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Kapitel Eins:
Die McDonaldisierung
der Gesellschaft
Einführung
Ray Kroc (1902-1984), das Genie des Franchising-Konzepts von Mc-Donald’s, war ein Mann mit großen
Ideen und gewaltigem Ehrgeiz gewesen. Aber nicht einmal er
hatte vorhersehen können, welch verblüffenden Einfluss sein
Werk haben würde. McDonald’s ist tatsächlich eine der einflussreichsten Entwicklungen in der Gesellschaft unserer Zeit. Seine
Auswirkungen sind weit über den Ort seiner Entstehung in den
Vereinigten Staaten und die Grenzen der Fast-Food-Branche
hinaus zu spüren. Es hat ein breites Spektrum von Unternehmen und sogar die gesamte Lebensweise in einem beträchtlichen Teil der Welt beeinflusst. Und obwohl McDonald’s in
jüngster Zeit mit allseits bekannten wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hat, wird dieser Einfluss sich voraussichtlich
mit zunehmender Geschwindigkeit weiter verbreiten.1
Dennoch ist dies kein Buch über McDonald’s oder die
Fastfoodbranche2, auch wenn beides auf den folgenden Seiten
immer wieder erörtert wird. Vielmehr widme ich McDonald’s
(und der ganzen Branche, deren Teil das Unternehmen ist und
zu deren Entstehung es erheblich beigetragen hat) so viel Aufmerksamkeit, weil es das wichtigste Beispiel, sozusagen der
»Modellfall« für einen weitreichenden Vorgang ist, den ich als
McDonaldisierung bezeichne3; damit meine ich den Vorgang,
durch den die Prinzipien der Fastfoodrestaurants immer mehr
Gesellschaftsbereiche in Amerika und auf der ganzen Welt beherrschen.4
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Kapitel Eins: Die McDonaldisierung der Gesellschaft
Wie wir auf den folgenden Seiten genauer erfahren werden,
wirkt sich die McDonaldisierung nicht nur auf die Gastronomie
aus, sondern auch auf Ausbildung, Arbeitswelt, Strafjustiz, Gesundheitsversorgung, Reisen, Freizeitgestaltung, Ernährung,
Politik, Familie, Religion und praktisch sämtliche anderen gesellschaftlichen Bereiche.5 Allen Anzeichen nach ist die McDonaldisierung ein unausweichlicher Prozess, der überall in der
Welt auch scheinbar unangreifbare Institutionen und Regionen erfasst.
Dass McDonald’s trotz der Schwierigkeiten in jüngerer Zeit
(Näheres am Ende dieses Kapitels) ein Erfolg ist, liegt auf der
Hand: Der Gesamtumsatz lag 2002 bei über 41 Milliarden Dollar, der operative Gewinn betrug 2,1 Milliarden.6 Zu dem Unternehmen, das 1955 seine Tätigkeit aufnahm, gehörten Anfang 2003 weltweit 31.172 Restaurants.7 Der britische Kommentator Martin Plimmer stellte sarkastisch fest: »McDonald’s gibt
es überall. Es ist immer in Ihrer Nähe, und noch näher bei
Ihnen wird gerade eines gebaut. Wenn McDonald’s sich mit der
derzeitigen Geschwindigkeit weiter ausbreitet, ist demnächst irgendwann sogar eines in Ihrem Haus. Dann finden Sie vielleicht die Stiefel von Ronald McDonald unter Ihrem Bett. Und
vielleicht auch seine rote Perücke.«8
Den offenkundigsten Einfluss haben McDonald’s und die
McDonaldisierung in der Gastronomie und allgemein bei den
Franchiseunternehmen aller Branchen:
1. Nach Angaben der International Franchise Association gab
es im Jahr 2000 in den Vereinigten Staaten 320.000 kleine
Franchiseunternehmen, die zusammen einen Umsatz von
einer Billion Dollar erzielten. Obwohl solche Filialen nur
zehn Prozent aller Einzelhandelsgeschäfte ausmachen, erzielen sie 40 Prozent der Umsätze, und sie beschäftigen über
acht Millionen Menschen. Die Branche wächst rapide: In
den USA eröffnet alle acht Minuten eine neue Franchisefiliale.9 Über 57 Prozent der McDonald’s-Restaurants werden
nach dem Franchiseprinzip geführt.10
2. Das McDonald’s-Konzept wurde in der Gastronomie nicht
nur von Niedrigpreis-Hamburgerketten wie »Burger King«
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Einführung
und »Wendy’s« übernommen, sondern auch von vielen anderen Fastfoodunternehmen mit geringen Preisen. »Yum!
Brands Inc.« betreibt in 100 Ländern11 fast 33.000 Restaurants unter den Namen »Pizza Hut«, »Kentucky Fried Chicken«, »Taco Bell«, »A&W Root Beer« und »Long Silver’s
Franchises«; damit hat der Konzern mehr Filialen als McDonald’s, der Gesamtumsatz (2002: 24 Milliarden Dollar) ist
aber bei weitem nicht so hoch.12 Zu den am schnellsten
wachsenden Fastfoodketten gehört derzeit »Subway« mit
19.000 Filialen in 72 Ländern13, das von sich – vermutlich zu
Recht – behauptet, es sei die größte Restaurantkette der
Vereinigten Staaten.14
3. Einen ganz eigenen Erfolg erzielte Starbucks, ein noch relativ neues Unternehmen in der Fastfoodbranche. Noch 1987
war die Firma nur lokal in Seattle tätig, 2003 hatte sie aber
schon über 6.000 konzerneigene Filialen (Franchisenehmer
gibt es nicht), zehn Mal so viele wie 1994.15 Starbucks verzeichnet international ein rasantes Wachstum; Filialen findet man heute in Lateinamerika, Europa (insbesondere in
London ist das Unternehmen allgegenwärtig), dem Nahen
Osten und dem Pazifikraum.
4. Wie vielleicht nicht anders zu erwarten, diente McDonald’s
auch als Vorbild für zwangloses Essen in niveauvolleren Restaurants mit umfangreicherer Speisekarte wie »Outback
Steakhouse«, »Chili’s«, »Olive Garden« und »Red Lobster«.
In einer noch höheren Preiskategorie bewegt sich die Steakhousekette »Morton’s«, und auch dort hat man sich ausdrücklich McDonald’s zum Vorbild genommen: »Trotz des
aufmerksamen Service und der gewaltigen Weinkarte entspricht auch ein Essen bei Morton’s dem Diktat der Einheitlichkeit, Kostenkontrolle und festgelegten Portionsgrößen,
das den amerikanischen Fastfoodketten die Weltherrschaft
gesichert hat.«16 Der Vorstandsvorsitzende von Morton’s,
der früher selbst Eigentümer mehrerer Wendy’s-Restaurants war, räumt ein: »Meine Erfahrungen bei Wendy’s waren auch für den Betrieb von Morton’s sehr hilfreich.«17 Damit die Einheitlichkeit gewährleistet bleibt, arbeiten die An17
Kapitel Eins: Die McDonaldisierung der Gesellschaft
gestellten »nach dem Buch«: »Ein bebilderter Ordner beschreibt Zutat für Zutat die genaue Zusammensetzung der
500 Gerichte, Saucen und Garnituren in der Morton’s-Küche. Und in jeder Küche zeigt eine Bilderreihe, wie die einzelnen Gerichte anzurichten sind.«18,19
5. Auch Unternehmen in anderen Branchen passen die Prinzipien der Fastfoodindustrie zunehmend an ihre Bedürfnisse an. Der Vizechairman von Toys »R« Us meinte dazu: »Wir
möchten als eine Art McDonald’s für Spielzeug gelten.«20
Ähnliche Wünsche äußerte auch der Gründer des Kidsports
Fun and Fitness Club: »Ich möchte der McDonald’s im Funund Fitnessgeschäft mit Kindern sein.«21 Andere Ketten mit
ähnlichem Ehrgeiz sind »Gap«, »Jiffy Lube«, »AAMCO
Transmissions«, »Midas Muffler & Brake Shops«, »Great
Clips«, »H&R Block«, »Pearle Vision«, »Bally’s«, »Kampgrounds of America« (KOA), »KinderCare« (mit Spitznamen »Kentucky Fried Children« genannt22), »Jenny Craig«,
»Home Depot«, »Barnes & Noble« und »PETsMART«.
6. McDonald’s war auch in der internationalen Arena ein voller Erfolg. Über die Hälfte aller Restaurants der Kette befinden sich außerhalb der Vereinigten Staaten (in den 1980er
Jahren lag dieser Anteil erst bei 25 Prozent). Die 2002 neu
eröffneten Filialen befanden sich in ihrer Mehrzahl (982
von insgesamt 1.366) in anderen Staaten (in den USA nahm
die Zahl der McDonald’s-Restaurants nur um knapp 400
zu).23 Auch der Gewinn von McDonald’s stammt zu mehr
als der Hälfte aus dem Ausland. McDonald’s-Restaurants
findet man heute in 118 Staaten auf der ganzen Welt, und
täglich werden 46 Millionen Kunden bedient.24 Mit Abstand
führend ist Japan mit fast 4.000 Filialen, gefolgt von Kanada
mit über 1.300 und Deutschland mit über 1.200. In Russland gab es 2002 bereits 95 Filialen von McDonald’s25, und
das Unternehmen plant die Eröffnung vieler weiterer Restaurants in der früheren Sowjetunion sowie in den riesigen
neuen Revieren Osteuropas, an denen die Invasion der Fastfoodrestaurants bis dahin vorbeigegangen war. Großbritannien wurde zur »Fastfood-Hauptstadt Europas«26, und auch
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Einführung
Israel wird als »mcdonaldisiert« bezeichnet: Dort reihen
sich »Ace Hardware, Toys'R'Us, Office Depot und TCBY«27
in den Einkaufszentren aneinander.
7. Viele stark mcdonaldisierte Firmen außerhalb der Fastfoodbranche sind weltweit ebenfalls sehr erfolgreich. Die 8.500
Filialen von »Blockbuster« befinden sich zwar in ihrer Mehrzahl in den Vereinigten Staaten, über 2.000 von ihnen aber
sind in 28 anderen Ländern angesiedelt.28 »Wal-Mart« ist
mit 1,3 Millionen Beschäftigten und einem Jahresumsatz
von 218 Milliarden Dollar der größte Einzelhandelskonzern
der Welt. In den Vereinigten Staaten hatte er 2002 insgesamt 3.000 Geschäfte. Im Ausland (und zwar in Mexiko)
wurde 1991 die erste Filiale eröffnet, heute sind es über
1.000 in Mexiko, Puerto Rico, Kanada, Argentinien, Brasilien, China, Korea, Deutschland und Großbritannien. Jede
Woche gehen weltweit über 100 Millionen Kunden bei WalMart einkaufen.29
8. In anderen Staaten haben sich eigene Varianten dieser amerikanischen Institution entwickelt. In Kanada gibt es die
Café-Kette »Tim Hortons«, die kürzlich mit Wendy’s fusionierte und 2.200 Filialen besitzt, davon 160 in den Vereinigten Staaten.30 Paris, das mit seiner feinen Küche vielleicht
den Anschein erweckt, es sei immun gegen Fastfood, hat
zahlreiche Croissant-Imbissstuben; auch das altehrwürdige
französische Weißbrot wurde mcdonaldisiert.31 Die indische
Fastfoodkette »Nirula’s« vertreibt Hammel-Hamburger (ungefähr 80 Prozent der Inder sind Hindus, die kein Rindfleisch essen) und einheimische indische Gerichte.32 »Mos
Burger«, eine japanische Kette mit über 1.500 Restaurants,
bietet außer dem üblichen Sortiment noch Teryaki-Hähnchen-Burger, Reis-Burger und »Oshiruko mit braunem Reiskuchen«.33 Der vielleicht unwahrscheinlichste Ort für ein
einheimisches Fastfoodrestaurant war das vom Krieg zerstörte Beirut, und doch wurde dort 1984 »Juicy Burger« eröffnet, mit einem Regenbogen anstelle des gelben Doppelbogens und dem Clown J. B. statt Ronald McDonald. Die Eigentümer wollten das Unternehmen zum »McDonald’s der
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Kapitel Eins: Die McDonaldisierung der Gesellschaft
arabischen Welt« machen.34 In jüngster Zeit eröffneten im
Irak in unmittelbarer Folge des Krieges von 2003 die McDonald's-Imitate »MaDonal« und »Matbax« mit Hamburgern,
Pommes frites und sogar dem goldenen Doppelbogen.35
9. Heute schließt sich der Kreis der McDonaldisierung: Andere Länder exportieren ihre eigenen mcdonaldisierten Institutionen in die Vereinigten Staaten. »The Body Shop«, eine
ökologisch gefärbte britische Kosmetikkette, hatte Anfang
2003 bereits über 1.900 Filialen in 50 Staaten, davon 300 in
den USA.36 Außerdem eröffnen amerikanische Unternehmen wie »Bath & Body Works« mittlerweile Imitationen der
britischen Kette.37 »Pret A Manger«, eine Kette von Sandwichläden, die ebenfalls aus Großbritannien stammt (und
an der McDonald’s 2001 interessanterweise eine Minderheitsbeteiligung von 33 Prozent erwarb), hat über 130 konzerneigene und konzerngeführte Restaurants, die meisten
in Großbritannien, einige aber auch in New York, Hongkong und Tokio.38
10. Die in Schweden ansässige (aber in niederländischem Besitz
befindliche) Möbelhauskette Ikea erzielte 2002 mit 216 Millionen Besuchern (so viele wie die gesamte Bevölkerung der
Vereinigten Staaten), die ihre mehr als 150 Filialen in 29
Ländern aufsuchten, einen Umsatz von ungefähr zwölf Milliarden Euro. Für weiteren Umsatz sorgte der Katalog, der
in 45 Sprachen mit einer Gesamtauflage von 118 Millionen
Stück gedruckt wird. Der Ikea-Katalog steht in dem Ruf, das
Buch mit der zweithöchsten Auflage der Welt zu sein, gleich
hinter der Bibel.39 Eine internationale Kette, die man in den
kommenden Jahren weiter beobachten sollte, ist der Bekleidungsfilialist »H & M«. Das 1947 gegründete Unternehmen
betreibt heute über 900 Filialen in 17 Staaten und plant bis
Ende 2003 die Eröffnung von 110 weiteren. H & M beschäftigt zurzeit über 39.000 Menschen und verkauft mehr als
500 Millionen Artikel im Jahr.40
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