Indiens langer Weg zur Selbstbestimmung

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Indiens langer Weg zur Selbstbestimmung
tv diskurs 39
I N T E R N AT I O N A L
Indiens langer Weg zur
Selbstbestimmung
Dorothea Riecker
Trotz Globalisierung und Liberalisierung untersteht Indien
einer strengen Filmzensur. Die Regierung gibt dem Druck
selbsternannter Moralwächter nach, um Unruhen zu
vermeiden; sie gefährdet dadurch die in der Konstitution
verankerte Medien- bzw. Pressefreiheit.
Zwei Szenen aus Kabhi Kushi Kabhi Gum
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Bollywood boomt. Der Name – eine Kombina-
richtungen beinhalten: Liebe, Heldentum, Ko-
kommens aus. Im exotischen Unterhaltungs-
tion aus „Bombay“ und „Hollywood“ – steht
mik, Ekel, Wunderliches, Schrecken, Wut, Pa-
rausch scheint es die westlichen Fans nicht zu
als Synonym für indisches Kino. Die größte
thos, Furchterregendes. Aber ein Bollywood-
stören, dass die cineastischen Schmachtfetzen
Filmindustrie der Welt produziert 1.000 Filme
film wäre kein Bollywoodfilm, hätte er nicht
harmlose Familienunterhaltung bieten, die auf
im Jahr, das sind doppelt so viele wie ihr ameri-
mindestens fünf Tanzeinlagen. Diese sind ein
ein extrem prüdes Kinopublikum zugeschnit-
kanisches Vorbild. Nach einer tiefen Krise 2002
absolutes Muss und geben den Filmen den be-
ten ist.
klingeln heute die Kassen der indischen Zellu-
liebten Musicalcharakter. Bei einer Länge von
Damit passt sich Bollywood der heimischen
loidfabrik wie nie zuvor. Die besten 25 Super-
zweieinhalb bis drei Stunden ist Sitzfleisch an-
Klientel an – und das sind, trotz globaler Orien-
hits erzielten 2006 über 6.200 Millionen Rupien
gesagt.
tierung Indiens, vorwiegend noch immer tradi-
an den Kinokassen (Umrechnung: Circa 58 Ru-
Um seine Lieblingsstars möglichst lange in
tionelle Hindus, Sikhs, Muslime oder Christen.
pien sind ein Euro). Absoluter Spitzenreiter ist
der Welt des schönen Scheins zu begleiten,
Diese wollen auf keinen Fall provokante Sze-
Lage Raho Munnabhai von Rajkumar Hirani mit
nimmt man dies gerne in Kauf. Bollywood lebt
nen sehen. Zu den Tabuthemen gehört daher
über 690 Millionen Rupien an Einnahmen.
vom Starkult: Ashwariya Rai, Taboo, Rani
oft schon ein Kuss zwischen unverheirateten
Paaren.
Als Glanzzeit der über hundertjährigen in-
Mukherjee oder ihre männlichen Kollegen
dischen Traumfabrik gelten die 60er und 70er
Abhishek Bachchan, Sharukh Khan und Amir
Aber das heißt noch lange nicht, dass der
Jahre. Waren damals vor allem Aktionselemen-
Khan – um nur einige zu nennen – sind die gro-
Bollywoodfilm ohne Erotik auskommt. Vom
te in Mode, dominieren seit den 90er Jahren
ßen Namen des indischen Kinos. Der unüber-
Produzenten und den Konsumenten wird nur
seichte Liebesthemen, aber auch Rache- und
troffene Superstar – und bereits zu Lebzeiten
etwas mehr Phantasie verlangt. Eine klassische
Vergebungsdramen. Moderne Produktionen
eine Legende – ist der 64-jährige Amitabh
Szene verläuft dann folgendermaßen: Die
zeigen flirtende und flitternde Liebespaare vor
Bachchan, kurz „Big B“ genannt.
Paare kommen sich gefährlich nahe – doch
exotischem Hintergrund wie den Schweizer
Der Absatzmarkt außerhalb Indiens blieb
dann, kurz vor dem Vollzug, die Gesangsein-
Alpen, Paris oder New York City. Dennoch hat
über Jahrzehnte vorwiegend auf Asien und die
lage. Statt nackte Haut zu zeigen, wird der Tanz
sich am Erfolgsrezept eines Bollywoodfilms seit
arabischen Länder beschränkt. Seit kurzem je-
zum erotischen Höhepunkt. Ein eher bizarres
Jahrzehnten wenig geändert. Um das indische
doch entdecken auch Europa und die USA den
Beispiel zeigt der Film Kabhi Kushi Kabhi Gum
Publikum mitzureißen, muss ein Film auch heu-
indischen Zelluloidkitsch. Die internationale
(2001): Die Entjungferung der Braut wird durch
te noch die folgenden Rasas oder Geschmacks-
Vermarktung macht 15 – 20 % des Gesamtein-
das Überstreifen von Armreifen angedeutet.
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Obwohl sich die indische Regierung bis
spieler, Künstler, Rechtsanwälte oder Politiker.
gen und für Jugendliche jeden Alters frei-
heute in der traditionellen Schützerrolle als
Sie werden von der Regierung in Neu Delhi für
gegeben (vergleichbar mit G und GP der
„Mutter Indiens“ sieht, die ihre Bevölkerung
drei Jahre bestimmt. Ihre enge Verbindung zu
vor fremden Einflüssen zu bewahren hat, wei-
der Regierungspartei versteht sich von selbst.
chen die Tabus besonders durch den Einfluss
Die derzeitige Vorsitzende der Zensurbehörde
tal guidance: freigegeben für Kinder ab 12
des Internets langsam, aber stetig auf. War
ist die Schauspielerin Sharmilla Tagore.
bis 18 Jahren, aber nur in Begleitung Er-
MPAA).
— „UA“ steht für Universal with adult/paren-
noch 1998 eine Kussszene schier undenkbar,
Am CBFC führt kein Weg vorbei. Ob natio-
wachsener. Unter diese Rubrik fallen Filme
gibt es heute Ausnahmen. Intensive erotische
nale oder internationale Produktionen: Wer
mit zweideutigen Aussagen, jedoch nichts,
Kusseinlagen erhalten zunehmend ein „A“-Ra-
sein Werk in Indiens Kinos zeigen will, muss es
was sich negativ auf Jugendliche auswirken
ting anstelle eines Aufführverbots. Zu den ab-
beim CBFC einreichen.
könnte (vergleichbar mit 12 A der British
soluten Tabus aber zählen Nacktszenen. Der
Der Supreme Court Indiens begründet die
Academy of Film and Television Arts – kurz
Film Kamasutra von Mira Nair hat bis heute kei-
Notwendigkeit der Zensur damit, dass die
BAFTA – und dem PG-13 der MPAA).
ne Chance, unzensiert in indische Kinos zu ge-
Kombination aus Visuellem, Klang und Aktion
— „A“ steht für adult: freigegeben nur für Er-
langen.
in abgedunkelten Räumen bei den Zuschau-
wachsene ab 18 Jahren. Die Filme zeigen
ern starke Emotionen hervorrufen kann, die im
intensive Kussszenen und semierotische bis
Zensur im Kino
Zweifelsfall auch zu Gewalt führen.
erotische Inhalte, aber auch extreme Ge-
Der Hüter der Moral Bollywoods ist die Zen-
Association of America (MPAA) in den USA ähn-
surbehörde, CBFC. Die Abkürzung steht für
lich – stehen drei Bewertungskategorien zur
Wann welche Kategorie vergeben wird, liegt
Central Board of Film Certification.
Auswahl:
weitgehend im Ermessen der einzelnen Jury-
Dem Zensurgremium – der Motion Picture
walt (vergleichbar mit R der MPAA).
mitglieder. Vor allem aber geht es bei der Be-
Mit Hauptsitz in der Bollywoodmetropole
Mumbai (Bombay) finden sich regionale Büros
— „U“ steht für Universal. Ausgezeichnet wer-
wertung darum, religiöse, nationale und mo-
in den Städten Hyderabad, Bangalore, Chen-
den alle Familiendramen, Komödien ohne
ralische Gefühle zu berücksichtigen. Als Vorla-
nai, Kalkutta, Trivandrum, Guwahati, New De-
Doppelbedeutung und seichte Liebesfil-
ge dient der Cinematographic Act von 1952.
lhi und Cuttack. Die Zensurbeamten sind meis-
me. Filme mit dieser Bewertung sind für
Auf Seite 5 steht, dass ein Film dann von der
tens Personen des öffentlichen Lebens: Schau-
uneingeschränkte öffentliche Vorführun-
Zensur nicht freigegeben werden sollte, wenn
Szene aus dem Film Kamasutra
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er auch nur teilweise nicht im Interesse der
soziale Unruhen zu vermeiden, wird die Regie-
In den nächsten Jahren sollen allein die Ein-
Staatshoheit und Integrität Indiens steht, wenn
rung in ihren Zensurmaßnahmen zunehmend
künfte aller TV-Kanäle von heute 3,6 Milliarden
er die Staatssicherheit, die freundlichen Bezie-
zum Spielball religiöser, nationaler und sozia-
auf 7,6 Milliarden ansteigen. Laut Statistik
hungen zu Nachbarstaaten, die öffentliche
ler Minderheiten. Proteste von Splittergruppen
hatten im letzten Jahr bereits 53 % aller Haus-
Ordnung, Anständigkeit, Moral gefährdet oder
oder auch einzelner Individuen genügen schon
halte in Indien einen Fernsehanschluss, 70 Mil-
Verleumdung und Missachtung des Gerichts
und ein Film fliegt aus den Kinos. Jüngstes Bei-
lionen davon mit Kabelanschluss. Gab es in den
beinhaltet.
spiel ist der Da Vinci Code. Er wurde von sie-
80er Jahren nur den Regierungssender Door-
Nach Beanstandung eines Films fordert das
ben Staaten boykottiert, nachdem christliche
darshan, kamen in den 90er Jahren Star TV und
CFBC den Produzenten zum Schnitt des zen-
Fanatiker zum Vandalismus gegen Kinos auf-
CNN hinzu. Heute gibt es in Indien bereits über
sierten Materials auf. Das betrifft nationale wie
gerufen hatten. Sollte der Trend zur Zensur
200 TV-Kanäle.
internationale Filme. Fast kein internationaler
durch gesellschaftlichen Druck nicht umgehend
Film läuft ohne „cuts“ über die indischen Kino-
gestoppt werden, sehen viele Produzenten,
leinwände.
Künstler und Kritiker sogar die Pressefreiheit
Im Jahr 2003 zensierte das CBFC 479 indi-
Indiens gefährdet.
Es wird Zeit, dass Indiens Regierung und der
Supreme Court den Zuschauern mehr Selbst-
sche Spielfilme mit der Kategorie „U“, 198 mit
„UA“ und 200 mit „A“. Von 282 internationa-
Fazit
Zensur im Fernsehen
bestimmungsrechte einräumen. Das hat die
CBFC-Vorsitzende Sharmilla Tagore erkannt
len Spielfilmen erhielten 34 die „U“-Qualifikation, 67 „UA“ und 181 „A“. 2006 wurden von
Was für das Kino gilt, gilt seit August 2006 ver-
und deshalb eine baldige Diskussionsrunde um
307 Filmen 55 mit „U“, 74 mit „UA“ und 178
schärft auch für das indische Fernsehen. Erst
eine zeitliche TV-Senderegelung ab 11.00 Uhr
mit „A“ gekennzeichnet.
vor kurzem hat der Supreme Court die völlige
von Filmen für Erwachsene angekündigt. Am
Da die meisten heimischen Produzenten
Bevormundung der indischen Fernsehzuschau-
6. Dezember 2006 hat die indische Regierung
kommerziell denken und die Aufführung ihres
er beschlossen und die Ausstrahlung aller „A“-
beschlossen, den „broadcasting act“ des Satel-
Films nicht gefährden möchten, unterwerfen
Filme im Fernsehen verboten. Nur noch Spiel-
liten- und Kabelfernsehens in den nächsten
sie sich weitgehend schon im Vorfeld einer
filme, Musikvideos oder Werbebotschaften mit
sechs Monaten neu zu regeln.
Selbstzensur.
„U“- und „UA“-Zertifikat werden beim Fernse-
Mit dem Rating ist der Wirkungskreis der
hen, Satelliten- oder Kabelfernsehen von nun
indischen Zensurbehörde CBFC abgeschlos-
an über die Bildschirme flimmern. Unter den
sen.
ersten prominenten Opfern war das Musikvi-
Das CBFC hat kein ausführendes Organ,
deo Stars are blind von Paris Hilton.
um die Zensur vor Ort umzusetzen oder zu kon-
Das traf die internationalen TV-Kanäle wie
trollieren. Das ist Angelegenheit der örtlichen
ein Schock: HBO, AXN, Star TV und Gold tra-
Polizeibehörde. Im Zweifelsfall hat sie das
ten den Rückzug an. Was war passiert? Die ein-
Recht, jede Kinovorstellung zu unterbrechen
zige Beschwerde einer prüden College-Pro-
und die Filme zu konfiszieren. Private Detektiv-
fessorin über unmoralische Inhalte von Musik-
büros – vom CBFC angeheuert – unterstützen
videos, die sie beim High Court in Bombay ein-
die Investigationen.
reichte, hatte die Lawine ausgelöst. Als Folge
Das CBFC hat sich in der Vergangenheit
wird in ganz Indien nun die alte Television
vor allem mit der Zensur von Sexszenen be-
Cable Network Regulation von 1994, die durch
schäftigt und weniger mit der von politischen
den neuen Fernsehboom ins Vergessen gera-
Themen. Erst unter der konservativen Regie-
ten war, wiederbelebt. Das bedeutet: Alles,
rung der Bharatiya Janata Party (BJP) kam es
was über den Bildschirm läuft – egal ob Spielfil-
von 2002 bis 2004 zum Bann von Filmen mit
me, Werbung, Musikvideos oder Cartoons –,
regierungskritischem Inhalt.
muss nun von der Zensurbehörde bewertet
Anand Patwardhanas Film War and Peace,
werden. Der Protest der Satelliten- und Kabel-
der den Nukleartest 1998 zum Inhalt hatte, wur-
kanäle dauerte allerdings nicht lange. Ange-
de gebannt. Nicht anders erging es dem inter-
sichts des boomenden indischen Medien-
national preisgekrönten Film Final Solution des
markts unterziehen sie ihre Sendungen brav
indischen Regisseurs Rakesh Sharma, da man
der Zensur. Denn Prognosen besagen, dass im
ein Wiederaufflammen der blutigen Unruhen
Jahr 2010 der indische TV-Markt zum dritt-
in Gujarat zwischen Hindus und Muslims be-
größten der Welt herangewachsen sein wird –
fürchtete.
und da will jeder dabei sein. 2005 betrugen die
Unter dem Einfluss der gegenwärtigen
Einnahmen aus TV, Radio, Druck und Kino ins-
Kongresspartei mögen sich die Zensurkriterien
gesamt 400 Milliarden Rupien. Experten rech-
entschärft haben. Aber unter dem Vorwand,
nen mit einer jährlichen Zuwachsrate von 18 %.
1 | 2007 | 11. Jg.
Dorothea Riecker lebt
seit drei Jahren als freie
Journalistin in Indien. Zu ihrem Schwerpunkt Politik und
Kultur Indiens und Pakistans
verfasst sie Artikel für
Nachrichtenmagazine
und seit 2006 auch
Dokumentarberichte für
das Fernsehen.
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