Wirtschaft - Leben in Antalya

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Wirtschaft - Leben in Antalya
Das deutsche Nachrichten-Magazin
Hausmitteilung
Betr.: Titel, Computerspiele, SPIEGEL WISSEN
Z
um ersten Mal hat der SPIEGEL im vergangenen Sommer eine Titelgeschichte auch in türkischer Sprache gedruckt; als Geste, als Signal
der Verständigung. Anlass waren die Demonstrationen auf dem Taksim-Platz in Istanbul, die einen
Bruch unübersehbar machten, der sich durch die
türkische Gesellschaft zieht. In dieser Ausgabe
erscheint der Titelkomplex erneut auf Deutsch
und auf Türkisch, wieder aus gutem Grund. Am
Popp in Istanbul
kommenden Sonntag wird aller Wahrscheinlichkeit nach der Mann zum Präsidenten der Türkei
gewählt werden, der den Konflikt in der Türkei immer wieder schürt: Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan. Große Bedeutung hat diese Wahl auch, weil erstmals türkische Staatsbürger im Ausland ihren Präsidenten wählen dürfen. Wie die
Stimmung in der Türkei vor der Wahl ist, warum Erdoğan der große Favorit ist, beschreiben Maximilian Popp und Hasnain Kazim. Katrin Elger und Özlem Gezer
gingen der Frage nach, ob die Türken in Deutschland anders auf die kommende
Seiten 68, 78
Wahl blicken als ihre Landsleute in der ehemaligen Heimat.
FOTOS: DENNIS YÜCEL / DER SPIEGEL (O.); ROBERT GALLAGHER 2014 / DER SPIEGEL (U.)
E
rfolgreiche Computerspiele werden
in der Regel in einer festgelegten
Arbeitsteilung produziert. Oben, an der
Spitze der Wertschöpfungskette, stehen
weltweit eine Handvoll Publisher, die,
vergleichbar mit Filmproduzenten in Hollywood, Spiele finanzieren und vertreiben. Programmiert werden die Spiele
aber von eigenständigen Entwicklungsfirmen, die abhängig sind von den KonNezik, Roberts
zernen. Am etablierten Machtgefüge rüttelt nun ein Programmierer: Der Amerikaner Chris Roberts lässt sich die Entwicklung des Spiels „Star Citizen“
von seinen Fans bezahlen, mithilfe eines Crowdfunding-Projekts. 49 Millionen
Dollar sind bislang eingesammelt worden und geben Roberts die Freiheit,
nach der er strebt. Redakteurin Ann-Kathrin Nezik besuchte Roberts im kalifornischen Santa Monica und lernte einen Unternehmer kennen, der das Risiko
liebt. Gegen einen Kollegen hat Roberts einmal auf den Erfolg eines anderen
Spiels gewettet, für das er verantwortlich war; der Einsatz: Roberts’ Porsche.
Seite 130
Roberts verlor.
E
ine Krebsdiagnose wirft meistens sowohl Betroffene als auch Angehörige
aus der Bahn, denn trotz des medizinischen Fortschritts sind viele Fragen
ungelöst. Wie es sich mit dieser Krankheit leben lässt, wie man sich vor ihr
schützen kann, wie die verschiedenen Krebsarten behandelt werden, das beschreibt die aktuelle Ausgabe von SPIEGEL WISSEN „Diagnose Krebs – und mein Leben geht weiter“. Die Autorinnen und Autoren sprachen mit Betroffenen wie der
ehemaligen französischen Familienministerin Dominique
Bertinotti, sie trafen Angehörige und Forscher. Überraschend war für die Kollegen, dass viele Kranke, die nun
als geheilt gelten, nicht nur vom Schmerz berichteten, den
ihr Leiden brachte, sondern auch von einem Gefühl der
Freiheit, gewonnen durch die Nähe zum Tod. Die neue
Ausgabe von SPIEGEL WISSEN ist ab Dienstag im Handel.
DER SPIEGEL 32 / 2014
3
Erdoğan otokrata mı dönüşüyor?
Türkei Unter Premier Erdoğan entwickelte sich das Land
zur Regionalmacht. Nun wird er wohl zum Präsidenten
gewählt – seine Gegner befürchten, er werde damit zum
Despoten. Auch die drei Millionen Deutschtürken müssen sich positionieren: für oder gegen ihn? Seiten 68, 78
Türkiye Başbakan Erdoğan’ın iktidarı boyunca ülke bölgesel
bir güce dönüştü. Erdoğan şimdi de büyük bir ihtimalle
cumhurbaşkanı seçilecek. Almanyalı üç milyon Türk de tavır
almak zorunda hissediyor kendisini: Erdoğan’dan yana mı,
ona karşı mı olunacak? Sayfa 68, 78
Mord
und Totschlag
Justiz Es ist eines der heikelsten
Reformprojekte des Bundesjustizministers: Heiko Maas will
den Mord-Paragrafen reformieren. Die Vorschrift stammt
aus der Nazizeit. Sie belastet
die Richter, die für gerechte Urteile an die Grenze ihrer Kompetenz gehen müssen. Doch sind
die Deutschen bereit für eine
Debatte über die richtige Strafe
für Mörder? Seiten 16, 20
Die Waisen der
Medizin
Genforschung Kein Arzt
konnte ihnen bislang helfen:
Kindern, die an seltenen
Krankheiten leiden, deren Ursache niemand kennt. Nun gibt
es Hoffnung für die Waisen
der Medizin. Mithilfe moderner
molekularbiologischer Methoden haben Forscher ein solches
Erbleiden enträtselt – und testen erste Therapien. Seite 104
4
Titelbild: Fotos: Claudius Schulze; DTS
Lichtrevolution mit Schattenseite
Beleuchtungsmarkt Osram streicht in Deutschland fast
jede fünfte Stelle, das gesamte Lichtgewerbe befindet sich im
Umbruch: Die LED-Technologie verdrängt herkömmliche
Leuchten viel schneller als erwartet. Neue Angreifer aus Fernost
fordern europäische Traditionsfirmen wie Osram oder
Philips heraus. Seite 56
FOTOS: CLAUDIUS SCHULZE / LAIF (O.); FRANK MAY / PICTURE-ALLIANCE / DPA (M.L.); JASON REED / REUTERS (M.R.); SWEET ENVY PHOTOGRAPHY (U.L.)
Wird Erdoğan zum Autokraten?
In diesem Heft
Titel / Kapak
Gesellschaft
68 Türkei Premier Erdoğan
102 Menschenversuche bei
Partnerbörse / Deutsche Geounter Wasser / Tierwelt:
Warum Vögel Flughäfen lieben logen suchen nach Bodenschätzen am Meeresgrund /
47 Eine Meldung und ihre
Bildschirm ersetzt Brille
Geschichte Die neue Familie
des Wiener Bauunternehmers 104 Medizin Genforschern
ist es gelungen, eine mysteriöse
Richard Lugner
Erbkrankheit bei
48 Verbrechen Eine ameKindern zu entschlüsseln
rikanische Besserungsanstalt
108 Seuchen Der Tropenund ihre fürchterliche
mediziner Florian Steiner
Geschichte
über den Kampf gegen Ebola
53 Homestory Unter
110 Tiere Der rätselhafte
Kleinkriminellen in Rio
Schwund der urzeitlichen
Pfeilschwanzkrebse
Wirtschaft
112
Antike Vor 2000 Jahren
54 Greenpeace-Chef wehrt
starb Kaiser Augustus, der
sich / Polen will Sanktionsdie römische Republik in eine
ausgleich / Berlin fordert
Monarchie verwandelte
Google heraus
hat sein Land modernisiert und
islamisiert – wird er als
Präsident zum Autokraten?
68 Türkiye Ülkesini aynı
zamanda modernleştiren ve
Müslümanlaştıran Başbakan
Erdoğan, otokrat bir cumhurbaşkanına dönüşebilir mi?
78 Deutschtürken Wie Erdoğan die türkischen Gemeinschaften in Deutschland spaltet
78 Almanyalı Türkler Erdoğan
Almanyalı Türkleri ayrıştırıyor
FOTOS: AMIT SHABI / LAIF / DER SPIEGEL (O.); ANDREW GOMBERT / DPA (M.) ETTORE FERRARI / DPA (U.)
Deutschland
10 Leitartikel Weil die Unternehmen zu sehr auf den
Export setzen, müssen die
deutschen Löhne steigen
12 SPD-Vize Stegner fordert
Ausländerwahlrecht / CDUGrößen wollen kalte Progression abbauen / Kolumne:
Der schwarze Kanal
16 Justiz Minister Heiko
Maas will den MordParagrafen reformieren
20 Strafrecht SPIEGELGespräch mit dem BGHRichter Thomas Fischer
über den Mord-Paragrafen
und sexuellen Missbrauch
24 Rüstung Wirtschaftsminister Gabriel stößt mit seiner
Waffenexportpolitik in den eigenen Reihen auf Widerstand
26 Bayern Wie Staatsministerin Christine Haderthauer in
der Modellbau-Affäre die
Wahrheit dehnt
29 Infrastruktur Wieso explodieren bei öffentlichen
Projekten immer die Kosten?
31 Stuttgart 21 Das Gerangel
um den Brandschutz
32 Cyberkriminalität Deutschlands oberster Sicherheitsbeamter für Datentechnik über Angriffe auf
Bundesministerien
34 Karrieren Fraktionschef
Anton Hofreiter führt die Grünen mit Nettigkeit ins Abseits
37 Affären Hat auch der Chef
der Klassenlotterie die
Gewinner zum Bankhaus
Merck Finck geschleust?
38 Strafjustiz Zschäpes eigenwillige Aktionen
40 Medizin Wie Ärzte im Klinikum Bayreuth unter Druck
des Managements gerieten
44 Geheimdienste Anwalt
Klaus Schroth über seinen
Mandanten Markus R., der als
BND-Mitarbeiter für die CIA
spioniert haben soll
Wissenschaft
46 Sechserpack: Der Mensch
56 Beleuchtungsmarkt Der
Angriff der Fernost-Konzerne
59 Deutsche Bank Jain will
die ganze Macht
60 Interview Investmentbanker Leonhard Fischer sagt
Fusionswelle voraus
62 Gesellschaftskritik USÖkonom Jeremy Rifkin im
SPIEGEL-Gespräch über
die digitale Verwandlung des
Kapitalismus
64 Tourismus Das Comeback
des Griechenlandurlaubs
Kultur
israelische Soziologin, erklärt
im SPIEGEL-Gespräch die
Angst ihrer Landsleute, die
Gründe ihrer Radikalisierung
und warum es vielen an
Mitleid mit den Palästinensern fehlt. Seite 84
114 „The Knick“ – die TV-Serie
von Kino-Altmeister Steven
Soderbergh / Eine Berliner
Ausstellung zeigt die ferne Vergangenheit in Farbe / Kolumne: Mein Leben als Frau
116 Internet-Debatte Der USAutor Dave Eggers liefert
mit „Der Circle“ den Roman
für den aktuellen
netzkritischen Diskurs
120 Legenden Eine Biografie
über den lüsternen
Literaten Marquis de Sade
Ausland
122 Kino Scarlett Johansson
rebelliert in ihren neuen
66 Warum eine Klage der
Republikaner gegen Präsident Filmen gegen Weiblichkeitskitsch
Obama sinnlos ist / China
will Argentinien aus der Krise 124 Religion Wie reagieren
helfen
Mafiosi auf ihre Exkom84 Israel Die Soziologin Eva munikation durch den Papst?
Illouz über fehlendes
126 Essay Schriftsteller
Mitleid, Angst und RadikaliLars Brandt fordert
sierung in ihrer Heimat
einen Künstlerprotest gegen
86 USA John Kerrys Scheitern Europas Faschisten
als Vermittler in Nahost
128 Literaturkritik Verena
zeigt den Bedeutungsverlust
Stefan, Ikone des Feminismus,
der Weltmacht
erzählt die tragische Geschichte ihres Großvaters
92 Essay Der Islamismusforscher Shadi Hamid über
Medien
die Rückkehr der Generäle
in der arabischen Welt
129 Twitter-Nutzer spotten
95 Global Village Warum eine über Facebook / Reisemanager
verteidigt Castingshow
Britin an den Stränden
Cornwalls Lego-Figuren sucht 130 Unterhaltung Ein amerikanisches Start-up will den
Sport
Markt für Videospiele auf den
Kopf stellen
97 Sprinter Julian Reus
erläutert neue Trainingsmethoden / Verletzungsserie
6
Briefe
bei Motorradrennfahrern
125 Bestseller
98 Idole Wie Pep Guardiola
134 Impressum, Leserservice
für die Unabhängigkeit Kata- 135 Nachrufe
loniens kämpft
136 Personalien
138 Hohlspiegel / Rückspiegel
100 Leichtathletik Der extravagante Weltrekordler
im Stabhochsprung Renaud
Wegweiser für Informanten:
www.spiegel.de/briefkasten
Lavillenie
Farbige Seitenzahlen markieren die Themen von der Titelseite.
Eva Illouz,
Pep Guardiola,
Trainer des FC Bayern und
stolzer Katalane, kämpft offen für die Abspaltung seiner
Heimatregion von Spanien.
Zuletzt auch auf dem Alexanderplatz in Berlin. Seite 98
Scarlett Johansson,
Hollywood-Star, gilt als Sexsymbol. In ihrem neuen
Film „Lucy“ verkörpert sie
eine Actionheldin mit übermenschlicher Intelligenz
und hat damit phänomenalen
Erfolg. Seite 122
DER SPIEGEL 32 / 2014
5
Briefe
„Den Leitartikel kann ich zu 100 Prozent unterschreiben. Aber die
Sanktionen sind zu zögerlich und noch nicht effektiv genug.“
Gerd Kraus, Bad Berneck (Bayern)
Wer ist hier verantwortlich?
Nr. 31/2014 Stoppt Putin jetzt!; Leitartikel – Nach
dem Abschuss von Flug MH 17 muss Europa Putin zum
Einlenken zwingen
Präsident Putin wird zu Recht als Hauptverantwortlicher benannt, zu Recht wird
seine Bestrafung durch Sanktionen und
entsprechendes Verhalten bei den Treffen
der Führungspersönlichkeiten der Welt
gefordert. Aber er tut nur, was seine Wähler wollen. Er kann sich doch nicht, wie
Brecht es 1953 ironisch von den SED-Führern forderte, „ein neues Volk wählen“!
Schuld am Abschuss des Verkehrsflugzeugs trägt. Warum gab es beispielsweise
im Fall der NSA nicht eine ähnliche
Schlagzeile: „Stoppt die NSA – jetzt“? Sicher haben Sie das auch kritisch begleitet,
aber es wäre in diesem Fall in dieser Form
angemessener gewesen.
Michael Fricke, Weimar
Zuerst dachte ich an die Unterstützerliste
einer Onlinepetition oder Ähnliches, dann
der zweite Blick – das Titelbild tat richtig
weh.
Carsten Kaftan, Gräfelfing (Bayern)
Joachim Lange, Bad Doberan (Meckl.-Vorp.)
Eine glanzvolle politische und wirtschaftliche Zukunft Europas liegt nur in der
engen Kooperation mit Russland und der
Ukraine. Schafft Gemeinschaftsprojekte
mit Ukrainern und Russen, anstatt diese
aufeinanderzuhetzen! Wir lassen die Griechen wirtschaftlich darben, was könnten
wir den Ukrainern geben außer zementierter Armut? Sie hoffen nicht auf Freiheit, sondern auf wirtschaftlichen Aufschwung. Russland und die EU können da
nur gemeinsam etwas bewirken.
Heinz-Werner Bähr, Troisdorf (NRW)
So ein Titel geht gar nicht. Allein weil dafür die Bilder der Opfer des von wem auch
immer abgeschossenen Fliegers verwendet
werden und gleichzeitig mit dem Titel
„Stoppt Putin jetzt!“ suggeriert wird, dass
Putin diese Menschen auf dem Gewissen
hat. Man sollte auf dem Titel nicht alles
vorwegnehmen. Dem Leser sollte es möglich sein, sich seine Meinung beim Lesen
eines Artikels zu bilden und nicht durch
eine solche suggestive Konstruktion.
Fabian Pfeifer, Hamburg
„Stoppt Netanjahu!“ wäre in diesen Wochen angesichts der systematischen Attacken auf ein wehrloses und dauerschikaniertes Volk angebrachter gewesen.
Heinz Uray, Graz (Österreich)
Dr. Dietrich von der Ölsnitz, Veltheim (Nieders.)
Es wird nicht gelingen, einen Despoten
wie Putin von außen in die Knie zu
zwingen oder gar ihn zu bekehren und das
Unrechtsregime in Russland zu beseitigen.
Eine Änderung zum Besseren wird es nur
geben, wenn dieses System implodiert wie
weiland die Sowjetunion. Die westlichen
Staaten können hierzu nur marginal beitragen und bestenfalls dafür sorgen, dass
ein solcher Zusammenbruch keine allzu
großen Kollateralschäden mit sich bringt.
Es geht mittlerweile um mehr als Sanktionen, es geht um den Aufbau eines
Feindbilds. Und hier haben die Medien
eine herausragende Verantwortung, besonders der SPIEGEL, der sich aufgrund
seiner ausgewogenen Berichterstattung einen guten Namen gemacht hat. Nehmen
wir an, dass es stimmt, dass Russland die
Separatisten mit Waffen versorgt und deshalb auch für diese fürchterliche Tragödie
des Boeing-Abschusses eine gewaltige
Mitverantwortung trägt. Es muss allerdings die Frage erlaubt sein, ob nicht auch
die Soldaten der Ukraine zu dieser Tat
in der Lage gewesen wären. Wer ist hier
eigentlich für Waffennachschub verantwortlich?
Der Titel der heutigen SPIEGEL-Ausgabe
ist verantwortungslos. Er dient der Eskalierung des Konflikts zwischen der EU, den
USA, der Ukraine und Russland. Es ist
noch nicht bewiesen, dass Russland die
6
DER SPIEGEL 32 / 2014
Benedikt Vermeer, Bremen
Glückwunsch zur gelungenen Titelgeschichte samt Cover. Sie haben mich ab
sofort als Leser zurückgewonnen. Das Lager der Putin-Versteher mit seiner diffusen
antiwestlichen Haltung ist mir völlig suspekt. Putins irres Gebaren darf man einfach nicht tolerieren oder gar gutheißen.
Sven Meyer, Freiburg
Wobei soll Putin gestoppt werden? Wie,
von wem und warum? Mit diesem Titelbild stellen Sie den Schulterschluss zur
Newsweek her, die in dieser Woche titelt,
Putin sei ein „Paria“, der schlimmste Feind
des Westens.
Putin würde erst glaubwürdig werden,
wenn er jede Unterstützung der Separatisten einstellen, das Einsickern russischer
Kämpfer verhindern und unmissverständlich erklären würde, dass der Anschluss
weiterer ukrainischer Gebiete an Russland
unter keinen Umständen erfolgen wird.
Die Kampfhandlungen wären schnell zu
Ende, und Kiew könnte den Separatisten
ein Amnestieangebot machen.
Prof. Dr. Wolf-Rüdiger Heilmann, Berlin
Leider ganz schlecht geraten sind in dieser
Woche Titelbild, Leitartikel und Titelstory.
Armselig, da rein polemisch und nur auf
Vermutungen gründend – weshalb veröffentlichen die Amerikaner ihre Beweisbilder nicht endlich? Heuchlerisch, da wir
Deutsche durch unsere Waffenexporte
genauso viele Leben auf dem Gewissen
haben wie Putins Regierung. Und da mit
unserer Hilfe in der Ukraine eine legitime
Regierung gestürzt und durch eine ersetzt
wurde, die nun die eigene Bevölkerung
bombardiert, welche wiederum gegen
diese neue Regierung aufstand. Nebenbei
auch dumm, da einzig die USA von
schlechten Wirtschaftsbeziehungen der EU
zu Russland profitieren. Für einen treuen
Leser unter SPIEGEL-Niveau – zum Glück!
Dr. Annett Jubara, Germersheim (Rhld.-Pf.)
Helga Günther-Kiesel, Erlangen
Der Tenor der öffentlichen Diskussion verschiebt sich relativ plötzlich. Während vor
einigen Monaten noch die innerukrainische Situation und später die Krim-Krise
im Mittelpunkt standen, fokussiert plötzlich alles auf Putin. Dies erscheint vielen
Lesern als Personenkult, der zur Personifizierung des Konflikts führt und damit
zu „Gut-und-Böse-Wahrheiten“. Die NSAAffäre wird verdeckt, stattdessen starren
plötzlich alle auf Putin. Solche Zusammenhänge werden vom SPIEGEL derzeit nicht
angemessen aufgegriffen. Was mir fehlt,
ist der Versuch, halbwegs neutral zu reflektieren. Im Grunde hat der SPIEGEL
Position bezogen, ohne dass wir verstehen,
warum.
Norbert Rost, Dresden
Putin ist kein Problembär. Er muss ein
gewaltiges, rückständiges und zerrissenes
Land regieren. Der Westen ist nicht gut
beraten, dieses Russland zu destabilisieren.
In einer Welt, die sich neu ordnet, ist gelassene Klugheit, nicht das Schlagen der
Trommeln das richtige Mittel. Insbesondere darf sich Europa nicht durch die USA,
deren Interessen sehr eigene sind, in Positionen drängen lassen, die den Konflikt
unnötig zuspitzen.
Hartwig Schulte-Loh, Berlin
Briefe
Warmer Humor
Nr. 30/2014 Gutachter hielt Wahnkranken
für voll schuldfähig
Ich habe Kröber schon mehrfach bei forensisch-psychiatrischen Fortbildungsveranstaltungen referieren hören und mich über
sein enormes Fachwissen, sein Charisma
und seinen warmen Humor gefreut, den
er in seiner jahrzehntelangen Arbeit mit
Schwerkriminellen nicht verloren hat. Der
Vorwurf, Kröber habe einen Hang zu Spott
und Zynismus, fällt auf die Verfasserin des
Artikels zurück.
Dr. Jürgen Eckardt, Ravensburg
Facharzt für Psychiatrie
Es ist unbestritten Aufgabe der Gerichtsberichterstattung, die Tätigkeit forensischer Gutachter kritisch zu würdigen.
Wenn Gisela Friedrichsen Hans-Ludwig
Kröber aber unterstellt, er halte „manches
noch für normal, was Kollegen schon als
Warnsignal auffällt“, weil er als Sohn eines
Chefarztes in der Psychiatrie in BielefeldBethel aufwuchs, ist dies eine Schlussfolgerung, die der Seriosität Ihres Magazins
nicht ansatzweise gerecht wird.
Prof. Dr. Martin Driessen, Bielefeld
Facharzt für Psychiatrie
Ich war fast 40 Jahre lang Staatsanwalt
und Richter und in dieser Zeit den verschiedensten Sachverständigen ausgeliefert. Zur journalistischen „Hinrichtung“
des Psychiaters Kröber durch Frau Friedrichsen kann ich nur gratulieren.
Prof. Dr. jur. Gerhard H. Schlund, Dietersheim (Bayern)
Praxen sind die Gewinner
Nr. 30/2014 Das Mammografie-Screening
schadet vielen Frauen
Wer glaubt, dass die Profiteure des
Mammografie-Screenings (hauptsächlich
Radiologen und die Pharmaindustrie) eine
sichere und gute Einnahmequelle so einfach aufgeben, der glaubt auch, dass Zitronenfalter Zitronen falten. Die für das
Screening angeschafften CT-Busse fangen
gerade an, sich zu rentieren.
mundung empfand und nicht als Sorge um
meine Gesundheit. Für mich ist die radiologische Praxis der einzige Gewinner des
Screenings.
Hanne Kokoska, Dortmund
Wenn 60 Prozent der Frauen glauben,
dass durch die Teilnahme am Screening
Brustkrebs verhindert wird, frage ich mich,
durch welche Beeinflussung sie zu dieser
absurden Überzeugung kommen.
Helga Kollmar-Stützle, München
Warum werden Leserinnen und Leser
immer wieder verunsichert? Wir können
froh sein, dass wir es in den Jahren geschafft haben, in Deutschland ein flächendeckendes Brustkrebs-Früherkennungsprogramm auf diesem Niveau einzuführen!
Mariam Tehrani, Bonn
Qualitätssicherung Mammographie-Screening
Bonn Rhein-Sieg Euskirchen
Irreführende Parallele
Nr. 30/2014 Wie sich Ex-EU-Gesundheitskommissar
John Dalli gegen seine Absetzung wehrt
Der Artikel zieht eine irreführende Parallele zwischen einerseits den geheimen
Treffen des ehemaligen Kommissars
Dalli mit Vertretern der Tabakindustrie,
die ohne Wissen und Zutun seines
Kabinetts oder seiner Abteilung stattfanden, und andererseits Geschäftstreffen,
die Teil des normalen Arbeitsablaufs
der Europäischen Kommission sind und
in Übereinstimmung mit den WHO-Regeln und -Richtlinien zu Kontakten mit
der Tabakindustrie abgehalten werden.
Dallis Position als der für die Überarbeitung der Tabakrichtlinie zuständige
Kommissar wurde politisch unhaltbar,
als ein unabhängiger Untersuchungsbericht feststellte, dass er über Bestechungsversuche im Bilde war, bei denen ein
Restaurant- und Barbesitzer seinen Namen verwendete, um finanzielle Vorteile
zu erlangen.
Pia Ahrenkilde Hansen, Brüssel
Sprecherin der Europäischen Kommission
Hubertus Peter, Altrich (Rhld.-Pf.)
Ich, 64 Jahre, war noch nie bei einer Mammografie – trotz der Einladung alle zwei
Jahre. Meistens habe ich mich über dieses
Schreiben geärgert, weil ich es als Bevor-
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
– bitte mit Anschrift und Telefonnummer –
gekürzt und auch elektronisch zu veröffentlichen. Die E-Mail-Anschrift lautet:
[email protected]
Korrektur
zu Heft 31/2014, Seite 72 „Spätes Erwachen“:
„Nach einer Umfrage für den SPIEGEL sind 52 Prozent der Deutschen für härtere
Sanktionen, selbst wenn das ‚viele Arbeitsplätze‘ in Deutschland kosten würde.“ Korrekt
hätte der zweite Halbsatz lauten müssen: „selbst wenn dadurch viele Arbeitsplätze
in Deutschland gefährdet wären“. Es handelt sich um ein Versehen.
8
DER SPIEGEL 32 / 2014
Das deutsche Nachrichten-Magazin
Leitartikel
Das Lohnparadox
Warum die Bundesbank mit ihrer Forderung nach höheren Gehältern recht hat
10
DER SPIEGEL 32 / 2014
FOTO: WERNER BACHMEIER / VISUM
E
In einer gesunden Wirtschaft blühen In- und Auslandsges kann ein böses Ende nehmen, wenn man die Wahrheit
nicht erträgt, das lehrt die Geschichte vom Rumpelstilz- schäft gleichermaßen. In Deutschland dagegen existieren seit
chen. Die schöne Müllerstochter brauchte nur seinen Jahren zwei Ökonomien nebeneinander: ein boomender, dyrichtigen Namen zu nennen, schon wurde der kleine Chole- namischer Exportsektor und ein schwungloser Binnenmarkt,
der nicht zuletzt von den stagnierenden Einkommen der Mitriker so zornig, dass er sich selbst entzweiriss.
Auch im richtigen Leben sind noch Rumpelstilze zu finden, telschicht gebremst wird.
Steigende Löhne könnten zu einem neuen Gleichgewicht
etwa in den Chefetagen der deutschen Arbeitgeberverbände.
Kaum hatte die Bundesbank die sattsam bekannte Tatsache beitragen, doch davon wollen die Arbeitgeber nichts wissen.
wiederholt, dass die Löhne in den vergangenen Jahren nicht „Tarifpolitik ist kein Instrument der Währungspolitik“, behaupausreichend gestiegen sind, da wüteten die Funktionäre des ten sie – und belegen damit, dass sie gedanklich noch in D-MarkKapitals auch schon los wie einst das Männchen aus Grimms Zeiten leben. Damals wurden Ungleichgewichte im euroMärchen. Vor den „gefährlichen Ratschlägen aus Frankfurt“ päischen Handel durch Änderungen der Wechselkurse ausgewarnte der Unternehmerverband Gesamtmetall, und Deutsch- glichen. Heute müssen sich Preise und Löhne anpassen, um
lands Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer tat die Meinung der Überschüsse abzubauen. Auch wenn es Deutschlands ArbeitWährungshüter als „überflüssig
geber nicht wahrhaben wollen,
und wenig hilfreich“ ab.
im Zeitalter des Euro ist TarifSo reden Ideologen, aber
politik die neue Währungspolitik.
nicht Kaufleute, die mit den
Die Verdienste hierzulande müsZahlen vertraut sind. Ein
sen gleich aus zwei Gründen
durchschnittlicher Arbeitnehsteigen: zum einen, um die Armer stellt heute in der Stunde
beitnehmer am wachsenden
16 Prozent mehr Güter und LeisWohlstand zu beteiligen, zum
tungen her als vor 15 Jahren;
anderen, um zum ökonomischen
doch auf seinem Gehaltszettel
Ausgleich in Europa beizutragen.
spiegelt sich das Leistungsplus
Das sehen nicht nur die deutkaum wider. Die Tariflöhne
schen Währungshüter so, sonsind im selben Zeitraum nur um
dern auch ihre Kollegen von der
10 Prozent gewachsen, und wer
Europäischen Zentralbank. In
das Pech hatte, in einer Branche
der Währungsunion liegt die Inohne Gewerkschaftseinfluss beflationsrate derzeit weit unter
schäftigt zu sein, verdient heute
der angestrebten Marke von
in vielen Fällen weniger als im
zwei Prozent. Daraus darf keine
Jahr 2000. Die Welt spricht gern
Deflation werden, eine gefährvom „neuen deutschen Wirtliche Spirale aus sinkenden Preischaftswunder“, der Großteil
sen und Löhnen. Auch deshalb
der Arbeitnehmer aber erlebte
mahnen sie die Tarifparteien zu
die Lohnrunden der vergangeRecht, sich einer solchen Entnen Jahre als Übung in Verzicht.
wicklung entgegenzustellen.
Dafür gab es eine gewisse Berechtigung, solange fast fünf
Natürlich gibt es auch für Löhne Grenzen des Wachstums.
Millionen Deutsche vergebens einen Arbeitsplatz suchten Deutschland steht nicht nur im europäischen, sondern auch
und die heimische Wirtschaft als der „kranke Mann Europas“ im weltweiten Wettbewerb. Steigen die Verdienste zu schnell,
galt. Doch das ist lange her. Das Arbeitsmarktproblem dieser könnten Konzerne wie Siemens, Daimler oder Volkswagen
Tage heißt „Fachkräftemangel“, und in aller Welt werden Marktanteile und Wachstumschancen einbüßen.
derzeit so viele Autos und Maschinen aus Stuttgart oder
Doch die Geldpolitiker aus Frankfurt am Main reden nicht
München verkauft, dass schon von einem „deutschen Jahr- dem Exzess das Wort, sondern der Vernunft. Sie fordern
hundert“ die Rede ist.
Lohnsteigerungen von rund drei Prozent. Das ist hoch
Die Deutschen fahren auf der Überholspur, doch dabei ist genug, um die Währungsunion zu stabilisieren, und zugleich
ihnen das Ziel des Rennens aus dem Blick geraten. Der ausreichend niedrig, damit keine Arbeitsplätze verloren
Zweck des Wirtschaftens ist Wohlstand, das lehrt die gehen.
bürgerliche Ökonomie. Die Deutschen dagegen suchen
Es ist der Bundesbank zu danken, dass sie darauf hingeihr Glück in der Ausfuhrstatistik. Es erfüllt sie mit Stolz, wiesen hat, worum es in der Marktwirtschaft geht: nicht um
dass sie Jahr für Jahr mehr Waren ins Ausland liefern, als sie den größtmöglichen Profit für Unternehmer, sondern um
von dort beziehen. Sie übersehen allerdings, dass damit „Wohlstand für alle“, die Losung Ludwig Erhards.
zugleich auch ein beträchtlicher Teil ihres Wohlstands über
Das sollten auch die Arbeitgeber begreifen – und nicht
die Grenze reist.
sinnlos mit dem Fuß auf den Boden stampfen.
EU
Konter aus Paris
Integration
SPD-Vize will Ausländer wählen lassen
Der Vizevorsitzende der SPD, Ralf Stegner,
fordert grundlegende Veränderungen des
Wahlrechts für in Deutschland ansässige
Nicht-EU-Ausländer. „Menschen, die hier
leben, arbeiten, Steuern zahlen, sollten
auch wählen dürfen. Warum sollte man ihnen dieses Bürgerrecht noch länger vorenthalten?“, so Stegner. Er forderte die Große
Koalition auf, „das wenigstens auf kommunaler Ebene zu ermöglichen“. Er wünsche
Steuerprogression
Moscovici
angesichts der engen Bande
zwischen Paris und Berlin
tabu sein.“ Besonders scharf
ist in Berlin die Kritik daran,
dass Moscovici ausgerechnet
Währungskommissar in der
nächsten Kommission von
Jean-Claude Juncker werden
könnte – nachdem die französische Regierung mehrfach
Lockerungen für den EuroStabilitätspakt gefordert
hatte. Moscovici sagte dazu:
„Wir haben dieses Amt nie
explizit verlangt, die Entscheidung über die Zuständigkeiten liegt allein bei Herrn
Juncker.“ In Berlin heißt es,
mit einer anderen Zuständigkeit – etwa für Wachstumspolitik und Investitionen – sei
Moscovici als EU-Kommissar
akzeptabel. gps
12
DER SPIEGEL 32 / 2014
CDU-Länder für
Entlastung
In der CDU formiert sich ein
breites Bündnis zum Abbau
der kalten Progression noch
in dieser Legislaturperiode.
Mehrere unionsgeführte Bundesländer begrüßen einen
Vorstoß der Mittelstandsvereinigung von CDU und CSU,
die dazu auf dem CDU-Parteitag im Dezember einen
Antrag einbringen will. „Ich
unterstütze die Forderung
nach Abbau der kalten Progression unter zwei Bedingungen“, sagt Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff. Eine Reform
dürfe nicht zu Mindereinnahmen für die Länder führen und nicht über neue
Schulden finanziert werden.
Ähnlich äußert sich Sachsens
Regierungschef Stanislaw
Tillich: „Ich kann mir gut vorstellen, die kalte Progression
sich, „dass die Union in dieser Frage die Bedeutung für die Integrationspolitik erkennt“,
sagte der schleswig-holsteinische SPD-Landeschef. „Ich persönlich kann mir vorstellen, das Wahlrecht auf Landes- und Bundesebene zu erweitern, wenn nach einigen Jahren positiv Bilanz gezogen werden kann.“
Das Bundesverfassungsgericht hat allerdings
ein solches Ausländerwahlrecht 1990 schon
einmal für verfassungswidrig erklärt. gor
bei der Einkommensteuer
abzuschaffen – nur nicht zulasten neuer Schulden im
Haushalt.“ Rückhalt für das
Vorhaben gibt es auch in der
CDU-Parteispitze: „Die kalte
Progression ist eine Steuererhöhung durch die Hintertür,
Klöckner
und die sollten wir verhindern“, sagt CDU-Vize Julia
Klöckner. Sie lehnt es sogar
ab, dass der Bund die Länder
für den Wegfall von Einnahmen entschädigen solle. „Für
die Abschaffung einer Ungerechtigkeit bedarf es keiner
Kompensation.“ So sehen
es auch Finanzexperten der
CDU-Landtagsfraktionen:
„Wir müssen die kalte Progression in dieser Legislatur
angehen“, sagt der Vorsitzende der Konferenz der finanzpolitischen Sprecher der Länder, Mike Mohring aus Thüringen. Die Länderfinanzminister müssten bereit sein,
die möglichen Mindereinnahmen aus dem Abbau der
kalten Progression in ihre
Finanzplanung einzurechnen.
Als kalte Progression wird
der Effekt bezeichnet, dass
bei Lohnerhöhungen, die
lediglich die Inflation ausgleichen, dennoch die Steuerlast
steigt. ama, cos
Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
FOTOS: EIBNER-PRESSEFOTO / PICTURE ALLIANCE / DPA (O.); GILLES ROLLE / REA / LAIF (U.L.); FREDRIK VON ERICHSEN / PICTURE ALLIANCE / DPA (U.R.)
Pierre Moscovici, Kandidat
für das Amt des französischen EU-Kommissars, hat
sich gegen deutsche Kritik an
seiner Nominierung gewehrt.
„Der Vorwurf, ich sei als Finanzminister Frankreichs gescheitert, ist schlicht falsch“,
sagte Moscovici. „Wir haben
in meiner Amtszeit wichtige
Reformen angestoßen, wir
haben Defizite gesenkt, wir
haben die Arbeitskosten reduziert. Und ich habe keine
wichtige Entscheidung getroffen, ohne mich mit meinem
guten Freund Wolfgang
Schäuble abzustimmen.“
Deutsche Politiker hatten den
Sozialisten Moscovici als
ungeeignet für ein wichtiges
Kommissionsamt bezeichnet.
„Einen Defizitsünder werden
wir nicht akzeptieren“, drohte etwa Herbert Reul, Vorsitzender der Unionsgruppe im
Europarlament. Moscovici
kritisierte den Ton der Einwände: „So ein Stil muss
Deutschland
Pkw-Maut
„Unvereinbar mit
dem Europarecht“
Die von Verkehrsminister
Alexander Dobrindt (CSU)
geplante Straßenmaut ist in
der vorgelegten Fassung nicht
kompatibel mit dem Europarecht. Zu diesem Ergebnis
kommen die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags.
Die Fachleute hatten die Vereinbarkeit des Konzepts mit
EU-Recht im Auftrag des südbadischen SPD-Abgeordneten
Johannes Fechner überprüft.
Demnach „wirkt die Infrastrukturabgabe mittelbar diskriminierend zulasten der
Angehörigen anderer Mitgliedstaaten“. Die Juristen stören
sich an der einheitlichen Jahresabgabe für ausländische
Autofahrer, die bei 103,04 Euro
für Benziner liegen soll. Der
Halter eines in Deutschland
zugelassenen VW Polo 1.2 TSI
müsse 24 Euro zahlen, die zusammen mit der Kfz-Steuer erhoben werden. Um die gleiche
Summe würde dann seine
Steuer sinken. Auch wenn die
Steuererleichterung für Deutsche formal getrennt beschlossen werde, „müssen beide
Maßnahmen zusammen betrachtet“ werden. Die Europäi-
schen Verträge verböten „jede
Verschlechterung im Verhältnis zwischen inländischen und
ausländischen Verkehrsunternehmen“. red
Nordrhein-Westfalen
Steuer gegen
Spielsucht
Wettbüros beeinträchtigen
das Sicherheitsgefühl, behindern die Neuansiedlung von
Geschäften und unterstützen
Spielsucht, davon ist die nordrhein-westfälische Landesregierung überzeugt. Jetzt hat
sie den Weg für eine Extrabesteuerung der Zockerläden
frei gemacht. Auf Antrag der
Stadt Hagen erteilte das Land
die Genehmigung, Büros, in
denen Sport- und Pferdewetten abgegeben und mitverfolgt werden können, zusätzlich zu belasten. „Die Wettbürosteuer hilft der Stadt
beim Kampf gegen die Spielsucht und bringt gleichzeitig
Geld in ihre Kasse“, sagt
NRW-Innenminister Ralf
Jäger (SPD). Hagen hatte
die Einführung einer solchen
Steuer beschlossen, weil
die Zahl der Wettbüros im
Zentrum stark gewachsen
war. bas, gui
Blick auf Deutschland
Adam Krzemiński im polnischen
ILLUSTRATION: PETRA DUFKOVA / DIE ILLUSTRATOREN / DER SPIEGEL
Magazin Polityka über den außenpolitischen Kurs der Regierung Merkel
„Deutschland und Amerika entfernen sich voneinander. Dieser Prozess
fing 2003 an, als Gerhard
Schröder George W. Bush
die ‚bedingungslose Solidarität‘ verweigerte, die er
nach dem 11. September 2001 selbst deklariert
hatte, um später eine Männerfreundschaft mit
Putin zu schließen, die mit der baltischen Pipeline unterstützt wurde. Merkel ist nicht Schröder,
aber die Versuchung, dass Deutschland neutral
zwischen den USA und Russland stehen könnte,
ist sowohl in der deutschen Linken als auch in
der Rechten lebendig.“
Jan Fleischhauer Der schwarze Kanal
Psychohaushalt
Die Sanktionen wirken, ich habe
mich selber davon überzeugt. An
der Tür des Restaurants „Berlin
Moscow“, an dem ich jeden Tag
vorbeikomme, hängt jetzt ein
„Closed“-Schild. Ein Bekannter,
der gerade in Saint-Tropez mit
seiner Familie Urlaub macht, berichtet, dass man an der Hafenpromenade auf dem Weg zu
seinem Boot nicht mehr über
betrunkene Russen steigen müsse. Er ist als überzeugter
Linker eigentlich strikt gegen unseren Kurs in der Russlandfrage, aber über diese Entwicklung ist er sehr froh.
Der Zweck der Sanktionen ist es, Putin zum Einlenken
zu zwingen, indem man den Russen vor Augen führt,
was sie aufs Spiel setzen, wenn sie ihm nicht in den Arm
fallen. Ich bin ehrlich gesagt skeptisch, was das Erreichen
dieses Ziels angeht. Meiner Erfahrung nach schließen sich
Leute unter Druck von außen eher zusammen. Die Deutschen ließen sich nicht einmal von den Brandbomben der
Alliierten dazu bringen, ihrer Führung die Gefolgschaft
aufzukündigen. Wir kennen aus erster Hand das Problem
mit Sanktionen, könnte man sagen.
Andererseits haben Sanktionen nicht nur eine Wirkung
nach außen, sondern auch eine nach innen. Wie immer,
wenn man sich zusammenschließt, geht es um Selbstvergewisserung. Abgrenzung ist identitätsstiftend. Bis eben
erschien die EU noch als kopfloser Hühnerhaufen, seit
einer Woche bieten die Europäer ein Bild eiserner Geschlossenheit. Statt von Glühbirnen und Gurkengraden
ist plötzlich von Frieden und Freiheit die Rede, jeder EUBürokrat lebt in dem heroischen Gefühl, die europäische
Front zu verteidigen.
Im Politikseminar lernt man, dass „wir“ und „sie“ in
der globalen Welt als Kategorien ausgedient haben, aber
das lässt sich leicht als Unsinn entlarven – es muss nur
eine Krise ausbrechen. Bei den Muslimen sind wir uns
inzwischen einig, dass sie zu uns gehören, das hat vergangene Woche sogar die Bild eingesehen. Jetzt ist der Russe
an die Stelle des archetypischen Anderen getreten.
Man muss zugeben, die Russen sind für die Rolle des
fremden Volkes die ideale Besetzung. Ein Drittel der
männlichen Bevölkerung ist dauernd betrunken. Die
Frauen sehen immer so aus, als ob sie morgens nicht
genug zum Anziehen gefunden hätten, und wenn die
Russen Urlaub machen, ist die Hölle los. Es heißt, dass sie
abends die Sonnenliegen ins Zimmer schleppen, damit
sie morgens nicht so lange suchen müssen. In vielen
Luxushotels musste man Russen-Quoten einführen, damit die Dinge nicht völlig außer Kontrolle geraten.
Für den Psychohaushalt der Nation hat der Russe also
durchaus eine stabilisierende Funktion, wir sollten hoffen,
dass er uns noch einige Zeit begleitet. Wenn der Russe als
Gegenkraft ausfällt, an wen sollen wir uns dann halten? Die
Finnen? Die Schweden? Wobei: Ein Volk, bei dem Alkohol
praktisch verboten ist und einen schon schlechter Sex vor
Gericht bringen kann, bei dem stimmt auch etwas nicht.
An dieser Stelle schreiben drei Kolumnisten im Wechsel. Nächste Woche ist
Juli Zeh an der Reihe, danach Jakob Augstein.
DER SPIEGEL 32 / 2014
13
Deutsche Bahn
EU untersucht
Stuttgarter Vertrag
Kanzlerin-Handy
Druck auf die USA –
nur eine Idee
Wegen der Ausspähung eines
Mobiltelefons von Kanzlerin
Angela Merkel erwog die
Bundesregierung drastische
Schritte: Razzien bei Merkels
Mobilfunkprovider und das
Aussetzen von Konsultationen mit der US-Regierung.
Am 23. Oktober 2013 – dem
Tag, als der SPIEGEL erstmals
14
DER SPIEGEL 32 / 2014
Flughafen
Tempelhof
Hauptstadt
Tango auf dem Dach
Berlin soll eine neue Flaniermeile bekommen – auf dem Dach des stillgelegten Flughafens Tempelhof. Im Gespräch für das
1,2 Kilometer lange halbrunde Gebäude
sind eine Tangofläche, eine Theaterbühne,
ein Beachvolleyballfeld sowie „urban gardening“ und gastronomische Angebote.
„Tempelhof ist die nächste große Geschichte, die Berlin erzählen kann“, sagt der Tourismus-Chef der Stadt, Burkhard Kieker,
der sich mit dem Vorhaben schon lange beschäftigt. Bausenator Michael Müller (SPD)
unterstützt das Projekt; auch der SPD-Landesparteichef Jan Stöß setzt sich dafür ein:
über den Angriff auf Merkels
Handy berichtete – erstellten
Fachleute des Bundesinnenministeriums ein internes Papier unter dem Titel „Handlungsvorschläge ,Handy‘“.
Als mögliche „politische Reaktionen gegenüber USA
(und ggf. Großbritannien)“
werden darin aufgelistet:
„Botschafter einbestellen“,
„,Nichtangriffserklärung‘ der
USA einfordern“ und ein
„baldiger“ Abschluss eines
No-Spy-Abkommens. Zudem
skizzierten die Beamten der
Abteilungen Informationstechnik und Öffentliche Sicherheit ein „Druckszenario“,
in dem unter anderem Regierungsgespräche mit Washington „für einige Wochen“
ausgesetzt werden könnten.
Die Frage, ob das umstrittene
„Jeder, der einmal dort oben war, staunt
über den tollen Blick auf das Feld und
über die Stadt. Deshalb ist es gut, wenn das
Dach jetzt öffentlich zugänglich gemacht
wird. Auf dem fast endlos wirkenden Halbrund kann der nächste ganz besondere
Berliner Ort entstehen.“ Schon die Nationalsozialisten wollten das Dach als Tribüne
nutzen; sie bauten 13 großzügig dimensionierte Treppenhäuser, um bis zu 100 000
Menschen nach oben bringen zu können.
Aktuelles Vorbild ist aber die New Yorker
High Line, eine ehemalige Hochbahntrasse,
die zum Park umgebaut wurde. hor
Freihandelsabkommen mit
den USA einstweilen gestoppt werden sollte, beantworteten die Autoren wie
folgt: „Eher nein, aber sichere elektronische Kommunikation zum Thema machen.“
Gleichzeitig regten die Beamten an, die „5000 wichtigsten
Entscheidungsträger des Bundes“ mit Kryptofonen auszustatten. In Deutschland tätige
Telekommunikationsanbieter
sollten verstärkt kontrolliert
werden. Schließlich erörterte
die Regierung eine Strafanzeige und ein Ermittlungsverfahren bei der Bundesanwaltschaft – zu dem es erst viele
Monate später kam. Selbst
eine „Einvernahme des Zeugen Snowden“ schien zu
diesem Zeitpunkt möglich,
wenn auch nur „am derzeitigen Aufenthaltsort“. Das
Innenministerium wollte zu
dem Papier nicht Stellung
nehmen: „Interne Papiere
aus der täglichen Praxis des
Hauses“ würden nicht kommentiert. jös, mba
FOTOS: EUROLUFTBILD.DE / SÜDD. VERLAG (O.); JULIAN STRATENSCHULTE / PICTURE ALLIANCE / DPA (U.)
Die Europäische Union überprüft den sogenannten Großen Verkehrsvertrag zwischen dem Land Baden-Württemberg und der Bahntochter
DB Regio. Die EU-Kommission will untersuchen, ob das
Land der Bahn zu hohe Zuschüsse garantiert hat. Sie hat
dazu ein 2010 eingeleitetes
Beihilfeverfahren wiederaufgenommen. Das geht aus
einem Schreiben der Brüsseler Behörde hervor. Hintergrund ist die Vermutung, dass
das Land zu hohe Summen
für Züge und Dienstleistungen zahlte – womöglich eine
nicht zulässige Subvention
für die Bahn. Nach Berechnungen des Verkehrsclubs
Deutschland soll das Land bis
2016 gut eine Milliarde Euro
zu viel zahlen. Die Bahn
erklärte, sie habe gegenüber
den Behörden wiederholt
Stellung bezogen. Der Vertrag wurde 2003 von Stefan
Mappus (CDU), dem damaligen Staatssekretär im Stuttgarter Verkehrsministerium,
geschlossen. Kritiker vermuten dahinter eine Querfinanzierung des Milliardenprojekts Stuttgart 21. Auch der
Landesrechnungshof überprüft nun die Dotierung des
Vertrags. Landesverkehrsminister Winfried Hermann
(Grüne) hatte jüngst die Vereinbarung mit der Bahn im
Landtag als „den schlechtesten aller Bahnverträge“ bezeichnet und will Zahlungen
in Höhe von rund 140 Millionen Euro einbehalten. one
Deutschland
Armutszuwanderung
Mehr Geld für
Kommunen
Die Bundesregierung will den
Kommunen mehr Geld als geplant für die Betreuung sogenannter Armutszuwanderer
aus Ländern wie Bulgarien
und Rumänien zahlen. Darauf einigte sich eine Runde
der Staatssekretäre der zuständigen Bundesministerien
am vergangenen Donnerstag.
Bei ihren Beratungen über
den Abschlussbericht zur Armutsmigration beschlossen
sie, den Kommunen neben
den bereits zugesagten 200
Millionen Euro zusätzlich 75
Millionen Euro für Sprachkurse (40 Millionen), Unterbringung (25 Millionen) und Impfungen (10 Millionen) zuzugestehen. An einem wichtigen
Punkt gibt es weiterhin Dissens: Die CSU fordert, dass
EU-Bürger, die nach Deutschland ziehen, in den ersten
drei Monaten kein Kindergeld erhalten sollen. Dadurch
solle der Missbrauch des deutschen Sozialsystems verhindert werden. CDU und SPD
lehnen diesen Vorstoß strikt
ab, da eine solche Regelung
alle EU-Bürger treffen würde,
etwa auch Franzosen oder
Niederländer. Ende August
will das Bundeskabinett über
den Bericht beraten. cos, mad
Prozesse
FOTOS: PETER STEFFEN / DPA (O.); CHRISTOPH BANGERT / LAIF (U.)
Ecclestone geht auf
Nummer sicher
Formel-1-Boss Bernie Ecclestone versucht, sich Straffreiheit zu erkaufen. Der
83-Jährige hat der Staatsanwaltschaft am vergangenen
Freitag rund 75 Millionen
Euro angeboten, wenn das
Verfahren wegen Bestechung
gegen ihn eingestellt wird.
Bis zu einem Urteil hätte
vermutlich noch monatelang
weiterverhandelt werden
müssen, von einer anschließend möglichen Revision
ganz abgesehen. Viel Zeit für
den hochbetagten Ecclestone,
auch wenn seine Anwälte die
Chance für einen Freispruch
zuletzt steigen sahen. Die
Staatsanwaltschaft hatte
Ecclestone vorgeworfen, im
Jahr 2005 den damaligen Bayern-LB-Banker Gerhard Gribkowsky mit 44 Millionen
Dollar bestochen zu haben,
um seinen Einfluss in der Formel 1 zu sichern. Die Bayern
LB war damals Hauptaktionär der Rennserie. Insider gingen davon aus, dass die Chancen der Staatsanwaltschaft,
Ecclestone der Bestechung zu
überführen, in den vergangenen Wochen nicht besser
geworden sind. Ihr Hauptzeuge Gribkowsky belastete
den Formel-1-Macher nicht so
deutlich, wie die Ermittler
gehofft hatten. Zudem präsentierten Ecclestones Verteidiger immer wieder Dokumente,
die Gribkowskys Aussagen,
er sei von Ecclestone bestochen worden, unglaubwürdig
erschienen ließen. js
Bundeswehr
Tattoo-Erlass wird
überprüft
Die neue Dienstvorschrift der
Bundeswehr zum äußeren
Erscheinungsbild der Soldaten
soll bereits wenige Monate
nach Einführung überprüft
werden. Generalinspekteur
Volker Wieker hat die Inspekteure der Teilstreitkräfte
gebeten, bis Ende des Jahres
einen ersten Erfahrungsbericht vorzulegen. Laut Dienstvorschrift müssen Soldaten
ihre Tätowierungen bedecken. Soldatinnen dürfen nur
bestimmte Ohrstecker tragen
und die Fingernägel nur
farblos lackieren. Die neue
Dienstvorschrift war erst im
Februar in Kraft getreten.
Von vielen Soldaten wird sie
als unmodern und als Eingriff
in die persönliche Entfaltung
wahrgenommen. Bis Juli gingen beim Wehrbeauftragten
des Bundestags 38 Eingaben
zu dem Thema ein. gor
Der Augenzeuge
„Dich gibt es gar nicht“
Der Mensch aus Köln ist 25 Jahre alt und nennt sich Vanja,
weil der Vorname sowohl für Frauen als auch für Männer
passt. Vanja N. ist intersexuell, das heißt, er/sie lässt sich
genetisch, aufgrund der Geschlechtsorgane beziehungsweise
der Hormone, nicht eindeutig als männlich oder weiblich
einordnen – wie schätzungsweise weitere 80 000 Menschen
in Deutschland. Vanja kämpft für eine Änderung der eigenen
Geburtsurkunde: Statt „weiblich“ soll dort „inter/divers“
stehen. Mit dem Fall befasst sich jetzt ein Gericht.
Ich bin kein Mann, ich bin
keine Frau, ich bin Inter.
Als ich auf die Welt kam,
sah ich aus wie ein Mädchen. Heute trage ich Bart,
auch das Männliche ist
also biologisch in mir angelegt. Ich habe es satt, dass
ich beim Ausfüllen von
Formularen, im Sportverein oder auf öffentlichen
Toiletten immer nur zwischen zwei Geschlechtern
wählen kann. Für mich ist
das jedes Mal so, als würde mir jemand sagen:
„Dich gibt es gar nicht.“
Also habe ich mir am vergangenen Montag Urlaub genommen, bin frühmorgens aufgestanden, in meine niedersächsische Heimatstadt Gehrden gefahren und war dort
um elf Uhr im Büro einer sehr netten Mitarbeiterin des
Standesamts. Ich habe ihr einen Umschlag mit 40 Seiten
in die Hand gedrückt, darin war auch ein Antrag auf Änderung meiner Geburtsurkunde. Die Standesbeamtin hat
ihn überflogen und gesagt, dass sie keine Entscheidung
treffen könne. Sie hat die Unterlagen an das Amtsgericht
Hannover geschickt.
15 Minuten dauerte mein Termin, dann ging es zum Feiern nach Hannover in die Kneipe Schwule Sau. Wir waren etwa 25 Leute, es gab Apfel- und veganen Käsekuchen, wir haben mit Sekt angestoßen. Ich war einfach nur
erleichtert. Ich habe monatelang an diesem Antrag geschrieben, meine Geschichte erzählt, aber auch Gerichtsurteile und Gutachten von Psychologen und Biologen beigelegt. Geholfen haben mir Juristen und die Kampagnengruppe „Dritte Option“. Wenn es nur um mich gegangen
wäre, hätte ich mir die Mühe vermutlich nicht gemacht,
und ich will auch nicht als Aushänge-Exot herhalten.
Aber ich glaube wirklich, dass wir diesmal eine Chance
haben, etwas für Intersexuelle zu bewegen. Einen ähnlichen Antrag gab es vor rund zehn Jahren schon mal in
München, er war erfolglos. In der Zwischenzeit hat sich
aber viel getan, es gibt mehr Informationen, und selbst
der Deutsche Ethikrat hat 2012 eine dritte Geschlechtskategorie gefordert. Also wusste ich: Diesmal kann es
wirklich klappen. Andere Länder sind in dieser Hinsicht
weiter – Australien, Nepal und Pakistan beispielsweise.
Auch ich will raus aus dem Entscheidungszwang der Geschlechter, meine Geburtsurkunde ist der Anfang. Und
falls ich beim Amtsgericht Hannover scheitere, ziehe ich
bis vor das Bundesverfassungsgericht.
Aufgezeichnet von Anna-Lena Roth
DER SPIEGEL 32 / 2014
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DER SPIEGEL 32 / 2014
Deutschland
Du sollst nicht morden
Justiz Der Mord-Paragraf ist ein Relikt aus der Nazizeit. Justizminister Heiko Maas will
das Gesetz jetzt von braunen Einflüssen reinigen und gerechter machen.
Doch das Projekt ist heikel: Diese Reform könnte den Zorn der Bürger entfachen.
FOTOS: T. HOENIG / PLAINPICTURE (L.); WERNER SCHUERING (R.)
W
enn es um Mord und Totschlag
geht, dann regiert im deutschen
Rechtsstaat manchmal der Zufall. Dann kann das Recht sehr ungerecht
sein.
Zwei Fälle, zwei Urteile: Der Rocker
Ralf aus Nienburg schuldet den Kumpanen
seines Motorradklubs 30 000 Euro. Ralf
taucht unter, wochenlang suchen die einstigen Freunde nach ihm. Als sie ihn
schließlich finden, fahren sie ihn an die
A7. An einer Böschung sagt Anführer
Bernd: „Auf die Knie, du Schwein!“ Ralf
kniet. Dann erschießt ihn Bernd mit einer
Pumpgun.
Das Urteil gegen den Täter: Totschlag.
Nach sechseinhalb Jahren ist Bernd wieder
frei. Das Rockerleben kann weitergehen.
Und dann gibt es den Fall von Otto, 75.
Der Rentner aus Hamburg pflegt seit Jahren seine demente Frau Lydia, 88. Sie fleht
ihren Mann an, sie nie ins Heim zu geben.
Also rackert sich Otto ab: kochen, füttern,
wenden, waschen, dazu die Gartenarbeit
und das Einkaufen, jahrelang. Mit jedem
Tag wird Lydia schwächer, täglich wächst
die Last für Otto. Eines Morgens gehen
Kaffeemaschine und Herd gleichzeitig
kaputt, und im Schlafzimmer klagt Lydia
über Schmerzen. Da geht Otto zu seiner
Frau und drückt ihr ein Kissen aufs Gesicht, bis sie still ist. Dann verlässt er die
Wohnung und wirft sich vor einen Bus.
Aber er überlebt. Die Staatsanwaltschaft
klagt ihn wegen heimtückischen Mordes
an. Das Gesetz fordert für Otto lebenslange Haft, frühestens nach 15 Jahren kann
ein Mörder entlassen werden.
Eine eiskalte Exekution soll ein simpler
Totschlag sein, das Töten aus Verzweiflung
und Mitleid ein Mord – ist das gerecht?
„Sehr unbefriedigend“ nennt Heiko
Maas solche Ergebnisse. Deshalb nimmt
sich der Bundesjustizminister den MordParagrafen vor, mehr als 70 Jahre nach
dessen Entstehung. Er will die zentrale
Norm des Strafrechts gerechter machen
und ganz neue Maßstäbe dafür entwickeln,
wie schwer welche Tat wiegt und wie hart
welcher Täter zu bestrafen ist. Eine Expertengruppe ist beauftragt, ihm ein Konzept zu erstellen. Die 16 Juristen, Kriminologen und Psychiater haben bei ihrer
Empfehlung freie Hand. Bis hin zur kompletten Abschaffung des Mord-Paragrafen
ist alles denkbar.
Das Vorhaben, das nicht im Koalitionsvertrag steht, ist nicht nur juristisch hoch
anspruchsvoll. Es ist die politisch wohl heikelste Reform, die ein Justizminister je angepackt hat. Denn wenn das Strafrecht
und das Gerechtigkeitsgefühl der Bürger
aufeinandertreffen, geht es selten harmonisch zu. Die Deutschen haben sich schon
furchtbar über die Frage erregt, ob Frauen
ein ungeborenes Kind ungestraft abtreiben
dürfen oder ob ein Gesetz Muslime und
Juden daran hindern soll, ihre Söhne nach
religiösen Regeln zu beschneiden.
Jetzt stellt Maas eine Vorschrift infrage,
die den elementaren Grundsatz des
menschlichen Zusammenlebens verkörpert: Du sollst nicht morden.
Die Debatte wird die meisten Deutschen
unvorbereitet treffen. Juristenzirkel debattieren seit Jahrzehnten darüber, ob der Paragraf 211 in einem Rechtsstaat noch tragbar ist. Für Laien ist nur klar: Mord muss
bestraft werden, und zwar feste. Sie diskutieren nicht über Tatbestandsmerkmale,
sondern über die Frage, ob die Justiz zu
nachsichtig ist mit Kinder- oder Ehrenmördern. Für viele ist jeder ein Mörder, der
andere umbringt.
Was geschähe, wenn dieses Wort abgeschafft würde?
Der Entführer des kleinen Jakob von
Metzler – nur ein Totschläger? Die Mutter,
die ihr Baby verdursten lässt – keine Mörderin? Der muslimische Vater, der die
Tochter erwürgt, weil sie Minirock trägt
und Alkohol trinkt – nach acht Jahren wieder auf freiem Fuß?
„Das wird eine Diskussion wie bei der
Beschneidung, aber hoch drei“, seufzt einer von Maas’ Beamten. Das Ministerium
hatte dem SPD-Mann von seinen „MordPlänen“ abgeraten. Eine Reform des
schwersten Deliktes im Strafrecht, auf das
die Höchststrafe von lebenslanger Haft
steht, werden sich die Koalitionspartner
CDU und CSU nur gegen zähen Widerstand abringen lassen. Denn eine entschiedene Verbrechensbekämpfung samt
zünftiger Strafen für die Täter zählt zu
den letzten Resten ihres konservativen
Profils.
Bayerns Justizminister Winfried Bausback warnte bereits, niemand dürfe Lebenslang „durch die Hintertür“ abschaffen.
„Unsere Rechtsordnung muss den absoluten Geltungsanspruch des Tötungstabus
klar ausdrücken.“
Aber Maas hat auch ein moralisches
Argument für seine Reform, das schwerwiegt: Der Mord-Paragraf ist das Werk der
Sozialdemokrat Maas: Was geschähe, wenn das Wort abgeschafft würde?
DER SPIEGEL 32 / 2014
17
Nationalsozialisten. Der spätere Präsident
des Volksgerichtshofs, Roland Freisler, hatte die Vorschrift maßgeblich zu verantworten; er wollte das Mordrecht dem „gesunden Empfinden des Volkes“ anpassen. Sein
Gesetz schilderte den Deutschen möglichst
anschaulich die „Mördergestalten“, die
sich unter ihnen tummelten.
Mörder ist nach Freislers Umschreibung,
wer einen Menschen heimtückisch oder
grausam tötet, aus Habgier, zur Befriedigung seines Geschlechtstriebs oder aus
anderen „niedrigen Beweggründen“. Kaum
war die Vorschrift am 8. September 1941
im Reichsgesetzblatt erschienen, jubelte die
Fachwelt. „Der bislang farblose Paragraf ist
einer lebensvollen, anschaulichen Tatbestandsumschreibung gewichen“, schwärmte
ein Schüler Freislers. Für jeden Volksgenossen sei nun klar: „Mörder wird man
nicht, Mörder ist man.“
Die Lehre vom Tätertypen, vom geborenen Volksschädling, steht bis heute im
Strafgesetzbuch. Abgesehen von der Abschaffung der Todesstrafe blieb Paragraf
211 seit dem Krieg unverändert.
Ginge es Heiko Maas nur darum, das
Recht von braunen Resten zu säubern, hätte er auch weniger brisante Themen anpacken können. Es gibt Dutzende deutsche
Gesetze mit Nazivergangenheit. Das Heilpraktikergesetz gehört dazu oder die Vorschriften über die zulässige Höhe von
Kleingartenhecken. Aber die Fälle von
Rocker Bernd und Rentner Otto zeigen,
dass Freislers Erbe nicht nur ideologisch
vergiftet ist. Der Blutrichter hat eine Vorschrift abgeliefert, die im Praxistest regelmäßig versagt.
Zwei Tote, zwei Urteile: Der Rocker
passte in keine Schablone des Mord-Paragrafen. Weder ging er heimtückisch vor
noch grausam oder habgierig. Die Richter
werteten die Tötung als Exzess. Ursprünglich sei nur geplant gewesen, den Mann
zu verprügeln.
Dagegen verübte der Rentner nahezu
lehrbuchmäßig einen Überraschungsangriff gegen ein arg- und wehrloses Opfer –
ein klarer Fall von Heimtücke. Hätte Lydia
eine Lebensversicherung abgeschlossen,
dann stünde auch noch Mord aus Habgier
im Raum.
Zwei Tötungen, zwei Leidensgeschichten: Der Rocker verbrachte seine letzten
Minuten an der Autobahn in Todesangst.
Die Tat hatte „Exekutionscharakter“,
schreibt das Landgericht Kassel in seinem
Urteil. „Das Opfer musste seinem Tod quasi ins Auge sehen.“ Der Rentner tötete aus
Verzweiflung, und vielleicht war die Tat
für seine geliebte Frau auch eine Erlösung.
Doch das spielt nach dem Gesetz keine
Rolle. Wer vorsätzlich tötet und dabei ein
Merkmal des Paragrafen 211 erfüllt, ist ein
Mörder. Punkt. Er muss lebenslang bestraft werden, seine Tat verjährt niemals.
18
DER SPIEGEL 32 / 2014
Die soziale Situation, die individuelle
Schuld zählen nicht. „Die Justiz bestraft
nicht die schlimmste Tötung oder den brutalsten Täter am härtesten“, sagt Raban
Funk, Vorstand des Vereins Deutscher
Strafverteidiger. Als Mörder gelten ausgerechnet die Schwachen, die sich anschleichen müssen.
Die Vorschrift ist ungerecht. Aber die
Richter wollen es nicht sein. In ihren Gerichtssälen biegen sie die Fälle und das
Recht so lange, bis beides irgendwie passt.
Die Schwurgerichte und der Bundesgerichtshof (BGH) haben Umwege gefunden,
um nicht alle Täter pauschal mit Lebenslang zu bestrafen, sondern jeden nach seiner persönlichen Verantwortung. Sie lassen
sich von Gutachtern attestieren, dass der
Täter im Affekt gehandelt hat, vielleicht
eine Aufmerksamkeitsstörung hatte und
nicht wusste, was er tat.
Nicht jede Tötung, die dem Opfer besondere Schmerzen zufügt, ist automatisch
ein grausamer Mord. Die Richter fordern,
dass der Täter aus einer „gefühllosen, unbarmherzigen Gesinnung“ heraus handelte. Und es gilt längst nicht jeder Überraschungsangriff auf Ahnungslose als heimtückischer Mord. Die Staatsanwälte müssen
beweisen, dass der Täter dem Opfer zutiefst „feindselig“ gesinnt war.
Die Kreativität der Gerichte schützt geprügelte Ehefrauen, die ihren Haustyrannen töten, indem sie ihm ein vergiftetes
Abendessen servieren. Sie schützte auch
Rentner Otto. Das Gericht gab ihm drei
Jahre Haft für Totschlag in einem minder
schweren Fall. Das Urteil hat wenig mit
dem Gesetz zu tun, aber viel mit Gerech-
Mord und Totschlag
Tatbestandsmerkmale nach dem
Strafgesetzbuch
Mord § 211
Vorsätzliche Tötung mit Mordmerkmalen:
Niedrige Beweggründe
Mordlust, Befriedigung des Geschlechtstriebs, Habgier oder sonstige niedrige
Beweggründe
Besonders gefährliche und
verwerfliche Begehungsweise
Heimtückisch, grausam, mit gemeingefährlichen Mitteln
Verwerflichkeit des Ziels
Verdeckung oder Ermöglichung einer Straftat
Strafmaß: lebenslange Freiheitsstrafe
Totschlag §§ 212, 213
Vorsätzliche Tötung ohne Mordmerkmale
Strafmaß: mindestens fünf Jahre;
im besonders schweren Fall lebenslange
Freiheitsstrafe; im minder schweren Fall
ein bis zehn Jahre
tigkeit. Aber für gerechte Urteile müssen
Richter eben hart an die Grenzen ihrer
Befugnisse gehen. Das kann für den Angeklagten gut gehen, muss es aber nicht.
„Der Gesetzgeber hat die Justiz mit der
Verantwortung für den Mord-Paragrafen
ein Stück weit allein gelassen“, sagt Stefan
Caspari, Mitglied der Strafrechtskommission des Deutschen Richterbundes.
Das gilt vor allem für das Merkmal der
„niedrigen Beweggründe“, das der nationalsozialistischen Ideologie in besonderer
Weise entspricht. Mit ihm konnte das Dritte Reich Täter nach ihren Motiven filtern:
Wer „Feinde der Volksgemeinschaft“ eliminierte, sollte vom Vorwurf des Mordes
verschont bleiben.
Bis heute ist dieses Mordmerkmal einer
der seltenen Fälle im Strafrecht, in denen
die Gesinnung des Täters entscheidet, für
welche Tat er verurteilt wird. Normalerweise zählen dafür objektive Kriterien:
Der Dieb ist ein Räuber, wenn er Gewalt
anwendet. Die Körperverletzung ist gefährlich, wenn der Täter eine Waffe
schwingt. Motive interessieren die Richter
erst, wenn sie die Höhe der Strafe festlegen. „Für vorsätzliche Tötungen gibt es
auch selten gute Gründe“, spottet der Vorsitzende Richter am Bundesgerichtshof
Thomas Fischer.
Die Gerichte müssen trotzdem täglich
schlechte gegen besonders schlechte Gründe abwägen. Auf Ausländerhass oder Rassismus kann man sich leicht einigen. Aber
was ist mit krankhaftem Neid unter konkurrierenden Kollegen? Oder der Rache
für die Tötung eines geliebten Menschen?
Zu diesen Grenzfällen, auf die der MordParagraf keine Antwort bietet, wuchert
ein Dickicht von Urteilen, das auch Juristen kaum durchblicken.
Eine Tötung aus Rache muss kein Mord
sein, urteilte der BGH im Fall eines jungen
Kurden. Der Mann hatte ein verfeindetes
Clan-Oberhaupt vor dessen Haustür niedergeschossen, weil er sicher war, dass dieser Mann seinen Vater getötet hatte. Die
Rachegefühle eines trauernden Sohnes seien menschlich verständlich, urteilten die
Richter. Nicht aber die Wut eines Neffen:
Der Mittäter wurde wegen Mordes verurteilt.
Ist das gerecht? Die Justiz versucht, ein
System zu schaffen. Doch in der Summe
erscheinen ihre Urteile oft willkürlich.
Wie die Entscheidungen zum Mord aus
Eifersucht. Wer aus Liebe tötet, gilt als
Mörder, sobald seine Gefühle „krass eigensüchtig“ erscheinen. Aber er kann mit
Totschlag davonkommen, wenn die Exfreundin ihn bei der Trennung gedemütigt
hat. Oder wenn er fürchtet, wegen der
Scheidung sein Aufenthaltsrecht zu verlieren.
Alle diese niedrigen oder hehren Motive
spielen sich im Kopf der Täter ab. Die Jus-
Deutschland
FOTO: PICTURE-ALLIANCE / DPA
Volksgerichtshofpräsident Freisler 1944: „Mörder wird man nicht, Mörder ist man“
tiz ist darauf angewiesen, dass Angeklagte
aussagen. Oder darauf, dass psychiatrische
Gutachter die Seele des Täters erklären.
So kann ein unvorsichtiger Satz im Verhör
oder ein kluges Schweigen zur rechten Zeit
schicksalhaft wirken.
Die Expertengruppe von Heiko Maas
hat sich inzwischen zweimal getroffen.
Um den Tisch des Konferenzsaals in der
fünften Etage des Ministeriums sind die
Besten ihrer Zunft versammelt, ausgewiesene Kenner der Strafjustiz und der
menschlichen Psyche. Die pensionierte
BGH-Senatsvorsitzende Ruth Rissing-van
Saan, die den Kannibalen von Rotenburg
als Mörder hinter Gitter brachte, ist dabei.
Neben ihr sitzt der forensische Psychiater
Hans-Ludwig Kröber, der gerade an der
FU Berlin in einem Langzeitprojekt verurteilte Mörder auf Gemeinsamkeiten untersucht. Die Experten haben Themen
verteilt und halten Referate wie einst im
Studium. Jedes Mordmerkmal wird durchgekaut.
Dabei kommen sie immer wieder auf
eine Frage zurück: Kann man Tötungen
überhaupt in schlimm und noch schlimmer
trennen? Ist nicht jede solche Gewalttat
einfach furchtbar?
So denkt der Strafrechtsexperte Rüdiger
Deckers, ein erfahrener Verteidiger. Er hat
für den Deutschen Anwaltverein eines der
radikalsten Reformkonzepte für den MordParagrafen mitentwickelt. „Es ist eine Illusion zu glauben, dass sich Tötungen qualitativ steigern lassen“, sagt Deckers. „Am
Ende haben alle Fälle nur eines gemeinsam: Ein Mensch wurde umgebracht.
Schlimmer geht es doch nicht.“
Deshalb gibt es in Deckers’ Reformkonzept nur „Tötungen“, keinen Mord oder
Totschlag. Die Taten unterscheiden sich
lediglich in der Höhe der Strafzumessungen. Diese sollen die Richter frei bestimmen, auf einer Skala von fünf Jahren bis
Lebenslang.
Die Lösung klingt klar und einfach. Die
meisten Deutschen haben den Unterschied
zwischen Mord und Totschlag ohnehin nie
nachvollzogen. In ihrer Vorstellung hat ein
Mörder seine Tat eiskalt geplant, während
der Totschläger ein spontaner Angreifer
ist. Genau so stand es auch früher im
Den Mord-Paragraf abzuschaffen ist
Verteidiger Pauka „unheimlich“, wie er
sagt: „Wir sind auf dem bestem Wege,
Richtern grenzenlose Macht zu geben.“ Er
ist überzeugt: Viele seiner Klienten wären
unter einem Paragrafen, der nur noch danach schaut, ob jemand gewaltsam ums
Leben gekommen ist, nicht gerechter, sondern härter bestraft worden.
Paukas letzter Fall war der „Beton-Killer“: Gerd Paulus, 52, arbeitslos, der seine
Frau im Streit erwürgte. Den Kindern sagte Paulus, die Mama sei weggelaufen. Tatsächlich lag ihre Leiche im Keller, einbetoniert hinter einem Weinregal. Sohn und
Tochter glaubten dem Vater; jahrelang
suchten sie ihre Mutter über die Polizei
und im Fernsehen. Der Täter suchte gezwungenermaßen mit. Auf RTL weinte er
um seine „verschwundene“ Frau. Nach
fünf Jahren stand dann die Polizei vor seiner Tür, Paulus gestand sofort.
Im März verurteilte ihn das Landgericht
Bonn zu acht Jahren Haft – als Totschläger.
Ein mildes Urteil. Die Richter hatten sich
viel Arbeit gemacht: Sie befragten die Kinder des Angeklagten, ließen sich von Medizinern die Verletzungen der Toten erklären und von Psychiatern den Charakter
des Witwers. Am Ende glaubten sie Paulus, dass er kein schlimmer Kerl sei. Dass
seine Frau Sigrid ihn oft beschimpft und
gedemütigt habe, auch vor den Kindern.
Dass ihm eines Tages einfach die Sicherung durchbrannte. Und dass er seine Tat
nur vertuschte, weil die Kinder nicht auf
einen Schlag beide Eltern verlieren sollten.
Von da war es nur ein kleiner Schritt zu
einem milden Urteil.
Nach dem Konzept des Deutschen Anwaltvereins hätten die Richter komplett
anders denken müssen. Sie hätten Paulus
erst für schuldig erklären und dann, nach
eigenem Ermessen, die Strafe wählen müssen. „Dann könnte niemand verhindern,
dass der Zeitgeist ein Urteil prägt oder die
Stimmung der Medien und der Öffentlichkeit“, warnt Benedikt Pauka.
Für Kriminologen hat die härteste Strafe im deutschen
Recht noch immer einen hohen symbolischen Wert.
Reichsstrafgesetzbuch – bis 1941. So kann
es gut sein, dass die Experten Maas am
Ende empfehlen, den gordischen Knoten
zu durchtrennen: Nie mehr Mord.
„Eine hochgefährliche Idee.“ Benedikt
Pauka sitzt in seiner Kanzlei, einer Gründerzeitvilla unweit des Kölner Doms. Im
Konferenzraum mit Erker und Blick auf
den Rhein empfängt er sonst Unternehmer,
die Ärger mit der Steuerfahndung oder den
Kartellbehörden haben. Aber jedes Jahr
übernimmt der 43-Jährige auch mindestens
einen Mordfall, obwohl die Mandate wenig
einbringen, aber die Fälle seien „juristisch
und menschlich faszinierend“.
Dem „Beton-Killer“ Paulus wünschten
die Leute in Internetforen, er möge selbst
eingemauert werden, am besten lebendig.
Die Deutschen können gnadenlos sein,
wenn es um Verbrechen und Strafe geht.
Noch 1998 sagte in einer Umfrage jeder
Zweite, dass Kindermörder die Todesstrafe
verdienen.
Umgekehrt können die Leute eine irrationale Sympathie für Mörder entfalten.
Dem 15-jährigen Tobias aus Niedersachsen, der seine Großeltern auf brutalste Art
und Weise umgebracht hatte, schlug eine
Welle der Sympathie entgegen, als sich herausstellte, dass er seine kleine Schwester
DER SPIEGEL 32 / 2014
19
rächen wollte. Der Großvater hatte sie
missbraucht. Die Solidarität der Bürger
mit dem Mörder ging so weit, dass die
Richter bei der Urteilsverkündung warnten, man möge Tobias nicht noch loben.
„Das hätte ich auch getan“, hatte die Lokalzeitung Nachbarn zitiert. „Auf das
Bauchgefühl der Bürger zu hören ist im
Rechtsstaat selten eine gute Idee“, sagt Tobias’ Verteidiger Raban Funk. Der neue
Mord-Paragraf müsse klare Wertungen
enthalten. „Schließlich soll er in 50 Jahren
auch noch gerechte Urteile ermöglichen.“
Vermutlich werden die Experten am
Ende empfehlen, die Mordmerkmale nicht
abzuschaffen, aber sie präziser zu fassen.
Die niedrigen Beweggründe würden ganz
gestrichen, so wie es auch der BGHRichter Fischer fordert (siehe SPIEGEL-Gespräch). Das Gesetz muss ausdrücken, was
eine Gesellschaft als besonders verwerflich
empfindet. Verzichtet es auf diese Festlegung, entfernt es sich vom allgemeinen
Rechtsempfinden.
Eine andere Frage ist, ob mit der Reform
das automatische Verdikt Lebenslang fallen soll. Für Kriminologen hat die härteste
Strafe im deutschen Recht noch immer
einen hohen symbolischen Wert. „Sie ist
Ausdruck unserer Werte und stärkt das
Sicherheitsgefühl der Bürger“, sagt Kai
Bussmann, Kriminologe an der Uni HalleWittenberg. Für notwendig hält die Wissenschaft es aber längst nicht mehr, dass
ein Mörder im Durchschnitt 18 Jahre hinter
Gittern verbringt. Bereits nach zehn Jahren im Gefängnis, so wusste es das Bundesverfassungsgericht bereits 1977, empfinden die Täter keine Reue, die Haft hat
sie abgestumpft. Ihre Missetat ist so lange
her, ihre Opfer sind so lange tot, dass beides für sie bedeutungslos geworden ist.
Die Deutschen morden immer weniger.
2013 zählte die Polizei 647 Fälle, davon 406
Versuche. Wenn die Bürger töten, dann oft
fahrlässig oder im Affekt. Die Täter, die
vorsätzlich handeln, sind selten psychopathische Killer, wie man sie aus dem Kino
kennt. Viele sind zuvor unbescholtene
Bürger, die eine persönliche Rechnung
zu begleichen haben. Gemordet wird
unter Freunden, Verwandten, Kollegen.
„Dass ein Fremder Sie einfach umbringt“,
sagt Kriminologe Bussmann, „gehört in
Deutschland nicht zum Lebensrisiko.“
Heiko Maas findet den Zeitpunkt seiner
Reform ideal. Wenn wenig gemordet wird,
haben die Deutschen vielleicht weniger
Angst vor einer Reform des Mord-Gesetzes.
Eine Vorgabe hat er seinen Experten allerdings gemacht, die einzige: Wenn sie
an das Lebenslang gehen, sollen sie die
Gemütslage der Bürger berücksichtigen.
Ganz abschaffen geht nicht, das weiß
Maas, und so hat er es den Juristen für
ihre Beratungen auch mit auf den Weg gegeben.
Melanie Amann
20
DER SPIEGEL 32 / 2014
„Es gibt kein
Strafrecht der Moral“
SPIEGEL-Gespräch Thomas Fischer, 61, Vorsitzender
Richter am Bundesgerichtshof, über seinen
Widerwillen gegen den Mord-Paragrafen, das
Strafbedürfnis der Bürger und den Übereifer
der Justiz im Fall Edathy
FOTOS: CARSTEN KOALL / DER SPIEGEL (L.); THOMAS GRABKA (R.)
Deutschland
SPIEGEL: Herr Fischer, das Bundesjustizministerium plant die Reform des Mord-Paragrafen. Sie fordern im Prinzip sogar dessen
Abschaffung. Was stört Sie so daran?
Fischer: Man müsste eher fragen, was einen
daran nicht stört. Der Mord-Paragaf sieht
eine absolute Strafe vor, nämlich die lebenslange Freiheitsstrafe. Wenn heute eines der
sogenannten Mordmerkmale festgestellt ist,
ist keine Abstufung der Strafe mehr möglich.
Das ist kriminologisch unsinnig, denn im
Leben gibt es eine Vielzahl von Abstufungen und Sonderfällen, denen man mit einer
starren Strafe nicht gerecht werden kann.
SPIEGEL: Was den Juristen vielleicht stört,
erscheint dem Laien eher sinnvoll: dass
die Gesinnung des Täters bei der Bewertung der Tat eine Rolle spielt und dass es
für Mord Lebenslang gibt.
Fischer: Die Weisheit des Laien ist eine
schwankende Sache. Fraglich ist zum
Beispiel, ob der Begriff der sogenannten
niedrigen Beweggründe, der aus einem
Totschlag einen Mord macht, überhaupt
bestimmt genug ist. Tatsächlich steht dieses Mordmerkmal von jeher fast beliebigen
Wertungen offen.
SPIEGEL: Kommt darin nicht zu Recht der
Abscheu der Gesellschaft zum Ausdruck
und damit eine besondere Straferwartung?
Fischer: Selbstverständlich kann eine heimtückische oder grausame oder für Dritte
besonders gefährliche Tötung eines anderen Menschen härter bestraft werden als
eine Tat, die gerade eben den Tatbestand
des Totschlags erfüllt. Aber von jeder Regel gibt es Ausnahmen. Das Problem des
heutigen Mord-Paragrafen ist, dass er Differenzierungen nicht zulässt und keine
Möglichkeit bietet, Strafmilderungs- und
Strafverschärfungsgründe abzuwägen.
SPIEGEL: Was haben Sie dagegen, dass besonders niederträchtige Motive automatisch zu einer höheren Strafe führen?
Fischer: Bei der Strafzumessung rechnen
wir persönliche Schuld in Zeitquanten um
und sagen dem Straftäter: Für deine ganz
konkrete Schuld sperren wir dich 2, 7 oder
15 Jahre lang in eine kleine Zelle. Der
Mord-Paragraf fügt dieser in sich schlüssigen Korrespondenz von Schuld und Strafe
einen Punkt hinzu, an dem jede Relation
verlassen wird: Wer die Grenze zu einem
Mordmerkmal nur einen Millimeter überschreitet, wird in den Bereich absoluter
Schuld katapultiert, auch wenn viele Milderungsgründe vorliegen. Das führt in der
Praxis zu vielen ungerechten Ergebnissen.
SPIEGEL: Geben Sie uns ein Beispiel.
Fischer: Nehmen Sie die Tötung aus Eifersucht. Bei der Vernehmung sagen viele
Verdächtige: „Ich war so wütend.“ Damit
haben sie in dem Versuch, sich Verständnis
zu verschaffen, womöglich schon ein Mordmerkmal, nämlich einen sogenannten niedrigen Beweggrund, eingeräumt, und nichts
kann sie dann aus dieser Nummer wieder
herausholen. Es macht aber die Qualität ligem Unverständnis. Zu sagen, Eifersucht
eines Rechtsstaats aus, die Menschen nicht sei stets ganz besonders verwerflich, halte
hereinzulegen und anzuerkennen, dass kei- ich schon empirisch für eher fernliegend.
ne Tat wie die andere ist.
Im Übrigen ist auch der einfache Totschlag
keine Tat aus ehrenwerten Motiven. Die
SPIEGEL: Was wäre Ihr Vorschlag?
Fischer: Wichtig wäre, die lebenslange Bewertung, ob das Gericht als Motiv
Freiheitsstrafe durch einen Strafrahmen zu „Zorn“ sieht oder „Hass“, kann den Unersetzen. Dann könnten wir die Strafzu- terschied zwischen fünf Jahren und Lemessungsgründe gegeneinander abwägen, benslang ausmachen.
etwa so: Diese Tat war zwar heimtü- SPIEGEL: Aber den Mord als Begriff gäbe es
ckisch – aber menschlich verständlich; jene dann nicht mehr, nur noch einen mehr
Tat war grausam – aber das Opfer hatte oder weniger schlimmen Totschlag?
den Täter zuvor genauso grausam behan- Fischer: Die schwerste Form der Tötung
delt. Wir könnten weitere Umstände für mag weiter Mord genannt werden oder beund gegen den Beschuldigten berücksich- sonders schwere Tötung oder wie auch imtigen. All dies ist heute im Strafrecht selbst- mer – solange die Formulierung an die Tat
verständlich, nur nicht bei der Tötung.
anknüpft und nicht, wie jetzt, an einen soSPIEGEL: Das bisherige Lebenslang würde genannten Tätertyp, wie es dem NS-Strafrecht vorschwebte.
damit entfallen?
Fischer: Einschließen bis zum Tod gibt es SPIEGEL: Die großen Strafrechtsreformen
ja schon jetzt in der Praxis nur in Ausnah- von 1969 haben zunächst zu einer Halbiemefällen. Zurzeit wird die lebenslange rung von Gefängnisstrafen geführt. Das ist
Freiheitsstrafe im Durchschnitt etwa 18 nicht überall auf Zustimmung gestoßen.
Jahre vollstreckt; wenn die besondere Fischer: Zuvor wurden teilweise existenzSchwere der Schuld bejaht wird, im Durch- vernichtende Freiheitsstrafen wegen bloschnitt 24 Jahre. Länger eingesperrt bleibt ßer Bagatelldelikte verhängt. Dahin würde
ein Verurteilter nur aus Gefährlichkeits- heute niemand zurückwollen. Andererseits haben wir Bereiche, in denen die
Strafhöhen in den vergangenen Jahren
eklatant gestiegen sind: bei den Sexualdelikten, auch bei der Körperverletzung.
Rückfalltäter des sexuellen Missbrauchs
erhielten vor 25 Jahren Bewährungsstrafen;
heute würden dieselben Taten mit fünf
Jahren Freiheitsstrafe geahndet. Im Übrigen ist die Annahme, das Strafrecht müsse
nur möglichst hart sein, um Wirkung zu
entfalten, ausgesprochen falsch.
SPIEGEL: Die Menschen erwarten nun mal
Vergeltung und Satisfaktion.
Gefängnis in Deutschland
Fischer: Beides sind Funktionen des Straf„Manches ist empörend“
rechts, die aber nicht im Vordergrund seigründen. Das hat aber nichts mehr mit ner Zwecke stehen. Stattdessen geht es daSchuldausgleich zu tun, sondern ist eine rum, die Gesellschaft vor Wiederholungen
Art von Sicherungsverwahrung, und die zu schützen; und darum, klarzustellen,
wäre auch weiterhin möglich.
dass gesetzliche Verbote nicht unverbindSPIEGEL: Gäbe es nach einer solchen Reform liche Vorschläge sind, sondern Essentialia
des Zusammenlebens, und dass sie durchnicht dennoch eher mildere Strafen?
Fischer: Manchmal würde weniger heraus- gesetzt werden.
kommen, manchmal mehr. Man könnte SPIEGEL: Würden Sie einräumen, dass sich
sich beispielsweise eine Regelung vorstel- das Rechtsempfinden der Bevölkerung in
len, nach der die Tötung eines Menschen Strafurteilen nicht immer wiederfindet?
mit Freiheitsstrafen von 5 bis 15 Jahren be- Fischer: Das kommt gelegentlich vor. Allerstraft wird; mit 10 bis 25 Jahren, wenn der dings ist das sogenannte RechtsbewusstTäter habgierig, grausam oder aus men- sein der Bevölkerung ein schillerndes Weschenverachtenden Motiven gehandelt hat; sen. Für sich selbst und seine Lieben möchmit 5 bis 10 Jahren, wenn er provoziert te jeder Bürger eine möglichst umfassende
wurde oder Ähnliches. So könnte die Stra- Beurteilung gerade seines Einzelfalls. Geht
fe je nach den Tatumständen viel gerechter es um Dritte, will er Härte und Gnadenbestimmt werden als jetzt.
losigkeit, in der Hoffnung, dass dies seine
SPIEGEL: Wäre für Sie dann die Eifersucht eigene Sicherheit steigert. Das Strafrecht
muss die Mitte finden.
ein menschenverachtendes Motiv?
Fischer: Etwa 50 Prozent der Tötungsdelik- SPIEGEL: Bei Immanuel Kant heißt es, es sei
te, die ich als Richter bearbeitet habe, hat- Aufgabe des Strafrechts, den Verbrecher
ten mit Eifersucht zu tun. Die Palette mei- mit einem Schmerz zu belegen.
ner eigenen Emotionen ging dabei von Fischer: Herr Professor Kant zählt bei den
hohem Mitgefühl für den Täter bis zu völ- wenigsten zur Bettlektüre, auch nicht bei
DER SPIEGEL 32 / 2014
21
unseren Rechtspolitikern. Kaum taucht
irgendwo eine Bande von Räubern auf,
fordert ein Politiker, nun müsse die Strafe
für Raub erhöht werden. Natürlich weiß
er, dass die Höchststrafe schon jetzt bei
15 Jahren liegt. Ist es vorstellbar, dass
Straftäter in spe sich zusammensetzen
und sagen: „Wenn’s maximal 15 Jahre
gibt, machen wir’s, bei 16 Jahren lassen
wir’s“? Das ist absurd, und solche Forderungen sind deshalb populistisches Geschwätz. Immanuel Kant ist dafür nicht
verantwortlich.
SPIEGEL: Inwieweit muss Rechtsprechung
oder auch Gesetzgebung auf veränderte
Moralvorstellungen reagieren? Der berühmte Stern-Titel „Ich habe abgetrieben“
war 1971 das Bekenntnis zu einer Straftat.
Als darauf keine Anklagen folgten, war
der alte Paragraf 218 politisch tot.
Fischer: Es gibt kein Strafrecht ohne Moral.
Aber es gibt natürlich auch kein Strafrecht
der Moral. Wenn man Moral eins zu eins
in Recht übersetzt, kommt eine totalitäre
Ordnung heraus. Es ist die Aufgabe des
Rechtsstaats, aus der Moral einen rationalen Kernbestand von Regeln zu filtern, der
eine handlungsleitende und gesellschaftsstabilisierende Funktion erfüllen kann.
SPIEGEL: Die gesellschaftlichen Einstellungen zur Sexualmoral haben sich deutlich
liberalisiert, außer wenn es um Kinder
geht. Da haben die Vorbehalte erkennbar
zugenommen.
Fischer: Ich glaube, dass bei dem Thema
Kinder und Sexualität ein großer Anteil
von Irrationalität im Spiel ist. Wir erleben
heute eine hysterisierte Überzeichnung,
der eine empörende Gleichgültigkeit gegenüber zahllosen anderen Missständen
entspricht. Wo es um sexuell motivierten
Missbrauch erwachsener Macht gegenüber
Kindern geht, ist die Gesellschaft in den
vergangenen 15 Jahren regelrecht in einen
Strafrausch ausgeflippt. Gleichzeitig bleibt
sie fast unbeteiligt gegenüber Traumatisierungen durch nichtsexuelle Gewalt.
SPIEGEL: Sie haben sich in einem Artikel in
der Zeit in die Diskussion um die Ermittlungen gegen den ehemaligen Bundestagsabgeordneten Sebastian Edathy eingeschaltet, dem Erwerb und Besitz von Kinderpornografie vorgeworfen wird. Sie hielten
der Staatsanwaltschaft vor, vorschnell an
die Öffentlichkeit gegangen zu sein.
Fischer: Der Fall Edathy war zum Zeitpunkt
meines Beitrags kein Fall im strafrechtlichen Sinn. Es wurde nur behauptet, es
sei ein Fall. Das war mein Grund, dazu zu
schreiben.
SPIEGEL: „Bitte entschuldigen Sie, Herr Edathy“ hieß die Überschrift Ihres Artikels.
War das nicht etwas verfrüht? Immerhin
ist jetzt Anklage erhoben worden.
* Dietmar Hipp und Jan Fleischhauer im SPIEGEL-Hauptstadtbüro.
22
DER SPIEGEL 32 / 2014
Abgeordneter Edathy 2013
„Großer Anteil von Irrationalität“
Fischer: Eine Anklage ändert nichts daran,
dass zuvor Regeln verletzt wurden. Edathy
war ein halbwegs prominenter Politiker,
und schon die Äußerung eines solchen Verdachts ist heute fast zwangsläufig mit einer
sozialen Vernichtung verbunden. Wenn
private Medien das inszenieren, ist das verachtenswert, aber schwer zu verhindern.
Behörden dürfen dem aber keinesfalls eine
Bühne bereiten. Für Edathy ist es fast
gleichgültig, ob sich der Verdacht bestätigen wird oder nicht. Das hat in einem
Rechtsstaat kein Beschuldigter verdient.
SPIEGEL: Videos von halb nackten Kindern
fallen bisher nicht ohne Weiteres unter
Kinderpornografie. Aber dass jemand, der
solche Dinge bestellt, auch richtig böses
Zeug zu Hause hat, ist doch nicht so fernliegend?
Fischer: Eine solche Betrachtung mag für
den Stammtisch ausreichend sein, als handlungsleitende Maxime einer Staatsanwaltschaft ist sie es gewiss nicht. Der Staat darf
nicht legales Verhalten zum Anlass nehmen, um in grundrechtlich geschützte Bereiche seiner Bürger einzudringen und dort
nachzuforschen, ob es vielleicht irgendeine
Straftat gegeben hat, die man verfolgen
könnte. Wer sich legal verhält, darf nicht
zum Gegenstand von Verdächtigungen
und sozialer Vernichtung gemacht werden.
Kein Bürger unseres Rechtsstaats hat das
hinzunehmen; niemand würde das für sich
selbst akzeptieren.
SPIEGEL: Anlässlich des Falls Edathy wird
nun darüber diskutiert, den Besitz und Erwerb von Aufnahmen auch dann unter
Strafe zu stellen, wenn diese keine expliziten sexuellen Handlungen zeigen, son-
Fischer, SPIEGEL-Redakteure*
„Die Weisheit des Laien ist schwankend“
dern etwa nur ein nacktes Kind in der Badewanne. Halten Sie das für legitim?
Fischer: Abgesehen von der Albernheit, die
in der Exekution eines solchen Vorhabens
steckt: Das Sexualleben seiner Bürger geht
den Staat nichts an, solange nicht ernsthafte Verletzungen von Rechtsgütern vorliegen oder drohen. Daher ist die Pornografie straffrei. Mit allerlei Bedenken
strafbar sind noch Kinderpornografie, Tierpornografie und Gewaltpornografie. Die
Forderung nach Ausdehnung des Pornografieverbots auf nichtpornografisches
Material halte ich für völlig überzogen.
SPIEGEL: Das Argument für die Bestrafung
von Kinderpornografie ist, dass sie einen
Markt erzeugt, für den am Ende tatsächlich Kinder missbraucht werden.
Fischer: Solange eine Kette von Gefährdung
nachvollziehbar ist, mögen Verbote legitim
sein. Dass aber auch ein rein virtuelles,
am Computer generiertes kinderpornografisches Bild zur Strafbarkeit des Nutzers
führen soll, ist fragwürdig, weil hier in der
Realität gerade kein Kind missbraucht wurde. Wir müssen den von Pädophilie betroffenen Menschen doch Handlungsalternativen anbieten, die potenzielle Opfer
schützen und zugleich den Betroffenen ein
Leben ohne Kriminalisierung ermöglichen.
Pädophilie ist ein Schicksal; es ist kein
Plan, Straftäter zu werden.
SPIEGEL: Ähnlich heikel sehen manche Juristen die Bestrafung des Inzests, sofern
dieser freiwillig und unter Erwachsenen
erfolgt. Wie sehen Sie das?
Fischer: Den Inzest zwischen erwachsenen,
frei verantwortlichen Personen halte ich
für nicht strafwürdig. Es handelt sich um
freiwillige, einverständliche sexuelle Betätigung zwischen verständigen Menschen.
Hier hat sich der Staat herauszuhalten. Alles, was da an Legitimation von Strafverfolgung ins Feld geführt wird, hält rationaler Betrachtung nicht stand. Manches ist
sogar empörend, etwa das Argument, dass
die Gesundheit potenziell entstehender
Kinder zu schützen sei. Dann müsste man
ja auch alle Frauen einsperren, die vor,
während oder nach der Schwangerschaft
rauchen oder trinken, und die Männer
gleich dazu. All das ist Moral und Sittlichkeit und was auch immer, mit den Aufgaben des Strafrechts hat es nichts zu tun.
SPIEGEL: Das Verfassungsgericht spricht sogar von Eugenik – und akzeptiert das.
Fischer: Das Urteil zum Inzest ist ein in jeder Hinsicht bemerkenswerter Ausrutscher
unseres Bundesverfassungsgerichts. In der
Sache ist der Inzest ein sehr gutes Beispiel
dafür, dass ein Straftatbestand, der im Laufe der Zeit durch Veränderung aller gesellschaftlichen Verständnisse sinnlos und daher illegitim geworden ist, nicht länger aufrechterhalten werden sollte.
SPIEGEL: Herr Fischer, wir danken Ihnen für
dieses Gespräch.
FOTOS: HC PLAMBECK / LAIF (O.); CARSTEN KOALL / DER SPIEGEL (U.)
Deutschland
Deutschland
Politik hinter
Panzerglas
Rüstung Wirtschaftsminister
Gabriel beharrt auf einer
restriktiven Waffenexportpolitik.
Einige in der SPD sorgen sich
um die Branche.
D
as Café du Croissant in Paris klingt
nicht unbedingt nach einem Ziel
für die Auslandsreise eines deutschen Vizekanzlers. Doch vergangenen
Donnerstag brauste Sigmar Gabriel, eskortiert von der Polizei, zu dem unscheinbaren Lokal in der Rue Montmartre.
Zwei Gardesoldaten mit blitzenden
Schwertern erwarteten den Wirtschaftsminister, dazu der französische Staatspräsident François Hollande. Gemeinsam mit
Gabriel legte er einen Kranz nieder vor jener Stelle, an der hundert Jahre zuvor der
Sozialist und Friedenskämpfer Jean Jaurès
ermordet worden war. Der Termin passte
perfekt in das Bild, das Gabriel derzeit am
liebsten von sich verbreitet: das eines Pazifisten und Kämpfers gegen Waffenexporte. Noch auf dem Rückflug aus Paris war
er ganz beseelt: „Der Friede“, sinnierte er,
„war noch nie eine Selbstverständlichkeit.“
Das Signal, das Gabriel damit zu Hause
aussenden will, richtet sich an das linke
Wählerspektrum. Während er sich in anderen Bereichen als Wirtschaftsminister
der Mitte profiliert, wirbt er mit seinem
Nein zu kritischen Waffenexporten um die
linke Wählerschaft. Er hofft so, bis 2017
von einer Mehrheit der Deutschen als
kanzlerfähig angesehen zu werden.
24
DER SPIEGEL 32 / 2014
Deshalb macht der SPD-Chef Ernst mit
seiner Ankündigung, deutsches Kriegsgerät nicht wahllos in alle Welt zu liefern.
Schon gar nicht an Scheichs in Golfstaaten
und andere Autokraten. Vor allem Kleinwaffen dürfen nicht mehr in die falschen
Hände geraten, so Gabriels Devise. Auch
bei gepanzerten Fahrzeugen ist er streng.
Damit nichts schiefgeht, erklärte der Minister die Exportanträge zur Chefsache.
Seine Beamten bekamen die unmissverständliche Anweisung: Jeder einzelne Antrag aus sogenannten Drittstaaten außerhalb von Nato und EU muss über seinen
Schreibtisch. Das bleibt nicht ohne Folgen.
Mittlerweile stapeln sich dort rund 700 Vorgänge. In der Rüstungsindustrie herrscht
helle Aufregung. Doch Gabriel lässt den
Konflikt eskalieren. Notfalls müsse man in
Kauf nehmen, dass nicht jeder Betrieb eigenständig bleibt, heißt es im Ministerium.
In der schwarz-gelben Koalition sei einfach
alles genehmigt worden, zürnt der SPDChef. Es sei der reinste Exzess gewesen, so
Gabriel intern. Damit sei nun Schluss.
In der Großen Koalition ließ man Gabriel wochenlang gewähren. Doch inzwischen bläst die CSU zur Gegenoffensive.
Horst Seehofer ließ Gabriel per Sommerinterview wissen, dieser verfahre „ohne
Konzeption und ohne klaren Kompass“.
Im Herbst will der CSU-Chef das Thema
auf dem Parteitag debattieren lassen.
Etwas moderater äußert sich die CDU.
Gleich nach der Sommerpause wollen sich
die Experten aus Verteidigungs-, Außenund Wirtschaftsausschuss zusammensetzen. „Bis Ende des Jahres sollten wir
Grundsätze erarbeiten, welche Ziele wir
mit unserer Armee erreichen wollen und
welche Rüstungsindustrie wir dafür in unserem Land brauchen“, sagt Verteidigungspolitiker Roderich Kiesewetter (CDU).
Das klingt noch verhältnismäßig vorsichtig. Doch tatsächlich arbeiten die konser-
vativen Koalitionspartner längst daran, die
Macht des Wirtschaftsministeriums bei
Waffenexporten auszuhebeln. „Wenn für
Sigmar Gabriel Rüstungsexporte Sicherheitspolitik sind, dann sollten wir ihn von
der Aufgabe entlasten“, sagt CSU-Verteidigungspolitiker Florian Hahn, „dann sollten sich in Zukunft das Auswärtige Amt
und das Verteidigungsministerium um das
Thema kümmern.“ Selbst einige in Gabriels eigener Partei sorgen sich nun um
die Folgen rigider Exportpolitik und wollen Hilfsinitiativen starten.
In der Rüstungsindustrie könnte die
Stimmung kaum schlechter sein. Nur selten kommt aus dem Wirtschaftsministerium noch eine Genehmigung zum Export.
Dabei hatte schon die letzte Regierung in
den Monaten vor der Wahl viele Anträge
einfach liegen lassen. Der Bundessicherheitsrat, verantwortlich für die Genehmigung der besonders heiklen Exportansinnen, hatte nicht mehr getagt.
Mit Amtsantritt der Großen Koalition
hofften die Unternehmen, der Stau würde
abgearbeitet. Doch das Gegenteil trat ein.
„Selbst harmlose Anfragen bleiben liegen“,
stöhnt der Manager eines süddeutschen
Rüstungskonzerns. „Die Beamten sind so
verunsichert, dass sie selbst Anfragen nicht
durchwinken, die sie früher nicht an die
Ministeriumsspitze weitergereicht hätten.“
Da wartet eine Firma aus Bayern darauf,
Luxusgeländewagen für ein Golf-Emirat
mit Panzerglas auszustatten. Ab einem Gesamtgewicht des Fahrzeugs von 4,5 Tonnen muss selbst bei normalen Straßenfahrzeugen diese Armierung genehmigt werden. Früher ein simpler Verwaltungsakt,
jetzt eine Sache für den Minister.
Auch Jenoptik ist in das Genehmigungschaos geraten. Das thüringische Unternehmen wollte Laser-Abstandsmesser ausführen. Aber die Geräte sind sogenannte
Dual-Use-Produkte, die für harmlose Sensoren eingesetzt werden können. Aber
eben auch für Zieloptiken von Panzern.
Der Antrag geriet in die Warteschleife.
Ein anderer Hersteller wiederum klagt,
dass er Raketenkomponenten für ein Rüstungsprojekt in ein anderes westliches
Land liefern will. Die Verträge dafür habe
man unterschrieben, weil die schwarz-gelbe Regierung eine Voranfrage genehmigt
habe. Jetzt fehle nur noch die Ausfuhrgenehmigung, doch die kommt nicht. „Unsere Geschäftspartner verlangen Strafzahlungen, weil sie ihre Kunden nicht beliefern können“, klagt die Geschäftsführung
des Unternehmens. „Wir wissen nicht, wie
lange wir sie noch hinhalten können.“
Mehr noch als die Strafe schmerzt es die
Firma, dass deutsche Rüstungskonzerne
als Zulieferer von Bauteilen ausländischer
FOTO: BERND SETTNIK / PICTURE ALLIANCE / DPA (L.)
Minister Gabriel, Rüstungsmanager im Mai
Jeder Antrag muss über seinen Schreibtisch
RüstungsIndustrie
SPIEGEL TV WISSEN
Wert der
heiten in der Wehrindustrie
Waffensysteme zunehmend
produzierten
erhalten bleiben“, sagt er.
gemieden würden. „GermanWaffen* 2011
„Für Sigmar Gabriel liegt eine
free“ sei mittlerweile etwa bei
industriepolitische Initiative
französischen oder britischen
nahe.“
Rüstungsunternehmen ein beGerade nach den negativen
liebtes Verkaufsargument für
Mrd.
€
Erfahrungen mit der Aufkläihre Produkte. „Es spricht
rungsdrohne „Euro Hawk“,
sich eben rum, dass wir deutKriegswaffendie in den USA hergestellt
schen Konzerne wegen unseausfuhr in
wurde, müsse alles dafür gerer Genehmigungsbehörden
Drittländer 2013
tan werden, das wichtigste
zu äußerst unzuverlässigen
Know-how im Lande zu halGeschäftspartnern geworden
ten. „Wir dürfen nicht abhänsind“, so der Manager der begig werden von transatlantitroffenen Firma.
Mio. €
schen Programmen“, sagt BarNun schauen sich die Untels. Die Politik müsse mit
ternehmen nach Lösungen
Beschäftigte
neuen Aufträgen dafür sorum. Krauss-Maffei Wegmann
gesamt 2011
gen, dass die Montagebänder
verhandelt seit Wochen mit
nicht stillstehen. „Wir braudem französischen Panzerchen neue Entwicklungsprohersteller Nexter (SPIEGEL
davon
gramme“, fordert Bartels.
27/2014). Eine der Hoffnunim Waffenbereich*
gen: Würden gemeinsam proSigmar Gabriel dagegen
18%
duzierte Panzer über Nexter
sieht momentan keinen Handverkauft, gälte das liberalere
lungsbedarf. Zwar ist auch ihm
Exportrecht der Franzosen.
klar, dass es irgendwann für
Das Wirtschaftsministerium
die Rüstungsbranche schwierig
widerspricht: Wenn Einzelwird. Aber als wirklich existeile aus Deutschland stammtenzbedrohend will man die
ten, dann müssten deutsche
Probleme in seinem Ministe82%
Behörden den Export genehrium nicht sehen. Nun gibt es
Dienstleistungen,
migen.
immerhin ein GesprächsanFahrzeuge, ÜberDoch genau das versuchen
gebot.
wachung u. a.
die Rüstungskonzerne zu verAm 21. Juli wandte sich Ga* inklusive Kriegsschiffe,
hindern, mithilfe der CSU.
briel in einem Brief an die BeFlugabwehr, Munition u. a.
Quellen: WifOR, BMWi
Ziel des Vorstoßes ist es, die
triebsräte der betroffenen UnAusfuhrbestimmungen so zu
ternehmen und lud die Arbeitverändern, dass bei einem Joint Venture nehmervertreter zu einem Austausch für
mehrerer europäischer Unternehmen jenes Mitte August ins eigene Haus. Sie hatten
Land für die Exportkontrolle zuständig ist, Wochen zuvor bei ihm über die schlechte
aus dem die meisten Komponenten stam- Lage geklagt. Über die drängenden Fragen
men. Und die beteiligten Unternehmen der Zeit solle gesprochen werden, schrieb
könnten die Vertriebsgebiete untereinan- Gabriel nun. Man müsse „offener diskuder aufteilen: Der britische Teil des Kon- tieren, als dies bisher der Fall war“.
sortiums würde etwa die Golfstaaten beZugleich machte er klar, dass er nicht
liefern. In London ist man mindestens ge- bereit ist, seine Agenda in Sachen Exporte
nauso liberal wie in Paris. Das Kanzleramt grundlegend zu ändern. „Ich will euch dessoll sich für den Vorstoß aufgeschlossen halb nicht verhehlen“, schrieb Gabriel,
gezeigt haben.
„dass diese Orientierung im Einzelfall zu
„Wir können Gabriel nicht länger über- einer restriktiveren Genehmigungspraxis
lassen, die heimische Rüstungsindustrie zu führt.“ Nun müsse über die „Förderung
ruinieren, nur weil der sich bei den Linken von Diversifizierungsstrategien in den ziprofilieren will“, schimpft der CSU-Abge- vilen Bereich“ nachgedacht werden. Im
ordnete Hans-Peter Uhl und fordert eine Klartext: Wenn ihr überleben wollt, kon„verantwortungsvolle Sicherheitspolitik“. zentriert euch lieber auf neue Produkte.
Auch in der SPD wollen einige zuminIm Übrigen, so sieht es Gabriel, ist die
dest die Folgen der streng ausgelegten ganze Sache nicht nur sein Problem. UnRichtlinien für die Industrie abfedern. mittelbar betroffen von einer schrumpfenZwar stützen die meisten Sozialdemokra- den Rüstungsindustrie wäre Verteidigungsten den Kurs des Wirtschaftsministers. Um- ministerin Ursula von der Leyen. Aber die
stritten ist aber, ob den schwächelnden hält sich auffallend bedeckt. Zwar schwant
Unternehmen unter die Arme gegriffen von der Leyen, dass sie sich irgendwann
werden sollte oder nicht.
zum Thema äußern muss. Den Zeitpunkt
Der Vorsitzende des Verteidigungsaus- sieht sie allerdings noch nicht gekommen.
schusses, Hans-Peter Bartels, schlägt eine Und so verabschiedete sich die Ministerin
politische Offensive vor, um den Firmen in der vergangenen Woche in den Urlaub,
zu helfen. „Die Regierung muss dafür sor- ohne Stellung zu beziehen.
Gordon Repinski, Gerald Traufetter
gen, dass dauerhaft überlebensfähige Ein-
3,9
568
97980
DER SPIEGEL 32 / 2014
25
DIENSTAG, 5. 8., 21.00 – 21.45 UHR | PAY TV
BEI ALLEN FÜHRENDEN KABELNETZBETREIBERN
Wohnen in Deutschland – Das
Experiment auf der grünen Wiese
Im schwäbischen Dorf Tempelhof
leben 120 Exstädter in einer Art
Hightech-Kibbuz zusammen. Umgeben von 26 Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche versorgen sich die
Bewohner fast autark. Es gibt eine
Käserei, eine Bäckerei, eine Imkerei,
eine Schneiderei, eine Fahrradwerkstatt – und neben dem Waldkindergarten bald auch eine eigene Schule.
Jeden Tag aufs Neue versuchen die
Kibbuz-Mitglieder, ihre Arbeit in
der Stadt mit dem Leben in der Natur zu vereinbaren.
SPIEGEL GESCHICHTE
SONNTAG, 10. 8., 23.00 – 23.55 UHR | SKY
Gunter Sachs –
Der Lebenskünstler
Er war reich, er galt als der letzte
große Playboy, und alle dachten, er
müsse glücklich sein, weil er alles
besaß. Doch am 7. Mai 2011 schied
Gunter Sachs in seinem Chalet in
Gstaad freiwillig aus dem Leben.
Zwei Jahre danach hat sich der Journalist Hanns-Bruno Kammertöns
auf eine Spurensuche begeben und
Gespräche mit der Familie und engen Freunden geführt. So entstand
das Porträt eines Mannes, das vielschichtiger ist, als dessen Bild in der
Öffentlichkeit war.
SPIEGEL TV MAGAZIN
SONNTAG, 10. 8., 22.25 – 23.10 UHR | RTL
Entmieten und Sanieren – Immobilien-
skandal im Frankfurter Westend;
Liebe gegen Geld – Die Kuta-Cowboys
von Bali; Antanzen und Abziehen –
Die neue Masche der Taschendiebe.
Festnahme eines Taschendiebs
Deutschland
Supersaporsauber
Bayern Staatsministerin Christine Haderthauer hat angekündigt, in der Modellbau-Affäre alle
Vorwürfe restlos zu entkräften. Nach 25 Jahren Trickserei wäre das mal etwas Neues.
D
er Brief, den der Anwalt von Christine Haderthauer im November
2011 verschickte, war ein Bluff, und
was für ein schlechter: Erst mal behauptete
der Verfasser, dass die Gegenseite gar
nichts zu erwarten habe – alles längst verjährt. Dann aber bot er doch 20 000 Euro
an, um des lieben Friedens willen.
Wenn Anwälte so entspannt tun, muss
die Lage ziemlich ernst sein. Und wenn
sie dann noch großzügig daherkommen,
mit 20 000 Euro wedeln, müssen sie ziemlich verzweifelt sein.
Der Bluff sollte offenbar eine politische
Karriere retten, die Karriere der bayerischen Sozialministerin und heutigen Leiterin der Staatskanzlei. Und zunächst funktionierte er sogar. Man wolle „die Angelegenheit abgeschlossen wissen“, schrieb der
Anwalt, und tatsächlich: Mit 20 000 Euro
ließ sich ihr früherer Geschäftspartner Roger Ponton abspeisen. Er glaubte, was ihm
die Ministerin und ihr Mann erzählten:
dass die gemeinsame Firma Sapor Modelltechnik kaum mal Gewinn gemacht habe,
meistens nur Verluste – und er im Grunde
froh sein konnte, dass er schon vor Jahren
aus der Firma ausgeschlossen wurde. Ohne
sein Wissen.
Am Ende aber hat der Bluff doch nicht
geklappt. Die 20 000 Euro, die Ponton ruhig stellen sollten, waren zu knapp kalkuliert, zu dreist, zu selbstsicher, zu arrogant,
eben so, wie man das auch über den Politikstil der Ministerin seit Jahren sagen
kann.
tisches Amt sind, dann hat Haderthauer bert Haderthauer, verheiratet mit der Jusie längst verfehlt. Seit gut einem Jahr kö- ristin Christine, die damals noch weit weg
chelt die Affäre um Modellautos, die ihr war von einer Karriere in der Politik.
„Mein Engagement beruhte auf der
Mann billig im bayerischen Maßregelvollzug bauen und über die Firma Sapor teuer Begeisterung für Oldtimer-Modelle und
verhökern ließ; seit gut einem Jahr stolpert sicherlich nicht auf Gewinnstreben“, bedie Staatsministerin von einer Halbwahr- hauptete Hubert Haderthauer später.
heit zur nächsten. Sie weicht aus, wiegelt „Für den Modellbau interessierte sich
ab, und das alles mit der Autorität ihres Haderthauer nicht sonderlich, der war in
erster Linie am Geld interessiert“, vermuAmtes.
Der Name Haderthauer steht damit für tete dagegen Ponton, als die Affäre vor
den nächsten Fall eines Politikers, der zu einem Jahr hochkam. Haderthauer habe
fallen droht, weil ihm der Blick für die mo- schnell klargemacht, dass er mit dabei sein
ralischen Ansprüche an das Amt fehlt. Nur wolle; kein Geschäft ohne ihn, sonst köndass andere diesen Blick oft erst im Amt ne sich Sapor den Meistertüftler Roland
verloren haben, nach Jahren der Macht, S. und den Modellbau in der Klinik aus
die den Blick für das Nötige und Mögliche dem Kopf schlagen. Weil es aber nicht gut
abgestumpft haben. Bei Christine Hadert- ausgesehen hätte, wenn ein Anstaltsarzt
hauer stand das moralische Versagen da- mit der Arbeit seiner Patienten sein Gegegen am Anfang, vor 25 Jahren, sie brach- halt aufstockt, sei Christine Haderthauer
te die moralische Unbekümmertheit schon in die Firma eingestiegen. So erzählt das
mit ins Amt. Dieses Versagen muss sich zumindest Roger Ponton.
Hubert Haderthauer will dazu nichts
nun am Ende auch ihr Chef anlasten lassen,
der sie 2008 zur Ministerin gemacht hat sagen, auch zu anderen Fragen nicht;
und bis heute stützt: Ministerpräsident Begründung: das laufende Verfahren. Für
Christine Haderthauer teilte der Anwalt
Horst Seehofer.
Am Anfang dieser Geschichte steht ein des Ehepaars mit, dass „alle BehauptunMann, der mit Politik nichts zu tun hat. gen unwahr sind“, die nicht von den zahlRoland S., eine Figur wie aus einem Psy- reichen Antworten der Regierung an den
chothriller. Abstoßend, weil er drei Men- Landtag gedeckt seien. Was bedeutet, dass
schen bestialisch umgebracht hat, allen sie nicht die Strohfrau ihres Mannes geweOpfern den Penis abschnitt, einem auch sen sein will.
Fest steht: Ende 1989 und 1990 zahlte
noch den Kopf und die Beine. Aber auch
faszinierend, mit einem Intelligenzquo- Christine Haderthauer ihren Anteil, wurde
tienten von 145. Ein technisches Genie, eine von drei Gesellschaftern. Ab 1993 gab
das sich in der Enge der Anstalt in der es nur noch zwei, sie und Ponton. Und wie
auch immer man es wendet: Es bleibt ein
Anfang ohne Anstand, ein anrüchiges Geschäft, und Christine Haderthauer machte
mit. Im Dezember 1989 begann der MoKunst der Miniatur auslebte. Schon nach dellbau als Werktherapie – die Insassen
dem ersten Mord, als er in Freiburg einsaß, bekamen dafür im Monat 250 Mark. In der
baute er einen alten Rolls-Royce nach, Vereinbarung mit der Maßregeleinrichtung
geradezu perfekt. Ein kleines großes Meis- trat Hubert Haderthauer als „verantwortlicher Arzt“ auf. Auf der anderen Seite
terwerk.
Der Franzose Roger Ponton, der im El- stand die Modellbaufirma, im Hintergrund
sass eine Firma für Jagdgewehre hatte, sah seine Frau, und rechnete mit riesigen Gedie Modelle und erkannte ein Geschäfts- winnmargen. 20 000 Mark sollte ein Auto
modell. Mit einem Partner besuchte er bringen, der Bau gerade mal 2500 Mark
Roland S., der inzwischen in Ansbach im kosten, wie eine frühe Kalkulation von RoMaßregelvollzug für psychisch kranke land S. zeigt. In der Sapor-Korrespondenz
Straftäter einsaß. Ponton fragte ihn, ob er der Haderthauers geht es in den folgenden
nicht noch mehr Autos bauen könne, für Jahren so gut wie immer nur um: Einnahmen, Ausgaben, Kredite, Außenstände,
eine Firma, die Sapor Modelltechnik.
Allerdings war Ponton nicht der Einzige, Vertrieb und Werbung. Nicht um Begeisder die Gelegenheit begriff, ergriff. Auch terung für Autos, nicht um Therapieerfolge
der neue Anstaltsarzt kam schnell auf die bei Straftätern.
Das, vielleicht wenigstens das, könnte
Idee, dass man aus den Mini-Autos etwas
machen könne: ein junger Mediziner, Hu- Christine Haderthauer heute einräumen,
Am Anfang steht eine Figur wie aus einem Psychothriller:
ein Mörder mit einem Intelligenzquotienten von 145.
Das könnte sie nun umso teurer bezahlen, mit ihrem Amt. Nach einer Strafanzeige von Ponton, der sich beim Deal 2011
getäuscht fühlt, ermittelt die Staatsanwaltschaft München seit voriger Woche nicht
mehr allein gegen den Landgerichtsarzt
Hubert Haderthauer. Jetzt geht es auch
gegen seine Frau, die Staatsministerin.
Und während sich in diesem Verfahren alles darum dreht, ob das Ehepaar seinen
Partner Ponton bei dem Vergleich mit falschen Geschäftszahlen betrogen hat, läuft
es im Kampf ums Amt auch auf die Frage
hinaus, ob die Staatsministerin die Öffentlichkeit getäuscht, vielleicht sogar belogen
hat.
Auf dem Prüfstand stehen also ihre Ehrlichkeit, Glaubwürdigkeit, Verlässlichkeit,
und wenn das alles Maßstäbe für ein poli26
DER SPIEGEL 32 / 2014
FOTO: FRANK HOERMANN / SVEN SIMON (O.)
Ehepaar Haderthauer
Versteigerungsanzeige für ein Sapor-Modell bei Christie’s 2007: Kleine große Meisterwerke
aber zum Wesen dieser Affäre und wohl
auch zu ihrem eigenen Wesen gehört, dass
sie gar nichts einräumt. Das beginnt schon
damit, dass sie noch Mitte Juni in der Welt
am Sonntag behauptete, es gebe überhaupt keine Affäre. Und ihre Geschäftstüchtigkeit? Sie sei lediglich an einer Firma
beteiligt gewesen, „die ein Therapieangebot für psychisch kranke Straftäter finanziert hat“. Das klingt gerade so, als wäre
sie ein Engel der Barmherzigkeit und die
Sapor eine karitative Organisation zur Rettung psychisch kranker Straftäter gewesen.
Aber so geht das in einem fort: keine Fehler, niemals, nirgendwo.
Roger Ponton hingegen erinnert sich
noch gut, was ihr Mann alles möglich
gemacht haben soll, um die Geschäfte anzukurbeln. Regelmäßig, so der Franzose,
habe er mit Haderthauer in einem Hotel
in Ansbach gegessen, um über Modelle,
Termine, die Arbeit oder neue Kunden zu
sprechen; auch Roland S. sei dabei gewesen. Roland S., der Dreifachmörder? Draußen in einem Hotel in Ansbach? Ja, mehrmals, den habe Haderthauer aus der Klinik
mitgebracht.
Kann das sein? Offenbar, denn auch
Gary Kohs erzählt so eine Geschichte.
Kohs, Chef der Firma Fine Art Models in
Michigan, USA, ein großer Händler für
High-End-Modelle in Nordamerika – Schiffe, Autos, Flugzeuge. In den Neunzigern
verkaufte Sapor Modelltechnik mehr als
zehn Miniaturen an ihn, darunter den Mercedes-Simplex-Tourenwagen und den Mercer 35 J Raceabout, für rund 15 000 Mark
das Stück. In jener Zeit, so Kohs, habe er
auch mal einen Stand auf der Spielwarenmesse in Nürnberg gehabt und dort Haderthauer getroffen. Der habe ihm dann
„den Mann vorgestellt, der die Modelle
gebaut hat“. Der habe nicht viel gesagt,
aber einen netten Eindruck gemacht. Erst
am nächsten Tag, so Kohs, habe er gehört,
dass die Sapor-Modelle von Straftätern
gebaut wurden und der Mann von gestern
„ein Psychopath war, der drei Menschen
getötet hat und einen Tag draußen war,
um sich die Messe anzusehen“.
Dass Hubert Haderthauer für Sapor
über Grenzen ging, scheint ihm auch selbst
klar gewesen zu sein. Im September 1994
bekam Kohs einen Brief von Haderthauer.
Der arbeitete nun nicht mehr in der Psychiatrie, sondern als Gerichtsarzt in Ingolstadt. „Im Moment habe ich zwei große
Probleme“, schrieb Haderthauer, einmal
die Außenstände von Sapor, da bat er um
schnelle Bezahlung seiner Rechnungen.
Und „zweitens Probleme mit meinem Status als Beamter“. Das größere von beiden
sei die „Unvereinbarkeit meines Berufs
und Sapor. Deshalb habe ich vor, meinen
Anteil an Sapor zu verkaufen“ – gemeint
war offenbar der Anteil seiner Frau. Doch
so unwohl sich Hubert Haderthauer ganz
DER SPIEGEL 32 / 2014
27
offensichtlich bei seinem Sapor-Abenteuer
fühlte, er selbst machte noch 14 Jahre weiter, bis 2008, seine Frau mindestens bis
2003.
Es sind Fundstücke wie der Brief an
Kohs, die zeigen, dass die Haderthauers
mit ihrer Firma immer hart am Rand operierten und das auch wussten. Sie versuchten, in Grauzonen gute Geschäfte zu machen, so wie es auch andere tun. Nur dass
die anderen nicht irgendwann Minister
werden. Dieses Risiko hatten die Haderthauers nicht einkalkuliert.
Umso hartnäckiger behauptet das Ehepaar heute, dass bei ihrer Firma alles sauber lief. Supersaporsauber. Und dass Christine Haderthauer zwar Gesellschafterin
war, aber trotzdem so gut wie nichts mit
den Geschäften zu tun hatte. Sapor, das
sei ihr Mann gewesen, sie selbst nur ganz
früh, ganz formal beteiligt.
So hat sie das auch dem Landtag erklärt.
Die Opposition hatte im Juni gefragt, welche Rolle die Staatsministerin in der Firma
gespielt hatte, und ihre Staatskanzlei antwortete mit einer Formulierung, die schon
wieder hart am Rand war, in der Grauzone
der Wahrheit. „Frau Staatsministerin Haderthauer weist darauf hin, dass die Geschäftsführung der Sapor-Modelltechnik
GdbR … von Anfang an (1993) und durchgehend bis 2008 Herr Dr. Haderthauer
ausgeübt hat.“ Von Anfang an? Die erste
Sapor Modelltechnik, an der sie beteiligt
war, wurde 1990 gegründet, nicht 1993. Das
Einzige, was sich 1993 änderte, war die
Zahl der Gesellschafter. In jenem Jahr
schied der dritte Gesellschafter aus, deshalb setzten die beiden übrig gebliebenen,
Christine Haderthauer und Roger Ponton,
die Firma lediglich unter gleichem Namen
neu auf.
Und dass Christine Haderthauer mit der
Geschäftsführung angeblich nichts zu tun
hatte? Stimmt so auch nicht. Mit der Neugründung 1993 blieb sie Gesellschafterin –
und automatisch auch Geschäftsführerin,
gemeinsam mit Ponton, dem zweiten Anteilseigner. Sie führte die Geschäfte, und
zwar nicht nur auf dem Papier, sondern
aktiv: Ende 1993 schrieb sie Ponton auf
Sapor-Geschäftsbogen: „Ich übersende
eine Vollmachtserklärung für mich, damit
ich die notwendigen Maßnahmen zur
Geschäftsführung vornehmen kann.“ Umgehend kam Post von Ponton: „Hiermit
bevollmächtige ich Frau Christine Haderthauer, alle zur Geschäftsführung notwendigen Handlungen auch in meinem Namen vorzunehmen.“ Da hatte Haderthauer aber auch so schon ein Auslandscarnet,
also ein Wareneinfuhrdokument, für eine
Messe in Bern besorgt.
Die Opposition sieht sich deshalb getäuscht, hat Haderthauers Rücktritt gefordert, will einen Untersuchungsausschuss
einsetzen. Solange Regierungschef Seeho28
DER SPIEGEL 32 / 2014
fer hinter ihr steht, wie vorige Woche nach
einer Krisensitzung, kann die Ministerin
solche Tricksereien politisch durchstehen.
Bei den Münchner Staatsanwälten hilft ihr
aber auch die Gnade des bayerischen Alleinherrschers nicht mehr. Nun geht es
um kalte, klare Zahlen. Um Einnahmen,
Ausgaben, Gewinne und Verluste von
Sapor. Um die Frage, ob Ponton beim Abfindungsdeal falsche Daten vorgelegt wurden und vorher möglicherweise auch den
bayerischen Steuerbehörden. Gegen Hubert Haderthauer läuft ein Steuerermittlungsverfahren, die Vorwürfe weist er
zurück.
Sicher ist: Nach Jahren, in denen die
Haderthauers nichts mehr von ihrem Mitgesellschafter Ponton gehört hatten, übertrug Christine Haderthauer 2003 ihre Anteile kurzerhand auf ihren Mann. Ponton,
heute 84 Jahre alt, erfuhr davon nichts.
Politiker Haderthauer, Seehofer
Ausweichen, abwiegeln
Er hatte sich zwar tatsächlich nicht mehr
um die Firma gekümmert, war zwischenzeitlich krank geworden. Aber er wohnte
seit Jahrzehnten im selben Haus mit derselben Telefonnummer, und dass er angeblich nicht erreichbar gewesen wäre, gehört wohl wieder zu den Tricksereien in
der Causa Haderthauer. 2008 verkaufte
Hubert Haderthauer schließlich die Firma
an einen Bekannten, wieder hinter dem
Rücken von Ponton. Kurz danach war der
Franzose aus dem Gewerberegister abgemeldet.
Nur zufällig bekam er 2011 mit, dass Autos von Sapor Modelltechnik auf internationalen Auktionen hohe Preise erzielt hatten, manche mehr als 30 000 Dollar. Ponton forderte die Haderthauers auf, ihm die
Bücher zu zeigen, die Gewinne, ihm seinen Anteil am Verkaufspreis zu zahlen.
Die Haderthauers feilschten, boten Ratenzahlung an, Ponton gab sich mit 20 000
Euro für seinen Anteil zufrieden. Doch
bald danach kamen ihm Zweifel, dass man
ihm die korrekten Zahlen gezeigt hatte.
Zweifel genug für eine 194-Seiten-Strafanzeige. Plus Nachschlag von sechs Seiten,
in denen er den Haderthauers heute vorwirft, ihn jahrelang nicht an den laufenden
Einnahmen beteiligt zu haben.
Nach Informationen der Süddeutschen
Zeitung vermuten die Ermittler, dass Pontons Sapor-Anteil tatsächlich mehr als die
gezahlten 20 000 Euro wert war, wohl eher
53 000 Euro. Eine Frage von Kosten und
Einnahmen. Der Verdacht: Die wahren
Kosten der Firma könnten niedriger, ihre
wahren Einnahmen höher gewesen sein,
als aus den Papieren für die Abfindungsgespräche hervorging. So tauchen etwa
Kosten für Reisen nach Frankreich und in
die Türkei auf, bei denen nicht klar ist, ob
sie wirklich dem Unternehmen dienten.
Christine Haderthauer sagt, dass ihre Tochter mit ihrem Mann geflogen sei, um Modelle sicher zu transportieren.
Verdächtig sind auch zwei Überweisungen von Sapor Modelltechnik, die noch
2008 auf Christine Haderthauers Konto
flossen, angeblich für Arbeiten einer PRBeraterin. Die soll Pressearbeit für Sapor
Modelltechnik gemacht haben. Angeblich
hatte Haderthauer das Geld nur versehentlich vom eigenen Konto bezahlt und
holte es sich deshalb von Sapor zurück.
Die PR-Frau ist eine Haderthauer-Mitarbeiterin, ihre Stimmkreisreferentin. Wurden mit den 5500 Euro also wirklich Leistungen für Sapor bezahlt – oder hat die
Beraterin für Arbeiten kassiert, die mit der
Selbstdarstellung der Ministerin zu tun
hatten?
Die bestreitet das. Mit der PR-Beratung
sei alles völlig korrekt gelaufen. So wie
überhaupt „aus dem gesamten Sachverhalt
in keinerlei Hinsicht etwas Kritikwürdiges
abzuleiten“ sei, wie sie schon vor einem
Jahr beteuerte. Kein Fehler, niemals, nirgendwo. In der Krisensitzung legte sie jetzt
ein Schreiben ihres Anwalts vor und behauptete, sie könne alle Vorwürfe entkräften. Restlos.
Das kann so sein, es gilt die Unschuldsvermutung. Aber wenn die Vergangenheit
eines zeigt, dann, dass ihre Erklärungen
zur Affäre selten alles entkräften konnten.
Sondern meist neue Fragen aufwarfen.
Für Christine Haderthauer könnte dabei
noch heikel werden, dass die Übertragung
ihrer Anteile auf ihren Mann im Jahr 2003
vermutlich ungültig war. 2011 hat ihr Anwalt geschrieben: „Da die Übertragung
unter Eheleuten erfolgt ist, wurden hierüber offenbar keine Urkunden gefertigt.“
Keine Urkunden. Stattdessen mündliche
Übertragung von Firmenanteilen. So etwas sieht das Handelsregister nicht vor.
In diesem Fall wäre sie also noch weit länger Gesellschafterin von Sapor geblieben –
und mitverantwortlich für die Firmengeschäfte.
Aber wäre es so verwunderlich, wenn
die Staatsministerin in diesem Fall, ihrem
Fall, hart am Rand, tief in der Grauzone,
auch die mündliche Übertragung noch zu
einem völlig korrekten Verfahren erklären
würde?
Jürgen Dahlkamp, Conny Neumann
FOTO: SVEN HOPPE / DPA
Deutschland
ursprünglich geplant
Wurm drin
720 Mio. €
1044 Mio. €
zuletzt
Infrastruktur Ein interner
Regierungsbericht offenbart die
Kostenexplosionen auf Baustellen
des Bundes. Schuld ist auch der
Personalabbau der letzten Jahre.
E
ines der größten Bauvorhaben der
Bundesregierung liegt im Greifswalder Bodden, einem Brutgebiet für
Seevögel im Flachwasser vor Rügen. Auf
der Ostseeinsel Riems entsteht der neue
Hauptsitz des bundeseigenen FriedrichLöffler-Instituts, ein Hochsicherheitstrakt
zur Erforschung von Tierseuchen und Viren
wie Ebola oder der Vogelgrippe.
Für die Allgemeinheit ist die kleine Insel
gesperrt, eine Ausnahme gab es aber im
vorigen August für Angela Merkel. Es war
Bundestagswahlkampf, und Riems gehört
zu ihrem Wahlkreis. Die Kanzlerin weihte
öffentlichkeitswirksam das erste von 89
Laboren ein, lobte „eine der modernsten
Forschungsstätten“ und die wissenschaftliche Arbeit auf „allerhöchstem Niveau“.
Die Kostensteigerungen verschwieg
Merkel indes lieber. 340 Millionen Euro
muss der Bund am Ende für den Gebäude-komplex zahlen, ursprünglich waren
150 Millionen Euro angesetzt. Siebenmal
musste der Bundestag bereits Geld nachschießen.
Wieder einmal kommt es anders als gedacht. Dass die öffentliche Hand bei Großprojekten scheitert, haben Bauvorhaben
wie der Berliner Flughafen BER oder Stuttgart 21 (siehe Seite 31) bereits eindrucksvoll belegt – obwohl der Bund lieber von
Einzelfällen spricht. „Wir haben sehr positive Erfahrungen in der Zusammenarbeit
zwischen Architekten und dem Bund als
Bauherrn“, sagte Bau-Staatssekretär Florian Pronold (SPD) noch am vorigen Montag in der ZDF-Sendung „Wiso“: „Ich würde auch sagen, dass 90 bis 95 Prozent der
Projekte im Großen und Ganzen ohne
irgendein Problem ablaufen.“
Nur einen Tag später unterzeichnete seine Ministerin Barbara Hendricks (SPD) ein
internes Schreiben an den Bauausschuss
des Bundestags, aus dem etwas ganz anderes hervorgeht: 40 Baustellen des Bundes zählt die SPD-Frau darin auf, nur 14
davon bleiben nach aktuellem Stand im
Rahmen der ursprünglichen Planung. Alle
anderen werden oft mit jahrelanger Verspätung fertig und produzieren insgesamt
Mehrkosten von bis zu einer Milliarde
Euro, wie aus dem Bericht hervorgeht.
Selten gibt es einen so unverstellten Einblick in das systematische Versagen des
Bundes: Hendricks’ Liste offenbart erst-
Neubau des Bundesnachrichtendienstes Berlin
mals das Ausmaß des Schadens. So gibt es
Preissteigerungen auch bei Baustellen, von
denen selten die Rede ist, beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe etwa, dessen Sanierung um 18,8 Prozent teurer wird
als geplant. Oder beim Bildungsministerium in Bonn (plus 29 Prozent), beim Bundesarchiv in Berlin (plus 46 Prozent) oder
bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz in
Dortmund (plus 80,7 Prozent).
Die Baubehörden des Bundes laufen
immer wieder in die gleiche Falle: Um die
Projekte durch den Bundestag zu bekommen, wird der Preis erst nach unten geschraubt. Nach Baubeginn stellt sich bald
heraus, dass die Vorgaben nicht mehr zu
halten sind. Zudem kommen oftmals Baufirmen mit dem günstigsten Angebot zum
Zug, die ihre Leistung hinterher nicht verlässlich erbringen können. Die Folge: Streitereien, Insolvenzen, Klagen.
Ministerin Hendricks räumt Probleme
offen ein. „Bei einzelnen Bauverwaltungen tragen strukturelle Defizite und ein
zu weit gehender Personalabbau inzwischen zu einer teilweise unzureichenden
Aufgabenwahrnehmung bei“, heißt es in
ihrem Schreiben an die Parlamentarier.
Die Hauptstadt ist weiterhin das Zentrum der Bundesbaustellen. Im Regierungsviertel werkeln Arbeiter an jeder
Ecke an neuen Bürogebäuden. Nur selten
kann Hendricks, die als Umweltministerin
die Zuständigkeit fürs Bauen erst im vorigen Dezember vom Verkehrsressort übernommen hat, Erfolge vermelden. Das Innenministerium in der Nähe des Hauptbahnhofs zum Beispiel wird demnächst
fertig und soll die veranschlagten Kosten
in Höhe von 208 Millionen Euro sogar
leicht unterbieten.
Ganz anders sieht es hingegen beim
Bundesnachrichtendienst (BND) aus, dessen neue Zentrale nach jüngstem Stand
1,04 Milliarden Euro verschlingt – rund 45
Prozent mehr als vorgesehen. Der Komplex an der Chausseestraße sieht von außen zwar schon so gut wie fertig aus, doch
Hendricks warnt vor zusätzlichen Problemen. „Weitere besondere Kostenrisiken“
bestünden jetzt schon, heißt es in ihrem
Papier. „Kündigungen und Insolvenzen,
ungenügende Planungsleistungen Dritter“
und „verbleibende Prozessrisiken“ machen demnach dem Bund zu schaffen. Statt
2012 zieht der BND frühestens 2016 ein.
Auch die Berliner Staatsbibliothek Unter den Linden macht Stress. Das Gebäude
aus der Kaiserzeit ist schon so lange eingerüstet, dass sich viele Passanten kaum
noch an die schöne Fassade erinnern können. Die Sanierung soll über 440 Millionen
Euro verschlingen – ursprünglich waren
116 Millionen Euro weniger angesetzt. Seit
DER SPIEGEL 32 / 2014
29
ursprünglich geplant
ursprünglich geplant
ursprünglich geplant
150 Mio. €
340 Mio. €
40 Mio. €
66 Mio. €
326 Mio. €
442 Mio. €
Ausbau für das Friedrich-Löffler-Institut
Deutsche Botschaft Washington
Sanierung der Kanzlei
2004 wird renoviert, eigentlich sollte Ende
2012 alles fertig sein. Nun warnt das Ministerium vor „weiteren Kostenrisiken“ sowie „erkennbaren weiteren Terminrisiken“ und stellt eine Eröffnung im Sommer
2016 in Aussicht.
So folgt bei den Baustellen des Bundes
eine Kostensteigerung der nächsten. Überzeugende Erklärungen dafür liefert der
Bauherr allerdings nicht immer. Das Robert-Koch-Institut zum Beispiel, das Krankheiten in der Bevölkerung erforscht, be-
übernehmen, immer wieder ducken sich
Beamte weg.“
Früher, als das Amt noch Bundesbaudirektion hieß, trafen die Regierungsleute
alle wichtigen Entscheidungen selbst. Heute werden zahlreiche Aufgaben an externe
Dienstleister ausgelagert: Projektsteuerer,
Bauplaner, Kontrolleure. Manche von ihnen verteilen die Aufträge an Subunternehmer weiter. Schnell verliert der Bund,
der sich nur noch selten auf den Baustellen
blicken lässt, die Übersicht.
„Es wäre klüger, wenn die Bauverwaltung von Anfang an
die Risiken klar benennen und kalkulieren würde.“
kommt in der Nähe des Berliner VirchowKlinikums ein neues Zuhause. Ursprünglich
hatte der Bundestag etwa 100 Millionen
Euro für den ersten Bauabschnitt freigegeben. Drei Nachträge später sind es 170
Millionen Euro. Als Ursachen nennt das
Ministerium unter anderem lapidar die
„Komplexität des Projekts“ sowie „Auflagen der Genehmigungsbehörden“. Die
Errichtung der Labore, Schleusensysteme
und Chemikalienduschen ist sicherlich
schwierig. Doch war das alles nicht schon
vorher bekannt? Und muss der Bau gleich
um rund 60 Prozent teurer werden?
„Es ist der Wurm drin“, sagt Florian
Mausbach. Er war bis zu seiner Pensionierung 2009 jahrelang Präsident des Bundesamts für Bauwesen und Raumordnung
(BBR), das für die großen Bauvorhaben des
Bundes zuständig ist: „Es wäre klüger,
wenn das BBR von Anfang an die Risiken
klar benennen und kalkulieren würde. Das
Geld muss ja gar nicht komplett ausgegeben
werden. Es reicht, wenn der Finanzminister
die Mittel sperrt und nur für den Notfall
freigibt, falls die Probleme auftreten.“
Architekten, die für den Bund bauen,
verzweifeln an ihrem Auftraggeber. Das
BBR, sagt einer von ihnen, sei eine kafkaeske Behörde: „Keiner will Verantwortung
30
DER SPIEGEL 32 / 2014
Kommt es dann zum Streit über Nachtragsforderungen, drohen langwierige Prozesse, in denen weitere Gutachter und
Sachverständige ihre Expertise vorlegen.
All das kostet Geld, Zeit und Nerven.
Die Opposition kritisiert die Zustände auf
den Baustellen des Bundes: „Es nützt am
Ende nichts, wenn die öffentliche Hand Personalstellen einspart, aber wegen schlechter
Planung und Kontrolle bei Bauprojekten
regelmäßig Millionen und Milliarden an
Steuergeldern verschwendet“, sagt die Grünen-Bundestagsabgeordnete Lisa Paus.
Die Folgen lassen sich nicht nur in
Deutschland beobachten. Auch bei der Sanierung deutscher Einrichtungen im Ausland werden die Kosten- und Zeitpläne
häufig gesprengt. Im Juni 1994 bewilligte
der Haushaltsausschuss des Bundestags
3 Millionen Mark (1,4 Millionen Euro) für
eine „Pinselsanierung“ des Deutschen Archäologischen Instituts in Rom.
Das „Germanico“ ist eine der ältesten
deutschen Forschungseinrichtungen im
Ausland, 1829 hatte es ein Freundeskreis
aus preußischen Diplomaten und Gelehrten als „Institut für die archäologische Korrespondenz“ gegründet.
Zuletzt war das Institut in einem Stahlbetonbau aus den 1960er-Jahren in der
zuletzt
DPA P I CTUR E-A LLI A N CE / EURO LUF TBI LD. DE/RO BERT G RA H N
Insel Riems (bei Greifswald)
zuletzt
ST E FA N SAU E R / D PA , RO N SAC H S / C N P / P O L A R I S
zuletzt
Staatsbibliothek Unter den Linden Berlin
Nähe der Villa Borghese untergebracht.
Doch nicht nur die Fassade war sanierungsbedürftig, wie sich bald herausstellte.
Das ganze Gebäude erwies sich nach
Untersuchungen als baufällig. 2006 wurde
das Institut, das die weltweit umfassendste Bibliothek für Archäologie beherbergt,
für Besucher geschlossen. Seit dem
Frühjahr 2008 dürfen nicht einmal mehr
die Institutsmitarbeiter das Gebäude
betreten.
Auf der Baustelle passierte trotzdem
jahrelang gar nichts. Im Februar 2015
soll nun mit der Generalsanierung begonnen werden. Wenn alles gut geht, sind
die Bauarbeiten im Mai 2017 abgeschlossen – 23 Jahre nach Bewilligung der ersten
Mittel.
Überhaupt ist das Ausland für die Ingenieure der Bundesbauverwaltung ein
schwieriges Terrain. In Washington sind
die Kosten für die Renovierung der deutschen Botschaft, die einst von dem renommierten Architekten Egon Eiermann entworfen wurde, auf über 65 Millionen Euro
gestiegen. In Peking hatte der Bund Probleme, einen Generalunternehmer zu
finden, der die Botschaft umbaut. Der
Grund: In der chinesischen Hauptstadt ist
es üblich, dass alte Gebäude einfach abgerissen werden und dass neu gebaut wird.
Sanierungen sind dort wohl noch kein
Geschäftsmodell.
Besonders ärgerlich für Hendricks und
ihre Kabinettskollegen ist unterdessen die
Lage am künftigen Berliner Großflughafen.
Während das neue Terminalgebäude BER
immerhin von außen einigermaßen betriebsbereit wirkt, ist für ein repräsentatives Regierungsterminal gleich nebenan
bislang nicht mal ein Grundstein gelegt.
Trotzdem wurden für „Planung und erste Bauarbeiten des ,Regierungsflughafens‘“,
so das Papier, bereits Aufträge in Höhe von
50 Millionen Euro vergeben.
Sven Becker, Andreas Wassermann
Deutschland
„Gefährliche Defizite“
Der Brandschutz erweist sich bei Stuttgart 21 als Achillesferse des Milliardenprojekts.
FOTOS: KS (2)
G
enau 20 Jahre ist es her, dass die
Bahn das wohl ambitionierteste
Neubauprojekt ihrer Geschichte vorstellte: den Tiefbahnhof Stuttgart 21.
Im Januar 2012 wurde der Südflügel des
alten Kopfbahnhofs abgerissen. Und an
diesem Dienstag werden die Bagger auf
der umstrittenen Großbaustelle tief ins
Erdreich streben, dorthin, wo in Zukunft
der gesamte Zugverkehr fließen soll.
Dann starten die Arbeiten für den ersten Teil des 7,2 Hektar großen Bahnhofstrogs, in dem sich Gleise und Bahnsteige
ausbreiten sollen. Doch während die
Tiefbauer mit schwerem Gerät Fakten
schaffen, fehlt eine wichtige Voraussetzung für die spätere Inbetriebnahme: das
Brandschutzkonzept.
Noch im Juni hatte die Bahn erklärt,
man sei „zuversichtlich, die erforderlichen brandschutzrechtlichen Genehmigungen zum Beginn der Baumaßnahmen am Bahnhofstrog im Sommer“ zu
erhalten. Davon ist nicht mehr die Rede.
Laut Bahn wäre es ausreichend, wenn
das gesamte Sicherheitskonzept zu
Brandschutz, Tunnelsicherung und Entrauchung „bis Mitte 2015“ vorliegt.
Der Brandschutz erweist sich damit
als Achillesferse des milliardenteuren
Bahnhofs. Kritiker sehen schon Parallelen zum Berliner Flughafen BER.
Architektonisch anspruchsvolle Verkehrsbauten wie der Tiefbahnhof S 21
mit seinen markanten Glasaugen und
acht unterirdischen Gleisen stellen die
Brandschutzplaner vor besondere Herausforderungen. Entrauchungskanäle
sollen möglichst unsichtbar sein, um die
Bau-Ästhetik nicht zu stören. Ausreichende Fluchtmöglichkeiten müssen bereits im Rohbau angelegt sein.
Hinzu kommt, dass sich seit dem Planungsbeginn die Brandschutzbestimmungen geändert haben. Erst 2010 hatte
das Eisenbahn-Bundesamt (EBA) seine
Richtlinien für den Brandschutz an
Bahnhöfen erneut überarbeitet und verschärft. Die alten Planungen für S 21 waren damit hinfällig.
Das ganzheitliche Brandschutzkonzept für die unterirdische Bahnhofshalle
erstellt das Frankfurter Planungsbüro
Klingsch. Im Auftrag der Bahn überprüfte die Schweizer Gruner AG allerdings
die Evakuierungspläne – und klassifi-
zierte das Konzept als „derzeit nicht
genehmigungsfähig“. Wolfram Klingsch,
Chef des Ingenieurbüros, bezeichnet das
Gruner-Gutachten als „totalen Unsinn“.
Die für ihn maßgebliche Behörde sei das
EBA: „Und mit dem stehen wir seit
Frühjahr 2013 in gutem Austausch.“
Allerdings liegen auch beim Eisenbahn-Bundesamt noch nicht alle Dokumente vor. „Die Bahn“, so eine EBASprecherin, sei „derzeit dabei, die Planunterlagen noch in Detailfragen zu ergänzen“. Die Stuttgarter Feuerwehr, die
Entwürfe zu Stuttgart 21
„Technisch-wissenschaftlicher Betrugsfall“
das Brandschutzkonzept absegnen und
im Notfall Brände vor Ort löschen muss,
ist bislang skeptisch.
Die 2013 erstmals vorgelegten Papiere
riefen bei den zuständigen Behörden
Entsetzen hervor. „Wir können im Ernstfall nicht 45 Minuten lang auf Wasser
warten, das ist mit Sicherheit nicht
vertretbar“, erklärte Branddirektor
Frank Knödler damals mit Blick auf die
Wasserversorgung im Fildertunnel. Die
Experten der Feuerwehr bemängelten
zudem zu enge Treppenaufgänge und
sahen Nachbesserungsbedarf bei Brandmeldeanlagen, der Entrauchung sowie
der Evakuierung der Bahnhofshalle.
Insgesamt, erklärte Feuerwehrchef
Knödler, seien beim Brandschutz für
Stuttgart 21 „noch einige kardinale Fragen
offen“. Inzwischen liegt ein überarbeitetes Konzept vor, mit dem die Branddirektion aber immer noch nicht zufrieden ist. So stuft sie die Länge der Fluchtwege nach wie vor als kritisch ein – und
auch bei der Anzahl der zu evakuierenden Personen sieht man Probleme.
S 21 musste leistungsfähiger sein als
der alte Kopfbahnhof – mithin mehr
Züge und mehr Menschen durch den
Verkehrsknotenpunkt schicken. Das erschwert nun ein praktikables Brandschutzkonzept. Es ist eben ein Unterschied, ob 4000 oder 6000 Menschen pro
Bahnsteig zu retten sind.
Die Bahnhofsgegner wittern neue
Chancen. „Besonders bei der Evakuierung der Bahnhofshalle sehen wir gefährliche Defizite“, erklärt Christoph
Engelhardt. Der promovierte Physiker
wurde durch die Schlichtung zu einem
Gegner des Tiefbahnhofs.
Engelhardt und seine Mitstreiter haben in aufwendigen Simulationen die
Brandsituation im neuen Tiefbahnhof
nachgestellt. Nach ihren Berechnungen
müssten die Fluchtwege für bis zu 6000
Personen pro Bahnsteig ausgelegt sein.
Bei den Szenarien rechneten sie mit
jenem Zugaufkommen, das die Bahn
selbst angab, um im Stresstest die Leistungsfähigkeit von S 21 zu untermauern.
Laut einem Protokoll des Stuttgarter Gemeinderats gehen die Bahn-Planer hingegen von maximal 6500 Fahrgästen auf
allen vier Bahnsteigen aus. „Der Tiefbahnhof könnte für viele Menschen zur
Todesfalle werden“, befürchtet Engelhardt. Im Planfeststellungsverfahren von
2005 ist noch von insgesamt 16 000 zu
evakuierenden Personen die Rede, bei
deutlich geringerem Zugverkehr.
Die Bahn hält ihre Berechnungen für
realistisch und erklärt, sie habe „noch
nie einen Bahnhof in Betrieb genommen, der nicht den strengen deutschen
Anforderungen an den Brandschutz genügt – und wird dies auch nicht tun“.
Bahn-Kritiker Engelhardt bezweifelt
das. Für ihn ist Stuttgart 21 „der größte
technisch-wissenschaftliche Betrugsfall
der deutschen Industriegeschichte“.
Simone Salden, Andreas Wassermann
DER SPIEGEL 32 / 2014
31
„Was gedacht werden kann, wird auch gemacht“
nikation ist weitgehend nicht verschlüsselt. Wir halten das für eine elementare
Lücke. Regierungsmitglieder oder Abgeordnete ebenso wie hochrangige Wirtschaftsvertreter sollten ein Smartphone
nicht sowohl dienstlich als auch privat nutzen. Aber wir hatten schon einen Fall in
der Bundesverwaltung, wo jemand interne
SPIEGEL: Herr Hange, vergeben Sie schon Mails auf sein privates E-Mail-Konto weiWartenummern an Bundestagsabgeord- tergeleitet hat, was prompt zu einem Annete, die ihre Handys auf Spähprogramme griff führte. Sorglosigkeit ist ein weit veruntersuchen lassen wollen?
breitetes Phänomen in der digitalen Welt.
Hange: Die Abgeordneten wenden sich SPIEGEL: Geht im Regierungsgeschäft Bederzeit verstärkt an uns, das stimmt. Ob quemlichkeit vor Sicherheit?
sie ihr Smartphone auch wirklich abgeben, Hange: Bei Kryptogeräten brauchen Sie
wenn wir ihnen mitteilen, dass es dann je zwei Tastendrucke mehr, um zu telefonach Prüftiefe bis zu vier Wochen unter- nieren, das ist manchen zu umständlich.
Deswegen arbeiten wir intensiv an der
sucht wird, ist eine andere Frage.
SPIEGEL: Ist die Beunruhigung der Parlamen- Bedienungsfreundlichkeit dieser Geräte.
tarier berechtigt?
SPIEGEL: Die Düsseldorfer Firma SecuHange: Die Aufmerksamkeit für das The- smart, die das angeblich abhörsichere
ma IT-Sicherheit ist größer geworden, „Merkelphone“ entwickelt hat, soll vereben auch bei Parlamentariern. Und die kauft werden. Käufer soll ausgerechnet
gleichzeitige Nutzung eines Smartphones das kanadische Unternehmen BlackBerry
für dienstliche und private Zwecke, wie sein, dessen Produkte offenbar vom USsie häufig praktiziert wird, ist in der Tat Geheimdienst NSA geknackt wurden. Ist
mit Risiken behaftet.
das nicht fahrlässig?
SPIEGEL: Welche Erkenntnisse über Spio- Hange: Aufgrund der vertraglichen Situation
nage haben Sie denn in den vergangenen zwischen dem Bund und dem Unternehzwölf Monaten gewonnen?
men sind konkrete Auswirkungen auf die
Hange: Einige. So geben zum Beispiel die aktuelle Ausstattung der Bundesverwaltung
Snowden-Unterlagen Einblicke, was mög- mit Secusmart-Produkten nicht zu erwarlich ist. Wir haben das Regierungsnetz ten. Darüber hinaus werden wir die langnochmals überprüft und nichts gefunden. fristigen Auswirkungen des Verkaufs auf
Aber wir müssen am Ball bleiben, um einen die Sicherheitseigenschaften der betroffemöglichst hohen Schutz zu gewährleisten. nen Produkte sehr genau untersuchen. Die
SPIEGEL: Den Snowden-Unterlagen zufolge Bundesregierung prüft im Moment ja auch
sollen die Amerikaner mit großem Auf- noch rechtliche Möglichkeiten.
wand das Regierungsviertel überwacht SPIEGEL: Hat Sie, technisch gesehen, etwas
an den Snowden-Enthüllungen überrascht?
haben.
Hange: Sogenannte passive Angriffe ha- Hange: Wir wussten immer, dass die NSA
ben für den Angreifer den Charme, dass enorme Fähigkeiten bei der strategischen
sie keine Spuren hinterlassen.
Erfassung von Daten hat.
Trojaner auf Computern Digitale Kriminalität
Aber wir waren schon verkönnen Sie vielleicht noch Erfasste Straftaten,
blüfft, als wir in einem der
feststellen, aber wenn ein bei denen Computer
veröffentlichten Dokumente
Geheimdienst das Funksignal Mittel oder Ziel waren
gelesen haben, das Ziel für die
eines Handys abfängt und
kommenden Jahre sei, „any2013
mithört, bekommen Sie das
one, anywhere, anytime“ zu
64
426
nicht mit.
erfassen. Die NSA gibt hohe
SPIEGEL: Was haben Sie unter- 2008
Summen aus und betreibt einommen, um passive Angriffe 37900
nen erheblichen Aufwand,
zu erschweren?
um auf vertrauliche Daten zuHange: Wir schlagen Kryptozugreifen. Das hat auch Exgrafie vor, also konsequente
perten überrascht.
+70 %
SPIEGEL: Das BSI ist 1991 aus
Verschlüsselung. Das ist nicht
der Zentralstelle für das Chifimmer einfach umzusetzen.
frierwesen des Bundesnach95 Prozent der E-Mails sind ofQuelle:
BKA
richtendienstes hervorgeganfen, auch die mobile KommuHange, 64, ist Mathematiker, seit 2009 Präsident
des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) – und
seit Beginn der NSA-Affäre gefragt wie nie.
32
DER SPIEGEL 32 / 2014
gen. Die NSA bezeichnet Ihre Behörde
zudem als „Schlüsselpartner“. Kann sich
der Bürger überhaupt sicher sein, dass Sie
seine Daten nicht an die NSA weitergeben?
Hange: Ja, da kann der Bürger ganz beruhigt sein. Wir spionieren und sabotieren
nicht. Seit seiner Gründung hat das BSI
einen eindeutig präventiven Auftrag, das
bedeutet, dass wir der Bundesregierung,
der Wirtschaft und den Bürgern helfen,
sich gegen Cyberangriffe zu schützen. Entsprechend ist die Zusammenarbeit mit den
für Prävention zuständigen Teilen der
NSA und des britischen Nachrichtendienstes GCHQ. Die Kooperation erfolgt im
Rahmen der Nato und beschränkt sich auf
unseren gesetzlichen Auftrag. Wir tauschen keine Kenntnisse über Schwachstellen mit den Amerikanern oder Briten aus.
SPIEGEL: Tauschen Sie Daten mit der NSA
aus?
Hange: Keine Überwachungsdaten. Aber
wir tauschen uns mit der NSA zu den verschiedensten Themen der Prävention aus.
Da muss man sich auf Standards verständigen.
SPIEGEL: Sie registrieren fünf bis zehn
maßgeschneiderte Angriffe pro Tag auf
das Regierungsnetz. Stecken dahinter
Geheimdienste?
Hange: Manche Angriffe sind technisch
gesehen so hochwertig, dass vieles dafürspricht.
SPIEGEL: Welche Ministerien sind die
Hauptziele von Cyberattacken?
Hange: Das Auswärtige Amt steht, weil es
weltweit aufgestellt ist, stark im Fokus von
Cyberangreifern. Außerdem das Finanzministerium, was einen vielleicht nicht
wundert.
SPIEGEL: Und was für lupenreine Wirtschaftsspionage spricht.
Hange: Das zu interpretieren ist Aufgabe
des Bundesamts für Verfassungsschutz.
SPIEGEL: Verzeichnen Sie auch Sabotageversuche?
Hange: Das größere Problem ist zurzeit
die Cyberspionage. Der Vorteil ist, dass
wir das Regierungsnetz mit dem Umzug
von Bonn nach Berlin ganz neu konzipieren konnten. Das heißt, wir haben nicht
wie andere Staaten Hunderte oder Tausende Zugänge ins Regierungsnetz, sondern nur zwei. Um einen bildlichen Vergleich zu gebrauchen: Bei uns ist es eher
wie bei den Thermopylen, wir wissen, wo
die Perser durchmüssen, und können uns
entsprechend aufstellen.
FOTO: GETTY IMAGES
Cyberkriminalität Michael Hange, Deutschlands oberster Sicherheitschef für Informationstechnik, über
Angriffe auf Ministerien, den Sinn von Kryptohandys und den Hase-und-Igel-Wettlauf im Netz
Deutschland
FOTO: HENNING SCHACHT
Handynutzer Steinmeier, Gabriel, Merkel: „Sorglosigkeit ist ein weit verbreitetes Phänomen“
SPIEGEL: Und Sie sind auch sicher, dass die
Zahl Ihrer Spartaner ausreicht?
Hange: Zugegeben, mit historischen Vergleichen ist es so eine Sache. Wir stochern
jedenfalls nicht im Nebel, was Angriffe
auf das Regierungsnetz betrifft. Nur:
Rund 20 Prozent der kritischen Infrastruktur in Deutschland befinden sich in staatlicher Hand; das meiste ist privat, etwa
Telekommunikation und Energie. Und
was da passiert, erfahren wir nur punktuell. Wir kriegen über die Allianz für
Cybersicherheit zwar mit, dass die Wirtschaft immer häufiger Opfer von schlagkräftigen kriminellen Organisationen ist
– manche dieser Angriffe könnten aufgrund der technischen Qualität auch
auf die Handschrift staatlicher Organisationen fremder Länder Rückschlüsse
zulassen. Aber die Dunkelziffer ist enorm
hoch.
SPIEGEL: Weil die Unternehmen lieber Millionen zahlen, als Angriffe zu melden?
Hange: Der Verlust von Vertrauenswürdigkeit ist für jedes Unternehmen fatal.
Und man muss bedenken, dass die Unternehmen zweimal Opfer sind: einmal
durch den Angriff selbst und zum anderen
durch den Imageschaden. Aber allen,
auch dem einzelnen Bürger, muss klar
sein: Heute stehen alle im Fokus der
Cyberangriffe. Daher ist es wesentlich,
dass an einer vertrauenswürdigen Stelle
wie dem BSI Informationen darüber
zusammenfließen, welche Angriffsmethoden und -werkzeuge wo zum Einsatz kommen. Und da ist eine anonyme
Meldung allemal besser als gar keine
Meldung.
SPIEGEL: Wie man an den beiden jüngsten
Fällen von millionenfachem Identitätsdiebstahl im Netz sehen kann, werden
auch normale Bürger massenhaft Opfer
von Cyberattacken. Reicht es aus, an die
Menschen nur zu appellieren, dass sie sich
besser schützen sollen?
Hange: Ich bin der Auffassung, dass auch
die Onlineanbieter wesentlich mehr machen müssten als bisher. Sie sollten wenigstens standardisiert Verschlüsselung sowie
bessere Authentisierungsmöglichkeiten
anbieten und zudem transparent machen,
wo sie ihre Daten speichern.
SPIEGEL: Ihr Schwerpunkt sind Cyberangriffe gegen das deutsche Netz und
gegen deutsche Firmen. Beobachten Sie
auch Angriffe von Deutschland aus?
Hange: Deutschland ist als Land mit vielen Hosting-Providern natürlich auch
eine Relaisstation. Nehmen Sie den Fall
des Angriffs auf die Wall-Street-Banken.
Da haben wir festgestellt, dass viele kommerziell betriebene Server in Deutschland fremdgesteuert an diesem Angriff
beteiligt waren. Wir haben die ServerBetreiber gewarnt, und es war interessant
zu beobachten, dass ein Drittel sofort
reagierte, ein Drittel gar nicht, und das
restliche Drittel sagte, wir haben unsere
Server vermietet und auf sie keinen
Einfluss. Das ist auf Dauer nicht zu
akzeptieren. Ob vermietet oder nicht:
Wir müssen in solchen Fällen von den
Betreibern erwarten können, dass sie
reagieren.
SPIEGEL: Worin sehen Sie momentan die
größte Gefahr beim Thema Cyberkriminalität?
Hange: Es hat sich ein internationaler Kriminalitätszweig entwickelt, der sehr viel
Geld damit verdient. Und das Problem
ist, dass die Qualität der Angriffe immer
weiter steigt und dass die Angreifer zurzeit in einer überlegenen Position sind,
auf die weitgehend nur reagiert werden
kann. Die zunehmende Vernetzung der
Systeme untereinander bietet künftig
noch mehr Angriffspunkte.
SPIEGEL: Chinesische Studenten sind kürzlich in die Software eines Tesla-Autos eingedrungen. Müssen wir in naher Zukunft
mit dem perfekten Mord per Fernsteuerung rechnen?
Hange: Wir müssen uns darauf einstellen,
dass alles, was gedacht werden kann, irgendwann auch gemacht wird. Wir können dagegen keinen umfassenden Schutz
bieten. Aber wir sollten uns schon überlegen, wie wir die Sache für den Angreifer
so aufwendig und kostspielig machen, dass
es sich einfach nicht mehr rentiert. Bei
der Entwicklung neuer Technologien müssen Fragen der IT-Sicherheit von Anfang
an mitgedacht werden.
SPIEGEL: Sie sind seit fast 40 Jahren im
Geschäft, seit vergangenem Sommer hört
man Ihnen endlich aufmerksamer zu. Sind
Sie Edward Snowden dankbar dafür?
Hange: Früher galten wir mit unseren Warnungen zuweilen als leicht paranoid. Das
hat sich in der Tat geändert. Aber wir
sitzen hier nicht und sagen: Die NSA-Affäre war ein Glücksfall für uns. Ich verfolge auch nicht das Ziel, dass wir eine
5000-Mann-Behörde werden und sagen:
Wir retten die Republik.
Interview: Sven Becker, Jörg Schindler
DER SPIEGEL 32 / 2014
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Karrieren Der Grünen-Fraktionsvorsitzende Hofreiter ist
bisher in erster Linie durch seine Frisur aufgefallen.
Er gilt als führungsschwach. Doch Hofreiter will vor allem
eines: sich nicht verbiegen lassen. Von Nicola Abé
34
DER SPIEGEL 32 / 2014
A
FOTO: CHRISTIAN THIEL / DER SPIEGEL
Der edle Wilde
nton Hofreiter fräst sich durchs Gestrüpp. Zweige peitschen ihm ins
Gesicht, es riecht nach Moos.
„Wildnisähnliche Zustände“, ruft Hofreiter.
Er führt eine Gruppe bayerischer Grüner
an der renaturierten Isar entlang, immer
tiefer in den Wald. „Jeder kommt ans
Ziel“, sagt er und schiebt einen Ast beiseite, „man muss nur langsam genug gehen.“
Auf einer Lichtung bleibt er stehen.
„Schauts alle mal her: Schachtelhalm.“ Ein
paar Barfüßige scharen sich um ihn. Hofreiter rupft ein filigranes Gewächs aus dem
Boden und hält es in die Höhe. „Ein lebendes Fossil.“ Aus der Zeit der Dinosaurier habe der Schachtelhalm sich bis in die
Gegenwart hinübergerettet, trotz der Eroberung der Welt durch die Blütenpflanzen vor 120 Millionen Jahren. „Der Schachtelhalm ist extrem robust“, sagt Hofreiter.
Er sieht glücklich aus.
An der Isar muss Hofreiter, Chef der
Grünen im Bundestag, nicht in erster Linie
Politiker sein. Hier ist der promovierte Biologe auch Wissenschaftler. Das hat den
Vorteil, dass er nicht in Monaten, sondern
in Jahrmillionen rechnen kann.
Aus der Perspektive des Schachtelhalms
ist die Zeitspanne, die seit seinem Antritt
als Fraktionsvorsitzender vergangen ist,
ein Witz. So gesehen ist es auch eine Kleinigkeit, dass kaum einer noch weiß, wofür
die Grünen jenseits von Helmpflicht für
Fahrradfahrer und Freilandhaltung für
Hühner noch stehen. So gesehen wäre die
Schwäche seiner Partei ähnlich zu werten
wie die Tatsache, dass trotz der Erderwärmung in manchen Jahren die Temperatur
sinkt. „Ein kleines Zittern in der Grundkurve“ nennt Hofreiter das. Er selbst wäre
dann so ein unverwüstlicher Schachtelhalm. Die Grundkurve, seine und die der
Partei, zeigt nach oben. So jedenfalls denkt
er an guten Tagen.
Hofreiter ist seit Oktober vergangenen
Jahres Chef der Grünen im Bundestag.
Knapp ein Jahr später kennen viele Deutsche bestenfalls seine Frisur. Mit politischen Inhalten ist er weniger aufgefallen.
Die Grünen haben einen Jungen an ihre
Spitze gewählt, der zugleich an ihre Vorzeit anknüpft. An jene Zeit, als man so
Anti-Establishment war, dass man sich weigerte, Krawatten zu tragen. Hofreiter ist
die Reinkarnation urgrüner Tugenden: ein
echter Linker, naturverbunden, das Herz
am rechten Fleck – eine Art edler Wilder
des Berliner Politikbetriebs.
Am Ende eines seiner weniger guten
Tage sitzt der neue Vorsitzende im Bordrestaurant eines ICE von Hamburg nach
Berlin. Sein Anzug ist verknittert. Am
Hamburger Bahnhof hat man ihn gefragt,
ob er der Typ von der FDP sei. Die Grünen, heißt es in der Presse, seien als Opposition zu harmlos. Ihr Fraktionsvorsitzender sei führungsschwach. Außerdem
FOTOS: STEFAN BONESS / VISUM
Deutschland
hat Hofreiter seinen ersten Skandal: Ge- tik so an den Tag legen. Er findet, es müsse
rade ist öffentlich geworden, dass er jahre- auch anders gehen. Konstruktive Opposilang keine Steuern für seine Zweitwoh- tion. Differenzierung. Die Regierung nur
nung bezahlt hat. Er hat sich für sein Ver- angreifen, wenn es um Inhalte geht, nicht
säumnis entschuldigt. Aber er weiß nicht, um den bloßen Effekt. Die FDP, glaubt
was passieren wird. Draußen gleitet blau- Hofreiter, habe ihre Selbstvernichtung
durch ihre extremen Auftritte in der Opschwarz eine Sommernacht vorbei.
„Morgen keine Scheißpolitik“, sagt Hof- position angelegt.
Bei den Grünen ist Hofreiter mit seiner
reiter. Es ist einer dieser Momente, in denen er sich von Deutschland nicht verstan- Art vorangekommen. Zunächst in Bayern,
den fühlt und dieses Land nicht versteht. ab 2005 im Bundestag. Als verkehrspolitiWieso jubelt es über das Wirtschaftswachs- scher Sprecher und als Flügelkoordinator
tum, wenn gleichzeitig Umwelt und der Fraktion schmiedete er Allianzen. SeiHumankapital ausgebeutet werden? Wieso ne Wahl zum Fraktionsvorsitzenden war
regt sich kaum jemand über eine Regie- lange geplant. Heute gefällt sein weicher
rung auf, die ihre Bürger ausspähen lässt? Stil denen, die unter den autoritären Chefs
Wieso sind die Grünen in der öffentlichen der Vergangenheit gelitten haben.
Aber kommt man mit Nettigkeit auch
Wahrnehmung so abgerutscht? Hofreiter
würde Deutschland gern wachrütteln. Viel- gegen die alten Hasen des Polit-Betriebs
leicht brüllt er deswegen manchmal bei an, die ihre Intrigen spinnen und jede Polemik nutzen, um beim Volk zu punkten?
seinen Auftritten.
Hofreiter holt ein Büchlein aus der Kann man in einem Spiel erfolgreich sein,
Tasche und legt es auf den Tisch im Bord- das man nicht mitspielen will? Der Schachrestaurant. Es ist bunt gemustert und telhalm, das lässt sich jedenfalls in verhat abgewetzte Ecken. „Du brauchst auch schiedenen Werken der Botanik nachlesen,
mal was anderes zum Ausgleich“, sagt er, ist eine höchst anpassungsfähige Pflanze.
Während sich Hofreiter durch die Wild„sonst wirst ja irre.“ Er schlägt sein Buch
auf, darin Handgeschriebenes. Er wählt nis an der Isar kämpft, will eine Frau wissen, ob ihn Berlin denn verändert habe.
eine Parabel von Kafka.
Die Parabel handelt von einer Maus. „Man muss immer aufpassen, dass man
Hofreiter liest vor: „,Ach‘, sagte die Maus, sich nicht nur selbst verändert, sondern
,die Welt wird enger mit jedem Tag.‘“ Zu- auch das Drumrum“, sagt Hofreiter. In
erst sei die Welt sehr breit gewesen, die Bayern gibt es Journalisten, die den „Toni“
Maus habe Angst gehabt. Als sie in der mit einem Doppelklaps auf die Wampe beFerne Mauern sah, sei sie froh gewesen. grüßen. In Berlin legen sie ihm wegen seiDoch nun eilten die Mauern aufeinander ner notorisch ausgebeulten Hosentaschen
zu, und ganz hinten stehe eine Falle. Die ein Herrenhandtäschchen nahe. Darüber
Maus laufe auf die Falle zu. Der letzte Satz lacht Hofreiter hier in der Natur gern. Er
dieser sehr kurzen Fabel lautet: „,Du selbst findet den Transport von Dingen in
musst nur die Laufrichtung ändern‘, sagte seiner Hose „total praktisch“. Er bringt
darin neben seiner Brieftasche mühelos
die Katze und fraß sie.“
Hofreiter klappt sein Büchlein zu und Handys, Schlüssel, Ausweise oder eine ganblickt auf. Er will nicht die Maus sein. Also ze Packung Gummibärchen unter.
Als Kind einer Arbeiterfamilie wuchs
darf er auf keinen Fall die Laufrichtung
ändern. Auch wenn er sich womöglich auf er in der Gemeinde Sauerlach südlich der
eine Falle zubewegt. Man wirft ihm Net- Landeshauptstadt auf. Mit den Söhnen
tigkeit vor. Also verteidigt er Nettigkeit. und Töchtern der Münchner Schickeria hatEr glaubt, Nettigkeit sei auch ein Weg zur te er wenig gemein. Schon mit 14 war er
politisch aktiv. In der Heimat hält HofreiMacht.
Nettigkeit ist nur eine von vielen For- ter die meisten Reden frei. Nur wenn wirkmen der Nichtanpassung, die sich Hofrei- lich viele Leute gekommen sind, kritzelt
ter in der Hauptstadtpolitik leistet. Da ist er sich kurz vor Beginn ein paar Stichpunkauch seine bayerische Aussprache, die er te auf eine Papierserviette.
Im Bundestag liest er ab. Wenn er in
nicht ablegt. Worte wie krass, abartig oder
geil gehören nach wie vor zu seinem Wort- Berlin vor eine Fernsehkamera tritt, passchatz. Und natürlich ist da seine viel be- siert etwas Seltsames mit ihm. Er vereist.
schriebene Frisur: „Einen Spitzenpolitiker Sein Körper wird steif, zwischen die
mit langen Haaren, das gab es noch nie“, auswendig gelernten Sätze mischen sich
meint Hofreiter. Ein Parteikollege aus Bay- langgezogene Ähs. Auch seine Gedanken
ern sagt über ihn: „Der Toni ist immer frieren ein. Als Hofreiter am Tag des Rücknoch im alten Denken verhaftet: Die da zugs von Jürgen Trittin plötzlich im Ramoben, wir da unten.“ Hofreiter will sich penlicht stand, fragte ein Fernsehreporter:
nicht verbiegen lassen. Er pflegt seine Ei- „Was sind Sie denn so für ein Typ?“ Ein
genarten. Sonst könnte er eines Tages aus paar quälende Sekunden lang fiel ihm rein
gar nichts zu sich selbst ein. Schließlich
Versehen so werden wie die da oben.
„Schimpansoides Verhalten“ nennt er zog sein Pressesprecher ihn von der Kadas, was gewisse Alphamännchen der Poli- mera weg.
Parteifreunde Trittin, Hofreiter
„Ein Rohdiamant“
Es ist nicht einfach, ohne Maske zu bestehen in einem System, das ständig Inszenierung verlangt. An einem Donnerstag
im Juni gibt Hofreiter ein Live-Interview
in einer Berliner Galerie. An den Wänden
hängt moderne Kunst, das Publikum ist
sehr Berlin-Mittig, Kostümchen, Bärte, Birkenstock-Sandalen. Der Zeit-Journalist
Moritz von Uslar trägt Jeans und ein perfekt sitzendes cremefarbenes Jackett; Hofreiter einen seiner grauen Anzüge, seine
Stirn glänzt. Uslar („Hofreiter ist mein
persönlicher Kanzlerkandidat“) hat sich
99 Fragen ausgedacht. Aber Hofreiter lässt
die Fragen an sich abperlen. Er gibt Plattitüden von sich. Er nennt eine Frage machohaft. Er will seinen Lieblings-HeavyMetal-Song nicht verraten. Manchmal
bricht er in lautes Gelächter aus. Uslar
wirkt etwas ratlos. Nach einer halben Stunde ist alles vorbei.
Hofreiter hat Uslar offenbar als Feind
identifiziert und beschlossen, ihn keinen
Millimeter an sich heranzulassen. Dabei
will Uslar ihm eigentlich gar nichts Böses,
im Gegenteil. Er sieht so etwas wie FreakPower, Kult-Potenzial! Aber Hofreiter will
sich nicht inszenieren lassen. Auch nicht
als Freak. Er will radikal echt sein.
Es ist die Zeit, als Jürgen Trittin, noch
so ein Mann mit perfekt sitzenden Anzügen und ausgefeilter Rhetorik, wieder ständig im Fernsehen auftritt. Gerüchte über
einen Comebackversuch geistern durchs
Regierungsviertel. Die beiden haben ein
enges Verhältnis, Trittin gilt als Förderer
Hofreiters. Und dennoch stiehlt er ihm mit
seinen Auftritten die Show. Über seinen
Nachfolger redet Trittin wie ein gönnerhafter Onkel: „Ein Rohdiamant, der noch
geschliffen werden muss.“
Erst vor Kurzem ist Hofreiter im Bundestag ausgerastet. In der Debatte ging es
um die Ukraine, eine Abgeordnete der Linken hatte Hofreiters Kovorsitzende Katrin
Göring-Eckardt als Verbrecherin bezeichnet, weil sie den Faschismus in der ukraiDER SPIEGEL 32 / 2014
35
nischen Regierung nicht genug gegeißelt
habe. Ein weiterer Abgeordneter legte
nach. Hofreiter wollte der Frau an seiner
Seite beispringen und brüllte durchs Plenum: „Jetzt langt’s aber wirklich mal. Sie
haben doch überhaupt keinen Anstand!“
Es war ein sehr männlicher Auftritt, vielleicht sogar ein klein wenig schimpansoid.
Jedenfalls kam er gut an. Nicht nur bei
der eigenen Fraktion, auch Volker Kauder
neben ihm war beeindruckt. Hofreiters
Ausraster schaffte es ins „heute-Journal“.
Ein paar Wochen später fährt Hofreiter
mit dem Regionalzug von der Isar an die
Donau, noch so ein renaturierter Fluss,
diesmal ist eine Kanufahrt geplant. Es ist
das Wochenende, an dem Details über das
wirre Mautkonzept von CSU-Verkehrsminister Alexander Dobrindt bekannt geworden sind, eine ideale Vorlage für den Verkehrspolitiker Hofreiter. „Berlin direkt“
hat ihn für ein Interview angefragt. Hofreiter telefoniert mit seinem Büro. „Das
Konzept ist doch völliger Schmarrn! Eine
Mischung aus Ökofundamentalismus und
rechtspopulistischen Tendenzen!“ Etwas
platt, was er da von sich gibt – aber eindrucksvoll. „Nein, natürlich sage ich das
so nicht im Fernsehen“, beruhigt Hofreiter
seinen Mitarbeiter.
„Sind Sie nicht dieser Sportler?“, fragt
ihn ein Mann am Bahnhof. Von irgendwoher glaubt er Hofreiter zu kennen. Das
Problem mit der Nichtanpassung ist
manchmal, dass dahinter die Inhalte verblassen.
Hofreiter hat extra einen Anzug mitgenommen, er verstaut ihn in einem wasserdichten Segelsack. Die Sonne brennt vom
Himmel, Hofreiter paddelt, in der Ferne
identifiziert er ein paar Nilgänse. An einer
Kiesbank legt er an. Seine nackten Füße
stehen im Wasser, wikingerhafte Statur,
die Haare wehen. Er sieht selbst ganz renaturiert aus. An den Knöcheln sind lange
Narben zu sehen. Die stammen aus seiner
Zeit in Lateinamerika, von der erzählt er
gern. Wie er sich mit gebrochenem Fuß
durch den Dschungel schleppte oder wie
er einem Typen mit Gewehr seinen eisernen Pflanzenschneider entgegenstreckte,
um sein Leben zu verteidigen. Das sind
existenzielle Erfahrungen, dagegen ist Berlin wieder ganz winzig.
Gegen 17 Uhr erreicht die Gruppe Plattling in Niederbayern. Hofreiter eilt mit seinem roten Segelsack ins Hotel Liebl, wo
er sich für eine Stunde ein Zimmer mietet.
Als er herauskommt, hat er sich wieder in
den Berliner Toni verwandelt. Er hat geduscht und seinen Anzug „glatt gestrichen“. Das Team vom Bayerischen Rundfunk hat vor dem Hotel eine Kamera aufgebaut. Hofreiter wippt mit dem Fuß. Er
gibt ein paar ziemlich komplizierte Antworten. Womöglich wird man sich wieder
nur an seine Frisur erinnern.
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DER SPIEGEL 32 / 2014
Deutschland
Lotsen des
Glücks
Affären Die Länder prüfen, ob
ihre Klassenlotterie Gewinner
zur Bank Merck Finck geschleust
hat. Eine Mail des Lotto-Chefs
deutet zumindest darauf hin.
FOTO: ROMAN BABIRAD / BABIRADPICTURE
E
igentlich hat Gerhard Rombach den
schönsten Beruf der Welt: Er macht
Menschen sehr, sehr glücklich. Rombach ist einer der beiden Vorstandssprecher
der GKL, der Klassenlotterie der Länder,
SKL-Gewinnerin Nonne*
und wo die ihr Glück austeilt, da kommt
Blumige Worte
es für die Gewinner millionendicke.
Eine andere Frage ist, ob auch die Län- Elfriede Nonne** den Hauptgewinn in der
der noch sehr, sehr glücklich sind – mit „Fünf-Millionen-SKL-Show“ mit Günther
Rombach. Denn als Eigentümer der GKL Jauch ab. Die Ostrentnerin, wie ihre ganze
wollen sie nun genau wissen, was dran ist Familie in Gelddingen unbeleckt, vertraute
an Hinweisen, bei der staatlichen Lotterie ihren neuen Reichtum Merck Finck an. Ihr
könnten Lottokönige gezielt zur Privat- Sohn, so weit ist es heute unstreitig, stand
bank Merck Finck geschleust worden sein dazu vorher im Kontakt mit Rombach. Die
und dort viel Geld verloren haben. Alar- Familie habe das Geld nicht zu Hause bei
miert durch einen SPIEGEL-Bericht (25/2014), der Sparkasse anlegen wollen, aus Angst,
haben die Länderfinanzminister die GKL es könnte sich herumsprechen, was genau
angewiesen, den Fall von externen Prüfern sie damit mache.
Nonnes Sohn verstand Rombach damals
durchleuchten zu lassen.
Das kann nicht schaden, denn für eine so, dass man sich doch am besten die Priauffällige Nähe zwischen Lotto und Bank- vatbank Merck Finck anschauen solle.
haus gibt es durchaus Indizien, die bis in Rombach dagegen will Nonne nur auf eine
den Lotto-Vorstand hochreichen. Als der Untersuchung aus der Tageszeitung Die
SPIEGEL vor einigen Wochen Rombach Welt hingewiesen haben. Dort waren Banfragte, ob er sich persönlich für Merck ken aufgelistet, die zu den besten VermöFinck starkgemacht habe, wies der Vor- gensverwaltern gehörten. Erst auf direkte
standschef das entschieden zurück. Nun Nachfragen von Nonne habe er, Rombach,
aber belegt eine Mail, dass Merck Finck, Namen von der Liste genannt, neben
anders als andere Banken, einer Haupt- Merck Finck auch noch andere Häuser.
Als im Juni der Fall und die erheblichen
gewinnerin besonders angepriesen wurde.
Ihre Familie ist heute, nach hochriskanten Verluste der Familie – vor allem mit SchiffsAnlagen bei der Bank, um einige Hundert- fonds – öffentlich wurden, beschlossen die
tausend Euro ärmer. Absender der Mail: Länder eine Untersuchung. Sie schalteten
die Großkanzlei Baker & McKenzie ein,
Vorstand Rombach.
Wie weit Lotto-Chefs gehen dürfen, um die mittlerweile nicht nur in der Lottoihre oft unbedarften Kunden vor den Risi- Zentrale Mitarbeiter befragt. Die Anwälte
ken des Millionärslebens zu bewahren, hat- wollen auch mit den Millionengewinnern
te Rombach vor einigen Jahren mal gut der vergangenen Jahre sprechen. Dazu hat
umrissen. Rombach, damals noch Direktor die GKL Mitte Juli die Lottokönige angeder Süddeutschen Klassenlotterie SKL, die schrieben. Es gehe um eine Überprüfung,
später in der GKL aufging, sprach von der „ob Gewinner der SKL-Show regelmäßig
„Verantwortung, unseren Gewinnern Hilfe- gezielt einer bestimmten Privatbank in
stellungen anzubieten“, etwa beim Um- Sachen Geldanlage zugeführt wurden“.
gang mit Freunden, Journalisten, auch mit Unterschrieben war der Brief von VorBanken. Allerdings immer so, dass „wir stand Günther Schneider. Dagegen soll
neutral bleiben, wie man es von uns Vorstand Rombach bei der Aufklärung
erwartet“. Dass man Gewinner zu einer offenbar keine Rolle spielen. Und das dürfBank lotst, damit die gute Geschäfte mit te so auch besser sein.
den Lottomillionären machen kann – unvereinbar mit den Lotterie-Ansprüchen.
* Mit Showmaster Günther Jauch (l.) und Lotto-Vorstand
Aber hielt sich Rombach auch daran? Gerhard Rombach (r.) 2007.
Im Juni 2007 räumte die damals 73-jährige ** Name geändert.
Denn so neutral wie Rombach bisher
glauben machte, war seine Bankenberatung
wohl doch nicht. Vielmehr lässt sich eine
Mail, die er am 20. Juni 2007 an die „Liebe
Frau Nonne“ und deren Sohn schrieb,
durchaus als Werbebotschaft lesen – für
Merck Finck. „Zunächst hoffe ich, dass die
… Aufregung des letzten Wochenendes sich
einigermaßen gelegt hat“, beginnt Rombach sein Schreiben, sechs Tage nach der
SKL-Show. Von einer Mitarbeiterin habe
er gehört, dass sich die Familie auch mit
den „finanziellen Folgen“ beschäftige und
gern einige Informationen hätte. Die wolle
man „sehr gerne“ liefern, aber klarstellen,
dass „wir nur grobe erste Hinweise geben.
Entscheiden müssen Sie selbst“. Was folgt,
sind allerdings sehr detaillierte Hinweise,
nämlich die Kontaktdaten von Georg
Sedlmair, Direktor Vermögensberatung von
Merck Finck in München. Sedlmair war
mehrfach zu After-Show-Partys der SKLSendung eingeladen worden.
„Herr Sedlmair berät auch unsere vorangegangene Millionärin“, heißt es in der
Mail, und dass er „in einem anderen Fall
schon Anlagemöglichkeiten gesucht hat
mit bestimmten Wertpapieren, die für eine
steuergünstige Anlage infrage kommen …
Das Haus Merck Finck hat aber auch alle
anderen Angebote und verkauft grundsätzlich keine eigenen Papiere“.
Dass man als Bank nicht an einen Anbieter von Wertpapieren gebunden sei, sondern
aus den besten Anlagen wählen könne, ist
ein Hinweis, mit dem auch Merck-Finck-Berater gern Kunden ködern. Damit nicht genug: „Das Interessante an Merck Finck ist,
dass dort auch eine Steuer- und Rechtsberatung angeboten wird (zu Stundensatzkosten
und nicht auf Basis des Vermögenswertes;
dies führt bei größeren Summen doch zu
erheblichen Einsparungen) und dann die gesamte Anlagestrategie auf die individuellen
Vorgaben und Ziele nach umfänglicher Beratung ausgerichtet“ seien. Sätze, die Merck
Finck gefreut haben dürften. Die GKL sieht
das bis heute anders. „Einen bevorzugten
Hinweis auf Merck Finck hat es nicht gegeben.“ Richtig ist: In der Mail erwähnte Rombach, dass auch noch andere Banken aus
der Tageszeitungsliste solche Leistungen anböten. Beispielsweise „Fürst Fugger, Deutsche Bank u.v.a.“ Und er empfahl auch, die
Zinsen zu vergleichen und das Geld „vielleicht sogar auf 2 bis 3 Häuser aufzuteilen“.
So blumige Worte wie bei Merck Finck fand
Rombach für die Konkurrenz jedoch nicht.
Auch zwei Tage später nicht, als er noch
zwei weitere Bankadressen schickte: Bei
der Deutschen Bank München und der HypoVereinsbank nannte er nur Ansprechpartner und Telefonnummern – „So weit
auf die Schnelle.“ Die Entscheidung der
Familie Nonne fiel anschließend, wenig
verwunderlich, für Merck Finck aus.
Jürgen Dahlkamp, Gunther Latsch, Jörg Schmitt
DER SPIEGEL 32 / 2014
37
Angeklagte Zschäpe (M.), Verteidiger Stahl, Sturm, Heer (v. l.) am 10. Juli vor dem OLG München
„Ganz innige Freunde“
D
ie junge Zeugin weint schon beim fassade zu gestatten. Jeder wusste vom
Betreten des Gerichtssaals. Sie anderen offenbar alles. „Die wussten alles
schluchzt so sehr, dass sie kaum voneinander!“, wiederholt die Zeugin,
das „Nein“ herausbringt, mit dem sie die „das waren ganz innige Freunde!“
Max, Gerry und Liese hätten stimmige
fürsorgliche Frage des Vorsitzenden abwehrt, ob sie eine Pause brauche. Schließ- Geschichten über ihre Herkunft zum Beslich beginnt sie mit zittriger, dann fester ten gegeben und vom Leben in der frühewerdender Stimme auszusagen. Was hat ren DDR erzählt. Streit oder Spannungen
habe es nie gegeben unter den dreien, sagt
sie so aufgewühlt?
Später, als sie vortreten soll, um Perso- die Zeugin auf Fragen des Gerichts. Es sei
nen auf Fotos zu identifizieren, und dabei weder über Sorgen gesprochen worden
an Beate Zschäpe vorbeimuss, deutet sie noch über den Beruf oder sonstige Problescheu einen heimlichen Gruß an. Zschäpe me. „Nur lockeres Geflapse.“
Max, also Mundlos, sei ein echter „Spaßbeachtet sie nicht einmal.
In den Jahren 2007 bis 2011 hat Juliane vogel“ gewesen, der „dauernd Witze geS. mit ihren Eltern und einer Freundin rissen“ habe. Gerry habe ihnen mal zeigen
Camping-Urlaub auf Fehmarn gemacht. wollen, wie man mit Schwarzpulver Bom„Eines Tages kamen Böhnhardt, Mundlos ben bastelt. Doch das habe sie als Teenager
und Zschäpe in unseren Wohnwagen und nicht interessiert.
„Haben Sie mit den dreien über Ausfragten, ob wir nicht zusammen Doppelkopf spielen wollten. Von da an haben wir länder gesprochen?“, fragt ein türkischer
das immer gemacht. Jeden Tag von mor- Nebenklageanwalt. „Es gab mal eine Zeit,
gens bis abends haben wir alles gemeinsam da stand ich auf türkische Jungs“, antwortet die Zeugin verlegen. Liese und Gerry,
gemacht.“ Drei Wochen lang, jedes Jahr.
Was sie am 129. Verhandlungstag im also Zschäpe und Böhnhardt, hätten bei
NSU-Prozess über „Max, Gerry und Liese“ diesem Thema „Blicke getauscht“, sodass
alias Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und die Mädchen mit Liese lieber nur PuberZschäpe erzählt, wird von den Richtern tätsprobleme diskutierten. „Ich habe ihr
aufmerksam registriert. „Unsere Ossis, hundertprozentig vertraut und frage mich
wie wir sie nannten“ – das war eine ver- heute“, die Zeugin stockt, wieder steigen
schworene, eingespielte Gemeinschaft, Tränen hoch, „ob die mich wirklich mochnach außen lustig und offen auftretend, te. Oder haben die uns von vorn bis hinten
ohne jedoch einen Blick hinter die Urlaubs- verarscht?“
38
DER SPIEGEL 32 / 2014
Zeugenaussagen wie diese vergisst keiner so schnell, der sie gehört und der diese
junge Frau weinen gesehen hat. Solche genauen Erinnerungen fügen sich zu einem
immer deutlicheren Persönlichkeitsbild der
Angeklagten. Kein Zeuge bisher, der eine
Situation beschrieben hätte, in der Zschäpe
sich glaubhaft von ihren Gesinnungsgenossen distanzierte. Kein Anhaltspunkt für
den Zweifel, dass sie vielleicht die mutmaßlichen Taten der Uwes selbst nicht
wollte. Dagegen die Tatwaffen in der gemeinsamen Wohnung, die Spurenlage, das
Versenden der NSU-Videos nach Böhnhardts und Mundlos’ Tod, das Leben mit
zwei Männern in der Illegalität über so lange Zeit. Lag es an der menschenverachtenden Ideologie, dass diese Ménage-à-trois
so lange hielt? Zschäpes Rolle wird für den
Senat eine Frage der Einschätzung sein.
2007, als sie zusammen mit Zschäpe auf
Fehmarn als „innige Freunde“ auftraten,
hatten Böhnhardt und Mundlos mutmaßlich zehn Menschenleben auf dem Gewissen und lebten ungeniert von Raubüberfällen. Zschäpe zückte vor den Augen der
staunenden Mädchen, die bis dahin noch
keinen echten 500-Euro-Schein gesehen
hatten, wie selbstverständlich ihr gut gefülltes Portemonnaie und zahlte für die
Uwes mit. Sie verhandelte mit einem
Bootsverleiher über den Kostenvoranschlag für eine Reparatur von Böhnhardts
FOTOS: MARCUS SCHEIDEL / ACTION PRESS (L.); DAPD (R.)
Strafjustiz Die jüngsten eigenwilligen Aktionen Beate Zschäpes vor Gericht bestätigen ihre Rolle
innerhalb des NSU, wie die Anklage sie beschreibt. Von Gisela Friedrichsen
Deutschland
Außenbordmotor in einer Weise, dass der einem raschen Ende im Weg. Viele Zeugen
Bootsverleiher danach zu einem Mitarbei- müssen mehrfach geladen werden, weil
ter sagte: „Mit der möchte ich nicht ver- ein Sitzungstag nicht ausreicht, allen
Beteiligten Gelegenheit zu Fragen und
heiratet sein.“
Viel ist es nicht, was man über das Le- Anträgen zu geben.
Dazu kommt, dass Zschäpes Unmut
ben von Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos
in den Jahren von 1998 bis 2011 weiß, in über ihre passive Rolle als schweigende
denen sie sich auf der Flucht vor der Poli- Hauptangeklagte zu wachsen scheint. Am
zei durchschlugen. Doch was in dem Pro- 128. Verhandlungstag, es war der 16. Juli,
zess jetzt peu à peu herauskommt, fügt entzog sie überraschend ihren drei Anwälsich. Die Anklage habe sich bisher bis ten, einst Wahl-, jetzt Pflichtverteidiger,
ins Detail und darüber hinaus bestätigt, coram publico das Vertrauen – ein Affront
heißt es bei der Bundesanwaltschaft. Jede sondergleichen. Sie fühle sich ohne anwaltMordtat habe die drei enger zusammen- liche Vertretung und wolle so nicht mehr
weiterverhandeln, ließ sie den Senat wisgeschweißt.
Wenn am 6. August im NSU-Verfahren sen. Es bestehe seit Längerem ein Zerwürfdie Sommerpause beginnt, hat sich der nis zwischen ihr und Wolfgang Heer, Anja
6. Strafsenat des Oberlandesgerichts Mün- Sturm und Wolfgang Stahl. Diese Situation
chen mit dem Vorsitzenden Manfred Götzl ertrage sie nicht mehr.
Der Eklat führte dazu, dass ein ganzer
schon 135 Sitzungstage lang mit den Verbrechen des „Nationalsozialistischen Un- und zwei halbe Verhandlungstage ausfietergrunds“ beschäftigt. Mittlerweile dürfte len und der Senat umgehend über die neue
ungefähr Halbzeit sein. Genauer lässt sich Situation revisionsfest zu entscheiden hatdas Ende des Monsterverfahrens, in dem te. Die Anwälte standen blamiert da. Der
neben Zschäpe vier der Beihilfe oder Un- Eindruck, dass Zschäpe eine Frau ist, die
terstützung verdächtige Männer – Ralf keineswegs mit sich geschehen lässt, was
Wohlleben, Holger G., André E. und Cars- ihre Verteidiger für richtig halten, verfesten S. – angeklagt sind, nicht bestimmen. tigt sich. Sie macht, was sie will, und sei
Seit Prozessbeginn im Mai vergangenen es auch gegen jede Vernunft.
Da Zschäpe weder einen Anwalt ihres
Jahres ist es dem Senat gelungen, die dem
NSU vorgeworfenen vollendeten Tötungs- Vertrauens benannt noch derart gravierendelikte abzuarbeiten. Darüber hinaus wur- de Gründe vorgetragen hat, die zu einer
de der Bombenanschlag auf ein iranisches Entpflichtung auch nur eines ihrer drei
Lebensmittelgeschäft in der Kölner Alt- Anwälte Anlass hätte geben können, blieb
stadt verhandelt. Auf dem Terminplan des alles beim Alten. Sturm, Stahl und Heer
Gerichts stehen nach der Sommerpause versuchen seither angestrengt, so zu tun,
der hinterhältige Nagelbombenanschlag in als hätte sich das Verhältnis zur Mandantin
der Kölner Keupstraße mit vielen Verletz- schon wieder entspannt. Buckeln sie jetzt
ten sowie 14 Raubüberfälle auf Geldinsti- vor ihr? Oder fühlen sie sich als Verteidiger
„auf Bewährung“?
tute. Auch dabei gab es Verletzte.
Als Stahl am 131. Sitzungstag auf
Da Zschäpe, Wohlleben und André E.
schweigen, gestaltet sich die Aufklärung Wunsch Zschäpes einen Befangenheitsander Anklagevorwürfe weiter zeitaufwen- trag gegen den Senat vortrug, hatte es diedig. Überdies steht die große Zahl von Op- sen Anschein. Zschäpe rügte, Götzl habe
feranwälten, die von ihren prozessualen bestimmte Fragen an einen Zeugen, die
Rechten regelmäßig Gebrauch machen, aus ihrer Sicht zu einem bestimmten Zeit-
Camper Mundlos, Zschäpe, Böhnhardt um 2004: „Die wussten alles voneinander“
punkt hätten gestellt werden müssen, zu
ebenjenem Zeitpunkt nicht gestellt, sondern das Fragerecht an die Bundesanwaltschaft weitergereicht. Dabei endet für
Richter die Möglichkeit, einen Zeugen zu
befragen, erst bei dessen Entlassung. Der
Vorsitzende, das wissen Verteidiger, hätte
das Fragerecht für sich und seine Kollegen
bis dahin jederzeit wieder an sich ziehen
können. Dass Zschäpe mit einem so wenig
durchdachten Antrag scheitern würde,
war von vornherein klar. Aktionismus der
Verteidiger? Oder insistierte die Mandantin?
Abgesehen von solchen vorübergehenden atmosphärischen Störungen kommt
der Prozess dank des konzentriert arbeitenden Senats voran. Kaum einer unter
den Nebenklägern oder Opferanwälten,
der sich vom Gericht nicht respektiert
fühlt. Die Front zwischen der einst nur auf
Beschleunigung bedachten Bundesanwaltschaft und der vielstimmigen Nebenklage
ist durchlässiger geworden, die Diskussion
sachlicher. Der Übereifer vom Beginn hat
nachgelassen. Der Senat verschließt sich
Hinweisen auf mögliche weitere Unterstützer des NSU nicht, er lässt den Prozessbeteiligten viel Raum.
Der Blick auf die rechtsextreme Szene,
aus der der NSU hervorging, und auf das
krude Bedrohungsszenario von Verlierern
am Rand der Gesellschaft, die, wie der norwegische Massenmörder Anders Breivik,
die „weiße Rasse“ mit Gewalt zu schützen
vorgeben und die Bildung terroristischer
Zellen propagieren, hat sich geweitet.
Götzl bemüht sich um eine umfassende
Aufklärung. Er gestattete der Nebenklage
sogar, dass ein SPIEGEL-TV-Film über Wehrsportübungen grölender Neonazis aus
Zschäpes Umfeld vorgeführt wurde. Solche Anträge der Nebenklage gerade aus
der letzten Zeit werfen ein grelles Licht
auf ein international agierendes rechtes
Netzwerk, mit dessen Unterstützung Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe hatten rechnen können. Die Frage aber, ob das Trio
ins Ausland flüchten sollte, entschied
Zschäpe: Sie wollte in der Heimat bleiben.
Mittlerweile wurden auch schon Zeugen
aus den Reihen des Verfassungsschutzes
geladen, was die Bundesanwaltschaft stets
mit dem Argument abgelehnt hatte, mit
der Tat- und Schuldfrage der Angeklagten
habe das staatliche Versagen nichts zu tun.
„Der Prozess ist jetzt zu einem Kompromiss gekommen“, sagt ein hoher Jurist
über den gegenwärtigen Stand.
Die Hoffnung, Zschäpe werde ihr
Schweigen brechen, dürfte sich inzwischen
zerschlagen haben. Was der Senat denkt,
war der Ablehnung, den Haftbefehl gegen
Wohlleben aufzuheben, zu entnehmen:
Der Tatverdacht hat sich demnach eher
verstärkt. Auf den Verdacht gegen Zschäpe
strahlt dieser Beschluss ab.
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DER SPIEGEL 32 / 2014
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Deutschland
Geldspritzen
Medizin Warum produzieren Krankenhäuser immer höhere Kosten? Das Klinikum in Bayreuth
zeigt, wie Ärzte unter Druck der Kaufleute geraten – zahlten Patienten mit ihrer Gesundheit?
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DER SPIEGEL 32 / 2014
Geschäftsführer Ranftl
mit einem Modell des
Klinikums
FOTO: BERND LAMMEL
m Klinikum Bayreuth kommt es schon
mal vor, dass Patienten vom Operationstisch fallen. Die Anästhesisten, die
solches Ungemach mit verhindern sollen,
sitzen in dem oberfränkischen Krankenhaus hinter einer Trennwand, unter der
nur der Kopf des Patienten hervorlugt.
Es ist wohl eines der letzten Hospitäler
in Deutschland, in denen an einigen OPTischen noch Trennwände in Gebrauch
sind. In den Siebzigerjahren wurden sie
angeschafft, um höhere Hygienestandards
zu erreichen. Sie erwiesen sich jedoch als
wirkungslos und wurden in den meisten
OP-Sälen wieder abgebaut.
Mitte Juni besichtigten Kontrolleure des
Gewerbeaufsichtsamts auch die Operationssäle 1 und 2 in Bayreuth – und waren
schockiert über die Nostalgie am OP-Tisch.
Wie denn die Narkoseärzte im Notfall
zum Patienten kämen, wollten sie wissen.
Und sie hörten Berichte über Mediziner,
die bei Gefahr im Verzug unter der Wand
hindurchkriechen.
Der Arzt, der die Prüfer zu den OP-Sälen geführt und ihre Fragen beantwortet
hatte, bekam inzwischen erheblichen Ärger mit der Klinikleitung. Wenn es um den
Ruf seines Hauses geht, ist Geschäftsführer
Roland Ranftl, 58, empfindlich. Erst im vergangenen Jahr hat er einen ziemlichen Tiefschlag einstecken müssen. Da veröffentlichte die Techniker Krankenkasse eine nicht
repräsentative Patientenbefragung, der zufolge das Klinikum Bayreuth als schlechtestes Krankenhaus der Region abschnitt.
Bei seiner Einweihung vor rund 30 Jahren war der lang gestreckte Bau auf einem
Hügel am Rande der Wagnerstadt der
Stolz der Kommune. Unter Ranftl, der
2007 seinen Dienst antrat, sollte es auch
wieder so werden. Das Klinikum, das als
einziges in Oberfranken eine sogenannte
Maximalversorgung anbietet, wird seither
streng nach kaufmännischen Gesichtspunkten geführt. Und so dient die Geschichte
des mit 2300 Beschäftigten zu den größten
Arbeitgebern der Stadt gehörenden Klinikums als Lehrstück für die Verwerfungen
im deutschen Gesundheitswesen.
Unter Ranftls Management liegt das
Krankenhaus seit einigen Jahren stabil in
der Gewinnzone, aber der Preis dafür ist
hoch: Zwischen Geschäftsführer Ranftl
und der eigenen Belegschaft, so nennen
es viele Betroffene, herrsche Krieg. Die
Pflegedienste werfen der Klinikleitung
Ausbeutung vor, was die Fluktuation hochtreibe. Altgediente Chefärzte beklagen
FOTO: ANDREAS HARBACH
eine Spar- und Personalpolitik, die es ihnen schwer mache, die Patienten angemessen zu behandeln.
Stattdessen sehen sich Ärzte genötigt,
Behandlungen vorzunehmen, die medizinisch nicht notwendig oder sogar gesundheitsgefährdend sind – aber mehr Geld einbringen. Einige Patienten kamen zu Tode,
Neugeborene erlitten schwerste Behinderungen, die in einem Fall „bei adäquat
durchgeführter“ Behandlung, so heißt es
in einem medizinischen Gutachten, „deutlich geringer ausgefallen“ wären. Die StaatsÜbungspatient am Beatmungsgerät
anwaltschaft Bayreuth ermittelt wegen des
60 000 Euro für vier Wochen
Verdachts der Körperverletzung.
In Oberfranken ist in einigen Klinikab- und vernünftig gelöst“. Die Überstundenteilungen Wirklichkeit geworden, wovor zahl sei angesichts der vielen Mitarbeiter
Gesundheitsfachleute seit Jahren warnen: „nicht ungewöhnlich“.
Mediziner und Pflegekräfte befinden
eine Medizin nach Kassenlage, in der alle
das gleiche Geld bekommen – ob sie nun sich in einem Dilemma: Sie würden gern
gute Arbeit oder katastrophale Leistungen die Missstände auch öffentlich machen.
abliefern. Eine Medizin ohne wirksame Aber sie trauen sich nicht, aus Angst vor
Qualitätskontrolle, bei der wirtschaftliche Repressalien. Und sie wollen den Ruf des
Krankenhauses nicht noch weiter beschäAspekte Vorrang genießen.
In Bayreuth beschweren sich seit vielen digen. Vom Aufsichtsrat fühlen sie sich im
Monaten diverse Stationen über untrag- Stich gelassen. Dessen Vorsitzender, der
bare Arbeitsbelastungen – mal kommen Landrat des Kreises Bayreuth, sowie Gedie Klagen aus der Frauenklinik, mal aus schäftsführer Ranftl sind Duzfreunde im
der Mikrobiologie, dann aus der Notauf- Lions Club. „Verbindungen auf privater
nahme. Im April 2013 schrieben Anäs- Ebene“ bestünden nicht, sagt der Landrat.
In einigen Abteilungen des Klinikums
thesisten, sie seien nicht länger bereit,
die „unerträgliche und gefährliche Belas- ist die Stimmung so schlecht, dass sich dort
tungssituation zu tolerieren“. Vor vier kaum noch deutsche Ärzte auf frei werMonaten schickte zudem die Station für dende Stellen bewerben. Besonders angeIntensivmedizin eine „Gefährdungsanzei- spannt war die Situation in der Neurologie
ge“ an die Klinikleitung: Die sichere Pflege und in der Kardiologie, wo ausländische
der zwölf schwerstbedürftigen Patienten Mediziner inzwischen einen Großteil des
sei nicht mehr gewährleistet, ein Zusam- Personals stellen. Die Doktoren kommen
menbruch der Versorgung nicht ausge- aus Russland, aus Ex-Jugoslawien, aus Syrien und Ägypten. Bei Vorstellungsgespräschlossen.
Nach einem chaotischen Nachtdienst chen soll es nicht mehr ungewöhnlich sein,
hatte die Leitung der Notaufnahme ver- dass Dolmetscher hinzugebeten werden.
sucht, ihre Vorgesetzten mit einer E-Mail Die Klinikleitung bestreitet dies, gibt aber
wachzurütteln. „Gestern hatten wir Re- zu, dass Bewerber ihre Deutschkenntnisse
kord“, eine Frau sei neun Stunden in „häufig deutlich verbessern“ müssten.
Wohin solche personellen Bedingungen
der Notbehandlung gewesen. Das Personal sei dem Ansturm der Patienten nicht führen können, zeigt ein Fall, der sich im
mehr gewachsen gewesen. Es bestehe des- November vergangenen Jahres ereignete.
halb immer mehr die Gefahr, „bedingt Sandra Michels* kam abends mit großen
durch Überlastung“ Fehler zu machen – Schmerzen im Rücken in die sogenannte
etwa Patienten zu verwechseln: „Von der Präklinik, in der nachts Notfälle aufgenomEinhaltung hygienischer Vorgaben sind men werden. Ein Assistenzarzt notierte,
wir weit entfernt“, schrieb die Stations- dass die 19-Jährige unter einer Verkrümleitung, „wir bewegen uns auf Messers mung der Wirbelsäule leide. Offenbar
nahm er ein orthopädisches Problem an
Schneide.“
Um die Arbeit zu schaffen, schieben die und verlegte die junge Frau in die entsprePfleger einige Tausend Überstunden vor chende Abteilung.
Allerdings: Das Klinikum Bayreuth besich her. Viele fühlen sich ausgebrannt. Ein
Teufelskreis. In Kenntnis der deutschen steht aus zwei Häusern. Und die OrthopäKliniklandschaft wäre „es geradezu gro- die befindet sich in der Hohen Warte, etwa
tesk“, dass nie Situationen aufträten, in 15 Fahrminuten von der Präklinik entfernt.
„denen sich das Klinikpersonal überlastet Gegen Mitternacht wurde eine Röntgenfühlt“, sagt die Sprecherin des Klinikums aufnahme gemacht. Aber zu dieser Zeit
dazu, auch die Klinikleitung prangere „die gab es offenbar niemanden mehr, der die
immer stärker auftretenden Arbeitsbelas- Bilder auswerten konnte.
tungen“ an. Anstehende Probleme würden
„gesehen, mit den Beteiligten diskutiert * Name von der Redaktion geändert.
Erst am Morgen kam ein Arzt dazu, sich
die Röntgenaufnahmen anzusehen. Er
stellte die richtige Frage: „Aneurysma?“ –
also eine krankhafte Arterienerweiterung.
Eine Diagnose, bei der es um Minuten
gehen kann.
Die Diagnose kam jedoch zu spät. Sandra Michels war in der Zwischenzeit verstorben, innerlich verblutet. Bei einer
gründlichen Untersuchung hätte die große
Narbe auf der Brust auffallen müssen. Die
Patientin war schon einmal am Herzen
operiert worden. Die Klinik will aus Datenschutzgründen nichts zu dem Fall sagen,
legt aber Wert auf die Feststellung, dass
alle Patienten „nach den medizinischen
Leitlinien“ behandelt würden.
Inzwischen wissen nicht nur Insider
über die Zustände in Bayreuth Bescheid.
Die örtliche Staatsanwaltschaft ermittelt
aufgrund einer anonymen Anzeige gegen
Mitarbeiter des Klinikums. Der Tippgeber
machte darin auf schwere Mängel in der
Geburtshilfe aufmerksam, nannte vier Fälle konkret mit Daten und Namen, in denen
Babys gestorben oder nach der Geburt
schwerbehindert waren – nach einem, so
der Anzeigenerstatter, „schweren Organisationsverschulden“.
Dass die Geburtshilfe in der Kritik steht,
ist der Klinikleitung seit Langem bekannt.
Nachdem wieder ein schwerstbehindertes
Kind zu beklagen war, baten vor drei Jahren mehrere Ärzte die Klinikleitung, die
Missstände zu beheben. Vergebens.
Die Mediziner streiten sich über die Frage, wann Kinderärzte bei einer Geburt dabei sein sollen. Bayreuth hat ein Perinatalzentrum der höchsten Versorgungsstufe:
Hier werden auch Risikoschwangere behandelt. Dazu ist es notwendig, dass Geburtshelfer und Kinderärzte Hand in Hand
arbeiten. Das aber klappe wohl nicht immer. Offenbar sahen die Geburtsärzte den
Kreißsaal als ihren Zuständigkeitsbereich
an, wo sie bestimmen, wer dort hereinkommt und wer eben nicht. Die Klinik
weist jede Kritik zurück, sie wehre „sich
aufs Schärfste gegen eine derartige Vorverurteilung“.
Die Heilung von Kranken hat viel mit
Vertrauen zu tun, Vertrauen in die leitenden und die behandelnden Ärzte. Wie der
Ruf einer Klinik beschädigt werden kann,
zeigte sich in den vergangenen Jahren in
Bayreuth bei der Neubesetzung eines Chefarztes. Schon lange war klar, dass ein anerkannter Chirurg aus Altersgründen gehen würde. Und es gab auch gute Bewerber für seine Nachfolge, zusätzlich wurde
ein Headhunter eingeschaltet.
Einige Kandidaten sollen jedoch nach
Gesprächen mit Ranftl abgewinkt haben,
anderen mochte der Geschäftsführer nicht
annähernd das geforderte Geld zahlen.
Am Ende blieb ein Mediziner übrig, der
keinen guten Leumund in der Branche
DER SPIEGEL 32 / 2014
41
Deutschland
hat. Einige Mitarbeiter erkundigten sich
nach dem Bewerber. Er sei ein schlechter
Operateur, erfuhren sie. Ärzte warnten Geschäftsführer Ranftl – ohne Erfolg.
Ein paar Tage bevor er Anfang 2013 seinen Dienst antrat, meldete sich telefonisch
ein Arzt bei der Bundesärztekammer und
wurde ins Dezernat Rechtsabteilung durchgestellt. Der Mann nannte sich Dr. Müller
und schilderte die „stümperhafte Arbeit“
des Arztes, der ständig die Kliniken wechsle. In einer Telefonnotiz hielt die Bundesärztekammer die Anschuldigung fest:
„Durch dessen Arbeitsweise seien in den
letzten vier Jahren ca. 20 Menschen ums
Leben gekommen.“ Die Notiz ging an
die Bayerische Landesärztekammer. Auch
Ranftl erfuhr davon. Hinweise seien geprüft worden, erklärt die Klinik heute,
aber man habe den nicht bestätigten Verdachtsmomenten keine große Bedeutung
zugemessen.
Der Mediziner nahm seine Arbeit auf –
mit der Folge, dass sich in den ersten sechs
Wochen seines Wirkens laut einer klinikinternen Dokumentation mehr als jede
dritte Patientin einem zweiten Eingriff unterziehen musste. Der Arzt bestreitet die
Zahl der Nachoperationen und dass Patienten seinetwegen ums Leben kamen.
Im Krankenhaus machten die Operationsmethoden des Neuen die Runde: Er
schneide Tumoren mittendurch, statt sie
vorsichtig herauszuschälen. Auch an den
vorgeschriebenen Mindestabstand zum gesunden Gewebe halte er sich nicht. Es be-
Behandlung eines Frühgeborenen
Streit um den Kreißsaal
ein Dutzend Klinikangestellte trafen sich
an diesem Tag in einem Besprechungsraum, darunter Chefärzte, Stationsleiter,
Techniker und eine Hygienebeauftragte.
Es gibt in Bayreuth zwei vergleichbare
Intensivstationen, sie haben jeweils 16 Betten und ähnliche Patientenzahlen. 2011 waren die Beatmungszahlen in beiden Stationen ähnlich hoch. Inzwischen sind die
Beatmungsstunden auf der einen Station
mehr als doppelt so hoch wie auf der anderen.
Der Leiter der Abteilung mit den niedrigen Beatmungszahlen soll Geschäftsführer Ranftl vorgeworfen haben, den Kollegen der zweiten Intensivstation zu längeren Beatmungszeiten animiert zu haben.
Er selbst soll bei dem Treffen beklagt haben, er sei doch auch aufgefordert worden,
aus finanziellen Gründen die Zeiten zu
verlängern. Es werde mit dem Leben von
„Der Missbrauch gut dotierter Fallpauschalen
ist keine Ausnahme, er ist weit verbreitet.“
stehe dadurch die Gefahr, dass sich Krebs- Menschen gespielt. Es soll zu einer lauten
zellen weiter ausbreiten. Der Arzt beteu- Auseinandersetzung gekommen sein.
Die Klinik erklärt, die erhöhte Zahl der
ert, niemand habe bisher gegen seine ärztBeatmungspatienten sei dadurch entstanliche Tätigkeit geklagt.
Zwei Wochen vor Ablauf der regulären den, dass länger liegende Patienten in eine
Probezeit verließ er Bayreuth wieder. andere Klinik verlegt werden mussten.
Auch bei seinem nächsten Arbeitgeber, ei- Man dürfe zudem „keinesfalls außer Acht
nem Hospital im Harz, blieb der Operateur lassen, dass gegen die Erlöse für die Beatmung der Patienten auch hohe Kosten
nur wenige Monate.
Exemplarisch ist in Bayreuth auch zu stehen“. Der Landrat und die Oberbürgererkennen, wohin die in Deutschland vor meisterin weisen als Aufsichtsräte des
zehn Jahren eingeführte Bezahlung von Klinikums eine Gefährdung der Patienten
Leistungen nach sogenannten Fallpauscha- „aus reinem Gewinnstreben“ mit aller
len geführt hat. Seitdem sind Therapien Schärfe zurück.
Für Karl Lauterbach, den Gesundheitsmit hohen Pauschalen sprunghaft angeexperten der SPD, ist der Missbrauch gut
wachsen – überall in der Republik.
Eine vierwöchige künstliche Beatmung dotierter Fallpauschalen „keine Ausnaheines Patienten kann auf der Intensivsta- me“, er sei „weit verbreitet“. Immer
tion 60 000 Euro und mehr einbringen. Die wieder würden Eingriffe an gesunden
Gefahr: Je länger ein Patient künstlich Menschen vorgenommen, die nicht notbeatmet wird, desto größer ist das Risiko wendig seien. Der Nachweis ist indes
der Sterblichkeit. Gut geführte Intensiv- schwer zu führen, weil Ärzte in aller Regel
stationen rühmen sich deshalb damit, die eine Begründung für ihre Behandlung
Zahl der Beatmungsstunden möglichst ge- finden.
Dass sich Mediziner in Bayreuth aber
ring zu halten.
Im Februar vergangenen Jahres kam es veranlasst sehen, besonders auf lukrative
in Bayreuth zu einem offenen Eklat. Gut Behandlungen zu achten, belegt ein Streit
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DER SPIEGEL 32 / 2014
unter Kardiologen und Herzchirurgen des
Hauses. Seit einigen Jahren gibt es bei Erkrankungen an der Herzklappe eine Alternative zur herkömmlichen Operation:
die Transkatheter-Aortenklappenimplantation, kurz TAVI.
Dabei wird die neue Klappe in einem
zusammengefalteten Zustand mit einem
Katheter, der zumeist an der Schlagader
der Leiste eingeführt wird, an ihren Einsatzort gebracht und dort entfaltet. So innovativ die neue Methode auch ist: Ihr Erfolg ist umstritten, ihre Ergebnisse werden
in der Fachwelt kontrovers diskutiert. TAVI
soll deshalb erst nach eingehender Beratung der Herzspezialisten bei Risikopatienten und Älteren über 75 Jahren angewandt
werden.
Für das Krankenhaus ist der wirtschaftliche Unterschied beträchtlich: Die herkömmliche Operation bringt rund 13 000
Euro ein, TAVI 34 000 Euro. In Bayreuth
häuften sich die teuren Katheterbehandlungen, auch 22 Patienten unter 75 Jahren
wurden auf diese Weise behandelt. Alle
in enger Absprache mit der Herzchirurgie,
betont das Klinikum, „typischerweise werden in Bayreuth TAVIs erst ab 78 Jahren
durchgeführt“. In einem Fall sei es dabei
zum Riss einer Beckenarterie gekommen,
in einem anderen habe eine Teilamputation durchgeführt werden müssen. Aber
die Komplikationsrate sei unter dem Bundesdurchschnitt.
Dass solche Zustände in profitorientierten Hospitälern wie Bayreuth unhaltbar
sind, hat inzwischen auch die Politik verstanden. „Bislang gibt es eine verhängnisvolle Korrelation zwischen Krankenhäusern, die schwarze Zahlen schreiben
und schlechte Qualität abliefern, und Häusern, die rote Zahlen schreiben, aber gute
Medizin leisten“, mahnt SPD-Mann Lauterbach.
Bundesgesundheitsminister Hermann
Gröhe (CDU) verweist darauf, dass bis Jahresende Kriterien für das neue Institut für
Qualitätssicherung und Transparenz im
Gesundheitswesen festgelegt werden sollen.
Danach soll endlich ausgewertet werden,
welche Eingriffe zu oft gemacht werden,
wo es zu Komplikationen kommt – und
in welchen Krankenhäusern erfolgreich
operiert wird.
In der schönen, heilen Welt der Zukunft
sollen Patienten schon vor der stationären
Aufnahme über die Ergebnisse der Klinik
bei vergleichbaren Eingriffen in der Vergangenheit informiert werden: wie hoch
die Komplikationsrate ist und wie das
Krankenhaus im Vergleich mit mindestens
zwei Hospitälern in der Region abschneidet. Qualität könnte dann wieder vor
Quantität stehen.
Aber bis Gröhes Transparenzoffensive
in die Praxis umgesetzt wird, werden noch
Jahre vergehen. Udo Ludwig, Barbara Schmid
„Er ist der Typ
Einzelgänger“
Neun Jahre lang arbeitete Markus R., 31, für
den Bundesnachrichtendienst (BND) in Pullach. Anfang Juli wurde er unter dem Verdacht
der Spionage verhaftet. Laut seinem Geständnis war er zwei Jahre lang für die CIA tätig und
leitete mindestens 218 Dokumente aus der
Abteilung „Einsatzgebiete/Auslandsbeziehungen“ an den US-Geheimdienst weiter. Der
Karlsruher Anwalt Klaus Schroth vertritt den
BND-Mann.
SPIEGEL: Herr Schroth, hat sich die CIA bereits bei Ihnen gemeldet, um sich nach
dem Befinden ihres aufgeflogenen Agenten Markus R. zu erkundigen?
Bundesnachrichtendienst in Pullach: „Kleiner Angestellter mit weniger als 1500 Euro netto“
Schroth: Bislang nicht. Es könnte sein, dass
die US-Behörden an mich herantreten werden. Immerhin geht es um einen heiklen
Spionagefall, der mit anderen Ereignissen
die Beziehungen zwischen Washington
und Berlin schwer belastet.
SPIEGEL: Ihr Mandant soll 25 000 Euro Agentenlohn erhalten haben. War es das wert?
Schroth: Sicher nicht. In seinem Geständnis
hat er auch sehr bereut, was er angerichtet
hat. Die Tragweite seines Handelns hat er
wohl nicht überblickt. Wie er sagte, habe
er großen Mist gebaut. Auf mich macht er
den Eindruck, dass er froh ist, dass das
Ganze vorbei ist. Er wirkt erleichtert.
SPIEGEL: Welche Motive sehen Sie bei
Markus R. für sein Handeln?
Schroth: Dies wird noch zu eruieren sein.
Mehrere Motive könnten da zusammengekommen sein. Für einen kleinen Angestellten, der weniger als 1500 Euro netto im Monat verdient, mag Geld eine gewisse Rolle
gespielt haben. Der Frust über seine Arbeit
war vielleicht ein weiterer Faktor. Denn er
wäre gern nach Berlin gezogen, hatte schon
entsprechende Anträge beim BND gestellt.
Dessen Umzug nach Berlin verzögerte sich
aber dauernd. Schließlich wollte er ganz aus
dem Dienst ausscheiden. Er hatte bereits Bewerbungen an andere Behörden geschickt.
SPIEGEL: Im Alter von einem Jahr trug Markus R. infolge einer Impfung körperliche
Schäden davon; er gilt als schwerbehindert.
Ist er überhaupt voll schuldfähig?
FOTO: ALESSANDRA SCHELLNEGGER
Geheimdienste Markus R.
spionierte als BND-Mitarbeiter
für die CIA. Sein Anwalt Klaus
Schroth fordert die Kronzeugenregelung für seinen Mandanten.
FOTO: ULI DECK / DPA
Deutschland
Schroth: Dies soll ein Sachverständiger feststellen. Seine Beeinträchtigungen lässt die
Bundesanwaltschaft derzeit durch einen
psychiatrischen Gutachter klären. Dem
Sachverständigen gegenüber hat sich R. ausführlich geäußert. Er hat nur leichte Behinderungen beim Gehen und beim Sprechen.
Ich denke nicht, dass von einer Schuldunfähigkeit ausgegangen werden kann.
SPIEGEL: Nach der Biografie eines klassischen Agenten hört sich R.s Vita nicht an.
Schroth: Die Person und Persönlichkeit,
wie ich sie erlebe, entspricht in der Tat
nicht der jener Spione, die ich bislang kennengelernt und verteidigt habe. Ein echter
Profi hätte seine Dienste nicht über eine
E-Mail an die Info-Adresse einer Botschaft
angeboten. Hätten die US-Diplomaten
dem deutschen Verfassungsschutz einen
Hinweis gegeben, wäre mein Mandant bereits nach seiner ersten Kontaktaufnahme
enttarnt worden. Dass er als BND-Beamter
unbemerkt agieren konnte, deutet zudem
darauf hin, dass die Verfassungsschützer
ihr Augenmerk bislang nicht auf befreundete Länder richteten.
SPIEGEL: Musste Ihr Mandant nicht jederzeit damit rechnen aufzufliegen?
Schroth: Das zeigt ja seine Naivität. Dass
er sich danach an das russische General-
Rechtsanwalt Schroth
„Er hat bereut, was er angerichtet hat“
konsulat wandte und auch Unterlagen lieferte, bezeichne ich als große Dummheit.
Das musste fast zwangsläufig zu seiner Enttarnung führen …
SPIEGEL: … weshalb der Verfassungsschutz
ihn zunächst für einen russischen Maulwurf hielt.
Schroth: Die Möglichkeit, dass die CIA in
Deutschland Agenten führen könnte, hat
offenbar niemand in Erwägung gezogen. In
einer fast neunstündigen Vernehmung hat
mein Mandant von sich aus den Kontakt
zu den Amerikanern erwähnt und auf eine
bis dahin noch nicht bekannte Straftat hingewiesen. Damit wird er in dem gegen die
US-Agenten zu führenden Verfahren eine
Kronzeugenrolle einnehmen, was in seinem
Verfahren sicher spätestens bei der Strafzumessung zu berücksichtigen sein wird.
SPIEGEL: Was hat Markus R. überhaupt zu
seinem Job beim BND befähigt?
Schroth: Er hatte eine Ausbildung zum
Bürokaufmann, bevor er zum Bundesnachrichtendienst kam und dort in der Registratur arbeitete. Wenn jemand wie er
tatsächlich umfangreiches Material, das
noch dazu geheim eingestuft war, mit
nach Hause nehmen konnte, wirft dies Fragen der Qualität der Eigensicherung des
Geheimdienstes auf. Dies wird noch zu
klären sein.
SPIEGEL: Wie ist Markus R. im Gefängnis
untergebracht?
Schroth: In einer Einzelzelle, ohne Kontakt
zu anderen Gefangenen. Er hat Einzelhofgang, wie dies in solchen Fällen üblich ist.
Ich glaube, er ist der Typ Einzelgänger, der
kein großes Bedürfnis hat, mit anderen zu
reden. Er darf Zeitschriften und Tageszeitungen beziehen, hat auch einen Fernseher,
sodass er die Spiele der Fußballweltmeisterschaft verfolgen konnte. Außerdem hatte er bereits Besuch von seinen Eltern und
von seiner Schwester – allerdings waren
sie durch eine Glasscheibe getrennt. Auch
seine Freundin steht weiterhin zu ihm.
SPIEGEL: Am vergangenen Montag schickte
der BND Markus R. die fristlose Kündigung. Will er dagegen vorgehen?
Schroth: Er hat die fristlose Kündigung akzeptiert.
Interview: Hubert Gude
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Sechserpack Unten ist Schweigen. Nichts hört man, nicht Sommerschlager, nicht Sommerinterview, nicht Helene Fischer, nicht
Sigmar Gabriel. Zu 70 Prozent besteht die Erdoberfläche aus Wasser, und wenn Mensch und Wasser zusammenfinden, wie hier in
Hongkong (1), Bukarest (2), Kanazawa (3), Berlin (4), Acapulco (5) oder im spanischen Finestrat (6) – dann ist das manchmal: Glück.
Tierwelt
Warum lieben
Vögel Flughäfen,
Herr Altenkamp?
Der Diplom-Biologe
Rainer Altenkamp, 49, ist
Vogelexperte und
Vorsitzender des Naturschutzbundes Berlin.
SPIEGEL: Herr Altenkamp,
was halten Vögel vom Flughafen Berlin Brandenburg,
wo außer ihnen noch keiner
fliegt?
Altenkamp: Sie profitieren
schon jetzt von der Flughafenerweiterung. Wo mehr
Platz ist, da ist auch mehr
Wiese. Wenn diese, wie es
auf deutschen Flughäfen
üblich ist, nur ein einziges
Mal im Jahr gemäht wird,
46
DER SPIEGEL 32 / 2014
brüten die Vögel dort sogar
unmittelbar neben der Landebahn.
SPIEGEL: Stört der Fluglärm
die Vögel denn überhaupt
nicht?
Altenkamp: Bevor so ein Vogel wegen des Lärms einen
Platz räumt, muss viel
geschehen. Wir wären an
seiner Stelle wahrscheinlich
tot, mindestens aber taub.
Der Vogel hat die Fähigkeit,
selektiv zu entscheiden,
was er hören will und was
nicht – ein Wunder der
Natur. Das Rotkehlchen etwa
singt bei Revierkämpfen
gegen seinen Rivalen an, um
ihn zu vertreiben. Beide
steigern sich kontinuierlich
und erreichen Lautstärken
von bis zu 100 Dezibel, das
entspricht einer laufenden
Motorsäge.
SPIEGEL: Welche Vögel sind
derzeit am Flughafen BER
zu Hause?
Altenkamp: So eine Flughafenbaustelle ist ein hoch dynamischer Lebensraum. Vor gut
einem Jahr lebte dort noch
der Flussregenpfeifer. Dieser
bevorzugt feuchte Bereiche
an vegetationsfreien Flächen.
Sobald sich die Flächen zu
Wiesen weiterentwickelt
haben, brütet dort vor allem
die Feldlerche, eine inzwischen bedrohte Vogelart.
SPIEGEL: Aber draußen auf
den Feldern hätten die Vögel
es doch angenehmer.
Altenkamp: Tatsache ist, dass
sie hier Areale finden, wie
sie ihnen die Landwirtschaft
nur noch sehr selten bietet.
Grünland wird heute von
Bauern intensiv beweidet
oder alle sechs Wochen
gemäht. Immer häufiger
wird es auch in Raps- und
Maisäcker umgewandelt. Diese sind für die Brut jedoch ungeeignet. Anders als in Parkanlagen müssen Vögel auf
Flughäfen auch keine frei
laufenden Hunde fürchten.
SPIEGEL: Ihr Fazit ist also:
der Flughafen – ein Paradies
für Vögel?
Altenkamp: Ja, wäre da nicht
die Glasfassade des BER-Terminals, der während der
Nacht voll beleuchtet ist. Für
Zugvögel, die ab Ende Juli
wieder meist nachts unterwegs sind, ist das ein Massengrab. Sie werden durch das
Licht angelockt und verunglücken in Scharen, jede
Nacht. Betroffen sind vor
allem Singvögel wie etwa
Drosseln, Wachteln und
Kuckucke. red
FOTOS: @ONEHEARTONELOVEONEEARTH/EYEEM (1); @ANDRABOTEZ/EYEEM (2); @HARAYU/EYEEM (3); @LOTTI/EYEEM (4); @RACHVE/EYEEM (5); @SUXSIEQ/EYEEM (6)
Gesellschaft
Auf dem Tisch vor ihnen liegt eine alte Ausgabe der Bunten
mit Bildern vom Opernball. Cathy sitzt in einem Paillettenkleid
neben Kim Kardashian, US-Model und Serienschauspielerin,
in Lugners Loge. Vor ihr saßen dort schon Frauen wie Sophia
Loren, Claudia Cardinale oder, dann 2003, Pamela Anderson.
Cathy lernte trotzdem erst einmal Krankenschwester. Sie
Eine Meldung und ihre Geschichte Wie Familie bewarb
sich aber auch für den Playboy und als Playboy-Bunny
Schmitz aus Wittlich es findet, dass ihre
für den Playboy-Club in Köln. Im Herbst 2012 fing sie dort an.
Tochter jetzt mit Richard Lugner zusammen ist In einer Schulung lernte sie, wie man da ging, wie man da saß.
Sie arbeitete. Sie ließ sich die Brüste machen. Ein Jahr später
zeigte sie der Playboy auf dem Titel, in roten Strapsen, als
as Haus der Familie Schmitz liegt friedlich am Ortsaus- eine der fünf „schönsten Krankenschwestern“ Deutschlands.
Lugner traf sie das erste Mal kurz zuvor. Ihr Playboy-Club
gang von Wittlich-Wengerohr, zwischen den Wiesen
und Wäldern von Eifel und Mosel, es ist hellblau ange- hatte sie als Bunny nach Wien geschickt, um ihn einzuladen.
Lugner rief jetzt manchmal an. Auch Papa Schmitz nahm
strichen, und in den Blumenkübeln stecken Herzen aus Stroh.
Am Küchentisch, auf violetten Stühlen, wartet Familie mal ab, er reichte das Telefon weiter. Sein Kind war glücklich.
Seine Frau googelte Lugners Namen und sorgte sich erst weSchmitz mit Kaffee: Vater Michael, 52, Mutter Maria, 54, die
gen seiner vielen Frauen. Er nannte sie Hasi, Bambi, Katzi
Kinder Beate, 36, und Sohn Rafael, 30.
Nur die Jüngste fehlt, Catherine, genannt Cathy, 24. Sie lebt und eine, die halb farbig war, Kolibri. Cathy nennt er Spatzi.
seit Kurzem in Wien, mit ihrem neuen Freund: Richard „Mör- Den Kuchen für den Tag, an dem Lugner vorfuhr, hatte der
Vater selbst gebacken, er legte das
tel“ Lugner, Bauunternehmer, vierSchwein auf den Grill. Seine Tochter
mal verheiratet, Freund des Wiener
kletterte mit ihrem neuen Freund
Opernballs, 81. Das Paar hat schon
auf den Hausberg. Die Nachbarn
zur Verlobung eingeladen, und zu
machten heimlich Fotos von Cathy
Besuch in Wittlich-Wengerohr war
und dem alten Mann.
es auch schon. Sie aßen Kuchen und
Das Paar schlief in Cathys altem
Spießbraten. Richard Lugner wollte
Zimmer, hellblau, mit Blick auf den
wissen, wie Cathy aufgewachsen ist.
Gebrauchtwagenhändler gegenüber.
Und? Wie war sie als Kind?
Über dem Bett klebt ihr Motto, das
„Sie wollte im Mittelpunkt steihrer Eltern: „Lebe Deinen Traum!“
hen“, sagt die Schwester.
Lugner schlief darunter ein.
„Sie hatte viele Ideen und ihren
Der Vater sagt, dieser Mann sei
eigenen Kopf“, sagt die Mutter.
intelligent und bodenständig. Er
„Als Prinzessin ist sie aufgewachbaut Häuser, der Vater baut Straßen.
sen“, sagt der Vater.
Sie verstanden sich. Papa Schmitz
Papa Schmitz redet nicht viel, er
ist nicht der Typ. Er sitzt rund und
war gleich einverstanden damit, seine
in weißem Hemd am Tisch, er atmet
Tochter zur Verlobung am 1. August
schwer. Er hat seit 25 Jahren ein kleiin einem Boot über den Wörthersee
nes Unternehmen, er pflastert Strazu fahren. Er kümmert sich.
Familie Schmitz
ßen. Als er anfing, rauchte er zwei
Als der Sohn studieren wollte,
bis drei Schachteln Zigaretten am
statt mit Papa Steine zu klopfen,
Tag und hatte wenig Zeit für die
halfen die Eltern. Als Beate auch
Familie.
nicht mehr Krankenschwester sein
Seine Frau fuhr also immer allein
wollte, sondern Ärztin, taten sie das
mit den Kindern in den Urlaub,
auch.
nach Griechenland, Spanien. Cathy
Cathy wohnt jetzt in einem growar das Kind, das im Ferienklub auf
ßen Haus mit Pool. Ihre Facebookder Bühne in Lackschuhen sang und
Seite hat schon 18 457 Likes. Zwar
Aus der Süddeutschen Zeitung
Geschenke bekam von Kellnern.
hat Daniela Katzenberger fast zwei
Zu Hause bekam sie auch, was sie wollte: den Barbie-Bade- Millionen, aber Verona Pooth gerade 1263. Cathy ist auf einem
anzug, die Barbie-Ballettschuhe, eine Barbie, die so groß war guten Weg, finden ihre Eltern.
wie sie selbst. Sie trug das gleiche Kleid wie Barbie und tanzte
Und das Alter ihres Freundes?
darin vor dem Spiegel. Und wenn Papa sonntags Zeit hatte,
„Wir akzeptieren das“, sagt der Vater.
fuhr er mit ihr ins Phantasialand.
Und die Frauen?
„Ihr habt sie verwöhnt!“, sagt die Schwester.
„Wir hatten das Gefühl, er meint es ernst“, sagt die Mutter.
„Wir wollten, dass sie glücklich ist“, sagt der Vater. Seine ElEs gibt also kein Problem?
tern arbeiteten jeden Tag in einer Gaststätte. Cathy ist sein
Die Familie schweigt zum ersten Mal für einen Augenblick.
einziges Kind, die anderen beiden sind Stiefkinder. Er wollte, Cathy hat noch einen größeren Traum als den, den sie lebt: Sie
dass sein Kind, anders als er selbst, seine Träume leben durfte. will auch in den amerikanischen Playboy, und nun habe Hugh
Als Teenager klebte Cathy ihr Zimmer voll damit. Die neue Hefner sie eingeladen. Die Familie möchte, dass sie fährt. Aber?
blonde Frau in ihrem Leben hieß nun Pamela Anderson. Und
Papa Schmitz spricht für seine Verhältnisse viele Sätze. Es
als Pamela Anderson damals auf dem Playboy erschien, wollte geht um Freiheit und um grenzenlose Liebe. Aber? „Na ja“, sagt
Cathy Schmitz das auch. Sie wollte berühmt werden.
die Mutter vorsichtig. „Wir sind modern, der Richard, der ist
„Ja, ja“, sagten ihre Eltern damals zum ersten Mal. Heute eher altmodisch und eifersüchtig.“ Sie macht eine Pause und sagt
wissen sie, dass Cathy es mit diesem Traum ernst meinte.
dann: „Der Richard, der will das nicht.“
Barbara Hardinghaus
Barbie, Pamela, Cathy
FOTOS: OLIVER TJADEN / DER SPIEGEL
D
DER SPIEGEL 32 / 2014
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Heim in die Hölle
Verbrechen Kinder zu quälen war jahrzehntelang üblich. Nun fand man Leichen, und
Überlebende berichten, was ihnen hier geschah. Bis 2011 war die einst größte Besserungsanstalt der USA in Betrieb – ein Ort der Folter, mitten in Florida. Von Claas Relotius
Einstiger Anstaltsschlafsaal in Marianna
Gesellschaft
Ehemaliger Heimzögling Cooper: Ausgepeitschte Rücken, Brandmale auf der Haut
FOTOS: MEGGAN HALLER / NEW YORK TIMES / REDUX / LAIF (L.); JOCK FISTICK / DER SPIEGEL (R.)
J
eder Schritt ist für Jerry Cooper eine brachte, im Dezember 1960. Zehn Monate
Mutprobe, mit jedem Meter vorwärts später, als er das Heim wieder verließ, war
kehrt ein Stück Angst zurück. Er zit- seine Jugend für immer vorbei. Er deutet
tert, es ist alles noch da, nichts hat Cooper auf ein kleines Haus, das noch immer auf
vergessen. Nicht das Football-Feld, auf einem grasbewachsenen Hügel der Anstalt
dem die Erzieher ihn zwangen zu spielen. steht. Ein weißer Betonschuppen mit HolzNicht das Haus des Direktors mit dem gro- planken vor den Fenstern. Die Aufseher
ßen Speisesaal, von dessen Betonboden nannten es das „White House“. Kein Junge,
die Jungen das Essen auflecken mussten, der es von innen gesehen hat, kann es verwenn sie nicht aufgegessen hatten. Nicht gessen.
Cooper erzählt, dass er und die anderen
die aneinandergereihten Ziegelsteinbaracken, aus denen die Aufseher ihn und die nicht viel anstellen mussten, um bestraft
zu werden. Es genügte ein nicht gemachtes
anderen zerrten, mitten in der Nacht.
Kniehoch steht das Gras auf dem Ge- Bett, eine unerledigte Schulaufgabe oder
lände, die hölzernen Flutlichtmasten, die ein falsches Wort im falschen Augenblick.
Gebäude, es ist alles wie damals. Über „Viele Jungen waren einfach irgendwann
dem alten Eingangstor hängt noch das gro- dran“, sagt Cooper. „Die Männer, die uns
ße, rostige Schild mit den Mahnungen, die holten, wollten ihren Spaß haben.“ An
jeden Jungen erwarteten, der in die An- Blut und Schweiß. An Folter und Vergewaltigungen. An Schreien, die niemand
stalt von Marianna kam.
„Du sollst nicht länger eine Gefahr für hörte.
Marianna liegt eine gute Autostunde
die Gesellschaft sein.“
„Du sollst lernen, dich an Regeln zu hal- westlich von Tallahassee. Es ist eine Kleinstadt im Norden Floridas. Ausgetrocknete
ten.“
„Du sollst daran arbeiten, ein aufrechter Sümpfe und jahrhundertealte Bäume umschließen sie wie eine Insel, von den Ästen
und guter Mensch zu werden.“
Cooper, 69, ein grauhaariger Mann mit hängt das Spanische Moos der Südstaaten
Schnurrbart und verblassten Tattoos auf herab wie Lametta.
Was hier, im Herzen von Jackson Counden Armen, geht schleppend durch das
Tor, er wandert schweigend über den Hof. ty, geschah, spielte sich häufig im VerborEr sieht Gitterstäbe, zerbrochene Fenster- genen ab. Einst beherrschte der Ku-Kluxscheiben. Hier die Unterrichtsräume, in Klan den Ort, Männer mit weißen Kapudenen die Lehrer wegsahen und nichts wis- zen und brennenden Kreuzen, sie ritten
sen wollten. Dort die Krankenstation, wo nachts durch die Felder, auf der Jagd nach
die Schwestern stumm die Wunden der Schwarzen, die sie an den Bäumen aufJungen pflegten: ausgepeitschte Rücken, knüpften, aber kaum jemand sprach darüzerschlagene Gesichter, Brandmale auf der ber. Heute leben knapp 9000 Menschen in
Haut. Die Jungen weinten, schrien, man- Marianna. Die Stadt zählt drei Kirchen,
che riefen nach ihren Müttern. Nach drau- zwei Jagdklubs und eine Hauptstraße, die
sich kilometerlang zwischen heruntergeßen drang nichts.
Jerry Cooper war 15 Jahre alt, ein Junge kommenen Flachbauten hinzieht. Weit
mit Segelohren und Pomade im Haar, als draußen, versteckt hinter einem Wald,
man ihn in die Florida School for Boys liegt die Florida School for Boys. Mit ihren
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49
Gesellschaft
Suchscheinwerfern und meterhohen Stacheldrahtzäunen erinnert sie an eine aus der
Zeit gefallene Kaserne.
Furchtbar sind ihre Geheimnisse. Auf
dem Gelände der einstigen Besserungsanstalt wurden im vergangenen Herbst zwei
Dutzend Kinderleichen gefunden, die in
offiziellen Sterberegistern fehlen. Die Gräber lagen auf dem alten Friedhof der Anstalt, einer unscheinbaren Wiese auf der
Rückseite des Geländes. Jerry Cooper
führt an ihren Rand, er schaut auf Dutzende breite Löcher im Boden, er umklammert den Absperrzaun, als müsste er sich
festhalten. Es ist Mittag, die Sonne scheint
senkrecht herab, der Geruch trockener
Erde liegt in der Luft. Bis Anfang des Jahres gruben Wissenschaftler, Anthropologen, hier nach Skeletten und Leichenresten. Jetzt kreisen Vogelscharen über der
größten und ältesten Erziehungsheime der
USA; bis 1968 war die Anstalt in Sektionen
für weiße und für schwarze Jungen geteilt.
Elf Jahrzehnte lang unterhielt der Staat
das Internat, vor drei Jahren wurde die
Anstalt geschlossen. Sie war gedacht für
Kinder und Jugendliche, die im Laden Zigaretten gestohlen hatten oder am Steuer
eines Autos erwischt worden waren. Jerry
Cooper war zum dritten Mal von zu Hause
weggelaufen. Einmal zu viel für den Richter, der ihn an einem verregneten Dezembermorgen nach Marianna schickte. Die
Aufseher der Anstalt sollten ihn Gehorsam
und Respekt vor Autoritäten lehren. Von
dem Albtraum, der im White House auf
ihn wartete, wusste er nichts.
Cooper ist heute ein Mann mit rauer
Stimme und gefurchtem Gesicht. Er lächelt
nur selten und wenn doch, dann erinnert
Er war dreimal von zu Hause weggelaufen. Also kam er
in die Anstalt, um Gehorsam zu lernen.
Stelle, um sich in der aufgerissenen Erde
die Würmer zu schnappen.
Die Florida School for Boys war eine
Festung, von der Welt isoliert, aber Gerüchte gab es von Anfang an. Es war das
Jahr 1903, das Heim war gerade gegründet,
da erzählten Aufsichtsbeamte schon von
Jungen, die man in den Schlafbaracken an
Ketten hielt. Keine elf Jahre später kamen
sechs Kinder bei einem Brand im Schlafsaal ums Leben. Sie waren in ihrer Schlafbaracke eingeschlossen, als die Alarmsirenen heulten. 1958 berichtete ein ehemaliger Mitarbeiter vor einem Ausschuss des
US-Senats von schweren Misshandlungen
und Folter. 1968 schrieben die Reporter einer Lokalzeitung über Vergewaltigung im
„Heim der Hölle“.
Mit knapp 200 Aufsehern für 800 Jungen
war die Florida School for Boys eines der
sein Lächeln an die Grimassen, hinter
denen sich Gebrochene oft verstecken. Er
wirkt nicht wie jemand, der sich aufspielt.
Er sagt, ihn hätten sie nur einmal geholt.
Die Geschichte, die er erzählt, handelt von
einer Nacht im Juni 1961. Er zieht nach jedem Satz an seiner Zigarette, als schnappte
er nach Luft.
Zwei Männer in Uniform kamen abends
in den Schlafraum, packten ihn an den
Schultern und zerrten ihn nach draußen
auf den Hof. Dort schubsten sie ihn in einen blauen Wagen und fuhren mit ihm bis
ans Ende des Anstaltsgeländes, dorthin,
wo der Wald begann und das White House
stand. Es gab keinen Anlass. Er war einfach dran. Als sie ihn mit einem Tritt durch
die Tür stießen, schlug ihm der Gestank
von Schnaps und Körperflüssigkeiten entgegen. Auf der Bank vor ihm saßen drei
Anthropologin Kimmerle (M.), Kollegen: Zwei Dutzend anonyme Kinderleichen
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DER SPIEGEL 32 / 2014
Männer, die ihre Hemdsärmel aufgekrempelt und ihre Anzüge akkurat über einen
Stuhl gehängt hatten.
In der Dunkelheit konnte er ihre Gesichter nicht genau erkennen, einer von ihnen
hatte nur einen Arm und einen Gürtel in
der Hand. Es war Troy Tidwell, ein leitender Aufseher, der sich den linken Arm Jahre zuvor mit einer Schrotflinte zerschossen
hatte und in der Anstalt als besonders brutal galt. Cooper versuchte zu fliehen, zur
Tür zu gelangen, zu entkommen. Aber seine Peiniger traten ihn nieder, fesselten ihn
auf dem Boden, ihr Schweiß tropfte auf
seine Haut.
Bald rissen sie ihm das Nachthemd vom
Leib, bald begannen die Hiebe mit den
Peitschen und Gürteln. Sie schlugen so
hart zu, dass seine Haut aufplatzte. Jerry
Cooper wurde ohnmächtig, erst am nächsten Morgen kam der Junge wieder zu Bewusstsein, da lag er drüben im Schlafraum
in seinem Bett. Sein rechter Fuß war gebrochen, ihm fehlten sechs Schneidezähne,
seine Lippen waren aufgeplatzt wie überreife Pflaumen. Er war vergewaltigt worden. Die Matratze war rot von seinem Blut.
In jener Nacht, sagt Cooper, hätten ihn
die Männer gebrochen, die vermeintlichen
Erzieher und Aufseher, die Lastwagenfahrer und Straßenbauer waren, Arbeiter aus
Marianna, die dem Staat gut genug erschienen, um schwierigen Jungen Disziplin beizubringen. Ein Teil von ihm, sagt Cooper,
sei immer in jener Nacht geblieben. Andere, Freunde von ihm, keine 13 Jahre alt,
kamen nie mehr aus dem White House zurück. Sie blieben verschwunden von einem
Tag zum nächsten. „Als hätte ein Loch in
der Anstalt sie verschluckt.“
53 Jahre sind Coopers Erlebnisse alt,
John F. Kennedy war damals Präsident,
und die Amerikaner hatten den Mond
noch nicht betreten. Fünf Jahrzehnte später steht Erin Kimmerle in einem fensterlosen Forschungslabor in Tampa vor einem
Metalltisch mit Knochenteilen und zwei
Dutzend Rätseln. Die Anthropologin der
University of South Florida ist eine 41jährige Frau mit Doktortitel und ruhiger
Stimme, feingliedrigen Händen und langen, blonden Haaren. Sie sucht nach Antworten auf die Frage, zu wem die Skelette
gehören, die sie und ihr Team im Erdboden
der Anstalt fanden.
Das Heim hatte über die Jahre 31 Gräber
mit namenlosen, weißen Kreuzen markiert
und einen eigenen Friedhof angelegt. Aber
die Forscher fanden 24 Skelette, die von
Menschen stammten, die ohne Kennzeichnung verscharrt worden waren. Kinder, die
in keinen Dokumenten auftauchen. Jungen, die ohne Särge bestattet wurden, vergraben wie dunkle Geheimnisse.
Erin Kimmerle träumte schon als junges
Mädchen davon, Forscherin zu werden
und wie eine Detektivin den Verbrechen
FOTOS: ALAMY / MAURITIUS IMAGES
Menschliche Überreste auf dem Schulgelände: Münzen und Murmeln aus den Hosentaschen der Toten
vergangener Tage nachzuspüren. Auf dem
College belegte sie Kurse in Anthropologie
und Archäologie. Später spezialisierte sie
sich auf Forensik und arbeitete für die Uno
an Gräbern und Tatorten auf der ganzen
Welt: Nigeria, Ruanda, Bosnien, Kosovo,
überall dort trugen ihre Ausgrabungen zur
Aufklärung von Morden und Kriegsverbrechen bei. Kimmerle gehört zu den renommiertesten forensischen Anthropologen
der USA, aber nie zuvor lagen ihre Fälle
derart vor der eigenen Haustür, und noch
nie hatte sie es mit Spuren zu tun, die so
weit in die Vergangenheit führen wie die
Jungenleichen in Marianna.
Was ihr Team im Erdboden des Friedhofs entdeckte, waren neben Skelettteilen
und Milchzähnen auch jahrzehntealte
Münzen und Murmeln, die sich in den Hosentaschen einiger Kinder befunden haben
mussten, als man ihre toten Körper vergrub. In Kimmerles Labor, ausgerüstet mit
mannshohen Röntgengeräten, liegen die
Funde nebeneinander wie Puzzleteile.
Bodenproben lassen vermuten, dass die
Jungen zu verschiedenen Zeitpunkten zwischen 1918 und 1973 starben. Anhand ihrer
Überreste die Identitäten und Schicksale
zu rekonstruieren ist kompliziert, doch
Kimmerle glaubt an eine Chance. DNAAnalysen sollen helfen herauszufinden,
wer die Jungen waren.
Viele Angehörige haben nie erfahren,
wie, warum und wann genau ihre Söhne
oder Brüder in der Florida School for Boys
ums Leben kamen. Wenn ein Junge starb,
verschickten die Anstaltsleiter ein paar
kurze Sätze, einen Brief oder ein Telegramm. Sie schrieben, dass eine Grippe
oder eine Lungenentzündung schuld am
Tod der Kinder gewesen sei, und sie beerdigten sie, noch bevor ihre Familien die
Leichname sehen und Abschied nehmen
konnten. Die meisten Eltern fanden sich
damit ab, vielen fehlte auch das Geld für
eine Bestattung. An Misshandlungen oder
gar Morde im Heim dachte niemand, auch
weil es kein Heimjunge je gewagt hätte,
vom Grauen in Marianna zu erzählen.
Jerry Cooper verlor nach seiner Entlassung über 40 Jahre lang kein Wort über
das White House. Erst hielt er sich verängstigt an das Verbot der Aufseher, jemals
über die Geschehnisse zu reden. Später,
sagt er, habe er sich geschämt, davon zu
erzählen. Selbst vor seiner Mutter, erst
recht vor seinen Frauen, er ist nun zum
zweiten Mal verheiratet.
Seine Vergangenheit holte ihn an einem
Nachmittag im Dezember 2008 wieder ein.
Jerry Cooper saß zu Hause in Südflorida
vor dem Fernseher, und der Nachrichtensender CNN berichtete vom Tod eines
14-jährigen schwarzen Jungen in einem
Erziehungscamp in Panama City, einem
Ort an der Küste Floridas, nur eine Autostunde von Marianna entfernt. Der Junge
war kollabiert, als ihn Aufseher mit Schlägen und Tritten zum Laufen zwingen wollten. Und plötzlich fiel auch der Name von
Marianna, der Florida School for Boys.
Die Rede war von einem Dutzend Männern, die aussagten, in jener Anstalt ähnliche und schlimmere Misshandlungen er-
fahren zu haben als nun der Junge in
Panama City. Die Fernsehbilder zeigten
das weiße Gebäude, an das Jerry Cooper
all die Jahre vor dem Einschlafen hatte
denken müssen. Das Haus seiner Albträume. Das White House. Sein Herz raste.
Er begann, die Männer aus dem Fernsehbericht zu suchen, die anderen Opfer.
Er fand Charles Dowell, 67, einen bärtigen
Mechaniker aus Clearwater, Florida, der
auf dem Parkplatz eines Supermarktes zusammengebrochen war, weil ihn die Nachrichten aus Panama City so sehr an seine
eigene Geschichte im White House erinnerten. Er fand Roger Kiser, 68, einen
Schriftsteller aus Brunswick, Georgia, der
inzwischen zum sechsten Mal verheiratet
war und noch immer keinen Menschen
umarmen konnte. Cooper fand Mike Anderson, 67, einen Architekten aus Berkeley,
Kalifornien, der ihm erzählte, dass er nicht
im Dunkeln habe schlafen können, bis er
vierzig gewesen sei. James Griffin, ein
Rentner aus Apoka, Florida, war 68 und
konnte das noch immer nicht.
Sie tauschten sich aus über das Unsagbare, sie schwiegen, weinten gemeinsam
und beschlossen, nach weiteren Opfern zu
suchen. Mit der Hilfe eines Freundes stellte
Cooper eine Seite ins Netz, auf der er seine
Geschichte erzählte und andere Männer
ermutigte, das Gleiche zu tun. Er gab der
Seite den Titel „The White House Boys
Organization“ und hinterließ die Telefonnummer zweier Anwälte, denen er vertraute. Mehr als 200 Anrufe gingen in den
darauffolgenden Monaten ein, sie kamen
DER SPIEGEL 32 / 2014
51
aus ganz Amerika, und sie fügten sich zu
einem Bild: Aufgewühlte, ältere Herren
erzählten von ihren Wunden, davongetragen in der Anstalt von Marianna.
Die Opfer und Zeugen berichteten übereinstimmend, wie sie zu Oralsex gezwungen wurden; wie Jungen totgeprügelt
wurden, wenn sie nicht gehorchten; wie
behinderte Kinder an Ketten gehalten wurden und in ihren eigenen Exkrementen
starben. Fast alle Zeugen erwähnten unter
den vielen Angestellten der Florida School
for Boys genau zwölf Erzieher und Aufseher, darunter stets den einarmigen Troy
Tidwell, der mit der Eisenschnalle seines
Gürtels so auf sie eingedroschen habe, dass
breite Narben auf ihren Rücken noch immer davon zeugten.
Die Florida School for Boys hatte inzwischen einen anderen Namen und wurde
offiziell seit 1968 ohne körperliche Strafen
milienvater, der auf Gemeindefeiern gern
bis als Letzter tanzte und Kindern gegenüber voller Wärme war. Im Jahr 2011 stellte
die Behörde ihre Ermittlungen gegen Tidwell und die Anstalt schließlich ein. Misshandlungen, so hieß es, seien strafrechtlich
verjährt, und Morde ließen sich nicht mehr
beweisen.
Es war zu dieser Zeit, der Fall war so
gut wie geschlossen, als Erin Kimmerle
von der Universität in Tampa auf die Vorwürfe gegen das Erziehungsheim aufmerksam wurde. Sie hörte die Geschichten von
Jungen, die unter rätselhaften Umständen
ums Leben gekommen waren. Als Forscherin, die sich seit Jahren mit Leichen auf
der ganzen Welt befasste, erschien ihr das
alles verdächtig. Sie wusste, dass staatliche
Erziehungsanstalten spätestens seit den
Zwanzigerjahren zur Dokumentierung von
Sterbefällen verpflichtet gewesen waren.
Einer der Erzieher lebt noch: der Einarmige mit dem Gürtel,
der als der Brutalste von allen galt.
geführt, aber die Wirklichkeit sah anders
aus. 2009 klagten die Männer, die sich jetzt
die „White House Boys“ nannten, gegen
die Anstalt, woraufhin Floridas Strafverfolgungsbehörde Ermittlungen einleitete.
Zwei Jahre später wurde das Erziehungsheim geschlossen; aus Budgetgründen, wie
es offiziell hieß.
Von den in der Klage genannten Angestellten lebte nur noch einer. Es war Troy
Tidwell, jener Einarmige, der Mann mit
dem Gürtel, den die ehemaligen Insassen
als brutalsten und sadistischsten von allen
beschrieben.
Tidwell, inzwischen über neunzig und
in einem Pflegeheim lebend, hatte bis zu
seiner Pensionierung fast vier Jahrzehnte
lang für die Anstalt und den Staat gearbeitet. Als er mit den Vorwürfen konfrontiert wurde, sprach er von „Klapsen“, die
er einigen Jungen „hin und wieder“ gegeben habe. Seine Bekannten beschrieben
ihn als ehrlichen und treu sorgenden Fa52
DER SPIEGEL 32 / 2014
Aber es dauerte zwei Jahre, bis sie die
Genehmigung erhielt, den Friedhof mit
Spürhunden und Radargeräten zu erforschen. Im vergangenen Herbst stieß sie
schließlich auf die versteckten Gräber.
„Was wir gefunden haben“, sagt Kimmerle in ihrem Labor in Tampa, „sind
noch keine Beweise, aber es sind Spuren.“
Gleich mehrere Skelette wiesen eine eingedrückte und zertrümmerte Schädeldecke auf, zurückzuführen, sagt Kimmerle,
auf Fremdeinwirkung. Echte Beweise zu
finden wird schwierig werden. Es ist nicht
sehr wahrscheinlich, dass Troy Tidwell, der
einarmige Schläger, noch einen Prozess
erlebt.
Kimmerles Untersuchungen gehen weiter, Floridas Justizbehörde finanziert ihre
Arbeit mit. Sie sagt: „Die versteckten Gräber, die mysteriösen Tode, die Frakturen
an einigen Skeletten – alles spricht dafür,
dass hier Dinge geschehen sind, von denen
niemand etwas wissen sollte.“ Sie vermu-
FOTO: JOCK FISTICK / DER SPIEGEL
Überlebende Heiminsassen: Nicht im Dunkeln schlafen, keinen Menschen umarmen
tet, dass noch mehr Leichen auf dem Heimgelände liegen könnten, vom August an
geht die Suche weiter. Die namenlosen Toten waren bisher alles Schwarze. Kimmerle
geht davon aus, dass es irgendwo ein Feld
mit toten Weißen geben muss.
Ehe die Skelette von Marianna gefunden
wurden, ließ sich Jerry Cooper wieder und
wieder an Lügendetektoren anschließen.
Er war besessen davon zu beweisen, dass
nichts an seinen Geschichten erfunden sei.
Die Narben auf seiner Haut genügten
nicht. Kaum jemand hatte ihm und den
anderen Opfern glauben wollen. Nicht der
Staat, nicht die Polizei, am wenigsten die
Menschen in Marianna. Allein zu bleiben
mit seiner Geschichte gehört zu seinen bittersten Erfahrungen.
Cooper fährt im Auto langsam die alte
Hauptstraße der Stadt entlang, er erzählt.
Durch die offenen Fensterscheiben weht
warme Luft, draußen ziehen einzeln blinkend die Buchstaben kaputter Leuchtreklamen vorbei, der Abend legt sich über
Florida. Cooper nimmt seit Jahren Beruhigungsmittel. Vor ein paar Tagen erst, sagt
er, sei seine Frau über das Wochenende
zu ihrer Schwester nach Tallahassee gefahren. Er blieb allein zu Hause, er fühlte sich
stabil. Er mähte den Rasen, schaute Football, ging früh schlafen. Aber mitten in der
Nacht wurde er wach.
Er glaubte, ein Geräusch gehört zu haben, und als er die Augen öffnete, saß ein
einarmiger Mann mit einem Gürtel in der
Hand auf seinem Bett und starrte ihn an.
Jerry Cooper zog die Decke über sein Gesicht und verkroch sich darunter wie der
Heimjunge, der er einst war und der die
Schreie aus dem White House hörte.
In den Autofenstern zieht Marianna
vorbei, am Ortsausgang steht eine Handvoll Händler am Straßenrand und bietet
White-House-Antiquitäten an, Stühle, Eisenketten, angebliche Folterbänke, die aus
dem Erziehungsheim stammen und Auswärtigen als schaurige Souvenirs dienen
sollen. In Marianna selbst sucht man noch
heute vergebens nach Bewohnern, die an
die Verbrechen in der Anstalt glauben. Obwohl hier fast jeder jemanden kennt, der
einmal für die Florida School for Boys gearbeitet hat, wird eisern geschwiegen. Wer
weiß noch von den Geschehnissen? Wer
will nichts wissen? Wie viele schweigen?
Jerry Cooper schweigt nicht mehr. Einmal, an einen Lügendetektor angeschlossen, stellte man ihm Fragen zum Alltag im
Heim, zu den Aufsehern, auch zur Nacht
seiner Misshandlungen im White House.
Das Ergebnis ließ den Experten keine
Zweifel, dass er die Wahrheit sagte. Nur
einmal schlug das Gerät erkennbar aus und
zeigte eine Lüge an. Cooper wurde gefragt,
ob er die Geschehnisse im Erziehungsheim
mittlerweile verarbeitet habe. Er antwortete mit Ja.
Gesellschaft
iGangster
Homestory In Rio beraubt, in Rio beschenkt –
warum meine WM erst jetzt zu Ende geht
ILLUSTRATION: THILO ROTHACKER FÜR DEN SPIEGEL
A
ls ich mich nach Brasilien aufmachte, um ein Fußballfest
zu feiern und Weltmeister zu werden, hörte ich von
allen Seiten: „Lass dich bloß nicht überfallen!“
Als es dann passierte, natürlich in Rio, natürlich an der Copacabana, als meine rechte Gesichtshälfte etwas abbekam und
mein Handy verschwand, dachte ich: „Du Kind im Trikot! Wie
kannst du glauben, dass das Leben vier Wochen lang einen
Bogen um dich macht?“
Und nun, da mein Handy den Weg zurück zu mir gefunden
hat, wie ein treuer Hund, über Kontinente hinweg, was ist nun?
So fing es an: beim Fanfest an der Copacabana ein Video
mit dem Handy gemacht, Schwenk von der Leinwand (Neymar
singt die Nationalhymne) auf die Gischt der Wellen in der
Abendsonne. Schlag in die Magengrube, jemand will mein
Handy wegreißen, halte es umklammert. Natürlich weiß ich,
dass man sich nicht wehren soll, aber der Körper verteidigt
sich reflexartig. Kriege rechts und links in die Fresse, laufe
den fünf Typen hinterher, ein Mädchen, das wohl zur Gang
gehört, schreit mir zu (so denke ich mir), ich solle abhauen,
sonst würde es heftig werden.
Von den Umstehenden keine Reaktion, von Polizei weit und
breit nichts zu sehen. Auf der Straße die Polizisten angesprochen, die damit beschäftigt waren, das Fifa-Hotel Copacabana
Palace zu schützen. Hatten keine Lust, waren nicht zuständig,
verwiesen auf die nächste Polizeiwache. Drei Wochen lang
hatten wir alle Warnungen für übertrieben gehalten, drei Wochen dennoch alles getan, um nicht aufzufallen als blöde Beute.
Und immer gedacht, es nervt, in jedem armen Brasilianer den
Dieb zu sehen, der dein Handy will.
Nach drei Wochen hatte ich mich in dieser Fanwolke sicher
gefühlt. Aber es ist nun mal so, zwischen mir und den Dieben
gibt es nichts Verbindendes, nicht Fußball, nicht Euphorie, nur
mein Handy verbindet uns. Eine WM ist kein Fest der Fußballfreunde, hier zelebriert die globale Mittelklasse
den Stolz darauf, dass sie es sich leisten kann,
dabei zu sein. Und all das in der Arena von Leuten, für die ein Handy so wertvoll ist, dass man
es klauen sollte.
Der Besuch auf der Polizeiwache hatte
etwas Tröstendes: voll bis auf die Straße, die
Internationale der Ausgeraubten, das Fanfest
der Handylosen. Viele Deutsche, richtig arme
Jungs, Pass weg, Kreditkarte auch. An jedem
Tag über 150 Diebstähle allein rund ums
Fanfest. Traurig: die Scharen brasilianischer
Mädchen, die um ihr Handy weinten. Ich
hätte ihnen meines geschenkt, wenn ich
es noch gehabt hätte.
Was ich erst seit vorigem Montag
weiß: Mein Handy war zu diesem Zeitpunkt exakt in dieser Polizeiwache, in
der Hosentasche von Ricardo, einem
jungen Arzt aus Ipanema. Und
auch einer der Diebe war hier – dieser junge, abgerissene Bursche
in Handschellen, der mir für einen Moment gegenüberstand,
dem ich durchdringend in die Augen starrte, um dort mein
Handy, ein schlechtes Gewissen oder sonst was zu entdecken.
Als ich beklaut wurde, waren Ricardo und seine Freundin
Carolina etwa 200 Meter von mir entfernt am Strand, auch
zwischen Fanfest und Meer. Als Carolina das Handy aus der
Tasche zog, riss ihr ein Junge das Gerät aus der Hand und lief
weg. Es war dieselbe Bande, fünf Jungen und ein Mädchen.
Ricardo lief hinterher, zusammen mit einem stämmigen Freund
und einem Amerikaner, seine Freundin alarmierte gleichzeitig
die Polizei. Es gelang ihnen, zwei Jungs und das Mädchen zu
überwältigen, die anderen drei flüchteten. „Es war gefährlich,
eigentlich sollte man so was nicht machen“, sagt Ricardo. „Aber
ich war so wütend, es war nicht das erste Mal, dass sie mir das
Handy klauen.“ Bei einem der Jungen fand Ricardo mein
Handy in der Tasche und steckte es ein. Seines fand er nicht,
es ist immer noch verschwunden. Auf der Polizeiwache erzählte
Ricardo den Polizisten nichts von meinem Handy. „Die Polizisten kassieren oft selbst die Handys ein und verkaufen sie
später“, sagte er.
Noch am Abend hatte ich über mein iPad mein Handy deaktiviert und darauf die Botschaft hinterlassen: „300 Dollar.
No police.“ Und die Handynummer meiner Frau. Orten konnte
ich das Handy – was über das iPad möglich ist – nicht, weil es
offline war. Ein paar Tage später nahm Ricardo mein Handy
mit ins Stadtzentrum. In der Rua Uruguaiana, wo viel geklautes
Zeugs verkauft wird, wollte er mein Handy entsperren lassen.
Sie kriegten es aber nicht in Gang. Also entschlossen sie sich,
in Deutschland anzurufen und die Telefonnummer von Carolina zu hinterlassen.
Mein Kollege Jens Glüsing, in Rio zu Hause, überbrachte
die 300 Dollar, bekam das Handy und Ricardos Geschichte. Er
nimmt sie ihm ab, ich auch. Warum ein Arzt 300 Dollar braucht,
um sich sein neues Handy von mir bezahlen zu lassen, gibt
mir zu denken, aber ich verbuche das unter Kopfgeld, Finderlohn, WM-Prämie. Dieb beklaut Tourist, Arzt beklaut Dieb –
ich bin nach Brasilien gefahren, um das Land kennenzulernen,
Fußball zu schauen und mit Hunderttausenden Fans aus vielen
Ländern ein großes Völkerfest zu feiern.
Meine Bilanz: sechs Peruaner, einen Holländer, zwei Iren,
drei Italiener, drei Engländer, vier Amerikaner, vier Argentinier,
ein Dutzend Deutsche, zwei Dutzend Brasilianer kennen und lieben gelernt. Elf Spiele gesehen, den Pokal
mitgenommen. Schon mal gut. Bonus: Einblick in die
Smartphonesoftware, in Big Data und moderne kriminelle Sitten, nicht nur von Strandräubern.
An der Rezeption meines Flughafenhotels in São Paulo
wurden die Daten meiner Kreditkarten kopiert und kursieren seither auf zwei gefälschten Kreditkarten durch die
Stadt, wie ich seit letzter Woche durch Anrufe meiner beiden Banken weiß.
Meine Mastercard fiel auf, weil der Gangster Geld
abheben wollte: In meinem Bankprofil ist, wie ich nun
weiß, hinterlegt, dass ich diese Karte bisher nicht zum
Geldabheben benutzt habe – der Algorithmus gab
Alarm.
Und dann waren da noch die drei russischen Kleinkriminellen, die neben mir im Stadion von São Paulo saßen,
Halbfinale Niederlande gegen Argentinien, geschickt vom
russischen Fußballverband. Sie hatten – laut Fifa streng
verboten – eine Karte an eine Schwarzmarktagentur verscherbelt, bei der ich sie dann gekauft habe, Aufdruck:
„Football Union of Russia“. Sie seien hier, sagten sie mir in
der Halbzeitpause, um sich mal anzuschauen, was die Russen lernen können von den Brasilianern. Até logo in Moskau,
bei der lupenreinen WM 2018.
Cordt Schnibben
DER SPIEGEL 32 / 2014
53
Greenpeace-Protestaktion in der Barentssee 2012
Streit bei Greenpeace
Der Chef von Greenpeace International (GI), Kumi Naidoo, steht
nach zwei Skandalen intern unter heftigem Beschuss. Erst verlor
die Organisation 3,8 Millionen Euro Spendengelder bei misslungenen Währungsgeschäften (SPIEGEL 25/2014). Dann wurde bekannt, dass GI-Programmdirektor Pascal Husting mit Segen des
Chefs regelmäßig von Luxemburg zur Amsterdamer Zentrale
pendelt – per Flugzeug. Der Imageschaden für die Umweltschützer ist enorm, allein die deutsche Sektion hat in den vergangenen Wochen mehr als 5000 Fördermitglieder verloren. Nicht wenige bei Greenpeace bereuen bereits, dass man mit dem Menschenrechtsaktivisten Naidoo einen Fachfremden an die Spitze
geholt hat, dem die Sensibilität für die Themen und den Verhal-
Lufthansa
Kabinenchefs auf
Abruf
Lufthansa-Crew
Die Lufthansa will ihre geplanten neuen Billigableger
auf Europa- und Interkontinentalrouten nutzen, um das
angestammte Karrieresystem
für Kabinenkräfte zu stutzen.
Bislang sind auf Langstrecken
neben normalen Flugbeglei54
DER SPIEGEL 32 / 2014
tern jeweils zwei Führungskräfte im Einsatz, Purser 1
und Purser 2 genannt. Die
langjährigen Lufthansa-Mitarbeiter verdienen inklusive
Zuschlägen bis zu 6000 Euro
im Monat und gelten als besonders teuer. Wer als Purser
2 in der obersten Gehaltsstufe eingesetzt wird, muss
laut Tarifvertrag keine Fluggäste bewirten und sich nur
um Organisations- und Kontrollaufgaben sowie die Betreuung von Statuskunden
kümmern. Nach Vorstellung
der Konzernführung soll bei
der hauseigenen neuen Billigplattform einer der beiden
Jobs wegfallen. Der verbliebene Kabinenchef soll auch
Serviceaufgaben übernehmen. Auf ausgewählten Kurzund Mittelstrecken, die künf-
tenskodex der Organisation fehle. In einem Brandbrief fordern
Mitarbeiter aus dem niederländischen Büro den Rauswurf Hustings – und drücken unverblümt auch ihr Misstrauen gegenüber
Naidoo aus. Der sei zwar ein guter Botschafter für Greenpeace,
man brauche aber einen Geschäftsführer, so GI-Mitarbeiter in einem weiteren Schreiben. Der Südafrikaner räumt Schwächen im
Management und in der Kommunikation ein. Mit zusätzlichen
Führungskräften will er sich jetzt mehr Kompetenz einkaufen.
Husting dürfe bleiben, bekomme aber einen Coach, um „seine
Führungsfähigkeit zu verbessern und zu stärken“, heißt es in
einer Stellungnahme von Naidoo an die Mitarbeiter. Deren
Forderung, sich einmal im Jahr einer Vertrauensabstimmung zu
stellen, lehnt Naidoo als „nicht konstruktiv und nicht fair“ ab.
Auch eine Ombudsperson, die Kritik aus der Organisation an
die Spitze weitergeben soll, hält er für überflüssig. msc
tig von der ohnehin günstiger
operierenden Tochter Eurowings bedient werden, könnte die Position des Pursers
sogar komplett wegfallen. In
deren Jets arbeiten bereits
jetzt nur Flugbegleiter ohne
Zusatzstatus. did
Gesundheit
Tödliche Fehler
Das Bundesgesundheitsministerium geht davon aus, dass
bei jeder tausendsten Behandlung in Kliniken „mit
einem tödlichen Ausgang
gerechnet werden“ müsse.
Diese Schätzung sei „gesundheitswissenschaftlich begründet“, heißt es in einer Antwort der Bundesregierung
auf eine Kleine Anfrage der
Linkspartei. Konkret verweist
das Ministerium auf eine
Zusammenstellung internationaler Untersuchungen durch
das „Aktionsbündnis Patientensicherheit“, in dem sich
Krankenkassen, Ärzte, Kliniken und Patientenvertreter
zusammengeschlossen haben.
Konkrete Studien zu vermeidbaren Todesfällen in
deutschen Krankenhäusern
seien der Regierung nicht
bekannt. Derartige Schätzungen sind zwischen Kliniken
und Kassen umstritten. Die
Regierung will „die Sicherheitskultur“ nun ausbauen,
wie es in ihrem Schreiben
heißt. So verhandelt etwa
eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe derzeit darüber, gute
Kliniken künftig besser zu
bezahlen als schlechtere. cos
FOTOS: DENIS SINYAKOV / AFP (O.); WAECHTER / CARO (U.)
Umweltschutz
Wirtschaft
Google
Warnung an die
EU-Kommission
Das Justizministerium warnt
die EU-Kommission, ihr
Missbrauchsverfahren gegen
Google vorschnell abzuschließen. Es drohten „nachteilige
Auswirkungen auf die Belan-
Banken
Verlustgefahr
für die EZB
Der Europäischen Zentralbank (EZB) drohen womöglich Verluste aus Sicherheiten
für die portugiesische Krisenbank Banco Espírito Santo,
weil sie sich auf die Bewertung der kanadischen Ratingagentur DBRS verließ. Da
die Bank von der Agentur
eine relativ gute Bonitätsnote
(„Investment Grade“) bekam,
akzeptierte die EZB deren
Anleihen als Sicherheit. Die
Ratingagenturen Standard &
Poor’s und Moody’s hatten
das portugiesische Institut
FOTOS: THOMAS MEYER (L.); WOJCIECH PACEWICZ / DPA (R.)
Bankfiliale in Lissabon
hingegen schon länger mit
schlechten Ratings versehen.
Nur wenn eine der vier zugelassenen Ratingagenturen zu
einem positiven Urteil
kommt, akzeptiert die EZB
die Anleihen. Kritiker monieren, dass die EZB die auffallend guten Ratings der Kanadier für die Krisenbank, aber
auch für andere südeuropäische Institute als Feigenblatt
nutzt, um den Geldfluss nach
Süden aufrechtzuerhalten.
Elisabeth Rudman, die zuständige Bankanalystin von
DBRS, rechtfertigt ihre Noten
für Banco Espírito Santo damit, dass die Bank „sehr
wichtig für das Funktionieren
des portugiesischen Bankenmarktes ist“. So eine Bank
ge von Verbraucherinnen und
Verbrauchern“, kritisiert Justizstaatssekretär Gerd Billen
in einem Brief an Verbraucherkommissar Neven Mimica. Die Kommission wirft
Google vor, Suchergebnisse
zu manipulieren und damit
Wettbewerber zu benachteiligen. Die Nutzer hätten durch-
werde notfalls vom Staat gerettet, normale Bankanleihen
seien deshalb relativ sicher.
Dagegen habe sie nachrangige Anleihen, die ein höheres
Verlustrisiko haben, vorher
abgewertet. Die EZB sagt,
die DBRS werde „fortlaufend
überwacht“, um ihre „Eignung sicherzustellen“. pau
schaut, „dass die Marktmacht
von Google auch auf den
über sie gesammelten und für
die zielgerichtete Werbung
jederzeit verfügbaren Daten
... beruht“, so Billen. „Sie
erwarten zu Recht, dass dies
bei der Entscheidungsfindung
der Europäischen Kommission die gebotene Berücksich-
tigung findet.“ Google hat
Kompromisse vorgeschlagen,
aber diese findet Billen „verbesserungswürdig“: Für die
Verbraucher könnten „nachteilige Wettbewerbsverzerrungen entstehen“. Zuletzt
hatte auch die Kommission
signalisiert, dass sie neu mit
Google verhandeln will. ama
Sanktionen
Hilfen gegen Moskau
Textilhandel
Hungern für Lohn
Der Besitzer der TazreenTextilfabrik in Bangladesch,
Delwar Hossain, der für den
Tod von 112 Näherinnen bei
einem Feuer vor eineinhalb
Jahren verantwortlich gemacht wird, soll schon bald
nach seiner Inhaftierung
wieder freikommen – dank
einer besonderen Form von
Erpressung. Seine Tuba
Group, zu der auch vier Textilfabriken gehören, hat seit
drei Monaten keine Löhne
mehr an die 1500 Näherinnen
ausgezahlt. Hossains Verwandtschaft habe durchblicken lassen, dass erst wieder
gezahlt werde, wenn ihr
Angehöriger freikomme. Die
Lage der Näherinnen, die
nach Angaben des Frauenrechtevereins Femnet auch
für den deutschen Discounter
Lidl produzieren, ist nach
drei Monaten verzweifelt.
Vergangene Woche traten viele in einen Hungerstreik, über
hundert sind bereits erkrankt.
Nun hat Bangladeschs Arbeitsminister laut Presseberichten
angekündigt, Hossain freizulassen. Eine Lidl-Sprecherin
sagt, man verfolge die Situation aufmerksam. Bei der
Tuba-Tochter, die Lidl beliefere, sei es zu keinen Unregelmäßigkeiten gekommen. msc
Arbeiter bei der Apfelernte in Polen
Zum Ausgleich für die wirtschaftlichen Vergeltungsaktionen Russlands in der Ukrainekrise können EU-Mitgliedstaaten auf Hilfe aus Gemeinschaftstöpfen hoffen.
Das gilt etwa für Polen, das seit vergangener Woche von
einem Moskauer Importverbot für Obst und Gemüse
betroffen ist. Die russische Reaktion auf die europäischen
Wirtschaftssanktionen trifft das Land hart: Allein die
Ausfuhr von Äpfeln, Birnen und Quitten nach Russland
lag im vergangenen Jahr bei 776 000 Tonnen im Wert von
rund 320 Millionen Euro. Dafür winkt nun Ausgleich:
Nach den Statuten der Gemeinsamen Agrarpolitik der
EU könnten sich politische Verwerfungen, an denen
Anbieter offensichtlich keine Schuld trifft, als „externer
Schock“ klassifizieren lassen. Die polnische Regierung
sondiert bereits bei der Kommission, wie und wann Hilfsmittel fließen könnten. Für andere Branchen, etwa den
Rüstungssektor, gelten ähnliche Vorschriften nicht. Sollte
Frankreich den umstrittenen Verkauf von zwei Flugzeugträgern des Typs „Mistral“ an Russland doch noch
abblasen, könnte Paris den betroffenen Firmen durch
Beihilfezahlungen zur Seite springen. Ob diese rechtmäßig sind, müsste dann die EU-Kommission prüfen. gps
DER SPIEGEL 32 / 2014
55
Wirtschaft
1
Absaufen im Lichtermeer
W
enn Fußball gespielt wird, präsentiert sich die Münchner Allianz-Arena in drei Farbtönen: Rot
leuchtet die Stadionhülle, wenn die Bayern
auf dem Platz sind; in Blau erstrahlt sie
bei einer Partie der Löwen; und weiß,
wenn das Nationalteam zu Gast ist. Mit
dieser dekorativen Dreifaltigkeit hat es
bald ein Ende.
Demnächst ziehen Bautrupps ins Stadion ein, reißen die alten Leuchtstoffröhren heraus und ersetzen sie durch Licht
emittierende Dioden (LED); 380 000 an der
Zahl, jede individuell ansteuerbar. Vom
Frühjahr an sollen nicht mehr nur drei,
sondern 16 Millionen Lichtvarianten möglich sein – ein Spektakel sondergleichen.
Mal rieselt dann der Schnee, mal funkeln die Sterne, oder es könnte auch jener
Block erleuchtet werden, in dem die Fans
am lautesten skandieren. Roger Karner,
Geschäftsführer des Lichtgeschäfts von
Philips Deutschland, möchte noch nicht
alles verraten, nur so viel: „Wir werden im
Stadion mit Licht Emotionen erzeugen.“
56
DER SPIEGEL 32/ 2014
Philips ist mit dem Zuschlag, die AllianzArena zu illuminieren, ein Coup gelungen.
Die Niederländer haben den bisherigen
Ausstatter Osram ausgestochen, der im
Münchner Norden seine Zentrale hat, in
Sichtweite der Arena, keine sechs Kilometer entfernt. Der Kampf um die Lichthoheit illustriert die alte Rivalität zwischen
Europas Marktführern. Er demonstriert
vor allem aber den tiefgreifenden Umbruch, der das Geschäft mit Lampen,
Leuchten und anderen Lichtquellen verändert. Zu besichtigen ist eine Energiewende der ganz eigenen Art.
In den kommenden Jahren, das ist absehbar, wird die LED konventionelle
Leuchtmittel weitgehend verdrängen: den
Halogenspot, die Leuchtstoffröhre, auch
die Energiesparlampe; die Glühbirne ist
ohnehin schon Geschichte, zumindest in
der EU. Neues breitet sich aus, Altes verschwindet, und beides geschieht in ungeheurer Geschwindigkeit.
Die Transformation macht den Traditionsfirmen zu schaffen, wie vorige Woche deut-
lich wurde, als Osram den Abbau von 7800
Stellen ankündigte – 1700 davon in Deutschland, das ist fast jeder fünfte Job. Treffen
wird es Standorte, an denen herkömmliche
Leuchtmittel hergestellt werden: Augsburg
und Berlin. Dieses Geschäft verzeichne
einen „deutlich schnelleren Rückgang“,
begründet der Osram-Chef Wolfgang Dehen
den Schritt. Dafür aber wachse die Akzeptanz der LED-Technologie.
Tatsächlich verläuft der Siegeszug der
Halbleiter, nichts anderes sind Leuchtdioden, annähernd so schnell wie der Technologiewechsel vom Mobiltelefon zum
Smartphone. Die Möbelkette Ikea hat im
vergangenen Jahr bereits 22,4 Millionen
Beleuchtungsprodukte verkauft, die mit
LED ausgestattet sind, das ist gut die Hälfte des entsprechenden Sortiments. Bis 2016
wollen die Schweden ihre Produktpalette
komplett umgestellt haben.
Der Leuchtendesigner Dietrich Brennenstuhl hat diesen Schritt schon so gut wie
vollzogen, nur drei Prozent des Umsatzes
erzielt sein Unternehmen Nimbus Group
FOTO: BORIS ROESSLER / DPA
Beleuchtungsmarkt Osram streicht fast jeden fünften Arbeitsplatz in Deutschland.
Der technologische Umbruch hin zu LED-Produkten erschüttert die
ganze Branche. Können Europas Konzerne dem Angriff aus Fernost standhalten?
2
3
1 Skyline von
Frankfurt am Main
2 Fernsehgeräte mit
OLED-Bildschirm
3 Läufer mit
LED-Lichtanzügen
in Herten
4 Lichtobjekt mit
OLED-Elementen
5 Spiegel mit interaktiver Lichtsteuerung
FOTOS: MICHAEL NELSON / PICTURE ALLIANCE / DPA (O.L.); BERND THISSEN / DPA (O.R.)
4
5
noch mit herkömmlicher Beleuchtung, an- Hund seine Schnauze“, warnt der Desonsten basiert alles, was in seinem Atelier signer. Das rechte Exemplar benötigt mit
in Stuttgart-Feuerbach zu sehen ist, auf 4,3 Watt gerade mal ein Zehntel davon.
Die Unternehmensberatung McKinsey
Diodentechnik.
Brennenstuhl, ein schlanker Mittfünfzi- hat in einer Studie ausgerechnet, wie viel
ger mit schulterlangem Haar, ist Pionier Strom mit dem Einsatz von Leuchtdioden
in Sachen LED. Vor zehn Jahren begann im Jahr 2020 zu sparen wäre. Deutschland
er mit der Serienfertigung von Produkten, könnte demnach auf 3 Atomkraftwerke
er kreierte die weltweit erste LED-Steh- verzichten, die USA sogar auf 19 Meiler.
Die Berechnung beruht auf der Prognolampe. Manchmal müsse er noch die typischen Vorbehalte ausräumen, erzählt er, se, dass die LED-Durchdringung 2016 bei
das Licht sei zu kalt und zu schwach. Dann 45 Prozent liegen wird und 2020 auf fast
70 Prozent steigen kann. „Der Innovaführt er Zweifler in den Vergleichsraum.
Dort sind in der linken Hälfte Lampen tionsmarkt verwandelt sich in einen Masmit konventionellen Leuchtmitteln mon- senmarkt“, sagt Florian Wunderlich, einer
tiert, auf der rechten Seite finden sich iden- der Autoren der Untersuchung. Die schneltische Modelle in der LED-Version. Bren- le Verbreitung der Technologie hat nach
nenstuhl lässt die Kunden raten, wo Einschätzung des Beraters gravierende
Leuchtdioden im Einsatz sind. Selbst er- Konsequenzen für das gesamte Gewerbe:
fahrene Architekten tippten mitunter „Eine mehr als hundert Jahre alte Industrie
falsch, sagt er schmunzelnd. „Es gibt keine wird auf den Kopf gestellt.“
Vor wenigen Jahren noch war das Leben
Argumente mehr, die gegen die LED sprefür die Manager bei Osram und Philips einchen“, sagt Brennenstuhl.
Mittlerweile ist die Leuchtdiode in der fach. Die beiden Hersteller beherrschten
Lage, eine warme, angenehme Helligkeit den europäischen Markt, ihr Geschäftszu erzeugen. Sie schenkt Designern große modell war so berechenbar wie das ErscheiGestaltungsfreiheit, weil Lampen keine So- nen des Vollmonds.
Eine Glühbirne hielt zwei bis drei Jahre
ckelfassung mehr benötigen. Sie hält um
ein Vielfaches länger als eine herkömmli- lang, dann musste der Verbraucher sie
che Glühbirne. Sie wird nicht glühend heiß, wechseln. Auf diesen Ersatzbedarf war die
sondern bleibt handwarm. Und sie benö- Produktion in den Fabriken getaktet.
tigt vergleichsweise wenig Energie, weil Ernsthafte Konkurrenz mussten die Brannur ein Bruchteil als Wärme verloren geht. chenführer nicht fürchten, ihre Maschinen
Zum Beweis schaltet Brennenstuhl im waren das Ergebnis jahrelanger Tüftelei,
Vergleichsraum zwei bodentiefe Wand- niemand konnte sie so schnell kopieren.
Das hat sich mit der LED schlagartig geleuchten ein: Links zeigt das Messgerät
43,5 Watt an. „Da verbrennt sich jeder ändert. Das technische Prinzip ist simpel:
Strom fließt durch einen Halbleiterkristall
und bringt ihn zum Leuchten. Bis zu 10 000
Dioden werden aus einer handtellergroßen
Siliziumscheibe geschnitten. Die Produktionskosten sind minimal, die Entwicklungsfortschritte enorm, alle neun Monate
erobert eine neue Generation den Markt.
Dieser technologische Umbruch stellt
nun alles infrage, worauf sich die alten Akteure jahrzehntelang verlassen konnten.
Ihr angestammtes Geschäft mit herkömmlichen Leuchtmitteln bricht weg. Es macht
zwar noch fast zwei Drittel des Umsatzes
aus, aber der Markt schrumpft Quartal für
Quartal, viel schneller als erwartet.
Gleichzeitig müssen sie an anderer Stelle in großem Stil investieren, Millionensummen fließen in die Entwicklung von
LED-Produkten. „Wir werden von einer
Glasfabrik zu einem Chip-Hersteller“, sagt
Philips-Manager Karner über den Wandel
und das neue Selbstverständnis. Auch bei
Osram gibt nun die Halbleiterfabrik in Regensburg den Takt im Konzern vor. Früher
seien sie als Spinner abgetan worden, sagt
Aldo Kamper, Leiter der LED-Entwicklung, jetzt gelten sie als die Vorreiter.
Erschwert wird diese Transformation
durch den Preisverfall, der ebenfalls
schneller voranschreitet als gedacht. Ein
Retrofit-Modell, also eine Lampe mit Gewinde in Glühbirnenform, kostet heute
keine zehn Euro mehr. Damit ist laut Philips-Mann Karner „ein magischer Punkt“
erreicht, die Preissensibilität der Kunden
sei „massiv angestiegen“. Die Margen
schrumpfen, der Ersatzbedarf – früher der
DER SPIEGEL 32/ 2014
57
Wirtschaft
Marktanteil in Prozent
57
2011
96
100
Prognose 2016
Prognose 2020
Marktvolumen in Mrd. €
2
1
1
Kfz-Beleuchtung
13
21
36
2011
Prognose 2016
Prognose 2020
2
4
6
Allgemeine Beleuchtung
9
45
69
2011
Prognose 2016
Prognose 2020
32
57
5
dustrie
ur In
tekt
i
h
Arc
2
57
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DER SPIEGEL 32/ 2014
Bildschirm-/Displaybeleuchtung
23
58
Blendende Aussichten
Weltweiter Stellenwert von LED, nach Bereichen
Quelle: McKinsey
8
uß
a
Umsatzgarant – wird auf absehbare Zeit
ausbleiben: der Fluch des Fortschritts.
Zugleich mischen neue Wettbewerber
aus Fernost den Weltmarkt auf, zum Beispiel Samsung. Die Koreaner haben sich
einiges an Know-how bei der Fertigung
der Hintergrundbeleuchtung von Monitoren erworben, die in TV-Geräten oder Tablets im Einsatz sind. Jetzt nehmen sie den
Lichtmarkt für Wohnzimmer und Büro ins
Visier. Und in China erwachsen Konkurrenten, von denen Philips und Osram vor
Kurzem noch gar nichts wussten.
Sie stammen fast durchweg aus Guangdong, der Südprovinz am Perlflussdelta.
Die dortige Regierung hat beschlossen, bis
Ende des Jahres die Beleuchtung im öffentlichen Raum – auf Straßen, in Tunneln,
auf Bahnhöfen oder in Kliniken – durch
LED zu ersetzen. „Damit sind wir so gut
wie fertig“, sagt der Branchenkenner Sui
Shirong. Dann sollen die Privathaushalte
folgen: „Wir werden schneller sein als Kalifornien“, lautet seine Prognose.
Sui leitet das Innovationszentrum für die
Beleuchtungsindustrie in Foshan, in solchen staatlich geförderten Industrieparks
bündelt die Regierung die Kräfte. 26 Firmen haben am Eingang ihre bunten
Firmenschilder angeschraubt, darunter
NationStar, ein Hersteller von LED-Chips.
Um 50 Prozent sei das Unternehmen im
vorigen Jahr gewachsen, sagt Managerin
Lydia Du. In diesem Jahr peilt sie eine noch
höhere Rate an. „Bei dem Rennen, das gerade begonnen hat, wird mein Unternehmen sicher die Nase vorn halten“, hofft sie.
Rund 4000 Betriebe der LED-Industrie
haben sich in China angesiedelt. Selbst
Bergbaufirmen investieren in den Wachstumsbereich, seit die Regierung die Branche kräftig fördert. Mittlerweile kämpfen
viele Akteure ums Überleben, es wird brutal gesiebt. Am Ende würden vielleicht
hundert Unternehmen übrig bleiben,
schätzt Experte Sui. Einige von ihnen,
meint er, würden dann in der Liga von Osram oder Philips mitspielen.
Mit dieser Herausforderung gehen Europas alte Champions ganz unterschiedlich
um. Osram konzentriert sich auf Speziallösungen, insbesondere für Kunden aus
der Autoindustrie. Rund 40 Prozent des
LED-Umsatzes macht das Unternehmen
mit Fahrzeugherstellern. Fast wöchentlich
säßen die Ingenieure zusammen, um gemeinsam neue Produkte zu entwickeln,
sagt Osrams LED-Chef Kamper. So öffne
man sich Markt für Markt.
Angefangen hat dieser Prozess in den
Neunzigerjahren, als Volkswagen die Tachos im Armaturenbrett mit blauen LED
ausstatten ließ. Später folgten die ersten
Leuchtdioden in den Rücklichtern, vor
fünf Jahren kam dann das Tagfahrlicht
dazu. Gegenwärtig ist die Industrie dabei,
den gesamten Scheinwerfer mit LED-Tech-
en
8
B ü ro
nik auszustatten. Noch in der Entwicklung
ist infrarotes Licht, das helfen soll, Kollisionen zu vermeiden. Es geht Schlag auf
Schlag. „Jede Innovation muss sitzen“, sagt
Osram-Mann Kamper.
Philips verfolgt eine andere Strategie.
Die Niederländer streben an, auf vielen
Feldern mitzuspielen, möglichst an der
Spitze. Sie wollen nicht nur Produkte verkaufen, sondern vor allem Anwendungen.
Darunter sind Lifestyle-Produkte wie
eine LED-Lampe, die per iPhone-App aus
der Ferne steuerbar ist, aber auch Lichtsysteme für Schulen. Dort wird nachweislich leichter gelernt, wenn der Klassenraum ins rechte Licht gesetzt wird: So verbessern höhere Blau-Anteile die Konzentration. Von solchen Gesamtlösungen verspricht sich Philips höhere Erträge als von
der schlichten LED-Lampenproduktion.
Gerade im Medizinsektor eröffnen sich
Möglichkeiten. In der Berliner Charité
schauen Patienten nach der OP statt an
die Decke in einen gewölbten, pastellfarbenen Lichthimmel. Die Optik soll helfen,
die Genesung zu beschleunigen.
So gehen Philips und Osram zwar strategisch unterschiedliche Wege, technologisch verfolgen sie als nächsten Entwicklungsschritt dasselbe Ziel: Sie wollen nun
organische Leuchtdioden (OLED) zur
Marktreife führen, millimeterdünne Elemente, die aus mehreren Schichten bestehen und ein sanftes Flächenlicht erzeugen.
Diese Glasplättchen oder biegsamen Folien könnten Designer in Möbeln, Vorhängen, Fassaden oder Wänden direkt verarbeiten. In einigen Jahren sollen Fenster so
ausgestattet sein, dass sie am Tage transparent sind und sich am Abend in eine
ruhig strahlende Lichtquelle verwandeln.
Der Durchbruch der organischen Variante
steht indes noch aus, seit Jahren schon.
Die Herstellungskosten sind noch immer
zu hoch. In Aachen fertigt Philips kleine
Serien in einer ehemaligen Bildröhrenfabrik, viele Arbeitsschritte sind nur mit
Handarbeit zu bewältigen. Der Quadratmeter kostet rund 7000 Euro. Höchstens
für Prestigeobjekte, etwa Lichtspiele in Hotelfoyers, lohnt sich der Aufwand. Für den
Massenkunden aber bleibt die Technik vorerst unerschwinglich. Das dürfte sich wohl
erst ändern, wenn sich beispielsweise ein
Riese in der Unterhaltungselektronik wie
Samsung entschließt, in großem Stil in das
Geschäft einzusteigen.
Es ist eine Gratwanderung, die in der
Beleuchtungsindustrie gegenwärtig alle
Kräfte bindet. Die kommenden Monate
entscheiden darüber, ob den europäischen
Akteuren die Transformation gelingt: ob
sie das alte Geschäft ohne größere Schäden
abwickeln können und genügend Energie
bleibt, um das neue Geschäft in Höchstgeschwindigkeit aufzubauen und sich zugleich gegenüber den Angreifern aus Fernost zu behaupten. Über einen Mangel an
Dynamik könne er sich nicht beklagen,
sagt Philips-Manager Karner.
Gegenwärtig beginnt das Unternehmen
mit der Vorbereitung des Projekts „Allianz-Arena“. Das Stadion liegt direkt an
der A 9, mehr als 150 000 Autos rasen dort
täglich vorbei. Laut Autobahnmeisterei
München-Nord hatte Osrams dreifarbiges
Lichtkonzept eine Sondergenehmigung
bekommen, allerdings unter strengen Auflagen. So darf die Beleuchtung erst nach
zwei Minuten wechseln, die Fahrer sollen
nicht irritiert werden.
Die Hürden liegen also hoch, wenn nun
Philips den Antrag für seine farbenprächtige LED-Show stellt. Manager Karner
ahnt schon jetzt: „Wir werden nicht alles
ausreizen, was die Technologie hergibt.“
Frank Dohmen, Alexander Jung, Bernhard Zand
Solo für Winnetou
Deutsche Bank Anshu Jain bereitet sich auf ein Leben als alleiniger Konzernchef vor und
schwört das Institut auf seinen Kurs ein. Doch das Misstrauen der Aufseher könnte ihn stoppen.
FOTO: STEFAN BONESS / IPON
D
Bankmanager Jain
ie Geschichtsschreiber werden eines Tages darüber befinden, ob
sich Anshu Jain und Jürgen Fitschen in die Galerie berühmter Freundespaare einreihen. Seit gut zwei Jahren führen der Brite mit den indischen Wurzeln
und der Mann aus dem niedersächsischen
Harsefeld gemeinsam die Deutsche Bank.
Seither geht die demonstrierte Harmonie
der beiden so weit, dass ein Berater der
Bank scherzt: „Öffentlich treten Jain und
Fitschen auf wie Winnetou und Old Shatterhand.“
Die beiden Romanhelden untermauerten ihre Freundschaft mit einer Blutsbrüderschaft. Jain und Fitschen haben das Ritual in die moderne Geldwelt übertragen,
indem sie gutes Teamwork im Vorstand
und somit auch untereinander mit einem
höheren Bonus belohnen.
Doch unter der Oberfläche zeigt die Einigkeit Risse. „Die Spannungen zwischen
den beiden sind größer als vor einem
Jahr“, sagt ein Insider.
Es sind kleine Begebenheiten, die darauf
hindeuten. So berichten Ohrenzeugen,
dass sich jüngst in Berlin ein Jain-Vertrauter über Fitschen lustig gemacht und ihn
als Frühstücksdirektor an der Seite des
genialen Bankers Jain karikiert habe. Man
darf davon ausgehen, dass Jain über seinen
Co-Chef so nicht einmal denkt, geschweige
denn spricht.
Die Sticheleien seiner Gefolgsleute haben aber einen ernsten Hintergrund: Jain
denke bereits an die Zeit nach Fitschen,
heißt es im Umfeld der Bank, und arbeite
darauf hin, das Institut dann ohne Partner
zu führen. „Er will zeigen, dass er es allein
kann“, sagt ein Kenner des Konzerns.
Auf der Tagesordnung steht das Thema
Nachfolge noch nicht, schließlich haben
die Co-Chefs noch Verträge bis 2017. Doch
Jain gilt als strategisch denkender Mann –
außerdem könnte ihm Fitschen womöglich
schon früher abhandenkommen.
Die Staatsanwaltschaft München hat
eine 600 Seiten starke Anklageschrift gegen Fitschen und mehrere ehemalige Vorstandsmitglieder der Bank fertiggestellt.
Sie wirft ihnen vor, im Schadensersatzverfahren des verstorbenen Medienunternehmers Leo Kirch gegen die Bank Prozessbetrug begangen oder geduldet zu haben.
Noch ist nicht klar, ob die Anklage in
vollem Umfang zur Hauptverhandlung zugelassen wird. Doch schon jetzt wird in
der Bank von manchen infrage gestellt, ob
Fitschen weitermacht, wenn er vor Gericht
DER SPIEGEL 32 / 2014
59
Investmentbanker Leonhard Fischer über Europas Finanzbranche
Im Geldgeschäft galt er als Wunderkind,
weil er es schon mit Mitte dreißig in den
Vorstand der Dresdner Bank geschafft
hatte und dort als Kandidat für den Chefposten galt. 2007 wurde Leonhard „Lenny“
Fischer, 51, Chef der Finanzholding RHJ, die
vor einigen Monaten für 340 Millionen Euro
die BHF-Bank erwarb.
SPIEGEL: Herr Fischer, der Wettbewerb
unter den europäischen Banken gilt als
mörderisch. Warum legen Sie sich in so
einer Situation ein eigenes Geldhaus
zu?
Fischer: Das ist doch genau der Zeitpunkt, zu
dem man so einen Kauf
tätigen sollte – wenn
man davon überzeugt
ist, dass das Bankgeschäft langfristig weiterhin interessant ist.
Und das bin ich. Nur
wird sich das Banking
sehr verändern.
SPIEGEL: Inwiefern?
Fischer: Vielleicht werden wir in zehn Jahren
mit unserem Handy
den gesamten Zahlungsverkehr
abwickeln, vielleicht über
Plattformen, die nicht mal mehr eine
Banklizenz haben. Auch im Kapitalmarktgeschäft ersetzt die Technologie
viele Prozesse. Doch die Fähigkeit, Einlagen zu sammeln, Risiken einzuschätzen, Kredite zu vergeben oder Anlageberatung zu machen, wird weiter gefragt
sein.
SPIEGEL: Das sagen viele Banken, in
der Branche gibt es aber große Überkapazitäten. Welche Fehler haben
Europas Finanzpolitiker in der Krise
gemacht?
Fischer: Mir wäre es lieber gewesen, man
hätte weniger Banken aufgefangen. Ein
System, das Verluste sozialisiert und Gewinne privatisiert, ist unfair und nicht
funktionsfähig. Deshalb ist es allerhöchste Zeit, dass man Wege findet, Banken
abzuwickeln.
SPIEGEL: Wer hat die besten Chancen,
den Wandel zu überleben: eher Nischenbanken oder die globalen Finanzkonzerne?
60
DER SPIEGEL 32 / 2014
Fischer: Solange es die Globalisierung
gibt, wird es auch globale Banken geben.
Es kann allerdings unmöglich klug sein,
auf die Krise im Bankwesen mit einer
zunehmenden Konzentration zu reagieren. Kleinere Institute sollten weniger
intensiv reguliert werden als systemisch
relevante Banken. Wenn man versucht,
über Regulierung immer mehr Einzelfallgerechtigkeit zu erzeugen, dann wird sie
zu einem bürokratischen Monster. Das
trifft kleine Banken stärker als große.
SPIEGEL: Derzeit treten neue Probleme
auf, wie die Turbulenzen um die portugiesische Banco Espírito Santo zeigen. Drohen uns in absehbarer
Zeit wieder Bankenpleiten?
Fischer: Nein, so wie
ich die Banker einschätze, wird es eher
zu Zusammenschlüssen europäischer Banken kommen. Die
Schaffung einer gemeinsamen Aufsicht
und einheitlicher Regeln ist der Treiber
für eine Neuordnung
des Finanzsystems in
Europa.
SPIEGEL: Wer sind die Gewinner und wer
die Verlierer dieser Neuordnung?
Fischer: Banken in Südeuropa haben einen großen Vorteil: Ihre Gewinnmargen
sind höher, weil etwa die Milliardensummen an heimischen Staatsanleihen in ihren Bilanzen jeweils zwei Prozentpunkte
mehr abwerfen als Bundesanleihen, die
unsere Banken vor allem halten. Aber
die Südländer haben auch ein Problem:
Sie kommen schwerer an Einlagen. Und
wo gibt es zu viele Einlagen?
SPIEGEL: Bei deutschen Banken.
Fischer: Richtig. Banken aus den Peripheriestaaten werden daher versuchen,
Institute in Deutschland oder in anderen
mitteleuropäischen Staaten zu übernehmen. Ich glaube, dass keine Bank in
einem solchen Szenario gegen eine
Übernahme gefeit wäre. Eines ist doch
klar: Der deutsche Markt ist gerade in.
Der Immobilienmarkt ist in, der Mittelstand ist in, alles hier ist in.
Interview: Martin Hesse
FOTO: MARC WETLI / 13 PHOTO
„Das System ist unfair“
muss. Fitschen weist die Vorwürfe der
Staatsanwaltschaft zurück. Er denke auch
nicht an Rücktritt und wolle die Sache gegebenenfalls vor Gericht ausfechten, sagen
Leute, die ihn kennen.
Jain bereitet sich dennoch auf den Fall
der Fälle vor, um dann allein regieren zu
können. Er festigt seine Hausmacht, wirbt
für seine Strategie und sammelt fleißig Belege dafür, dass seine eiserne Fixierung auf
das Investmentbanking richtig ist. So hob
er bei der Vorlage der jüngsten Quartalszahlen hervor, dass die Bank in dem Bereich Marktanteile zurückgewonnen habe.
Zugleich erhöht Jain den Druck auf andere Geschäftsbereiche und ihre Chefs. Als
kürzlich aus dem Inneren der Bank lanciert wurde, es gebe neue milliardenschwere Sparpläne, galt dies auch als Spitze gegen Privatkundenvorstand Rainer Neske.
Die Nachricht wurde schließlich als Ente
abgetan, die Arbeitnehmerseite im Aufsichtsrat machte klar, dass sie von solchen
Überlegungen nichts halte.
Vor allem aber arbeitet Jain daran, sein
Verhältnis zu Politik und Aufsehern zu verbessern, und nimmt die Beziehungspflege
zunehmend selbst in die Hand. Während
Fitschen auf Podien schon einmal forsch
wie Old Shatterhand auftritt, pflegt Jain
Hinterzimmerdiplomatie in Ministerien
und Parteispitzen. Der Mann, den Branchenvertreter ehrfürchtig als Raubkatze
bezeichnen, bewegt sich auf Samtpfoten.
Trotz allem ist das Projekt Alleinherrschaft gefährdet. Der Aktienkurs schwächelt, und die Rating-Agentur Moody’s mäkelte jüngst an Jains Strategie herum. Besonders schwer wiegt aber das Misstrauen
der Aufsichtsbehörden wegen der Skandale, die Jain mitzuverantworten hat.
Das wird beispielsweise sichtbar in einem
aktuellen Dokument zur Untersuchung
der Libor-Affäre um manipulierte Zinsen
durch die deutsche Finanzaufsicht BaFin.
Im vergangenen Sommer hatte die Behörde einen vernichtenden Zwischenbericht zur Aufarbeitung der Affäre durch
die Deutsche Bank geschrieben und missbilligende Schreiben an Jain und Finanzvorstand Stefan Krause geschickt. Auch
eine vom Aufsichtsrat veranlasste Überprüfung des Topmanagements verriss die
BaFin, sie sei weder unabhängig noch umfassend gewesen.
Deshalb leitete die Behörde eine neue
Sonderprüfung durch externe Wirtschaftsprüfer ein. Eine aktuelle Auftragsbeschreibung für die Prüfer von Ernst & Young
zeigt, dass die BaFin den gesamten erweiterten Vorstand und weitere Führungskräfte unter die Lupe nehmen lässt. Zehn Themenblöcke sollen die Prüfer untersuchen,
bei sechs wird Jain als Schlüsselfigur aufgelistet, häufiger als jeder andere.
Das Papier macht klar, dass aus Sicht
der Ermittler noch immer nicht ausrei-
FOTO: ALEX DOMANSKI / DAPD
Wirtschaft
fürchtet, für eine solche Zahlung wegen
Untreue haftbar gemacht werden zu können. Auch im Aufsichtsrat gibt es nach wie
vor Widerstand gegen einen Vergleich.
Den Druck auf die Bank erhöhen auch
die amerikanischen Behörden. Vor zwei
Wochen geriet ein Brief der New Yorker
Niederlassung der Notenbank Fed aus dem
vergangenen Dezember an die Öffentlichkeit. Die Behörde monierte, die Finanzberichte der Deutschen Bank an die Fed
seien in einigen Sparten von „geringer
Qualität, ungenau und unzuverlässig“.
Ein Sprecher des Konzerns versicherte,
man arbeite weiter gewissenhaft daran,
zum Klassenbesten zu werden. Dagegen
kritisierte die Fed, die Bank kenne die Probleme schon lange, komme aber bei der
Behebung der Schwächen kaum voran.
„Das ist besorgniserregend“, kommenVorstände Stephan Leithner, Fitschen, Neske, Jain, Henry Ritchotte: „Zeigen, dass er es allein kann“ tiert ein Aufsichtsrat den Rüffel der USBehörden. Ihm stinkt nicht nur der Vorfall
chend geklärt ist, wann Jain von mögli- operiere hinsichtlich der Untersuchungen an sich, sondern auch, dass die Verantworchen Libor-Manipulationen in der Branche zur Libor-Problematik mit den Behörden. tung dafür allein Finanzvorstand Krause
Jain ist bemüht, die alten Affären abzu- zugeschoben wird. Der wolle so etwas siim Allgemeinen und bei der Deutschen
Bank erfahren hat. Er hatte dazu erklärt, arbeiten, ohne dass an ihm etwas hängen- cher nicht noch einmal erleben, merkten
der Gesamtvorstand der Bank habe erst bleibt. Das zeigt kein Fall so eindrücklich Leute aus Jains Umfeld spitz an.
2011 Kenntnis von möglichen Manipula- wie der Streit mit vier Mitarbeitern der
Kritiker Jains argwöhnen, der Co-Chef
Bank, die dort einst für die Ermittlung der wolle davon ablenken, dass er früher als
tionsvorwürfen gehabt.
Bei der Bank of England waren mögli- Libor-Zinsen zuständig waren.
Leiter des Investmentbankings viele Jahre
Die Bank hatte die Männer Anfang 2013 für das Gros der US-Geschäfte verantche Libor-Manipulationen schon Mitte
2008 ein Thema. Am 10. Juni hatte Anshu entlassen, weil sie ihnen eine Verwicklung wortlich war.
Jain ein Meeting mit den Notenbankern. in die Manipulationsaffäre
Der Vorfall mit der New
Seine Mitarbeiter präparierten ihn mit vorwirft. Die vier klagten Deutsche Bank
Yorker Fed dürfte nur ein
dem Hinweis, dass auch das Thema Libor sich vor dem Frankfurter Ar- Rückstellungen für
Vorgeplänkel für größeres
zur Sprache kommen könnte, was dann beitsgericht erfolgreich wie- Rechtsstreitigkeiten
Ungemach sein. Der Deutder ein, weil die Richterin in Milliarden Euro
aber offenbar nicht der Fall war.
schen Bank drohen in den
In dem Ernst & Young-Papier heißt es al- zu dem Schluss kam, die
USA in den kommenden
lerdings, im Zuge einer Untersuchung Bank selbst habe ihre Mit- II/2013
Monaten und Jahren unter
3,0
durch die Bundesbank habe Jain später arbeiter durch ihre interne
anderem Strafen wegen der
II/2014
„versucht herauszufinden, ob es ,proble- Organisation in einen InterManipulation von Zinsen
2,2
matische‘ Dokumente im Zusammenhang essenkonflikt gebracht.
und Währungskursen sowie
Die Mitarbeiter belastemit diesem Treffen bei der Bank of Engwegen Verstößen gegen Iranten das Management schwer,
land gab“.
Sanktionen. Zuletzt schickOffenbar hat die BaFin weiterhin den insbesondere den Jain-Verten US-Behörden AuskunftsVerdacht, dass in der Deutschen Bank trauten Alan Cloete, Mitersuchen, weil sie vermuten,
mehrfach Spuren verwischt wurden. So su- glied im engsten Führungs- Drohende zusätzliche II/2014
die Deutsche Bank habe wie
chen die Sonderprüfer Beispiele, inwieweit zirkel. Dennoch ging die Rechtskosten
andere Konzerne krumme
3,2
Manager aus der Bankführung rund um Bank in die Revision, auch in Milliarden Euro
Geschäfte mit HochfreJain versucht haben, bestimmte Informa- weil der Aufsichtsrat auf
quenzhändlern gemacht.
tionen aus einem internen Untersuchungs- eine Aufklärung der Verant- II/2013
All das kann sehr teuer
1,2
und vor allem dann zu eibericht – dem sogenannten BIRG-Bericht – wortlichkeit drängte. Doch
in einer Vorstandssitzung
nem Problem werden, wenn
herauszuhalten.
die Gewinne nicht ausreiAus dem Ernst & Young-Bericht geht drei Tage vor dem Revisionschen, um die hohen Rechtsauch hervor, dass im April 2012 entgegen termin setzte Jain durch,
kosten auszugleichen.
den Anweisungen der Rechtsabteilung di- dass man sich auf ein GüteAktienkurs in Euro
Kommt es so weit, müsste
gitale Tonbänder, die für die Libor-Unter- verfahren einlassen solle.
Am 18. August soll vor
wohl auch Jain seine Ambisuchung relevant waren, durch einen extionen aufgeben. „Wenn die
ternen Dienstleister zerstört wurden. Die Gericht ein Vergleich ausgeDeutsche Bank wegen der
Aufsicht wirft die Frage auf, wann das Ma- handelt werden. In VerhandFehltritte in den USA die
nagement davon wusste. Sie will außer- lungskreisen heißt es, die
Aktionäre noch einmal um
dem wissen, warum mehrere elektronische Bank müsse einen beträchtKapital bitten muss“, schrieb
Kommunikationssysteme der Bank intern lichen zweistelligen Millioneulich das Wall Street Jourim Zusammenhang mit der Libor-Affäre nenbetrag als Abfindung
Quelle:
zahlen. Doch im Vorstand
nal, „dann dürfte dies zu eizunächst nicht untersucht wurden.
Thomson Reuters Datastream
nem Wechsel an der Spitze
Die BaFin äußert sich zu der laufenden ist das noch nicht bewilligt
führen.“
Prüfung nicht. Die Bank erklärt, sie ko- und umstritten, weil man Juni 2013
Martin Hesse
Aug. 2014
DER SPIEGEL 32 / 2014
61
Wirtschaft
„Der Anfang einer Revolution“
SPIEGEL-Gespräch Der amerikanische Ökonom und Gesellschaftstheoretiker Jeremy Rifkin
über Kapitalismus im digitalen Zeitalter und den Weg in eine neue Kostenlos-Gesellschaft
Rifkin, 69, zählt seit Jahrzehnten zu den einflussreichsten Kulturkritikern der Welt. 1967
war er einer der Organisatoren des sogenannten Marsches auf das Pentagon, bei dem bis
zu 100 000 Menschen gegen den Vietnamkrieg protestierten. Der Ökonom setzte sich
in zahlreichen international erfolgreichen
Büchern immer wieder kritisch mit den Folgen
des technologischen Fortschritts für Wirtschaft und Gesellschaft auseinander. Rifkin
warnte unter anderem vor der Verharmlosung
der Gentechnik und plädiert für eine neue
Energiepolitik. Seit 20 Jahren lehrt er an der
Wharton School of Business der University of
Pennsylvania.
Zeitalter des Kapitalismus gehe zu Ende.
Wie kommen Sie darauf?
Rifkin: Wir leben in besonderen Zeiten,
denn wir können ein seltenes historisches
Ereignis verfolgen: die Entstehung einer
neuen Wirtschaftsordnung. Das hat es seit
dem frühen 19. Jahrhundert nicht mehr
gegeben, als der Kapitalismus auf der
Weltbühne erschien. Nun aber wird dieses
System selbst in seinen Grundfesten erschüttert, und der Grund sind der enorme
technologische Wandel und seine Folgen.
SPIEGEL: Ihre These ist gewagt. Der Kapitalismus scheint als Wirtschaftsform dominanter denn je und breitet sich eher
noch in andere Regionen der Welt aus, als
zu schwächeln.
Rifkin: Er löst sich ja auch nicht ganz auf,
zumindest noch nicht. Wir sehen aber bereits jetzt die Entstehung einer hybriden
Wirtschaft: zum einen ein kapitalistischer
Markt, zum anderen ein neues System des
Gemeinguts. Ich nenne dieses neue Paradigma die kollaborativen Commons.
SPIEGEL: Das ist auch die zentrale Aussage
Ihres neuen Buchs*. Was verstehen Sie
darunter?
Rifkin: Eine neue wirtschaftliche Organisationsform, die sich weg vom reinen Diktat
des Eigentums bewegt und Teilen über Besitzen stellt. Während der vom materiellen
Gewinn getriebene kapitalistische Markt
auf Eigennutz basiert, charakterisiert die
neue, auf wirtschaftlicher Kollaboration
beruhende Welt das Interesse an der Zusammenarbeit. Der Kapitalismus bleibt
präsent, aber erheblich beschnitten. Bis
2050 werden Kollektive nach und nach Un* Jeremy Rifkin: „Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft“.
Campus-Verlag, Frankfurt am Main; 528 Seiten; 27 Euro.
Das Gespräch führte der Redakteur Thomas Schulz.
62
DER SPIEGEL 32 / 2014
FOTO: MATHIAS MARX / IMAGETRUST
SPIEGEL: Herr Rifkin, Sie behaupten, das
ternehmen und Privatwirtschaft verdrängen. Wir sind schon auf dem Weg dahin.
SPIEGEL: Das klingt nach einer Alternative
zu Sozialismus und Kapitalismus, einem
dritten Weg, der oft beschworen, aber nie
beschritten wurde.
Rifkin: Das Kollektiv als Wirtschaftsform
ist nicht neu: Mehr als 1,5 Milliarden Menschen weltweit nutzen Gemeinschaftsbanken, Wohngesellschaften und kommunale
Wasser- und Energieverbünde. Aber durch
die Digitalisierung entstehen nun rasant
immer neue Formen. Etwa das Teilen von
Wohnungen über die Onlineplattform
Airbnb, die gemeinsame Nutzung von Autos. Massen-Onlinekurse von Universitäten verändern die Bildung. Wir sehen also
überall diese extremen Verschiebungen,
die offenbar etwas anderes sind als der traditionelle, vertikale, kapitalistische Shareholder-Markt. Und das ist zunächst einmal
eine gute Entwicklung.
SPIEGEL: Wieso?
Rifkin: Weil vieles dramatisch billiger wird.
Globale Kommunikation kostet heute
doch fast nichts mehr im Vergleich zu vor
20 Jahren. Das wird sich in anderen Industrien wiederholen. Und wenn insgesamt die Transaktions- und Logistikkosten
fallen, können auch kleine Gemeinschaftsunternehmen global bedeutend sein. Das
bietet ganz neue Möglichkeiten für die
Menschheit, sich wirtschaftlich und sozial
zu organisieren. Eine Share-Economy, in
der statt Massenproduktion die Massen
produzieren, wie Gandhi sagte, wird damit
wirklich möglich.
SPIEGEL: Das klingt jetzt mehr nach romantischer Sozialfantasie als nach handfester
Wirtschaftstheorie.
Rifkin: Das sehe ich nicht so. Diese Entwicklung ist doch schon seit Jahren zu erkennen und hat bereits die Kultur- und
Medienindustrie auf den Kopf gestellt. Millionen Menschen teilen Musik, Videos,
Nachrichten und Wissen – und das beinahe
kostenlos. Entsprechend verschwinden die
Geschäftsmodelle von Musikindustrie, Medien und Buchverlagen.
SPIEGEL: Das Phänomen ist bekannt, daraus
lässt sich aber schwerlich auf den Untergang des Kapitalismus schließen.
Rifkin: Es ist der Anfang einer Revolution,
die alle Grenzkosten verschwinden lässt
und die sich nun nach und nach auf andere
Wirtschaftsbereiche überträgt. Wir sind
auf dem Weg in eine Art Kostenlos-Gesellschaft.
SPIEGEL Das müssen Sie erklären.
Rifkin: Jedes Unternehmen will seine
Grenzkosten verringern …
SPIEGEL: … Kosten, die für jedes zusätzlich
hergestellte Produkt anfallen.
Rifkin: Also wird schon immer versucht,
die Produktivität zu erhöhen, mehr Marktanteile zu gewinnen und den größtmöglichen Profit zu erzielen. Niemand sah
aber eine technologische Revolution kommen, die es möglich macht, tatsächlich so
produktiv zu sein, dass die Grenzkosten
bei fast null liegen: In der digitalen Welt
sind Güter und Dienstleistungen tendenziell kostenlos. Damit verschwinden auch
die Profite, und die Marktwirtschaft wird
nutzlos.
SPIEGEL: Das würde im extremen Fall aber
eher das Ende des allgemeinen Wohlstands
bedeuten als den Aufstieg der von Ihnen
erhofften Gemeinschaftswirtschaft.
Rifkin: Die Gefahr besteht. Aber wahrscheinlicher ist, dass Industrien und Unternehmen sich dieser neuen Welt anpassen werden. Nehmen wir beispielsweise
die Energiekonzerne. Sie werden künftig
nicht mehr selbst als Versorger auftreten,
sondern eher Partnerschaften mit Tausenden kleinen kollektiven Energieunternehmen eingehen und das Energie-Internet
managen.
SPIEGEL: Das Phänomen der niedrigen
Grenzkosten beschränkt sich bislang auf
wenige von der digitalen Revolution er-
und die Grenzkosten für die Produktion
und den Vertrieb physischer Güter genauso nach unten treiben, wie es jetzt schon
bei digitalen Gütern passiert ist.
SPIEGEL: Führt das nicht eher zu einem
technologisch getriebenen Wirtschaftsboom als zu einem Systemwandel?
Rifkin: Ökonomische Paradigmenwechsel
treten höchst selten auf. Aber wenn sie
kommen, dann haben sie ihre Grundlage
zumeist in einer neuen Technologie. Das
war zuletzt bei der ersten industriellen Revolution der Fall, jetzt ist es wieder so
weit.
SPIEGEL: Sie setzen die Digitalisierung mit
der Erfindung der Dampfmaschine und
der Mechanisierung der Welt gleich?
Rifkin: Damals folgten auf Dampf und Elektrizität Telefon und Radio, billiges Öl, Eisenbahnen und Motoren. Nun kommen
wieder die drei Komponenten zusammen:
neue Formen der Kommunikation, um die
Wirtschaft zu managen; neue Formen der
Energie, um sie anzutreiben; und neue
Transport- und Logistikmechanismen.
„Das Internet ist dabei, sich in ein Super-Internet
der Dinge zu verwandeln.“
fasste Industrien. Es macht keinen Unterschied, tausend oder eine Million Musikalben zu vertreiben. Aber wie kommen
Sie auf die Idee, dass sich diese Entwicklung schnell auf andere Industrien übertragen lässt?
Rifkin: Dank einer neuen Technologieplattform, die gerade im Begriff ist, die Welt
zu erobern. Das Internet ist dabei, sich in
ein Super-Internet der Dinge zu verwandeln, in dem das Kommunikationsnetz mit
Energie- und automatisierten Logistiknetzen zu einem großen System verbunden
wird. Das wird eine dritte industrielle Revolution auslösen.
SPIEGEL: Diese Welt der vernetzten Geräte
und Maschinen steckt zurzeit noch in den
Kinderschuhen.
Rifkin: Viele der führenden Industriekonzerne wie Siemens, General Electric und
IBM arbeiten mit Hochdruck daran, die
Infrastruktur für solch ein globales neuronales Netzwerk zu errichten. Derzeit gibt
es rund elf Milliarden Sensoren, die Geräte
mit dem Internet der Dinge verbinden. Bis
2030 aber, so sagen Studien voraus, werden hundert Billionen Sensoren etwa mit
Produktionsstätten, Lagerhäusern, Transportnetzwerken und dem Stromnetz verbunden sein. Zwischen Autos, Büros, Fabriken und Wohnungen werden riesige Datenmengen fließen.
SPIEGEL: Das klingt erst mal nach einem
guten Geschäft für viele Industrie- und Internetkonzerne.
Rifkin: Aber diese Datenströme kann jeder
analysieren und verwerten. Das wird Effizienz und Produktivität erheblich erhöhen
SPIEGEL: Aber was hat das mit der von Ih-
nen beschworenen gemeinschaftlich organisierten Wirtschaft zu tun?
Rifkin: Die Architektur der Internetrevolution ist nicht für Zentralisierung und
vertikal integrierte Konzerne geeignet. Sie
bevorzugt breite Verteilung, Kollaboration, Teilen.
SPIEGEL: Die Internetwirtschaft wird beherrscht von großen, kapitalistisch organisierten Multis wie Google, Apple oder
Amazon. Kann es nicht sein, dass die dritte
industrielle Revolution weitgehend genauso aussieht wie die zweite?
Rifkin: Nein, die Natur der digitalen Welt ist
ein offenes, transparentes System. Wachstum findet in der Breite statt: indem Musik
oder Videos oder erneuerbare Energie geteilt und weitergegeben werden. Mit 3-DDruckern können wir künftig viele Produkte selbst herstellen, wie wir sie brauchen,
einfach nur auf Grundlage einer digitalen
Blaupause. Und hier passt auch der Erfolg
von Uber, der elektronischen Plattform für
Taxi- und Chauffeurdienste, genau ins Bild.
SPIEGEL: Wieso denn das?
Rifkin: Uber nutzt schon fast alle Aspekte
des neuen Super-Internets: die Kommunikation über das Smartphone, die Lokalisierung über GPS und das entstehende
Logistiknetzwerk. Und sie sprechen ja
schon über selbstfahrende Roboterautos.
Mit solchen Modellen könnten wir auch
dafür sorgen, dass in Zukunft zahllose
Privatautos von den Straßen verschwinden,
die Verkehrsprobleme geringer werden.
SPIEGEL: Uber ist allerdings ziemlich sicher
eher an größeren Gewinnen als an einer
DER SPIEGEL 32 / 2014
63
Wirtschaft
Taxilobby drängt auf ein Verbot von Uber,
und der Autoverleiher Avis hat die CarSharing-Plattform Zipcar einfach aufgekauft.
Rifkin: Ich glaube aber nicht, dass die neuen
Modelle ganz zerstört werden können.
Denn was wäre die Alternative? Eher werden sich all die Menschen, die auf die Gemeinschaftsmodelle setzen, und wir alle,
deren eigene Daten für Profitmodelle verwendet werden, zunehmend politisieren.
Wir brauchen vielleicht eine neue Gewerkschaftsbewegung wie im 19. und 20. Jahrhundert nun auch für das digitale Zeitalter.
SPIEGEL: Sie meinen eine Art globale Internetgewerkschaft in Sachen Datennutzung oder Netzneutralität?
Rifkin: Ja. Schon jetzt ist bald die Hälfte
der Menschheit dabei, irgendwie digitale
Güter zu produzieren, zu teilen, Daten
bereitzustellen. Und sie haben keine Interessenvertretung. Wir werden wohl bald
schon Genossenschaften oder andere Arrangements von den Menschen sehen, die
sicherstellen wollen, dass ihre Arbeit und
ihre Daten nicht allein von Dritten zu Geld
gemacht werden.
SPIEGEL: Das ist zurzeit noch reines
Wunschdenken.
Rifkin: Es ist aber im Gegenzug naiv anzunehmen, dass es nicht so kommen wird!
Hunderte Millionen, ja Milliarden Menschen, die auf Dauer dabei zusehen, wie
ihre Daten und ihre Arbeit von anderen
zu Geld gemacht werden? Ich glaube, das
kann nicht gut gehen.
SPIEGEL: Herr Rifkin, wir danken Ihnen für
dieses Gespräch.
Produktionshalle von Volkswagen in Wolfsburg: „Kollektive werden Unternehmen verdrängen“
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DER SPIEGEL 32 / 2014
Ende des
Entzugs
Tourismus Ausgerechnet Griechenland wird zum Überflieger
der Feriensaison. Das Urlaubsland profitiert davon, dass es sich
vor Jahren neu erfunden hat.
W
er dem ungewöhnlichsten Phänomen der aktuellen Reisesaison
auf den Grund gehen will, muss
früh aufstehen – und viel Zeit investieren.
Mit dem Flugzeug geht es zunächst nach
Wien, dann weiter nach Santorin in Griechenland, vorausgesetzt, man findet in den
knallvollen Jets überhaupt noch einen
Platz. Von dort aus startet eine Fähre, die
nach gut drei Stunden die Kykladeninsel
Paros in der südlichen Ägäis erreicht. Auch
sie ist in der Regel gut gebucht.
Bis zu der Hafenstadt Naoussa dauert
es noch eine Weile, allerdings nur, wenn
man überhaupt noch einen Mietwagen bekommt. Trotzdem lohnt sich der Besuch.
Denn dort sitzt ein Mann, der am besten
erklären kann, warum es derzeit ein bisschen schwierig ist, ihn zu erreichen: der
Chef und Eigentümer des Münchner Hellas-Spezialveranstalters Attika-Reisen, Michael Karavás, 75.
Der vornehme Herr mit dem weißen
Hemd und den eleganten Shorts bringt seit
fast 40 Jahren deutsche Urlauber in seine
Heimat. Dort gilt er als Pionier des griechischen Tourismus – mit besten Beziehungen zu Hoteliers und Behörden.
So etwas wie in diesem Jahr hat allerdings auch er noch nicht erlebt. Der Archipel wird von Touristen aus aller Welt
und speziell aus Deutschland geradezu
überrannt. „Griechenland boomt“, freut
sich Karavás, „es könnte gut sein, dass 2014
erneut zu einem Rekordjahr wird.“
Ausgerechnet Griechenland. Noch vor
wenigen Jahren, auf dem Höhepunkt der
Finanz- und Schuldenkrise, galt das Verhältnis zwischen den Einwohnern beider
Länder als zerrüttet. Bilder von Massendemonstrationen, Straßenschlachten und
brennenden Flaggen als Reaktion auf die
von der Troika und auch der Bundesregierung verhängten Sparmaßnahmen
schockierten die deutsche Öffentlichkeit.
Zeitweise gab das Auswärtige Amt sogar
Reisewarnungen heraus.
Boulevardblätter wie die Bild-Zeitung
heizten die Stimmung zusätzlich an, indem
sie die Südlichter als „Pleite-Griechen“
schmähten und sie aufforderten, doch einige ihrer Eilande zu verkaufen. „Da wurde
FOTO: CHRISTIAN BURKERT / LAIF
sozialeren, kollektiven Wirtschaft interessiert. Es ist doch naiv anzunehmen, dass
all die neuen kalifornischen Internetunternehmen nicht zuallererst dazu da sind, ihre
Gründer reich zu machen.
Rifkin: Das stimmt natürlich. Google, Facebook und Twitter haben eine Menge Geld
verdient, indem sie eine kollaborative Gemeinschaft etabliert haben, mit der wir mit
geringsten Kosten Informationsgüter teilen
können. Allerdings ist das nicht ohne Ironie. Denn dabei nehmen sie zunehmend
die Form globaler Kommunikationsversorger an. Und entsprechend gibt es eine Diskussion, ob sie Monopole sind und staatlich reguliert werden müssen.
SPIEGEL: Aber was passiert denn, wenn diese neuen kollaborativen Gemeinschaften
dauerhaft als kommerzielle Unternehmen
betrieben werden? Führt das nicht im
Zweifelsfall zu einem noch extremeren Kapitalismus mit einer neuen Tech-Elite an
der Spitze, die sich auf Kosten aller anderen bereichert?
Rifkin: Das kann durchaus passieren. Die
Grenze zwischen profitorientierten und
gemeinnützigen Unternehmen wird immer
fließender werden. Am Ende wird aber
eine nach der anderen der traditionellen
Industrien in die Knie gehen. Der physische Handel fällt jetzt schon dem Onlinehandel zum Opfer, und so wird es weitergehen.
SPIEGEL: Allerdings nicht ohne heftige
Rückzugsgefechte. Wahrscheinlicher ist
doch, dass jede Industrie versuchen wird,
die neuen Geschäftsmodelle zu zerschlagen oder sie sich selbst einzuverleiben. Die
FOTO: CARSTEN KOALL / DER SPIEGEL
unreflektiert gehetzt und vieles geschrieben, was einfach Unsinn ist“, erinnert sich
Michael Karavás.
Der Völkerverständigung tat das nicht
gut, die Gästezahlen brachen drastisch ein.
Erholungsuchende wichen auf andere Länder wie Spanien oder die Türkei aus, die
für das gleiche Geld oft mehr boten.
Die jüngste Vergangenheit aber scheint
vergessen – oder zumindest verdrängt zu
sein. Unter anderem wohl, weil Griechenland seit nunmehr zwei Jahren eine stabile
Regierung hat und von Streiks und Protesten nichts mehr zu hören ist.
Schon im vergangenen Jahr wagte sich
erstmals eine wachsende Zahl eingefleischter Fans nach längerem Entzug in ihr Lieblingsurlaubsland zurück. Die Besucher,
häufig Besserverdiener jenseits der 50,
schätzen die Mischung aus Geschichte, Kultur und farbenfroher Natur, das Ganze umgeben von tiefblauem Wasser.
„Griechenland bietet einfach ein ganz
spezielles Lebensgefühl“, schwärmt Attika-Chef Karavás, „schon allein dafür lohnt
es sich zu kommen.“
Das scheint sich herumgesprochen zu
haben. Im Sommer 2014 kennt der Hellas-Hype keine Grenzen. Von den Kykladen über Kreta bis nach Rhodos ist
kaum noch ein freies Bett zu bekommen.
Selbst in Athen, als Urlaubsdestination
bislang eher gemieden, sind die Hotels
zum ersten Mal seit den Olympischen
Spielen vor zehn Jahren nahezu komplett
ausgebucht.
Doch nicht nur die politischen Umstände haben sich zum Positiven entwickelt.
Auch die Griechen selbst sowie ihre Hoteliers und Restaurantbesitzer haben in den
vergangenen Jahren viel unternommen,
um ihre Destination aufzuwerten.
Vor noch nicht allzu langer Zeit spotteten Branchenkenner, bei den Hellenen
würden in Sachen Servicequalität zuweilen Zustände wie im Paläolithikum herrschen. Weiße Plastikstühle und -tische mit
klebrigen Decken gehörten zur Standardausstattung wie auch lauwarmes Essen und
minderwertiger Wein. Mancherorts galt die
Anwesenheit von Eseltreibern oder Bimssteinverkäufern am Straßenrand schon als
ausreichendes Unterhaltungsangebot für
die Gäste. Dass diese zuweilen in Bleiben
absteigen mussten, die ihre beste Zeit in
den späten Sechzigerjahren hatten, störte,
wenn überhaupt, nur die Kunden.
Bis vor einer Dekade ließen Einheimische gedankenlos leere Kaffeebecher
und ausgedrückte Kippen am Strand zurück. Die Hellenen schmauchten schon
damals kräftig und gelten auch heute
noch als Stammkunden der Zigarettenindustrie.
Doch schon vor Ausbruch der Krise im
Jahr 2010 ging ein Ruck durch die griechische Tourismusbranche. Die Regierung
Reiseveranstalter Karavás
„Da wurde unreflektiert gehetzt“
hatte bereits 2004 erstmals einen Minister
für den wirtschaftlich so wichtigen Dienstleistungszweig ernannt. Die Zahl der Vierund Fünfsternehotels wurde erhöht und
soll auf bis zu 60 Prozent steigen. Viele
Gastgeber gingen Kooperationen mit großen Veranstaltern wie TUI oder Thomas
Cook ein, statteten ihre Häuser nach deren
Vorschlägen aus und profitieren nun davon, dass die Marktführer ihre Angebote
vertreiben.
Boom im Krisenland
Hotelzimmerpreise* in Euro
Griechenland gesamt:
2013
119 Durchschnitt
2014
135
100 km
G R I EC H E N L A N D
81
95
Athen
Peloponnes
86
85
200
322
Mykonos
Santorin
335
492
(Imerovigli)
* jeweils im Juli für ein
Kreta
Standarddoppelzimmer
Quellen: Trivago, Sete
Rhodos
(Faliraki)
101
113
83
103
19
17,9
Touristen in Mio.
15,9
geschätzt
Einnahmen in Mio. Euro
11,6
10,4
9,6
10,5
10,0
2008
2009
2010
2011
2012
11,7
13
2013
2014
Gleichzeitig nahmen die griechischen
Ferienmacher neue Zielgruppen ins Visier,
Golfsportler etwa, Wellnessanhänger oder
Gourmetreisende. Speziell für sie wurden
Pakete mit Kosmetikangeboten, Wein- oder
Olivenölverkostungen geschnürt, die es früher so nicht gab.
Damit die zahlungskräftige Klientel sich
künftig noch besser fühlt, sollen im ganzen
Land knapp zwei Dutzend neue Wohlfühltempel entstehen, mit Golfplätzen, Wellnessoasen und exklusiven Restaurants. Das
aber kostet Geld, weshalb die teuren Anlagen künftig schon im März öffnen und
erst Ende Oktober schließen sollen. Das
war früher nicht üblich, ist vom Wetter her
in Griechenland aber kein Problem. Schon
im Frühjahr und bis in den Herbst herrschen dort meist angenehme 20 Grad.
Auch die Inhaber kleinerer Hotels haben
sich in den vergangenen Jahren mächtig ins
Zeug gelegt und profitieren nun von dem
aktuellen Boom. Wie beispielsweise die Mitbesitzerin des kleinen Margarita’s House in
Naoussa, Eleni Perperoglou, 45. Sie hat 20
Jahre lang in Deutschland gelebt und auch
in Spitzengastronomie und Fünfsternehotellerie gearbeitet. Sie weiß genau, was ihre
Klientel schätzt: eine gepflegte, saubere Einrichtung und Ausstattung, Klimaanlage plus
ein üppiges Frühstück, das, anders als in
Griechenland oft üblich, nicht nur aus Instantkaffee und trockenem Gebäck besteht.
Genau das bietet sie ihren überwiegend
deutschen Gästen – zu vergleichsweise zivilen Preisen. „Mancherorts will man die
Urlauber nur abzocken“, kritisiert sie, „das
kann auf Dauer nicht gut gehen.“
Einige ihrer Kollegen sehen das offenbar
anders und fallen in eine alte Unart zurück, im Landesjargon „Arpachti“ genannt, zu Deutsch: sich die Beute greifen.
Auf der Partyinsel Mykonos etwa, wo auch
Fußball-Nationaltorhüter Manuel Neuer
nach der WM Urlaub machte, schnellten
die Hotelpreise innerhalb von nur einem
Jahr um gut 100 Euro auf deutlich über
300 Euro pro Nacht nach oben, in der Spitze werden sogar 500 Euro und mehr verlangt. Besonders dreiste Anbieter fordern
auf der Touristeninsel Santorin für eine
schlichte Bleibe zurzeit bis zu 900 Euro –
für eine Nacht.
Machen die schwarzen Schafe in dem
Stil weiter, dürfte es mit dem Run auf die
Betten schnell wieder vorbei sein – zum
Nachteil der griechischen Wirtschaft. Immerhin steuert der Tourismus knapp ein
Fünftel zum Sozialprodukt bei.
Freuen könnten sich dann nur die Griechen selbst. In einer aktuellen Umfrage
gaben drei Viertel von ihnen an, dieses
Jahr überhaupt keinen Urlaub zu planen,
nicht einmal im eigenen Land. Der Grund:
Die Preise sind für die Bewohner des neuen Trendziels schlicht viel zu hoch.
Dinah Deckstein, Martin U. Müller
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Islam ohne
Politik
USA
„Gefährlich und
dumm“
Mark Meckler, 52, Mitgründer
der „Tea Party Patriots“ und
Präsident der Organisation
„Citizens for Self-Governance“,
über die Pläne der Republikaner, Präsident Barack
Obama zu verklagen
den großen Parteien getragen
– mit breiter Unterstützung
der Öffentlichkeit. Doch diese Reform wurde den Bürgern aufgezwungen. Trotzdem ist die Klage reine Show,
sie ist gefährlich und dumm.
SPIEGEL: Warum gefährlich?
Meckler: Kein Gericht würde
eine solche Klage annehmen,
denn sie müsste von Abgeordnetenhaus und Senat kommen.
Obama wird die Zurückweisung als Sieg feiern – und noch
gesetzloser handeln als bisher.
SPIEGEL: Kann es sein, dass
die Republikaner jetzt durchdrehen? Ihr Widerstand gegen die Gesundheitsreform
wirkt rachsüchtig und hilflos.
SPIEGEL: Die Republikaner
im Abgeordnetenhaus wollen
den Präsidenten wegen seiner Gesundheitsreform verklagen. Was steckt dahinter?
Meckler: Obama ist der
schamloseste Gesetzesbrecher
unserer Geschichte. Er hat
das Gesetz nach dessen Verabschiedung mehr als 20-mal
verändert. Bislang wurden
alle Sozialreformen von bei66
DER SPIEGEL 32 / 2014
Obama
Meckler: Diese Klage ist reine
Symbolpolitik. Wenn die
Republikaner Obama ernsthaft stoppen wollten, würden
sie ihm die Finanzierung
entziehen, statt sinnlose Klagen anzustrengen.
SPIEGEL: Manche glauben, die
Republikaner hätten ein
Amtsenthebungsverfahren
gegen den Präsidenten im
Sinn. Wäre das klug?
Meckler: Auf keinen Fall! Im
Senat, der über eine Amtsenthebung befinden müsste,
haben die Demokraten die
Mehrheit. Ein Impeachment
würde nur Zeit und Energie
verschwenden. Obama soll
fertig regieren, danach ist es
Zeit für einen Neuanfang.
Dann müssen Präsident und
Regierung endlich den Willen
des Volkes ernst nehmen. mfk
FOTOS: FADEL SENNA / AFP (O.); GETTY IMAGES (U.)
Zu seinem 15. Thronjubiläum
hat Mohamed VI. vergangenen
Donnerstag Repräsentanten
aus ganz Marokko in Rabat empfangen. Zuvor hatte er als erster
Herrscher eines muslimischen
Landes per Dekret die Trennung
von Religion und Politik verordnet. Der König, zugleich Oberhaupt der Gläubigen, verbot den
Imamen der über 45 000 Moscheen politische oder gewerkschaftliche Betätigung sowie
jegliche Parteinahme in ihren
Predigten. So will er den toleranten Islam stärken. hzu
Ausland
Argentinien
Rettung aus China
Die Finanzkrise in Argentinien könnte Chinas Einfluss
in der Region stärken. Denn
die Chinesen wollen Buenos
Aires umgerechnet 5,6 Milliarden Euro leihen; das Geld
soll in den Ausbau des Eisenbahnnetzes und in Energieprojekte investiert werden.
Zudem will China das Land
mit einem Devisenaustausch
im Wert von 8,5 Milliarden
Euro unterstützen. „Damit
werden die Folgen des von
den Hedgefonds erzwungenen Zahlungsausfalls kurzund mittelfristig abgemil-
Südkorea
Kultur der
Vertuschung
Tragische Unfälle können
überall vorkommen, doch in
Südkorea passieren sie derzeit auffallend oft: Innerhalb
von vier Monaten versank
die Fähre „Sewol“ mit über
300 Passagieren im Meer, in
Seoul kollidierten zwei Züge
der U-Bahn, und in der Touristenregion Taebaek stießen
zwei Eisenbahnzüge zusammen. Was Südkorea von vielen Industrieländern unter-
dert“, sagt der Wirtschaftsexperte Jorge Gaggero von
der Universität in Buenos
Aires. Die juristische Auseinandersetzung mit den USHedgefonds hatte vergangene
Woche einen Zahlungsausfall
Kirchner
scheidet, ist die Unfähigkeit,
Konsequenzen aus diesen Unglücken zu ziehen. Über drei
Monate brauchte die Polizei,
bis sie den Patriarchen der
„Sewol“-Eignerfamilie fand –
da war er bereits tot. Zwar
hatten Fahnder die verweste
Leiche Wochen zuvor entdeckt, doch hielten sie diese
angeblich für einen Obdachlosen. Die Pannen und Gerüchte lassen viele Südkoreaner an eine Verschwörung
glauben. So behauptete ein
Oppositionspolitiker, die Leiche sei neun Zentimeter klei-
bewirkt. Ökonomen und Ratingagenturen streiten, ob
es sich um einen Staatsbankrott handelt. Gaggero sagt:
„Argentinien hat bislang alle
Schulden wie vereinbart beglichen.“ Der Zahlungsausfall
sei auf die „erratische Entscheidung eines einzigen
Richters“ zurückzuführen.
Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner profitiere
mit Chinas Hilfe möglicherweise sogar von der Krise:
„Wenn die Regierung die Folgen der Finanzkrise mit
Sozialprogrammen und Wirtschaftshilfen kompensiert,
könnte sie vor den Wahlen im
nächsten Jahr punkten.“ jgl
ner als der Fährbesitzer. Ein
Laptop, der im Wrack gefunden wurde, soll zudem Hinweise enthalten, dass der Geheimdienst in den Kauf und
die fragwürdige Betriebsgenehmigung der Fähre verwickelt sein könnte. Gegen
solche Spekulationen hilft
nur Aufklärung, doch die ist
kaum zu erwarten. In der hierarchischen, konfuzianisch geprägten Kultur Südkoreas ist
Respekt gegenüber Amt und
Alter vorrangig. Es ist eine
Kultur, die den Nährboden
für Katastrophen bereitet. ww
Fußnote
FOTOS: DAVID FERNANDEZ / DPA (O.); CHUNG SUNG-JUN / GETTY IMAGES (U.)
8196400
Wohnungen stehen in Japan leer. Das sind 13,5 Prozent – und 628 500 mehr
als vor fünf Jahren, teilte
die Regierung mit. Ein
Grund für den Leerstand:
Die Bevölkerung schrumpft.
2040 wird rund jeder
Dritte über 65 Jahre alt
sein; die Einwohnerzahl
soll bis dahin um 20 Millionen sinken. Behörden
fürchten Geisterhäuser
als Gefahrenherde. Der
Tokioter Bezirk Ota erließ
2013 eine Verordnung,
nach der verfallene Häuser ohne Zustimmung
der Eigentümer abgerissen werden dürfen. ww
Mahnwache für die Opfer der „Sewol“ in Ansan
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67
Titel
Kapak
Diese Titelgeschichte erscheint auch auf Türkisch – wie schon jene
zu den Protesten in Istanbul vor einem Jahr. Nicht etwa, weil es
den fast drei Millionen Deutschtürken an Sprachkenntnissen fehlen
würde. Es geht – anlässlich der Wahl – um eine Geste an die größte
Einwanderergruppe in Deutschland und an die Leser in der Türkei.
Kapak yazımız, Türkçe yayınlanıyor, aynen bir yıl önce İstanbul'daki direniş hakkındaki yazılar gibi. Almanya'daki Türkiye kökenli yaklaşık üç
milyon insanın Almancasının yetersiz olduğunu düşündüğümüz için
değil. Cumhurbaşkanlığı seçimi vesilesiyle ülkemizdeki en büyük
göçmen grubuna ve Türkiye'deki okurlarımıza yönelik bir jest olarak.
Der neue Sultan
Yeni Padişah
S
68
DER SPIEGEL 32 / 2014
K
eskin nişancılar çatılarda bekliyor, büyük bir kitlenin, ay
yıldızlı kırmızı bayraklar salladığı meydanın üzerinde helikopterler daireler çiziyor. Yozgat'a, Anadolu'nun merkezindeki bu küçük şehre İstanbul'dan, Ankara'dan, Karadeniz'den, binlerce insan akın etmiş. Cayır cayır yakıcı sıcakta saatlerce beklemişler, onu karşılamak için. Hep bir ağızdan adını
söylüyorlar, hoparlörlerden, karşıladıkları insanın seçim kampanyasının marşı çalıyor gümbür gümbür: “Halkın adamı Recep
Tayyip Erdoğan”.
Başbakan sahneye adım atıyor ve başörtülü kadınlar ağlamaya
başlıyor, sakallı erkekler dizlerinin üzerine çöküyor. Erdoğan
kollarını kaldırıp haykırıyor: “Hepimiz kardeş miyiz? Hepimiz
birlikte Türkiye miyiz?” Kitle cevap veriyor: “Tayyip, senin için
ölmeye hazırız!” Türkiye'de seçim mücadelesi sürüyor, ama bu
ifade, burada olanları anlatmaya yetmiyor. İşte bu yüzden Erdoğan kampanyasına “İstiklal Savaşı” adını takmış. Ordularsa
onu cumhurbaşkanı yapacak olan seçmenleri.
“İstiklal Savaşı”; Mustafa Kemal Atatürk 95 yıl önce Batılı
müttefik güçlere karşı yürüttüğü ve Türkiye Cumhuriyeti'nin kurulmasıyla sonuçlanan mücadelesine bu adı vermişti. Şimdi Erdoğan seçim mücadelesinde bu savaşın tohumlarının atıldığı yerleri dolaşıyor. Ve modern bir Atatürk
gibi kükrüyor mikrofona: “Dış güçlerin Türkiye'ye zarar
vermesine izin vermeyeceğiz!” Bu cümlenin bir ok gibi yöneldiği
hedef, Gezi Parkı'nı işgal eden üniversiteliler, muhalif laikler ve
Avrupa.
Erdoğan onbir yıldır iktidar koltuğunda oturuyor ve üç seçim
döneminden sonra bir kez daha başbakanlığa aday olamayacağı
için, 10 Ağustosta cumhurbaşkanı seçtirmek istiyor kendisini. Aslında ona kalsa, hayatı boyunca hükmetmeyi yeğleyecek; ama
hiç değilse cumhuriyetin kuruluşunun yüzüncü yılına, yani 2023
yılına kadar kalmak istiyor. Nitekim, sıkça sözünü ettiği 2023 tarihi, seçim afişlerine de koskocaman yazılmış.
Türkiye, onun iktidarı döneminde müthiş bir değişim geçirdi;
bir kriz ülkesiyken bölgesel bir güce dönüştü. Erdoğan da değişim
geçirdi; köktendinci bir siyasetçi iken, demokratik reformlar yapan, elitlerin gücünü kıran, ekonomik atılımı körükleyen ve ülkesinin inançlı muhafazakar çoğunluğunu yoksulluktan ve siyasal
suskunluktan kurtaran bir insan haline geldi. Kazandığı her seçim
zaferinden sonra bir kat daha otoriterleşti. Protesto gösterilerini
şiddetle bastırttı, iktidarını eleştirenleri tutuklattı ve islami ahlak
tasavvurlarını adım adım yerleştirdi. Reformcuyken hüküm-
L
L
charfschützen wachen auf den Dächern, und Hubschrauber
kreisen über dem Platz, auf dem die Menge rote Fahnen
mit Halbmond schwenkt. Tausende sind gekommen, aus
Istanbul, aus Ankara und vom Schwarzen Meer, hierher, in die
Kleinstadt Yozgat in Zentralanatolien. Sie haben stundenlang in
der Hitze gewartet, um ihn zu feiern. Sie skandieren seinen
Namen, aus den Lautsprechern dröhnt die Hymne seines Wahlkampfes: „Mann des Volkes, Recep Tayyip Erdoğan.“
Als der türkische Premier auf die Bühne tritt, brechen Frauen
mit Kopftuch in Tränen aus, bärtige Männer fallen auf die Knie.
Erdoğan hebt die Hände und brüllt: „Sind wir Geschwister? Sind
wir Türken?“ Die Masse antwortet: „Tayyip, wir gehen bis in
den Tod für dich!“ Es ist Wahlkampf in der Türkei, aber das
drückt nicht aus, was hier passiert, und deshalb hat Erdoğan
seine Kampagne als Befreiungskrieg beschrieben. Seine Wähler
sind seine Truppen, die ihn nun zum Präsidenten machen sollen. „Befreiungskrieg“, so nannte Mustafa Kemal, genannt Atatürk,
vor 95 Jahren den Feldzug gegen die westlichen Alliierten, der
zur Gründung der türkischen Republik führte. Erdoğan
reist jetzt in seinem Wahlkampf die Orte ab, von denen
dieser Krieg ausging. Und wie ein moderner Atatürk brüllt
er ins Mikrofon: „Wir werden nicht zulassen, dass fremde
Kräfte der Türkei schaden!“ Er meint die Studenten, die
den Gezi-Park besetzten, die säkulare Opposition, Europa.
Seit elf Jahren regiert Erdoğan, 60, und da er nach drei Amtszeiten nicht mehr als Premier antreten darf, will er sich am
10. August zum Präsidenten küren lassen. Am liebsten aber will
er Herrscher auf Lebenszeit werden; zumindest bis zum Jahr
2023, wenn sich die Staatsgründung zum 100. Mal jährt. Er spricht
oft von 2023, auch auf den Wahlkampfplakaten prangt die Zahl. Die Türkei hat während seiner Amtszeit einen enormen Wandel durchgemacht, vom Krisenland zur Regionalmacht. Auch Erdoğan hat sich gewandelt, vom religiösen Fundamentalisten zum
demokratischen Reformer, der die Eliten entmachtete, einen
Wirtschaftsboom entfachte und die konservativ-fromme Mehrheit
des Landes aus der Armut und politischen Sprachlosigkeit befreite.
Mit jedem Wahlsieg jedoch wurde er autoritärer. Er ließ Proteste niederschlagen und Kritiker verhaften, setzte nach und
nach islamische Moralvorstellungen durch. Der Reformer wurde
zum Patriarchen, aus dem Hoffnungsträger wurde ein Risiko.
Als Erdoğan sich in Yozgat von seinen Fans verabschiedet,
Türkiye Başbakan Erdoğan demokratik
reformlarla çıktı yola, ancak eski dönemin
seçkinleriyle ve Gezi Parkı direnişçileriyle
mücadelesinde hükümdara dönüştü. Şimdi
kendisini cumhurbaşkanı seçtirmek
niyetinde. Despot mu olacak bu sefer de?
FOTO: UMIT BEKTAS / REUTERS
Türkei Premier Erdoğan begann als
demokratischer Reformer, doch im
Kampf gegen die alten Eliten und die GeziDemonstranten entwickelte er sich zum
Patriarchen. Jetzt will er sich zum Präsidenten
wählen lassen. Wird er damit zum Despoten?
Politiker Erdoğan
Siyasetçi Erdoğan
Rohbauten in Istanbul: „Wir haben Malls, Malls, Malls, vor allem die Bauindustrie boomt“
İstanbul´da kaba inşaatlar: “Her taraf AVM, her taraf AVM, hele inşaat sektörü patladı”
dara dönüştü, vaktiyle kendisine büyük umutlar bağlanırken,
risk olarak görülmeye başlandı. Bugün de, Yozgat'ta taraftarlarına
veda ederken, elini Müslüman Kardeşler'in selamıyla kaldırıyor
ve “Bitmedi, bu daha başlangıç” diye sesleniyor onlara.
Erdoğan'ı kamçılayan şeyi, amacının ne olduğunu ve ülkesini
nereye götürebileceğini tahmin edebilmek için, geçmişe dönüp,
bu insanın yükselişine bakmak yerinde olur. Beş perdede bir dönüşüm öyküsü bu.
Im Istanbuler Hafenviertel Kasımpaşa sind die Haustüren aus
den Angeln gerissen, unter den Brücken schnüffeln Obdachlose
Yükseliş: Istanbul
Klebstoff. Hier ist Erdoğan aufgewachsen, hier liegen seine Wurzeln. Der jugendliche Erdoğan war ein „Schwarztürke“, ein Au- İstanbul'un liman semti Kasımpaşa'da, kapılar menteşelerinden
ßenseiter, sein Vater Ahmet verdiente sein Geld damit, Güter sökülmüş, köprü altlarında evsiz barksız insanlar tiner çekiyor.
über den Bosporus zu schiffen. Der junge Erdoğan lernte früh, Erdoğan burada yetişmiş, kökleri burada. Delikanlılığında “siyah
sich durchzusetzen. Er verkaufte Sesamkringel auf der Straße, Türk” idi Erdoğan, dışarıda tutulandı, babası Ahmet, Boğaz'da
und wenn ihn jemand prellte, schlug er angeblich zu. Die Alten yük taşıyarak kazanırdı hayatını. Genç Erdoğan, boyun eğmehier erinnern sich an einen Jugendlichen voller Zorn: „Tayyip meyi erken yaşta öğrendi. Sokakta simit satıyordu ve kendisine
ging keiner Prügelei aus dem Weg“, sagt ein Mann. „Er kletterte yamuk yapan olursa, rivayet o ki, yumruğu yiyordu. Bu semtin
auf das Dach der Moschee und zitierte Verse aus dem Koran.“
yaşlılarının aklında öfkeli bir genç kalmış: “Tayyip kavgadan hiç
Erdoğan war Stürmer bei dem lokalen Fußballverein Erokspor, kaçmazdı”, diyor semtin bir sakini. “Caminin damına çıkar,
besuchte eine religiöse İmam-Hatip-Schule, studierte Betriebs- Kur'an'dan sureler okurdu.”
wirtschaft und arbeitete als Buchhalter in einer Wurstfabrik. Und
Erdoğan yerel futbol takımı Erok Spor'da forvet olarak oynadı,
er trat der islamistischen Refah-Partei bei, wo er seine Frau Emine imam hatip okuluna gitti, işletme okudu ve bir sucuk fabrikasında
kennenlernte. Mit 40 Jahren war er ganz oben, wurde er zum muhasebecilik yaptı. Ve islamcı Refah Partisi'ne üye oldu, orada
Bürgermeister von Istanbul gewählt. Die Eliten verachteten ihn, müstakbel eşi Emine'yle tanıştı. 40 yaşına geldiğinde zirvedeydi,
doch Erdoğan regierte effizient, baute den
İstanbul'un belediye başkanı seçilmişti.
S c h w a r z e s M e e r
Nahverkehr aus, verbesserte die WasserSeçkinler onu küçümsüyordu, ama Erversorgung und ließ die Straßen reinigen.
doğan verimli çalışan bir belediye başkaIstanbul
Kasimpaşa
Schon als Jugendlicher ist Erdoğan benıydı. Şehir içi toplu taşımacılığını geliştirsessen von dem Gedanken aufzusteigen.
di, şehrin su ihtiyacının daha iyi karşılanAnkara
Yozgat
Die Verachtung, die er zu Beginn seiner
masını sağladı ve caddeleri temizletti.
T Ü R K E I
Karriere durch das säkulare Bürgertum erErdoğan delikanlılığından beri yükselme
Diyarbakır
fährt, verbittert ihn und treibt ihn an. „Erfikrine tutkundu. Kariyerinin başlarında
350 km
doğan hat den Ehrgeiz und die Ausdauer,
laik orta sınıf tarafından küçümsenmek,
die nur Außenseiter mitbringen“, sagt der
onu öfkeyle doldurdu ve kamçıladı. “Er70
DER SPIEGEL 32 / 2014
FOTOS: GEORGE GEORGIOU
Der Aufstieg: Istanbul
L
L
hebt er die Hand zum Gruß der Muslimbrüder und ruft: „Unsere Mission hat gerade erst begonnen.“
Um zu erahnen, was Erdoğan antreibt, was er will und wohin er
sein Land führen könnte, hilft es zurückzublicken, auf den Aufstieg
dieses Mannes. Die Geschichte einer Verwandlung in fünf Akten.
Titel
Anwalt Turgut Kazan, der den Premier seit Jahren kennt. „Er- doğan, sadece dışlananların sahip olabileceği bir hırsa ve azme
doğan ist auch als Politiker ein Straßenkämpfer geblieben.“
sahip” diyor Başbakan'ı yıllardır tanıyan avukat Turgut Kazan.
Die Menschen in Kasımpaşa sind arm, aber voller Stolz, und “Erdoğan siyasetçi olarak da sokak savaşçısı olmayı sürdürdü.”
so ist auch Erdoğan. „Schau, wie Erdoğan geht, wie er redet,
Kasımpaşalılar yoksul, ama gururlu insanlar. Erdoğan da öyle.
das ist Kasımpaşa“, sagen sie hier. Stolz bedeutet aber auch, “Erdoğan'in yürüyüşüne bak, konuşmasına bak, işte Kasımpaşa
dass er jede Kritik an seiner Regierung als persönliche Beleidi- bu!” diyor burada insanlar. Ama gurur, hükümetine yönelen her
gung sieht – und als Aufforderung zurückzuschlagen. Wer Er- eleştiriyi, şahsına yapılmış bir hakaret olarak görmesine ve bunu,
doğan enttäuscht, der wird von ihm bestraft und verfolgt. karşı darbeyi indirmek için bir kışkırtma olarak yorumlamasına
Erdoğan ist ein begnadeter Populist, ein Menschenfänger, der da yol açıyor. Erdoğan'ı hayal kırıklığına uğratanlar, cezalandırıMassen für sich einnehmen kann. Aber er hat keine Übung darin, lıyor ve onun gazabından kurtulamıyor.
seine Ziele durch Diplomatie zu erreichen. Beim WeltwirtschaftsErdoğan mükemmel bir popülist, kitleleri peşinden sürükleyeforum in Davos stürmte er 2009 während einer Diskussion vom bilen bir insanlı köyün kavalcısı. Ama hedeflerine diplomatik
Podium, als er sich von dem israelischen Präsidenten Schimon yollardan ulaşma konusunda tecrübesiz. 2009'da Davos Dünya
Peres herausgefordert fühlte. Der Premier sei nun mal ein „Ka- Ekonomi Forumu'nda bir tartışma esnasında İsrail Başbakanı
sımpaşalı“, ein Draufgänger, entschuldigen ihn seine Berater. Sei- Şimon Peres tarafından kışkırtıldığı duygusuna kapılmış ve sahne Wähler lieben ihn für solche Auftritte. Erdoğan ist so, wie neyi paldır küldür terketmişti. Ne yapalım, başbakan Kasımpaşalı,
viele Türken gern wären: selbstbewusst, dominant, furchtlos. serde kabadayılık var ne de olsa, diye durumu açıklamıştı daAber der Premier hält auch viel auf Gehorsam und Loyalität. nışmanları. Seçmenleriyse, bu çıkışlarından dolayı seviyor onu.
Er ist dem Friseur seiner Jugend stets treu geblieben, heute schnei- Erdoğan, birçok Türkün olmayı isteyip de olamadığı bir adam:
det ihm dessen Sohn die Haare. In dem Salon von Yaşar Ayhan kendinden emin, duruma hakim, gözüpek.
in Kasımpaşa hängt sein Foto an der Wand. „Tayyip hat seine
Ama başbakan sadakate de çok önem veriyor. Halen, delikanHerkunft nie vergessen“, sagt Ayhan. Er wird auch bei der Präsi- lılık döneminin berberine gidiyor. Kasımpaşa'da Yaşar Aydın'ın
dentenwahl für Erdoğan stimmen. „Tayyip lässt uns stolz sein auf berber salonunun duvarında fotoğrafı asılı. “Tayyip köklerini hiç
Kasımpaşa, auf unser Land, unsere Religion.“
unutmadı” diyor Ayhan. Cumhurbaşkanlığı seçiminde de Erdoğan'a oy verecek. “Tayyip sayesinde Kasımpaşa'yla, ülkemizle,
dinimizle gurur duyuyoruz”, diye devam ediyor.
Der Höhenflug: Kayseri
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Bevor die AKP an die Macht kam, lebten in Kayseri etwa eine
Zirveye Tirmaniș: Kayseri
halbe Million Menschen. Jetzt sind es mehr als doppelt so viele.
Die Stadt steht für den wirtschaftlichen Erfolg der Türkei; sie ist AKP iktidarından önce Kayseri'nin nüfusu yarım milyon kadardı.
das Zentrum der „anatolischen Tiger“, jener Aufsteigermetropo- Bugünse, bunun iki katından fazla. Bu şehir, Türkiye'nin ekonolen, in denen der türkische Wohlstand der vergangenen Jahre mik başarısının simgesi. Türkiye'de geçtiğimiz yıllarda yükselen
entstanden ist. Die Stadt liegt am Fuß des 3916 Meter hohen Vul- refahın doğduğu, “Anadolu kaplanları” olarak anılan metropolkans Erciyes, und oben, auf dem Gipfel, wo sechs Monate im lerin merkezi. Şehir, 3.916 metre yüksekliğindeki Erciyes yanarJahr Schnee liegt, hat gerade ein neues Resort mit Sessellift, Pis- dağının eteklerine kurulmuş. Senenin altı ayı karlarla kaplı zirten und Restaurants eröffnet. In der Innenstadt reihen sich Fast- vedeyse, teleferikler, pistler ve restoranlarla donanmış yeni bir
Food-Restaurants und Filialen europäischer Modeketten aneinan- kış sporları tesisi açıldı. Çarşıda fast food lokantaları ve Avrupa
der, und vor den Vorstadtvillen stehen Limousinen und Gelän- moda zincirlerinin şubeleri yanyana sıralanıyor, şehrin kıyısındaki
dewagen von Mercedes, BMW und Audi. villaların önündeyse Mercedes, BMW ve Audi limuzinleri ve cipHunderte neue Firmen sind hier entstanden, Textilfabriken, leri park etmiş.
Maschinenhersteller, international tätige Konzerne wie die Boydak
Burada yüzlerce yeni şirket kuruldu, tekstil fabrikaları, makina
Holding, zu der eine Bank, eine Kabelfabrik und die größte tür- imalatçıları, Boydak Holding gibi uluslararası alanda çalışan ve
kische Möbelfirma Istikbal gehören. Nahezu alle Sofas, Schrank- çatısı altında bir bankayı, bir kablo fabrikasını ve Türkiye'nin en
wände und Einbauküchen des Landes werden hier gebaut, auch büyük mobilya şirketi İstikbal'i de barındıran şirket grupları bueuropäische Unternehmen lassen in der Stadt fertigen. raya yerleşti. Türkiye'de kullanılan koltukların, vitrinli dolapların
„Kayseri ist das Schwaben der Türkei“, sagt Şafak Çivici. „Die ve ankastre mutfakların neredeyse tamamı burada üretiliyor. AvMenschen sind konservativ, fleißig und bescheiden.“ Die 50-jäh- rupa şirketleri de bu şehirde üretim yapıyor.
rige Unternehmerin ist in Stuttgart aufgewachsen, dann zog es
“Almanya'da Suebya neyse, Türkiye'de de Kayseri o” diyor
sie in die Heimat ihrer Eltern. 1997 eröffnete sie mit ihrem Mann Şafak Çivici. “Buranın insanı muhafazakar, çalışkan ve mütevaeine Holzwerkstatt, inzwischen hat ihr Unternehmen 60 Mitar- zıdır.” 50 yaşındaki bu iş kadını Stuttgart'ta, yani Suebya bölgebeiter und produziert Stühle für Europa. „Das ist auch ein Erfolg sinde yetişmiş, ardından, ebeveyninin memleketine yerleşmiş.
von Erdoğan“, sagt Çivici. „Vor seiner Amtszeit betrug die Infla- 1997'de eşiyle birlikte bir kereste imalathanesi açmış. Bugün şirtion über 40 Prozent. Die Regierungen waren chaotisch und kor- keti 60 eleman çalıştırıyor ve Avrupa pazarına sandalye üretiyor.
rupt, ständig gab es Streit in den Koalitionen, auf nichts war Ver- “Bu aynı zamanda Erdoğan'ın da başarısı”, diyor Çivici. “Erdoğan
lass.“ Viele ihrer Freunde, sagt Çivici, hätten Erdoğan und seine iktidara gelmeden önce enflasyon yüzde 40'ın üstündeydi. HüAKP aus Protest gewählt. „Seit seinem Amtsantritt ist die türki- kümetlerde kaos ve yolsuzluk egemendi, koalisyonlarda habire
sche Lira relativ stabil und hat sogar an Wert gewonnen.“
birbirlerine girerlerdi, hiçbir şeye güvenemezdiniz.” Çivici, birçok
Zuvor wurde die Wirtschaft von der kemalistischen Elite kon- arkadaşının Erdoğan'a ve AKP'ye oy vermelerinin bir protesto
trolliert, doch Erdoğan öffnete die Märkte für Unternehmer aus olduğunu söylüyor. “Erdoğan iktidara geldiğinden beri Türk
Anatolien. Er privatisierte große staatliche Unternehmen wie Lirası oldukça istikrar kazandı, hatta değeri de arttı.”
Türk Telekom, die Öl- und Gasindustrie, Häfen und Flughäfen;
Daha önce ekonomi Kemalist seçkinlerin denetimindeydi, aner liberalisierte den Arbeitsmarkt, reformierte den Banken- und cak Erdoğan pazarı Anadolu işadamlarına açtı. Türk Telekom
Kreditsektor und förderte die Wirtschaft.
gibi büyük kamu şirketlerini, petrol ve doğal gaz sanayiini, limanZu Beginn der AKP-Ära wuchs die Wirtschaft jährlich um bis zu ları ve hava limanlarını özelleştirdi, istihdam piyasasını liberalize
neun Prozent. Ausländische Anleger investierten von 2003 bis 2012 etti, banka ve kredi sektörünü reforma tabi tuttu ve ekonomiyi
rund 400 Milliarden Dollar. In den 20 Jahren zuvor waren es lediglich destekledi.
AKP döneminin başlarında ekonomi yılda yüzde dokuza
35 Milliarden gewesen. So stiegen unbedeutende Orte in ZenDER SPIEGEL 32 / 2014
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Café im kurdischen Diyarbakır: Noch vor zehn Jahren herrschte hier der Ausnahmezustand
Kürt şehri Diyarbakır´da bir kahve: “Daha on yıl önce burada olağanüstü hal vardı”
Noch vor zehn Jahren herrschte in der größten kurdischen Stadt
der Ausnahmezustand. Heute kommen Touristen in die Stadt
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DER SPIEGEL 32 / 2014
varan büyüme hızlarına ulaştı. Yabancı yatırımcılar 2003 ile
2012 yılları arasında yaklaşık 400 milyar dolarlık yatırım yaptı.
Daha önceki 20 yıl içinde yapılan yabancı yatırımlarsa sadece 35
milyardı. Böylece Orta Anadolu'da vaktiyle önemsiz olan yerler
sanayi kentleri haline geldi ve yeni bir orta sınıf doğdu, müslüman
ve muhafazakar, hem zengin, hem dindar olan bir orta sınıf.
Aynı zamanda ülkenin tamamında, şehirlere göç eden yoksul
köylüler için yeni yerleşim bölgeleri inşa edildi.
Erdoğan bütün Türkiye'nin Kayseri gibi olmasını hayal ediyor.
Burada lokantalarda alkollü içki yok, birçok kadın başörtülü ve
neredeyse bütün şirketlerde mescit var. İman ve zenginlik birbirini tamamlar, diyorlar burada insanlar. “Müslüman Kalvinistler”
diyor sosyologlar bu kesime. AKP her seçimde yüzde 70'e varan
oy oranlarına ulaşıyor. Erdoğan'a karşı çıkanların az olduğu bir
yer burası.
En azından şimdilik. Ama yavaş yavaş, alttan alta değişmeye
başladı bu durum. Erdoğan artık birkaç yıl önceki kadar benimsenmiyor, diyor Çivici. Gezi direnişi sırasında ve muhalif gazetecilere karşı sergilediği hırçın tutumunu, “reform çizgisinden ayrılmasını ve AB'ye sırt çevirmesini” anlamadığını söylüyor. Erdoğan'ın ayağını bastığı zemin de sarsılıyor bu arada. Ekonomi
2013 yılında sadece yüzde üçlük bir büyüme gösterdi. İMF, Türkiye'nin gelişmekte olan tüm piyasalar içinde en kırılganı olduğu
uyarısını yaptı.
Çünkü başarı, uzun bir süre boyunca, AKP'nin daha da keskinleştirdiği yapısal bir sorunun farkedilmesini engelledi. Türkiye
yıllardır, ihraç ettiğinden fazla mal ithal ediyor; dolayısıyla daha
fazla borçlanıyor. Erdoğan'ın iktidarında dış ticaret açığı 16 milyar
dolardan, 2012 rakamlarıyla 84 milyar dolara tırmandı. Çivici,
ayrıca yabancı sermayenin kısa vadeli yatırımlar yaptığını
söylüyor. “Dünya mali krizi patlak verir vermez, sermayelerini
çektiler.” Bu yüzden, gelişmenin kalıcı olmadığını belirtiyor.
“Her taraf AVM, her taraf AVM, hele inşaat sektörü patladı.
Ama ortada ne sağlam bir sanayi var, ne de başarılı bir bilişim
sektörü.”
FOTO: EREN AYTUG / NAR PHOTOS / DER SPIEGEL
Die Versöhnung: Diyarbakır
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tralanatolien zu Industriestädten auf – es entstand eine neue
Mittelschicht: das islamisch-konservative Bürgertum, wohlhabend
und fromm zugleich. Zugleich wurden im ganzen Land Neubausiedlungen für die zugezogene arme Landbevölkerung errichtet.
So wie Kayseri stellt sich Erdoğan die ganze Türkei vor. In den
Restaurants wird kein Alkohol ausgeschenkt, viele Frauen tragen
Kopftuch, fast jede Firma verfügt über einen Gebetsraum. Glaube
und Leistung, sagen sie hier, ergänzten sich. „Islamische Calvinisten“ werden sie von Soziologen genannt. Die AKP bekommt bei
Wahlen regelmäßig bis zu 70 Prozent der Stimmen. Kayseri ist
ein Ort, an dem es für Erdoğan wenig Widerworte gibt.
Zumindest bis jetzt. Doch ganz langsam und leise ändert sich
das. Erdoğan sei nicht mehr so unumstritten wie noch vor ein
paar Jahren, sagt Çivici. Sein harsches Vorgehen gegen die GeziDemonstranten und kritische Journalisten sei ihr unverständlich,
„ebenso seine Abkehr vom Reformkurs und seine Abwendung
von der EU“. Und auch Erdoğans wichtigstes Fundament bröckelt:
Die Wirtschaft wuchs 2013 nur noch um drei Prozent. Der IWF
warnte, die Türkei sei der fragilste aller Schwellenmärkte. Denn der Erfolg täuschte lange Zeit über ein strukturelles Defizit hinweg, das die AKP noch befördert hat. Die Türkei importiert seit Jahren deutlich mehr Güter, als sie exportiert – und
häuft so Schulden an. Das Handelsbilanzdefizit stieg unter Erdoğan von 16 Milliarden auf 84 Milliarden Dollar im Jahr 2012.
Ausländische Geldgeber hätten zudem nur kurzfristig investiert,
sagt Çivici. „Kaum begann die weltweite Finanzkrise, haben sie
ihr Kapital wieder abgezogen.“ Nachhaltig sei die Entwicklung
daher nicht. „Wir haben Malls, Malls, Malls, vor allem die Baubranche boomt“, sagt die Unternehmerin. „Eine solide Industrie
oder einen langfristig erfolgreichen IT-Sektor gibt es nicht.“
Titel
am Tigris, Hilton hat ein Hotel eröffnet, der Flughafen wird zu Barişma: Diyarbakir
einem der größten des Landes ausgebaut. Wo früher Soldaten
patrouillierten, verkaufen heute Händler T-Shirts mit dem Porträt Daha on yıl önce en büyük Kürt şehri Diyarbakır'da olağanüstü
des PKK-Führers Abdullah Öcalan.
hal egemendi. Bugün, Dicle kıyısına turistler geliyor, Hilton buBis 2004 war es verboten, Kurdisch zu sprechen, kurdische Bü- rada otel açtı ve hava limanı genişletilerek, ülkenin en büyüklecher zu lesen oder kurdische Musik zu hören. Doch Erdoğan ent- rinden biri haline getiriliyor. Vaktiyle askerlerin devriye gezdiği
schuldigte sich als erster türkischer Regierungschef für die Ver- yerde şimdi PKK lideri Abdullah Öcalan'ın portresinin basılı olbrechen des Staates an den Kurden. Die Regierung handelte duğu tişörtler satılıyor.
einen Waffenstillstand aus, sie lockerte das Sprachverbot und
2004 yılına kadar Kürtçe konuşmak, Kürtçe kitap okumak,
förderte die Wirtschaft in der Region, inzwischen gibt es sogar Kürtçe müzik dinlemek yasaktı. Ama Erdoğan, devletin Kürtlere
kurdischsprachiges Fernsehen. Uneigennützig war das alles nicht, karşı işlediği suçlar için özür dileyen ilk Türk başbakanı oldu.
denn damit erschloss Erdoğan sich eine neue Wählerschicht. Erst Hükümet ateşkes için uzlaşmaya vardı, dil yasağını hafifletti ve
Ende Juni brachte die Regierung ein Amnestiegesetz für PKK- bölgede ekonomiyi teşvik etti; bugün Kürtçe televizyon bile var.
Kämpfer ins Parlament ein, ein Wahlgeschenk an die Kurden, Bunlar sadece alicenaplık olsun diye yapılmadı, çünkü Erdoğan
deren Stimmen er für eine Mehrheit im ersten Wahlgang braucht. bu sayede yeni bir seçmen kesimi kazandı. Hükümet, Haziran
Denn Erdoğan konkurriert mit einem kurdischen Präsident- sonunda meclise PKK saflarında savaşmış olanlara yönelik bir
schaftskandidaten, dem ersten überhaupt. Selahattin Demirtaş ist yasa tasarısı sundu. Bu Kürtlere seçim öncesinde verilen bir hehier im Südosten aufgewachsen, er erlebte als Kind, wie türkische diyeydi, zira Erdoğan ilk turda çoğunluğu sağlayabilmek için
Soldaten Dörfer niederbrannten und die Bewohner hinrichteten, Kürtlerin oylarını da almak zorunda.
Cumhurbaşkanı seçiminde Erdoğan'ın karşısında bir Kürt rakip
angeblich, weil sie PKK-Kämpfer waren oder sie versteckten. Heute
ist Demirtaş der Spitzenkandidat der kurdischen Partei HDP, un- var, ilk Kürt cumhurbaşkanı adayı. Selahattin Demirtaş bu bölterstützt wird er auch von jungen und liberalen Türken. Meinungs- gede büyümüş, daha çocukken, Türk askerlerinin köyleri yakmasına ve PKK üyesi oldukları ya da onlara yatakumfragen sehen ihn bei nur etwa zehn Prozent,
Wirtschaftsleistung
2014
lık ettikleri gerekçesiyle köylüleri öldürmesine
doch allein seine Kandidatur ist eine Sensation. Prognose
projeksiyonu
şahit olmuş. Demirtaş Kürt partisi HDP'nin cum„Erdoğan hat das Land verändert“, gibt Demir- Veränderung des
taş zu. Aber er sagt auch: „Unter Erdoğan ist eine BIP in Prozent gegen+ 73,1 hurbaşkanı adayı, ayrıca genç ve liberal Türklerden de destek görüyor. Kamuoyu araştırmalarında
demokratische Türkei nicht möglich.“ Er will eine über 2002
oy oranı yüzde ondan ibaret görünüyor, ama aday
linksliberale Opposition etablieren, für Kurden Ekonomik Performans
olması bile kendi başına bir olay.
und säkulare Türken. „Wir träumen von einer plu- 2002 yılına göre
ralistischen Türkei, die nicht nur Kemalisten oder GSYİH değişim oranı
konservativen Sunniten gehört.“
İktidar Mücadelesi: Ankara
“Korkmayın! Buyrun, gelin!” diye sesleniyor Abdüllatif Şener. Sesi elektrikli bir matkabın gürültüsünde kayboluyor, inşaat işçileri merdivenler„Keine Angst! Treten Sie ein!“, ruft Abdüllatif
den molozlar indiriyor. Şener daha uygun bir ofis
Şener. Seine Stimme wird von einer Bohrmaschi2003
bulamamış, Ankara'da bu iktisat profesörünü kimne übertönt, Bauarbeiter schleppen Schutt durchs
+ 5,3
se kiracılığa kabul etmemiş. Halbuki AKP'nin kuTreppenhaus. Şener hat kein besseres Büro gerucularından biri Şener, maliye bakanlığı ve başbafunden, Hauseigentümer in Ankara weigern sich, Inflationsrate in Prozent
kan yardımcılığı yapmış. Ama 2008'de partiden
an den Wirtschaftsprofessor zu vermieten. Dabei Enflasyon Oranı
kavgalı ayrılmış.
hat er einst die AKP mitgegründet, er war Finanz2003
Tesbih çekerek anlatıyor. Erdoğan, diyor, AKP
minister und Vizepremier. Doch 2008 hat er die
2014
25,3
Prognose
kurucuları arasında tartışmalı bir isimdi. Siyasi
Partei im Streit verlassen.
projeksiyonu
bir tasarısı yoktu, düpedüz taşralıydı, diyor. Ama
Şener knetet eine Gebetskette. Erdoğan, erzählt
7,8 ülkenin en popüler Müslüman siyasetçisiydi, hele
er, sei unter den AKP-Gründern umstritten gewe1997'de askerleri vesayet rejimi tarafından tutuksen. Er habe kein politisches Konzept gehabt, geQuelle: IWF
landıktan ve on yıl hapse mahkum edildikten sonradezu provinziell sei er gewesen. Doch Erdoğan
ra. Yaptığı bir konuşmada, bir şiirden alıntı yapmış
war der populärste muslimische Politiker des Landes, vor allem, seit er 1997 vom Militärregime verhaftet und zu ve bu alıntı İslamcı bir kışkırtma olarak yorumlanmıştı: “Camiler
zehn Monaten Haft verurteilt wurde – weil er in einer Rede aus kışla, minareler süngü.” Hapse girince kahraman oldu Erdoğan.
AKP kurucuları, partilerinin ılımlı bir siyasi güç olarak görüleinem Gedicht den als islamistischen Aufruf verstandenen Satz
zitiert hatte: „Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette mesini istiyordu, diyor Şener. Bu yüzden şeriatın getirilmesi ya
unsere Bajonette.“ Die Haftstrafe machte Erdoğan zum Märtyrer. da Batı'dan uzaklaşma gibi taleplerden taktik nedenlerle vazgeDie AKP-Gründer wollten, dass ihre Partei als moderate Kraft çildiğini söylüyor. “Askerleri kızdırmamak için laik bir üslup kulerschien, erzählt Şener. Forderungen wie die Einführung der Scha- lanıyorduk.” İlk İslamcı başbakan Necmettin Erbakan darbeyle
ria oder die Abkehr vom Westen wurden daher aus taktischen indirildikten sonra, daha temkinli davranmaya karar verdiklerini
Erwägungen gestrichen. „Wir benutzten die säkulare Rhetorik, anlatıyor. Erbakan, AKP'nin de kaynağı olan Refah Partisi'nin
um das Militär zu besänftigen.“ Nachdem der erste islamistische başbakanıydı. “Ama dini inançlarımızdan vazgeçmedik. Yalnız,
Premier Necmettin Erbakan von der Refah-Partei, aus der die toplumu değiştirmenin zaman alacağını kavradık.”
Laik Kemalist ordu başbakanı endişeyle izliyordu, ancak uzun
AKP hervorging, 1997 aus dem Amt geputscht worden war, wollte
man vorsichtiger vorgehen. „Aber wir haben unsere religiösen bir süre tepki göstermedi; Erdoğan'ın AB'yle ilişkileri geliştirmesi
Überzeugungen nicht verworfen“, sagt Şener. „Wir haben begrif- ve ülkeyi İslamileştireceği yolundaki kuşkuları haklı çıkarmaması
da bunda rol oynadı. Ancak generaller en geç 2007 yılında, güçfen, dass wir die Gesellschaft nur langsam verändern können.“
Die säkular-kemalistischen Militärs beobachteten den Premier lerinin ciddi bir tehdit altında olduğunu farkettiler. Zira Erdoğan,
mit Sorge, doch lange reagierten sie nicht, auch weil Erdoğan die kendi partisinden Abdullah Gül'ü cumhurbaşkanı seçtirmek isAnnährung an die EU vorantrieb und den Verdacht der Islami- tediğini açıkladı. Generaller darbe yapmayı planladı, ama Erdoğan askerlerin tehditlerine cevap vermekte gecikmedi.
sierung nicht bestätigte. Doch spätestens im Jahr 2007 merk-
Der Machtkampf: Ankara L
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Festgenommener Demonstrant in Istanbul: „Wer gegen die Türkei arbeitet, wird vor Angst zittern“
İstanbul´da gözaltına alınan bir gösterici: “Türkiye aleyhine çalışanlar korkudan titreyeceklerdir”
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DER SPIEGEL 32 / 2014
Ordu yönetimini kamuoyu önünde azarladı ve üç ay sonra
Gül'ü cumhurbaşkanlığına getirdi. Kasımpaşa'lı savaşçı generalleri
devre dışı bırakmış ve amacına ulaşmıştı.
Erdoğan bu güç mücadelesini kazandıktan sonra, devlet kurumlarını eski seçkinlerden temizlemeye girişti. Savcılık, “Ergenekon” olarak adlandırılan gruba karşı, hükümeti devirmek için
darbe planladıkları gerekçesiyle soruşturma başlattı. Erdoğan Ergenekon'u “derin devletin” belkemiği olarak niteledi ve işledikleri
suçların aydınlatılacağını vaadetti. Bu “derin devletin” üyeleri
seksenli yıllarda, kısmen hükümetin de verdiği görevle, devlet
düşmanı olduğu öne sürülen insanları kaçırmışlardı. Ancak Ergenekon iddianamesinde bundan tek kelimeyle bile bahsedilmedi.
Soruşturmayı yürütenler suikast planları yapıldığını geveleyip
durmakla yetindiler; iddialarını gizli tanıklarla gerekçelendirdiler
ve önemli belgelerin çoğunun sahte olduğu ortaya çıktı. Yüzlerce
subay, akademisyen ve gazeteci tutuklandı ve göstermelik duruşmaları takiben uzun hapis cezalarına çarptırıldı.
“Belli ki, suçlamalar uydurmaydı” diyor Avrupa İnsan Hakları
Mahkemesi eski hakimi Rıza Türmen. “Erdoğan'ın amacı hiçbir
zaman, derin devletin suçlularını cezalandırmak olmadı. Bu davayı, muhaliflerini devre dışı bırakmak için istismar etti.” 2001
ile 2011 yılları arasında terör kuşkusuyla dünyada toplam 35.000
kişi tutuklandı; bunların 12.897'si Türkiye'de tutuklanmıştı.
“Ergenekon süreci Erdoğan'a mutlak güç sahibi olduğu duygusunu verdi”, diyor bir zamanlar başbakanın yakın çevresinde bulunmuş olan Nazlı Ilıcak. “O zamandan beri, kanunların artık
kendisini bağlamadığını zannediyor.” Bazı siyasetçiler, başarıları
arttıkça daha rahat ve kendine güvenli hale gelir. Erdoğan ise gittikçe daha iktidar tutkunu ve alıngan bir insan oldu.
Başbakan, bir sonraki hamlede eski bir müttefikine karşı hücuma geçti. 1999'da askerlerden kaçmak için ABD'ye giden cemaat lideri Fetullah Gülen'i hedef almıştı. Gülen başbakana dindar seçmenlerin desteğini sağlıyor, Erdoğan da buna karşılık olarak Gülen cemaatinin ticari çıkarlarını koruyordu. Erdoğan Ergenekon davasını, üyelerini adalet mekanizmasına sızdırmış olan
FOTO: EMIN OZMEN
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ten die Generäle, dass ihre Macht ernsthaft gefährdet war.
Anlass war Erdoğans Ankündigung, seinen Parteifreund Abdullah
Gül zum Präsidenten machen zu wollen. Die Generäle planten
einen Putsch, doch Erdoğan reagierte schnell auf ihre Drohungen.
Er kanzelte die Militärführung öffentlich ab und installierte Gül
drei Monate später als Präsidenten. Der Kämpfer aus Kasımpaşa
hatte die Generäle überlistet und sich durchgesetzt. Nachdem Erdoğan die Kraftprobe gewonnen hatte, begann er,
die staatlichen Institutionen von der alten Elite zu säubern. Die
Staatsanwaltschaft leitete Ermittlungen gegen die sogenannte
Ergenekon-Gruppe ein, die angeblich den Putsch gegen die Regierung geplant hatte. Erdoğan stellte sie als Rückgrat des „tiefen
Staats“ dar und versprach, deren Verbrechen aufzuarbeiten. Mitglieder dieses „tiefen Staats“ hatten in den Achtzigerjahren, zum
Teil im Auftrag der Regierung, vermeintliche Staatsfeinde verschleppt. In der Ergenekon-Anklageschrift fand sich jedoch nichts
davon. Stattdessen schwadronierten die Ermittler über vermeintliche Anschlagspläne, die Vorwürfe stützten sich auf anonyme Zeugen, und entscheidende Dokumente stellten sich oft als Fälschungen
heraus. Hunderte Offiziere, Akademiker und Journalisten wurden
verhaftet und in Schauprozessen zu langen Haftstrafen verurteilt. „Die Vorwürfe waren offensichtlich frei erfunden“, sagt Riza
Türmen, ein früherer Richter am Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte. „Erdoğan hat nie beabsichtigt, gegen die Verbrecher des ‚tiefen Staates‘ vorzugehen. Er hat den Prozess missbraucht, um Kritiker auszuschalten.“ Zwischen 2001 und 2011
wurden weltweit 35 000 Menschen wegen Terrorverdachts verhaftet, davon allein 12 897 in der Türkei. „Der Ergenekon-Prozess hat Erdoğan das Gefühl gegeben, allmächtig zu sein“, sagt seine einstige Vertraute Nazlı Ilıcak. „Seitdem glaubt er, an Gesetze nicht mehr gebunden zu sein.“ Manche
Politiker werden mit wachsendem Erfolg gelassener und souveräner. Erdoğan jedoch wurde machtgierig und dünnhäutig.
Als Nächstes griff der Premier seinen einstigen Verbündeten
an: den Prediger Fetullah Gülen, der 1999 vor dem Militär in die
Titel
USA geflohen war. Gülen sicherte dem Premier die Unterstützung frommer Wähler, Erdoğan schützte dafür die Geschäfte
von dessen Gemeinde. Den Ergenekon-Prozess hätte Erdoğan
nicht ohne die Hilfe der Gülen-Gemeinde führen können, die
ihre Leute auf Posten in der Justiz geschleust hatte. Doch nachdem er die Parlamentswahl im Juni 2011 gewonnen hatte, wollte
sich Erdoğan von der Bewegung befreien, weil er deren Forderungen nach Ämtern und Aufträgen nicht mehr erfüllen wollte.
Im Herbst 2013 forcierte er den Machtkampf, indem er ankündigte, Gülen-Nachhilfeschulen schließen zu lassen. Kurz darauf verhafteten Polizisten mehr als 50 AKP-Politiker,
Unternehmer sowie die Söhne dreier Minister wegen des Verdachts auf Korruption. Staatsanwälte, die offenbar Gülen verbunden waren, leiteten die Ermittlungen, die schließlich sogar
auf Erdoğans Sohn Bilal ausgedehnt wurden.
Erdoğan tauschte zwar sein halbes Kabinett aus, aber er weigerte sich, die Affäre aufzuklären. Und er tat so, als hätte er nie
mit Gülen zusammengearbeitet. Im Frühjahr wurden etliche Ergenekon-Beschuldigte freigelassen; der Premier nannte den Prozess nun ein Komplott der Gülen-Bewegung gegen die Armee.
Vor elf Jahren trat Erdoğan mit dem Versprechen an, die Türkei
zu demokratisieren. Tatsächlich schaffte er die Todesstrafe ab, liberalisierte das Strafrecht, erlaubte Studentinnen und Staatsbediensteten das Tragen von Kopftüchern und räumte Christen
und Juden mehr Rechte ein denn je. Doch die Institutionen hat
er nicht reformiert, sondern selbst besetzt. Nicht viel anders als
die Kemalisten vor ihm missbraucht er Justiz, Geheimdienst und
Polizei, um Kritiker zu beseitigen. Der Inlandsgeheimdienst MİT
wurde von Erdoğan mit nahezu uneingeschränkten Befugnissen
ausgestattet; er kann ohne richterlichen Beschluss Telefone abhören, auf Daten von Behörden und Unternehmen zurückgreifen.
Wer sich der Regierung widersetzt, wird als Staatsfeind verfolgt.
In den vergangenen Monaten wurden Hunderte unliebsame
Staatsanwälte, Richter und Polizisten versetzt. Journalisten, die
kritisch berichteten, wurden verhaftet oder entlassen. Studenten,
die während einer Rede Erdoğans ein Banner mit der Forderung
nach freier Bildung entrollten, wurden wegen der Mitgliedschaft
in einer Terrorgruppe angeklagt. Twitter, Facebook und YouTube
wurden immer wieder gesperrt.
„In der Türkei sind manchmal andere, weniger feine Mittel als
in Europa geboten, um politische Ziele zu erreichen“, verteidigt
der AKP-Politiker Osman Can das autoritäre Gebaren. Erdoğan scheint sich um die Meinung im europäischen Ausland nicht mehr zu scheren. Anders als zu Beginn seiner Amtszeit, als er den EU-Beitritt nutzen wollte, um die Macht des
Militärs zu beschränken, ist er nicht länger auf Brüssel angewiesen. Und auch in der Bevölkerung ist die Begeisterung für Europa
gesunken. Die halbherzigen Beitrittsgespräche haben viele Türken frustriert. Noch vor zehn Jahren befürworteten 73 Prozent
einen EU-Beitritt. Heute wünschen sich dies nur noch 44 Prozent.
Europa sei ein Verlierer und steuere auf den Kollaps zu, sagt
heute Erdoğans Chefberater. Die Türkei sei auf dem Weg zu
einer Weltmacht – und stehe bald auf einer Stufe mit China und
den USA.
Die Krise: Gezi-Park
Kriz: Gezi Parkı
Aslında Taksim Meydanı'ndaki bu park Erdoğan'ın büyük planları
içinde bir dipnottan ibaretti. Başbakan, İstanbul'da, Frankfurt'takinin üç katı büyüklüğünde bir havalimanı, bugüne kadar görülen
en muazzam ayaklara sahip bir üçüncü Boğaz köprüsü, dünyanın
en yüksek minarelerine sahip bir cami yapmak niyetinde.
Marmara Denizi ve Karadeniz arasında bir yapay kanal planı
da var, öylesine absürd ve pahalı bir tasarı ki, bizzat hükümet
bile “çılgın proje" diyor buna. Bunlar inşaat sektörü için dev motorlar ve her şeyden önce Erdoğan için dikilen birer anıt. Bütün
bunlar varken, bu el kadar, üstelik hiç de doğal cennet filan olmayan, yerini alışveriş merkezine bırakması tasarlanan park çıktı
ortaya.
2013 Haziranında İstanbul'da yüzbinlerce insan, parkın yıkılmasını engellemek için sokaklara döküldü. Ancak olay kısa bir
süre içinde hükümete karşı bir isyana dönüştü, çünkü polis
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Eigentlich war dieser Park am Taksim-Platz nur eine Fußnote in
Erdoğans großen Plänen. Der Premier will einen dritten Flughafen
in Istanbul bauen, dreimal so groß wie der in Frankfurt; eine
dritte Bosporus-Brücke mit den mächtigsten Pfeilern und eine
Moschee mit den höchsten Minaretten der Welt. Geplant ist auch
ein Kanal zwischen Marmara- und Schwarzem Meer, so absurd
und teuer, dass selbst die Regierung ihn ein „verrücktes Projekt“
nannte. Gigantische Motoren der Bauwirtschaft, vor allem aber
Denkmäler für Erdoğan. Und dann dieser winzige, gar nicht idyllische Park, der einem Einkaufzentrum weichen sollte.
Gülen cemaatinin desteği olmadan yürütemezdi. Ancak 2011 yılında genel seçimi kazandıktan sonra cemaatten kurtulmaya karar
verdi, çünkü artık cemaatin yetkili makamlara adam yerleştirme
ve ihale alma taleplerini yerine getirmek istemiyordu. 2013 sonbaharında Gülen'in dersanelerini kapatacağını açıklayarak güç
mücadelesini körükledi.
Bundan kısa bir süre sonra emniyet görevlileri, aralarında
AKP'li siyasetçilerin, işverenlerin ve üç bakanın oğullarının yeraldığı 50'den fazla kişiyi yolsuzluk kuşkusuyla gözaltına aldı.
Soruşturmalar, Gülen'e bağlı oldukları tahmin edilen savcılar tarafından yürütüldü ve sonunda Erdoğan'ın oğlu Bilal'e kadar
uzandı.
Erdoğan kabinenin yarısını değiştirdi değiştirmesine, ama olayı
aydınlatmaya yanaşmadı. Ve sanki, hayatında Gülen'le hiç işbirliği
yapmamış gibi davrandı. İlbaharda bütün Ergenekon sanıkları
serbest bırakıldı; başbakan bu sefer de davayı Gülen hareketinin
orduya karşı giriştiği bir komplo olarak takdim etti.
Erdoğan onbir yıl önce, Türkiye'yi demokratikleştirme vaadiyle
yola çıkmıştı. Gerçekten idam cezasını kaldırdı, ceza hukukunu
liberalleştirdi, üniversite öğrencisi ve devlet memuru olan kadınlara başörtüsü takma hakkını verdi ve Hıristiyanlara ve Musevilere daha önce hiç sahip olmadıkları kadar hak tanıdı. Ama kurumlarda reform yapmak yerine, buralara kendi adamlarını yerleştirdi. Kendisinden önce Kemalistlerin yaptığına benzer bir
şekilde adaleti, istihbaratı ve emniyeti, muhaliflerini devre dışı
bırakmak için kullandı. Milli İstihbarat Teşkilatı neredeyse sınırsız
yetkilerle donatıldı; bugün MİT hakim kararı olmadan telefon
dinleyebiliyor ve devlet kurumlarının ve şirketlerin verilerine
ulaşabiliyor.
Hükümete karşı gelenler devlet düşmanı muamelesi görüyor.
Geçtiğimiz aylar içinde yüzlerce savcı, hakim ve polisin görev
yeri değiştirildi. Muhalif gazeteciler tutuklandı ya da işten çıkarıldı. Erdoğan'ın bir konuşması sırasında ücretsiz eğitim hakkı
için pankart açan üniversite öğrencileri hakkında terör örgütüne
üye oldukları gerekçesiyle dava açıldı. Twitter, Facebook ve YouTube defalarca kapatıldı.
“Türkiye'de siyasi hedeflere ulaşmak için bazen Avrupa'dakinden daha az ince usuller kullanmak gerekebiliyor” diyor AKP'li
siyasetçi Osman Can bu otoriter tutumu açıklamak için.
Erdoğan Avrupa ülkelerinde ne düşünüldüğünü umursamaz
gibi. İlk göreve geldiği dönemlerde, ordunun iktidarını sınırlamak
için AB üyeliğini kullanmak istiyordu; ama artık Brüksel'e ihtiyacı
kalmadı. Halkın Avrupa şevki de kırıldı. Gönülsüzce sürdürülen
üyelik müzakereleri birçok Türkte hayal kırıklığı yarattı. Daha
on yıl önce nüfusun yüzde 73'ü AB üyeliğini savunuyordu. Bugün
bunu isteyenler, yüzde 44'ten ibaret. Erdoğan'ın başdanışmanı
Avrupa'nın iflas ettiğini ve çöküşe doğru gittiğini söylüyor bugün.
Ona göre Türkiye dünya çapında bir güç olma yolunda ve yakında
Çin ve ABD ile aynı seviyede olacak.
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Lachprotest gegen Vizepremier Arinç in sozialen Medien: Ist weibliche Heiterkeit in der Öffentlichkeit ein Laster?
Başbakan Yardımcısı Bülent Arınç´a kahkahalı protesto: Kadınların herkesin içinde neşelenmesi iffetsizlik midir?
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göstericilerin üzerine acımasızca bir şiddetle, gaz fişekleri ve
TOMA'larla yürüdü. O günlerde İpek Akpınar'a bir telefon geldi.
Başbakanın kadın danışmanlarından biri “Sayın profesör, ne
yapabiliriz?" diye soruyordu. “Bu insanları nasıl sakinleştirebiliriz?"
Mimar Akpınar protestolara önayak olanlardan biriydi. Cevabı
şu oldu: “Başbakan'a, göstericilerle diyalog kurması gerektiğini
söyleyin." Erdoğan o sırada Kuzey Afrika'da resmi ziyaret yapmaktaydı. Ancak İstanbul'a döndüğünde bu öğüdü kulak arkası
etti. Daha havalimanındayken nefret dolu bir konuşma yaptı ve
göstericileri “yağmacı" ve “terörist" olarak niteledi. “Türkiye
aleyhine çalışanlar korkudan titreyeceklerdir!" dedi.
Erdoğan protestoların zirveye tırmandığı bir sırada bazı eylemcileri Ankara'ya davet etti, aralarında Akpınar da vardı. Başbakan görüşme boyunca dalgın görünüyordu, ta ki başörtülü bir
eylemci “Sayın Başbakan, neden bizden nefret ediyorsunuz?"
diye soruncaya kadar. Bu soru üzerine Erdoğan ayağa fırladı ve
haykırdı: “Sen neden kimliğini reddediyorsun?"
Ülke çapında yüzlerce gösterici tutuklandı, birçoğu uzun hapis
cezalarına çarptırıldı. Erdoğan, hükümetine karşı bir komplo kurulduğundan sözetti. Böylece ülkesini ikiye böldü; o günlerden
beri onu destekleyenler ve ona karşı olanlar daha da radikalleşti.
Ve üzerindeki baskı arttıkça sağa sola daha fazla saldırır hale
geldi. Yolsuzluk skandalında ve yeni bir Osmanlı İmparatorluğu
düşünün iflas etmesinde de aynı tutumu sergiledi.
2011'de yeniden seçildiğinde şöyle demişti: “Bugün İstanbul
kadar Saraybosna kazanmıştır, Ankara kadar Şam kazanmıştır."
Arap Baharı'nın ardından, Mısır'da iktidara gelen Müslüman Kardeşler'le bir Sünni ittifak kurabileceğini ummuştu. Ama Mısır'daki
askeri darbe bu planın önünü tıkadı. Türkiye'nin Esad rejimine
karşı mücadelelerinde destek verdiği Suriye muhaliflerinden yana
alınan tavır da pek olumlu sonuçlar doğurmadı. Suriye'deki iç
savaş Türkiye'nin de istikrarını giderek daha fazla tehdit etmeye
başladı.
Bir dönem Türkiye'nin yoğun bir işbirliği yaptığı İsrail'le de
FOTOS QUELLE: TWITTER
L
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Hunderttausende Menschen gingen im Juni 2013 in Istanbul
auf die Straße, um seinen Abriss zu verhindern. Doch schnell
wurde daraus ein Aufstand gegen die Regierung, denn die Polizei
schlug die Proteste brutal nieder, setzte Gasgranaten und Wasserwerfer ein. In diesen Tagen erhielt İpek Akpınar einen Anruf.
„Frau Professorin, was können wir tun?“, fragte eine Beraterin
des Premiers. „Wie bringen wir diese Leute zur Besinnung?“
Die Architektin Akpınar hatte die Proteste mitinitiiert, sie antwortete: „Erklären Sie dem Premier, er soll auf die Demonstranten zugehen.“ Erdoğan war da gerade auf Staatsbesuch in Nordafrika. Doch als er nach Istanbul zurückkehrte, ignorierte er den
Rat. Noch am Flughafen hielt er eine hasserfüllte Rede, in der er
die Demonstranten „Plünderer“ und „Terroristen“ nannte. „Wer
gegen die Türkei arbeitet“, rief er, „wird vor Angst zittern!“
Auf dem Höhepunkt der Proteste lud Erdoğan einige der Aktivisten nach Ankara ein, auch Akpınar war dabei. Im Gespräch
wirkte der Premier abwesend, bis eine junge Architektin mit
Kopftuch fragte: „Herr Premier, warum hassen Sie uns?“ Erdoğan
sprang auf und brüllte: „Warum verleugnest du deine Identität?“
Landesweit wurden Hunderte Demonstranten verhaftet, viele
zu langen Haftstrafen verurteilt. Erdoğan sprach von einer Verschwörung gegen seine Regierung. Er polarisierte damit sein Land;
seine Gegner und Unterstützer sind seitdem radikaler geworden.
Und je mehr Erdoğan unter Druck geriet, desto mehr schlug er
um sich. Das zeigte sich auch bei der Korruptionsaffäre und dem
Scheitern seines Traums von einem neuen Osmanischen Reich.
Bei seiner Wiederwahl im Juni 2011 hatte er gesagt: „Sarajevo
hat heute ebenso sehr gewonnen wie Istanbul, Damaskus ebenso
wie Ankara.“ Nach dem Arabischen Frühling hoffte der Premier,
mit den in Ägypten regierenden Muslimbrüdern eine sunnitische
Allianz bilden zu können. Doch der ägyptische Militärputsch
vereitelte den Plan. Auch das Engagement für die syrischen Rebellen, die die Türkei in ihrem Kampf gegen das Assad-Regime
unterstützte, brachte wenig Erfolg – der Bürgerkrieg destabilisiert
stattdessen zunehmend die Türkei selbst. Titel
Und mit Israel, einst enger Partner der Türkei, zerstritt sich
Erdoğan – und schürt seither den Antisemitismus seiner Wählerschaft. So trat er Ende Juli in seiner letzten Parlamentsrede als
Premier mit einem Palästinensertuch vor die Abgeordneten. In
einem Interview sagte er: „Das, was Israel den Palästinensern
antut, übertrifft die Verbrechen Hitlers an den Juden.“
kavgaya tutuştu Erdoğan ve o günden beri seçmenleri arasında
antisemitizmi körüklüyor. Temmuz sonunda başbakan olarak
mecliste yaptığı son konuşmada Filistin şalı vardı boynunda.
Şöyle dedi bir röportajda: “İsrail Filistinlilere karşı barbarlıkta,
Hitler'i geçti."
***
***
Erdoğan habire ekonomik gelişmelerden dem vuruyor, ama
Erdoğan beschwört den wirtschaftlichen Fortschritt, aber das Türklerin giderek büyüyen, hayatlarını bizzat belirme ihtiyacının
wachsende Bedürfnis vieler Türken nach einem selbstbestimmten farkına varmaya yanaşmıyor. Kendisine itiraz edilmesine tahamLeben will der Premier nicht wahrhaben. Widerspruch kann er mülü yok. Gezi direnişiyle birlikte de nihai olarak otoriter bir
nicht ertragen. Mit dem Gezi-Aufstand wurde Erdoğan endgültig hükümdara dönüştü. Ve bu hükümdar herşeyi denetlemek istiyor,
zum autoritären Patriarchen. Und dieser Patriarch möchte alles insanların özel hayatına varıncaya kadar.
Geçtiğimiz yıllarda kürtaj yasaları sertleştirildi. Alkol satışına
kontrollieren, bis ins Privatleben der Bürger hinein. Das Abtreibungsrecht wurde in den vergangenen Jahren ver- sınırlamalar getirildi, bira ya da şarap reklamı yapmak yasaklandı.
schärft. Der Ausschank von Alkohol wurde eingeschränkt, öffent- Ankara metrosunda öpüşmek yasak. Erkek ve kadın üniversite
liche Werbung für Bier oder Wein ist untersagt. In der U-Bahn in öğrencileri artık ayrı yurtlarda kalacak. Vekili Bülent Arınç geçen
Ankara ist das Küssen verboten. Männliche und weibliche Stu- hafta, kadınların herkesin içinde kahkaha atmasının iffetsizlik
denten sollen künftig nur noch in getrennten Wohnheimen leben. olduğunu söyleyecek kadar ileri gitti: “Nerede öyle yüzüne bakErdoğans Stellvertreter Bülent Arinç behauptete vergangene tığımız zaman yüzü hafifçe kızarabilecek, boynunu öne eğebileWoche sogar, weibliches Lachen in der Öffentlichkeit sei ein Las- cek kızlarımız?" Bunun üzerine Twitter'de Türk kadınları, kahter: „Wo sind unsere Mädchen, die ihren Kopf senken und die kaha atarken çektikleri fotoğrafları paylaştılar. Hashtag'ları şuydu:
Augen abwenden, wenn wir in ihre Gesichter schauen?“ Darauf- #direnkahkaha
Erdoğan artık sadece yurttaşları değil, kendi partisini de sıkı
hin posteten Türkinnen auf Twitter Bilder, die sie lachend zeigen –
denetime almış durumda. Her bir milletvekilini, her bir valiyi
unter dem Hashtag #direnkahkaha („Lachprotest“).
Aber nicht nur die Bürger, auch seine Partei kontrolliert Erdoğan kendisi belirliyor. Bütün yol arkadaşları yollarını ayırıyor ondan.
mittlerweile vollständig. Er bestimmt jeden Abgeordneten, jeden Ekonomi Bakanı Ali Babacan istifasının işaretlerini verdi, milletGouverneur. Etliche Weggefährten haben mit dem Premier gebro- vekilleri protesto ederek partiyi terketti. İşinin ehli danışmanlachen. Wirtschaftsminister Ali Babacan hat seinen Abschied ange- rının yerine sadık evet efendim'ciler aldı.
Halen cumhurbaşkanı olan Abdullah Gül bile siyasetten çekikündigt, Abgeordnete haben aus Protest die Fraktion verlassen.
Fähige Berater hat er durch loyale Jasager ersetzt. Selbst Noch- lebileceğini söylüyor. Ama AKP'nin çoğunluğu Erdoğan'ı destePräsident Abdullah Gül will sich womöglich aus der Politik zu- klemeye devam ediyor. Güçlü bir lider olmazsa partinin dağılarückziehen. Die Mehrheit der AKP unterstützt dennoch Erdoğan. cağından korkuyorlar.
Erdoğan şimdi de cumhurbaşkanı olmak istiyor ve seçileceğine
Sie fürchten, ohne eine Führungsfigur würde die Partei zerfallen.
Und nun will Erdoğan Präsident werden, und es gilt als sicher, kesin gözüyle bakılıyor. Muhalefet zayıf, bir zamanların etkili
dass er gewählt wird. Die Opposition ist geschwächt, die einst bir siyasal gücü olan Cumhuriyet Halk Partisi'nin etkisi ve deseinflussreiche Republikanische Volkspartei CHP hat kaum mehr tekçisi neredeyse kalmadı. Adayları Ekmeleddin İhsanoğlu, neEinfluss und Unterstützer. Ihr Kandidat Ekmeleddin İhsanoğlu redeyse kimsenin tanımadığı bir diplomat.
Türkiye Barolar Birliği Başkanı Metin Feyzioğlu, Erdoğan'ın
ist ein nahezu unbekannter Diplomat. Als Staatsoberhaupt werde Erdoğan auch die letzten Kontroll- cumhurbaşkanı olarak son denetim mekanizmalarını da felce
mechanismen lahmlegen, warnt der Präsident der türkischen An- uğratacağını söylüyor. “O zaman despotizminin hiçbir sınırı kalwaltskammer, Metin Feyzioğlu. „Seinem Despotismus sind dann mayacak."
Şimdilik Türkiye'de cumhurbaşkanının görevi büyük ölçüde
keine Grenzen mehr gesetzt.“ Bislang sind die Aufgaben des türkischen Präsidenten weitgehend auf Zeremonielles beschränkt. temsili. Ama Erdoğan, cumhurbaşkanının yetkilerini artırmayı
Doch Erdoğan plant, seine Befugnisse auszuweiten. Und ist er planlıyor. Ve cumhurbaşkanı olduğunda, yeni yasaları veto edeerst Präsident, gibt es auch keinen mehr, der sein Veto gegen bilecek kimse de kalmayacak. Feyzioğlu, Erdoğan'ın cumhurneue Gesetze einlegen könnte. Als Präsident sei Erdoğan nie- başkanı olarak kimseye hesap vermek zorunda olmayacağını söymandem mehr Rechenschaft schuldig, sagt Feyzioğlu. Sein Nach- lüyor. Başbakan olarak yerine geçecek kişinin de olsa olsa bir
folger im Amt des Premiers werde bestenfalls eine Marionette kukla olacağını.
Erdoğan'ın aşırı keyfiliğini defalarca sınırlamış olan Anayasa
sein. Das Verfassungsgericht, das Erdoğan immer wieder allzu
große Eigenmächtigkeit untersagte, dürfte als Korrektiv künftig Mahkemesi, gelecekte düzeltici bir güç olma özelliğini kaybedebilir. Çünkü hakimleri cumhurbaşkanı atıyor.
ausfallen. Denn der Präsident ernennt die Richter. Bu yüzden İstanbullu hukuk profesörü Bertan Tokuzlu 10
Für den Istanbuler Rechtsprofessor Bertan Tokuzlu ist die Abstimmung am 10. August daher die „wichtigste Wahl in der jün- Ağustos seçimini “Türkiye'nin yakın tarihindeki en önemli seçim"
geren Geschichte der Türkei“. Sollte Erdoğan zum Präsidenten olarak görüyor. Erdoğan'ın cumhurbaşkanı seçilmesi halinde geri
gekürt werden, gebe es kein Zurück mehr. „Dann baut er das dönüşün mümkün olmadığını söylüyor. “O zaman Türkiye'yi tek
adam devleti haline getirecektir."
Land endgültig in einen Ein-Mann-Staat um.“
Erdoğan da kendisi için planladığı iktidar tarzını gizlemeye
Erdoğan selbst macht keinen Hehl daraus, wie er künftig
regieren will. In einem Fernsehinterview kündigte er Ende Juli gerek duymuyor. Televizyonda Temmuz sonunda yapılan bir röan, ein Präsidialsystem einführen zu wollen, als Vorbilder nannte portajda, başkanlık sistemini getirmeyi amaçladığını söyledi, örer China und Russland. Die Regierungsgeschäfte, so Erdoğan, nek olarak da Çin ve Rusya'yı verdi. Hükümetin icraatlarının
“bürokratik oligarşi" tarafından engellendiğini
würden durch „Oligarchen in der Bürokratie“
Video: Zu Besuch
savundu, “yolumuza engeller konuyor", dedi.
behindert, „unser Weg wird durch Hürden
bei Erdoğans Friseur
Erdoğan devletinde artık hiçbir engel kalmayaunterbrochen“. Im Erdoğan-Staat soll es keine
Hürden mehr geben. Hasnain Kazim, Maximilian Popp
spiegel.de/app322014erdogan cak.
Hasnain Kazim, Maximilian Popp
oder in der App DER SPIEGEL
Übersetzung/Çeviri: Recai Hallaç, Melek Korkmaz
DER SPIEGEL 32 / 2014
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Titel
Für ihn oder gegen ihn
Ya ondan yana, ya da ona karşı
Deutschtürken Der Hannoveraner
Ilhami Oğuz verehrt Premierminister
Erdoğan, Alp Kale in CastropRauxel bekämpft ihn. Eine Reise durch
den sechstgrößten türkischen
Wahlbezirk – die Bundesrepublik
W
enn der türkische Staatsgründer Atatürk noch lebte,
würde er eine Gasmaske tragen und mit ihnen demonstrieren, am Taksim-Platz in Istanbul. Er würde sie anführen in ihrem Kampf gegen Premier Erdoğan. Alp Kale ist sich
sicher. Er zeigt auf sein weißes T-Shirt. Den Aufdruck hat er
selbst gezeichnet: Atatürk mit Gasmaske, darunter kleine Figuren,
für Kale symbolisieren sie seine ideale pluralistische Türkei.
Alp Kale ist 31, Grafikdesigner, geboren im Evangelischen
Krankenhaus in Castrop-Rauxel, im Herzen des Ruhrpotts, er
sitzt auf einem Metallstuhl auf der Terrasse seines besten Freundes und erzählt seit Stunden von „seiner Türkei“.
Seit den Protesten um den Gezi-Park im vergangenen Jahr
versucht er zu verstehen, was los ist in dem Land, das seine
Eltern vor mehr als 30 Jahren verließen, das sie bis heute Heimat
nennen, in dem er jeden Sommer verbracht hat seit seiner Kindheit. Er und sein bester Freund Fikret erzählen Geschichten aus
den Heimatdörfern ihrer Eltern. Sie wollen damit erklären, wie
Recep Tayyip Erdoğan an die Macht kommen konnte. Sie reden
von systematischem Wahlbetrug, staatlichen Subventionen für
den Stimmenfang, armen Bauern, die mit Goldtalern und Reissäcken an die Urne gelockt wurden, damit sie ihr Kreuz
für Erdoğan machten.
Seit den Protesten von Istanbul macht sich Alp Kale Sorgen. Er will keinen Premier, dessen einzige Errungenschaft
wirtschaftliches Wachstum ist. Er findet, ein Mann dürfe
nicht so viel Macht haben. Er findet es erschreckend, dass ein
Premierminister bestimmen will, ob seine Bürger Raki trinken,
wie viele Kinder sie kriegen oder ob sie sich tätowieren lassen.
„Für mich ist Erdoğan ein Diktator in Ausbildung“, sagt er. Zu
absolut, zu totalitär dieser Regierungsstil. Zu einheitlich diese
Türkei von Erdoğan, die Alp Kale immer fremder wird.
Am Wochenende durften türkische Staatsbürger zum ersten
Mal im Ausland ihren Präsidenten wählen – 3 Millionen Menschen türkischer Herkunft leben in Deutschland, 1,4 Millionen
von ihnen sind wahlberechtigt. Damit wäre die Bundesrepublik
der sechstgrößte Wahlbezirk der Türkei. Es sind die Kinder und
Enkel der Gastarbeiter, junge Menschen wie Alp Kale, die in
Deutschland geboren und aufgewachsen sind. Es sind aber auch
über 60-Jährige, die das erste Mal in ihrem Leben überhaupt ein
Kreuz bei einer Wahl setzen.
Alp Kale will die Türkei von Erdoğan befreien. Der Zeitungsmacher Ilhami Oğuz in Hannover dagegen bewundert ihn, kann seine
Erfolge aufzählen und wünscht sich ihn noch lange an der Macht.
Und in Berlin freut sich der Anwalt Ekrem Özdemir, örtlicher Vorsitzender der größten türkischen Oppositionspartei CHP, dass seine
Landsleute endlich wählen dürfen. Auch er will nicht, dass Erdoğan
die Wahl gewinnt – selbst wenn es aussichtslos scheint.
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Almanyalı Türkler Hannoverli İlhami
Oğuz Başbakan´a hayranlıkla bağlı iken,
Castrop-Rauxel´de yaşayan Alp Kale ona
karşı mücadele ediyor. Türklerin altıncı
büyük seçim bölgesinden, Almanya Federal
Cumhuriyeti´nden, izlenimler.
A
tatürk bugün yaşıyor olsaydı eğer, mutlaka gaz maskesini
takar, göstericilerle birlikte İstanbul´da, Taksim
Meydanı´nda olurdu. Başbakan Erdoğan´a karşı sürdükleri
mücadelelerinde öncülük ederdi. Alp Kale´nin hiç şüphesi yok.
Kendi tasarımı olan beyaz tişörtünün baskısını gösteriyor. Gaz
maskeli bir Atatürk resminin altında, Kale´nin idealindeki çok
sesli ve çok renkli Türkiye´yi simgeleyen küçük figürler yer alıyor.
Grafik tasarım eğitimi alan 31 yaşındaki Alp Kale CastropRauxel Protestan Hastanesi´nde, Ruhr bölgesinin merkezinde
dünyaya gelmiş. En yakın arkadaşının terasında oturuyor ve saatlerdir “benim Türkiye´m” olarak tanımladığı idealini paylaşıyor.
Anne ve babasının 30 yıl önce ayrılmış olmalarına rağmen vatanları olarak gördüğü, çocukluğundan bu yana her yıl yaz tatilini
geçirdiği ülkede geçtiğimiz yıl başlayan Gezi olaylarından bu
yana, olup bitenleri anlamaya çalışıyor. En yakın arkadaşı
Fikret´le birlikte ailelerinin geride bıraktıkları köylerinden hikayelerle Recep Tayyip Erdoğan´ın hükümete nasıl geldiğini açıklamaya çalışıyorlar. Sandıklardaki sistematik usulsüzlüklerden,
oy kazanmak için devlet ödeneklerinin istismar edilmesinden,
Erdoğan için oy kullansınlar diye altınlar ve çuvallar dolusu pirinç
ile sandık başına çekilen yoksul köylülerden söz ediyorlar.
İstanbul´daki gösterilerden bu yana Alp Kale kaygılı. Tek
kazanımı ekonomik büyüme olan bir başbakan istemiyor.
Ayrıca bu denli geniş yetkilerin tek kişide olmasini sakıncalı
buluyor. Vatandaşın rakı içip içmeyeceğine, sahip olacağı
çocuk sayısına, hatta dövme yaptırıp yaptırmayacağına karişmasını dehşet verici buluyor. “Erdoğan´ın diktatörlükte çıraklık döneminde“ olduğunu düşünen Alp Kale iktidar tarzını fazlasıyla
mutlakiyetçi ve totaliter buluyor. Onun yaratmaya çalıştığı tek
tip ülke Alp Kale´ye gittikçe yabancılaşıyor.
Yurt dışında Türk vatandaşları Haftasonu cumhurbaşkanlığı
seçimlerinde ilk defa sandık başına giderek oy kullandılar. Almanya´da yaşayan üç milyon Türk kökenli içinde yaklaşık 1,4
milyon seçmen bulunuyor. Almanya Federal Cumhuriyeti bu
özelliği ile Türkiye´nin altıncı büyük seçim bölgesi. Seçmen kitlesini oluşturan konuk işçilerin çocukları ve torunları, yani Alp
Kale gibi Almanya´da doğup yetişen gençlerin yanında, hayatlarında ilk defa oy kullanan 60 yaş üstü seçmenler de var.
Alp Kale Türkiye´yi Erdoğan´dan kurtarmayı hedefliyor. Hannoverli gazete sahibi İlhami Oğuz ise aynı Erdoğan´a büyük bir
hayranlık besliyor, başarılarını uzun uzun anlatıyor ve daha yıllarca iktidarda kalmasını diliyor. Ana muhalefet partisi CHP´nin
Berlin başkanı avukat Ekrem Özdemir öncelikle, yurttaşlarının
nihayet seçim hakkından istifade edecekleri için mutlu.Erdoğan´ın
kazanmasını o da istemiyor, fakat imkansız olduğunu da biliyor.
Erdoğan Almanyalı Türkleri´de ayırmış durumda. Ya ondan
yanalar, ya da ona karşı. Başka bir seçenek yok. Aynı durum, Al-
man pasaportu taşıdıkları için seçim hakkı olmayanlar için bile
geçerli. Mayıs ayında Köln´de 18.000 hayranı ile bir araya geldiğinde bir kesim onu coşkuyla karşılamak için toplanırken, diğer
kesim ellerinde Erdoğan´ın resminin yer aldığı “Savaş Suçlusu
Aranıyor” yazılı pankartlarla Berlin, Frankfurt ve Hamburg gibi
metropollerde gösteriler düzenlemişti.
Almanya´da yaşayan Türkiye kökenliler, Türkiye gibi heterojen
bir toplum. Türklerin yanında, Ermeniler ve Kürtler. Aralarında
Hıristiyanlar, Aleviler ve Sünniler var. 1980´li yıllardaki askerî
darbe veya 1990´lu yıllardaki Kürt sorunu bağlantılı çatışma ve
siyasi gerilim ortamlarından kaçanlar da var. Yine de çoğunluğu,
1960´lı yıllarda ülkeye göç eden birinci kuşak işçiler, onların burada yetişen çocukları ve torunları oluşturuyor.
Aralarında Anadolu´daki köylerini toplu olarak geride bırakıp
madenci lojmanlarına yerleşenlerde var. Erdoğan ön planda tuttuğu milliyetçi-islamî vurgusuyla öncelikli olarak onlarin beğenisini kazanıyor. Fakat destekleyicileri sadece eğitimsizlerden
oluşmuyor: İkinci ve üçüncü kuşağa ait, diploma, meslek veya
kariyer sahibi olanların arasında da Erdoğan´ı savunanlar var.
Peki Türkiye´deki seçim sürecinin, onlarca yıldır bu ülkede
yaşayan, hatta bu ülkede dünyaya gelen insanları, Almanya genel
seçimlerinden daha fazla heyecanlandırması nasıl açıklanabilir?
Seçmen kütüğünde kaydını yaptıran Alp Kale de oy kullandı,
kendisi gibi Erdoğan´a karşı olan anne ve babası da. Fakat Alp
Kale´nin gerekçeleri daha farklı, daha kişisel, daha Alman. Onun
gerekçeleri Ankara´dan çok Castrop-Rauxel ile bağlantılı.
Komşuları, yani kendi deyimiyle “organik Almanlar” sorumlu.
Geçmişte sürekli, “Neler oluyor sizin oralarda?”, “Kadınlarınızı
neden döversiniz siz?”, “Sizde namus cinayeti neden işlenir?“
gibi sorulara muhatap olmuş. Kale´ye yıllardır Türkiye´nin diplomatik temsilcisiymiş gibi bakmışlar. Ve Alp en sonunda, zaten
herkesin onda gördüğü kimliğe bürünmüş ve Türk olmuş.
Ergenlik çağını kendi deyimiyle “maganda Türk“ olarak geçirmiş. Türkçe rap dinlemiş, boynuna milliyetçi zincirler takmış,
oruç tutmuş.
L
Die Frage, wie man zu Erdoğan steht, spaltet die Türken in
Deutschland. Man ist für ihn oder gegen ihn, dazwischen gibt es
nichts, und das gilt auch für jene, die nicht wählen können, weil
sie den deutschen Pass angenommen haben. Die einen standen
jubelnd in der Menge, als Erdoğan Ende Mai vor 18 000 Fans in
Köln sprach. Die anderen hielten bei den Demonstrationen in
Berlin, Frankfurt und Hamburg Plakate hoch, auf denen stand:
„Kriegsverbrecher gesucht“, darüber das Bild Erdoğans.
Wie die Türkei selbst ist die türkische Community in Deutschland sehr heterogen, sie besteht aus Türken, Armeniern und Kurden, sie sind Christen, Aleviten und Sunniten. Einige sind den
politischen Auseinandersetzungen der vergangenen Jahrzehnte
entflohen, dem Militärputsch in den Achtzigern, dem Kurdenkonflikt in den Neunzigern. Doch die meisten entstammen der
ersten Gastarbeitergeneration der Sechzigerjahre.
Zu ihnen gehören die anatolischen Bauern, die in Dorfverbänden in die Zechensiedlungen von Nordrhein-Westfalen zogen – sie sind es, die Erdoğan mit seiner nationalislamischen
Agenda vor allem anspricht. Aber es sind nicht nur die Ungebildeten: Erdoğan hat auch Fans in der zweiten und dritten Generation, bei Leuten mit Schulabschluss, Ausbildungsplatz oder Job.
Wie kommt es, dass der Wahlkampf in der Türkei viele Menschen, die hier seit Jahrzehnten leben oder gar in Deutschland
geboren sind, mehr bewegt als die Bundestagswahl?
Alp Kale hat sich registriert, auch er hat gewählt, genau wie
seine Eltern, auch sie sind gegen Erdoğan. Doch seine Gründe
für die Ablehnung sind egoistischer, deutscher als ihre. Sie haben
mehr mit Castrop-Rauxel zu tun als mit Ankara.
Es sind die Nachbarn und die „Biodeutschen“, wie er sie nennt,
die ihn immer fragen: Was ist da eigentlich los bei euch? Warum
schlagt ihr eure Frauen? Warum gibt es bei euch Ehrenmorde?
Die ihn jahrelang als diplomatische Vertretung der Türkei betrachteten. Bis Alp wurde, was alle in ihm sahen, ein Türke.
Alp Kale sagt, dass er in der Pubertät ein „Prolltürke“ war,
der türkischen Rap hörte, nationalistische Anhänger trug,
L
FOTO: SASCHA SCHUERMANN / GETTY IMAGES
Erdoğan-Anhänger bei dessen Auftritt in der Kölner Lanxess-Arena im Mai: Auch Fans in der zweiten und dritten Generation
Köln Lanxess Arena´da Mayis ayında Erdoğan taraftarları: İkinci ve üçüncü kuşaktan da destekleyenler var
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Zeitungsmacher Oğuz in Hannover, Grafikdesigner Kale in Castrop-Rauxel: „Haben die Leute keine Ahnung von Politik?“
Hannoverli gazete sahibi Oğuz, Castrop-Rauxel´den Grafik tasarımcısı Kale: “Siyasetten anlamaz mı bunlar?”
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Çocukluk kahramanı Atatürk. Annesi ve babası CastropRauxel´e yerleştiklerinde, yanlarında getirdikleri posterde Atatürk de onlara eşlik etmişti. Erkekler maden ocaklarına iner, ama
salonda asılı duran portredeki Atatürk hep orada kalır ve gözlerini Alp´in üzerinden ayırmazdı. İdolünün her dönem kahraman
olmadığını Alp bugün biliyor. Fakat çocukluk yıllarında Atatürk
onun için kimlik demekti. Anadolu´yu Batı ile kavuşturan, anne
ve babasının Almanya yolunu açan, gurur duyabileceği bir isim.
Alman Deniz Kuvvetlerinde görev yapan Alp´e herkes “Kale”
dermiş. Fakat Alman üniformasına rağmen Stralsund´da bir diskoteğin kapısından geri çevrilmiş. Alman Milli Takımı Dünya
Kupası´nda finale kaldığında bir türlü heyecan duyamamış. Kendisini hiç bir zaman Alman gibi hissetmemiş. Ama öte yandan
ailesinin vatanı ile de özdeşlik kuramamış. Almanya´da dünyaya
gelen, kendisini “Ruhr Türkü” olarak tanımlayan Alp.
Geçen yaz nihayet ona ait duygusu verebilecek mekânı keşfetti.
İstanbul´da Gezi olayları patlak verdiğinde televizyonda yaşıtı
olan Türkler gördü. Aralarında sağcısı da vardı, solcusu da, Müslümanlar da, travestiler de. Hep birlikte Erdoğan´a karşı mücadele
ediyorlardı. Alp Kale “Ben de Gezi´yim” diyor. Bir Ruhr Türkü
olarak, hiç görmediği parktan daha fazla ait hissedebileceği başka
bir yer yoktu. Vatanını bulduğunu hissetti. Gerici ve kültürsüz
değildi artık Türkler. TOMAların üstüne lâle atan, biber gazına
karşı tango yapanlar vardı ekranlarda.
Ama Alp´in sonunda kavuştuğunu düşündüğü ideal vatanı
Başbakan Erdoğan tahliye ettirmiş, terör yuvası olarak nitelendirmiş, eylemcilerini de hapse attırmıştı. Olayların patlak vermesinden bugüne kadar Alp Kale´nın gündeminde artık her gün Erdoğan var. Almanya´da ona karşı gösteriler düzenliyor. Onlara
göre karşılarında, gözünü iktidar hırsı bürümüş, yurt dışı Türklerine seçim hakkını sırf kendisine oy vermeleri için sağlayan bir
diktatör var.
Alp Kale´nin anne ve babası Almanya´ya göç ettiklerinde en
önemli temel haklarından biri olan seçim haklarını Türkiye´de
bir birakmışlardı. Almanya´ya yerleştikten sonra da misafirldu-
FOTO: STEFAN THOMAS KROEGER (L.)
L
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fastete und zum türkischen Militär wollte. Der seine Freundin
einen Monat lang nicht küsste, weil das anständige Türken so
machten. Alp trägt viele Widersprüche in sich, heute wie damals.
Der Held seiner Kindheit war Atatürk. Atatürk war damals
auf einem Poster mit seinen Eltern nach Castrop-Rauxel gekommen, einer Zechenstadt bei Recklinghausen. Die Männer gingen
unter Tage, Atatürk blieb im Wohnzimmer und wachte über Alp.
Heute weiß Alp, dass der Staatsgründer nicht immer ein Held
war, aber als Kind bedeutete Atatürk für ihn Identität. Einer, der
den Westen nach Anatolien gebracht und den Weg seiner Eltern
nach Deutschland geebnet hatte. Auf ihn konnte er stolz sein.
Alp, der zur deutschen Marine ging und nur noch Kale hieß,
weil es klingt wie Kalle, und trotzdem in der deutschen Uniform
an der Klubtür in Stralsund scheiterte. Dessen Herz bis heute
nicht richtig klopfen will, wenn die deutsche Nationalelf im Finale
der Weltmeisterschaft steht. Der Alp, der sich nie deutsch fühlte,
sich aber auch nicht mehr mit der Heimat seiner Eltern identifiziert, wo keiner verstand, dass Bier nur mit Schaum schmeckt.
Der in Deutschland geboren ist und von sich selbst sagt: „Ich bin
Ruhrpott-Türke.“
Erst im vergangenen Sommer fühlte sich Alp Kale zum ersten
Mal angekommen. Als in Istanbul der Gezi-Protest losging, sah
er im Fernsehen Türken in seinem Alter. Es waren Rechte und
Linke, Muslime und Transvestiten, die gemeinsam kämpften, gegen Erdoğan. Alp Kale sagt: „Auch ich bin Gezi.“ Er selbst war
nie da, aber mit keinem Ort identifiziert er sich so sehr wie mit
diesen wenigen Quadratmetern Park in der Ferne. Er hatte ein
Gefühl der absoluten Heimat. Endlich waren die Türken nicht
mehr rückständig und unkultiviert. Sie warfen Tulpen auf Wasserwerfer, tanzten Tango gegen Pfeffergas.
Für Alp war es seine ideale Heimat. Doch Premier Erdoğan
ließ sie räumen, bezeichnete sie als Hort von Terroristen und
ließ die Demonstranten hinter Gitter sperren. Seit jener Zeit
redet Alp Kale fast täglich mit seinen Freunden über diesen
machtbesessenen Politiker. Seitdem veranstalten sie Demonstra-
Titel
klarından, onlarca yıl hiç bir Alman partisi kendileriyle ilgilenmemişti – tıpkı Türkiye´deki partiler gibi. Unutulmuşlardı.
Alp 13 yaşına geldiğinde Türkiye´de anayasa değişikliğine gidilerek, yurt dışı Türklerinin artık göz önünde bulundurulması
öngörülmüştü. Yine de siyasetçiler uygulanmasını umursamadı.
Genel seçmen sayısının yüzde 5´ini oluşturan, bu oy potansiyelini
ilk defa Erdoğan keşfetti. Yurt dışı Türklerinin büyük bir çoğunluğunun kendisine oy vereceğinin bilincindeydi.
Alp Kale gibi düşünen Türklerin keyfini kaçırsa da, Erdoğan
taraflarlarının çoğunlukta olduklarını onlar da kabul ediyor. Bu
hem Türkiye, hem Almanya için geçerli.
Alp Kale´den 190 kilometre kadar uzakta, Hannover´de İlhami
Oğuz ise, Kale gibilerine anlamıyor. “Bu insanları anlamakta güçlük çekiyorum” diyor ve devam ediyor, “Hiç mi siyasetten anlamazlar? Diktatörün ne olduğunu bilmez mi bunlar?“ Türkçe
yayınlanan bir derginin sahibi.
“Adolf Hitler bir diktatördü. Saddam Hüseyin de. Ama eğer
Tayyip için öyle diyorlarsa bunu ciddiye almak mümkün değil!“
diyor ve devam ediyor “Çılgınlıktır bu“. Eğer halk oyların çoğunluğu ile bir politikacıyı seçmişse Oğuz´a göre bunun adı diktatörlük değil, demokrasidir. İlhami Oğuz Erdoğan´ın başarılarını ispatlamak için bir takım yazıların çıktılarını hazırlamış. İşsizlik rakamları, ihracat hacminin gelişimi ve enflasyonun azalmasına
ilişkin olan yazılarda önemli bulduğu bölümleri fosforlu kalemle
işaretlemiş. Elindeki bir sayfayı havada sallarken sözlerine devam
ediyor: “Bunları kimse yok sayamaz.”
Aslen konstrüksiyon Teknikeri olan Oğuz yıllarca VW´de çalıştıktan sonra kendi reklam ajansını kurmuş ve daha sonra ücretsiz dağıtılan “İmaj” isimli bir dergi yayınlamaya başlamış. Genel
yayın yönetmenliğini yapıyor. Ayda bir kez yayınlanan dergide
yerel futbol kulübü “SV Melle Türkspor”un yükselme şansı, camilere uygulanan polis kontrolleri gibi yerel haberlerin yanında,
Almanya´da ilk defa gerçekleşecek olan Türkiye Cumhurbaşkanlığı seçimleri için kayıt işlemleri gibi bilgilendirici bölümler de
var. Özellikle ileri yaştakiler için zor bir prosedür. Sanal ortamda
seçmen kütüğüne kaydını yaptıran her seçmene bir randevu veriliyor. Seçmen, Almanya´daki yedi seçim noktalarından birinde
oyunu kullanmak için dört saatlik bir süreye sahip.
41 yaşındaki İlhami Oguz kendi gazetesinin yanında oluşturduğu kişisel bloğunda da yazılar yayınlıyor. Örneğin hacca gittiğinde çektirdiği fotoğraflarının yanında Erdoğan´la çekilmiş bir
1,4
Millionen
der in Deutschland lebenden
türkischen Staatsbürger sind
wahlberechtigt. Somit wäre
Deutschland der sechstgrößte
Wahlbezirk der Türkei. Quelle: ZfTI
1,4 milyon: Almanya´da yaşayıp,
seçme hakkına sahip Türk
vatandaşları. Böylece Almanya,
Türkiye´nin altıncı büyük seçim
bölgesi konumunda.
resim de var. Facebook´ta “Lider Recep Tayyip Erdoğan“ gibi
sayfaları takip ediyor. Cumhurbaşkanı Abdullah Gül´ün bir yarış
arabasında çekilmiş resimlerini yayınlıyor. İlhami Oğuz Cumhurbaşkanı´nın özel kalemine yazılı olarak başvurarak, kendisine
imzalı bir resim gönderilmesini bile rica etmiş. Gül´ün personeli
tarafından gönderilen portrenin ise “ne yazık kı imzasız” olduğunu sözlerine ekliyor. Yine de çerçeveletmiş ve ofisine asmış.
İlhami Oğuz´a göre Erdoğan barışın önemli bir aktörü, „Türkiye´nin Nelson Mandela´sı“. Ekonomideki başarısından ötürü
Erdoğan´a hayranlıkla bakıyor. “Tayyip başa geldiğinden beri
Türkiye bugün, on yıl öncesine göre çok daha iyi bir konumda“
diyor. Almanyalı Türklerin büyük çoğunluğunun Erdoğan´a oy
vereceğine kesin bakiyor. “Burada yaşayanların çoğu muhafazakâr eğilimlidir“ diyen Oğuz çifte vatandaş olduğunu, Almanya
dahil asla oy kullanmayı ihmal etmediğini, burada genelde Yeşiller´e veya sosyal demokrat SPD´ye oy verdiğini belirtiyor.
Hannover doğumlu dört çocuk babası İlhami Oğuz çocuklarıyla
evde sadece Türkçe konuştuğunu söylüyor. “Her iki dili iyi derecede öğrenmelerini önemsiyorum“ diyor.
L
L
tionen gegen Erdoğan in Deutschland, suchen akribisch seine
Fehler. Sie sehen in ihm einen Mann, der immer nur nach Macht
lechzt, auch in der Ferne. Der den Auslandstürken nur das Wahlrecht gewährt, um noch mehr Stimmen zu erhalten.
Beim Umzug nach Deutschland hatten Alp Kales Eltern damals
eines ihrer Grundrechte in der Türkei geparkt, das Recht zu wählen. In Deutschland waren sie Gäste, für die sich in den ersten
Jahrzehnten keine deutsche Partei interessierte – und die Parteien
in der Türkei auch nicht. Sie waren die Vergessenen.
Als Alp 13 Jahre alt war, änderte sich in der Türkei die Verfassung, die Auslandstürken sollten in Zukunft berücksichtigt werden, kaum ein Politiker kümmerte sich darum, es umzusetzen.
Erst Erdoğan erkannte das Potenzial dieser Stimmen – sie machen
insgesamt fünf Prozent der Wahlberechtigten aus. Er wusste,
dass viele Auslandstürken zu seinen Wählern zählen würden.
Auch wenn es Türken wie Alp Kale die Laune verdirbt, müssen
sie anerkennen, dass die Erdoğan-Anhänger in der Mehrheit
sind – nicht nur in der Türkei, auch in Deutschland.
190 Kilometer nordöstlich von Alp Kale, in Hannover, sitzt Ilhami Oğuz an seinem Schreibtisch und ärgert sich über Leute
wie Kale. „Ich verstehe diese Menschen nicht“, sagt er. „Haben
die keine Ahnung von Politik? Wissen die nicht, was ein Diktator
ist?“ Der türkische Zeitungsmacher runzelt die Stirn. Oğuz trägt
Jeans und Hemd, die kinnlangen Haare hat er sich hinter das
Ohr gestrichen.
Es ist kurz nach halb vier, fast 30 Grad zeigt das Thermometer
an diesem Nachmittag, es dauert noch Stunden, bis er etwas
essen oder trinken darf. Als gläubiger Muslim fastet Oğuz während des Ramadan. „Adolf Hitler war ein Diktator. Saddam Hussein auch. Aber Tayyip! Ernsthaft?“, fragt er. „Das ist doch verrückt.“ Wenn ein Politiker von der Mehrheit seines Volkes gewählt werde, dann nenne man das Demokratie, nicht Diktatur.
Ilhami Oğuz blättert durch seine Unterlagen. Er hat Informationsmaterial ausgedruckt, um Erdoğans Erfolge zu belegen. Zahlen zur Arbeitslosigkeit, zur Exportentwicklung und zur Inflation.
Mit grünem Textmarker hat er die wichtigen Stellen angestrichen.
Er schwenkt ein Blatt Papier in der Luft. „Das lässt sich doch
alles nicht einfach so wegreden.“
Der gelernte Konstruktionstechniker war jahrelang bei VW,
bis er sich mit einer Werbeagentur selbstständig machte und mit
Freunden die türkische Gratiszeitung Imaj gründete, heute ist er
ihr Chefredakteur. Sie erscheint monatlich und berichtet über
die Aufstiegschancen des Fußballvereins SV Melle Türkspor, über
Polizeikontrollen in niedersächsischen Moscheen oder darüber,
wie man sich für die erste türkische Präsidentschaftswahl auf
deutschem Boden anmelden kann. Das war kompliziert, vor allem für Ältere. Sie mussten sich per Internet im Wählerverzeichnis eintragen, jeder bekam einen Termin zugewiesen und hatte
vier Stunden, um in einem der deutschlandweit sieben Standorte
zu wählen.
Ilhami Oğuz, 41, betreibt neben seiner Zeitung ein eigenes
Blog, darin hat er nicht nur Fotos seiner Pilgerfahrt nach Mekka
veröffentlicht, sondern auch ein Foto von sich und Erdoğan. Bei
Facebook ist er Fan von Seiten wie „Lider Recep Tayyip Erdoğan“. Er postet Bilder des türkischen Staatspräsidenten Abdullah Gül im Rennwagen. Den findet Ilhami Oğuz so gut, dass
er ihm geschrieben hat, um nach einem Foto mit persönlicher
Signatur zu fragen. Güls Mitarbeiter haben ein Porträt geschickt,
„leider ohne Unterschrift“, sagt Oğuz. Er hat es rahmen lassen
und in sein Büro gehängt.
Für Ilhami Oğuz ist Erdoğan „eine Art Nelson Mandela der
Türkei“, eine Friedensfigur. Er habe zum Beispiel endlich den
Kurdenkonflikt in den Griff bekommen. Er bewundert Erdoğan
auch für dessen Wirtschaftspolitik. „Seitdem Tayyip das Sagen
hat, geht es der Türkei viel besser als noch vor zehn Jahren“,
sagt er. Er rechnet fest damit, dass die Mehrheit der in Deutschland lebenden Türken für Erdoğan ist. „Viele hier sind eher
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Oppositionspolitiker Özdemir vor dem Berliner Olympiastadion: „Ausweg aus der modernen Sklaverei“
Ana muhalafet politikacısı Özdemir Berlin Olimpiyat Stadı´nın önünde: “çağdaş kölelikten çıkış yolu”
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DER SPIEGEL 32 / 2014
FOTO: AMIN AKHTAR
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Oğuz´un eşi ve iki kızı tesettürlü. Kızlarından birinin bu
konservativ“, sagt er. Oğuz hat die doppelte Staatsbürgerschaft. Eine Wahl würde er niemals verpassen. Auch keine deut- yaz diş hekimi yardımcısı olarak meslek eğitimi yapıcağına seviniyor. Başörtülü kadınların Almanya´daki günlük yaşamları hâla
sche. Oğuz wählt die Grünen oder die SPD.
Ilhami Oğuz ist in Hannover geboren. Mit seinen vier Kindern kolay değil. Türkiye´de dahi başörtülü kadınlar kısa süre öncesine
spricht er nur Türkisch. „Mir ist es wichtig, dass sie beide Spra- kadar hissedilir dezavantajlarla karşı karşıya kalıyordu. “Başörtülü kadınların geniş özgürlüklere kavuşmuş olmaları güzel tabii“
chen richtig lernen“, sagt er.
Oğuz’ Frau trägt Kopftuch, genauso wie die beiden Töchter. diyor Oğuz. “Türkiye´nin modernleştiğinin bir göstergesidir bu.“
1960´lı yıllarda göç eden ailesi, Hannover´e yerleşmiş, baba
Eine seiner Töchter hat in diesem Sommer endlich einen Ausbildungsplatz als Zahnarzthelferin gefunden. Für Frauen, die Kopf- burada tramvay şoförü olarak çalışmış. Artık Türkiye´ye kesin
tuch tragen, ist das in Deutschland nach wie vor nicht einfach. dönüş yapan anne ve baba tatil için Almanya´ya geliyor.
Oğuz, ne zaman Türkiye´de birkaç hafta geçirse Almanya´yı
Selbst in der Türkei hatten Kopftuchträgerinnen lange Zeit deutliche Nachteile. „Es ist schön, dass Frauen, die Kopftücher tragen, özlediğini de sözlerine ekliyor. Çocukluğunun geçtiği, eğitimini
endlich mehr Freiheiten haben“, sagt Oğuz. „Das ist ein Zeichen gördüğü şehirde yaşıyor. Geçmişte Kur´an kursu için gittiği Millî
Görüş Camisi´ne artık Cuma namazına gidiyor.
dafür, dass die Türkei immer demokratischer wird.“
Sert bir dille eleştirdiği Gezi eylemcileri için “Demokrasinin
Seine Eltern kommen aus der Nähe der türkischen Hauptstadt
Ankara. In den Sechzigerjahren kamen sie nach Hannover, wo der ne olduğunu kavrayamayanlardır bunlar“ diyor. “Sokaklara çıVater als Straßenbahnfahrer arbeitete. Mittlerweile sind sie in die karak halkın seçtiği bir siyasiyi devirebileceklerini zannediyorlar.“
Türkei zurückgekehrt und verbringen ihren Urlaub in Deutschland. Oğuz, Erdoğan´ın eleştirilebileceğini, ama herşeyin bir sınırının
Oğuz sagt, er fühle sich in Hannover zu Hause. Wenn er ein olduğunu, Erdoğan´ın Köln ziyaretinde ise bu sınırın aşıldığını
paar Wochen lang in der Türkei sei, bekomme er jedes Mal Sehn- savunuyor. “Alman medyasının yaklaşımı bizde büyük bir hayal
sucht nach Deutschland. Hier ist er aufgewachsen und zur Schule kırıklığına yol açmıştır“ diyor.
Kendi başbakanının burada istenmediği duygusuna kapıldığını
gegangen. Er hat in der Milli-Görüş-Moschee in der Nähe des
Hauptbahnhofs den Koranunterricht besucht – und dorthin geht da ekliyor. Erdoğan´ın Köln´deki konuşması seçim konuşmasıydı,
resmi olmasada. Türk yasaları yurt dışında seçim çalışmalarına
er auch noch heute zum Freitagsgebet.
Die Gezi-Demonstranten kritisiert Oğuz hart. „Sie verstehen izin vermiyor. Tanıtım ve kampanyalar Türk gazeteleri ve kahnicht, was Demokratie bedeutet“, sagt er. „Sie gehen auf die veleri ile sınırlı. “Almanları rahatsız etmek istemeyiz“ diyor İlStraße und glauben, dass sie einen vom Volk gewählten Politiker hami Oğuz. “Kendi aramızda yürütüyoruz. Sessiz, sakin.“
250 kilometre ötede avukat Ekrem Özdemir Berlin´de, Kreuzso stürzen können.“ Für Oğuz dürfe man Erdoğan zwar kritisieren, aber alles habe seine Grenzen. Bei Erdoğans Besuch in berg´deki evinin mutfağında oturuyor. Türk kimliğini hiç bir zaKöln seien sie überschritten worden. „Wie die deutschen Medien man sorgulama ihtiyacı duymamış olan Özdemir Hatay´da büyümüş, Ankara´da hukuk eğitimi almış, 1999 yıdarauf reagiert haben, hat uns sehr entVideo: Deutsche Türken
lında da Berlin´e yerleşmiş. Kız arkadaşıyla birtäuscht.“
vor der Wahl
likte şehrin Kreuzberg semtinde oturan 44
Er habe das Gefühl bekommen, sein Preyaşındaki avukatın müvekkilleri Almanya´da
mier sei hier nicht erwünscht. Erdoğans Rede
spiegel.de/app322014trdwahl
yaşayan, Türkiye´de dava ve takipleri olan
oder in der App DER SPIEGEL
war ein Wahlkampfauftritt, aber nicht offiziell.
Titel
Nach türkischem Recht sind Wahlkampagnen im Ausland verbo- Türklerden oluşuyor. Örneğin miras, boşanma ya da Türk firmaten. Geworben wurde nur in den türkischen Zeitungen, in den ları tarafından dolandırıldıkları davalarda onları temsil ediyor.
Teestuben. „Wir wollen die Deutschen nicht stören“, sagt Ilhami Özdemir aynı zamanda CHP´nin Berlin başkanı.
Oğuz. „Wir machen das unter uns. Schön ruhig.“
Seçim yasası değişmemiş olsaydı, Türk milletvekilleri bugün
250 Kilometer entfernt sitzt Rechtsanwalt Ekrem Özdemir in Alman şehirlerine kadar gelerek, onlarca yıl ihmal ettikleri insBerlin-Kreuzberg an seinem Küchentisch. Özdemir hat nie nach anlara nihayet olması gereken ilgiyi yine göstermeyeceklerdi,
seiner Identität gesucht. Er ist Türke. Aufgewachsen ist er in Ha- Özdemir bundan emin.
tay, in Ankara hat er Jura studiert, 1999 ist er nach Berlin gekomAlmanyalı Türklerin, Türkiye´de cumhurbaşkanlığı seçiminde
men und geblieben. Heute ist er 44, lebt mit seiner Freundin in oy kullandıkları için entegrasyon karşıtı olmakla itham edilmeKreuzberg und vertritt mit seiner Anwaltskanzlei Türken aus lerine Ekrem Özdemir anlam veremiyor. “İnsanların duygusal
Deutschland vor Gerichten in der Türkei. Wenn sie geerbt haben, bağlarını bir anda kesemezsiniz “ diyor.
wenn sie sich scheiden lassen oder von türkischen Scheinfirmen
Seçime buradan yüksek bir katılım olmasını beklemiyor. Yine
um ihr Erspartes gebracht werden.
de laik Türkiye adına Ekrem Özdemir de endişeli. Erdoğan´ın
Er ist der Vorsitzende der türkischen Oppositionspartei CHP adaylığını açıkladığı konuşmasının ilk dört dakikasında tam 18
in Berlin, es ist die Partei von Staatsgründer Atatürk, vor zwei kez Allah veyat Rabbim adını zikretmiş olmasından hoşlanmıyor.
Jahren gründete Özdemir ihre Vertretung hier.
“Yani sanki Allah da AKP´ye kayitli üyemiş gibi bir algı yaratılıyor
Er ist sich sicher, wenn das Wahlrecht nicht gekommen wäre, “ diye eleştiriyor Özdemir.
würden türkische Abgeordnete heute nicht deutsche Städte beAKP siyasetçilerini, sünni ve tek tip bir Türkiye yaratmaya çasuchen. Und dann würden sie sich auch nicht um die Menschen balayan toplum mühendisleri olarak görüyor. Yahudi düşmankümmern, die sie jahrzehntelang vernachlässigt haben.
lığının gayet olağan olduğu, Hıristiyanların esamesinin okunmaEkrem Özdemir versteht nicht, warum den Türken in Deutsch- dığı, ateistlerin dışlandığı AKP Türkiye´sinden hoşlanmıyor.
land Integrationsverweigerung vorgeworfen wird, wenn sie den
Konsoloslukların varlığına rağmen, Erdoğan´ın girişimiyle kutürkischen Präsidenten wählen. „Man kann eine emotionale Bin- rulan Yurtdışı Türkleri Başkanlığı´na da değiniyor. Türkler için
dung nicht auf Knopfdruck unterbrechen“, sagt er.
bir tür “Dert Köşesi“ olarak düşünülen bu oluşumun arka plaEr glaubt nicht an eine hohe Wahlbeteiligung der Türken in nında aslında, Başbakanın sınır tanımayan her şeyi kontrol etme
Deutschland, aber auch Ekrem Özdemir hat Angst um seine lai- hırsının yattığını, bu yüzden her yerde kendi paralel sistemlerini
zistische Türkei. Ihm gefällt nicht, dass Erdoğan in der Rede, mit oluşturmak istediğini ve gurbetteki vatandaşlar kontrol etme arder er seine Kandidatur erklärte, in den ersten vier Minuten 18- zusu olduğunu düşünüyor.
mal das Wort „Allah“ einbaute. „Man könnte glauben, Allah
Fakat her şeye rağmen yurttaşlarının seçim haklarını “çağdaş
hat ein Parteibuch der AKP in der Tasche“, sagt Özdemir.
kölelikten çıkış yolu” olarak değerlendiriyor. Alman vatanFür ihn sind die Politiker der AKP Gesellschaftsingenieure. daşlığına sahip olmayan, siyasi arenaya katılımlarına izin verilSie basteln sich eine sunnitische, eine einheitliche Türkei. Er mag meyen insanların demokratikleşmesi olarak değerlendiriyor.
deren Türkei nicht, in der es selbstverständlich sei, dass es Juden“Çalışsınlar ve para göndersinler, eskiden tek istenen buydu“
feindlichkeit gebe, Christen nicht erwähnt würden, Atheisten diyor Özdemir. Öyle de oldu. Özdemir´e göre yurt dışı Türkleri
diskriminiert.
Türkiye için, son 50 yılın en önemli finans yatırımını oluşturmuş.
Auch über das „Amt für Auslandstürken“ redet er, das Erdoğan Onların ülkeden ayrılmaları sonucunda işsizlik oranında düşüş
gründen ließ, obwohl es doch die Konsulate gibt. Dieser „Kum- gerçekleşmiş. Üstelik maden ocaklarında kazandıkları Alman
merkasten für Türken“ sei eigentlich nur das Instrument eines Marklarını doğrudan Türkiye´deki köylerine göndermiş, Opel
machtgetriebenen Premiers – überall wolle er seine Parallel- arabalar satın almış, eski vatanlarında konut yaptırmış ve biriksysteme aufbauen, um die Kontrolle zu bewahren. Und vielleicht tirdikleri paralarını Türk hazinesine yatırmışlar. Anadolu´ya Alauch Einfluss zu nehmen auf die Landsleute in der Ferne.
man radyolarını getirmışler.
Dennoch bedeutet für Özdemir das Wahlrecht im Ausland den
„Ausweg aus der modernen Sklaverei“. Die Demokratisierung
können die türkischen
7 seçim merkezi: Türk seçmenlerinin
In
von Menschen, die nie an Politik teilnehmen durften, wenn
Wähler ihre Stimme
oy kullanmaları için kurulan seçim
sie sich nicht für die deutsche Staatsbürgerschaft entschieden
abgeben. In Hannover,
merkezleri Hannover, Berlin, Essen,
hatten.
Berlin, Essen, Düsseldorf, Düsseldorf, Frankfurt am Main,
„Sie sollten arbeiten und das Geld rüberschicken“, sagt ÖzdeFrankfurt am Main, Karls- Karlsruhe ve Münih´de bulunuyor.
mir. Und es funktionierte. Für Özdemir sind die Auslandstürken Wahllokalen ruhe und München.
die größte finanzielle Investition der Türkei in den vergangenen
Ekrem Özdemir ve arkadaşlarının girdiği sohbet koyulaşırken
50 Jahren. Mit ihrem Weggang sank die Zahl der Arbeitslosen.
Sie brachten die Deutsche Mark aus der Zeche in ihre türkischen farklı sorular gündeme geliyor. Örneğin sadece yedi seçim yerinin
Dörfer, fuhren Opel, bauten dort Häuser, zahlten ihr Erspartes bulunması, oy kullanmak için her seçmene sadece dört saat gibi
in die türkische Staatskasse ein und brachten deutsche Radios kısa bir sürenin ayrılması ve tüm bunların olası nedenleri tartışılıyor. Seçim görevlilerinden birisi, Hamburg´da seçim sannach Anatolien.
An Ekrem Özdemirs Küchentisch diskutieren er und seine dığının kurulmamasının muhtemel nedenlerini gündeme getiriyor.
Freunde darüber, warum es eigentlich nur sieben Wahllokale Başbakan, Hamburglu Türkleri fazlasıyla sol görüşlü buluyor olgab und der Termin jeweils nur auf vier Stunden beschränkt war. masın?
Erdoğan´ı durdurmanın mümkün olmadığını Ekrem Özdemir
Einer der Wahlhelfer fragt, warum es denn in Hamburg kein
Wahllokal gab. Vielleicht zu links, die Türken in der Hansestadt, de biliyor. Yine de Berlinli Türkler Cumhurbaşkanlığı seçimi için
Olimpiyat Stadı´nda sandık başına gidecekleri zaman o da aralafür den Premier?
Ekrem Özdemir weiß, dass Erdoğan bei dieser Präsidentschafts- rında olacak.
Oy pusulalarını sayacak, kapalı zarflar içinde sandıklara aktawahl nicht zu stoppen ist. Und dennoch wird er diese Woche,
nachdem die türkischen Berliner ihre Stimme abgegeben haben, racak ve nihai değerlendirme için Türkiye´ye gönderecek. Göçün
im Berliner Olympiastadion ihre Stimmen abzählen, die geschlos- üzerinden 50 yıl geçtikten sonra, çok uzaklardan, 2000 kilometre
senen Umschläge in Kisten packen und in die Türkei zur Aus- öteden gönderilen umut dolu paketler.
wertung schicken. Pakete der Hoffnung, aus 2000 Kilometer EntKatrin Elger, Özlem Gezer
fernung, 50 Jahre nach Ankunft.
Katrin Elger, Özlem Gezer
Übersetzung/Çeviri: Recai Hallaç, Melek Korkmaz
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DER SPIEGEL 32 / 2014
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Illouz, 53, geboren in Marokko
„Wir sind abgestumpft“
Israel Die Soziologin Eva Illouz über eine in ihrer Angst gefangene
Gesellschaft, die auf Stärke setzt, sich zunehmend auf jüdische Werte
beruft – und das Leiden der Palästinenser nicht mehr wahrnimmt
SPIEGEL: Warum befürworten so viele Israelis diesen Krieg im Gaza-Streifen, in dem
schon Hunderte Kinder gestorben sind?
Illouz: Wir Israelis haben eine schizophrene
Selbstwahrnehmung. Wir kultivieren ständig die eigene Stärke, hören aber zugleich
nicht auf, uns als schwach und bedroht
wahrzunehmen. Immer geht es um unsere
Sicherheit, sowohl in der Gesellschaft als
auch in der Politik. Und viele Israelis sehen
den Gaza-Streifen eben vor allem als Bastion des Terrors, weil er die Heimat der
Radikalislamisten von der Hamas ist. Es
ist schwierig, Mitleid mit denen zu empfinden, die einen bedrohen.
SPIEGEL: Liegt das auch daran, dass die Gesellschaft zunehmend militaristisch ist?
Illouz: Israel ist beides zugleich: eine militärische Kolonialmacht, aber auch eine Demokratie. Die Armee kontrolliert die Palästinenser mithilfe von Checkpoints und
Militärgerichten; für sie gilt ein anderes
Recht als für Israelis. Die Armee entscheidet, ob ein Palästinenser eine Arbeitsgenehmigung bekommt oder sein Haus zerstört wird. Und auch die israelische Zivil-
84
DER SPIEGEL 32 / 2014
gesellschaft ist militarisiert, aus fast jeder
Familie ist jemand in der Armee.
SPIEGEL: Es scheint in diesem Krieg, als hätte Israel bei seiner Selbstverteidigung das
Gefühl für Verhältnismäßigkeit verloren.
Illouz: Ich glaube, viele Israelis haben etwas
verloren, was ich „humanitäre Sensibilität“
nennen möchte. Die Fähigkeit, sich in das
Leiden des anderen hineinzuversetzen.
Die Sichtweise der Israelis auf ihre Nachbarn hat sich in den vergangenen Jahren
verändert. Jetzt sehen wir die Palästinenser fast ausschließlich als „Terroristen“,
ohne Gesicht und ohne Namen.
SPIEGEL: Wie erklären Sie sich das?
Illouz: Früher waren Palästinenser Teil des
israelischen Alltags, sie konnten sich frei
im Land bewegen. Doch dann wurde die
Mauer gebaut, die Straßen zum Westjordanland wurden gesperrt, es gab immer
weniger Arbeitsgenehmigungen für Palästinenser. Innerhalb kurzer Zeit verschwanden sie aus der israelischen Gesellschaft.
Die Selbstmordattentate der zweiten
Intifada besiegelten diesen Prozess.
Gleichzeitig änderte sich auch der Cha-
rakter unserer Führung: Die messianische
Rechte, früher ein Randphänomen, wurde
mächtiger. Die Radikalen sitzen im Parlament, sie kontrollieren den Staatshaushalt, sie bestimmen den Diskurs. Viele Israelis begreifen gar nicht, wie extrem diese Leute sind, denn sie verbrämen ihre
Radikalität mit Begriffen wie „jüdisch“
und „patriotisch“.
SPIEGEL: Warum sind die Rechten gerade
jetzt so stark, obwohl es doch deutlich weniger Terroranschläge gibt als früher?
Illouz: Ganze Generationen von Israelis
kennen nichts anderes als die Besatzung,
die Zahl der Siedler wächst, und viele von
ihnen sind sehr ideologisch. Die Siedlungen werden systematisch gefördert, durch
Steuerbefreiungen, niedrige Mieten oder
den Bau von Infrastruktur, die oft besser
ist als im israelischen Kernland. Auch die
Erziehung und der Unterricht sind sowohl
religiöser als auch nationalistischer geworden. Wir müssen uns heute zwischen einem liberalen Dasein und einem strengen
„Jüdischsein“ entscheiden. In den Sechzigerjahren konnte man noch beides zugleich sein, Zionist und Sozialist. Heute
ist das nicht mehr möglich. Aber eine große Rolle kommt auch der jüdischen Diaspora zu, vor allem in den USA. Sie kauft
Tageszeitungen und bezahlt Thinktanks
oder religiöse Einrichtungen, die ihre
rechtsnationalen Einstellungen verbreiten.
SPIEGEL: Wird Israel von den Juden in der
Diaspora anders gesehen als von den jüdischen Israelis im Land?
Illouz: Die Wahrnehmung der Juden in der
Diaspora wird durch die Erinnerung an
den Holocaust geformt. Manchmal erleben
die Juden dort antisemitische Übergriffe
und wollen ihre jüdische Identität stärken,
indem sie sich „proisraelisch“ zeigen. Sie
leben allerdings zumeist in Ländern, in denen die demokratischen Rechte gesichert
sind – und verstehen die Schwierigkeiten
von uns Israelis nicht, die die demokratische Komponente in diesem Land mehr
und mehr verschwinden sehen.
SPIEGEL: Was passiert, wenn demokratische
Prinzipien weiter erodieren?
FOTO: AMIT SHABI / LAIF / DER SPIEGEL
und aufgewachsen in Sarcelles
bei Paris, ist Professorin für
Soziologie an der Hebräischen
Universität in Jerusalem. Sie
erforscht die Beziehungen
von Emotion, Ökonomie und
Kommunikation und hat mehrere Bücher verfasst, 2011
erschien von ihr bei Suhrkamp
„Warum Liebe weh tut“. Illouz
schreibt zudem regelmäßig
Kolumnen und Essays, in
denen sie sich mit der Natur
des israelisch-palästinensischen Konflikts und seinen
Folgen für ihre eigene Gesellschaft beschäftigt.
Ausland
Luftangriff auf Gaza-Stadt: „Wir sehen die Palästinenser als ‚Terroristen‘, ohne Gesicht und ohne Namen“
FOTO: MOHAMMED SABER / PICTURE-ALLIANCE / DPA
Illouz: Vor anderthalb Jahren haben in
einer Umfrage der Zeitung Haaretz etwa
40 Prozent der Israelis angegeben, dass sie
darüber nachdenken, das Land zu verlassen. Der Staat kaschiert die Zahl der Abwanderer, aber ich habe noch nie so viele
Menschen getroffen wie jetzt, die sich derart befremdet über ihr Land äußern. Säkulare Tel Aviver haben heute mit ihren
religiösen Landsleuten in Jerusalem weniger gemein als mit jemandem aus Berlin.
SPIEGEL: Sie beschreiben ein ängstliches,
verunsichertes Land.
Illouz: Die Angst ist tief verwurzelt in unserer Gesellschaft. Angst vor der Schoah,
Angst vor Antisemitismus, Angst vor dem
Islam, Angst vor Terror, Angst vor Auslöschung. Egal wie stark oder wie wohlhabend Israel ist, diese Angst ist immer da.
SPIEGEL: Diese unterschiedliche Wahrnehmung der Bedrohung und des Konflikts ist
problematisch. Während sich Israel als Opfer begreift, sieht die Welt es zunehmend
als gewalttätige Besatzungsmacht.
Illouz: Stellen Sie sich vor, Sie wären als
Mädchen von einem brutalen Vater erzogen worden. Dann würden Sie später jedem Mann misstrauen. Wenn Sie für
längere Zeit in einem friedlichen Umfeld
leben, wird Ihr Misstrauen irgendwann
nachlassen. Wenn Sie aber in einer unruhigen Umgebung zu Hause sind, wo jederzeit alles passieren kann, wird es bald zur
Obsession. Sie werden dann nicht mehr
zwischen Gut und Böse unterscheiden kön-
nen. Das ist das historische Trauma des
jüdischen Bewusstseins: Israelis können die
echte Gefahr von der eingebildeten nicht
mehr unterscheiden.
SPIEGEL: Rechtfertigt diese Angst ein brutales Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung,
so wie jetzt im Gaza-Streifen?
Illouz: Natürlich nicht. Aber wer die israelische Psyche kennen will, muss von dieser
Angst wissen. Jetzt allerdings werden diese
Ängste von Politikern wie Premier Benjamin Netanjahu zynisch instrumentalisiert.
Sie machen uns glauben, alle wollten uns
zerstören: die Hamas, die Uno, Iran. Das
ist der Filter, durch den der durchschnittliche Israeli den Konflikt mit der Hamas
betrachtet. Der Feind, der Palästinenser,
wird „entmenschlicht“, er ist schlicht Terrorist. Er schickt seine Kinder in den Krieg
und baut mit seinem Geld lieber Angriffstunnel als Schulen. Israel dagegen sieht sich
als moralisch überlegen an, weil die Armee
zur Warnung SMS verschickt und Flugblätter abwirft, bevor sie Ziele bombardiert.
SPIEGEL: Trotzdem sterben in Gaza vor allem Zivilisten, es werden Wohnhäuser,
Schulen und Krankenhäuser bombardiert.
Illouz: Für die Israelis zählt die Intention.
Wir sind fest überzeugt von unserer moralischen Überlegenheit, davon, in diesem
Konflikt der Gute zu sein.
SPIEGEL: Neu ist der Hass im Land, der mit
diesem Krieg sichtbar wird. Er zielt nicht
nur auf die Palästinenser, sondern auch
auf Teile der jüdischen Gesellschaft.
Illouz: Es ist besorgniserregend, wie sich
der Ton verändert hat. Rabbis und Abgeordnete hetzen offen gegen Araber. Ein
Tabu wurde gebrochen, weil mittlerweile
ganze Generationen ultranationalistisch
erzogen sind. Ich glaube nicht, dass dieser
Hass in Israel größer ist als anderswo, auch
in Frankreich und Deutschland gibt es
Rassisten. Aber als in Paris Palästinenser
durch die Straßen zogen und „Tod den Juden“ riefen, hat Premier Manuel Valls das
verurteilt und gezeigt, dass so etwas nicht
geduldet wird. Letzteres würde hier nicht
passieren. Unserer Gesellschaft fehlt eine
Führung, die moralische Normen setzt.
SPIEGEL: Wie erklären Sie diesen Gegensatz, einerseits diesen Hass und andererseits die Tatsache, dass Israel seine liberalen Werte stets so betont?
Illouz: Israel startete als moderne Nation
mit demokratischen Institutionen. Gleichzeitig hat es allerdings auch antimoderne
Einrichtungen vorangetrieben, um den jüdischen Charakter dieser Demokratie zu
sichern. Es hat dem Rabbinat viel Macht
übertragen und die Ungleichheit zwischen
der jüdischen Mehrheit und der nichtjüdischen Minderheit institutionalisiert.
SPIEGEL: Überlagert der jüdische den demokratischen Charakter des Staats?
Illouz: Absolut, ja. Das Jüdische hat die
Demokratie mit ihren universellen Werten
in Geiselhaft genommen. In Schulbüchern
findet sich vornehmlich die jüdische Perspektive, und das Innenministerium will
DER SPIEGEL 32 / 2014
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Ausland
Immigranten loswerden, aus Angst vor
Mischehen. Über Menschenrechte wird
mittlerweile verächtlich gesprochen.
SPIEGEL: Das klingt recht düster.
Illouz: Die einzige Antwort darauf wäre der
Zusammenschluss derer, die die Demokratie verteidigen wollen. Denn es geht nicht
mehr allein um rechts oder links, sondern
um etwas viel Wichtigeres: um den Erhalt
der Demokratie in Israel. Denn die Radikalen schämen sich nicht mehr, ihre Ansichten laut zu verbreiten und Andersgesinnte zu bedrohen. Dabei bedeuten diese
rassistischen und faschistischen Elemente
eine genauso große Gefahr für Israels Sicherheit wie seine äußeren Feinde.
SPIEGEL: Auch Gegner Israels argumentieren, das Land sei nicht demokratisch. Stören
Sie diese Angriffe von außen manchmal?
Illouz: Trotz all meiner Kritik und meiner
Aversion gegen die israelische Arroganz
bin ich schon oft verblüfft, dass an Israel
immer besondere Maßstäbe angelegt werden. Was passiert denn in Syrien, im Irak
oder in Nigeria? Warum demonstrieren
die Menschen nicht auch dagegen? Selbst
die USA haben eine recht verheerende
Menschenrechtsbilanz außerhalb der eigenen Grenzen vorzuweisen. Wo sind all die
Intellektuellen, die die USA boykottieren?
SPIEGEL: Befürworten Sie denn den Militäreinsatz im Gaza-Streifen?
Illouz: Nein, das tue ich nicht. Nicht etwa,
weil ich Pazifistin wäre – das bin ich nicht.
Manchmal muss man militärische Mittel
anwenden. Aber ich bin gegen diese Operation, weil es vorher keinen politischen
Prozess gab. Netanjahu hat kein Interesse
an einer politischen Einigung. Er hat Palästinenserpräsident Mahmud Abbas geschadet, wo er nur konnte. Ich persönlich
weigere mich, die Palästinenser als Feinde
zu sehen. Ich lehne es ab, sie weiter zu dominieren, und ich lehne es ab, ihnen ein
normales Leben zu verweigern. Israel war
nie als Siedlungsunternehmen gedacht; das
zionistische Vorhaben wurde total verzerrt.
Ein Großteil der Israelis glaubt inzwischen,
wir könnten die Palästinenser auf lange
Sicht kontrollieren und unterdrücken.
SPIEGEL: Ist das die Folge von 47 Jahren
Besatzung: dieses Gefühl, keine Zugeständnisse mehr machen zu müssen?
Illouz: Ja, aber wir Israelis zahlen einen hohen
Preis dafür, ohne es zu merken: Wir wissen
nicht mehr, wie es sich anfühlt, in einer friedlichen Gesellschaft zu leben. Wir weigern
uns, die Verbindung zu sehen zwischen einem immer schwerer aufrechtzuerhaltenden
Lebensstandard und dem Besatzungsregime,
das einen Löwenanteil der Steuergelder verschlingt. In der Psychologie bezeichnet man
das als kognitive Dissonanz. Ein Großteil der
israelischen Gesellschaft ist abgestumpft.
Nicht nur gegenüber dem Leid der anderen,
auch gegenüber dem eigenen Leiden.
Interview: Julia Amalia Heyer
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Der tapfere Missionar
USA John Kerry eilt als Weltaußenminister erfolglos von Krise
zu Krise. Sein Scheitern zeigt, was passiert, wenn die einzige
Supermacht keine Supermacht mehr sein will. Von Holger Stark
M
an kann im Nahen Osten schnell
zum Terroristen werden, selbst
dann, wenn man der Außenminister der USA ist. Tagelang pendelte John
Kerry vorvergangene Woche zwischen Kairo, Jerusalem und Ramallah, um einen
Waffenstillstand zwischen Israel und der
Hamas im Gaza-Streifen zu vermitteln.
Und dann dies: Ranghohe Politiker in Jerusalem sähen in Kerrys Vorschlag für einen Waffenstillstand einen „strategischen
Terroranschlag“, berichtete die israelische
Tageszeitung Haaretz.
Dabei hatte Kerry alles versucht und einen im Grunde sinnvollen Vorschlag vorgelegt: eine Feuerpause, während der Verhandlungen über einen langfristigen Waffenstillstand geführt werden sollten. Doch
zum Dank wurde er mit Häme überschüttet. Jerusalem lehnte wütend ab, der Plan
enthalte nur Forderungen der Hamas.
Kurz darauf wurde es noch schlimmer.
Der israelische Sender Channel 1 veröffentlichte den angeblichen Wortlaut eines
in aggressivem Ton geführten Telefonats
zwischen Präsident Barack Obama und
Premier Benjamin Netanjahu. Doch das
Transkript war gefälscht.
Als Kerry Ende vergangener Woche
dann doch einen 72-stündigen Waffenstillstand verkünden konnte, herrschte für kurze Zeit Hoffnung. Nicht einmal drei Stunden später war es damit schon wieder vorbei: Die Hamas hatte einen israelischen
Soldaten entführt, die Kämpfe in Gaza gingen vorerst weiter.
Die Weltdiplomatie wirkt in diesen Tagen
wie ein absurdes Theater, mit John Kerry
in der Rolle des tragischen Helden. Er sehe
nicht aus wie der Außenminister der Weltmacht, spottete Haaretz, sondern wie ein
Außerirdischer, der gerade im Nahen Osten
aus seinem Raumschiff gestiegen sei. Als
Kerry vorige Woche in Washington über
die Anfeindungen sprach, sagte er: „Man
muss es einfach immer weiter versuchen.“
Die Hilflosigkeit des wichtigsten Außenministers der Welt zeigt, wie wenig Einfluss Amerika im Nahen Osten geblieben
ist. Und mit jedem Scheitern schwindet
auch der Einfluss im Rest der Welt ein bisschen mehr. In der Ukraine wird geschossen, mit Iran gibt es vorerst keine Einigung
im Atomstreit, im Irak herrschen islamistische Terroristen über weite Teile des Landes – und die USA scheinen nicht in der
Lage, etwas daran zu ändern.
Genau zehn Jahre ist es her, dass Kerry
als Präsidentschaftskandidat nominiert wurde. Aber die Amerikaner wählten George
W. Bush. Jetzt ist Kerry Außenminister, er
ist angetreten, als Vermittler die großen Konflikte zu lösen, von Israel bis Iran. Er hat
diese Themen mit seiner Person verknüpft,
er braucht einen Erfolg, um in die Geschichte einzugehen. Aber er ist auch Außenminister in einer US-Regierung, die dabei ist,
sich aus ihrer Rolle als globaler Hegemon
zurückzuziehen. Mit Kerry verbindet sich
die Frage, wie Amerikas Rolle im 21. Jahrhundert aussieht. Wie erfolgreich kann eine
amerikanische Außenpolitik sein, die nicht
mehr auf Panzer und Flugzeugträger baut,
sondern auf die Macht der Worte?
Es ist ein Dienstag im Frühjahr, als John
Kerry vom Ende des Friedensprozesses im
Nahen Osten erzählt. Der Außenminister
sitzt vor dem Auswärtigen Ausschuss des
Senats in Washington, schwere Brokatvorhänge halten das Tageslicht fern. Kerry beschreibt sein Wochenende: Er saß daheim
und wartete darauf, dass Israel einige palästinensische Gefangene entlässt, eine vereinbarte Geste des guten Willens, die eine Fortführung der Friedensgespräche ermöglichen
sollte. Die Stunden vergingen. Kerry wurde
unruhig. Aber die Israelis ließen die Gefangenen nicht frei, stattdessen kündigten sie
den Ausbau von Siedlungen an. „Puff, das
war der Augenblick“, sagt er und formt mit
den Händen eine imaginäre Explosion.
Für einen Moment wirkt Kerry wie ein
Kind, dessen Spielzeug kaputtgegangen
ist. Der Friedensprozess war sein persönliches Projekt, er hat Monate in Ramallah
und Tel Aviv verbracht, in Katar, Riad und
Amman. Er wollte diesen Deal erzwingen
und den Nahen Osten neu formen. Und
dann hat es puff gemacht.
Kerry sieht makellos aus wie immer, marineblauer Nadelstreifenanzug, das silbergraue Haar dicht wie ein Toupet. Nur die
Augenringe sind unübersehbar. Neben der
Müdigkeit hat er auch einen Husten von
einer Auslandsreise mitgebracht. Für Kerry
ist der Saal, in dem der Auswärtige Ausschuss tagt, eine Art politisches Wohnzimmer. 1971 hat er hier gegen den Vietnamkrieg Stellung bezogen, nachdem er für
seinen Dienst als Kommandant eines Patrouillenbootes im Mekongdelta mit hohen
Tapferkeitsorden ausgezeichnet worden
war. Später führte er vier Jahre lang den
Vorsitz des Gremiums. An diesem Diens-
FOTO: LUCAS JACKSON / AFP
Vermittler Kerry auf dem Militärflughafen von Washington, D. C.: Über 300 000 Flugmeilen innerhalb von zwölf Monaten
tagmorgen setzen die Republikaner Kerry Ausgabe eine „Renaissance des Nationalen“ in Amerika und stellt die Frage, ob
unter Druck.
„Ich habe den Eindruck, dass unsere Au- die Nation ihren Zenit überschritten habe.
Die USA sind die einzige Supermacht,
ßenpolitik außer Kontrolle geraten ist“,
aber sie sind auf der Suche nach einer neusagt ein Abgeordneter aus Idaho.
„Man muss einfach enttäuscht sein von en außenpolitischen Identität. Das Land ist
unserer Tätigkeit“ in Syrien, sagt ein Ab- zerrissen zwischen einer Stimmung, die
Kagan „Weltmüdigkeit“ nennt, und Sehngeordneter aus Tennessee.
Dann meldet sich John McCain zu Wort, sucht nach der einstigen Bedeutung.
Obama ist ein Präsident des „Retrenchder große alte Mann der Republikaner, der
eigentlich immer militärisch eingreifen ments“, wie die Amerikaner ihren außenmöchte, egal wo und gegen wen. McCain politischen Rückzug nennen. Man kann
fordert Waffen für die Ukraine und zitiert „Retrenchment“ mit Einschränkung, EinPräsident Theodore Roosevelt, der die sparung oder Abbau übersetzen. Obama
USA Anfang des 20. Jahrhunderts zur hat Syrien nicht bombardiert, BodentrupWeltmacht erhob. „Sprich sanft und halte pen im Irak abgelehnt und nicht eingegrifeinen großen Knüppel in der Hand“, sagt fen, als Russland die Krim annektierte.
McCain. „Sie reden stark daher, aber Sie „Wir befinden uns nicht länger im Kalten
führen nur einen dünnen Zweig bei sich.“ Krieg, es gibt kein ‚großes Spiel‘ mehr, das
Die Auseinandersetzung darüber, wohin es zu gewinnen gilt“, sagt Obama, wenn
die Weltmacht Amerika driftet, zählt zu er über die US-Außenpolitik spricht. „Dass
den großen Debatten in Washington. Sie wir den besten Hammer haben, bedeutet
wird von Konservativen wie dem Politik- nicht, dass jedes Problem ein Nagel ist.“
wissenschaftler Robert Kagan betrieben, John Kerrys Auftrag ist es, eine wirksame
der unlängst vor dem „Zusammenbruch Außenpolitik ohne Hammer zu entwickeln.
„Der Präsident schätzt Kerrys unerder Weltordnung“ warnte. Eine Großmacht
dürfe nicht in Rente gehen, nur Amerikas müdliche Arbeitsethik und seine BereitÜberlegenheit könne „die Büchse der Pan- schaft, diplomatische Risiken einzugehen“,
dora“ geschlossen halten. Das Magazin sagt Obamas Vize-Sicherheitsberater Ben
Foreign Policy beschreibt in seiner jüngsten Rhodes. Diese Qualitäten passten „in eine
Zeit, in der Diplomatie ins Zentrum unserer Außenpolitik gerückt ist“.
In den ersten zwölf Monaten seiner
Amtszeit ist Kerry über 300 000 Meilen
um die Welt geflogen, mehr als jeder andere US-Außenminister vor ihm. Er war
auf Staatsbesuch in China, dann in Afghanistan, um im Streit um den Wahlausgang
zu schlichten. Dann flog er am Wochenende des WM-Finales von dort weiter
nach Wien, um über das iranische Atomprogramm zu verhandeln und mit dem
deutschen Außenminister Frank-Walter
Steinmeier über die Spionageaffäre zu diskutieren. Wenig später reiste er in den
Nahen Osten, um das Blutvergießen zu
beenden.
Kerry ist jetzt 70 Jahre alt, er hat Häuser
in Boston und Washington, ein Anwesen
bei Pittsburgh und einen Sommersitz auf
Nantucket. Seine Frau Teresa Heinz hat einen Teil des Vermögens aus dem HeinzKetchup-Imperium geerbt, ihr Besitz wird
auf mindestens eine halbe Milliarde Dollar
geschätzt. Das Ehepaar reist in einer eigenen Gulfstream und wird von einem Koch
begleitet. Kerry könnte mit seinen Enkeln
segeln gehen und das Leben genießen.
Stattdessen hetzt er von einem Krisenherd zum anderen. Sein Büro vergibt
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27. Juni, Dschidda: Kerry mit dem saudi-arabischen König Abdullah
23. Juli, Ramallah: Kerry mit Palästinenserpräsident Abbas
23. Juli, Tel Aviv: Kerry mit Israels Premier Netanjahu
Termine nur noch spontan. Und trotz dieses enormen Pensums wirkt Kerry, als hätte er seine Bestimmung gefunden. „Ich
habe nicht die geringste Ahnung, wie er
das alles schafft“, sagt David McKean.
McKean ist Kerrys Planungschef, sein
Büro liegt im siebten Stock des State Department. Römische Säulen rahmen den
goldlackierten Fahrstuhl ein. Nach rechts
geht es durch eine Sicherheitsschleuse in
Kerrys Flügel, links liegt McKeans Büro.
Die beiden kennen sich, seit Kerry ein junger Staatsanwalt in Massachusetts war; seit
1987 arbeitet McKean für ihn, als Büroleiter
im Senat, dann im Wahlkampfteam.
Kerrys Rolle sei eine andere als die seiner Vorgängerin Hillary Clinton, sagt
McKean. Als diese 2009 antrat, habe sich
das Ansehen der USA auf einem historischen Tiefpunkt befunden. Clintons Mission sei daher Wiedergutmachung gewesen. Kerry, sagt McKean, könne darauf aufbauen, er stehe für die zweite Phase nach
den Bush-Jahren: für den Versuch der Gestaltung von Weltpolitik mit anderen Mitteln, ohne militärische Invasionen und
Waterboarding. „Kerry kennt in fast jedem
Land den Regierungschef oder den Außenminister persönlich“, sagt McKean. „Er
macht sich diese Kontakte zunutze, er ist
der richtige Mann zur richtigen Zeit.“
Eine Art globaler Missionar zu sein, das
war schon immer Kerrys Selbstverständnis.
Als junger Senator flog er nach Manila,
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Ramallah, ein Tag im Mai 2013. Kerry
um die Wahlen zu beobachten; in Nicaragua rang er den Sandinisten Zugeständnis- hat mit dem israelischen Premier Benjamin
se ab; später spürte er den Verwicklungen Netanjahu und dem palästinensischen Prädes panamaischen Diktators in den Dro- sidenten Mahmud Abbas gesprochen, es
genhandel nach. Kerry überzeugt Men- ging um die Bedingungen für eine Einischen durch Charme, Hartnäckigkeit und gung der beiden Seiten im Friedensprozess.
Erfahrung, er hält für jeden Gast eine Jetzt hat er eine spontane Idee. Er lässt
Anekdote bereit und eine Umarmung. „Er seine Delegation in Ramallah stoppen und
glaubt, dass er den Unterschied ausmachen stürmt in einen Schawarma-Laden, die Bekann“, sagt Douglas Frantz, einer seiner dienung eilt heran, große Aufregung. Kerry, im dunklen Anzug mit erdbeerroter
Unterstaatssekretäre.
Deshalb bemüht sich Kerry auch so sehr Krawatte, bestellt ein Truthahn-Schawarum Verhandlungen zwischen Israelis und ma, gegrillte Fleischstückchen im Brot.
Palästinensern, obwohl Obama daran be- „Mann, ist das gut“, seufzt er beim Essen.
Es ist Kerrys Art, auf Menschen zuzureits vor vier Jahren gescheitert war. Der
Versuch zu vermitteln „ist in unserer DNA gehen, aber das Echo von Ramallah ist unals Land und in unserer DNA als Freund erwartet. Die Republikaner werfen ihm
Israels“, sagte Kerry zum SPIEGEL, bevor vor, einseitig Partei zugunsten der Palästier zu seiner jüngsten Nahostmission auf- nenser ergriffen zu haben. Die Israelis rübrach. Er bereue nicht, es versucht zu ha- gen, Kerry habe sich wie ein Erlöser aufben. „Ich glaube, dass jeder versteht, dass gespielt. Der Schawarma-Diplomat, so
die Parteien eines Tages, an einem be- spotten sie seitdem über ihn.
Während der Hochphase der Friedensstimmten Punkt, zum Friedensprozess zurückkehren werden, weil es der einzige verhandlungen im vergangenen Jahr teleWeg ist, jemals dauerhaft Frieden, Sicher- fonierte Kerry beinahe täglich mit seinen
Gesprächspartnern im Nahen Osten, oft
heit und Stabilität zu erreichen.“
Zu Kerrys Taktiken gehört, dass er sei- frühmorgens oder spätabends aus seiner
nen Gesprächspartnern den Eindruck ver- Villa in Georgetown, über eine verschlüsmittelt, Amerika sei ihr „best friend for- selte Leitung. Aber wenn Kerry unterwegs
ever“. Aber dieses Konzept funktioniert war und es schnell gehen sollte, nutzte er
spätestens seit der NSA-Affäre nicht be- manchmal auch ein normales Telefon.
Ein Großteil dieser Gespräche, die über
sonders gut, und es reicht erst recht nicht
bei so verfahrenen Konflikten wie dem Satelliten liefen, wurde von mindestens
zwei Geheimdiensten abgehört, darunter
zwischen Israel und den Palästinensern.
FOTOS: BRENDAN SMIALOWSKI / NEW YORK TIMES / LAIF (L.O.); REUTERS (R.O.); CHARLES DHARAPAK / NEW YORK TIMES / LAIF (L.U.); AFP (R.U.)
24. Juni, Arbil: Kerry mit Kurdenpräsident Masud Barzani
FOTO: ALAMY / MAURITIUS IMAGES
Ausland
von den Israelis, das bestätigen mehrere
Quellen aus Geheimdienstkreisen dem
SPIEGEL. Wahrscheinlich hörten auch die
Russen und die Chinesen mit. Dadurch
wussten die Israelis oft präzise, was Kerry
mit der anderen Seite besprochen hatte.
Kerry kannte das Risiko, aber er wollte
Ergebnisse, ihm waren die persönlichen
Gespräche wichtiger als die Bedenken der
Sicherheitsleute. Sowohl Israelis als auch
das State Department wollen sich dazu
nicht äußern.
Den Israelis halfen die Mitschnitte, Kerrys diplomatischen Balanceakt zu durchschauen – und je länger er als Vermittler
wirkte, desto heftiger wurden ihre Attacken. Kerry sei „besessen“, er trete auf
wie ein Messias, giftete Verteidigungsminister Mosche Jaalon Anfang dieses
Jahres. „Das Einzige, was uns retten kann,
ist, wenn Kerry den Friedensnobelpreis
gewinnt und uns in Ruhe lässt.“
Effektive Außenpolitik bestehe aus einer
klugen Mischung von „soft power“ und
„hard power“, sagt Daniel Hamilton von
der Johns Hopkins University in Washington. Bill Clinton habe das in den Neunzigerjahren meisterhaft vorgeführt. Aber
Kerry lebe im Flugzeug, er verbringe die
meiste Zeit mit der Lösung akuter Krisen.
„Was dabei zu kurz kommt, ist eine strategische Vision. Und er hat es mit einem Präsidenten zu tun, der sich hauptsächlich innenpolitischen Themen widmet.“
Kerry ist ein Außenpolitiker alter Schule, er sieht Amerikas Rolle als die eines
Hegemons und globalen Schlichters, im
Zweifel auch als Weltpolizist. Obama
schaut mit anderen Augen auf die Welt,
er will sich nicht überall einmischen, er ist
eher ein Innenpolitiker.
In der Syrien-Krise wurden diese beiden
Weltsichten besonders sichtbar. An einem
Freitag Ende August 2013 trat Kerry im
State Departement vor die Kameras und
hielt eine leidenschaftliche Rede gegen den
syrischen Einsatz von Chemiewaffen. Er
wisse, dass die Amerikaner kriegsmüde
seien, „aber Müdigkeit enthebt uns nicht
unserer Verantwortung“, sagte er. Es gehe
um die Einhaltung des Versprechens, dass
„die abscheulichsten Waffen der Welt nie
wieder gegen die schutzlosesten Menschen
der Welt eingesetzt werden dürfen“. Es waren die Worte eines Feldherrn, sie klangen,
als hätte Kerry soeben den Feuerbefehl für
ein paar Mittelstreckenraketen erteilt.
Am Abend lud Obama seine Berater ins
Oval Office und teilte ihnen mit, es werde
keine Luftschläge geben, solange der Kongress nicht zustimme. Die Militäroption
war damit vom Tisch. Kerry sah aus wie
einer, der vorgeprescht und nun von seinem Chef zurückgepfiffen worden ist. Beraten hatte sich Obama mit Kerry nicht,
er rief ihn lediglich an, um seine Entscheidung zu verkünden. Trotzdem verteidigte
Kerry die Entscheidung danach, als wäre
es seine eigene gewesen.
Die beiden verbinde eine „enge Beziehung“, sagt Obamas Berater Ben Rhodes,
aber es ist keine Freundschaft. Dabei kennen sie sich schon lange. Man kann sogar
sagen, dass Kerry Obama entdeckt hat.
Als Kerry vor zehn Jahren für das Präsidentenamt kandidierte, bat er einen weitgehend unbekannten demokratischen Politiker aus Illinois, beim Nominierungsparteitag zu reden. Der Auftritt machte
Barack Obama weltberühmt. Doch Kerry
verlor die Wahl und durchlitt eine Phase
der Depression, über die David McKean
sagt, es sei „eine grobe Untertreibung, sie
als tiefe Enttäuschung zu bezeichnen“.
Obama bedankte sich bei Kerry für die
Chance, die dieser ihm gegeben hatte, aber
er machte Hillary Clinton zu seiner Außen-
Politiker Kerry mit Ehefrau Teresa und Enkel
„Man muss es immer weiter versuchen“
ministerin. Ihre Nachfolgerin sollte dann
Susan Rice werden. Kerry ist nur Außenminister, weil Rice irreführende Aussagen
über den Angriff auf das US-Konsulat in
Libyen 2012 machte und damit politisch
angreifbar wurde.
Das Verhältnis der beiden Männer lässt
sich mit einer Begegnung aus dem Oktober
2012 beschreiben. Es war die Hochphase des
Präsidentschaftswahlkampfs, und Obama
wollte mit Kerry ein wichtiges Fernsehduell
üben. Kerry sollte Mitt Romney darstellen,
den republikanischen Herausforderer. Das
Duell fand in einem Hotelsaal in Virginia
statt, die Berater hatten Kerry gebeten, Obama möglichst oft beim Reden zu stören.
Kerry argumentierte scharfsinnig, trieb
den Präsidenten vor sich her und fiel ihm
so lange ins Wort, bis Obama fauchte, er
wolle nicht dauernd unterbrochen werden.
Schließlich stand Obama auf und verließ
den Saal. Kerrys Verhalten war anmaßend,
das war die Botschaft. Kerry hat für Obama zwar eine Funktion, aber er zählt nicht
zu seinem engen Führungskreis.
Angesichts der Krise im Nahen Osten
hat Kerry keine Zeit für ein Treffen, aber
er bietet an, schriftlich Fragen zu beantworten. Eine der Fragen ist, ob es eine
Welt geben könne, in der jemand anders
Amerikas Rolle übernehme, China etwa.
„Niemals“, antwortet der Außenminister, „und niemand erwartet von den USA
etwas anderes, als zu führen.“ Er vergleicht die aktuelle Situation mit dem Fall
der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch der Sowjetunion, er sagt: „Damals
haben auch viele Menschen gedacht, Amerika solle den Frieden genießen und sich
zurückziehen.“ Aber es sei ein Moment
gewesen, der Amerikas Führung erfordert
habe, ähnlich sei es heute, in einer Welt,
die „ungemein kompliziert“ sei und „mehr
und nicht weniger Engagement erfordert“.
Ob der Verzicht auf militärische Gewalt
Amerikas internationalen Einfluss gemindert habe? Kerry antwortet, die Prämisse
sei falsch: Die USA würden noch immer
mit Gewalt drohen, er nennt als Beispiele
die Einigung über die syrischen Chemiewaffen und das Bombardement in Libyen,
um die Menschen vor dem angedrohten
Gemetzel durch das Regime zu schützen.
Amerikanische Politik gleicht einem
Hollywoodfilm, Geschichte wird vom
Ende her geschrieben, immer gibt es einen
Gewinner und einen Verlierer. Sollte Kerry
eine Einigung mit Iran oder zwischen Israelis und Palästinensern erreichen, wird
er als Held in die Geschichte eingehen.
Aber wenn er nichts erreicht, könnte er
zu einem Symbol für den außenpolitischen
Niedergang der USA werden. Vielleicht
ist die große Zeit amerikanischer Dominanz vorbei, vielleicht beginnt danach ein
neues Kapitel der Geopolitik. Das kann
eine Chance sein, auch wenn die Konservativen davor Angst haben.
Bei seinem Auftritt im Auswärtigen Ausschuss haben die Republikaner den Außenminister eine Stunde lang befragt, aber
Kerry ist souverän geblieben. Am Ende
dreht er sich nach rechts und schaut John
McCain direkt an. Die beiden kennen sich
seit 30 Jahren, beide haben in Vietnam gekämpft und sich um das Präsidentenamt
beworben, beide sind gescheitert.
„Ihr Freund Teddy Roosevelt“, sagt
Kerry zu McCain, „hat auch gesagt, dass
der Lohn denen gehört, die auf dem Spielfeld etwas zu erreichen versuchen.“
Animation: Die Akte
John Kerry
spiegel.de/app322014kerry
oder in der App DER SPIEGEL
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Ausland
Die Rückkehr der Generäle
Essay Warum in der arabischen Welt die Sehnsucht nach einem starken Herrscher wächst
Von Shadi Hamid
I
n den Jahren und Monaten vor den Aufständen von 2011 sah
es so aus, als würden sich die Araber von der Diktatur abwenden. Eine Umfrage nach der anderen zeigte, dass immer
mehr Ägypter, Jordanier und Marokkaner die Demokratie für
die beste Regierungsform hielten – mehr noch als die Menschen
in den USA. Aber „Demokratie“, als abstraktes Wort, konnte
alles bedeuten, solange es positiv war. Es war eine Sache, an
Demokratie zu glauben, und eine andere, sie zu praktizieren.
In Ägypten kam es seither zu einem besonders drastischen Verlust des Glaubens an die Demokratie, ja sogar des Glaubens an
die Politik insgesamt. Viele Ägypter unterstützten den Militärputsch vom 3. Juli 2013. Danach wandten sie sich enttäuscht von
der Politik ab, oder, noch schlimmer, sie begrüßten sogar das
Massaker, das Sicherheitskräfte am 14. August auf dem Kairoer
Rabaa-Platz anrichteten. Mehr als 600 Menschen starben, als die
Protestlager der Muslimbrüder und ihrer Unterstützer aufgelöst
wurden. Das ist nun fast genau ein Jahr her, und es wird für
immer ein dunkler Fleck in der Geschichte des Landes bleiben.
In gewisser Hinsicht hat der Arabische Frühling nicht einfach nur
das Chaos entfesselt, sondern etwas Dunkleres geweckt.
Bevor die Herrscher der Region ins Wanken gerieten, in Ägypten, Tunesien, Syrien, Libyen wie im Jemen, haben sie den Westen
gern daran erinnert, dass sie diejenigen waren, die für Frieden
und Stabilität sorgten: trotz ihrer Brutalität, oder vielleicht sogar
genau deshalb. Der ägyptische Präsident Husni Mubarak sagte
noch zehn Tage bevor er zurücktreten musste: „Die Ereignisse
der letzten Tage zwingen uns alle, als Volk und als Führung, zwischen Chaos und Stabilität zu wählen.“ In einem gewissen Sinne
hatten er und die anderen Herrscher recht: Es gab ein gegenseitiges
Tauschgeschäft. Dies waren schließlich schwache Staaten, gespalten durch Religion, Ideologie und Stammeszugehörigkeit. Die
Aufstände brachten diese inneren Konflikte fast ohne Vorwarnung
an die Oberfläche. Die arabischen Herrscher regierten Länder,
die schwer beherrschbar waren, mit willkürlich gezogenen Grenzen und unklarer Identität. Sie versprachen Stabilität für den
Preis der Freiheit. Diese Abmachung hielt über Jahrzehnte.
In Osteuropa war der Übergang zur Demokratie möglich, weil
die bis dahin herrschende Ideologie diskreditiert war. In Brasilien,
Chile oder Argentinien wiederum konnte die zumeist linke Opposition den Regime-Eliten während des Übergangs zur Demokratie versichern, dass ihre materiellen Interessen geschützt würden. Doch im Nahen Osten konnte es so eine Lösung nicht geben.
Obwohl wirtschaftliche Missstände für die tunesischen und ägyptischen Demonstranten im Vordergrund standen, wurden sie sehr
schnell überlagert von Identitätsfragen. Denn die einflussreichen
Parteien und Bewegungen, Islamisten wie Liberale, hatten, abgesehen vom allzu Offensichtlichen, wenig zur Lösung der wirtschaftlichen Probleme anzubieten. Daher rückte der Islam in
den Mittelpunkt der Auseinandersetzung zwischen Säkularen
und einer aufstrebenden islamistischen Gegenelite.
Die Grundlagen von Gesellschaft und Staat waren schon vorher
umstritten – und die Aufstände machten eine Definition noch
schwieriger. Es gab in der Bevölkerung keinen Konsens über die
Bedeutung und Bestimmung des modernen Nationalstaats und,
damit verbunden, über die Rolle der Religion in der Politik.
Die Heftigkeit dieser Konfrontation führte bei einer wachsenden Zahl „Liberaler“ und „Demokraten“ dazu, dass sie das Mi92
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litär als Retter des ägyptischen Staats unterstützten – vor allem
diesen charismatischen General namens Abd al-Fattah al-Sisi. Er
passte genau in die Rolle. Er ist ein Mann, der in und mit der Armee groß geworden und unter dem Mubarak-Regime bis zum
Chef des Militärgeheimdienstes aufgestiegen war. Jetzt inszenierte
er sich als Patriarch, der sich um seine missratenen Kinder kümmert. Viele Ägypter, zu viele, zahlten es ihm mit Dankbarkeit
zurück. Sie sehnten sich erneut nach einem starken Herrscher.
Wenn ich mit meinen Freunden im Nahen Osten darüber spreche, wie wichtig es ist, demokratische Ergebnisse zu respektieren,
selbst wenn man sie nicht gut findet, gibt es immer eine Kluft
zwischen uns. „Für dich ist das etwas, was du studierst“, sagte
mir einmal ein befreundeter Journalist. „Für uns ist das etwas,
mit dem wir leben.“ Das sollte heißen: Sie müssten schließlich
mit den Folgen der Wahlen leben. In Ägypten schien mir diese
Haltung besonders irritierend. Denn in den anderthalb unruhigen
Jahren nach der Revolution hatte die Armee das Land elendig
zugrunde gewirtschaftet, und diese Erfahrung lag nur kurz zurück.
Doch die Erinnerung daran verblasste während des Jahres, in
dem die Muslimbrüder an der Macht waren. Liberale, Linke und
selbst viele Revolutionäre hofften auf einen Neuanfang durch
die Militärs. Sie sahen eine schleichende Übernahme des ägyptischen Staats, von der Justiz
über die Medien bis hin zum
Verwaltungsapparat. Für sie
stand so viel auf dem Spiel, dass
die Gefahr eines Militärputsches unerheblich war. Sie lebten zwar nun in einer „Demokratie“, aber das erschien ihnen
nicht so aufregend, wie ihnen
die westlichen Beobachter das
vorgeschwärmt hatten. Es war
stattdessen beängstigend.
Die Rückkehr der Generäle,
die in der Präsidentschaft von
Abd al-Fattah al-Sisi gipfelt, war am offensichtlichsten und verblüffendsten in Ägypten. Aber auch anderswo hat sich Ernüchterung über die Demokratie und das damit einhergehende Chaos
breitgemacht. In Libyen, Ägypten und Tunesien führte der Sturz
der Herrscher zu einem schwachen Staat und einem Machtvakuum, das radikale Gruppen wie etwa Ansar al-Scharia in Libyen
für sich nutzten. Dort rang der demokratisch gewählte Nationalkongress von Anfang an darum, sich gegen bewaffnete Milizen
durchzusetzen, die sich mittlerweile offen bekriegen.
Der Arabische
Frühling hat nicht
nur das Chaos
entfesselt, sondern
etwas Dunkleres
geweckt.
L
ibyen, hatten viele anfangs gedacht, würde anders sein.
Es galt als unwahrscheinlich, dass die Muslimbrüder dem
Erfolg der anderen islamistischen Parteien in der Region
nacheifern würden, denn sie waren in Libyen nie besonders
stark gewesen. Die ideologischen Gegensätze im Land waren
gering: Es gab keine säkulare Elite wie in Ägypten oder Tunesien,
und selbst „säkulare“ Parteien hatten kein Problem damit, sich
der Sprache von Religion und Scharia zu bedienen. Gruppen
wie die Muslimbruderschaft hatten schon deshalb weniger Zugkraft, weil sie sich von den anderen Parteien nicht so sehr abhoben. Unterschiede in Stammeszugehörigkeit und regionaler Her-
kunft waren wichtiger. Aber auch das hat sich geändert. Als die
libyschen Muslimbrüder mächtiger wurden, weil sie besser organisiert waren als andere Gruppen, wuchs auch die Angst vor
einer islamistischen Übernahme.
Das verhalf einem anderen General, Chalifa Haftar, zu neuem
Ruhm. Haftar beansprucht, für einen „obersten Rat der bewaffneten Kräfte“ zu sprechen. Genauso nannte sich auch die Militärführung in Ägypten, die vor einem Jahr Präsident Mohammed
Mursi absetzte. Zudem trat Haftar im Februar im Fernsehen auf
und kündigte einen „Fahrplan“ an, um Libyen vor islamistischen
Milizen und Politikern zu retten, auch dies eine Parallele zu
Ägypten. Er versammelte Unterstützer um sich, mit denen er im
Mai den Nationalkongress angriff und nun gegen bewaffnete
Islamisten im Land kämpft. Wie Sisi ist auch Haftar ein neues
Gesicht und eine neue Stimme in der Ära nach dem Arabischen
Frühling – beide präsentieren sich als Retter, die Stabilität und
Sicherheit versprechen, nach dem chaotischen demokratischen
Prozess. In dieser Hinsicht steht Ägypten Pate für seine Nachbarn,
aber nicht unbedingt in der Weise, wie viele es erhofft hatten.
D
ie Kluft zwischen Islamisten und Säkularen gab es bereits
davor, aber sie schien lokal begrenzt zu sein; zwischen
den islamistischen Parteien in Nordafrika gab es außerdem große Unterschiede in ihrer Rolle und Stärke. Erst durch
den Putsch in Ägypten kam es zu einem Dammbruch. Der Konflikt wurde regionalisiert, er wurde zu einem Stellvertreterkrieg.
Auf der einen Seite standen Saudi-Arabien und die Vereinigten
Arabischen Emirate, die den Putsch unterstützten, und auf der
anderen Seite die zunehmend isolierten Staaten Katar und Türkei.
Die Anführer von Tunesiens Partei al-Nahda waren vor dem
Putsch stets darauf bedacht gewesen, sich von ihren Gleichgesinnten
in Ägypten abzugrenzen. Diese hatten in ihren Augen die islamistische „Marke“ beschädigt. Doch nachdem das Militär Mursi abgesetzt hatte, war ihre Wut spürbar. Tunesiens Islamisten solidarisierten sich mit den bedrängten ägyptischen Muslimbrüdern, vor allem
nach dem Rabaa-Massaker vom August 2013. Aber sie fürchteten
94
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zugleich eine Wiederholung des ägyptischen Szenarios in ihrer Heimat. Und auch die Islamisten in Libyen sehen den Putsch in Ägypten als Warnung vor dem, was in ihrem Land passieren könnte.
Die Partner und Abkömmlinge der Muslimbrüder sind heute
auf eine Art und Weise verschmolzen wie jahrzehntelang nicht.
Auf zahlreichen Konferenzen und Treffen in Doha, Istanbul und
anderswo diskutieren sie Strategie, Taktik und Erfahrungen sowie
die Zukunft des islamistischen Projekts. Die Bewegungen hatten
sich der friedlichen politischen Teilnahme verschrieben, nun sehen sie sich damit konfrontiert, dass einige ihrer Unterstützer
sich erneut der Gewalt zuwenden. Vor allem in Libyen und Syrien
ist Gewalt zu einer Form der Politik geworden – und Anhänger
der Muslimbrüder haben sich entweder bewaffneten Gruppen
angeschlossen oder eigene Milizen gegründet.
Es gibt unter den Islamisten nun ein Gefühl der Solidarität
und des gemeinsamen Kampfes angesichts eines als feindlich
empfundenen Umfelds. Jeder lokale Ableger der Bruderschaft
hatte auch zuvor mit existenziellen Herausforderungen zu kämpfen, doch dies ist das erste Mal, dass so viele von ihnen zur gleichen Zeit betroffen sind. Möglich gemacht hat diese islamistische
Solidarität der Arabische Frühling – im Guten wie im Schlechten.
Nachdem die Islamisten der Verlockung von Macht und Bedeutung verfallen waren, denken sie nun wieder langfristig. Sie sind
damit an einem Punkt, an dem sie schon einmal waren.
Nur zwei Monate vor den arabischen Aufständen sprach ich
mit Hamdi Hassan, der damals Fraktionschef der Muslimbrüder
im ägyptischen Parlament war. Es fanden gerade Wahlen statt,
und das Mubarak-Regime ließ sie nicht einen einzigen Sitz gewinnen. Sie schienen in ihr Schicksal ergeben, aber sie gingen
auch davon aus, dass die Geschichte auf ihrer Seite sein würde.
„In der Lebensspanne der Menschheit“, sagte Hassan, „sind
80 Jahre nicht lang, sie sind wie acht Sekunden.“
Hamid, 30, ist Wissenschaftler am Center for Middle East Policy der
US-Denkfabrik Brookings. Er ist Autor des Buchs „Temptations of Power“
über die Muslimbrüder und andere islamistische Bewegungen.
FOTO: MOHAMED EL-SHAHED / AFP
Kind bei einer Demonstration für General Sisi in Kairo: „Zwischen Chaos und Stabilität wählen“
Ausland
Im Plastozän
Global Village Warum eine Britin
an den Stränden Cornwalls
nach angeschwemmten Lego-Figuren sucht
D
er Schatz liegt in einer Plastiktüte. Tracey Williams
kippt den Inhalt auf den Küchentisch, schwarze Drachen fallen heraus, Kraken, Säbel, fingernagelgroße
Taucherflossen, Harpunen, dünn wie Haarnadeln. Williams ist
PR-Beraterin, freut sich aber wie eine Piratin über ihren Fang.
Ihr Küchentisch steht in Newquay, einem Städtchen in Cornwall. Als Mädchen fand sie im Garten ihrer Eltern eine Münze
von 1606, das habe ihre Schatzsucher-Leidenschaft entzündet,
erzählt sie. Seitdem sucht Williams nach Dingen, die andere
übersehen, am liebsten am Strand. Vor vier Jahren zog sie mit
ihrem Mann John und den beiden Kindern in ein Haus am
Rand von Newquay, zwei Minuten vom Meer entfernt. Vielleicht war es Zufall, vielleicht nicht. Jedenfalls muss Williams
nicht mehr weit gehen, um im Strandgut stochern zu können.
Sie findet Feuerzeuge, Zigarettenspitzen aus Kunststoff und
Latexhandschuhe, aber in letzter Zeit stößt sie häufiger auf
Lego-Figuren. Seit 17 Jahren werden sie an den Küsten Cornwalls angespült, mal in größerer, mal in kleinerer Zahl, was in
erster Linie mit dem Frachter „Tokio Express“ zusammenhängt.
Das Schiff war am 13. Februar 1997 von Rotterdam auf dem
Weg nach New York, als es von einer Riesenwelle getroffen
wurde, 20 Meilen vor dem Westzipfel Cornwalls. Einer der 62
Container, die dabei über Bord gingen, enthielt knapp fünf
Millionen Lego-Einzelteile, darunter die Drachen und Kraken
auf Tracey Williams’ Küchentisch. Meeresströmungen, Turbulenzen im Atlantik und Stürme sorgen dafür, dass die Figuren
bis heute in Cornwall angeschwemmt werden. Ein Schatz ist
für Tracey Williams etwas, das sie schätzt. Man muss es nicht
mit Geld aufwiegen können. Es kann ein roter Golfballhalter
sein, der Kopf einer Puppe oder ein Lego-Drache. Wenn Williams suchend am Spülsaum entlanggeht, ist sie keine PR-Beraterin mehr, sondern eine Forscherin, die das neue Plastikzeitalter seziert. Das Plastozän. „Wenn man so will, bin ich
Strandarchäologin“, sagt sie. Wie alle, die etwas suchen, ohne
es finden zu müssen, ist sie Romantikerin.
Die Lego-Figuren sind nur ein Teil ihrer Sammlung. Williams
hat begriffen, dass die Wellen nicht Zivilisationsreste anschwemmen, sondern Geschichten. Kabelbinder stellten sich bei genauer Untersuchung als Markierungen für Hummerfallen heraus;
sie hat Dutzende davon, teils 20 Jahre alt, angespült aus Neufundland und Maine. Eine Boje, die zwischen Felsen steckte,
konnte Williams zu den Akadiern in Neuschottland zurückverfolgen, den Nachfahren französischer Siedler in Kanada.
Je mehr sie fand, desto schwieriger wurden die Rätsel, die
ihr der Ozean aufgab. Voriges Jahr stieß sie auf einen braunen,
gummiartigen Block von der Größe eines Atlanten. „Tjipetir“
war darin eingeprägt. Im Internet erfuhr Williams, dass das
der Name einer Fabrik in Indonesien war, die Anfang des 20.
Jahrhunderts eine Art Kautschuk produzierte, und dass die
Blöcke auch in Holland, Frankreich und Deutschland angespült
wurden. Irgendwo auf dem Meeresgrund muss das Wrack eines
Schiffes verrotten, das seine Fracht freigibt, vermutet Williams.
Sie steigt aus ihrem Cabrio. Auf einem Parkplatz südlich
von Newquay hat sie sich mit Bekannten zur Strandsäuberung
verabredet. Zwei Lehrerinnen sind dabei, drei Kinder, ein Buchautor und die Mitarbeiterin einer Surfschule. Jemand hat Müllsäcke mitgebracht, sie finden leere Chipstüten, ausgebleichte
Spülmittelflaschen, Reste von Fischernetzen und Plastikschraubverschlüsse. Alles, was Menschen ins Meer werfen und das
Meer wieder ausspuckt. Allzu weit kommen sie nicht. Die britischen Medien haben das neue Lego-Fieber entdeckt, deshalb
ist heute auch ein Team der BBC da, es will filmen und unterbricht die Aktion dauernd. Außerdem stellt sich heraus, dass
sich der Rest der Gruppe zwar für Müll, aber mehr noch für
den Ausbau der privaten Strandgutsammlung interessiert.
Tracey Williams sagt, sie wolle die Menschen mit der LegoGeschichte wachrütteln und zeigen, dass Plastik im Ozean
nicht verschwindet, sondern immer wieder auftaucht. 2005 fanden Forscher bei Hawaii im Magen eines Albatros das Kunststoffteil eines Wasserflugzeugs, das 61 Jahre zuvor und 6000
Meilen weiter westlich abgeschossen worden war. Der LegoUnfall ist nur ein kleines, lokales Beispiel dafür, wie Strömungen das Plastik durch die Meere treiben. Es ist ein Müllkreislauf.
Das Problem ist, dass Williams mit ihrer Moral kaum durchdringt. Kürzlich hat sie auf Facebook das Foto eines Vogels
Schatzjägerin Williams
Drachen, Kraken, Säbel und Harpunen
gepostet, der an Plastik erstickt ist. „Danach hatte ich einige
Hundert Fans weniger.“ Die meisten Journalisten, die sie in
den vergangenen Wochen anriefen, waren an Lego interessiert,
nicht an der Umwelt. Sie wollten eine Sommer-Story.
Sie stapft über den Sand, vorbei an Vätern, die wie Wayne
Rooney aussehen, nur fetter und mit mehr Tattoos. Sie trinken
aus Plastikflaschen und wickeln Sandwiches aus Plastikfolie.
Williams wirkt in ihrer Jeans und den schweren Lederstiefeln
wie eine Astronautin, die sich im Planeten geirrt hat. Sie sagt,
jeder Urlauber könne zur Rettung der Meere beitragen, wenn
er auf dem Rückweg zum Auto eine Tüte Müll einsammle.
Inzwischen melden sich bei ihr Lego-Schatzjäger aus dem
ganzen Land. Fast täglich führt sie Journalisten zum Wasser.
Sie sagt, man dürfe die Menschen nicht mit der Moralkeule erziehen. Vorige Woche schickte ihr ein Verlag eine E-Mail. Ob
sie nicht Lust habe, aus dieser niedlichen Lego-Geschichte ein
Kinderbuch zu machen?
Christoph Scheuermann
DER SPIEGEL 32 / 2014
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FOTO: MARIO CACCIOTTOLO / BBC
N E W Q UA Y
Sport
Leichtathletik
„9,99 sind
machbar“
Sprinter Julian Reus, 26,
über den Reiz, um Hundertstelsekunden zu kämpfen
SPIEGEL: Sie haben bei den
Rekordsprinter Reus
Rennsport
FOTOS: SVEN HOPPE / PICTURE ALLIANCE / DPA (O.); BILD13 / IMAGO (U.)
Taube Hände
Viele Motorradrennfahrer berichten von heftigen Schmerzen
im Unterarm und Taubheitsgefühlen in der Hand. Spitzenpiloten wie die Exweltmeister Dani Pedrosa und Stefan
Bradl leiden unter erhöhtem Gewebedruck, dem sogenannten Kompartmentsyndrom. Die Muskeln werden von Faszien
ummantelt, und wenn die beim Lenken, Bremsen und Beschleunigen stark beanspruchte
Muskulatur sich ausdehnt, kann es
in der Faszie zu eng werden. Die
Durchblutung stockt, Nerven werden irritiert. „Der Rennfahrer
kann nicht mehr richtig zupacken,
die Kraft lässt nach. Und das passiert ständig, denn der Muskel
schwillt immer wieder an“, sagt
der Chirurg und Orthopäde Wolfgang Streifinger. Er hat Bradl im
Mai in der Kreisklinik Wertingen
nationalen Meisterschaften
in Ulm in 10,05 Sekunden einen neuen deutschen 100Meter-Rekord aufgestellt.
Vor zwei Jahren lag Ihre
Bestleistung noch bei 10,09
Sekunden. Was haben Sie
verändert?
Reus: Ich trainiere seit einigen Jahren im Frühjahr in
Florida. Bei warmem Wetter
kann ich schneller regenerieren, also auch intensiver trainieren. Ich habe an meiner
Bauchmuskulatur gearbeitet,
den Hüftbeuger so gestärkt,
dass ich in die optimale Laufposition komme. Ich habe
viel Krafttraining gemacht,
aber auch Videoanalysen
meines Laufstils. Wir haben
immer wieder die Winkel
meiner Beine gemessen und
Schrittlängen verglichen.
SPIEGEL: Ganz schön viel Aufwand für vier Hundertstelsekunden.
Reus: Das macht ja den Reiz
des Sprintens aus. Mit meinem Trainer und den Physiotherapeuten legen wir den
Lauf, die Bewegung ständig
unters Mikroskop und suchen Details, die noch zu
verbessern sind.
SPIEGEL: Kommende Woche
starten Sie bei den Europameisterschaften in Zürich.
Knacken Sie dort die magische 10-Sekunden-Marke?
Reus: Meine Entwicklung ist
noch nicht abgeschlossen,
9,99 Sekunden sind machbar.
Aber ich werde nicht vorher
ankündigen, wo und wann
ich das probiere. Für eine
solche Zeit müssen auch die
äußeren Faktoren stimmen:
das Wetter, der Wind und
die Bahn. Das alles kann ich
nicht beeinflussen.
SPIEGEL: Kürzlich posteten
Sie auf Ihrer Facebook-Seite
die Ergebnisliste vom Diamond-League-Meeting in
Lausanne. Sie schrieben
dazu, dass die Hälfte der
aufgeführten Sprinter eine
Dopingvergangenheit habe.
Was wollten Sie damit erreichen?
Reus: Ich finde es krass, wie
schnell in Vergessenheit gerät, dass manche Sprinter
mal gedopt haben. Athleten
wie Tyson Gay bekommen
gleich nach ihrer Sperre einen Startplatz in der Diamond League, dort werden
sie dann gefeiert. Da frage
ich mich schon: Wo bleibt
die moralische Strafe? le
am Unterarm operiert. Um die Karriere fortzusetzen, lassen
viele der Betroffenen eine Faszienspaltung vornehmen. Bei
diesem Eingriff wird die Faszie längs eingeschnitten, dadurch
bekommt der Muskel Platz zum Ausdehnen. Als Folge neigt
der Unterarm allerdings dazu, sich bei Belastung nach außen
zu wölben; außerdem bleibt eine Operationsnarbe. Das
Kompartmentsyndrom tritt bei Motorradpiloten seit einigen
Jahren verstärkt auf. Streifinger: „Dieser Sport ist extrem geworden.“ hac
Motorradrennfahrer Bradl
DER SPIEGEL 32 / 2014
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Sport
Peps Manifest
Idole Aus der großen Politik hält sich die deutsche Fußballprominenz in der Regel lieber heraus. Pep Guardiola
nicht. Der Trainer des FC Bayern kämpft leidenschaftlich
für die Unabhängigkeit seiner Heimat Katalonien.
V
or einigen Wochen flog Pep Guar- Ziel gegründet, die katalanische Sprache
diola nach Berlin, um auf dem Ale- zu fördern, mittlerweile kämpft er offen
xanderplatz an einer Demonstra- für Kataloniens Unabhängigkeit. Wer Òmtion teilzunehmen. Es war ein sonniger nium beitritt, gilt als Separatist. Guardiola
Junitag, etwa drei-, vierhundert Menschen ist seit Jahren Mitglied, seine drei Kinder
versammelten sich auf dem Alexander- hat er ebenfalls angemeldet. Muriel Casals möchte „eine sofortige
platz. Die meisten waren junge Katalanen,
die Spanien während der Wirtschaftskrise Scheidung von Spanien“, da das Verhältnis
verlassen hatten und jetzt in Deutschland „zerrüttet“ sei. Sie ist kein Hetzerin, sonnach einer Zukunft suchen, die ihr Land dern eine freundliche ältere Dame mit
ihnen nicht mehr bieten kann. Einige von kurzen grauen Haaren und einer bunten
ihnen trugen eine Senyera um den Hals, Brille. Sie ist zutiefst davon überzeugt,
die katalanische Flagge. Andere hielten dass Spanien und Katalonien nicht zusamein großes orangefarbenes Banner. Darauf menpassen.
Pep Guardiola teilt Casals’ Einschätzung.
stand: „Die Katalanen wollen wählen“. Guardiola nahm ein Mikrofon und trug Die beiden kennen sich schon lange, sind
einen Text auf Deutsch vor, ein Manifest: gut befreundet. War es schwer, den be„Seit Jahren bekunden wir Katalanen, so- rühmtesten Trainer der Welt für einen Aufwohl auf der Straße als auch an den Urnen, tritt auf dem Alexanderplatz zu bekomdass wir mittels der Demokratie entschei- men? „Nein, es war überhaupt kein Proden wollen, wie wir in diesem Europa des blem“, sagt Casals. Er sei sofort bereit
21. Jahrhunderts auftreten wollen. Auf de- gewesen, für „die Sache“ einzutreten.
Zur „Sache“ hat sich Guardiola häufig
mokratische Art und Weise haben wir in
den vergangenen fünf Jahren anhand fried- geäußert. Allerdings meist in Spanien. Vor
licher Massendemonstrationen bewiesen, einigen Jahren fragte ihn der Reporter eidass wir diese Anomalie mittels einer nes spanischen Privatsenders, was KataloVolksabstimmung am kommenden 9. No- nien für ihn bedeute. „Mein Land“, war
Guardiolas Antwort. Auf die naheliegende
vember ausgleichen möchten.“
Auch wenn die Sätze so verquast klan- Anschlussfrage, warum er dann 47-mal für
gen, als hätte sie Bayern Münchens Auf- Spanien als Nationalspieler aufgelaufen
sichtsratsmitglied Edmund Stoiber persön- sei, entgegnete er: „Die Gesetze sahen vor,
lich formuliert, war doch klar, was hier ge- dass ich für die spanische Nationalmannrade passierte. Guardiola, Trainerstar und schaft spielen musste, da die katalanische
berühmtester Katalane, forderte die Los- nicht zugelassen war. Ich bin gern zur
lösung seiner Heimatregion Katalonien Nationalmannschaft gegangen, aber man
kann nicht leugnen, was man fühlt. Ich
von Spanien. Pep Guardiola ist seit 13 Monaten Coach fühle mich nun mal sehr meinem Land verdes FC Bayern. Er gilt als leidenschaftli- bunden, Katalonien.“
Als Guardiola im Sommer 2011 als Traicher Fußballlehrer, isst gern Fisch, mag Bücher, vor zwei Monaten heiratete er seine ner des FC Barcelona im katalanischen
langjährige Lebensgefährtin Cristina Serra Parlament die Ehrenmedaille überreicht
und feierte in Marrakesch. Ansonsten ist bekam, beendete er seine Rede mit den
wenig über ihn bekannt. Guardiola meidet Worten: „Wenn wir früh aufstehen, ich
die Öffentlichkeit, er gibt keine großen In- meine sehr, sehr, sehr früh, und uns an die
Arbeit machen, dann sind wir als Land
terviews, sein Privatleben schottet er ab.
Und ausgerechnet dieser scheue Mann nicht zu stoppen. Es lebe Katalonien!“
Die in Barcelona erscheinende Zeitung
stellt sich auf den Alexanderplatz in Berlin
La Vanguardia jubelte und schrieb daraufund verliest politische Forderungen.
Guardiola hatte noch nicht einmal beim hin: „Guardiola weiß, dass, außer in BarFC Bayern Bescheid gegeben, dass er als celona, ein Termin zur frühen Stunde nie
Polit-Aktivist auftreten werde. Das Mani- vor zehn Uhr am Morgen beginnt.“ Inzwifest, das er vortrug, hat Muriel Casals ge- schen ist die Formulierung „Wenn wir sehr,
schrieben. Sie ist Vorsitzende von Òmnium sehr, sehr früh aufstehen“ ein geflügeltes
Cultural. Der Verein wurde 1961 mit dem Wort in Katalonien. Es gibt in Barcelona
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Tassen mit dieser Aufschrift zu kaufen.
Der Satz drückt die tiefe Überzeugung vieler Katalanen aus, dass man besser dran
sei, wenn man allein durchs 21. Jahrhundert marschieren könnte und nicht noch
ein Spätaufsteher-Spanien mitschleppen
müsste. Die gern von Funktionären bemühte
Floskel, Sport habe mit Politik nichts zu
tun, ist in jedem Land falsch, aber in wenigen so falsch wie in Spanien.
Im Jahr 1714 verlor Katalonien im Erbfolgekrieg seine Teilsouveränität an das
französische Königshaus der Bourbonen.
Die Region wurde an Spanien angeschlossen, die Sprache verboten. Katalonien verlor alle Privilegien, die Universitäten wurden geschlossen. Heute, dreihundert Jahre
später, schreien noch immer viele Fans des
Coach Guardiola in Berlin am 8. Juni
„Wenn wir früh aufstehen, ich meine sehr, sehr, sehr früh, und uns an
die Arbeit machen, dann sind wir als Land nicht zu stoppen. Es lebe Katalonien!“
FOTO: THOMAS PETER / REUTERS
Pep Guardiola, Trainer des FC Bayern München
FC Barcelona bei jedem Heimspiel „independència“. Und zwar genau in dem Moment, wenn die Stadionuhr 17 Spielminuten und 14 Sekunden anzeigt.
Besonders gut zu hören ist der Aufschrei, wenn Real Madrid, der ewige Rivale, zu Gast ist. Das Verhältnis zwischen
Barça und Real beschrieb Verteidiger Gerard Piqué mit den Worten: „Madrid hat
immer Spanien repräsentiert, wir immer
Katalonien.“ Barcelonas Ex-Präsident
Joan Laporta nennt das Team „die Nationalmannschaft Kataloniens“, und der ehe-
malige Barça-Trainer Sir Bobby Robson
erkannte: „Man muss Katalonien als Nation ohne Staat verstehen und Barça als
seine Armee.“ Man könnte hinzufügen: Und Guardiola
gebührt die Rolle des Generals.
Pep Guardiola ist der erfolgreichste Trainer in der bisherigen Geschichte des FC
Barcelona. Mit ihm hat der Klub – und somit ganz Katalonien – nicht nur viele Siege
errungen, sie haben der Welt gezeigt, dass
es sie gibt. Und dass sie besser sind als
Real Madrid, also als Spanien. Es gibt Ka-
talanen, die nur einen einzigen Satz auf
Englisch sprechen können: „Catalonia is
not Spain.“
Der Standardvorwurf aus Madrid Richtung Katalonien lautete über viele Jahre,
dass sie alle – Klub und Region – Heulsusen seien, die sich in ihrer Opferrolle
wohlfühlten. Santiago Bernabéu, langjähriger Präsident von Real Madrid, behauptete, dass die Menschen aus dem Zentrum
Spaniens „die robustesten aller Spanier“
seien. Die Kastilier, wie sie genannt werden, seien „die wildesten auf dem SchlachtDER SPIEGEL 32 / 2014
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Sport
Land: Katalonien, meine Sprache: das Katalanisch, mein Tanz: die Sardana, mein
Traum: die Freiheit“.
Valentí Guardiola, ein angenehmer, höflicher Herr, möchte über seinen Sohn nicht Leichtathletik Renaud Lavillenie,
sprechen, das hat er ihm versprochen.
Aber zur Politik in Katalonien äußert er Weltrekordler im Stabhochsprung, ist kein Modellathlet –
sich gern.
Am 9. November wird er wählen gehen. doch das gleicht der Franzose
Für diesen Tag hat die Regionalregierung
Kataloniens ein Referendum über die Un- mit einer Portion Wahnsinn aus.
abhängigkeit anberaumt. Der Moment erscheint günstig. Seit Spanien in der
ie Senioren der Diabetiker-Sportschlimmsten Wirtschaftskrise seiner Gegruppe haben ihren Kurs unterbroschichte steckt, steigt die Zustimmung für
chen, sie stehen auf der Stadiontridie Unabhängigkeit, einigen Umfragen zu- büne von Clermont-Ferrand und warten.
folge auf über 50 Prozent. Vor der Krise Neben ihnen hocken 50 Jugendliche von
war nur knapp ein Fünftel der Bevölke- einer nahe gelegenen Schule. Reporter der
rung Kataloniens für die Abspaltung.
Lokalpresse sind da, ein Team des TV-SenValentí Guardiola wird natürlich für die ders France 2 ist gekommen, sieben FilmUnabhängigkeit stimmen. Er nimmt auch kameras sind in Stellung gebracht.
seinen berühmten Sohn in die Pflicht. „Ich
Alle warten auf Renaud Lavillenie. Ein
wünschte mir sehr, Pep würde stärker für Sponsor des Stabhochspringers hat zum
unsere Sache eintreten. Er sollte die Mög- öffentlichen Training eingeladen. Es sind
lichkeit nutzen und im Ausland die Lage Werbefahnen aufgestellt, neben der
in Katalonien erklären. Er hat eine gewich- Sprunganlage steht ein Buffet.
tige Stimme.“
Lavillenie, 27, neonfarbenes Shirt, neonVielleicht tut Pep Guardiola gut daran, farbene Schuhe, kommt ins Stadion gedas so zu handhaben wie bisher. Also nicht schlendert. Ein kurzes Aufwärmprogramm,
zu oft mit dem Thema öffentlich aufzutre- dann stellt er sich mit dem Stab auf die
ten. Die Schönheit des Fußballs besteht da- Anlaufbahn, die Zuschauer klatschen im
rin, dass er furchtbar einfach sein kann. An- Rhythmus. Lavillenie beschleunigt, hebt
ders als die Politik, die selten einfach ist.
ab und katapultiert sich über 5,50 Meter.
Wer in Deutschland hat die Muße, sich „Und jetzt 6,16 Meter“, ruft ein Rentner
mit der katalanischen „Sache“ zu beschäf- von der Tribüne. Lavillenie lächelt und
tigen? Guardiola ist für die meisten Deut- winkt. Jeder hier kennt die Zahl: 6,16. Es
schen ein Spanier, der etwas von Fußball ist der neue Weltrekord im Stabhochversteht. Es klingt für deutsche Ohren sprung, der Rekord von Lavillenie.
ermüdend, wenn Südtiroler, Korsen oder
Die Bestmarke im Stabhochsprung geKatalanen erklären, warum sie so ganz an- hört zu den legendären der Leichtathletik.
ders seien als ihre Landsleute, mit denen Der Ukrainer Sergej Bubka verbesserte sie
sie seit teilweise Hunderten Jahren zu- in den Achtziger- und Neunzigerjahren
sammenleben.
35-mal, er schraubte sie Zentimeter für
Der Kampf um die katalanische Unab- Zentimeter nach oben, bis auf 6,15 Meter.
hängigkeit könnte ein Ziel sein, das nicht Die Höhe galt als Rekord für die Ewigkeit,
einmal Guardiola erreicht. Die spanische 20 Jahre lang kam keiner in ihre Nähe.
Verfassung sieht sie nicht vor, die Mehrheit
Nun hat Lavillenie den Rekord geder Spanier lehnt sie ab, viele Unterneh- knackt, ein Mann aus der französischen
mer in Katalonien wollen sie nicht, weil Provinz, der im linken Ohr einen Glitzer80 Prozent der katalanischen Waren nach stein trägt und im Vergleich zu seinen KonRestspanien gehen. Und wäre die konser- kurrenten aussieht wie ein Hänfling.
vative Regierung in Madrid mit ihrer abLavillenie wurde 2012 Weltmeister und
soluten Mehrheit eine Spur weniger selbst- in London Olympiasieger, er ist der Favorit
gerecht und ein wenig kompromissbereiter, bei den Europameisterschaften kommende
würde auch die Zustimmung für eine Ab- Woche in Zürich. Doch erst sein Weltrespaltung unter den Katalanen sinken.
kordsprung im Februar in Donezk machte
Kurz nachdem Pep Guardiola bei der ihn zum Star. Als er danach auf dem FlugDemo auf dem Alexanderplatz das Mikro- hafen in Paris landete, empfingen ihn Dutfon weglegt, erklingt katalanische Folklore. zende Journalisten und Fans. Mehrere PoliJemand reicht ihm ein weinrotes T-Shirt, zisten mussten Lavillenie abschirmen, er
auf dem auch das Motto steht: „Katalanen flüchtete in einen Aufzug.
wollen wählen“. Er zieht es über und beNach dem Training in Clermont-Ferrand
grüßt einige der Fans, die ihm wild auf die erzählt Lavillenie, wie sich sein Leben seit
Schultern klopfen. Guardiola lächelt und Februar verändert hat. Am Anfang sei der
wirkt ein wenig verloren. Fünf Minuten Trubel noch lustig gewesen, sagt er. „Doch
später ist er auf dem Rückweg nach Mün- irgendwann wurde ich gefragt, ob ich bei
chen.
Juan Moreno einem Geburtstag als springender Clown
Der Vielflieger
Fußballlehrer Guardiola
Von Trainern in aller Welt kopiert
feld. Im Kampf Mann gegen Mann würden
wir die Katalanen jederzeit besiegen“.
Guardiola hat die Katalanen von ihrem
Minderwertigkeitskomplex gegenüber Madrid erlöst. Als Spieler verhalf er Barcelona zu seinem ersten Sieg im Europapokal
der Landesmeister 1992. Als Trainer erfand
Guardiola den Barça-Code, jenen eleganten und rasanten Ballbesitzfußball, der inzwischen von Teams und Trainern in aller
Welt kopiert wird. Drei Meisterschaften
und zwei Triumphe in der Champions League holte Guardiola für Barcelona. Das alles sehen Katalanen, wenn sie an ihn denken. Guardiola ist das, was möglich wäre.
Ein Katalane, der sein Potenzial ausschöpft. Artur Mas, Kataloniens Präsident,
gab einmal zu, dass er gern etwas von
Guardiolas Charisma hätte. Muriel Casals,
die Aktivistin aus Barcelona, sagt: „Guardiola hat unser Selbstbewusstsein verändert. Seine Erfolge haben uns gezeigt, dass
wir als Katalanen den Kampf um die Unabhängigkeit gewinnen können.“
Pep Guardiola ist in Santpedor geboren,
etwa 75 Kilometer nördlich von Barcelona.
Wer verstehen will, warum der heutige Bayern-Trainer auf einen einzigen Anruf hin
schnurstracks auf den Alexanderplatz eilt,
um politische Reden zu schwingen, sollte
in dieses Dorf fahren.
Santpedor liegt im Kernland des katalanischen Separatismus. Der Ort wird von
der linksnationalen Regionalpartei Esquerra Republicana de Catalunya regiert. Auf
dem Rathausdach sollte laut Gesetz unter
anderem die spanische Fahne wehen. Die
Bürgermeisterin hat sie entfernen lassen.
An den Häuserfassaden wehen Unabhängigkeitsflaggen. Die Mehrheit der Bewohner von Santpedor würde sich lieber heute
als morgen von Spanien abspalten.
Das gilt auch für den ehemaligen Maurer Valentí Guardiola, Pep Guardiolas Vater. An seiner Hauswand hängen gleich
zwei Fahnen, und im Haus findet sich ein
kleiner Wandteller, auf dem steht: „Mein
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DER SPIEGEL 32 / 2014
FOTO: LACKOVIC / IMAGO
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FOTOS: GETTY IMAGES (O.); ALEXA BRUNET / TRANSIT (U.)
Stabhochspringer
Lavillenie bei
Show-Wettkampf vor
dem Eiffelturm
auftreten könnte.“ Sein Manager blockt
jetzt die meisten Anfragen ab.
Dass sich Lavillenie zum König der Lüfte aufgeschwungen hat, gilt als Sensation.
Er entspricht nicht dem Prototyp eines
Springers. Lavillenie misst 1,77 Meter und
wiegt 69 Kilogramm, er ist der Kleinste
und Leichteste im Kreis der Sechs-MeterSpringer. Doch weil er auch einer der
Schnellsten im Anlauf ist, biegt Lavillenie
den Stab so lange und stark wie kein anderer. Bei seinen Sprüngen sieht es aus,
als wäre sein Sportgerät nicht aus Fiberglas,
sondern aus Gummi.
„Es geht nicht darum, wie viel Energie
du in den Stab steckst“, sagt Lavillenie,
„es geht darum, wie viel du rausholst.“ Er
könne die Biegung optimal nutzen, auch
wegen seiner Figur. Wer leichter ist, den
katapultiert der Stab höher hinaus. Wer
kleiner ist, kann geschmeidiger nach oben
turnen, sich über die Latte schlängeln.
Stabhochsprung ist eine komplexe Disziplin, der Bewegungsablauf muss jahrelang trainiert werden. Viele Springer sind
Hobbyphysiker, sie beschäftigen sich mit
Biomechanik, mit Impulsübertragung und
athletik. Die stürzen sich mit dem Snowboard in die Halfpipe, die machen Extremsport.“ Für Bundestrainer Jörn Elberding
ist Lavillenie „ein Wahnsinniger“. Kein
Athlet würde den Stab so hoch greifen,
niemand würde sich trauen, so weit vor
der Matte abzuspringen.
Lavillenie sagt, er habe eben „größere
mentale Kapazitäten“ als andere. „Ich stelle mir keine Fragen, während ich auf den
Einstichkasten zurenne“, sagt er.
Manchmal schrammt Lavillenie damit
knapp an einer Katastrophe vorbei. Nach
seinem Weltrekord ließ er die Latte
prompt auf 6,21 Meter legen. Der Versuch
misslang, Lavillenie wurde zurück auf die
Anlaufbahn geschleudert. Er zog sich eine
Risswunde an der Ferse zu, die mit zwölf
Stichen genäht werden musste.
Im Kampf um globale Aufmerksamkeit
und TV-Übertragungszeiten ist die Leichtathletik auf Charaktere wie Lavillenie angewiesen. Bei den vergangenen drei Weltmeisterschaften waren die Stadionränge
nur bei den Auftritten des 100-Meter-Sprinters Usain Bolt einigermaßen voll.
Die neuneinhalb Sekunden kurzen Laufspektakel bilden jedoch kaum die Vielfalt
einer Sportart ab, die aus über 20 Disziplinen besteht. Inzwischen werden auch
viele Stabhochsprung-Wettkämpfe als
Show inszeniert, sie finden an Stränden
und auf Marktplätzen statt. Lavillenie
sprang kürzlich vor dem Eiffelturm.
Bei Wettkämpfen schlägt er manchmal
über der Latte einen Rückwärtssalto. Die
Aktion ist ein Markenzeichen von ihm, er
versteht sich als Entertainer. Neben Bolt
ist er einer der wenigen Leichtathleten mit
Vermarktungspotenzial. Er twittert unter
Spannenergie. Die deutschen Athleten am seinem Spitznamen Air Lavillenie, der
Stützpunkt in Leverkusen nutzen Mess- ebenfalls auf seinen Stäben und Startnumplatten, mit denen sie ihren Absprung- mern steht. Er hat mehrere Sponsoren, für
Werbeaufnahmen eines Unterwäscheherdruck ermitteln können.
Die Deutschen würden die Messungen stellers sprang er auch schon nackt.
Auf Stabhochspringer wirkt beim Einsehr ernst nehmen, sagt Lavillenie und lächelt. Er habe einen anderen Zugang. „Ich stich ungefähr das Dreieinhalbfache ihres
suche nicht den perfekten Sprung. Ich ar- Körpergewichts. Viele Athleten leiden unbeite mit Gefühl, mir geht es darum, ab- ter Überlastungsschäden, 20 bis 30 Sprünzuheben. Ich bin mehr der Surfertyp, die ge pro Training sind für sie das Maximum.
Bewegung, das Springen an sich ist das, Lavillenie springt bis zu 80-mal.
Selbst am Abend noch. Er hat sich eine
was ich für mein Leben gern mache.“
Stabhochspringer sind Artisten, sie ha- Stabhochsprunganlage hinter sein Haus
ben ein feines Gespür für ihren Körper – gestellt, direkt in den Garten. „Andere
und für brenzlige Situationen. Wenn sie hängen sich einen Basketballkorb in die
Garageneinfahrt, ich habe
den Stab schlecht eingestoeine Sprungmatte“, sagt Lachen haben, brechen sie den
villenie. Das sei immer sein
Sprung sofort ab. Lavillenie
Traum gewesen. Kürzlich gab
ist bekannt dafür, seine
er eine Party, ein paar FreunSprünge immer durchzuziede kamen, auch Jean Galhen. Egal, was passiert.
fione war da, der Olympia„Renaud lotet seine Grensieger von 1996. Die Gäste
zen nicht aus, er ignoriert sie
grillten, tanzten, schwammen
einfach“, sagt der deutsche
im Pool – und machten ein
Athletenmanager Marc Osenbisschen Stabhochsprung.
berg, „solche Typen landen
Leichtathlet Lavillenie
eigentlich nicht in der LeichtLukas Eberle
DER SPIEGEL 32 / 2014
101
Wissenschaft+Technik
Schwarzer Raucher
im Indischen Ozean
Meeresforschung
„Jo-Jo in der Wassersäule“
Ulrich SchwarzSchampera, 48,
von der Bundesanstalt für
Geowissenschaften und
Rohstoffe (BGR)
in Hannover über die geplante
Exploration von Erzvorkommen im Indischen Ozean
SPIEGEL: Ende Juli hat die In-
ternationale Meeresbodenbehörde Deutschland eine
neue Lizenz zur Erkundung
von Bodenschätzen am
Meeresgrund erteilt. Wo
genau wollen Sie auf die
Suche gehen?
Schwarz-Schampera: Wir
werden ein 10 000 Quadratkilometer großes Gebiet im
Indischen Ozean erkunden,
fünf Tagesreisen südöstlich
von Madagaskar. In etwa
3000 Meter Tiefe existieren
dort sogenannte Schwarze
Raucher. Aus diesen bis zu
400 Grad heißen Vulkanquellen am Meeresgrund
treten schwarze Wolken aus
Mineralien aus, die auf ver-
borgene Erzlager hinweisen
können.
SPIEGEL: Um welche Erze
geht es dabei?
Schwarz-Schampera: Dort
unten haben einige Felder
einen Kupfergehalt von
24 Prozent, das sind damit
die höchsten Metallanreicherungen, die bisher vom
Meeresboden bekannt sind.
SPIEGEL: Wie funktioniert
die Erkundung?
Schwarz-Schampera: Wir
konstruieren derzeit einen
mit Sensoren bestückten
Schnüffelschlitten, der hinter unserem Erkundungsschiff hergezogen wird und
sich dabei wie ein Jo-Jo
in der Wassersäule auf und
nieder bewegt. Mit dieser
Methode wollen wir nach
den Wolken voller Mineralien fahnden, die aus den
Schwarzen Rauchern austreten und uns mögliche Lagerstätten anzeigen.
SPIEGEL: Kritiker warnen,
dass die unterseeischen Biotope unter der Exploration
leiden könnten.
Schwarz-Schampera: Wir
nehmen Proben aus der gesamten Wassersäule, Biologen ermitteln anschließend
alle darin vorkommenden
Lebensformen. Die empfindlichen Biotope bleiben
garantiert unangetastet. hil
Kommentar
D
ie Partnerbörse OkCupid hat heimlich
Menschenversuche mit ihren Kunden
angestellt. In einem Experiment wurde das
Computerprogramm manipuliert, das zwei
Liebessuchenden verraten soll, wie gut sie
zusammenpassen. In einem Fall errechnete
die Software beispielsweise einen Wert von
nur 30 Prozent. Angezeigt wurde den
Kandidaten hingegen, dass er und sie zu
90 Prozent zusammenpassen: High Score
d’amour! Und was geschah nach der
geschönten Liebesprognose? Die nichts
ahnenden Versuchspersonen flirteten
beinahe so intensiv miteinander wie jene,
deren Übereinstimmung tatsächlich bei
90 Prozent lag. Das Computerorakel wirkte
also als selbsterfüllende Prophezeiung.
Ist es verwerflich, derart mit den Gefühlen
von Menschen zu spielen? Treibt die Part102
DER SPIEGEL 32 / 2014
nerbörse einsame Herzen in die Arme
unpassender Liebhaber, vielleicht sogar in
eine unglückliche Ehe? Alles Quatsch. Vor
allem zeigen die Experimente, dass die Liebesprognosen nicht allzu ernst genommen
werden sollten. Wer seine Bekanntschaft
nur nach den Empfehlungen eines Computerorakels aussucht, überschätzt die Aussagekraft solcher Prognosen, die oft mehr mit
Spökenkiekerei als mit seriöser Wissenschaft zu tun haben. In Wahrheit entstehen
die Empfehlungen von Partnerbörsen
durch Herumprobieren – das ganze System
ist ein großes Experiment. Eine Konsequenz aus den Tests könnte sein, die spekulative Prozentangabe zukünftig nicht mehr
anzuzeigen, um den Partnersuchenden
nicht den unbefangenen Blick auf ihre Liebeskandidaten zu verbauen. Hilmar Schmundt
Computer
Bildschirm mit Brille
Adieu, Lesebrille! Wissenschaftler haben ein Display
entwickelt, das sich automatisch an die Fehlsichtigkeit
des jeweiligen Betrachters
FOTOS: GEOMAR (L.O.); CHRISTOPH BEIER (L.M.)
Hört nicht auf Liebesorakel!
Wächter im All
FOTO: NASA
Der Mond (u. r.) schob sich am
26. Juli zwischen die Sonne und
das Weltraumteleskop „Solar Dynamics Observatory“. Das im All
schwebende Observatorium dient
als Frühwarnsystem für sogenannte Sonneneruptionen (hellgelb) –
die fortgeschleuderten Partikelströme erreichen teils nach nur
acht Minuten die Erde und können
hier Stromausfälle auslösen.
anpasst. „Wir setzen nicht
dem Leser eine Brille auf,
sondern dem Bildschirm“,
sagt Gordon Wetzstein vom
MIT Media Lab. Der Brillenbildschirm beruht auf der sogenannten Lichtfeld-Technik,
bei der jedes einzelne Pixel
des Displays über eine Lochschablone auf die richtige
Stelle der Netzhaut projiziert
wird. Ein ähnliches Verfahren
kommt bereits zum Einsatz,
um bei 3-D-Bildschirmen ein
Gefühl von räumlicher Tiefe
hervorzurufen. red
Fußnote
36
Gesten umfasst das erste Wörterbuch der
Schimpansensprache, das schottische Affenforscher in der Zeitschrift Current Biology
vorgestellt haben. Die äffischen Gesten
erinnern teils stark an menschliche. Das
Aufstampfen mit den Füßen etwa heißt bei
Schimpansen: Lass uns spielen! Eine
Luftumarmung bedeutet: Komm näher!
DER SPIEGEL 32 / 2014
103
Patient Bertrand Might (r.), Familie
Die Kinder ohne Tränen
„The Genome is a language we are just
learning“ (Inschrift auf dem Uni-Campus
in Stanford).
K
inder sind meist keine gern gesehenen Gäste auf medizinischen Fachtagungen. Doch beim Symposium
für seltene Krankheiten des Sanford-Burnham-Forschungszentrums im kalifornischen La Jolla in diesem Februar saßen sie
in der ersten Reihe: Bertrand aus Salt Lake
City, Grace aus Menlo Park und Tim aus
104
DER SPIEGEL 32 / 2014
Was Freeze und seine Kollegen so rührDeutschland. Bertrands Schwester hatte einen Ball mitgebracht. Tim robbte ihm auf te, war das Zusammentreffen von Kindern,
die das gleiche Schicksal teilen. Sie begegdem Boden vor dem Podium hinterher.
Während die Kinder spielten, hielten die neten sich am Ende einer langen Reise
Forscher ihre Vorträge. Es waren Kliniker, „durch die diagnostische Wüste“, wie es
Stoffwechselexperten und Genetiker von Freeze beschreibt.
Bertrand, Grace und Tim leiden an einer
Weltrang. Statt vom Kinderlärm genervt
zu sein, waren viele den Tränen nahe. „Das sehr seltenen Krankheit, die bis vor Kurwar ein magischer Moment“, erinnert sich zem noch unbekannt war und erst mithilfe
Hudson Freeze, Direktor am Sanford Chil- moderner molekularbiologischer Methodren’s Health Research Center in La Jolla, den entschlüsselt werden konnte. Ihre Geschichte erzählt vom Wandel, der sich ge„einer der besten in meiner Karriere.“
FOTO: STACI CUMMINGS
Medizin Überall auf der Welt leiden Kinder an mysteriösen Krankheiten, die so selten
sind, dass kein Arzt die richtige Diagnose stellt. Nun ist es Genforschern
gelungen, ein solches Erbleiden zu entschlüsseln – weil die Eltern nicht aufgaben.
FOTO: WINNI WINTERMEYER
Wissenschaft
genwärtig in der Erforschung solcher mysteriösen Leiden vollzieht.
Die Geschichte erzählt auch von irrwitzigen Zufällen, von Eltern, die das Schicksal ihrer Kinder nicht nur Ärzten überlassen wollen. Und es ist eine Geschichte über
jene Hoffnung, so sagt es Bertrands Vater,
„die nur die Wissenschaft bieten kann“.
Rund drei Prozent aller Kinder kommen
mit einer genetischen Schädigung zur
Welt, schätzt der Genetiker Mike Snyder
von der kalifornischen Stanford University. „Bei etwa der Hälfte wissen wir ziemlich schnell, was los ist“, sagt er, „bei der
anderen nicht.“
Viele Eltern erfahren nie, was genau
ihren Kindern fehlt. Kaum ein Kinderneurologe, den nicht seine ungeklärten
Fälle quälen. In Deutschland stranden diese vor allem in den Sozialpädiatrischen
Zentren und in Epilepsiekliniken, denn
viele mysteriöse Leiden gehen mit Anfällen einher.
Etwa 7000 seltene Krankheiten sind gegenwärtig bekannt – Syndrome, von denen
weniger als 5 von 10 000 Menschen betroffen sind. Wer darunter leidet, muss oft jahrelang von Arzt zu Arzt pilgern, bis endlich einer die richtige Diagnose stellt.
Schlimmer noch sind für die Betroffenen
jene rätselhaften Leiden, die bislang kein
Arzt der Welt kennt.
Als sich die Eltern von Bertrand Might,
dem ältesten der drei Kinder in dieser Geschichte, auf den Weg in die diagnostische
Wüste machen, ahnen sie nicht, dass ihr
Kind an einer solchen namenlosen Krankheit leidet.
Im Dezember 2007 kommt Bertrand zur
Welt, ein Junge mit dunklen Augen und
braunem Haar. Er hat Neugeborenen-Gelbsucht, wie viele Babys, ansonsten scheint
er gesund. Sein Vater eröffnet ein Sparkonto fürs College.
Doch als Bertrand drei Monate alt ist,
erscheint seine Entwicklung plötzlich wie
eingefroren. Seinen Eltern Matt und Cristina fallen die seltsamen Bewegungen ihres
Sohnes auf; „ruckelig“ nennen sie sie. Er
lächelt nie. Ein Kinderarzt vermutet einen
Hirnschaden. Es ist die erste von vielen
Hiobsbotschaften.
Ein Hirnscan zeigt nichts Auffälliges.
Doch der behandelnde Neurologe ist alarmiert. Bertrands Symptome passen zu keiner Krankheit, die der Mediziner kennt.
Im Blut des Kindes sind Eiweiße, die die
Ärzte eine neurodegenerative Erkrankung
vermuten lassen – unaufhaltsam, tödlich.
Es gibt einen Gentest für dieses Leiden:
Bertrand hat es nicht. Dann finden die Mediziner verdächtige Zuckerketten in seinem Urin: wieder ein Hinweis auf seltene
Stoffwechselkrankheiten, eine schlimmer
als die andere. Bertrand hat keine davon.
Dennoch geht es ihm immer schlechter.
Seine Leberwerte sind erhöht – die Mediziner tippen auf fortschreitende Zerstörung des Organs. Er hat epileptische Anfälle, sein EKG zeigt Hinweise auf Herzrhythmusstörungen. Es scheint, erinnert
sich sein Vater, als hätten Leber, Hirn und
Herz seines Sohnes „einen finsteren Wettstreit eröffnet mit dem Ziel, ihn umzubringen“. Besonders auffällig: Der Junge produziert so gut wie keine Tränenflüssigkeit.
Genetiker Snyder
Lange Reise durch die diagnostische Wüste
Seine Augen sind oft entzündet, die Hornhaut ist vernarbt.
Matt Might ist Informatiker an der University of Utah, er glaubt an die Forschung.
Von neuen Methoden der Molekularbiologie erhofft er sich zwar keine Heilung, aber
doch eine Erklärung für die Leiden seines
Sohnes. Er nimmt Kontakt zu Genforschern auf, lässt sich beim Abendessen vorrechnen, was es kosten würde, Bertrands
komplettes Erbgut zu untersuchen.
Die Antwort ist deprimierend: Mit allen
notwendigen Analysen und Wiederholungen zur Vermeidung von Fehlern, erfährt
Might, lägen die Kosten bei rund einer halben Million Dollar. Denn die Forscher könnten nicht gezielt nach einer bereits bekannten Krankheit suchen – das wäre inzwischen bezahlbar –, sie müssten in den Milliarden Basenpaaren in Bertrands Genom
nach unbekannten Veränderungen fahnden.
An der ersten Entschlüsselung des
menschlichen Genoms arbeiteten Hunderte
Wissenschaftler mehr als zehn Jahre lang.
2003 präsentierten sie der Welt den Bauplan des Lebens. Das Humangenomprojekt
hatte bis dahin rund drei Milliarden Dollar
verschlungen. Heute kostet das reine Auslesen der DNA noch etwa tausend Dollar.
Und Bioinformatiker entwickeln immer
klügere Programme, um dem Buchstabensalat seine Geheimnisse zu entreißen.
Die Preise werden also weiter fallen.
Aber noch kostet die Suche nach unbekannten Mutationen viel Geld.
Die Mights lassen sich davon nicht abschrecken. Sie finden einen Weg, das Erbgut ihres Sohnes untersuchen zu lassen –
ebenso wie die Familie Wilsey.
A
n einem warmen Tag im Mai dieses
Jahres trägt die vierjährige Grace
Wilsey ein blau kariertes Sommerkleid mit bunten Stoffblumen, das vor
Jahrzehnten einmal ihrer Tante gehörte.
Mit unsicherem Schritt stakst sie über eine
Wiese auf dem Uni-Campus in Stanford.
Erst vor einem Jahr fing Grace an zu laufen, seit Kurzem kann sie Treppen steigen,
auf Stühle klettern und vom Boden aufstehen, ohne sich hochzuziehen.
Ihr iPad in lila Gummihülle ist vollgepackt mit „Sesamstraße“-Episoden –
Grace ist ein Fan vom roten Pelzmonster
Elmo –, mit Fotos und Videos von ihrer
Familie, von Alltagsdingen wie ihrem Lieblingsspielzeug, ihrem Bett. Grace spricht
nur ein paar Worte, aber sie klickt sich mit
großer Sicherheit durch die Symbole ihres
Sprachprogramms. „I want music“, sagt
sie oft. Sie liebt die Songs von Katy Perry.
Die meisten Eltern würden viel tun, um
ihrem kranken Kind zu helfen. Bei den
Wilseys bekommt diese schlichte Erkenntnis eine neue Dimension.
Seit Grace’ Geburt reisen sie mit ihr
von Arzt zu Arzt. Knapp zweihundert
DER SPIEGEL 32 / 2014
105
Grace hat von ihren Eltern Lesen lernen
Mediziner und Wissenschaftler haben das
Kind inzwischen untersucht, schätzt Mut- je eine beschädigte Kopie geter Kristen. Die meisten haben die Wilseys erbt, sodass das Gen bei ihr Der Preissturz der
*
selbst aufgetan, durch Empfehlungen von gleichsam ausgeschaltet ist. Genomanalysen
Freunden und Bekannten und jenen Ex- Doch die anderen sieben Muperten, bei denen sie schon waren. Sie tationen können ebenso gut
Mio. Dollar
wollen nur die besten im jeweiligen Fach- der Auslöser der Krankheit kostete die Entschlüsselung
sein. Die Forscher müssen eines Humangenoms 2001.
gebiet.
Einmal stellten sie Grace den Fachleuten nun die Fachliteratur nach Sept. 2001
100 Mio.
der US-amerikanischen National Institutes Informationen über jedes
logarithmische
of Health vor, wo es ein Spezialprogramm einzelne ihrer verdächtigen
Darstellung
für seltene Krankheiten gibt. „Der Direk- Gene durchforsten. Außertor des Programms sagte, wir hätten schon dem versuchen sie im Labor
unser eigenes Seltene-Krankheiten-Pro- in Zellkulturen zu enträtseln,
gramm absolviert“, sagt ihr Vater Matt, was Veränderungen in diesen
Genen anrichten können.
„mehr könnten sie auch nicht machen.“
Die Wilseys lassen Grace’
In seinem früheren Leben war Matt Wilsey Politikberater und Unternehmer. Jetzt Erbgut auch am Baylor Colist seine Tochter sein Job, mehr noch: seine lege of Medicine im texaniMission. Auf seinen Visitenkarten nennt schen Houston auslesen.
10 Mio.
er sich „Rare Disease Advocate“, Anwalt Dort setzt später Genforfür seltene Krankheiten. „Ich habe immer scher Matthew Bainbridge
daran geglaubt, dass wir eine Diagnose fin- NGLY1 auf seine Liste der
den werden“, sagt Wilsey. „Und jetzt bin möglichen Verursacher. In
ich überzeugt, dass wir eine Therapie ent- einer Fachzeitschrift stößt er
auf einen erst kürzlich erwickeln können.“
Für manche der Forschungsprojekte hat schienenen Artikel. Kollegen
die Familie selbst Geld zur Verfügung ge- beschreiben darin den Fall eistellt – ebenso wie die Mights, die aus ei- nes Kindes mit verschiedegener Tasche einen Teil der Forschung von nen Symptomen, die sie auf Jede Körperenthält
Hudson Freeze finanzieren. Durch Stiftun- Mutationen im NGLY1-Gen zelle
die gesamte
1 Mio.
zurückführen.
gen soll es nun noch mehr werden.
Erbinformation
Wenn der Junge weint, eines IndividuAuf Matt Wilseys Visitenkarte stehen
seine Telefonnummer, E-Mail-Adresse und fließen keine Tränen.
ums, festgeEs ist Bertrand Might.
die Symptome der mysteriösen Krankheit,
schrieben in
Bainbridge schreibt eine der DNA mit
darunter globale Entwicklungsverzögerung, Hypotonie, erhöhte Leber-Transami- E-Mail an Grace’ Mutter: mehr als 6
nasen, Bewegungsstörung, Krampfanfälle, „Produziert Grace Tränen?“ Milliarden
Schielen – und der auffällige Mangel an Fast gar nicht, antwortet Kris- Basenpaaren
ten Wilsey. Nach ein paar Ta- und
Tränenflüssigkeit.
21000 Genen,
Auch bei Grace tippten viele Ärzte an- gen meldet sich Genetiker die Bauanfangs auf bereits bekannte Stoffwechsel- Bainbrigde bei den Wilseys: leitungen für
100000
krankheiten, darunter solche, bei denen „Ich glaube, ich habe es.“
Proteine sind.
Der Aufsatz, der Baindie Mitochondrien – die Kraftwerke der
Zellen – nicht richtig funktionieren. „Bei bridge auf die richtige Fährte
diesen Krankheiten ist die Lebenserwar- bringt, stammt von David
tung gering“, sagt Kristen Wilsey, „wir ha- Goldstein, einem Genetiker
ben jeden Tag mit der Trauer um unser an der Duke University in
Kind gelebt und mit der Angst, dass es Durham im Bundesstaat
Prozent
North Carolina. Bei ihm waGrace bald schlechter gehen könnte.“
des Genoms entDie Wilseys lassen ihr eigenes Erbgut ren die Mights gelandet, um halten Informatiound das ihrer Tochter sequenzieren, im La- das Erbgut ihres Sohnes un- nen für den Aufbau
bor des Genetikers Mike Snyder in Stan- tersuchen zu lassen. Weil von Proteinen. Darin
10000
ford. „Wir sind weit davon entfernt, die Bertrand in eine Studie über kann gezielt nach
Funktion jedes Gens zu kennen“, sagt der seltene Krankheiten aufge- Mutationen gesucht
Wissenschaftler, „das macht es kompli- nommen worden war, konn- werden.
te das Experiment am Ende * bezogen auf den einfachen
ziert.“
Chromosomensatz
Snyder und seine Mitarbeiter suchen doch gemacht werden.
**
US-Firma Illumina
Goldstein hatte nicht das laut
nach Veränderungen in Grace’ Erbgut im
Quellen: NHGRI, Ensembl
Vergleich zu dem ihrer Eltern und anderer gesamte Genom ins Visier gegesunder Testpersonen. Nach und nach nommen, sondern nur jene
schließen die Forscher jene Unterschiede DNA-Abschnitte, die tatsäch- Neueste Verfahren
aus, die offenkundig nichts mit der rätsel- lich den Aufbau von Eiwei- haben die Kosten für
haften Erbkrankheit zu tun haben. Am ßen vorgeben, die sogenann- eine Genomanalyse auf
Ende stehen acht verdächtige Mutationen ten Exons. Sie machen nur
Dollar ** 2014
auf der Liste, darunter Veränderungen in ein bis zwei Prozent der Erbsinken
lassen.
substanz aus, das Verfahren
einem Gen namens „NGLY1“.
95,3
1–2
1000
106
DER SPIEGEL 32 / 2014
ist schneller und billiger als
die bisherigen.
Auch Goldstein war dabei
der Fehler bei NGLY1 aufgefallen, aber er hatte nur diesen einen Patienten. „Eine
Diagnose auf eine solche Basis zu stellen ist ziemlich ungewöhnlich und auch ein
bisschen riskant“, gibt Goldstein zu. Er entschied sich
trotzdem für die Veröffentlichung.
Bainbridge stößt auf Goldsteins Aufsatz – und nun gibt
es, Anfang 2013, plötzlich
zwei Patienten.
Bertrand und Grace haben
dieselbe Krankheit, die Mediziner nennen sie „NGLY1
Deficiency“. In den Zellen
der Kinder fehlt ein wichtiges molekulares Werkzeug.
Bei gesunden Menschen
sorgt das NGLY1-Gen dafür,
dass die Zellen ein bestimmtes Enzym bilden. Wie eine
winzige Schere schneidet es
Zuckermoleküle von jenen
Eiweißen ab, die die Zelle
entsorgen muss, weil sie fehlerhaft aufgebaut sind. Bei
Bertrand und Grace, vermuten die Wissenschaftler,
sammeln sich diese SchrottEiweiße an, in der Leber
etwa oder im Gehirn, und
schädigen die Organe.
Cristina und Matt Might
schreiben Internetblogs über
ihren Sohn. Seit Bertrand erste Symptome zeigt, führen
sie die Online-Tagebücher
über die Ängste der Familie,
über diagnostische Fehlschläge und kleine Erfolge. Ein
rührendes Video auf den Seiten von Vater Matt zeigt
Bertrands erstes Lachen. Aufgeschwemmt von Medikamenten sitzt der Junge mit
den dunklen Locken in seinem Krankenhausbett und
schaut sich Trickfilme an.
Wenn Gelächter eingespielt
wird, juchzt er mit.
R
und 12 000 Kilometer
entfernt, im indischen
Neu-Delhi, stößt eine
deutsche Mutter auf Cristina
Mights Blog. An einem Sonntagabend im vergangenen
Sommer sitzt Carola Baumann* auf dem Sofa und
* Name von der Redaktion geändert.
Wissenschaft
FOTO: WINNI WINTERMEYER
Patientin Grace Wilsey, Mutter Kristen: „Wir haben mit der Trauer um unser Kind gelebt“
sucht im Internet nach Ernährungstipps
für ihren Sohn Tim. Er hat Krampfanfälle,
gegen die kein Medikament hilft. Jetzt
will seine Mutter eine spezielle Diät ausprobieren.
„In dem Blog stand genau das, was wir
gerade erlebten“, erinnert sich Baumann.
„Bertrand und Tim sehen sich sogar ein
bisschen ähnlich.“
Carola Baumann und ihr Mann arbeiten
bei deutschen Organisationen in Indien,
doch die Ärzte dort können ihnen nicht
helfen. Alle paar Monate fliegt die Familie
nach Deutschland, zuletzt waren sie zwei
Wochen lang in einem großen Epilepsiezentrum. Was Tim hat, kann ihnen auch
dort niemand sagen. Doch jetzt ist Carola
Baumann sicher: Sie hat Tims Krankheit
gefunden.
Mithilfe der Mights nehmen die Deutschen Kontakt zu den US-Forschern auf,
die daraufhin Tims Hautzellen molekularbiologisch untersuchen. „Wir haben es!“,
erfährt die Familie kurz darauf per Mail.
Das ist der Durchbruch.
Nun geht es schnell. Mediziner aus aller
Welt melden weitere Fälle, Kinder aus den
USA, aus der Türkei, aus Israel, aus Italien.
Die älteste Patientin ist 20 Jahre alt.
Im März beschreibt ein Team von mehr
als 30 Wissenschaftlern die neue Krankheit erstmals im Fachblatt „Genetics in
Medicine“. So wegweisend erscheint der
Fall den Herausgebern, dass sie einen Aufsatz zweier Väter dazustellen. „Wie Sequenzanalysen der neuesten Generation
und die Mitarbeit der Familien die Weise
verändern, auf die seltene Krankheiten
entdeckt, untersucht und behandelt werden“, heißt der Beitrag von Matt Might
und Matt Wilsey.
Ohne die Bereitschaft der Wissenschaftler, sich frühzeitig über ihre Erkenntnisse
auszutauschen, wäre die Krankheit nicht
so schnell entdeckt worden, glauben die
beiden Väter. „Dieser Fall zeigt einen Paradigmenwechsel“, sagt auch Genetiker
Snyder. Meist halten Forscher ihre Entdeckungen möglichst lange zurück, damit sie
bloß keiner vor ihnen publiziert. „Gerade
in der Genomforschung werden wir aber
nur weiterkommen, wenn wir möglichst
früh Informationen teilen“, glaubt er. Gegenwärtig entwickeln Verlage neue Fachzeitschriften, in denen auch vorläufige Ergebnisse veröffentlicht werden können.
Dieser Weg ist auch deshalb kaum aufzuhalten, weil immer mehr Eltern sich auf
die Suche nach Antworten machen – und
wie Bertrands Eltern die Krankengeschichten ihrer Kinder selbst ins Netz stellen.
„Am Anfang dachten wir, die Ärzte wissen alles“, sagt Carola Baumann. „Wir haben gelernt, dass man vieles selbst herausfinden muss.“ Sie hat Elternzeit genommen, weil sie diesen Sommer mit Tim in
Deutschland verbringen will. Er soll hier
zu verschiedenen Therapeuten gehen, vielleicht lernt er sprechen.
Tim ist vor Kurzem drei Jahre alt geworden, an der Wand in der Mietwohnung
in Süddeutschland hängt noch die bunte
Geburtstagsgirlande. Er ist ein freundliches
Kind mit hellbraunen Augen und weinroter Brille, das Bälle liebt und die Bücher
vom Grüffelo und der Heule Eule. Sein
Entwicklungsstand, das haben jüngste
Tests ergeben, entspricht etwa dem eines
neun Monate alten Kindes. Tim hat keine
Anfälle mehr.
„Wir hatten unseren Frieden damit gemacht, dass wir vielleicht nie erfahren wer-
den, was Tim hat“, sagt seine Mutter. Dennoch mache die Diagnose manches leichter. Besonders quälend sei die Ungewissheit darüber gewesen, wie es wohl mit ihm
weitergeht; und die Sorge, vielleicht eine
wichtige Therapie zu verpassen.
Inzwischen haben die Baumanns die
Wilseys in Kalifornien besucht, die Mights
trafen sie beim Symposium in La Jolla. Als
Matt Might im Juni auf einer Konferenz
in Deutschland war, holten sie ihn vom
Flughafen ab. Kurz danach musste Bertrand auf die Intensivstation – Lungenentzündung, künstliche Beatmung. Die kleine
NGLY1-Gemeinde nahm Anteil. „Wir sind
nicht mehr allein“, sagt Tims Mutter.
„Für die Eltern ist es ganz wichtig, dass
ihre Suche ein Ende hat“, bestätigt Greg
Enns, Kinderarzt und Biochemiker in Stanford. Auf dem Campus ist der Arzt bekannt für seine mit Kinderzeichnungen bedruckten Krawatten; er kennt Grace, seit
sie fünf Monate alt ist.
Die Wilseys sehen die Diagnose als
Startschuss für eine weitere Expertenrunde – diesmal auf der Jagd nach Heilung.
Am Europäischen Laboratorium für
Molekularbiologie in Heidelberg experimentiert jetzt etwa der deutsche Genforscher Lars Steinmetz mit Substanzen, die
in den Zellstoffwechsel eingreifen und
dafür sorgen könnten, dass das fehlende
Enzym wieder vom Körper produziert
wird. Steinmetz und Wilsey treffen sich
regelmäßig und besprechen die Fortschritte, die Wilseys finanzieren die Forschung.
„Für mich ist es toll, dass meine Arbeit
einen Bezug zum realen Leben hat“, sagt
Steinmetz.
Stanford-Forscher Enns koordiniert gegenwärtig eine erste Medikamentenstudie
mit NGLY1-Patienten. Davon, glaubt er,
könnten langfristig auch Nichtbetroffene
profitieren: „Einige der Mechanismen dieser Krankheit spielen auch bei Prozessen
wie der Zell-Alterung eine Rolle“, sagt er,
„wenn wir sie besser verstehen, kann das
vielen Menschen helfen.“
Bertrand, Grace und Tim sind jeweils
das erste Kind ihrer Eltern. Das Risiko,
dass weitere Kinder die Krankheit haben,
liegt bei 25 Prozent. Bertrands Schwester
Victoria wurde 2011 geboren – bevor ihre
Eltern die Diagnose kannten. Die Mights
hatten Glück: Victoria hat zwei intakte Kopien des NGLY1-Gens geerbt.
Am 19. Juni kam Winston John Might
zur Welt, ein Junge mit dunklen Augen
und braunem Haar. Zu Beginn der Schwangerschaft hatten Cristina und Matt Might
sein Erbgut testen lassen.
Winston ist gesund.
Julia Koch
Video: Im „National Institute
of Health“
spiegel.de/app322014krankheiten
oder in der App DER SPIEGEL
DER SPIEGEL 32 / 2014
107
Seuchen Tropenmediziner
Florian Steiner erklärt, warum
es so schwer ist, die EbolaEpidemie in Westafrika unter
Kontrolle zu bekommen.
Steiner, 35, ist Arzt an der
Berliner Charité.
SPIEGEL: In Liberia, Sierra
Leone und Guinea sind
bereits mehr als 700
Menschen an Ebola gestorben – darunter auch
Ärzte und Pflegekräfte.
Wie gefährlich ist der Einsatz für die
Helfer?
Steiner: Das Virus ist längst nicht so ansteckend wie die Erreger von Masern oder
Windpocken. Das Risiko, in diesen Ländern bei einem Autounfall zu sterben, ist
vermutlich höher, als sich mit Ebola zu
infizieren – für Touristen jedenfalls.
SPIEGEL: Aber sogar der Chefarzt des
wichtigsten Krankenhauses in Liberia hat
sich angesteckt. Er ist vorige Woche gestorben.
Steiner: Warum das passiert ist, wissen wir
nicht genau. Zum einen gibt es immer ein
Restrisiko, dass ein Kranker zu spät als
Ebola-Patient identifiziert wird und andere
ansteckt. Es könnte sich aber auch im Ablauf ein Fehler eingeschlichen haben. Das
medizinische Personal ist extrem im Stress.
Ständig müssen die Mediziner und Krankenschwestern in den Schutzanzug und
108
DER SPIEGEL 32 / 2014
FOTO: AHMED JALLANZO / DPA (O.)
„Eltern geraten
in Panik“
davon profitiert. Die Erkrankung verläuft
sehr schnell. Bis alle Formalitäten geklärt
sind und man die nötigen Sicherheitsvorkehrungen getroffen hat, ist der Patient
mit großer Wahrscheinlichkeit entweder
schon auf dem Wege der Besserung – oder
gestorben. Auch der erkrankte Mediziner,
der für die Behandlung in Deutschland im
Gespräch war, lebt nicht mehr.
SPIEGEL: Könnten Sie an der Charité auch
Ebola-Kranke aufnehmen?
Steiner: Grundsätzlich ja. Wir verfügen
über die größte Sonderisolierstation in
Deutschland. Für extra eingeflogene Patienten fehlt uns in Berlin im Moment aber
ein entsprechend ausgestatteter Flughafen.
Allerdings muss auch die Frage erlaubt
sein, ob es überhaupt ethisch vertretbar
ist, Kosten in – möglicherweise – MillioAbtransport eines Ebola-Opfers in Foya, Liberia
nenhöhe für einzelne Menschen zu verursachen, wenn man mit dem gleichen Geldbetrag in Afrika Berge versetzen könnte.
wieder raus. Auch Routine kann zum Pro- Vor allem wenn die Vorteile für die Patienten fraglich sind.
blem werden …
SPIEGEL: Wie kann sich bei einer so gefähr- SPIEGEL: Wie steht es derzeit um die medilichen Seuche Routine einschleichen?
zinische Versorgung in den betroffenen
Steiner: Das hört sich vielleicht merkwür- Regionen?
dig an. Aber manche Ärzte dort machen Steiner: Die Epidemie lähmt die Länder.
seit Monaten nichts anderes, als Ebola- Plötzlich haben Pflegekräfte und Ärzte
Patienten zu behandeln. Den ersten Fall Angst, zur Arbeit zu fahren. Das führt
gab es im März in Guinea. Das medizini- dazu, dass Menschen mit Malaria oder
sche Personal vor Ort muss über eine lange Tuberkulose auf einmal unterversorgt
Zeit hinweg die gleichen Arbeitsschritte sind. Eltern geraten in Panik und verlassen
machen. Irgendwann kann ein fataler Feh- mit ihren Kindern die Krankenhäuser,
ler passieren. Die Ärzte und
obwohl die Kleinen Hilfe
Pfleger sind übermüdet und Gemeldete Ebola-Fälle
brauchten, etwa weil sie
überarbeitet – und plötzlich
lebensgefährlichen Durchfall
steigt jemand in Schutzkleihaben.
AFRIKA
1
dung, die noch nicht perfekt
SPIEGEL: Zeichnet sich eine
NIGERIA
desinfiziert worden ist.
Besserung der Lage ab?
SPIEGEL: Wie überträgt sich
Steiner: Im Moment sieht es
das Virus?
nicht danach aus. Die Zahl
der Neuinfektionen steigt
Steiner: Viele Menschen glau329
weiter an. Westafrika ist unben, dass es sich über die Luft
erfahren im Umgang mit
verbreiten könnte. Soweit wir
davon
verstorben:
Ebola; wie es aussieht, koopedie Krankheit kennen, deutet
riert die Bevölkerung nicht
aber nichts darauf hin. Um
156
gerade optimal, was auf fehsich anzustecken, muss man
LIBERIA
lendes Vertrauen hinweist.
direkten Kontakt zu den Patienten haben. Die Erreger
SPIEGEL: Nach Liberia hat nun
können über Körperflüsauch Sierra Leone den Not533
sigkeiten wie Blut, Schweiß
stand ausgerufen und schließt
oder Erbrochenes weiterSchulen und Grenzen. Wird
gegeben werden. Hygiene in
das helfen?
233
den Krankenhäusern ist desSteiner: Ich halte das nicht für
halb extrem wichtig.
sinnvoll. Das bringt nur weiSIERRA
tere Armut über das Land.
SPIEGEL: Die WeltgesundheitsLEONE
Die Ansteckungsgefahr ist ja,
organisation WHO wollte in
wie gesagt, vergleichsweise
der vergangenen Woche ei460
gering. Die WHO hat eine
nen erkrankten Mitarbeiter
solche Empfehlung auch
nach Deutschland bringen.
nicht ausgesprochen. Es wäre
Wie sinnvoll ist es, Patienten
sicherlich Erfolg versprefür eine Behandlung auszu339
chender, das schlecht funkfliegen?
tionierende GesundheitssysSteiner: In einem solchen Fall
GUINEA
tem zu verbessern.
muss man sich die Frage stellen, ob der Kranke wirklich Quelle: WHO; Stand: 27. Juli
Interview: Katrin Elger
Wissenschaft
Blaublütige
Krabbler
Tiere Die Zahl der Pfeilschwanzkrebse in Neuengland
schrumpft. Der Schwund der
Urzeitwesen gefährdet
Zugvögel und Arzneisicherheit.
B
Abzapfen von Pfeilschwanzkrebsblut: Sterile Kanüle ins Gliedertierherz
scheint, dass ihre Zahl sinkt, und niemand
weiß so recht, warum.
Nun gibt es gewiss Krabbeltiere, deren
Überleben akuter bedroht ist. Aber kaum
eines hat eine so große Fangemeinde. Zum
Teil mag dies in der Gutmütigkeit dieser
behäbigen Kreaturen begründet sein: Sie
sind weder giftig noch glitschig, und ihre
Kneifversuche muten eher hilflos an. Vor
allem aber beruht ihre Popularität auf
der biologischen Einzigartigkeit der Pfeilschwanzkrebse.
Wissenschaftlich sind sie als „lebende
Fossilien“ von Interesse. Zehnbeinig und
neunäugig, sind sie eine Sonderanfertigung
der Evolution, die äußerlich kaum verändert Äonen überdauert hat. Denn Pfeilschwanzkrebse sind keine Krebse, sie haben mit ihnen nicht mehr gemein als
Pfeilschwanzkrebs am Strand der Delaware Bay: Sonderanfertigung der Evolution
110
DER SPIEGEL 32 / 2014
Mensch und Stachelrochen miteinander.
Eher schon sind sie verwandt mit den Spinnen, im Grunde aber bilden sie eine Tiergruppe für sich. Mehr als 400 Jahrmillionen
Evolution trennen sie von jeder anderen
Kreatur.
Unklar ist, was die Vorfahren von Limulus (so der lateinische Name) hat überleben lassen: War es ihr Chitinpanzer, der
sich in Zeiten saurer Ozeane als besonders
robust erwies? War es ihre Genügsamkeit
in Sachen Sauerstoff? Sicher ist nur, dass
Pfeilschwanzkrebse noch heute den
Ozean bevölkern, während die mit ihnen
verwandten Trilobiten, die einst die Herrscher der Meere waren, allesamt ausgestorben sind.
Ökologisch betrachtet stellen die proteinreichen Gelege der Pfeilschwanzkrebse
eine wichtige Nahrungsquelle der Zugvögel dar. Denn im Frühsommer, wenn
Limulus zum Laichen in die Gezeitenzone
der Bucht von Delaware krabbelt, finden
sich dort auch die Austernfischer, Strandläufer und Seeschwalben ein, die eine Wegzehrung für ihre kontinentale Reise suchen.
Unter Vogelfreunden besondere Beachtung findet der Knutt. Der amselkleine
Watvogel rastet hier auf dem Weg von
Feuerland zu seinen Brutplätzen in der kanadischen Tundra. Zu Berühmtheit hat es
ein Exemplar namens B95 gebracht. Vor
19 Jahren beringt, hat dieser Vogel über
eine halbe Million Kilometer zurückgelegt.
„Mondvogel“ wird B95 von seinen Bewun-
FOTO: ANDREW TINGLE (O.); ALAMY / MAURITIUS IMAGES (U.)
ei Vollmond lässt sich an den Stränden Neuenglands mitunter ein eigenwilliger Schichtwechsel beobachten. Wenn die Badegäste Handtücher und
Picknickreste einpacken, taucht eine neue
Art von Strandbesuchern auf: Barfuß oder
in Gummistiefeln waten sie durchs Meer,
den Blick starr auf das auflaufende Wasser
der Springflut gerichtet. Es sind Hobbyforscher, die gekommen sind, um Pfeilschwanzkrebse zu zählen.
Manchmal schwemmt die Flut Hunderte
der helmbewehrten, bis zu 75 Zentimeter
langen Urzeitkreaturen ans Ufer, und oft
kommen sie zu zweit, die Männchen mit
den Greifzangen ihrer Vorderbeine an den
Panzer der Weibchen geklammert. So können sie, kaum dass die Partnerin ihre Eier
gelegt hat, diese befruchten.
In Rhode Island und Connecticut, aber
auch in Maryland und Delaware patrouillieren Freiwillige, um dieses Treiben zu erfassen. Barmherzig wenden sie jene Tiere,
die eine Welle auf den Rücken geworfen
hat. Vor allem aber suchen sie nach nummerierten Etiketten am Panzer, um ihre
Sichtung anschließend zu melden. Aus
Tausenden solcher Einzeldaten rekonstruieren Meeresbiologen derzeit die Bestände
der Tiere.
Nur sehr ungenau ist bisher bekannt,
wie viele Pfeilschwanzkrebse zum Laichen
an die amerikanische Ostküste kommen.
Vorsichtige Schätzungen sprechen von 2,3
bis 4,5 Millionen zwischen New Jersey und
Virginia. Das Beunruhigende aber: Es
derern genannt, weil diese Strecke weiter
ist als die zum Mond.
Seit 20 Jahren jedoch schrumpft die Zahl
der Knutts. Eine der möglichen Ursachen
sehen Ornithologen darin, dass die Vögel
bei ihrer Rast in Delaware nicht mehr genug Pfeilschwanzkrebseier finden.
Wenn Wissenschaftler nun mehr Schutz
für die urtümlichen Krabbler fordern, haben sie nicht nur den Knutt, sondern auch
den Menschen im Auge. Denn die Sicherheit vieler Arzneimittel und Medizinprodukte hängt ebenfalls vom Wohl der Pfeilschwanzkrebse ab.
Sie verfügen nämlich über ein einzigartiges Immunsystem: Sobald molekulare
Detektoren in ihrem trüb-blauen Blut („Hämolymphe“) die geringste Spur bakterieller
Toxine registrieren, verklumpen die Abwehrzellen und frieren die Erreger gleichsam ein. Im Mikroskop lässt sich beobachten, wie plötzlich überall in der blauen Flüssigkeit klumpige Gerinnsel aufpoppen.
Die extreme Empfindlichkeit dieser Immunabwehr nutzt die Pharmaindustrie für
die Produktion von Schnelltests zum Nachweis von Bakteriengiften. Zu Tausenden
sammeln Fischer die Krabbler ein, um sie
an die Hersteller sogenannter LAL-Tests
zu schicken. Dort spannen Laborassistenten die Tiere auf stählerne Bänke, schieben
sterile Kanülen in ihr Herz und zapfen jeweils rund 200 Milliliter blaue Flüssigkeit
ab. Mit etwas Apfelsaft und Crackern aufgepäppelt, werden die Tiere dann wieder
ins Meer entlassen.
Einige Artenschützer fürchten, dass genau diese Prozedur den duldsamen Gliederfüßern zusetzt. Zwar überleben 70 bis
90 Prozent der Tiere den Aderlass, er könnte sie jedoch nachhaltig schwächen. Um
diese Hypothese zu testen, befestigten Forscher aus New Hampshire Beschleunigungsmesser an freigelassenen Weibchen.
Tatsächlich erwiesen sich diese als ungewöhnlich lethargisch. Sie sind deshalb vermutlich wenig zum kräftezehrenden
Marsch zu den Laichgebieten aufgelegt.
Ob dies allerdings den Rückgang der Bestände allein erklären kann, ist fraglich –
zumal der Mensch den Pfeilschwanzkrebsen auch in anderer Weise nachsetzt: Noch
immer werden Zigtausende von ihnen zerhackt und als Köder für den Aal- und Meeresschneckenfang benutzt.
Gemessen daran ist die Gewinnung ihrer Körperflüssigkeit vergleichsweise schonend und zudem schwer verzichtbar. Bei
rund 15 000 Dollar liegt der Preis für einen
Liter des blauen Lebenssaftes. Daraus gewonnen wird ein Test, den Implantate und
alle injizierbaren Arzneimittel bestehen
müssen.
Wer je eine Spritze bekommen hat, verdankt die Sicherheit dieser Prozedur also
einer blaublütigen Urzeitkreatur.
Johann Grolle
DER SPIEGEL 32 / 2014
111
Totengräber der Republik
Z
uerst kam die Bahre aus Gold und
Elfenbein. Unter purpurnen Decken
lag der Tote. Als der Trauerzug das
Marsfeld erreichte, um die Leiche zu verbrennen, stieg ein Adler zum Himmel.
2000 Jahre nach dieser Zeremonie hat
der Stuttgarter Altgeschichtler Holger
Sonnabend das „langsame Sterben“ des
Kaisers Augustus in einem packenden
Buch rekonstruiert*. Der Gelehrte beschreibt das Finale als meisterliche „politische Inszenierung“.
Noch kurz vor seinem Exitus befahl der
Sterbende: Bindet mein Kinn hoch, und
kämmt mir die Haare! Seine Asche kam
in ein Mausoleum. Mit 45 Metern war es
das höchste Bauwerk Roms.
Kaum je hinterließ ein Mensch so viele
Spuren in der Nachwelt wie jener Gaius
Octavius, dem der Senat den Ehrentitel
„Augustus“ (der Erhabene) verlieh. Seine
Armeen zeichneten die Landkarte Europas, dem Abendland drückte er seinen
Stempel auf, auch dem Kalender. Der
Monat August trägt seinen Namen.
Selbst die biblischen Evangelisten schufen ihren Jesus nach dem Bilde dieses Tycoons, der sich als „Sohn Gottes“ und
„Erlöser“ preisen ließ. Zudem war er mit
seiner vermaledeiten Steuerzählung schuld
daran, dass Maria im Stall von Betlehem
niederkommen musste.
Wer aber steckt hinter dieser Schlüsselfigur der Antike, die der römische
Senat posthum zum Gott erhob?
In einfacher Kleidung, die seine Gattin ihm genäht hatte, lief der Mann daheim umher. Auf dem Palatin bewohnte
er ein enges Haus ohne Luxus. Zugleich
aber hinterließ er über 25 000 Selbstporträts – ein Weltrekord an Eitelkeit. Ein sittenstrenger Paterfamilias wollte er sein.
Seine einzige Tochter jedoch, verlottert
und sexsüchtig, missriet ihm. Er nannte
sie eine „Eiterbeule“.
Auch sein politisches Erbe ist schwer zu
bewerten. Den einen gilt er als „Friedensfürst“, anderen als „Blutsäufer“, weil er
während des römischen Bürgerkriegs die
Tötung von etwa 300 Senatoren und 2000
Rittern zuließ. „Herr“ wollte er nie genannt werden. Nur: Warum entmachtete
er dann als „Totengräber der Republik“
(Petrarca) den Senat und ebnete sich den
Weg zur Alleinherrschaft?
* Holger Sonnabend: „August 14. Der Tod des Kaisers
Augustus“. Primus-Verlag, Darmstadt; 168 Seiten; 19,90
Euro.
112
DER SPIEGEL 32 / 2014
Vom süßen Kelch der Fleischeslust nippNun steht der Kaiser erneut auf dem
Prüfstand. Fast ein Dutzend Historiker te er ebenfalls nur in Maßen. Die Reize
melden sich anlässlich seines Jubiläums Kleopatras, die er in Ägypten traf, prallten
mit neuen Büchern zu Wort. Hinzu kom- an ihm ab. 51 Jahre lang war er mit seiner
men Ausstellungen. Das Landeskriminal- Gattin Livia verheiratet.
Bieder und dröge kommt der damals
amt von Nordrhein-Westfalen hat ungeschönte Phantombilder des alternden mächtigste Mann der Welt daher. Auch das
Kaisers erstellt. Wien ehrt den Jubilar mit unzüchtige Sexualgebaren der Römer störkaltem Marmor als einen der „Väter te ihn. 18 v. Chr. erließ er harte MoralgeEuropas“. Und in der Skulpturhalle Basel setze. Ehebruch wurde nun bestraft. Zukann man sogar ein Dreigängemenü ge- gleich galt fortan für alle Bürger Heiratszwang: Männer zwischen 25 und 60 Jahren
nießen. Motto: „Speisen wie Augustus“.
Allzu Köstliches dürfte dabei allerdings (Frauen zwischen 20 und 50) mussten sich
nicht auf den Tisch kommen. Der Pflicht- vermählen. Zudem lobte der Staatschef
mensch liebte es frugal. Morgens labte er eine Geburtsprämie aus. Ab dem dritten
sich an Brot, getaucht in Wasser. Dazu aß Kind gab es eine Belohnung.
Der Hang zu Strenge und Tradition war
er Gurke, Lattich oder Obst. Sein Trinklimit abends lag bei 0,6 Liter Weinschorle. offenbar Ergebnis frühkindlicher Prägung:
Der Vater starb früh. Noch als Kleinkind
kam die Halbwaise zu den Großeltern in
die Provinz. Das Kinderzimmer war „so
groß wie eine Vorratskammer“, draußen
quakten Frösche, berichtet der Biograf
Sueton. Der Opa hatte sich als schnöder
Geldwechsler und Bankier Reichtum
erworben. Beim snobistischen Adel
Roms galt derlei Fleiß nichts; selbst
zu arbeiten war ihnen verpönt.
Klein Octavius dagegen wuchs
gleichsam auf dem Bauernhof auf.
Zwei griechische Hauslehrer, Anhänger der Stoa, lehrten ihn Moral
und Verzicht. „Hübsch“ (ein
Chronist) war der Junge, aber er
kränkelte und zog zuweilen das
linke Bein nach. Später, als
Princeps, mummelte er sich im
Winter mit vier Tuniken ein und
trug wollene Brustleibchen.
Ein jäher Abschied aus der Enge der
Provinz bot sich erst, als der Großonkel,
Julius Cäsar, den Jungen für sich entdeckte. Gegner lästerten, der Neffe habe sich
als Lustknabe das Vertrauen des gerühmten Feldherrn erschlichen.
Richtig ist: Kaum 18 Jahre alt, bekam
Octavius den Job des „magister equitum“
(Reiterführer) zugeschanzt. Der Spitzenposten überforderte ihn allerdings ebenso
wie Cäsars Angebot, ihm ins iberische Militärcamp zu folgen. In Spanien angekommen, geriet der Teenager mit seiner Sänfte
in ein Unwetter. Plötzlich zuckte ein Blitz
und tötete den nur wenige Meter vorweglaufenden Fackelträger. Danach bildete der
Rekrut eine Gewitterfurcht aus, die er zeitlebens nicht mehr loswurde.
Gegen solche Schwächen kämpfte er
allerdings verbissen an. Der Historiker
Bronzebüste des Augustus, um 25 v. Chr.
FOTO: WERNER FORMAN / AKG
Antike Er liebte Gemüse, führte die Zwangsehe ein und zählt zu den wichtigsten Herrschern der
Weltgeschichte: Vor 2000 Jahren starb Kaiser Augustus. Wer war der Mann, der Rom neu erfand?
Wissenschaft
Werner Dahlheim sieht in der Entschlossenheit, sich nie zu beugen, die eigentliche
Kraftquelle seines Charakters.
Eine erste Kostprobe dieser Zähigkeit
lieferte der junge Mann nach dem Attentat
auf Cäsar 44 v. Chr., mit dem die Anhänger der Republik den übermächtig gewordenen Diktator stoppten. Zur Überraschung
aller hatte Cäsar seinen Neffen als Haupterben eingesetzt.
Die Familie riet zwar, das Testament
auszuschlagen; Augustus jedoch griff
zu – und befand sich damit umgehend in
Typisch ist seine Rolle 42 v. Chr. beim
morastigen Philippi (Griechenland), wo
insgesamt 200 000 Legionäre zur finalen
Schlacht antraten. 40 000 Männer starben,
die Republikaner verloren. Der junge Octavian war während der wochenlangen
Kämpfe wenig zu sehen. Entweder lag er
krank im Zelt, oder er versteckte sich vorm
Feind im Sumpf.
Erst als alles vorbei war, eilte er herbei
und ließ Brutus den Kopf abschlagen.
War der Mann deshalb grausam? Die
Historikerin Angela Papst („Kaiser Augus-
War es seine merkelhaft-unaufgeregte Art, um Vertrauen
zu werben, die am Ende alle Gegner stoppte?
jenem Machtkampf zwischen den CäsarAnhängern, die sich mit dem einfachen
Volk verbündet hatten, und dem alteingesessenen Adel, der um seine Privilegien
fürchtete.
Ungestüme Kerle im Brustpanzer, von
Marc Anton bis zu Brutus und Sextus Pompeius, betraten damals die Szene und verwandelten das Imperium in ein Blutfass.
13 Jahre lang dauerte der Bürgerkrieg.
Octavian stand selten an vorderster Front.
Rohes Soldatentum und Biwak waren seine Sache nicht.
tus“, Reclam-Verlag) behandelt den Gescholtenen mit Nachsicht. Sie verweist darauf, dass der Monarch keine Gladiatorenspiele liebte – zu brutal. Auch den Hinweis,
er habe einem Prätor die Augen ausgestochen, hält sie für eine Lüge.
Vielmehr sei der Mann zart besaitet gewesen: Beim Sport bevorzugte er Ballspiele. Wenn Properz oder Horaz ihre neuesten Verse vortrugen, weinte er gerührt.
Womöglich war es seine merkelhaftunaufgeregte Art, um Vertrauen zu werben, die am Ende alle Gegner stoppte.
Nach seinem Griff zur Macht 27 v. Chr.
führte er das zerrüttete Land goldenen Zeiten entgegen. Statt sich weiter zu zerfleischen, marschierten Roms Armeen nun
siegreich bis nach Britannien und sogar in
den Sudan.
Die Hauptstadt erstrahlte derweil im
Glanz. „Ich übernahm Rom als Ziegelstadt
und überlasse sie euch in Marmor“, so
etwa rief jener Mann, der eigentlich bescheiden sein wollte. Dass er Gemüselatein
sprach und häufig hortikulturelle Redewendungen im Munde führte („weich wie Mangold“, „schneller, als man Spargel kocht“),
steigerte seine Beliebtheit im einfachen
Volk noch.
Als der Kaiser schließlich, von Capri
kommend, im Alter von 75 Jahren nach
einer Diarrhö starb, lag ihm der Weltkreis
zu Füßen. Alles war ihm gelungen.
Nur das eigene Leben nicht.
Wie alle übermäßig Pflichtbewussten
empfand offenbar auch Augustus zu wenig
Spaß. Im tiefsten Inneren hielt er das irdische Dasein für schal und lächerlich. Ob
er die „Komödie“ denn angemessen hinter
sich gebracht habe, wollte der Greis auf
dem Sterbebett wissen. „Wenn ja, dann
applaudiert dem Schauspieler.“
Matthias Schulz
Dorfbewohner in Marokko um 1912
Das Fremde in Farbe
Die Welt vor hundert Jahren ist in der Vorstellung der meisten Menschen schwarz-weiß. Eine gerade eröffnete Ausstellung im Berliner Martin-Gropius-Bau kann da einiges ändern:
„Die Welt um 1914 – Farbfotografie vor dem Großen Krieg“
präsentiert die Sammlung des französischen Bankiers Albert
Kahn, der bereits 1909 mehrere Fotografen auf Weltreise
schickte, um das Leben in bunt zu dokumentieren. Bis zum
Ersten Weltkrieg entstanden über 2200 Aufnahmen (bis 1930
wurden es dann 72 000), von denen der Martin-Gropius-Bau
fast 200 zeigt: ein Süßigkeitenladen im türkischen Barsu, ein
senegalesischer Scharfschütze in Marokko, ein Häftling mit
einer riesigen Stahlkette um den Hals im mongolischen Ulan
Bator, der Taj Mahal und die Chinesische Mauer. Ergänzt werden die Bilder durch zeitgenössische Farbfotografien von
Adolf Miethe und Sergej Prokudin-Gorskii, zwei Fotografen,
die vor allem Gebäude und Landschaften dokumentierten.
Kahns „Archive des Planeten“ waren keine Menschenschau
im kolonialen Sinne; Nacktheit war auf seinen Bildern verboten. Er wollte die jeweiligen kulturellen Errungenschaften präsentieren und die Angst vor dem Fremden heilen, indem er
das Unvertraute in die Nähe holte. Mit dem Ausbruch des
Krieges scheiterte dieser Versuch an der Wirklichkeit. Doch
das Leuchten der Vorkriegsjahre in den Bildern bleibt. red
Fernsehen
Operation gelungen
Im vergangenen Jahr hatte
der Regisseur Steven Soderbergh („Ocean’s Eleven“)
seinen Abschied vom Kino
angekündigt. Jetzt ist sein
neues Großprojekt fürs Fernsehen fertig: „The Knick“
heißt die von Soderbergh inszenierte und produzierte TVSerie, die der Bezahlsender
Sky ab 9. August in Deutschland zeigt, nur einen Tag
nach der Premiere in den
USA. „The Knick“ ist benannt nach dem Knickerbocker Hospital in New York.
Ähnlichkeiten mit populären
Arztserien wie „Emergency
114
DER SPIEGEL 32 / 2014
Darsteller Owen (M.) in „The Knick“
Room“, „Grey’s Anatomy“
oder gar, die Älteren werden
sich erinnern, „Die Schwarzwaldklinik“ gibt es allerdings
kaum. Soderberghs Serie ist
eher ein düster-realistisches
Historiendrama: Die ersten
zehn Episoden spielen im
Jahr 1900, als viele Chirurgen
mit brutaler Ahnungslosigkeit
in ihren Patienten herumstocherten. Wer kein Blut sehen
kann, wird bei „The Knick“
oft die Augen schließen müssen. Der Held der Serie, Doktor Thackery, gespielt von
dem Briten Clive Owen, hat
ein besonderes Medikament
gefunden, um mit dem Stress
fertigzuwerden: Er spritzt sich
regelmäßig Kokain. mwo
FOTOS: MUSÉE ALBERT-KAHN, DEPARTEMENT DES HAUTS-DE-SEINE (O.); HBO (U.)
Fotografie
Kultur
Kino in Kürze
Prima Primaten
Er heißt Caesar und ist ein
Schimpanse; er muss nur
streng gucken, um seine Untertanen zur Räson zu bringen. Seine Artgenossen und
er haben in dem ScienceFiction-Epos „Planet der Affen:
Revolution“ weite Teile der
Erde unter Kontrolle. Der
Schauspieler Andy Serkis verkörpert Caesar, mithilfe von
Computerbildern wird aus
seiner Darstellung das packende Porträt eines Affen,
der schon auf halbem Wege
zum Menschen ist. Ja, es gibt
auch ein paar echte Menschen, aber die meisten von
ihnen verhalten sich kaum
intelligenter als Affen. Der
Zuschauer beginnt zu zweifeln, ob er sich wirklich für
die Krone der Schöpfung halten soll. Über zwei Stunden
lang beschäftigt sich der
Regisseur Matt Reeves ebenso unterhaltsam wie geistreich mit der Frage, was uns
zu Menschen macht. Dann
bricht allerdings eine gewaltige Schlacht los, alle schlagen sich gegenseitig die Köpfe ein. Weniger Revolution,
mehr Evolution, und der Film
wäre richtig gut. lob
Szene aus „Planet der Affen: Revolution“
Literatur
FOTO: 20TH CENTURY FOX ; ILLUSTRATION: PETRA DUFKOVA / DIE ILLUSTRATOREN / DER SPIEGEL
Frösteln im Sommer
Erstaunlich, dass sich ein
Buch seit Wochen auf der
Bestsellerliste hält, das von
zwei befreundeten Schriftstellern berichtet, die sich vor
den Nazis in Sicherheit bringen müssen und deren Werke
in Deutschland nicht mehr
gelitten sind. Der Strand von
Ostende ist im Sommer 1936
das Ferienziel von Stefan
Zweig, dem damals bereits
weltweit erfolgreichen Bestsellerautor, und Joseph Roth,
den seine Trunksucht immer
wieder am Schreiben hindert.
Außerdem dabei: die Geliebte Zweigs, Partnerin bis zum
gemeinsamen Freitod 1942,
und die Schriftstellerin Irmgard Keun, die mit Roth eine
wilde Liebesgeschichte beginnt. Vielleicht liegt es an
der einladenden sommerlichen Strandszene, die den
Umschlag ziert (und eigentlich wenig mit der Geschichte
zu tun hat), vielleicht aber
macht einfach die Erzählfreude den Erfolg aus, die
dem Autor und Journalisten
der Frankfurter Allgemeinen
Sonntagszeitung Volker Weidermann, 44, eigen ist und
die er schon in seiner Biografie über Max Frisch unter Beweis gestellt hat. „Ostende“
ist kein Sachbuch, das sich
nüchtern an Fakten hält. Der
verbürgte Aufenthalt der vier
Protagonisten im belgischen
Seebad wird wie in einer Novelle dargeboten, die sich gelegentlich dem Ton Zweigs
anverwandelt, das Frösteln
angesichts des aufziehenden
Unheils einbezogen. vha
Volker
Weidermann
Ostende – 1936,
Sommer der
Freundschaft
Verlag Kiepenheuer
& Witsch, Köln; 160
Seiten; 17,99 Euro.
Claudia Voigt Mein Leben als Frau
Kollateralschaden
Seit fast drei Wochen befinde ich mich
auf einer Urlaubsreise durch Kalifornien. Die Landschaft ist fantastisch
schön. Auf dem Pazifik kann man mit
bloßem Auge Wale beobachten. In
jedem noch so kleinen Ort findet sich
jemand, der mir versichert: „You guys
really deserved to win the World
Cup.“ – „Ihr habt es wirklich verdient,
die WM zu gewinnen.“ Weil ich im
Goethe-Institut von Los Angeles bei der Übertragung des
Finales gebangt und gejubelt habe, lächle ich dann immer
zustimmend. So weit zu den positiven Eindrücken.
Es fiel mir schon am Beginn der Reise in Santa Monica
auf, dieser unbedingte Wille, sich in kurzen Hosen zu
zeigen, aber da habe ich es mir noch mit dem kalifornischen Sportwahn erklärt. Später dann, in der Wüste am
Zabriskie Point, als selbst französische Touristinnen keine
Ausnahme mehr machten, dachte ich: gut, nicht der Ort,
um auf Kleidung zu achten.
Doch irgendwann war es unübersehbar: Die Frauen
hier tragen Shorts. Keine Sommerkleider, keine Röcke –
nur Shorts. Als ob sie schlecht gekleideten Männern
nacheifern wollten. In den Städten sieht man auch den
sogenannten Businesslook, aber wenn die Frauen nicht
gerade auf dem Weg zur Arbeit sind, wählen sie Radlerhosen, abgeschnittene Jeans oder Bermudas, Hotpants
oder Schlabbershorts.
Karl Lagerfeld hat mal gesagt, der Mode entkomme
man nicht. Ich muss ihm widersprechen. Erwachsene Frauen in Shorts bedeuten das Ende der Mode. Bisher dachte
ich immer, dieses Kleidungsstück sei dem Zahnspangenalter vorbehalten. Nicht im sonnigen Kalifornien. Und
weil auch Hollywood-Filme, McDonald’s und das iPhone
von hier aus die Welt eroberten, befürchte ich Schlimmes.
Die Kulturwissenschaftlerin Barbara Vinken vertritt in
ihrem Buch „Angezogen. Das Geheimnis der Mode“ die
These, dass Kleider es den Frauen ermöglichen, ihrer
Erotik und ihrer spielerischen Seite Ausdruck zu verleihen.
Nach der Französischen Revolution sollte die weibliche
Mode ihre Trägerinnen von Autorität und Macht ausschließen. Der Körper der Frauen wurde als zur Arbeit unfähig
inszeniert, wohingegen die Männer durch ihre zunehmend
uniforme Kleidung signalisierten, dass sie zur Gemeinschaft der verantwortlichen Bürger gehörten. Mode diente
der Trennung der Geschlechter in der bürgerlichen Welt.
Vielleicht muss man Shorts deshalb als Kollateralschaden der Gleichberechtigung betrachten. Wie auch
konservative Kostüme, Hosenanzüge und Helmfrisuren.
Karriere und der Dernier Cri passen noch immer nicht
zueinander. Um ernst genommen zu werden, verzichten
viele Frauen auf Eleganz. Doch 225 Jahre nach der Französischen Revolution dürfte es langsam an der Zeit sein,
dass die Frauen Mode und Macht miteinander verbinden.
Es wäre schön, wenn die Weiblichkeit und das Spielerische nicht verschwinden würden – Röcke, Kleider, hohe
Schuhe und Accessoires. Wenn Bequemlichkeit kein
Grund wäre, diese aufzugeben, und auch nicht der
Anspruch, dem Dresscode der Männer zu gehorchen.
An dieser Stelle schreiben drei Kolumnisten im Wechsel. Nächste Woche ist
Elke Schmitter an der Reihe, danach Dirk Kurbjuweit.
DER SPIEGEL 32 / 2014
115
Kultur
Das lolligroße Auge Gottes
E
r ist schon sehr cool, der neue Ar- dem Schrottplatz, wo der Sänger wahrbeitsplatz von Mae Holland. Andere scheinlich verhungern würde, weil für MuMenschen haben so viel Angeneh- sik seit Jahren keiner mehr bezahlt.
Der Welt da draußen geht es schlecht,
mes nicht einmal in den Ferien. Mae, das
Mädchen aus der Provinz, dessen Eltern aber hier drinnen wird das Geld herbeigesich keine richtige Krankenversicherung flutet wie bei einem Tsunami. Der Circle
leisten können, wird auch noch bezahlt da- hat alles zusammengebracht. Die größte
Suchmaschine, das größte soziale Netzfür, dass es hier ist. Ein Traum. Wow.
Alle sind jung, keiner ist dick. Was auch werk, das dominierende Online-Bezahldaran liegen mag, dass auf den vielen Par- system. Google, Facebook und PayPal.
tys, die die Angestellten auf dem Firmen- „Ein einziger Button für den Rest deines
gelände feiern, ein hier entwickelter Ries- Onlinelebens“, wie ein Circler begeistert
ling ausgeschenkt wird. Weniger Kalorien sagt.
90 Prozent des Suchmaschinenmarkts
hat er, dafür mehr Alkohol.
Und alles ist so schön, so easy, so kali- etwa beherrscht der Circle, aber er ist gierig und gefräßig, und er will immer mehr,
fornisch, so hip.
Kosmetik bio und regional, Yoga, Fahr- er will 100 Prozent. Er will alles, lieber
räder, eine Hundetagesstätte, Rasentennis- Freund, sonst würde er ja nicht Circle heiplätze und Massagen, weil ja die Firma die ßen. Ist denn ein Kreis nicht erst ein Kreis,
wichtigste Gemeinschaft im Leben ist. wenn er vollendet wurde? Geschlossen?
Und da wir schon einmal dabei sind,
Familie? Privatleben? Ich bitte dich. Wer
braucht solch nervigen, komplizierten den Schrottplatz, diese miese, unvollkomMist. Es ist doch alles da, auf dem Campus mene Welt, aufzuräumen, warum nicht in
der tollsten aller Firmen, die Circle heißt. alle Bereiche des Lebens eindringen? Den
Alles. Plus das Beste, was von dem dahin- Menschen, diese seltsame Kreatur mit so
siechenden Ort jenseits des großen Zauns, viel Potenzial, endlich berechenbar madiesem riesigen Schrottplatz namens Rest chen, kontrollierbar für sich selbst und den
Rest des Planeten.
der Welt, noch zu gebrauchen ist.
So sieht sie aus, die Ausgangslage, die
Zum Beispiel ein Mobile des Bildhauers
Alexander Calder. Hing früher im franzö- Dave Eggers, 44, in seinem Buch „Der
sischen Parlament. Oder sechs Bilder des Circle“ beschreibt, das in der nächsten
Künstlers Jean-Michel Basquiat. Stammen Woche in Deutschland erscheinen wird*.
aus einem Museum in Miami, das leider Eggers heitere und zugleich düstere Verfast bankrott war. Oder der Singer- suchsanordnung ist viel mehr als die
Songwriter, der mittags in der Kantine auf- Schwarzmalerei eines schlecht gelaunten
tritt und dem keiner zuhört. Tja, immer Außenseiters. Eggers liefert den Roman
noch besser, hier zu sein als draußen auf für den internetkritischen Diskurs, satirisch, lakonisch, bisweilen brillant.
Eggers eignet sich die Kultur des Silicon
Valley an. Er spiegelt und dramatisiert die
Haltung der modernen Tycoons dort, der
IT- und Hightech-Spezialisten, er schleicht
sich in die Köpfe der Larry Pages, Mark
Zuckerbergs, Sergey Brins und ihrer Untergebenen.
Und Eggers liegt ziemlich richtig, was
unter anderem die Beschwerde von Katherine Losse beweist. Losse hat früher ihr
Geld als Ghostwriterin des FacebookGründers Mark Zuckerberg verdient. Nun
hat sie Eggers vorgeworfen, bei ihr abgekupfert zu haben. Eggers sagt, er kenne
Autor Eggers
116
DER SPIEGEL 32 / 2014
* Dave Eggers: „Der Circle“. Aus dem amerikanischen
Englisch von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln; 560 Seiten; 22,99 Euro.
die Dame nicht, er habe ihr Facebook-Erlebnis-Buch nie gelesen.
Möglicherweise kann sich Eggers
solche Lektüre wirklich sparen. Er lebt
und arbeitet in San Francisco, wo er eine
Zeitschrift herausgibt, einen Verlag bewirtschaftet und in 826 Valencia Street, einer
Adresse im Mission District, eine Art modernes Wohltätigkeitszentrum betreibt, in
dem Stipendien vermittelt werden und
Tutoren Grundschülern bei den Hausaufgaben helfen. San Francisco liegt in der
Nähe des Silicon Valley.
Eggers erlebt täglich eine Stadt, die in
Digitalgeschwindigkeit gentrifiziert wird,
in der eine Zweizimmerwohnung 4000
Dollar Miete kosten kann, Sterneköche
das Abendessen bereiten und vollklimatisierte Google-Busse die hoch bezahlten
Angestellten morgens ins Valley kutschieren. Es ist, als würden sich jene Bewohner
der Stadt, die sich nicht rechtzeitig in die
Kultur der Tekkies, der Technikjünger, gerettet haben, ihre Daseinsberechtigung verlieren. Viele tun es tatsächlich. San Francisco gilt inzwischen bei manchen als Amerikas Hauptstadt der Obdachlosen.
Für diese Welt, deren Unzulänglichkeiten sie mitschufen, haben die Milliardäre
des Valley, diese neuen Herrscher des Universums, vor allem Verachtung übrig.
Diese neuen Herrscher kommen nicht
mehr in Nadelstreifen und roten Hosenträgern daher wie die der Wall Street in
den Achtzigerjahren. Sie nuscheln jetzt
aus Kapuzenpullis und Fleecejacken heraus,
und doch haben sie eine ähnliche Haltung
der Geringschätzung, auch wenn sie jetzt
bisweilen milde und sorgenvoll und politisch korrekt klingen. Tapsige Nerd-Herablassung.
„Move fast and break things“, hieß es
bei Mark Zuckerberg.
„10 × Thinking“, sagt Google-Erfinder
Larry Page. Wenn du das Leben von 100
Millionen Menschen veränderst, bist du
nicht erfolgreich. Erst wenn du das von
einer Milliarde Menschen veränderst, bist
du es.
„Wir sind überzeugt, dass Portale wie
Google, Facebook, Amazon oder Apple
weitaus mächtiger sind, als die meisten
Menschen ahnen“, schreibt Googles Chairman Eric Schmidt. „Ihre Macht beruht auf
der Fähigkeit, exponentiell zu wachsen.
Mit Ausnahme von biologischen Viren gibt
FOTO: TOM PILSTON / PANOS PICTURES / VISUM
Internet-Debatte In „Der Circle“ erzählt der US-Schriftsteller Dave Eggers die
Geschichte eines totalitären Superkonzerns, der Ähnlichkeiten mit Google, Facebook
und Amazon aufweist – ein satirisches Horrorszenario. Von Thomas Hüetlin
ILLUSTRATION: CHRISTOPH NIEMANN
es nichts, was sich mit derartiger
Geschwindigkeit, Effizienz und
Aggressivität ausbreitet.“
Eigentlich müssten solche Eingeständnisse Fragen der Konsumenten hervorrufen. Aber weil so
viel im Verborgenen geschieht,
weil sich die Ausweitung und
Datensammlung von Google eher
geräuschlos vollzieht, weil der vordergründige Kostenlos-Service so
großartig scheint, weil der Glanz und
Glamour der immer neuen Telefone und
Tablets so gewaltig ist, reagieren die Konsumenten mit Gleichgültigkeit.
Oder sie haben Angst. Die Furcht, als
Ewiggestrige überrollt zu werden von
einem Sturm des Spotts.
Es ist eben nichts kostenlos im Netz. Der
Konsument bezahlt mit der Preisgabe seiner Daten, seiner Wege, seiner Interessen,
seines Lebensgefühls, der eigentlichen
Währung des 21. Jahrhunderts. Dem Gold,
auf dem das Dorado an der Westküste der
USA aufgebaut ist.
„Jeder weiß, wie man ein Smartphone
bedient; die politische Frage lautet umgekehrt: wie man verhindert, dass man vom
Smartphone bedient wird“, schrieb Frank
Schirrmacher, einer der wichtigsten deutschen Denker seiner Generation. Schirrmacher war immer ein Technologiefreund
gewesen, zuletzt aber, in den Monaten vor
seinem Tod im Juni, war er in großer Sorge, was die Technik aus den Menschen und
aus der Demokratie machen wird.
„Dark Google“ nennt die amerikanische Wirtschaftswissenschaftlerin
Viele „Smiles“: guter Mensch, wertvoll.
Wenig „Smiles“: ein Fall für die Gesinnungspolizei.
DER SPIEGEL 32 / 2014
117
Shoshana Zuboff das unheimliche Imperium von Larry Page und Eric Schmidt:
„Ein neues Reich, dessen Stärke auf einer
ganz anderen Art von Macht basiert – allgegenwärtig, verborgen und keiner Rechenschaft pflichtig.“
Im Kampf um die Vorherrschaft im Digitalzeitalter gehe es zu wie in der Steinzeit, sagt der frühere IT-Wunderknabe
Jaron Lanier. Im herkömmlichen Kapitalismus konkurrieren verschiedene Marktteilnehmer, jeder mit seinen eigenen Informationen. „Im Cyberkapitalismus erledigt das der Computer – und derjenige mit
dem größten Computer ist den anderen
überlegen und wird letztlich zur weltbeherrschenden Macht.“
Wenn es so weitergeht, wenn die Gesetzgeber nicht stärker eingreifen, werden
Der Circle funktioniert wie ein riesiges
soziales Netzwerk, alles ist rückgekoppelt.
Viele „Smiles“: guter Mensch, wertvoll.
Wenig „Smiles“: ein Fall für die Gesinnungspolizei, die politisch korrekte Psychoschrauben anlegt: Wir wollen nur dein
Bestes, und dein Bestes kommt erst zum
Vorschein, wenn du es teilst mit uns, der
Firma, den Kunden, dem Rest der Welt.
Dieser verordnete Exhibitionismus erhält einen entscheidenden Schub durch
eine Erfindung aus dem Laboratorium des
Circle. Es ist eine Kamera, groß wie ein
Lolli, wasserresistent, sandresistent, windresistent, insektenresistent, betrieben
durch eine Lithiumbatterie mit einer Laufzeit von zwei Jahren, aufstellbar überall:
auf dem Parkplatz vor deinem Haus, auf
dem Tahrir-Platz in Kairo, an deinem be-
Im Konzern herrscht ein moralisches Denken, das durch
die Möglichkeit, es anderen zu verordnen, totalitär wird.
die mit dem größten Computer selbst zu
Supermächten. Haben die Herrscher dieser Fast-schon-Monopolisten ein Problem
damit? Nein, sagt Lanier. „Diese Unternehmer, Larry Page, Jeff Bezos, Mark Zuckerberg, haben eine Mission, die größer
ist als der Kapitalismus. Und sie hat religiöse Züge.“ Es ist eine Kultur derer, die
das große Licht gesehen haben. Und ihrer
Jünger.
Dieses Projekt – das Vervollkommnen
des großen Lichts – ist der Gegenstand des
Romans von Dave Eggers. Scharfsinnig
und lässig, voller Detailkenntnis und trotzdem nur selten streberhaft dekliniert der
Schriftsteller seinen Roman durch. Manchmal wirkt das ein wenig mechanisch, bisweilen vorhersehbar, aber das liegt in der
Natur der Sache. Corporate America, die
Welt der Konzerne, ist nicht der Ort, an
dem sich große, menschlich komplexe Charaktere entwickeln können, wie die Schriftsteller F. Scott Fitzgerald oder Philip Roth
sie geschaffen haben.
Der Held ist die Firma, der Circle. Die
Menschen darin funktionieren, sie sind Angestellte im Sog eines Heilsversprechens.
Die Figuren hätten zu wenig menschliche
Substanz, beschwerte sich eine Kritikerin
der New York Times. Ein Missverständnis
altmodischer Art – denn der Circle verlangt nach Figuren, die erst durch die
Mission der Firma auf Touren kommen,
entlang eines raffiniert angelegten Businessplans.
Mae Holland ist so jemand, der empfänglich ist für große Botschaften. Ein modernes Aschenputtel, eine verlorene Seele
auf der Suche. Jemand, der erst unterzugehen droht in der digitalisierten Welt, jemand, der dazugehören will, jemand, der
wenig Sicherheit in sich trägt und schon
deshalb die Bestätigung der Firma braucht,
dringend.
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vorzugten Surfstrand, auf dem Platz des
Himmlischen Friedens in Peking.
Kostet 59 Dollar, das Ding, sagt einer
der Firmenchefs. Wenn jemand zehn Stück
davon zu Weihnachten verschenken möchte, no problem. „Alles, was passiert, muss
bekannt sein“, lautet schließlich das Mantra der „Vierzigerbande“, wie die wichtigsten Köpfe des Unternehmens sich hip und
pseudoselbstironisch nennen, in Anspielung auf die „Viererbande“, die nach dem
Tod des Vorsitzenden Mao Zedong vergebens nach der Macht strebte.
Geheimnisse seien wie „Krebs, wenn
wir sie in uns behalten, aber harmlos,
wenn sie draußen in der Welt sind“, doziert einer der Circle-Maoisten weiter. „Geheimnisse führen zu antisozialem, unmoralischem und destruktivem Verhalten.“
Lange bevor die lolligroßen Augen Gottes erfunden wurden, hatte einer der
Circle-Chefs ein Erweckungserlebnis: Er
war verheiratet, und als er zum ersten Mal
auf Geschäftsreise ging, verriet ihm seine
Frau einen Trick, damit er „anständig“
bleibe: Er solle sich vorstellen, dass immer
eine Kamera auf ihn gerichtet sei.
Es ist ein verkrampftes, moralisches
Denken, das durch die Möglichkeit, es anderen zu verordnen, totalitär wird. Die
Dialektik der Aufklärung im Digitalzeitalter. Gesteuert und kontrolliert von einem
monopolgleichen Superkonzern. Wie so
oft seit der Französischen Revolution bildet das Gutgemeinte erst die Basis für einen neuen Absolutismus.
Die Halle, in der man sich versammelt,
strahlt nicht die offensichtliche Menschenfeindlichkeit sowjetischer Protzbauten aus,
Hörprobe: Ein Auszug
aus „Der Circle“
spiegel.de/app322014eggers
oder in der App DER SPIEGEL
sondern wurde dem Dom in Siena nachempfunden. Die Losungen, die in der Halle präsentiert werden, sind trotzdem Tugendterror pur. „Geheimnisse sind Lügen“,
heißt es da, „alles Private ist Diebstahl“.
Der Weg ins Licht führt nur über die totale
Hingabe des Selbst an das Digitale. Denn
nur „Teilen ist Heilen“.
So satirisch überzogen und dramaturgisch beschleunigt dieses Szenario klingt,
es trifft die Haltung nicht weniger ITTycoons. „Es ist im Kern eine Heilslehre,
die mit dem Kommunismus vergleichbar
ist, der als gute Idee begann, bevor alles
in der Katastrophe und im Gulag endete“,
sagt der Internetkritiker Lanier. „Im Silicon Valley gibt es diese Einstellung, die
sagt: Wir wissen am besten, wie es geht.
Technik löst alle Probleme der Welt. Wenn
man uns nur machen lässt und der Rest
einfach die Klappe hält, dann wird
es allen besser gehen.“
Der Weg ins Paradies ist
von Kameras gesäumt.
Politiker hängen sich
das lolligroße Auge
um den Hals. Jene,
die an dieser Errungenschaft öffentlich zweifeln, werden erledigt durch
Gerüchte:
Sie
nutzten Kinderpornoseiten oder
hätten Verbindungen zu iranischen
Terrornetzwerken
in ihrer Cloud. Es ist
nur logisch, dass sich
bei diesem Kreuzzug
zur Ausrottung des Bösen
Mae Holland an der Spitze
einreiht und ebenfalls um die
Kamera zur Volltransparenz bittet.
Sie ist sofort ein Star. 50, 60, 70 Millionen User bewundern sie, unterstützen sie,
sorgen sich um sie. Einem Viewer aus
Schottland fällt auf, dass Holland manchmal Salami isst. Er meldet sich umgehend
bei der Firmenärztin des Circle, weil
Nitrate Darmkrebs verursachen könnten.
Andy Warhols Diktum, wonach in der
Zukunft jeder für 15 Minuten berühmt sein
kann, wird vom Fernsehzeitalter ins digitale Zeitalter gebeamt. In dieser RealitySoap, die an sieben Tagen der Woche 24
Stunden lang läuft, muss man dauernd auf
Sendung sein, weltweit. Mae ist elektrisiert
und spürt „die Zuneigung von Millionen
durch sich hindurchströmen“.
Ein Programm namens DemoVis soll die
Demokratie endlich säubern, es soll den
direkten und deshalb reinen Willen des
Volkes sichtbar machen. Wie so ein Dauerplebiszit aussehen könnte, demonstriert
Mae in einer Sitzung mit einigen Tausend
vermeintlichen Jüngern. Frage Nummer
ILLUSTRATION: CHRISTOPH NIEMANN
Kultur
Holland verbringt eine schlaflose Nacht,
bis ein Vertrauter sie beruhigt. Die Namen
der Verräter stünden doch lückenlos geordnet im System.
Im großen Rechner finden sich auch
sonst noch alle Daten, die man zu einem
scheinbar komfortablen Leben benötigt.
Wie voll der Kühlschrank ist, wie hoch der
Blutdruck, ob jemand auch die 10 000 von
der Firma empfohlenen Schritte jeden Tag
tut, wessen Vorfahren vor ein paar
Hundert Jahren wen abgeschlachtet haben.
Aber hier, und das ist
verblüffend, wirkt Eggers’ Fantasie schon
fast ein wenig alt,
verglichen mit
der Wirklichkeit.
In den Jahren,
die seit dem
Beginn seines
Schreibens vergangen sind,
hat sich in der
Realität einiges
getan.
Tony
Fadell,
der Entwickler des
iPods, hat seine Firma Nest für 3,2 Milliarden Dollar an
Google verkauft,
in dessen Reich
nun jene intelligenten Thermostate hergestellt
eins: „Sollte der Circle mehr Veggiegerichte beim Lunch anbieten?“ Frage Nummer
zwei: „Sollte der Bring-deine-Tochter-mitzur-Arbeit-Tag zweimal im Jahr stattfinden
statt nur einmal?“ Frage Nummer drei:
„John oder Paul oder … Ringo?“ Frage
Nummer vier: „Geheimdienste haben Terroristenführer Mohammed Khalil al-Hamed in einer dünn besiedelten Gegend Pakistans lokalisiert. Sollten wir eine Drohne
schicken, um ihn zu töten, wenn mit gewissen Kollateralschäden zu rechnen ist?“
Die meisten Circler sind für mehr Veggieessen, gegen den zweiten Kindertag, für
Ringo und für die Drohne. Am Ende fragt
Holland dann noch: „Ist Mae Holland Spitze oder was?“ Auch hier Zustimmung: 97
Prozent. Was Holland dann aber doch leider an den Rand der Paranoia treibt. Warum, zum Teufel, mögen die restlichen drei
Prozent sie nicht? Wollen diese heimtückischen kleinen Biester sie vernichten?
werden, die das Leben in Häusern
erleichtern sollen.
Fadell verspricht zwar, die von seinen
Geräten gesammelten Daten nicht weiterzugeben, aber mit Daten solcher Art
könnten profunde Persönlichkeitsprofile
der Bewohner erstellt werden: Was
treibt einer so in seiner Wohnung, was
lagert er im Kühlschrank, wann geht er
zu Bett? In Zusammenhang gesetzt sind
es Daten, die viele interessieren könnten: Versicherungen, Banken, Gesetzeshüter, Krankenkassen.
Ernährt sich der Bewohner gesund?
Trinkt er abends noch ein Bier? Oder
zwei? Warum nicht bei einer Kreditanfrage auf solche Daten zurückgreifen?
Ist doch keine große Sache, solange der
Bewohner nichts zu verbergen hat.
Shoshana Zuboff schreibt in ihrem
Aufsatz „Dark Google“: „Google und
andere werden ihr Geld damit verdie-
nen, dass sie diese Realität kennen,
manipulieren und in kleinste Stücke
schneiden.“
Die Politik ist dramatisch gefordert,
eine solche Zukunft zu verhindern. Unternehmen wie Google oder Facebook
beherrschen den Markt, sie sind dabei,
weltweite Monopole aufzubauen. Was genau sie mit den Daten veranstalten, die
sie bunkern, entzieht sich zum großen
Teil unserem Einblick, aber genau dies
sollte unser Misstrauen nähren.
Ziemlich ungeniert zeigt dagegen bereits Amazon, wie sich der Konzern die
Zukunft vorstellt. Wie ein IndustrieRäuberbaron des 19. Jahrhunderts setzt
Amazon-Gründer Jeff Bezos, seine Lieferanten, die Verlage dieser Welt, unter
Druck. Ausgerechnet in der Digitalökonomie entstehen gerade Monopole, die
mächtiger sind als alles, was es bis jetzt
gab.
In Eggers’ satirischer Dystopie existieren nur ganz wenige, die nicht mitziehen
wollen. Einem von ihnen behagt es nicht
mehr, dass seine Unterhaltungen im Netz
laufen sollen. Er heißt Mercer und ist der
Exfreund von Mae Holland.
Mercer gibt sein Geschäft auf, er flüchtet in die Berge. Nach dem Beispiel alter
US-Pioniere hofft er, dort seinen Frieden
und ein einfaches Leben zu finden: eine
Hütte, klares Wasser, vielleicht ein paar
Freunde.
Aber dank einiger Onlinerecherchen,
dank GPS und einer Drohne hat Mae Holland ihn nach ein paar Minuten aufgespürt. Unter dem Gejohle vieler Circler
jagt und verfolgt sie ihn. „Mercer“, ruft
sie ihm über Funk zu, „stopp den Wagen
und ergib dich. Du bist umzingelt.“
Kunstpause. „Von Freunden!“
Das Gelächter im Publikum verrät, dass dies grausamer Hohn ist.
Mercer rast mit seinem Pick-up
durch eine Betonbrüstung, er
sucht den Tod in einer Schlucht.
„Das wäre nie und nimmer
passiert, wenn Mercer in einem
selbstfahrenden Fahrzeug gesessen hätte“, sagt einer der CircleChefs. „Die Programmierung
hätte das ausgeschlossen. Fahrzeuge wie das, in dem er gesessen hat, gehören offen gesagt
verboten.“
Wie schön, dass Google solche selbstfahrenden Autos bereits baut. Man richtet keinen
Schaden mehr an, weder an Betonbrüstungen noch an sich
selbst. Man fährt eine Strecke,
begleitet von der Firma, und,
das Beste, man kann
während des Transports googeln. Hammer! Alles wird gut.
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Kultur
Pornograf aus der Finsternis
Legenden War der Marquis de Sade ein philosophierender Psychopath oder ein Freigeist? Eine
neue Biografie versucht, die Widersprüche einer extremen Existenz zu entschlüsseln.
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FOTO: BPK
E
s gibt in der Weltliteratur viele Wer- Die Anklage ist falsch, ich schwöre es bei noch viel dunkleren Legenden durchwirkt“
ke über das Böse. Aber es gibt nicht allem, was mir am heiligsten ist.“ Doch war. Gemessen am obszönen Inhalt seiner
viele, die selbst als Inbegriff des Bö- die Handschrift verriet ihn, eine Durchsu- Schriften verliefen die tatsächlichen Auschung seiner Wohnung erbrachte weitere schweifungen des Marquis zwar keineswegs
sen gelten.
Am 6. März 1801 – in Paris übte der jun- Beweise. Während der Verleger Massé frei- harmlos, aber ohne tödliche Folgen für die
ge Revolutionsgeneral Napoleon Bona- kam, nachdem er der Polizei das Versteck Opfer. Sie kamen manchmal mit ein paar
parte die Macht aus – stürmte ein Trupp genannt hatte, in dem er die frisch gedruck- Striemen und dem Schrecken davon.
Polizisten die Räumlichkeiten des Verle- ten Exemplare hortete, wurde der Marquis
Trotzdem verurteilte ein Gericht in Aixgers Nicolas Massé. Ziel der Fahndung war ohne Prozess für den Rest seines Lebens en-Provence ihn schon am 12. September
ein radikal pornografisches und blasphe- eingesperrt. Sein Verbrechen bestand al- 1772, da war der Marquis 32 Jahre alt, in
misches Machwerk, das Tout-Paris in Atem lein in der Veröffentlichung von „Justine“ Abwesenheit zum Tode. Während einer
und „Juliette“.
hielt.
wie eine Theatervorstellung in mehreren
De Sade starb 13 Jahre und neun Mona- Akten inszenierten Séance mit AuspeitDie Beamten erwischten einen verdächtigen Störenfried der öffentlichen Ordnung te später, am 2. Dezember 1814 (Napoleon schungen und Analverkehr hatte de Sade
und der guten Sitten am Tatort – den ein- hatte inzwischen als Kaiser abgedankt und angeworbenen Prostituierten in Marseille
schlägig vorbekannten und vorbestraften residierte auf der Insel Elba), friedlich und „galante Pastillen“ verabreicht – ein AphroAristokraten und Lebemann Donatien Al- vermutlich sogar glücklich in der Irren- disiakum, das in Überdosis lebensgefährphonse François Marquis de Sade, der sich anstalt von Charenton. Keineswegs dem lich wirken konnte. Einer der Frauen war
neuerdings „Homme de Lettres“, Schrift- Wahnsinn verfallen, hatte er die Zeit ge- speiübel geworden. Das reichte der könignutzt, um mit den Insassen Theaterstücke lichen Justiz, um den Marquis und seinen
steller, nannte.
Der zu diesem Zeitpunkt 60 Jahre alte (angeblich zu therapeutischen Zwecken) tatbeteiligten Diener Latour des Giftmords
Marquis hatte eine neue, erheblich erwei- aufzuführen und noch drei eher unverfäng- und der Sodomie schuldig zu sprechen. De
terte Ausgabe eines Romans voller sexuel- liche Geschichtsromane zu schreiben.
Sade, der sich keiner Schuld und zunächst
Es war ein erstaunlicher Lebensab- auch keiner Gefahr bewusst war, konnte
ler Gewalttaten und fantasierter Exzesse
in Händen. Das Buch war erstmals 1791 schluss in einer turbulenten und blutigen sich rechtzeitig absetzen. Ersatzweise wuranonym veröffentlicht worden, hatte un- Epoche für einen Adligen, der seit seinem de sein Bildnis öffentlich verbrannt.
geheures Aufsehen und ebenso große Em- 23. Lebensjahr eine Skandalspur als UnEinige Jahre spielte er mit seinen Hätergraber aller Moral durch schern Katz und Maus, wurde festgenompörung erregt, was den Erjedes politische Regime gezo- men und konnte wieder entkommen. Das
folg nur steigerte: „Justine
gen hatte.
oder Die Unglücksfälle der
Leben im Untergrund, wo er sich eine
War der 1740 geborene de Ethik des Widerstands und des unschuldig
Tugend“.
Sade ein Sadist und Triebver- Verfolgten zulegte, endete 1778. Zwar wurDie neue „Justine“ des
brecher oder ein Seher und de das Todesurteil von Aix aufgehoben,
Marquis enthielt handschriftAufklärer, der, Ironie des aber dafür verschwand der Marquis, ein
liche Korrekturen und ZusätSchicksals, von staatlichen „Schandfleck“ seines Standes, ein erstes
ze; aus dem ursprünglichen
Tugendwächtern, die selbst Mal für lange Zeit im Gefängnis, zunächst
Werk war ein Doppelroman
massenhaft mordeten, in ein in der Festung Vincennes, dann in der Pageworden: Justines LebensAsyl für Geisteskranke weg- riser Bastille.
bericht, gefolgt von der Gegesperrt werden musste? Der
schichte ihrer Schwester JuVon dort aus ergriff er während der ReHistoriker Volker Reinhardt, volutionswirren im Sommer 1789 seine
liette oder den „Vorteilen des
Professor für Geschichte der Chance zu einem denkwürdigen Auftritt.
Lasters“. Dieser zweite Teil
Autor de Sade
Neuzeit an der Universität Am Mittag des 2. Juli 1789 rief er von seiwar noch viel schändlicher
Entfesselter Libertin
Fribourg in der Schweiz, hat nem Fenster in der Bastille durch ein selbst
als der erste. Auf weit über
tausend Druckseiten wimmelte es von jetzt eine Biografie mit dem Anspruch vor- gebasteltes Megafon aus Leibeskräften auf
Folter- und Lustmordszenen, Gottesläste- gelegt, das wahre Leben und Denken des die Rue Saint-Antoine hinunter um Hilfe,
rungen und organisierten Massenorgien, Marquis aus altem provenzalischem Adel „sodass sich viele Leute versammelten“,
raffinierter Grausamkeit und niederträch- hinter den zahlreichen Bildern, Mythen wie ein Aufseher berichtete. „Er erging
tigem Verrat. Unterbrochen wurde die und Gegenmythen freizulegen, durch die sich in Beschimpfungen des KommandanAufzählung des Schreckens nur von Recht- das Werk de Sades bis heute gelesen und ten, forderte die Bürger auf, ihm zu Hilfe
fertigungstiraden des triumphierenden Bö- gedeutet wird*.
zu kommen, und schrie, dass man ihn erDieser wohl „berüchtigtste Schriftsteller würgen wolle.“
sen, während die Stimmen der gequälten
Guten in ebenso hilflosem wie naivem Pro- aller Zeiten“, wie Reinhardt meint, hat nur
Als es am 14. Juli so weit war, eine aufin seinen Texten, also in seiner Einbildung, gebrachte Menge tatsächlich zum Sturm
test untergingen.
Dem ertappten Marquis half es im Ver- gemordet, nicht im wirklichen Leben, das auf die Bastille ansetzte und deren Befehlshör nicht viel, dass er seine Urheberschaft allerdings „reich mit düsteren Fakten und haber de Launay bestialisch ums Leben
weiterhin konsequent verleugnete. Er sei
brachte, war de Sade nicht mehr da. Man
nur der Kopist, nicht der Autor, verteidigte
hatte den Aufwiegler vorsichtshalber ver* Volker Reinhardt: „De Sade oder Die Vermessung des
er sich: „Man beschuldigt mich, der Ver- Bösen. Eine Biographie“. Verlag C. H. Beck, München; legt. Der Einlieferungsschein trug den Verfasser des infamen Buchs ,Justine‘ zu sein. 464 Seiten; 26,95 Euro.
merk: Dauer unbegrenzt. Doch am 2. April
FOTOS: GUSMAN / LEEMAGE
De-Sade-Illustrationen, 1929: Hochmut des Lasters
1790 kam der Marquis frei. Die Verfassunggebende Nationalversammlung hatte die
Freilassung aller königlichen Sonderhäftlinge, zu denen de Sade gehörte, verfügt.
Der Revolutionsgewinnler konnte sich rühmen, ganz persönlich den Sturz der Willkürherrschaft eingeleitet zu haben.
In der Haft hatte der Marquis begonnen,
eine rege literarische Produktivität zu entfalten. Die fertigen und unvollendeten Manuskripte musste er in der Bastille zurücklassen. Darunter befand sich auch sein
kostbarster Schatz: „Die 120 Tage von Sodom oder Die Schule der Ausschweifung“,
auf Zetteln geschrieben und zu einem
mehr als zwölf Meter langen Papierstreifen
zusammengeklebt, der sich aufrollen ließ,
um ihn vor den Gefängnisaufsehern zu
verbergen. Stolz hatte der Autor sein Projekt als „den schmutzigsten Bericht, seit
es die Welt gibt“, vorgestellt.
Das lange verschollene Fragment wanderte durch verschiedene Privatsammlungen und wurde erstmals 1904 veröffentlicht, in einer sehr fehlerhaften Edition
des Berliner Sexualwissenschaftlers Iwan
Bloch, der die beschriebenen Szenen für
eine genaue Wiedergabe tatsächlicher Vorkommnisse hielt und darin die Skandalchronik einer zutiefst verdorbenen Nation
zu erkennen wähnte. Dem Marquis, der
zu bösem Sarkasmus und einem parodistischen Ton neigte, hätte das Missverständnis gefallen. Der italienische Regisseur Pier Paolo Pasolini hat „Die 120 Tage
von Sodom“ 1975 als Film herausgebracht
und in Mussolinis faschistische Republik
von Salò am Ende des Zweiten Weltkriegs verlegt.
Die Erinnerung an den „göttlichen Marquis“, wie ihn der Dichter Guillaume Apollinaire nannte, ließ sich nicht auslöschen.
Im 20. Jahrhundert, das den Erfolg der
freudschen Psychoanalyse, den Surrealismus, die Gräuel des Totalitarismus und die
existenzialistische Rebellion gegen die
Absurdität des menschlichen Schicksals
hervorgebracht hat, „entwickelten sich
Leben und Werk des Marquis de Sade zu
einer Projektionsfläche und damit auch zu
einem Spiegelbild der Moderne, die sich
selbst, ihre Befindlichkeiten, Errungenschaften und Fehlentwicklungen, darin zu
entdecken glaubte“, so der Biograf Reinhardt. Er hat die gelebten und ersonnenen
Ausschweifungen, die Lust an der Qual
und die Philosophie der Zerstörung als
spannende und aufschlussreiche Forschungsreise in die Abgründe der menschlichen Seele zusammengefasst.
Der entfesselte „Libertin“ de Sade (so
seine Selbstbezeichnung) sah sich in seinen
realen und erdachten Experimenten als Erkunder des menschlichen Bewusstseins.
Die Natur ist grausam, ihre Triebkraft
die kreative Zerstörung, so lautete de Sades
Glaubenssatz. Der totale Triumph des freien Geistes wäre in seiner Imagination letztlich die Vernichtung der ganzen Welt gewesen, wie sie sich manche der Gestalten
de Sades ausmalen, etwa mittels eines
künstlich erzeugten gigantischen Vulkan-
ausbruchs. Das Verlangen seiner Lüstlinge,
Sex- und Foltermonstren ist am Ende ein
Verlangen nach gar nichts, de Sades „Philosophie im Boudoir“ löst sich in reinem
Nihilismus auf.
Denn das Böse strebt, so interpretiert
Reinhardt den Marquis, nach dem Absoluten und stößt doch immer auf seine Begrenzung. Erlösung gibt es paradoxerweise
nur für die verhöhnten Tugendhaften – im
Märtyrertod.
Seine Libertins sind, wie wahrscheinlich
der Marquis selbst, Psychopathen, weil sie
vom eigenen emotionalen Leben völlig losgelöst und damit unfähig zur Empathie sind.
Darin besteht ihr eigentlicher „Sadismus“.
Ihre Erotik ist Abstraktion und deshalb Perversion. Das Böse hat für sie keinen praktischen Zweck. Es ist sich selbst Grund genug.
Das Verbrechen an sich ist der Sinnenrausch; die höchste Kunst des Lustmords
besteht im kaltblütigen, leidenschaftslosen
Töten. Der Hochmut, in dem die lasterhaften Quälgeister sich verzehren, ist ein Zeichen ihrer Verzweiflung, ein Protest gegen
das Elend des Daseins insgesamt.
Vergewaltigung, Folter, Mord, Inzest,
Kinderschändung: In der obsessiven Wiederholung des immer Gleichen verliert die
radikale Pornografie de Sades ihr Erregungspotenzial. Das Böse, das am Anfang
den Leser in seinen Bann zieht, wird langweilig und bleibt endlos dasselbe. Wenn
es denn eine Bilanz dieses Lebens und dieses Werks gibt, dann diese: Die Hölle ist
für alle Ewigkeit.
Romain Leick
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Schauspielerin Johansson in „Lucy“
Die Frau an sich
D
ie junge Frau sitzt angekettet in
ihrer Zelle, verängstigt wie ein kleines Mädchen. Die Tür öffnet sich,
ein Wärter kommt herein. Die Frau sieht
ihn an, lächelt plötzlich lasziv und spreizt
ihre Beine. Der Wärter öffnet den Gürtel
seiner Hose und geht auf sie zu. Wenige
Sekunden später ist er ein toter Mann und
die Frau auf freiem Fuß.
Die Frau heißt Lucy und transportiert
synthetische Drogen in ihrem Körper. Als
ein Päckchen platzt, gelangt der Wirkstoff
ins Blut und verändert sie von Grund auf.
Bald agiert sie so schnell, präzise und gefühllos wie ein Supercomputer. Die Schauspielerin Scarlett Johansson macht aus der
Hauptfigur Lucy in dem gleichnamigen
Film eine ebenso schöne wie furchterregende Intelligenzbestie.
„Diese Figur beruht auf einem Gedankenspiel“, erzählt der 29-jährige Star. „Einige Wissenschaftler behaupten, dass wir
Menschen nur 10 Prozent unserer Gehirnkapazität nutzen. Wie würden wir uns verhalten, wenn es 30 Prozent oder 60 wären?
Was würde mit uns passieren? Lucy ist
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DER SPIEGEL 32 / 2014
eine Idee, die ich mit Leben zu füllen ihr telefoniert, begreift, was es bedeutet,
ganz Ohr zu sein.
versuche.“
Fünf Filme mit ihr kommen in diesem
Der von dem Franzosen Luc Besson inszenierte Film „Lucy“, der Mitte August Jahr heraus, im Kino oder auf DVD. Der
in die deutschen Kinos kommt, hat in den erste lief schon im Frühjahr an, er heißt
USA am ersten Wochenende fast 45 Mil- „Her“ und spielt in der Zukunft. Er erzählt
lionen Dollar eingespielt, mehr als sein die Geschichte eines Mannes (gespielt von
Budget. Für Johansson ist das ein Tri- Joaquín Phoenix), der sich in eine Frau
umph. Sie hat damit erstmals bewiesen, verliebt, die tatsächlich keinen Körper hat,
dass sie einen Sommer-Blockbuster tragen sondern nur eine Stimme, eine Computerstimme, gesprochen von Johansson.
kann.
In „Under the Skin“, einem weiteren
Anlässlich des Filmstarts gibt die Schauspielerin einige wenige Interviews, per Science-Fiction-Film, der im Oktober auf
Telefon. Johansson ist hochschwanger, mit DVD erscheinen wird, spielt sie eine
dem französischen Journalisten Romain Außerirdische, die in den Körper einer
Dauriac erwartet sie im Spätsommer ein Frau schlüpft, um Jagd auf Männer zu
gemeinsames Kind. Nun sitzt sie in New machen. Immer wieder nimmt der Film
York am Telefon, es ist Vormittag. Sie den kalten Blick seiner Hauptfigur ein, die
auf ein bestimmtes Beuteschema programscheint gut gelaunt, aufgekratzt.
„Ein Schauspieler hat zwei Werkzeuge“, miert ist.
Vielleicht will Johansson sie endlich einsagt sie fröhlich, „den Körper und die Stimme. Hat er das eine nicht zur Verfügung, mal hinter sich lassen, all diese Listen, auf
muss er aus dem anderen umso mehr raus- denen sie zur „sexiest woman alive“ geholen.“ Sie lacht, mit dieser rauen Stimme, kürt wurde, all diese dummen Journalisdie immer so klingt, als hätte Johansson tenfragen, wie sie sich denn dabei fühle,
die letzte Nacht durchgesoffen. Wer mit ein Sexsymbol zu sein. Vielleicht spielt
FOTO: UNIVERSAL PICTURES
Kino Hollywood-Star Scarlett Johansson spielt in diesem Jahr in gleich fünf Filmen mit.
Und sie durchbricht dabei weibliche Rollenklischees.
Kultur
sie deshalb jetzt Figuren, die gar keinen
Körper haben oder für die er bloß eine
Hülle ist.
„Wer weiß, vielleicht löst sich Lucy am
Ende des Films in einem großen, universalen Bewusstsein auf?“, sagt sie und lacht
wieder. „Ich bewege mich in meinen Filmen gerade an den Grenzen dessen, was
man vielleicht ganz grob als menschliche
Natur bezeichnen kann. Wo hört sie auf,
wo fängt sie an? Was ist ihr Kern?“
„Lucy“ erzählt von einem blutigen Rückzugsgefecht der Menschlichkeit. Mit zunehmender Intelligenz gingen Moral und
Empathie verloren, behauptet der Film. So
wird aus der verzweifelten jungen Frau,
die am Anfang des Films in die Gewalt
von Drogenhändlern gerät, eine Tötungsmaschine.
Immer öfter erstarrt Johanssons Miene
im Laufe des Films in völliger Ausdruckslosigkeit. Alles, was Lucy sieht, scannt sie
mit der Genauigkeit eines Lasers. Johansson lässt den Zuschauer spüren, wie es ist,
wenn die Augen auf einmal viel zu viel
sehen, als ob sie jeden Menschen, den sie
betrachteten, in Milliarden Bytes zerlegten.
„Leute im Alltag zu beobachten, sie zu
studieren ist ein ganz wichtiger Teil meiner
Arbeit als Schauspielerin“, erzählt Johansson. „Dabei versuche ich, mich in den
Menschen einzufühlen. Doch Lucy analysiert ihr Gegenüber so schnell, dass ihre
Gefühle nicht mitkommen. Die Distanz
zwischen ihr und den anderen Menschen nen Köder – das Dummchen mit den großen Augen, die Schlampe mit den großen
wird immer größer.“
Johansson spielt die zurzeit modernsten Brüsten oder den männermordenden
Heldinnen des Kinos. Sie leben genau an Vamp –, um ihn dann hineinzuziehen in
der Schnittstelle der analogen zur digitalen eine Welt, in der alles ganz anders und
Welt: Lucy, die am Ende mit einem Com- viel komplizierter ist.
Als sie vor vier Jahren in dem Film
puter fusioniert wie in einem gewaltigen,
ekstatischen Geschlechtsakt; Samantha „Iron Man 2“ erstmals die Agentin Natasha
aus „Her“, die nichts weiter ist als eine Romanoff spielte, erschuf sie eine Figur,
digitale Stimme, die aber aus den Daten- die für Hollywood neu war. Bis dahin
strömen hinauswill in die Welt aus Fleisch mussten Actionheldinnen hochgewachsen,
und Blut, die sich für ihre Stimme sehnlich dünn und drahtig sein, amazonenhaft wie
Sigourney Weaver oder Milla Jovovich.
einen Körper wünscht.
Selbst Angelina Jolie ist so spindeldürr,
Kaum eine Hollywood-Schauspielerin
kann Widersprüche so in sich vereinen dass man sich immer fragt, woher sie die
wie Johansson. Schon als Kind wirkte sie Kraft nimmt, die monströsen Waffen hocherwachsen. Johansson wollte Musicalstar zuheben, mit denen sie in ihren Filmen
werden, Judy Garland war ihr Vorbild. hantiert. Johanssons Körper dagegen
Doch ihre Stimme war viel zu dunkel. Be- scheint zu sagen: Ich mache keinen Sport,
reits im Alter von acht Jahren klang sie und das ist gut so. Wenn sie in Interviews
über Ernährung redet, dann über Nachos
nach sehr viel Whisky und Zigaretten.
1998 spielte Johansson in Robert Red- und Martinis.
Scarlett Johansson ist heute mehr als
fords Romanverfilmung „Der Pferdeflüsterer“ ein Mädchen, dem nach einem Un- nur ein Männertraum, wie noch am Anfall ein Teil des Beins amputiert werden fang ihrer Karriere. Weil sie sich auf keinen
muss. Sie habe wie eine 13-Jährige gewirkt, Typus festlegen lässt und inzwischen so et„die auf die 30 zugeht“, sagte Redford über was wie die Frau an sich verkörpert, mit
seine junge Darstellerin. Sie gab ihrer Figur all ihren Möglichkeiten, ist sie ein Idol für
die Schwermut einer viel zu früh vom Le- viele Mädchen. Sie ist so populär wie Jennifer Lawrence oder Angelina Jolie.
ben Gezeichneten.
Schon als sie vor sechs Jahren mit WooIn Sofia Coppolas Film „Lost in Translation“, durch den Johansson 2003 im Alter dy Allen die Komödie „Vicky Cristina Barvon 18 Jahren zum Star wurde, wirkt sie celona“ drehte, standen Tausende Fans auf
zunächst wie ein naives Mädchen, wie die den Straßen der spanischen Metropole.
Unschuld vom Lande, die den ganzen Tag „Wenn du eine kleine intime Szene in eiauf der Fensterbank ihres Hotelzimmers nem Straßencafé drehst, kann das echt nerhockt, auf die Metropole Tokio hinabblickt ven“, sagt sie. „Du sprichst einen Liebesund sich nicht hinaustraut in die große dialog und fühlst dich wie bei ,Shakespeare
im Park‘.“
weite Welt.
Dann geht sie eines Nachts in die HotelBei den Dreharbeiten für „Lucy“ in Taibar, lehnt sich lässig an den Tresen, klopft wan wurde sie ständig von Paparazzi vereine Zigarette aus der Packung, streicht folgt. Regisseur Besson überlegte zeitweise,
über sie und zündet sie sich an. Auf einmal die Arbeit abzubrechen. „Deswegen liebe
liegt eine ganz unerwartete Souveränität ich New York“, sagt sie. „Hier bin ich aufin jeder ihrer Gesten. Der Mann, der ne- gewachsen, hier lassen mich die Leute in
ben ihr sitzt, ein Hollywood-Star um die Ruhe. Wenn ich mich verkleiden müsste,
fünfzig, wirkt da wie ein kleiner Junge.
um auf die Straße zu gehen, würde ich
Ihr Körper ist ein einziges Dementi des wahnsinnig werden.“
heutigen Schlankheitsideals. Johansson
In New York spielt auch ihr Regiedebüt,
wirkt eher wie ein Star aus den Fünfziger- „Sommerdiebe“, die Verfilmung des ersten
oder Sechzigerjahren. Auch deshalb kann Romans von Truman Capote. Das Manusie mühelos in die Rollen früherer Holly- skript ist erst 2004 gefunden worden, 20
wood-Diven schlüpfen. In dem Film „Hitch- Jahre nach dem Tod des Schriftstellers.
cock“ etwa spielt sie den Sechzigerjahre- Das sind Johanssons Pläne für die nächste
Star Janet Leigh. Johansson scheint irgend- Zeit: erst die Heirat mit Dauriac, dann ihr
wie aus der Zeit gefallen.
Kind zur Welt bringen, dann 30 werden,
Als sie 2008 für Barack Obama Wahl- dann ihren Film drehen.
kampf machte, fühlten sich viele Ameri„Capotes Geschichte ist auf eine sehr
kaner plötzlich zurückkatapultiert in das tragische Weise romantisch, und wahrJahr 1962, als Marilyn Monroe dem Präsi- scheinlich hat sie mich deshalb so berührt“,
denten John F. Kennedy zum Geburtstag erzählt sie. „Er beschreibt das Ende der
ein Ständchen sang. Eine wehmütige Er- Unschuld als den Verlust von etwas überinnerung an die glückliche Zeit, als Holly- aus Kostbarem. An der Zeit, in der man
wood und Washington ihre Liebe fürein- erwachsen wird, kann man zerbrechen,
ander entdeckten.
wenn man sie nicht überwindet.“
Johansson liebt es, dem Zuschauer weibUnd sie klingt dabei, als wisse sie, woliche Rollenklischees hinzuwerfen wie ei- von sie redet.
Lars-Olav Beier
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Die Mörder
und ihr Gott
Religion Der Papst hat alle Mafiosi
exkommuniziert. Wie reagieren
sie darauf? Eine Reise nach Italien
zu Priestern und Paten.
S
ie halten ihre Hand auf bei dem geheimen Ritual. Auf ihrer Handfläche
verbrennt ein Papierbild. Es zeigt den
Erzengel Michael. „Ich werde treu sein, solange ich lebe“, schwören die jungen Männer, wenn sie in die Mafia aufgenommen
werden. Der Schwur gilt ihrem Paten. Und
er gilt dem Heiligen, der in ihrer Hand verbrennt.
Mafiosi sind religiös. Sie verstehen sich
so, zumindest wenn sie zur ’Ndrangheta
gehören, zur kalabrischen Mafia, der mächtigsten Verbrecherorganisation Europas,
die jedes Jahr mehr als 50 Milliarden Euro
umsetzt.
Es ist kein Widerspruch für sie: zu morden und die Muttergottes zu verehren, mit
Drogen und Waffen zu handeln, illegale
Müllgeschäfte zu machen und einmal im
Jahr zur Madonna von Polsi hoch oben in
den Bergen Kalabriens zu pilgern.
Aber seit dem 21. Juni haben die Mafiosi
ein Problem mit der Kirche. Ihr Heiliger
Vater hat verkündet, sie seien exkommuniziert. Papst Franziskus brach an jenem Tag
zu einer Reise in den Süden Italiens auf,
nach Kalabrien. Er besuchte das Gefängnis
von Castrovillari, sprach dort mit den Eltern
des kleinen Cocò. Der Vater sitzt wegen
Drogenhandels ein, die Mutter steht unter
Hausarrest. Cocò lebt nicht mehr. Er war
drei Jahre alt, als er im Januar bei einem
Racheakt der Mafia getötet wurde.
Nachdem der Papst mit den Eltern von
Cocò gesprochen hatte, hielt er in Cassano
allo Ionio eine Messe. Er sagte: „Diejenigen, die den falschen Weg wählen, wie
auch die Mafiosi, sind nicht in Gemeinschaft mit Gott. Sie sind exkommuniziert.“
Damit wären sie vom Empfang der heiligen Sakramente ausgeschlossen.
Immer mal wieder haben sich Päpste gegen die Mafia gestellt, doch die Worte von
Franziskus sind ungewöhnlich deutlich.
Wie kommt der Bannspruch bei den Verbrechern an, die sich als Christen verstehen? Und wie gehen die Priester in Kalabrien damit um, die für Mafiosi predigen,
sie trauen, ihre Kinder taufen?
„Die Mafia missbraucht die heiligen Sakramente“, donnert Don Ennio Stamile an
einem Sonntag im Juli bei seiner Messe in
der Kirche San Benedetto im kalabrischen
124
DER SPIEGEL 32 / 2014
Papst Franziskus, Mitglieder der ’Ndrangheta
„Wie sind keine Heiligen“
Cetraro. Er trägt einen grünen Talar, die
Sonne schickt goldenes Licht durch die
Fenster. Immer wieder zitiert Don Ennio
bei seiner Predigt den Heiligen Vater, er
ist stolz auf ihn, er fühlt sich von ihm unterstützt in seinem Kampf.
Don Ennio ist in Kalabrien dafür bekannt, dass er gegen die Mafia predigt. Er
ist bereits gewarnt worden, er gehe zu weit.
Ein Schweinekopf mit einem Lappen im
Maul lag einmal vor seiner Tür. Die Botschaft: Schweig oder stirb.
Aber der Priester schweigt nicht. „Die
Worte des Papstes stellen die Mitglieder
der ’Ndrangheta außerhalb der Kirche“,
sagt er. Die Mafiosi hätten das auch verstanden. Im Gefängnis von Larino seien
200 Insassen nach den Worten des Papstes
nicht zur Messe erschienen, erzählt er.
Eine Machtdemonstration der ’Ndrangheta? Don Ennio denkt nach. „Die Mafiosi
haben den Papst womöglich falsch verstanden“, sagt er dann, „eine Exkommunikation gilt nicht für alle Zeiten, für Reue und
Umkehr ist es nie zu spät.“
Domenico aber sieht keinen Anlass zur
Reue. Domenico ist Mafioso. Es ist nicht
leicht, ihn zu treffen, man braucht Hilfe
von Leuten, denen er vertraut. Der italienische Journalist Francesco Sbano ist so
jemand. Er beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der ’Ndrangheta, es gelingt ihm,
eine Verabredung zu arrangieren.
Domenico taucht zunächst nicht auf,
Sbano organisiert ein nächstes Treffen, Domenico bleibt wieder fern. Irgendwann
kommt er doch. Er ordnet an, alle Handys
im Raum einzusammeln. Die italienische
Staatsanwaltschaft hört Telefone ab, programmiert Smartphones zu Wanzen um.
„Welcher Papst?“, fragt er, „wir haben
zwei.“ Den Rücktritt Papst Benedikts im
Februar 2013 kann er nicht akzeptieren.
Dieser Rücktritt stellt für ihn die Autorität
des Papsttums infrage: Ein Papst tritt nicht
zurück, und wenn, dann fehlt seinem Nachfolger die Legitimation.
„Wir sind tiefgläubig, aber der Papst ist
nicht Gott. Für uns haben seine Worte keine Bedeutung“, sagt Domenico. Schlimmer wäre es, wenn sich die Priester gegen
sie stellten. Aber er glaubt nicht, dass das
passiert. „Wir haben Priester, die sogar
unsere Latitanten trauen.“ Latitanten sind
die Mörder der Mafia, die sich im Bergmassiv Aspromonte vor der Polizei verstecken. So viele Kriege und Tote auf der
Welt – da sei die Mafia doch nur ein kleines Problem. „Der Papst war sich der Tragweite seiner Worte nicht bewusst.“
Er wird wissen, dass das nicht wahr ist.
Anlass für den Bannspruch des Papstes war
die Ermordung des kleinen Cocò, und es
ist selbst für einen Mafioso wie Domenico
nicht zu rechtfertigen, dass es zu dieser Tat
gekommen ist. Mafiosi der ’Ndrangheta sehen sich als Beschützer von Frauen und
Kindern. „Es gab Dutzende Morde in dem
Ort, die alle sauber nach den Regeln der
’Ndrangheta ausgeführt wurden“, sagt Domenico. Ein Ehrenmann würde kein Kind
töten, behauptet er, die Tat könne nicht das
Werk der ’Ndrangheta sein.
Sich als Wohltäter darzustellen hat bei
der ’Ndrangheta Methode. Die Verbrecherorganisation bezieht daraus einen Teil ihrer
Legitimation. Deswegen leben auch die
Paten trotz ihrer Millionengewinne aus
kriminellen Geschäften zumindest in der
Heimat bescheiden. Sie demonstrieren so
Verbundenheit mit dem Volk.
Bislang konnten sich die Paten mehr
oder weniger auf die Kirche verlassen. Die
meisten Priester, mit denen sie es zu tun
hatten, überließen das Weltliche der Staatsanwaltschaft und das Göttliche dem Jüngsten Gericht. Oft saßen Mafiosi bei kirchlichen Veranstaltungen in der ersten Reihe
und demonstrierten ihre Macht.
Franziskus aber, der den Priestern und
sich selbst Bescheidenheit auferlegt und
für Solidarität mit den Armen eintritt, gilt
als ein Papst, der dem Volk nahe ist. Für
die Mafia, die sich so gern als volksnah
und volksgläubig inszeniert, ist gerade dieser Papst besonders gefährlich.
Don Pino Strangio ist seit 34 Jahren Pfarrer in San Luca, jetzt, nach den Worten des
Papstes, sieht er eine „neue Epoche“ anbrechen. Mitglieder der ’Ndrangheta seien
nun keine Christen mehr. Für sie gebe es
in der Kirche nur noch den Weg der Umkehr.
Pfarrer in San Luca zu sein, das ist nicht
leicht. Der 4000-Einwohner-Ort gilt als
Hochburg der ’Ndrangheta; von dort stammen Täter und Opfer eines Mafiakriegs,
FOTOS: AGF / REX FEATURES / ACTION PRESS (O.); FRANCESCO SBANO / DER SPIEGEL (U.)
Kultur
bei dem 2007 in Duisburg an Mariä Himmelfahrt sechs Menschen starben. Don
Pino kennt ihre Angehörigen und wohl
auch alle anderen Mitglieder der rund
30 Mafiafamilien im Ort.
Eine „Revolution“ seien die Worte des
Papstes. Jetzt sei klar, dass es „keine Verbindung“ zwischen Kirche und Mafia gebe.
Aber auch Don Pino weiß nicht, wie sein
kirchlicher Alltag nach dieser Revolution
aussehen soll. „Die Mafiosi werden nicht
auf die Kirche verzichten.“
Priester wissen, was passieren kann,
wenn sie Mafiosi die Sakramente verweigern. Sie müssen mit Drohungen rechnen,
mit Anschlägen, Mordversuchen. „Auch
wenn es gefährlich wird, muss allen Priestern klar sein, dass die Worte des Papstes
gelten“, sagt Don Pino. „Ich weiß nicht,
was mich erwartet, aber ich habe keine
Angst. Der Papst gibt mir Kraft.“
Der Mafioso Andrea empfängt in einem
Haus unweit von Gioia Tauro, einer Gegend, die vom Clan der Piromalli-Molé
dominiert wird. Das Haus wirkt seltsam
unbewohnt. Vor Andrea auf dem Tisch liegen eine Pistole vom Typ Beretta, Kaliber
9 Millimeter, und ein Bild des heiligen
Michael. „Ich glaube an Gott, er hat mich
immer geleitet und ist auf allen Wegen
präsent“, sagt der Mafioso mit sanfter
Stimme. Bei seiner Mafiataufe habe auch
er auf den Erzengel Michael geschworen.
Seine Exkommunikation durch den Papst
bezeichnet er als „mediale Sache“.
„Ich glaube, der Papst wollte ein Zeichen setzen, das Gute über das Böse stellen, aber so einfach ist das nicht“, sagt er.
„Wir sind böse, wenn wir böse sein müssen. Aber wir sind gut, wenn wir den Armen helfen, die vom Staat vergessen werden“ – so sehen sich die Kriminellen.
„Wir sind keine Heiligen“, sagt er, „unser
Gesicht kennt jeder, wir lügen nicht.“ Die
Kirche aber habe zwei Gesichter. Sie sei
nie zögerlich, wenn es ums Geschäft gehe –
auch um Geschäfte mit der Mafia: „Die Kirche verwaltet sogar unsere Olivenhaine bei
Sinopoli.“ Und außerdem: Es gebe so viele
pädophile Priester, die auch nicht exkommuniziert würden.
„Bislang hat uns noch nie jemand an
der Taufe gehindert oder bei Prozessionen
verboten, die Madonna zu tragen“, sagt
Andrea. Es habe zwar Priester gegeben,
die es versucht hätten. Aber die seien
überzeugt worden, es zu lassen.
Der Name des Erzengels Michael übrigens ist ursprünglich hebräisch und bedeutet: „Wer ist wie Gott?“ In der Bibel tritt
Michael als Bezwinger Satans auf.
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Belletristik
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DER SPIEGEL 32 / 2014
125
Rechtspopulisten Le Pen, Geert Wilders
Pfahl ins Herz
Essay Demokratisch gewählte Rechtsextreme greifen das liberale Menschenbild Europas an.
Künstler sollten es nun verteidigen. Von Lars Brandt
126
DER SPIEGEL 32 / 2014
Wahlerfolg seines Front national auskostete – indem er die Leute
vom Fernsehen genüsslich stundenlang vor der Tür warten ließ,
weil er lieber weiter telefonieren wollte –, da streifte mich etwas
aus der Vergangenheit am Ärmel, etwas, was ich für endgültig
begraben gehalten hatte.
Doch nun ist er plötzlich wiederauferstanden, der schäbige
Triumphalismus im Auftreten der Nazis, den Bild- und Tondokumente uns Nachgeborenen überliefert haben. Immer weniger
werden es, die auf der einen oder anderen Seite selbst miterlebt
haben, wie es damals losging. Was da in der Luft lag. Lange
bevor die von Le Pen zurückersehnten Verbrennungsöfen qualmten und Europa in Schutt und Asche fiel, war einem denkenden
Künstler wie Thomas Mann im Prinzip klar, mit wem die Welt es
nun zu tun bekommen würde. Um was es sich hinter all dem
schwülstigen Geschwafel im Kern handelte – klarer als den meisten derer, die im Unterschied zu ihm in dezidiert politischen Kategorien dachten: „Hass, Rache,
gemeine Totschlagslust und kleinbürgerliche Seelenmesquinerie“,
so charakterisierte er vor 81 Jahren in einem Brief an Albert Einstein den Nazismus.
An all das will Frankreichs
Nationale Front anknüpfen. Und
wir stehen daneben, staunend,
schon halb gelangweilt, weil eine
Nachricht die andere jagt und wir
von kaum einer mehr richtig ins
Gefühl bekommen, was sie uns
eigentlich sagt über die Realität. In den Ohren säuselt das einschläfernde Gestammel der Wortführer des politischen Establishments, es handele sich eben um Populismus. Populus, das Volk.
Soll das heißen, wir, die Leute, sind in ihren Augen von Natur
Faschisten?
Gespenster, namentlich die der blutsaugerischen Sorte, haben
ein zähes Leben, noch aus dem Grab stehen sie immer wieder
auf. Dagegen hilft nur eines, wie wir wissen: ein Pfahl ins Herz.
Aber wer besitzt ihn? Politiker? Oder doch eher ganz andere
Leute – Künstler? Wiedergänger fügen der Wirklichkeit eine gespenstische Dimension hinzu. Die üblichen Mittel versagen vor
der Aufgabe, sich damit zurechtzufinden. Man muss den Spuk
berücksichtigen, will man nicht herbe Überraschungen erleben.
Und es geht ein Gespenst um in Europa. Nicht jenes, das Marx
und Engels vor gut anderthalb Jahrhunderten im Kommunistischen Manifest besangen. Unser Gespenst ist das eines oberflächlich weichgespülten Faschismus, keineswegs aus der Mottenkiste,
sondern von heute.
Der Kampf läuft
längst, auch wenn
wir noch schlafen:
Faschismus
gegen Humanität.
Es steht nicht gut.
FOTO: VALERIE KUYPERS / AFP
G
eht es nur mir so? Seit einiger Zeit wächst das Gefühl, als
neige sich die Ebene, auf der wir uns bewegen, und die
Frage drängt sich auf, wie lange wir noch Halt finden.
Wann rutschen wir über die Kante? Unwirklichkeit legt sich über
den Kontinent. Womit das anfing, kann ich nicht sagen, es kam
leise in Gang. Nach und nach mehrten sich die Anzeichen einer
unguten Entwicklung, richtig greifbar aber war lange Zeit wenig.
Das hat sich nun geändert – mit dem Ergebnis der Europawahl.
In weiten Teilen Europas schossen rechtsextremistische Parteien
in die Höhe, oft an den anderen vorbei. Wie in Frankreich. Die
Aufregung darüber hat sich schnell gelegt, unheimlich schnell.
Ausgerechnet Frankreich. Ganz überraschend kam der 25-Prozent-Erfolg der Nationalen Front ja nicht gerade. Der Gründer
der Partei, Jean-Marie Le Pen, hat es ja schon vor zwölf Jahren
in die Endausscheidung bei der Wahl des Präsidenten der Republik geschafft. Seine Tochter fraß seitdem ausgiebig Kreide, um
die letzten Zentimeter zur Macht auch noch zu nehmen. Denn
diese Europawahl, über deren Ergebnis sich kaum jemand wirklich Sorgen zu machen scheint, war wohl zugleich die Generalprobe für den Kampf um den Élysée-Palast.
„Politische Fehler“ nannte Marine Le Pen gewisse Bemerkungen ihres Vaters: nämlich dass das Problem der vielen Schwarzen
in Afrika vom Ebola-Virus gelöst werde und dass Juden sich als
Ofenladung eigneten. Vater und Tochter stellen auf diese Weise
sicher, dass auch niemand vergisst, mit wem man es zu tun bekommt. Mit Faschisten. Es gibt wieder einen nennenswerten Faschismus in Europa – und zwar mittendrin, nicht in irgendwelchen
abgehängten Winkeln, wo Hoffnungslosigkeit sich ein Ventil
sucht. Das ist die Nachricht, die alles verändert.
Bis auf unser Bewusstsein. Wir tun, als wäre alles mehr oder
weniger so wie immer. Was soll eigentlich noch geschehen, um
uns aufzuwecken, frage ich mich. Erstmals seit dem Untergang
der Nazis und ihrer Komplizen haben wir es jetzt wieder mit
einer europaweiten faschistischen Bewegung zu tun, die in der
Lage ist, parlamentarische Mehrheiten zu gewinnen. Die also
drauf und dran ist, ganz anders als der nazinostalgische Mob, an
den wir uns inzwischen gewöhnt haben, legal in unser Leben
einzugreifen und zu bestimmen, wie es weitergeht mit Europa.
Uns bringt das alles nicht aus der Ruhe. Wie gesagt, das kam
nicht von einem Tag auf den anderen. Man hatte Zeit, sich daran
zu gewöhnen. Abzustumpfen. Für vorübergehende Schocks (an
die man sich allerdings auch gewöhnt) sorgte jahrelang immer
mal wieder faschistischer Schläger- und Mörderpöbel. Im Zentrum der Gesellschaft machten derweil andere sich in Samtpantoffeln auf den Weg. Wie weit sie inzwischen gekommen sind,
beginnen wir nun langsam zu merken. Als Journalisten nach der
Europawahl dann darüber berichteten, wie der alte Le Pen den
Kultur
Der Kampf läuft längst, auch wenn wir noch schlafen. Die Glocke hat schneller geklingelt, als wir uns vorstellen konnten – in
der wievielten Runde befinden wir uns eigentlich? Dabei prangt
es groß angeschlagen über dem Ring: Faschismus gegen Humanität. Gegen europäische Emanzipationsgeschichte. Und gegen alles,
was uns etwas wert ist. Es steht nicht so gut. Mit noch so gewieftem
Weiterwursteln schaffen wir es diesmal nicht. Kulturvergessenheit
hat uns ausgehöhlt. Der Gegner zielt auf unser Glaskinn: auf unseren Hang zum Nicht-wahrhaben-Wollen. Wir Künstler sind zu
müde für echte Debatten, für Neugier auf das, was außerhalb des
Hauptstroms der vorfabrizierten Gedanken liegt. Betäubt vom
Gefühl zunehmenden Bedeutungsverlusts in der realen Welt, in
der wir atmen, lieben und dichten, der Welt zum Anfassen außerhalb digitaler Datenströme, halten wir es ihm hin.
Doch der diskrete Charme des Politmanagements, das heutzutage am liebsten auf andere Mittel setzt als auf heiße Debatten
mit ihren schwer kontrollierbaren Emotionen, mag in manchem
Fall sein Ziel erreichen: Hier wird er versagen. Diese Auseinandersetzung reicht in die Tiefe, und deswegen sind nun, auch
wenn sie müde geworden sind, andere Kräfte zuständig. Dichter,
Tänzer, Filmleute, Maler, Fotografen, Musiker. Zumal es in Wahrheit um anderes geht als die berechtigte Wut der Bürger darüber,
was allzu üppig bezahlte Bürokraten in Brüssel ihnen zumuten,
um mehr als schwer verständliche Konstruktionsprobleme der
Europäischen Union und das demokratisch defizitäre Gestrüpp,
in dem sich der Wille des Souveräns, Populus, verliert. Es handelt
sich um einen Frontalangriff auf Europas moralisches Rückgrat.
Einen Angriff auf das moderne liberale Menschenbild, das hier
entworfen wurde und hier auch zu verteidigen ist. Dieses Menschenbild ist nicht isolierte Leistung einzelner Kulturen, sondern
die Frucht ihres Zusammenwirkens, und darum eine gemeinsame
Verpflichtung.
Die Köche in Brüssel und in den Hauptstädten der unierten
Länder machen es einem nicht leicht, dem Glauben ans Rezept
der europäischen Einigung treu zu bleiben. Die schwer verdauliche Kost aus bürokratischem Irrsinn, stumpfsinniger Gleichmacherei und nationaler Borniertheit stößt den robustesten
Essern auf. Immer entnervter fragt man sich, ob denn tatsächlich
auf die Quadratur des Kreises hinausläuft, wonach der schlichte
Menschenverstand verlangt: Einheit, die Eigenheiten nicht abhobelt, sondern als Schatz an Vielfalt zu nutzen versteht. Einigkeit, die Widersprüche nicht prinzipiell scheut, sondern Funken
draus zu schlagen weiß.
FOTO: GUNTER GLUECKLICH
D
ie innergesellschaftlichen Machtverhältnisse haben sich
auch bei uns unübersehbar verschoben. Wie viel Politik
noch in Berlin und Brüssel gemacht wird oder schon
gleich in den Zentralen global agierender Konzerne, kann man
nur erahnen. Die Bedeutung demokratischer Wahlen relativiert
sich, wenn zu spüren ist, wie oft Politiker nicht wirklich gestalten,
sondern, alle am selben Spielkreuz in der Hand unsichtbarer Akteure hängend, bloß so tun als ob. Intellektuelle Debatten und
künstlerische Interventionen werden nicht mehr so wichtig genommen, weil das Gerücht um sich greift, der Geist wehe mittlerweile aus anderer Richtung und treibe jetzt Naturwissenschaften, Mathematik, Medizin vor sich her.
Im Unterschied zu den diversen Gegnern unserer komplizierten
Lebensform ordnet Deutschland (sterilen Sonntagsreden zum
Trotz) Kunst und Geist an seiner Peripherie ein. Leute, die sich
damit abgeben, gelten als Quantité négligeable, was sie umtreibt,
als einigermaßen gleichgültig. Doch woher, wenn nicht aus dem,
womit sie sich beschäftigen, aus der Seele nämlich, die sich von
nicht domestizierbaren autonomen Gedanken und Träumen nährt,
soll die Kraft zur Selbstbehauptung kommen? Sich mit den Großen
der Vergangenheit zu schmücken, ob Schiller oder Gryphius, Hölderlin oder Kleist, fällt nicht schwer. Für den geistigen Sprengstoff,
der bei ihnen zu holen ist, haben wir keine Verwendung. Wir
weichen ihn so lange in Political Correctness ein, bis nur Eierpampe übrig ist. Jean Genets Theaterstück „Die Neger“ sollte
für die Neuaufführung auf einer renommierten Bühne in „Die
Weißen“ umgetauft werden, weil dunkelhäutigen Mitbürgern der
Titel missfiel. Mit der Schärfe kommt uns schlicht und einfach
die gern besungene Freiheit der Gedanken abhanden.
A
ber was sollen dann die Feierstunden zur Bücherverbrennung, was die Krokodilstränen über die Beschränkungen
von Kunst und Literatur in den braunen oder roten Diktaturen der Vergangenheit?
Kümmern wir uns um die Gegenwart, jeder mit den Mitteln,
die seine sind. Dafür müssen wir zur Kenntnis nehmen, was uns
heute bedroht. Hören wir einander endlich zu, nicht nur den aalglatten Statements der Roboter im Fernsehen. Lassen wir auf
uns einwirken, was Künstler zu zeigen haben, lesen wir die Texte
der Autoren. Konzentriert. Antijüdischer Hass regt sich immer
unverblümter – und meint in Wahrheit all das, was in Europa für
uns alle über Jahrhunderte erkämpft wurde, nicht zuletzt mit jüdischer Beteiligung. Wenn westeuropäische Faschisten ihre Sympathie für ein Russland nicht verhehlen können, das sich anscheinend zum Rammbock der Kräfte berufen sieht, denen diese Art
Kultur zuwider ist, handelt es sich wohl auch nicht um einen Zufall. Durchstoßen wir die Oberfläche der Wirklichkeit, auf der
die Faschisten von gestern oder heute ihre Stellungen errichten.
Setzen wir uns dem anderen aus, das die Kunst ihrem Wesen
nach ist. Von ihr, der Kunst, können wir etwas über den Wert
der Widersprüche erfahren. Das aber verlangt Rezeptionsfähigkeit. Mit- oder nachmachend haben wir verlernt, das Unbequeme
wahrzunehmen und uns darauf einzulassen und dabei zum Beispiel wieder zu erleben, dass auch Schönheit wehtun und dumpfem Wohlbehagen gefährlich werden kann. Künstler haben natürlich nicht dasselbe zu bieten wie Ökonomen, Fußballspieler
und Politiker. Verschieden gesponnene und anders gewickelte
Gedankenstränge aber sind exakt das, was wir eigentlich brauchen, um mit unserem europäischen Verständnis von Gesellschaft
zu bestehen – in einer Welt, die weithin durchaus nicht denselben
oder auch nur ähnlichen Idealen (zum Beispiel der Aufklärung)
zu folgen gewillt scheint wie wir.
Idealen – oder, wie man heute zu sagen vorzieht, Werten –,
die eben keine Wimpel sind, die wir uns einfach mal ans Autofenster stecken können. Die vielmehr den roten Faden der
Entwicklung unseres Kontinents bilden – hin zu dem, was er
heute ist. Und erst recht noch werden könnte. Die geistige
Dimension Europas speist sich nicht aus Tagungen politischer
Gremien, sondern aus der verqueren Substanz, die schöpferische
Einzelgänger schaffen. Wenn wir glauben, das, was diese Einzelgänger geschaffen haben, gehe uns nichts an, werden wir das
bitter zu bereuen haben. Irgendwann haben wir vergessen, wer
wir sind.
Wussten wir Deutschen nicht mehr weiter in und mit unserem
eigenen Land, haben wir immer gern nach Westen geschaut – ich
meine nach Amerika, England. Nach Frankreich. Doch wir können
es uns nicht länger gemütlich machen in dem Gefühl, dass da ja
noch westlich des Rheins ein humanistischer Posten Wache schiebt,
dass Frankreich Zivilisation und Kultur in Europa garantiert. Und
so pfeifen wir uns im dunklen Wald selber etwas vor, um uns Mut
zu machen und die Gespenster zu besänftigen, damit sie den Sturm
nicht entfachen. Langsam schwant uns nämlich, wie leicht all das
gebaut worden und zum Einsturz zu bringen ist,
woran wir uns in Europa gewöhnt haben.
Brandt, 63, ist Schriftsteller und lebt in Bonn. In seinem letzten Roman „Alles Zirkus“ (Hanser Verlag)
geht es auch um das kulturelle Selbstverständnis
Deutschlands. Lars Brandt ist ein Sohn des früheren
Bundeskanzlers Willy Brandt (1913 bis 1992).
DER SPIEGEL 32 / 2014
127
Feministischer Opa
Literaturkritik Verena Stefan, literarischer Star
der Siebzigerjahre, porträtiert in
ihrem neuen Roman ihren mutigen Großvater.
E
s war ein überwältigender Erfolg.
Eine junge Frau aus Bern, die es
nach Westberlin verschlagen hatte, veröffentlichte vor knapp 40 Jahren
eine autobiografische Erzählung mit
polemischem Unterton, die sich hunderttausendfach verkaufte.
Das Buch, ein kleinformatiges Paperback, trug den Titel „Häutungen“ und
erschien 1975 im frisch gegründeten
Verlag Frauenoffensive. Die anschaulich vorgetragene Überzeugung der Autorin Verena Stefan, damals 28 Jahre
alt, von ihr in modischer Kleinschreibung verfasst: Auch in der linken antibürgerlichen Szene gelten Frauen nur
etwas, wenn sie „teil eines paares“ sind,
sich mit einem Mann verbinden und
den „gemeinsamen orgasmus“ kultivieren, um sich gegenseitig zu beweisen,
„daß wir zueinander gehören“.
Mit dem Satz „ich beherberge keinen mann mehr“, der die radikale
Trennung markiert, wurde Verena SteAutorin Stefan
fan zur feministischen Ikone, ihr Buch
zum viel zitierten Beleg des lädierten
Verhältnisses zwischen den Geschlechtern, Bezugspunkt zahlloser Debatten
und Zeitungsartikel über die „Neue
Frau“ – das Thema „Frauen entdecken
sich“ schaffte es auch auf den Titel des
SPIEGEL.
Seit rund 15 Jahren lebt die Autorin
in Montreal und arbeitet als Dozentin
für Kreatives Schreiben. Den eher stillen Büchern, die sie nach ihrem rasanten Debüt veröffentlichte, war ein vergleichbarer Erfolg nicht mehr beschieden, darunter eines über das Leben
und Sterben ihrer Mutter mit dem Titel
„Es ist reich gewesen“ und der 2007 publizierte Roman „Fremdschläfer“, in dem ihre eigene Krebserkrankung eine wichtige Rolle spielt.
In ihrem neuen Buch „Die Befragung der Zeit“ erweist sich
Verena Stefan als gereifte Schriftstellerin, die dokumentarische
Quellen, eigene Erinnerungen und die Mittel der Fiktion bravourös zu verbinden weiß. Sie schildert die schwierige Ehe
ihrer Großeltern, bei denen sie ihre ersten Jahre verbrachte.
Und sie erzählt die Geschichte des Großvaters, der als
Landarzt in der Schweiz Abtreibungen vornahm, von einer
geschwätzigen Patientin verraten und in der Waldau, einer Heilund Pflegeanstalt bei Bern, auf seinen Geisteszustand untersucht
wurde – erst 2002 wurde die Kriminalisierung der Abtreibung
in der Schweiz mit einer Fristenregelung aufgehoben.
128
DER SPIEGEL 32 / 2014
Sie selbst, informiert Stefan in einer Nachbemerkung, war
zwei Jahre alt, als ihr Großvater 1949 verhaftet wurde, und
hat „keine persönlichen Erinnerungen an die Ereignisse jenes
Sommers“. Als der schwer kranke Mann starb, war die von
ihm über alles geliebte Enkelin fünf Jahre alt. Die Autorin, der
nur ein vages Bild im Kopf geblieben ist, musste sich für ihr
Buch an Briefe von ihm und Tagebuchnotizen ihrer Mutter
halten – und an das reichlich vorhandene Aktenmaterial.
Nicht weniger als 800 Seiten umfassen die Prozessunterlagen, die Protokolle jener Befragungen und Verhöre, die nicht
nur der Arzt über sich ergehen lassen musste, sondern mehr
noch – in voyeuristisch gefärbtem Inquisitorenton – die Frauen, denen er
in ihrer Not geholfen hatte. Auch Krankenberichte der Klinik Waldau konnte
die Autorin einsehen.
Im Roman sind Zitate aus diesen
Quellen durch Kursivierung kenntlich
gemacht, dabei so perfekt eingeflochten, dass sie so gut wie nie den Erzählfluss hemmen. Die Figuren tragen, soweit sie reale Vorbilder haben, andere
Namen, auch ist der Zeitrahmen verknappt. Die Geschichte wird aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet, in
gleitenden Übergängen.
Sie spielt von Sommer 1949, als der
Arzt Julius Brunner verhaftet wird,
bis zum Mai 1950: Da nimmt die Enkelin Rosa ihren Großvater noch
einmal an der Hand, streift mit ihm
durch Obstwiesen und lässt sich die
Welt erklären. Fasziniert ist sie vor
allem von seiner Ballonfahrt hoch über
der Erde, einem Erlebnis, das der Alte
liebvoll ausschmückt. Und vom Geheimnis der Zeit, das er ihr anschaulich
darstellt.
Die kriminelle Tat hätte ihn ins
Zuchthaus bringen können, zumal er
als Wiederholungstäter galt, doch hat
das Gericht angesichts seines Alters und
Verena Stefan
seiner Krankheit von einer Verurteilung
Die Befragung
abgesehen und auch eine endgültige
der Zeit
Einweisung in die Psychiatrie abgelehnt.
Verlag Nagel & Kimche,
So stirbt er mit 77, wieder daheim, bis
Zürich; 224 Seiten;
zuletzt durch Rosas Nähe beglückt.
18,90 Euro.
Der Roman holt weit aus. Die sich
über Monate erstreckende Befragung in
der Waldau, im Hauptteil in Szene gesetzt, rufen in ihm Erinnerungen wach,
die bis in die Zeit des Ersten Weltkriegs
zurückreichen. Als junger Arzt assistierte er bei Amputationen – was ihm und seinen Patienten später
in seiner Dorfpraxis nicht selten zugutekommen sollte. Brunner
ist ein Mann von Mut und Könnerschaft, Entschlossenheit und
Eigensinn.
Nur in seiner Ehe ist er glücklos. Das empfindet er als das
eigentliche Drama seines Lebens, und in der Schilderung des
Gezänks und der trostlosen Fremdheit zwischen den Eheleuten
kehrt Verena Stefan doch noch einmal zu ihrem ursprünglichen
Thema zurück – nur dass sie dem Mann, ihrem Großvater, im
Roman nun viel Verständnis entgegenbringt, wenn er etwa
über die „Gemütsschwere“ seiner Frau klagt: „Als ob sie mit
Eifer darauf bestand, unglücklich zu sein, nur um ihm ihr
Unglück vorwerfen zu können.“
Volker Hage
FOTO: KATRIN SIMONETT
Kultur
Medien
ZDF
Heidemann wird
Show-Chef auf Zeit
Das ZDF hat Oliver Heidemann, 50, zum kommissarischen Unterhaltungschef
ernannt. Das soll er bleiben,
bis ein Nachfolger für Oliver
Fuchs gefunden ist, der den
Sender nach dem Skandal
um die gefälschten Ergebnisse der Show „Deutschlands
Beste!“ verlassen hat. Ein
ZDF-Sprecher bestätigte die
Personalie, die intern bereits vorvergangene Woche
verkündet worden war.
Heidemann arbeitet seit
1999 beim ZDF, der promovierte Musikwissenschaftler
verantwortete Shows wie
„Echo Klassik“, „Lustige
Musikanten“ und zuletzt die
„Helene Fischer Show“. Seit
Juli 2013 leitet Heidemann
die „Wetten, dass ..?“-Redaktion; er wird das einstige
Flaggschiff des Senders bis
zur letzten Sendung im
Dezember weiter betreuen.
Beim ZDF geht man davon
aus, dass die Suche nach
einem neuen Unterhaltungschef Monate dauern könnte.
Auch Heidemann werden
Chancen auf den Posten
eingeräumt. akü
TV-Unterhaltung
„Summen, die ich
verschmerzen kann“
Reiseunternehmer Vural Öger,
72, über die
Start-up-Show
„Die Höhle der
Löwen“ (ab Dienstag, 19. August,
20.15 Uhr, Vox)
FOTO: BERND-MICHAEL MAURER / VOX
SPIEGEL: In der Sendung
kämpfen Nachwuchsgründer
darum, dass Sie und vier
andere prominente Juroren
Geld in deren Firmenidee
investieren. Ist das wirklich
Ihr eigenes Vermögen?
Öger: Ja. Viele junge Leute
mit hervorragenden Ideen
kommen nicht voran, weil
sie von der Bank keinen Kredit bekommen. Denen geben
Twitter-Kurzmitteilungen
Soziale Netzwerke
Auf Entzug
Wie sehr die sozialen Netzwerke das Leben
von Millionen mittlerweile dominieren, zeigt
sich zuverlässig, wenn ein solcher Dienst
ausfällt. Als am vergangenen Freitag gegen
18 Uhr Facebook für etliche Nutzer rund
um die Erde nicht mehr erreichbar war, brach
sich eine Flut von Reaktionen Bahn – auf
wir eine Möglichkeit, sich zu
verwirklichen. Aber es handelt sich dabei um Summen,
die ich verschmerzen könnte,
falls es schiefgeht.
SPIEGEL: Wie viel haben Sie
eingesetzt?
Öger: Ich habe rund 400 000
Euro zugesagt. Aber noch
nicht alle Geschäfte sind
zustande gekommen.
SPIEGEL: Warum nicht?
Öger: Nach Aufzeichnung
der Sendung haben wir alle
Firmen genau geprüft, um
herauszufinden, wie sie finanziell dastehen: Wie hoch
sind ihre Verbindlichkeiten,
wie viel Eigenkapital besitzen sie?
SPIEGEL: Gab es böse Überraschungen?
Öger: Manche Gründer haben
falsche Angaben darüber gemacht, wie viele Gesellschaf-
einem anderen Kanal des Netzes, dem Kurzmitteilungsdienst Twitter. Von zornig bis besorgt, manchmal lustig. Der Ausfall dauerte
keine 30 Minuten – manche Nutzer wirkten
dennoch wie auf Entzug. Facebook teilte mit,
man wisse, dass viele Leute gerade Probleme
hätten, Facebook zu erreichen. Das Unternehmen arbeite daran, so schnell wie möglich wieder Normalität herzustellen. bra
ter sie haben. Bei anderen
gab es Lizenzprobleme.
SPIEGEL: Die meisten Ideen –
etwa eine Nagellackierhilfe
oder Portemonnaies aus
Ökomaterial – wirken nicht
wie bahnbrechende Erfindungen.
Öger: Stimmt. Deshalb bin
ich in beiden Fällen nicht
eingestiegen. Es waren einige
Ideen dabei, die meiner Meinung nach eher unterhaltsam
sind, aber kein Potenzial für
ein erfolgreiches Geschäftsmodell haben – wie die eines
Bastlers, der Zahnpasta
durch ein komisches Pulver
ersetzen wollte.
SPIEGEL: Klingt nach
„Deutschland sucht den Superstar“ für Betriebswirte.
Öger: Das ist nicht vergleichbar. „Die Höhle der Löwen“
ist keine Castingshow. Und
ich bin kein Dieter Bohlen.
Castingshows kann ich mir
nicht länger als eine Minute
anschauen. In unserer
Sendung gibt es durchaus
seriöse Unternehmer, die
mit uns auf Augenhöhe
verhandeln und ein tragfähiges Geschäftsmodell
haben. Für den Zuschauer
wird der Lerneffekt groß
sein.
SPIEGEL: Sie fungieren als
eine Art Mentor. Wie helfen
Sie Ihren Schützlingen nach
Drehschluss?
Öger: Mit meinem Netzwerk.
Ich habe beispielsweise
vor, in eine Firma zu investieren, die vegetarisches
indisches Essen vertreiben
will. Ich kann mir vorstellen,
dass wir deren Gerichte in
unseren Hotels und Charterflugzeugen anbieten. akn
DER SPIEGEL 32 / 2014
129
Treffpunkt für Raumschiffpiloten im Computerspiel „Star Citizen“ (Konzeptzeichnung)
Der 49-Millionen-Dollar-Mann
D
ie südkalifornische Sonne haben
sie einfach ausgesperrt, wozu gibt
es schließlich Jalousien. Rechner
surren, Tasten klackern, eine Klimaanlage
hat den Raum auf 22 Grad Celsius heruntergekühlt. Es sind einige Nerd-Klischees
zu besichtigen, hier im Hauptsitz des Computerspiele-Entwicklers Cloud Imperium
Games: blasse Männer in Comic-T-Shirts,
auf den Schreibtischen thronen Super-Mario-Figürchen und Fantasy-Miniaturen.
Es ist eine abgeschottete Welt, die sich
das Team um den Computerspiele-Designer Chris Roberts, 46, in einem Hinter130
DER SPIEGEL 32 / 2014
hofbüro mitten in der Fußgängerzone von
Santa Monica nahe Los Angeles errichtet
hat. Eine Welt, in der Wörter umherfliegen, die für Außenstehende so verständlich sind wie Klingonisch für Erdbewohner;
und in der die Frage, ob man Konsolenoder PC-Spiele bevorzugt, so lebensentscheidend ist wie die Wahl zwischen
Beatles und Stones.
Hier also werkeln Programmierer, Grafiker und Autoren an einem ambitionierten Projekt: einer Weltraumsimulation für
den PC, angesiedelt in einer fernen Zukunft, in der Spieler per Raumschiff durch
hundert Sonnensysteme navigieren, Außerirdische bekämpfen, Planeten entdecken. „Star Citizen“ heißt das Spiel, Sternenbürger. Ende nächsten Jahres soll es
fertig sein. Es ist der Jungstraum schlechthin: einmal Luke Skywalker sein.
Roberts, breite Oberarme, kleines
Bäuchlein, sitzt an seinem Schreibtisch,
vor sich zwei riesige Bildschirme und eine
neongrün leuchtende Tastatur. Er sieht aus
wie ein Raumschiffkapitän.
Auch Roberts ist ein Nerd. Als er später
für den Fotografen posiert, lässt seine
Hand ein Raumschiffmodell durch die Luft
FOTO QUELLE: CLOUD IMPERIUM
Unterhaltung Der Amerikaner Chris Roberts gilt als Pionier der Computerspiele-Branche.
Nun hat er per Crowdfunding eine Rekordsumme eingesammelt. Damit entwickelt
er eine Weltraumsimulation, in der sich die Spieler fühlen sollen wie Luke Skywalker.
FOTO: ROBERT GALLAGHER / DER SPIEGEL
Medien
Videospiele sind längst zu einem Mas- zigerjahre kreierte er die Reihe „Wing
senmedium avanciert – und die Hersteller Commander“, in der es katzenartige
und Vermarkter zu mächtigen Akteuren Aliens vom Volk der Kilrathi abzuschießen
der Unterhaltungsindustrie. 102 Milliarden galt. Aus heutiger Sicht wirkt die Grafik
Dollar soll die Branche in diesem Jahr laut so fortschrittlich wie ein Scheibentelefon,
einer Prognose des Marktforschungsunter- doch damals kauften viele eigens dafür einehmens Gartner weltweit umsetzen, nen leistungsstärkeren PC. Seine Fans halmehr als die Filmwirtschaft. Die Filme ten Roberts für das Genre des Science-Fic„Avatar“ und „Titanic“ haben zwar insge- tion-Computerspiels so prägend wie Bram
samt mehr eingespielt als jedes Videospiel, Stoker für den Vampirroman.
Der Verkauf der Entwicklerfirma Origin
doch die Spieleindustrie holt auf: Das Konsolenspiel „Grand Theft Auto V“ setzte Systems, an der Roberts Anteile besaß,
im vergangenen Jahr eine Milliarde Dollar und seiner Rechte an „Wing Commander“
machten ihn reich. Später versuchte er sich
um – in den ersten drei Tagen.
Dominiert wird der Markt von einer als Regisseur und Produzent in Hollywood,
Handvoll sogenannter Publisher, vergleich- unauffällig bis erfolglos. Seine Verfilmung
bar mit Filmproduzenten, die ein Spiel von „Wing Commander“ floppte. Die
finanzieren und vertreiben. Konzerne wie Bösewichte „sehen aus wie Figuren aus
Electronic Arts („Fifa“-Reihe) oder Activi- ,Cats‘, die man mit einer schleimigen, grüsion („Call of Duty“) geben Spiele in Auf- nen Kunstlederhaut bezogen hat“, lästerte
trag, sie besitzen die Rechte – und sie das Branchenblatt Variety damals.
kassieren einen Großteil der Erlöse. Konzeption und Umsetzung eines Spiels übernehmen hingegen in der Regel eigenständige Entwicklerfirmen, deren Überleben
vom Wohlwollen der Publisher abhängt.
Weil Produktion und Marketing eines
Spiels mitunter mehrere Hundert Millionen Dollar verschlingen, sind die Studios
vorsichtig geworden. Statt zu experimentieren, setzen sie auf Fortsetzungen bewährter Spiele – ähnlich wie HollywoodStudios, die auch lieber den siebten Teil
der „X-Men“-Reihe drehen als ein neues
Sozialdrama.
An diesen Regeln rüttelt Roberts nun
heftig. Das Geld seiner Anhänger hat ihn
unabhängig gemacht, auch wenn er mit
Spielemacher Roberts
seinem Budget noch immer ein Underdog
ist. Spiele werden zudem nicht mehr nur
im Handel verkauft, sondern größtenteils
Seine neue Idee verfolgt Roberts mit
digital. Das ermöglicht den „Star Citizen“gleiten, das einem Phallus ähnelt. Dabei Machern, ihr Spiel ohne Zwischenmakler großer Entschlossenheit. Ständig läuft er
zwischen seinem Büro und den Schreibgibt er Schussgeräusche von sich. Einmal im Netz zu vertreiben.
Auch andere Entwickler hat die Macht tischen der Mitarbeiter hin und her. Zwiverlor Roberts eine Wette gegen einen Kollegen. Sie hatten darüber gestritten, wie des Schwarms beflügelt. Tim Schafer, wie schendurch konferiert er mit den Außenviele Exemplare eines Spiels sie verkaufen Roberts ein Branchenveteran, hat mehr als büros, er ist Chef von mehr als 200 Mitarwürden. Der Wetteinsatz: Roberts’ Por- drei Millionen Dollar für eine Idee ein- beitern. Wie viel er arbeite? „In Frankreich
gesammelt, für die große Studios ihn aus- würden sie mich ins Gefängnis stecken.“
sche.
Mit einer „Star Citizen“-Tasse in der
Das neue Vorhaben des Amerikaners ist gelacht hätten, wie er sagt. Die kleine Breauch deshalb kühn, weil es versucht, das mer Firma King Art Games hat für zwei Hand baut sich Roberts vor dem Arbeitswirtschaftliche Machtgefüge innerhalb der Projekte immerhin über 400 000 Dollar platz des Chefautors auf, der einen kurzen
Film abspielt: eine Mondlandschaft. Ein
Spieleindustrie umzukrempeln und die von ihren Anhängern bekommen.
Aber „Star Citizen“ hat alle abgehängt. Rudel Außerirdischer schlägt mit einem
Branchengrößen zu attackieren.
Die Entwicklung des Spiels finanzieren Das Spiel ziele auf Fans ab, die seit Lan- länglichen Steinwerkzeug auf einen Rieausschließlich die Fans. Rund 500 000 Men- gem zocken und nun die finanziellen Mit- senkrebs ein. Im Hintergrund dröhnen Bläschen haben Roberts’ Firma einen Vor- tel haben, sich das Spiel ihrer Träume bau- ser und donnern Pauken. Das Werkzeug
schuss gegeben, manche 30, einige mehre- en zu lassen, sagt Heiko Klinge, Chefre- fliegt durch die Luft, es dreht sich und verre Hunderttausend Dollar. Im Gegenzug dakteur des Fachmagazins Making Games. wandelt sich in ein Raumschiff. Eine Parokönnen die Anhänger Teile des Spiels Tatsächlich sind die überwiegend männ- die des Science-Fiction-Klassikers „2001:
herunterladen, noch bevor es vollständig lichen Unterstützer mehrheitlich zwischen Odyssee im Weltraum“. Roberts’ Blick
klebt am Bildschirm, er freut sich wie ein
fertig ist, und im Raumschiff ihrer Wahl 25 und 35 Jahren alt.
Doch ohne Roberts, Kopf des Projekts kleiner Junge.
darin herumfliegen. 49 Millionen Dollar
Das Video ist ein Internetwerbespot für
hat „Star Citizen“ bislang innerhalb von und Identifikationsfigur, hätten wohl nicht
ein Raumschiffmodell, spezialisiert auf Erknapp zwei Jahren eingesammelt, so viel so viele ihr Geld gegeben.
In Roberts’ Büro hängen gerahmte Pla- kundungsmissionen im All. Noch ist der
wie kein anderes Crowdfunding-Projekt
kate seines Frühwerks. Anfang der Neun- Clip nicht veröffentlicht, doch wenn es so
zuvor. Und ein Ende ist nicht in Sicht.
DER SPIEGEL 32 / 2014
131
Mitarbeiter des Spieleentwicklers Cloud Imperium Games in Santa Monica
Blockbuster
Budgets der bislang teuersten Videospiele*
Destiny Sept. 2014
500
Millionen Dollar
Grand Theft
Auto V 2013
265
Millionen
Dollar
*inkl. Entwicklung und Marketing
Quelle: Schätzungen von
Branchenkennern
Call of Duty:
Modern
Warfare 2 2009
Star Wars:
The Old
Republic 2011
Final
Fantasy VII
1997
mehr als
bis zu
200
200
145
Millionen
Dollar
Millionen
Dollar
Millionen
Dollar
läuft wie meistens, dann werden Tausende schiffe halbwegs den Gesetzen der Physik
Fans ihn auf dem YouTube-Kanal des Un- gehorchen – sich etwa die Flugeigenschafternehmens anschauen. Er wird sich im ten eines Gefährts verändern, wenn es im
Netz verbreiten und die Begehrlichkeit Kampf ein Triebwerk verliert. Der Mann
hat Fluglenkungstechnik studiert, er könnweiter anheizen.
Die sozialen Medien sind für Spieleent- te auch in der Satellitenindustrie arbeiten.
Für ungeübte Spieler sind jene Teile von
wickler ein gleichsam wichtiges wie kostengünstiges Marketinginstrument: Die „Star Citizen“, die schon fertig sind, allerFans machen im Netz Werbung für ein dings kein Vergnügen. Im Raumschiff sitSpiel, umsonst und getrieben von ihrer Be- zend soll man feindliche Alien-Schwärme
abschießen und dabei Kollisionen mit Asgeisterung.
Besonders viele Nutzer lockt die Strea- teroiden und Weltraumschrott vermeiden.
ming-Plattform Twitch an, die Google an- Tatsächlich gleicht der Flug einer Autogeblich für eine Milliarde Dollar überneh- fahrt im trunkenen Zustand. Schon nach
men will. Auf Twitch gucken Menschen ein paar Minuten hat man das eigene
anderen Menschen per Livestream dabei Schiff so zerstört, dass es sich kein Stück
zu, wie sie am Computer spielen. Das mehr bewegen lässt.
Spieler, die sich ähnlich ungeschickt anklingt öde, doch große Spieleturniere erstellen, können ihr Gefährt vorsichtshalber
reichen dort mehr als 100 000 Zuschauer.
Der Werbespot soll später außerdem im mit Schnickschnack ausstatten, der es roSpiel zu sehen sein, als Fiktion innerhalb buster macht. Aber die Extras kosten – ein
der Fiktion. Die Macher haben ein Kon- in der Branche übliches Geschäftsmodell,
strukt um „Star Citizen“ herumgebaut, das so auch bei „Star Citizen“.
Für den Zugang zum Spiel ist ein eindarauf abzielt, die Fans zu einer verschworenen Gemeinschaft zusammenzuschwei- maliger Betrag fällig. Wer jedoch Raumßen, den Bewohnern des „United Empire schiffe besitzen möchte, die genauer zielen
oder mehr Fracht transportieren als andeof Earth“.
Jedem Unterstützer wird eine Karte ge- re, kann sie sich entweder mühsam wähschickt, mit der er sich als Bürger des „Ver- rend des Spiels verdienen oder hinzukaueinigten Erd-Imperiums“ ausweisen kann. fen. Das Modell „Constellation“ etwa, das
Hersteller der Raumschiffe ist unter ande- sich durch „seine außergewöhnliche Wenrem die fiktive Firma Roberts Space Indus- digkeit“ und sein „anpassungsfähiges Waftries, die laut Eigendarstellung „im frühen fensystem“ auszeichnet, ist schon ab 225
Dollar zu haben.
22. Jahrhundert“ gegründet wurde.
Ums Geschäft kümmert sich bei Cloud
„Ich möchte, dass die Spieler sich fühlen,
als würden sie tatsächlich in dieser Welt Imperium Games ein Deutscher. Ortwin
leben“, sagt Roberts. Ein Mitarbeiter tüf- Freyermuth, 55, sitzt in einem feinen Retelt beispielsweise daran, dass die Raum- staurant mit Blick auf die Strandpromena132
DER SPIEGEL 32 / 2014
de von Santa Monica. Freyermuth, kleine
Statur, Haifischlachen, ist Anwalt und lebt
seit 30 Jahren in Los Angeles. Er berät
Filmproduzenten in rechtlichen Fragen
und setzt Verträge mit Schauspielern auf.
Roberts und er begegneten einander in
Hollywood. Weil Freyermuth Science-Fiction-Fan ist, stieg er in Roberts’ Firma ein.
Freyermuth versichert, dass jeder Cent
der Fans in die Entwicklung des Spiels fließe und die Firma weit davon entfernt sei,
Gewinn zu machen. Doch wenn das Spiel
richtig gut werde, mache er sich ums Geldverdienen keine Sorgen, sagt er. Die Überlegung dahinter: Spiele wie „World of Warcraft“ oder „Eve Online“ entfalten solch
einen Sog, dass die Nutzer auch Jahre nach
dem Erscheinen für sie zahlen.
Es wäre untertrieben, die Anhänger von
„Star Citizen“ völlig verrückt zu nennen.
Kürzlich tauchte im Büro in Santa Monica
ein Fan auf. Er war mit dem Auto 24 Stunden von Idaho im Norden der USA nach
Südkalifornien gefahren. Der Mann wollte
Roberts unbedingt ein Geschenk überreichen: ein handgeschmiedetes Messer. Roberts hat es auf einem Schränkchen hinter
seinem Schreibtisch ausgestellt.
Kurz nach zwölf Uhr öffnet sich die Tür
am Empfang des Firmensitzes. Ein Mann
mit Ziegenbart und Cowboyhut schiebt
seinen Rollstuhl über die Schwelle. Sein
Name ist Fox Anderson – so heißt er wirklich – und er ist wohl einer der besessensten unter all den fanatischen „Star Citizen“-Anhängern. 20 000 Dollar hat Anderson, 36, für das Spiel gespendet. Nun hat
er auch noch neun wagenradgroße Pizzen
mitgebracht, weil er den Entwicklern danken möchte, wie er sagt.
Während die anderen Pizza essen, lässt
Roberts auf sich warten, Anderson ist nervös. „Meine Freundin ist ein großer ,Star
Wars‘-Fan“, ruft er in den Raum hinein,
„sie hat zuerst nicht kapiert, warum ich
Chris so toll finde. Irgendwann hat sie gesagt: ,Verstehe, Chris Roberts ist dein
George Lucas.‘“
Später erzählt Anderson, er sei wohlhabend und habe auch andere teure
Hobbys, doch mit „Star Citizen“ befasse
er sich acht Stunden täglich. Wenn er einen
Bug entdecke, einen Fehler, schaue er
sofort im Fanforum nach, ob dieser schon
jemandem aufgefallen sei. Er spricht davon
wie von einem schwierigen Job.
Anderson erzählt, dass er vor neun Jahren angeschossen wurde. Weil eine Kugel
seine Wirbelsäule traf, sitzt er im Rollstuhl.
Anderson kann nicht mehr laufen, aber in
„Star Citizen“, einem Computerspiel, kann
er fliegen.
Ann-Kathrin Nezik
Video: Ein erster Einblick in
„Star Citizen“
spiegel.de/app322014videogamer
oder in der App DER SPIEGEL
FOTO: ROBERT GALLAGHER / DER SPIEGEL
Medien
Nachrufe
FOTOS: CARMEN JASPERSEN / PICTURE ALLIANCE / DPA (O.L.); MARCUS KRÜGER / ACTION PRESS (U.L.); JÖRG CARSTENSEN / DPA (M.)
GERT VON PACZENSKY, 88
Wenn der Mann mit dem
Schnauzer auf dem Bildschirm
erschien, wurde es für die
Zuschauer informativ und für
Politiker ungemütlich. „Panorama“, das er 1960 beim NDR
mit begründete, war das erste
deutsche Polit-Magazin. Berühmt wurde Paczenskys
Moderation: „Nun wollen wir
uns noch ein wenig mit der
Bundesregierung anlegen.“
Nachdem sich insbesondere
die CDU regelmäßig über
Paczensky beschwert hatte,
HARUN FAROCKI, 70
Den schönen Bildern hat er sich verweigert, denn er wollte
sein Publikum aufrütteln, nicht einlullen. 1944 im heute
tschechischen Nový Jičín geboren, landete der Sohn einer
Sudetendeutschen und eines Inders 1966 im ersten Jahrgang
der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin, wo er
genug politische Unruhe stiftete, um 1968 mit Kommilitonen
wie Wolfgang Petersen und Holger Meins vorübergehend
vom Studium ausgeschlossen zu werden. Noch vor seinem
Abschluss machte er sich mit Kurzfilmen wie der NapalmDokumentation „Nicht löschbares Feuer“ einen Namen in
der Agitprop-Szene, um später zu einem der wichtigsten
Dokumentarfilmer Deutschlands aufzusteigen. Seine großen Themen waren Krieg und Kapitalismus, doch auch mit
Beiträgen für die „Sesamstraße“ und als langjähriger Autor
der Zeitschrift „Filmkritik“ verdiente er sein Geld. Weil
seine kühle, analytische Art des Filmemachens es im Kino
schwer hatte, waren seine Arbeiten später eher in Museen
zu sehen, zweimal war er Gast der Documenta. Als CoDrehbuchautor des Regisseurs Christian Petzold war er bei
Filmen wie „Gespenster“ (2005) und „Barbara“ (2012)
letztlich doch noch mit verantwortlich für einige der schönsten Bilder, die das deutsche Kino hervorgebracht hat.
Harun Farocki starb am 30. Juli in der Nähe von Berlin. das
HANS-HERMANN SPRADO, 58
Nachts, wenn der Redaktionsbetrieb ruhte, schrieb er Krimis –
und war seinem Tagesgeschäft
damit wieder sehr nah. Denn auch
das Wissensmagazin P.M., das
Sprado verantwortete, sollte den
Leser fesseln wie ein Kriminalfall,
ob es um die Inka ging, das All
oder die Schwarzen Löcher der
Ozeane. Sprados Helden waren die großen amerikanischen
Schriftsteller wie Ernest Hemingway oder John Irving, deren
signierte Erstausgaben er sammelte. Wie man Kompliziertes einfach ausdrückt, hatte er bei den Bremer Nachrichten
gelernt, vor allem aber während seiner zwei Jahre bei Bild.
Danach arbeitete er bei der Bunten und in der Chefredaktion des Modemagazins Marie Claire. 1994 kam er zu P.M.,
wo er als Chefredakteur und später auch als Herausgeber
wirkte. Sprado, der sich für Geschichte ebenso interessierte
wie für Menschen, entwickelte P.M.-Ableger wie Biografie
oder History. Seine Redakteure schätzten „Hannes“, wie
sie ihn nannten, für seine leise Art. Hans-Hermann Sprado
starb am 24. Juli in der Nähe von Bremen. akü
lehnte der NDR-Verwaltungsrat 1963 dessen Vertragsverlängerung ab. Nach einem
Jahr beim Stern und der
Gründung einer eigenen Zeitschrift wechselte Paczensky
zu Radio Bremen, wo er Chefredakteur wurde und den Talk
„3 nach 9“ moderierte. Auch
als Gastrokritiker machte er
sich einen Namen. Sein Buch
über Cognac trug ihm die
Ehrenbürgerschaft der gleichnamigen französischen Stadt
ein. Gert von Paczensky starb
am 1. August in Köln. akü
JULIO GRONDONA, 82
„Don Julio“ nannten sogar
Spitzenpolitiker den medienscheuen Netzwerker ehrfurchtsvoll. 35 Jahre lang
knüpfte er als hochrangiger
Sportfunktionär weltweite
Kontakte, zunächst als Boss
des argentinischen Fußballverbands Afa, später auch als
Vizepräsident des Weltverbands Fifa. Vielleicht war dies
der Grund, warum er etliche
Affären so schadlos überstehen konnte. Jedoch haftete
ihm immer der Verdacht an,
er sei als Fifa-Zuständiger für
Finanzen und Marketing in
Korruption und Geldwäsche
verwickelt. Er prahlte sogar
damit, dass er häufiger als
Al Capone verklagt, aber nie
bestraft worden war. Don
Julio brachte es zu einem beträchtlichen Vermögen.
2011 ermittelte die Finanzaufsicht, dass er rund hundert
Millionen Dollar auf ausländischen Konten gebunkert hatte.
Woher das Geld stammte,
blieb sein Geheimnis. Julio
Grondona starb am 30. Juli in
Buenos Aires. rab
FRANZ VÖLKL, 87
Der gebürtige Niederbayer
war ein Visionär, machte um
sich selbst aber wenig Aufheben. „Immer schön am Boden
bleiben“ lautete sein Lebensmotto. Es passte genau zu
seiner Passion, dem Skifahren,
weil Abheben dort schnell
gefährlich werden kann. Der
von ihm entwickelte schwarzgelb gemusterte „Renntiger“
erreichte in den Siebzigern
unter Wintersportlern Kultstatus. Schon zuvor hatte der
Straubinger in der väterlichen
Firma erstmals Skier im
Zebradesign produziert und
damit die Konkurrenz schockiert – nicht aber seine
Kunden: Die rissen ihm die
schnellen Bretter aus den
Händen. Als einer der ersten
Hersteller weltweit bot Völkl
auch Kunststoff- und Carbonski an, die selbst Anfängern
halfen, auch steilere Berge
heil hinunterzukommen.
Anfang der Neunzigerjahre
ging die Erfolgssträhne des
Familienbetriebs Völkl wegen
schleppender Nachfrage zu
Ende. Finanzinvestoren und
Wettbewerber übernahmen
die Firma. Ihr ehemaliger
Chef und Eigentümer blieb
ihr trotzdem bis zuletzt eng
verbunden. Franz Völkl starb
am 26. Juli in Straubing. did
DER SPIEGEL 32 / 2014
135
Katzen-Glamour
Sie hat zwei Zofen, sie reist im Privatjet, und
sie ist ein Star: Choupette, fast drei Jahre alt,
Hauskatze des Designers Karl Lagerfeld, 80, hat
auf Twitter, Facebook und Instagram eine
ansehnliche Gefolgschaft. Lagerfeld setzt dem
Kätzchen nun ein Denkmal in Buchform. Im
September erscheint „Choupette: The Private
Life of a High-Flying Fashion Cat“, ein
128 Seiten starker Band über Tagesabläufe,
Speisepläne und modische Accessoires der
wohl verwöhntesten Katze der Welt. Es heißt,
sie besitze eine Handtaschensammlung von
Louis Vuitton. Bald wird Choupette einen
Beitrag zur Finanzierung ihres Luxuslebens
leisten können: Es ist eine Kosmetiklinie in
Vorbereitung, die als Kooperation der Katze
mit der japanischen Kosmetikfirma Shu
Uemura angekündigt wird. „Shupette“ soll
zum Beispiel flauschige falsche Wimpern für
Menschenaugen im Programm haben. ks
Verwöhnt, realitätsfremd und
nicht besonders intelligent –
so sehen viele die Hotelerbin
Paris Hilton, 33. Als sie jünger
war, habe sie das oft verletzt,
jetzt würde sie „einfach lachen“, sagte die Milliardärin
dem Sunday Telegraph. Nur
die Behauptungen, sie bekomme immer alles von ihren Eltern geschenkt, ärgerten sie nach wie vor: „weil es
absolut nicht stimmt“. Hilton,
die ihr Geld unter anderem
mit dem Verkauf von Parfum,
Unterwäsche und Schuhen
verdient, wird nicht müde,
weitere Einnahmequellen zu
erschließen. Sie hat nicht nur
eine neue Single („Come
Bescheidene Klage
Die beiden Mitglieder der russischen Protestband Pussy Riot, Marija Aljochina, 26,
und Nadeschda Tolokonnikowa, 24, fordern
Schadensersatz von Russland. Aljochina
und Tolokonnikowa waren wegen einer
Performance in einer Kirche in ihrer Heimat im Jahr 2012 zu zwei Jahren Lagerhaft verurteilt worden. Schon während
der Gerichtsverhandlung damals hatten
die Aktivistinnen am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg Klage gegen den Kreml eingereicht.
Sie mussten fast die gesamte Strafe absitzen, erst nach 21 Monaten kamen sie
wieder frei. Ihre Schadensersatzforderung beläuft sich auf insgesamt 250 000
Euro. Tolokonnikowas Vater begrüßt die
Entscheidung, findet die Forderung aber
zu bescheiden: „Sie sollten 250 Millionen
Euro fordern.“ red
Gabrielle Giffords, 44, amerikanische Politikerin, die im
Januar 2011 bei einem Attentat mit einem Schuss in
den Kopf lebensgefährlich verletzt worden war, initiierte mit einer Petition die erste Anhörung zum Thema
Waffen und häusliche Gewalt in der Geschichte des
US-Senats. Demokratin Giffords trat früher für liberale
Waffengesetze ein, jetzt verlangt sie schärfere Kontrollen, um den Schusswaffenerwerb für häusliche Gewalttäter ausschließen zu können. Frauen in den USA sterben elfmal häufiger infolge von Schusswaffengebrauch
als Frauen in anderen Industrienationen. ks
136
DER SPIEGEL 32 / 2014
Alive“) herausgebracht, sondern will international auch
als DJ glänzen: am 6. August
im Klub Amnesia auf Ibiza.
Nach ihrem Auftritt im vergangenen Sommer waren die
Reaktionen allerdings gemischt: Während ein Kommentator sie als „lustig und
hübsch“ beschrieb, meinte
ein anderer, ihre Anwesenheit bedeute „das Ende von
Ibiza“. ks
Jon Bon Jovi, 52, amerikanischer Rockstar, hat sich
eine ganze Stadt zum Feind gemacht: In Buffalo City
gibt es eine Bürgerinitiative, die „Bon-Jovi-freie-Zonen“
fordert, seine Songs werden im Lokalradio boykottiert.
Der Musiker steht an der Spitze einer Investorengruppe, die das legendäre Footballteam Buffalo Bills kaufen
und die Mannschaft in einen anderen Ort umsiedeln
will. Die Buffalo Bills aber sind der ganze Stolz der
Stadt. Die Mannschaft steht zum Verkauf, weil der
bisherige Besitzer verstorben ist. Geschätzter Wert:
eine Milliarde Dollar. red
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Ibizas Ende?
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Personalien
Verliebt ohne Helm
Der ehemalige französische Präsident Nicolas Sarkozy, 59, der
sein politisches Comeback von einem Ermittlungsverfahren
wegen Korruption gefährdet sieht, pflegt gern sein jugendliches Image in der Öffentlichkeit. Daher dürfte ihm eines der
letzten Cover des auflagenstarken Magazins Paris Match
gefallen haben: Es zeigt den früheren Staatschef mit Ehefrau
Carla Bruni, 46, auf einer blauen Vespa in Südfrankreich, spor-
tiv und doch entspannt. Aber das Foto der „beiden Verliebten
in den Ferien“, wie Paris Match schrieb, zog nicht nur wohlwollende Kommentare nach sich. Es provozierte auch eine
aufgeregte Diskussion auf Twitter, denn Fahren ohne Helm
wird in Frankreich mit einer Geldstrafe von 135 Euro pro Person und mit Strafpunkten geahndet. „Sarkozy braucht seinen
Helm erst vor dem Richter“, schrieb ein Bürger. Ob nach dem
Paris Match-Cover tatsächlich ein Strafzettel im Haus der
Sarkozys ankam, ist nicht bekannt. pe
Sarah West, 41, erster weiblicher Kommandant der britischen Kriegsmarine, musste Ende Juli ihre Fregatte
HMS „Portland“ mit 185 Mann Besatzung verlassen,
weil ihr eine Affäre mit einem ihrer Offiziere vorgeworfen wird. Sexuelle Beziehungen sind bei der Royal Navy
keine Seltenheit und erlaubt, solange sie die „operative Wirksamkeit“ des Einsatzes nicht beeinträchtigen.
Im Fall West jedoch stehen die moralische Integrität
und Autorität der Kommandantin zur Debatte: Ihr angeblicher Liebhaber ist frisch verheiratet. Der Fall wird
nun von der Royal Navy untersucht. ks
Jens Stoltenberg, 55, ehemaliger Ministerpräsident
Norwegens und zukünftiger Nato-Generalsekretär, trauert öffentlich um seine Schwester Nini, die vergangene
Woche im Alter von 51 Jahren an Herzversagen verstorben ist. „Kleine Schwester Nini, ich werde dich vermissen“, twitterte der Sozialdemokrat. Nini war lange Jahre
das Sorgenkind der Familie: Schon mit 12 Jahren begann sie, Haschisch zu rauchen, wurde schwer heroinabhängig. Ihr Vater, Exaußenminister Thorvald Stoltenberg, hielt zu ihr; sie wurde Juristin und setzte sich für
die Entkriminalisierung von Drogen in Norwegen ein. gt
DER SPIEGEL 32 / 2014
137
Hohlspiegel
Aus der Celleschen Zeitung: „Der
Überfall kommt für das Schreibwarengeschäft zur Unzeit.“
Weinbeschreibung in einem EdekaMarkt in Offenburg
Aus der Hannoverschen Allgemeinen
Zeitung: „Sechs Jahre alt war Rojinski, als
sie im März 1991 mit ihren russisch-jüdischen Eltern und der neun Jahre jüngeren
Schwester aus Russland nach Berlin zog.“
Aus der Rhein Main Presse
Aus den Kieler Nachrichten: „Da
glühten Farben und Synkopen, reihte
sich eine wunderbare Cellopassage
an Coralie Commons Marimba-Solo
und bescherte die berühmte Stecknadel
im Heuhaufen.“
Rückspiegel
Zitate
Der „Tagesspiegel“ zum SPIEGEL-Essay
„Hausaufgaben statt Hass“ von Raed Saleh
(Nr. 31/2014), der Antisemitismus mit aktiver Integrationspolitik bekämpfen will:
In einem hellsichtigen Text in der jüngsten Ausgabe des SPIEGEL hat Raed Saleh,
der Fraktionsvorsitzende der SPD im
Berliner Abgeordnetenhaus, auf die Zusammenhänge zwischen fehlender Bildung und politischer Radikalisierung hingewiesen und geradezu leidenschaftlich
dafür plädiert, „den sozialen Aufstieg
der jungen Leute mit fremden Wurzeln
zu organisieren“ … Keine Ahnung, ob
sein SPIEGEL-Text von irgendjemand ins
Arabische übersetzt wird. Aber vielleicht
hätte einer, der selber palästinensischer
Herkunft ist, in der Heimat seiner Eltern
mehr Chancen, gehört zu werden, als
US-Amerikaner oder Deutsche.
Die französische Tageszeitung „Le Monde“
zum SPIEGEL-Bericht „EZB auf Kurs der
Bundesbank“ (Nr. 31/2014):
Laut dem deutschen Magazin SPIEGEL
unterstützt die Europäische Zentralbank
die deutsche Bundesbank in ihrem Ruf
nach höheren Löhnen in Deutschland.
Früher war die Zentralbank eine Verfechterin der Lohnmäßigung, nun macht sie
sich Sorgen wegen der niedrigen Inflation in der Eurozone.
Der SPIEGEL berichtete …
… in Heft 20/2014 „Bienchen in Gefahr“
über Vorwürfe, dass Kleinkinder in der Barbara-Strell-Kindertagesstätte im oberbayerischen Kolbermoor von Mitarbeitern grob
behandelt und vernachlässigt wurden.
Schild vor einem Bekleidungsgeschäft
in Tegernsee
Aus dem Badischen Tagblatt: „Im Schlaf
soll eine 67-Jährige mit einem Fliesenschneider auf ihren Ehemann eingeschlagen und dann mehrmals mit einem
Messer auf ihn eingestochen haben.“
Aus der Kreiszeitung
Wesermarsch
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DER SPIEGEL 32 / 2014
Anfang Juli entzog das Jugendamt der
Kita die Betriebserlaubnis für die Krippengruppen. Die Leiterin wurde von
ihren Aufgaben entbunden.
Es war einmal ...
Die „Bild“-Zeitung zur SPIEGEL-Kantine:
Das berühmte Innenleben in Orange ist
schon seit dem Auszug der Redaktionen
2011 nicht mehr da. Jetzt wird die SPIEGEL-Kantine ganz abgerissen. Der Großteil ist schon weggeknabbert. Die
1969 gestalteten
Speisesäle haben
eine neue Heimat
im aktuellen SPIEGEL-Haus und im
Museum für Kunst
und Gewerbe.