Besichtigung einer Baustelle im Gebirge

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Besichtigung einer Baustelle im Gebirge
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l KULTUR 21
der landbote SAMSTAG, 7. juli 2007 Besichtigung einer Baustelle im Gebirge
Am Anfang, eine verfluchte
Sache: Der Tunnel durch den
Gotthard ist Teufelswerk. Am
Schluss aber singen alle: Viva!
Ein Freilichtspiel macht in
Göschenen die Natur dieser
Menschen zum Theater.
GÖSCHENEN – Granit und Bergkris­
tall: Die Steine, so sieht man, erzählen
Geschichten. Akkurat auf der Auf­
schüttung, die vor 125 Jahren durch
den Ausbruch des Gotthardtunnels
entstanden ist, findet in Göschenen
das Freilichtspiel «D’Gotthardbahn»
statt. Das Spektakel mit über Hundert
Mitwirkenden, das am Freitag Premie­
re feierte und nun bis Ende August ge­
spielt wird, ist grosses Volkstheater,
farbig und ein bisschen plakativ. Das
Stück erzählt aber in seinem eigent­
lichen Kern vom Wesen dieser Na­
tur, also vom Glanz und Elend einer
grossen Unternehmung – und von den
Menschen, deren Schicksal der Gott­
hard ist.
Noch nie war ein Theater äusser­
lich seinem Gegenstand näher. Denn
unmittelbar von der Tribüne aus lässt
sich im Spiegel vergangener Episoden
auch die Gegenwart beschauen. Auf
dem Spielgelände wird der Gotthard
mit Trara durchbohrt. Und im Hinter­
grund fahren die Züge leise am Bahn­
hof vorbei.
Die ganze Fülle
Steine können gebrochen werden. Der
Handel und Wandel der Menschen
aber bleibt. Und so spielen Rüebli und
Tomaten in der «Gotthardbahn» auch
eine Rolle. Neben dem Berg kommt
auch die Original-Gotthard-Postkut­
sche zum Einsatz). Ein Arbeiter, der
sich im Tunnel verletzt hat, muss dage­
gen schon Dreck fressen, um ins Hos­
pital zu kommen. Immerhin lässt ihn
Steinmann nicht sterben: Dem Elend
geht sein Volkstheater aus dem Weg.
Wunder gibt es nicht
Das ist nicht nur in diesem Fall auch
gut so. Und so werden am Ende alle
ein bisschen gerettet. Sogar der Mi­
neur Luigi, der den Streik der Arbeiter
anführte und deswegen von der Volks­
wehr maustot geschossen wird, darf
nach der Pause wieder auftreten: nicht
als Gespenst, sondern ganz Fleisch
und Blut. Da kann die Wahrsagerin
noch so lalala die Zukunft voraussin­
gen, da können die Ingenieure noch so
unmenschlich sein und ein Vater noch
so verstockt: Gegen die Liebe kommt
hier niemand an. Ungeheuer pragma­
tisch aber ist, was nach diesem Vorfall,
der in die Kategorie der katholischen
Wunder gehörte, Luigis geliebte Josy
sagt: «Wo bist du eigentlich die ganze
Zeit geblieben?» Viva!
lSTEFAN BUSZ
Einblick in die Geschichte des Tunnelbaus: Die Menschen suchen und finden in der Naturkulisse ihren ganz eigenen Raum . Bild: key
das Gemüse zum Zug. Mit einem gros­
sen Volksauflauf beginnt auch die
Inszenierung. Regisseur Stefan Ca­
menzind, der auch schon das Vorgän­
germodell «D’Gotthardposcht» 2005
in Andermatt auf die Bühne brach­
te, zeigt schon in der ersten Szene die
ganze Fülle (und auch das Angebot
des ganzen Abends). Da strömt das
Volk aus Göschenen auf den Platz.
Die Frauen bieten einheimische Wa­
ren feil. Die Mineure aus Italien spie­
len Boccia oder sitzen am Tisch der
unter dem strich
Elwoods traurige Berühmtheit
Er heisst Elwood, hat eine lederne
Haut und ein paar wenige schüttere
Haarbüschel, die grosse Zunge hängt
ihm aus dem Maul, und ein Auge ist
bis auf einen Schlitz geschlossen: ein
Hund der zum Erbarmen aussieht.
Dass wir ihn kennen gelernt haben,
hat aber nichts mit Erbarmen zu tun.
Im Gegenteil: Dass die Bilder von
Elwood, der im fernen Kalifornien
zum hässlichsten Hund der Welt gekürt worden ist, bis hierher gelangt
sind, hat mit dem Fortleben des alten
rohen Jahrmarkt-Vergnügens zu tun.
Allerdings hat sich der Blick auf
das Schaurige und Monströse, für
das der Schausteller von damals
Eintrittsgeld verlangte, zum Markt
entwickelt, bei dem es nicht nur um
die kleinen Münzen geht. Schon der
Hässlichkeitswettbewerb selber im
Rahmen des Sonoma-Marine Fair
hat eine ganz andere kommerzielle
Dimension als der alte Budenzauber.
Das zeigt der Blick in die Homepage
und auf die Sponsorentafel dieses
grossen Events im kalifornischen
Weingebiet.
Hinzu kommt nun die Vermarktung der «Sensation» durch die
Agenturen und dank ihnen in der
Branche, die das Geschäft mit Infotainment und Werbung betreibt. Der
Vergleich unterschiedlicher Aufbereitungen der Bild- und Textinformation zum «Ugliest Dog Contest» in
den Boulevard- und Onlinemedien
zeigt weitgehende Übereinstimmung:
Der Inhalt der Associated Press wird
genutzt, respektvie kopiert: Minimaler Aufwand, maximaler Effekt.
Mittransportiert wird fraglos auch
der ursprüngliche Impuls: der Jahrmarktsinstinkt als treibende Kraft
– wenn auch gut kaschiert. Die Besitzerin «liebt» Elwood sehr, ja sie hat
ihm sogar das Leben gerettet, als der
Züchter ihn einschläfern wollte.
Das Bild des «hässlichsten
Hundes» aber bleibt die Hauptsache.
Titel, der Heiterkeitsstil der Meldung
und das Ausbleiben jeglicher Reflexion – all dies zeigt, dass auch die me-
diale Verbreitung unter der Annahme
geschieht, dass die Jahrmarktsattraktion die Leser interessiert, unterhält,
belustigt: «Einfach tierisch!», lautet
einer der Titel. Als «bizarrer Wettbewerb» kündigt «Spiegel Online» die
Meldung im Übertitel an und textet
locker: «Nicht schmeichelnd – aber es
ist ein Titel: Elwood, ein zweijähriger
Mischling ...» Auch «Blick Online»
führt Elwood im Bild vor: «Hund Elwood ist der neue König einer Schönheitswahl. Besonderes Merkmal:
extrem hässlich!» lautet die originelle
Bildunterschrift.
«Wahre Schönheit kommt von Innen» witzelt «Stern» zum Bild vom
hässlichen Elwood. Und trifft damit
einen zentralen Punkt – nur dass
diese schöne Aussicht für das Tier
am wenigsten gilt. Oder kann man
einem Hund mit den metaphysischen
Attributen kommen, die selbst den
Menschen nicht zweifelsfrei über die
kreatürliche Trostlosigkeit hinwegretten? Die besondere Empfindlichkeit der Menschen für das Leiden des
Tieres rührt ja vermutlich eben von
der Unmöglichkeit her, sich vorzustellen, dass die Kreatur für ihr Elend
eine Kompensation erhält – eine
Hoffnung, die wir Menschen für uns
nie ganz aufgeben.
Wie ist es möglich, dass von dieser Empfindlichkeit in den Nachrichten über den «ugliest dog» kein
Reflex zu finden ist und das Bild des
zur Jammergestalt herangezüchteten
Wesens in millionenfacher Reproduktion erbarmungslos um die Welt
geht? Es handelt sich um eine rein
mechanische Produktionsmaschine,
Denken und Fühlen sind Störsignale
in der Datenübertragung. Oder die
«wertneutrale» Botschaft ist Kalkül:
Der Leser darf – «Ihre Meinung ist
gefragt» – reagieren, denn seine Aufmerksamkeit ist Cash. Das gilt zwar
für alle Medien, aber nicht für alle
um jeden Preis. Deshalb ist es eher
ein gutes Zeichen, wenn es Leser gibt,
die hier zum ersten Mal von Elwood
hören. lHERBERT BÜTTIKER.
Kantine und trinken Wein. Die Kinder
sind beschäftigt in einem ganz eigenen
Spiel, es wird gelacht, geflucht, gehan­
delt und angebändelt. Das Orchester
gibt das Signal zum Schichtwechsel
und treibt die Handlung voran. Noch
leer ist das Büro der Ingenieure. Aber
bald stehen auch sie am Pult: die Visio­
näre einer neuen Gesellschaft. Mit ih­
rem Unternehmen teilt sich rasch diese
eine Welt der Gemeinde: in ein Unten
und Oben, in Reich und Arm, in ein­
heimisch oder dem Salami zugetan.
Alles wegen eines Lochs. Der Autor
Paul Steinmann ist ein Praktiker des
Volkstheaters, er hat die Geschich­
te des Baus des Gotthardtunnels auf
ein überschaubares Terrain gebracht.
Die grossen Konflikte der Zeit zeigen
sich im Kleinen. Eigentlich möchte
Louis Favre, der grosse Ingenieur und
schlechte Geschäftsmann, allen seinen
Mineuren eine Kutsche gönnen, allein:
Den Mehrbesseren ist ein solches Ve­
hikel vorbehalten (hier kommt später
zum Transport der Schönen, Reichen
d’ gotthardbahn, eine einladung
Lust auf Cazzuola? Das Freilichtspektakel «D’ Gotthardbahn» macht alle
Besucher in Göschenen zu Gästen,
und extra für die Theater-Sommersaison ist bis 25. August das legendäre Bahnhofbuffet wieder geöffnet:
im Angebot eben das Mineurenmenü.
Tickets für die 25 Aufführung selber
sind bei railaway erhältich.
www.gotthardbahn-theater.ch
Crash-Kölschabitur für Spätzünder
Wolfgang Niedecken
und BAP brachten das
mit 3000 Besuchern und
Besucherinnen ausverkaufte
grosse Zelt am Zeltfestival
in Konstanz zum Kochen.
konstanz – Vor acht Jahren waren
BAP und Wolfgang Niedecken das
letzte Mal am Konstanzer Zeltfestival
und spielten drei Stunden ohne Pause.
Und auch diesmal liessen sich die fünf
Musiker mit ihrer neuen Mitmusikan­
tin, der Geigerin Anne de Wolff von
der Gruppe Rosenstolz, nicht lumpen
und schienen auch nach drei Stunden
genauso begeistert wie zu Anfang.
Allerdings, und das verwunderte
keinen der 3000 Besucher und Be­
sucherinnen im immer heisser wer­
denden Zelt, war Frontmann Wolf­
gang Niedecken, das Urgestein der
1976 gegründeten Band, total durch­
geschwitzt. Niedecken und seine fünf
Mitmusiker Helmut Krumminga (Gui­
tars), Werner Kopal (Bass), Jürgen
Zöller (Drums), Michael Nass (Key­
board) und Rosenstolz-Sänge­rin Anne
de Wolff begeisterten mit ihren köl­
schen, druckvollen Songs, mit ihrer
nicht nachlassenden Spielfreude und
ihrer sprichwörtlichen Nähe zum Pu­
blikum vom ersten Song «Nix wie
bessher» bis zum letzten, nachdenk­
lichen Song Wolfgang Niedeckens,
«Noh Gulu», der von seinen Einsätzen
im vom Bürgerkrieg heimgesuchten
Uganda erzählt.
Dazwischen aber waren drei Stun­
den Rock für Kopf und Bauch, mit
einer Geradlinigkeit, Ehrlichkeit
und Offenheit, wie man es von an­
dern Bands überhaupt nicht gewohnt
ist, die sich aber wie ein roter Faden
«Verdamp lang her»: BAP waren wieder am Zeltfestival am Bodensee. Bild: rus
durch das ganze Programm ziehen.
Vor allem Wolfgang Niedecken zeigte
Emotionen und weckte Gefühle. Da
fand unmittelbare Kommunikation
zwischen den Musikern und ihrem
Publikum statt, etwa wenn Wolfgang
Niedecken im Song «Ruut-wiessblau» seinem in die zweite Bundesli­
ga abgestiegenen FCK nachtrauerte.
Oder wenn plötzlich ein Transparent
mit der Aufschrift «Frauenfeld grüsst
BAP» aus dem Publikum auftauchte
und der Bandleader erwiderte: «BAP
grüsst Frauenfeld, wen denn sonst!»
Und bei mehreren Songs übersetzte
er dem Publikum seinen auch für süd­
deutsche Ohren schwer verständlichen
Dialekt und versprach ihm, dass es das
Abitur bei ihm während des Konzertes
in einem Kölsch-Crashkurs nachholen
könne.
Frau, ich freu mich
Die Texte von Wolfgang Niedecken
haben eine persönliche Sichtweise,
drücken intime Gefühle aus, ohne
peinlich zu wirken, formulieren auch
Unbehagen, ohne den Zeigefinger zu
heben. Nicht nur die Songs wie «Frau,
ich freu mich», «Kristallnaach» und
«Waschsalon», so verschieden die
Themen auch sind, machten das Kon­
zert im speziellen Ambiente des Zir­
kuszelts einzigartig. Umso mehr, als
Niedecken nach fast drei Stunden be­
merkte, sie hätten da noch einen Song
gefunden. «Verdamp lang her», acht
Jahre, seit sie – abgesehen von einem
spontanen, privaten Besuch im Zelt­
festival-Biergarten vor fünf Jahren –
das letzte Mal am Zeltfestival am Bo­
densee aufgetreten seien, den er auch
gerne gegen seinen Kölner Baggersee
eintauschen würde.
Vielleicht bringt ihn diese Liebe an
die «Südkölner» schneller wieder ans
Zeltfestival am Schwäbischen Meer.
Drei Stunden mit Wolfgang Niede­
cken und BAP sind alleweil hörensund sehenswert. Und das Publikum
bezeugte dies seinem bescheidenen
und publikumsnahen Sänger und Gi­
tarristen und seinen Mitmusikern mit
minutenlangen Ovationen im Stehen.
lRUDOLF STEINER