mit
einer solchen Selbstverpflichtung nicht selbst unter Druck
setzten?
Unter Druck gesetzt wird man nur,
wenn man ein schlechtes Gewissen
hat. Insofern würde ich das nicht
so sehen. Die Energiewende ist ja
nicht mal eben so eine Flitzidee.
Bleiben wir in der Wirtschaft. Ist
die Zukunft des Industriestandortes Deutschland die Gretchenfrage der Energiewende?
Ich würde es andersherum ausdrücken: Wenn die Energiewende
klappt, ist dies die Gretchenfrage
für den Industriestandort. Der
Industriestandort ist nicht die Konditionalisierung der Energiewende,
sondern die Energiewende erfolgreich umzusetzen, ist die Erfolgschance für den Industriestandort.
Wie wird sich der Industriestandort verändern?
Er wird technisierter im HightechBereich und dezentralisierter, was
die Netze, die Netzzugänge sowie
Mess- und Regeltechniken angeht.
130 INTERVIEWS
Diese Techniken werden einen viel
größeren Umfang haben und noch
wissensintensiver sein. Das betrifft
sowohl die Techniken als auch ihre
Steuerung. Am Ende entstehen
mehr Arbeitsplätze. Aber vergessen
wir nicht, dass der Industriestandort letztlich nicht aus Techniken
und technischen Wunderwerken
besteht, sondern aus Menschen, die
arbeiten, leben und konsumieren.
Und vor allem: die sich bilden und
Wissen erwerben und dies auf vielfältige Weise weitergeben. Um
deren Zukunftschancen geht es.
Im Solarbereich sind viele Arbeitsplätze entstanden, die gerade
wieder verschwinden. Droht uns
Ähnliches bei anderen Techniken
wie etwa den Windrädern?
Diese Gefahr halte ich für gering. Bei
den Solarpaneelen gibt es mittlerweile Massenware, das stimmt. Und
Solarpaneele auf Dächer installieren
kann auch jeder. Um unseren Vorsprung zu sichern, brauchen wir
Innovationen in Technik, Verfahren
und Anwendungsmustern. Wir müssen etwa in die innovativen, speziellen Anwendungen investieren und
Fotovoltaik beispielsweise für die
Hausfassade entwickeln. Dass wir
quadratkilometerweise landwirtschaftliche Nutzflächen mit Solaranlagen zustellen, die noch dazu Massenware aus China sind, finde ich
schlecht.
Ohne Brückentechnologie werden wir die Wende nicht schaffen. Welche brauchen wir?
Wir brauchen Gaskraftwerke als fossile Regelleistung, die die fluktuierenden Strommengen ausgleichen,
solange wir keine Speicher haben.
Der Bericht der Ethikkommission
sagt, dass auch 10 Gigawatt Gas so
eine Brücke sind, insofern sind auch
solche Technologien wie Power to
Gas Brücken. Man muss sehen, wie
der Gasmarkt insgesamt funktioniert,
und – sofern dies umweltverträglich
machbar ist – auch an neue Methoden der unkonventionellen Gasförderung herangehen. Da scheint es
ja Bewegung zu geben, wenn ich
die laufenden Forschungsvorhaben
richtig deute.
Brauchen wir noch Kohlekraftwerke?
Die im Bau befindlichen Kraftwerke
sollen ans Netz gehen, auch das
sagt die Ethikkommission und das ist
sicher vernünftig. Kohlekraftwerke
haben eine längere Lebensdauer
und eine höhere CO ² -Intensität.
Solange wir nicht CCS oder noch
besser CCU – Carbon Capture and
Use – hinbekommen, bleiben Kohlekraftwerke eine schwierige Klimahypothek. Schaffen wir aber eine solche CO² -Abspaltung und -Nutzung,
werden vermutlich auch Kohlekraftwerke gebaut, ob in China, Deutschland oder in Polen.
Energieeffizienz wird in der
Debatte häufig vernachlässigt.
Warum kümmert sich die Politik
verhältnismäßig wenig um das
Thema?
Man kann Kraftwerke planen, bauen
und einweihen – Energieeffizienz
kann man nicht einweihen. Sie entzieht sich der unmittelbaren politischen Lebenslogik mit ihren vielen
Akteuren und den kleinen Schritten. Dieses Format ist nicht politikgängig. Gleichwohl sehen wir am
Beispiel von Siemens und anderen
Firmen wie Bosch BSH, Vaillant oder
Viessmann, dass man mit einem
richtigen Rahmen auch eine solche
vielschichtige, verbogene, kleinteilige Unternehmensstrategie erfolgreich umsetzen kann.
Losgelöst von schönen Fototerminen könnte also mehr
Aufklärung betrieben werden,
wie es Experten fordern?
Es kann gar nicht genug Aufklärung
geben. Zudem sollte die Politik
selbst mit gutem Beispiel vorangehen. Der Bundestag könnte sich mal
eine andere Flotte zulegen oder das
Dienstwagenprivileg ändern. Da fehlen die kommunikativen Wegmarken,
die dem Bürger zeigen, dass man es
ernst meint. Ich bin für diese Überhöhung des Themas durch symbolhafte Politik, weil sie den eigentlichen Durchschlag bringen würde.
Sollten wir Standards für Energieeffizienz gesetzlich festschreiben?
Ich würde sie nicht als Grenzwerte
oder Zahlenwerte vorschreiben. Aber
ich würde im Sinne eines Benchmarkings für Industrieprozesse festlegen, dass es dort dynamische Grenzen gibt, wie beispielsweise für
Wärmepumpen, im Übrigen für private wie öffentliche Einrichtungen.
Die Debattenkultur zur Energiewende ist durch Schwarz-WeißMalerei gekennzeichnet. Wie
kann man diese Schützengräben
überwinden?
Indem man den Graben verlässt.
Einer muss damit anfangen. Die
Methode der verstehenden Gegensätzlichkeit ist oft hilfreich. Sie verpflichtet die Schwarz-Weiß-Spieler
dazu, die Positionen des jeweils
anderen mit eigenen Worten so auszudrücken, dass die Gegenseite sich
korrekt wiedergegeben sieht. In den
Auseinandersetzungen, wo es nicht
um Wahrheit geht, sondern um die
klammheimliche Freude, den anderen aufs Glatteis zu führen, ist das
eine zivilisatorische Maßnahme.
Sicherlich kommen dann aber auch
noch andere Mechanismen wie die
öffentliche Transparenz, der Faktenund Methodencheck sowie ein fairer
und vertrauenswürdiger Debattenleiter hinzu.
Möglichkeiten, die führen aber erstens zu langen Planungsprozessen
und zweitens erkennen die Menschen am Beginn eines Projekts die
Bedeutung einer Beteiligung oftmals
nicht. Genau zu dem Zeitpunkt hätten sie aber den meisten Einfluss
und die Möglichkeiten nehmen ab,
je mehr sie die Bedeutung erkennen.
Diese zwei Achsen schneiden sich
nicht sinnvoll. Wir brauchen schnel-
»Die Energiewende ist ja nicht
mal eben so eine Flitzidee.«
Oft hat man den Eindruck, dass
Projektgegner den Initiatoren
überlegen sind, was die Kommunikations- und Kampagnenfähigkeit
betrifft. Täuscht der Eindruck?
Ich teile diesen Eindruck nicht. Initiatoren haben viele Vorteile, Informationen und „Macht“ über das
Wissen um Vorläufe und technische
Details. Oftmals ist es aber so, dass
die Lerneffekte bei Projektgegnern
schneller sind. Das Lernen im gesellschaftlichen Sinne funktioniert nicht
durch einfache Übereignung von
Wissen, sondern durch Aneignung
von Wissen. Wer dies schneller kann,
ist immer im Vorteil. In den Startpositionen sehe ich keine großen
Unterschiede, aber die Lernkurven
verlaufen sehr unterschiedlich. Projektgegner wie NGOs bewegen sich
einfach schneller.
Experten fordern mehr Beteiligungsmöglichkeiten. Schließen
Sie sich dieser Forderung an?
lere Verfahren und informelle Verfahren der Informationsvermittlung.
Ein Beispiel dafür: In den Nachwendezeiten gab es in Berlin eine große
Diskussion über die Gestaltung des
Bezirks Mitte. Der damals zuständige
Senator Hassemer hat dafür ein
Stadtforum eingerichtet und in diesem Forum alle Leute reden lassen.
Das Besondere war, dass er immer
dabei war und diese Diskussion an
sich herangelassen hat. Das Vertrauen entstand, weil er aktiv zugehört hat. Diese Form der Auseinandersetzung haben wir nicht. Wenn
wir über Beteiligungsrechte reden,
unterstellen wir eine Konfrontation,
und die muss sich irgendwie Bahn
brechen. Vertrauen entsteht durch
die Kompetenz des Zuhörens und
weniger durch die oft eher abstrakt
bleibende „Transparenz“. Deswegen
brauchen wir eine qualitative Veränderung von Beteiligungsprozessen.
Es geht nicht um Quantitäten, es
geht um die Qualität von Beteiligung. Quantitativ haben wir alle
Dr. Günther Bachmann 131
Christoph Bals
»Es ist auch unsere Aufgabe, Änderungen Legitimität zu verschaffen.«
Christoph Bals über die Rolle von NGOs bei der Energiewende
und ihr Verhältnis zu Unternehmen und Politik.
Im Netzentwicklungsplan sind
3800 Kilometer neue Trassen vorgesehen. Sie bezweifeln, dass
der Netzausbau in dieser Größenordnung notwendig ist, obwohl
Sie an dem Plan mitgearbeitet
haben. Warum die Zweifel?
Wir haben den Plan lediglich kommentiert und nicht daran mitgearbeitet. Wir gehen davon aus, dass es
einen erheblichen und dringlichen
Netzausbaubedarf gibt. Zugleich
sind wichtige Fragen für den Nachweis des genauen Bedarfs offengeblieben. Deshalb stellen wir sehr
konkrete Nachfragen.
Zur Person
Was kritisieren Sie?
Christoph Bals studierte Theologie,
Volkswirtschaft und Philosophie.
Er engagiert sich seit 1987 in der
Klima-, Energie- und Entwicklungspolitik, war 1991 Mitbegründer der
Umwelt- und Entwicklungsorganisation Germanwatch und ist seit 2005
politischer Geschäftsführer der
NGO. Seit Beginn der UN-Klimaverhandlungen 1995 hat Christoph Bals
an allen Klimakonferenzen der Vertragsstaaten teilgenommen – zuletzt
Ende 2011 in Durban.
Einige Kritikpunkte der NGOs wurden nicht aufgegriffen wie die
Energie-Effizienzziele der Bundesregierung, also die angekündigte
Senkung des Stromverbrauchs
zunächst um 10 Prozent bis 2020.
Dieses Ziel wurde nicht in einem
geänderten Szenario berücksichtigt, sondern nur in einer abweichenden Berechnung, der Sensitivitätsberechnung. Das heißt, dass
die Anzahl der Kraftwerke und das
Szenario zum Netzausbau nach wie
vor gleich bleiben. Ein weiterer kritischer Punkt aus Sicht der NGOs sind
132 INTERVIEWS
fehlende Sensitivitätsberechnungen
zu einer anderen regionalen Verteilung der erneuerbaren Energien,
das heißt, weniger Offshore- und
Onshore-Wind im Norden und ein
stärkerer Ausbau der erneuerbaren
Energien im Süden wurden im Szenario nicht berücksichtigt. Kritisch
sehen wir auch, dass Alternativen
wie der Ausbau von Speichern,
Demand-Side-Management oder
flexiblen Ergänzungskraftwerken,
die den Netzausbaubedarf reduzieren könnten, nicht geprüft wurden.
Es geht uns gar nicht darum, den
Start des Ausbaus in irgendeiner
Form zu behindern. Wir fordern aber
eine Priorisierung des kurzfristig
benötigten Netzausbaus.
Beim Netzausbau werden die
technischen Varianten kontrovers diskutiert: auf der einen
Seite Freileitungen, auf der
anderen Erdkabel. Bevorzugen
Sie eine Variante?
Das muss man differenzieren. Die
Freileitungen sind wesentlich kostengünstiger, aber ästhetisch und
teilweise für den Naturschutz ein
Hemmnis. Andererseits bedeutet
Erdverkabelung deutlich höhere Kosten, das Zweieinhalbfache bis Vier-
zehnfache je nach Landschaft und
Umgebung, wo sie umgesetzt wird.
Erdverkabelung kann also die Akzeptanz von einer anderen Seite gefährden. Wenn Fehler auftreten, sind die
Wartungszeiten deutlich länger.
Manche Bürger unterschätzen auch
den Eingriff in die Natur. Es geht um
unterirdische Trassen von bis zu 21
Metern Breite. Das Prinzip „aus den
Augen, aus dem Sinn“ kann nicht die
Grundlage für eine gründliche ökologische Abwägung sein oder diese
ersetzen. Die Abwägung mag dazu
führen, dass man gerade in Siedlungsnähe im Regelfall auf Erdverkabelungen setzt. Wir dürfen aber
auch die Vorteile von Freileitungen
nicht vergessen, etwa beim Rückbau
von Leitungen. Ein guter Teil der
bestehenden Stromnetze wird in
Zukunft nicht mehr gebraucht. Und
der Rückbau von Freileitungen ist
unkomplizierter und kostengünstiger als der von Erdkabeln.
Soll heißen: dort, wo es sinnvoll ist. Und sinnvoll ist, wenn es
mehr Akzeptanz schafft?
Ich bezweifele, dass Erdkabel generell zu mehr Akzeptanz führen. Man
muss im Einzelfall abwägen: ob ökologische oder andere wie gesund-
heitliche Gründe dafür sprechen und
was es für die Kostenseite bedeutet.
Dort, wo Erdkabel kein erhebliches
Plus bedeuten, aber das Mehrfache
kosten, muss man den Sinn infrage
stellen. Ich erwarte, dass es in den
nächsten Jahren auch Proteste
gegen Erdkabel geben wird, wenn
die Bevölkerung sich bewusst ist, wie
schwerwiegend die Eingriffe durch
Erdkabel in den Naturschutz sind.
Kritiker sehen den Standort
Deutschland durch die Energiewende in Gefahr. Können Sie
die Bedenken nachvollziehen?
Nein, überhaupt nicht. Für die nicht
energieintensiven Branchen ist es
ohnehin nicht das große Thema.
Und die energieintensiven Branchen
haben so viele Ausnahmeregeln,
dass sie die großen Profiteure der
Energiewende sind. Die Strompreise
sind ein Problem für die Einzelkunden, aber nicht für die Großabnehmer in den energieintensiven Branchen. Grund dafür ist, dass die
Stromgroßhandelspreise an der
Strombörse durch die erneuerbaren
Energien stark sinken. An der EEGUmlage sind diese Branchen so gut
wie nicht beteiligt. Die Akteure dieser Branchen überziehen mit ihrem
Geschrei derart, dass ihnen das böse
auf die Füße fallen kann. Wenn die
Politik sieht, dass und wie sie an der
Nase herumgeführt wurde, kann
auch schnell Schluss sein mit manchen Ausnahmeregeln.
Ist günstiger Strom Voraussetzung für den Industriestandort Deutschland, wie viele
behaupten?
Nein – jedenfalls nicht generell. Die
industrielle Produktion kann auch
bei hohen Strompreisen gut laufen,
solange die Wettbewerber nicht
begünstigt sind. Es geht hier nur um
die energieintensiven Branchen und
auch nur um die Unternehmen, die
stark im internationalen Wettbewerb
stehen wie die Aluminium-, Stahloder Chemiebranche. Eine Strategie, wie man damit umgeht, muss
auf mehreren Schultern ruhen.
Welche Schulter muss was tragen?
Zum einen ist die Bundesregierung
in der Pflicht, entsprechende Vereinbarungen mit den Hauptwettbewerbsländern – nicht nur in der EU –
zu schließen, um gemeinsam beim
Klimaschutz voranzukommen. Am
besten wäre natürlich ein globales
Vorangehen. Dies wird aber verChristoph Bals 133
mutlich nicht in der notwendigen
Geschwindigkeit zu erreichen sein.
Zum anderen gilt es, Transformationsoptionen für die energieintensiven Branchen hin zu weniger energieintensiven Grundstoffen zu
ermöglichen und dafür einen Anreizrahmen zu setzen und Innovationsprogramme zu fördern. Hier spielt die
Musik, wenn man sich als Industrieakteur für die Zukunft aufstellen will.
Der Netzausbau insgesamt wird
mehr als 20 Milliarden Euro kosten. Hat sich Deutschland mit
der Energiewende wirtschaftlich
zu viel aufgebürdet?
Nein. Was wir im Moment brauchen,
sind Investitionen und Investitionsanreize. Es gibt eine Menge an Kapital, das händeringend auf der Suche
nach Anlagemöglichkeiten ist. Für
beteiligt. Wie beurteilen Sie
nach den ersten Erfahrungen das
Beteiligungsverfahren?
Generell betrachten wir das neue
Verfahren der Bürgerbeteiligung in
der aktuellen Regelung als einen
deutlichen Schritt nach vorn und
als positiv. Es gibt mehr Transparenz, die in Zukunft noch verbessert werden soll. Bisher wurde die
Bevölkerung erst einbezogen, wenn
die Entscheidungen schon gefallen
waren. Und die neuen technischen
Möglichkeiten der Transparenz, wie
das Internet, wurden kaum genutzt.
Wir sehen aber noch Verbesserungspotenzial.
Wo zum Beispiel?
Die offiziellen Planungsverfahren
sollten durch inoffizielle Verfahren
der Bürgerbeteiligung ergänzt wer-
»Ich erwarte, dass es in den
nächsten Jahren auch Proteste
gegen Erdkabel geben wird.«
dieses Kapital müssen Möglichkeiten
geschaffen werden, es in der Transformation des Energiesystems mit
einzusetzen. Das ist im Moment eine
der größten Herausforderungen und
die Schlüsselaufgabe der Politik, dass
sie diese beiden Enden zusammenführt: die riesigen Mengen suchenden Kapitals und die immensen notwendigen Investitionssummen. Das
wird nicht ohne eine Rahmensetzung
und auch Kofinanzierung durch den
Staat möglich sein.
Sie haben sich mit Stellungnahmen am Netzentwicklungsplan
134 INTERVIEWS
den. Fokussierte informelle Treffen
mit Akteuren der Zivilgesellschaft,
die eine besonders wichtige Rolle
spielen oder besonders kompetent
sind, können sehr sinnvoll sein. Das
ist auch die Erfahrung vieler Netzbetreiber. Auch in Schleswig-Holstein
macht man damit gute Erfahrungen.
Dort hat die Landesregierung die
von einer Leitung betroffenen Kommunen bereits vor dem offiziellen
Genehmigungsverfahren an dem
Prozess beteiligt. Das trägt stark zur
Akzeptanz mit bei, weil die Gründe
für Entscheidungen diskutierbar und
nachvollziehbar werden.
Beim Netzentwicklungsplan
haben sich rund 2000 Bürger
geäußert. lst der Umgang mit
Einwänden aus Ihrer Sicht hinreichend transparent?
Ein klares Jein. Die Übertragungsnetzbetreiber haben ihren Entwurf
für den Netzentwicklungsplan überarbeitet und sie haben ein Kapitel zu
den eingegangenen Einwänden eingefügt und auch zu Beginn eines
jeden Kapitels die wichtigsten
Ergebnisse der Einwände aufgeführt. Das ist zu begrüßen. Für die
Einzelnen ist aber nicht zwingend
ersichtlich, ob und warum bestimmte
Argumente aufgegriffen wurden.
Das ist zum Teil der Menge der Eingaben geschuldet. Auf der anderen
Seite wäre es bei zentralen Argumenten wichtig, das „Warum“ zu
erklären. Für die Akzeptanzbildung
ist das wichtig, sonst kommen dieselben Argumente beim nächsten
Termin wieder auf den Tisch. Ein
weiterer problematischer Punkt ist,
dass die Eingaben der Bürger, so
wie es methodisch angelegt war,
eigentlich keinen Einfluss auf das
Ergebnis selbst haben konnten, also
auf den berechneten Netzausbaubedarf für 2022.
Gibt es andere Formen der Bürgerbeteiligung, die Sie für sinnvoll erachten?
Ja, es gibt andere Formen, die vor
allem im Einzelfall sehr hilfreich als
Ergänzung zu diesem offiziell-formalen Prozess sein können. Das sind
etwa Mediationsprozesse oder
runde Tische, die je nach Situation
Optionen sind, mit denen ein Problem angemessen bearbeitet werden
kann. Man könnte Kriterien dafür
entwickeln, wann solche Formate
eingefordert werden können, zum
Beispiel, wenn eine bestimmte
Anzahl von Gebietskörperschaften
einer Region dies fordert. Damit
muss man sie nicht für jeden Fall
gesetzlich vorschreiben.
Was ist bei der Organisation solcher Prozesse erfolgskritisch?
Relevant ist, dass man die Prozesse
so organisiert, dass die Menschen
sich auch konstruktiv einbringen
können. Wenn die Argumente tragen, müssen diese Argumente auch
tatsächlich etwas verändern können.
Die Menschen hinterfragen Projekte
nicht als Freizeitvergnügen, sondern
wollen Antworten auf befürchtete
ökologische und soziale Konsequenzen. Das finde ich positiv und es ist
eine Qualität unserer Gesellschaft.
Dies darf und muss nicht zum Stillstand führen, sondern zu einer sinnvollen Prioritätensetzung.
Einige sehen Deutschland als die
„Dagegen-Republik“. Stimmt die
Vermutung?
Nein, das ist ein Begriff der Ewiggestrigen. Es ist interessant zu
sehen, dass von denen, die jahrelang solche Begriffe vor sich hergetragen haben, jetzt plötzlich viele
gegen die Energiewende und die
neuen Technologien in der Energiewirtschaft sind. Technologien sind
auch ein bedeutender Teil der
Lösungen. Es geht nicht darum,
gegen alles zu sein. Es geht darum,
die Transformation der Gesellschaft
gerade hin zu den Technologien,
die eher Teil der Lösung und weniger Teil des Problems sind, massiv
mit voranzutreiben. Das ist tatsächlich ein Punkt, wo viele Nichtregierungsorganisationen – auch wir als
Germanwatch – durchaus immer wieder reflektieren müssen. Es ist als
NGO nicht nur unsere Aufgabe zu
protestieren, sondern auch notwendigen Änderungen Legitimität zu
verschaffen. Nicht umsonst unterstützen und verteidigen wir den
Netzausbau dort, wo er tatsächlich
notwendig ist.
der Perspektive des Klimaschutzes
argumentieren, ist es wesentlich
einfacher, abzuwägen und notwendige Maßnahmen zu unterstützen.
Wie beurteilen Sie die Rolle
von NGOs im Rahmen des Netzausbaus?
Wenn eine NGO wie die Deutsche
Umwelthilfe, Germanwatch oder
der WWF den Bau einer bestimmten
Trasse grundsätzlich öffentlich
unterstützt, wird das durchaus die
Stimmung in den Bürgerversammlungen beeinflussen. Wenn wir
andersherum aufgrund von Studien
zur Einschätzung kommen, dass
dieser Netzausbau nicht notwendig
ist, wird dies auch Einfluss auf die
Art des Protestes und seine Heftigkeit haben. Das bedeutet nicht,
dass wir den Prozess steuern und
im Griff haben.
Das gehört zu den Herausforderungen, die ich im Moment für NGOs
sehe. Dass man eben nicht, wie
das frühere Soziologen klassifiziert
haben, NGOs als Protestorganisationen definiert, sondern als
Gemeinwohl-Organisationen, die
sich durch Protest und konstruktive
Gestaltung von Veränderungen in
einer doppelten Rolle einsetzen.
Im Moment erleben wir im Rahmen
der Energiewende, dass sich die
Wirtschaft wie die NGOs neu sortieren. Werden die Chancen der
Energiewende aktiv aufgegriffen
oder die Besitzstände von gestern
verteidigt?
Aus den Umweltverbänden gibt
es auch nicht nur Unterstützung.
Warum?
Das ist zum Teil der Struktur der
jeweiligen Organisation geschuldet.
Ich habe viel Respekt vor den
Vogel- oder Naturschutzorganisationen, die hier zwei wichtige Schutzgüter abwägen müssen. Und wir
drängen gemeinsam mit diesen
Organisationen auf den Nachweis,
dass diese Trassen tatsächlich notwendig sind. Ohne diesen Nachweis kann man von den Verantwortlichen in diesen Verbänden nicht
erwarten, die eigene Basis im Diskurs zu überzeugen. Für andere
NGOs wie Germanwatch, die aus
Wie schätzen Sie den Einfluss
von NGOs bei der Umsetzung der
Energiewende ein?
Die NGOs haben sich in den letzten Jahren stark professionalisiert. Ist mit der Professionalisierung auch die Deutungshoheit
von NGOs gestiegen?
Die NGOs leben oder haben gelebt
von dem Zauber, der jeden Anfang
begleitet. Wenn Sie eine NGO wie
Greenpeace betrachten, existiert der
romantische Schein der ersten zehn
Jahre heute nicht mehr. An die Stelle
der Romantik ist eine neue Ernsthaftigkeit getreten. NGOs sind heute als
Gesprächspartner stärker akzeptiert
und werden ernst genommen, weil
die wissenschaftliche Untermauerung dessen, was sie sagen, wesentlich größer ist. Im Kontakt mit Wissenschaft, Politik und Wirtschaft ist
man auf Augenhöhe. Die Deutungshoheit hat nicht zwingend zugenommen, aber der Umgang miteinander hat sich verändert.
Christoph Bals 135
Sören Bartol
»Wer den Konsens ausprobiert,
wird auch Konsens ernten.«
Sören Bartol über frühzeitige Bürgerbeteiligung und die gefühlte
Ohnmacht der Gegner.
Warum richtet sich der Protest
vor allen Dingen gegen große
Infrastrukturprojekte?
Es sind zwei Gründe: Der erste ist,
dass die Auswirkungen auf die
Lebensqualität größer sind als bei
kleineren. Zweitens werden Infrastrukturprojekte von den Menschen
als öffentliche Angelegenheit wahrgenommen. Die meisten Infrastrukturprojekte sind zumindest in der
Planung staatlich oder staatlich
induziert. Deswegen fordern die
Bürger ihr Recht auf Mitsprache ein.
Hat Stuttgart 21 die Akzeptanz
von Großprojekten verändert?
Zur Person
Sören Bartol ist seit 2002 für die SPD
Mitglied des Deutschen Bundestages und seit Oktober 2011 Sprecher
der Arbeitsgruppe Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung in der SPD-Bundestagsfraktion. Zuvor war er als
Mitarbeiter von Ernst-Ludwig Wagner im Hessischen Landtag tätig. Er
gilt als Fachmann für Infrastrukturfragen und leitet in der SPD-Bundestagsfraktion das Projekt „Infrastrukturkonsens“.
136 INTERVIEWS
Nein, es gab immer Großprojekte,
die heftig umstritten waren. Bei der
Startbahn West gab es sogar Tote,
das haben wir teilweise vergessen.
Die Akzeptanz ist über die Jahre
weder besser noch weniger geworden, sondern es kommt auf die jeweilige Betroffenheit und das Protestpotenzial an, das geweckt werden kann.
Warum hat Stuttgart 21 bundesweit für so viel Aufsehen gesorgt?
Stuttgart 21 war ein Symbol dafür,
dass Menschen sich nicht angemessen mitgenommen fühlten. Parteiübergreifend ist es für die Bürger
heute selbstverständlich, dass sie bei
öffentlichen Projekten mitwirken.
Insofern hatte die Zustimmung zu
den Protesten nur in geringem Maße
mit dem Projekt selbst zu tun. Bundesweit ging es eher um die Frage:
„Wie werden Bürger beteiligt?“ Es
ging um die Frage der Demokratie.
Was sind heute die ausschlaggebenden Gründe für Proteste
gegen Großprojekte?
Es sind im klassischen Sinne keine
ideologischen Motive mehr. Für die
meisten Leute sind Proteste einfach
ihr Bürgerrecht. Eine Allensbach-Studie hat ergeben, dass die Menschen
sehr viel Verständnis dafür mitbringen, dass Betroffene protestieren.
Das Verständnis für Proteste geht
heute in der Gesellschaft weit über
die eigene Betroffenheit hinaus.
Bei der Energiewende nutzen die
Bürger ebenfalls ihre Rechte und
protestieren gegen Windräder
und Stromleitungen vor der Haustür, obwohl sie grundsätzlich die
Energiewende unterstützen. Wie
ist der Widerspruch zu erklären?
Es ist ganz natürlich, dass jeder
Mensch nicht nur ein einziges Interesse verfolgt, sondern oft sehr unter-
schiedliche Interessen, die zueinander in Widerspruch treten können.
Interessenkonflikte gibt es also nicht
nur in Gesellschaften, sondern auch
im Innern eines jeden Menschen. Das
ist immer ein Gemisch von Motiven,
die teilweise eigennützig sind, teilweise gemeinwohlorientiert. Nehmen
Sie die Gegner neuer Stromleitungen.
Sie argumentieren zumeist, dass
diese Leitungen wirtschaftlich nicht
sinnvoll sind und die Energiewende
nicht befördern. Diese Meinung mag
man teilen oder auch nicht. Aber es
zeigt, dass diejenigen, die für ein Projekt sind, nicht automatisch das
Gemeinwohl im Blick haben und diejenigen, die dagegen sind, nur ihre
eigenen Interessen vertreten.
Gemeinwohlorientierung und Eigeninteresse vermischen sich meist, das
ist bei Befürwortern wie Gegnern so.
Und das ist auch ganz legitim.
Wie lassen sich solche Widersprüche auflösen?
Entscheidend ist die sehr frühe Beteiligung – bevor endgültige Lösungen
auf dem Tisch liegen und wenn Alternativen noch möglich sind, also
wenn etwa die Trassenführung für
eine Stromleitung noch veränderbar
ist. In dieser Phase lassen sich viele
Konflikte zwar vielleicht nicht auflösen, aber zumindest abmildern. Am
Ende können solche Projekte sogar
schneller durchkommen.
Sind auch finanzielle Ausgleichsmaßnahmen eine Möglichkeit?
Wenn es zur Entwertung von
Lebensqualität kommt, muss man
sich fragen, wann ein finanzieller
Ausgleich sinnvoll und auch notwendig ist. Die Frage ist auch, ob es
nicht dem Projekt dient, wenn man
zum Beispiel durch eine Entschädigung langwierige gerichtliche Auseinandersetzungen vermeidet. In
einem solchen Fall kann eine Entschädigung am Ende preiswerter
sein als fünf Jahre Bauverzögerung.
Ist der Wirtschaft bewusst,
dass Bürgerbeteiligung auch helfen kann?
In einigen großen Unternehmen und
in den Verbänden ist das Bewusstsein für Bürgerbeteiligung bereits
stark ausgeprägt. Die Wirtschaft ist
viel weiter, als der öffentliche Eindruck manchmal suggeriert.
Sollten wir trotzdem bestimmte
Instrumente der Bürgerbeteiligung gesetzlich vorschreiben?
Nicht Instrumente im Sinne einer
Mediation oder einer Planungszelle.
Das wäre eine völlige Überregulierung und würde den sehr unterschiedlichen Situationen vor Ort
nicht gerecht. Wir brauchen aber
eine gesetzlich verpflichtende
Regelung formaler Standards: Wann
muss ich beteiligen, wen muss ich
beteiligen, was muss ich offenlegen
und wie muss ich meine Entscheidung am Ende begründen? In welcher Form die Vorgaben umgesetzt
werden, können Behörden wie auch
Betreiber sehr gut selbst entscheiden. Der Vorschlag der Bundesregierung, dass die jeweiligen Behörden auf eine frühzeitige Beteiligung
hinwirken sollen, reicht da nicht
aus. Das ist zu unverbindlich. Frühzeitige Bürgerbeteiligung muss zur
Pflicht werden.
„Frühzeitig beteiligen“ sind zwei
Wörter, die in der Diskussion
immer wieder fallen. Wann sollten Bürger in Projekte einbezogen
werden?
Generell sollte Beteiligung einsetzen,
sobald Planungen verhandelbar sind,
also sobald sie so konkret sind, dass
die Auswirkungen für die Betroffenen
halbwegs absehbar sind.
Sören Bartol 137
Echte Mitwirkungsmöglichkeiten
sind eine andere Forderung, die
immer wieder erhoben wird. Wie
sollen diese konkret aussehen?
Uns geht es darum, vor dem Planfeststellungsverfahren konkrete Mitwirkungsmöglichkeiten zu schaffen.
Wir fordern einen Beteiligungstermin, bei dem die Pläne erörtert werden, und gegebenenfalls weitere
Termine, wenn Pläne geändert werden. Die Anhörung soll nicht nur
den im rechtlichen Sinne Betroffenen offenstehen, sondern allen. Die
Behörde muss nachher eine rechtsverbindliche Entscheidung treffen,
aber sie soll Rechenschaft darüber
ablegen, wie sie die einzelnen Argumente abgewogen, berücksichtigt
oder auch nicht berücksichtigt hat.
Der Kernpunkt ist, dass Beteiligung
vor dem eigentlichen Planfeststellungsverfahren stattfindet.
Das heißt auch, dass man ein
Stück weit Entscheidungen in die
Hände der Bürger legt?
Nicht im strikt rechtlichen Sinne.
Die Entscheidungsinstanz muss am
Ende die Behörde bleiben. Sonst
haben wir keine Rechtssicherheit.
Die Genehmigungsbehörde muss
aber verpflichtet werden, sich
ernsthaft mit Alternativen auseinanderzusetzen. Dazu gehört, dass
etwa Gegengutachten eingeholt
und Alternativen geprüft werden.
Gilt das auch für private Investoren?
Die gesetzlichen Regelungen können sich nur auf die staatlichen Verfahren beziehen. Wenn private
Betreiber die Planungsträger sind,
sind sie gut beraten, sich kommunikativ sehr früh zu engagieren. Der
Staat kann nur regeln, wie das
138 INTERVIEWS
Genehmigungsverfahren aussieht.
Ob ein Kraftwerk notwendig ist und
ob ein privater Betreiber sich zu seinem Bau entschließt, darüber entscheiden wirtschaftliche Faktoren.
nen. Dann bleibt ihnen nur noch
das Schimpfen. Viele Konflikte
schaukeln sich durch die Ohnmacht
oder gefühlte Ohnmacht der Gegner
erst hoch.
Wenn die Bevölkerung vor dem
Planfeststellungsverfahren beteiligt werden soll – wer sollte für
diese Beteiligungsverfahren verantwortlich sein?
Müssen wir Bürgerbeteiligung
erst noch lernen?
Alle Beteiligten, die Behörden
genauso wie private oder halbprivate Planungsträger, die sich schon
aus Eigeninteresse beteiligen sollten. Aber die Frage, wer den Prozess vor Ort führt, muss auch vor
Ort entschieden werden. Die Vorgaben richten sich erst mal an die
Behörden; diese können aber mittelbar die Planungsträger in die
Pflicht nehmen.
Bürgerbeteiligung kostet Geld.
Wer soll die Verfahren bezahlen?
Die Planungsträger sollten die Kosten als einen Teil der Planung tragen, so wie dies bereits heute zum
Beispiel bei Naturschutzausgleichsmaßnahmen der Fall ist. Das liegt
auch im Eigeninteresse der Planungsträger, die auf Akzeptanz in
der Bevölkerung angewiesen sind.
In den meisten Diskussionen
wird schwarz-weiß gemalt, auf
der einen Seite die Guten, die
NGOs, auf der anderen Seite die
Bösen, die traditionelle Wirtschaft. Wie kann man die Diskussion versachlichen?
Der wichtigste Punkt ist der Zeitpunkt der Beteiligung, weil der respektvolle Umgang ganz schnell vorbei ist, wenn ein Initiator mit einer
endgültigen Lösung kommt, an der
die Bürger nichts mehr ändern kön-
Ja. Wir müssen lernen, dass Beteiligung keine Werbestrategie ist, bei
der es lediglich darum geht, den
Bürgern ein vorgefertigtes Projekt
optimal zu „verkaufen“. Beteiligung
heißt: „Ich will in einem sehr frühen
Stadium mit allen Beteiligten eine
Lösung finden, um das Ziel optimal
zu realisieren.“ Das ist ein Prozess.
Wo sehen Sie konkrete Defizite,
an denen wir arbeiten müssen?
Ein Defizit ist sicherlich die späte
Kommunikation. Sowohl Behörden
als auch manchem Betreiber fällt es
nicht selten schwer, auf Augenhöhe
mit den Bürgern in Kontakt zu treten.
Stattdessen wird sehr stark von oben
herab, formalistisch und nach Vorgaben kommuniziert. Das ist auch eine
Frage der Kultur. Hinzu kommt, dass
sich so manche Behörde schwertut,
alle Informationen freizugeben. Das
gilt noch mehr für Betreiber, die
immer auch das Betriebsgeheimnis
wahren müssen.
Da haben es die NGOs leichter.
Sie haben sich in den letzten
Jahren auch stark professionalisiert. Haben NGOs damit auch
Deutungshoheit gewonnen?
Ja, natürlich. Sowohl die Medienkompetenz als auch die fachliche
Kompetenz sind gestiegen. Die
NGOs können sich auf ein ganzes
Geflecht an haupt- und ehrenamtlichen Experten stützen, wie man bei
Stuttgart 21 beobachten konnte.
Für Betreiber und Behörden hat es
den Vorteil, dass sie sich dieses
Know-how zunutze machen können.
Das ist nicht einfach ein GegenKnow-how, sondern das ist fachliches Know-how.
Warum ist das Bild von NGOs
so positiv und das von Unternehmen so negativ?
NGOs werden mit Allgemeininteressen und Unternehmen mit Partialoder Eigeninteressen verbunden.
Wir sind in Deutschland gewohnt,
Allgemeininteressen für gut und
Eigeninteressen als etwas anrüchig
oder bedenklich einzuschätzen,
obwohl unsere Wirtschaft davon
lebt. Deswegen haben Unternehmen oder die Wirtschaft immer
einen schweren Stand, sobald die
Gegenseite Allgemeininteressen ins
Feld führt.
Welche Konsequenzen muss die
Wirtschaft daraus ziehen?
PR reicht nicht mehr aus. Die Unternehmen müssen weg von der PR
und hin zu einer frühzeitigen und
ergebnisoffenen Kommunikation.
Das gehört heute eigentlich zum
Standard. In dieser Hinsicht haben
Unternehmen oftmals noch einen
deutlichen Aufholbedarf gegenüber
den Projektgegnern: Die nehmen
Kommunikation viel ernster als viele
Projektinitiatoren.
Woran liegt es, wenn Projektinitiatoren der Kommunikation
weniger Bedeutung beimessen?
Viele Unternehmen sind erstens
durch eine sehr technokratische
Herangehensweise geprägt, und
zweitens ist unser Rechtsverständnis im Vergleich zum angelsächsischen ein sehr formalistisch-stati-
sches: Ich ziehe das Verfahren durch
und verlasse mich darauf, dass der
Staat mir in diesem Verfahren mein
Recht verschafft.
Sie erarbeiten gerade einen
neuen gesellschaftlichen Konsens
für eine moderne Infrastruktur
mit Beteiligung der Bürger. Gibt
es schon Ergebnisse?
Das erste Ergebnis ist, dass es zu
vielen Fragen einen breiten Konsens
gibt. Wer den Konsens ausprobiert,
wird auch Konsens ernten. Oft halten unsere eigene Angst und unsere
eigenen Vorbehalte uns davon ab.
Ein Plädoyer für mehr Mut zur
Bürgerbeteiligung?
Ja. Je früher man den Dialog sucht,
desto stärker kann man Widerstände
In der weiteren Konsequenz
würde das heißen, dass Sie mehr
Volksabstimmungen fordern?
Die Bürger sollten die Möglichkeit
bekommen, zu Grundsatzentscheidungen, die Gesetzescharakter
haben und die ganze Bundesrepublik
betreffen, einen Volksentscheid herbeizuführen. Ich denke etwa an die
Frage, ob wir unsere Verkehrsplanung künftig mehr aufs Auto oder
auf die Bahn ausrichten sollen. Man
kann aber nicht über einzelne bundesweit bedeutsame Vorhaben vor
Ort abstimmen. Das geht schon verfassungsrechtlich nicht. Es ist aber
auch ein logischer Widerspruch in
sich, über eine Stromleitung, die den
halben Strombedarf Süddeutschlands sichern soll, in einem einzelnen
Dorf abzustimmen.
»Ein Defizit ist sicherlich die
späte Kommunikation.«
reduzieren; allein dadurch, dass
man über Alternativen spricht, die
vielleicht dann akzeptierter und am
Ende sogar wirtschaftlicher sind.
Politik und Wirtschaft gewinnen
dadurch mehr Akzeptanz und auch
mehr Handlungsspielraum: Ich kann
mit den Bürgern Projekte umsetzen,
die ohne ihre Beteiligung nicht
mehr durchsetzbar wären. Wenn ich
dagegen der Bevölkerung nicht
mehr änderbare Planungen vorsetze, ist das wirtschaftliche Risiko
extrem hoch, weil ich auf alles oder
nichts spiele. Diese Nichtbeteiligung kann ein erheblicher Verzögerungsfaktor sein, weil das Verfahren
im Zweifelsfall wieder neu aufgerollt
werden muss.
Gibt es auch Risiken durch mehr
Bürgerbeteiligung?
Wir sehen keine Risiken, wenn man
Leitplanken zieht. Wenn es am Ende
eine rechtsverbindliche Entscheidung gibt, wenn man Beschleunigungselemente einführt und festlegt, wann Verfahren beendet sein
sollen, sehe ich keine Risiken, sondern vor allem Chancen.
Sören Bartol 139
Michael Bauchmüller
»Die eigene Betroffenheit macht
selbst den lahmsten Bürger mobil.«
Michael Bauchmüller über Bürgerproteste, die Folgen der
Energiewende und die Bedeutung des Internets.
Die Bevölkerung wehrt sich
immer öfter gegen Entscheidungen, die hinter verschlossenen
Türen gefällt und als alternativlos
präsentiert werden. Warum?
Da ist viel Psychologie dabei. Der
Bürger des 21. Jahrhunderts ist
selbstbewusst, er will seine Bürgerrechte wahrnehmen. Und er möchte
zumindest gehört werden. Die Kombination aus Nicht-gehört-werden
und alternativloser Entscheidung
ist wie der Wespenstich für den Allergiker: eine tödliche Kombination.
War das auch ein Lernprozess?
Zur Person
Michael Bauchmüller verfolgt für die
Süddeutsche Zeitung die Umweltund Energiepolitik in Deutschland
nicht erst seit den Ereignissen in
Fukushima. Als aufmerksamer Beobachter und pointierter Kommentator
gehört er zu den journalistischen
Meinungsführern. Bauchmüller studierte Volkswirtschaftslehre in Köln
und besuchte die Kölner Journalistenschule. 2003 wurde er mit dem
Ludwig-Erhard-Förderpreis für Wirtschaftspublizistik ausgezeichnet.
140 INTERVIEWS
Man darf nicht vergessen, dass Bürger letztendlich die deutsche Wiedervereinigung möglich gemacht
haben. In Westdeutschland gab es
schon lange eine Friedens-, eine
Umweltbewegung. Dieses Begehren nach Mitsprache ist nicht aus
dem Nichts heraus entstanden,
sondern das ist nach der Vereinigung über die Jahre einfach immer
stärker geworden. Manchmal hat
man das Gefühl, dass der Bürger
aber erst jetzt von der Politik wiederentdeckt wird. Da findet geradezu ein Überbietungswettbewerb
statt, von den Piraten über die Grünen bis zur Union.
Einer Studie zufolge glauben nur
noch 20 Prozent der Deutschen,
dass die Bundestagsabgeordneten ihre Interessen vertreten.
Warum sind die Deutschen so
skeptisch gegenüber der Politik?
Das hat verschiedene Gründe. Zum
einen verspricht der Wahlkreisabgeordnete in seinem Bürgerbüro mitunter mehr, als er am Ende halten
kann oder die Politik schlussendlich
einlöst. Die Erfahrung, dass am Ende
alles anders kommt, kennen die
meisten Bürger. Was kann der einzelne Abgeordnete schon ausrichten? Das Parlament gilt im Zweifel
als die Instanz, die die Vorschläge
der Regierung nur noch abzunicken
hat. Häufig ist es ja auch so.
Nicht viel besser ist das Bild von
großen Unternehmen, die als
gierig und sehr lobbyistisch
wahrgenommen werden. Auf
der anderen Seite schaffen sie
Arbeitsplätze und sind die
beliebtesten Arbeitgeber bei
jungen Leuten. Gibt es einen
Grund für diesen Widerspruch?
Unternehmen ist nicht gleich Unternehmen. Da muss man deutlich
unterscheiden. Zu Unternehmen, die
Konsumgüter herstellen, haben viele
Menschen ein weit besseres Verhältnis als etwa zu Versorgern. Von den
Diensten eines Stromkonzerns, der
Bahn oder eines Telekommunikationsanbieters hängt der Einzelne ab.
Solche Abhängigkeit macht skeptisch. Hinzu kommt in Deutschland
ein ausgeprägtes Problem mit Obrigkeit, mit Machtkonzentration. Machtvolle Unternehmen in Deutschland
werden nicht als Global Player gesehen, die dieses Land im Ausland vertreten, sondern als eine ungute Ballung von Macht und Einfluss. Im
Energiebereich wird dieser Anti-Konzern-Mainstream teilweise in sich
zusammenbrechen, weil die Unternehmen an Einfluss verlieren. Vielleicht ist das ihre Chance, sich wieder positiv zu vermarkten.
Insbesondere bei Großprojekten
wehren sich die Bürger immer
öfter und protestieren. Was
sind die Hauptgründe für diese
Proteste?
Die eigene Betroffenheit macht
selbst den lahmsten Bürger mobil.
Das haben wir zuletzt auch beim
Berliner Großflughafen erlebt. Der
Deutsche wohnt in einer ohnehin
schon sehr zugebauten Umgebung
und ist froh, wenn er überhaupt
mal ein Fleckchen finden kann, wo
er nicht auf eine Bundesstraße trifft
oder von einem Flugzeug überflogen wird. Also verteidigt er das
bisschen Ruhe, das er sich in seiner
engsten Umgebung erobert hat,
mit Händen und Füßen.
Die Proteste gegen den Berliner
Flughafen sorgen aber bundesweit
nicht für Aufsehen, ganz anders
als Stuttgart 21.
Stuttgart 21 hatte Bilder. Berlin hat
sie nicht. Ganz entscheidend für die
bundesweite Furore waren die Bilder
von dem Demonstranten mit dem
blutigen Auge. Da haben auch viele
außerhalb Stuttgarts gesagt: „Das
geht zu weit!“, und sich mit dem Protest solidarisiert, unabhängig davon,
ob sie das gut oder schlecht fanden.
Nach der allgemeinen Berichterstattung hatte man das Gefühl,
dass die Mehrheit den Bahnhof
ablehnt. Hat Sie das Ergebnis
überrascht?
Es stimmt, in der Tendenz war die
Berichterstattung schon sehr aufseiten der Proteste. Mich hat das
Ergebnis nicht überrascht. Stuttgart
21 hat polarisiert und am Ende auch
mobilisiert. Da sind dann auch die
zur Volksabstimmung gegangen,
die den Bahnhof zumindest nicht
schlecht fanden. Nur hat man von
denen vorher nicht so viel gehört.
Über die Schlichtung wurde
unglaublich viel berichtet.
PHOENIX hatte bei der Übertragung die höchsten Einschaltquoten seit Jahren. Was glauben Sie, woran das lag?
Da kommt der Wunsch nach Partizipation zum Ausdruck und vielleicht
auch eine Portion Voyeurismus. Es
kommt ja nicht oft vor, dass eine Auseinandersetzung so vor den Augen
der Öffentlichkeit ausgetragen wird.
War das einfach nur ein Medienspektakel?
Es war kein Happening in dem Sinne,
das man leicht konsumieren konnte.
Das war ein Prozess, der öffentlich
zur Schau getragen wurde. Diejenigen, die das verfolgt haben, wurden
angenehm überrascht und erlebten,
mit welcher Ernsthaftigkeit dort
gerungen wurde. Das ist etwas, das
man im politischen Prozess so normalerweise nicht vorfindet, und es
wirft die Frage auf, ob der politische
Alltag, wie wir ihn erleben, also das
schnelle Austauschen von dramaMichael Bauchmüller 141
tisch zugespitzten Argumenten,
nicht eher ermüdend ist. Eine inhaltlichere und vielleicht auch kompliziertere und komplexere Auseinandersetzung ist dem Wahlvolk
offenbar durchaus zuzumuten.
Wird die Rolle der neuen
Medien bei demokratischer Teilhabe überschätzt?
Faktisch besteht Bürgerbeteiligung
immer darin, dass man Argumente
austauscht. Argumente lassen sich
»Der Bürger des 21.Jahrhunderts ist selbstbewusst.«
Einer der Experten hat gesagt:
„Zur Volksbildung können
Medien immer noch mehr beitragen als zur Objektivierung.“
Teilen Sie diese Einschätzung?
immer noch besser mündlich vortragen als per E-Mail. Zumal sich
solche Verfahren am Ende leichter
moderieren lassen.
Objektivierung klingt mir zu sehr
nach „reiner Lehre“. Es gibt aber
bei diesen Konflikten keine einfachen Wahrheiten. Man kann manchen Medien sicher vorwerfen,
dass sie nicht immer mit der nötigen Tiefe an Themen herangehen,
sich oft eher zum Advokaten der
scheinbar schwachen Bürger
machen. Es ist aber nicht verwerflich, wenn sie einer Stimmung im
Volk Stimme verleihen und diese
Stimmung dann zur Mehrheitsmeinung wird.
Warum nutzen die Unternehmen
und die Politik im Vergleich zu
Bürgerinitiativen Social Media so
wenig?
Die Mobilisierung der Massen
findet immer mehr digital
statt. Welchen Einfluss haben
Social Media auf die Protestbereitschaft des Einzelnen?
Der Einzelne bekommt eher Wind
von Protesten. Social Media sind
ganz klar das Mobilisierungsmedium geworden. Ich kann mir auch
vorstellen, dass ihr Einfluss einen
Gruppendruck entfaltet, sich an
Protesten zu beteiligen. Social
Media haben sicherlich eher eine
katalytische Wirkung.
142 INTERVIEWS
Social Media eignen sich sehr gut,
um zu mobilisieren und kurze Thesen vorzutragen. Eine größere
Debatte oder einen fundierten Dialog über Facebook und Co zu führen, ist aber schwierig. Ich halte das
nicht für ausgeschlossen, aber es
kann auch nach hinten losgehen,
weil man auf eine Community trifft,
die problemlos den Shitstorm lostreten kann. Da lässt sich auch nicht
mehr viel moderieren.
Was heißt das für Unternehmen?
Welche Konsequenzen müssen sie
daraus ziehen?
Das Internet erleichtert in dieser Hinsicht nichts, sondern erschwert alles.
Es ist leichter, Botschaften in die
Welt zu blasen, aber als Rezipient ist
man auch plötzlich von einer Unzahl
von Botschaften umgeben, die sich
möglicherweise auch noch widersprechen. Es braucht mehr denn je
die Trichterfunktion des Journalis-
ten, der die Botschaften sichtet, in
einen Zusammenhang einordnet
und am Ende bekömmlich aufbereitet. In diesen Kanal und Trichter
müsste auch das Unternehmen einspeisen.
Sie beobachten die Entwicklungen im Umwelt- und Energiebereich seit langer Zeit. Wie wird
die Energiewende den Industriestandort Deutschland verändern?
Sie rührt ihn ordentlich durch und
zwingt die Wirtschaft zu Innovationen. Die deutsche Industrie war
immer erfinderisch, auch im konventionellen Bereich. Rund um die
Umwelttechnologie herum ist sie
hochinnovativ und in vielen Bereichen Weltmarktführer. Da würde ich
mir keine Sorgen machen. Die Energiewende setzt eher noch Innovationskräfte frei, als dass sie hemmt.
Wenn sie funktioniert – und sie darf
nicht scheitern –, dann ist sie ein
wunderbares Anschauungsmodell
für die Exportmärkte von morgen.
Ist die Energiewende die Gretchenfrage für den deutschen
Standort?
Solche Gretchenfragen wurden
schon allzu oft gestellt. Es gibt
natürlich ein Problem mit Strompreisen für die stromintensive
Industrie, aber im Gegenzug auch
allerhand Erleichterungen. Am
Ende wird das nicht den Ausschlag
geben. Entscheidender werden die
Strompreise für die sozial Schwachen sein.
Die Energiewende werden wir
kaum ohne eine Brückentechnologie schaffen. Wie schätzen Sie
die Rolle und Akzeptanz von
modernen Kohlkraftwerken ein?
Bei den Bürgern, die sich damit auseinandersetzen, ist die Akzeptanz
begrenzt. Der Zusammenhang zwischen Kohle und Klimaproblemen
ist allgemein im Bewusstsein verankert. Das ist dem Einzelnen auch
viel leichter zu erklären als etwa der
Emissionsrechtehandel. Insofern
hat die Kohle einen schlechten
Stand. Die Kohle hatte die Perspektive CCS, die in diesem Land leider
zerstört wurde. Da können wir übrigens auch trefflich darüber sinnieren, wie standhaft Politik und wie
sehr sie auch in der Lage ist, etwas
durchzufechten.
Was würden Sie sich von der Politik wünschen?
Dass sie, wenn sie eine solche Technologie anstrebt, dann auch dafür in
die Bütt steigt.
Sind der Bevölkerung die Herausforderungen und der Nutzen der
Energiewende bewusst?
Bei der Masse ist das schon angekommen. Die Aussicht, eine Energieversorgung aufzubauen, die keinerlei
fossile Rohstoffe mehr braucht, ist
grundsätzlich immer eine positiv konnotierte Idee. Als Argument allein
wird das aber nicht verfangen. Man
wird niemanden von einer Trasse
überzeugen können, nur weil er die
Energiewende toll findet und deswegen bitte auch in seinem Garten
einen Strommast aufstellt. So funktioniert es nicht.
Bei der Energiewende spielt der
Bürger eine wichtige Rolle,
gerade im Bereich Energieeffizienz. Wie kann der Einzelne motiviert werden, einen stärkeren
Beitrag zur Energieeffizienz zu
leisten?
Es funktioniert nur, wenn sich das in
relativ kurzer Zeit amortisiert. Amortisieren kann sich das bei der Glühbirne oder beim Kühlschrank, beim
Gebäude wird es schon schwierig.
Da, wo es sich kurzfristig nicht
amortisiert, funktioniert es nur über
steuerliche Zuschüsse oder zinsverbilligte Kredite. Da ist der Plan mit
dem Steuerbonus schon ein guter.
Wenn das alles nicht funktioniert
und der Staat nichts geben will,
läuft es am Ende nur mit Ordnungsrecht. Aber mit Ordnungsrecht Effizienz zu erzwingen, ist extrem
schwierig, erst recht in einer Demokratie, die sich alle vier Jahre an der
Wahlurne beweisen will.
Motivation funktioniert über
finanzielle Anreize. In einem
Ihrer Kommentare haben Sie
geschrieben: „Nur, wenn dies
Geld kosten könnte, versagen
alle Ambitionen.“ Wie viel ist
der Bürger bereit zu zahlen?
Der Satz bezog sich auf Regierungshandeln. Was die Bürger angeht, ist
die Sache schwieriger. Es gibt den
Bürger, der das per se gut findet, der
vielleicht auch wohlsituiert ist und
den fünf Euro mehr im Monat nicht
jucken. Und es gibt natürlich den Bürger, der ohnehin knapsen muss. In
den nächsten Jahren geht es entscheidend darum, dass die Kosten
der Energiewende auch für den sozial
Schwachen noch zu stemmen sind.
Im Solarbereich haben wir Aufstieg und Niedergang erlebt.
Wie viel Subventionen sind verträglich?
Vergangenheit nicht geschehen.
Was wir jetzt erleben, ist, dass uns
der Erfolg dieser Förderung auf die
Füße fällt. Insofern ist es schon richtig, dass man die Subventionen
senkt, auf lange Sicht auch gegen
null. Nur darf der Markt auf dem Weg
dorthin nicht zusammenbrechen.
Haben Sie eine Vorstellung, wie
es gehen könnte?
Indem man in verlässlichen, klar
definierten Schritten kürzt. Jedes
Unternehmen weiß, dass man in
einem Umfeld ohne Planungssicherheit nicht investieren kann. Diese
Planungssicherheit ist zuletzt zerstört worden. Da wird in Deutschland mitunter das Kind mit dem
Bade ausgeschüttet. Das haben wir
übrigens schon einmal bei der Biodiesel-Förderung erlebt. Damals
gab es ein Steuerfreiheitsversprechen auf Jahre hinaus, das aber
schon 2006 über Bord geschmissen
wurde. Ohne Verlass ist eine Energiewende nicht zu schaffen.
Die Energiewende kostet Geld.
Wer bezahlt am Ende?
Wir alle. Übrigens ein sehr interessanter Sonderfall: Eine Generation
nimmt hohe Einstiegskosten auf
sich, damit nachfolgende Generationen günstiger leben können. Normalerweise läuft es genau umgekehrt. Und es kommt nicht oft vor,
dass eine Gesellschaft die Chance
hat, einen jahrzehntealten technologischen Pfad zu verlassen und einen
neuen zu beschreiten.
Wenn man eine Subvention einführt, muss man gleichzeitig darüber nachdenken, wann man sich
von ihr verabschiedet. Das ist in der
Michael Bauchmüller 143
Prof. Dr. Frank Brettschneider
»Die Schlichtung ist eine schallende
Ohrfeige für die Parlamente.«
Prof. Dr. Frank Brettschneider über die Gründe der Bürger, gegen Großprojekte
zu protestieren, und die Notwendigkeit einer frühzeitigen Diskussion über Vorund Nachteile von Projekten.
Welche Gründe führen zu Protesten?
Zur Person
Seit 2006 ist Prof. Dr. Frank Brettschneider Inhaber des Lehrstuhls für
Kommunikationstheorie der Universität Hohenheim. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen unter
anderem die Kommunikation bei
Großprojekten, die Medienwirkungsforschung sowie die Wahl- und Einstellungsforschung. Im Kontext der
Debatte um Stuttgart 21 veröffentlichte der in der baden-württembergischen Landeshauptstadt lebende
Brettschneider zahlreiche Publikationen, wie unter anderem „Kommunikation und Meinungsbildung bei
Großprojekten“. Zudem ist er Leiter
der VDI-Expertengruppe „Kommunikation“ der VDI-Initiative „Gesellschaftliche Akzeptanz von Infrastrukturprojekten“.
144 INTERVIEWS
Im Wesentlichen gibt es fünf große
Gruppen von Protestgründen. An
erster Stelle ist der sogenannte
NIMBY-Effekt („not in my back-yard“)
zu nennen, also dass man durch ein
Projekt nicht in seinen Lebensumständen eingeschränkt werden
möchte. Davon sind zweitens projekt- oder sachbezogene Gründe zu
unterscheiden, wie eine Diskussion
über Umweltfolgen, Kosten, Risiken
oder den Nutzen eines Projekts.
Diese sachbezogenen Gründe spielen bei den Anwohnern erst an zweiter Stelle eine Rolle, sind dafür aber
in der allgemeinen öffentlichen Diskussion wichtiger als der NIMBYEffekt. Die dritte Gruppe sind allgemeinere Gründe, wie der Vertrauensverlust gegenüber Politik und Vorhabenträgern, Ideologie und die
politische Instrumentalisierung des
Projekts im Hinblick auf Wahlen. Die
ideologischen Gründe spielen für
die breite Öffentlichkeit kaum eine
Rolle, für Aktivisten, die den Protest organisieren, aber mitunter
schon. Viertens kritisieren viele Bürger die Kommunikation zwischen
Vorhabenträgern und Teilen der
Bürgerschaft bei solchen Projekten.
Der fünfte Grund sind verborgene
Gründe, die nicht so leicht zu erkennen sind. Das sind die Motive, die
den eigentlichen Antrieb von Menschen darstellen zu protestieren,
ohne dass ihnen das selbst immer
bewusst ist. Je nachdem, ob man es
mit organisierten Umweltschützern,
politischen Parteien, direkten Anwohnern oder der allgemeinen Öffentlichkeit zu tun hat, sind diese Gründe
ganz unterschiedlich gewichtet.
Hat sich an der Protestkultur in
Deutschland etwas geändert?
Proteste hat es zwar immer schon
gegeben, neu ist aber die Kombination all dieser fünf Faktoren in einem
großen Konglomerat. Die Friedensbewegung oder auch die Anti-AKWBewegung sind teilweise ideologisch
getrieben gewesen. Das haben wir
heute auch noch, aber es mischen
sich noch ganz viele andere Gründe
dazu. Das macht es so brisant, weil
dadurch die Basis für den Protest
nicht mehr so homogen ist wie in
den Achtzigerjahren. Verändert hat
sich natürlich auch die massenmediale Aufmerksamkeit für das Thema.
Wodurch ist das lokale Thema
Stuttgart 21 eines von nationaler
Aufmerksamkeit geworden?
Ein Grund sind die starken Bilder, wie
den Bagger beim Nordflügel und weinende ältere Frauen, die davorstanden. Dann die Prominenz, die unter
anderem Walter Sittler produziert hat,
der als einer der öffentlichen Köpfe
der Bewegung gegen Stuttgart 21
aufgetreten ist. So etwas findet natürlich sofort Eingang in die Talkshows
und am nächsten Tag berichten auch
die Printtitel darüber. Die Massenmedien spielen da als ein sich selbst verstärkendes System eine Rolle. Zudem
waren die allgemeine Stimmung vor
dem Hintergrund der Finanzkrise und
die Perspektive der bevorstehenden
Landtagswahl in Baden-Württemberg
Aspekte, die Stuttgart 21 auch überregional interessant gemacht haben.
Schlussendlich hat die Kanzlerin im
Bundestag das als ein Thema von
nationaler Bedeutung definiert und
dann sogar formuliert, dass die Landtagswahl auch als eine Volksabstimmung über die Zukunft von Infrastrukturprojekten in Baden-Württemberg
zu sehen sei.
Ist der Eindruck richtig, dass
sich Proteste vor allem gegen
Infrastrukturprojekte richten,
aber nicht zum Beispiel gegen
den Bau einer Autofabrik um
die Ecke?
Es gibt auch gegen andere Projekte
auf lokaler Ebene Proteste, wie
zum Beispiel gegen den Bau eines
Outlet-Shoppingcenters auf der
grünen Wiese, aber in erster Linie
wird in der Tat gegen große Infrastrukturprojekte protestiert. Das
liegt daran, dass der Nutzen bei solchen Projekten schwerer erkennbar
ist als bei der Autofabrik um die
Ecke. Da arbeiten vielleicht Leute,
die man aus dem familiären oder
nachbarschaftlichen Umfeld kennt,
das ist greifbarer. Die größeren Infrastrukturprojekte sind abstrakter
und komplexer – in finanzieller,
technischer und sozialer Hinsicht.
Diese Komplexität löst eher eine
Ablehnung aus als das, was man im
kleineren, unmittelbaren Umfeld
vielleicht noch überschauen kann.
Haben wirtschaftliche Nutzenargumente nicht mehr den Stellenwert wie vor 20 Jahren?
Ja, das ist eindeutig so. Wirtschaftliche Nutzenargumente wie Arbeitsplätze, Steuereinnahmen oder Aufschwung für die Region werden
zwar immer sehr positiv gesehen,
aber als selbstverständlich betrach-
tet. Deswegen fließt das nicht so
stark in die Gesamtbewertung eines
Projekts ein wie die wahrgenommenen Risiken. Und deswegen ist es
auch für Politiker schwer, mit wirtschaftlichen Vorteilen zu argumentieren und diese in den Mittelpunkt
zu stellen. Daran hat auch die Medienberichterstattung ihren Anteil.
Untersuchungen zeigen, dass in der
Berichterstattung die Probleme
über den Lauf der Jahre mit zunehmender Häufigkeit thematisiert wurden, während die Problemlösung
gleichbleibend oder seltener thematisiert wird. Damit entsteht der Eindruck, als hätte die Gesellschaft
immer größere Schwierigkeiten, die
sie lösen muss.
Wird über Umweltbelastungen
so häufig berichtet, weil NGOs
sehr häufig in den Medien zu
Wort kommen?
Ja. Journalisten reagieren auf NGOs
in der Regel positiver als auf Wirtschaftsunternehmen. Untersuchungen haben gezeigt, dass das, was die
Wirtschaft sagt, erst mal mit einem
Zweifel versehen wird. Was NGOs
wie der BUND, Robin Wood oder
Greenpeace sagen, genießt zunächst
einen Vertrauensbonus und wird
Prof. Dr. Frank Brettschneider 145
wesentlich unkritischer gesehen. Das
hat mit der höheren Glaubwürdigkeit
sowie der Professionalisierung der
Öffentlichkeitsarbeit von NGOs zu
tun. Große NGOs sind inzwischen
richtig ausgefuchste Kampagnenmaschinen, die genau wissen, was sie
machen müssen, um Berichterstattung zu generieren. Bei Stuttgart 21
gab es durch die organisierten Gegner, unter anderem die sogenannten
Parkschützer, regelrechte Schulungen, wie man sich zu verhalten hat,
wenn man sich an einen Baum kettet
und ein Kamerateam kommt. Die
Mobilisierung ist also wesentlich professioneller und wird durch Social
Networks im Web 2.0 natürlich auch
erheblich beschleunigt.
Apropos Schnelligkeit: Sind Projektgegner den Initiatoren vielfach voraus, was die Kommunikations- und Kampagnenfähigkeit
betrifft?
Ja, denn allein vom Tempo her können Verwaltungen und Unternehmen nicht mithalten. Projektinitiatoren können nicht einfach spontan
etwas ins Netz stellen, denn ihre
Aussagen müssen immer hieb- und
stichfest sein und im Zweifelsfall
sogar vor Gericht standhalten können. Insofern ist in dieser Hinsicht
keine Waffengleichheit gegeben.
Aber natürlich haben die Projektinitiatoren in anderer Hinsicht auch
Vorteile, wie wesentlich größere
finanzielle Ressourcen. Bei den Gegnern sind die Geschwindigkeit und
Mobilisierungsfähigkeit über soziale
Netzwerke und das per se höhere
Vertrauen große Vorteile.
Spielt das Internet eine immer
größere Rolle für die Mobilisierung von Anhängern?
146 INTERVIEWS
Ja, denn es ist durch die sozialen
Netzwerke sehr viel einfacher
geworden, solche Protestaktionen
professionell durchzuhalten. Das
hat man bei Stuttgart 21 durch
Beobachtung der Facebook-Gruppen sowie der „Parkschützerseite“
sehr deutlich feststellen können. In
einer Gruppe, die über die sozialen
Netzwerke nicht mehr hierarchisch
organisiert ist, gibt es eine Selbstorganisation durch die technische
Vermittlung und eine sehr schnelle
Verständigung zu organisatorischen und inhaltlichen Fragen.
Welche Rolle spielt die Sprache?
Die Expertensprache muss sich
ändern, die ist bislang nicht bürgertauglich. Bei der Schlichtung
von Stuttgart 21 haben Bauingenieure immer von Überwerfungsbauwerken gesprochen. Als Heiner
Geißler nachgefragt hat, was das
denn sei, war das Ergebnis: so eine
Art Brücke. Warum kann man das
dann nicht einfach Brücke nennen?
Hat bei der Volksabstimmung
die schweigende Mehrheit
gesiegt?
Ja, das ist ziemlich offenkundig.
Diese schweigende Mehrheit gab
es schon zu Beginn des Protests,
als man nur Buttons, Handtaschen
und Schals gegen Stuttgart 21
gesehen hat. Das hat das öffentliche Erscheinungsbild sehr geprägt.
Erst als eine Gruppe „Bürger für
Stuttgart 21“ auch durch den
Schlossgarten gejoggt ist und sich
regelmäßig donnerstags zu erkennen gegeben hat, wurde die Redebereitschaft der Projektbefürworter
größer. Es war sehr wichtig, dass
im Stadtbild sichtbar geworden ist,
dass es auch Befürworter gibt.
Denn damit ist die Angst gesunken, als Stuttgart-21-Befürworter
schief angeguckt oder isoliert zu
werden.
Was kann man tun, um der
schweigenden Mehrheit mehr
Stimme zu geben?
Man sollte ihr zeigen, dass sie nicht
so klein ist, wie sie zu sein glaubt.
Wer muss mit Blick auf die
Energiewende Leadership übernehmen?
Das ist eine klassische Führungsaufgabe für die Politik. Führung – im
Sinne von Erklären – wird zu selten
ausgeübt, und das ist auch ein
Grund, warum das Vertrauen in die
Politik so gering ist. Zu dieser Führungsaufgabe gehört auch zu
sagen, welche Position man hat und
welche unangenehmen Nebeneffekte diese mit sich bringt. Die Politik müsste viel öfter wieder aufs
Neue begründen, warum sie sich für
dieses oder jenes entschieden hat.
Mancher Bürger tritt ja auf der
einen Seite für die Energiewende
ein, auf der anderen Seite protestiert er aber gegen das Windrad
hinter seinem Garten. Kann man
diesen Widerspruch auflösen?
Nicht bei den Menschen, die direkt
selbst betroffen sind. Mal ganz ehrlich: Wenn eine Stromüberlandleitung direkt über mein Haus führen
würde, fände ich das auch nicht
toll. Das sollte man auch nicht
abtun und als rein egoistisch darstellen. Was funktionieren kann,
ist, deutlich zu machen, dass die
Stromüberlandleitung nicht wegen
des Profitinteresses eines Unternehmens, sondern aus Gemeinwohlgründen notwendig ist.
Kann die Energiewende ein
Gemeinwohlthema sein?
Ja, das könnte es tatsächlich sein,
denn die Energiewende tangiert
viele Bereiche der Gesellschaft, ist
generationenübergreifend relevant
und stößt auf eine breite Akzeptanz,
so wie Willy Brandts Ausspruch
„mehr Demokratie wagen“ in den
Siebzigerjahren. Das gemeinsame
Ziel muss allerdings noch deutlicher
konkretisiert werden, daran mangelt
es noch.
Reichen die Beteiligungsmöglichkeiten im formellen Verwaltungsrecht aus?
Nein, die reichen nicht aus, denn sie
kommen zu einem viel zu späten
Zeitpunkt, nämlich dann, wenn es
nicht mehr um Alternativen geht.
Die bestehenden Verfahren sind
nicht dazu geeignet, eine gesellschaftliche Diskussion über Alternativen zu ermöglichen, sondern sie
sind dafür da, Rechtssicherheit herzustellen. Das ist eine ganz andere
Funktion, die absolut notwendig
ist. Diese ersetzt aber nicht eine
zusätzliche Bürgerbeteiligung, die
früher stattfinden sollte. Dabei geht
es nicht um direkte Demokratie,
sondern um Anhörungen und um
Dialogverfahren. Beides sollte man
informell machen und nicht gesetzlich vorschreiben. Denn letztendlich liegt es ja im eigenen Interesse
von Unternehmen, eine frühzeitige
Bürgerbeteiligung zu ermöglichen,
da das Projekt ansonsten am Ende
wahrscheinlich teurer wird oder
ganz scheitert.
Trägt Bürgerbeteiligung auch ein
Stück weit zu der von Ihnen
beschriebenen „Legitimation
durch Kommunikation“ bei?
Genau, denn schon allein die Ankündigung, ein solches Format durchführen zu wollen, ist ja ein Signal.
Dass die Legitimation durch juristische Verfahren für eine öffentliche
Akzeptanz nicht ausreicht, hat man
ja bei Stuttgart 21 gesehen. Denn
darauf, dass man mit der Art der
Entscheidungsfindung in den Parlamenten unzufrieden ist. Im Umkehrschluss heißt das, wäre die Entscheidungsfindung dort anders,
wäre wahrscheinlich der Ruf nach
Volksentscheiden gar nicht so laut.
»Große NGOs sind inzwischen
richtig ausgefuchste
Kampagnenmaschinen.«
trotz der juristischen und parlamentarischen Verfahren war das Projekt
aus Sicht eines nicht kleinen Teils
der Gesellschaft nicht ausreichend
legitim. Deswegen muss man sich
Gedanken machen, woran das liegt
und wie man es ändern kann. Die
Antwort wäre, die „Legitimation
durch Verfahren“ durch eine informelle Legitimation auf Basis von
Kommunikation zu ergänzen.
Sind Volksabstimmungen ein
gutes Mittel, um solche Konflikte
zu lösen?
Bürgerentscheide können auf der
kommunalen Ebene sinnvoll sein,
wenn Projekte nur von kommunaler
Bedeutung sind. Bei regionalen und
überregionalen Entscheidungen
sind Verfahren der direkten Demokratie nicht immer geeignet. Aus
Gründen der Befriedung des Konfliktes war die Volksabstimmung zu
Stuttgart 21 das richtige Mittel.
Aber an sich sollte es darum gehen,
wie man in Zukunft eine Entscheidung treffen kann, bevor es zu solchen Eskalationen kommt. Das
Rufen nach Volksabstimmungen ist
meiner Meinung nach ein Reflex
Wie müsste man die Entscheidungsfindung in den Parlamenten verändern?
In Parlamenten sollte das stattfinden, was bei der Schlichtung stattgefunden hat: ein öffentlich geführter Diskurs über Vor- und Nachteile
eines Projektes. Deswegen ist die
Schlichtung eigentlich eine schallende Ohrfeige für die Parlamente,
denn die kontroversen Diskussionen, die dort stattgefunden haben,
hätten eigentlich in den Parlamenten stattfinden müssen. Das haben
sie aber nur zum Teil, weil man bei
einer Verteilung von 90 zu zehn Prozent im Parlament nicht lange über
ein Projekt diskutieren muss, denn
die Mehrheiten sind ja klar. Was
man bräuchte, sind sehr viel lebendigere Parlamentsdebatten mit viel
grundsätzlicheren Diskussionen.
Prof. Dr. Frank Brettschneider 147
Dr. Hans-Jürgen Brick
»Aufklärung ist ein Erfolgskriterium
für Akzeptanz.«
Dr. Hans-Jürgen Brick über den Fortschritt des Netzausbaus sowie
eine verständliche und zielgruppengerechte Kommunikation.
Zur Person
Der promovierte Jurist ist seit
September 2009 Mitglied der
Geschäftsführung der Amprion
GmbH in Dortmund. Davor war
er Teil der Geschäftsführung der
RWE Transportnetz Strom GmbH.
Bereits seit 1992 ist Hans-Jürgen
Brick in unterschiedlichen Positionen für die RWE AG tätig, unter
anderem als Leiter des Bereichs
Finanzen, Rechnungswesen und
Steuern der RWE Plus AG.
148 INTERVIEWS
Eine aktuelle Umfrage zeigt: Die
Zustimmung zur Energiewende
ist weiterhin groß, doch die
Bevölkerung lehnt den Netzausbau mehrheitlich ab – wie ist dieser Widerspruch zu erklären?
Auf den ersten Blick meist nicht.
Wenn man allerdings das Thema in
Gesprächen vertieft, entwickeln
die meisten Gesprächspartner ein
Bewusstsein dafür.
Die Energiewende ist ein abstraktes
Thema, das für die meisten Menschen positiv besetzt ist. Beim Netzausbau hingegen denken viele Menschen ganz konkret an die Leitung,
die in ihrer Nähe gebaut wird. Und
da schwindet die Zustimmung dann
dramatisch.
Denken Sie, dass es in der Bevölkerung die Bereitschaft gibt,
„Opfer“ zugunsten der Allgemeinheit zu bringen?
Also das NIMBY-Prinzip: Energiewende ja, aber das Windrad vor
der Tür nein. Und das Erdkabel
bitte auf dem Acker des Bauern
nebenan. Lassen sich solche Konflikte auflösen?
Vollständig kann man diese Konflikte meist nicht lösen. Denn
schließlich muss unsere Leitung
leztendlich irgendwo liegen. Und
damit gibt es immer direkt Betroffene, deren Wünsche wir nicht alle
erfüllen können.
Ist der Bevölkerung der Konnex
zwischen Energiewende und
notwendigen Infrastrukturmaßnahmen bewusst?
Eher weniger.
Müssten die Netzbetreiber in
ihrer Kommunikationsarbeit
vielleicht noch mehr informieren und aufklären?
Information und Aufklärung ist ein
zentrales Erfolgskriterium für die
Schaffung von Akzeptanz beim
Netzausbau. Amprion praktiziert
das seit Jahren und ist erfolgreich.
Man muss offen, transparent, verbindlich und dialogorientiert sein
und Bereitschaft zu Veränderungen
mitbringen.
Bürgerinitiativen fordern im
Kontext des Netzausbaus, in sensiblen Gebieten Erdkabel zu verlegen. Was halten Sie von dieser
Forderung?
Derzeit gibt es nur für vier Pilotprojekte einen rechtlichen Rahmen für
Verkabelungen im Übertragungsnetz. Die Möglichkeit, nach
Abschluss der Pilotphase in Zukunft
vielleicht auch darüber hinausgehend zu verkabeln, kann einen Beitrag zu mehr Akzeptanz von Leitungsbau bedeuten.
Mit Erdkabeln steigen auch die
Kosten, was aus Sicht eines
Netzbetreibers nachteilig ist.
Was ist das höhere Gut – breite
Akzeptanz in der Bevölkerung
oder möglichst niedrige Kosten?
Anders gefragt: Rechtfertigt
hohe Akzeptanz auch höhere
Kosten?
Steigende Kosten sind weniger ein
Problem für den Netzbetreiber als
für den Stromkunden, der schließlich die Kosten der Netze über den
Strompreis trägt. Und hier gibt es
Akzeptanzschwellen, ab denen Preissteigerungen von der breiten Masse
nicht mehr ohne Widerspruch hingenommen werden. Deshalb muss
in Zukunft bei weiteren Verkabelungen immer ganz genau die Sinnhaftigkeit eines jeden Projekts diskutiert werden.
Amprion plant die Leitung „Ultranet“, die auf Hochspannungs-
Gleichstrom-Übertragung
beruht, vom Niederrhein nach
Baden-Württemberg. Wie schätzen Sie das Potenzial solcher
technischer Neuerungen ein?
Das Potenzial der HGÜ-Technik ist
groß und sie wird in Deutschland in
hohem Maße zum Einsatz kommen,
das sieht man auch am aktuellen
Netzentwicklungsplan. Der Vorteil
ist, dass Strom fast verlustfrei über
sehr lange Strecken transportiert
werden kann.
Der Haken sind höhere Kosten?
Eine HGÜ-Leitung ist teurer als eine
klassische Wechselstromleitung, ist
aber gerade unter dem Aspekt des
sicheren Netzbetriebs in Zukunft
eine wichtige Option.
Geld ist immer wieder ein großes
Thema. Reden wir bei einem Projekt wie der Energiewende zu
viel über Geld und zu wenig über
den Nutzen?
Nein, die Kostendiskussion ist hochnotwendig bei den Summen, die
wir für die nächsten 15 bis 20 Jahre
ausgeben. Allein die EEG-Umlage
hat inzwischen eine Größenordnung erreicht, über die man immer
wieder reden muss.
Der Netzausbau insgesamt wird
voraussichtlich mehr als 20 Milliarden Euro kosten. Hat sich
Deutschland mit der Energiewende wirtschaftlich zu viel aufgebürdet – oder sehen Sie die
Energiewende als Chance für neue
Innovationen und Investitionen?
Die Energiewende ist sicher eine
Chance für neue Innovationen und
Investitionen wie die HGÜ-Technik.
Bei den Kosten muss man sich die
Relationen klarmachen. Der im
Netzentwicklungsplan beschriebene Netzausbau kostet pro Jahr
etwa zwei Milliarden Euro, für die
EEG-Umlage wird fast das Zehnfache ausgegeben.
Bei den Offshore-Anschlüssen
wird gerade die Haftung vom
Anbieter auf den Kunden verschoben.
Das ist eine Wertentscheidung der
Politik. Aber Fakt ist, dass die Haftungsrisiken bei den OffshoreAnschlüssen von Investoren so hoch
eingeschätzt werden, dass niemand
investiert. Da geht es um einen
Selbstbehalt von 100 Millionen Euro
pro Anschluss. Welches Unternehmen kann mal eben auf die Schnelle
eine solche Summe verkraften? InsoDr. Hans-Jürgen Brick 149
fern braucht es eine andere Form der
Finanzierung. Letztendlich ist die
Energiewende ein nationales Projekt,
ein Projekt von ganz Deutschland,
und deswegen muss es auch ganz
Deutschland tragen.
Bleiben wir beim Geld: Im Rahmen des Netzausbaus sind Entschädigungszahlungen vorgesehen. Sorgt das für Akzeptanz?
Selbstverständlich werden Grundstückseigentümer, deren Eigentum
durch unsere Leitungen belastet
wird, von uns entsprechend entschädigt. Das ist gute Praxis. Allerdings
dürfen Entschädigungssummen in
beliebiger Höhe nicht zu extrem steigenden Strompreisen führen. Denn
Akzeptanz kann man nicht kaufen.
gegeben. Wie ist Ihre erste Einschätzung?
Vom Kraftwerk bis zur Umgehungsstraße?
Das Image der Energieversorger
war 2003/2004 denkbar schlecht,
man wurde nur noch im Zusammenhang mit Preiserhöhungen gesehen. Und das wirkte auch auf die
Netzgesellschaften, die Bestandteil
der integrierten Energieversorgungsunternehmen waren. Das ist
heute anders. Heute baut nicht E.ON
oder RWE die Leitung, sondern
Amprion. Das hat grundsätzlich
auch zu einer Entemotionalisierung
beigetragen.
Ja klar, aber auch da werden Sie
nicht alle Gegner mitnehmen. Möglicherweise treffen Sie sich vor dem
Kadi, der dann entscheiden muss. An
einem Punkt muss irgendwann auch
mal die Messe gelesen sein. Wenn
die Entscheidung vorliegt, erwarten
Momentan diskutiert Amprion
an einem runden Tisch mit Bürgern in Halle. Wie ist Ihre Erfahrung mit solchen Formaten?
Sind sie Erfolg versprechend
oder verzögern sie die Prozesse?
Die Bürgerbeteiligung ist ein elementarer Bestandteil des Konsultationsverfahrens und hat bereits
jetzt positive Wirkung gezeigt. Das
soll auch in Zukunft so bleiben.
Konsultative Verfahren sollten bei
jedem Infrastruktur- oder Großprojekt angewendet werden.
»Richtig eingesetzt, können
runde Tische erfolgreich sein.«
Finanzielle Beteiligung von Bürgern in Form von Bürgersolaranlagen und Beteiligungen an
Windparks sind Vorschläge für
mehr Akzeptanz. Können Sie sich
solche Modelle auch im Rahmen
des Netzausbaus vorstellen?
Ja, solche Modelle kann man diskutieren. Aber auch hier gilt: Akzeptanz kann man nicht kaufen und deshalb werden auch diese Modelle bei
den direkt vom Leitungsbau betroffenen Bürgern nicht zu mehr Akzeptanz führen. Das ist dieses NIMBYPrinzip: Je näher an der Leitung,
desto kritischer werden die Leute.
Beim Netzentwicklungsplan hat
es umfassende Bürgerbeteiligung in Konsultationsverfahren
150 INTERVIEWS
wir von allen, dass sie die Beschlüsse
akzeptieren und entsprechend konsequent handeln. Das gilt gerade
auch für die Politik und die lokalen
Abgeordneten.
Sie sprachen gerade von der positiven Wirkung. Woran machen
Sie diese fest?
Wir sehen es in unseren StakeholderVeranstaltungen. Im Vergleich zu
früher werden die Argumente dort
sehr sachlich und auf Augenhöhe
ausgetauscht. Die Diskussionen verlaufen eben nicht mehr hochemotional wie Anfang des Jahrtausends.
Woran die Energieversorger
damals durch hohe Preissteigerungen nicht ganz unschuldig waren.
Runde Tische sind ein Mittel des
Dialogs vor Ort. Allerdings muss
man ihre Sinnhaftigkeit jeweils von
Fall zu Fall klären. Richtig eingesetzt, können runde Tische erfolgreich sein.
Was heißt richtig eingesetzt?
Ich muss mein Gegenüber gut kennen und den richtigen Kommunikationsweg wählen. Ein runder Tisch
eignet sich bei wenigen, gut informierten und aktiven Gesprächspartnern. Wenn die Kritiker eine größere und inhomogene Gruppe sind,
kann ein Infomarkt sinnvoll sein,
weil man viele erreichen und viel
flexibler eine große Themenpalette
abdecken kann.
Netzbetreibern wird oft vorgeworfen, dass sie Alternativen
nicht offen genug abwägen und
einseitig für Lösungen plädieren,
ohne die Einwände der Bürger
ernst zu nehmen. Ein berechtigter Vorwurf?
Wir machen unsere Planungen
transparent offen und diskutieren sie
mit den Betroffenen.
Wie groß sind die Spielräume, Planungen tatsächlich zu verändern?
Das kann man nicht pauschal sagen.
Es gibt Projekte, da wird die Planung
überhaupt nicht verändert. Bei der
dena-Leitungsstrecke, bei der wir
das erste Erdkabel verlegen, haben
wir dagegen mehrfach umgeplant.
Das ist ein Projekt, das seit fünf bis
sechs Jahren in der Planung ist. Wir
sind gestartet mit einer Freileitung.
Dann wurden wir per Gesetz verpflichtet, Erdkabel zu verlegen, und
kurz darauf wurde die Strecke zur
Pilotstrecke erklärt. Letztendlich
sind wir zurück auf Los gegangen.
Und wenn die Behörde dann nochmal neue Richtlinien mit Abstandsregelungen und Ähnlichem vorlegt,
müssen wir das Kabel eventuell noch
mal woanders bauen.
Wie ergebnisoffen kann Bürgerbeteiligung aus Ihrer Sicht sein?
Bürgerbeteiligung kann immer nur
innerhalb der Leitplanken stattfinden, die zum Beispiel durch Gesetze
oder Gegebenheiten vor Ort (Naturschutz) gesetzt sind. Aufgrund der
Rahmenbedingungen gibt es oft nur
eine einzige mögliche Trasse, zumal
wenn man dort schon eine Stromleitung stehen hat. Man muss aber
zumindest die geprüften Alternativen diskutieren. Wenn ich eine
Trasse baue und weiß, dass von fünf
Möglichkeiten vier nicht umsetzbar
sind, und deswegen immer nur von
der einen Trasse spreche, ist das
nicht zielführend.
Nach Ihrer Erfahrung: Wie hat sich
die Akzeptanz von Stromnetzen
entwickelt? Ist die Realisierung
heute leichter oder schwerer als
vor einigen Jahrzehnten?
Die Realisierung von neuen Stromnetzen ist heute wesentlich schwerer
und aufwendiger als vor einigen
Jahrzehnten. Die gesamte Projektkommunikation hat mittlerweile ein
Ausmaß erreicht, das extrem fordernd und aufwendig ist.
Die NGOs spielen beim Netzausbau eine wichtige Rolle. Wie
beurteilen Sie das Verhalten von
NGOs und Umweltverbänden in
diesem Rahmen?
NGOs und Umweltverbände befinden sich in einer Zwickmühle, da der
von ihnen begrüßte Umbau der Energieerzeugung hin zu erneuerbaren
Energien ohne Netzausbau nicht zu
haben ist. Das führt, ganz allgemein
gesagt zu einer positiveren Haltung
dieser Akteure zum Netzausbau.
Führt die Haltung auch zu einer
besseren Zusammenarbeit als
früher?
Ja, weil die ideologischen Grabenkämpfe nicht mehr stattfinden. Diese
ideologisch hoch aufgeladenen Auseinandersetzungen zwischen Konzernen und Umweltgruppen gibt es
nicht mehr, weil es die Energieversorger in ihrer alten integrierten Struktur nicht mehr gibt. Das Feindbild
existiert nicht mehr. Wir als Netzbetreiber gehören nicht mehr zu den
„bösen Monopolkonzernen“. Inzwischen fahren auch Castoren durch
Deutschland, ohne dass man davon
etwas hört.
Die NGOs haben gerade beim
Thema Netz teilweise ein sehr hohes
Know-how aufgebaut. Wenn man
sich die Stellungnahmen der NGOs
zum Netzentwicklungsplan anguckt,
sind das von profunder Fachkenntnis
getragene Dokumente.
Wie hoch schätzen Sie den Einfluss von NGOs bei der Umsetzung
von Großprojekten ein?
Das hängt jeweils vom Großprojekt
ab. Bei Leitungsbauprojekten ist
ihr Einfluss nicht allzu groß, da
sämtliche Umweltaspekte im Rahmen des Genehmigungsverfahrens
betrachtet werden. Bei anderen
Großprojekten haben sie sicher
erheblich mehr Einfluss.
Ein Großprojekt ist Stuttgart 21.
In diesem Kontext entstand der
Begriff „Wutbürger“, der stur
und egoistisch seine eigenen
Interessen verfolgt. Gibt es die
„Wutbürger“ auch im Rahmen
des Netzausbaus?
Wir haben es bislang bei unseren
Leitungsbauprojekten nicht mit
Wutbürgern zu tun, sondern mit
Betroffenen, die ihre Interessen zu
Recht artikulieren.
Die NGOs haben ihre Arbeit in
den letzten Jahren stark professionalisiert. Steigt damit auch
die Deutungshoheit von NGOs?
Dr. Hans-Jürgen Brick 151
Dr. Roger de Weck
»Von der Informations- zur
Interaktionsgesellschaft.«
Dr. Roger de Weck über die Bedeutung des Internets, Vor- und Nachteile der
direkten Demokratie und die schweizerische Sicht auf Proteste in Deutschland.
Aus Ihrer Sicht als Schweizer:
Welches Modell wird den Bedürfnissen der Menschen eher gerecht
– die direkte Demokratie oder die
repräsentative Demokratie?
Zur Person
Der studierte Volkswirt ist seit Januar
2011 Generaldirektor der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft. Zuvor war er unter anderem
Chefredakteur des Tages-Anzeigers
in Zürich und der Wochenzeitung Die
Zeit in Hamburg. 2001–2010 war er
freier Publizist. In seinen Kolumnen
beschäftigte er sich unter anderem
mit der Rolle der Medien im direktdemokratischen System der Schweiz
und im repräsentativen System der
Bundesrepublik Deutschland.
152 INTERVIEWS
Da hat jedes Land seine Tradition.
Die Vorstellung, das schweizerische
Modell ließe sich eins zu eins auf
andere Länder übertragen, ist illusorisch und ahistorisch – abgesehen
davon, dass die direkte Demokratie
in der Schweiz große Stärken, aber
derzeit auch Schwächen aufweist.
Wenn Bürger jedoch regelmäßig zu
Sachfragen konsultiert werden, hat
das einen pädagogischen Effekt. Ein
Teil der Bevölkerung erwirbt dank
der ständigen Auseinandersetzung
mit Sachfragen eine besonders
hohe demokratische Kompetenz.
Müssen die Deutschen direkte
Demokratie erst lernen?
Das muss jeder, auch in der Schweiz,
denn direkte Demokratie ist ein Prozess. Ist eine Generation nach der
anderen mit direkter Demokratie
aufgewachsen, verhält sich das Volk
anders, als wenn direktdemokratische Elemente soeben eingeführt
worden sind. Direkte Demokratie
hat einen unaufhörlichen Lerneffekt,
die Qualität der Entscheidungen
hängt bei jeder Volksabstimmung
von der Qualität der öffentlichen
Auseinandersetzung unter den Bürgerinnen und Bürgern ab. Es gibt
Phasen, in denen auf höherem
Niveau debattiert wird, und andere,
in denen das Niveau fällt.
Kompromiss und Konkordanz
sind Pfeiler der Schweizer Demokratie. Ist das Thema Akzeptanz
kulturell bedingt?
Deutschland und die Schweiz sind
beide außerordentlich konkordanzund kompromissorientiert, jedoch
auf höchst unterschiedliche Weise.
In Deutschland markiert jeder zu
Beginn sehr stark seine Position.
These, Antithese, Synthese: Am
Schluss kommt es oft zum Kompromiss. In der Schweiz wird ganz am
Anfang ein Kompromiss postuliert,
dann zieht jeder an dem Kompromiss-Flickenteppich in seine Richtung, bis er manchmal reißt. Das ist
zwar die umgekehrte Vorgehensweise, aber im Ergebnis sind beide
Länder kompromissbereit. Und das
gilt letztlich für alle erfolgreichen
Länder: Gute Politik besteht aus
Kompromissen und nicht aus unerbittlicher Auseinandersetzung, bei
der man vier Jahre in die eine Rich-
tung politisiert und die nächsten
vier Jahre in die Gegenrichtung. Solche Fähigkeit zum Kompromiss ist
eine der Stärken der Bundesrepublik.
Denken Sie, dass es in Deutschland eine große Skepsis gegenüber bestimmten Technologien
gibt?
Das entspricht dem gängigen Vorurteil auf deutschen Chefetagen,
hat aber mit der Wirklichkeit wenig
zu tun. Wäre die deutsche Grundkultur technologiefeindlich, hätte die
deutsche Wirtschafts- und Erfolgsgeschichte niemals ihren Lauf
genommen. Es gibt berechtigte Kritik gegenüber bestimmten Aspekten
einiger Großtechnologien, aber ich
sehe die Deutschen in keiner Weise
als einen Menschenschlag, der in
dieser Hinsicht völlig anders geprägt
wäre als andere. Angst ist kein deutsches Monopol.
In Deutschland wurde das Thema
Kernenergie sehr emotional erörtert. Wie wird das Thema in der
Schweiz diskutiert?
Die Debatte über die Kern- oder
Atomenergie – jeder mag sie benennen, wie er will – wird auch in der
Schweiz seit Jahrzehnten geführt.
Die Eidgenossenschaft ist ein kleines, dicht besiedeltes Land. Käme
es zu einem GAU, würde unsere Heimat weitgehend unbewohnbar. Dass
hier eine besondere Sensibilität
gegenüber der Kernenergie besteht,
verwundert nicht. Aber irgendwo
zwischen Pragmatismus und Risikobereitschaft hat man eine Zeit lang
damit gelebt, wiewohl mit starker
Opposition. Fukushima hat nun auf
ein paar Jahre hinaus die Stimmung
umgekehrt. Aber je nach Entwicklung
der Technologien, der Energiebedürfnisse und unserer Energieverträge mit der EU kann sich vieles in
die eine oder die andere Richtung
entwickeln. Ich würde das nicht als
eine definitive Wende interpretieren. Die Diskussion wird hierzulande
genauso geführt wie in Deutschland, und zwar von beiden Seiten:
teils rational, teils emotional.
Obwohl es eine sehr große
Unterstützung für die Energiewende gibt, wehren sich die
Menschen teilweise gegen notwendige Infrastrukturvorhaben.
Was steckt hinter dieser widersprüchlichen Haltung?
Das ist das ewige Dilemma zwischen
langfristigen und kurzfristigen Inter-
essen. Kurzfristig möchte man diese
oder jene Einbuße an Lebensqualität abwenden, langfristig bräuchte
man beispielsweise eine sichere
Energieversorgung. In dieser Inkohärenz lebt aber nicht nur die breite
Bevölkerung. Gerade die Elite bzw.
das Establishment in Deutschland
haben diesen Widerspruch vorgelebt: In weiten Teilen der Finanzwirtschaft überwiegen bis heute kurzfristige gegenüber langfristigen
Überlegungen, obwohl die Krise
jeden vernünftigen Menschen eines
Besseren belehrt hat.
Ist das also ein grundsätzliches
Problem?
Wenn die größte deutsche private
Bank 25 Prozent Rendite auf das
Eigenkapital erzielen wollte, war das
nicht gerade ein Vorbild für Nachhaltigkeit. So ist ein Großteil der
Bürger im Irrglauben bestärkt worden, ein Unternehmen könne innerhalb eines Jahres seine Substanz um
ein Viertel vermehren. Führung
bedeutet zunächst einmal, Vorbild
zu sein. Und in dem Maße wie die
Wirtschaftswelt und die Politik wirklich langfristig denken, in dem Maße
dürfen sie das von den Bürgerinnen
und Bürgern einfordern.
Dr. Roger de Weck 153
Wie schätzen Sie den Einfluss der
Medien auf die Protestkultur ein?
Die Schweiz ist ja geradezu ein
Labor für die Wirkung der Medien,
denn das Volk stimmt rund vier Mal
im Jahr über mehrere Vorlagen ab.
Doch die Korrelation zwischen der
veröffentlichten Meinung und der
öffentlichen Meinung, wie sie sich
an der Urne ausdrückt, ist klein. Das
Volk lässt sich von Medien wenig
beeinflussen.
arabischen Raum hat es ja schon
begonnen, auch bei uns stehen Um wälzungen bevor. Man kann nicht
sagen, dass das Internet alleinige
Ursache der Veränderungen ist,
aber es stellt einen wesentlichen
Faktor dar. Das Internet bietet die
Möglichkeit, eine viel breitere
Debatte anzustoßen, über zahllose
soziale Foren zu mobilisieren und
Botschaften an den herkömmlichen
Medien vorbeizutransportieren. Der
»Vielleicht gibt es dank der
NGOs nun einen Deutungshoheits-Pluralismus.«
Werden die Medien ihrer Verantwortung heute noch gerecht?
Man muss hier differenzieren. Man
kann nicht vom „Mediensystem“ als
Ganzes sprechen. Es gibt herkömmliche Medien, die trotz wirtschaftlicher Krise eine intellektuelle Blüte
erleben, während sich ein Teil des
Mediensystems der versuchten
Volksverdummung schuldig macht.
Die Ausdifferenzierung ist noch größer als früher.
Was spielt das Internet für eine
Rolle?
Qualität und Quantität der Debatte
haben sich seit dem Emporschnellen
des Internets verändert. Wir erleben
eine Zäsur, die so tief ist wie damals
die Erfindung des Buchdrucks durch
Johannes Gutenberg: Im Jahr 1450
begann die Informationsgesellschaft. Heute sind wir dank des
Internets in einer Interaktionsgesellschaft. Das wird gesellschaftliche
Veränderungen nach sich ziehen, im
154 INTERVIEWS
Stammtisch findet heute öffentlich
statt und nicht länger in der Kneipe.
Weckt das Internet Protestbereitschaft?
Nein, aber es ermöglicht die Teilnahme an Protesten, die vielen
Menschen zuvor verwehrt war, weil
sie über die herkömmlichen Medien
kaum informiert worden waren.
Gleichgesinnte zu finden, ist durch
das Internet einfacher geworden.
Denken Sie, dass NGOs in den
letzten Jahren an Deutungshoheit gewonnen haben?
Jedenfalls haben die Widersacher
der NGOs nicht mehr die fast alleinige Deutungshoheit. Vielleicht
gibt es dank der NGOs nun einen
Deutungshoheits-Pluralismus.
Was heißt das für Wirtschaft
und Politik?
Dass sie überzeugen müssen. In der
heutigen Interaktionsgesellschaft ist
die Kraft der Argumente zum Glück
etwas stärker geworden gegenüber
der Kraft der Interessen. Also muss
man argumentieren, argumentieren
und argumentieren.
Haben die Unternehmen bisher
ihre Argumente nicht deutlich
genug gemacht?
Viele in der Wirtschaft nehmen die
Haltung ein: Wir haben die Argumente, die anderen haben die Emotionen, wir sind ernst zu nehmen,
die anderen sind unseriös, wir denken langfristig, die anderen sind
keine Realisten. Genau diese Haltung weckt bei Bürgerinnen und
Bürgern den Eindruck, nicht ernst
genommen zu werden, und dann
nehmen sie die Wirtschaft und ihre
Argumente auch nicht ernst. Viele
Public-Relations-Strategien greifen
zu kurz, sie bleiben auf der Ebene
manipulativer PR. Vielmehr muss
der Wille zu einer wirklich ernsthaften Debatte zum Ausdruck kommen,
will man etwas bewirken.
Denken Sie, dass es heute schon
genügend Beteiligungsmöglichkeiten im formellen Verwaltungsrecht in Deutschland gibt?
Ich maße mir als Schweizer keine
Meinung an, welche Instrumente in
Deutschland zusätzlich nötig wären.
Hingegen bin ich mir sicher, dass
sich Verfassungen oder Grundgesetze entwickeln müssen. Die Gesellschaft erfährt einen solchen Schub,
dass sich auch die Institutionen
eines Landes erneuern sollten. Bürger können sich viel stärker äußern
als früher, was der politische Prozess
aber nicht abbildet. Daher erstaunt
es mich in keiner Weise, dass die
Spannungen wachsen. Die neuen
Artikulationsmöglichkeiten müssen
früher oder später in neue Instrumente oder sogar in neue Institutionen münden, die den Bürgern eine
stärkere Mitsprache eröffnen.
Sind Elemente direkter Demokratie
das Erfolgsrezept für Akzeptanz?
Ein allgemeingültiges Erfolgsrezept
gibt es nicht, aber Direktdemokratie
birgt Chancen. Es gibt Großprojekte,
die viel Akzeptanz finden wie zum
Beispiel der milliardenteure Gotthardtunnel, der dazu dient, den Verkehr weg von der Straße auf die
Schiene zu verlagern. Dafür ist die
Akzeptanz enorm, obwohl auch die
Kosten enorm sind.
Wie wird die Bevölkerung in
der Schweiz bei Großprojekten
mit eingebunden?
Bei Projekten einer gewissen Größenund Kostenordnung, wie dem Gotthardtunnel oder in einer Gemeinde
dem Bau eines Schulhauses, wird die
Bevölkerung immer befragt. Das
Volk beschließt ja auch die Steuererhöhungen. Aber das geht nur, wenn
die Bürger über Jahrzehnte gelernt
haben, dass sie ohne Steuererhöhung das neue Schulhaus nicht
haben werden. Hier zeigt sich ein
langwieriger Lernprozess, der dazu
beiträgt, dass der Teil der Bevölkerung, der sich politisch engagiert
und mit den Dossiers auseinandersetzt, besser entscheidet. Es kommt
vielleicht weniger auf das direktdemokratische System als vielmehr auf
den Lerneffekt dank direktdemokratischer Praxis an. Abgesehen von der
direkten Demokratie gibt es das Verfahren der sogenannten Vernehmlassung. Bevor ein Gesetz ins Parlament
kommt, wird der Entwurf veröffentlicht. Alle Interessierten können sich
dazu äußern und kritische Aspekte
hervorheben oder Vorschläge
machen, sodass der Entwurf unter
Umständen bereits angepasst wird,
bevor er ins Parlament kommt. Der
parlamentarische Ablauf wird nicht
beeinträchtigt, im Gegenteil: Das
Parlament kann in besserer Kenntnis der Stimmungslage in der Bevölkerung über Gesetze debattieren.
Es bleibt auch mehr Zeit für eine
breit abgestützte Meinungsbildung.
Das Damoklesschwert der oft möglichen Lancierung eines Referendums gegen die Gesetzesvorlage
verleiht dem Vernehmlassungsprozess Gewicht. So stärkt die direkte
Demokratie andere Formen der Bürgerbeteiligung.
Was schafft mehr Akzeptanz:
gesetzlich vorgeschriebene
direktdemokratische Elemente
wie Volksabstimmungen oder
informelle Beteiligungsmöglichkeiten wie runde Tische oder
Mediationen?
Es ist die Stärke Deutschlands, dass
es in einigen Bundesländern direktdemokratische Elemente und überall
informelle Beteiligungsmöglichkeiten vorsieht. Die direktdemokratischen Ansätze werden in den kommenden zwei, drei Jahrzehnten
gewiss stärker.
Denken Sie, dass Politik und
Wirtschaft durch mehr Bürgerbeteiligung Handlungsspielraum
verlieren?
Politik und Wirtschaft verlieren kurzfristig Handlungsspielraum und
gewinnen langfristig sehr viel mehr
Handlungsspielraum. Es ist wie
immer ein Trade-off zwischen langer
und kurzer Frist. Etwas länger überzeugen, aber dann durchziehen
können ist das bessere Prinzip als
Stuttgart 21, wo man wenig überzeugt hat und jetzt schwerlich etwas
durchziehen kann.
Von Ihnen stammt der Satz:
„Die CEOs der Schweiz AG leiden
an unserer Demokratie und ihrer
Langsamkeit.“ Heißt das übersetzt: lieber etwas weniger
Demokratie, dafür mehr Handlungsspielraum?
Das Leiden an der Langsamkeit in
einer sich beschleunigenden Wirtschaftswelt ist nachvollziehbar,
aber die Länder, die sich Zeit nehmen für eine fundierte Meinungsbildung, fahren meist besser als
die Länder wie Frankreich oder
Berlusconi-Italien, in denen man
autoritär etwas entscheidet; in der
Wirklichkeit hat sich dort herzlich
wenig verändert.
„Verkürzung von Genehmigungsverfahren“ und „Ermöglichung
von mehr Bürgerbeteiligung“:
Stehen diese beiden Ziele im
Widerspruch zueinander? Oder
lassen sie sich miteinander verbinden?
Bürgerbeteiligung lässt sich gewiss
nicht auf Genehmigungsverfahren
verkürzen. Eine Volksabstimmung,
bevor ein Projekt lanciert wird, verkürzt danach sämtliche Genehmigungsverfahren.
Sollten die Bürger Ihrer Meinung
nach grundsätzlich über ein Projekt abstimmen dürfen, bevor es
in die konkrete Planung geht?
Es liegt für mich auf der Hand, dass
ein vom Volk legitimiertes Projekt
sich wahrscheinlich besser verwirklichen lässt.
Dr. Roger de Weck 155
Patrick Döring
»Die verschlossenen Türen haben
wir seltener, als man denkt.«
Patrick Döring über Bürgerbeteiligung, die Bereitschaft zu Veränderungen
und das Bild der Wirtschaft.
Die Bevölkerung empfindet politische und wirtschaftliche Entscheidungen oft als alternativlos,
weil sie hinter verschlossenen
Türen gefällt werden. Teilen Sie
das Empfinden?
Die verschlossenen Türen haben wir
sehr viel seltener, als die Bürger denken. Demokratische Entscheidungen
werden in Deutschland hinreichend
transparent dargestellt. Was aber
viele Bürger falsch einschätzen, ist
der Grad der Komplexität von politischen Entscheidungen heutzutage.
Es gibt nicht immer den Moment, in
dem eine Entscheidung fällt, sondern das ist ein längerer Prozess.
Und die Aufmerksamkeit nimmt ab,
je länger ein Prozess dauert.
Zur Person
Patrick Döring ist studierter Ökonom und gehört seit 2005 dem
Deutschen Bundestag an, wo er sich
insbesondere in Verbindung mit
Themen aus den Bereichen Verkehr,
Bauen und Wohnen profilierte. Seit
2011 ist er Generalsekretär der
Bundes-FDP und ihr Bundesschatzmeister. Zuvor war er als Kommunalpolitiker in Hannover tätig.
156 INTERVIEWS
Ist die Komplexität der Grund
dafür, dass die Leute gefühlt die
verschlossenen Türen sehen?
Davon bin ich inzwischen fest überzeugt. Das liegt zum Teil daran,
dass wir auf der einen Seite medial
gezwungen sind, komplexeste politische Sachverhalte in neunzig
Sekunden in Mikrofone zu sagen.
Da kann man nicht alles so komplex
darstellen, wie es ist. Auf der anderen Seite verlieren diejenigen, die
uns beobachten, immer dann die
Lust, wenn es keinen zugespitzten
Konflikt gibt. Ganz viele Entscheidungen sind aber eben kein zugespitzter Konflikt, sondern ein Prozess. Und dieser Prozess wird nicht
mehr geschildert, weder von uns,
die wir diese Prozesse gestalten,
noch von denen, die sie beobachten.
Wäre das originäre Aufgabe der
Politik?
Natürlich, wir müssen uns wieder
angewöhnen, diesen Prozess zu
schildern, und deutlich machen,
dass Politik mehr ist als die Abstimmung über ein Gesetz im Parlament.
Das Bild von großen Unternehmen in der Öffentlichkeit ist
eher negativ. Woher kommt das?
Das Wirtschaftsbild ist bei den
meisten Menschen einfach paradox. Für Hochschulabsolventen
sind die attraktivsten Arbeitgeber
fast ausschließlich die deutschen
DAX- und Großunternehmen und
gleichzeitig haben viele das Gefühl,
dass diese großen Einheiten die
Bürger an die Wand drücken. Man
möchte gerne auf der einen Seite
in der sozialen und wirtschaftlichen
Sicherheit eines mitbestimmten
Großkonzerns mit Betriebsrente
und 14 Gehältern arbeiten, auf der
anderen Seite soll aber alles irgendwie familiär und niedlich zugehen.
Sind die Bürger ähnlich widersprüchlich bei der Energiewende?
Ja. Aus meiner Sicht ist das absolut
doppelgesichtig. Die Entscheidungsprozesse der Wirtschaft sind
sehr viel weniger transparent als
die der Politik, aber sie ähneln
ihnen natürlich. Und weil das so ist,
wird dann auch sehr schnell das
Gefühl verbreitet, dass „die da
oben“ etwas zu unseren Lasten auskungeln. In der Wahrnehmung wird
nicht mehr zwischen den einzelnen
Instanzen unterschieden. Gerade
bei großen Infrastrukturvorhaben
sind nicht mehr die ausführenden
Fachbeamten die neutrale Instanz,
wie es im Beamtenbild der deutschen Geschichte mal weitverbreitet war, sondern im Hintergrund
schraubt immer irgendeine fremde
Macht. Das ist das Bild, das sich
verfestigt hat. Ich sage mal etwas
spöttisch: Es gibt Millionen von
Menschen, die glauben, dass früher
Hartmut Mehdorn oder jetzt Rüdiger
Grube in ihrem Büro sitzen und persönlich veranlassen, dass der ICE zu
spät kommt.
Hat das negative Bild von Unternehmen auch mit Machtverhältnissen zu tun?
Mit Macht hat das wenig zu tun,
weil die meisten Unternehmen
keine konkrete Macht auf den einzelnen Menschen ausüben. Aber
jeder weiß natürlich, dass Vorstände von großen Unternehmen
zu den Entscheidern der Republik
gehören und mehr entscheiden als
nur die Frage, ob man das Produkt
linksrum oder rechtsrum herstellt.
Sie sind präsent in der Stadtgesellschaft, im sozialen Leben und bei
gesellschaftlichen Ereignissen. Die
Fünfzigerjahre prägten das Bild der
verborgenen Vorstände, die kein
Mensch kannte. Das gibt es heute
nicht mehr. Heute gehört zur Jobbeschreibung auch dazu, „bella figura“
zu machen und auch manchmal die
Bunte zu bedienen.
Großinvestoren sorgen mit Projekten für Arbeitsplätze. Spielt
das Arbeitsplatzargument noch
eine Rolle?
Das Argument zieht nicht mehr so,
weil es uns besser geht als allen
anderen europäischen Ländern. Wir
haben hier einen Trend zur postmateriellen Sattheit. Dazu kommt, dass
der demografische Wandel unsere
Mentalität und auch die Veränderungsbereitschaft der Gesellschaft
negativ beeinflusst. Die weitverbreitete Meinung ist, dass alles so bleiben soll, wie es ist.
Spielt heute noch eine Weltanschauung oder eine Ideologie
eine Rolle?
Im Bereich Forschung, bei Energieerzeugungsanlagen oder auch bei großen Industrieanlagen gibt es noch
ideologisch motivierte Proteste. Der
Hauptantrieb für Proteste mit breiter
Beteiligung ist aber die persönliche
Betroffenheit.
Woran machen Sie das fest?
In meinem Wahlkreis wollte die
medizinische Hochschule von Hannover gemeinsam mit der Firma
Boehringer das weltweit modernste
Impfstoffforschungszentrum errichten. Irgendwann hat eine stark ideologische kleine Gruppe das Projekt
sehr stark links konnotiert mit der
Botschaft: „Keine tödlichen Schweineviren mitten in der Stadt und
keine Tierversuche.“ Beides war grober Unfug, aber die bürgerliche
Mitte hat es zu Protesten animiert.
Eine entscheidende Rolle spielten
Patrick Döring 157
die Sorgen um die eigene Gesundheit und der Wertverlust der eigenen Immobilie. Es war bemerkenswert, dass Bürger aus dem ganz
klassischen bürgerlichen Lager mit
den Bunthaarigen aus der ersten
Reihe gemeinsam protestierten –
ganz vorneweg im Übrigen ein ehemaliger Wirtschaftsverbandspräsident in Niedersachsen, dessen
Privatimmobilie in der vermeintlichen Giftwolke lag.
tum dabei. Manche kochen ihr ideologisch geprägtes Süppchen und
fordern Kleinanlagen und Dezentralität. Jeder holt sich alles, was er
braucht, von seiner Fotovoltaikanlage auf dem Dach. Die meisten
Menschen wohnen in Mietwohnungen, ohne eigene Dachfläche, auf
der sie eine Fotovoltaikanlage
errichten könnten. Das wird ausgeblendet und ist letztendlich eine
sehr bequeme Haltung.
Gibt es diese Widersprüchlichkeit auch im Hinblick auf die
Energiewende?
Wie kann der einzelne Bürger
motiviert werden, einen stärkeren Beitrag zur Energiewende
zu leisten?
Das ist nicht mehr so. Der größte
Teil der Bevölkerung ist bereit, für
die Energiewende auch Einschränkungen in seinem unmittelbaren
Lebensumfeld in Kauf zu nehmen,
wenn nicht nur die eine Region oder
ein Teil der Bevölkerung betroffen
sind. Es darf nicht kumulativ werden. Wenn zur Windenergie noch
Biogas und ein Zwischenlager hinzukommen, schwindet die Akzeptanz
irgendwann. Natürlich ist es auch
so, dass die meisten Menschen bei
Entschädigungen das Beste rausholen wollen.
Ist die Akzeptanz für Infrastrukturmaßnahmen der Energiewende größer als bei anderen
Infrastrukturprojekten?
Ja, weil es einen gesellschaftlichen
Konsens gibt. Natürlich gibt es gut
organisierte, laute Minderheiten, die
dagegen protestieren – das sind in
der Regel die, die schon gegen die
Kernenergie waren.
Da ist der Widerspruch wieder.
Wie lässt er sich auflösen?
Nur durch politische Konfrontation.
Da ist ganz viel Berufsprotestanten158 INTERVIEWS
Das funktioniert von ganz allein.
Da darf man auch nicht mit politischem Ordnungsrecht drohen.
Wenn Investitionsbedarf entsteht,
werden die meisten Menschen in
ihrem Elektromarkt auf ordentliche
Verbrauchswerte achten. In der
Abwägung zwischen mehr Effizienz
oder niedrigerem Preis werden sich
manche Leute aber für den niedrigeren Preis entscheiden. Das liegt in
der Natur der Sache. Und klar ist
auch: Geräte, die noch funktionieren, werden nicht einfach weggeworfen, nur um das grüne Gewissen
zu bedienen. Diese Mentalität wird
man vielleicht auch in kleinen Betrieben antreffen. Effizienzgrade sind
nicht immer ausschlaggebend.
Schaffen wir die Energiewende
ohne Subventionen, wie es sie ja
schon in der Solarindustrie gegeben hat?
Auf Dauer werden wir Strompreiskompensationen für weite Teile
unserer Industrie und Wirtschaft als
Beihilfe nicht stellen können. Wir
haben interessante Modelle gesehen, die helfen, Stromsteuer zu spa-
ren. Da ist die Kreativität von Unternehmen groß.
anderer Stelle, nämlich bei der
Datumsfrage, extrem konkret war.
Es geht um bezahlbare Strompreise sowohl für die Unternehmen als auch für die Bürger. Wie
kann eine Lösung aussehen?
Sie fordern im Kontext von Versorgungssicherheit und Preisstabilität
hochmoderne Kohlekraftwerke.
Wie schätzen Sie die Akzeptanz
von Kohlekraftwerken ein?
Wir werden sicher irgendwann eine
Debatte über die Höhe des steuerlichen Anteils im Energiekostenbereich
bekommen, weil diese künstliche
Verteuerung nie eine Lenkungswirkung hatte. Wir sind jetzt bald bei
den berühmten fünf Mark Benzin und
trotzdem fahren die Leute nicht
weniger Auto. Nicht aus Liebe zum
Auto, sondern weil der demografische Wandel und die Realität in der
Wirtschaft dies erfordern. Gerade im
Energie- und Mobilitätsbereich ist
die Lenkungswirkung von Preisen
relativ gering.
Sie haben vor der Bundestagswahl gesagt, dass Sie unentschieden sind hinsichtlich des
Ausstiegs aus der Atomkraft.
Wie sehen Sie das heute?
Es gibt einen großen gesellschaftlichen Konsens über den Ausstieg aus
der Kernenergie, aber die tief greifenden Herausforderungen sind
überhaupt nicht klar. Wir kommunizieren sie auch nicht als Herausforderungen. Stattdessen erwecken wir
den Eindruck, dass wir das selbstverständlich lösen, weil die Menschen
das von führungsstarker Politik
erwarten. Wenn ich das in der Rückschau betrachte, war die Frage nach
dem Ausstiegsdatum, 2022 oder
2024, von Anfang an falsch gestellt.
Eigentlich hätte man die Frage nach
dem Potenzial der anderen Erzeugungsformen beantworten müssen.
Die Frage, was wir noch brauchen,
ist sehr allgemein, während es an
Wir brauchen Kohle- oder Gaskraftwerke für die nächsten 20 Jahre,
wenn die Energiewende so schnell
wie geplant funktionieren soll.
Wenn es zu Verzögerungen käme,
auch noch für länger. Das ist eine
Investitionsfrage, weil die erwarteten Betriebszeiten für einen Investor
nicht attraktiv sind. Einen breiten
bürgerlichen Widerstand gegen effiziente Kohle- und Gaskraftwerke
kann ich überhaupt nicht erkennen.
Gibt es heute bereits genügend
Beteiligungsmöglichkeiten im
formellen Verwaltungsrecht?
Die verwaltungsrechtlichen Möglichkeiten reichen aus, aber sie haben
für viele eine abschreckende Wirkung. Bürger würden gerne vor dem
verwaltungsgerichtlichen Verfahren
und nach der Planfeststellung Einfluss nehmen und Informationen
sehen. Das verwaltungsgerichtliche
Verfahren ist für denjenigen interessant, der unmittelbar betroffen ist
und seine Rechte durchsetzen will.
Den werden wir übrigens auch nie
mit Mediation davon abhalten. Da
geht es um harte materielle Werte.
Welche zusätzlichen Beteiligungsmöglichkeiten schlagen Sie vor?
Mein Vorschlag ist, die Anhörung der
Träger öffentlicher Belange schon im
Raumordnungsverfahren für interessierte Bürger zu öffnen, völlig transparent zu machen und Informationen
auch über eine Online-Plattform dar-
zustellen. In dem Stadium werden
erste Grobplanungen vorgestellt wie
Linienführung und Alternativtrassen.
Das könnte helfen, diesem Misstrauen, dass im Verborgenen geplant
wird, entgegenzuwirken. Je eher
man damit anfängt, desto eher wird
auch die Planfeststellung der Trassen
akzeptiert.
Wann genau sollte die Information anfangen?
Mit Beginn des Raumordnungsverfahrens, weil es schon in ein Verfahren eingebettet werden muss. Es
kann keine Öffentlichkeitsbeteiligung stattfinden, nur weil jemand
eine Idee hat.
Welchen Beitrag müssen die Vorhabenträger leisten?
Propaganda verbietet sich. Sie müssen offen erklären, warum sie dieses
oder jenes machen. Dazu gehört
auch, technische Zwänge zu erklären und zu begründen, warum diese
oder jene Alternative nicht umsetzbar ist. Man sollte sich auseinandersetzen mit den von echten oder vermeintlichen Experten vorgetragenen
Wie sollte das in Praxis aussehen?
Ich würde nie fordern, dass Beteiligungsmöglichkeiten unmittelbar mit
Verzicht auf den Rechtsweg verbunden sind. Ich würde auch grundsätzlich das Verbändeklagerecht nie
infrage stellen. Aber es geht nicht
mehr, dass der Zentralvorstand oder
die Hauptgeschäftsführung vom
WWF Deutschland klagen, wenn
Investoren die konkreten Beschwerden aller Betroffenen berücksichtigt
haben und niemand mehr vor Ort
betroffen ist. In diesen Fällen sollte
auch der Rechtsweg für einen Verband verschlossen bleiben.
Sollten bestimmte Beteiligungsmöglichkeiten gesetzlich vorgeschrieben werden?
Zu sagen, ab einer Investitionssumme X muss man dieses und
jenes tun, ist nicht sinnvoll. Wir
müssen keine neuen Wachstumsund Investitionsbremsen erfinden
und Bürgerbeteiligung vorschreiben. Ich bin sicher, dass jeder
private Investor dies ab einer
gewissen Größenordnung von
selbst berücksichtigen wird.
»Wir brauchen Kohleoder Gaskraftwerke für die
nächsten 20 Jahre.«
Alternativmöglichkeiten und diese
ernst nehmen, statt sie mit Halbsätzen vom Tisch zu fegen. Das ist sehr
mühsam, kann aber am Ende schneller gehen, als wenn man 300 oder
400 Klagen gegen den Planfeststellungsbeschluss beim Verwaltungsgericht verhandelt.
Ist das im Bewusstsein der Unternehmen schon angekommen?
Ja. Sicher nicht bei jedem Mittelständler, aber bei denen, die größere Infrastrukturen bauen und
betreiben, ist es angekommen. Da
entsteht eine völlig neue Kultur des
Dialogs und des Miteinanders.
Patrick Döring 159
Gisela Erler
»Es geht um die DNA.«
Gisela Erler über neue Formen der Bürgerbeteiligung und die Notwendigkeit
einer ergebnisoffenen Diskussion im Vorfeld von Großprojekten.
Als Staatsrätin für Bürgerbeteiligung kennen Sie viele Formate
für eine Bürgerbeteiligung. Was
für Erfahrungen haben Sie damit
gemacht?
Zur Person
Die Politikerin von Bündnis 90 / Die
Grünen ist seit 2011 Staatsrätin für
Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung der baden-württembergischen
Landesregierung. In dieser deutschlandweit einzigartigen Funktion
erprobt Gisela Erler neue Formen
der Bürgerbeteiligung. Davor setzte
sie sich als Gründerin des Dienstleistungsunternehmens „Familienservice“ für die Gleichstellung von
Mann und Frau sowie für die Vereinbarkeit von Kindern und Beruf ein.
160 INTERVIEWS
Runde Tische, Mediationen oder
Schlichtungen können dafür sorgen,
dass Sachargumente auf den Tisch
kommen und auch deutlich wird,
dass es nicht nur Gegner und Befürworter von Projekten gibt, sondern
auch viele Menschen, die damit
ganz andere Interessen verbinden
und interessante Ideen einbringen.
Beim runden Tisch zum geplanten
Pumpspeicherkraftwerk in Atdorf
kam das Thema Tourismus in der
Region als neuer Aspekt hinzu. Ein
solcher Prozess dient also auch
dazu, die Potenziale aufzuzeigen,
die ein Projekt für eine Kommune
oder eine Region bietet.
Wo liegen die Grenzen solcher
Formate?
Man wird niemals alle Gegner von der
Notwendigkeit des Projekts überzeugen können, insbesondere wenn es
einen Fundamentaldissens gibt, ob
man das Projekt überhaupt braucht.
Aber solche Formate tragen oft dazu
bei, dass das Gros der beteiligten
Bürger das Projekt besser versteht.
Sie gestalten ja im Moment mit
der Deutschen Bahn den FilderDialog. Was ist dort konkret
geplant?
Beim Filder-Dialog machen wir ein
Verfahren nach dem Modell der
Großgruppenmoderation. Dabei
werden sowohl Fachleute als auch
zufällig ausgewählte Menschen mit
einbezogen, die dann unterschiedliche Fragestellungen miteinander
diskutieren und auch sehr viele neue
Informationen gewinnen.
Wie ergebnisoffen sind solche
Verfahren?
Ergebnisoffenheit muss es in dem
Sinne geben, dass man idealerweise
vor der Planung eines Projekts wirklich alle Alternativen und Einwände
gewissenhaft prüft. Beim Filder-Dialog ist die Ergebnisoffenheit nur begegrenzt gegeben – es bestehen
etliche Vorgaben, die nicht leicht zu
ändern sind. Aber es gibt keine
Denkverbote.
Lässt sich die Wirtschaft aus
Ihrer Sicht genügend auf neue
Verfahren ein?
Im Moment noch nicht so recht,
aber da ist gerade einiges im
Umbruch. Vorstände müssen sich
einfach von dem Denken, dass ein
angedachter Plan alternativlos sei,
verabschieden. Dieses Denken ist in
einem Land, das so dicht besiedelt
ist und eine so gebildete Bevölkerung hat wie das unsrige, nicht mehr
zeitgemäß. Die Wirtschaft muss
sich auch von der Angst lösen, dass
Bürgerbeteiligung Projekte endlos
in die Länge ziehe und es dann am
Ende immer noch keine Entscheidung gebe. Bei Bürgerbeteiligung
geht es nicht darum, Projekte zu verzögern, sondern darum, wie man sie
verbessern kann.
Wer soll die Kosten für die Bürgerbeteiligung tragen?
Vorhabenträger sollten, genau so,
wie sie für den Naturschutz aufkommen, auch ein Budget für Bürgerbeteiligung einplanen und die Kosten
dafür entsprechend tragen. Unternehmen müssen einen Prozess einkalkulieren, der vielleicht ein Vierteloder ein halbes Jahr dauert, in dem
man die größten Hürden oder Vorschläge, wie man das Projekt verbessern kann, diskutiert.
Sie entwickeln gerade den Leitfaden für Bürgerbeteiligung. Was
sieht dieser vor?
Der Kern des Leitfadens ist, dass die
Verwaltung, in diesem Fall die Landesbehörden, Bürgerbeteiligung
verbindlich durchführen muss.
Dabei ist man in der Wahl der
Methoden frei, solange man alle
Akteure in angemessener Weise einbezieht. Die Planung im weiteren
Raumordnungs- und in allen anderen Verfahren muss die im Rahmen
der Bürgerbeteiligung eingebrachten Argumente dann als materiell
wichtige Aussagen berücksichtigen.
Darüber hinaus planen wir auch eine
Verbesserung der bestehenden
Erörterungstermine. Dabei geht es
hauptsächlich darum, dass alle
Unterlagen so aufbereitet werden,
dass man sie gut nachvollziehen
kann. Daher wollen wir auch Interpretationshilfen geben, sodass man
nicht wie der Ochs vorm Berg steht.
Zudem müssen alle Unterlagen
sowohl online als auch offline zugänglich sein.
Da kommt ja einiges auf die Verwaltung zu. Denken Sie, dass
die Verwaltung bereit für Bürgerbeteiligung ist?
Wir werden viele Fortbildungen für
Beamte anbieten, bei denen das
Demokratiebild diskutiert wird und
mögliche Methoden für Bürgerbeteiligung vertieft werden. Natürlich
muss nicht nur die Verwaltung dazulernen, daher sind wir auch im
Gespräch mit Wirtschaftsverbänden
und kommunalen Spitzenverbänden, sodass wir Teile dieser Fortbildungen zum Thema Bürgerbeteiligung zwischen allen Stufen der
Verwaltung und der Wirtschaft synchronisieren. Das würde dann dazu
führen, dass die unterschiedlichen
Parteien besser verstehen, wie die
andere Seite denkt. Es sind ja vor
allem unterschiedliche Diskurse und
Vokabularien, die eine offene Kommunikation oft verhindern.
Was halten Sie vom Gesetzesentwurf zur frühen Öffentlichkeitsbeteiligung?
Der Entwurf enthält eine KannKlausel, dass die jeweilige Behörde
auf den Projektträger hinwirken soll,
die Bürger früh zu beteiligen, was
letztlich nicht verpflichtend ist. Deshalb schreien auch die Verfahrensträger und die Wirtschaft nicht auf.
Unsere Forderung an die Bundesregierung ist, dass Bürgerbeteiligung
als freies Extraverfahren vor dem
Planfeststellungsverfahren stattfinden und von den Vorhabenträgern
Gisela Erler 161
in adäquater Weise finanziert werden muss. Das bedeutet, dass auf
jeden Fall die Gutachter der Gegenseite und ein Prozess inklusive
Moderation finanziert werden müssen, damit die Projektgegner auf
Augenhöhe mit den Vorhabenträgern reden können.
Dann müsste Ihnen doch der Vorschlag, dass Projektträger Projektgegnern zwei Prozent der
Projektmittel für Kommunikationsmaßnahmen oder die Erstellung von Gutachten zur Verfügung stellen, gut gefallen ...
Das ist grundsätzlich eine gute
Idee, obwohl zwei Prozent natürlich
je nach Projektvolumen enorm viel
Geld sein können. Man könnte das
sicherlich degressiv machen. Neben
ein Atomkraftwerk. Aber es ist sinnvoll, eine echte, materielle Kompensation anzubieten, nicht im Sinn von
Bestechung, sondern im Sinn einer
wertvollen Entschädigung für die
Region oder die Kommune.
Halten Sie direkte Volksabstimmungen im Kontext von Großprojekten für sinnvoll?
Wir wollen Volks- und Bürgerentscheide erleichtern, sodass man
durch diese im Extremfall auch bei
Planungsthemen nachfassen kann.
Es ist nicht unser Ziel, alles in die
direkte Demokratie zu verschieben,
insofern ist das kein Schweizer
Modell. Aber was in den normalen
Verfahren nicht zu klären ist, sollte
dann in einem Volks- oder Bürgerentscheid geklärt werden können.
»Die Demokratie wird sich
vor allem durch die
neuen Medien verändern.«
der finanziellen Unterstützung der
Gegner finde ich es auch wichtig,
die von einem Projekt betroffene
Region oder Kommune durch Kompensationsdeals zu entschädigen,
beispielsweise durch neue Sportplätze, Arbeitsplätze für Jugendliche oder Trainingsprogramme. Man
sollte sich nicht nur auf das jeweilige Projekt konzentrieren, sondern
darüber nachdenken, wie man die
Region insgesamt davon profitieren
lassen kann. Auch das hat Grenzen,
denn es gibt natürlich auch Dinge,
die man dadurch nicht ausgleichen
kann und mit denen Menschen nicht
leben können, wie beispielsweise
162 INTERVIEWS
Sehen Sie das Risiko, dass die
parlamentarische Demokratie
dann ein Stück weit ausgehöhlt
wird?
Nein, es ist auch nicht unser Ziel,
die Parlamente zu schwächen. Ich
denke aber, dass sich die Demokratie vor allem durch die neuen
Medien sowieso verändern wird. In
100 Jahren haben die Parlamente
bestimmt nicht mehr solche Sitzordnungen. Auch die Feminisierung
wird erzwingen, dass andere Diskursformen entstehen.
Kommen wir kurz zur Energiewende: Gerade im Hinblick auf
Stromtrassen sind ja viele Konflikte mit Anwohnern möglich.
Wie wollen Sie damit umgehen?
Manche Trassen müssten einfach
unter die Erde, das ist State of the
Art in einem reichen Land. Wir bauen
die teuersten Straßen und Häuser
der Welt, daher müssen wir auch
Lärmschutz, Strahlenschutz und so
weit wie möglich auch optischen
Schutz gewährleisten. Natürlich
muss nicht jede Trasse unterirdisch
geführt werden, aber wenn sie
direkt an einem Wohngebiet vorbeiläuft, sollte sie unter die Erde gelegt
werden. Selbstverständlich muss die
optimale Streckenführung – angesichts unterschiedlicher Interessen –
im Diskurs ermittelt werden.
Wie steht es Ihrer Meinung nach
um die Akzeptanz von Infrastrukturvorhaben im Bereich der
erneuerbaren Energien?
Auch wenn es bei der Windenergie
immer noch eine große Debatte
gibt, ist die Akzeptanz dafür dramatisch gestiegen. Das liegt auch
daran, dass die Leute erkennen, dass
sich damit sehr große finanzielle
Anreize verbinden können. Rheinland-Pfalz zum Beispiel baut ja in
einer enormen Schnelligkeit Windräder und hat dafür hohe Akzeptanz –
das zeigt sich darin, dass sehr viele
Rheinland-Pfälzer Papiere für Beteiligungen an den Windrädern bei den
lokalen Banken zeichnen.
Ist diese Form von finanzieller
Beteiligung ein wesentlicher
Treiber für mehr Akzeptanz?
Die Ökonomie ist definitiv eine
Triebkraft. Das muss man natürlich
mit Natur- und Anwohnerschutz ausbalancieren. Im Moment gibt es ja
die 700-Meter Distanz zum bewohn-
ten Land, das könnte auch zu Konflikten führen. Dennoch wird es
meiner Ansicht nach nur punktuelle
Konflikte, aber keine Massenaufstände geben.
Es wird in den Medien ja häufig
über Proteste gegen Windräder
berichtet. Ist das ein Zerrbild?
Das entspricht nicht der Realität, sondern ist eine Projektion. Bei der Windenergie oder Biomasse gibt es einen
Fachdiskurs über das Wo und Wie,
aber weniger eine Grundsatzdebatte
wie bei der Kernenergie. Auch der
politische Widerstand verschwindet
langsam. Projekte im Bereich der
Erneuerbaren sind nicht immer von
Begeisterung begleitet, aber fast alle
wissen um die Notwendigkeit und
versuchen daher, das Beste daraus zu
machen. Viele Menschen sind natürlich besorgt, dass ihre unmittelbare
Umgebung durch Windräder negativ
verändert wird. Aber der Widerstand
dagegen ist kleinteilig, zerlegt sich
und hat kein ideologisches Zentrum.
Es ist nicht so, dass alle Konservativen dagegen wären und alle Grünen
dafür – das sehen sie ja in den Dörfern, da gibt es Bevölkerungen, die
für die Windenergie stimmen, und
Gemeinderäte, die dagegen sind, und
umgekehrt. Das liegt total quer, auch
zu den Parteien. Es gibt Grüne und
Konservative, die wollen etwas nicht,
tragen es aber dann mit, weil sie wissen, dass wir die Energiewende brauchen. In diesem Kontext sagt der
Ministerpräsident immer: „Das sind
schöne Maschinen“, das ist ein wichtiger Punkt. Die Ästhetik ist natürlich
auch geprägt von dem, was man
inhaltlich möchte. Die Akzeptanz der
Straßenneubauten in den Fünfzigerjahren war ja sehr hoch, weil das ein
Zukunftsversprechen war.
Gefährdet die Energiewende die
Stromversorgung in Deutschland?
Möglicherweise wird es angesichts
des raschen Abschaltens der Atomkraftwerke partiell enge Situationen geben. Daher muss man die
Energiewende sehr beschleunigen.
Es gibt aber viele gute Ansätze, insbesondere auch mit dezentraler
Energieversorgung. Wenn diese konsequent unterstützt werden, wird
die Energiewende auch gelingen.
Die verbleibenden Lücken kann
man meiner Meinung nach schließen, und zwar auch ohne dauerhaften Stromimport. Rheinland-Pfalz
ist ja schon sehr weit mit dem Ausbau erneuerbarer Energien, ganze
Regionen gehen ja auf 100 Prozent
Erneuerbare zu. Und auch im Fall
von Baden-Württemberg mache
ich mir langfristig da keine großen
Sorgen, denn hier gibt es so viele
Tüftler und Erfinder, die auch
eigene Ideen ausprobieren und
finanzieren. Darauf sind wir auch
angewiesen, denn die Hälfte der
Erneuerbaren wird ja von Privatleuten finanziert. Allerdings ist es
sehr wichtig, dass der Netzausbau –
auch als Optimierung bestehender
Trassen – gut vorankommt.
Gibt es auch Aspekte, die noch
vernachlässigt werden?
Man spricht viel zu wenig über Energiesparen. Wenn wir darüber reden,
wird zu viel an Energiesanierung
und nicht genug an das Regeln
gedacht. Die Menschen müssen lernen, mit Energie hauszuhalten, oder
gute interne Systemregler bekommen, um Temperaturen tiefer zu
halten. Zum Energiesparen gehört
auch, im Winter nicht in der Wohnung T-Shirt und Shorts zu tragen,
das macht in Italien auch niemand.
Ich plädiere nicht für ein radikales
Spardiktat, das die Lebensqualität
einschränkt, aber ein sorgsamer,
achtsamer Umgang mit Energie ist
schon sehr wichtig.
Zum Abschluss: Was ist Ihre
Bilanz aus Ihrer bisherigen
Amtszeit als Staatsrätin für
Bürgerbeteiligung?
Wir haben ein Versprechen gegeben
und ein Jahr lang gebraucht, um
zu verstehen, wie dieses Versprechen operativ umgesetzt werden
kann. Wir wissen nun, wie das
Thema Bürgerbeteiligung zum Beispiel im Planungsrecht und in den
einzelnen Ressorts angegangen
werden muss. Ich hoffe, dass wir
das am Ende dieser Legislaturperiode so weit in der „DNA“ haben,
dass es nicht mehr einfach verschwindet. Dafür brauchen wir den
Leitfaden, Ausbildungsstrukturen,
wie zum Beispiel die Führungsakademie der Beamten, und eine Vernetzung der Forschung im Land, um
nachhaltige Veränderungen zu verankern. Das Thema Bürgerbeteiligung ist ja auch parteiübergreifend
anschlussfähig, daher brauchen wir
auch den Austausch mit anderen
Bundesländern. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir in den nächsten
Jahren sichtbare Ergebnisse bekommen, die auch auf hohe Akzeptanz
stoßen werden. Und das unabhängig von der Frage, wer zukünftig
gerade an der Regierung ist.
Vielmehr ist es also eine Frage
nach der „DNA“?
Ja, die DNA. Es geht um die DNA.
Gisela Erler 163
Hans-Werner Fittkau
»Als es ernst wurde, fingen
sie an zu schreien.«
Hans-Werner Fittkau über den „Wutbürger“, die Proteste
gegen Stuttgart 21 und die Zukunft von Bürgerbeteiligung.
Zur Person
Der studierte Medienpädagoge ist
seit Februar 2010 stellvertretender
Redaktionsleiter bei PHOENIX, wo
er seit 1997 als Redakteur arbeitet.
Zuvor war er unter anderem beim
ZDF tätig. Hans-Werner Fittkau
moderierte zahlreiche Sendungen
zu den Themen Energie, Infrastrukturprojekte und Bürgerbeteiligung.
Bekannt wurde Hans-Werner Fittkau
auch als Moderator, der das gesamte Schlichtungsverfahren von
Stuttgart 21 live und vor Ort für
PHOENIX verfolgte.
164 INTERVIEWS
Im Kontext von Stuttgart 21 entstand der Begriff Wutbürger. Gibt
es diesen Typus tatsächlich oder
ist er eine mediale Erscheinung?
gen uns um das viele Geld und um
unsere Stadt.“ Ein wenig mengte sich
auch noch die schwäbische Art dazu.
Den Phänotypus gibt es wirklich, wie
er in Stuttgart aufgetreten ist. Der
Typus ist 55 bis fast schon 70 Jahre
alt. Es sind ganz hartnäckige, aufgeklärte, oft akademisch gebildete
Leute, die auf eine wilde Art entschlossen, rechthaberisch und fast
schon borniert sind. Die treten mit
einer Vehemenz auf, die gar nicht
dem Duktus des Demokraten entspricht, fast schon mit einer Form
von Militanz. Nicht im Sinne von
Gewalt, aber im Auftreten. Wir
haben diese Erfahrungen gemacht,
als wir zum Beispiel Interviews mit
Befürwortern von Stuttgart 21 am
Rande von Montagsdemos geführt
haben. Solche Anfeindungen habe
ich vorher noch nicht erlebt. Und
dann habe ich mich intensiv gefragt:
„Sind das individuell Betroffene, die
den Baulärm und den Bauschutt
ertragen müssen?“ Und das Interessante war: ganz oft Fehlanzeige.
Nach dem Motto des sparsamen
Schwaben: „Verplempert nicht
unser Geld!“
Was war dann der Grund?
Das speist sich aus dem „Die da
oben“-Gefühl: „Die haben uns nicht
richtig mit einbezogen und wir sor-
Ja, aber auch dieses Beharrungsvermögen, das die Schwaben teilweise
haben. In Stuttgart protestierte in
großen Teilen dieser ganz hartnäckige Typus, der rechthaberisch selten andere Meinungen zuließ. Ich
fand das ganz verblüffend und auch
erschreckend.
Spielten auch ideologische Gründe
eine Rolle?
Ja, das waren teilweise Leute aus
der 68er-Bewegung, die heute in
Rente sind. Das muss man sich im
Zusammenspiel vorstellen: Die alten
Hartnäckigen und die Jungen, die
vielleicht aus Spaß an der Action
mitgemacht haben. die Jugendlichen haben sich ganz schnell per
Twitter mobilisiert und sind mit
einer Vehemenz im Park aufgetreten, die dazu geführt hat, dass die
Polizei verblüfft und nicht mehr
handlungsfähig war. Sie hat dann so
gehandelt, wie sie gehandelt hat,
und die Wasserwerfer eingesetzt.
Wie haben Sie die Proteste selbst
empfunden?
Hartnäckig bis über die Schmerzgrenze. Nachdem das Ergebnis der
Schlichtung veröffentlicht wurde,
wollten Protestler die Etage im Rathaus stürmen, wo das Ganze stattgefunden hatte. Nicht im Sinne
von gewalttätig, aber schon entschlossen stürmen. Da gab es keinerlei Akzeptanz, auch nicht des
Schlichterspruches.
Warum hat Stuttgart 21 bundesweit für so viel Aufsehen gesorgt?
Einerseits haben die Medien mit ihrer
Berichterstattung dafür gesorgt;
andererseits hat das Bündnis gegen
Stuttgart 21 hartnäckig mobilisiert.
Immer wieder montags haben sich
die Massen auf der Straße getroffen.
Die Zahl der Demonstranten sorgt
dann auch für Aufmerksamkeit.
Eigentlich erstaunlich, weil das
Projekt seit 15 Jahren in der
Planung und damit bekannt war.
Obwohl es natürlich die ganzen Planfeststellungsverfahren mit Bürgerbeteiligung gegeben hat, hat keiner
geglaubt, dass es umgesetzt würde –
das ist ja das Spezifische daran. Es
hieß immer wieder, dass die Finan-
zierbarkeit geprüft werden müsse.
Und dann standen die Bundes- und
Landesmittel bereit. Als es ernst
wurde, fingen sie an zu schreien.
Hat sich an Stuttgart 21 einfach
nur der lange gehegte Wunsch
nach mehr Partizipation entladen?
Ich denke, ja. Die Bürgerbeteiligungsfrage ist eine Frage, die historisch auf der Tagesordnung in
Deutschland steht. Für viele Bürgerbeteiligungsformen ist dieses Land
jetzt reif, Stuttgart 21 war da ein
Kulminationspunkt. Damit ist natürlich ganz viel Mythos verbunden.
PHOENIX hatte mit der LiveBerichterstattung die höchsten
Quoten seit Jahren mit unglaublichen Marktanteilen. Woran
liegt das?
Da kamen unterschiedliche Faktoren
zusammen. Das Phänomen Stuttgart
21 wollten erstens sicher viele Leute
außerhalb von Baden-Württemberg
auch sehen. Das Zweite ist, dass die
NGOs, interessierte Bürger und die
kritische Öffentlichkeit viel Kompetenz mit einbringen konnten. Das
war faszinierend zu beobachten, wie
dann die Manager oder Fachleute der
Bahn sich auf Augenhöhe mit den
Amateuren der anderen Seite, mit
den kompetenten Bürgern, gemessen haben und wie die Bahnseite
teilweise auch einräumen musste:
„Interessante Frage, wissen wir auch
nicht weiter, darüber haben wir uns
gar keine Gedanken gemacht.“ Und
drittens die Eisenbahn als Sujet, Faszination Eisenbahn. Jeder kann bei
dem Thema mitreden, weil jeder die
Wirklichkeit auf Bahnhöfen kennt
und eine Meinung zum Bahnfahren
hat. Und dann kommt eines natürlich
noch hinzu: Geißler. Er war rotzfrech,
geduldig, wo es sein musste, autoritär, witzig, unterhaltsam und hat
über Stunden das Ganze ausgehalten. Er war der König des Verfahrens.
Haben sich die Medien in der
Berichterstattung zu Stuttgart 21
von der schreienden Mehrheit
leiten oder gar blenden lassen?
Ich würde sagen, ja. Das liegt daran,
dass es einfach unglaublich viele
Instrumente und Möglichkeiten der
Agitation gegeben hat – Agitationsinstrumente bitte nicht historisch
verstehen. Es gab etwa unglaubliche Mobilisierungseffekte über das
Web 2.0. Die Instrumentarien wurden sehr modern und unglaublich
effektiv eingesetzt, um a) auf der
Hans-Werner Fittkau 165
Straße vor dem Bahnhof zu mobilisieren und b) die öffentliche Meinung zu
beeinflussen. Ich fand das unheimlich.
Worin haben Sie Ihre journalistische Aufgabe in Stuttgart
gesehen? Einfach nur darin, die
Geschehnisse abzubilden, oder
auch darin, Leute zu befähigen,
sich ein eigenes Urteil zu bilden?
In Interviews und Analysen ging es
darum, die richtigen Fragen zu stellen. Die Fragen, die man im klassischen Sinne als Anwalt der Öffentlichkeit stellt. Neutral, ausgewogen,
möglichst fundiert. Und wehe, es
blitzt eine Meinung durch, dann
gibt es im Internet sofort einen Shitstorm. Sobald ich in der Moderation
irgendetwas Tendenziöses angedeutet habe, gab es sofort Alarm.
Im Internet?
Ja, im Internet, weniger bei uns. Es
gab Stuttgart-21-Wikis, Seiten, wo
das alles verfolgt wurde. Die waren
alle völlig emotionalisiert und
haben dann auf jedes Augenbrauenheben, jedes Schulterzucken und
jeden Satz, der irgendwie dazu
geeignet war, tendenziös zu sein,
hingewiesen. Es gibt sogar an Wikipedia angelehnt die gesamten
Interviews, die wir gemacht haben,
verschriftet.
Ruhm und Ehre!
Ja, das kann man so sehen. Auf der
anderen Seite ist es natürlich
medientheoretisch ein interessanter
Prozess. In Blogs können Menschen
von Beleidigungen bis Diffamierungen fast alles schreiben. Das ist
eine Struktur von Medienöffentlichkeit unter Web-2.0-Bedingungen,
die unglaublich viel Meinung
machen kann.
166 INTERVIEWS
Mit welcher Konsequenz?
Das Netz nimmt Stellung. Das sind
meistens nicht, vereinfacht ausgedrückt, bürgerliche Schichten. Die
haben in der Regel gar keine Zeit
dazu, sondern das sind Weltverbesserer und Rechthaber. Manchmal
habe ich das Gefühl, es gab bei
Stuttgart 21 ganze Bataillone von
Wutbürgern, die dann zu Hause
saßen und diese Art von Öffentlichkeit mit organisierten.
Können die neuen Medien auch
Menschen zum Protest motivieren, die sich nicht für ein Thema
interessieren?
Ja. Die Schwelle ist gesenkt. Es geht
heute alles viel schneller und es ist
einfacher, sich für Dinge zu interessieren und sich dann auch dafür
oder dagegen zu engagieren. Früher
hätte man ein Flugblatt in die Hand
bekommen und man hätte zum Infostand gehen müssen. Heute geht
man einfach ins Netz und schon
weiß man, ob es eine Bürgerinitiative zu dem Thema gibt.
NGOs nutzen Social Media deutlich mehr. Ist das ein Grund,
warum sie bei Großprojekten oft
die Deutungshoheit haben?
Das ist eine interessante Frage.
Wenn jetzt die andere Seite, der
Böse, die sozialen Netzwerke ähnlich effektiv nutzen würde, würde
das wahrscheinlich nur erst mal
Misstrauen hervorrufen. Es würde
nicht funktionieren, weil der Staat
an sich der Böse ist. Der Unternehmer an sich ist der Böse, selbst
wenn der über Facebook alle Register ziehen würde. Im Gegensatz
dazu kommen die NGOs im Brustton der Überzeugung, des moralischen Impetus daher. Es hat eben
diesen Touch von nicht profitorientiert und nicht auf den persönlichen Vorteil ausgerichtet: Das ist
der feine Unterschied.
Das verzerrte Meinungsbild in
Stuttgart ist auch der schweigenden Mehrheit geschuldet. Wie
kann man eine stille Mehrheit
motivieren, sich zu artikulieren?
Das ist die Frage in Hinsicht auf Großprojekte. Wie kriegen Sie die Mehrheit oder die unterstellte Mehrheit
dazu, dass sie sich äußert? Das
Schweizer System geht da für mich
in die richtige Richtung. Bevor ein
Großprojekt geplant wird oder in die
Bauphase geht, wird grundsätzlich
darüber abgestimmt. Das führt zu
erheblich mehr Akzeptanz.
Sollten wir die Bürger auch über
politisch strittige Fragen abstimmen lassen wie ein MinarettVerbot? Die Schweiz lässt dies zu.
Ich habe mir die Frage gestellt, ob
Gorleben zum Beispiel zur Abstimmung geeignet wäre. Könnte man
den Bürgern überlassen, zu beurteilen, wie sicher der Salzstock ist? Und
auf einer langen Zugfahrt zurück von
Stuttgart bin ich zu dem Schluss
gekommen: Ja, das ist richtig, weil
der Bürger dann mit den gleichen
Fragestellungen konfrontiert wird
wie Politik und Energiewirtschaft. Du
musst als Bürger eine Meinung dazu
formulieren. Eine Meinung in dem
Sinne, dass man sich die Notwendigkeit von Stromversorgung vergegenwärtigt. Die Bürger sind durchaus in
der Lage, dazu eine Position zu erarbeiten. Das Wichtigste ist aber die
Legitimierung durch die Abstimmung. Wenn es ein klares Votum
gibt, erhöhen sich die Legitimität
und die Durchsetzbarkeit enorm. Die
Legitimierung durch die Volksabstimmung in Stuttgart war fantastisch.
Brauchen wir auch gesetzlich
vorgeschriebene Instrumente für
Bürgerbeteiligung?
Man braucht natürlich klare Definitionen für die einzelnen Ebenen. Warum
hat jetzt über Stuttgart 21 nur die
baden-württembergische Bevölkerung abgestimmt, mit welcher Legitimation? Schließlich steckt auch unser
Steuergeld in dem Projekt.
Die Bevölkerung wehrt sich heute
gegen politische und wirtschaftliche Entscheidungen, die hinter
verschlossenen Türen gefällt und
als alternativlos präsentiert werden. Warum?
Das Bildungsniveau und auch das
Anspruchsniveau sind bei vielen
Bevölkerungsgruppen deutlich
höher als früher. Die Kompetenzen
und den Bildungsstand, um so nachzufragen, wie viele heute nachfragen, hatte früher nur ein kleiner Prozentsatz von Leuten. Den Zugang zu
Informationen, die Möglichkeiten,
zu protestieren und sich im Internet
zu organisieren, haben heute dagegen viele.
Sind die Leute durch das Internet
wirklich informierter?
Ich bin nicht sicher, ob sie wirklich
informierter sind als früher, aber sie
sind eher in der Lage, Meinungen zu
formulieren.
Nach einer Umfrage glauben nur
noch 20 Prozent der Deutschen,
dass die Bundestagsabgeordneten wirklich auch ihre Interessen
vertreten. Hängt diese Unzufriedenheit auch mit dem Bildungsniveau zusammen?
Die Zahl finde ich erschreckend.
Das hat für mich aber nichts mit
Bildung zu tun, sondern mit allgemeiner Neidkultur, mit allgemei ner „Ich habe ein Recht auf alles
Mögliche“-Kultur.
Nein, weil die ganz konkreten und
praktischen Folgen bisher nicht
kommuniziert wurden.
Hört sich an, als ob der Bürger
die Welt aus einer rein egoistischen Perspektive betrachtet.
Beide und viel ehrlicher. Wenn ich
über die 20 Prozent nachdenke, die
sie mir genannt haben, muss die
Politik viel ehrlicher sein und die
Energieversorgung muss transparenter agieren, wenn Projekte angegangen werden.
Ja, und diese Entwicklung wird man
auch nicht zurückdrehen können. Es
gibt einen ganz klaren Trend zum
Individualismus. Das sieht man einerseits an den öffentlichen Umgangsformen wie zum Beispiel der Gewalt
unter Kindern. Andererseits gibt es
ganz klar eine fortschreitende Auflösung von Lagern. Dieser Prozess der
Atomisierung wird weitergehen.
Wer müsste die Energiewende
kommunizieren? Die Politik oder
eher die Wirtschaft?
Wann sollte diese Kommunikation und Transparenz beginnen?
Das hängt von den Dimensionen der
Projekte ab. Wenn einer eine Standard-Windkraftanlage irgendwo hin-
»Die Wutwelle kommt
sowieso, aber flacher.«
Ist dieses Denken oder diese
Haltung auch im Hinblick auf
die Energiewende erkennbar?
Sind die Leute nicht bereit, die
Lasten zu tragen?
Wenn eben möglich wollen die Leute
die Lasten nicht tragen und nicht
bezahlen. Insofern ist es sicherlich
eine Form von Egoismus, die sich
bei diesen Protestformen zeigt.
Andererseits gibt es die Erfahrung,
dass dort, wo vernünftig erklärt und
vermittelt wird und Bürger rechtzeitig im Zuge eines Planungsprozesses
informiert werden, die Einsicht
dann doch überraschend groß ist.
stellt, ist das etwas anderes, als wenn
eine riesige Solaranlage in die Landschaft gebaut wird oder eine Starkstromtrasse durch das Erzgebirge
geplant ist. In diesen Fällen würde
ich immer sagen: so früh wie möglich. Die Wutwelle kommt sowieso,
aber flacher.
Stellt sich die Frage, ob den Leuten die Folgen der Energiewende
ausreichend bewusst sind.
Hans-Werner Fittkau 167
Dr. Michael Fuchs
»NIMBY, NUMBY, NOMBY.«
Dr. Michael Fuchs über Luxusprobleme
und eine sinkende Gemeinwohlorientierung.
Warum lehnen Teile der Bevölkerung viele Großprojekte oder
bestimmte Technologien ab?
Zur Person
Der studierte Pharmazeut wurde
2002 in den Deutschen Bundestag
gewählt und ist derzeit stellvertretender Fraktionsvorsitzender der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion für
Wirtschaft, Mittelstand, Tourismus
und Petitionen. Seit 2006 ist er Mitglied im Bundesvorstand der CDU.
Zudem engagiert er sich seit den
Achtzigerjahren in zahlreichen
bedeutenden Wirtschaftsverbänden, unter anderem als Vorsitzender des Landesverbandes Groß- und
Außenhandel Rheinland-Pfalz und
als Ehrenvorsitzender des Bundesverbands des Deutschen Groß- und
Außenhandels. Dr. Michael Fuchs
gilt als Fachmann für Fragen der
Energieversorgung und war einer
der 40 Erstunterzeichner des „Energiepolitischen Appells“ von 2010.
168 INTERVIEWS
Ursache ist ein Technikfeindlichkeitsproblem in Deutschland. Ein
Grund dafür ist, dass wir eine Luxusgesellschaft geworden sind und alle
meinen, alles müsste so bleiben, wie
es ist. Weil wir so eine Luxusgesellschaft sind, haben wir auch diese
Luxusprobleme und betrachten neue
Technologien mittlerweile höchst
skeptisch. Stuttgart 21 ist kein Einzelfall. Der Bau des Pumpspeicherwerks in Atdorf im Schwarzwald
geht nur langsam voran, genauso
wie der Ausbau der Autobahn A49
oder die Hochmosel-Überquerung in
Rheinland-Pfalz. Ähnliche Widerstände drohen uns auch beim Bau
der Hochspannungsübertragungsleitungen, die wir von Nord nach Süd
bauen müssen. Da gilt das Motto:
Nicht in meinem direkten Umfeld –
was dahinten passiert, ist mir egal.
Es gibt kein großes Infrastrukturprojekt mehr, das „smooth“ durchgeht.
Es gibt sofort immer irgendwelche
Wutbürger, die dagegen sind.
Also sind die Proteste primär
von einer eigenen Betroffenheit
angetrieben?
Ja, da spielen in hohem Maße Partikularinteressen eine Rolle. Es ist
eine egoistischere Gesellschaft
geworden. Die Leute sagen einfach:
„Uns geht’s gut. Ach nee, das soll
alles so bleiben, wie es ist.“ Die
sehen den direkten Zusatznutzen
nicht, den die Maßnahmen den Menschen persönlich bringen. Ein
78-jähriger Demonstrant in Stuttgart hat mir gegenüber seinen Protest mal damit begründet, dass er
die nächsten zehn Jahre keinen Baulärm und keinen dauerhaften LkwVerkehr vor seiner Haustür haben
will. Die Verbesserungen für die Allgemeinheit haben den überhaupt
nicht interessiert. Da ging es nur um
seine persönlichen Nachteile während der Bauphase. Die Verbesserung der Infrastruktur oder der Nutzen für die Umwelt ist einem Teil der
Bevölkerung schlicht gleichgültig.
Das ist dasselbe bei vielen anderen
Protesten wie zum Beispiel bei der
Gentechnologie oder jeder Technik,
die mit Strom zusammenhängt, der
Kernkraft angefangen über CCS bis
zum Fracking. Wir sind eine Gesellschaft, die sehr saturiert ist, die im
Prinzip wesentliche Probleme nicht
hat, weil alle Probleme weitestgehend gelöst zu sein scheinen.
Wurde in Baden-Württemberg
deutlich genug gemacht, worum
es bei Stuttgart 21 geht?
Ja, ich denke schon. Das Projekt war
immerhin viele Jahre lang in Planung.
Das Thema wurde zigmal im Stadtrat
von Stuttgart behandelt und alle
Presseorgane haben darüber berichtet. Die Bevölkerung hätte eigentlich
informiert sein müssen. Als die endgültige Baugenehmigung da war und
die Bagger kamen, ging der ganze
Krach los. Auch der Volksentscheid
hat ja nicht dazu geführt, dass die
Proteste und Demonstrationen aufhörten. Das ist keine ausgeprägte
demokratische Einstellung. Wenn es
eine mehrheitliche Entscheidung
gibt, muss diese auch akzeptiert werden und dann muss Feierabend sein.
Hat Sie das Ergebnis des Volksentscheids überrascht?
Nein. Ich habe damit gerechnet.
Seit Stuttgart 21 gibt es eine
breite Diskussion über mehr
Beteiligungsmöglichkeiten. Wie
stehen Sie grundsätzlich zum
Thema Bürgerbeteiligung?
Prinzipiell finde ich Bürgerbeteiligung richtig, aber man muss auch
eine Struktur finden, die Planungs-
verfahren nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag verzögert. Es muss
einen Zeitpunkt der endgültigen
Entscheidung geben. Man muss
irgendwann sagen, das machen wir
jetzt so. Das ist Aufgabe und Verantwortung der Politik. Außerdem
müssen wir die Frage beantworten,
wie man Bürgerbeteiligung institutionalisiert. Wann fängt Bürgerbeteiligung an und wer wird beteiligt? Nur
die direkt Betroffenen oder alle?
Hinsichtlich solcher Fragen gibt es
noch zu wenig Klarheit.
Haben Sie eine Idee, wie das
gehen kann?
Beispielsweise durch eine frühere
Öffentlichkeitsbeteiligung in Form
von Bürgerforen oder kommunalen
Zukunftskonferenzen, die das
anschließende Planfeststellungsoder Genehmigungsverfahren bei
Großvorhaben besser vorbereiten
sollen. Dies könnte eine Möglichkeit
sein, um Konflikte frühzeitig zu
bereinigen oder gar zu vermeiden.
Gibt es im bestehenden formalen
Verwaltungsrecht genug Möglichkeiten für Bürgerbeteiligung?
Natürlich gibt es die, wenn ich
allein an die umfassenden prozes-
sualen Möglichkeiten denke, die
jeder hat. Vielleicht muss man das
aber noch ein Stück transparenter
machen. So soll künftig die öffentliche Bekanntmachung von Planunterlagen im Internet möglich sein.
Denken Sie, dass Volksabstimmungen auch auf Bundesebene
sinnvoll wären?
Volksabstimmungen können auf kommunaler Ebene sinnvoll sein, aber wir
sind eine parlamentarische Demokratie, und wenn wir so weit gehen,
dass wir über jedes Großprojekt oder
jede politische Maßnahme das Volk
abstimmen lassen, tut das dem Land
nicht gut. Bei Änderungen des Grundgesetzes kann man dagegen über
Volksabstimmungen nachdenken.
Die Schweiz hat die direkte Demokratie und fährt damit ganz gut,
was die Akzeptanz von Projekten
betrifft. Warum ist das kein Modell
für Deutschland?
Das Schweizer System finde ich gar
nicht schlecht, weil die Bevölkerung
eine Alternative hat. Wenn zum Beispiel in einem Kanton ein Schwimmbad gebaut werden soll, ist die Konsequenz, dass die Bürger dafür auch
höhere Steuern zahlen müssen.
Dr. Michael Fuchs 169
Jeder Einzelne kann dann selbst
entscheiden, ob er das möchte oder
nicht. Aber das sind Entscheidungen auf kommunaler Ebene. Die
Kantone sind teilweise so groß wie
98 Metern riesig sind und an den
Flügelenden sowie am Rotorkopf
rote Lampen befestigt werden. Die
Gegner stören sich an diesen roten
Lampen, weil sie abends bis ins
»Das Schweizer
System finde ich gar
nicht schlecht.«
unsere Landkreise. In diesem Rahmen ist das machbar. In Deutschland ist das auf der Bundesebene
nicht umsetzbar.
Die Bürger scheinen oft zwiegespalten. Sie sind für den Personennahverkehr, aber gegen den
Bahnhof, sie sind für erneuerbare Energien, aber gegen das
Windrad. Wie erklären Sie sich
die Widersprüche?
Das ist das Problem, das ich immer
als NIMBY, NUMBY, NOMBY bezeichne. Not in my backyard, not
under my backyard and not over my
backyard. Den Leuten ist es egal,
wenn ein Projekt woanders realisiert
werden soll, Hauptsache nicht vor
der eigenen Haustür.
Kennen Sie solche Widersprüche
aus Ihrer politischen Arbeit?
Ja. Bei uns in Koblenz soll zum Beispiel ein Windpark am Rand der
Stadt gebaut werden. Da gibt es
Grüne, die sich für Windenergie
starkmachen und flammende Reden
für Windparks halten. Jetzt organisieren sie den Protest und Demonstrationen gegen diesen Windpark
am Stadtrand. Der Grund ist, dass
diese Windräder mit einer Höhe von
170 INTERVIEWS
Wohnzimmer blinken. Wir können
darauf aber wegen des Luftverkehrs
nicht verzichten.
Wie kann man solche Widersprüche auflösen und wieder eine
größere Gemeinwohlorientierung
erreichen?
Die gesamtgesellschaftliche Bedeutung von Infrastrukturprojekten und
deren Vorteile müssen meines Erachtens noch stärker herausgestellt werden. Nur so wird es uns gelingen,
einen gesellschaftlichen Grundkonsens über die Notwendigkeit solcher
Infrastrukturprojekte zu finden.
Tut die Wirtschaft genug, um Konsequenzen, die aus der Energiewende resultieren, aufzuzeigen?
Erklärt sie sich genug?
Nein. Die Industrie hat sich bei der
Energiewende bisher nicht klug verhalten. Das liegt unter anderem
daran, dass sie widersprüchliche
Interessen und keine einheitliche
Position hat. Dabei spielen auch
Partikularinteressen eine große
Rolle. Der BDI muss seine gegensätzlichen Interessenlagen überwinden und zu einer gemeinsamen
Linie finden. Solange er dies nicht
schafft, darf sich die Industrie über
den massiven Gegenwind nicht
wundern. Meine Befürchtung ist,
dass uns die Energiewende insgesamt auseinandertreibt.
Ist der Industriestandort
Deutschland durch die aktuellen
Widerstände gegen Großprojekte in Gefahr?
Ja, die Gefahr sehe ich. Deswegen
werde ich nicht müde zu sagen,
dass wir ein Industrieland sind und
das auch bleiben müssen und dass
wir dafür alles erdenklich Notwendige tun müssen. Das ist für mich
von zentraler Bedeutung. Ich möchte
keine englischen Verhältnisse
haben, wo rund 27 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in der City of London erzeugt werden. Das ist nicht
gesund und die Engländer wären
froh, wenn sie wieder annähernd solche industriellen Strukturen hätten,
wie wir sie in Deutschland haben.
Welche konkreten Erwartungen
haben Sie als Politiker an die
Wirtschaft?
Die Wirtschaft muss sich erst mal
selbst einig werden und eine eindeutige Haltung entwickeln. Die Wirtschaft kann auch nicht über zu hohe
Energiepreise jaulen und gleichzeitig
der Bevölkerung nicht erklären,
warum niedrige Energiepreise für sie
und für den Standort notwendig
sind. Da besteht ein Informationsund Aufklärungsdefizit. Da passiert
aufseiten der Industrie zu wenig.
Dr. Michael Fuchs 171
Prof. Manfred Güllner
»Die Mehrheit war voller Wut
über die Wutbürger.«
Prof. Manfred Güllner über das Missverständnis der Mitmachpolitik und
die Chancen kommunaler Marktforschung.
In der Debatte um Stuttgart 21
entstand der „Wutbürger“. Was
halten Sie davon?
Der Begriff vom „Wutbürger“ ist von
Anfang an großer Unfug gewesen.
Wir haben durch den Volksentscheid
gesehen, dass es keine Mehrheit
gegen, sondern eine Mehrheit für
den neuen Bahnhof gibt. Dass man
die Proteste zum Aufstand der „Wutbürger“ hochstilisiert hat, die in der
ganzen Republik protestieren, hatte
mit der Realität nichts zu tun. Die
Mehrheit war vielmehr voller Wut
über die „Wutbürger“ und hat sie
durch das Votum abgestraft.
Zur Person
Prof. Manfred Güllner ist Geschäftsführer des 1984 von ihm gegründeten Meinungsforschungsinstituts
forsa in Berlin. Zuvor war er Direktor des Statistischen Amts der
Stadt Köln. forsa gilt als eines der
führenden Markt- und Meinungsforschungsinstitute Deutschlands.
Der Professor für Publizistik ist
Autor der wöchentlichen Kolumne
„Was bewegt Deutschland“ auf
Cicero-Online.
172 INTERVIEWS
Haben die Medien also Zerrbilder
produziert?
Ja, das war in Stuttgart so und dafür
gibt es zahlreiche andere Beispiele. Es
ist leider häufig so, dass die Medien
über die Meinungen von Menschen
falsch berichten. Oft werden beispielsweise Umfrageergebnisse vollkommen fehlinterpretiert oder aus
dem Zusammenhang gerissen.
Sehen Sie da eine besonders
große Verantwortung der Leitmedien?
Ich bin nicht sicher, welche Rolle die
Leitmedien noch spielen. Sicherlich
lesen die Journalisten der anderen
Medien die großen überregionalen
Tageszeitungen, was sich dann
auch in der Berichterstattung der
regionalen Medien niederschlägt.
Die regionalen Medien spielen aber
für die meisten Menschen eine größere Rolle als die überregionalen.
Welche Rolle spielen die digitalen Medien?
nem Balkon auf die Baustelle gucken
möchte, oder wenn man in Berlin
gegen den Flughafen protestiert,
weil man sich gerade in Zehlendorf
ein Haus gekauft hat und jetzt
Flugzeuge übers Grundstück fliegen sollen. Aber es ist nicht die
Wut der „Wutbürger“, die hier zum
Vorschein kommt, sondern es sind
Partikularinteressen.
Durch das Internet sehe ich eine
große Gefahr, dass Verzerrungen
noch zusätzlich überzeichnet werden. Zum Beispiel sieht man bei
Stuttgart 21 im Netz nur Gegner und
denkt, die ganze Welt sei gegen das
Projekt. Menschen, die sich in der
wirklichen Welt nicht artikulieren, tun
das auch nicht im Netz. Von daher
birgt das Internet die Gefahr, dass
bestimmte Meinungen einseitig
dominieren und einen falschen Eindruck vom wahren Meinungsbild in
der Gesellschaft vermitteln.
Haben sich die Proteste in den
letzten Jahren verändert?
Wie erklären Sie sich die Proteste
gegen Stuttgart 21 oder andere
Infrastrukturvorhaben?
Das hängt vom Thema ab. Die Energiefrage ist stark ideologisch überlagert. Die Einstellung zur Energie ist
stark von der parteipolitischen Orientierung abhängig. Auch die Proteste
gegen die Arbeitsmarktreform Hartz
IV waren ideologisch motiviert.
Auslöser sind Partikularinteressen.
Man kann auch nachvollziehen,
dass man in Stuttgart protestiert,
weil man nicht jahrelang von sei-
Zunächst glaube ich nicht, dass es
eine größere Intensität gibt. Die
Bilder der Proteste vermitteln oft
einen völlig falschen Eindruck.
Häufig sind weniger Leute beteiligt, als die Bilder vermitteln. Was
möglicherweise zugenommen hat,
ist die Bereitschaft von Bürgern,
die von Projekten betroffen sind,
zu protestieren.
Spielen ideologische Gründe auch
eine Rolle?
Machen sich Partikularinteressen in den lezten Jahren immer
stärker bemerkbar?
Ich glaube, da ist etwas dran. Das
hat natürlich auch mit der grünen
Bewegung zu tun. Denn die hat ja
die Individualisierung der Gesellschaft und die Selbstverwirklichung
gefordert. Öffentliche Tugenden
wurden niedergemacht und haben
mittlerweile auch an Wert verloren,
das sieht man in vielen Studien.
Das liegt auch daran, dass der Alltag brutaler geworden ist und die
Leute gelernt haben, dass sie ihre
Interessen maximal wahren müssen. Die Ellenbogengesellschaft ist
sozusagen internalisiert worden.
Haben daran auch Unternehmen
einen Anteil?
Ja, denn sie haben vor einigen Jahren verstärkt den Shareholder-Value
zum Hauptprinzip erhoben und die
soziale Verantwortung von sich
geschoben. Wobei es da einen großen Unterschied in der Wahrnehmung von kleinen und großen
Unternehmen gibt. Wir haben ein
Beispiel aus der ersten Banken- und
Finanzkrise: Die Sparkassen, die
vorher als altbacken galten, haben
in der Krise Vertrauen gewonnen.
Die großen Banken dagegen sind
inzwischen ganz unten in unserem
Vertrauensranking.
Sie konstatieren über die Jahre
einen Vertrauensverlust im
Hinblick auf Wirtschaft und Politik. Wem vertrauen die Menschen heute?
Das Amt des Bundespräsidenten
genießt – trotz aller Turbulenzen um
die letzten Amtsinhaber – unter den
politischen Institutionen immer
noch das größte Vertrauen. Dann
kommen die Sicherheitsorgane –
Polizei, Gerichte, Bundeswehr –, die
Mediziner, die Wissenschaft sowie
Stadt- und Gemeindeverwaltungen.
Obwohl die Menschen auf lokaler
Ebene vergleichsweise weniger oft
wählen gehen, ist dort das Vertrauen in die Politik noch am höchsten. Sehr wenig Vertrauen hat man
zu politischen Parteien, danach kommen Manager von Großunternehmen
und Werbeagenturen. NGOs, insbesondere im Umweltbereich, sind
hoch angesehen, genauso wie alles
andere, was mit Ökologie zu tun hat.
Es gibt einen Vorschlag, dass
Projektbetreiber zwei Prozent der
Projektmittel NGOs und BürgerProf. Manfred Güllner 173
initiativen für die Erstellung von
Gutachten oder für Dialogmaßnahmen zur Verfügung stellen,
um Waffengleichheit herzustellen. Was halten Sie davon?
Das halte ich für absurd. NGOs und
Bürgerinitiativen haben oft schon
eine Resonanz, die gar nicht ihrer
wirklichen Verankerung bei den
Bürgern entspricht. Deshalb sollten
Projektinitiatoren prüfen, wer sich
überhaupt artikuliert. Denn das ist
eventuell nur eine ganz kleine Minderheit, deren Vorschläge aber
überproportional berücksichtigt
werden. Dasselbe Problem besteht
übrigens auch schon im normalen
Planungsverfahren. Und dann wundert man sich vonseiten der Politik,
wenn die Mehrheit am Schluss mit
dem Projekt nicht einverstanden
ist. Die wenigen, die sich beteiligen, sind oft selbst ernannte Advokaten, die die Entwicklung in eine
bestimmte Richtung beeinflussen.
Bevor ich denen mehr Geld und Einflussmöglichkeiten gebe, sollte
man erst mal untersuchen, was die
Mehrheit der Menschen eigentlich
denkt.
Sollte man die Bevölkerung stärker über repräsentative Verfahren
einbeziehen?
Ja, man sollte sich anschauen, was
die Mehrheit wirklich denkt. Denn
nur wenige nutzen die Möglichkeit,
bei Anhörungen im Planfeststellungsverfahren mitzusprechen.
Wenn man die Meinung dieser Minderheiten in Entscheidungen einfließen lässt, muss man die Meinung
der restlichen Bevölkerung ebenso
berücksichtigen.
Sollte man deren Einstellung in
einer frühen Phase des Projekts
174 INTERVIEWS
ermitteln und das mit zum Gegenstand der Entscheidung machen?
Ja. Das heißt natürlich nicht, dass
die Mehrheitsmeinung eins zu eins
umzusetzen ist. Aber ebenso darf
die Meinung der Minoritäten nicht
unbesehen übernommen werden.
Wenn man Letzteres macht, dann
entsteht ein zunehmendes Vertrauensvakuum.
Meinen Sie das mit „Missverständnis der Mitmachpolitik“, das
Sie vielfach beschreiben?
Die Mitmachpolitik darf nicht dazu
führen, dass man nur Partikularinteressen Chancen gibt. Das wäre absolut fatal. Man sieht, dass vordergründig „bürgerfreundliche“
Partizipationsangebote nicht zu
mehr, sondern zu immer geringerer
Beteiligung führen. Zudem sprechen
sie primär das „grüne“ Bildungsbürgertum an und führen dazu, dass
sich große Teile der Bevölkerung,
die nicht über die erforderlichen
Fertigkeiten und Fähigkeiten im
Umgang mit bürokratischen Ritualen verfügen, in immer stärkerem
Maße von Entscheidungsprozessen
ausgeschlossen fühlen.
Die Politik ruft nach mehr Beteiligung – delegiert sie damit Verantwortung an den Souverän
zurück?
Ja, aber der Souverän schaut dabei
fassungslos zu. Wir leben in einer
arbeitsteiligen Gesellschaft, in der
es bestimmte fachkundige Professionen gibt. Dazu gehören auch die
Politiker, weil die politischen Entscheidungen kompliziert sind und
sich meistens nicht mit Ja oder Nein
beantworten lassen. Wenn die Politik nicht mehr weiterweiß und Entscheidungen an das Volk zurückde-
legiert, wendet sich ein Teil der
Bevölkerung von der Politik ab. Den
meisten Bürgern reicht es, alle vier
oder fünf Jahre ihr Urteil über die
Arbeit der Politik abzugeben. Zwischen den Wahlen soll die Politik
ordentlich arbeiten. Daher sollte
man nicht noch mehr unausgereifte
Angebote zur Schein-Partizipation
machen, sondern wieder zu einer
Politik zurückkehren, die die Interessen aller Schichten der Bevölkerung beachtet.
Also führen auch mehr Volksentscheide nicht zu mehr Akzeptanz?
Volksentscheide halte ich in den
meisten Fällen nicht für sinnvoll.
Das Absurdeste, was ich in diesem
Zusammenhang erlebt habe, war
die Abstimmung über den Godorfer
Hafen im Jahr 2011 in Köln. Kaum
jemand in Köln weiß, wo Godorf
eigentlich liegt, nämlich ganz im
Süden, mit einem kleinen Hafen. Die
Tanker, die die Chemieindustrie
beliefern, warten auf dem Rhein
und stellen damit ein Gefährdungspotenzial dar. Dieses Thema wird
schon seit Jahren diskutiert. CDU
und SPD sind deshalb dafür, dass
der Hafen ausgebaut wird, damit
die Schiffe nicht auf dem Rhein liegen, sondern den Hafen nutzen
können. Die Grünen sind dagegen.
Anstatt dass CDU und SPD im Rat,
wo sie eine Mehrheit hatten, die
Entscheidung für den Ausbau des
Hafens trafen, haben sie eine Volksabstimmung beschlossen. Das Quorum lag mit 15 Prozent ohnehin
schon sehr niedrig, doch nur 14,8
Prozent haben abgestimmt. Und
das kostete eine Million Euro. Nun
muss es die Politik doch selbst entscheiden und hat eine Million Euro
zum Fenster rausgeschmissen. Das
kann das Ergebnis sein, wenn man
mehr direkte Beteiligung fordert. Es
wäre besser gewesen, mithilfe einer
Umfrage zu ermitteln, wer eigentlich in Köln weiß, wo Godorf liegt
und dass es da einen Hafen gibt.
Das Ergebnis wäre gewesen, dass
über 90 Prozent weder das eine
noch das andere wissen. Und wenn
die Leute davon nichts wissen, kann
man sie auch nicht darüber abstimmen lassen.
Aber als Geschäftsführer des
forsa-Instituts reden Sie ja
natürlich auch pro domo?
Ich habe kommunale Marktforschung schon lange vor meiner
Zeit bei forsa empfohlen. Im Übrigen wurde schon im Skeffington
Report Ende der Sechzigerjahre in
Großbritannien empfohlen, kommunale Marktforschung einzusetzen, da man bei direktdemokratischen Elementen zu verzerrten
Einsichten kommt.
Und was erwarten Sie von der
Wirtschaft?
Unternehmen, insbesondere im Energiebereich, müssen versuchen, wieder Vertrauen zurückzugewinnen,
das einmal vorhanden war. Hierfür ist
es auch sinnvoll, den lokalen Bezug
wieder stärker in den Vordergrund zu
ist das Bild der Industrie positiver
geworden. Die Akzeptanz der Industrie scheint wieder etwas größer zu
werden, als sie es in den letzten
Jahren war. Dazu hat wohl auch die
Banken- und Finanzkrise beigetragen, sodass sich die Menschen wieder nach etwas Handfesterem und
»Durch das Internet sehe ich
eine große Gefahr, dass
Verzerrungen noch zusätzlich
überzeichnet werden.«
stellen. Wenn das Vertrauen in ein
Unternehmen wächst, wächst auch
das Vertrauen in die Projekte, die das
Unternehmen angeht.
Was erwarten Sie von der Politik?
Welche Bedeutung hat die heimische traditionelle Industrie in
der heutigen Zeit?
Die Politik muss schauen, was die
Leute wirklich wollen. Wenn beispielsweise nur eine Minderheit
gegen ein Projekt ist, wie einen
Bahnhof oder einen Flughafen, und
die Mehrheit dafür ist, kann die Politik ganz anders argumentieren und
handeln. Im Fall von Stuttgart 21
haben die Medien den Eindruck
erweckt, dass die Mehrheit gegen
den Umbau des Bahnhofs sei. Wenn
damals klarer gewesen wäre, dass
die Mehrheit eigentlich dafür ist,
hätte man anders über das Projekt
diskutieren können. Umgekehrt ist
es natürlich auch so, dass, wenn 60
oder 70 Prozent gegen ein Projekt
sind, man dann darüber noch einmal
grundsätzlich nachdenken sollte.
Die Industrie wurde lange Zeit diskreditiert. Wenn auch in der Politik
vermittelt wird, dass man die Industrie nicht mehr braucht, muss man
sich nicht wundern, wenn die Menschen diese negative Einstellung
übernehmen. Aber hier gibt es
Anzeichen für eine Renaissance der
Industrie. In Untersuchungen haben
wir gesehen, dass zum Beispiel das
Ruhrgebiet wieder im positiven
Sinne als Industriestandort wahrgenommen wird. „Kohle“ ist immer
noch das überlagernde Bild, aber es
ist deutlich schwächer geworden.
2008 haben noch 52 Prozent
„Kohle“ spontan mit dem Ruhrgebiet assoziiert. Jetzt sind es 19 Prozent weniger geworden, und dafür
Ehrlicherem sehnen. Aber wie
gesagt, wenn jeder darüber redet,
dass wir uns in eine Dienstleistungsgesellschaft verwandeln müssen
und Industrie etwas Schlechtes ist,
dann bleibt eine negative Haltung
zur Industrie nicht aus.
Prof. Manfred Güllner 175
Regine Günther
»Ich sehe nicht, dass der Industriestandort Deutschland gefährdet ist.«
Regine Günther über die Energiewende, die
Rolle der Wirtschaft und das Bild der Unternehmen.
Zur Person
Die studierte Politikwissenschaftlerin leitet seit September 1999 den
Fachbereich Klima- und Energiepolitik des WWF. Zuvor war sie unter
anderem Geschäftsführerin bei den
Kritischen Bayer-Aktionären, Projektleiterin bei der Berliner Energieagentur und Consultant bei der
Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit. Frau Günther
hält einen Umstieg auf 100 Prozent
Energieerzeugung aus erneuerbaren
Energien in Deutschland bis zum
Jahr 2050 für möglich.
176 INTERVIEWS
Die Wirtschaft befürchtet, dass
der Industriestandort Deutschland
durch die Energiewende gefährdet
ist. Ist das nur Schwarzmalerei?
pensiert worden. Es wurden Ausnahmetatbestände mit Vorteilen in
Milliardenhöhe geschaffen.
Die Energiewende ist eine große
Innovationschance für die Wirtschaft.
Ich sehe nicht, dass der Industriestandort Deutschland dadurch
gefährdet ist. Die Industrie wird in
weiten Teilen von zusätzlichen Zahlungen befreit: beim ErneuerbarenEnergien-Gesetz, bei der Stromsteuer
und auch den Netznutzungsentgelten. Im Rahmen des Emissionshandels erhält die Industrie die Zertifikate fast ausschließlich kostenlos
zugeteilt. Der WWF konnte sogar
nachweisen, dass der Emissionshandel auch der Industrie Zusatzgewinne in dreistelliger Millionenhöhe
beschert hat. Es darf nicht vergessen
werden, dass durch den enormen
Ausbau der erneuerbaren Energien
der Großhandelspreis um 20 Prozent
gesunken ist. Ein weiterer Vorteil für
den Industriestandort Deutschland.
Experten gehen davon aus, dass
die Strompreise steigen werden.
Zuletzt hat sich die dena so
geäußert.
Die Industrie argumentiert mit
dem internationalen Wettbewerb. Durch die Energiewende
entstünden ihr Nachteile.
Das kann ich nicht erkennen. Die
potenziellen Nachteile sind kom-
Die Strompreise wären auch ohne
Energiewende gestiegen. Die Zeit
der billigen, abgeschriebenen Kraftwerke, die noch in Monopolzeiten
errichtet wurden, ist vorbei. Jetzt
muss so oder so investiert werden.
Sowohl die Kosten für den Bau konventioneller Kraftwerke als auch die
Preise für konventionelle Brennstoffe
wie Öl, Kohle und Gas sind seit 2005
eklatant gestiegen. Ein Kostentreiber. Ganz abgesehen von der Klimaproblematik stellt sich die Frage, ob
wir weiter auf Brennstoffe mit
hoher Preisvolatilität setzen möchten. Damit wären wir festgelegt,
jährlich Milliarden Euro ins Ausland
zu transferieren. Die Alternative ist,
die erneuerbaren Energien schnell
auszubauen und so rund ein Prozent
unseres BIP, das jetzt für Brennstoffe
ins Ausland fließt, im Inland zu investieren. Wir müssen jetzt entscheiden, ob wir unsere ökonomische
Verletzbarkeit gegenüber instabilen
Regionen in der Welt vermindern.
Der Anteil der Erneuerbaren am
Strompreis beträgt augenblicklich nur
14 Prozent. Die Höhe der zukünftigen
Energiepreise hängt aber entscheidend von der Ausgestaltung des
neuen Marktdesigns ab.
Wenn die Energiewende nicht so
schnell umsetzbar ist wie geplant,
brauchen wir eine Brückentechnologie. Sind Kohlekraftwerke ein
gangbarer Weg?
Die bestehenden Kraftwerke, die
fossile Energieträger nutzen, werden für die Versorgungssicherheit
noch eine ganze Zeit benötigt.
„Brückentechnologie“, verstanden
als neu zu bauende Kraftwerke, können aber nur neue Gaskraftwerke
und keine neuen Kohlekraftwerke
sein. Neue Kohlekraftwerke haben
eine Laufzeit von rund 50 Jahren.
Wenn wir unsere Klimaziele einhalten wollen, müssen alle Kraftwerke,
die fossile Energieträger nutzen,
spätestens 2050 abgeschaltet werden. Um „Stranded Investments“ zu
verhindern, muss gerade bei langlebigen Kapitalstöcken sehr genau
überlegt werden, in welche Technologie wir investieren. Energieszenarien zeigen sehr deutlich, dass wir
nicht auf neue Kohlekraftwerke
angewiesen sind, um Energieversorgungssicherheit zu gewährleisten.
Gaskraftwerke sind eine sehr gute
Alternative.
Experten kritisieren das Fehlen
von Strukturen, mit denen die
Energiewende erfolgreich gemeistert werden kann, und fordern
ein Energieministerium. Sie auch?
Ich bin keine Anhängerin eines Energieministeriums. Energie ist ein hochpolitisches Feld mit Gegensätzen, die
im Moment hauptsächlich zwischen
Wirtschafts- und Umweltministerium
ausgetragen werden. Aber auch das
Verkehrs- und Bauministerium spielt
für die Energiewende eine entscheidende Rolle. Sollen all diese Kompetenzen zusammengefasst werden?
Mit einem Energieministerium ändern
sich nicht die zentralen politischen
Streitfelder, sondern sie werden statt
auf Ministerebene auf Referatsleiterebene ausgetragen. Ich halte dies
nicht für sinnvoll, sondern bin fest
davon überzeugt, dass wir eine
strukturierte Koordination brauchen.
Die fehlt bisher in der Tat. Die Idee
des Nationalen Forums Energiewende finde ich sehr charmant. Eine
Organisation, die alle wichtigen
Player ins Boot holt, die die zentralen
Fragen bearbeitet und gemeinsam
Lösungen erarbeitet mit dem Willen
zur Veränderung.
Warum ist das Bild der Wirtschaft
in der Öffentlichkeit so negativ,
das der NGOs so positiv?
Ich glaube nicht, dass das Ansehen
der Wirtschaft insgesamt schlecht
ist. Im Gegenteil. Die Menschen
wissen, dass eine funktionierende
Wirtschaft das Rückgrat unseres
Wohlstandes ist. Das Ansehen der
Handwerksbetriebe ist in Umfragen
sehr hoch. Ein Problem haben in
der Tat in der Energiewirtschaft die
vier großen Energieversorger. Um
die politischen Entscheidungsträger im Herbst 2010 öffentlich in
Richtung Laufzeitverlängerung
unter Druck zu setzen, wurden von
den vier Energieversorgern in vielen deutschen Tageszeitungen
ganzseitige Anzeigen geschaltet.
Die Menschen haben das als unverhohlenen Druck und als Unverfrorenheit wahrgenommen. Die Bevölkerung hat genau realisiert, dass
bei der damaligen – und heute revidierten – Entscheidung für die Laufzeitverlängerung den vier großen
Energieversorgern Milliarden Euro
Regine Günther 177
Zusatzgewinne bewilligt wurden –
auf Kosten der Bürger, der Sicherheit, des gesellschaftlichen Friedens und zulasten von vielen
mittelständischen Unternehmen.
Wenn Unternehmen so agieren und
in Kauf nehmen, dass sie die Gesellschaft vollkommen gegen sich aufbringen, damit sie einen höheren
Gewinn machen, dann ist das miserable Image der zu zahlende Preis.
Eine breite Mehrheit der Bevölkerung hält die Energiewende für
richtig. Trotzdem wehrt man sich
gegen Windräder oder Stromleitungen in Sichtweite.
Die Einschätzung, dass die Menschen per se keine neuen Stromleitungen oder Windräder akzeptieren,
halte ich für nicht belastbar. In allen
Umfragen sehen wir, dass der eingeschlagene Weg für richtig gehalten
wird. Wir haben die energiewend
sogenannten „Bürgerdialog“, der
von Ministerin Schavan initiiert
wurde. Keiner der daran Beteiligten
äußerte sich per se gegen notwendige Infrastrukturmaßnahmen.
Wie kann man Konflikte bei der
Trassenfindung oder dem Aufstellen von Windrädern auflösen?
Es hat sich gezeigt, dass eine Beteiligung im vorrechtlichen Raum eine
sehr gute Möglichkeit ist, Menschen
frühzeitig mitzunehmen. Davon
wird noch viel zu selten Gebrauch
gemacht. Wir brauchen Transparenz, Beteiligung und gegebenenfalls auch monetäre Kompensationen, wenn es notwendig ist. Die
Anliegen der Betroffenen müssen
so weit wie möglich Eingang in den
Entscheidungsprozess finden. Es
muss in einem sehr gut strukturierten Verfahren deutlich gemacht
werden, dass die Eingriffe für den
»Die Idee des Nationalen
Forums Energiewende finde
ich sehr charmant.«
begonnen und den Anteil der Erneuerbaren Energien von vier Prozent
im Jahr 2000 auf 20 Prozent gesteigert. Wenn die Verbraucher das
nicht gewollt hätten, wäre diese
Entwicklung nicht möglich gewesen.
Bei den kommenden Schritten geht
es nun um die stärkere Einbindung
und Beteiligung der Betroffenen und
um die Entwicklung von Konzepten,
die von der Gesellschaft akzeptiert
werden. Hier müssen die Menschen
viel offensiver mitgenommen werden. Ich war stark involviert bei dem
178 INTERVIEWS
Erfolg der Energiewende notwendig
sind und mögliche Alternativen und
Anpassungsmaßnahmen berücksichtigt wurden. Am Ende wird es
ein rechtsstaatliches Verfahren mit
allen Konsequenzen sein.
men ein Investitionshindernis ist
und diese dann lieber im Ausland
investieren?
würden. Hier wäre geregelt, wie
solche Verfahren gestaltet werden
und welche Regeln gelten sollen.
In solch einem Rahmen müsste man
sich darauf verständigen, dass beispielsweise persönliche Diffamierungen ausgeschlossen bleiben,
alle Informationen offengelegt werden und beide Seiten ihre Wünsche
adressieren können. Respektvoller
Umgang miteinander ist die Grundvoraussetzung für jede Kommunikation unter Menschen. Das erwarte
ich von beiden Seiten.
Ich sehe zu einer umfassenden Beteiligung keine Alternative. Unternehmen, die keine rechtsstaatlichen Prozesse möchten, müssen sich dann in
der Tat einen anderen Standort für
ihre Investition suchen. Doch auch in
anderen Ländern möchten Menschen
ihre Zukunft und ihre Region mitgestalten und akzeptieren nicht passiv
alle Anordnungen aus der Verwaltung
und der Regierung.
Und da sehen Sie einiges im
Argen?
Es ist also kein rein deutsches
Phänomen?
Ich sehe hier Verbesserungsbedarf.
Mediationsverfahren können helfen, die Kommunikation zu optimieren. Es sollte aber nicht vergessen
werden, dass es nicht nur um Kommunikation geht, sondern auch um
unterschiedliche Interessenlagen.
In den Verfahren müssen sie sehr
klar benannt werden. Bei allem
Bemühen um einen Konsens: Es
mag einen Punkt geben, an dem die
Interessen nicht zusammenzubringen sind. Dann muss der Staat entscheiden.
Natürlich nicht. Die Menschen wollen
auch in anderen Regionen der Welt
beteiligt werden. Wenn die Industrie
mit Abwanderung droht, dann
scheint dies oft nur ein Drohszenario
zu sein. Die Möglichkeiten für viele
Industrien, Märkte mit ähnlich gut
ausgebauter Infrastruktur, gut ausgebildeten Arbeitskräften und sozialem
Frieden zu finden, sind doch überschaubar. ThyssenKrupp durfte
gerade Erfahrungen in Brasilien sammeln, wie teuer Investitionen in sogenannten Billigregionen sind. Viele
Industrien müssen nah an den
Absatzmärkten produzieren, andere
haben so überdimensionierte Vergünstigungen in Deutschland erhalten, dass es keinen Grund gäbe, eine
Standortverlagerung auch nur ansatzweise in Erwägung zu ziehen. Nur
eine sehr kleine Gruppe von Industriezweigen ist wirklich durch außereuropäische Konkurrenz bedroht. In jedem
Fall gilt: Man muss sich immer mit den
lokalen Gegebenheiten auseinandersetzen. Und in Deutschland gehört zu
den lokalen Gegebenheiten, dass die
Bürger bei entscheidenden Eingriffen
in ihre Region mitreden möchten.
Sehen Sie denn auch Risiken
durch Bürgerbeteiligung?
Wer kann in diesen Prozessen
vermitteln oder wen sehen Sie
in der Verantwortung, diese
Beteiligungsprozesse maßgeblich zu steuern?
Im besten Fall führt Bürgerbeteiligung zu einer Beschleunigung der
Prozesse, da viele Gerichtswege
nicht beschritten werden und
langwierige Verfahren verkürzt
werden können. Zur Wahrheit
gehört aber, dass eine umfassende
Beteiligung der Betroffenen ein
Spagat ist. Je mehr Menschen
beteiligt sind, desto länger könnte
ein Verfahren dauern.
Es wäre ein guter Schritt, wenn wir
einen Code of Conduct einführen
Können Sie sich vorstellen, dass
Bürgerbeteiligung für Unterneh-
Die Proteste von Bürgern gegen
Großprojekte haben zugenommen. Was sind die Gründe, die
eigene Betroffenheit und die
Angst vor einer Verschlechterung der Lebensqualität?
Die Aussage teile ich in dieser Absolutheit nicht. Es gab auch schon in
der Vergangenheit Widerstand im
großen Maßstab. Denken Sie an
Wyhl, Brokdorf, die Startbahn West
in Frankfurt oder Gorleben. Hier
waren die berechtigte Befürchtung
einer Verschlechterung der Lebensqualität und die Angst um die
eigene Gesundheit im Falle eines
Strahlungsunfalles die ausschlaggebenden Gründe. Jetzt ist die Ausgangslage verändert. Die meisten
Menschen unterstützen die Zielrichtung der Energiepolitik.
Wurden die Proteste früher
nur weniger wahrgenommen
als heute?
Sie wurden sogar sehr stark wahrgenommen. Deshalb steigen wir aus
der Atomenergie aus. Fukushima
war der konkrete Anlass, aber nicht
der Grund. Wir sind ausgestiegen,
weil die Bevölkerung seit Mitte der
Siebzigerjahre gegen Atomkraft
demonstriert hat. Wir haben den
Ausstieg intellektuell vorbereitet.
Und wir sind natürlich ausgestiegen, weil wir in den letzten zehn
Jahren erlebt haben, dass wir funktionierende Alternativen wie Windenergie haben, die nicht Nischenprodukte bleiben müssen. Stuttgart
21, wo es um den Umbau eines
Bahnhofs geht, würde ich als Sonderfall sehen.
und Wirtschaft deutlich zurückhaltender. Woran liegt das?
Die These ist reine Spekulation.
Unternehmen kaufen sich gerne mal
eine Seite in den großen etablierten
Zeitungen. Vor wichtigen Entscheidungen räumen Meinungsführermedien auch Platz für ein Interview
mit dem CEO ein. Insofern fühlen
sich Unternehmen in traditionellen
Medien sehr gut aufgehoben. NGOs
haben solche Möglichkeiten nicht
in dieser Regelmäßigkeit. Social
Media sind da kostengünstiger und
erreichen viele Menschen, setzen
aber ein gewisses Maß an Schnelligkeit voraus. Dies fehlt gerade großen Unternehmen sehr häufig. Plakativ gesprochen: Bis in einem
Unternehmen ein Foliensatz abgestimmt ist, können Wochen vergehen. Twittern muss man aber in
Minuten. Insofern sind Social Media
die FAZ der „kleinen Leute“.
NGOs haben sich in den letzten
Jahren sehr professionalisiert.
Glauben Sie, dass damit ihre
Deutungshoheit gestiegen ist?
Nicht nur NGOs, alle haben sich professionalisiert. Der Unterschied ist,
dass NGOs stark komplementär zueinander arbeiten. Die einen sind eher
eine Art Thinktank wie wir. Andere
sind kampagnenorientierter und
wieder andere sind sehr stark im
Feld aktiv und in den Regionen verankert. Das Zusammenwirken macht
die Schlagkraft aus.
NGOs spielen dabei eine große
Rolle. Sie organisieren sich stark
über das Internet. Da sind Politik
Regine Günther 179
Prof. Dr. Justus Haucap
»Die Wirtschaft ist dafür da,
Geld zu verdienen.«
Prof. Dr. Justus Haucap über die Energiewende, ihre Konsequenzen
für die Wirtschaft und die Rolle von Unternehmen dabei.
Große Unternehmen werden in
Teilen der Öffentlichkeit als gierig und lobbyistisch gesehen.
Woran liegt das?
Zur Person
Prof. Dr. Justus Haucap ist Professor
für Volkswirtschaftslehre an der
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und Gründungsdirektor des
Düsseldorf Institute for Competition
Economics (DICE). Als Mitglied der
Monopolkommission (Vorsitzender
von Juli 2008 bis Juli 2012) setzt er
sich vehement für mehr Wettbewerb
in Deutschland und Europa ein. Er
gehört zu den profiliertesten Wettbewerbsökonomen und ist gefragter
Experte, wenn es um Regulierung
geht, insbesondere von netzbasierten Technologien. Im Rahmen seiner
Forschung beschäftigt er sich unter
anderem auch mit sogenannten
NIMBY-Gütern.
180 INTERVIEWS
Große Unternehmen oder Verbände
haben faktisch großen Einfluss auf
die Politik. Aus der ökonomischen
Theorie ist lange bekannt, dass
viele kleine, versprengte Einzelinteressen schwierig und gebündelte
Interessen einfach zu organisieren
sind. Das sehen wir auch in der Realität. Verbraucherinteressen sind
häufig schwer zu organisieren und
haben deswegen nicht die entscheidende Durchschlagskraft.
Mit der Folge, dass die Bevölkerung das Gefühl hat, den
Großen werde geholfen und
die Kleinen lasse man über die
Klinge springen?
Ja, das stört auch das Gerechtigkeitsempfinden vieler Menschen.
Die Beispiele Opel oder Schlecker
zeigen es auch in gewisser Weise.
Die meisten Menschen in Deutschland arbeiten bei kleinen oder mittelständischen Unternehmen und
sehen, dass ihnen keiner in besonderer Weise hilft, wenn es ihrem
Betrieb schlecht geht. Sie müssen
dann zum Arbeitsamt gehen.
Die Gesellschaft ist kritischer
geworden und wehrt sich gegen
politische und wirtschaftliche
Entscheidungen, die hinter verschlossenen Türen gefällt werden. Was ist der Grund?
Das betrifft nicht nur große Infrastrukturprojekte der Energiewirtschaft, sondern auch Projekte in
anderen Bereichen, zum Beispiel
die Rettungsschirme für Banken
und ganze Länder. Ich bin mir nicht
sicher, ob es wirklich die Bürger
sind, die kritischer geworden sind,
oder ob es nicht das politische
Management ist, das sich verändert hat und die Interessen der
Bürger weniger ernst nimmt. Mir
scheint, dass der politische Prozess
heute weniger transparent geworden ist. Da alle Parteien in der
Öffentlichkeit angeben, mehr oder
minder dieselben Dinge zu wollen,
weiß niemand mehr, was sie wirklich wollen. Und es werden zunehmend Entscheidungen an runden
Tischen hinter verschlossenen
Türen getroffen, öffentliche Diskurse inhaltlicher Natur sind eher
selten. Der Erfolg der Piraten gibt
der These ja auch recht, dass die
Bürger über mangelnde Transparenz frustriert sind.
Experten sagen, dass vor allem
die eigene Betroffenheit und
die Angst vor einer Verschlechterung der Lebensqualität die Bevölkerung zu Protesten antreiben.
In der Regel protestieren Bürger
gegen große Infrastrukturprojekte und nicht gegen den Bau
einer Automobilfabrik. Woran
liegt das?
Im Großen und Ganzen ist das nicht
mein Eindruck. Die verschiedenen
Proteste scheinen mir nicht nur mit
der persönlichen Betroffenheit zu
tun zu haben, das wäre eine zu simple Erklärung. Es gibt auch eine
Frustration über wenig transparente Entscheidungsprozesse. Ganz
sicher war ein Teil der Demonstranten in Stuttgart auch in persönlicher Weise besonders betroffen,
weil sie möglicherweise in der
Nachbarschaft wohnen und den
Baustellenlärm nicht ertragen wollten. Ich habe aber nicht den Eindruck, dass sich für die Mehrheit
der Leute ihre Motivation so reduziert erklären lässt.
Das hat damit zu tun, dass manche
Leute starke negative Effekte erwarten. Es gibt in der Ökonomie und
der politischen Wissenschaft die
sogenannten NIMBY-Güter: Der Verbraucher möchte auch gerne Flughäfen in Deutschland haben, aber
nicht in seiner Nachbarschaft, also
„not in my backyard“. Das ist ein
typisches NIMBY-Phänomen.
Spielen heute ideologische
Gründe noch eine Rolle?
Ja, sicher. Es wäre zu vereinfacht
zu sagen, dass es den Leuten nur
um ihr persönliches Immobilienvermögen gehe, so einfach ist es
sicher nicht. Wertvorstellungen
und Gesellschaftliches sind noch
immer wichtig.
Wie lösen wir das auf?
Es gibt im Netzausbaubeschleunigungsgesetz gewisse Kompensationslösungen. Wer den Netzausbau
als negative Konsequenz der Energiewende trägt, erhält eine Kompensation dafür, dass er dies auch für die
Allgemeinheit tut. Und es gibt sicherlich Kommunikationsbedarf. Wenn
man die Bürger an dem Verfahren völlig unbeteiligt lässt, ist das ein Problem. Man darf sich zudem auch nicht
hinstellen und behaupten, dass jede
einzelne Leitung und jede einzelne
Trassenführung an jedem einzelnen
Ort alternativlos sei. Das ist nicht
glaubwürdig. An ein paar Stellen wird
es Alternativen geben. Von daher
muss man von beiden Seiten auch
eine gewisse Ehrlichkeit erwarten.
Führen Kompensationszahlungen
zu mehr Akzeptanz?
Die helfen sicherlich im Hinblick auf
mehr Akzeptanz. Das wird dann
nicht auch noch den Letzten überzeugen, aber es hilft zumindest. Gelder an direkt betroffene Anwohner
helfen sicherlich noch mehr als pauschale Zahlungen an Kommunen,
aber wo ziehen wir da die Grenze?
Bei einer Leitung, die genau über
meinem Haus verläuft? Oder bei
einer die in 20 oder in 100 Metern
Entfernung am Haus vorbei läuft?
Und: Es besteht die Gefahr, dass
sich jeder plötzlich auf die Hinterbeine stellt, um Kompensationszahlungen zu erhalten, auch wenn er
eigentlich keine Probleme mit dem
Leitungsbau hat.
Die Energiewende kostet Geld.
Welchen Preis zahlt die Industrie?
Prinzipiell zahlt immer der Verbraucher, nur auf verschiedenen Wegen:
Direkt mittels der Stromrechnung
oder über den Umweg der höheren
Produktpreise. Im schlimmsten Fall
zahlen zudem die betroffenen ArbeitProf. Dr. Justus Haucap 181
nehmer mit dem Verlust ihres
Arbeitsplatzes, wenn ein Standort
unattraktiv wird und die Unternehmen abwandern.
man auch andere Fördermaßnahmen
einsetzten. Wir sind an der Stelle,
wo das Kind auch einmal allein zur
Schule gehen muss.
Wie stark gefährdet die Energiewende den Industriestandort
Deutschland?
Kann Deutschland auch von der
Energiewende in volkswirtschaftlicher Hinsicht profitieren?
Deutschland ist ein Land, das einen
sehr starken industriellen Kern hat,
der auch Motor unseres Wohlstandes ist. Energiepreise sind ein wichtiger Wettbewerbsfaktor. Wenn die
Energie zu teuer wird, wird das für
einige Unternehmen ein großes Problem. Wenn Zementwerke abwandern, ist das noch zu verkraften,
aber wenn die chemische Industrie
abwandert, wird es heikel. Selbst
wenn die Industrie nicht abwandert,
bleibt das Problem, dass woanders
andere Unternehmen konkurrenzfähiger sind, und dann schrumpfen
unsere Betriebe von allein. Wie hoch
die konkrete Gefahr für welche
Anzahl von Betrieben und Arbeitsplätzen ist, kann man nur schwer
beziffern, denn das hängt natürlich
auch von der Ausgestaltung der
Energiewende ab. Wenn man diese
so teuer wie möglich macht, dann
ist die Gefahr sehr groß.
Ich bin skeptisch, ob das ein Wachstumstreiber wird, wie es manche
Experten erwarten. Viele deutsche
Solarfirmen sind ganz oder fast
pleite. Rückblickend war das nicht
die Zukunft in Deutschland. Man
könnte jetzt schlauer werden und
daraus lernen. Das sehe ich aber
noch nicht. Momentan wird mit sehr
viel Dirigismus versucht, alles zu
regeln, zum Teil mit Regelungen, die
sich in ihren Zielen oder Effekten
widersprechen. Die ganzen Einzelmaßnahmen werden überhaupt
nicht konsistent zusammengeführt.
Stichwort Erneuerbare-EnergienGesetz.
Wenn wir versuchen, die teuerste
aller Energieformen hier in Deutschland mit aller Gewalt durchzusetzen,
wird es sehr teuer. Für viel Geld ist
wenig erkauft worden. Darüber kann
man meinetwegen noch geteilter
Meinung sein. Die Kernfrage ist
aber: Wie soll es weitergehen in der
Zukunft? Die Industrie ist jetzt über
15 Jahre alt und muss nicht mehr so
behütet aufwachsen, als steckte sie
noch in den Kinderschuhen. Da muss
182 INTERVIEWS
Deutschland steigt schnell aus
der Atomenergie aus. Brauchen
wir eine Brückentechnologie?
Wir brauchen entweder eine Brückentechnologie oder wir importieren
eben Strom. Auch wenn wir in den
ersten drei Monaten dieses Jahres
wenig Strom importiert haben, wird
sich das über das gesamte Jahr vermutlich kaum vermeiden lassen.
Dann wäre es eine Alternative,
bestimmte Kernkraftwerke länger
laufen zu lassen. Wenn das partout
nicht gewünscht ist, müssen wir
eben immer wieder einmal Strom
importieren. Das wäre aber auch
nicht tragisch aus meiner Sicht.
Was wäre Ihnen denn lieber?
Eine Brückentechnologie oder
Stromimporte?
Ich habe nicht den Eindruck, dass
man sich die Frage überhaupt
schon gestellt hat, wie man mit
Atomstrom in Zukunft umgehen
will. Den wird man an der Grenze
nicht aufhalten können. Ich bin ein
Freund des Zusammenwachsens
des Binnenmarktes. Wir sollten den
Aufbau beschleunigt vorantreiben,
und wenn andere Staaten mit Atomenergie leben können, werden wir
es ihnen kaum verbieten können.
Die Alternative sind neue Kraftwerke in Deutschland. Warum
sollten die Energieversorger
neue Kraftwerke bauen, wenn
sie sie in absehbarer Zeit abschalten müssen?
Die Märkte in Europa wachsen zusammen, und in diesem Zusammenhang stellt sich in der Tat die Frage
nach der Attraktivität von Kraftwerksbauten in Deutschland, insbesondere wenn französische Anbieter
demnächst problemlos Strom in den
deutschen Markt exportieren können. Dann wäre es auch vernünftig,
hier kein neues Kraftwerk zu bauen.
Investitionen sind aus volkswirtschaftlicher Sicht erst einmal Kosten.
Und man will nicht unbedingt möglichst viele Kosten produzieren. In
diesem Sinne sind Investitionen noch
immer gut, denn wenn eine Investition später nicht benötigt wird, dann
war es eine Fehlinvestition.
Sie werben konsequent für Wettbewerb und Wachstum. Nicht
allen ist klar, warum Wachstum
und Wettbewerb gut sind. Wer
müsste die Zusammenhänge besser erklären?
Die Wirtschaft ist dazu da, Produkte zu produzieren und Geld zu
verdienen, und nicht, den Leuten
die Welt zu erklären. Das ist in Teilen eine Bringschuld der akademi-
schen Ökonomen. Ansonsten muss
vor allem die Politik mehr leisten.
Was erwarten Sie von der Politik?
Sie sollte den Leuten erklären, welche positiven Wirkungen Wettbewerb hat und dass Wettbewerb auch
ein Ermächtigungsinstrument für den
Einzelnen ist, weil er besser behandelt wird, wenn er die Wahl hat, als
wenn er von einem einzigen Unternehmen abhängig ist. Das Wort „werben“ steckt im Wort „Wettbewerb“
drin. Was mangelnder Wettbewerb
bedeutet, weiß jeder noch von früher
bei der Post. Da konnte man sich
sicher sein, dass um fünf vor sechs
die Tür zugemacht wird, damit bloß
keiner mehr reinkommt.
Haben wir ein verqueres oder
sogar falsches Bild von Wettbewerb?
Häufig wird ein Bild erzeugt, demzufolge Wettbewerb nichts anderes
sei als Lohndumping, Kinderarbeit
und die Ausbeutung von SchleckerFrauen. Dass Wettbewerb aber
etwas sehr Soziales hat, auch für
Arbeitnehmer, weil sie nämlich
prinzipiell auch den Arbeitgeber
wechseln können, wird vergessen.
Wettbewerb diszipliniert die Unternehmen und hievt die Arbeitnehmer und Kunden in viel stärkere
Positionen. Wenn ich auf Gedeih
und Verderb nur auf einen Anbieter
angewiesen bin, wird der sehr viel
weniger freundlich mit mir umgehen, sei es als Kunde oder als
Arbeitnehmer.
Grundsätzlich sind sich alle
einig, dass wir eine bessere Bürgerbeteiligung brauchen. Brauchen wir auch mehr Beteiligungsmöglichkeiten?
Im Verwaltungsrecht gibt es schon
heute gute Mitspracherechte. Was
fehlt, ist eher die Kommunikation
über die Mitspracherechte. Der
breite Teil der Bevölkerung merkt viel
zu spät, dass etwas passiert. Die Politik weist nicht deutlich genug darauf
hin, weil man das auch gar nicht
gilt in Deutschland in allen Rechtsgebieten der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Der muss natürlich
auch bei solchen Planungsverfahren
gewahrt bleiben. Es kann nicht jeder
Einwand mit dem gleichen Gewicht
bemessen werden, das muss verhältnismäßig sein.
»Es darf keine
Alibi-Veranstaltung sein.«
möchte. Da können plebiszitäre Elemente sinnvoll wirken. Wenn am
Ende eines Prozesses noch eine
Abstimmung kommt, würde man
vermutlich die Bürger viel früher
und deutlicher auf ihre Mitspracherechte hinweisen und nicht versuchen, das möglichst in irgendeinem
Amtsblatt zu verstecken. Das ist eher
eine Frage der Kommunikation als
der faktischen Rechte.
Müssen wir die Bürger auch früher
einbeziehen?
Man kann nicht sofort losrennen,
wenn man eine Idee hat. Das Projekt
muss schon einen gewissen Reifegrad erreicht haben. Ein Einbeziehen
in dem Sinne, dass man mehr aufklärt und tatsächlich auch offensiv
kommuniziert, wäre aber sinnvoll.
In der Diskussion fordern viele,
dass die Beteiligungsverfahren
ergebnisoffen geführt werden.
Was halten Sie davon?
Im Prinzip ist das richtig, dem kann
man kaum widersprechen. Es darf
keine Alibi-Veranstaltung sein. Es
wäre absurd, wenn ich einen wichtigen Einwand nicht anhöre, weil das
Ergebnis schon feststeht. Dennoch
Welche Konsequenzen hat das
für Unternehmen?
Es ist natürlich auch deren Verantwortung, sich vorher schon in die
Köpfe der potenziellen Betroffenen
hineinzuversetzen und darüber
nachzudenken, ob es möglicherweise wichtige Gründe geben kann,
die gegen die Realisierung eines
Projektes sprechen.
Es besteht auch Einigkeit, dass
die Planungsverfahren kürzer
sein sollen. Lassen sich kürzere
Planungsverfahren und mehr
Bürgerbeteiligung miteinander
verbinden?
Prinzipiell widerspricht es sich erst
mal. Genau darin wird die Kunst
bestehen, beides miteinander zu
verbinden. Im Idealfall spart man
später viel Zeit, wenn man in einem
früheren Stadium Bedenken ausräumen kann. Tendenziell ist natürlich
klar: Je mehr Leute man beteiligt,
desto häufiger muss man prinzipiell
damit rechnen, dass auch mehr
Leute etwas sagen. Mit Stuttgart 21
haben wir das Paradebeispiel erlebt,
wie es nicht laufen sollte.
Prof. Dr. Justus Haucap 183
Matthias Heck
»In Deutschland wird zu
viel gemeckert.«
Matthias Heck über den Blick des Kapitalmarktes auf die Akzeptanzdebatte
und die Herausforderungen für den Standort Deutschland.
Entscheidet sich die Zukunft des
Industriestandorts Deutschland
an der Energiewende?
Ja, vor allem in Hinsicht auf die Energiepreise. Wir sehen das momentan
sehr stark in anderen ebenfalls industrialisierten Ländern, in denen die
Energiepreise deutlich niedriger
sind. Das ist ein Problem, das sich
die Politik ernsthaft anschauen muss.
Mit Feinadjustierungen ist es nicht
getan. Man muss grundsätzlich dafür
sorgen, dass die deutsche Industrie
wettbewerbsfähig bleibt.
Was bedeutet die Energiewende
aus volkswirtschaftlicher Sicht?
Zur Person
Matthias Heck ist seit 2010 Senior
Manager bei der australischen
Investmentbank Macquarie. Zuvor
war er Senior Analyst bei Banco
Santander und Vice President bei
Sal. Oppenheim. Der Finanzanalyst
ist Experte für die Energiewirtschaft und verfolgt den Sektor seit
über 12 Jahren. Er bewertet unter
anderem die Auswirkungen sich
verändernder politischer Rahmenbedingungen auf die Unternehmen.
184 INTERVIEWS
Die Energiewende bedeutet ein
erhebliches Risiko für den Industriestandort Deutschland und kann zu
einer beschleunigten Deindustrialisierung führen. Die Politik muss darüber nachdenken, ob es ein schlüssiges Konzept gibt. Meines Erachtens
ist das nicht so. Eine Energiewende
in Deutschland ist völlig sinnlos,
wenn wir in Deutschland Arbeitsplätze verlieren und die Beschäftigten in andere Länder abwandern, in
denen geringere Umweltstandards
gelten. Per saldo könnte die Umwelt
im globalen Kontext stärker belastet
werden. Das ist das Hauptrisiko. Für
einen Politiker, der in einer Legislaturperiode denkt, ist das kein so
drängendes Problem wie für einen
Kraftwerksinvestor, der eine Anlage
mit vierzig Jahren Laufzeit plant.
Grundsätzlich wird in Deutschland zu
viel gemeckert und zu wenig darüber
gesprochen, wie sich alles in Zukunft
weiterentwickeln kann und welche
Perspektiven der Standort hat.
Hat die Politik in diesem Sinne
zu wenig Verständnis für die
Wirtschaft?
Führt die „German Angst“ zu
einer sinkenden Akzeptanz von
Großprojekten?
Das ist meines Erachtens so.
Die Politik muss einen vernünftigen
Plan mit realistischen Annahmen
entwickeln und daraus Handlungen
ableiten, die ein abgestimmtes
Konzept darstellen. Dabei muss
auch sichergestellt werden, dass
bestimmte Industrien, die man in
Deutschland halten möchte, auch
in Deutschland bleiben werden.
Dazu zählt auch die energieintensive Industrie.
Das ist wahrscheinlich richtig. Ich
weiß nicht, ob es wirklich die Angst
an sich ist. Ein wesentlicher Punkt
ist die Unwissenheit der Bevölkerung, verbunden mit Misstrauen.
Nehmen Sie mal die aktuellen Kohlekraftwerksprojekte: Ein Großteil
dieser Projekte sind Ersatzinvestitionen. Damit werden Altanlagen
abgeschafft und per saldo wird CO ²
eingespart. Diese Argumente werden nach meiner Wahrnehmung
in der Bevölkerung nicht richtig aufgenommen.
Macht die Wirtschaft die Voraussetzungen für den Industriestandort ausreichend deutlich?
Würden wir volkswirtschaftlich
besser dastehen, wenn wir offener
und mutiger wären?
Die Bedürfnisse werden sicherlich
von der Energiewirtschaft und den
Verbänden ausreichend artikuliert.
Was mir in der ganzen Diskussion
immer zu kurz kommt, ist die Frage
nach den Chancen, die wir haben.
Es ist eine Hauptaufgabe der Investoren von Großprojekten, dies aktiver zu kommunizieren.
Der Bau eines Kraftwerks führt
natürlich zu einem erheblichen
Beschäftigungseffekt. Nach dem
Bau ist das aber nicht mehr unbedingt der Fall, vor allem wenn es
sich um Ersatzinvestitionen handelt, nach deren Fertigstellung alte
Blöcke abgeschaltet werden. Letzten Endes führen die großen Projekte, zumindest in der Energiewirtschaft, zu einer Rationalisierung.
Tun sie es bisher nicht ausreichend?
Warum richtet sich der Protest
vor allem gegen Infrastrukturvor-
Was erwarten Sie von der Politik?
Historisch betrachtet: ein klares
Nein. In der Vergangenheit ging es
in erster Linie um die Genehmigung.
Es ging darum, eine Unterschrift
unter einen Antrag für Großprojekte
zu bekommen. Man hat in vielen Fällen den Fehler gemacht, dass man
die Bevölkerung nicht stark genug
ins Boot geholt hat. Man hat die
Bevölkerung nicht als Stakeholder
betrachtet, sondern war letzten
Endes auf eine wirtschaftliche Kalkulation fokussiert. So wird es in
Zukunft aber nicht mehr laufen.
Großinvestoren sorgen direkt und
indirekt für Arbeitsplätze. Spielt
das in der öffentlichen Diskussion
noch eine Rolle?
haben und weniger gegen
andere große Investitionen wie
zum Beispiel den Bau einer
neuen Automobilfabrik?
Das hat eine Reihe von Gründen.
Es spielen sicherlich auch Umweltbelastungen und Risiken für die
Bevölkerung eine Rolle. Das ist ein
Unterschied zu Automobilfabriken.
Ich bin kein Ingenieur, aber die
Umweltbelastung durch eine Autofabrik ist offensichtlich eine ganz
andere als die durch Kohlekraftwerke. Es könnte auch damit zusammenhängen, dass die Produkte einer
Autofabrik besser greifbar sind als
die der Energieversorger.
Haben sich vielleicht auch die Prioritäten verschoben, dass die
Bevölkerung Umwelt- und Klimaschutz heute als wichtiger bewertet als Wirtschaftswachstum?
Das ist durchaus denkbar. Seit der
Atomenergiepolitik Mitte der Siebzigerjahre ist das Umweltbewusstsein
auf jeden Fall gestiegen.
In Standort- und Energiedebatten wird gerne schwarz-weiß
gemalt: auf der einen Seite die
Guten wie NGOs und Naturschützer, auf der anderen Seite die
Matthias Heck 185
Bösen wie die „traditionelle“
Energiewirtschaft. Warum ist das
Bild von NGOs positiv, das der
Unternehmen negativ?
Das ist im Wesentlichen eine Vertrauenssache. Eine NGO gilt grundsätzlich als vertrauenswürdig, weil
sie in der Wahrnehmung der Menschen kein kommerzielles Interesse
verfolgt. Das ist ein großer Unterschied zur Energiewirtschaft. Es ist
in der Kommunikation keine leichte
Aufgabe, den Stakeholdern inklusive
der Bevölkerung zu vermitteln, dass
man sich in einer Win-win-Situation
befindet, wie es beispielsweise der
Fall ist, wenn man ein altes, wenig
effizientes Kraftwerk durch ein neues
Möglichkeiten haben wir genug.
Ich bin kein Freud von zusätzlicher
Regulierung oder von Vorschriften.
Die Investoren selbst müssen höchstes Interesse daran haben, von sich
aus mehr Bürgerbeteiligung anzubieten. Da liegt der Ball vor allem bei
den Unternehmen. Man muss die
Bevölkerung früher und proaktiver
einbeziehen, und zwar dann, wenn
man einen Bauantrag stellt. Man
kann die Bevölkerung sicherlich nicht
gleich bei der ersten Idee beteiligen.
Ein Projekt muss schon hinreichend
konkret sein. Es macht aber keinen
Sinn, die Bevölkerung erst dann ins
Boot zu holen, wenn man eine finale
Investitionsentscheidung trifft.
»Man muss die Bevölkerung
früher und proaktiver einbeziehen.«
Kraftwerk ersetzt, damit Arbeitsplätze schafft, die Umwelt schont
und am Ende des Tages daran Geld
verdienen will. Das ist eine schwierige Kommunikation. NGOs haben es
da wesentlich einfacher.
Spätestens seit Stuttgart 21 fordern alle Seiten mehr Bürgerbeteiligung. Sollen bestimmte Instrumente gesetzlich vorgeschrieben
werden?
Nein. Es liegt im Interesse der Investoren, auch ohne gesetzliche Pflicht
eine gesellschaftliche Akzeptanz zu
finden, weil ansonsten wirtschaftliche Risiken entstehen.
Brauchen wir mehr Möglichkeiten
der Bürgerbeteiligung?
186 INTERVIEWS
Sollte die Bevölkerung nur
grundsätzlich über ein Projekt
entscheiden oder auch bei der
konkreten Ausgestaltung einbezogen werden?
Da sollte man ganz unvoreingenommen herangehen. In einem verstärkten Bürgerdialog können sich durchaus interessante Ideen entwickeln.
Man kann sicherlich Projekte auch
modifizieren, wenn es wirtschaftlich
Sinn macht und dadurch die Akzeptanz steigt.
Sie sehen die Unternehmen in
der Pflicht – hat sich diese
Denkweise schon in den Unternehmen durch gesetzt?
Ich denke schon, dass das zunehmend ins Bewusstsein kommt.
Aber das ist ein dynamischer Prozess – vor zwei, drei Jahren hat
man das sicherlich noch anders
eingeschätzt.
Jahrzehntelang galt – vor allem
in Kreisen der Wirtschaft – das
Paradigma: „Wir sorgen für die
Investitionen, die Politik muss
dafür die Rahmenbedingungen
schaffen.“ Wird dieser Anspruch
durch die Forderung nach mehr
Bürgerbeteiligung durchkreuzt?
Das ist eine Grauzone, weil das
Thema Bürgerbeteiligung ja die Rahmenbedingungen verändert, wenn
das Ganze in Gesetze gegossen
wird. Ich sehe Bürgerbeteiligung
mittlerweile als Bestandteil der
wirtschaftlichen Kalkulation von
Unternehmen. Es kostet Unternehmen Geld, wenn Projekte verzögert, Bauzeiten verlängert und Projekte am Ende des Tages nicht
durchgesetzt werden können. Ich
glaube nicht, dass sich an dieser
grundsätzlichen Aufgabenteilung
etwas ändert.
Verlieren Politik und Wirtschaft
durch mehr Bürgerbeteiligung
Handlungsspielraum?
Politik und Wirtschaft gewinnen
durch Bürgerbeteiligung auf jeden
Fall an Akzeptanz. Das ist auch eine
Einstellungsfrage. Man darf sich
bei der Realisierung von Großprojekten nicht an Dingen aufreiben,
die man ohnehin nicht ändern
kann. Es müsste heute eigentlich
jedem klar sein, dass man die
Bevölkerung mit ins Boot holen
muss. Wer das nicht verstanden hat
und sich an dieser Frage schon aufreibt, der wird keinen Erfolg haben.
Man muss das positiv sehen. Es ist
auch eine Chance damit verbun-
den: Man hat nachhaltig geringere
Widerstände, die auch noch auftreten können, wenn ein Projekt schon
im Betrieb ist. Wir sehen das am
Flughafen Frankfurt. Seit die neue
Landebahn in Betrieb genommen
worden ist, haben sich noch einmal
neue Bürgerinitiativen dagegen
formiert. Im Kommunalwahlkampf
forderten einige Kandidaten, dass
die neue Landebahn sogar wieder
stillgelegt wird. Eine stärkere Beteiligung der Bevölkerung muss man
als Chance der langfristigen Risikominimierung sehen.
Widersprechen sich eine Verkürzung von Genehmigungsverfahren und mehr Bürgerbeteiligung?
Es muss zumindest keine Verzögerung geben, wenn man Genehmigungsverfahren und die Bürgerbeteiligung parallel laufen lässt. Ob man
das Ganze insgesamt beschleunigen
kann, das ist jenseits meiner Einschätzungskraft. Es ist sicherlich
wünschenswert, aber es wäre schon
viel gewonnen, wenn man durch eine
erhöhte Bürgerbeteiligung keine Verlängerung der Verfahren hätte.
Wie wird sich mehr Bürgerbeteiligung auf die Unternehmen
auswirken?
Honorieren Kapitalmärkte eine
offenere und transparentere Kommunikation mit der Bevölkerung
bei geplanten Großprojekten?
Das Problem in Deutschland ist,
dass die Planungsprozesse grundsätzlich zu lang sind. Es ist sicherlich
ein Risiko, dass sie sich durch Bürgerbeteiligung noch mal weiter verlängern. Die Herausforderung für
die Unternehmen liegt darin, eine
verstärkte Bürgerbeteiligung parallel
zu einem Genehmigungsverfahren
laufen zu lassen, damit es nicht zu
einer zusätzlichen Verzögerung im
Gesamtprozess kommt.
Das wird keine große Rolle spielen,
weil an den Kapitalmärkten in erster
Linie die Anlagen bewertet werden,
die im Betrieb befindlich sind. Bei
neuen Kraftwerksprojekten zum Beispiel geht es oftmals um Investitionen, die jenseits des Horizonts des
Kapitalmarktes Ergebnisse und
Werte generieren. Von daher wird
das Thema Akzeptanz für Großprojekte den Kapitalmarkt nur am Rande
interessieren.
Wird sich das auf Investitionsentscheidungen auswirken?
Steigt die Akzeptanz, je stärker
Bürger von Projekten wirtschaftlich profitieren?
Dazu habe ich keine eindeutige
Meinung. Es ist sicherlich eine
berechtigte Frage, weil der ganze
Prozess komplizierter wird. Auf der
anderen Seite muss man bei solchen Projekten ja auch immer längerfristig denken. Ich glaube, dass
Akzeptanzprobleme bei Großprojekten durchaus auch in anderen
Ländern auftreten können. Auch
wenn die heute noch nicht so da
sind. Das wird langfristig kein rein
deutsches Phänomen bleiben.
hohe Akzeptanz für Atomkraftwerke.
Diese wird durch niedrige, staatlich
regulierte Strompreise erkauft.
Arbeitsplätze und Aufträge für
Firmen in der Region sind das
eine, die finanzielle Beteiligung
ist das andere. Sind etwa Bürgersolaranlagen und Bürgerwindparks ein erfolgreiches Modell?
In der Bevölkerung besteht eine relativ große Bereitschaft, in solche Anlagen zu investieren und dafür auch
Mittel bereitzustellen. Die Antwort
auf die Frage, ob es gesamtwirtschaftlich die sinnvollste Variante ist,
würde ich davon abhängig machen,
inwieweit eine bundesweite Steuerung stattfindet. Beim Beispiel Solarenergie gab es letztes Jahr einen
Zubau von 7,5 Gigawatt, was ja fast
dem Volumen der abgeschalteten
Kernkraftwerke entspricht. Das ist
sicherlich eine Geschwindigkeit, die
auch zu Problemen führen kann.
Projekte lassen sich auf diesem
Wege wahrscheinlich finanzieren,
aber es ist sicherlich nicht sinnvoll,
das Ganze unkoordiniert „auswuchern“ zu lassen.
Ja, das ist so. Das sieht man beispielsweise in Deutschland an den
Standorten der alten Atomkraftwerke. Vor Ort ist die Akzeptanz
schon relativ groß, weil viele Leute
im Kraftwerk arbeiten und direkt
oder indirekt davon profitieren. Es
geht auch darum, über Steuereinnahmen einen Vorteil für die Bevölkerung herzustellen. Wenn wir über die
deutschen Grenzen hinausblicken,
sehen wir in Frankreich eine recht
Matthias Heck 187
Joachim Herrmann
»Plebiszite bedeuten eben
nicht Willkür.«
Joachim Herrmann über die falsche Scheu vor der direkten Demokratie
sowie erfolgreiche Beispiele für Bürgerbeteiligung.
Ist die eigene Betroffenheit der
ausschlaggebende Grund für Proteste gegen Großprojekte?
Zur Person
Joachim Herrmann ist seit 2007
Bayerischer Staatsminister des
Innern. Als Abgeordneter der CSU
ist er seit 1994 Mitglied des Bayerischen Landtags. Als Staatssekretär
im Staatsministerium für Arbeit und
Sozialordnung, Familie, Frauen und
Gesundheit gehörte er von Oktober
1998 bis September 1999 erstmals
der Bayerischen Staatsregierung an
und fungierte dann von 2003 bis
Oktober 2007 als Vorsitzender der
CSU-Fraktion im Landtag.
188 INTERVIEWS
In der Regel ist die eigene Betroffenheit ein wesentliches Kriterium.
Bei bestimmten Themen spielen
aber auch grundsätzliche Haltungen eine Rolle. Wenn es beispielsweise um Straßenprojekte geht,
gibt es sicherlich einen Teil von Kritikern, die insgesamt dem motorisierten Individualverkehr eher kritisch
gegenüberstehen. Der Mehrzahl
wird es in der Regel aber immer um
die ganz persönliche Betroffenheit
im Hinblick auf den Lärmpegel, die
Veränderung des Landschaftsbildes
oder die Wertminderung von Immobilien gehen.
Ist das nicht egoistisch?
Ja, aber man sollte das nicht verallgemeinern. Es gibt überall Leute, die
Belastungen, beispielsweise durch
Windräder, akzeptieren, genauso wie
es Leute gibt, die vielleicht grundsätzlich für Windräder sind, aber
diese nicht vor der eigenen Haustür
haben wollen.
Apropos Energiewende: Ist
der Bevölkerung bewusst, was
die Energiewende bedeutet?
Vielen Bürgern sind manche Konsequenzen noch nicht restlos bewusst.
Dazu gehören der Umbau der Netzstrukturen mit Überlandleitungen
oder die Notwendigkeit, Reservekapazitäten zu schaffen. In Deutschland verlässt man sich darauf, dass
Strom fließt und dass alles einfach
funktioniert. Wir haben hier seit
Jahrzehnten viel weniger Stromausfälle als in anderen Teilen der Welt
und das ist für die Bürger nahezu
selbstverständlich.
Woran liegt dieses wenig ausgeprägte Bewusstsein?
Ein großes Problem ist, dass die physikalischen Realitäten nicht bekannt
sind. Bei der Diskussion um die Energiewende werden immer nur die
Stromerzeugungsanlagen gesehen.
Über andere Aspekte, zum Beispiel
die Frage, wie das Netz funktioniert,
wie es gesteuert wird und wie kompliziert der Mechanismus ist, dass
bei Strom mehr als bei jeder anderen
Energieform ständig Angebot und
Nachfrage in der Balance gehalten
werden müssen, hat man vielleicht
theoretisch etwas irgendwann in der
neunten Klasse im Physikunterricht
gelernt, aber richtig präsent ist das
bei vielen Menschen nicht.
Denken Sie, dass die Energiewende den Wirtschaftsstandort
Deutschland verändern wird?
In absehbarer Zeit führt die Energiewende sicherlich zu einer zusätzlichen
Verteuerung der Stromversorgung.
Energieeinsparungsmaßnahmen wirken sich ja überwiegend im Bereich
fossiler Energieträger aus, aber der
Strombedarf wird dadurch nicht weniger werden. Auch wenn man in einzelnen Bereichen weniger Strom
braucht, gibt es immer andere Bereiche, in denen man wieder mehr
Strom benötigt. Deswegen wird das
insgesamt eine Verteuerung nach
sich ziehen.
Ist der Industriestandort in
Gefahr?
Wenn sich der Strom verteuert, spielt
das im innereuropäischen Wettbewerb eine gewisse Rolle, zumal sich
die Beteiligung eines Großteils des
übrigen Europas an der Energiewende ja bislang in Grenzen hält.
Sie haben gesagt, dass die Energiewende zu langsam vorangeht.
Was fordern Sie konkret?
Wir brauchen auf jeden Fall weitere
Reservekapazitäten. Momentan sind
wir sehr stark auf den europäischen
Verbund angewiesen, was grundsätzlich in Ordnung ist, dennoch
müssen wir aufpassen, dass die
Versorgung insgesamt nicht labiler
wird. Daher brauchen wir weitere
Investitionen. Im Moment scheitert
die Realisierung von Investitionen,
beispielsweise im Bereich von Gaskraftwerken, nicht an der Akzeptanz von Großprojekten, sondern
daran, dass sich kein Investor findet,
weil die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen offensichtlich nicht
gegeben sind.
Sie haben das Thema Akzeptanz
gerade angesprochen. In diesem Kontext sprechen Sie vom
„Aktivbürger“. Was unterscheidet ihn vom viel beschworenen
„Wutbürger“?
Der „Wutbürger“ ist ja ein Negativbegriff, der falsche Schlussfolgerungen impliziert. Denn bürgerliches
Engagement ist nicht negativ, sondern in einer demokratischen Gesellschaft wie der unseren absolut wünschenswert. Deswegen brauchen wir
„Aktivbürger“, die sich konstruktiv in
die Gesellschaft einbringen und
dabei nicht nur ihre Wut äußern, sondern aktiv nach Lösungen suchen.
Damit sich die Bürger in Zukunft
auch mehr an Planungsprozessen
von Großprojekten beteiligen, müssen wir Verfahren entwickeln, in die
sich die Bürger in möglichst großer
Zahl aktiv einbringen können.
Was sollte sich konkret ändern,
damit mehr Bürgerbeteiligung
möglich wird?
Im Moment wird in Berlin daran
gearbeitet, die Planfeststellungsverfahren zu vereinheitlichen. Die Verfahren sind zwar alle ähnlich, aber
gerade in Detailvorschriften ist das
eine nach dem Eisenbahnrecht, das
andere nach dem Fernstraßenrecht
und das dritte wieder nach einem
ganz anderen Recht geregelt. Die
verschiedenen Detailvorschriften
erschweren auch die Verständlichkeit der Verfahren für die Bürger.
Von daher ist eine Angleichung sehr
sinnvoll. Bei Projekten, die die
öffentliche Hand selbst baut, muss
sie besonders vorbildlich hinsichtlich
der Bürgerbeteiligung agieren.
Zumal es bei Bauvorhaben der
öffentlichen Hand neben der Frage
der Betroffenheit durch das Projekt
auch immer noch gleichzeitig um
die Verwendung von Steuergeldern
geht. Damit ist bei einem Projekt,
das die öffentliche Hand realisiert,
Joachim Herrmann 189
ohnehin eine gewisse Betroffenheit
aller Bürger gegeben. Das ist der
wesentliche Unterschied zu einer
privaten Investition, bei der es „nur“
um persönliche Betroffenheit geht,
aber eben nicht um den Einsatz von
Steuergeldern. Wir sollten aber
gewisse Mindeststandards auch bei
privaten Investitionen fixieren.
Tun Unternehmen in diesem
Bereich noch zu wenig?
Sehr viele Investoren werben auch
heute schon für Akzeptanz und versuchen bei Aspekten, bei denen es
noch hakt, entsprechend nachzubessern. Heute ist auch die frühzeitige
Offenlegung von Plänen schon sehr
verbreiteter Usus. Es gibt aber auch
Investoren, die in diesem Punkt noch
erheblichen Nachholbedarf haben.
Ich bin mir aber sicher, dass die
Mehrzahl der Unternehmen langfristig einsehen wird, dass es sinnvoll
ist, aktiv den Dialog zu suchen, und
zwar schon aus Eigeninteresse. Es
ist wesentlich Erfolg versprechender,
wenn Unternehmen selbst auf die
Bürger zugehen, anstatt das der
Genehmigungsbehörde oder der
Kommune vor Ort zu überlassen.
Denn es ist viel glaubwürdiger, wenn
der Investor selbst auf die Bühne
tritt und den Kontakt zu betroffenen
Bürgern oder der Gemeinde sucht,
als wenn er das anderen überlässt.
In welcher Form sollten Bürger
bei Großprojekten einbezogen
werden?
Das ist je nach Projekt sehr unterschiedlich. Wir haben in Bayern eine
sehr starke Tradition von Volksentscheiden auf Landesebene und von
Bürgerentscheiden auf kommunaler
Ebene. Es gibt viele Projekte, wie
zum Beispiel den Bau einer neuen
190 INTERVIEWS
Stadthalle, bei denen es sinnvoll ist,
wenn die Bürger vor Ort grundsätzlich darüber entscheiden können, ob
das Projekt überhaupt gewollt ist. In
solchen Fällen sollten die Bürger in
einer ganz frühen Phase eingebunden werden, noch bevor man in
einem zweiten Schritt über den richtigen Standort, das architektonische
Konzept oder Ähnliches diskutiert.
Bei der Frage des Wie sollten die
Bürger dann ebenso eingebunden
werden. Je transparenter man das
gestaltet und je offener man die
Bürger einbezieht, desto größer ist
dann anschließend die Akzeptanz.
Es gibt aber auch Projekte, bei
denen es nicht um das Ob, sondern
nur um das Wie geht, wie beispielsweise beim Ausbau der A 3 zwischen Würzburg und Nürnberg.
Denn das Projekt ist vom Bundestag beschlossen worden, daher ist
am Ob nicht mehr zu rütteln. Vor
allem kann man es nicht von der
Zustimmung einzelner Gemeinden
abhängig machen.
Wie kann man die Bürger beim
Wie einbeziehen?
Die Stadt Würzburg ist dafür ein sehr
gutes Beispiel. Beim sechsspurigen
Ausbau der A3 wurde in Würzburg
eine Lenkungsgruppe aus Vertretern
des bayerischen Innenministeriums,
des Bundesverkehrsministeriums und
der Stadt Würzburg eingerichtet.
Die Bürger wurden im Rahmen des
Lenkungsverfahrens bei der Trassenfindung über das Internet, Informationsrunden im Stadtrat und Bürgerversammlungen vor Ort eingebunden.
Das hat für sehr große Akzeptanz
gesorgt, und zwar interessanterweise
nicht nur bei den Menschen, die aktiv
an Veranstaltungen teilgenommen
haben, sondern auch bei denjenigen,
die nicht mitgemacht haben. Allein
das Angebot hatte schon eine
gewisse Wirkung und hat Ressentiments abgebaut. Im Ergebnis hat die
Lenkungsgruppe einen einvernehmlichen Empfehlungsbeschluss verabschiedet, der einstimmig im Stadtrat
angenommen wurde. Das ist ein
beachtliches Ergebnis, wenn man die
Vielzahl von unterschiedlichen Meinungen auch in solchen kommunalen
Gremien sieht.
Hat dieser Prozess die Umsetzung
des Projekts verzögert?
Natürlich kosten Dialogprozesse viel
Zeit. Aber dieser Zeitaufwand lohnt
sich. Wenn man einen möglichst
breiten Konsens erzielt, ist das nicht
nur aus demokratischen Gesichtspunkten erstrebenswert, sondern es
kann unter dem Strich sogar einen
Effizienzgewinn in Hinblick auf die
Verfahrensdauer bedeuten. Wenn
man ein Projekt ohne Beteiligung auf
der grünen Wiese durchboxt, ist das
Risiko von Demonstrationen oder
Klagewellen und damit von Verzögerungen erheblich größer.
In Bayern gibt es im Vergleich zu
anderen Bundesländern eine
sehr aktive direkte Demokratie.
Wie kommt das?
Wir haben in Bayern in der Tat die
mit Abstand größte Praxis von Volksentscheiden auf Landesebene,
obwohl diese auch in den Verfassungen der anderen Länder vorgesehen
sind. Es gibt Länder, in denen es
noch nie einen Volksentscheid gegeben hat, obwohl dieser auch in der
Verfassung steht. Woran das liegt,
weiß ich auch nicht.
Viele fürchten eine Blockade von
Großprojekten durch Bürgerent-
scheide. Können Sie diese Bedenken nachvollziehen?
Am Anfang gab es auch in meiner
Partei Bedenken, insbesondere im
Bezug auf die Einführung der kommunalen Bürgerentscheide im Jahr 1995.
In der Praxis sieht man aber, dass Bürgerentscheide keineswegs pauschal
zur Verhinderung von Projekten führen, denn in der Gesamtsumme gibt
es etwa genauso viele Bürgerentscheide, die sich am Schluss mehrheitlich für ein Projekt ausgesprochen haben, wie solche, die gegen
ein Projekt votiert haben. Das weitverbreitete Bild der „Dagegen-Republik“ stimmt also nicht, denn es gibt
eine Vielzahl von Beispielen, bei
denen sich eine demokratische Mehrheit von Bürgern für ein Projekt ausgesprochen hat.
Was spricht für Bürgerentscheide?
Meiner Erfahrung nach ist die Akzeptanz nach einem Bürgerentscheid
größer, als wenn „nur“ Mandatsträger etwas beschließen. Natürlich
gibt es auch negative Ausnahmen,
wie den Fall des Lindauer Bahnhofs,
über den es in kurzer Zeit zwei
gegensätzliche Bürgerentscheide
gegeben hat. Dort hat nach einem
halben Jahr die Mehrheit des Volkes
das Gegenteil von dem beschlossen,
was die Bürger ein halbes Jahr zuvor
bestimmt hatten. Aber das ist der
absolute Ausnahmefall. Ansonsten
zeigt die Erfahrung, dass die Bürger
Entscheidungen akzeptieren, und
zwar unabhängig davon, wie knapp
die Mehrheit war, wenn etwas in
einem Bürgerentscheid entschieden
worden ist. Neben der Akzeptanz für
ein konkretes Projekt ist direkte
Demokratie auch insgesamt für die
Entwicklung der Demokratie unseres
Landes in den nächsten Jahren wich-
tig, auch vor dem Hintergrund der
modernen Informationstechniken.
Schwächen wir damit die repräsentative Demokratie?
Wir sollten uns von dieser sehr theoretischen Diskussion über das
konstruierte Gegeneinander von
repräsentativer und direkter Demokratie lösen. Parlamentarier, Staatsrechtler und Politologen stellen das
oft als unvereinbare Gegensätze
dar und prognostizieren die „Aushöhlung“ der repräsentativen
Demokratie, wenn mehr unmittel-
die öffentliche Hand. Wenn ein
Investor ein Grundstück erworben
oder sich mit dem Grundstückseigentümer geeinigt hat, auf diesem
Grundstück ein Projekt zu realisieren, kann er dieses nicht so einfach
um zwei Kilometer verschieben,
wenn sich jemand negativ betroffen fühlt. Ein privater Investor trifft
die Entscheidungen über das Wo
und Wie allein, und das muss natürlich grundsätzlich auch möglich
sein. Unsere Gesetze sind schließlich so formuliert, dass ein Investor,
wenn er alle Voraussetzungen
»Das weitverbreitete
Bild der ›Dagegen-Republik‹
stimmt nicht.«
bare Plebiszite ermöglicht werden.
Ich halte das für falsch. Abgesehen
davon entsprechen Plebiszite dem
Grundgedanken der Demokratie.
Das bedeutet nicht, dass wir wieder zur attischen Demokratie
zurückkehren sollten, schon allein
deswegen nicht, weil die repräsentative Demokratie ja akzeptiert ist
und die meisten Bürger nicht jede
Woche zum Bürgerentscheid gerufen werden wollen. Aber es gibt
eben ab und zu bestimmte Themen, bei denen Bürger selbst entscheiden wollen. Und dann sollte
dies auch möglich sein.
erfüllt, einen Rechtsanspruch auf
die Genehmigung hat. Darüber
kann sich auch ein Bürgerentscheid
nicht hinwegsetzen. Es ist wichtig,
dass man diese Spielregeln des
Rechtsstaats deutlich macht. Plebiszite bedeuten eben nicht Willkür
von Mehrheitsentscheidungen,
sondern Plebiszite haben sich im
Rahmen der geltenden Rechtsordnung zu halten.
Wie weit kann die direkte Demokratie bei privaten Investitionen
gehen?
Private Investoren haben im Hinblick auf die Grundstücksverfügbarkeit natürlich weniger Spielraum als
Joachim Herrmann 191
Jochen Homann
»So viel Bürgerbeteiligung hat
es noch nie gegeben.«
Jochen Homann über neue Wege der Bürgerbeteiligung beim
Netzausbau und die Sprache der Behörden.
Die Zustimmung der Bevölkerung
zur Energiewende ist groß, aber
die Umsetzung stößt auf Widerstand. Ist das ein Widerspruch?
Solange Projekte abstrakt sind,
haben Bürger meist wenige Einwände. Das ändert sich, sobald es
konkret wird. Das sieht man auch
beim Netzausbau, denn in der ersten Runde der Konsultation über die
Übertragungsnetze sind nur rund
2000 Bürgereingaben eingegangen,
was, weniger war, als viele erwartet
hatten. Das liegt daran, dass die Projekte noch nicht konkret genug sind
und vor allem der genaue Verlauf der
Leitungen noch nicht feststeht.
Sobald es um konkrete Leitungsverläufe geht, wird die Beteiligung
sicherlich stark zunehmen.
Zur Person
Jochen Homann ist seit März 2012
Präsident der Bundesnetzagentur.
Der Diplom-Volkswirt war zuvor
lange Jahre in verschiedenen Funktionen im Bundeskanzleramt und
im Bundeswirtschaftsministerium
tätig, unter anderem als Abteilungsleiter für Wirtschaftspolitik
sowie anschließend für vier Jahre
als beamteter Staatssekretär.
192 INTERVIEWS
Bürgerinitiativen fordern, in sensiblen Gebieten Erdkabel zu
verlegen. Sind Erdkabel ein Mittel für mehr Akzeptanz?
Erdkabel sollten dann genutzt werden, wenn es aus umweltspezifischer und wirtschaftlicher Sicht sinnvoll ist. Unterirdische Leitungen sind
teurer als Freileitungen und technisch noch nicht völlig ausgereift.
Allerdings muss man neben den reinen Investitionskosten auch die
„Akzeptanz-Kosten“ betrachten, die
schon bei kleinsten Verzögerungen
beim Netzausbau entstehen. Wenn
man alle Kosten addiert, kommt man
gelegentlich zu anderen Ergebnissen – im Einzelfall kann also auch ein
Erdkabel die wirtschaftlichere Alternative sein.
Rechtfertigt schnellere Akzeptanz
auch höhere Kosten?
Höhere Kosten sind sicherlich nicht
bei jeder Trasse gerechtfertigt, aber
im Einzelfall schon. Die Südwestkuppelleitung beispielsweise muss
bis 2015 fertig gestellt werden –
dann geht das Kernkraftwerk Grafenrheinfeld vom Netz. In diesem
Fall kann man sich keine Verzögerungen leisten, sondern es ist ein
ganz besonders hohes Tempo
gefragt – und Tempo kostet gelegentlich auch Geld.
Insbesondere Landwirte fühlen
sich durch den Netzausbau
benachteiligt und fordern
höhere Entschädigungen. Ist
das gerechtfertigt?
Natürlich müssen Grundbesitzer entschädigt werden – allerdings häufig
nicht in dem Umfang, wie sie es
gerne hätten. Einige haben die Vor-
stellung, dass sie jährlich eine Rendite ähnlich wie die Netzbetreiber
erhalten. Das halte ich für unangemessen, insbesondere weil es im
Vergleich zu anderen Entschädigungen nicht gerechtfertigt wäre.
Möglich wäre aus meiner Sicht eine
Revisionsklausel, sodass man nach
einigen Jahren überprüft, ob es
Nachbesserungsbedarf gibt.
Abgesehen von Entschädigungen – denken Sie, dass finanzielle Beteiligungen an Projekten
sinnvoll sind?
Ich bin dafür, dass Bürger nicht nur
mit Belastungen durch den Netzausbau konfrontiert werden, sondern auch die Chance bekommen,
an den Erträgen teilzuhaben. Dazu
gibt es verschiedene Wege und
erste Modelle. Es gibt zum Beispiel
Fonds, die sich an Übertragungsnetzen beteiligen. Das ist ein gutes
Modell, zum einen, weil es sicherlich die Akzeptanz steigern kann,
und zum anderen weil man für den
Netzausbau viel Kapital braucht.
Neben Widerständen gegen konkrete Stromleitungen gibt es auch
Zweifel an den Dimensionen des
Netzausbaus.
Dem Entwurf des Netzentwicklungsplans liegt eine im Detail ausgearbeitete Vorstellung darüber zugrunde, wie der Strombedarf und
der Strommix des Jahres 2022 aussehen sollen. Diese Grundvorstellung
ist nicht vom Himmel gefallen, sondern wurde unter anderem mit
Umweltverbänden und den Bundesländern erarbeitet. Deswegen wundere ich mich über derlei Kritikpunkte, insbesondere wenn sie von
denjenigen stammen, die bei der
Ausarbeitung des Szenariorahmens
mitgewirkt und dem Ergebnis zugestimmt haben und jetzt plötzlich
diese Grundlage wieder infrage stellen. Es ist aber wichtig zu wissen,
dass sich dieser Beteiligungsprozess
jährlich wiederholt und Anpassungen möglich sind.
Ganz allgemein gefragt: Wie
geht es aus Ihrer Sicht mit dem
Netzausbau voran?
Bei den laufenden Projekten, die
schon vor der Energiewende
beschlossen wurden, kommen wir
leider nur relativ langsam voran. Ein
Grund ist sicherlich, dass die Planungs- und Genehmigungsverfahren
auf Länderebene liegen und oft verschiedene Behörden aus mehreren
Ländern beteiligt sind. Das könnte
beim Netzausbau zu Problemen führen, denn wir brauchen Leitungen
von Nord nach Süd, die bis zu fünf
Bundesländer durchqueren. Man
muss den Ländern gar nichts Böses
unterstellen, um zu erwarten, dass
es bei der Abstimmung zwischen
fünf Bundesländern zu Koordinierungsproblemen und Zeitverzögerungen kommt. Die Frage steht noch
im Raum, ob es gelingt, die Länder
davon zu überzeugen, die Zuständigkeit für diese Projekte an den
Bund abzugeben. Wir plädieren
dafür, dass diese Projekte auf Bundesebene geplant werden.
Wie verhalten sich NGOs im Rahmen des Netzausbaus?
Die NGOs haben – jedenfalls auf
Verbandsebene – verstanden, dass
die Integration der erneuerbaren
Energien und damit die Energiewende nicht ohne neue Netze geht.
Das bedeutet aber nicht, dass die
Gruppen vor Ort die konkreten Projekte auch unterstützen. Dieses
Phänomen gibt es bei den NGOs
genauso wie bei Parteien, denn
wenn ein Parteivorstand den Netzausbau unterstützt, heißt das noch
lange nicht, dass der parteigleiche
Jochen Homann 193
Bürgermeister vor Ort der gleichen
Meinung ist.
Haben NGOs heute eine größere
Schlagkraft?
NGOs haben deutlich mehr finanzielle Unterstützung als früher, das
sieht man unter anderem an den
zahlreichen Gutachten, die im Auftrag von NGOs erstellt werden. Zum
anderen vermutet man bei NGOs,
dass sie etwas Gutes tun. Damit
haben sie automatisch eine bessere
Position als die Industrie, der nur
egoistische Motive unterstellt werden. Meine persönliche Erfahrung
ist, dass es bei den NGOs viele sehr
sachkundige Experten gibt und
dass sich das Gesprächsklima sehr
positiv entwickelt hat.
Spielt Ideologie in der Diskussion mit NGOs noch eine Rolle?
Als Staatssekretär im Wirtschaftsministerium habe ich immer den Kontakt zu den Umweltorganisationen
gesucht, um ihre Argumente kennenzulernen. Bei einem meiner ersten Besuche wurde ich noch als Vertreter des „stromindustriellen
Komplexes“ angekündigt. Das war
in meinen Augen Ideologie. Das hat
sich aber inzwischen verändert –
heute zeigen alle Seiten viel mehr
Gesprächsbereitschaft.
Welcher Punkt kommt bei der
Diskussion der Energiewende
zu kurz?
Man sollte die Energiewende als
Ganzes im Auge behalten, statt
immer nur einzelne Bausteine zu
diskutieren, wie das EEG oder den
Netzausbau. Dazu gehört, dass man
vollständige Informationen vermittelt – und zwar ehrlich. Bei konträren Auffassungen muss man offen
194 INTERVIEWS
sagen, was technisch machbar ist
und was es kostet. Das gehört zum
fairen Umgang miteinander.
Welche Rolle werden konventionelle Energien in Zukunft
spielen?
Bis zum Jahr 2050 benötigen wir
neben den erneuerbaren auch die
konventionellen Energieträger, um
die Schwankungen von Wind und
Sonne ausgleichen zu können. Deswegen muss die Strategie sein,
dass man für eine bestimmte Zeit
noch Gas und Kohle als Back-upKapazitäten vorhält, bis die Speichertechnologie ausgereift ist. An
dieser Stelle können wir uns auch
keine Experimente erlauben, das
wäre mit Blick auf die Versorgungssicherheit zu riskant.
Ist es ein Teil der Wunschvorstellung bei der Energiewende, dass
man die konventionellen Energieträger abschaltet und sofort
„die neue, heile Welt“ hat?
Teilweise gibt es diese Illusion. Bei
der Mehrheit der Verantwortlichen
in den verschiedenen Gruppierungen gibt es aber ein großes Problembewusstsein. Das sieht man
auch an den zahlreichen und intensiven Diskussionen über Kapazitätsmechanismen.
Sie befürworten Vergünstigungen für die energieintensive
Industrie – viele empfinden sie
als einseitige Privilegierung der
Wirtschaft. Was halten Sie von
diesem Argument?
Es ist gefährlich, aus der Energiewende eine Verteilungsdiskussion
zu machen. Es gibt eine große
Einigkeit darüber, dass die energieintensiven Branchen – soweit sie
im internationalen Wettbewerb stehen – entlastet werden müssen. Die
Politik kann sich nicht jedes einzelne Unternehmen anschauen und
im Einzelfall entscheiden. Deswegen pauschaliert man und legt
Grenzwerte fest – zur Freude des
einen, zum Leid des anderen. Man
muss in Kauf nehmen, dass einige
dies als ungerecht empfinden. Die
Alternative wäre ein bürokratischer
Moloch.
Ist die Energiewende auch eine
Chance, eine internationale Vorreiterrolle einzunehmen?
Ja, die Energiewende kann auch ein
Stück weit Blaupause sein. Ausländische Investoren erkundigen sich
bei mir nach der Energiewende. Sie
sagen: „Lass die Deutschen mal
machen und wenn es klappt, ist es
auch für uns interessant.“ Über eine
internationale Vorbildrolle hinaus,
kann die Energiewende aber auch
eine Versöhnungsformel für die
Gesellschaft finden, sofern sie nicht
zerredet wird und nicht in Verteilungsdiskussionen ausartet. Es ist ja
kein Zufall, dass die Energiewende
eine so breite Zustimmung erfährt –
denn eine große Mehrheit befürwortet ja, dass man aus einer Risikotechnologie aus und in eine
Technologie einsteigt, die uns auch
ein Stück weit unabhängiger von
Dritten macht.
Abgesehen von der Energiewende – hat die Akzeptanz für
Großprojekte insgesamt nachgelassen?
Ich denke nicht, dass die Akzeptanz
insgesamt nachgelassen hat – dennoch ist die Realisierung von Großprojekten an vielen Stellen schwieriger geworden. Das ist eine
Entwicklung, die auch von den
Medien gefördert wurde.
Verzögert Bürgerbeteiligung
die Verfahren?
sein, sich intensiv mit dem Thema
zu beschäftigen.
Kommen wir zur Bürgerbeteiligung: Wie schätzen Sie die Verfahren ein, die beim Netzausbau
angewendet werden?
Nein, wenn sie zum richtigen Zeitpunkt stattfindet, führt sie schlimmstenfalls nicht zum Schaden, aber
bestenfalls zu einer Beschleunigung
der Verfahren.
Oft scheitert Bürgerbeteiligung
an schlechter Kommunikation und
unverständlichen Unterlagen.
Wir stecken noch mitten im Prozess.
Aber eines steht sicherlich jetzt
schon fest: So viel Bürgerbeteiligung hat es noch nie bei einem Infrastrukturprojekt gegeben. Vom ersten Tag an bestanden Transparenz
und Möglichkeiten für eine Bürgerbeteiligung, in der Diskussion,
sowohl über die Energieszenarien
der Zukunft als auch über den Netzentwicklungsplan der Netzbetreiber.
Gibt es schon erste Erfolge?
Es zahlt sich jetzt schon aus, dass
wir frühzeitig den Dialog mit Stakeholdern gesucht haben. Wir haben
sehr früh Methodenkonferenzen
durchgeführt, bei denen auch verschiedenste technische Aspekte
wie Erdkabel oder GleichstromÜbertragung diskutiert wurden.
Damit wurden „geerdet“ und wurden Akzeptanzbarrieren für den
Prozess vermieden. Das könnte vorbildlich auch für andere Verfahren
und Großprojekte sein.
Zu welchem Zeitpunkt sollte
Bürgerbeteiligung erfolgen?
Wenn ein Vorstandsvorsitzender
eines Energieerzeugers nachts
von einem neuen Kraftwerk träumt,
dann ist das sicherlich noch nicht
der richtige Zeitpunkt. Aber im
Ernst: Das Projekt darf nur so weit
fortgeschritten sein, dass offene
Fragen und Themen noch angesprochen werden können und nicht
jedes Detail bereits in Stein gemeißelt ist.
Wie schätzen Sie die Möglichkeiten von Online-Beteiligung?
Die erste Runde der Konsultationen
beim Netzentwicklungsplan hat ja
im Wesentlichen online stattgefunden. Das ist heute auch notwendig.
Online-Beteiligung allein ist allerdings nicht ausreichend, weil man
dadurch viele Menschen nicht
erreicht. Deswegen haben wir jetzt
auch eine Telefon-Hotline geschaltet und führen in der nächsten
Runde in sechs verschiedenen Städten Veranstaltungen durch. Die
Beteiligung vor Ort ist vor allem
wichtig, um die Menschen in der Fläche zu erreichen.
Wo ist die Grenze von Bürgerbeteiligung?
Wir können in den Konsultationsverfahren nicht jeden Einwand berücksichtigen, weil es teilweise auch
gegensätzliche Positionen gibt.
Unser Ehrgeiz ist es, dass jeder Bürger Informationen darüber erhält,
warum bestimmte Dinge gemacht
und andere Dinge nicht gemacht
werden. Transparenz heißt zuvorderst, dass alle vorliegenden Informationen umfassend dem Bürger
zur Verfügung gestellt werden.
Dafür haben wir eine eigene Website eingerichtet, auf der alles
abgerufen werden kann. Das sind
Hunderte von Seiten und es ist auch
mühsam, alles zu sichten oder zu
lesen. Das ist die andere Seite von
Bürgerbeteiligung: Man muss bereit
Das Basta-Argument erstickt alles.
Was wollen Sie einem Ingenieur
antworten, der schlicht sagt: „Das
geht technisch aber nicht.“? Deshalb lassen wir unsere Veranstaltungen auch durch externe Moderatoren leiten. Sie sorgen dafür, dass
die Bürger wirklich zu Wort kommen
und nicht durch Fachwissen abgebügelt werden.
Ist es denn mit der Einbindung
von Externen getan?
Nein. Wir legen grundsätzlich Wert
darauf, dass alle Informationen und
Argumente verständlich und nachvollziehbar aufgearbeitet werden.
Wir müssen diese komplizierten
Zusammenhänge, die nur wenige
Menschen wirklich bis ins letzte
Detail verstehen, in eine bürgernahe
Sprache übersetzen. Das ist eine
große und ungewohnte Aufgabe für
eine Behörde.
Brauchen Behörden dazu auch
neue Qualifikationen?
Ja. Ich brauche kommunikative
Leute, die die Sprache der Menschen
sprechen, die Argumente aufnehmen, damit umgehen können und
nicht mit einem Obrigkeitston auftreten. Der Umgang miteinander ist
ganz wichtig, sonst können wir das
Ganze vergessen und am Ende heißt
es dann wieder: „Typisch Behörde.“
Jochen Homann 195
Dr. Volker Kefer
»Wir müssen Argumentationsketten deutlich machen.«
Dr. Volker Kefer über Lehren aus Stuttgart 21 und die Voraussetzungen
erfolgreicher und zielgruppengerechter Kommunikation.
Hat Stuttgart 21 den Blick auf
die Auseinandersetzung um
Großprojekte verändert?
Stuttgart hat gezeigt, dass sich auch
dann Bürgerprotest regen kann, nachdem alle vorgeschriebenen Verfahren
durchlaufen worden sind. Auch ein
vorliegender Planfeststellungsbescheid war keine Gewähr dafür, dass
es keinen Protest mehr gab.
Warum haben die Proteste gegen
Stuttgart 21 so eine Dimension
angenommen?
Zur Person
Dr. Volker Kefer ist seit September
2009 Vorstand Technik, Systemverbund und Dienstleistungen der
Deutschen Bahn AG und der DB
Mobility Logistics AG sowie seit März
2010 Vorstand Infrastruktur bei der
Deutschen Bahn AG. Der studierte
Ingenieur ist nach mehrjähriger
Tätigkeit im Siemens-Konzern seit
2006 bei der Deutschen Bahn tätig
und war bis September 2009 Vorstandsvorsitzender der DB Netz AG.
Im Jahr 2010 vertrat er die Deutsche
Bahn AG bei der Schlichtung zu
Stuttgart 21.
196 INTERVIEWS
Da gab es eine Überlagerung von
vielen Einflussfaktoren. Es gab im
Vorfeld der Landtagswahl eine parteipolitische Interessenlage, die
mit Sicherheit ausgestrahlt hat.
Auch der Unwille in der Bevölkerung bezüglich der Vorgehensweisen bei diesem Projekt hat eine
Rolle gespielt. Der Hintergrund der
Protestbewegung ist also wahrscheinlich sehr breit gelagert. Fakt
ist, dass es in Stuttgart möglich
war, eine solche Protestbewegung
zu initiieren. Daran sollte man sich
auch bei zukünftigen Projekten orientieren, denn was in Stuttgart
möglich ist, kann auch bei anderen
Projekten passieren. Im Rheintal
zum Beispiel haben sich zahlreiche
Anwohner in Bürgerinitiativen organisiert, um mit Vehemenz für ihre
Interessen zu streiten.
Hat Stuttgart 21 also auf andere
Infrastrukturprojekte abgefärbt?
Im Rheintal gibt es die Proteste
schon deutlich länger, aber natürlich haben die Menschen dort die
Geschehnisse in Stuttgart beobachtet und ihre Schlüsse daraus gezogen. Die sozialen Netzwerke wirken
dabei wie ein Katalysator.
Sie haben an der Schlichtung zu
Stuttgart 21 teilgenommen. Was
sind Ihre Schlüsselerkenntnisse?
Bis zur Schlichtung waren die Diskussionen eher schlaglichtartig.
Eine Behauptung reihte sich an die
andere. Während der Schlichtung
hatten wird die Gelegenheit, die
einzelnen Themen im Detail auszudiskutieren. Dieses Ausdiskutieren
zeigt dann, bis wohin Argumente
reichen und ab wann man in eine
Kontroverse gerät. Die SchlaglichtStatements, die man vorher in der
Öffentlichkeit gefunden hat, haben
bei der Schlichtung nicht mehr ausgereicht, sondern man musste Diskussionen im Detail führen und die
gesamten Argumentationsketten
bringen. Dadurch konnten die
Zuschauer beurteilen, wie tragfähig
die jeweiligen Positionen sind. Ein
weiterer großer Vorteil der Schlichtung zu Stuttgart 21 war, dass
Befürworter sowie Gegner, und zwar
jeder Couleur, am gleichen Tisch
saßen. Da kommen wirklich alle
erdenklichen Aspekte zusammen
und natürlich muss man sich mit
allen auseinandersetzen.
Übertragen auf die Energiewende:
Müssen schwierige Themen
immer in einen größeren Kontext
gestellt werden?
Richtig, denn wenn sich Leute eine
Meinung bilden sollen, dann müssen
sie das möglichst in Kenntnis aller
Umstände tun. Bezogen auf die
Energiewende heißt das: Die Bevölkerung muss begreifen, wofür die
Energiewende gut ist, wie sie durchgeführt werden soll und welche Folgen sie hat.
Welche Rolle spielen dabei die
einzelnen Akteure?
Wir haben in solchen Diskussionen,
egal ob bei Stuttgart 21 oder bei der
Energiewende, immer ähnliche Beteiligte, nicht in persona, aber in der
Institution. Diese Beteiligten haben
jeweils ihre wohlverstandenen eigenen Interessen. Dabei setzt die Politik zum Teil andere Prioritäten als die
Industrie, die Umweltverbände wiederum andere als die Wirtschaft.
Und alle sollten auch möglichst ihre
Interessen vertreten, denn dafür wurden sie gewählt, bestimmt oder eingestellt. Wovon ich nichts halte, ist,
wenn die Industrie die Rolle der Politik und umgekehrt die Politik die
Rolle der Industrie zu übernehmen
versucht. Jeder sollte seine Rolle kennen und wahrnehmen. Die Politik ist
im großen Rahmen für die gesellschaftliche Meinungsbildung, die
Ausbildung der politischen Kultur
und für die Parteien zuständig. Die
Umweltverbände kämpfen für die
Interessen ihrer Klientel und versuchen, im Vorfeld in ihrem Sinne Einfluss auf die politischen Entscheider
zu nehmen. Die endgültige Entscheidung über die Energiewende hat die
Politik getroffen. Ihre Aufgabe ist es,
den Bürgerinnen und Bürgern zu vermitteln, warum. Aufgabe der Industrie ist es, aufzuzeigen, was technisch
möglich ist und welche Kosten mit
der Umsetzung verbunden sind.
Es gibt einen Vorschlag, dass
Projektbetreiber zwei Prozent der
Projektmittel NGOs und Bürgerinitiativen für die Erstellung von
Gutachten oder für Kommunikationsmaßnahmen zur Verfügung
stellen, um Waffengleichheit herzustellen. Was halten Sie davon?
Solche Fragen muss die Politik entscheiden. Sie hat ja auch ein Interesse daran, Diskussionen möglichst
ausgewogen stattfinden zu lassen.
Wie viel Geld das erfordert, muss
man individuell entscheiden, denn
das hängt ein Stück weit von der
Komplexität des Themas ab. Bezahlen
wird das am Ende immer die Allgemeinheit. Ein Stück mehr an Demokratie kann also durchaus auch seinen
Preis haben. Im Verhältnis zu den Kosten insbesondere von großen Infrastrukturprojekten liegt dieser Preis
aber eher im Promille-Bereich.
Sind die Projektgegner im Hinblick auf Kommunikation und
Kampagnenfähigkeit den Vorhabenträgern teilweise voraus?
Sie sind mit sehr viel Enthusiasmus
und Leidenschaft dabei und häufig
erstaunlich gut informiert. Ein intensiver Austausch verlangt jedoch
nach inhaltlichem Tiefgang in der
Argumentation. Die Kampagnen von
NGOs oder Bürgerinitiativen führen
Dr. Volker Kefer 197
aber oft weg von einer sachlichen
Auseinandersetzung. Daher würde
ich mir wünschen, dass Inhalte und
Sachargumente noch mehr in den
Vordergrund treten.
Wie sollte man die Diskussion
mit Projektgegnern in Zukunft
führen?
Meine Empfehlung wäre, eine offene
Diskussion in der Meinungsbildungsphase zuzulassen, diese möglichst
zu einem breiten Konsens zu führen, bevor endgültige Entscheidungen getroffen sind. Das bedeutet
auch, Verhandlungsmasse zu haben,
und diese Verhandlungsmasse heißt
insbesondere Geld. Es funktioniert
nicht, auf der einen Seite mit einem
gedeckelten Budget anzutreten und
ich, was erreiche ich damit, was kostet das Ganze?“, und den gesamten
Zusammenhang darstellen.
Wie haben Sie die Rolle der
Medien bei Stuttgart 21 empfunden?
Bei Stuttgart 21 war die Live-Berichterstattung sehr effizient, weil man so
einen sehr großen Zuschauer- oder
Zuhörerkreis erreicht hat. Positiv
überrascht war ich von der überwiegend ausgewogenen Berichterstattung. Mal mit einer Verstärkung des
einen Argumentes, mal mit einer
des anderen, aber immer erfreulich
sachlich. Die Medien haben damit
einen wichtigen Beitrag zum Gelingen
der Schlichtung geleistet. Die Herausforderung bei direkter Übertragung
»Legal war bei
Stuttgart 21 alles.«
auf der anderen Seite zu signalisieren, man sei offen für jede Idee. Das
heißt übrigens auch, dass neben
Geld auch die Bereitschaft auf allen
Seiten bestehen muss, das Ganze
möglichst kostengünstig zu realisieren. Wir erleben beides. Wir erleben
die einen, die unendlich viel fordern,
aber nicht bezahlen wollen und auch
nicht akzeptieren, dass es etwas kostet, oder im Zweifelsfall immer einen
anderen suchen, der bezahlen soll.
Und wir erleben die anderen, die
sagen, es gibt hier ein gedeckeltes
Budget und damit keinerlei Möglichkeiten, irgendetwas zu verändern.
Beide Positionen sind Extrempositionen, die am Ende nicht funktionieren
können. Man muss im öffentlichen
Diskurs immer auch fragen: „Was will
198 INTERVIEWS
ist natürlich die Kommunikationsfähigkeit derer, die über das Für und
Wider diskutieren.
Was haben Sie in der Kommunikation bei Stuttgart 21 gelernt?
Ingenieure tendieren ja dazu, sich
sehr fachlich auszudrücken. Wenn sie
unter Gleichen sind, ist das kein Problem, da versteht man sich schon
irgendwie. Aber als Ingenieur etwas
so zu erklären, dass es die Öffentlichkeit einigermaßen nachvollziehen
und verstehen kann, ist bislang nicht
die große Kunst meiner Zunft. Darauf hat Heiner Geißler ja immer wieder hingewiesen und uns ermahnt,
verständlich zu kommunizieren, was
in der Folge durchaus zu Veränderungen in der Argumentation und
auch in der Aufbereitung der Unterlagen geführt hat. Wir haben uns
dabei immer wieder die Frage
gestellt, ob etwas verständlich dargestellt ist. Wenn man also eine Diskussion im Fernsehen überträgt,
muss man Argumentationslinien,
technische Informationen und alles,
was dazugehört, so aufbereiten,
dass es die Öffentlichkeit versteht.
Noch mal zum Thema Bürgerbeteiligung: Sie gestalten ja im
Moment mit der Staatsrätin für
Bürgerbeteiligung in BadenWürttemberg, Gisela Erler, den
Filder-Dialog. Ist das ein konkretes Learning aus Stuttgart 21?
Ja, ganz eindeutig. Beim Filder-Dialog soll in einem Zeitraum von vier
Wochen eine freie, offene und ehrliche Diskussion über sämtliche Themen geführt werden, einschließlich
der Kosten. Das ist auch ein wichtiger Aspekt, denn man kann natürlich nichts versprechen, was das
Budget nicht hergibt. Die Ergebnisse aus der Diskussion sind nicht
rechtlich bindend, aber werden von
uns zusammengeführt, bewertet
und gewichtet. Der Zeitplan ist sehr
eng, und wir müssen bald eine Entscheidung treffen, wie es dort weitergehen soll. Ad infinitum kann der
Dialog also nicht gehen, und er
kann auch nicht beliebig sein. Das
ist aber ein sinnvolles zusätzliches
Gesprächsangebot.
Geht der Gesetzesentwurf der
Bundesregierung für die „frühe
Öffentlichkeitsbeteiligung“, der
vorsieht, dass die zuständige
Behörde auf den Investor hinwirken soll, eine frühe Bürgerbeteiligung durchzuführen, in eine
gute Richtung?
Das ist ein schwieriges Thema, weil
es nicht immer gelingt, Bürgerbeteiligung so zu orchestrieren, dass sie
sich am Ende auch als effizient
erweist. Also mal angenommen,
man diskutiert ein Projekt in der
Öffentlichkeit, aber die Diskussion
stößt auf kein Interesse. Zu einem
späteren Zeitpunkt, wenn die Entscheidungen getroffen sind, gibt es
plötzlich große Aufmerksamkeit. Hat
man dann etwas falsch gemacht?
Oder haben sich die Randbedingungen geändert? Berücksichtigt man
dann sämtliche Randbedingungen,
um die Diskussion noch mal aufzuwickeln? Man müsste da ganz klar festlegen, welche Randbedingungen
gelten, ansonsten haben wir keine
Rechtssicherheit mehr. Aus meiner
Sicht wäre es sinnvoller, wenn man
den Gesamtprozess besser fasst und
beschreibt und die Verfahren insgesamt strafft.
Wie sollte man die Verfahren bei
der Realisierung von Großprojekten ändern?
Aus heutiger Sicht würde ich erstens versuchen, die Vorlaufzeiten zu
verkürzen. Es gibt Vorplanungszeiten von zehn bis 15 Jahren und das
ist einfach zu lang. Darüber besteht
auch sehr große Einigkeit. Der
zweite Aspekt ist, dass die Finanzierung der Projekte von Beginn an
gesichert sein muss. Wenn jemand
ein Planfeststellungsverfahren initiiert, muss vorher dafür gesorgt werden, dass das Projekt im Anschluss
an die Planfeststellung auch finanziert ist und zeitnah mit der Projektrealisation begonnen werden kann.
Abgesehen davon, dass dies aus
Gründen der Wirtschaftlichkeit – wir
reden hier fast ausschließlich von
Steuergeldern – sinnvoll ist, wird auf
diese Weise auch ein Strömungsabriss in der öffentlichen Vermittlung
der Baumaßnahme vermieden.
Braucht es neben der Legitimation des Verfahrens auch eine
Legitimation der Kommunikation?
Licht gesorgt. Ist das also ein
probates Instrument?
Volksentscheide sind aus meiner
Sicht nicht die beste Lösung, weil
über die parlamentarische Diskussion Kompromisse viel besser möglich sind. Bei einem Volksentscheid
»Bei einem Volksentscheid
fällt am Schluss immer
eine binäre Entscheidung
mit Ja oder Nein.«
Das ist eine schwierige Diskussion,
bei der man auch unterscheiden
sollte, ob man über Legalität oder
über Legitimität spricht. Legal war
bei Stuttgart 21 alles. Dass es auch
legitim war, wurde von den Projektgegnern in Abrede gestellt. Wenn es
in einer Gesellschaft ein Auseinanderdriften zwischen Legalität und
Legitimität gibt, führt das über kurz
oder lang zum Bankrott des Staatswesens, denn das könnte bedeuten,
dass legale Entscheidungen ausgehebelt werden, weil sie als nicht legitim empfunden werden, und illegale
Entscheidungen über das Argument
der Legitimität erlaubt werden könnten. Das kann sich keine Gesellschaft
leisten. Die einzige Chance ist, dafür
Sorge zu tragen, dass Legalität und
empfundene Legitimität wieder
zusammenkommen. Sonst gerät man
in eine Diskrepanz, die auf Dauer
nicht durchzustehen ist.
fällt am Schluss immer eine binäre
Entscheidung mit Ja oder Nein. Das
ist keine Kompromiss-, sondern
eine polarisierende Lösung mit
einem Gewinner und einem Verlierer. Eine parlamentarische Entscheidung vermeidet dies und erhöht
die öffentliche Akzeptanz für das
jeweilige Großprojekt.
Und zum Abschluss: Bei Stuttgart 21 hat ja schlussendlich
der Volksentscheid für grünes
Dr. Volker Kefer 199
Prof. Dr. Helmut Klages
»Bürgerbeteiligung ist nichts
Romantisches.«
Prof. Dr. Helmut Klages über Verbesserungsmöglichkeiten in der
Verwaltung und das Missverständnis von NIMBY.
Warum ist die Skepsis gegenüber
der Politik heute so groß?
Zur Person
Prof. Dr. Helmut Klages ist emeritierter Professor für empirische Sozialwissenschaften an der Deutschen
Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer. Vor seiner Berufung
1975 hatte er seit 1964 den Lehrstuhl
für Soziologie an der Technischen
Universität in Berlin inne. Klages gilt
als Experte für Prozessoptimierung in
der Verwaltung, gesellschaftlichen
Wandel und Bürgerbeteiligung.
200 INTERVIEWS
Das liegt daran, dass es innerhalb
von Politik und Bürgerschaft zwei
gegenläufige Prozesse gibt, deren
Harmonisierung bisher noch nicht
gelungen ist. Auf der einen Seite ist
das politische System aufgrund seiner Eigenkomplexität nach außen
hin geschlossen, weil die Politik mit
sich selbst genug beschäftigt ist.
Zudem empfinden Politiker die Öffnung nach außen als zusätzliche
Belastung, zumal sie andere Verhaltensweisen und Sprachgewohnheiten mit sich bringt. Dagegen wehrt
sich die Bevölkerung. Das hat
ebenso einen Hintergrund, denn
innerhalb der Bevölkerung gab es in
den letzten Jahrzehnten einen Wertewandel, der mit einem höheren
Bildungsniveau, rationaleren Orientierungen im Berufsleben sowie
einer ansteigenden Informationsdichte durch Massenmedien Hand in
Hand geht. Das bringt auch mit sich,
dass es ein höheres Beteiligungsbedürfnis innerhalb der Bevölkerung
gibt. Auf der einen Seite ist also
eine für sich betrachtet plausible
Tendenz des politischen Systems zur
internen Organisation seiner Prozesse und auf der anderen Seite ein
stark zunehmendes Beteiligungsbedürfnis der Bevölkerung vorhanden.
Hat der Wertewandel auch zu
einem zunehmenden Egoismus
geführt?
Die Menschen sind heute nicht egoistischer oder weniger bereit als früher, Lasten für das Allgemeinwohl
zu tragen. Es gibt nur eine größere
Sensibilität für Verletzungen von
Interessenlagen sowie ein aktiveres
und selbstbewussteres Selbstverständnis gegenüber der Politik. Es
herrscht nicht mehr die Untertanenmentalität von früher, sondern eine
viel rationalere und selbstbewusstere Grundeinstellung innerhalb der
Bevölkerung. Damit verbunden ist
eine kritischere Grundhaltung
gegenüber Hierarchien. Das ist
übrigens nicht nur in Deutschland
der Fall, sondern international zu
beobachten. In Verbindung mit
dem bestehenden Misstrauen gibt
es eine starke Neigung, Entscheidungen zu hinterfragen, insbesondere wenn sie einen selbst betreffen. Aber es gibt keine Belege
dafür, dass es eine generelle
Abwehrhaltung gegenüber dem
Gemeininteresse gibt. Die empirischen Fakten belegen viel mehr das
genaue Gegenteil des von den Eliten
verbreiteten Bildes der „Ego-Gesellschaft“. Natürlich sind die Menschen
kritischer geworden, und das bringt
eben mit sich, dass man sie aktiv
beteiligen muss.
Bezogen auf die aktuellen Proteste gegen Großprojekte:
Stimmt also das Bild der sturen
und egoistischen Demonstranten nicht?
Nein. Man geht allzu häufig von
übermäßig pessimistischen Vorstellungen hinsichtlich der Mentalität
der Bürger aus. Es wird ja viel über
das „Not in my backyard“-Problem
geredet, dass Bürger auf der abstrakten Ebene zwar ganz gerne Ja
sagen, aber sich sofort auf die Hinterbeine stellen, wenn es um die
eigenen Interessen geht. Dieses
Bild ist wahnsinnig übervereinfachend und deckt sich nicht mit den
empirischen Fakten. Es gibt gerade
wieder eine interessante Studie,
wonach es zwar tatsächlich eine
gewisse Zunahme von Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden
gibt, aber gleichzeitig sind die Planungen von Projekten dadurch
nicht ernsthaft beeinträchtigt worden, sondern im Wesentlichen im
vorgesehenen Maße vorangeschritten. Wenn man also von der Zahl
der Zulassungen ausgeht, gab es
keine ernsthaften Behinderungen.
Man wird mit dem Einsatz geeigneter Verfahren und frühzeitiger,
ergebnisoffener Beteiligung im
Wesentlichen sehr positive Erfahrungen machen und feststellen,
dass diese Anti-Haltung als vorherrschende Einstellung der Bevölkerung überhaupt nicht existiert.
Apropos Beteiligung: Sie haben
das Speyerer Bürgerpanel entwickelt. Wie sind Ihre Erfahrungen
damit?
Das Bürgerpanel ist ein Befragungsverfahren, das in Großbritannien
unter der Bezeichnung „Citizen’s
Panel“ entwickelt worden ist. Die
Grundidee ist, eine repräsentative
Auswahl von Bürgern regelmäßig zu
Themen zu befragen, die in den
Entscheidungsprozessen der Kommune von aktueller Bedeutung
sind. Insofern führt dieses Verfahren wesentlich über das hinaus, was
bei uns in vielen Kommunen als Bürgerbefragung aktuell praktiziert
wird. Es füllt eine bisherige Leerstelle im „Instrumentenkoffer“ der
Bürgerbeteiligung aus.
Was waren die Folgen dieser
Befragungen?
Wir haben festgestellt, dass der oft
befürchtete Fatigue-Effekt, also der
Ermüdungseffekt, nicht eingetreten
ist. Das liegt vielleicht auch daran,
dass diese Beteiligung sehr niederschwellig ist und nur eine halbe bis
eine Stunde der Zeit der Bürger in
Anspruch nimmt. Wir haben sogar
eine tendenziell zunehmende Bereitschaft festgestellt, sich zu beteiligen. Das haben Nachfragen unter
den Teilnehmern ebenfalls bestätigt. Demnach waren bis zu 70 Prozent der Befragten bereit oder interessiert, an weiteren Befragungen
oder auch Beteiligungsaktivitäten
teilzunehmen, und das, obwohl die
Bürger bei der Umfrage aus der
Befragungsanonymität, die ja normalerweise garantiert ist, heraustreten und einen Antwortbogen mit
einer Bereitschaftserklärung und der
Angabe des Namens sowie der
Adresse zurückschicken mussten.
Müssen Bürger im gesamten Prozess beteiligt werden?
Ja, jedenfalls an wesentlichen Entscheidungspunkten. Gerade wenn
man an größere und längerfristige
Projekte denkt, geht es ja nicht nur
Prof. Dr. Helmut Klages 201
um Augenblickentscheidungen, sondern um Prozesse, die unter Umständen über Jahre laufen. Daher gibt es
auch immer wieder neue Entscheidungen, durch die die Planung
umgestoßen, geändert oder neu formuliert wird. Bei Stuttgart 21 hatten
wir ja den exemplarischen Fall, dass
am Beginn der Planungen vor zig
nen unterstellt wird. Es muss aber
trotzdem sichergestellt werden,
dass Ergebnisse einer Phase in die
nächste Phase übernommen werden
und dass man nicht immer wieder
von Neuem anfängt. Dieses Organisationsproblem der Bürgerbeteiligung muss – und kann – jedoch
durch methodische Ansätze gelöst
»Es reicht nicht,
die Bürger nur einmal
zu beteiligen.«
Jahren eine Bürgerumfrage oder
irgendeine größere Veranstaltung
gemacht worden war, an die sich
kein Mensch mehr erinnern konnte
oder wollte. Es reicht also nicht, die
Bürger nur einmal zu beteiligen,
selbst wenn diese Beteiligung ganz
intensiv war. Häufig ist es ja auch so,
dass es im Rahmen eines Projekts
einen Workshop oder Ähnliches gibt,
bei dem die Bürger ihre Interessen
einbringen können, und dass es
dann von den Projektinitiatoren
heißt, dass die Ideen der Bürger
„berücksichtigt“ würden – nur wie
und in welcher Form ist unklar, und
das führt natürlich zu Ressentiments.
Wie kann man das vermeiden?
Das ist in der Tat ein heikler Punkt,
der auch in der Methodik der Bürgerbeteiligung bisher noch kaum erörtert worden ist. Es gibt ein Schnittstellenproblem, das es zu lösen gilt.
Man kann nicht unbedingt davon
ausgehen, dass sich immer dieselben Bürger beteiligen, insofern gibt
es keine gesicherte Beteiligungskontinuität, was ja in vielen Diskussio202 INTERVIEWS
werden. Es gibt schon seit vielen
Jahren fundierte Ansätze zur Projektorganisation, und in diesem
Rahmen sind – völlig unabhängig
vom Thema Bürgerbeteiligung –
bereits Methoden entwickelt worden, die sicherstellen, dass beispielsweise Beratungsergebnisse
aus einer Gruppe in eine andere
überführt werden.
Was ist für Sie das beste Beteiligungsmodell?
Man sollte nicht nach der optimalen
Methode suchen, denn die Anwendung der Methode hängt von den
jeweiligen Anforderungen in den einzelnen Projektphasen ab. Die Anforderungen sind ganz unterschiedlich,
je nachdem, was die Zielsetzung ist.
Inwieweit können solche Beteiligungsprozesse tatsächlich ergebnisoffen sein?
Sie können in dem Sinne ergebnisoffen sein, als den Bürgern reale Beteiligungschancen beziehungsweise
reale Chancen des Gehörtwerdens
und der Mitwirkung gegeben wer-
den. Bürgerbeteiligung impliziert
keinesfalls zwingend eine reguläre
Mit- oder Exklusiventscheidung der
Bürger, wie das beim Bürgerentscheid vorgesehen ist. Das Letztentscheidungsrecht sollte vielmehr bei
den in der Verfassung vorgesehenen
Instanzen bleiben. Diese Annahme
ist auch Grundlage unserer Leitlinien
in Heidelberg. Sie stimmt offenbar
auch mit den Erwartungen der Bürger überein. Die Mehrheit der Bürger
erwartet nicht, die Entscheidungsaufgabe der Politik übernehmen zu
müssen, denn die Bürger akzeptieren ganz überwiegend politische
Führung und die Grundinstitutionen
der parlamentarischen Demokratie.
Kann Bürgerbeteiligung auch ins
Uferlose gehen?
Ja, diese Gefahr besteht. Infolgedessen haben wir auch in unsere Leitlinien die Bestimmung aufgenommen, dass ein Zeitrahmen fixiert
wird. Bei Überschreitung dieses
Zeitrahmens muss überlegt werden,
ob man durch eine Umorganisation
eingreift oder den Prozess vielleicht
sogar abbricht. Man darf Bürgerbeteiligung nicht romantisch verstehen. Es ist ein Fehler zu sagen, dass
Bürgerbeteiligung etwas Spontanes
sein muss, das man nicht organisieren darf.
Wann sollten Bürger bei großen
Projekten beteiligt werden?
Nach den Heidelberger Leitlinien soll
die Information der Bevölkerung spätestens drei Monate vor der Ersterörterung in einem kommunalen Gremium erfolgen. Und zwar überall. Es
ist sehr wichtig, dass diese Information umfassend erfolgt. Das spielt
für die Kommunen natürlich eine
große Rolle, wo es eine Vielzahl von
Projekten gibt. Die Information soll
in der Regel bei allen Projekten erfolgen, bei denen ein Interesse der Bürger an den Projekten angenommen
werden kann.
Muss Bürgerbeteiligung gesetzlich verankert werden?
Ja, denn wir haben in Deutschland
eine rechtsstaatlich geprägte Kultur.
Verbindlichkeit ist unter solchen
Voraussetzungen nur auf der Grundlage der rechtlich gesicherten Zuverlässigkeit herzustellen. Momentan
spielt bei Großvorhaben die sogenannte Fakultativitätsfrage eine
große Rolle. Bisher ist es den jeweiligen Planern und Betreibern freigestellt, Bürgerbeteiligung durchzuführen oder nicht. Es muss
demgegenüber eine absolute Verlässlichkeit sichergestellt werden,
das darf nicht von Zufallsentscheidungen oder von Opportunitätsüberlegungen abhängen. Das ist ja
auch einer der großen Kritikpunkte
am Gesetzesentwurf im Hinblick auf
die frühe Öffentlichkeitsbeteiligung, denn das Innenministerium
fordert da zwar mehr Bürgerbeteiligung bei Großprojekten, aber eben
nur freiwillig.
Was ist der Nutzen von Bürgerbeteiligung für Politik und Verwaltung?
Die Politik gewinnt durch vernünftig
umgesetzte Bürgerbeteiligung Legitimität. Bürgerbeteiligung kann
zudem dazu führen, Misstrauen zu
reduzieren und neues Vertrauen
aufzubauen. Wenn Bürgerbeteiligung richtig umgesetzt wird, stärkt
sie die Kommunikation zwischen
den politischen Eliten und den Bürgern, die zurzeit aus unterschiedlichen Gründen völlig unterentwickelt
ist. Daher versöhnt sie auch Bürger,
die sich nicht in das System integriert und einer gewissen Fremdbestimmung ausgesetzt fühlen, auch
weil ihnen viele politische Entscheidungen unverständlich sind. Bürgerbeteiligung muss den Dialog zwischen den politischen Eliten und
den Bürgern auslösen, den die parlamentarische Demokratie ja theoretisch beinhaltet, der aber praktisch
kaum stattfindet. Die Verwaltung
gewinnt Planungssicherheit, denn
Bürgerbeteiligung erbringt ja eine
Information über die Bedürfnis- und
Stimmungslage innerhalb der Bevölkerung und eröffnet von daher auch
Möglichkeiten eines gezielten Dialogs mit der Bevölkerung. Das
schließt auch das Plausibilisieren
von Planungen ein, das bisher praktisch kaum genutzt wurde – die
Unverständlichkeit von Planungsvorhaben ist ja wirklich überwältigend!
des Process Owner entwickelt, der
als Prozessverantwortlicher eingesetzt wird, um die Prozesse zu optimieren sowie Liegezeiten und
unproduktive Wartezeiten zu verringern. Durch rein verwaltungsinterne
Optimierungsmaßnahmen, bei
denen die Bürger überhaupt noch
nicht im Spiel waren, konnte der
Zeitbedarf von Genehmigungsverfahren im Einzelfall auf zehn Prozent
des vorhergehenden Zeitaufwands
reduziert werden.
Droht die Gefahr, dass Bürgerbeteiligung die Prozesse verzögert?
Als Verwaltungswissenschaftler
kann ich Ihnen sagen, dass die
Befürchtung falsch ist, dass sich Prozesse automatisch verlangsamen,
wenn Bürger beteiligt werden.
Durch Nutzung der Optimierungsreserven verwaltungsinterner Art
kann noch sehr viel passieren. Auch
»Die Verwaltung gewinnt
Planungssicherheit.«
Wie kann man die Prozesse in
der Verwaltung vereinfachen?
Ich war einer der Initiatoren des
Speyerer Qualitätswettbewerbs, der
sich seit 1992 mit der Modernisierung der Verwaltung beschäftigt
hat. Da gab es bei der Frage der
Prozessorganisation und Prozessoptimierung die Beobachtung, dass es
durch mangelnde Koordination
innerhalb der oft sehr komplexen
Organisationen, die sich mit solchen Verfahren beschäftigen, ungeheure interne Verlustzeiten gibt.
Unter anderem wurde zur Beseitigung dieses Übelstands die Figur
die Prozesse, die sich mit der Bürgerbeteiligung verbinden, können
durch rationale Planung optimiert
werden. Es gehört einfach dazu,
dass man am Anfang einer Prozessplanung auch die Bürgerbeteiligung
als Planungselement einbezieht.
Zwar kommt dadurch ein zusätzlicher Zeitfaktor ins Spiel, dem man
Rechnung tragen muss. Wenn man
alle Reserven nutzt, wird man aber
am Ende unterm Strich einen Zeitgewinn verbuchen können.
Prof. Dr. Helmut Klages 203
Roland Koch
»Politik muss Lasten verteilen.«
Roland Koch über Akzeptanzstrategien bei Konfliktprojekten
und eine neue Lastenverteilung in unserer Gesellschaft.
Das Mediationsverfahren im
Zusammenhang mit dem Bau der
neuen Startbahn des Frankfurter
Flughafens haben Sie einmal als
„eine der wichtigsten politischen
Entscheidungen“ Ihres Lebens
bezeichnet …
Zur Person
Roland Koch war zwölf Jahre lang
Landesvorsitzender der hessischen
CDU und von 1999 bis 2010 Ministerpräsident von Hessen. Während
dieser Zeit initiierte er ein Mediationsverfahren zum umstrittenen
Ausbau des Frankfurter Rhein-MainFlughafens, das als wegweisend
gilt. Seit 2011 ist der Volljurist Vorstandsvorsitzender von Bilfinger SE,
einem international führenden
Engineering- und Dienstleistungskonzern mit Sitz in Mannheim.
204 INTERVIEWS
Richtig. Überhaupt verstehe ich
Bürgerbeteiligung in allererster
Linie als eine politische Herausforderung – und weniger als eine
juristische, zumal sie nicht immer
institutionell fassbar ist. Ich bin
überzeugt, dass es die Aufgabe
von Politikern ist, bei konfliktären
Projekten den jeweils geeigneten
Weg zu finden. Und dieser Weg
ist in heutigen Zeiten möglicherweise das, was vielerorts bereits
unter dem Stichwort Mediation
geschieht. Wobei man die Mediation nicht kodifizieren, sondern sie
schlichtweg betreiben sollte. Eine
Normierung hat auch deshalb keinen Sinn, weil die Mediation rechtsstaatliche Prozesse nicht ersetzt,
dazu ist sie gar nicht in der Lage.
Rechtsstaatlich ist am Ende immer
nur das Ergebnis des Gerichts.
Was kann eine Mediation leisten?
Eine Mediation sorgt für Transparenz
der unterschiedlichen Interessen,
macht Auseinandersetzungen sichtbar und setzt auf diese Weise Meinungsbildungsprozesse und im besten Fall Solidarität in Gang. Je mehr
sich die Politik auf solche Prozesse
einlässt, umso weniger Raum gibt es
letztlich für eine Empörung, die häufig aus der Nichtbeteiligung herrührt und schlimmstenfalls bis zu
Gewalt führen kann. Denn dadurch
entkräftet man ein wichtiges Argument der radikalen Gegner – nämlich
das, nicht gefragt worden zu sein.
Gleichzeitig solidarisiert man durch
Mediation und gesellschaftliche Mitnahme jene Mehrheit der Bürger, die
diese Radikalität ablehnt.
Sie wollen damit sagen, Mediation baut auch der schweigenden Mehrheit der Bevölkerung
eine Brücke?
Zumindest profitiert sie von einem
solchen Engagement, weil sie sich
durch die Mediation transparenter
ein Urteil bilden kann. Mediation
ist aber auch Impuls für die sprechende Mehrheit. Denn die ist
gezwungen, sich zu entscheiden:
Will ich weiterhin zu den obstruktiven Nein-Sagern gehören? Oder
doch zu jenem Teil der Bevölkerung, der Überzeugungen aus-
tauscht und Fakten zur Kenntnis
nimmt? Die Engagierten lassen sich
ja in unserer Gesellschaft zu einem
überwiegenden Teil auf den Diskurs ein. Und damit auch auf das
Risiko, dass sie nicht ganz so überzeugt von ihrer eigenen Position
aus dem Prozess herausgehen, wie
sie anfangs hineingekommen sind.
Soll heißen, Transparenz und
Dialog sind der Königsweg – weil
sie den Weg zu Kompromissen
ebnen?
Lassen Sie mich auch das am Beispiel Frankfurter Flughafen illustrieren: Nach einer jahrzehntelangen
Diskussion über die Veröffentlichung von Lärmwerten können Sie
heute als Bürger im Internet die
aktuellen Lärmspuren quasi in Echtzeit nachverfolgen. Ich bin nicht
sicher, ob überhaupt viele Menschen
dieses Angebot nutzen. Aber ich
weiß auch: Würde man diese Möglichkeit den Anwohnern nicht zur
Verfügung stellen, würde das zu
Misstrauen und einer massiven
Aggression führen. Allein die Tatsache, dass ein solches Tool existiert
und man es theoretisch in Anspruch
nehmen kann, führt zu einer gewissen Befriedung der Diskussion.
Also lieber zu viel als zu wenig
kommunizieren?
Ja. Denn das Verschweigen eines
Vorfalls wiegt in unserer Gesellschaft immer schwerer als das Eingestehen desselben. Das mag in
der Konsequenz dazu führen, dass
zum Beispiel ein Kernkraftwerk
möglicherweise 200 Ereignisse im
Jahr vermeldet, von denen kein
einziges wirklich sicherheitsrelevant war. Und trotzdem ist ein solches Vorgehen ratsam. Weil es für
die Menschen offensichtlich einfacher ist, mit 200 kommunizierten
Ereignissen umzugehen als mit
dem leisesten Verdacht, man
könnte ihnen etwas verschwiegen
haben. Das ist eine Erkenntnis, die
im Übrigen auch in das Verfahren
um den Frankfurter Flughafen eingeflossen ist. So haben wir damals
zu jedem einzelnen Argument, das
vorgebracht wurde, den jeweils
besten Wissenschaftler um seine
Einschätzung gebeten. Zusätzlich
haben wir ein weiteres Gutachten
zur Qualitätssicherung in Auftrag
gegeben. Wobei man das Ganze
ausdrücklich weniger durch die formaljuristische Brille, sondern vielmehr durch die gesellschaftspolitische betrachten sollte.
Eine Sichtweise, die Sie auch
den Industrieunternehmen ins
Pflichtenheft schreiben?
Absolut. Jeder Unternehmer, der
Consumer Products auf den Markt
bringen will, muss sich zunächst
ganz genau damit beschäftigen, wie
die Stimmung der Menschen ist.
Zeitpunkt, Farbe, Form und Preis –
all das muss stimmen für den Verkaufserfolg. Ähnlich sollte auch der
Industrieverantwortliche, der eine
neue Anlage bauen möchte, an die
Sache herangehen. Allerdings
scheint eine solche Sichtweise noch
nicht bei allen Entscheidern in der
Wirtschaft angekommen zu sein.
Woran hapert es?
Ökonomische Tätigkeiten finden
immer in einem sozialen Umfeld
statt. Dieser Tatsache wird in den
Entscheidungswelten mancher
Unternehmer noch nicht genügend
Platz eingeräumt. Der Unternehmer
muss akzeptieren lernen, dass er in
geeigneter Weise mit den Menschen
wird umgehen müssen, für die sein
Projekt eine Belastung darstellt.
Und er muss eine klare Vorstellung
davon haben, wie er sich mit dieser
Bevölkerungsgruppe auseinandersetzen will – und zwar jenseits desRoland Koch 205
sen, was im Gesetz steht. Bürger
informiert zu halten, um ihnen den
Eindruck zu vermitteln, dass sie
nicht ausgeschlossen werden aus
der Gestaltung ihrer Umwelt, mag
aufwendig sein, ist aber extrem
wichtig. Sicherlich, man kann den
Aspekt der gesellschaftlichen
Akzeptanz ignorieren und auf
Rechts- und Gesetzesansprüche verweisen. Das mag in manchen Fällen
auch ausreichen – ist aber der deutlich steinigere Weg. Im Übrigen
erleben wir auch im eigenen Unternehmen, dass heute zu jeder Ausschreibung eine Öffentlichkeitsbeteiligung gehört. Insofern muss man
die Frage, was aus Akzeptanzgründen möglicherweise „on top“ notwendig ist, ohnehin in die Kalkulation mit einbeziehen.
Und wenn sich das Ganze unter
dem Strich nicht rechnet?
Dann sollte man das offen kommunizieren. Das wird in Deutschland
zwar noch selten gemacht, aber es
ist meiner Auffassung nach völlig
legitim zu sagen: „Das Projekt kriege
ich nur unter diesen, aber nicht
unter jenen Konditionen bewerkstelligt. Ich erfülle alle gesetzlichen
Standards, aber zu mehr bin ich wirtschaftlich einfach nicht in der Lage.
Deshalb lasst uns rasch miteinander
klären, ob das für alle Beteiligten ein
Weg sein kann – oder eben nicht.
Dann wähle ich halt einen anderen
Standort für mein Vorhaben.“
Gehört zu dieser Diskussion auch
eine Debatte um die Lastenverteilung in unserer Gesellschaft?
Auf jeden Fall. Denn viele Menschen
empfinden es heute offensichtlich
nicht mehr als angemessen, zum
Wohle der Allgemeinheit bestimmte
206 INTERVIEWS
Lasten auf sich nehmen zu müssen.
Es mangelt in unserer Gesellschaft
an der Einsicht, dass Gemeinwohl
auch die Hinnahme bestimmter Einschränkungen bedeutet. Zum Beispiel wird schon das Aufstellen eines
Glascontainers in einer Gemeinde
von den Anwohnern als potenzielle
Ruhestörung und damit als Belastung wahrgenommen, die man nicht
bereit ist hinzunehmen. Wenn es um
den unmittelbaren Lebensraum
geht, reagiert selbst der ansonsten
durchaus gemeinwohlorientierte Bürger heute außerordentlich allergisch.
Welche Rolle hat die Politik in
dieser Gemengelage?
In einer Demokratie wird Regierungspolitik immer auch darin
bestehen, Lasten zu verteilen – und
zu erklären, warum diese Lasten
notwendig sind. Die Regierung ist
naturgemäß eher der GemeinwohlAnwalt als die Opposition. Dieses
Spannungsfeld wird es, in den
unterschiedlichsten Schattierungen, zwischen Regierung und
Opposition immer geben. Das ist
auch richtig so, denn ansonsten
würde das Gemeinwohl ja zur reinen Ideologie geraten. Gleichwohl
macht das die Diskussion der Frage,
was unter Gemeinwohl eigentlich
zu verstehen ist, nicht einfacher,
sondern im Gegenteil schwieriger
und komplexer.
Mit Blick auf die Energiewende:
Wird hinreichend deutlich, dass
auch hier der Einzelne Lasten
zu übernehmen hat? Und wessen
Aufgabe wäre es, das den Bürgern zu erklären?
Das ist die originäre Aufgabe der
Regierung. Sie hat es allerdings versäumt, den Bürgern in der unmittel-
baren Reaktion auf Fukushima zu
erklären, dass der Ausstieg aus der
Kernenergie auch seinen Preis hat.
Und sie unterschlägt bis heute,
dass die Energiewende zu nennenswerten Kostensteigerungen und
teilweise auch zu bislang nicht
gekannten Abhängigkeiten von
Energielieferungen aus dem Ausland führen wird. Das ist ein Fehler
und ärgerlich, weil die Menschen
damals unter dem unmittelbaren
Eindruck von Fukushima bereit
gewesen wären, diese Lasten zu
akzeptieren. Diese Mehrbelastungen zu offenbaren, ist für sich gesehen auch nicht problematisch. Im
Gegenteil: Macht man sie transparent, kann eine Gesellschaft sich
damit auseinandersetzen und entscheiden. Und ich bin überzeugt,
dass Politik auch in der Lage ist, so
einen Prozess zu managen.
Welche Aufgabe kommt den
Unternehmen in Sachen Energiewende zu?
Erste Pflicht der Unternehmen bleibt
es, unter den vom Staat vorgegebenen Rahmenbedingungen Kapital
rational einzusetzen und Erträge zu
optimieren. Daneben gehört es aber
auch zu ihren Aufgaben, eine hohe
Transparenz in Hinblick auf ihr Tun
und die entsprechenden Umfeldbedingungen herzustellen. Und zwar
gar nicht so sehr in einem technischen Sinne, wie das bei der Kernkraft noch der Fall war. Vielmehr
muss die Wirtschaft den Menschen
die Folgen erklären, die politische
Vorgaben haben. Stellt sie diese
Transparenz bezüglich ihres Vorgehens und der Gründe dafür nicht her,
gerät sie in eine Frontstellung, in der
dann letztlich die Politik gezwungen
ist, gegen die Wirtschaft – insbeson-
dere die Energiewirtschaft – Stellung
zu beziehen. Die Wirtschaft begibt
sich dann in die Gefahr großer
demokratischer Spannungen, weil
die Energiepreise auch in Zukunft
eine hohe Relevanz haben werden.
Stichwort Energiepreise: Gibt es
in diesem Land einen Konsens
über unsere Rolle als Industriestandort?
In Deutschland gibt es im Vergleich
zu anderen europäischen Ländern
ein sehr beachtliches Selbstbewusstsein, was den Industriestandort
angeht. Industrie wird in Deutschland nicht prinzipiell als etwas
Schlechtes wahrgenommen. Trotzdem fällt es offensichtlich schwer,
diese abstrakte Erkenntnis und die
Erfordernisse einer künftigen Energiepolitik im Bewusstsein der Menschen übereinanderzubringen. Dabei
ist das für mich gerade ein ganz problematischer Aspekt in der Diskussion um die Energiewende – dass
nämlich die Frage einer preisgünstigen Energieversorgung unweigerlich
immer auch eine Frage der Qualität
unseres Industriestandortes ist.
Wenn ich Energie nicht mehr preisgünstig zur Verfügung stellen kann,
dann sind davon auch „saubere“
Industrien betroffen. So machen sich
wahrscheinlich die wenigsten Menschen bewusst, dass zum Beispiel die
großen Rechenzentren, die ich zum
Bewegen der Cloud betreiben will,
auch jede Menge Energie benötigen.
Wobei es bei der Energie- und
Standortfrage in Deutschland
sicherlich nicht nur um Rechenzentren geht – sondern vor allem
auch um die Schwerindustrie…
In der Tat wäre es eine Verzerrung,
nur auf vermeintlich positiv angese-
hene Industriezweige wie die Informationstechnologie und so schicke,
„cleane“ Themen wie die Cloud zu
verweisen. In diesem Fall ist der
bequemste Weg nicht der beste –
wir müssen in der Diskussion um
den Umbau unserer Energiewirtschaft tatsächlich auch über andere
Dinge sprechen, auf die Deutschland angewiesen ist. Etwa über die
Aluminiumhütten, die man heute in
einem ganz neuen Kontext betrachten muss. Das Aluminium der
Wenn wir eine Energiepolitik betreiben, die diese Aspekte ausblendet,
kann es sein, dass diese Wertschöpfungen alle abwandern.
Apropos Ausland: Bilfinger ist
global tätig. Erleben Sie Widerstände gegen Großprojekte auch
in anderen Ländern?
Die Protestkultur ist in Deutschland
sicherlich anders entwickelt. Aber zu
glauben, dass persönlich betroffene
Menschen in anderen Teilen der
»Ökonomische Tätigkeiten
finden immer in einem
sozialen Umfeld statt.«
Zukunft ist sehr viel umweltfreundlicher, sehr viel leichter, und durch
seinen Einsatz werden wir Milliarden
Tonnen von Öl einsparen. Und am
Ende wird es genau deshalb einen
harten globalen Wettbewerb darum
geben, wer an der Herstellung und
Nutzung dieses Aluminiums verdient. Ein anderes Beispiel sind Carbonfasern, das ist möglicherweise
der Werkstoff der Zukunft. Zwar
sind wir mit SGL Carbon in diesem
Bereich weltweit führend, aber dieses Unternehmen wird zu den Bedingungen, die hierzulande herrschen,
am Standort Deutschland keine Produktion einrichten. Die Herstellung
der Carbonfasern findet stattdessen
heute irgendwo zwischen Amerika,
Kanada und Japan statt, weil all
diese Länder Energieverbrauch mit
all seinen Konsequenzen in einer
anderen Weise hinnehmen, als wir
das in Deutschland tun. Was diese
Beispiele deutlich machen sollen:
Welt vergleichbare Projekte einfach
hinnehmen, wäre eine Verklärung
der Lage. Gerade in aufstrebenden
Ländern wie etwa Indien werden
ähnliche Umweltdebatten geführt,
insbesondere an den Standorten mit
Chemie- und anderen Industrien.
Und in den USA hat man kürzlich
erst die Genehmigung für den Bau
neuer Kernkraftwerke erteilt – nach
20 Jahren. Es gibt also keinen Grund
zu glauben, der Rest der Welt tue
sich leichter mit diesen Themen.
Roland Koch 207
Stephan Kohler
»Energieeffizienz ist nicht sexy
und macht Arbeit.«
Stephan Kohler über Energieeffizienz, ihre Bedeutung für
die Energiewende und die Rolle der Wirtschaft.
Wie ausschlaggebend ist die
eigene Betroffenheit für Proteste gegen große Infrastrukturprojekte?
Zur Person
Seit 2006 gibt Stephan Kohler als
Vorsitzender der Geschäftsführung
der Deutschen Energie-Agentur
GmbH (dena) Gehör und Stimme.
Vor seiner Tätigkeit bei der dena
war Stephan Kohler unter anderem
Vorstandsmitglied des Öko-Instituts Freiburg und Geschäftsführer
der Niedersächsischen Energieagentur. Der Energieexperte hat
zahlreiche Veröffentlichungen zu
Szenarien der Energiewende publiziert. Er ist Autor der Bücher „Die
Energiewende ist möglich“ und
„Sonnenenergie-Wirtschaft“ sowie
Mitherausgeber des Buches „Neue
Wege zum Klimaschutz“.
208 INTERVIEWS
Bei 80 Prozent ist die unmittelbare
Betroffenheit in ihrem Umfeld entscheidend. Die Leute wollen ihre
direkte Umwelt schützen und erkennen übergeordnete Notwendigkeiten nicht an. Infrastrukturprojekte
werden von der Bevölkerung oft als
nicht notwendig angesehen. Wenn
wir aber Projekte wie den Netzausbau oder Großkraftwerke nicht
akzeptieren, dann wird der Industriestandort Deutschland Schaden
nehmen und wir werden die Energiewende nicht schaffen. In zehn bis
zwanzig Jahren haben wir dann wirklich schlechtere Lebensstandards.
Das ist manchmal die Haltung:
Wir wollen die Energiewende,
aber keine Windräder und
Strommasten in Sichtweite.
Gibt es eine Erklärung dafür?
Das liegt unter anderem an dem Bild,
das der Öffentlichkeit vorgegaukelt
und von Wissenschaftlern zudem
unterstützt wird: Wir machen die
Energiewende und keiner merkt es.
Wir machen die Energiewende, aber
es geht weiter so wie bisher und
jeder wird praktisch zu seinem eigenen Energieversorger. Wir rüsten
Häuser energetisch um, stellen noch
ein Elektroauto in die Garage und
können uns praktisch autark mit
Strom und Energie versorgen. Und
das unangenehme Pumpspeicherkraftwerk verlagern wir ins Ausland.
Das ist das falsche Bild, das auch von
Fachleuten gezeichnet wird, aber
auch von Öffentlichkeit und Politik
gerne gehört wird. Da wird dann
nicht mehr faktenbasiert argumentiert, sondern auch ideologisch.
Daraus könnte man schließen,
dass der Bevölkerung die Herausforderungen und Folgen der
Energiewende noch nicht wirklich bewusst sind.
Es heißt immer: „Wir machen die
Energiewende.“ Was fehlt, ist eine
klare Definition der Verantwortlichkeiten. Die Energiewende beginnt
mit der massiven Reduktion unseres
Energieverbrauchs – bis 2020 minus
20 Prozent. Diese Energieeffizienz
erreichen wir nur, wenn 80 Millionen
Menschen sich energieeffizient verhalten. Es gibt Lippenbekenntnisse
und ein paar Programme; die werden
nicht ausreichen. Energieeffizienz ist
aber eine Voraussetzung für den
Erfolg der Energiewende. Bisher konzentriert sich alles darauf, Kernkraftwerke abzuschalten und regenerative
Energien zuzubauen.
Warum wird das Thema Energieeffizienz so stiefmütterlich
behandelt?
Energieeffizienz ist kein sexy
Thema. Und es macht Arbeit. Wenn
ich eine Fotovoltaikanlage auf mein
Dach baue, dann lasse ich mir ein
Angebot schicken, der Handwerker
installiert die Anlage, und ich habe
damit praktisch nichts zu tun. Eine
Fotovoltaikanlage auf dem Dach ist
etwas Tolles und hat den Nimbus
von Hightech. Wenn ich aber mein
Haus energetisch sanieren will,
dann muss ich mich damit beschäftigen, wie ich das Gesamtsystem
optimiere. Das ist für Hausbesitzer
oftmals ein sehr komplexes Vorhaben, weil sie mindestens sieben
Handwerker koordinieren müssen.
Das sind alles Dinge, die aufwendig sind und die die Leute nicht
gerne machen.
Kann man den einzelnen Bürger
motivieren, mehr zu tun?
Unsere Botschaft ist: „Energieeffizienz ist Wertsteigerung und Werter-
haltung.“ Das ist gerade bei Immobilien, die als Altersversorgung gekauft
werden, ein wichtiger Punkt, bei dem
wir auch Gehör finden. Ein Gebäude
stellt natürlich ein Vermögen dar, je
nach Standort mehr oder weniger.
Wenn Sie das Haus nicht energetisch
sanieren, dann verliert es an Wert.
Wir argumentieren fast nie über CO² Einsparung, weil das die Besitzer in
ihrer konkreten Investitionssituation
erst mal nicht interessiert.
Wie könnte die Politik mehr unterstützen?
Wir schlagen kein Energieministerium vor, weil die Themen, die mit
der Energiewende verbunden sind,
zu vielschichtig sind – von der Landwirtschaft über Finanzthemen bis
hin zum Netzausbau kann man nicht
alles in einem Ministerium vereinen.
Wir schlagen ein Ministerium vor,
das federführend die Energiewende
koordiniert und sie wirklich als Projekt versteht, bei dem alle Beteiligten in die Pflicht genommen werden, bei dem man eine Roadmap
erstellt und bestimmte Meilensteine in einer konkreten Planung
für die nächsten Jahre definiert,
die durch regelmäßiges Monitoring
überprüft werden.
Kann und muss die Wirtschaft
einen Beitrag leisten?
Ja, natürlich. Der Staat baut keine
Gaskraftwerke. Es sind Unternehmen, die Gaskraftwerke bauen, um
Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Wir brauchen vor allen Dingen auch Energieeffizienzmärkte, in
denen die Wirtschaft ihren Kunden
Angebote zum Thema Energieeffizienz macht. Die Marktinstrumente für
Energieeffizienz sind noch unterentwickelt. Derzeit liegt die jährliche
energetische Gebäudesanierungsrate bei 0,9 Prozent. Um die Energiewendeziele zu erreichen, brauchen
wir 2,5 Prozent.
Warum ist die Quote so niedrig
und welchen Beitrag kann die
Wirtschaft für mehr Energieeffizienz leisten?
Der primäre Grund ist fehlende
Markttransparenz. Viele Hausbesitzer
wissen überhaupt nicht, in welchem
energietechnischen Zustand ihr
Gebäude ist und welche Maßnahmen
zu mehr Energieeffizienz führen. Ein
gutes Instrument ist deshalb der
bedarfsorientierte Gebäudeenergieausweis, der den Zustand des
Gebäudes ausweist und eine Maßnahmenliste umfasst. Unternehmen
Stephan Kohler 209
könnten den Kunden einen Gebäudeenergieausweis anbieten mit einem
Plan für die Sanierungen der nächsten Jahre. Ich frage mich, warum es
dafür bisher keine Komplettangebote
gibt. Einer muss die Federführung
übernehmen und die Arbeit aller
beteiligten Handwerker koordinieren,
für sie notwendigen Voraussetzungen ausreichend?
Nein, sie ist nicht deutlich genug
und nicht einheitlich genug. Ich
sage den Wirtschaftsleuten immer:
Wenn ihr euch nicht selbst zu Wort
meldet und selbst eure Rolle im Rahmen der Energiewende definiert,
»Energieeffizienz ist aber eine
Voraussetzung für den
Erfolg der Energiewende.«
sodass der Hausbesitzer einen festen Ansprechpartner hat. Solche
Marktentwicklungsinstrumente müssen wir noch viel mehr entwickeln.
Das sollten aber dann die Unternehmen anbieten?
Ja, natürlich. Das ist Aufgabe der
Unternehmen. Manche versuchen es
schon. Nur muss man es auch konsequent umsetzen und Zuständigkeitsbereiche abgeben, sodass Energieeffizienz zu einem Geschäftsmodell
werden kann. Als Energieversorger
würde ich mir Produkte für Privathaushalte ausdenken, insbesondere
für Besitzer größerer Häuser und
mittelständische Betriebe. Ich
würde meinen Kunden heute kein
Gutscheinheft geben, mit dem sie
ins Theater gehen können, sondern
Gutscheine für Effizienzprodukte,
die kundenspezifisch zugeschnitten
sind. Da hapert es heute noch.
Unternehmen und Wirtschaftsverbände beschweren sich immer
wieder, dass die Politik die falschen Rahmenbedingungen setze.
Artikuliert die Wirtschaft die
210 INTERVIEWS
dann regelt das die Politik und
beschließt immer mehr detaillierte
Vorschriften. Und dann sprechen sie
auch oft nicht mit einer Stimme. Wir
als dena haben das unter anderem
erlebt, als wir uns kritisch zum Ausbau der Fotovoltaik geäußert haben.
Daraufhin hörten wir aus ein und
demselben Unternehmen zwei konträre Meinungen. Deshalb die klare
Forderung: Die Wirtschaft muss eine
Art Roadmap erstellen, wie sie die
Energiewende in ihrem Verantwortungsbereich umsetzen will.
Die Wirtschaft sieht die Energiewende kritisch und warnt, dass
diese den Industriestandort
Deutschland gefährde. Sehen Sie
das ähnlich?
Bisher noch nicht, aber wir müssen
aufpassen. Ich sage nicht, dass uns
die Energiewende nicht gelingt.
Der Punkt, an dem die Energiewende kippen kann, ist, wenn wir
den sehr starken Zubau der regenerativen Energien nicht mit dem Ausbau der Netze und Speicher synchronisiert bekommen. Wenn wir
nicht gleichzeitig in konventionelle
Kraftwerkparks investieren, können
wir die Versorgungssicherheit nicht
garantieren und werden Kostenund Preiseffekte haben, die uns im
internationalen Vergleich zu stark
belasten. Das ist die Herausforderung, die auf uns zukommt.
Glauben Sie vor diesem Hintergrund, dass Kohlekraftwerke
vielleicht wieder eine gewisse
Akzeptanz bekommen?
Das ist schwer vorherzusagen. Derzeit sind Kohlekraftwerke genauso
wie Erdgaskraftwerke wirtschaftlich
für die Unternehmen nicht attraktiv.
Das wird sich ändern und ich denke,
dass sich in den nächsten Jahren
ein gewisser Lernprozess in der
Bevölkerung vollziehen wird. Der
Bevölkerung ist nicht bewusst, dass
viele alte Kohlekraftwerke jetzt
noch in der Kaltreserve zu nutzen
sind, aber in den nächsten zehn
Jahren außer Betrieb gehen, sodass
sie im Jahr 2020 nicht mehr zur Verfügung stehen. Bis zum Jahr 2020
werden ungefähr 10.000 bis 12.000
Megawatt zusätzliche Kraftwerksleistung benötigt. Ich würde die
Prognose wagen, dass bei diesen
10.000 bis 12.000 Megawatt nicht
nur Erdgaskraftwerke, sondern auch
in einer Größenordnung von 20 bis
30 Prozent einige Kohlekraftwerke
dabei sein werden.
Was macht Sie optimistisch, dass
die Bürger große Infrastrukturprojekte in Zukunft eher akzeptieren?
Wir brauchen ganz sicher eine stärker
faktenbasierte Aufklärung, aber
jeder weiß auch, wenn abends die
Sonne untergeht, ist die Leistung
der Fotovoltaik gleich null. Woher
kommt dann der Strom? Wenn man
das Bürgern deutlich sagt, dann
kommt es auch zu einem Aha-Erlebnis. Der Mensch argumentiert und
handelt zum großen Teil rational.
bei der Finanzierung von Infrastrukturpro-jekten wie einer 380-Kilovolt-Leitung funktioniert, da wäre
ich vorsichtig.
Die Bürger protestieren gegen
große Infrastrukturprojekte, aber
selten gegen den Bau einer
neuen Automobilfabrik. Warum?
Die meisten Diskussionen werden
in Schwarz-Weiß geführt. Wie
kann man diese Schützengräben
überwinden?
Wir haben bei den Infrastrukturprojekten viel Unwissenheit, gerade im
Strombereich. Dann hat es natürlich
auch mit der öffentlichen Darstellung des Themas zu tun. Wir sehen
zur besten Sendezeit in ARD und
ZDF Berichte, dass das Dorf XY
energieautark ist. Jeder schraubt
sich seine Fotovoltaikanlage aufs
Dach und meint, dass damit die
Energieversorgung des deutschen
Industriestandorts sichergestellt
werden kann. Und drittens stehen
Großprojekte von großen Energieversorgern ohnehin in einem
schlechten Licht da, weil die Unternehmen schlecht dastehen. In den
Augen vieler Bürger wollen sie nur
ihr Geschäft sichern.
Der Anspruch, mit Beteiligungsverfahren 100 Prozent der Bevölkerung
hinter sich zu bekommen, ist falsch.
Und wir sollten nicht so tun, als ob
wir jeglichen Protest verhindern
könnten. Das werden wir nicht hinbekommen, weil die Interessen zu
unterschiedlich sind. Wenn ich ein
Haus habe und davor eine Stromtrasse gebaut wird, stört die einfach mein Sichtfeld. Da hilft mir die
beste Kommunikation nichts. Wenn
wir die Energiewende wollen, dann
hat das Einfluss auf unsere Landschaft und unser Lebensumfeld.
Das kann man nicht schönreden,
aber man muss sich bewusst machen, was wir dadurch vermeiden.
Wir haben uns in Deutschland
angewöhnt, dass wir 70 Prozent
unserer Energie importieren, oder
anders formuliert: Wir exportieren
70 Prozent der Umweltbelastung.
Und wenn wieder eine Ölplattform
im Golf von Mexiko versinkt, gibt es
große Aufregung.
Können Bürgersolaranlagen und
-windparks helfen und für mehr
Akzeptanz sorgen?
Ja, eindeutig, das ist auch nachweisbar und in Schleswig-Holstein
zu beobachten. Früher haben wir
über Diskoeffekte von Windkraftwerken oder etwa Schattenwurf
diskutiert. Heute ärgern sich die
Leute, wenn es keinen Diskoeffekt
gibt, weil sie dann wissen, dass sich
ihr Konto nicht füllt. Zugegeben,
ich übertreibe ein wenig. Es ist aber
so, dass die finanzielle Bürgerbeteiligung mit dem Image zu tun hat.
Die Leute sagen in ihrem Bekanntenkreis mit einem gewissen Stolz:
„Ich habe einen Windpark.“ Ob es
Trotzdem: Niemand bezweifelt,
dass Bürgerbeteiligung heute
ein Muss ist. Brauchen wir mehr
Beteiligungsmöglichkeiten?
Das bezweifle ich auch nicht, aber
aus meiner Sicht reichen die Beteiligungsmöglichkeiten aus. Die Frage
ist, wann man mit der Kommunikation beginnt. Ich denke, die Beteiligung der Bevölkerung über Kommunikation sollte früher beginnen.
Zu welchem Zeitpunkt?
Nehmen Sie den Bundesnetzplan,
der gerade erarbeitet wird. Die
Information der Bevölkerung über
diesen Erarbeitungsprozess ist
mangelhaft. Im Herbst 2011 ist der
Szenariorahmen definiert worden.
Schon allein den Szenariorahmen
hätte man in der Öffentlichkeit viel
stärker kommunizieren müssen,
damit die Bevölkerung sich auch
damit beschäftigen kann. Stattdessen passiert jetzt Folgendes: Im
Juni wurde der Bundesnetzplan
kommuniziert. Die Leute sind auf
diese Diskussion aber medial gar
nicht eingestimmt. Man hätte das
zurückliegende halbe Jahr wirklich
nutzen müssen, um die Leute über
den Prozess zu informieren. Jetzt
laufen wir Gefahr, dass im Juni,
wenn der Netzplan vorgelegt wird,
ein großer Aufschrei durch das
Land geht, weil mehr Kilometer herauskommen als die, die bisher in
der Diskussion waren.
Die Bürger wollen nicht nur
gehört werden, sondern auch
mitreden. Sehen Sie konkrete Mitsprachemöglichkeiten
in Beteiligungsverfahren?
Bei Gas- oder Kohlekraftwerken fehlt
mir die Fantasie für reale Mitsprachemöglichkeiten. Vielleicht über
die architektonische Gestaltung der
Gebäude. Wir reden derzeit auch
über die Gestaltung von Strommasten, damit sie besser in das Landschaftsbild passen, wie zum Beispiel
bei der Thüringer Waldtrasse. Bei
weitergehenden Gestaltungsmöglichkeiten wäre ich sehr vorsichtig.
Stephan Kohler 211
Oliver Krischer
»Wir brauchen eine offenere und
transparentere Planungskultur.«
Oliver Krischer über die Gründe für Proteste gegen Großprojekte,
Bürgerbeteiligung nach Stuttgart 21 und die Folgen der Energiewende.
Ist die eigene Betroffenheit der
ausschlaggebende Grund für Proteste gegen Großprojekte?
der Protest ist dann auch ein Engagement für ein allgemeines Ziel.
Das trifft sicherlich auf viele Projekte
zu, aber längst nicht auf alle. Es gibt
die persönliche Betroffenheit, bei
der Bürger eine Verschlechterung
für das persönliche Lebensumfeld
befürchten. Es gibt aber selbstverständlich auch den Protest, weil
man das Projekt an sich und die
damit verbundene Entwicklung für
falsch hält.
Ist der Verbraucher widersprüchlich, weil er die Energiewende
unterstützt, aber Windräder oder
Stromleitungen in Sichtweite
ablehnt?
Zur Person
Spielen denn ideologische
Gründe heute noch eine Rolle?
Der studierte Biologe war vor seiner
Wahl zum Bundestagsabgeordneten
2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter
der Landtagsfraktion von Bündnis
90/Die Grünen in NRW und unter
anderem zuständig für Klima, Energie und Landwirtschaft. Im Bundestag ist er Mitglied im Ausschuss für
Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit sowie stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für Wirtschaft
und Technologie. Oliver Krischer
engagiert sich zudem im BUND
sowie im NABU. Schwerpunktthemen seiner Arbeit sind der Klimawandel und die Energiewende.
Nein, das sind keine ideologischen
Gründe, sondern da geht es um
grundsätzliche Fragen, die auf
Widersprüche in der Gesellschaft
hindeuten. Das ist zum Beispiel der
Fall, wenn ein Projekt allgemein formulierten Zielen der Politik und der
Gesellschaft wie dem Klimaschutz
oder der Verkehrsplanung zuwiderläuft. Die Menschen merken an vielen Stellen sehr wohl, dass die Formulierung politischer Ziele auf der
einen Seite und praktisches Handeln, das sich dann oft in Großprojekten manifestiert, auf der anderen
Seite auseinanderfallen. Natürlich
sind das Grundsatzhaltungen und
212 INTERVIEWS
Natürlich hat niemand gerne ein
Kraftwerk, eine Stromleitung oder
ein Windrad in seinem Garten stehen. Die Frage ist immer nur, wie
werden solche Projekte begonnen?
Wenn die Bürger verstehen, warum
eine bestimmte Entscheidung notwendig ist, dann sind sie auch bereit,
Belastungen zu akzeptieren. Wenn
sie sich dann konstruktiv in den Planungsprozess einbringen, heißt das
ja nicht, dass man prinzipiell dagegen ist, sondern es geht dann oft um
Fragen der konkreten Ausgestaltung.
Natürlich gibt es immer Leute, die
nur ihr persönliches Umfeld interessiert und die gegen alles sind. Das ist
aber eine Minderheit.
Kann auch eine Entscheidung für
ein Kohlekraftwerk notwendig
sein, schließlich werden alte
klimaschädliche Anlagen durch
moderne klimafreundlichere
Anlagen ersetzt?
Diese politische Debatte führen wir
seit Jahren. Die Antwort darauf ist:
Mit den neuen Kohlekraftwerken
zementieren wir eine alte, überkommene Struktur. Es gibt einen politischen Konsens in Deutschland, dass
die erneuerbaren Energien in den
nächsten Jahrzehnten mindestens
80 Prozent ausmachen müssen. Ein
bestimmter Sockel an Kohlekraftwerken passt nicht zu diesem Ziel.
Die Argumentation des effizienteren Kraftwerks ist für mich auch aus
einem anderen Grund nicht einleuchtend. Ein Kraftwerk, das vorher
einen Wirkungsgrad von 35 Prozent
hatte und dann einen von 45 hat,
ist zwar effizienter, aber noch weit
davon entfernt, klimafreundlich oder
hocheffizient zu sein.
Bleiben wir noch einen Moment
bei den Protesten. Wenn es um
die Führung von Stromtrassen
geht, wird es sicherlich Konflikte
geben. Wer kann vermitteln und
eine Mediationsfunktion übernehmen?
Sie gehen davon aus, dass es Proteste geben wird – dahinter würde
ich schon mal ein Fragezeichen setzen. Bei jedem Projekt wird es Diskussionsbeiträge aus der betroffe-
nen Bürgerschaft geben, auch
grundsätzlicher Art. Das Entscheidende ist nicht, wer das Mediationsverfahren leitet. Entscheidend
ist, dass Projektinitiatoren ihre Planungen von vornherein transparent machen. In der Vergangenheit
wurde mit einer kleinen Mitteilung
im Anzeigenteil der Zeitung
bekannt gegeben, dass man sich
14 Tage lang im Rathaus einen Plan
angucken kann – das bekam doch
niemand in der Bürgerschaft mit
und plötzlich gab es vollendete Tatsachen.
Was schlagen Sie vor?
Wir brauchen in Deutschland eine
offenere und transparentere Planungskultur, die die Menschen von
der Grobkonzeption bis zur fertigen Planung einbezieht. Sie müssen mit den Menschen vorab diskutieren, wie man welche Trasse
gestalten kann und welcher Standort der sinnvollste ist. Natürlich
dauert das eine Zeit lang. Am Ende
ist es für die Projektbetreiber einfacher, weil man Klagen vermeiden
kann. Und wenn man im Verfahren
feststellt, dass man sich überhaupt
nicht einigen kann, ist eine Mediation sinnvoll.
Zu welchem Zeitpunkt sollen
Bürger einbezogen werden?
Meines Erachtens ist es schon zu
spät, wenn die Initiatoren anfangen,
den ersten Plan zu zeichnen, der
über eine Skizze hinausgeht. Ein
Unternehmen oder auch der Staat
sollten an die Öffentlichkeit gehen,
wenn sie sich darüber im Klaren
sind, dass sie ein Projekt realisieren
wollen. Zumindest in der betroffenen Region sollte man darüber informieren, was man sich im Groben
vorstellt. Im Prozess muss man dann
über die konkrete Ausgestaltung
diskutieren. Für Probleme gibt es oft
Lösungen, die nicht sofort auf der
Hand liegen. Da kann es nur sinnvoll
sein, die Ideen und Alternativen der
Bürger zu hören. Das findet heute
viel zu wenig statt.
Was läuft falsch?
In der Praxis ist es häufig so, dass
ein Unternehmen schon Millionen
in einen Plan investiert und auf den
Zentimeter festgelegt hat, wo welche Straßenlaterne hingestellt werden soll. Da ist die Konfrontation
schon vorprogrammiert und die
Stimmung von vornherein schwierig. Das ist für alle Beteiligten ein
Lernprozess. In Deutschland ist das
Oliver Krischer 213
auch eine Kulturfrage. Wir haben
aufwendige Planungsverfahren, die
aber im Ergebnis Bürgerbeteiligung
eher verhindern als befördern. Die
Schweizer sind da anders, weil sie
mehr Tradition bei Bürgerbeteiligung von der ersten Projektüberlegung bis zur Realisierung haben.
Die kriegen dann auch ein Projekt
wie den Gotthardtunnel hin.
Sollte man die Menschen grundsätzlich über ein Projekt abstimmen lassen?
Projekte sind oft Ausdruck eines allgemeinen gesellschaftlichen Bedürfnisses oder Bedarfs, sei es beispielsweise für Energieerzeugung oder für
Mobilität. Zur Ehrlichkeit gehört
dann auch dazu, die Konsequenzen
tung des Projektes im Grundsätzlichen sprechen.
während Bürgerinnen und Bürger
gar nicht gefragt werden.
Entwickelt sich diese Kultur
gerade bei uns?
Sollte man bestimmte Beteiligungsmöglichkeiten gesetzlich
festschreiben?
Ja, sie entwickelt sich, weil viele
Unternehmen und auch der Staat
aus den Erfahrungen von Stuttgart
21 gelernt haben und wissen:
Selbst wenn man einen Planfeststellungsbeschluss durch Gerichte
durchgefochten hat, ist es legitim,
dass Menschen ein Projekt weiter
hinterfragen, denn Bedingungen
ändern sich oft sehr schnell, wie
etwa bei der Energiewende. Mein
Eindruck ist, dass bei neueren Planungen wie bei manchen Stromleitungsprojekten schon ganz anders
agiert wird.
»Bei den Planungsverfahren
kann man noch eine
ganze Menge entschlacken.«
zu benennen: Wenn wir Variante A
nicht umsetzen, kommt Variante B.
Nicht bauen bedeutet dann zum Beispiel bei Schienenstrecken oder
Straßen Verkehrsbelastung an einer
anderen Stelle. Es kommt darauf an,
dass sich alle Beteiligten über die
Folgen im Klaren sind, wenn Variante A nicht kommt. Diese Debatte
ist sicherlich nicht einfach, weil es
eine in Deutschland wenig praktizierte Kultur ist. Wir sind da alle
immer sehr preußisch: Bei uns
kommt eine Behörde, legt einen
Plan auf den Tisch und das ist dann
der Kampfpunkt. Es fehlt der Prozess, dass wir über die Ausgestal214 INTERVIEWS
Wir haben relativ lange Planungsverfahren in Deutschland. Sind
mehr Bürgerbeteiligung und
kürzere Planungsverfahren ein
Widerspruch?
Bei den Planungsverfahren kann
man noch eine ganze Menge entschlacken. Für die Diskussion über
ein Projekt, seine Notwendigkeit
und die Ausgestaltung müssen wir
uns mehr Zeit nehmen. Im Gegenzug kann man dann im Planverfahren das ein oder andere vielleicht
verkürzen. Da gibt es sehr viele formale Regelungen und Beteiligungen von Institutionen, die mit der
Planung gar nichts zu tun haben,
Von Zwangsmechanismen im Vorfeld eines Planungsverfahrens halte
ich nichts. Wir neigen in Deutschland dazu, von einem Extrem ins
andere zu fallen. Solche Verfahren
sollten im allgemeinen Rahmen und
nicht mit 27 Unterparagrafen geregelt werden. Wir können Kriterien
definieren und Verfahren entwickeln, die einen empfehlenden Charakter haben, sodass sich Unternehmen oder öffentliche Planer daran
orientieren können.
Kann mehr Bürgerbeteiligung im
Zweifelsfall Planungsunsicherheit für Unternehmen bedeuten?
Exakt das Gegenteil ist der Fall. Im
Endeffekt ist es für Unternehmen
besser, die Schwierigkeiten am
Anfang statt am Ende des Prozesses
zu kennen. Das schafft für Unternehmer mehr Rechtssicherheit. Wenn
ich Bedenken im Vorfeld klären kann
und Menschen mitnehme, ist die
Wahrscheinlichkeit, dass es nachher
Klagen gibt, sehr viel geringer.
Neben den Bürgerprotesten gibt
es einen weiteren Konfliktpunkt,
den zwischen Energiewende und
Natur- bzw. Tierschutz. Wie kann
man solche Konflikte auflösen?
Alle müssen sich darüber im Klaren
sein, dass der Ausbau der erneuerbaren Energien Konsequenzen für
die Landschaft hat und am Ende
auch Naturschutzfragen tangiert.
Nicht jedes Windrad ist an jedem
Standort sinnvoll, aber wenn die
Energiewende abgeschlossen ist,
wird es wenig Ecken in Deutschland
ohne Windenergieanlagen geben.
Wenn man sich grundsätzlich einig
ist, dass eine Windkraftanlage oder
eine Biogasanlage sinnvoll ist, gibt
es in jedem Ort und in jeder Region
auch eine Lösung.
ausgestatteten Energieeffizienzfonds geben muss, der Kommunen
hilft, die energetische Gebäudesanierung durchzuführen. Wir wollen
das durch Abbau umweltschädlicher
Subventionen wie zum Beispiel des
Dienstwagenprivilegs finanzieren.
Sie machen sich stark für Energieeffizienz. Das betrifft Kommunen
und private Haushalte. Die Kommunen wehren sich gegen die
energetische Gebäudesanierung
von drei Prozent im Bestand pro
Jahr. Was sagen Sie dazu?
Brauchen wir Brückentechnologien?
Die Kommunen wehren sich nicht
prinzipiell dagegen, sondern ihnen
fehlt das Geld. Das Problem ist,
dass Energieeffizienz immer gerne
als Belastung dargestellt wird. Energieeffizienz ist aber auch ein Geldsparthema, gerade wenn man sich
die Heizkosten, Strom- und Gasrechnungen der Kommunen anschaut.
Es gibt viele Beispiele von Kommunen, die das konsequent angegangen haben und die ihre Gebäude
saniert oder oft auch nur ihre Hausmeister geschult haben. Das sind
oft Kleinigkeiten, mit denen man
viel bewirken kann. Das rechnet
sich schon über einen Zeitraum von
zwei, drei Jahren.
Wie kann man den Kommunen
finanziell helfen?
Man könnte gegebenenfalls einfach
zinslose oder zinsgünstige Darlehen
ausgeben. Die öffentliche Hand,
das sind Kommunen, genauso der
Bund und die Länder, habt eine
Vorbildfunktion. Sie können nicht
von Privatleuten erwarten, dass sie
ihr Häuschen sanieren, obwohl Sie
selbst im Rathaus noch Fenster von
1953 haben. Wir denken, dass es
auf Bundesebene einen vernünftig
Der Begriff Brückentechnologie ist
ein bisschen verbrannt in der deutschen Debatte, deshalb benutze ich
ihn ungern. Wenn man davon redet,
betrifft das natürlich das Thema Gas,
weil Gas flexible Formen der Stromerzeugung und hocheffiziente KraftWärme-Kopplung möglich macht.
Das ist sicherlich eine Erzeugungsart,
die uns auf Jahre und Jahrzehnte als
Ausgleich für die schwankende
Erzeugung aus erneuerbaren Energien weiter begleiten wird. Der wirtschaftliche Betrieb von Kohlekraftwerken, gerade solchen, die jetzt ans
Netz gehen und noch 20 bis 30 Jahre
laufen, wird dagegen immer schwieriger und passt nicht zum Ausbau der
erneuerbaren Energien. Aber die
Inbetriebnahme genehmigter Anlagen stellt auch niemand in Frage,
wenn die Betreiber das wollen.
Die Energiewende kostet Geld.
Wer soll sie bezahlen?
Natürlich kostet die Energiewende
Geld, und im Endeffekt werden diejenigen, die Energie verbrauchen,
das bezahlen. Und das sind wir alle.
Aber die Horrorzahlen, die da oft
von interessierter Seite genannt
werden, sind Panikmache. Ich sehe
das als Investition in die Zukunft,
die wir an vielen Stellen sowieso
machen müssen. Wenn Sie eine
Windkraftanlage bauen, dann kostet das zuerst Geld, und danach ent-
stehen fast keine Kosten mehr. Laut
Bundesamt für Statistik haben wir
im Jahr 2011 für 86 Milliarden Euro
fossile Rohstoffe importiert. Mir
wäre es am liebsten, wenn da eine
Null stünde. Das Geld für Energieimporte könnten wir besser für andere
Maßnahmen einsetzen. Im Moment
sorgen wir mit der EEG-Umlage
dafür, dass der Strom zukünftig
nicht nur umweltschonend, sondern
auch günstig mit regionaler Wertschöpfung zu haben sein wird.
In der Diskussion wird häufig
sehr schwarz-weiß gemalt. Wie
kann man neue Maßstäbe setzen, um diese Schützengräben
zu überwinden?
Das geht am besten, wenn man
Betroffene von vornherein einbindet.
Das ist der einzige Weg, aus dieser
Schützengrabenmentalität herauszukommen. Wie es gehen kann, sehen
wir im Moment in der Eifel, wo ein
Pumpspeicherwerk gebaut werden
soll. Dort wurden keine fertigen
Pläne hingelegt, sondern eine Landkarte mit Möglichkeiten, wo der
Pumpspeicher entstehen könnte.
Damit sind die Investoren in einem
sehr frühen Stadium auf alle potenziell Betroffenen zugegangen und
haben teilweise auch Einzelgespräche geführt. Das ist die Zeit und das
Geld wert, weil es von Einzelfällen
abgesehen eine sehr breite Akzeptanz gibt.
Oliver Krischer 215
Dr. Johannes F. Lambertz
»Zeigen die Proteste eine neue
gesellschaftliche Entwicklung?«
Dr. Johannes F. Lambertz über Erwartungen an die Politik
und die Praxis der Bürgerbeteiligung bei Genehmigungsverfahren.
Landauf, landab stoßen Großprojekte auf Akzeptanzprobleme.
Sind wir tatsächlich auf dem Weg
in die „Dagegen-Republik“, wie
manche Medien kommentieren?
Zur Person
Dr. Johannes F. Lambertz ist seit
Februar 2008 Vorstandsvorsitzender der RWE Power AG mit Zuständigkeit für Braunkohlekraftwerke
und Tagebau. Der Diplom-Ingenieur
war zuvor seit 2003 im Vorstand
von RWE Power für das Ressort fossil befeuerte Kraftwerke verantwortlich. Seine Laufbahn im RWEKonzern begann er 1981 bei der
Rheinbraun AG, in deren Vorstand
er 2002 berufen wurde.
216 INTERVIEWS
Bei der Realisierung von Großprojekten gibt es in der Tat zunehmend
Schwierigkeiten. Gerade im Bereich
der Energiewende wissen die Bürger zwar um die Notwendigkeit von
Infrastrukturprojekten und unterstützen diese in der Theorie, aber
nur solange die eigene „Komfortzone“ nicht berührt wird – diese
Diskrepanz belegen auch viele
aktuelle Umfragen. Dennoch ist das
Bild der „Dagegen-Republik“ überzogen, denn Protestbewegungen
und ihre Darstellung in den Medien
sind das eine. Der tatsächliche Bürgerwille ist das andere. Das hat der
Fall von Stuttgart 21 eindrucksvoll
bewiesen, denn das überraschend
eindeutige Ergebnis des Volksentscheids war genau das Gegenteil
von dem, was auf den Titelseiten
der Zeitungen häufig zu lesen war.
Man sollte also nicht vergessen,
dass eine „schweigende Mehrheit“
häufig eine neutrale bis positive
Haltung zu Projekten hat und es oft
nur eine allerdings sehr sprachfähige Minderheit der Bevölkerung
ist, die gegen ein Projekt öffentlich
Stellung bezieht.
Zeigen die Proteste eine neue
gesellschaftliche Entwicklung?
Es ist nicht neu, dass Menschen
Beeinträchtigungen in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld nicht gerne
in Kauf nehmen. Was sich aber
geändert hat, ist die Fähigkeit der
Politik, klare Leitplanken zu setzen
und bei notwendigen Maßnahmen
auch mal Gegenwind auszuhalten.
Die Politik kann nicht nur Wellness
verkünden, sondern muss auch
deutlich machen, dass alles Risiken
und Nebenwirkungen hat.
Denken Politiker heute zu sehr
in Legislaturperioden?
Politiker haben sich ein Stück weit
an die allgemeinen Rahmenbedingungen angepasst. Früher waren
Politiker erfolgreich, die Ecken und
Kanten hatten und bei denen man
wusste, wofür sie stehen. Wenn ein
Politiker heute so ist, verliert er
wahrscheinlich die nächste Wahl.
Die Konsequenz ist, dass wir viele
glatt geschliffene Politiker haben
und sich die Glaubwürdigkeit dieser Berufskaste – ähnlich wie bei
den Managern – in den letzten Jah-
ren deutlich verschlechtert hat.
An der Begeisterung für Herrn
Gauck als Bundespräsident konnte
man sehen, dass die Menschen
eine Sehnsucht nach Orientierung
und Geradlinigkeit haben. Daher
denke ich, dass am Ende der Politiker der erfolgreichste ist, der
authentisch, ehrlich und transparent sagt, was er denkt.
Was erwarten Sie im Gegenzug
von der Wirtschaft?
Unternehmer und Manager müssen
vor allem glaubwürdig sein. Dazu
gehört, dass man neben Vorteilen
von Projekten auch Nachteile deutlich anspricht. Dabei sollte man
einerseits nicht verhehlen, dass man
Geld verdienen möchte. Gleichzeitig
können aber auch nur erfolgreiche
Unternehmen Arbeitsplätze schaffen und sichern. Ein Unternehmen
hat naturgemäß das Ziel, Gewinn zu
produzieren und die Voraussetzungen zu schaffen, nachhaltig bestehen zu können. Gleichzeitig ist es
aber auch Teil der Gesellschaft und
muss ihren Anforderungen gerecht
werden. Unternehmen müssen sich
daher aktiv einbringen, wenn es um
die Lösung großer gesellschaftlicher
Probleme geht.
Umfragen zeigen häufig ein eher
negatives Bild der Industrie
bei den Menschen. Was ist die
Ursache?
Das liegt zum großen Teil wohl
daran, dass wirtschaftliche Zusammenhänge oft nicht klar genug sind.
Denn wenn man auf der einen Seite
Windräder und Solarzellen herstellen möchte, braucht man auf der
anderen Seite auch Stahl und Carbonfasern und damit energieintensive Industrien. Das viel stärker
deutlich zu machen, ist auch Aufgabe der Industrie. Generell muss
der Nutzen von Industrie für Wachstum und Wohlstand stärker erkennbar werden. Es ist nicht in unserem
Sinne, dass ganze Industriezweige
nach Indien und China abwandern
und wir die Erzeugnisse dann nach
Deutschland importieren. Und zwar
nicht nur aus volkswirtschaftlichen
Gründen. In Zentraleuropa produzieren wir mit besten Verfahren und
nach höchsten Umweltstandards,
auch das ist ein Wert, der oft übersehen wird. Daran sollten sich auch
diejenigen, die Industrie kritisieren,
hin und wieder erinnern. Und wenn
wir schon einmal beim Thema Klarheit und Wahrheit sind: Eine Industrienation wie Deutschland braucht
zwingend die Versorger, die Strom
in der benötigten Menge jederzeit
zu marktfähigen Konditionen liefern
können und die somit eine Vielzahl
von Arbeitsplätzen sichern.
Insbesondere große Unternehmen werden als gierig und lobbyistisch wahrgenommen. Woher
rührt Ihrer Meinung nach dieses
negative Bild?
Zum einen gilt bei uns grundsätzlich
„small is beautiful“, sodass große,
internationale Unternehmen hier
immer mit einer gewissen Skepsis
betrachtet werden. Zudem ist die
Wirtschaft unübersichtlicher und
vielleicht auch intransparenter
geworden. Wenn Produktionsstätten ins Ausland verlagert werden, ist
das in vielen Fällen nicht eine Frage
von Gier, sondern von unternehmerischem Überleben. Das ist der Allgemeinheit und vor allem Betroffenen
oft nur schwer oder gar nicht zu
erklären. Die emotionale Bewertung
prägt aber häufig das Bild. Bezüglich
des Lobbyismus wäre ich auch vorsichtig mit pauschalen Generalisierungen. Dass Unternehmen für ihre
Interessen eintreten, ist nicht verwerflich. Eine gesunde Wirtschaft
braucht einen gesunden Dialog zwiDr. Johannes F. Lambertz 217
schen Industrie und Politik. Dieser
muss allerdings transparent und
offen sein. Hier kann auch die Industrie sicher noch lernen.
Was kann die Wirtschaft tun, um
die Notwendigkeit von Investitionen deutlich zu machen?
Der Investor muss den Nutzen seiner
Investition in der heutigen Zeit frühzeitiger erläutern. Dabei reicht die
Begründung nicht mehr, dass etwas
betriebswirtschaftlich wichtig ist,
man damit Geld verdienen kann und
Arbeitsplätze schafft. Vielmehr
muss der Investor der betroffenen
Bevölkerung auch den Sinn des Projekts verdeutlichen. Wenn es bei-
Seiten ab. Ist es Ziel des Protestes,
ein geplantes Projekt zu verändern,
Nachteile zu minimieren, Vorteile
auszubauen – also im Dialog das
Projekt zu verändern? Oder soll das
Projekt verhindert werden, egal welche alternativen Gestaltungsmöglichkeiten der Investor auf den Tisch
legt? Bei einer grundsätzlich ablehnenden Haltung läuft fast jeder Versuch, für Akzeptanz zu werben, ins
Leere. Wenn beide Seiten aufeinander zugehen, gelingt es aber auch in
vielen Fällen, Lösungen zu finden.
Es ist deshalb Pflicht der Industrie,
sich mit allen Bürgern, die durch
Projekte betroffen sind, auseinanderzusetzen.
»Dialog muss freiwillig sein,
er kann nicht
verordnet werden.«
spielsweise um die Errichtung eines
Kohle- oder Gaskraftwerks geht,
muss er erklären, warum das Kraftwerk aus seiner Sicht für unsere
Gesellschaft in Summe sinnvoll ist.
Nur so kann man Zustimmung erhalten. Daneben unterliegt die
Bewertung von Investitionen auch
immer konjunkturellen Trends: In
schlechten Zeiten werden sie als
wichtig angesehen, in guten Zeiten
neigt man dazu, sie als selbstverständlich oder sogar als überflüssig
zu betrachten.
Können Sie verstehen, dass man
aufgrund persönlicher Nachteile
gegen Großprojekte protestiert?
Was ist der Schlüssel zu mehr
Akzeptanz?
Eine Folge des gesellschaftlichen
Wandels ist, dass jeder Einzelne primär seine eigenen Interessen verfolgt und weniger auf die Allgemeinheit achtet. Das gilt für den Manager
genauso wie für den Politiker, den
Gewerkschaftsfunktionär oder den
normalen Bürger. Man muss aber
auch anerkennen, dass einzelne
Betroffene persönliche Nachteile
von neuen Großprojekten oder Infrastrukturmaßnahmen haben. Hier gilt
es, einen fairen Interessenausgleich
zu finden.
Transparenz, Einbindung und Bereitschaft, aufeinander zuzugehen. Der
Erfolg hängt aber immer von beiden
Es gibt den Vorschlag, dass Projektinitiatoren NGOs oder Bür-
218 INTERVIEWS
gerinitiativen zwei Prozent der
Investitionsmittel für Kommunikationsmittel oder für Gutachten
zu Verfügung stellen. Was halten Sie davon?
Dieser Vorschlag impliziert, dass im
Moment keine Kommunikation auf
Augenhöhe stattfindet. Das ist unserer Erfahrung nach nicht der Fall,
denn gerade im Hinblick auf Kampagnen und den Zugang zu Medien
sind NGOs den Unternehmen oder
der Politik durchaus gewachsen,
wenn nicht gar ihnen gegenüber im
Vorteil. Dazu kommt, dass NGOs
untereinander sehr gut vernetzt sind
und so eine sehr große Schlagkraft
haben. Von solchen Gesichtspunkten
abgesehen spielt aber auch noch ein
anderer Aspekt eine Rolle, und zwar
die Frage der rechtlichen Legitimation von NGOs in solchen Prozessen.
Wir haben einen Gesetzgeber, der
die Gesetze erlässt, und eine Genehmigungsbehörde, die prüft, ob die
Gesetze eingehalten werden. Das
sind die zwei Spieler, die neben den
persönlich Betroffenen ihre Rolle
übernehmen müssen. Wenn nun
aber Bürgerinitiativen oder NGOs,
die ja nicht unbedingt Allgemein-,
sondern häufig Partikularinteressen
vertreten, zwischen Gesetzgeber
und Genehmigungsbehörde geschaltet werden und die Projektinitiatoren
hierfür auch noch zahlen sollen,
dann stellen wir unser ganzes System auf den Kopf.
Heißt das, dass die NGOs nur
die Interessen von Minderheiten
vertreten?
Nicht zwingend, aber klar ist doch,
dass sie nicht für die gesamte
Bevölkerung sprechen können. Die
Genehmigungsbehörde agiert nicht
in einem luftleeren Raum, sondern
erfüllt den Auftrag des Gesetzgebers. Sie ist dazu verpflichtet, Bürger einzubeziehen und deren Anliegen im Genehmigungsverfahren zu
reflektieren. Das führt in manchen
Fällen dazu, dass Sachverhalte noch
weiter gehender Überprüfungen
bedürfen. Ich gehe davon aus, dass
die Genehmigungsbehörde ihre
Pflicht sorgfältig erfüllt. Wer daran
zweifelt, kann dagegen klagen,
denn wir leben in einem Rechtstaat.
Warum spielen NGOs in diesen
Diskussionen eine so große Rolle?
NGOs besitzen in der Bevölkerung
eine hohe Glaubwürdigkeit, insbesondere weil man ihnen keine Profitorientierung unterstellt. Viele Menschen sind ehrenamtlich in NGOs
tätig und es ist gut, dass wir diese
Organisationen haben. Schwierig
wird es nur, wenn es in der Diskussion um ideologische Grundsatzfragen geht. In derartigen öffentlichen
Debatten werden NGOs auch in den
Medien häufig sehr positiv dargestellt und viele Statements werden
ungeprüft übernommen, obwohl es
viele Beispiele gibt, bei denen Fakten nicht gestimmt haben.
Sehen Sie die Gefahr, dass
die Medien das Meinungsbild
verzerren?
Ja, das hat man bei Stuttgart 21
deutlich gesehen. Die Menschen
glauben natürlich vieles, was die
Medien verkünden, deswegen sollten sich Medien ihrer Verantwortung in gesellschaftlichen Debatten
sehr wohl bewusst sein. Fakt ist
aber: Je besser Menschen informiert sind, desto eher können sie
sich eine eigene Meinung bilden.
Das ist schlussendlich eine Frage
des Wissens. Wir sollten schon viel
früher, im Kindergarten oder in der
Grundschule, beginnen, Interesse
für Naturwissenschaften sowie
Technik zu wecken und Zusammenhänge zu erklären. In den Niederlanden wird beispielsweise sehr viel
Geld für den Deichbau ausgegeben, was ja auch Protest hervorrufen könnte. Aber schon im Kindergarten wird dort erklärt, warum
Deichbau in den Niederlanden so
wichtig ist. Genauso müsste man
auch in Deutschland erklären, dass
wir unseren hohen Wohlstand unserer starken Industrie verdanken.
Was halten Sie von informellen
Beteiligungsformaten, gerade
mit dem Ziel, alle Fakten noch
einmal sachlich zu diskutieren?
Bevor man sich in Schützengräben
verschanzt, sollte man der Öffentlichkeit ein Projekt mit allen Vor- und
Nachteilen vorstellen. Informelle
Beteiligungsmöglichkeiten, wie
runde Tische, Nachbarschaftsforen,
Informationsangebote oder Ähnliches, können hierfür durchaus sinnvoll sein. Aber dabei gilt: Es gibt
keine „One size fits all“-Lösung. Die
Projekte sind unterschiedlich, deswegen müssen auch die Instrumente
unterschiedlich sein. Mitten in der
Innenstadt von Stuttgart ist die
Situation völlig anders als bei einem
Windrad in der Eifel.
Sollten solche Verfahren denn
verbindlich werden?
Dialog muss freiwillig sein, er kann
nicht verordnet werden. Wenn ein
Unternehmen klug ist, wird es solche Formate einsetzen. Aber die
Entscheidung kann nur beim Unternehmen selbst liegen. Und noch
etwas: Runde Tische zum Beispiel
dürfen auch nicht zu einer Ersatzge-
setzgebung führen. Beachtet werden muss auch, dass diese Instrumente der Partizipation nicht zu
Verfahrensverzögerungen missbraucht werden dürfen. In der Energiewende zum Beispiel, beim Netzausbau, wird das Dilemma deutlich:
Alles soll ganz schnell gehen und
gleichzeitig mit ganz viel Bürgerbeteiligung. Dieser Widerspruch muss
noch gelöst werden.
Deshalb alles beim Alten
belassen?
Die derzeit praktizierten Genehmigungsverfahren sind ein erprobtes
System zur gestuften Bewertung
von Infrastrukturprojekten. Sie beinhalten schon heute Einspruchsmöglichkeiten und Formen der Mitgestaltung für betroffene Bürger.
Diese Möglichkeiten werden in vielen Fällen – allerdings unspektakulär
und mit wenig medialer Anteilnahme – wahrgenommen und führen häufig auch zu Veränderungen
der Planung. Die Novellierung des
Verbandsklagerechts erweitert
diese Möglichkeiten noch. An der
einen oder anderen Stelle können
Anpassungen sinnvoll sein. Doch
sollten wir nicht leichtfertig Bewährtes über Bord werfen. Zumal eine
wirkliche Alternative nicht erkennbar ist. Deshalb ist mein Appell: Wer
über neue oder zusätzliche Verfahrenswege nachdenkt, sollte darauf
achten, dass diese die bewährte
Genehmigungspraxis nicht aushöhlen oder unsicher machen.
Dr. Johannes F. Lambertz 219
Dr. Gerd Landsberg
»Wir brauchen die transparente
Demokratie.«
Dr. Gerd Landsberg über die Rolle der Kommunen bei der Energiewende
und Verbesserungsmöglichkeiten der Planfeststellungsverfahren.
Der Deutsche Städte- und
Gemeindebund hat den Begriff
der „transparenten Demokratie“ geprägt. Was bedeutet das
konkret?
Zur Person
Der promovierte Jurist ist seit 1998
Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes.
Zuvor war er Richter am Oberlandesgericht Düsseldorf und Referent im
Bundesministerium der Justiz. Im
Rahmen der Energiewende engagiert
sich Dr. Gerd Landsberg für die Einbindung der Städte und Gemeinden
sowie der Bürger.
220 INTERVIEWS
Damit ist die frühzeitige, anschauliche und nachhaltige Bürgerbeteiligung gemeint. Transparent bedeutet im Hinblick auf die Realisierung
von Großprojekten, dass die Bürger
als Voraussetzung einer aktiven
Beteiligung die Inhalte der oft hochkomplexen Planungen verstehen
können müssen. Deswegen ist es
ganz wichtig, derartige Vorhaben
von Beginn an, etwa durch zusammenfassende Erklärungen sowie
kurze und anschauliche Darstellungen statt 100-seitiger Gutachten,
transparent zu machen. Uns muss es
gelingen, bereits im Stadium der Planung den Baubeginn in Form eines
„virtuellen Baggers“ vorzuziehen.
Wie weit geht diese Mitwirkung?
Die Gesamtabwägung der verschiedenen Interessen und Belange
erfolgt in der Verantwortung des
Planungsträgers und damit auch der
Kommune. Insofern kann aber eine
verstärkte Bürgermitwirkung unsere
repräsentative Demokratie konstruktiv bereichern.
Wie kann man zu hohe Erwartungen vermeiden?
Die repräsentative Demokratie hat
sich auf der Grundlage des Grundgesetzes in über 60 Jahren bewährt.
Danach werden die gewählten Vertreter, also auch die kommunalen
Ratsmitglieder, von den Bürgern legitimiert, Planungsentscheidungen zu
treffen. Die repräsentative Demokratie lebt aber vom Wissen und von
den Ideen ihrer Bürgerinnen und Bürger. Die Einbringung dieses Fundus
bedeutet gerade für die Städte und
Gemeinden bei der Planung von Projekten einen unschätzbaren Mehrwert. Dieses Potenzial zu aktivieren
und vor Ort zu nutzen, ist daher eine
dauerhafte Aufgabe insbesondere
der Städte und Gemeinden.
Reichen die bestehenden Beteiligungsmöglichkeiten im formellen
Verwaltungsrecht aus?
In einigen Fällen ja, in anderen Fällen nein. Die rechtlichen Beteiligungsmöglichkeiten reichen etwa in
der Bauleitplanung aus. Dort findet
eine moderne und in der Praxis vielfach erprobte zweistufige Beteiligung der Bürger statt. Danach muss
die Öffentlichkeit auf der ersten
Stufe möglichst frühzeitig über die
allgemeinen Ziele und Zwecke der
Planung, sich wesentlich unterscheidende Lösungen sowie über die voraussichtlichen Auswirkungen unterrichtet werden. In diesem frühen
Stadium ist der Öffentlichkeit grundsätzlich Gelegenheit zur Äußerung
und Erörterung zu geben (§ 3 Abs. 1
S. 1 BauGB). Dieses Verfahren sollte
zwingend auch bei der Planfeststellung und damit bei klassischen
Großvorhaben, wie beim Autobahnausbau, beim Bahnbau, bei Flughäfen, aber auch bei Energietrassen,
eingeführt werden. Denn bei der
Planfeststellung durch die sogenannten Fachplanungsträger ist bis
dato gerade keine frühzeitige Bürgerbeteiligung zwingend durchzuführen. Vielmehr besteht gerade bei
Großprojekten nicht selten der Eindruck, dass bereits zu Beginn des
Planungsprozesses eine Ergebnisoffenheit nicht mehr gegeben ist.
Was muss in der Verwaltung
passieren, damit Bürger besser
eingebunden werden?
In der Verwaltung bedarf es Strukturen, um auf die breiteren Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung,
insbesondere in Form der neuen
Medien, zu reagieren. Das ist aber
auch eine Kostenfrage. Den Städten und Gemeinden fehlen oftmals
das Geld und qualifiziertes Personal, um eine umfassende Bürgerbeteiligung durchführen zu können.
Wenn aber gerade eine umfassende und moderne Bürgerbeteiligung qualifiziertes Personal und
ausreichende Finanzmittel benötigt, ist speziell für frühzeitige
Grundlagenbeteiligungen eine
klare Regelung auch für die Zuordnung der entstehenden Kosten,
etwa zum späteren Investor, nötig.
Ist das Internet das beste Mittel
für Bürgerbeteiligung?
Es gibt heute im Kommunalbereich
eine sehr starke Nutzung des Internets, zum Beispiel bei Vorschlägen
der Bürger zu Einsparmöglichkeiten
in den Haushaltsplanungen von
Städten und Gemeinden. Man sollte
aber nicht ausschließlich das Internet zur Anwendung bringen. Entscheidend ist oftmals eine unmittelbare Unterrichtung und Einbindung
der Betroffenen. Hierbei hängt die
konkrete Durchführung der Bürgerbeteiligung von der jeweiligen Zielgruppe, dem Aufwand und der Aufgabe ab. Die elektronische (Schrift-)
Kommunikation sollte daher gerade
bei komplexen Planungen grundsätzlich mit Präsenzbeteiligungen,
also auch Bürgerversammlungen
etc., im Sinne eines Kommunikationsmix kombiniert werden.
Wann ist welches Bürgerbeteiligungsformat sinnvoll?
Es gibt keine Königswege. Die Art
und Form der Bürgerbeteiligung ist
jeweils kontext- und projektabhängig. Wenn man noch unterschiedliche Varianten im Grundsatz diskutiert und ein bestimmtes Projekt
eine Dynamik entfalten soll, können
offene Kommunikationsformen wie
das Internet sinnvoll sein, beispielsweise im Bereich der generellen Ausrichtung der Stadtentwicklung oder
bei Einsparungsvorschlägen der Bürger für den Haushalt. Bei solchen
Themen geht es um kreative Ideen.
Wenn es aber zum Beispiel darum
geht, Windenergieanlagen, die aufgrund der Energiewende erforderlich sind, auszubauen, spielen bei
Vorliegen der entsprechenden Rahmenbedingungen in einer Gemeinde
oftmals häufig nur noch die Differenzierungen beim Standort oder
bei der Höhenbegrenzung eine
Rolle. Hier ist daher eine konkrete
Erörterung mit den Bürgern sachgeDr. Gerd Landsberg 221
recht. Grundsätzlich ist es speziell
bei komplexeren Projekten stets
sinnvoll, ergänzend zum Internet
über Bürgerversammlungen den persönlichen Kontakt zu suchen und
eine offene Diskussion mit den
Betroffenen zu führen. Der Sachverstand vieler bringt immer einen
Mehrwert. Es muss aber klar sein,
dass man nie alle Wünsche befriedigen kann.
Wie kann man das Gemeinwohl
mehr in den Vordergrund stellen?
Insbesondere für diejenigen, die
direkt von Projekten betroffen sind,
spielen persönliche Interessen oftmals eine größere Rolle. Diese Interessen führen nicht selten zu einer
Abwehrhaltung. Daher sollte man
auch die Menschen, die nicht
unmittelbar in ihrer Nachbarschaft
von Projekten betroffen sind, viel
frühzeitiger einbeziehen. Hierdurch
kann etwa der gesamtgesellschaftliche Mehrwert zum Beispiel von
Anlagen zur Erzeugung erneuerbarer Energien deutlicher gemacht
werden. Die zu spät erfolgte und im
Ergebnis positive Abstimmung der
Bürger in Baden-Württemberg für
Stuttgart 21 ist hierfür ein Beispiel.
Daher wäre es sinnvoll, bei Projekten dieser Art bereits sehr frühzeitig auf breiter Ebene ein Bürgergutachten erstellen zu lassen. Damit
könnten vermehrt Allgemeinwohlbelange der nicht unmittelbar
Betroffenen einbezogen werden.
Zudem könnte auch der „Not in my
backyard“-Gesichtspunkt relativiert
werden. Denn es ist im Ergebnis
nicht zum Ziel führend, wenn die
Bürger zwar zu über 90 Prozent für
erneuerbare Energien sind, aber
dagegen protestieren, wenn die
Windkraftanlage oder die Biomas222 INTERVIEWS
seanlage in der Nähe des eigenen
Umfelds errichtet wird.
Verzögert Bürgerbeteiligung
Entscheidungsprozesse?
Es besteht in der Tat auf den ersten
Blick ein Spannungsverhältnis zwischen einer umfassenden Bürgerbeteiligung und der gleichzeitigen
Verkürzung von Planungsverfahren.
Umgekehrt kann aber gerade eine
frühzeitige, nachhaltige und
moderne Bürgerbeteiligung dazu
führen, dass Belange der Bürger, die
diese ansonsten häufig erst über
zeitintensive Gerichtsverfahren einbringen würden, bereits im Vorfeld
geklärt werden. Eine frühzeitige und
intensive Einbindung der Bürger
kann daher zu einer Beschleunigung
von Planungsverfahren führen.
Kommen wir zur Energiewende:
Wer ist für ihre Umsetzung verantwortlich?
Bei der Umsetzung der Energiewende spielen viele Akteure eine
wichtige Rolle. Neben Bund und
Ländern sind die Energieerzeuger
und Versorger wichtige Akteure.
Die großen Versorger bringen ihr
Know-how im Bereich der Technik,
der Versorgung und der Hochstromspannungsleitungen mit ein. Die
kommunalen Stadtwerke haben über
ihre Mittlerfunktion als Versorger
und zunehmend auch als Erzeuger
den unmittelbaren Kontakt zum Endkunden, also zum Bürger selbst. Sie
spielen daher eine wichtige Rolle.
Insbesondere haben aber die Kommunen eine ganz entscheidende
Aufgabe. Sie sind die Planungsebene für die Flächennutzungsplanung und den nachfolgenden
Bebauungsplan. Sie sind mit über
176.000 kommunalen Gebäuden der
größte öffentliche Gebäudebesitzer
und auch der größte öffentliche Auftraggeber, etwa bei der Beschaffung
energieeffizienter Produkte. Bei den
Kommunen liegt daher ein großes
energetisches Einsparpotenzial. Die
Kommunen sind die bürgernächste
Ebene und insoweit auch Berater
und Vorbild für Bürgerschaft und
örtliche Wirtschaft. Daher ist die
Energiewende ohne die Kommunen
nicht zu bewerkstelligen. Aber auch
die Bürger sind Akteure und nicht
nur Mitwirkende, weil sie nicht nur
an der Planung der anderen teilhaben, sondern auch über Mehrwertmodelle, also etwa Bürger- oder
Energiegenossenschaften, an der
Energiewende positiv partizipieren
können. Der Bürger wird daher als
Akteur der Energiewende immer
wichtiger. Nur mit dem Bürger werden wir im Übrigen auch eine dezentrale Energieerzeugung und -versorgung gewährleisten können.
Ist finanzielle Beteiligung ein
sinnvolles Modell?
Ja, es ist der richtige Weg, dass man
Bürger über Genossenschaftsmodelle beteiligt und für sie einen greifbaren Mehrwert schafft. Denn man
kann betroffenen Bürgern oder
Gemeinden nicht vermitteln, dass
sie aus Gründen des Allgemeinwohls
durch den Bau von Stromtrassen
einseitig über die damit verbundenen Nachteile die Lasten tragen
sollen. Es ist daher der falsche
Ansatz, wenn der Gewinn aus derartigen Trassen allein beim externen
Investor bleibt und der Bürger nur
die Windenergieanlage vor seinem
Haus sieht beziehungsweise die
Gemeinde hierdurch etwa in ihrem
touristischen Profil negativ belastet
wird, umgekehrt aber nicht das Geld
für den nötigen Kita-Ausbau hat. Hier
geht es darum, derartige Projekte
über finanzielle Ausgleiche, aber
auch durch Bürgermodelle für alle
akzeptabel zu machen. Das beinhaltet dann auch eine zusätzliche Wertschöpfung für die Kommunen.
Die Energiewende ist mit hohen
Kosten verbunden. Wird das deutlich genug?
Es ist in der Tat anzuraten, die Punkte
Versorgungssicherheit sowie Bezahlbarkeit stets im Blick zu behalten. Die
Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW)
geht zur Umsetzung der Energiewende von jährlichen Kosten in einer
Höhe von 25 Milliarden Euro aus. Im
Bereich der erneuerbaren Energien
wird zum Teil angenommen, dass sie
langfristig ohne eine Förderung auskommen und sich daher rechnen werden. Die dafür nötigen Einsparungen
im Gebäudebereich erfordern aber
gerade bei Gebäuden der Siebzigerund Achtzigerjahre wegen des dort
bestehenden erheblichen energetischen Sanierungsstaus große Investitionen, um die Grenzwerte der Energieeinsparungsverordnung einhalten
zu können. Investitionen müssen sich
aber auch für die Eigentümer rechnen, bei gleichzeitiger Sozialverträglichkeit für die Mieter. Hier sind daher
alle Akteure gefordert, dies offen zu
kommunizieren und nach gemeinsamen Lösungen zu suchen.
Wie sehen Sie in diesem Kontext
die Rolle der NGOs?
NGOs spielen eine wichtige und
sinnvolle Rolle. Allerdings nehmen
auch NGOs ihre Partikularinteressen
wahr. In Bezug auf die Energiewende kommen NGOs vielfach aus
dem Umweltbereich. Sie vertreten
natürlich in berechtigter Weise ihre
eigenen Belange und die ihrer Mitglieder. Wünschenswert wären aber
ergänzend auch NGOs für das Allgemeinwohl. So kann zum Beispiel
beim Ausbau von Windenergieanlagen letztendlich nur eine Gesamtabwägung aller privaten und öffentlichen Belange helfen. Ganz konkret
bedeutet dies, dass wir auch in einer
Gesamtabwägung darüber entscheiden müssen, welche Rolle der Feld-
letzten Jahren immer weniger Vertrauen schenken. Davon profitieren
auch die NGOs.
Wie sollten Planungsträger mit
NGOs umgehen?
Um einen Mehrwert für den Planungsträger zu erreichen, sollte man
NGOs frühzeitig einbinden, weil hier
häufig sehr versierte Experten arbeiten. Diese können ihr Fachwissen
»Es muss aber klar sein,
dass man nie alle Wünsche
befriedigen kann.«
hamster oder die Kleine Hufeisennase (eine Fledermausart) bei der
Verhinderung oder der Umsetzung
der Energiewende vor Ort spielen.
Haben NGOs an Bedeutung
gewonnen?
NGOs haben durch EuGH-Urteile
rechtlich an Bedeutung gewonnen.
Diese Entscheidungen haben bestätigt, dass die Frage der unmittelbaren Betroffenheit nicht der Maßstab
für eine Beteiligung der NGOs für
die Planung von (Groß-)Vorhaben an
anderer Stelle ist. Zudem ist auf
der fachlichen Ebene bei den NGOs
sehr viel Kompetenz vorhanden
und sie profitieren von einem sehr
hohen Aktivitätspotenzial und
Human Resources. Bei den nationalen Umweltorganisationen gibt es
auch eine sehr gute Vernetzung bis
hin zur unteren lokalen Ebene.
Daher haben NGOs in den letzten
Jahrzehnten auch tatsächlich an
Bedeutung gewonnen. Hinzu
kommt, dass Bürger der Politik in den
mit einem Mehrwert für alle in die
Planung einbringen. Wenn eine Kommune diese Experten daher früh einbezieht und dann auch gemeinsam
zu einem Konsens bei der Projektentwicklung kommt, ist das jedenfalls
sehr viel sinnvoller, als wenn der
Planungsträger bereits eine „fertige
Planung“ erstellt hat. Transparenz
und Ergebnisoffenheit sind daher
auch hier die Gebote der Stunde.
Dr. Gerd Landsberg 223
Matthias Machnig
»Die Energiewende ist ein
Gemeinschaftswerk.«
Matthias Machnig über Beispiele gelungener Bürgerbeteiligung
bei der Energiewende.
Woher rührt die Ablehnung vieler
Großprojekte?
Zur Person
Matthias Machnig war vor seiner
Ernennung zum Thüringer Minister
für Wirtschaft, Arbeit und Technologie im Jahr 2009 Staatssekretär im
Bundesministerium für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit.
Davor war er als Staatssekretär für
Verkehr, Bau- und Wohnungswesen,
Bundesgeschäftsführer der SPD und
Unternehmensberater tätig. Als
Wirtschaftsminister arbeitet er aktiv
an der Umsetzung der Energiewende mit.
224 INTERVIEWS
Großprojekte werden häufig in einer
Form öffentlich skandalisiert, die
mit der Realität wenig zu tun hat.
Deswegen sind die möglichst frühzeitige Einbindung und die öffentliche Diskussion über Ziele und Hintergründe im Planungsprozess sehr
wichtig, um Verständnis und Akzeptanz in der Bevölkerung aufzubauen.
Im Rahmen des Verfahrens muss
auch auf Planänderungen reagiert
werden, damit deutlich wird, dass
man bereit ist, Themen, die in der
Bevölkerung von Bedeutung sind,
zu respektieren. Last, but not least
muss der gelegentlich auftretende
Opportunismus der politischen
Klasse reduziert werden. Wir müssen
für notwendige Großprojekte auch
öffentlich Verantwortung tragen
und von vorneherein öffentlich für
sie werben und dürfen uns nicht taktisch oder opportun, je nachdem
wie es gerade die politische Landschaft notwendig macht, verhalten.
Hat die Politik der Bevölkerung die
Herausforderungen der Energiewende bisher ausreichend erklärt?
Nein. Wir haben nicht genügend
deutlich gemacht, welche Aufgabe
mit der Energiewende in den nächsten zehn Jahren verbunden ist. Das
ist das größte industriepolitische
Projekt, das es in Deutschland seit
vielen Jahrzehnten gibt. Das ist
nicht wirklich verstanden. Zudem
müssen wir begreifen, dass dies ein
Gemeinschaftswerk ist, das aus
einer Koalition aus Politik, Unternehmen und Bürgern besteht. Diese
Allianz muss aufgebaut werden.
Dazu brauchen wir eine viel breitere
und auch erklärende Diskussion und
mehr Transparenz.
brauche, weil man durch Netzoptimierung die bestehenden Leitungen so ertüchtigen könne, dass
zusätzlicher Leitungsbau nicht notwendig sei. Über die Lastflussdiagramme wird deutlich, dass eine
solche These nicht haltbar ist. Wir
müssen auch bereit sein, Daten
und Argumente öffentlich zu präsentieren, um Bürger von der Notwendigkeit des Baus einer solchen
Leitung zu überzeugen.
Wie kann diese Transparenz konkret aussehen?
Unternehmen sollten frühzeitig Projekte zur Diskussion stellen und für
sie werben. Die Begründungsnotwendigkeit hat dramatisch zugenommen, ohne dass sich die Kommunikation der Projektentwickler
verändert hat. Das liegt daran, dass
Projektinitiatoren nur das technische Argument kommunizieren und
andere Argumente in den Abwägungsfragen nicht entsprechend
berücksichtigen. Unternehmen
müssten zum Beispiel klarmachen,
dass sie das Thema Naturschutz
ernst nehmen und nicht nur als lästig empfinden, auch regional- und
strukturpolitische Aspekte müssten
sie deutlicher machen.
Ein Beispiel ist 50Hertz, der Netzbetreiber in meiner Region, der die
380-Kilovolt-Leitung über den Thüringer Wald baut. Vonseiten der
Bürgerinitiativen wurde der Vorwurf laut, dass es bei den Daten
nicht genügend Transparenz gibt,
zum Beispiel was die Lastflüsse
angeht. 50Hertz hat daher die
Lastflussdiagramme ins Netz
gestellt, damit sich jeder einen
Überblick verschaffen kann, ob
eine Trasse erforderlich ist. In einigen Studien ist nämlich immer wieder die These vertreten worden,
dass man diese Strecke gar nicht
Welchen Beitrag müssen die
Unternehmen leisten?
Warum tun Unternehmen das
noch zu wenig?
Sie haben Angst vor den Konflikten
und davor, dass sich Verfahren verlängern. Das ist auch verständlich,
denn wir haben inzwischen Planungsprozesse, die uns nur noch
begrenzt wettbewerbsfähig machen.
Wir brauchen beim Netzausbau von
der Planung bis zur Realisierung im
Schnitt 121 Monate, das sind zehn
Jahre. Wir haben jetzt das Netzausbaubeschleunigungsgesetz auf den
Weg gebracht, damit wollen wir das
auf 48 Monate reduzieren. Wenn
wir bestimmte Schritte nicht in zeitlich überschaubaren Abständen realisieren, ist die Energiewende gefährdet. Diese Diskussion müssen wir
öffentlich führen, und zwar auf der
Bundesebene genauso wie vor Ort,
wenn es um bestimmte Projekte
geht. Dazu müssen auch die Unternehmen bereit sein, sehr frühzeitig
in die Diskussion zu gehen.
Verzögert Bürgerbeteiligung die
Planungen nicht noch mehr?
Nicht zwingend. Wir haben beispielsweise im Rahmen der Verkehrsinfrastrukturprojekte Ost ein Planungsbeschleunigungsverfahren eingeführt,
durch das dann auch Verfahren vor
Gerichten entsprechend verkürzt
wurden.
Wie läuft die Kommunikation bei
der Realisierung des Pumpspeicherkraftwerks in Thüringen?
Beim Pumpspeicherwerk in Tambach-Dietharz haben wir zunächst
sehr frühzeitig die Öffentlichkeit
informiert. Zweitens hat der Projektträger beim Thema Oberbecken drei
unterschiedliche Varianten in das
Raumordnungsverfahren eingestellt.
Wir wollen jetzt in einem breiten
Dialog mit der Region, mit den Verantwortlichen vor Ort und mit den
Bürgern überlegen, was unter naturschutzfachlichen, aber auch unter
betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten das beste Oberbecken ist.
Diese Offenheit, dass man zwar ein
Projekt will, aber im Rahmen des
Projektes auch Optionen deutlich
macht, halte ich für ganz entscheidend, und dazu kann ich nur raten,
weil das klarmacht, dass man den
Bürger mit in diese Planungsprozesse einbeziehen und seine Meinung in der Sache hören will.
Wie verhalten sich die unterschiedlichen Akteure in diesem
Prozess?
Matthias Machnig 225
Die unmittelbar betroffenen Kommunen, die Bürgermeister und die Stadträte unterstützen das Projekt. Das
haben wir dadurch erreicht, dass wir
sehr frühzeitig mit den Kommunen
gesprochen, die Projekte erläutert
und die Pläne auf den Tisch gelegt
haben. Dabei war es besonders wich-
gemacht worden ist, dass das nicht
zu einer Verunstaltung des Landschaftsbilds führt.
Inwieweit gibt es tatsächlich die
Möglichkeit, die Anregungen
und auch Wünsche der Bürger in
der Planung umzusetzen?
»Wir müssen für notwendige
Großprojekte auch öffentlich
Verantwortung tragen.«
tig, infrastrukturelle, naturschutzfachliche und betriebswirtschaftliche
Konsequenzen darzulegen, insbesondere unter dem Gesichtspunkt, dass
entsprechende Gewerbesteuereinnahmen in der Region bleiben.
Zudem haben die lokalen Bürgermeister und ich das Projekt in einem
sehr frühen Stadium im Rahmen
einer Pressekonferenz öffentlich vorgestellt. Darüber hinaus hat der Projektentwickler zusammen mit unserem Haus Veranstaltungen in der
Region gemacht. Natürlich haben wir
auch versucht, in der Landesregierung von vornherein eine möglichst
breite Akzeptanz in den verschiedenen Ressorts herzustellen.
Wurden die Konflikte so gelöst?
Es gibt immer wieder lokale Interessen und Protest vor Ort, aber im Rahmen einer repräsentativen Umfrage
haben wir festgestellt, dass 82 Prozent der Thüringer Pumpspeicherkraftwerke unterstützen. Das liegt
daran, dass es in Thüringen seit den
Zwanziger- und Dreißigerjahren des
letzten Jahrhunderts Pumpspeicherkraftwerke gibt und die Erfahrung
226 INTERVIEWS
Das hängt natürlich von den Projekten ab. Bei der geplanten 380-Kilovolt-Leitung über den Thüringer
Wald haben wir unterschiedliche
Trassenverläufe geprüft und öffentlich erörtert. Wir haben uns dann
für eine Variante entschieden,
die vom Gedanken getragen war,
von den Städten möglichst viel
Abstand zu halten. Daneben
musste noch die Frage entschieden
werden, ob eine Erdverkabelung
oder konventionelle Systeme besser für den Thüringer Wald sind.
Dabei hat sich gezeigt, dass die
Erdkabellösung in unserem Falle
durch die zu schlagende Schneise
zu einschneidenden Eingriffen in
die Natur geführt hätte. Es war ein
wichtiger Gesichtspunkt zu zeigen,
dass wir Optionen sowohl technischer Natur als auch, was die Trassenführung angeht, prüfen. Ich
habe mehrfach mit den Vertretern
der Bürgerinitiative gesprochen,
sodass man mir nicht den Vorwurf
machen kann, dass man einfach ein
Projekt durchpeitschen will. Das ist
ganz wichtig, denn das beliebteste
Argument bei solchen Projekten
ist, dass die politisch Verantwortlichen sich der Diskussion nicht
stellen und etwas durchpeitschen
wollen. Deswegen muss man sich
manchmal auch unangenehmen
Debatten stellen, bei denen man
vielleicht vor Ort zunächst einmal
in der Minderheit ist. Aber man
muss auch dort zeigen, dass man
von der Entscheidung überzeugt
ist, für diese Entscheidung streitet
und auch gute Argumente dafür
hat, was man dort tut.
Scheut die Politik solche Konflikte
ansonsten zu oft?
Ja, natürlich. Viele opponieren unter
sehr vordergründigen, parteitaktischen Gesichtspunkten gegen
bestimmte Projekte. Man kann auf
der Bundesebene nicht die Energiewende propagieren und dann vor
Ort konkrete Projekte ablehnen. Wir
müssen auch zu mehr Aufklärung in
der energiepolitischen Debatte beitragen, denn den Menschen ist
überhaupt nicht bewusst, wie viel
Strom wir aktuell aus erneuerbaren
und wie viel wir aus konventionellen
Energien beziehen. Ich bin Befürworter der erneuerbaren Energien,
aber wir müssen klarmachen, dass
wir jetzt in eine Transformationsphase unseres Energieversorgungssystems eintreten, in der es eben
auch um einen vernünftigen Mix aus
erneuerbaren und klassischen fossilen Energien geht, und wir dürfen
nicht den Eindruck erwecken, dass
wir innerhalb von kürzesten Zeiträumen komplett auf Erneuerbare
umstellen können.
Was ist die Rolle von Kraftwerken,
die fossile Energieträger nutzen?
Wir haben heute noch einen Anteil
von rund 20 Prozent Kernenergie.
Dieser muss bis 2022 auf null
gebracht werden. Wir haben daher
im Bereich der Fossilen einen Zubaubedarf von etwa 20.000 Megawatt
bis zum Jahre 2020. Knapp 10.000
Megawatt sind im Bau, das heißt,
weitere 10.000 Megawatt müssen
folgen. Wir müssen stärker deutlich
machen, dass wir als Industrieland
einen Energiemix brauchen, um in
den nächsten Jahren wettbewerbsfähig zu bleiben, im Hinblick sowohl
auf die Energieversorgung und Energiesicherheit als auch auf die Kostenstruktur.
Gibt es Akzeptanz für neue
Kraftwerke, die fossile Energieträger nutzen?
Die Frage ist, was das für Kraftwerke sind, wenn wir die nächsten
10.000 Megawatt dazubauen.
Gegenwärtig rechnen sich Gaskraftwerke nicht, selbst Hocheffizienzkraftwerke wie Irsching 2 in
Bayern schreiben rote Zahlen. Darauf müssen wir auch reagieren.
Daher brauchen wir ein anderes
Marktdesign, um das zu bewerkstelligen. Wir müssen klarmachen,
dass wir Kraftwerke, die fossile
Energieträger nutzen, möglichst
mit Kraft-Wärme-Kopplung, brauchen. Für Kraft-Wärme-Kopplung
gibt es auch eine hohe Akzeptanz
vor Ort, das ist eines der effizientesten Energieversorgungssysteme, die es gibt. Wir brauchen
auch Gas und dazu brauchen wir
entsprechende Rahmenbedingungen. Wir müssen dann auch bereit
sein, die bestehenden, alten Kraftwerke endlich vom Netz zu nehmenn, um dann zu zeigen, dass
wir über neue Investitionen eine
Reduktion von CO² -Emmissionen
im Kohlebereich erreichen.
Die Zukunft des Industriestandorts Deutschland ist die Gretchenfrage der Energiewende.
Ja, das ist eine der Schlüsselfragen.
Energie ist das Herz-Kreislauf-System
einer modernen Industriegesellschaft.
Wie verändert die Energiewende den Industriestandort
Deutschland?
Die großen Chancen bestehen darin,
dass wir weltweit zeigen, dass man
ohne Kernenergie und durch einen
beschleunigten Ausbau der erneuerbaren Energien als Industrieland
wettbewerbsfähig bleiben kann, und
zwar dadurch, dass wir in den Bereichen der Energieeffizienz, der Energietechnik und der Green Tech Innovationsführer werden. Das Risiko
sind die Kostenstrukturen. Wir müssen eine Energiewende schaffen, die
auch die Industrie wettbewerbsfähig
hält und die Energie nicht zu einer
sozialen Frage macht. In der Abwägung komme ich trotzdem immer
ceneffizienz das Schlüsselthema
sein. Die Energiewende wird auch
einen Innovations- und Investitionsdruck auf die Unternehmen entwickeln, die dadurch im Bereich der
Energie- und Ressourceneffizienz
eben Sprünge nach vorn machen und
daraus Wettbewerbsvorteile erzielen, weil die Potenziale, die dort
schlummern, bei Weitem noch nicht
ausgeschöpft sind.
Blockieren NGOs die Energiewende?
Es gibt mittlerweile sehr konstruktive
Ansätze auch vonseiten der NGOs.
Beispielsweise hat die Deutsche
Umwelthilfe ein Projekt entwickelt,
wie ein Moderationsprozess etwa im
Netzausbau auf den Weg gebracht
werden kann, um Akzeptanz herzustellen. Es gibt viele NGOs, die verstanden haben, dass sich mit der
Energiewende auch neue Infrastrukturfragen stellen, und auch bereit
sind, ihre Verantwortung dafür wahr-
»Wir brauchen als Industrieland einen Energiemix.«
noch zu dem Standpunkt, dass das
eine große Chance für den Industrieund Innovationsstandort Deutschland ist und uns mittelfristig auch
wettbewerbsfähiger macht, weil mit
der Energiewende nicht nur das
Thema Energieproduktion, sondern
vor allen Dingen auch das Thema
Energieeffizienz in den Mittelpunkt
rückt. Wenn man sich anschaut, wie
sich in den nächsten Jahren Wettbewerbsfähigkeit definiert, dann wird
neben Kostenstrukturen, Löhnen und
Ähnlichem Energie- und Ressour-
zunehmen und sich keinen schlanken
Fuß zu machen nach dem Motto:
„Wir sind immer nur für das Schöne
und Gute und die anderen für die
schlimme Realität verantwortlich.“ Es
ist sehr wichtig, dass wir NGOs in die
Prozesse involvieren und im Rahmen
solcher Infrastruktur- und Ausbauprojekte zu Partnern machen.
Matthias Machnig 227
Hildegard Müller
»Widerstand gegen Projekte
scheitert nicht am Geld.«
Hildegard Müller über die angebliche „Dagegen-Republik“ sowie
die mit der Energiewende verbundenen Herausforderungen.
Zur Person
Hildegard Müller ist seit Oktober
2008 Vorsitzende der Hauptgeschäftsführung des Bundesverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW). Zuvor war die
studierte Dipl.-Kauffrau seit 2002
Mitglied des Deutschen Bundestags
sowie seit 2005 Staatsministerin bei
der Bundeskanzlerin. In dieser Funktion war sie unter anderem für die
Bund-Länder-Koordination und den
Bürokratieabbau zuständig.
228 INTERVIEWS
Warum findet der Protest der
„Wutbürger“ so große Aufmerksamkeit?
Warum scheint der Nutzen von
Großprojekten der Bevölkerung
nicht mehr bewusst zu sein?
Zählt die Schaffung von Arbeitsplätzen noch als Argument für
Großprojekte?
Wir leben in einer Gesellschaft, in
der bestimmte Akteure und Multiplikatoren großen gesellschaftlichen Einfluss auf den politischen
Diskurs haben. Viele dieser Multiplikatoren sind mit dem, was sie
persönlich in ihrem Leben erreicht
haben, sehr zufrieden und wollen
diesen Zustand erhalten. Besonders dieser Gruppe gelingt es
gegenwärtig häufig, ihre Themen
und Sorgen besonders stark in die
Öffentlichkeit zu bringen. Das ist
nicht immer von der Mehrheit
getragen, wie man auch bei der
Volksabstimmung zum Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 gesehen hat.
Das liegt auch an dem erreichten
Wohlstandsniveau. Deswegen ist die
Toleranz für große Infrastrukturvorhaben, die erst mal Belastungen mit sich
bringen, gering. Und die auf den ersten Blick selbstlose Sorge um Umwelt,
Emissionen, den Juchtenkäfer und
das schöne Landschaftsbild ist dann
sehr schnell die Sorge um den eigenen Besitz. Das lässt sich aber nicht
verallgemeinern. Natürlich gab es früher auch beim Autobahnbau Proteste,
aber viele Dörfer wollten damals
unbedingt an die Autobahn angeschlossen sein, um am großen
Geschehen teilhaben zu können.
Das hängt sehr von der aktuellen
Konjunktur und vom jeweiligen
Beschäftigungsniveau ab. Wenn es
im Moment eine hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland geben würde,
wäre die Debatte eine andere als
bei der aktuellen guten wirtschaftlichen Situation.
Spielt bei den Protesten noch
eine bestimmte Weltanschauung
eine Rolle?
Nun, vielleicht die „Weltanschauung“ des Bürgers, der alles hat, was
ihm lieb ist, und das auch nicht
mehr verlieren möchte. Was im ersten Augenschein als politisches
Engagement oder Weltanschauung
anmutet, entpuppt sich auf den
zweiten Blick aber manchmal als
blanker Eigennutz.
Wie steht es um das Bild der Wirtschaft im Allgemeinen?
Obwohl das Bild von Unternehmen
häufig sehr negativ ist, sind die
unmittelbaren Erfahrungen mit
dem Unternehmen vor Ort in aller
Regel eher positiv. Das kann ich
auch bezüglich der Zufriedenheit
unserer Kunden mit dem eigenen
Versorgungsunternehmen sagen.
Hier gibt es vielerorts noch einen
grundsoliden Stolz auf das Industrieland Deutschland.
Leben wir in einer „DagegenRepublik“?
Nein, denn man darf bei der Diskussion nicht vergessen, dass in den
vergangenen Jahren auch sehr viele
Projekte realisiert worden sind.
Kraftwerke sind ans Netz gegangen,
Windanlagen wurden gebaut und
Verteilnetz-Projekte umgesetzt.
Über reibungsfreie Projekte wird viel
weniger berichtet, deswegen kann
man nicht grundsätzlich von einer
„Dagegen-Republik“ sprechen.
Obwohl die Energiewende großen
Zuspruch findet, gibt es immer
wieder Proteste gegen Windräder, Kraftwerke oder Stromleitungen. Woran liegt das?
Das ist einfach unangenehm, wer
möchte schon direkt neben einem
Windrad wohnen? Der Grad der persönlichen Betroffenheit nimmt in
dem Moment zu, wenn sich die
unmittelbare Lebenswelt verändert.
Wie kann man mögliche Konflikte um Investitionen im
Bereich der erneuerbaren Energien bewältigen?
Man muss die Projekte so umsetzen,
dass möglichst wenige Leute beeinträchtigt werden. Und wenn sie von
einem Projekt persönlich betroffen
sind, muss man sie möglichst früh
einbinden. Bei den Leitungen versucht man gerade, Lösungen über
Abstandsregelungen und Entschädigungszahlungen zu finden. Mehr und
mehr Menschen wird auch klar, dass
es ohne den Bau von Stromtrassen
keine Energiewende geben wird.
Das Grundgrummeln gegen solche
Projekte nimmt also ab.
Brauchen wir finanzielle Kompensationen?
Da wäre ich vorsichtig, denn bei Projekten, die der Allgemeinheit dienen,
müssen die Bürger als Teil dieser
Gesellschaft auch gewisse Lasten
tolerieren. Wir sollten auch die Energiepreise nicht mit noch mehr Steuern und Abgaben belasten. Für pri-
vate Haushalte betragen sie heute
bereits 45 Prozent des Strompreises.
Steigt die Akzeptanz, wenn Bürger wirtschaftlich von Projekten
profitieren?
Ja, das belegen viele bestehende
Modelle, die sich bewährt haben
und nicht nur da wirken, wo sie
unmittelbar umgesetzt werden,
sondern generell auch ein anderes
Bewusstsein im Umgang mit der
Sache herbeiführen. Auch viele
unserer Unternehmen arbeiten mit
solchen Beteiligungsprojekten.
Sind der Bevölkerung die Herausforderung und die Folgen der
Energiewende bewusst?
Nein, nicht im vollen Umfang. Das zeigen auch die Umfragen, die wir regelmäßig machen. Nachdem die Energiewende beschlossen worden war, gab
es eine euphorische Stimmung im
Hinblick auf die erneuerbaren Energien. Jetzt bemerken wir immer mehr
Probleme bei der konkreten Umsetzung, und diese sind den Bürgern leider noch nicht restlos bewusst.
Welche Probleme gibt es konkret?
Es gibt sehr große systemische Herausforderungen. Zunächst einmal
Hildegard Müller 229
brauchen wir eine sehr hohe Anzahl
neuer Netze, denn es gibt, obwohl
alle immer von Dezentralität reden,
doch eine gewisse Zentralisierung:
Im Norden weht meistens mehr
Wind und im Süden scheint tendenziell mehr die Sonne. Das sind
schwierige technische Fragestellungen, die es beim Ausbau der
fluktuierenden Energieträger zu
bewältigen gibt. Zudem müssen
wir Versorgungssicherheit gewährleisten und das bedeutet, dass wir
trotz des Ausbaus der erneuerbaren Energien auch große Kraftwerke brauchen. Das wissen die
Hauptakteure aus allen Bereichen,
aber die Mehrheit der Bevölkerung
weiß das nicht. Wir müssen daran
arbeiten, dass diese Herausforderungen stärker in den Fokus der
Debatte gelangen. Nur wenn man
um die Probleme weiß, kann man
sie auch lösen.
Welchen Stellenwert werden
Kraftwerke, die fossile Energieträger nutzen, zukünftig haben?
Gas und Kohle werden eine große
Rolle spielen. Gegenwärtig können
wir froh sein, dass wir die kostengünstige Braunkohle noch als kostendämpfenden und stabilisierenden
Faktor für die Versorgungssicherheit
haben. Wir brauchen in Deutschland
definitiv noch lange Zeit ihre Leistung. Ob die Kraftwerke dann allerdings so viel arbeiten können, wie es
für ihren ökonomischen Betrieb notwendig wäre, ist fraglich.
Wie wird die Energiewende
den deutschen Industriestandort
verändern?
Im Jahr 2050 – wenn wir die Energieversorgung insgesamt umgebaut
haben werden – wird Deutschland
230 INTERVIEWS
ein modernes Land mit einer hochinnovativen Energieversorgung und
letztendlich mit ganz anderem Verbrauchsverhalten sein. Wir werden
neue Vertriebsstrukturen haben und
Innovationen im Alltag vorfinden,
von denen wir heute noch keine
Vorstellung haben. Das kann eine
ganz spannende, tolle, interessante
Welt sein, wenn wir es bis dahin
ordentlich hinbekommen.
in die Planungen ihrer Projekte
investiert, daher klammern sie sich
häufig an Details, die man noch
ändern könnte. Ein guter Projektmanager muss aber auch die Kreativität und Bereitschaft mitbringen,
sein Projekt zu öffnen und andere
Wege zu gehen. Aber er muss natürlich dann auch klar erkennen können, an welchen Stellen Schwierigkeiten entstehen.
Gefährdet die Energiewende den
deutschen Industriestandort?
Sollten bei Projekten auch immer
Alternativen dargestellt werden?
Gegenwärtig ist die Angst berechtigt, denn wir sind in einer Situation,
in der es kein gutes Klima für Investitionen gibt, die wir für die Energiewende brauchen. Wenn die Preise
für einige Industriebereiche zu hoch
werden, kann das auch bedeuten,
dass sie abwandern. Daran kann niemand ein Interesse haben.
Das kann man so nicht verallgemeinern. Wenn man ein Projekt realisieren möchte und die rechtlichen und
wirtschaftlichen Rahmenbedingungen auch so sind, dass es umsetzbar
ist, kann man nicht überzeugend
eine Alternative zum Projekt darstellen. Es können aber in der Debatte
Alternativen für Teilaspekte entstehen, die man dann auch ernsthaft
prüfen sollte.
Welche Rolle werden die
großen Energieversorger in
Zukunft spielen?
Große Energieversorgungsunternehmen werden weiterhin eine wichtige
Rolle spielen, denn ohne sie werden
wir unsere ehrgeizigen Ziele nicht
erreichen. Wir brauchen das Knowhow und die Fähigkeit, große Projekte stemmen zu können. Große
Unternehmen, regionale Versorger,
Stadtwerke: Alle Größenordnungen
werden wichtig sein.
Viele fordern echte Mitsprachemöglichkeiten, sodass auch Veränderungen bei Projekten noch
möglich sind. Wie weit kann so
etwas gehen?
Es gibt auch heute schon mehr Einflussmöglichkeiten, als es auf den
ersten Blick oft scheint. Projektinitiatoren haben viel Zeit und Energie
Was müssen wir in der Bürgerbeteiligung besser machen?
Wichtig ist vor allem, die Verfahren
so verständlich zu machen, dass sich
nicht nur spezialisierte Topanwälte,
sondern auch normale Bürger beteiligen können. Momentan ist es oft
so, dass eine Handvoll von Akteuren
einen Paragrafenkampf kämpft und
darauf angesetzt wird, das Haar in
der Suppe zu finden, um das Projekt
zu stoppen.
Sollten wir bestimmte Instrumente gesetzlich vorschreiben?
Man sollte die Wege der Partizipation nicht en détail durchstrukturieren, weil Bürgerbeteiligung auch
von Informalität und Spontaneität
lebt. Ein vernünftiges, begleitendes
Projektmanagement für die Kommu-
nikationsarbeit könnte jedoch
sicherlich sinnvoll sein.
Muss man die bestehenden Möglichkeiten nur modifizieren?
Wir brauchen diesen Vierklang, dass
Beteiligung besser, klüger, verständlicher und schneller wird. Zudem
darf die Rechtssicherheit darunter
nicht leiden. Wenn man dieses
Zusammenspiel nicht hinbekommt
und nur auf Kosten von ein oder
zwei Punkten die Verfahren verändern würde, sollte man vielleicht lieber die Hände davon lassen.
Und alles so lassen wie es ist?
Der Status quo ist nicht der schlechteste. Deswegen sollte man aufpassen, dass die Verfahren nicht noch
länger dauern und vielleicht noch
komplizierter werden.
Wer ist für die Bürgerbeteiligung
verantwortlich?
Derjenige, der etwas umsetzen will,
hat auch eine gewisse Verantwortung, solche Verfahren anzustoßen.
Die Politik hat dann die Verantwortung, die zeitlichen Restriktionen im
Auge zu behalten, damit sie noch vernünftig sind und den Prozess nicht
künstlich verlängern oder verkürzen.
Schwebt Ihnen ein Zeitpunkt für
die Einbindung von Bürgern vor?
Man könnte den Scoping-Termin, an
dem die Projekte vorgestellt werden, für alle Bürger öffnen. Natürlich
sollte man Pläne erst dann auf den
Tisch legen, wenn sie richtig ausgereift sind.
Brauchen wir mehr direkte
Demokratie?
Es geht nicht immer darum, mehr
und neue Verfahren zu schaffen.
Wir brauchen wieder ein Bewusstsein
dafür, dass die bestehenden, demokratischen Strukturen ihre Berechtigung haben und grundsätzlich gut
sind. Das wird in der Diskussion sehr
häufig vergessen und die Arbeit der
Politiker sowie der parlamentarischen
Unternehmen sollten zum Beispiel
Social Media stärker nutzen, denn
sie stehen in einem ständigen Wettbewerb um Aufmerksamkeit. Wenn
NGOs oder andere Akteure sich dieser Mittel effektiv bedienen, sollte
man versuchen, auch selbst dazu in
»Zunächst einmal
brauchen wir eine sehr hohe
Anzahl neuer Netze.«
Demokratie wird häufig diskreditiert.
Dabei vergessen wir, wie gut unsere
Demokratie funktioniert.
Volksabstimmungen wie bei
Stuttgart 21 sind also nicht sinnvoll?
Sie sind nicht automatisch immer
die beste Lösung. Was dabei ja auch
völlig unklar ist, ist die Frage des
Bezugsrahmens. Sollte bei regionalen
Projekten mit bundesweiter Relevanz, wie dem Flughafen Berlin-Brandenburg oder Stuttgart 21, ganz
Deutschland abstimmen?
Was spielen die Medien für eine
Rolle?
Die Medien sind heute von einer extremen Schnelligkeit und einer sehr
kurzen inhaltlichen Aufmerksamkeitsspanne dominiert. Damit passen sie
sich dem heutigen Zeitgeist an, das
ist auch völlig verständlich. Andererseits sind die Probleme so komplex
geworden, dass sie gerne mal ausgeblendet werden. Das wiederum ist
oftmals schade.
der Lage zu sein. Generell gilt: Offen
und frühzeitig mit Themen und Problemen umzugehen, hat sich nach
meiner Erfahrung bewährt.
Es gibt einen Vorschlag, dass
Projektinitiatoren zwei Prozent
der Projektsumme den Projektgegnern zu Kommunikationszwecken und zur Erstellung von
Gutachten zur Verfügung stellen. Was halten Sie davon?
Bis jetzt kann ich nicht feststellen,
dass der Widerstand gegen Projekte je am Geld gescheitert ist.
Eine Aktion von Greenpeace hat
übrigens oftmals mehr Medienpräsenz als eine teure Medienkampagne eines Unternehmens.
Sollten Unternehmen ihre Kommunikation ebenfalls anpassen?
Hildegard Müller 231
Andreas Nauen
»Windenergieanlagen haben eine
sehr hohe Symbolkraft.«
Andreas Nauen über die Möglichkeiten, Windräder immer weiter
zu optimieren, und die Potenziale von Bürgerwindparks.
Seit Jahren werden Windkraftanlagen für die vermeintliche „Verspargelung“ der Landschaft kritisiert. Der Ministerpräsident von
Baden-Württemberg, Winfried
Kretschmann, dagegen bezeichnet Windräder als „schöne
Maschinen“. Wie sehen Sie als
Hersteller von großen Windkraftanlagen Ihre Produkte?
Zur Person
Andreas Nauen ist seit Juli 2010 Vorstandsvorsitzender der REpower
Systems SE in Hamburg, eines weltweit führenden Herstellers von
Windenergieanlagen im Onshoreund Offshore-Bereich. Zuvor war er
fast 20 Jahre lang in unterschiedlichen Positionen bei Siemens
beschäftigt, wo er zuletzt das Windenergiegeschäft verantwortete.
232 INTERVIEWS
Es freut mich, dass der badenwürttembergische Ministerpräsident von „schönen Maschinen“
redet. Wenn ich sage, dass ich sie
schön finde, würde man mir ja
gleich vorwerfen, ich sei in dieser
Frage befangen. Aber Hand aufs
Herz – es gibt durchaus Hässlicheres als Windräder. Entscheidend ist
aber auch: Windenergieanlagen
haben eine sehr hohe Symbolkraft.
Das spiegelt sich auch in der Werbung für ganz andere Produkte
wider. In sehr vielen Spots sind
heutzutage Windenergieanlagen
zu sehen, offensichtlich als Zeichen für ein modernes, verantwortungsbewusstes Leben. Für den
Hamburger Bürgermeister Olaf
Scholz ist die neue Onshore-Windkraftanlage auf dem Energieberg
Georgswerder übrigens auch ein
„weithin sichtbares Stück Energie-
wende“, wie er bei der Inbetriebnahme im Januar 2012 sagte.
Die technische Entwicklung im
Bereich der Windenergie geht
immer stärker hin zu zwar effizienteren, aber damit auch höheren Anlagen. Glauben Sie, dass
die Akzeptanz dadurch sinkt?
Diese Entwicklung hat Vor- und
Nachteile. Auf der einen Seite kann
es als störend empfunden werden,
dass die Windräder größer sind und
noch mehr auffallen. Auf der anderen Seite werden beim Repowering
alte, kleine und ineffiziente Windräder durch größere und leistungsstärkere ersetzt. Auf diese Weise halbiert sich die Zahl der Mühlen und
der Ertrag steigt um das Dreifache –
das ist erst mal keine so schlechte
Bilanz. Und das muss man auch vermitteln, um Vorbehalte abzubauen.
Was tut REpower, um potenzielle
Belastungen der Bürger durch
Windkraftanlagen zu reduzieren?
Vor allem setzen wir darauf, von
vornherein leise Maschinen zu entwickeln, um potenzielle Lärmbelästigungen auf ein Minimum zu reduzieren. Zudem besteht die Option,
Windräder zu bestimmten Zeiten
lärmreduziert laufen zu lassen,
indem die Blätter ein wenig anders
eingestellt werden. Darüber hinaus
arbeiten wir kontinuierlich auch an
einer verbesserten Optik. Natürlich
können wir allgemein am Aussehen
von Windrädern nichts ändern. Aber
wir bemühen uns – sofern dies wirtschaftlich möglich ist –, nicht nur
technisch leistungsstarke, sondern
auch optisch ansprechende Maschinen zu bauen. So sind die Türme
neuerer Generationen unten breiter
und sie verschlanken sich nach oben
hin stärker. Das wird von vielen,
auch von mir, als schöner empfunden. Außerdem sind die Flugbeleuchtungen nachts abschaltbar –
technisch einfach, aber effektiv.
REpower baut große Windkraftanlagen sowohl für Offshore- als
auch für Onshore-Windparks.
Wie reagieren die Menschen auf
Ihre Projekte?
Auch wenn wir grundsätzlich
Zustimmung zur Windenergie erleben, gibt es gerade bei Großprojekten schon einmal eine skeptische
Haltung in der Bevölkerung. Wir
haben es dann häufiger mit dem
„Not in my backyard“-Effekt zu tun.
Diese Skepsis hat meist ganz boden-
ständige Gründe. Windräder können
natürlich als laut empfunden werden oder Schatten werfen. Soll eine
Windturbine in der Nähe einer
Wohnbebauung errichtet werden,
befürchten die Menschen, dass ihr
Eigentum im Wert gemindert wird.
Sind diese Gründe nachvollziehbar?
Aus der persönlichen Perspektive
von Anwohnern mag eine skeptische Haltung berechtigt sein. Sachlich ist sie aber nicht begründet.
Denn es gibt keine Beweise dafür,
dass Immobilien oder Grundstücke
durch Windräder in der Nachbarschaft an Wert einbüßen. Tatsächlich geben Betroffene ihre kritische
Position häufig auf, wenn ein Windpark erst einmal fertig gebaut ist –
Studien belegen dies.
Windenergieanlagen stehen wiederholt unter Natur- und Tierschutzaspekten in der Kritik. Wie
gehen Sie damit um?
Klima- und Naturschutz in Einklang
zu bringen, ist in der Tat eine Herausforderung. Die Ausgangslage ist
kompliziert. Denn: Auf der einen
Seite sind die Menschen für den Einsatz regenerativer Energien und
damit für den Bau von Windrädern.
Auf der anderen Seite sind sie dagegen, weil sie vor Ort Gefährdungen
von Fauna oder Flora befürchten –
für viele ein ernster Zielkonflikt zwischen globalem Umwelt- bzw. Klimaschutz sowie lokalem Natur- und
Tierschutz. Unser Ziel ist es, die
Belastungen beim Bau neuer Anlagen unter beiden Gesichtspunkten
gering zu halten und daran auch
konsequent weiterzuarbeiten. So
sind wir etwa auch Mitglied der Forschungsinitiative Research at alpha
ventus. Die Initiative verfolgt eine
Reihe von Forschungsprojekten für
einen verbesserten Natur- und Tierschutz, beispielsweise zum Thema
Blasenschleier für die Rammarbeiten oder zum Schutz von Zugvögeln. Die Entscheidung, ob die Turbinen bei den Projekten in das
Fundament gerammt oder gedreht
werden, liegt aber letztendlich bei
unseren Kunden.
Ist die Sensibilität gegenüber
großen Projekten in Deutschland
besonders ausgeprägt?
Insgesamt ist die Akzeptanz für
Windräder in Deutschland nach wie
vor hoch. Natürlich entstehen hier
und dort Konflikte, aber es gibt keiAndreas Nauen 233
nen Fundamentaldissens. Meistens
stören sich die Menschen an Einzelaspekten, wie dem Abstand zur
Wohnbebauung. Wir versuchen
dann, Lösungen zu finden, indem
wir die Abstände vergrößern oder
weniger Turbinen aufstellen als
geplant. Deutschland ist in dieser
Hinsicht aber kein Sonderfall, denn
ähnliche Diskussionen gibt es auch
in anderen Ländern, zum Beispiel in
Kanada. Dort herrscht vereinzelt
sogar die irrationale Angst, dass
Kühe, die unter Windrädern grasen,
tot umfallen. In Großbritannien
spielt das Thema „National Heritage“ eine wichtige Rolle, also das
Landschaftsbild. Darauf ist man dort
sehr stolz. Das Bild der Landschaft
wird durch Windenergieanlagen
natürlich beeinflusst, deshalb gibt
es dort auch immer wieder Widerstände. Sensibilitäten sind insofern
Ist die Diskussion um Proteste
gegen Windräder ein mediales
Zerrbild?
Ja, denn letztes Jahr wurden in
Deutschland wieder Anlagen mit
einer Leistung von ungefähr 1.900
Megawatt aufgestellt und dagegen
hat sich in der Breite kaum Protest
geregt. Die Genehmigungen dafür
liegen zwar schon einige Jahre
zurück, aber ich denke nicht, dass
sich daran etwas ändert und der
deutsche Markt einbrechen wird.
Und wenn es doch einmal Konflikte gibt: Wie werden sie konkret gelöst?
Durch den Bau möglichst leiser,
ästhetisch anspruchsvoller und umweltgerechter Anlagen wollen wir
bereits im Vorfeld sämtliche Optionen ausnutzen, um das Konfliktpotenzial gering zu halten. Wenn es bei
»Es gibt gar nicht so viele
Projekte, bei denen wirklich
massive Probleme auftreten.«
kein rein deutsches Phänomen. In
den USA treten diese Probleme allerdings seltener auf. Das liegt sicherlich auch an anderen topografischen
Gegebenheiten.
Mit der Windenergie ist also keine
„German Angst“ verbunden?
Nein, im Hinblick auf die Windenergie gibt es dieses Phänomen nicht.
Die Akzeptanz für Windenergie wie
auch für andere erneuerbare Energien ist viel höher als für konventionelle Energien. Grundsätzlich
haben wir das Image der „Guten“.
234 INTERVIEWS
der Projektrealisierung doch zu Konflikten kommt, berührt dies zunächst
den Verantwortungsbereich unserer
Kunden. Selbstverständlich unterstützen wir sie bei der Lösung, zum
Beispiel indem wir im Verbund mit
ihnen Informationsveranstaltungen
durchführen. Dabei versuchen wir zu
erklären, welche technischen Lösungen es gibt. Unsere Mitarbeiter sind
zudem oft bei formellen Bürgeranhörungen auf dem Podium vertreten, um Auskunft über die Anlagen
zu geben. Wenn man den Menschen
verständlich erklärt, worum es geht,
und sie früh einbezieht, verringern
sich unserer Erfahrung nach die Konflikte drastisch.
Gerade im Kontext der Energiewende fordern viele Stimmen
mehr Bürgerbeteiligung. Gibt es
im Verwaltungsrecht schon genug
Beteiligungsmöglichkeiten?
Sowohl auf der formellen als auch
auf der informellen Ebene existieren
aus meiner Sicht bereits genügend
Beteiligungsmöglichkeiten. REpower
und die Entwickler von Windrädern
binden den unmittelbaren Kreis der
Betroffenen heute schon sehr frühzeitig ein. Und noch einmal: Es gibt
gar nicht so viele Projekte, bei
denen wirklich massive Probleme
auftreten.
Was halten Sie von finanzieller
Bürgerbeteiligung an Projekten?
Das ist ein sinnvolles Modell, das ja
auch überall auf der Welt Anwendung findet. Denn je mehr Beteiligung, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit von Protesten. Gerade
Schleswig-Holstein ist in diesem
Bereich Vorreiter. Der Großteil sind
hier Bürgerwindparks. REpower hat
mit dem Modell der Mitarbeiterwindmühle sogar einen eigenen
Bürgerwindpark mit vier Turbinen,
der sehr beliebt bei unseren Mitarbeitern ist. Ein großer Energieversorger an der Ostsee hat gut die
Hälfte der Leistung bei einem Offshore-Projekt an Stadtwerke verkauft. Auch solche Beteiligungsformen erhöhen die Akzeptanz.
Stellen Sie im Hinblick auf
die Akzeptanz regionale Unterschiede fest?
Die Akzeptanz ist auch dort am größten, wo Arbeitsplätze in unserer
Industrie bestehen. Da gibt es einen
Zusammenhang. Wir beschäftigten
600 Mitarbeiter in der Nähe von
Rendsburg. Windenergie ist dort in
Energiewende ist nicht umsonst zu
haben – aber das ist gegenüber der
breiten Öffentlichkeit nicht ohne
Weiteres vermittelbar.
»Grundsätzlich haben wir
das Image der ›Guten‹.«
besonderer Weise im Bewusstsein
der Menschen verankert. Das gilt für
REpower, aber auch für andere Hersteller: Sämtliche Winderzeuger,
Ingenieursabteilungen und Werke
haben ihren Sitz ja in Norddeutschland. Daher wiegt das Arbeitsplatzargument dort deutlich mehr als im
Süden. Auch in Dänemark, wo die
Dichte an Turbinen viel höher ist als
hierzulande, ist die Akzeptanz für
Windräder sehr hoch, was ebenfalls
mit der Vielzahl von Arbeitsplätzen
in der Windenergiebranche zusammenhängt. Seit dem Ausstieg aus
der Kernenergie Mitte der Achtzigerjahre ist Windenergie dort ein wichtiger Industriezweig.
Als Hersteller profitieren Sie
direkt von der Energiewende. In
der öffentlichen Diskussion ist
aber zunehmend auch von Lasten die Rede. Denken Sie, dass
die Lasten, die mit der Energiewende verbunden sind, deutlich
genug gemacht werden?
Nein, die Erklärung ist sicherlich an
der einen oder anderen Stelle zu kurz
gekommen. Letztes Jahr wurde die
Entscheidung für die Energiewende
bejubelt – und so getan, als wäre sie
gratis. Dabei ist sie mit erheblichen
Aufwänden verbunden, nehmen Sie
zum Beispiel die Anbindung der Offshore-Windparks an die Netze. Die
Wie kann eine plausible Erklärung
aussehen?
Mit Argumentationen nur zu einzelnen Aspekten der Energiewende
kann man die Menschen nicht überzeugen. Meiner Meinung nach
gelingt das nur, indem man die Teilaspekte in ein Gesamtbild einbettet.
Die notwendigen Belastungen durch
die Energiewende können nur mit
Blick auf die Vorteile für die gesamte
Volkswirtschaft und die Umwelt
begründet werden.
Zum Abschluss: Die Beschlüsse
der Bundesregierung zur Energiewende sind ja auf Basis der
Empfehlung der Ethikkommission gefallen. Halten Sie so
etwas für ein gutes Modell?
Oder ist das eine Abgabe von
Verantwortung?
Ich habe das nicht als Abgabe von
Verantwortung empfunden. Es war
gut, dass man kluge Köpfe einbezogen und versucht hat, die Entscheidungen so neutral und so sachlich
wie möglich zu treffen. Ob es geholfen hat, kann nur die Zukunft zeigen.
Andreas Nauen 235
Dr. Eberhard Pausch
»Nachhaltigkeit und Verantwortlichkeit
müssen Alltag der Politik sein.«
Dr. Eberhard Pausch über gesellschaftliche Werte sowie die Notwendigkeit
einer Kommunikation, die alle Teile der Gesellschaft mit einbindet.
Was ist ausschlaggebend für die
sinkende Akzeptanz von Großprojekten: die eigene Betroffenheit oder eine bestimmte Weltanschauung?
Die eigene Betroffenheit ist sicherlich ein wichtiger Ausgangspunkt
für viele. Dazu gehört die Angst vor
negativen Folgen für die Umwelt,
die Gesundheit oder für das soziale
Miteinander. Eine bestimmte Weltanschauung ist wohl weniger wichtig, das war vielleicht in den Siebziger- und Achtzigerjahren noch der
Fall. Heute spielen private und soziale Motive eine größere Rolle.
Sind die Proteste teilweise auch
egoistisch?
Zur Person
Oberkirchenrat Dr. Eberhard Pausch
ist seit 2000 Referent für Fragen
öffentlicher Verantwortung im Kirchenamt der Evangelischen Kirche in
Deutschland. In dieser Funktion ist
Dr. Pausch unter anderem für Friedensethik und Demokratiefragen
zuständig. Davor war er als Gemeindepfarrer in Frankfurt am Main tätig.
236 INTERVIEWS
Es gibt sicherlich in einigen Fällen
diese „Not in my backyard“-Mentalität. Das ist das altbekannte St.-Florians-Prinzip, dass andere Häuser
ruhig angezündet werden dürfen,
solange das eigene verschont
bleibt. Das ist natürlich eine sehr
egoistische Sicht. Ich glaube aber
nicht, dass diese Haltung für die
meisten Bürgerinnen und Bürger
kennzeichnend ist. Richtig ist, dass
Windräder Lärm verursachen und
Stromleitungen Auswirkungen
haben können, die gesundheits-
schädlich sind. Solche Gesundheitsbeeinträchtigungen durch Großprojekte möchte verständlicherweise
niemand. Da geht es also nicht um
Bequemlichkeit oder Egoismus, sondern zum Beispiel um ernst zu nehmende Gesundheitsfragen.
Ist der Einzelne heute noch
bereit, Lasten für das Gemeinwohl in seinem unmittelbaren
Umfeld zu tragen?
Ja, wenn solche Einschränkungen
oder Belastungen gut begründet
werden. Man muss die Menschen
informieren und man muss sie mitnehmen.
Wer muss diese Informationen
und Begründungen geben?
Die Bürger und Bürgerinnen müssen
sich von sich aus auch über Tageszeitungen, Fernsehen und Internet
um Informationen bemühen, da
besteht auch eine gewisse Holschuld. Vorrangig sind gleichwohl
Politik und Wirtschaft gefordert,
Informationen zu geben und Entscheidungen zu begründen. Das
bedeutet auch, über alle Implikationen eines Projekts oder einer Entscheidung zu sprechen. Einige
Implikationen werden erfreulich
sein, andere weniger erfreulich und
andere werden vielleicht auch kaum
einschätzbar sein. Aber man muss
all das ganz offen und ehrlich kommunizieren und den Menschen auch
die Wahrheit zumuten.
Haben Sie das Gefühl, dass Politik
und Wirtschaft das in ausreichender Form tun?
Häufig tun sie es leider nicht. Das
sieht man auch sehr deutlich an
aktuellen politischen Entscheidungen wie der Energiewende oder der
Aussetzung der Wehrpflicht. Diese
beiden Themen sind von großer
gesellschaftlicher Bedeutung, doch
die vorgenommenen Weichenstellungen wurden kaum öffentlich
begründet, sondern im Hauruckverfahren abgehandelt. Aus meiner
Sicht war die Entscheidung für die
Energiewende zwar richtig, aber es
war für mich nicht nachvollziehbar,
wie man von einem Tag auf den
anderen diesen Beschluss fassen
konnte, zudem hat man diese Entscheidung viel zu wenig begründet.
Die Bundesregierung hat die
Beschlüsse zur Energiewende auf
Basis der Entscheidung der Ethikkommission getroffen. Wurde die
Entscheidung damit nicht ausreichend begründet?
Nein. Ich halte von diesen Kommissionen wenig, denn sie haben oft
nur eine legitimatorische Funktion.
In Wahrheit hatte die Bundesregierung die Entscheidung wohl schon
vorher getroffen. Wenn sie sich tatsächlich auf das Urteil einer Kommission hätte berufen wollen, dann
hätte sie die Ethikkommission zu
Beginn ihrer Amtsperiode einberufen und dann auf der Grundlage der
Einschätzung dieser Kommission
ihre Politik entwerfen müssen. Das
hat sie aber nicht getan, sie hat erst
nach Fukushima gehandelt und erst
dann die Kommission eingesetzt.
Das war nicht sehr überzeugend,
sondern mehr ein Schauspiel. Dasselbe gilt auch für viele andere
Kommissionen, wie seinerzeit etwa
die Hartz-Kommission unter Schröder. Diese wurde vor allem eingesetzt, um die Politik der damaligen
Bundesregierung zu rechtfertigen.
Das Bild von Wirtschaft und Politik
ist eher negativ. Woran liegt das?
Das negative Bild der Wirtschaft hat
sicherlich mit der Finanzkrise des
Jahres 2008 zu tun. Da hat man
bestimmte Erfahrungen mit binnen-
wirtschaftlichen Strukturen, mit der
Hilflosigkeit der Politik und vor allem
mit der Ohnmacht der einzelnen
Bürger und Bürgerinnen gemacht,
die zu dem negativen Bild beigetragen haben. Das negative Bild der
Politik entsteht sicherlich dadurch,
dass sie für den Bürger zunächst einfach sehr abstrakt ist. Der Staat ist
ja auch ein unglaublich vielfältiges,
komplexes und unübersichtliches
Gebilde und die Akteure innerhalb
des Großakteurs Staat sind ein
Universum für sich. Es ist einfach
schwierig, damit umzugehen. Dazu
kommt, dass oft von Alternativlosigkeit gesprochen wird. Wenn ein
Gesetzesentwurf dem Parlament
vorgelegt wird, steht da meistens:
„Alternativen: keine.“ Das ist verheerend, denn Politik sollte immer
so beschaffen sein, dass sie Alternativen eröffnet. Wenn man als Regierung dem Bundestag einen Gesetzesvorschlag unterbreitet, dann
müsste man zu dem Beschluss nach
meinem Verständnis mindestens
eine oder zwei Alternativen aufzeigen können. Man sollte begründen,
warum man für die erste Alternative
und nicht für die zweite oder dritte
ist. Das wird oft nicht gemacht und
das ärgert mich als Bürger dieses
Dr. Eberhard Pausch 237
Staates. Zudem haben Politik und
Wirtschaft oft die Tendenz, sich nur
mit sich selbst oder miteinander zu
beschäftigen und dabei die Kommunikation mit der Gesamtgesellschaft
zu vergessen.
Erwarten die Bürger vielleicht zu
viel von Politik und Wirtschaft?
gibt ebenso den Bereich Religion
und Weltanschauung, der für die
ethische Orientierung zuständig ist.
Dieser Bereich muss gepflegt werden und auch Einfluss haben können auf das, was in Politik und Wirtschaft geschieht. Und es gibt den
Bereich der Wissenschaft. Es muss
gehört werden, wenn Fachleute ein
»Die Zukunft kann man
angstfrei, konstruktiv und
verantwortlich gestalten.«
Man kann keine Allmacht von diesen
Institutionen und Systemen erwarten. Das wäre natürlich ein völlig falscher Ansatz. Politik und Wirtschaft
haben einen begrenzten Einfluss
und eine begrenzte Rolle in unserer
Gesellschaft. Es gibt überhaupt kein
Zentrum, das die Gesamtgesellschaft komplett steuern könnte. Das
sollte man auch nicht anstreben,
sondern man sollte nur die jeweiligen Systeme möglichst effizient und
wirkungsfähig ausgestalten. Ein Problem entsteht immer dann, wenn
eines dieser Subsysteme in der
Gesellschaft, wie beispielsweise die
Wirtschaft, versucht, das Gesamtsystem Gesellschaft zu steuern. Genau
dasselbe ist der Fall, wenn die Politik
dies versucht, dann hat man am
Schluss ein totalitäres System.
Was erwarten Sie von Politik und
Wirtschaft?
Es muss zu einer besseren Balance
zwischen den unterschiedlichen
gesellschaftlichen Bereichen kommen. Es gibt ja nicht nur Wirtschaft
und Politik in der Gesellschaft, es
238 INTERVIEWS
bestimmtes Urteil haben. Das darf
nicht an den Ohren der Politiker
oder der in der Wirtschaft verantwortlichen Personen vorbeigehen.
Zudem müssen sich auch die Kommunikationsformen ändern. Das
Internet muss eine viel größere
Rolle spielen. Das ist ja vielleicht
der Erfolg der Piratenpartei: dass
die neuen Kommunikationsformen
entsprechend genutzt werden. Sie
holen die Bürger und Bürgerinnen,
die in der Internetwelt leben, da
ab, wo sie sich befinden.
Ist Bürgerbeteiligung ein Mittel,
um die Akzeptanz für politische
und wirtschaftliche Entscheidungen zu erhöhen?
Man sollte die Möglichkeiten der
Bürgerbefragung viel mehr nutzen
und in den Dialog mit den Menschen treten, die von einem Projekt
betroffen sind. Das ist allein deshalb
schon erforderlich, weil die Planungsphasen für Projekte ja so lang sind,
dass sich die Zustimmung oder
Ablehnung dafür im Laufe der Zeit
verändern kann. Deshalb muss man
kontinuierlich mit den Menschen im
Gespräch bleiben.
Was halten Sie von direkter
Demokratie?
Die direkte Demokratie macht die
Demokratie sicherlich bunter und
gibt den Bürgern auch eine gewisse
Kontrollfunktion in die Hand. Sie
birgt aber auch Risiken, das sieht
man beispielsweise an der Entscheidung der Schweizer zum MinarettVerbot. Sinnvoller sind aus meiner
Sicht Bürgerbefragungen, die keinen
absolut zwingenden Charakter
haben, aber als Impulse für politische Entscheidungen respektiert
werden müssen.
Bei Stuttgart 21 gab es ja den
Volksentscheid und trotzdem
gibt es noch Proteste. Was halten Sie davon?
Das ist ein Problem der demokratischen Kultur. Die Leute, die jetzt
noch protestieren, artikulieren ihr
eigenes Ego und ihre Befindlichkeit,
aber sie respektieren weder die
Volksentscheidung noch respektieren sie die Gegebenheiten, die in der
Politik nun vorhanden sind. Diesen
Respekt muss es aber geben und den
muss man auch von den Bürgern und
Bürgerinnen, die anderer Meinung
sind, erwarten können. Das ist eine
Frage unserer Umgangskultur.
Mit Großprojekten ist oft die
Schaffung von Arbeitsplätzen
verbunden. Dieses Argument
scheint aber immer weniger
zu zählen. Haben sich hier die
Werte verschoben?
Arbeitsplätze zu schaffen, ist natürlich etwas Positives. Es gibt aber
auch noch andere Kriterien, die zu
berücksichtigen sind, wenn man die
ethische Qualität eines Großprojektes einschätzen möchte. Es geht um
soziale Faktoren, dazu zählen die
Arbeitsplätze. Es geht um die Frage,
ob das Projekt der Umwelt nützt
oder schadet. Es geht um die Frage
des ökonomischen Gewinns und es
geht auch um die Frage, ob ein solches Großprojekt dem Frieden dient.
Wenn sich eine Firma ansiedeln will,
die Waffen exportiert, dann ist
damit die Frage der Friedensverträglichkeit verbunden, die auch ethisch
zu bewerten ist. Es gibt also verschiedene Faktoren, die alle berücksichtigt werden müssen.
Hat sich bei der Bewertung dieser
unterschiedlichen Faktoren in den
letzten Jahren etwas verändert?
Ja. Die Themen Nachhaltigkeit,
Umwelt und Frieden hatten vor
dreißig, vierzig Jahren fast gar keinen Stellenwert. Das führte dann
zur Entstehung von Bürgerinitiativen und Bürgerbewegungen, die
diese Fragen vorantrieben, was
dann in der Gründung der Partei
„Die Grünen“ mündete.
schaft mit beeinflussen. Ebenso gibt
es viele säkular begründete Wertvorstellungen, die beispielsweise
menschenrechtliche Fundierungen
haben, die ebenso unsere Gesellschaft beeinflussen. Die christlichen
Wertvorstellungen spielen also
eine Rolle, aber sie sind in diesem
Bereich eben nicht die einzigen.
Bräuchten wir eine neue gesellschaftliche Versöhnungsformel?
Ja, und zwar eine wie „Mut für die
Zukunft“, die den Menschen deutlich macht, dass man die Zukunft
angstfrei, konstruktiv und verantwortlich gestalten kann.
Wer könnte eine solche Versöhnungsformel am besten formulieren?
Jemand wie unser neuer Bundespräsident könnte das vielleicht sagen.
Natürlich sollten sich das auch die
Regierung und die politischen Parteien auf die Fahne schreiben, denn
die müssen das praktische Handeln
gestalten. Der Bundespräsident ist
für Visionen zuständig und soll ethi-
»Das Internet muss eine viel
größere Rolle spielen.«
Welchen Stellenwert haben heute
noch christliche Werte in unserer
Gesellschaft?
Sie haben einen Einfluss auf das
Verhalten der Bürger und Bürgerinnen und auch auf das von Politikern.
Ethische Werte speisen sich aber
nicht unbedingt alle aus christlichen
Quellen. Es gibt ja auch in anderen
Religionen, beispielsweise im Islam,
bestimmte Werte, die unsere Gesell-
sche Orientierung geben, er soll
aber nicht das Alltagsgeschäft
gestalten. Wir müssen aber die
Nachhaltigkeit und die Verantwortlichkeit gerade auch in den Alltag
der Politik transportieren.
Dr. Eberhard Pausch 239
Dr. Philipp Rösler
»Energieeffizienz ›made in Germany‹
ist schon heute ein Exportschlager.«
Dr. Philipp Rösler über das Gelingen des Netzausbaus, einen Energiemix der
Versorgungssicherheit garantiert, und die Bedeutung der Bürgerbeteiligung.
Über ein Jahr nach den Beschlüssen zur Energiewende: Wo stehen wir heute und was sind die
größten Herausforderungen?
Zur Person
Dr. Philipp Rösler ist seit Mai 2011
Bundesminister für Wirtschaft und
Technologie, deutscher Vizekanzler und Bundesvorsitzender der
FDP. Von 2009 bis 2011 war Rösler
Bundesminister für Gesundheit.
Von Februar bis Oktober 2009 war
er Minister für Wirtschaft, Arbeit
und Verkehr sowie stellvertretender Ministerpräsident des Landes
Niedersachsen.
240 INTERVIEWS
Die Energiewende ist beschlossene
Sache. Deutschland steigt bis 2022
aus der Kernenergie aus. Gleichzeitig wird der Ausbau der erneuerbaren Energien weiter voranschreiten.
Damit dies ohne Abstriche bei der
Versorgungssicherheit geschehen
kann, brauchen wir leistungsfähige
Netze, gesicherte Kraftwerksleistung, eine bessere Systemverträglichkeit der erneuerbaren Energien
und auf beiden Seiten des Netzes,
also bei Stromangebot und Stromnachfrage, mehr Flexibilität. Daneben gilt es, die wichtigen Handlungsfelder der Energieeffizienz und
Energieforschung entschlossen
anzugehen. Dies alles ist kein kurzfristiges Projekt, sondern ein gewaltiges Reformvorhaben, das uns über
Jahrzehnte beschäftigen wird.
Schließlich gilt es, riesige Infrastrukturprojekte zu stemmen, dabei die
Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft zu erhalten, Wachstumspotenziale zu erschließen und die
Strompreise für alle bezahlbar zu
halten. Mit dem Gesetzespaket aus
dem Jahr 2011 haben wir bereits
wichtige Weichenstellungen vorgenommen, beispielsweise für mehr
Transparenz beim Netzausbau. Viele
Aufgaben liegen aber noch vor uns.
Zur Überprüfung unserer Fortschritte werden wir jährlich einen
Monitoring-Bericht zur Energiewende vorlegen. Der erste Bericht
erscheint im Dezember 2012.
Natur- und Umweltschutz auf der
einen, notwendige Infrastrukturmaßnahmen auf der anderen
Seite. Wie lassen sich diese Konflikte auflösen und welche Rolle
spielen die Umwelt- und Naturschutzverbände dabei?
Dass es bei einem Jahrhundertprojekt wie der Energiewende die unterschiedlichsten Interessenlagen gibt,
ist nicht verwunderlich. Wichtig ist
aber, dass alle miteinander um die
besten Lösungen ringen: Behörden,
Unternehmen, Bürger, aber auch
Umwelt- und Naturschutzverbände
und -initiativen. Wir stehen gemeinsam vor der Aufgabe, möglichst
pragmatische, umweltverträgliche
Wege für den Netzausbau zu finden.
Wo sehen Sie konkrete Ansatzpunkte, um den Ausbau der Übertragungsnetze zu beschleunigen?
Bereits im vergangenen Jahr haben
wir wichtige Rahmenbedingungen
für den Netzausbau geschaffen. Ich
nenne nur das NABEG und die
EnWG-Novelle. Die Übertragungsnetzbetreiber haben mit ihrem Entwurf des Netzentwicklungsplans die
Grundlage für den Ausbau und die
Modernisierung der Übertragungsnetze vorgelegt. Demnach sind
3.800 km neue Übertragungsnetze
und Investitionen von ca. 20 Milliarden Euro bis 2022 nötig. Die Bundesnetzagentur begleitet den
gesamten Prozess: Derzeit wird der
Plan geprüft und öffentlich konsultiert. Die genaue Trassenführung
wird dann Anfang 2013 im Bundesbedarfsplangesetz festgelegt.
Außerdem haben wir alle relevanten
Akteure auf der Netzplattform beim
BMWi zusammengebracht. Man hat
sich dort auf Zieldaten für die Fertigstellung besonders dringlicher Projekte, deren energiewirtschaftliche
Notwendigkeit bereits im Energieleitungsausbaugesetz (EnLAG) festgestellt wurde, verständigt. Eine
besonders wichtige Rolle spielen
dabei die Bundesländer, denn diese
sind für die Planungs- und Genehmigungsverfahren der EnLAG-Projekte
zuständig. Viele Vorhaben sind
mehrere Jahre im Verzug, zum Beispiel die Thüringer Strombrücke als
wichtigste Nord-Süd-Leitung. Das
können wir uns nicht leisten. Die
Bundesregierung hat daher den
Bundesländern vorgeschlagen, die
Planungs- und Genehmigungsverfahren für zukünftige länderübergreifende EnLAG-Projekte vollständig von der Bundesnetzagentur
durchführen zu lassen.
Die Netzanschlüsse an die Offshore-Windparks machen die
Probleme der Energiewende
gerade sehr evident. Der Streit
geht unter anderem um die Haftung, wo Sie die Netzbetreiber
in der Verantwortung sehen.
Bezahlen sollen die Verbraucher.
Schiebt die Politik damit die
Verantwortung auf Wirtschaft
und Gesellschaft ab?
Die generelle Verantwortung der
Netzbetreiber für den Netzanschluss
steht außer Frage. Wegen Risiken,
die sich aus den Anfangsschwierigkeiten dieser Zukunftstechnologie
ergeben, die wir aber für das Gelingen der Energiewende in Kauf nehmen müssen, wird auch ein Stück
weit die Allgemeinheit in die Pflicht
genommen. Allerdings werden wir
die Haftungsregeln mit einem Systemwechsel hin zu einem OffshoreNetzentwicklungsplan verbinden.
Zukünftig werden wir verbindliche
Zeitvorgaben zur Errichtung von
„Steckdosen auf See“ haben und
damit größtmögliche Investitionssicherheit für Kabelhersteller, Netzbetreiber und Windparks schaffen. Das
wird unternehmerisches Engagement im Offshore-Bereich stärken
und gleichzeitig die Haftungsrisiken
minimieren.
Wie verändert sich der Wirtschaftsstandort Deutschland
durch die Energiewende?
Wo sind die Chancen und die
Risiken?
Wir wollen und wir werden die Energiewende so gestalten, dass sie
eine große Chance für den Wirtschaftsstandort Deutschland wird.
Energieeffizienz „made in Germany“
ist schon heute ein Exportschlager.
Jetzt schaut alle Welt darauf, wie
wir den Umbau der Energieversorgung in Deutschland gestalten. Ich
setze darauf, dass es mit der Innovationskraft unserer Unternehmen,
dem Wissen unserer Ingenieure, der
Leistungsfähigkeit unserer Hochschulen und Institute und einer
Dr. Philipp Rösler 241
marktwirtschaftlich orientierten
Energiepolitik gelingt, ein überzeugendes, international exportfähiges
Modell für eine leistungsfähige,
nachhaltige Energieversorgung zu
entwickeln. Dazu gehört auch, dass
es uns im eigenen Land gelingt,
den Ausbau der Erneuerbaren intelligenter, innovationsfreudiger und
kosteneffizienter zu gestalten. Klar
ist, dass wir bei der Energiewende
nicht nach „guten“ und „schlechten“
Industrien unterscheiden dürfen.
Kupfer und Stahl gehören ebenso
zur Energiewende wie Software
und Steuerungselektronik. Bestehende Entlastungen für energiein-
sagen, welche Speichertechnologien uns zu welchen Kosten im Jahr
2050 zur Verfügung stehen. Wir
können auch noch nicht sagen, wie
das europäische Stromnetz im Jahr
2050 aussieht. Beides sind jedoch
ganz entscheidende Faktoren für
die Struktur der Stromversorgung.
Eines ist aber sicher: Auf dem Weg
in das regenerative Zeitalter benötigen wir konventionelle Kraftwerke.
Gerade flexible Gaskraftwerke, aber
auch Kohlekraftwerke sind unersetzlich, um die schwankende Stromerzeugung aus Windenergie- und Photovoltaikanlagen auszugleichen und
die Systemstabilität und somit die
»Die Energiewende ist eine
große Chance für den Wirtschaftsstandort Deutschland.«
tensive Unternehmen erhalten
Arbeitsplätze am Industriestandort
Deutschland und sind daher richtig
und wichtig. Energiekosten sind
wichtige Standortfaktoren im internationalen Wettbewerb.
Versorgungssicherheit in Deutschland zu gewährleisten. Das BMWi
hat im letzten Jahr das Kraftwerksforum gegründet, um mit allen Beteiligten zu klären, wie das künftige
Strommarktdesign aussehen könnte.
Eine aktuelle Studie der dena
kommt zu dem Ergebnis, dass
es ohne fossile Kraftwerke auch
im Jahr 2050 nicht gehen wird.
Welcher Energiemix ist notwendig, um den Industriestandort
Deutschland zu sichern?
Wie lässt sich in der Bevölkerung
mehr Akzeptanz für Kohleverstromung herstellen?
Die Erneuerbaren sollen im Energiemix der Zukunft den Hauptanteil
übernehmen. Wann und wie das
geschieht, wird aber nicht in Studien, sondern in der ökonomischen
und politischen Realität entschieden. Wir können heute noch nicht
242 INTERVIEWS
Indem wir deutlich machen, dass nur
ein ausgewogener Energiemix uns
vor einseitigen Abhängigkeiten und
großen Preisrisiken, beispielsweise
beim Erdgas, bewahrt. Im Übrigen
scheint mir die Kohleverstromung in
Kombination mit Wärmegewinnung,
also die Kraft-Wärme-Kopplung,
durchaus auf Akzeptanz zu treffen.
Jedenfalls fand die Novelle des KraftWärme-Kopplungs-Gesetzes im Juli
2012, die auch die Kohleverstromung
einschließt, breite Zustimmung.
Bürger protestieren vor Ort immer
wieder gegen den Bau von Windrädern und Stromnetzen in Sichtweite. Wie kann man die Konflikte
auflösen und mehr Akzeptanz für
die notwendigen Infrastrukturmaßnahmen schaffen?
Die Energiewende ist ein Gemeinschaftsprojekt, das wir alle schultern
müssen. Kein anderes Industrieland
der Welt hat sich so ehrgeizige Ziele
gesetzt und sich so konsequent auf
den Weg zu einer grundlegenden
Umstrukturierung der Energieversorgung begeben wie Deutschland.
Ohne Frage: Der Umbau kostet Geld
und bedeutet Flächenverbrauch.
Dies wird nicht jedem gefallen.
Umso wichtiger ist der frühzeitige
Dialog mit den Menschen vor Ort.
Wo Zielkonflikte entstehen, müssen
sie offen und transparent diskutiert
werden. Wichtig ist mir, dass die
Diskussionen ehrlich geführt werden. Wer hofft, dass Strom- oder
Gasspeicher schon in den nächsten
zehn Jahren eine Alternative zum
Ausbau von Höchstspannungsnetzen darstellen, der muss zur Kenntnis nehmen, dass bisher keine seriöse wissenschaftliche Untersuchung
diese Hoffnung stützt. Trotz intensiver Forschungsförderung stehen wir
bei neuen Großspeichertechnologien noch ganz am Anfang. Beim
Ausbau der Höchstspannungsnetze
haben wir, wie schon gesagt, mit
dem Prozess der Erstellung des
Netzentwicklungsplans ein gänzlich
neues, umfassendes Verfahren der
Bürgerbeteiligung geschaffen. Jeder
kann sich hier einbringen. Die Bundesnetzagentur hat zuletzt mit ihren
bundesweiten „Bürgerdialogen“ im
Oktober auf die Beteiligungsmöglichkeiten hingewiesen. Das BMWi
will mit seiner Initiative „Ja zum
Netzausbau“, die derzeit bundesweit anläuft, ein besseres Verständnis für den energiewirtschaftlichen
Zusammenhang zwischen Netzausbau und Erneuerbaren-Ausbau
schaffen. Und in Kürze soll eine von
BMWi und BMU gemeinsam getragene Informations- und Dialogoffensive für den Netzausbau starten. Ich
bin optimistisch, dass ein besseres
Verständnis des Gesamtprojekts
Energiewende auch im Leitungsbau
manches erleichtern wird.
Was können Unternehmen tun,
um mehr Akzeptanz in der
Bevölkerung für ihre Projekte zu
gewinnen?
Auch Unternehmen können zur
Akzeptanz ihrer Projekte durch die
Bevölkerung beitragen, indem sie
die betroffenen Bürger frühzeitig
informieren und den Dialog vor Ort
aktiv vorantreiben. Wichtig ist, dass
sowohl den vom Netzausbau betroffenen Bürgern als auch der breiten
Öffentlichkeit ein Mitspracherecht
beim Netzausbau eingeräumt wird.
Die Wirtschaft muss offen sein für
die berechtigten Interessen der Bürger und Verbände und, wo immer es
geht, selbst einen Beitrag zu einem
fairen Interessenausgleich leisten.
Welchen Beitrag erwarten Sie von
jedem einzelnen Bürger bei der
Umsetzung der Energiewende?
Ich hoffe auf ein gewisses Interesse
und Aufgeschlossenheit jedes Einzelnen gegenüber dem Gemeinschaftsprojekt Energiewende. Und
wenn es um konkrete Entscheidungen vor Ort wie beispielsweise den
Verlauf einer Stromtrasse geht,
erwarte ich Diskussions- und Dialogfähigkeit aller Beteiligten. Die Energiewende kann nur gelingen, wenn
alle ihren Teil dazu beitragen.
Sie fordern, dass durch die Energiewende „Arbeitsplätze nicht
gefährdet sein“ dürfen und
„jeder seine Stromrechnung
bezahlen“ kann. Wie wollen Sie
diesen finanziellen Spagat lösen,
ohne die Akzeptanz für die Energiewende aufs Spiel zu setzen?
Zur Verantwortung der Politik
gehört der Mut, notwendige Entscheidungen auch dann zu treffen,
wenn sie nicht beliebt oder einfach
sind. Ehrlich ist es, zu sagen, dass
es die Energiewende nicht zum
Nulltarif gibt. Sie erfordert milliardenschwere Investitionen. Wir sind
es den Menschen zugleich aber
schuldig, überall dort nachzusteuern, wo wir sehen, dass Kosten aus
dem Ruder laufen oder Ziele nicht
erreicht werden. Das ist aktuell
beim Erneuerbare-Energien-Gesetz
der Fall. Deshalb sind wir uns in der
Bundesregierung einig, dass eine
EEG-Reform hin zu mehr marktwirtschaftlichen Elementen von zentraler Bedeutung ist. Meines Erachtens
darf dieses Vorhaben nicht auf die
lange Bank geschoben werden.
Brauchen wir über die bestehenden Instrumente in den Genehmigungsverfahren hinaus mehr
Beteiligungsmöglichkeiten?
Das Verfahren zur Aufstellung des
Netzentwicklungsplans ist gegenüber der bisherigen Praxis eine
echte Revolution. So viel Transparenz hinsichtlich der Netzplanung
und so viele Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung hatten wir noch nie.
Verbesserungsmöglichkeiten sehe
ich eher in der Rahmenkommunikation. Nicht nur Bundesregierung,
Bundesnetzagentur und Übertragungsnetzbetreiber sollten für die
Lektüre und Auseinandersetzung
mit dem Entwurf des Netzentwicklungsplans werben, sondern auch
Landesregierungen, Städte, Kommunen und Verbände. Schließlich geht
es beim Netzausbau um ein Schlüsselelement der Energiewende.
Widerspricht mehr Bürgerbeteiligung Ihrem Ziel, die Planungsverfahren erheblich zu verkürzen, oder ist beides miteinander
vereinbar?
Mehr Bürgerbeteiligung gleich am
Anfang der Leitungsbauplanung
kann am Ende viel Zeit ersparen. Die
öffentliche Konsultation des Netzentwicklungsplans ist eine gute und
wichtige zeitliche Investition, da wir
die Menschen beim Großprojekt
Energiewende und Netzausbau mitnehmen wollen. Zudem gilt es, Planungs- und Genehmigungsverfahren
für mehrere Bundesländer betreffende Leitungsbauprojekte bei der
Bundesnetzagentur zu bündeln.
Dadurch vermeiden wir zeitaufwendige Doppelprüfungen. Hier brauchen wir auch die Bereitschaft der
Bundesländer. Insgesamt könnten
wir die Verfahrensdauer nach unserer Abschätzung von zehn auf vier
Jahre verkürzen, ohne dass es Einbußen bei der Bürgerbeteiligung gäbe.
Das wäre ein guter Fortschritt hin zu
einer erfolgreichen Energiewende.
Dr. Philipp Rösler 243
Prof. Dr. Dieter Rucht
»Der negative Nimbus von Protestierenden als Querulanten ist weg.«
Professor Dieter Rucht über die Entwicklung bürgerlicher Proteste
sowie Verbesserungsmöglichkeiten im formellen Beteiligungsverfahren.
Warum war die Aufmerksamkeit
für Stuttgart 21 auch bundesweit
so groß?
Zur Person
Prof. Dr. Dieter Rucht gilt als führender Experte im Bereich der sozialen
Bewegungen. Der Sozialwissenschaftler forschte unter anderem in
Paris und Harvard und ist seit 2001
Honorarprofessor für Soziologie an
der Freien Universität Berlin. Zuletzt
war er von 2005 bis 2011 Koleiter
der ehemaligen Forschungsgruppe
Zivilgesellschaft, Citizenship und
politische Mobilisierung in Europa
am Wissenschaftszentrum Berlin für
Sozialforschung. In dieser Funktion
erforschte er unter anderem die
Bürgerbewegung gegen Stuttgart 21.
244 INTERVIEWS
Es lag jedenfalls nicht nur am Bahnhof. Das allein hätte nicht zu so
großer Aufmerksamkeit geführt. Ein
Grund war, dass der Protest in seiner Dauerhaftigkeit und Massenhaftigkeit für die breite Öffentlichkeit
überraschend war. Zudem spielte
eine Rolle, dass in diesem Konflikt
zwei allgemeine Themen mit verhandelt wurden: erstens die Frage
von Demokratie, Bürgerbeteiligung
und Transparenz. Und zweitens die
Frage: Was bedeutet Fortschritt?
Was bedeutet Modernität? Bei den
Planern besteht ja die Überzeugung: Das Projekt ist ein Fortschritt
und unter dem Strich ein Gewinn
für die Allgemeinheit. Dem steht
aber zunehmender Zweifel in der
Bevölkerung entgegen. Für viele
Menschen sind eben proklamierte
Vorteile, wie die Einsparung von
Reisezeit, nicht so wichtig.
Was sind die Gründe für Proteste
gegen Infrastrukturvorhaben im
Allgemeinen?
Es ist sehr schwer, über die Proteste
schlechthin zu sprechen, denn selbst
innerhalb eines konkreten Themen-
felds zeigt sich eine Vielzahl von
Motiven. Es gibt erstens diejenigen,
die persönlich negativ betroffen sind
oder sich betroffen fühlen. Dann
gibt es Leute, die eher indirekt
betroffen sind; sie haben keinen
unmittelbaren Nachteil, aber wollen
beispielsweise verhindern, dass sich
die Lebensverhältnisse vor Ort verändern. Dann gibt es eine dritte
Gruppe von Leuten, die anhand des
konkreten Projektes eine sehr viel allgemeinere Kritik formulieren, zum
Beispiel, dass das Projekt Ausdruck
eines falschen Verständnisses von
Fortschritt darstellt und es bessere
Alternativen gibt.
Welche Gruppe ist bei Protesten
gegen Infrastrukturprojekte die
größte?
Bei Infrastrukturprojekten ist die
erste Gruppe die größte, also die
Leute, die subjektiv oder objektiv
unmittelbar und persönlich negativ
betroffen sind. Bei Flughafenprojekten ist das sehr deutlich zu
sehen. Bei einer Befragung von
Flughafengegnern, die von der Universität Göttingen durchgeführt
wurde, wurde festgestellt, dass 90
Prozent der Befragten Besitzer von
Immobilien waren. Es gibt also
einen sehr hohen Anteil von Menschen, die direkt und persönlich
negativ betroffen sind, etwa durch
Fluglärm oder den Wertverlust von
Wohnungen und Grundstücken.
Beim geplanten Pumpspeicherkraftwerk im Schwarzwald wiederum
protestieren die Menschen eher aus
einer indirekten Betroffenheit. Der
Speicher soll ja fernab von Siedlungen gebaut werden, sodass keine
unmittelbare Betroffenheit, etwa
durch eine Wertminderung von
Immobilien, besteht. Es gibt dann
aber im weiteren Umkreis durchaus
eine Betroffenheit, beispielsweise
von Menschen, die in der Tourismusbranche arbeiten und befürchten, dass der Fremdenverkehr durch
das Projekt leiden könnte.
Ist es heute ein Stück weit
„schick“ zu protestieren?
Das Wort „schick“ weist auf eine
modische Attitüde hin. Das mag insbesondere bei manchen Jugendlichen der Fall sein, die in einem
bestimmten Milieu aufwachsen, in
dem es dazugehört, dass man protestiert. Aber generell ist das kein
verbreitetes Phänomen. Allerdings
ist es schon so, dass Proteste insgesamt konsensfähiger geworden sind
und weithin als normales Mittel der
politischen Auseinandersetzung
akzeptiert werden. Dadurch dass die
Protestbeteiligten stärker aus der
gesellschaftlichen Mitte und nicht
nur von Randgruppen oder objektiv
benachteiligten Gruppen kommen,
ist der negative Nimbus von Protestierenden als Außenseitern, Querulanten, Ideologen oder Radikalen
sukzessive in den Hintergrund
gedrängt worden, sodass Protest
als normales und legitimes Mittel
der politischen Auseinandersetzung
zunehmend akzeptiert ist. Das
erleichtert es dann auch eher protestfernen Menschen zu demonstrieren. Zudem hat sich das Demokratieverständnis gewandelt. Heute
herrscht die Vorstellung, dass politische Beteiligung nicht nur bedeutet,
alle paar Jahre ein Kreuz zu machen.
Konflikt gehört zur Normalität von
Demo-kratie. Dieses Verständnis
von einer konfliktfähigen Demokratie und einer entsprechenden Bürgerschaft ist über die Jahrzehnte
gewachsen. Das Phänomen des bürgerlichen Protests ist aber keineswegs neu. Schon in den 1910er Jahren gab es bürgerschaftlichen
Widerspruch zum Beispiel gegen
den Bau von Wasserkraftwerken.
Hat die Zahl der Proteste insgesamt in den letzten Jahren zugenommen?
Wenn man das Protestgeschehen
bilanziert, dann sieht man keine
lineare, sondern eine zyklische Entwicklung, insbesondere im Hinblick
auf die Zahl der Protestierenden.
Bei der Zahl der Proteste haben wir
eine langfristige Zunahme von den
Fünfziger- bis zu den Neunzigerjahren und eine deutliche Abnahme in
den früheren 2000er Jahren festgestellt. Es gibt vermutlich eine kräftige Zunahme der Proteste in den
letzten Jahren. Dazu liegen aber
noch keine genauen Zahlen vor. Es
ist nicht so, dass es generelle gesellschaftliche Trends oder Mechanismen gibt, die zwingend zu immer
mehr Protest führen.
Sind die Proteste ein deutsches
Phänomen?
Nein, das sehe ich nicht so. Das
widerspricht natürlich der gängigen
Wahrnehmung, dass es in Deutschland eine enorme Technikfeindschaft, „German Angst“ oder „Hystérie Allemande“ gibt. Es ist schon
so, dass die Proteste in Deutschland im Schnitt etwas stärker als in
vielen vergleichbaren Ländern sind,
Prof. Dr. Dieter Rucht 245
aber das liegt nicht an der deutschen „Volksseele“ mit ihrem
angeblichen Hang zur Romantik,
sondern daran, dass sich hier über
Jahrzehnte Gruppen gebildet
haben, die Aufklärungs- oder auch
Agitationsarbeit leisten und im Allgemeinen besser organisiert sind
als in den meisten übrigen Ländern.
Um diesen angeblichen deutschen
Sonderfall zu relativieren: Es gibt
an vielen Orten der Welt intensive,
vehemente Proteste, etwa gegen
Wasserkraftwerke in Indien, die
Narmada-Staudämme. In Tokio gab
es beim Flughafenprojekt Narita
mehrere tote Demonstranten. In
Frankreich kam es auch im Zusammenhang mit Atomkraft zu heftigen
Protesten. In Norwegen gab es
beim Bau von Staudämmen Belagerungen und Blockaden. Protest findet man in vielen Ländern, vielleicht nicht in dieser Dichte wie in
Deutschland, aber doch in derselben Art und Vehemenz.
Feld der Auseinandersetzung darstellt, wo man Initiative und Mut
zeigen kann.
Es gibt ja auch immer wieder Proteste gegen erneuerbare Energien. Finden Sie, dass sich der
Verbraucher widersprüchlich verhält, weil er auf der einen Seite
die Energiewende will, aber keine
Windräder oder Stromleitungen
in Sichtweite möchte?
Das ist erst mal im Prinzip richtig.
Wobei wiederum der Verbraucher nur
als Durchschnittsgröße existiert und
es große Abweichungen gibt. Das
heißt, dass es auch Leute gibt, die
solche Dinge in Kauf nehmen, selbst
wenn sie ihnen nicht gefallen, und
dass es Leute gibt, die mit der konkreten Planung nicht einverstanden
sind und daher Modifizierungen fordern. Es ergibt sich somit ein differenzierteres Bild. Diese Schelte im
Hinblick auf die Egoisten, die zwar zu
jeder Tag- und Nachtzeit nach Mal-
»Konflikt gehört zur Normalität
von Demokratie.«
Wie wird sich der Protest in
Zukunft entwickeln?
Prognosen in diesem Bereich sind
immer höchst spekulativ. Ich denke
aber, dass die Proteste gegen Infrastrukturprojekte zunehmen werden und es weiterhin ein überwiegend bürgerlicher Protest sein
wird. Zugleich wird regionaler Protest auch ein Betätigungsfeld für
Jugendliche sein, die nicht unbedingt gegen das Projekt und seine
konkreten Bedingungen angehen,
sondern für die das einfach ein
246 INTERVIEWS
lorca fliegen, aber keinen Flughafen
vor ihrer Haustür haben wollen, trifft
eben nur für einen kleinen Teil der
Protestierenden zu.
Mangelt es den Deutschen an
Gemeinwohlorientierung?
Es gibt Individualisierungstendenzen, eine stärkere Ich-Bezogenheit
und ein gewisses Selbstbewusstsein, seine eigenen Interessen
offensiv zu vertreten. Zugleich existiert auch nach wie vor ein erheblicher Anteil von gemeinwohlbezoge-
nen oder altruistischen Formen des
Engagements. Ich nehme vielen
Leuten ab, dass sie aus tiefster
Überzeugung auf persönliche Vorteile verzichten und für eine benachteiligte Gruppe oder für die Allgemeinheit einstehen.
Besteht zwischen Projektgegnern
und Projektinitiatoren „Waffengleichheit“?
Die meisten Projekte werden durchgesetzt. Das muss man sich erst
einmal vor Augen halten. Die Unternehmen bedienen sich also sehr
wirkungsvoll ihres Know-hows.
Unternehmen haben allerdings jahrelang die Gegenseite unterschätzt.
NGOs und Bürgerinitiativen haben
inzwischen aufgeholt und sich in
ihren Methoden und Techniken professionalisiert. Zudem haben sie
einen prinzipiellen Vorteil, nämlich,
dass sie a priori glaubwürdiger oder
weniger interessengebunden
erscheinen. Damit fliegt ihnen die
Sympathie viel eher zu als einem
Konzernvorstand, der nüchterne
Statements vor den laufenden
Kameras abgibt.
Können Unternehmen von NGOs
lernen?
Nicht wirklich, denn es ist nicht eine
Frage des Kopierens von bestimmten
Techniken der Mobilisierung oder
der Cleverness in der Imagewerbung. Wichtiger ist es, die andere
Seite ernst zu nehmen, eine wirklich
offene Kommunikation im Unterschied zu einer Pseudo-Offenheit zu
pflegen, Schwächen und Fehler einzuräumen, Nachteile zu benennen –
dies alles gehört mit dazu.
Gehört dazu auch, Bürger früher
in Prozesse mit einzubeziehen?
Wenn ja, wann und wie?
Ja, Bürger müssen frühzeitig einbezogen werden. Wenn in einem
Unternehmen eine Idee entsteht
oder eine Profitmöglichkeit erkannt
wird, ist es natürlich legitim, dass
man erst intern verschiedene Alternativen diskutiert und nicht sofort
an die Öffentlichkeit geht. Unternehmen sollten allerdings mehr in
Alternativen denken. Derzeit ist es
so, dass Entscheidungen durch den
Vorstand oder Aufsichtsrat gefällt
und dann häufig als alternativlos
präsentiert werden. Wenn es aber
intern diskutierte Alternativen gibt,
wäre es sinnvoll, diese in der Kommunikation nach außen zu thematisieren und öffentlich abzuwägen,
sodass es für die Bürger klarer wird,
warum man sich für oder gegen
eine Alternative entschieden hat.
So kann man vermeiden, dass nach
langer Diskussion plötzlich eine
Gruppe auf den Plan tritt und eine
andere und vielleicht nahe liegende
Alternative fordert.
Wie stehen Sie zu Volksentscheiden im Vorlauf von Projekten?
Ich halte direkte Abstimmungen
generell nicht unbedingt für das
Mittel der Wahl; sie sind ein außergewöhnliches Instrument für politisch schwer lösbare Konflikte. Solche Bürger- und Volksentscheide
sollten auch nicht ganz am Anfang
einer Projektplanung durchgeführt
werden, weil zu diesem Zeitpunkt
die Implikationen von einzelnen
Vorschlägen noch gar nicht klar
sind. Andererseits sollte eine
Abstimmung nicht so spät kommen
wie in Stuttgart. Ich bin nicht für
eine Hauruck-Lösung in dem Sinne,
dass die Leute ganz am Anfang
abstimmen sollen und dann das
Projekt rigoros durchgezogen oder
eben fallen gelassen wird.
Denken Sie, dass die Beteiligungsmöglichkeiten im formellen
Verwaltungsrecht ausreichen?
eine stärkere Trennung geben zwischen denen, die bewilligen, auf
der einen Seite sowie den Befürworten und den Projektgegnern auf der
anderen Seite. Die dritte Partei in
dem Spiel, diejenige, die geneh-
»Ja, Bürger müssen frühzeitig einbezogen werden.«
Viele bestehende Formen der Bürgerbeteiligung – insbesondere die
Einspruchsmöglichkeiten im Rahmen von Planfeststellungsverfahren – sind eine Farce. Das liegt
daran, dass zum einen die Informationsfülle erdrückend ist. Man kann
nicht als Normalbürger Hunderte
Aktenordner durcharbeiten. Zweitens sind die Zugangsbedingungen
nicht optimal. Wenn man nur eine
zwei- oder vierwöchige Auslegungsfrist gewährt und die noch an
die Bürozeiten der Behörde bindet,
dann schließt man viele Menschen
aus. Das größte Defizit ist aber,
dass die Einspruchsverfahren in der
Regel in einem Stadium erfolgen,
in dem schon so gut wie alles
gelaufen ist.
Wie sollte man die Verfahren
ändern?
Ich plädiere für ein zweistufiges
Verfahren: Auf der ersten Stufe
sollte es eine öffentliche Anhörung
geben, bei der das Für und Wider
des Projekts grundsätzlich diskutiert werden kann. In einem späteren Stadium muss ein Planfeststellungsverfahren erfolgen, das
ähnlich wie das jetzige aussieht und
rechtsgültige Beschlüsse erbringt.
Aber in diesem Verfahren sollte es
migt, darf den Antragstellern strukturell nicht so nah sein. Formal ist
die Behörde natürlich ein Dritter.
Aber sie ist aufgrund der Vorgeschichte so nah an den Antragstellern, dass eine Grenzverwischung
stattfindet. Man müsste deshalb für
die Etablierung einer dritten Partei
sorgen, die am Schluss für die
Genehmigung zuständig ist. Aber
diese Partei muss tatsächlich inhaltlich abwägen und darf nicht nur pro
forma ein Anhörungsverfahren
durchziehen.
Rechtfertigt Bürgerbeteiligung
längere Planungszeiten und
höhere Kosten?
Wenn sich dadurch die Lebensqualität und die Akzeptanz verbessern,
dann sind längere Planungszeiten
und höhere Kosten gerechtfertigt,
jedenfalls unter übergeordneten
Gesichtspunkten. Aber die betriebswirtschaftliche Logik wird sich darauf nicht einlassen, denn was hilft
es, wenn in zehn oder zwanzig Jahren die Bundesbürger mit ihrer Politik
zufriedener sind, aber das eigene
Unternehmen nicht mehr konkurrenzfähig ist oder sich der Marktanteil halbiert? Ein betriebswirtschaftliches Kalkül zu verfolgen, kann man
einem Unternehmen nicht vorwerfen.
Prof. Dr. Dieter Rucht 247
Elisabeth Schick
»Mehr Verständnis für wirtschaftliche
Zusammenhänge schaffen.«
Elisabeth Schick über vermeintlich „gute“ und „böse“ Industrien,
das Wohlstandsniveau und die fehlende Begeisterung für Technologie
und Innovationen in Deutschland.
In der öffentlichen Wahrnehmung entsteht bisweilen der
Eindruck, dass zwischen
„bösen“ Industrien auf der
einen und Unternehmen der
„Green Economy“ als den
„Guten“ auf der anderen Seite
differenziert wird. Auf welcher
Seite sehen Sie die BASF?
Zur Person
Elisabeth Schick leitet seit 2009 die
Einheit Communications & Government Relations bei der BASF SE.
Sie studierte Japanologie und
Geschichte und ist seit 1993 bei der
BASF tätig. Nach einem Volontariat
in der Unternehmenskommunikation
war sie zunächst Pressesprecherin.
Es folgten Aufgaben in unterschiedlichen Einheiten des Unternehmens,
unter anderem im Bereich Personal
und bei der BASF Japan. Ab 2002 leitete Schick die Unternehmenskommunikation Europa.
248 INTERVIEWS
Wir erleben in der aktuellen
Debatte hier und da eine Form der
Moralisierung, die nicht zielführend
ist. Denn eine Kategorisierung in
„Gut“ und „Böse“ ist per se falsch.
Ohne die Chemie zum Beispiel, eine
der traditionsreichsten deutschen
Schlüsselindustrien, wird es uns
nicht gelingen, die großen Herausforderungen unserer Gesellschaft
zu meistern. Polarisierung bringt
uns nicht weiter: Die vermeintlich
grünen „Branchen“ sind allesamt
auf innovative Lösungen und Produkte der Chemie angewiesen. Klar
ist aber auch, dass wir – wenn es
etwa um Umweltschutzfragen geht –
unsere Hausaufgaben machen
müssen. Unsere Zentrale in Ludwigshafen liegt in einem großen
Ballungsraum, wir haben rund zweieinhalb Millionen Nachbarn. Um
hier erfolgreich tätig zu sein, brauchen wir Akzeptanz.
Welche Rolle spielt das Arbeitsplatzargument heute bei der
Schaffung von Akzeptanz?
Das Thema ist in den vergangenen
Jahren in der öffentlichen Wahrnehmung stärker in den Hintergrund
getreten. Wir müssen den Leuten
aber wieder deutlicher machen, dass
jeder Arbeitsplatz in der Industrie
weitere Arbeitsplätze in anderen
Bereichen nach sich zieht. Auch
der Bäcker und der Gastronom um
die Ecke profitieren also davon und
noch viel mehr Beteiligte in der
Dienstleistungskette. In der Region
um Ludwigshafen ist das Bewusstsein sehr stark, dass die BASF zahlreiche Arbeitsplätze schafft und sichert.
Aber je weiter man sich entfernt,
desto geringer ist die Akzeptanz.
Woran liegt das?
Ein Grund ist sicherlich, dass wirtschaftliche Zusammenhänge heute
in den Medien immer weniger analysiert werden. Wir brauchen mehr
Verständnis dafür, worauf unser
Wohlstand basiert. Wenn man sich
etwas leisten will, muss man ein
Fundament haben, auf dem man
aufbauen kann. Deutschland ist
eine sehr reife, in manchen Bereichen schon sehr gesättigte Wohl-
standsgesellschaft. Vielen Menschen ist nicht bewusst, dass diese
Stellung hart erarbeitet ist und dass
es große Anstrengungen braucht,
sie zu erhalten. Das hängt wiederum
eng mit der Frage zusammen, welche Ausprägung unser Wirtschaftsstandort in Zukunft haben soll.
Was kommt denn Ihres Erachtens
in der öffentlichen Diskussion zu
kurz?
Es gibt zum Beispiel einen großen
Bedarf zu erklären, woher ein Produkt kommt und wie es entsteht.
Also von der Idee über die Fertigung,
den Vertrieb und den Verkauf bis
zum Endkunden, der ja auch verantwortungsbewusst damit umgehen
soll. Nachhaltigkeit muss gelernt
werden, so wie zum Beispiel Kinder
von Anfang an lernen müssen, dass
jede Handlung auch Konsequenzen
hat. Wir müssen die nachfolgenden
Generationen richtig anleiten.
Also grundsätzlich ein Plädoyer
für mehr Nachhaltigkeit?
Richtig, aber auch für mehr Klarheit
und Transparenz. Es ist zum Beispiel falsch, wenn man einen CO² Fußabdruck von Produkten erstellt
und dabei nur einen bestimmten
Ausschnitt der Wertschöpfungskette
betrachtet. Man muss die Dinge
sozusagen von der Wiege bis zur
Bahre betrachten. Und das ist nun
mal komplex.
In Deutschland stoßen große Infrastrukturprojekte zunehmend
auf Skepsis in der Bevölkerung.
Wenn Sie diese ablehnende Haltung vor dem Hintergrund Ihrer
Erfahrung in einem weltweit
tätigen Unternehmen wie BASF
betrachten – gibt es das Phänomen der „German Angst“?
Proteste gegen Infrastrukturmaßnahmen gibt es immer häufiger.
Aber es ist schon etwas dran: Der
Deutsche ist tendenziell eher ein
Bedenkenträger und detailverliebt.
Dazu kommt unser Wohlstand. In
Asien und auch in den USA sind die
Menschen fortschrittsorientierter
und sehen stets auch die Chancen
eines Projektes. Anders als dort
sind Fortschritt und Wohlstandsorientierung hier in Deutschland keine
tragenden Motive mehr, stattdessen macht sich eher eine Mentalität
der Besitzstandwahrung breit.
Finden innovative Methoden und
Verfahren wie die Gentechnik in
den USA deshalb auch eine breitere Zustimmung als hierzulande?
Das muss man differenziert betrachten. In den USA gibt es zum Beispiel
ein großindustrielles Agrarwesen –
große Felder, große Maschinen.
Dadurch ist der Zugang zur Technologie leichter und damit auch die
Bereitschaft der Menschen größer,
Neues zu wagen und zu akzeptieren.
In den USA können Sie stundenlang
durch menschenlose Weiten fahren.
Da ist es einfacher zu sagen: „Hier
können wir etwas ausprobieren.“ In
Europa verführt die räumliche Enge
dazu, sehr genau hinzuschauen:
Was macht mein Nachbar, wie
werde ich beeinträchtigt? Die Sensibilitäten sind hierzulande viel stärker ausgeprägt.
Und diese erhöhte Sensibilität
motiviert dann Proteste wie die
gegen Stuttgart 21?
Es war immer schon eine Herausforderung, große Infrastrukturprojekte
oder auch Industrieanlagen zu realisieren. Die Menschen im Vorfeld
aufzuklären und mitzunehmen, war
auch vor Stuttgart 21 wichtig. Aber
die Menschen sind heute sehr viel
empfindlicher gegenüber Projekten,
die ihr Leben negativ beeinflussen
Elisabeth Schick 249
könnte und reagieren auch sehr kritisch im Hinblick auf die finanziellen
Dimensionen großer Projekte, gerade
wenn die öffentlichen Hand an der
Finanzierung beteiligt ist. Wobei man
sagen muss, dass die Proteste im Fall
von Stuttgart 21 eine neue Dimension erreicht hatten. Das Ausmaß der
Emotionalisierung und Zuspitzung
war sehr hoch.
gen sehr viel. Generell sehe ich
gerade im bürgerlichen Mittelstand
eine neue Biedermeier-Bewegung,
die sich vornehmlich um ihren eigenen Lebensbereich – Familie, enger
Freundeskreis – und alles, was vor der
eigenen Haustür stattfindet, kümmert. Der Rest, also die Allgemeinheit, scheint da weniger relevant zu
sein. Deswegen spielt es für viele
»Wir brauchen mehr Verständnis dafür, worauf unser Wohlstand basiert.«
Warum waren die Proteste gegen
Stuttgart 21 so heftig?
Eine besondere Sogwirkung haben
sicherlich die Prominenten und
Lokalmatadore entfaltet, die sich an
die Spitze der Bewegung gestellt
haben. Deren Engagement hat viele
Menschen mobilisiert. Auffallend
war, dass unter den Protestierenden
viele Rentner waren – symptomatisch für den demografischen Wandel, den wir zurzeit erleben. Menschen im Ruhestand haben andere
Bedürfnisse als solche, die mitten im
Berufsleben stehen. Sie artikulieren
sich anders und haben mehr freie
Zeit – die sie dann offensichtlich
auch stärker nutzen können, um ihre
Positionen deutlich zu machen.
Finden Sie die Proteste egoistisch?
Es gibt durchaus egoistische Motive.
Es ist aber auch alles eine Frage der
Perspektive. Eine halbe Stunde länger im Zug zu sitzen, macht einem
Rentner vielleicht nicht so viel aus –
für Berufspendler ist eine halbe
Stunde tägliche Zeitersparnis dage250 INTERVIEWS
offensichtlich auch eine geringere
Rolle, welchen gesamtgesellschaftlichen Nutzen Großprojekte haben.
Lassen Sie uns zu einem Thema
kommen, das Menschen und
Wirtschaft derzeit stark bewegt:
die Energiewende. Sind den Menschen die damit verbundenen
Zusammenhänge und Konsequenzen hinreichend bewusst?
Nein, es fehlt schon am ganz grundsätzlichen Wissen über physikalische
Zusammenhänge. Es gibt kaum Verständnis dafür, woher Strom kommt,
wozu man neue Leitungen braucht
und warum es problematisch ist,
wenn man lange Wege mit Energie
überbrücken muss. Die meisten Menschen wissen nicht, dass man Strom
aus Windanlagen gar nicht schnell
genug abtransportieren kann, wenn
es stürmt, oder welche technischen
Herausforderungen es zunehmend
im Netz gibt.
Wo liegt das Verständnisproblem?
Auch die Wirtschaft muss sich dem
selbstkritisch stellen. Wir geben uns
stellenweise vielleicht nicht genug
Mühe, die Zusammenhänge nachvollziehbar rüberzubringen und so
zu vermitteln, dass sie ankommen.
Wir brauchen mehr Außenorientierung. Zu oft diskutieren wir nur in
den eigenen Kreisen.
Brauchen wir mehr Leadership im
Land – vor allem in der Frage, wo
wir eigentlich hinwollen?
Wir erwarten von der Politik, dass sie
Rahmenbedingungen schafft. Das
kann auch ein gesellschaftliches
Modell sein, in dem man zusammen
mit den Stakeholdern an einem Tisch
eine Zukunftsvision entwickelt.
Dabei müsste es auch um die Frage
gehen, wie viel Wohlstand wir uns
leisten können und welchen Fußabdruck eine Gesellschaft hinterlässt.
Apropos „Stakeholder an den
Tisch holen“: Ihr ehemaliger Vorstandsvorsitzender Jürgen Hambrecht war Mitglied der Ethikkommission, die die Grundlagen
für die Beschlüsse der Bundesregierung zur Energiewende erarbeitet hat. Halten Sie das für ein
zukunftsweisendes Modell?
In einem solchen Rahmen die Perspektive der Industrie vertreten zu
können, war sicher wichtig. Aber wir
haben eine parlamentarische Demokratie mit gewählten Volksvertretern,
die für die Bürger sprechen sollen.
Und in die Verantwortung dieser
Volksvertreter fällt es, gerade auch
schwierige Entscheidungen zu treffen. Ähnlich sehe ich das beim Thema
Bürgerbeteiligung. Man kann partizipatorische Formate sicherlich nutzen,
um Entscheidungen vorzubereiten
und Meinungen abzufragen. Doch die
schlussendliche Entscheidung kann
nur von legitimierten und gewählten
Volksvertretern getroffen werden.
Tun Wirtschaftsunternehmen
genug, um die Menschen für sich
zu gewinnen?
Es gibt traditionsgemäß Firmen, die
in diesem Bereich seit Langem sehr
aktiv sind. Insbesondere Familienunternehmen oder Unternehmen, die
Schwierigkeiten hatten, Arbeitskräfte zu rekrutieren. Als die BASF
1865 gegründet wurde, musste das
Unternehmen Arbeitskräfte aus
einem ganz großen Einzugsgebiet
holen und sich dafür natürlich auch
etwas einfallen lassen, zum Beispiel
im sozialen Wohnungsbau. Wir verfolgen seit Langem schon einen
sehr starken Community-Ansatz.
Wie kann mehr Verständnis für
wirtschaftliche Zusammenhänge
geschaffen werden?
Indem man die Menschen mehr für
Technologie und Innovation begeistert. Zusammen mit anderen Unternehmen wie Bosch und Trumpf hat
die BASF zum Beispiel vor einigen
Jahren die Wissensfabrik gegründet,
mit der wir versuchen, mehr naturwissenschaftliche Bildung in die
Schulen zu tragen. Wenn man Zusammenhänge darstellt und Einblicke in
die ganze Wertschöpfungskette
gewährt, finden viele das auf einmal
hochinteressant. Es reicht aber natürlich nicht, das nur einmal zu erklären.
Das muss immer wieder geschehen,
denn die Zeit ist schnelllebig.
Welche Erfahrungen haben Sie
mit Bürgerbeteiligung?
Ein Beispiel: Wir bauen gerade für
eine Milliarde Euro eine neue TDIAnlage in Ludwigshafen. TDI ist ein
wichtiges chemisches Grundprodukt
für Spezialkunststoffe. Im Rahmen
des behördlichen Genehmigungsprozesses finden auch Anhörungen
statt. Unsere Erfahrung mit diesen
formellen Beteiligungsverfahren ist,
dass sich daran nur wenige beteiligen. Das läuft fast unbemerkt von
der Öffentlichkeit ab. Die Aufmerksamkeit steigt erst dann, wenn
NGOs oder politische Gruppierungen versuchen, diese Foren als Plattform für sich zu nutzen. Das ist
bedauerlich, denn den offenen Dialog mit den Bürgern halte ich für
sehr wichtig.
Welche Möglichkeiten neben diesen formellen Verfahren sehen
Sie für den Austausch mit den
Bürgern?
auf Wünsche einzugehen und Vertrauen zu bilden.
Haben sich NGOs in den letzten
Jahren professionalisiert und können Unternehmen davon noch
etwas lernen?
NGOs emotionalisieren auf jeden
Fall besser als Unternehmen, in dieser Hinsicht können wir sicherlich
noch etwas lernen. Ihnen spielt
aber auch das David-gegen-Goliath-Phänomen in die Hände. Zudem
sind NGOs bei der Informationsübermittlung professioneller und
einfach schneller geworden. Bei der
Geschwindigkeit und bei der Emotionalität, mit der sie arbeiten, sind
die NGOs oft im Vorteil. Auf der
anderen Seite gibt es aber auch die
»NGOs emotionalisieren
auf jeden Fall
besser als Unternehmen.«
Wir setzen zusätzlich auf eigene Formate. Die BASF ist hier seit vielen
Jahren aktiv und hat eine lange Tradition von selbst initiierten Bürgerdialogen. Seit ungefähr 20 Jahren
gibt es bei uns sogenannte Community Advisory Panels (CAPs). Das sind
Foren, in denen viermal im Jahr ein
intensiver Dialog mit Meinungsbildnern geführt wird – das können
Elternsprecher sein, Vertreter vom
BUND, Vertreter aus dem Stadtparlament, engagierte Lehrer oder Polizisten. Dabei suchen sich die Teilnehmer die Themen aus und
gestalten den Prozess selbst. Die
CAPs sind ein sehr erfolgreiches Instrument, um sich auszutauschen,
Tendenz, dass Verbraucher zunehmend dafür sensibilisiert sind, wenn
etwas aufgesetzt ist oder zu aggressiv erscheint.
Elisabeth Schick 251
Dr. Rolf Martin Schmitz
»Wir brauchen wieder
mehr Vorbilder.«
Dr. Rolf Martin Schmitz über Vertrauen, Glaubwürdigkeit
und Vorbilder in Wirtschaft und Politik.
Hat Stuttgart 21 die Akzeptanz
von Großprojekten verändert?
Zur Person
Dr. Rolf Martin Schmitz wurde 2009
in den Vorstand der RWE AG mit
dem Ressort Operative Steuerung
Deutschland bestellt. Im Oktober
2010 übernahm er diese Aufgabe für
alle Regionen des RWE-Konzerns als
Chief Operating Officer und ist seit
Juli 2012 stellvertretender Vorstandsvorsitzender. Vor seinem Eintritt in
den RWE-Konzernvorstand hatte er
verschiedene Führungspositionen in
der Energiewirtschaft inne, zuletzt
als Vorstandsvorsitzender der Kölner
RheinEnergie AG. Von 2008 bis 2010
war er zudem ehrenamtlicher Präsident des Bundesverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft.
252 INTERVIEWS
Stuttgart 21 hat in den Medien breiten Raum eingenommen – sicherlich
stärker, als das bei anderen kontroversen Projekten der Fall war. Es war
ein medienwirksames Ereignis, aber
letztlich kein neues Phänomen. Denn
Proteste auch gegen bereits genehmigte Projekte gab es schon viel früher. Deswegen haben Investoren in
den letzten Jahren auch dazugelernt
und binden die betroffenen Bürger
immer früher ein. Ob das im Einzelfall ausreichend ist, sei dahingestellt. Für uns bei RWE ist Akzeptanz
ein zentrales Thema, wie man zum
Beispiel bei unseren Kraftwerksprojekten im Rheinischen Revier oder
am runden Tisch für das geplante
Pumpspeicherkraftwerk Atdorf, an
dem wir beteiligt sind, sehen kann.
Was halten Sie denn von der
These, dass der Protest nun
in der Mitte der Gesellschaft
angekommen sei?
Der Protest war sicherlich in der Mitte
von Stuttgart angekommen. Da sind
Bürger mobilisiert worden, von
denen man vorher nicht gedacht
hätte, dass sie auf die Straße gehen.
Aber sie fühlten sich mitgerissen,
weil es direkt vor ihrer Haustür war.
Das ist etwas komplett anderes, als
wenn man etwa ins Wendland rausfahren muss, um zu protestieren.
Aber wie gesagt: Für mich hat sich
weder ein völlig neues Phänomen
noch ein Quantensprung im Bürgerprotest gezeigt.
auch weniger um die besten Argumente, sondern darum, welches
Gefühl dominiert, denn Menschen
sind nicht immer rational.
Was ist die Rolle der Politik bei
der Realisierung von Großprojekten aus der Sicht eines privaten
Investors?
Ja, das ist so. Großunternehmen sind
anonymer. Im Vergleich dazu geht
man bei kleineren, regionalen Unternehmen davon aus, dass ihre Profite
in der Region bleiben und damit den
Menschen vor Ort zugutekommen.
Die lokale Bindung und die regionale
Wertschöpfung spielen eine große
Rolle. Mit dem Unternehmen vor Ort
verbindet man immer auch Personen
und das schafft Nähe und Vertrauen.
Die Politik trägt Verantwortung, sich
aktiv in den Prozess einzubringen.
Sie muss sich positionieren und Nutzen sowie Konsequenzen eines Projektes aus ihrer Perspektive erklären.
Das Wichtigste ist aber, dass man
mindestens innerhalb von Koalitionen an einem Strang zieht. Wenn das
nicht der Fall ist, befördert das eher
Unsicherheit und schafft eine bessere Plattform für Gegner von Projekten. Ist man sich dagegen einig,
sorgt das für Orientierung und Deeskalation in der Öffentlichkeit. Es gibt
ja neben den Befürwortern meistens
eine kleine, sehr aktive Gruppe, die
gegen ein Projekt mobilisiert, und
eine große Gruppe, die das beobachtet. Diese große Gruppe lässt sich
beeinflussen. Da geht es letztlich
Besteht eine stärkere Ablehnung
gegenüber Aktivitäten von Großunternehmen als gegenüber
solchen von Kleinunternehmen?
Ganz konkret gibt es ja große
Widerstände gegen Kohlekraftwerke. Ist die Kohlekraft die
Kernkraft 2.0?
Der Widerstand gegen die Kernenergie hatte eine andere, über Jahrzehnte gewachsene Sozialisierung,
deshalb kann man das nicht vergleichen. Zukünftig wird es wichtig
sein, dass wir in der öffentlichen
Diskussion wegkommen von ideologischen Grundsatzdebatten, wenn
die Energiewende gelingen soll. Ich
bin absolut von der Notwendigkeit
überzeugt, dass der Ausbau der
erneuerbaren Energien richtig ist,
weil wir nur begrenzte Ressourcen
zur Verfügung haben. Dennoch
muss man gleichzeitig auch die
Wirtschaftskraft erhalten, die es
uns überhaupt erst erlaubt, diesen
Übergang zu gestalten. Wir müssen
verstehen, dass es uns in Deutschland so gut geht, weil wir einen
industriellen Kern haben. Um diesen
zu erhalten, brauchen wir zum Beispiel die Braunkohle als bezahlbare
Energieform. Ich denke auch, dass
wir gerade im Rheinischen Revier
für die Braunkohle weiterhin Akzeptanz finden werden, insbesondere
wenn wir alte Anlagen durch effizientere neue Anlagen ersetzen.
Kann man für Kohle als Brückentechnologie Akzeptanz schaffen?
Es gibt natürlich eine stärkere Kritik
an der Kohle, die durch die CO ² Diskussion entstanden ist. Ich glaube
aber, dass das Thema Versorgungssicherheit wieder einen größeren Stellenwert gewinnen wird. Ich kann mir
gut vorstellen, dass wir in fünf Jahren
ein anderes Meinungsbild im Hinblick
auf die Braunkohle haben werden. Es
ist Aufgabe der Politik, mit uns darüber aufzuklären, welche Alternativen
es gibt, und vor allem, wie sich diese
auf die Strompreise und die Versorgungssicherheit auswirken. Wir werden einfach erkennen müssen, dass
wir uns nicht alles leisten können.
Was müssen Politik und Wirtschaft konkret tun?
Zunächst: Politik und Wirtschaft
arbeiten heute noch zu oft gegeneinander. Wir brauchen ein Verständnis, dass wir die großen Herausforderungen unseres Landes nur in
einem konstruktiven Miteinander
lösen können. Politiker dürfen nicht
aus politischem Opportunismus und
mit Blick auf das nächste Wahlergebnis handeln, sondern müssen
inhaltlich von Konzepten überzeugt
sein, die auch langfristig tragen.
Letzteres gilt auch für die Wirtschaft, denn man kann Strategien
nicht aus taktischen Überlegungen
ständig ändern. Das geht vielleicht
eine Zeit lang gut, aber wenn man
das Hemd und die Farbe zu oft
wechselt, verlieren die Menschen
irgendwann zu Recht das Vertrauen.
Für Politiker wie für Wirtschaftsführer gilt: Die Bürger lassen sich meistens dadurch gewinnen, dass man
Dr. Rolf Martin Schmitz 253
offen und ehrlich kommuniziert und
mit Taten zeigt, dass man zu seinem
Wort steht.
Die Menschen wollen die Energiewende, aber häufig keine
Windräder oder Stromleitungen
in Sichtweite. Wie kommt das?
wenn man von etwas profitiert,
nimmt man auch Lasten auf sich. Wir
haben selbst einige Bürgerwindparks
realisiert, die problemlos umsetzbar
waren. Für mich ist eine sinnvolle
Bürgerbeteiligung immer dann gegeben, wenn der Bürger selbst etwas
davon hat. Es wird ja gerade auch in
»Politik und Wirtschaft
arbeiten heute noch zu oft
gegeneinander.«
Das liegt daran, dass die Politik zu
lange das Bild vermittelt hat, als
wäre die Realisierung der Energiewende vollkommen unproblematisch. Ganz abstrakt erkennt man
zwar die Zusammenhänge, im konkreten Fall vor Ort blendet man das
aber gerne aus. Es gibt bislang kaum
jemanden, der die Konsequenzen
der Energiewende in aller Deutlichkeit anspricht. Die Politik wäre in der
Pflicht, das gesamte Bild zu zeigen.
Dazu kann für den einzelnen Bürger
auch gehören, dass in der Nähe des
eigenen Hauses Windkraftstandorte
oder neue Hochspannungsleitungen
gebaut werden müssen. Solche Botschaften sind unpopulär. Trotzdem
müssen sie unmissverständlich vorgetragen werden, sonst kann der
Bürger nicht nachvollziehen, warum
er nun Lasten tragen soll. Information muss transparent, vollständig
und wahrhaftig sein. Und wer überzeugen will, muss auch Vorbild sein.
Steigt die Akzeptanz durch
Bürgerwindparks oder Bürgersolaranlagen?
Ja, das sind sinnvolle Modelle, denn
254 INTERVIEWS
Bezug auf den Leitungsbau diskutiert, dass Betroffene einen monetären Ausgleich erhalten. Das halte ich
für sinnvoll, denn der Anreiz, etwas
nur aus gemeinnützigen Gründen für
die Umwelt oder die Allgemeinheit
zu tun, ist offenbar geringer, als
wenn man spürbar selbst profitiert.
Spielt das Gemeinwohl für die
Menschen denn keine Rolle mehr?
Es gibt ja im sozialen Bereich sehr viel
ehrenamtliches Engagement, aber in
Bezug auf die Energiewende haben
die meisten nicht in erster Linie das
Gemeinwohl im Kopf. Heute vertreten
die Menschen ihre Partikularinteressen viel selbstbewusster, auch mit
juristischen Mitteln.
Woran liegt das?
Das ist zum einen ein Wohlstandsphänomen und zum anderen ein
Erziehungsproblem. Die Nachkriegsgenerationen wurden zu einer Ellenbogenmentalität erzogen, sodass
man glaubt, dass in unserer kompetitiven Gesellschaft nur der Stärkste
überlebt. Unsere Kinder bekommen
schon in der Schule vermittelt, dass
nur die Besten weiterkommen, und
das führt zu einem vermehrten Egoismus. In der Erziehung, in der Schule
und im Elternhaus macht man häufig
nicht deutlich, dass die eigene Freiheit nur so weit geht, wie sie die Freiheit des anderen nicht einengt. Dieses einfache Prinzip gilt heute nicht
mehr, sondern wir haben eine Gesellschaft von Gewinnern und Verlierern.
Sehen Sie auch eine Verantwortung der Wirtschaft, da gegenzusteuern?
Wir brauchen auch in der Wirtschaft
wieder mehr Vorbilder. Wir sind ein
Land, das sehr stark personenbezogen lebt und denkt. Daher muss man
versuchen, gute Leute in die richtigen Positionen zu bringen, denen es
auch gelingt, Vertrauen zu gewinnen. Der zweite Punkt ist, dass die
Wirtschaft nicht gegen allgemeine
Entwicklungen ankämpfen, sondern
verstärkt deren Folgen aufzeigen
sollte. Dazu gehört, gesellschaftliche
Diskussionen anzustoßen und aktiv
voranzutreiben.
Industrie unterschieden wird. Teilen Sie diese Beobachtung?
In Deutschland besteht vor allem in
der Standortdebatte in der Tat der
Hang dazu, bei zentralen Fragen
ideologische Fronten aufzubauen,
beispielsweise auch zwischen der
Industrie und NGOs. Man hat in der
Vergangenheit auch einfach viel zu
wenig miteinander geredet – wir
brauchen aber in Zukunft einen viel
intensiveren Dialog miteinander,
denn wir haben schließlich eine
gemeinsame Verantwortung für die
Zukunft. Das wurde in der Vergangenheit häufig vergessen – sicherlich auch, weil das Wohlstandsniveau sehr hoch ist. Die Wirtschaft
insgesamt, aber auch die einzelnen
Unternehmen sollten hier eine größere Außen- und Dialogorientierung
an den Tag legen.
Welche Verantwortung haben die
Medien?
Auch das ist für mich eine Sache der
Wahrhaftigkeit. Es ist ja nicht verwerflich, wenn man ein Partikularinteresse hat, das sollte man auch klar
und deutlich benennen. Das muss
aber nicht automatisch im Widerspruch zu gesamtgesellschaftlichen
Interessen stehen. Im Gegenteil, oft
können damit auch aus volkswirtschaftlicher Gesamtsicht sinnvolle
Anliegen verbunden sein.
Leider stelle ich häufig die Tendenz
fest, dass es Medien in den letzten
Jahren immer weniger um differenzierte Vermittlung von Inhalten und
sachlichen Informationen als um
Emotionen geht. Das betrifft nicht
nur Boulevardblätter, sondern auch
Wirtschaftszeitungen und vor allem
die verschiedenen Formate im Fernsehen. Wahrscheinlich ist das aber
einfach dem Zeitgeist geschuldet,
denn ein Großteil der Leser ist ja
gar nicht bereit dazu, ausführliche
Analysen zu lesen, sondern rezipiert nur noch Stakkato-Nachrichten. Somit passen sich die Medien
diesem Trend einfach an. Das klassische Henne-Ei-Phänomen.
In der öffentlichen Diskussion
drängt sich der Eindruck auf, dass
zwischen „guter“ und „böser“
Im Zusammenhang mit der Energiewende gab es die Ethikkommission. Wie stehen Sie dazu?
Droht dann nicht die Gefahr,
dass unterstellt wird, nur Partikularinteressen zu vertreten?
Von solch einem Modell halte ich
nicht allzu viel, wenn damit die Verantwortung an nicht demokratisch
legitimierte Dritte abgegeben wird.
Es ist natürlich immer gut, sich
schlauzumachen und von Experten
beraten zu lassen. Aber ein Politiker
muss genauso wie der Chef eines
Wirtschaftsunternehmens am
Schluss den Mut haben, selbst eine
Entscheidung zu treffen und für
diese auch geradezustehen.
Stehen Sie deswegen auch
Bürgerentscheiden skeptisch
gegenüber?
Für mich sind mehr Bürger- und
Volksentscheide keine Lösung. Zum
einen ist das Risiko von Populismus
sehr groß. Zudem haben wir in
Deutschland das System der repräsentativen Demokratie, das sich in
den letzten Jahrzehnten bewährt
hat. Dieses etablierte System durch
die Stärkung von direkter Demokratie zu schwächen, halte ich für
unklug. Das könnte eine Instabilität
zur Folge haben, die weder aus
politischer noch aus wirtschaftlicher Sicht gut für unser Land wäre.
Reichen die Beteiligungsmöglichkeiten im formellen Verwaltungsrecht aus?
Es gibt genügend formelle Einspruchsmöglichkeiten. Sie sind so
konzipiert, dass man sich damit aktiv
auseinandersetzen und auch Zeit
investieren muss. Viele Menschen
sind allerdings nicht bereit, sich so
tief in die Themen einzuarbeiten. Das
müssen Unternehmen berücksichtigen und parallel zum Genehmigungsverfahren intensiv mit den Menschen
kommunizieren und die Pläne darlegen. Das sollte man zu einem Zeitpunkt tun, zu dem die Pläne schon
hinreichend konkret sind, aber noch
Raum für Änderungen und Verbesserung bieten.
Für manche Experten geht es in
der Debatte um Bürgerbeteiligung nicht nur um das Wie, sondern es sollte auch über das Ob
abgestimmt werden. Ist das ein
Weg zur Befriedung?
Aus der Sicht eines Investors kann
ich diesem Vorschlag nicht zustimmen, denn das würde ja bedeuten,
dass man selbst nicht hinter seinem
Projekt steht. Wenn ich selbst das
Ob in Frage stelle, wäre das für mich
ein Widerspruch. Dann sollte ich
eher den Job wechseln. Das Ob
muss klar sein, aber man muss dennoch offen für neue Argumente sein.
Sollte Bürgerbeteiligung gesetzlich normiert werden?
Wenn es sinnvoll ist, sollten Unternehmen immer Bürgerbeteiligung
durchführen. Diese gesetzlich zu normieren, würde den Handlungsspielraum für Unternehmen aber einschränken und wäre kein gutes Signal
für in- und ausländische Investoren.
Es liegt im Eigeninteresse von Unternehmen, Akzeptanz für Projekte zu
schaffen, daher berücksichtigen
immer mehr Unternehmen Bürgerbeteiligung ohnehin in ihren Planungen. Da hatte die Debatte der letzten
Monate sicherlich einen guten Effekt.
Dr. Rolf Martin Schmitz 255
Olaf Scholz
»Partizipation als Chance
begreifen.«
Olaf Scholz zur deutschen Planungs- und
Beteiligungskultur aus politischer Sicht.
Hamburg verfügt über eine ausgeprägte Tradition direkter
Demokratie. Sind Bürger- und
Volksentscheide ein Mittel, um
mehr Akzeptanz für Großprojekte herzustellen?
Zur Person
Olaf Scholz wurde im März 2011
zum Ersten Bürgermeister der Freien
und Hansestadt Hamburg gewählt.
Bereits seit 2009 ist der studierte
Jurist Landesvorsitzender der Hamburger Sozialdemokraten und stellvertretender Bundesvorsitzender
der SPD. Zuvor gehörte Scholz fast
zwei Jahre lang als Bundesminister
für Arbeit und Soziales der damaligen Bundesregierung an. Zu den
politischen Zielen des Hamburger
Regierungschefs und seines Senats
zählt unter anderem der Bau von
jährlich 6.000 neuen Wohnungen in
der Hansestadt.
256 INTERVIEWS
Volks- und Bürgerentscheide erhöhen ohne Zweifel die Legitimation
dessen, was am Ende eines Entscheidungsprozesses herauskommt. Das
gilt insbesondere für Fragestellungen, die für alle Beteiligten nachvollziehbar sind und zu denen sich die
Bürger ohne große Schwierigkeiten
eine eigene Meinung bilden können.
Hierzu gehört beispielsweise der Bürgerentscheid über das Bauvorhaben
eines schwedischen Möbelkonzerns
im Hamburger Stadtteil Altona, ein
Thema, das jedem Anwohner schnell
zugänglich war.
Was aber nicht immer der Fall
sein dürfte …
Kompliziert wird es in der Tat immer
dann, wenn die Themen sehr kleinteilig sind. Die Bürgerinnen und Bürger
können sich dann nur mit großem
und in den Augen vieler unvertretbarem Aufwand in die Lage versetzen, das Für und Wider eines Projekts abzuwägen. Insofern ist es in
puncto Akzeptanz von Bedeutung,
ob es gelingt, dass derartige Bürgerentscheide sich auf Fragen konzentrieren, die eine Vielzahl von Menschen bewegen und zu denen
sich viele ein eigenes Urteil bilden
können.
Dann sind derartige Instrumente
also kein Allheilmittel?
Nein, ein Allheilmittel in Sachen
Akzeptanz sind Bürger- und Volksentscheide nicht. Die Grenzen dieser Instrumente verlaufen für mich dort, wo
die Legitimation schwindet, weil die
Zahl derjenigen, die sich an einem
solchen Verfahren beteiligen, zu
gering wird. Das ist vor allem bei Bürgerentscheiden der Fall, die sich auf
vergleichsweise kleine Räume beziehen. Dieser Problematik begegnen
wir in Hamburg mit einer Lösung, die
es dem Senat erlaubt, in besonders
wichtigen Fällen nach einem Bürgerentscheid noch eine eigene, gegebenenfalls abweichende Entscheidung zu treffen.
Die Kernfrage ist also, auf welcher
Basis eine Entscheidung gründet?
Ja, und zwar in der direkten genauso
wie in der repräsentativen Demokratie. Es lohnt sich, darüber nachzudenken, wie sichergestellt werden
kann, dass Bürger- und Volksentscheide immer ausreichend legitimiert sind. Eine solche Legitimation
kann meiner Auffassung nach nur
darin bestehen, dass die aufgerufene Bevölkerung einer Gemeinde,
eines Stadtteils, eines Landes oder
der Bundesrepublik Deutschland
genau weiß, worum es geht. Die
Themen solcher Verfahren müssen
hinreichend öffentlich diskutiert werden und sie müssen auch alle berühren. Und nicht zuletzt müssen sich
genügend Bürgerinnen und Bürger
an der Entscheidung beteiligen.
Können Quoren eine Lösung sein?
Ich bin überzeugt, dass bei Bürgerentscheiden zu geringe Quoren oder
gar keine Quoren ein Problem sind.
Zu hohe sind es allerdings auch.
Hamburg hat insbesondere in der
Stadtteilentwicklung reichlich
Erfahrung mit Bürgerbeteiligungsformaten. Können andere
davon lernen?
Hamburg hat bereits in den Siebzigerjahren eine moderne Stadtentwicklung eingeleitet. Außer von den
formalen Entscheidungsgremien
wurde dieser Prozess immer schon
von Partizipationsformaten beglei-
tet. Das hat sich bewährt. Es hat
sich aber auch herausgestellt, dass
es keine ultimative Lösung gibt. Mal
hat sich das eine, mal das andere
Verfahren als hilfreich erwiesen. Die
Suche nach einem Patentrezept in
Sachen Beteiligung sollte man
daher aufgeben und stattdessen
immer für neue Konzepte offen sein.
tieren. Überhaupt bin ich überzeugt,
dass alles, was unser Gemeinwesen
berührt, eine ausreichende Rückkoppelung bei den Bürgerinnen und Bürgern braucht. Wenn das vernünftig
gemacht wird, kann es die Akzeptanz
auch von schwierigen Entscheidungen erhöhen. Partizipation ist keine
Bedrohung, sondern eine Chance.
Und wie sehen solche neuen Konzepte in der Praxis aus?
Wer soll die Kosten tragen für
solche Beteiligungsformate?
In Hamburg haben wir beispielsweise
gerade eine Stadtwerkstatt ins Leben
gerufen, die im Bereich der Stadtplanung ganz unterschiedliche Methoden der Bürgerbeteiligung vereint.
Dieses Werkstattformat ist eine qualitative Weiterentwicklung auf Grundlage all der Erfahrungen, die wir in
der Vergangenheit bei verschiedenen
Einzelprojekten sammeln konnten.
Das kann man nicht über einen Leisten schlagen. In einem Fall wird es
der Investor sein, im anderen der
Staat als öffentliche Institution
oder eine Gemeinde. In Hamburg
praktizieren wir etwa im Bereich der
Stadtentwicklung Modelle, für die
staatliche Mittel bereitgestellt werden. Bei der Finanzierung gibt es
aber ebenso wie bei den Formaten
keine allgemeingültigen Regeln.
Welche ist dabei die zentrale
Erkenntnis?
Wichtig ist, dass möglichst viele, die
sich von einem Projekt berührt oder
beeinträchtigt fühlen, in die Planungen mit eingebunden werden. Denn
wer sich als Teil eines solchen Entscheidungsprozesses begreift, dem
wird es leichter fallen, die schließlich
gefundene Entscheidung zu akzep-
Obwohl formal die Möglichkeit
besteht, sich schon frühzeitig an
öffentlichen Planungsprozessen
zu beteiligen, melden Bürger häufig erst dann Protest an, wenn
ein Projekt bereits Fahrt aufgenommen hat. Woran hapert es?
Wir verfügen in Deutschland über
gut ausgearbeitete BeteiligungsOlaf Scholz 257
verfahren, die es den Bürgerinnen
und Bürgern erlauben, ihre Belange,
Ansichten und auch Einsichten im
Planungsprozess frühzeitig vorzutragen. Die Erfahrung zeigt aber,
dass die Menschen dies nicht für
das eigentlich entscheidende Verfahren halten, sondern offenbar
andere Formen der Kommunikation
erwarten. Angesichts der hohen
Verrechtlichung des formalen Partizipationsprozesses ist das auch
nachvollziehbar.
Und was bedeutet das für die
Verfahrenspraxis?
Ich bin überzeugt, dass wir über
rechtliche Konsequenzen der Beteiligungsprozesse nachdenken müssen. Selbstverständlich muss man
auf die formalen Verfahren verweisen. Soweit das den Planungsprozess in rechtlicher Hinsicht nicht
beeinträchtigt, muss es aber daneben auch neue Formen der Kommunikation geben.
Klagen über dieses Phänomen aufzuhalten, hilft nicht weiter, stattdessen sollte man lieber nach Lösungen
suchen. Das geltende Verwaltungsrecht der Bundesrepublik Deutschland lässt dafür allerdings wenig
Spielraum. Denn das Gespräch und
die Verständigung entfalten bei uns
keine rechtlich bindende Wirkung.
men. Ein Vergleich, der dann aber
alle Beteiligten – ob Verbände oder
individuell Betroffene – genauso bindet wie den Investor. Wenn uns das
nicht gelingt, werden wir mit der
Tatsache, dass in Deutschland manche Planung nicht nur einmal, sondern fünfmal durchdiskutiert wird,
weiter leben müssen.
Soll heißen, andere Staaten
haben uns hier etwas voraus?
Inwieweit muss eine Gesellschaft
Konflikte aushalten können –
zum Beispiel, wenn es um widerstreitende Erwartungen bezüglich Wirtschaftswachstum und
Umweltschutz geht?
In den Mediationsverfahren der USA
beispielsweise können unterschiedliche Belange ausgeglichen werden.
Das Besondere dieser amerikanischen
„Mediations“ ist, dass die schließlich
getroffene Entscheidung für alle
Beteiligten bindend ist. Unser deutsches Verfahrensrecht dagegen
erlaubt es, dass auch nach einem solchen „Vergleich“ jeder noch seine
Interessen individuell durchsetzen
kann. Ohnehin sind die Möglichkeiten
für einen Vergleich bei uns beschränkt auf das, was man von Rechts
»Ich werbe sehr dafür, auf
die Kraft der Argumente
und der Fakten zu setzen.«
Was die Entscheidungsfindung
aber möglicherweise nicht vereinfacht …
Man darf nicht erschrocken sein,
wenn nach einer ordnungsgemäßen,
unter großen Mühen veranstalteten
und öffentlich auch wahrgenommenen Planungsbeteiligung am Ende
ein Planungsbeschluss steht – und
die Diskussion über das Vorhaben
trotzdem noch einmal von Neuem
beginnt. So ist das eben. Sich mit
258 INTERVIEWS
wegen als Genehmigungsbehörde
etwa einem Investor als Auflagen erteilen könnte.
Sehen Sie dennoch Lösungswege?
Es empfiehlt sich, immer wieder neu
über Optionen im Rahmen unseres
deutschen Verfassungs- und Verwaltungsgefüges nachzudenken. Etwa
über die Frage, ob ein Planungsverfahren auch die Möglichkeit eröffnen
kann, zu einem Vergleich zu kom-
Einfache Lösungen gibt es da nicht,
sondern unterschiedliche Interessen,
für die ein vernünftiger Ausgleich
gefunden werden muss. Und bei
sehr bedeutenden Vorhaben, wie
etwa der Elbvertiefung, sind das
auch ganz große Dinge, die miteinander zu verhandeln sind. Bei diesem
Vorhaben ist das gut gelungen. Für
die Belange der wirtschaftlichen Entwicklung des Hafens und die Belange
des Natur- und Umweltschutzes ist
durch die vorbereitenden Verfahren
und mit dem Planfeststellungsbeschluss ein guter und vernünftiger
Ausgleich gefunden worden.
Aber wie groß ist die Kompromissbereitschaft tatsächlich? Ist nicht
auch oft Egoismus im Spiel, wenn
Bürger sich gegen bestimmte Projekte sperren?
Natürlich gibt es Vorhaben, bei
denen die Kritik vor allem von der
eigenen Betroffenheit herrührt. Das
ist nichts Illegitimes, es gehört
schließlich mit zur Diskussionskultur.
Trotzdem habe ich nicht den Eindruck, dass die Bürgerinnen und Bürger vorrangig egoistische Motive verfolgen. Vielmehr scheint den meisten
von ihnen klar zu sein, dass es Anliegen gibt, die für die Gemeinschaft
von großer Bedeutung sind. Nehmen
wir das Beispiel Wohnungsbau in
Hamburg: Selbst diejenigen Bürger,
die gegen das eine oder andere konkrete Bauvorhaben vorgehen, vergessen meistens nicht zu erwähnen,
dass ihnen klar ist, dass die Stadt
dringend viele neue Wohnungen
bauen muss und dass sie damit im
Prinzip auch einverstanden sind.
Welche Verantwortung trägt
der Bürger für einen gelingenden
Dialog?
Wir alle sind Bürgerinnen und Bürger. Und wir alle sollten nicht aufhören, das von einem selbst als richtig
Erkannte auch mit Argumenten darzulegen. Wer auf Argumente verzichtet und nicht bereit ist, seine
Fakten vorzutragen, darf sich nicht
wundern, wenn die Skepsis überwiegt. Ich werbe sehr dafür, auf die
Kraft der Argumente und der Fakten
zu setzen. Denn umso weniger werden sich am Ende diejenigen durchsetzen, die den Vorwurf fehlender
Transparenz einfach nur der billigen
Polemik wegen erheben.
Ist das ein Plädoyer für mehr Rationalität in der oftmals sehr
erhitzten Auseinandersetzung?
Das demokratische Gespräch hat
eine eigene Tonlage. Die ist in einer
Regierung schon einmal anders als in
einem Parlament. Und im Parlament
wieder anders als auf einer großen
Straßendemonstration. Aber trotz
dieser offensichtlichen Unterschiede
sollten alle Beteiligten, auf der einen
wie auf der anderen Seite, sich immer
so verhalten, dass es ein Gespräch
bleibt und man den Rahmen des kritischen Meinungsaustauschs nicht
überschreitet oder gar dauerhaft verlässt. Vor allem die Akteure, die
bestimmte Planungen verfolgen, sollten immer ruhig bleiben und angemessene Worte finden.
Gilt das auch für die Medien?
Es wäre vor allem gut, wenn die
Medien sich häufiger eine Haltung
zutrauen würden. Es ist zum Beispiel
nicht hilfreich, den Bau einer Anlage
zu skandalisieren und zugleich ihren
Nicht-Bau, was durchaus vorkommt.
sich erst noch auf dem Papier in der
Planung befindet.
Aber ist das nicht Zweckoptimismus?
Man sollte niemandem etwas vormachen. Es ist richtig, die Energiewende
voranzubringen. Und an der einen
oder anderen Stelle wird die veränderte technische Infrastruktur natürlich Konsequenzen für das Landschafts- oder Stadtbild haben. Wer
das beschönigt, malt die Welt in zu
»Partizipation ist
keine Bedrohung, sondern
eine Chance.«
Womit wir beim Stichwort Energiewende wären. Ein Vorhaben,
das zwar allgemein begrüßt wird,
aber auch Widerstände hervorruft, wenn etwa der Bau neuer
Windräder oder Stromtrassen
konkret wird. Wie löst man diesen Widerspruch auf?
rosigen Farben. Und doch bin ich
überzeugt, dass dieses Problem nur
in den Augen derer unlösbar ist, die
an eine friktionsfreie Welt glauben.
Den Pessimismus Ihrer Fragestellung teile ich nur eingeschränkt.
Die meisten Bürgerinnen und Bürger, die für den Ausbau der erneuerbaren Energien und der Stromnetze sind, verstehen sehr wohl,
dass das Folgen für sie persönlich
haben kann – Folgen, die manchmal
auch unangenehm sein können.
Andere befürchtete Folgen treten
gar nicht ein, lösen aber im Vorfeld
viele Besorgnisse aus, bevor man
sich überhaupt mit den neuen Realitäten auseinandersetzen kann. Nur
ein Beispiel: Ich bin überzeugt, dass
ein bereits errichtetes Windrad auf
mehr Akzeptanz stößt als eines, das
Olaf Scholz 259
Michael Vassiliadis
»Wir brauchen Begeisterung für
Technik und Innovation.«
Michael Vassiliadis über industrielle Wertschöpfungsketten
und die Notwendigkeit einer Prozesssteuerung für die Energiewende.
Ist die Angst vor einer Verschlechterung der Lebensqualität ausschlaggebend für Proteste gegen
Großprojekte?
Bei den Stichworten „Angst“ und
„Verschlechterung der Lebensqualität“ muss man zwei Motive unterscheiden. Angst kann bedeuten, dass
man durch ein Projekt negative Auswirkungen für eine größere Gruppe
von Menschen oder das Gemeinwohl
befürchtet. Dieses Motiv ist zu trennen von der Sorge um die Verschlechterung der eigenen Lebensqualität,
wie etwa finanzielle Nachteile durch
die Wertminderung von Immobilien.
Beide Motive sind aber legitim.
Zur Person
Michael Vassiliadis ist seit 2009
Vorsitzender der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie. Er
ist Mitglied im Aufsichtsrat der K+S
AG, der Evonik STEAG GmbH, der
Henkel KGaA und der BASF SE. Im
Juni 2007 rief ihn die Bundesregierung in den Rat für nachhaltige Entwicklung, 2011 war er Mitglied der
Ethikkommission für sichere Energieversorgung.
260 INTERVIEWS
Wie steht es um die Zustimmung
zu unserer Wirtschaft?
Es gibt in der Bevölkerung grundsätzlich eine hohe Akzeptanz von Gedanken wie Wettbewerb und sozialer
Marktwirtschaft. Gleichzeitig ist das
Misstrauen, dass die Unternehmen
nur Eigeninteressen verfolgen,
immens gestiegen und weit verbreitet. Von daher fallen die Argumente
der Gegner von Großprojekten auch
immer auf fruchtbaren Boden.
Gibt es da unterschiedliche
Wahrnehmungen von kleinen
und großen Unternehmen?
Je größer eine Institution ist, desto
undurchschaubarer und beängstigender wirkt sie. Die vier Großen der
Energiewirtschaft sind auch wieder
eine herausgehobene Gruppe mit
einem ganz eigenen Profil in der
öffentlichen Wahrnehmung, unabhängig auch von anderen Unternehmen dieser Größenordnung. Das
andere ist die Unterscheidung zwischen öffentlichen und privaten
Unternehmen. Öffentliche Unternehmen stehen im Allgemeinen besser da als private, weil man ihnen
weniger Profitinteressen unterstellt.
Kommen wir zur Energiewende:
Woran hapert es bei der Umsetzung und was ist zu tun?
Die Entscheidung für die Energiewende wurde wesentlich auf Grundlage der Diskussionen in der Ethikkommission gefällt. Diese kam zu
dem Ergebnis, dass der Ausstieg aus
der Kernenergie binnen zehn Jahren
möglich ist, allerdings nur unter
einer ganzen Reihe von Bedingungen. Dazu gehören der Netzausbau
sowie der Bau von Kohle- und Gaskraftwerken. Letztes Jahr war dieser
Zusammenhang bewusst. Mittlerweile zerfasert das in zusammen-
hanglose Einzeldiskussionen. Das
hat auch mit der fehlenden Prozessverantwortlichkeit und einem
schlechten Projektmanagement der
Energiewende zu tun.
Was bedeutet das konkret?
Wenn man eine Analogie zu Unternehmen zieht und die Energiewende
mit großen Projekten vergleicht, die
in Unternehmen durchgeführt werden, dann gibt es in der Regel
Erfolge, wenn es einen Projektverantwortlichen gibt – den gibt es
nicht bei der Energiewende. Es gibt
Erfolge, wenn es ein definiertes Projektbudget gibt – es gibt aber keine
Gesamtkostenrechnung der Energiewende. Es gibt Erfolge, wenn Ziele,
Meilensteine zur Zielerreichung und
Prozesse zum Nachsteuern definiert
sind – auch das fehlt. Das sind drei
wesentliche Defizite bei der Umsetzung der Energiewende. Den Menschen geht dieses Hin und Her
sicherlich auf die Nerven und das
führt zu sinkendem Vertrauen, dass
die Energiewende auf eine verantwortliche Weise auf den Weg
gebracht wird.
Welche Rolle und welche Verantwortung hat denn die Wirt-
schaft bei der Umsetzung der
Energiewende?
Man muss zwischen Unternehmen
und der Wirtschaft unterscheiden.
Unternehmen müssen nicht nur
erklären, sondern vor allem machen.
Unternehmen, die Energie erzeugen, und Unternehmen, die intensiv
Energie verbrauchen, müssen die
Energiewende umsetzen. Es gibt
kein Unternehmen, das nicht nachhaltig von den Konsequenzen der
Energiewende betroffen sein wird.
Von daher ist die wichtigste Aufgabe der Unternehmen, ihre Strategien zu finden und auf dieser Grundlage in den Dialog mit der Politik zu
treten. Die Wirtschaft, wie zum Beispiel der BDI, ist im Moment nicht
sehr sprachfähig. Man erlebt das
auch in den Darstellungen der
Unternehmen, die sich aufgrund
verschiedener Interessen und
Geschäftserwartungen sehr unterschiedlich äußern. Man hat nicht das
Gefühl, dass es ein koordiniertes
Auftreten oder ein durchdachtes
Programm zur Umsetzung der Energiewende gibt.
Welche Botschaft sollten die
Unternehmen in die Diskussion
mit einbringen?
Ganz entscheidend ist das Argument
der Wettbewerbsfähigkeit. Aktuelle
Untersuchungen ergeben, dass den
Menschen bewusst ist, dass eine
international konkurrenzfähige Energieversorgung für Unternehmen
wichtig ist, weil ihre Wettbewerbsfähigkeit ansonsten massiv leidet. Dennoch entsteht bei diesem Argument
immer noch großes Misstrauen. Wir
müssen diese Lücke schließen und
dafür werben, dass es für energieintensive Unternehmen ein Segment
gibt, in dem besonders auf die Wettbewerbsfähigkeit geachtet wird.
Gerade im Kontext der Energiewende gibt es ja das NIMBY-Phänomen: Der Verbraucher will die
Energiewende, aber keine Windräder oder Stromleitungen in
Sichtweite. Haben Sie eine Erklärung für diese vermeintlich widersprüchliche Haltung?
Diese Haltung hat erst mal nichts mit
der Energiewende zu tun. Wenn eine
Autobahn nah an Wohnbebauung
gebaut werden soll, gibt es dagegen
auch Widerstände, obwohl man
grundsätzlich Autobahnen befürwortet. Dieses Verhalten ändert sich
nicht, nur weil es um die Energiewende geht. Die Energiewende eröffMichael Vassiliadis 261
net aber die Chance, dass man eine
neue Diskussion darüber führen
kann, was Allgemeinwohl und was
privater Nutzen ist und wie diese
Aspekte in Einklang gebracht werden
können. Das gilt zum Beispiel auch
für eine grüne Partei, die mit diesen
Widersprüchen konfrontiert ist und
einer Bürgerinitiative im Wahlkreis
erklären muss, warum man für die
Energiewende Stromnetze braucht.
Warum fehlt dieses Bewusstsein?
Wir driften ja mittlerweile in zwei
Welten auseinander. Die privat
erlebte Welt, in der man das eigene
Haus mit Fotovoltaikmodulen auf
dem Dach, Wärmepumpe im Keller
und Batteriespeicher in der Garage
versorgt, sodass man kaum noch auf
ein Stromnetz angewiesen ist und
nicht versteht, warum man noch
große Kraftwerke bauen sollte. Dane-
»Öffentliche Unternehmen
stehen im Allgemeinen
besser da als private.«
Hat die Energiewende auch
generationenübergreifend das
Potenzial für eine neue gesellschaftliche Versöhnungsformel?
Wenn die Energiewende vernünftig
umgesetzt wird, kann sie ein identitätsstiftendes Projekt für die Gesellschaft werden. Nach dem Motto:
„Wir sind Vorreiter und zeigen Verantwortung.“ Das wäre eine große
Chance, an der wir als IG BCE auch
aktiv mitwirken wollen.
Die IG BCE fordert Kohle als
Brückentechnologie. Wie kann
man dafür Akzeptanz schaffen?
Zum einen müssen wir mehr Verständnis und Begeisterung für Technik und Innovation wecken. Noch
wesentlicher ist aber, die Tatsache
zu vermitteln, dass sich unsere Energieversorgung ohne Kohleverstromung nicht aufrechterhalten lässt,
bis wir Strom in dem Ausmaß speichern können, dass wir energieintensive Prozesse auch mit Energie versorgen können.
262 INTERVIEWS
ben gibt es die andere Welt, in der
man Ammoniak, Aluminium, Papier,
Zement und Keramik herstellen will.
Wenn man diese Industrien in
Deutschland halten will, kommt man
nicht mit dem Diesel-Generator im
Keller und den Fotovoltaikmodulen
auf dem Dach aus, dafür braucht man
die großen Kraftwerke. Der Unterschied zwischen privater und industrieller Energieversorgung ist vielen
Menschen aber nicht klar. Daran
muss inhaltlich gearbeitet werden.
Das klingt aber auch danach,
dass Sie eine intensivere und
offenere Debatte über die
künftige Ausrichtung und die
Erfolgsvoraussetzungen für den
Standort Deutschland fordern.
Ja genau. Wir brauchen mehr
Bewusstsein dafür, welchen Wert
die Industrie für den Standort
Deutschland hat. Wir brauchen die
Industrie, damit es uns nicht so wie
den Menschen in Griechenland oder
England geht. Kein Land in Europa
ist so gut durch die Finanz- und
Wirtschaftskrise gekommen wie
Deutschland. Das liegt an unserer
industriellen Basis, die wir zukunftsfähig absichern müssen. Diese Diskussionskette durchhalten zu können, beginnt schon bei der Debatte
über die EEG -Befreiung für die
Industrie. Viele Menschen verstehen
nicht, warum es Ausnahmen für die
Industrie gibt, anstatt zu begreifen,
dass das Voraussetzungen sind, um
überhaupt hier produzieren zu können. Das führt dann zu der Frage,
warum wir Aluminium in Deutschland herstellen und nicht in Kanada,
Island oder Dubai. Selbst wenn wir
über 800.000 sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse in diesen Industrien reden,
gibt es Menschen, die sagen, dass
wir doch ohnehin auf dem Weg zur
Dienstleistungsgesellschaft sind.
Dabei wird dann auch noch die
Wertschöpfungskette ausgeblendet,
denn ein nicht unerheblicher Teil der
Dienstleistungen ist ja industrienah.
Wie stehen Sie zur wirtschaftlichen Beteiligung der Bürger an
Projekten, wie Bürgerwindparks
oder Bürgersolaranlagen?
Das sind Erfolg versprechende
Modelle und eine Basis nicht nur für
Akzeptanz, sondern für wirkliche
Zusammenarbeit. Es gibt positive
Beispiele, wie eine Biogasanlage,
die in einer Gemeinde zunächst für
große Ablehnung gesorgt hat, bis
man die Bürger vor Ort eingebunden hat. Das hat dazu geführt, dass
die Anlage dann mehrheitlich unterstützt wurde.
Wie sollte man Bürger ansonsten
an Projekten beteiligen?
Der zentrale Aspekt ist frühzeitige
Einbeziehung. Bürgerbeteiligung
muss zu einem Zeitpunkt erfolgen,
zu dem Einflussnahme noch möglich
ist. Unsere Praxis ist im Moment
so, dass ein Unternehmen ein größeres Projekt plant und dann auf die
Genehmigungsbehörde zugeht.
Wenn diese nach dem Planungsrecht
ihren Erörterungstermin durchführt
und die Planung des Unternehmens
bekannt gibt, ist das Projekt nur
noch mit einem sehr hohen Aufwand modifizierbar. Bürger, die an
solchen Terminen teilnehmen, fühlen sich dann verständlicherweise
außen vor und verstehen nicht, was
da vor sich geht. Diejenigen, die das
verstehen, sind die Verbände mit
ihrem Fachwissen und ihren Batterien von Anwälten, die aus den Erörterungsterminen das machen, was
wir oft erleben. Wir müssen daher
dieses Instrumentarium wieder den
Bürgern und den konstruktiven Verbänden zurückgeben, sodass sie
Vorschläge zu einem Zeitpunkt einbringen können, an dem diese auch
noch Berücksichtigung finden können. Deswegen ist der neue Ansatz
richtig, die Öffentlichkeit frühzeitig
in die Planungsverfahren einzubeziehen und auch Dialoge zwischen
Unternehmen und Öffentlichkeit zu
einem Zeitpunkt zu organisieren, an
dem Unternehmensplanung noch
gestaltbar ist.
Sehen Sie eine Gefahr, dass
diese Beteiligungsmöglichkeiten
Prozesse verlangsamen?
Mit solchen Verfahren verbindet sich
die Hoffnung, dass man dadurch
mehr Akzeptanz schafft und daher
hinterher weniger Einspruchsverfahren stattfinden. Allerdings bin ich da
skeptisch, denn das ist ja ein ideales
Bild, bei dem man davon ausgeht,
dass diejenigen, die hinterher prozessieren, dieselben sind, die vorher
mit diskutiert haben.
Bräuchte es eine gesetzliche
Verpflichtung, Bürgerbeteiligung
durchzuführen?
Ich halte nichts von einer Verpflichtung. Es liegt im Grunde im Interesse
des Antragstellers, aber auch in seiner Verantwortung, Kommunikation
herzustellen.
Es gibt einen Vorschlag, dass
Projektbetreiber zwei Prozent
der Projektmittel NGOs und
Bürgerinitiativen für die Erstellung von Gutachten oder für
Kommunikationsmaßnahmen zur
Verfügung stellen sollen, um
Waffengleichheit herzustellen.
Was halten Sie davon?
Projekt um Glaubwürdigkeit
bemüht, aber zur gleichen Zeit beispielsweise Personalabbau oder
eine sehr unangemessene Erhöhung der Vorstandsbezüge ankündigt, ist das völlig unglaubwürdig.
Und es ist eine Illusion zu glauben,
dass man diese Themen voneinander trennen könnte. Auch deswegen, weil es dabei ums Gemeinwohl
geht und man als Unternehmen
dieses Feld nicht nur den NGOs
überlassen kann. Die nehmen für
sich in Anspruch, für das Ganze zu
kämpfen, während die Unternehmen nur an Profit denken. Wenn
man dem etwas entgegensetzen
will, muss man die Allgemeinwohlorientierung als nachhaltigen
Ansatz für das gesamte Unternehmen sehen. Ein punktuelles Vorgehen ist zum Scheitern verurteilt.
Das klingt sehr deutsch und auch
ein bisschen nach Klientelpolitik.
Wir wissen, dass dafür am Ende die
»Der zentrale Aspekt ist
frühzeitige Einbeziehung.«
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer entweder mit der Lohnsteuer
oder mit der Stromrechnung bezahlen – wie für die meisten Kosten der
Energiewende.
Was müssen Unternehmen in
ihrem Kommunikationsverhalten
ändern?
Ein großes Defizit ist, dass Unternehmen meistens ihren Blick ausschließlich auf ein konkretes Projekt
richten. Man sollte aber den Blick
fürs Ganze nicht vergessen, denn
wenn man sich bei einem konkreten
Michael Vassiliadis 263
Prof. Dr. Ulrich von Alemann
»Zwei Prozent für Waffengleichheit?«
Prof. Dr. Ulrich von Alemann und Prof. Dr. Joachim Klewes machten den Vorschlag,
dass Projektinitiatoren Projektgegnern zwei Prozent der gesamten Projektmittel zur
Verfügung stellen könnten, um „Waffengleichheit“ herzustellen.
Warum lehnen Teile der Bevölkerung viele Großprojekte ab?
Viele, die gegen Großprojekte protestieren, haben Ängste und fühlen
sich bedroht, weil sie die Auswirkungen eines Großprojektes auf ihre
eigene Lebensqualität nicht abschätzen können. Das gilt für Infrastrukturprojekte wie Flughäfen, Autobahnen, S-Bahnen, aber genauso für
Energieprojekte. Die eigene Betroffenheit und eine Angst vor Nachteilen im eigenen Umfeld, die mit Veränderungen einhergehen, sind
wichtige Gründe für die Proteste.
Zur Person
Prof. Dr. Ulrich von Alemann ist
emeritierter Professor für Politikwissenschaften an der Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf sowie Vorsitzender des Kuratoriums der Change
Centre Foundation, einer gemeinnützigen und unabhängigen Wissenschaftsstiftung mit Sitz in Meerbusch. Von Alemann ist Experte der
europäischen und deutschen Parteien- und Demokratieforschung.
Zudem forscht er über die politische
Beteiligung der Bürger auf allen
politischen Ebenen.
264 INTERVIEWS
Gab es das schon immer oder ist
das ein neues Phänomen?
Angst vor Innovation, Technisierung
und Veränderung gab es schon
immer. Das ist ein altes Phänomen,
das wir schon aus der ersten Industrialisierung kennen. In den letzten
20 Jahren hat sich zusätzlich eine
neue Skepsis gegenüber Großprojekten entwickelt. Das hängt damit
zusammen, dass Klimaveränderungen stärker wissenschaftlich thematisiert wurden und die Bevölkerung
heute eine deutlich höhere Sensibilität für Gesundheitsfragen hat. Die
Debatte über Gesundheitsschädigungen im Zusammenhang mit der
Umwelt ist angestiegen. Es kommt
also eine ältere Ängstlichkeit und
Skepsis mit einer neueren Sensibilität gegenüber Umweltveränderungen zusammen.
Gibt es generell eine Ablehnung
von Großprojekten oder
bestimmten Technologien?
Es ist ein Mythos, dass sich hier
und heute keine Großprojekte mehr
durchführen ließen. Es herrscht
keine allgemeine Technikfeindlichkeit. Die Technikskepsis hat sich
aber gegenüber den Siebzigerjahren verändert. Sie ist auch ganz
unterschiedlich ausgeprägt. Es gibt
heute erhebliche Vorbehalte
gegenüber Technologien, bei
denen die Bevölkerung konkrete
Gesundheitsbeschwerden befürchtet, wie bei der Gentechnologie.
Andere Technologien, wie im Telekommunikationsbereich, werden
völlig unkritisch bewertet und
genießen eine hohe Akzeptanz,
obwohl immer wieder auf mögliche
Strahlungsschäden hingewiesen
wird. Die Erfahrungen mit Protesten etwa wie bei Stuttgart 21 können nicht grundsätzlich auf alle
Großprojekte in Deutschland übertragen werden.
Welche Rollen spielen die Parteien bei der Realisierung von
Großprojekten?
Bei den Großprojekten habe ich den
Eindruck, dass die Bedeutung der
Parteien und der parteipolitischen
Polarisierungslinien gesunken ist. Es
ist nicht mehr so, dass man generell
sagen kann, diese Partei ist für und
diese Partei ist gegen das Projekt.
Die Bevölkerung bewegt sich auch
nicht mehr in denselben Frontlinien
wie die Parteien, sondern viele
Streitpunkte werden in der Zivilgesellschaft weitgehend losgelöst von
den Parteien diskutiert.
Ändert sich die Position der Parteien, je nachdem, ob sie in der
Regierungsverantwortung sind?
Ja, das erleben wir gerade bei den
Grünen. Es gibt mittlerweile einen
internen Dissens-Faktor, weil einige
führende Grüne, wie beispielsweise
Jürgen Trittin, sagen, dass der Preis
für den Ausstieg aus der Atomenergie der massive Ausbau von Überlandstromleitungen und Speicherwerken ist und dass diese Projekte
im Notfall auch an der Parteibasis
vorbei durchgesetzt werden müssen, weil sie eben notwendig sind.
In Baden-Württemberg ist es noch
offensichtlicher. Dort müssen die
Grünen als Regierungspartei den
Bahnhof jetzt doch bauen, obwohl
die Basis skeptisch ist. Die Grünen
werden als Regierungspartei in diesen Dissens einfach hineingezogen
und können ihn kaum vermeiden.
Nach Stuttgart 21 haben alle Parteien mehr Bürgerbeteiligung
gefordert. War das nur der übliche Reflex der Politik?
Nein, das hat auch mit der Lage der
Parteien zu tun. Die Parteien verlieren seit Jahren Mitglieder. Das gilt
insbesondere für die großen Parteien. Und sie wissen um ihre Probleme mit der Akzeptanz bei der
Bevölkerung. Schon aus diesem
Grund dürfen sie den Bereich der
Bürgerbeteiligung und der Partizipation auf gar keinen Fall den Bürgerbewegungen allein überlassen.
Ist der deutsche Protest ein Stück
weit schizophren? Auf der einen
Seite will der Verbraucher die
Energiewende, auf der anderen
Seite demonstriert er gegen
Windräder vor der Haustür.
Nach meiner Beobachtung halten
sich die Proteste gegen erneuerbare
Energien in Grenzen. Wir haben in
Deutschland eine extrem hohe
Dichte an Windrädern, die nicht
durch Proteste unmöglich gemacht
wurde. Ich sehe die Proteste auch
nicht als ansteigend, sondern sie
werden eher zurückgehen, weil die
Leute genau diesen Widerspruch
bemerken. Es gibt eine breite Unterstützung für den Atomausstieg und
die Bürger spüren, dass sie auch die
Konsequenzen tragen müssen.
Kann man daraus schließen, dass
die Gemeinwohlorientierung der
Bürger zunimmt?
Ja, nach meiner Beurteilung ist die
Gemeinwohlorientierung insgesamt
nicht gesunken: Im Gegenteil, sie
ist eher gestiegen. Die Sensibilität
für friedliche Lösungen ist genauso
gewachsen wie die für Umweltschutz. Im Vergleich zu früher
sehen Sie heute weniger wilde Müllkippen am Waldrand, um ein Beispiel zu nennen. Ich rechne damit,
dass die Debatten über Moral,
gerade die von Politikern, intensiver werden. Auch die Moralschwelle
wird durch die Medien und die
öffentliche Debatte eine andere
Höhe erreichen. Generell sind die
Politiker oder die Moral aber nicht
schlechter geworden. Richtig ist,
Prof. Dr. Ulrich von Alemann 265
dass die Moralmaßstäbe steigen.
Dasselbe gilt für die Gemeinwohlorientierung – subjektiv besteht das
Gefühl, dass sie abnimmt, objektiv
nimmt sie eher zu.
Bürgerbeteiligung soll den Nutzen für die Allgemeinheit stärker
bewusst machen und so mehr
Akzeptanz schaffen. Wie kann
man die breite Bevölkerung stärker integrieren?
Es gibt zum einen die Möglichkeit
von Bürgerentscheiden auf Landesund auf kommunaler Ebene. Zum
anderen gibt es verschiedene Möglichkeiten der Verwaltungsbeteiligung über Planfeststellungsverfahren. Das ist aber eine Sache für
Spezialisten, weil es sich auf Bürgerseite nur wenige leisten können,
sich durch die Pläne zu kämpfen.
Man versteht ja größtenteils gar
nicht, was da steht, wenn man
nicht gerade Bauexperte ist. Und
daneben gibt es die konsultativen
Konsensformen durch runde Tische,
Mediationen oder Ähnliches.
In der Demokratie entscheidet nicht
immer die ganze Bevölkerung. Wir
wollen Beteiligung, auch Wahlbeteiligung, nicht erzwingen. Wir können
Demokratie auch nicht einfach nur
als Mehrheitsherrschaft definieren.
Wir haben eine ganze Menge von
Elementen, die der Mehrheitsherrschaft völlig entzogen sind, wie die
Urteile des Bundesverfassungsgerichts. Demokratie, wie wir sie in
Deutschland haben, ist – wie es Aristoteles ausdrücken würde – eine
gemischte Verfassung. Die Aktivbürgerschaft ist immer eine Minderheit.
Wenn ein informelles Beteiligungsformat, wie ein Mediationsverfahren, relativ offen und transparent
durchgeführt wird, es nicht von
vornherein bestimmte Gruppen ausschließt und die betroffene Bevölkerung in einem vernünftigen Rahmen
einbezogen wird, dann sehe ich aus
demokratietheoretischer Sicht keine
großen Probleme. Schwierig ist,
wenn wie in Frankfurt ein Mediationsergebnis erreicht wurde, das
anschließend von Politik und Betrei-
»Die Aktivbürgerschaft ist
immer eine Minderheit.«
Bei diesen konsultativen Beteiligungsformen wird nur eine
bestimmte Gruppe von Menschen beteiligt – obwohl das
Projekt eventuell einen gesamtgesellschaftlichen Nutzen hat.
Ist es demokratisch, wenn nur
eine kleine Gruppe von Menschen, die ja nicht demokratisch legitimiert ist, in einen
solchen Entscheidungsprozess
involviert ist?
266 INTERVIEWS
bern wieder über den Haufen
geworfen wird. Da fühlt sich die
Bevölkerung verschaukelt.
Sollten Konsensformen wie
Mediationen gesetzlich verankert werden?
Nein. Eine Mediation hilft nicht bei
jedem Projekt. Es sollte kein rechtlich verbindliches Verfahren sein,
das gleichberechtigt neben den Verwaltungsverfahren oder politischen
Entscheidungsverfahren steht.
Würde man die Mediation rechtlich
verbindlich machen, würde dies sie
unterlaufen. Dann wäre der Charme
der Freiwilligkeit beeinträchtigt.
Die Schweiz fährt mit direktdemokratischen Instrumenten im Hinblick auf die Akzeptanz von Großprojekten ganz gut. Was ist in
Deutschland sinnvoller: direktdemokratische Abstimmungen
oder informelle Beteiligungsmöglichkeiten?
Ich sehe da keinen Gegensatz. Wir
könnten von beidem etwas mehr
gebrauchen, ohne dass wir dabei in
irgendeiner Weise die grundsätzliche Kompetenz der Parlamente
untergraben. Die Grundlage ist die
repräsentative Demokratie. Unsere
Demokratie sollte aber durch informelle und formelle Formen der
Beteiligung ergänzt werden. Das
kann immer nur eine Ergänzung
sein. Es wäre nie eine Alternative,
dass wir in Deutschland eine direkte
Demokratie einführen sollten. Das
Schweizer Modell ist für mich kein
durchweg positives Beispiel, weil es
auch deutliche Nachteile hat, was
man beim Referendum zum Minarett-Verbot sieht.
Beim Gotthardtunnel hat es
funktioniert. Wäre es nicht sinnvoll, die Bürger grundsätzlich
darüber abstimmen zu lassen, ob
sie ein Projekt wollen oder nicht?
Beim Gotthardtunnel war die Entscheidung für die Bevölkerung einfacher zu treffen, sodass sie sich klarer –
Ja oder Nein – äußern konnte. Bei
einem großen Kraftwerk ist diese
Entscheidung sehr viel schwieriger
abzuwägen. Das gilt auch für die vielen dringend notwendigen Über-
landleitungen und Windräder. Da
wird es schwieriger, Antworten zu
formulieren. Insofern ist es problematisch, wenn solche Projekte einfach einem Volksentscheid mit der
Fragestellung Ja oder Nein unterworfen werden.
Durch die Proteste wird sich
Stuttgart 21 verzögern. Kann
Bürgerbeteiligung Planungszeiten verkürzen?
Ja, ich bleibe dabei: Mehr Bürgerbeteiligung, mehr Transparenz, mehr
Offenheit für gute Argumente und
mehr Selbstverpflichtung sowie frühzeitige und umfassende Informierung
der Öffentlichkeit sind einer erfolgreichen Projektdurchführung dienlich.
Die Auseinandersetzungen zwischen Projektinitiatoren und
-gegnern werden oftmals als
Kampf von David gegen Goliath
dargestellt. Gibt es Waffengleichheit zwischen den Projektgegnern und den Projektinitiatoren?
Es gibt ein Ungleichgewicht der
Waffen. Die Projektbetreiber haben
viel mehr Ressourcen, um professionelle Kommunikationskampagnen
einzusetzen. Die Projektgegner
dagegen, wie Bürgerinitiativen,
haben in der Regel weniger Mittel.
Nur, diese wenigen Mittel sind häufiger mit einer höheren Glaubwürdigkeit und größerem Engagement –
eben mit Herzblut, das auch mal in
Wallung kommen kann – verbunden.
Im Gegensatz zu den Betreibern
unterstellt man den Projektgegnern,
dass sie nicht nur ihr Eigeninteresse
vertreten. Das ist allerdings falsch,
denn Anwohner, die sich gegen
Lärm oder Emissionen wehren, verfolgen natürlich auch ein Eigeninteresse – sie wollen Belastungen in
ihrem direkten Umfeld vermeiden.
Alle Beteiligten haben ihre eigenen
Interessen, wobei ich weder die Interessen der Betreiber noch die der
Betroffenen positiv oder negativ
werten würde. Politik ist Interesse,
das ist nun mal so. Interesse ist kein
negatives Wort, es beschreibt einfach die bestehende Situation. Die
Betroffenen und Gegner von Großprojekten arbeiten sich häufig sehr
zent gut angelegtes Geld. Die Idee
funktioniert nur, wenn die Betreiber
ernsthaft bereit sind, Kritik aufzunehmen, offen für neue Lösungen
und so in einem gewissen Rahmen
auch Veränderungen denkbar sind.
Diese ernsthafte Absicht muss
erkennbar sein. Wenn die BetreiberSeite hofft, dass mehr Geld automatisch zu mehr Akzeptanz führt, werden sich die Gegner eines Projektes
»Es gibt ein Ungleichgewicht der Waffen.«
clever in die Materie ein und versuchen, sich einen Vorsprung zu
erwerben. Obwohl sie eigentlich gar
keinen Vorsprung haben, weil die
Ressourcen von Großunternehmen
dem überlegen sind. Manche NGOs
treten dem mit einer intellektuellen
Cleverness entgegen, die bei ihnen
vielleicht auch ein bisschen stärker
ausgeprägt ist.
kaum darauf einlassen. Das würde
eher zu einer Verhärtung der Fronten führen. Natürlich besteht die
Gefahr, dass dem Betreiber unterstellt wird, er wolle seine Gegner
einkaufen. Deswegen muss man
dies mit einem sehr offenen Moderationsprozess verbinden, in dem
möglichst eine neutrale dritte Seite
involviert ist.
Um dieses Ungleichgewicht auszugleichen, haben Sie vorgeschlagen, zwei Prozent der Projektmittel den Projektgegnern
zur Verfügung zu stellen. Wie
soll das praktisch aussehen?
Das heißt, Sie sehen den Nutzen
einer solchen Investition vor
allem aufseiten der Projektbetreiber, der Initiatoren?
Dieser Vorschlag war eher eine
Vision und keine fertige und durchgerechnete Strategie. Wenn zwei
Prozent der Projektsumme zur Verfügung gestellt würden, dann würde
das Großprojekt zwei Prozent teurer. Wenn man aber bedenkt, dass
sich ein Projekt wegen Protesten
etwa um ein Jahr verzögert, kostet
das den Investor vielleicht rund 20
Prozent mehr. Aus diesem Blickwinkel wären diese fiktiven zwei Pro-
Ja, das war genau die Idee dahinter.
Es war ein Szenario, um deutlich zu
machen, dass es klüger ist, in die
Vorbereitung eines Projektes zu
investieren statt das Risiko von
höheren Kosten einzugehen wegen
heftiger Proteste, die die Umsetzung
gefährden. Allen Interessen kann
man nicht gerecht werden, aber
möglichst vielen. Das ermöglicht
einen Konsens und führt zu Planungssicherheit für die Unternehmen, aber auch zur Interessenwahrnehmung der Betroffenen.
Prof. Dr. Ulrich von Alemann 267
Akzeptanz von
Großprojekten:
Ein Quellenverzeichnis
zum Nachschlagen und
Vertiefen
Für alle Leser, die sich nach Lektüre
dieses Bandes noch intensiver mit
dem Themenkomplex Bürgerbeteiligung bei Großprojekten beschäftigen möchten und an weiteren Informationen interessiert sind, haben
wir ein Nachschlagewerk – das Kompendium „Akzeptanz von Großprojekten“ – zusammengestellt.
Sie finden das Kompendium unter:
www.rwe.com/akzeptanzstudie/
kompendium
Das Kompendium hat den Anspruch,
eine Übersicht über aktuelle Forschung, Monografien, Umfragen
und Pressestimmen rund um die
Themen Akzeptanz von industriellen
Großprojekten sowie Chancen und
Grenzen von Bürgerbeteiligung bei
der Realisierung von Großprojekten
in Deutschland zu geben. Zudem sollen in diesem Kontext die besonderen Herausforderungen, die mit der
Energiewende und der damit notwendigen Realisierung zahlreicher
Infrastrukturprojekte einhergehen,
erläutert werden. Das Kompendium
wird fortlaufend aktualisiert. Die
Struktur des Kompendiums orientiert sich an den folgenden Fragestellungen:
Welche gesetzlichen Regelungen
existieren für die Öffentlichkeitsbeteiligung bei der Durchführung
von industriellen Großprojekten?
Welche konkreten Beteiligungsmodelle gibt es, um alle betroffenen Akteure bei der Realisierung
von Großprojekten einbeziehen zu
können?
Welche Studien und Monografien
beschäftigen sich mit den Themen
Akzeptanz von industriellen Projekten, Chancen und Grenzen von Bürgerbeteiligung in Deutschland
sowie Herausforderungen der Energiewende?
Das Kompendium ist nicht nur ein
reines Quellenverzeichnis mit allen
notwendigen Hinweisen zur Literatur, denn darüber hinaus haben wir
zu jedem Titel eine kurze Zusammenfassung verfasst, damit der
Leser auf den ersten Blick erkennen
kann, womit sich der jeweilige Titel
beschäftigt. Ausdrücklich wollen wir
darauf verweisen, dass diese Zusammenfassung nicht vom Autor/Herausgeber/Rechteinhaber des jeweiligen Titels stammt, sondern von
uns verfasst worden ist. Sofern vorhanden, werden auch Links benannt,
die direkt zu den jeweiligen Titeln
oder zu Websites führen, die nähere
Informationen über die jeweiligen
Titel geben.
Da wir die bereitgestellten Quellen
nicht selbst erstellt haben, weisen
wir ausdrücklich darauf hin, dass
wir uns diese Inhalte nicht zu eigen
machen und nicht für sie verantwortlich sind. Eine Vollständigkeit
können wir nicht garantieren. Auch
können wir die Aktualität der angegebenen Links nicht gewährleisten.
Wie reflektieren die Medien grundsätzlich zu diesem Themenkomplex?
(Aufgrund der Masse an Presseartikeln wurde an dieser Stelle nur eine
Auswahl getroffen.)
270 KOMPENDIUM
Quellenverzeichnis 271
Literaturverzeichnis
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und Protest, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (Hg.): Protest und Beteiligung
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qualitative Wertstudie. http://www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xbcr/
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Literaturverzeichnis 273
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Diese Studie ist am 7. November 2012 veröffentlicht
worden. Informationen hierüber erhalten Sie zudem
im Internet unter www.rwe.com.