Band 13 (1995), Berichtsjahr 1994

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Band 13 (1995), Berichtsjahr 1994
Medizin, Gesellschaft und Geschichte (MedGG)
Band 13 • 1994
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
© Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015
Medizin,
Gesellschaft und Geschichte
Jahrbuch
des Instituts für Geschichte der Medizin
der Robert Bosch Stiftung
Band 13 • Berichtsjahr 1994
herausgegeben von
Robert Jütte
Franz Steiner Verlag Stuttgart 1995
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
© Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015
Medizin, Gesellschaft und Geschichte (MedGG)
Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin
der Robert Bosch Stiftung
Herausgeber:
Prof. Dr. Robert Jütte
Redaktion:
Dr. Thomas Schlich
Satz und Layout: Arnold Michalowski
Anschrift:
Institut für Geschichte der Medizin
der Robert Bosch Stiftung
Straußweg 17
70184 Stuttgart
Telefon (0711) 48 30 13 und 48 30 17
Telefax (0711) 46 17 55
Erscheinungsweise: Jährlich 1 Band zu 240 Seiten (15 Bogen).
Bezugsbedingungen: Ladenpreis DM 48,-; Abonnement DM 48,-, für Studenten DM
38,40, jeweils zuzüglich Versandkosten. Ein Abonnement gilt, falls nicht befristet bestellt,
zur Fortsetzung bis auf Widerruf. Kündigungen eines Abonnements können nur zum Jahresende erfolgen und müssen bis zum 15. November des laufenden Jahres beim Verlag
eingegangen sein.
Verlag: Franz Steiner Verlag, Birkenwaldstr. 44, 70191 Stuttgart
Anzeigenleitung (verantwortlich): Susanne Szoradi
Druck: Rheinhessische Druckwerkstätte, Wormser Str. 25, 55232 Alzey
Medizin, Gesellschaft und Geschichte enthält ausschließlich Originalbeiträge, mit den
Themenschwerpunkten Sozialgeschichte der Medizin sowie Geschichte der Homöopathie
und alternativer Heilweisen. Entsprechende deutsch- oder englischsprachige Manuskripte
sind erwünscht. Sie sollten nach den Hinweisen für Verfasser abgefaßt und auf PC gesetzt
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Umfang der Beiträge soll 10.000 Wörter, bzw. 30 Manuskriptseiten nicht überschreiten.
Die Autoren erhalten 20 Sonderdrucke ihrer Aufsätze sowie ein Belegexemplar des entsprechenden Bandes gratis, auf Wunsch weitere gegen Bezahlung.
Daneben informiert MedGG über laufende Forschungsprojekte und Veranstaltungen aus
den Bereichen Sozialgeschichte der Medizin und Homöopathiegeschichte im deutschsprachigen Raum. Für entsprechende, zur Veröffentlichung bestimmte Mitteilungen sollten
spezielle Formulare, die ebenfalls anzufordern sind, verwendet werden.
Als Ergänzung zum Katalog der Bibliothek des Homöopathie-Archivs, hg. v. Renate Günther und Renate Wittern, Stuttgart 1988, enthält MedGG ein Verzeichnis der Neuerwerbungen (vgl. Jahrbuch, Bd. 6ff.).
MedGG enthält keine Buchrezensionen. Unaufgefordert eingesandte Besprechungsexemplare werden nicht zurückgeschickt sondern von der Institutsbibliothek übernommen.
©
1995 Franz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, Sitz Stuttgart
Printed in Germany. ISSN 0939-351X
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Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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Inhalt
I.
II.
Anschriften der Verfasser
7
Editorial
8
Zur Sozialgeschichte der Medizin
Ortrun Riha
Medizin für Nichtmediziner: Die Popularisierung heilkundlichen Wissens im Mittelalter
9
Christoph Gradmann
„Auf Collegen, zum fröhlichen Krieg“. Popularisierte Bakteriologie im Wilhelminischen Zeitalter
35
Haia Shpayer-Makov
Police Service in Victorian and Edwardian London:
A Somewhat Atypical Case of a Hazardous Occupation
55
Matthias Lentz
„Ruhe ist die erste Bürgerpflicht“. Lärm, Großstadt und Nervosität im Spiegel von Theodor Lessings „Antilärmverein“
81
Per Klabundt
Psychopathia sexualis - die ärztliche Konstruktion der sexuellen Perversion zwischen 1869 und 1914
107
Zur Geschichte der Homöopathie und alternativer Heilweisen
Robert Jütte
Die Enträtselung der Hahnemannschen Q-Potenzen - eine
wissenschaftsgeschichtliche Miszelle
131
Ubiratan C. Adler
Identifizierung von 681-Q-Potenz-Verordnungen und ihr
Nachweis in den Krankenjournalen
135
Thomas Faltin
„Das unsichere Brot eines von Aerzten diskreditirten Heilkundigen“. Der Laienheiler Eugen Wenz (1856-1945) und
seine Naturheilanstalt „Marienbad“ in Mühringen
167
Ingrid Matthäi
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Kleingartenbewegung und Arbeitergesundheit
189
III. Neuerwerbungen der Bibliothek des Homöopathie-Archivs
Bearbeitet von Helena Korneck-Meck
207
IV. Homöopathiegeschichte:
Laufende Forschungen und Ankündigungen
V.
223
Sozialgeschichte der Medizin:
Laufende Forschungen und Ankündigungen
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225
Anschriften der Verfasser
Dr. Urbiratan C. Adler
Dr. Ingrid Matthäi
R. Natingul, 700
05443.000 São Paulo - SP
Brasilien
Graf Stauffenberg Straße 57
66121 Saarbrücken
Prof. Dr. Dr. Ortrun Riha
Thomas Faltin
Theodor-Storm-Str. 25
71739 Oberriexingen
Institut für Geschichte der Medizin
Königstraße 42
23552 Lübeck
Dr. Christoph Gradmann
Dr. Haia Shpayer-Makov
Institut für Geschichte der Medizin
Universität Heidelberg
Im Neuenheimer Feld 368
69120 Heidelberg
University of Haifa
Mount Carmel
Haifa 31999
Israel
Prof. Dr. Robert Jütte
Institut für Geschichte der Medizin
der Robert Bosch Stiftung
Straußweg 17
70184 Stuttgart
Per Klabundt
Schänzlestraße 8
79104 Freiburg
Dipl.-Bibl. Helena Korneck-Meck
Institut für Geschichte der Medizin
der Robert Bosch Stiftung
Straußweg 17
70184 Stuttgart
Matthias Lentz
Fakultät für Geschichtswissenschaft
Universität Bielefeld
Postfach 10 01 31
33613 Bielefeld
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Editorial
Es fällt einem Herausgeber nie leicht, mit einer Tradition zu brechen. Bislang erschienen nämlich im Jahrbuch des Instituts auch die Vorträge, die
im Laufe des betreffenden Kalenderjahres im Institut gehalten wurden. Da
es in den letzten Jahren immer schwieriger wurde, von Referenten allgemeinverständliche Vorträge angeboten zu bekommen, die noch nicht andernorts publiziert waren, haben wir daraus die entsprechenden Konsequenzen gezogen. Fortan wird die Zeitschrift nur noch zwei Rubriken aufweisen: Aufsätze zur Sozialgeschichte der Medizin und Beiträge, die sich
mit der Geschichte der Homöopathie und alternativer Heilweisen befassen.
Weiterhin gültig bleiben aber die bewährten Redaktionsrichtlinien, die besagen, daß jedes Manuskript, das uns angeboten wird, ein anonymisiertes
Begutachtungsverfahren durchlaufen muß. Das scheint uns auch in Zukunft
in Hinblick auf die in vielen akademischen und medizinischen Bereichen
beschworene „Qualitätssicherung“ unabdingbar.
Auch in diesem Heft ist der zeitliche Bogen der Beiträge wieder erfreulicherweise weit gespannt. Er reicht vom späten Mittelalter (O. Riha) bis zum
Ende des Zweiten Weltkriegs (Th. Faltin). Der zeitliche Schwerpunkt liegt
aber diesmal ganz eindeutig auf dem 19. Jahrhundert (Ch. Gradmann, H.
Shpayer-Makov, M. Lentz, P. Klabundt). Drei Beiträge handeln von der
Popularisierung medizinischer Anschauungen und Therapien bzw. dem
gesellschaftlichen Engagement von medizinischen Laien für bestimmte gesundheitliche Belange. Außerdem geht es um ein Thema, das inzwischen in
der internationalen Forschung zur Sozialgeschichte der Medizin ein bedeutende Rolle einnimmt, nämlich die Frage nach der sozialen Konstruktion
von Krankheit, der ja bereits ein eigenes Beiheft dieser Zeitschrift gewidmet
wurde.
Die „medikale Laienkultur“, wie sie von J. Dornheim einmal genannt wurde, ist ebenfalls das Thema zweier Beiträge zur Geschichte der Homöopathie und alternativer Heilweisen (Th. Faltin, I. Matthäi). Der historisch interessierte homöopathische Praktiker, der ebenfalls zu den Lesern dieser Zeitschrift zählt, dürfte mit Gewinn den Beitrag von U. Adler in die Hand
nehmen, denn dieser bringt zahlreiche Belege für die Anwendung von sogenannten „Q-Potenzen“, die ein brasilianischer Homöopath aufgrund intensiver Archivrecherchen in den Pariser Krankenjournalen Hahnemanns
entdeckt zu haben glaubt.
Wie immer erhält dieses Jahrbuch eine Übersicht über die Neuerwerbungen
der homöopathischen Fachbibliothek und Informationen über laufende
Forschungsverhaben in den beiden thematischen Schwerpunktbereichen
(Sozialgeschichte der Medizin und Homöopathiegeschichte).
Stuttgart, im Sommer 1995
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Robert Jütte
I.
Zur Sozialgeschichte der Medizin
Medizin für Nichtmediziner: Die Popularisierung heilkundlichen Wissens im Mittelalter
Ortrun Riha
Das Wort „Popularisierung“ ist alles andere als wertneutral. Es bedeutet
nicht nur den Wechsel von einer gehobenen Anspruchsebene auf eine niedrigere: Es schwingt darüber hinaus auch etwas wie Geringschätzung für das
ausgedünnte, vereinfachte, eben „volks“tümliche Wissen mit, das damit den
komplexen Fachkenntnissen antithetisch gegenübersteht. „Popularisierte“
Medizin ist im Mittelalter leicht daran zu erkennen, daß nicht die Gelehrtensprache Latein, sondern die „Volks“sprache zur Vermit-tlung benutzt
wird; im folgenden wird also in erster Linie von deutschen Texten die Rede
sein. Bei dieser speziellen Annäherung an das Thema bin ich mir wohl bewußt, daß die „Volks“medizin dadurch nicht unbedingt erfaßt ist (auch
wenn von dieser natürlich Spuren in die Schriftlichkeit gelangten). Da das
Wort „Popularisierung“ jedoch einen - wenn auch noch so entfernten - inhaltlichen Zusammenhang mit der lateinischen Fachliteratur der Hochschulmedizin impliziert, ist bei deren Reflexen in der Landessprache anzusetzen. Im Brennpunkt wird zunächst die Frage stehen, wer eigentlich der
populus ist, der als Rezipient in Erscheinung tritt. Dies ist eng verknüpft mit
dem Problem, welche heilkundlichen Themen in popularisierter Form besonderes Interesse finden und was die Motive dafür sind. Den zweiten Teil
bildet also eine Skizze zu Wesen und Bedeutung des mittelalterlichen medizinischen Wissens, wie es aus den volkssprachigen Texten zu rekonstruieren
ist.
1.
Die Rezipienten landessprachiger Medizinliteratur
Eine gute Annäherungsmöglichkeit an Gebrauchswert und Gebrauchssituation1 medizinischer Texte des Mittelalters ist die Frage nach ihren Rezipien1
In der Fachprosaforschung werden die untersuchten Schriften traditionellerweise als
„Gebrauchstexte“ bezeichnet; dieser Terminus, der leicht zu Mißverständnissen führen
kann, wird im folgenden präzisiert werden müssen. Zum traditionellen Sprachgebrauch: Gerhard Eis: Mittelalterliche Fachprosa der Artes. In: Deutsche Philologie im
Aufriß. Hrsg. v. Wolfgang Stammler. 2. Bd. 2. Aufl. Berlin 1960, Sp. 1103-1215;
ders.: Mittelalterliche Fachliteratur. 2. Aufl. Stuttgart 1967 (Sammlung Metzler, 14);
auf dieser Basis auch Peter Assion: Altdeutsche Fachliteratur. Berlin 1973 (Grundlagen
der Germanistik, 13); ders.: Fachliteratur. In: Die deutsche Literatur im späten Mittelalter, 1250-1370. 2. Teil: Reimpaargedichte, Drama, Prosa. Hrsg. v. Ingeborg Glier.
München 1987 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, III.2), S. 371-395. Bedenken bei Hugo Kuhn: Entwürfe zu einer Literatursystematik des Spätmittelalters. Tübingen 1980, S. 71, Anm. 19.
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10
Ortrun Riha
ten. Nicht nur in der Medizin, auch in allen anderen Wissensgebieten
(Recht, Religion, Enzyklopädik usw.) geht mit dem Wechsel der Sprache
vom Lateinischen zum Deutschen auch eine Änderung des Rezeptionsraums (des Sitzes im Leben) einher, der nicht ohne Folgen für Inhalt und
Struktur der Texte ist, da sich diese den Ansprüchen eines neuen Publikums
anpassen müssen. Auf den ersten Blick sehen daher die beiden Gleichungen
„Lateinische (sehr anspruchsvolle) Medizinliteratur = Universität = Minderheitenwissen gelehrter physici bzw. doctores“ und „Landessprachige einfache
Texte = Alltag = Praktiken für Wundärzte und Barbiere“ recht überzeugend
aus. Mit dieser Arbeitshypothese, die der traditionellen Auffassung der
Fachprosaforschung entspricht,2 startete daher auch das medizinhistorische
Teilprojekt (Das Arzneibuch Ortolfs von Baierland; Leitung: Gundolf Keil)
des 1992 ausgelaufenen Würzburg-Eichstätter Sonderforschungsbereichs
226.3 Es konnte sich zudem darauf berufen, daß in Ortolfs Werk explizit
der meister, also wohl ein praktisch tätiger, lesefähiger, jedoch lateinunkundiger Bader oder Wundarzt angesprochen wird. Gleichsam als
Paradigma eignet sich dieses immerhin einzige mittelalterliche deutschsprachige Kurzlehrbuch der Medizin, das alle Gebiete der Heilkunde umfaßt, zu
einem einheitlichen Konzept verschmilzt4 und noch dazu bis in die Neuzeit
2
Vor diesem Hintergrund ist zu lesen: Wolfgang Hirth: Popularisierungstendenzen in
der mittelalterlichen Fachliteratur. In: Medizinhistorisches Journal 15 (1980), S. 70-89.
Die Problematik wurde teilweise auch durch geschickte Wortneuschöpfungen umgangen: Gerd Boßhammer: Technologische und Farb-Rezepte aus dem Kasseler Codex
medicus 4° 10. Untersuchungen zur Berufssoziologie des mittelalterlichen Laienarztes.
[med.Diss. Würzburg] Pattensen 1977 (Würzburger medizinhistorische Forschungen,
10); Volker Zimmermann: Zwischen Empirie und Magie. Die mittelalterliche Frakturbehandlung durch Laienpraktiker. In: Gesnerus 45 (1988), S. 353-380.
3
Bis zum Erscheinen der Neuedition noch gültige Ausgabe: James Follan: Das Arzneibuch Ortolfs von Baierland nach der ältesten Handschrift (14. Jhdt.) (Stadtarchiv
Köln W 4° 24*), Stuttgart 1963 (Veröffentlichungen der Internationalen Gesellschaft
für Geschichte der Pharmazie, N.F., 23); dazu Gundolf Keil: Ortolfs Arzneibuch. Ergänzungen zu James Follans Ausgabe. In: Sudhoffs Archiv 53 (1969), S. 119-152. Literatur zu Ortolf: Gundolf Keil: Das Arzneibuch Ortolfs von Baierland. Sein Umfang
und sein Einfluß auf die ‘Cirurgia magistri Petri de Ulma’. In: Sudhoffs Archiv 43
(1959), S. 20-60; ders.: „Ich, Ortolf, von beierlant geborn, ein arzet in Wirzeburg“.
Zur Wirkungsgeschichte Würzburger Medizin des 13. Jahrhunderts (Würzburger Universitätsreden, 56). In: Jahresberichte der Bayerischen Julius-Maximilians-Universität
Würzburg 1975/76. Würzburg 1977, S. 17-42; ders.: Ortolf von Baierland. In: Die
deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Hrsg. v. Kurt Ruh u.a. 7. Bd.
Berlin und New York 1988, Sp. 67-82. Zusammenfassung der neueren Projektarbeiten: Johannes G. Mayer: Wissenschaftsbericht des Instituts für Geschichte der Medizin
in Würzburg im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 226. In: Nachrichtenblatt der
deutschen Gesellschaft für Geschichte der Medizin, Naturwissenschaft und Technik 43
(1993), S. 97-101.
4
Ortrun Riha: Ein Buch machen aus allen Büchern. Die Konzeption von Ortolfs Arzneibuch. In: Ein teutsch puech machen. Untersuchungen zur landessprachigen Vermittlung medizinischen Wissens. Hrsg. v. Gundolf Keil. Wiesbaden 1994 (Wissensliteratur im Mittelalter, 11), S. 15-38.
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Medizin für Nichtmediziner
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hinein Wirkung zeigte, durchaus, um Klarheit über Organisationsprinzipien
popularisierter Heilkunde zu gewinnen. Durch einen Vergleich mit den lateinischen Vorlagen, die der Verfasser selbst nennt, ließ sich zudem das
Schlagwort „Vereinfachung“ mit Inhalt füllen.5 Ortolfs weitverzweigte
Überlieferungs- und Wirkungsgeschichte machte die Durchsicht so gut wie
aller erhaltenen medizinischen Sammelhandschriften mit deutschen Texten
notwendig, und dabei kamen Zweifel an der Richtigkeit der Ausgangstheorie auf. Wie es scheint, waren es nicht - zumindest nicht in erster Linie professionelle Heiler, sondern medizinische Laien, die Ortolfs Kompendium bzw. ganz allgemein die deutschsprachigen heilkundlichen Texte notierten:6 Als Besitzer der Kodizes überwiegen Nichtmediziner bei weitem; die
Handschriften stammen in der Regel aus dem Besitz von Klosterbibliotheken oder gehörten Mitgliedern des stadtbürgerlichen Patriziats. Dabei ist
natürlich mit einem gewissen Schwund an Büchern zu rechnen; gerade die
häufig benutzten (die der Wundärzte) waren natürlich im Prinzip besonders
gefährdet. Für sich allein wäre dieses überlieferungsgeschichtliche Argument
also nicht aussagefähig, es paßt jedoch zum übrigen Befund.
Medizinische Texte sind nicht isoliert überliefert, sondern stehen in einem
bestimmten Kontext, der als Ganzes Rückschlüsse auf die Anliegen der Rezipienten erlaubt. Und da stellte sich heraus, daß die medizinischen Sammelhandschriften sich fast alle einem von zwei Kollektionstypen zuordnen
lassen, die beide eine eindeutige Ausrichtung auf laienspezifische Interessen
zeigen und miteinander kombinierbar sind. Die Einzelbausteine bilden da5
Ortrun Riha: Ortolf von Baierland und seine lateinischen Quellen. Hochschulmedizin
in der Volkssprache. Wiesbaden 1992 (Wissensliteratur im Mittelalter, 10).
6
Volker Zimmermann: Die Heilkunde in spätmittelalterlichen Handschriftenenzyklopädien. In: Sudhoffs Archiv 67 (1983), S. 39-49; ders.: Rezeption und Rolle der Heilkunde in landessprachigen handschriftlichen Kompendien des Spätmittelalters. Stuttgart 1986 (Ars medica, IV.2); Heinz Meyer: Werkdisposition und Kompilationsverfahren einer spätmittelalterlichen Enzyklopädie im Cod. 125 der Stiftsbibliothek Klosterneuburg. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 119 (1990),
S. 434-453; zur Kritik an der Terminologie: Riha: Wissensorganisation in medizinischen Sammelhandschriften. Klassifikationskriterien und Kombinationsprinzipien bei
Texten ohne Werkcharakter. Wiesbaden 1992 (Wissensliteratur im Mittelalter, 9), S.
18-25; dies.: Das systematologische Defizit der Artesforschung. Überlegungen zur mittelalterlichen deutschen Fachliteratur. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 144 (1992), S. 255-276, hier S. 270-274. Zu den verschiedenen
Kleinformen: Gundolf Keil: Der medizinische Kurztraktat in der deutschen Literatur
des Mittelalters. In: Beiträge zur Überlieferung und Beschreibung deutscher Texte des
Mittelalters. Referate der 8. Arbeitstagung österreichischer Handschriften-Bearbeiter
vom 25.-28.11.1981 in Rief bei Salzburg. Hrsg. v. Ingo Reiffenstein. Göppingen 1983
(Göppinger Arbeiten zur Germanistik, 402), S. 41-114; ders.: Organisationsformen
medizinischen Wissens. In: Wissensorganisierende und wissensvermittelnde Literatur
im Mittelalter. Perspektiven ihrer Erforschung. Kolloquium 5.-7.12.1985. Hrsg. v.
Norbert Richard Wolf. Wiesbaden 1987 (Wissensliteratur im Mittelalter, 1), S. 221245; Gerhard Baader: Lehrbrief und Kurztraktat in der medizinischen Wissensvermittlung des Früh- und Hochmittelalters. Ebd., S. 246-254.
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12
Ortrun Riha
bei thematische Blöcke, die zu intussuszeptionellem Wachstum durch Anlagerung und Ergänzung geradezu prädestiniert sind. Der erste Typ ordnet
nach dem Faktor Zeit, kommt also zu einer Art medizinisch kommentiertem Kalender und beschäftigt sich mit der Zukunftsvorhersage (Prognostik),7 der andere stellt die einzelnen Texte unter dem Gesichtspunkt der Diätetik, also der Krankheitsvermeidung (Prophylaxe), zusammen. In beiden
Fällen werden diagnostische und therapeutische Anweisungen diesen zwei
Gliederungsprinzipien untergeordnet. Daß die diätetischen Einzeltexte (Regimina sanitatis, Monatsregeln)8 Laien als Zielgruppe haben, zeigen schon
die bisweilen mitgeteilten Widmungsempfänger, deren Status allerdings
keinen Einfluß auf den traditionsverbundenen Inhalt der Texte hat.9 Daß
sich ganze Handschriften mit prophylaktischen Maßnahmen befassen, wird
verständlich in einer Zeit, in der im Ernstfall wenig Hilfe möglich war und
in der Krankheiten meist als kurz und tödlich erlebt wurden.10
Im Krankheitsfall war dann nach Ausweis der Texte dem Patienten wesentlich mehr an einer Prognose gelegen als an der präzisen Diagnose; die
prognostischen Abschnitte verdeutlichen somit am besten das Wesen der
Laienmedizin. Die Vorgehensweise kann nun „wissenschaftlich“ sein, also
etwa auf dem Harn- bzw. Blutbefund oder - wie bei der ‘Capsula eburnea’11
- auf bestimmten Symptomkonstellationen beruhen. Häufiger jedoch wer7
Gerhard Eis: Wahrsagetexte des Spätmittelalters. Aus Handschriften und Inkunabeln.
Berlin u.ö. 1956 (Texte des späten Mittelalters, 1); Riha: Wissensorganisation (wie
Anm. 6), zur Prognostik S. 40-65 und 134-140.
8
Gundolf Keil: Das „Regimen duodecim mensium“ der „Düdeschen Arstedie“ und das
„Regimen sanitatis Coppernici“. In: Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung 81 (1958), S. 33-48; Wolfgang Hirth: Studien zu den Gesundheitslehren des
sog. ‘Secretum secretorum’ unter besonderer Berücksichtigung der Prosaüberlieferung.
phil.Diss. Heidelberg 1969 (masch.); Wolfram Schmitt: Theorie der Gesundheit und
„Regimen sanitatis“ im Mittelalter. med.Habil.schr. Heidelberg 1973 (masch.); Bryan
S. Turner: The government of the body. Medical regimens and the rationalisation of
the diet. In: British Journal of Sociology 33 (1982), S. 254-269; Ortrun Riha: ‘Meister
Alexanders Monatsregeln’. Untersuchungen zu einem spätmittelalterlichen Regimen
duodecim mensium mit kritischer Textausgabe. Pattensen 1985 (Würzburger medizinhistorische Forschungen, 30).
9
Bekanntestes Beispiel: Christa Hagenmeyer: Die ‘Ordnung der Gesundheit’ für Rudolf
von Hohenberg. Untersuchungen zur diätetischen Fachprosa des Spätmittelalters mit
kritischer Textausgabe. phil.Diss. Heidelberg 1972 (masch.). Vgl. auch Anm. 66
(‘Brief an die Frau von Plauen’).
10 Arthur E. Imhof: Die verlängerte Lebenszeit - Auswirkungen auf unser Zusammenleben. In: Saeculum 36 (1985), S. 49-69; auch in: ders.: Von der unsicheren zur sicheren
Lebenszeit. Fünf historisch-demographische Studien. Darmstadt 1988, S. 19-51; vgl.
ders.: Lebenserwartungen in Deutschland vom 17. bis 19. Jahrhundert. Weinheim
1990.
11 Karl Sudhoff: Die pseudohippokratische Krankheitsprognostik nach dem Auftreten
von Hautausschlägen, ‘Secreta Hippocratis’ oder ‘Capsula eburnea’ benannt. In: Archiv für Geschichte der Medizin 9 (1916), S. 79-116.
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Medizin für Nichtmediziner
13
den mantische Verfahren eingesetzt, Zeichen also, die außerhalb des Patienten liegen, für eine Vorhersage herangezogen.12 Diese können astronomischer (Mondwahrsagetexte, Lunare, Zahlentabellen für Lostage) oder meteorologischer Art (Donnerprognosen, Windprognosen) sein oder aber im
engeren Sinn magische experimenta darstellen, wobei auch letztere gute Beispiele für Praktiken sind, die aus der Mündlichkeit in die Schriftlichkeit gelangten. Am bekanntesten war offensichtlich die häufig notierte Nesselprobe: Der Urin des Kranken wird über frische Brennesseln versprengt; bleiben
sie über Nacht grün, so wird er gesund, andernfalls stirbt er. Auch ob ein
Hund Abscheu vor dem Harn zeigt oder nicht, kann als Indiz gewertet
werden. An dieser Stelle läßt sich im Inhalt füllen, was oben im Zusammenhang mit den Ordnungsprinzipien von Handschriften nur angedeutet
worden war: Prognosen verschiedenster Art werden zu einem Block vereinigt, an dessen Ende beispielsweise solche magischen Harnproben stehen.
Daß die Fortsetzung ein diagnostischer Harntraktat sein kann, bietet sich
geradezu an. Auch eine andere Assoziation ist natürlich möglich: Harnmantik wird auch gern angewandt, um Auskunft über das Bestehen einer
Schwangerschaft oder über das Geschlecht des erwarteten Kindes zu bekommen; die Überleitung zu allgemein gynäkologischer Thematik liegt in
diesem Fall nahe. Andere Prognostiken, die das Schicksal des zu einem bestimmten Zeitpunkt geborenen Kindes vorhersagen, schließen sich dagegen
mit Vorliebe den Sammellunaren an oder werden an Monatsdiätetiken angehängt, verknüpfen im letzteren Fall also das Ordnungsprinzip „Zukunft“
mit einer prophylaktisch ausgerichteten Gattung und erfüllen so eine gewisse Scharnierfunktion.13
Ein häufiger Handschriftentypus unter den zeitorientierten Kodizes, der
medizinische mit einfachen astrologischen Texten (Planetenkinder- und
Tierkreiszeichenlehren,14 Laßmännlein) verknüpft, ist übrigens mit einem
12 Textbeispiele bei Eis: Wahrsagetexte (wie Anm. 7); Joachim Telle: Beiträge zur mantischen Fachliteratur des Mittelalters. In: Studia Neophilologica 42 (1970), S. 180-201.
13 Zur Scharnierfunktion der Monatsregeln: Riha: Wissensorganisation (wie Anm. 6), S.
140-156; Beispiele bei Keil: Regimen sanitatis Coppernici (wie Anm. 8); Gerhard Eis:
Meister Alexanders Monatsregeln. In: Lychnos (1950/51), S. 104-136; Wolfgang
Hirth: ‘Ipocras’. In: Verfasserlexikon (wie Anm. 3). 4. Bd., Sp. 415-417. Vgl. auch
Emanuel Svenberg: Lunaria et zodiologia Latina. Stockholm 1963 (Acta Universitatis
Gothoburgensis. Studia Graeca et Latina Gothoburgensia, 16); Christoph Weißer:
Studien zum mittelalterlichen Krankheitslunar. Ein Beitrag zur Geschichte laienastrologischer Fachprosa. Pattensen 1982 (Würzburger medizinhistorische Forschungen,
21).
14 Hans Unterreitmeier: Deutsche Astronomie/Astrologie im Spätmittelalter. In: Archiv
für Kulturgeschichte 65 (1983), S. 21-41; Wolf-Dieter Müller-Jahncke: Astrologischmagische Theorie und Praxis in der Heilkunde der frühen Neuzeit. (math.-nat. Habil.schr. Marburg 1982) Wiesbaden 1985 (Sudhoffs Arch., Beih. 25).
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Ortrun Riha
recht attraktiven ikonographischen Programm ausgestattet.15 Die Gebrauchsspuren auf den bebilderten Seiten, die im Textteil fehlen, zeigen,
wofür sich die Besitzer wirklich interessierten. Zumindest diese Kodizes sind
damit mehr als Prestigeobjekte denn als Nachschlagewerke einzustufen. Der
Einwand des Schwundes an fachspezifischen Handschriften greift hier
nicht:16 Es gibt keine Hinweise dafür, daß professionelle Heiler andere Texte bzw. die Texte in anderer Form zur Verfügung gehabt hätten; es existieren also keine „wundarzttypischen“ Sammlungen.17 Selbst reine Rezeptare
oder Kräuterbücher, also die unzweifelhaft zum Gebrauch bestimmte
Textsorten, finden sich genauso auch in Laienhand. Die Rezipienten sind
also lediglich durch den kleinsten gemeinsamen Nenner „Lesefähigkeit mit
fehlender oder geringer Lateinkenntnis“ definiert.
Wie bereits angedeutet, bewegen sich die Texte auf recht niedrigem Niveau.
Sie sind zumeist bunt zusammengewürfelte Kompilate aus vierter oder fünfter Hand, deren Bausteine unverbunden und ohne Auflösung der Widersprüche aneinandergereiht sind. Oft geben die Schreiber explizit ihre Inkompetenz bei der Beurteilung „richtiger“ und „falscher“ Aussagen zu. Mit
auffallender und schwer nachvollziehbarer Sorglosigkeit gehen ferner die
Kompilatoren mit denjenigen Angaben um, auf die es nach unserem Verständnis gerade ankommt: Da die römischen Ziffern offenbar kaum noch
beherrscht wurden, schwanken so z.B. Zahlenangaben jeder Art stark, bei
Dosierungshinweisen ebenso wie in mantischen Texten.18 Größte Schwierigkeiten machen auch fremdsprachliche (lateinische, griechische) Fachtermini, wie sie ab und zu als Krankheitsnamen vorkommen, vor allem aber
15 Vom Einfluß der Gestirne auf die Gesundheit und den Charakter des Menschen. Faksimile-Ausgabe des Manuskripts C 54 der Zentralbibliothek Zürich. Hrsg. v. Gundolf
Keil unter Mitarb. v. Friedrich Lenhardt u. Christoph Weißer. 2 Bde. Luzern 1981-83;
Lorenz Welker: Das „Iatromathematische Corpus“. Untersuchungen zu einem alemannischen astrologisch-medizinischen Kompendium des Spätmittelalters mit Textausgabe und einem Anhang: Michael Puffs von Schrick Traktat „Von den ausgebrannten Wässern“ in der handschriftlichen Fassung des Codex Zürich, Zentralbibliothek, C 102 b. (med.Diss.) Zürich 1988 (Zürcher medizingeschichtliche Arbeiten, 196).
16 Zum Phänomen des Verlusts: Gerhard Eis: Von der verlorenen altdeutschen Dichtung. Erwägungen und Schätzungen. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 37
(1956), S. 175-189; Horst Brunner: Dichter ohne Werk. In: Überlieferungsgeschichtliche Editionen und Studien zur deutschen Literatur des Mittelalters. Fschr. Kurt Ruh.
Hrsg. v. Konrad Kunze, Johannes G. Mayer u. Bernhard Schnell. Tübingen 1989, S.
1-31.
17 Anders als der Titel ‘Korpus der Klostermedizin’ (Wolfgang Hirth, in: Verfasserlexikon [wie Anm. 3]. 5. Bd., Sp. 321-325) vermuten läßt, gibt es auch keine mit Sicherheit als „klostertypisch“ einzustufenden medizinischen Texte.
18 So schwankt beispielsweise das zu erwartende Todesdatum in der lateinischen Tradition der ‘Capsula eburnea’ (s.u.)stark, vgl. dazu den kritischen Apparat bei Sudhoff (wie
Anm. 11).
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die Materia medica betreffen.19 Viele Texte sind darüber hinaus so strukturiert, daß sie sich beim Versuch einer Umsetzung in die Tat als höchst unpraktisch erweisen würden. So setzt sich die lateinische Tradition der anatomischen Reihung der Laßstellen gegenüber der indikationsbezogenen ohne weiteres durch (eine Ausnahme ist nur Ortolfs Aderlaß-Kapitel 73, das
entsprechend große Wirkung als eigener Kurztraktat zeigte).20 Natürlich
dürfen wir für das Mittelalter nicht die gleichen Ansprüche an die Wissensaufbereitung stellen wie heute; dennoch fallen die beschriebenen Charakteristika um so mehr auf, als mittelalterliche Schreiber ansonsten bei der
Anlage ihrer Handschriften durchaus planvoll vorgingen und beispielsweise
auch die für die Anwendung bestimmten Rezeptare nach Heilanzeigen ordneten.21
Unabhängig vom Befund der Handschriften, der durch die Ungunst der
Überlieferung beeinflußt sein könnte, bleibt die grundsätzliche Frage offen,
wie man sich die schriftliche Vermittlung praktischer medizinischer Kenntnisse, von der Arzneimittelherstellung abgesehen (die aber im Spätmittelalter zunehmend vom Apotheker übernommen wird und die kein Monopol
für Fachleute ist), vorstellen soll.22 Es ist bekannt, daß Bader wie Wundarzt
Lehrberufe waren, bei denen das heilkundliche Wissen bei der täglichen
19 Vgl. dazu die Editionen bei Riha: Wissensorganisation (wie Anm. 6), in denen auf
Emendierung bewußt verzichtet wurde, um diese Inkompetenz deutlich zu machen.
20 Aus dieser Neuorganisation resultieren erhebliche Schwierigkeiten bei der Bestimmung
der Vorlage: Riha: Quellen (wie Anm. 5), S. 139-150. Zu Ortolfs Wirkung: Gundolf
Keil: Zur Wirkungsgeschichte von Ortolfs Aderlaß-Kapitel (‘Arzneibuch’, 73). In: „Istorgia dalla Madaschegna“. Fschr. Nikolaus Mani. Hrsg. v. Friedrun R. Hau, Gundolf
Keil u. Charlotte Schubert. Pattensen 1985, S. 99-114; Christina Boot: „An aderlassen
ligt grosz gesunthait“. Zur Repräsentanz von Ortolfs Phlebotomie in deutschsprachigen Aderlaßbüchlein. In: Ein teutsch puech machen (wie Anm. 4), S. 112-157.
21 Konsequente Ordnung a capite ad calcem: C[arl] Külz u. E. Külz-Trosse: Das Breslauer
Arzneibuch. R 291 der Stadtbibliothek. Dresden 1908. Darreichungsform als Gliederungsprinzip eines Rezeptars: Paul Lehmann: Haushaltsaufzeichnungen und Handschriften eines Münchner Arztes aus dem 15. Jahrhundert. In: Ders.: Erforschung des
Mittelalters. 3. Bd. Stuttgart 1960, S. 247-287; Joachim Peters: Das ‘Buch von alten
Schäden’. 1. Teil: Text. med.Diss. Bonn 1973 (masch.).
22 Zur Heterogenität von Wissensstand und Prestige: Karl Baas: Gesundheitspflege im
mittelalterlichen Freiburg im Breisgau. Eine kulturhistorische Studie. Freiburg i.Br.
1905; ders.: Studien zur Geschichte des mittelalterlichen Medizinalwesens in Colmar.
In: Zeitschrift für Geschichte des Oberrheins 61, Neue Folge 22 (1907), S. 217-246;
Vern L. Bullough: The training of the non-university-educated medical practitioner in
the later middle ages. In: Journal of the History of Medicine 14 (1959), S. 446-458;
Ulrich Knefelkamp: Das Gesundheits- und Fürsorgewesen der Stadt Freiburg i.Br. im
Mittelalter. Freiburg i.Br. 1981 (Veröffentlichungen aus dem Archiv der Stadt Freiburg i.Br., 17); Gundolf Keil: Chirurg, Chirurgie. In: Lexikon des Mittelalters. 2. Bd.
München 1983, Sp. 1845-1859; Sabine Sander: Bader und Barbiere. In: Lexikon des
alten Handwerks. Vom Spätmittelalter bis zum 20. Jahrhundert. München 1990, S.1722. Zur Vermittlung medizinischen Wissens vgl. im übrigen die Bibliographie bei
Riha: Quellen (wie Anm. 5), S. 239-248.
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Zusammenarbeit von Meister und Lehrling vermittelt wurde. Kann eine
bestimmte „technische“ Fertigkeit (chirurgische Eingriffe, Geburtshilfe)
überhaupt schriftlich vermittelt werden?23 Haben die Chirurgen nach Ortolfs knappen Sätzen Kiefer und Schulter eingerenkt oder - um ungleich
modernere und konkretere Beispiele zu nennen - haben sie auf der Basis
von Hieronymus Brunschwigs ‘Buch der Cirurgia’ (1497) oder Hans Gersdorfs ‘Feldbuch der Wundarznei’ (1517) Beine amputiert? Die beiden letzteren Bücher sind attraktiv bebildert und dürften deshalb reißenden Absatz
bei Sammlern gefunden haben; auch sind einzelne Fallbeispiele durchaus
von anekdotischem Reiz und bedienen das Bedürfnis nach Sensationellem.
Ein Wundarzt kann selbstverständlich durch die Rezepte profitieren, sie
machen oft das Gros der Chirurgien aus,24 über die beschriebenen Techniken erfährt er jedoch allenfalls, was im Prinzip machbar ist bzw. was der
Verfasser für machbar hält bzw. was dieser vom Hörensagen kennt. Ohne
praktische Weiterbildung aber ist dem Adepten nicht viel geholfen; die
Formulierungen sind viel zu vage, als daß sie eine Nachahmung erlaubten.
Möglich ist gerade noch ein Wiedererkennen von bekannten Vorgehensweisen. Ebenso praxisfern sind im übrigen auch die gängigen, gleichfalls oft
reich illustrierten „Frauenbüchlein“ (Eucharius Rößlins ‘Rosengarten’,
Pseudo-Ortolf, Pseudo-Albertus Magnus usw.), die sich als geburtshilfliche
Lehrwerke ausgeben, deren Ausrichtung auf vorbeugende bzw. flankierende
diätetische Maßnahmen und deren zunehmende Interessenverlagerung auf
Monster- und Wundergeburten jedoch ebenfalls auf ein Laienpublikum
weisen.
Ein zweiter wesentlicher Einwand betrifft immerhin die gesamte mittelalterliche Diagnostik: Gänzlich unmöglich ist die schriftliche Vermittlung von
Sinneseindrücken. Daß die Beurteilung des Pulses (Sphygmologie) schon im
lateinischen Schrifttum eine so untergeordnete Rolle spielt, liegt sicher zum
Teil an ihrer Verankerung in der untergegangenen Pneumalehre und daran,
daß ein Einfügen in die Humoralpathologie nur unvollkommen gelang.25
23 Hier treffen wir uns teilweise mit den Thesen von Michael Giesecke: Der Buchdruck
in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstheorien. Frankfurt a.M. 1991. Vgl. auch: Kommunikation und Alltag in Spätmittelalter und früher Neuzeit. Hrsg. v. Harry Kühnel. Wien
1992. Gundolf Keil: Ortolfs chirurgischer Traktat und das Aufkommen der medizinischen Demonstrationszeichnung. In: Text und Bild, Bild und Text. DFG-Symposion
1988. Hrsg. v. Wolfgang Harms. Stuttgart 1989, S. 137-149.
24 Gundolf Keil: Die ‘Cirurgia’ Peters von Ulm. Untersuchungen zu einem Denkmal
altdeutscher Fachprosa mit kritischer Ausgabe des Textes. Ulm 1961 (Forschungen
zur Geschichte der Stadt Ulm, 2).
25 Gerhard Baader und Gundolf Keil: Mittelalterliche Diagnostik. In: Medizinische Diagnostik in Geschichte und Gegenwart. Fschr. Heinz Goerke. Hrsg. v. Christa
Habrich, Frank Marguth u. Jörg Henning Wolf. München 1978 (Neue Münchner Beiträge zur Geschichte der Medizin und Naturwissenschaften, medizinhistorische Reihe,
7/8), S. 121-144, hier S. 122-124; vgl. auch Riha: Wissensorganisation (wie Anm. 6),
S. 26-28.
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Nach dem Abbrechen der spätantiken Tradition der Arztausbildung in einem engen, praxisbezogenen Lehrer-Schüler-Verhältnis oder gar innerhalb
einer Familie war die Weitergabe von Qualitäten wie „wellenförmig“,
„ameisenähnlich“ oder „wurmartig“ nicht mehr möglich; selbst Philarets
bildhafte Sprache vermag diese Sinneseindrücke nicht verläßlich weiterzugeben.26 Gilles de Corbeils Lehrgedicht ‘De pulsibus’27 erfreute sich zwar
großer Beliebtheit und gelangte in äußerst vereinfachter Form auch in die
Volkssprache,28 doch konnte es die Techniken nicht neu beleben, zumal es
ausgiebiger Kommentierung bedurfte, um selbst von gebildeten Ärzten verstanden zu werden.29 Daß der Puls wichtige Aufschlüsse über den Zustand
eines Kranken geben kann, blieb natürlich dem Hörensagen nach bekannt,
und bildliche Darstellungen von Krankenvisiten zeugen auch von einer gewissen Praxis:30 Die wenigen versprengten Pulstraktate zeigen durch ihre
extreme Verkürzung jedoch den Niedergang einer Kunst, die als Buchwissen keine Chance hat. Daß Ortolf von Baierland sich beispielsweise weitgehend auf die leicht faßlichen Qualitäten schnell-langsam und groß-klein
beschränkt, dürfte seine Beliebtheit begründet haben.
Die großteils auf Farben beruhende Uroskopie,31 die im Gegensatz zur
Pulsdiagnostik in den Handschriften ubiquitär verbreitet ist und für deren
Beliebtheit auch die mittelalterliche Arztikonographie mit dem Harnglas als
Standesattribut spricht,32 ist zwar sehr viel einfacher, hat aber mit einem
ähnlichen Problem zu kämpfen. Eine elegante Möglichkeit, Farbnuancen zu
26 John A. Pithis: Die Schriften ‘Peri sphygmon’ des Philaretos. Text, Übersetzung,
Kommentar. Husum 1983 (Abhandlungen zur Geschichte der Medizin und Naturwissenschaften, 46).
27 Edition von ‘De pulsibus’: Aegidii Corboliensis carmina medica. Hrsg. v. Ludwig
Choulant. Leipzig 1826.
28 Trifft man einmal auf einen deutschsprachigen Pulstraktat, so kann man fast sicher
sein, daß er aus Ortolfs Arzneibuch (Kap. 55-66) stammt, dessen Verfasser Gilles bearbeitete: Riha: Quellen (wie Anm. 5), S. 101-111.
29 Zu den Aegidius-Kommentaren: Karl Sudhoff: Commentatoren der Harnverse des
Gilles de Corbeil. In: Archeion 11 (1929), S. 129-135; Riha: Quellen (wie Anm. 5), S.
118-122.
30 Loren MacKinney: Medical illustrations in medieval manuscripts. London u.ö. 1965,
S. 16-18 zu Abb. 11-14 (S. 195, 215-217); Peter Murray Jones: Medieval medical miniatures. London 1984, Plate V (vor S. 65).
31 Hans Christoffel: Grundzüge der Uroskopie. In: Gesnerus 10 (1953), S. 89-122; Johanna Berger[-Bleker]: Die Entwicklung der Harndiagnostik aus der Harnschau zur
Harnuntersuchung. med.Diss. Münster 1965; dies.: Die Kunst des Harnsehens - ein
vornehm und nötig Gliedmaß der schönen Artzeney. In: Hippokrates 41 (1970), S.
385-395; Gundolf Keil: Die urognostische Praxis in vor- und frühsalernitanischer Zeit.
med.Habil.schr. Freiburg i.Br. 1970 (masch.); Riha: Wissensorganisation (wie Anm.
6), S. 28-40.
32 MacKinney (wie Anm. 30), S. 10-14 zu Abb. 5-10 (S. 194, 212-214); Jones (wie Anm.
30), Abb. 21 (S. 57) und 41 (S. 93).
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vermitteln, liegt dort jedoch in der kolorierten Illustration.33 Dieser Aufwand wird aber in der Regel gescheut, so daß die bunten und dadurch aufschlußreichen Abbildungen bei ihrem Weg in die Niederungen der drittklassigen Kompilationen bezeichnenderweise zu bloßen Umrißzeichnungen
von Harngläsern degenerieren, die zwar ein optisches Signal für den Inhalt
des beigefügten Texts sind, diesen aber nicht mehr erläutern.34 Schon die
gelehrten lateinischen Harntraktate hatten in ihrer Wirkungsgeschichte mit
Verständnisschwierigkeiten zu rechnen und bedurften ausführlicher Kommentierung, zumal Autoren wie Gilles de Corbeil auch noch gern mit griechischen Fremdwörtern prahlten: Erst recht stiften die verschiedenen Weiß, Gelb- und Rottöne Verwirrung bei kaum vorgebildeten Rezipienten. Was
ist auch anzufangen mit den zwanzig Farbtönen, die z.B. in ‘De urinis’ präsentiert werden (niger adustionis, niger mortificationis, lividus, albus, glaucus,
lacteus, charopos, pallidus, subpallidus, citrinus, subcitrinus, rufus, subrufus, rubeus, subrubeus, rubicundus, subrubicundus, inopos, kyanos und viridis)35 und die
in verschiedenen Bearbeitungen auch in volkssprachigen Harntraktaten
auftauchen, wobei das lateinische Adjektiv bezeichnenderweise sehr oft stehenbleibt. Das interessierte Laienpublikum, aber auch der nachlesende
Fachmann wußte sich jedoch durch radikale Vereinfachung zu helfen und
konnte dabei zu Ortolfs beliebtem und daher in entsprechenden Kompilationen fast omnipräsentem Merksatz Zuflucht nehmen: „Hitze macht den
Harn rot, Kälte weiß, Feuchtigkeit dick und Trockenheit dünn“ (Arzneibuch, Kap. 4 und 5). Dieser Aphorismus, so einfach er zunächst aussieht,
führt uns zu einer weiteren, sehr merkwürdigen Beobachtung, die zu größter
Zurückhaltung bei dem Wort „Praxisbezug“ mahnt und hier stellvertretend
stehen soll: Seit den frühesten Harntraktaten wird konsequent neben Farben, Sediment und Schwebeteilchen auch das Konsistenzkriterium „dick““dünn“ bei der Uroskopie mitbeurteilt. Die aus der Gegenwart zurück projezierende Deutung, es handle sich um das spezifische Gewicht, läßt sich
jedoch nicht halten, denn dann müßte sich Ortolfs Zuordnung (die der
Tradition entspricht) umkehren: Durch Feuchtigkeit würde der Harn dünn
und durch Trockenheit dick. Das Beispiel zeigt, daß wir bisher noch nicht
alle Dimensionen der medizinischen Texte erfaßt haben.
Doch fassen wir zunächst zusammen: Landessprachige schriftliche Wissensvermittlung im Bereich der Medizin findet weitgehend auf der Laienebene statt. Es gibt dabei keinen Unterschied zwischen dem, was ein lateinunkundiger Fachmann (z.B. ein Wundarzt) aufgrund von Büchern wis33 Das eindrucksvollste Beispiel findet sich in Johannes Kethams ‘Fasciculus medicinae’
(Fünf-Bilder-Serie); Beispiel aus einer Handschrift: Salzburg, Erzabtei St. Peter, Cod. a
VII 12, Bl. 120r-121r, sowie Jones (wie Anm. 30), Abb. 28 (S. 70).
34 Z.B. Salzburg, Universitätsbibliothek, Cod. M III 3, Bl. 74v; Bibliotheca Apostolica
Vaticana, Cpl 132, Bl. 8r.
35 Ausgabe bei Choulant (wie Anm. 27); Peter Kliegel: Die Harnverse des Gilles de Corbeil. med.Diss. Bonn 1972.
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sen kann, und dem, was sich etwa ein Klosterbibliothekar oder ein städtischer Kaufmann notiert. Die Differenzen liegen weder in den Textsorten
(im Inhalt) noch im Anspruchsniveau; einen „Wissensvorsprung“ hat der
professionell Tätige nur durch seine praktische Ausbildung. Von daher gesehen treten sich im Bereich der Landessprache professioneller Heiler und
belesener Patient gleichrangig gegenüber. Der medizinische Laie ist auf die
technischen Fertigkeiten des Praktikers (Aderlaß, Einrenken usw.) sowie
vielleicht noch auf seinen Heilmittelvorrat angewiesen. Die Diagnose des
Barbiers oder Chirurgen dagegen (soweit das Wort überhaupt angewandt
werden darf) hat gegenüber der Selbsteinschätzung des Kranken nur den
Rang einer second opinion;36 die heute häufig erhobene Forderung nach Eigen- und Mitverantwortlichkeit des aufgeklärten Patienten (informed consent)
war damit zumindest für die lesefähigen städtischen Schichten erfüllt. Zweitens macht der Großteil der Texte den Eindruck, als seien sie höchst theoretisch und gar nicht anwendbar. Dies trifft zum Teil selbst auf die Rezepte
und Kräuterbücher zu. Warum haben sich dann aber so viele Laien überhaupt die Mühe gemacht, sie aufzuzeichnen? Immerhin bedeutete das ja
einen erheblichen Aufwand an Zeit und Geld. Und was hatte gar ein
Fachmann von diesen Schriften? Betrachten wir also die mittelalterliche
Medizin im allgemeinen und die Texte sowie das in ihnen tradierte Wissen
im besonderen etwas genauer.
2.
Die Bedeutung des popularisierten medizinischen Wissens
Wenn medizinische Laien sich mit viel Eigenengagement für heilkundliches
Wissen interessierten, das offenbar nicht praxisbezogen bzw. nicht umsetzbar ist, so bedarf dieser Befund der Begründung. Zunächst einmal stellten
die Texte offenkundig eine als hochinteressant empfundene Unterrichtung
zu den existentiellen Befindlichkeiten Gesundheit und Krankheit dar und
sind damit in eine Reihe mit der allgemein didaktischen und sonstigen wissensvermittelnden Literatur einzuordnen. Bildung, auch dem Gebiet der
Medizin, die immerhin bis in die Schultexte37 ausgreift, ist somit für das
heterogene Stadtbürgertum gleichzeitig identitätsstiftend38 und hilfreich in
36 Wir treffen uns hier mit Beobachtungen von Robert Jütte: Ärzte, Heiler und Patienten.
Medizinischer Alltag in der frühen Neuzeit. München u.ö. 1991, hier S. 33-87.
37 Neben den Schriften zu Naturwissen und Medizin bilden die typischen Schultexte für
den Latein-Anfangsunterricht (z.B. Glossare oder die ‘Disticha Catonis’) die zweite
große Gruppe der „Artesliteratur“ bei Ria Jansen-Sieben: Repertorium van de Middelnederlandse Artesliteratuur. Utrecht 1989. Vgl. ansonsten das Standardwerk von
Nikolaus Henkel: Deutsche Übersetzungen lateinischer Schultexte. Ihre Verbreitung
und Funktion im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. München 1988 (Münchner
Texte und Untersuchungen, 90).
38 Das zeigte kürzlich beispielhaft für die heterogene Konstanzer Oberschicht um 1400
(Adlige, bischöflicher Hof, Patrizier, aufsteigende Zünftler) Eckart Conrad Lutz: Spiritualis fornicatio. Heinrich Wittenwiler, seine Welt und sein ‘Ring’. (phil.Habil.schr.
Freiburg i.Br. 1988) Sigmaringen 1990 (Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen,
32).
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täglich erlebten Grenzsituationen.39 Das Ereignis des Schwarzen Todes und
die immer wiederkehrenden Epidemien40 brachten nicht nur die literarische
Gattung der Artes moriendi41 und die Devotio moderna mit dem gewaltigen mystischen Schrifttum hervor,42 sondern eben auch eine Vielzahl landessprachiger medizinischer Texte, gerade zur Krankheitsvermeidung.43
Bildungsinhalt und Mittel zur Lebensbewältigung: Weshalb Laien sich für
Medizin interessieren, wäre damit schon erklärt. Doch die Texte sind darüber hinaus auch Handlungswissen; dem Laienpublikum kamen offenbar
die Texte als verläßliche Orientierungshilfe für den Notfall vor, und dies
bedarf der stufenweisen Erläuterung.
Da auch professionell tätige Fachleute mit den theoretisch anmutenden Texten etwas anfangen konnten, muß der Begriff „Wissen“ in seiner historischen Dimension reflektiert und erläutert werden. Die Frage nach dem Nutzen wird sich über die Frage nach dem „Realitäts“gehalt der Texte klären
lassen: Wenn und insofern sie „realistisch“ sind, sind sie auch nützlich und
damit „Gebrauchstexte“, allerdings nicht nach dem heutigen vergleichsweise positivistischen Verständnis. Sie illustrieren sogar in besonders eindrucksvoller und plakativer Weise das mittelalterliche Denken,44 dessen
39 Vgl. Anm. 10 und Arthur E. Imhof: Die Lebenszeit. Vom aufgeschobenen Tod und
von der Kunst des Lebens. München 1988, bes. S. 54-92. Zur Interpretation in unserem Sinne Gundolf Keil: Der Hausvater als Arzt. In: Haushalt und Familie in Mittelalter und früher Neuzeit. Vorträge eines interdisziplinären Symposions vom 6.-9. Juni
1990 an der Rheinischen Friedrich Wilhelms-Universität Bonn. Hrsg. v. Trude Ehlert.
Sigmaringen 1991, S. 219-243.
40 Gundolf Keil. Seuchenzüge des Mittelalters. In: Mensch und Umwelt im Mittelalter.
Hrsg. v. Bernd Herrmann. Stuttgart 1986, S. 109-128.
41 Z.B. Robert Rudolf: Ars moriendi. Von der Kunst des heilsamen Lebens und Sterbens. Köln 1957.
42 Regnerus Richardus Post: The modern devotion. Leiden 1968; Leendert Breure:
Doodsbeleving en levenshouding. Hilversum 1987; De doorwerking van de Moderne
Devotie. Hrsg. v. Petronella Bange u.a. Hilversum 1988 (Middeleeuwse studies en
bronnen, 5); Wörterbuch der Mystik. Hrsg. v. Peter Dinzelbacher. Stuttgart 1989
(Kröners Taschenausgabe, 456); Kurt Ruh: Geschichte der abendländischen Mystik.
München 1990.
43 Zur diätetischen Literatur s. Anm. 8 und 9.
44 Das Wort „Mentalität“ ist leider besetzt, „Geistesgeschichte“ ist in Verruf geraten;
beide Begriffe würden jedoch von ihrer Grundbedeutung her hier passen. Zur Mentalitätsgeschichte: Rolf Sprandel: Mentalitäten und Systeme. Neue Zugänge zur mittelalterlichen Geschichte. Stuttgart 1972; vgl. auch Ursula Peters: Literaturgeschichte als
Mentalitätsgeschichte? Überlegungen zur Problematik einer neueren Forschungsrichtung. In: Germanistik - Forschungsstand und Perspektiven. Vorträge des Deutschen
Germanistentages 1984. Hrsg. v. Georg Stötzel. 2. Teil: Ältere deutsche Literatur. Berlin u. New York 1985, S. 179-198; ein Sammelband wurde von Peter Dinzelbacher
herausgegeben: Europäische Mentalitätsgeschichte in Einzeldarstellungen. Stuttgart
1993 (Kröners Taschenausgabe, 469). Zusammenfassung des Forschungsstandes bei
Francisca Loetz: Histoire des mentalités und Medizingeschichte. Wege zu einer Sozi-
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„Realitäts“vorstellung und „Erfahrung“ auf Ebenen angesiedelt sind, die
heute erst mühsam rekonstruiert werden müssen und dabei vielschichtig
erscheinen, ohne daß sie es damals gewesen wären.
Für die Anwendung bei Bedarf am wichtigsten sind Rezepte,45 die somit
diejenige Textsorte darstellen, bei der die Umsetzung in die Praxis am
wahrscheinlichsten ist, die daher indikationsorientiert geordnet sind und die
dementsprechend - sei es als reines Rezeptar oder als wichtiger Bestandteil
einer Textsammlung - auch gleichermaßen im Besitz von Badern,46 Wundärzten47 und Laien48 waren. Einschränkungen für diese Annahme sind nur
über den monetären Faktor zu erwarten,49 bei dem jedoch kostendämpfen-
algeschichte der Medizin. In: Medizinhistorisches Journal 27 (1992), S. 272-291. Zur
modernen Form geistesgeschichtlicher Fragestellungen: Hans Bayer: Zur Soziologie
des mittelalterlichen Individualisierungsprozesses. Ein Beitrag zu einer wirklichkeitsbezogenen Geistesgeschichte. In: Archiv für Kulturgeschichte 58 (1976), S. 115-153.
45 Zur literarischen Gattung „Rezept“: Julius Jörimann: Frühmittelalterliche Rezeptarien.
(med.Diss. Zürich) Zürich und Leipzig 1925 (Beiträge zur Geschichte der Medizin, 1);
Jerry Stannard: Rezeptliteratur as Fachliteratur. In: Studies on medieval Fachliteratur.
Hrsg. v. William Eamon. Brüssel 1982 (Scripta, 6), S. 59-73.
46 Ein Spezialist für Ulcus cruris: Peters (wie Anm. 21); Ingrid Rohland: Das ‘Buch von
alten Schäden’. 2. Teil: Kommentar und Wörterverzeichnis. Pattensen 1982 (Würzburger medizinhistorische Forschungen, 23).
47 Sabine Sander konnte für das 17. und 18. Jahrhundert Bücherbesitz von Wundärzten
nachweisen: Handwerkschirurgen. Sozialgeschichte einer verdrängten Berufsgruppe,
Göttingen 1989 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 83), S. 80-84. Dabei
überwogen Pharmakopöen und Kräuterbücher (was sich mit unseren Vermutungen
deckt), eine weitere wichtige Rolle spielte die Anatomie (zum Nachschlagen), und der
Rest bestand zum größten Teil aus laientypischer Hausväterliteratur. Chirurgische
Spezialwerke sind auch in der Neuzeit nur in geringer Zahl zu finden.
48 Dies ist besonders offenkundig bei Handschriften vom Typ „Buch von Mensch, Tier
und Garten“: dazu Zimmermann (wie Anm. 6); Birgit Zimmermann: Das Hausarzneibuch. Ein Beitrag zur Untersuchung laienmedizinischer Fachliteratur des 16. Jahrhunderts. nat.wiss.Diss. Marburg a.d.L. 1975 (masch.); Luisa Cogliano Arato: Tacuinum sanitatis. Das Buch der Gesundheit. München 1976; Gundolf Keil: Der ‘Kodex
Kohlhauer’. Ein iatromathematisch-hauswirtschaftliches Arzneibuch aus dem mittelalterlichen Oberfranken. I: Beschreibung der Handschrift. In: Sudhoffs Archiv 64
(1980), S. 130-150; ders. u. Ingrid Rohland: Randnotizen zum ‘Schüpfheimer Kodex’.
1. Teil: Allgemeines und Textbestimmung der Traktate. In: Gesnerus 49 (1983), S.
257-274; Christian Tenner u. Gundolf Keil: Das ‘Darmstädter Arzneibuch’. Randnotizen zu einer oberrheinischen Sammelhandschrift der Zeitenwende. In: Bibliothek
und Wissenschaft 18 (1984), S. 85-235.
49 Werner Dressendörfer: Spätmittelalterliche Arzneitaxen des Münchner Stadtarztes
Sigmund Gotzkircher aus dem Grazer Codex 311. Ein Beitrag zur Frühgeschichte des
süddeutschen Apothekenwesens. (nat.wiss.Diss. Würzburg) Pattensen 1978 (Würzburger medizinhistorische Forschungen, 15).
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de Maßnahmen regulierend wirkten, sei es in strenger Indikationsstellung,50
in alternativ angebotenen Kurzversionen51 oder im Austausch einzelner
(teurer, exotischer) Zutaten gegen preiswertere („Quid pro quo“). Gerade bei
dieser Gattung ist die Verankerung in der Empirie unübersehbar: Abgesehen von dem nicht zu unterschätzenden Placebo-Effekt und davon, daß
viele Beschwerden auch von selbst vergehen, waren zahlreiche tatsächliche
Heilwirkungen bekannt und wurden planmäßig genutzt. Für das zwecks
Säfteregulation unverzichtbare Abführen stand ein ganzes Arsenal mehr
oder weniger drastischer Mittel zur Verfügung (Öle, Rhabarber, Wolfsmilch, Cassia-Zimtrinde, Purgierwinde usw.),52 Mohnsaft (Opium, auch
Hauptagens in der Panazee Theriak)53 hilft gegen Schmerzen,54 Weißdorn
und Meerzwiebel lindern die Beschwerden bei der Wassersucht (Herzinsuffizienz).55 Wirksame und ubiquitär als „menstruationsfördernd“ empfohlene
Abtreibungsdrogen waren Petersilie, Wacholder, Gartenraute und Sadebaum.56 Eine Wundreinigung gelang mit „gebrannten Wässern“ aller Art,57
sei es der eigentliche Branntwein,58 Wacholder59 oder Salbei,60 aber auch
50 Gundolf Keil: Einleitung. In: Das Lorscher Arzneibuch und die frühmittelalterliche
Medizin. Verhandlungen des medizinhistorischen Symposiums im September 1989 in
Lorsch. Hrsg. v. Gundolf Keil u. Paul Schnitzer. Lorsch 1991, S. 7-27, hier S. 13.
51 Die Rezepte Ortolfs von Baierland verdanken ihren Erfolg sicher der Einfachheit ihrer
Zutaten. Obwohl Ortolf prinzipiell seine Vorlagen kürzt, bietet er für seine berühmte
Pappelsalbe (Kap. 167) alternativ eine radikal verknappte Version allein aus Malve
und Fett an.
52 Gundolf Keil: Der kranke Mensch im Mittelalter. Randnotizen zu einem Düsseldorfer
Sammelband. In: Aspekte der Germanistik. Fschr. Hans-Friedrich Rosenfeld. Hrsg. v.
Walter Tauber. Göppingen 1989 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik, 521), S. 307321, hier S. 317.
53 Thomas Holste: Der Theriakkrämer. Ein Beitrag zur Frühgeschichte der Arzneimittelwerbung. (med.Diss. Würzburg) Pattensen 1976 (Würzburger medizinhistorische
Forschungen, 5).
54 Gundolf Keil: Spongia somnifera. Mittelalterliche Meilensteine auf dem Weg zur Vollund Lokalnarkose. In: Anaesthesist 38 (1989), S. 643-648.
55 Wie Anm. 54, S. 647. Beide Drogen, die schwache Herzglykoside enthalten, werden
auch heute noch mit gleicher Indikation eingesetzt.
56 Edward Shorter: Der weibliche Körper als Schicksal. Zur Sozialgeschichte der Frau.
München u. Zürich 1987 (Serie Piper 719), S. 208-214 u. 246-255; Angus McLaren: A
history of contraception. From antiquity to the present day. Cambridge 1990, S. 101140; Larissa Leibrock-Plehn: Hexenkräuter oder Arznei. Stuttgart 1992.
57 Wolfram Schmitt: Gabriel von Lebenstein. In: Verfasserlexikon (wie Anm. 3). 2. Bd.,
Sp. 1035-1037; Helmut Walther u. Gundolf Keil: Puff, Michael, aus Schrick. In: Verfasserlexikon. 7. Bd., Sp. 905-910; dazu die Edition von Welker (wie Anm. 15).
58 Gundolf Keil: Der deutsche Branntweintraktat des Mittelalters. Texte und Quellenuntersuchungen. In: Centaurus 7 (1960/61), S. 53-100; Helmut Arntz: Weinbrenner. Die
Geschichte vom Geist des Weines. Stuttgart 1975.
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mit den krebserregenden Giften Diptam61 und Bleiweiß; trockene Haut,
Rhagaden und Schwielen wurden dagegen mit Öl und Fett eingerieben.62
Im übrigen entfalten die „gebrannten Wässer“ die ihnen darüber hinaus
zugeschriebenen stimmungshebenden, schlaffördernden, kühlenden und
ähnliche Effekte ebenfalls durch den Alkohol. Ferner wirken die verschiedenen Hustentränke63 reizmildernd durch das Schlucken (vergleichbar unseren Kräuterbonbons) und schleimlösend durch die Flüssigkeitszufuhr (wie
heutige Bronchialtees). Diese Liste ließe sich beliebig verlängern. Was die
als ständige Bedrohung erlebte Pest betrifft, so entzog sie sich zwar merkwürdigerweise einer symptomatologischen Erfassung64 und wurde auch in
ihrer Genese falsch eingeschätzt (schädliche Ausdünstungen, ungünstige
astrale Konstellation),65 die Traktate aber, in denen vor Kontakt zu Er59 Gundolf Keil u. Hans Reinecke: Der nordische Wacholderbeertraktat. Seine deutschen
Übertragungen und Bearbeitungen. In: Et multum et multa. Beiträge zur Literatur,
Geschichte und Kultur der Jagd. Fschr. Kurt Lindner. Berlin u. New York 1971, S.
165-176; Sabine Kurschat-Fellinger: Kranewitt. Untersuchungen zu den altdeutschen
Übersetzungen des nordischen Wacholderbeertraktats (Mittelalterliche Wunderdrogentraktate, 3). Pattensen 1983 (Würzburger medizinhistorische Forschungen, 20).
60 Joachim Telle: Zur altdeutschen Monographie über Salbeiaquavit. In: „gelerter der
arzenie, ouch apoteker“. Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte. Fschr. Willem F. Daems. Hrsg. v. Gundolf Keil. Pattensen 1982 (Würzburger medizinhistorische Forschungen, 24), S. 479-519; Ekkehard Hlawitschka: „wazzer der tugent, trank der jugent“. Text- und überlieferungsgeschichtliche Untersuchungen zum Salbeitraktat (Mittelalterliche Wunderdrogentraktate, 5). Pattensen 1990 (Würzburger medizinhistorische Forschungen, 49).
61 Auch bei Heinrich von Veldeke wird Diptam zur Wundreinigung verwendet: ‘Eneit’,
V. 11900; dies entspricht schon der Quelle: Vergil, ‘Aeneis’, XII, 416. Zur Medizin in
der mittelhochdeutschen Dichtung: Bernhard Dietrich Haage: Studien zur Heilkunde
im ‘Parzival’ Wolframs von Eschenbach. Göppingen 1992 (Göppinger Arbeiten zur
Germanistik, 565), hier S. 13-19.
62 Gundolf Keil: Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Zwei arbeitsmedizinische Rezepte des
Annerl Ploss vom Ammersee. In: Artes mechanicae en Europe médiévale/in middeleeuws Europa. Actes du colloque du 15 octobre 1987/Handelingen van het colloquium van 15 oktober 1987. Hrsg. v. R[ia] Jansen-Sieben. Brüssel 1989 (Archives et bibliothèques de Belgique/Archief- en bibliotheekwezen in Belgie, Sondernr. 34), S. 191198.
63 Wie beliebt Hustentränke waren, zeigt Ortolfs Kapitel 106 (Von dem husten), das
eines der umfangreichsten des gesamten Arzneibuchs ist.
64 Auch in der Neuzeit stand Galens Definition pestis est febris perniciosa der diagnostischen Erfassung und Abgrenzung noch im Weg: Felix Platter: Beschreibung der Stadt
Basel 1610 und Pestbericht 1610/11. Hrsg. u. kommentiert v. Valentin Lötscher. Basel
u. Stuttgart 1987 (Basler Chroniken, 11). Dazu Huldrych M. Koelbing: Diagnose und
Ätiologie der Pest bei Felix Platter (1536-1614). In: Fschr. Heinz Goerke (wie Anm.
25), S. 217-226.
65 Volker Graeter: Der ‘Sinn der höchsten Meister von Paris’. Studien zu Überlieferung
und Gestaltwandel (Untersuchungen zur mittelalterlichen Pestliteratur, 3.1). med.Diss.
Bonn 1974; Rudolf Sies: Das ‘Pariser Pestgutachten’ von 1348 in altfranzösischer Fas-
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krankten gewarnt wird (Quarantäne oder Flucht) die auch aromatische
Räucherungen empfehlen und den oftmals positiven Effekt einer Eröffnung
abszedierender Bubonenpakete kennen, erwiesen sich trotz unrichtiger
Prämissen als durchaus sinnvoll und hilfreich.66
Rezepte repräsentieren jedoch nicht nur die Empirie unter den mittelalterlichen medizinischen Texten, in ihnen finden sich auch zahlreiche Reflexe
der sogenannten „Volksmedizin“ und damit der informellen Heiler, die sich
in der Regel ja nicht schriftlich äußern und deren Kenntnisse und Praktiken
daher oft nur mittelbar zu erschließen sind: Aus der Mündlichkeit in die
buchgestützte Wissensvermittlung gelangen diese, wenn sich jemand die
Mühe macht, die Rezepturen aufzuschreiben, sei es weil Sammlerinteresse
besteht,67 sei es aufgrund positiver Erfahrung oder wegen der interessanten
Indikation.68 Es ist allerdings zu betonen, daß diese Spuren von Alltagsmedizin sich nicht wesenhaft von den übrigen Rezepten unterscheiden; die
Zubereitungen sind zwar durchweg einfach und beruhen auf heimischen
Kräutern, dasselbe gilt aber grundsätzlich für den Großteil der landessprachigen Rezeptliteratur, die nur ein schwacher Abglanz der lateinischen
Standardwerke, insbesondere des ‘Antidotarium Nicolai’ ist.69
sung (Untersuchungen zur mittelalterlichen Pestliteratur, 4). (med.Diss. Würzburg)
Pattensen 1977 (Würzburger medizinhistorische Forschungen, 7); Gloria WerthmannHaas: Altdeutsche Übersetzungen des Prager ‘Sendbriefs’ (‘Missum imperatori’). Auf
Grund der Ausgabe von Andreas Rutz neu bearbeitet (Untersuchungen zur mittelalterlichen Pestliteratur, 1). (med.Diss. Würzburg) Pattensen 1983 (Würzburger medizinhistorische Forschungen, 27).
66 Heinz Bergmann: „also das ein mensch zeichen gewun“. Der Pesttraktat Jakob Engelins von Ulm (Untersuchungen zur mittelalterlichen Pestliteratur, 2). med.Diss. Bonn
1972; Hans-Peter Franke: Der Pest-’Brief an die Frau von Plauen’. Studien zu Überlieferung und Gestaltwandel (Untersuchungen zur mittelalterlichen Pestliteratur, 3.2).
Pattensen 1977 (Würzburger medizinhistorische Forschungen, 9); Bernhard Dietrich
Haage: Das gereimte Pestregimen des Codex Sangallensis 1164. Metamorphosen eines
Pestgedichts (Untersuchungen zur mittelalterlichen Pestliteratur, 5). Pattensen 1977
(Würzburger medizinhistorische Forschungen, 8).
67 Besonders penibel notiert Pfalzgraf Ludwig V. bei Rhein in seiner medizinischen
Sammlung (Gundolf Keil, in: Verfasserlexikon (wie Anm. 3). 5. Bd., Sp. 1016-1030)
seine Gewährsleute (fast durchweg medizinische Laien), die ihn mit heilkundlichen Informationen versorgten. Zwei Beispiele: Gundolf Keil: Regina Hurlewegin. In: Verfasserlexikon. 4. Bd., Sp. 316f.; Peter Assion: Jude von Kreuznach. In: Verfasserlexikon. 4. Bd., Sp. 887f. Zur Sammlung allgemein: Hellmut Salowsky: Das zwölfbändige
‘Buch der Medizin’ zu Heidelberg, ein Autograph Kurfürst Ludwigs V.. In: Heidelberger Jahrbücher 17 (1973), S. 27-46.
68 Vgl. Anm. 62.
69 Dietlinde Goltz: Mittelalterliche Pharmazie und Medizin. Dargestellt an Geschichte
und Inhalt des Antidotarium Nicolai. Mit einem Nachdruck der Druckfassung von
1471. Stuttgart 1976 (Veröffentlichungen der Internationalen Gesellschaft für Geschichte der Pharmazie e.V., Neue Folge, 44); Riha: Quellen (wie Anm. 5), S. 222-225.
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Was mündliche und schriftliche Tradition außerdem in weit stärkerem Maß
verbindet, als zunächst erwartet werden könnte, ist die große Rolle, die die
Magie spielt. Segen und Zauber sind in riesiger Anzahl überliefert, nicht
selten mit dem Namen des Gewährsmanns (bzw. der Gewährsfrau), der
(bzw. die) die Formeln mitgeteilt hat.70 In der Wundbehandlung werden sie
nicht nur untereinander gleichberechtigt und austauschbar angewandt, sie
ergänzen vielmehr die medikamentöse Therapie. Auch diese Dimension der
Heilkunde spiegelt nicht die „typische Volksmedizin“, sondern ist auch in
hochrangigen lateinischen Lehrbüchern belegt.71 Was die Rezepte selbst
betrifft, so ist diese zweite Facette magischen Denkens von größter Bedeutung und beleuchtet einen wesentlichen Aspekt mittelalterlicher Argumentationsstrukturen, in dem ein krasser Gegensatz zu unserer Sichtweise erkennbar wird. Heute wird gefragt „Welche Stoffe sind in einer Pflanze enthalten?“, und die Anwendung muß sich nach deren Wirkungen richten. Das
Mittelalter argumentiert genau umgekehrt: Eine Droge muß bestimmte Kräfte besitzen, wenn sie bestimmte äußere Eigenschaften hat (Simile-Prinzip).72
Herzförmige Blätter zeigen ein Kardiakum an, rote Farbe (Rotkohl) weist
auf Blut(stillung) und Wundheilung hin, je seltener eine Pflanze oder auch
eine tierische Droge vorkommt, desto größeren Heilwert muß sie haben.
Das Fleisch von Giftschlangen immunisiert gegen jede Intoxikation, da die
Tiere nicht an ihrem eigenen Gift eingehen, also offenbar ein potentes Gegenmittel in sich tragen (das ist das Wirkprinzip des Theriak). Oder um
nochmals an die Abortiva zu erinnern: allein aufgrund der Analogie des
Austreibens werden häufig - und dies schon in der Antike73 - auch (wenn
auch natürlich mit geringer Aussicht auf Erfolg) starke Abführmittel eingesetzt (auch diese Art des Analogiedenkens ist also in lateinischen, gelehrten
Schriften zu finden). Die Beispiele zeigen, eine wie große Rolle magisches
70 Riha: Wissensorganisation (wie Anm. 6), S. 65-78; Oskar Ebermann: Blut- und
Wundsegen in ihrer Entwicklung dargestellt. Berlin 1903; Gundolf Keil: Der Botensegen. Eine Anweisung zur Wasserweihe bei der Wundbehandlung. In: Medizinische
Wochenschrift 11 (1957), S. 541-543; Irmgard Hampp: Beschwörung Segen Gebet.
Untersuchungen zum Zauberspruch aus dem Bereich der Volksheilkunde. Stuttgart
1961 (Veröffentlichungen des staatlichen Amtes für Denkmalpflege Stuttgart, Reihe C:
Volkskunde, 1); Gerhard Eis: Altdeutsche Zaubersprüche. Berlin 1964.
71 Magie und mantische Proben finden sich auch im ‘Compendium medicinae’ des Gilbertus Anglicus (Mitte 13. Jahrhundert), das zum Schriftenkanon der Pariser Universität gehörte.
72 Karl Eduard Rothschuh: Konzepte der Medizin in Vergangenheit und Gegenwart.
Stuttgart 1978, S. 106-134; ders.: Iatromagie. Begriff, Merkmale, Motive, Systematik.
Opladen 1978 (Rhein.-Westfälische Akademie der Wissenschaften, Vorträge, G.225);
Christoph Gerhardt: Arznei und Symbol. Bemerkungen zum altdeutschen Geiertraktat mit einem Ausblick auf das Pelikanexempel. In: Naturkunde und allegorische Naturdeutung. Aspekte der Weltbetrachtung zwischen dem 13. und 19. Jahrhundert.
Hrsg. v. Wolfgang Harms u. Heimo Reinitzer. Bern u. Frankfurt a.M. 1980 (Mikrokosmos 7), S. 109-182.
73 Achim Keller: Die Abortiva in der römischen Kaiserzeit. Stuttgart 1988.
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Denken im Mittelalter spielt und daß die Erfahrung demgegenüber weit
zurücktritt. „Volksmedizin“ und popularisiertes lateinisches Wissen beruhen
beide grundsätzlich zu einem nicht geringen Teil auf derartigen magischen
Vorstellungen, die oftmals eine Entscheidung darüber sehr schwer machen,
welche Überlegungen zur Empfehlung einer bestimmten Droge führten.
Doch auch diese zweite Realitätsstufe greift noch zu kurz und begründet
den überwiegenden Teil der Rezeptzutaten bzw. der zugeschriebenen Heilwirkungen von pflanzlichen, tierischen und mineralischen Drogen nicht
ausreichend. Die Erklärung muß vielmehr an zwei weiteren Punkten ansetzen, die charakteristisch für die mittelalterliche Medizin sind: an der unangezweifelten Wahrheit der lateinischen Autoritäten, die letztlich - trotz des
großen Abstands - den landessprachigen Texten zugrundeliegen, und zum
andern an der Leistungsfähigkeit und Plausibilität der Humoralpathologie.
Damit sprengen wir die landläufige Vorstellung von Realität vollends und
werden zu dem Ergebnis kommen, daß die Empirie nur eine Chance bekommt, wenn sie mit der Theorie vereinbar ist.
Das frühe und hohe Mittelalter ist eine Zeit, in der das geschriebene Wort
eine große Bedeutung hat, vor allem, wenn es lateinisch ist. Übertragen auf
die Rezepte, bedeutet das zunächst ganz einfach, daß unzweifelhaft „wahr“
sein mußte, was bei Plinius, Celsus, Dioskurides, Rufus von Ephesus oder
Odo von Meung über Drogen geschrieben steht, das heißt, die Rezeptare
basieren vielfach auf genauer Kenntnis der klassischen Kräuterbücher. Wie
weit das Vertrauen geht, sei an zwei Beispielen demonstriert: Erstes, in
Lehrbüchern gern zitiertes Beispiel74 sei die Anatomie, die - obwohl
menschliche Leichen seziert wurden - de facto auf dem Wissensstand Galens von Pergamon stehenblieb, der seine Erkenntnisse an Tierkadavern
gewonnen hatte; diese Beobachtungen jedoch können nicht ohne weiteres
auf den Menschen übertragen werden. Weshalb nun ist dieser Umstand
keinem mittelalterlichen Mediziner aufgefallen? Mit vereinzelten Erklärungsversuchen, etwa in dem Sinn, daß sich der Mensch seit der Spätantike
etwas verändert haben könnte, geht die Interpretation jedoch in die Irre.
Des Rätsels Lösung liegt darin, daß das Wort des geschätzten Klassikers,
vom Professor vorgetragen während der Leichenöffnung, ungleich mehr
zählte als der aktuelle Augenschein. Oder allgemeiner: Was die „Mentalität“
des Mittelalters ausmacht, ist die universalistische Geringschätzung des Einzelfalls. Das heißt konkret in der Anatomie: Die aktuell sezierte und möglicherweise individuell (miß)gestaltete Leiche ist nicht das eigentlich Interessante; wesentlich ist das Typische, das Allgemeine, das in den Werken der
großen Autoritäten dargestellt wird. Ein zweiter Gedanke führt weiter auf
74 Vgl. z.B. Erwin H. Ackerknecht: Geschichte der Medizin. 4. Aufl. Stuttgart 1979 (1.
Aufl. 1955), S. 74-85, bes. S. 83; Wolfgang Eckart: Geschichte der Medizin. Berlin
1990, S. 79-103, bes. S. 88.
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erkenntnistheoretisches Gebiet: Man sollte nicht unterschätzen, welch große
Rolle bei der Beobachtung die Voreingenommenheit spielt - mit andern
Worten, die Wahrnehmung ist von Vorwissen und Erwartung abhängig.75
Natürlich ist die menschliche Leber nicht fünflappig, wie Galen schreibt;
vertraute jedoch der Student fest darauf, eine solche zu finden, so konnte er
in „wirklich“ vorhandenen Strukturen (Furchen, Bänder, Bindegewebsfasern, Rippeneindrücke, Gefäße u.ä.) die Grenzlinien einzelner Lappen „sehen“ bzw. diese hineininterpretieren.
In unserem Zusammenhang wichtig sind vor allem auch die pseudepigraphischen Zuschreibungen von Texten, deren Verfasser selbst ganz zurücktreten, aber von ihrem Werk so überzeugt sind, daß sie zu diesem Hilfsmittel greifen. Dem Publikum wird auf diese Weise Wahrheit garantiert, da es
die Fiktionalität nicht durchschaut. Einer der verbreitetsten Kleintexte dieser Art dürfte die pseudo-hippokratische ‘Capsula eburnea’ gewesen sein,
deren spätere lateinische Fassung in die Landessprache Eingang fand.76
Was hat an diesem Text fasziniert? Er ist dem größten aller Ärzte zugeschrieben und stellt geheimes Wissen dar, denn Hippokrates soll ihn - versteckt in einer elfenbeinernen Kapsel - mit ins Grab genommen haben.
Doch was ist tatsächlich mit einem guten Dutzend dreiteiliger Merksätze
anzufangen, die Lokalisation und Farbe einer Effloreszenz (pustula, blatter)
in Verbindung mit dem zu erwartenden Todesdatum bringen und dieses
lediglich noch von einer weiteren Zusatzbedingung abhängig machen?77
Was für eine Funktion hatte ein solcher Text, vor dem heutige Leser relativ
hilflos stehen dürften und den sie sofort als Beweis für das niedrige Niveau
der mittelalterlichen Heilkunde akzeptieren würden? Die Gedankengänge
sind jedoch in sich logisch und präzise: Unter der Prämisse der Autoritätsgarantie für Wahrheit und damit für Realität ordnet sich der kleine Traktat
zwanglos in eine ganze Reihe teils literarischer Traditionen, teils in die Erfahrungswelt ein: Erstens ist er inhaltlich den ‘Epidemien’ und formal den
‘Aphorismen’ vergleichbar und macht damit nicht mißtrauisch, was seine
angebliche Herkunft betrifft. Indem er zweitens den Faktor „Zeit“ thematisiert und dem Bedürfnis entgegenkommt, die Zukunft zu erfahren, paßt er
bestens in jeden prognostischen oder mantischen Kontext. Insbesondere
handelt es sich um ein Analogon zu den gleichfalls beliebten Krankheitslu75 Dazu Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache.
Einführung in die Lehre von Denkstil und Denkkollektiv, mit einer Einleitung. Hrsg.
v. Lothar Schäfer und Thomas Schnelle. Frankfurt a.M. 1980.
76 Sudhoff: ‘Capsula eburnea’ (wie Anm. 11); Keil: Ergänzungen (wie Anm. 3), S. 133f.;
Riha: Quellen (wie Anm. 5), S. 135-138. Gundolf Keil: Ipokras. Personalautoritative
Legitimation in der mittelalterlichen Medizin. In: Herkunft und Ursprung. Historische
und mythische Formen der Legitimation. Akten des Gerda Henkel Kolloquiums veranstaltet vom Forschungsinstitut für Mittelalter und Renaissance der Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf, 13. bis 15. Oktober 1991. Sigmaringen 1994, S. 157-177.
77 Z.B. Wirt ein platter an den kny, die swarcz ist, so stirbt der mensch an dem achten
tag, ob in der siechtag mit sweysz anküm Ortolf, 72,3.
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naren:78 Dort ist der Ausgang des Siechtums abhängig vom Erkrankungsdatum (Mondphase). Eine zweite verwandte Gattung sind die Auflistungen
von „Todeszeichen“ (Zeichen des nahen Todes), die schon zu den spezielleren Traktaten gehören.79 Als negativ könnte sich allenfalls erweisen, daß die
Vorhersage ungewöhnlich konkret ist, also leicht zu falsifizieren wäre. Meist
sind Prognosen, genau wie Horoskope, ungenau und legen sich nur auf
Gesundung, längeres Krankenlager oder Tod fest. Andererseits: Wenn ein
wie beschrieben Erkrankter wirklich stirbt, so wird kein belesener Beobachter zögern, die Zeiträume zu verknappen bzw. zu dehnen, denn der erste
Krankheitstag ist eine variable Größe. Diese Kunst des präjudizierenden
Sehens und Erlebens ist typisch für das Verhältnis von Geschriebenem und
erfahrener Wirklichkeit; auf dieses Realitätsverständnis werden wir gleich
zurückkommen. Die ‘Capsula eburnea’ stützt jedenfalls unsere Beobachtung
von der Lebenshilfe in einer durch Krankheit, Hunger und Krieg unsicheren Zeit. Da das gemeinte Krankheitsbild (im Gegensatz zur Prognose!) äußerst vage beschrieben ist, gelingt im Einzelfall sogar eine spezielle Umdeutung zum Pesttraktat und somit die Übertragung auf eine Krankheit, die so
gefährlich ist, daß der angedeutete stets letale Ausgang keine Verwunderung
hervorruft. Doch greift die Dimension der Erfahrung in unserem Sinn
überhaupt? Was ist davon „real“ im modernen Sinn? Lassen wir uns auf
die Symptomschilderungen nochmals genauer ein, so stellen wir fest: Es
gibt tatsächlich „Blasen“ im weitesten Sinn („pustulae“) zu beobachten,
schwarze wie weiße (mit etwas gutem Willen auch grüne), und zwar häufig.
Diese können zweitens an allen genannten Orten, also überall am Körper,
auftreten. Sie sind drittens manchmal, aber nicht immer, tödlich.80 Wie soll
nun der mit dieser „Erfahrung“ ausgestattete mittelalterliche Mensch diese
„Realität“ theoretisch in den Griff bekommen? Warum stirbt ein Kranker
und der andere nicht? Daß die Topographie ausschlaggebend ist und daß
bestimmte Bedingungen darüber hinaus erfüllt sein müssen, klingt da vollkommen überzeugend. Der kleine Text spiegelt gleichzeitig die Hoffnungen
der Patienten wider, daß sie sich in einer existentiell bedrohlichen Situation
auf etwas Greifbares verlassen können, und sei es, daß bei einer dubiosen
schwarzen Blase am Knie ohne gleichzeitiges Schwitzen nichts zu befürchten ist.
78 Weißer (wie Anm. 13); Erik Wistrand: Lunariastudien. Göteburg 1942 (Göteborgs
högskolas arsskrift, 48.4).
79 Riha: Wissensorganisation (wie Anm. 6), S. 40-65; Karl Sudhoff: Eine kleine deutsche
Todesprognostik. In: Archiv für Geschichte der Medizin 5 (1912), S. 240; ders.:
Abermals eine deutsche Lebens- und Todesprognostik. In: Archiv für Geschichte der
Medizin 6 (1913), S. 231.
80 Viertens spielt auch die Lokalisation für die Prognose manchmal eine große Rolle
(Oberlippen- oder Nasenfurunkel); dies konnte das Mittelalter jedoch nur vermuten,
während wir es „wissen“.
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Es bleibt noch die dritte Ebene der „Realität“ des medizinischen Wissens
auszuleuchten. Als „wirklich“ ist selbstverständlich auch das (patho)physiologische Erklärungsmodell einzustufen, auf dem sämtliche lateinische wie landessprachige Schriften basieren und zu dem es ungeachtet
aller Theorien und Erkenntnisse der Neuzeit bis ins 19. Jahrhundert hinein
keine wirkliche Alternative gab, die es an Leistungsfähigkeit auch nur entfernt damit hätte aufnehmen können.81 Vier scheinbar einfache Eigenschaften, die beiden Gegensatzpaare warm-kalt und feucht-trocken, reichen aus,
um die Welt in ihrer Vielfalt wie in ihrem internen Bezugssystem zu beschreiben. Der Mensch ist sowohl in seiner Geschlechtlichkeit (der Mann ist
heiß-trocken, die Frau kalt-feucht) als auch in seinem Temperament vorgeprägt (sexus und complexio sind daher Bestandteil der sex res naturales, auf die
weder Diät noch Medikamente einwirken können): Nach dem jeweils vorherrschenden der vier humores sind die noch heute geläufigen Charaktertypen benannt: Nach dem kalt-feuchten Schleim der Phlegmatiker, nach der
kalt-trockenen Schwarzen Galle (Milz) der Melancholiker, nach der heißtrockenen Gelben Galle der Choleriker und nach dem warm-feuchten Blut
der Sanguiniker, wobei die ausgeglichene Konstitution des letzteren am
günstigsten ist. Krankheiten entstehen durch übermäßiges Auftreten eines
oder mehrerer Säfte, sei es lokal bzw. organbezogen oder systemisch. Da
auch Speisen, Heilkräuter und Mineralien durch jeweils zwei Eigenschaften
aus den beiden Gegensatzpaaren warm-kalt und feucht-trocken gekennzeichnet sind, und dies in jeweils verschiedener Ausprägung (es gibt für jede
Qualität vier Intensitätsgrade, zu entnehmen etwa dem ‘Liber graduum’
Konstantins von Afrika oder auch landessprachigen Kräuterbüchern),82
ergibt sich daraus eine überzeugende und durchdachte Anwendungslehre,
die Ausgleich zum Ziel hat. Die eine oder andere Zuordnung erscheint ohne
weiteres auch modernen Zeitgenossen plausibel, wenn etwa Scharfes wie
Essig, Knoblauch oder Pfeffer als heiß-trocken im vierten Grade eingestuft
wird, das meiste sieht allerdings ziemlich beliebig aus. Es erweist sich als
reiner Zufall, wenn unsere und die mittelalterliche Einstufung zusammenfallen, denn das System braucht im Prinzip keine Anknüpfung an unsere „Realität“, um als „richtig“ empfunden zu werden, und die konkret aussehenden Adjektive sind in Wirklichkeit sehr abstrakt zu denken. Da die Eigenschaften außerdem an einschlägiger Stelle nachgesehen werden müssen,
haben sie für uns den Charakter einer Setzung, während sie im Mittelalter
den Dingen wesenhaft zukommen.
81 Klaus Schönfeldt: Die Temperamentenlehre in deutschsprachigen Handschriften des
15. Jahrhunderts. phil.Diss. Heidelberg 1962 (masch.); Erich Schöner: Das Viererschema in der antiken Humoralpathologie. Wiesbaden 1964 (Sudhoffs Archiv, Beiheft
4).
82 Überblick über die wichtigsten Kräuter und Speisen bei Eis: Monatsregeln (wie Anm.
13), S. 116 und 118.
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Einleuchtend ist auf alle Fälle das davon abgeleitete therapeutische Prinzip:
Bei fiebrig-heißen Erkrankungen bietet sich eine kalt-feuchte Therapie an,
seien es kühle Umschläge oder auch Lattich und Portulak, während schleimige Katarrhe warm-trockenes Gegensteuern erforderlich machen, z.B. mit
Eppich, Ingwer, Fenchel und Salbei. Ich habe zunächst diese beiden
Krankheiten ausgewählt, da bei ihnen die mittelalterliche Einordnung auch
uns heute schlüssig vorkommt; dies ist - wie bei den Drogen - eher die Ausnahme und - wie gesagt - gar nicht nötig. Die Lepra beispielsweise wird
nach mittelalterlicher Vorstellung durch ein Übermaß an Schwarzer Galle
hervorgerufen, die durch Überhitzung bei der Zweiten Kochung (in der
Leber) anfällt. Darüber hinaus gibt es verschiedene Unterformen mit zusätzlichen Säfteentgleisungen,83 und auf diese Weise kann die Beobachtung „tatsächlich“ unterschiedlicher Ausprägungs- und Verlaufsformen mit der Pathophysiologie zur Deckung gebracht werden. Auch hier sollte die Viersäftelehre nicht in allzu große Nähe zur Empirie rücken, das wäre ein grobes
Mißverständnis; die Argumentation ist ausschließlich deduktiv. Das mittelalterliche „Wissen“ darum, wie der Mensch funktioniert, ist nach modernem Verständnis reine Naturphilosophie, wenn auch eine „praktisch“ ausgelegte, die eine ganzheitliche Interpretation der Welt (vier Elemente, vier
Körpersäfte, vier Temperamente, vier Menschenalter, vier Jahreszeiten, später auch vier Erdteile, dazu die Doppelbestimmung bei Planeten, Tierkreiszeichen, Metallen, Steinen, Kräutern usw.) ermöglicht. Für das Mittelalter ist
die Welt ein vielfach verzahnter Kosmos, ein kompliziertes Beziehungsgefüge, dessen Gesetzmäßigkeiten sich die Medizin zunutze machen kann. Das
Prinzip des Gleichgewichts ist natürlich auch in der Diätetik (Prophylaxe)
anwendbar, in die „tatsächliche“ Essensgewohnheiten84 keinen Eingang
fanden und die streng theoretisch motiviert ist. Welche Speisen wann empfehlenswert sind, richtet sich nach ihren Primärqualitäten: Daß Hirn und
Fisch kalt-feucht sind, ist wieder einleuchtend, aber auch frischer Käse hat
die gleichen Eigenschaften. Heiße Dampf- oder Sitzbäder und Glühwein im
Winter sind nicht nur angenehm, sondern auch humoralpathologisch abgesichert; vielleicht gelangten auf diese Weise auch Anis, Feigen, Ingwer und
Nüsse (da warm-trocken) ins Weihnachtsgebäck. Aderlaß befreit zwar von
schädlichen Säften, schwächt aber und ist deshalb in extremen und daher
83 Renate Wittern: Die Lepra aus der Sicht des Arztes am Beginn der Neuzeit. In: Aussatz, Lepra, Hansen-Krankheit. Ein Menschheitsproblem im Wandel. 1. Teil: Katalog.
Bearb. v. Christa Habrich u.a., Ingolstadt 1982 (Kataloge des Deutschen Medizinhistorischen Museums, 4), S. 41-50, bes. S. 43f. u. 46f.; Horst Müller-Bütow: Lepra. Ein
medizinhistorischer Überblick unter besonderer Berücksichtigung der mittelalterlichen
arabischen Medizin. Frankfurt a.M. u. Bern 1981 (Europäische Hochschulschriften,
VII.B, 3), S. 113-120.
84 Am Beispiel einer in den Handschriften ubiquitären Gattung: Ortrun Riha: Die diätetischen Vorschriften der mittelalterlichen Monatsregeln. In: Festschrift Gundolf Keil.
Göppingen 1994 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik, 585), S. 339-364. Vgl. daneben [] Lichtenfelt: Die Geschichte der Ernährung. Berlin 1913, S. 58; Reay Tannahill:
Kulturgeschichte des Essens. Von der letzten Eiszeit bis heute. München 1979, S. 184.
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Medizin für Nichtmediziner
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gefährlichen Monaten zu vermeiden.85 Kurzum: Krankheitsvermeidung und
Krankheitsbehandlung folgen dem gleichen Ideal der temperantia, auch
wenn das im historischen Text nur selten explizit so formuliert wurde.
Daß die Uroskopie kein Privileg gelehrter Ärzte war, wie es die Ikonographie nahelegt, sondern auch von Badern praktiziert wurde, ist mittlerweile
dankenswerterweise nachgewiesen;86 die Omnipräsenz entsprechender
deutschsprachiger Texte hatte dies nur vermuten lassen. Das Vier-SäfteSchema läßt sich nun ganz besonders gut damit und mit dem zweiten diagnostischen Verfahren zur Deckung bringen, das ebenfalls eine Körperflüssigkeit untersucht, nämlich mit der Blutschau87 (Hämatoskopie). Auch
wenn in den volkssprachigen Texten nur ein Bruchteil der Informationen
ankam, die im Lateinischen verfügbar waren, so ist doch das Prinzip das
gleiche, und es ist ebenso einfach wie überzeugend: Rot steht für Blut und
Wärme, weiß für Schleim und Kälte, gelb für die Gelbe und schwarz für die
Schwarze Galle. Durch verschiedene Farbstufen (hell- und dunkelrot, hellund dunkelgelb, orange, purpur, grau usw.) werden Säftekombinationen
und Abstufungen im Grad der Entgleisung sichtbar. So war oben auch von
blauem und grünem Harn die Rede, dessen Vorhandensein aufgrund der
Theorie postuliert und abgeleitet wurde: Bei einer bestimmten Konstellation
müssen diese Farben auftreten. Daß sie niemand je gesehen hat, spielt keine
Rolle, es stört weder, noch widerlegt es gar die Richtigkeit des zugrundeliegenden Systems; es tut daher auch der Überlieferung dieser Passagen in den
Harntraktaten keinen Abbruch. Auf der andern Seite „stimmen“ natürlich
(wieder zufällig!) einzelne Zuordnungen: Bei Fieber ist der Urin wirklich
dunkler (roter). Wäre dem aber nicht so, würde es die Verläßlichkeit der
Harnschau nicht in Frage stellen; das System erlaubt genügend Hilfskonstruktionen, hier z.B. in Form eines schleim- oder gallenbedingten Fiebers.88
85 Zur auffallenden Konzentration der „Verworfenen Tage“ im August: Gundolf Keil:
Die verworfenen Tage. In: Sudhoffs Archiv 41 (1957), S. 27-58.
86 Jütte (wie Anm. 36), Tabelle S. 241.
87 Friedrich Lenhardt: Blutschau. Untersuchungen zur Entwicklung der Hämatoskopie.
Pattensen 1986 (Würzburger medizinhistorische Forschungen, 22); Johannes G. Mayer: Die Blutschau in der spätmittelalterlichen deutschen Diagnostik. Nachträge zu
Friedrich Lenhardt aus der handschriftlichen Überlieferung des ‘Arzneibuchs’ Ortolfs
von Baierland. In: Sudhoffs Archiv 72 (1988), S. 225-233; Riha: Wissensorganisation
(wie Anm. 6), S. 118-121.
88 Vgl. zur Farbe Schwarz, die bei bestimmten hämatologischen Erkrankungen tatsächlich vorkommt: Peter Voswinckel: Der schwarze Urin. Vom Schrecknis zum Laborparameter. Urina Nigra, Alkaptonurie, Hämoglobinurie, Myoglobinurie, Porphyrinurie, Melanurie. Berlin 1993; der Autor argumentiert als moderner Kliniker und sieht
daher das mittelalterliche Diagnoseschema durch die Empirie gestützt, dabei hätte es
diese Hilfe gar nicht nötig.
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Ortrun Riha
Da soeben kurz vom Aussatz die Rede war, sei rasch ein Blick auf die spezielle Hämatoskopie dieser Erkrankung geworfen,89 die allerdings bei der
differenzierten und erfolgreichen Diagnostik der Lepra nur eine unter- bzw.
nachgeordnete Bedeutung hatte.90 Die Kriterien bei der sozial bedeutsamen
und deshalb von mehreren gesellschaftlichen Gruppen getragenen Lepraschau91 waren sämtlich volkssprachig zugänglich, und Grabungen zeigten,
daß die Treffsicherheit auf der Basis der phänomenologisch orientierten
Texte exzellent war:92 Nicht erst die typische Facies leontina und ähnliche
verstümmelnde Spätsymptome waren bekannt, sondern es wurde schon
nach der beginnenden peripheren Polyneuropathie gefahndet (Nadelprobe
als Sensibilitätsprüfung), die Daumenballenatrophie galt als pathognomonisch, und der Verdächtige mußte auch eine Singprobe bestehen, die gegebenenfalls frühe Nasen- und Kehlkopfveränderungen sowie Innervationsstörungen anzeigte. Der Gedankengang bei der verbreiteten, aber natürlich
unzuverlässigen Leprablutschau93 ist symptomatisch für das mittelalterliche
Denken: heute würde - gesetzt den Fall, die Medizin glaubte noch an die
Säftelehre - das Blut verschiedener Probanden angeschaut und versucht,
daraus Rückschlüsse auf die Genese des Aussatzes zu gewinnen. Anders die
mittelalterliche Humoralpathologie: Sie ist überzeugt, daß Lepra und
89 Beispiele bei Karl Sudhoff: Eine Blutprobe zur Erkennung der Lepra. In: Archiv für
Geschichte der Medizin 6 (1913), S. 159; ders.: Ein neues Leprazeichen bei der Blutprüfung. In: Archiv für Geschichte der Medizin 11 (1918), S. 232.
90 Karl Sudhoff: Aussatzproben. In: Archiv für Geschichte der Medizin 3 (1910), S. 80;
Alois Paweletz: Lepradiagnostik im Mittelalter und Anweisungen zur Lepraschau.
med.Diss. Leipzig 1915; zusammenfassend mit weiterführenden Literaturangaben:
Gundolf Keil: Der Aussatz im Mittelalter. In: Aussatz, Lepra, Hansen-Krankheit. Ein
Menschheitsproblem im Wandel. 2. Teil: Aufsätze. Hrsg. v. Jörn Henning Wolf.
Würzburg 1986 (Kataloge des Deutschen Medizinhistorischen Museums, Beiheft 1), S.
85-102, zur Diagnostik S. 87; ders. u. Friedrich Lenhardt: Lepraschau-Texte. In: Verfasserlexikon. 5. Bd., Sp. 723-726.
91 Jütte: Heiler (wie Anm. 36), S. 108-118; Müller-Bütow (wie Anm. 83), S. 46-54; Peter
Johanek: Stadt und Lepra. In: Lepra - Gestern und Heute. Hrsg. v. Richard Toellner.
Münster 1992, S. 42-47.
92 Vilhelm Moller-Christensen: Bone changes in leprosy. Copenhagen 1961; Johann G.
Andersen: Studies in the medieval diagnosis of leprosy in Denmark. Copanehagen
1969; Egon Schmitz-Cliever: Zur Osteoarchäologie der mittelalterlichen Lepra. Ergebnis einer Probegrabung in Melaten bei Aachen. In: Medizinhistorisches Journal 6
(1971), S. 249-263, und ebd. 8 (1973), S. 182-200; Axel Hinrich Murken: Die Geschichte des Leprosoriums Melaten in Aachen vom Mittelalter bis zum Beginn der
Neuzeit. 300 Jahre geschlossene Anstaltspflege für die Aussätzigen. In: Lepra - Gestern
und Heute (wie Anm. 91), S. 48-56.
93 Felix Platter berichtet beispielsweise von einem jungen Mann, der auf der Basis der
Blutschau fälschlicherweise für mehrere Jahre in ein Leprosorium eingewiesen wurde
(Observationum libri tres. Basel 1614, S. 667-669). So erklären sich wohl auch die negativen Ergebnisse bezüglich der Erfolge der Leprabekämpfung von Francoise Bériac:
Histoire des lépreux au moyen age. Paris 1988.
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Schwarze Galle zusammengehören; das Blut eines Erkrankten muß also
dunkel und erdig-trocken aussehen. Und auch hier wird das Gesehene immer mit dem Gedachten (dem aufgrund anderer Kriterien Erwarteten)
übereinstimmen: Venenblut ist fast immer schwarzrot (bei den paar Ausnahmefällen gibt es auch die Ausweichmöglichkeit auf bestimmte Lepraformen mit Interferenz weiterer Säfte), und das Kriterium des Trockenen ist
beeinflußbar durch Schnittgröße, Hydratationszustand des Patienten („dickes“ Blut durch gewohnheitsmäßig reduziertes Trinken) oder Dauer des
Stehenlassens der Probe (Gerinnung). Was heute wie Mogelei aussieht, war
somit damals objektive Diagnostik im besten Sinn und auf hohem Niveau.
Summary
The history of the tradition of medical texts written in the vernacular in the Middle Ages,
in particular the stict synchronic study of manuscripts, reveals that we are not dealing with
specialized knowledge for experts but with information which was available to anybody
who could read. The medical layman and with him the potential patient thus shifted into
the centre of interest. The study of these texts illustrated the medieval concept of „knowledge“ and the understanding of „reality“. It emerged that empiricism in our sense played
an important, but not the most important role. Trust in the world order led to the application of principles of analogous magic and faith in the truth of classical Latin tradition and
the authority of the ancients went almost unbroken. However, the decisive factor is that the
same degree of „reality“ was attributed to humoral pathology as is to cellular pathology
today. As to the significance of the texts, this means that they conveyed both theoretical
intellectual knowlegde and concrete practical knowledge from which experts and amateurs
were able to benefit in different ways. Whereas our ideas are usually developed inductively,
medieval argument was conducted inductively, that is, based on natural philosophy not on
natural science, and followed threfore the tradition of classical antiquity. In the final analysis it is this factor which, in spite of differing standards, unites learned and popular medicine.
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„Auf Collegen, zum fröhlichen Krieg“. Popularisierte Bakte-riologie im Wilhelminischen Zeitalter
Christoph Gradmann
I.
Der Erfolg der von Robert Koch im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts als
Bakteriologie neu begründeten Kontagienlehre wird allgemein als eines der
Paradebeispiele für wissenschaftlichen Fortschritt angesehen. Der Aufstieg
der Bakteriologie vereinigte in sich wichtige Charakteristika, die mit wissenschaftlichem Fortschritt assoziiert werden können: Er war grundlegend,
umfassend und schnell.1
Grundlegend, weil sich der Krankheitsbegriff der Medizin mit der Durchsetzung der Bakteriologie in entscheidender Weise veränderte. Eine Entwicklung, die, folgt man dem Koch-Biographen Brock, dem Forscher allein
zuzuschreiben war: „It can almost be said that Koch created the field of bacteriology.“2 Damit verbunden war auch - über die sogenannten Kochschen
Postulate - ein Wandel der Methodologie.3 Umfassend ihren Wirkungen
nach wurde die Bakteriologie in zweierlei Hinsicht: De facto schloß sie konkurrierende Theorien über Ursprung und Verlauf von Krankheiten aus.4
Konkret hatte die Kochsche Bakteriologie einen enormen Einfluß auf die
Entwicklung der öffentlichen Hygiene und Gesundheitspolitik.5 All dies
vollzog sich schnell: Zwischen der Beschreibung des Lebenszyklus des
Milzbranderregers durch den Wollsteiner Kreisphysikus Koch von 1876
und der praktisch vollständigen Durchsetzung der Bakteriologie, die man
für die 1890er Jahre ansetzen kann, vergingen nur wenige Jahre.
Beschränkte sich die ältere Literatur zu Koch auf die respektvolle, besonders
in der Biographik gelegentlich hagiographische Chronik der Entdeckungen
1
Einführend zum Fortschrittsbegriff in der Medizingeschichte: Alwin Diemer (Hg.): Die
Struktur wissenschaftlicher Revolutionen und die Geschichte der Wissenschaften. Meisenheim am Glan 1977.
2
Thomas D. Brock: Robert Koch. A Life in Medicine and Bacteriology. Madison/Wisconsin 1988, S. 293.
3
Als Überblick: K. Codell Carter: Kochs Postulates in Relation to the Work of Jacob
Henle and Edwin Klebs. In: Medical History 29 (1985), S. 353-74.
4
Am deutlichsten zeigte sich das in der berühmten Koch-Pettenkofer Kontroverse über
die Ätiologie der Cholera, in der die Bakteriologen - mit einer akuten Choleraepidemie in Hamburg 1892 als Katalysator der Debatte - schnell die Überhand über die
Miasmatiker erringen konnten, vgl. Richard J. Evans: Tod in Hamburg. Reinbek
1990 (engl. 1987), S. 618-27.
5
Als Überblick: Alfons Labisch: Homo Hygienicus. Gesundheit und Medizin in der
Neuzeit. Frankfurt am Main 1992, bes. S.137-41.
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Christoph Gradmann
des Meisters,6 so wird in neueren Arbeiten die nicht nur wissenschaftsgeschichtlich interessante Frage nach dem gesellschaftlichen und politischen
Kontext der Kochschen Bakteriologie und ihres Erfolges im deutschen Kaiserreich gestellt: zumeist als Frage nach komplementären Interessenlagen
des preußischen Staates, ärztlicher Standespolitik und der naturwissenschaftlichen Medizin. Zu umfassenden Entwürfen, wie sie für die französische Mikrobiologie Bruno Latour vorgelegt hat,7 ist es bis jetzt nicht gekommen - aber doch zu einer Reihe interessanter Ansätze, die ein vorläufiges Resümee lohnend erscheinen lassen.
Beginnend mit Gert Göckenjahns Buch Kurieren und Staat machen hat sich
eine Forschungsrichtung herausgebildet, die komplementäre Interessenlagen
ärztlicher Standespolitik und des preußisch-deutschen Staates beschreibt.
Für den Zusammenhang mit der Bakteriologie ist dabei das Kaiserliche Gesundheitsamt von besonderem Interesse. Dieses fungierte, folgt man Göckenjahn, erfolgreich als Schnittstelle staatlicher und berufsständischer Interessen:
Die hauptsächlichen Arbeitsgebiete des KGA sind bis 1900 die Seuchenbekämpfung
durch Förderung der naturwissenschaftlich orientierten Hygiene und Mikrobiologie,
[...] Damit ist das KGA eine zentrale Drehscheibe der naturwissenschaftlichen Medizin
und eine Geburtsstätte der spektakulärsten Demonstrationen ihrer Gemeinwohlfähigkeit - der Seuchenbekämpfung als Bakteriologie [...]8
Was für die ärztliche Standespolitik ein Erfolg war, die öffentlichkeitswirksame Demonstration medizinisch-naturwissenschaftlicher Kompetenz, hatte
auch politische Implikationen, bedeutete doch jetzt „der Ausbruch von Seuchen nicht mehr die Notwendigkeit, Fragen an die gesellschaftlichen Zustände zu stellen, [...].“9 Bakteriologisch begründete Epidemiologie entzog,
so Göckenjahn, Problemlagen dem gesellschaftlichen Diskurs, indem diese
als rein wissenschaftliche definiert wurden. Die von den Bakteriologen definierte „unpolitische Vernunft“10 der Krankheitserreger war insofern politisch.
6
Die wichtigste ältere Biographie ist: Bernhard Möllers: Robert Koch, Persönlichkeit
und Lebenswerk 1843-1910. Hannover 1951. Eine neuere Biographie mit hagiographischem Einschlag: Wolfgang Genschorek: Robert Koch, Selbstloser Kampf gegen
Seuchen und Infektionskrankheiten. Leipzig 1975 ff. Bei Brock (wie Anm.2, S. 317318) findet sich eine Liste der Biographien.
7
Bruno Latour: The Pasteurisation of France. Cambridge, Mass. 1988 (franz. Paris
1984).
8
Gert Göckenjahn: Kurieren und Staat machen. Gesundheit und Medizin in der bürgerlichen Welt. Frankfurt am Main 1985, S. 329-330.
9
Ebd., S. 330.
10 Thomas Gorsboth/Bernd Wagner: Die Unmöglichkeit der Therapie. Am Beispiel der
Tuberkulose. In: Kursbuch Nr. 94. Die Seuche. Berlin 1988, S. 123-45; hier S. 142.
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Ähnlich argumentierte auch Alfons Labisch. Für ihn standen mit der
Durchsetzung der Bakteriologie „fundamentale gesellschaftliche Einstellungen und Werte zur Diskussion“.11 Die neue Wissenschaft ermöglichte es, so
Labisch, Gesundheit als ausschließlich medizinisch-naturwissenschaftliches
Phänomen zu definieren. Besonders im Heeressanitätswesen und im Kaiserlichen Gesundheitsamt zeigten sich für Labisch komplementäre Interessenlagen von staatlichen Institutionen und medizinischer Profession, die über
das Konzept wissenschaftlich definierter und kontrollierter Gesundheit einen Vergesellschaftungsschub initiierten:
Die Bakteriologie entsprach in ihren Interventionsformen dem klassischen staatlichen
Verwaltungshandeln im Gesundheitswesen. Denn sie begründete auf neue Weise die
nunmehr spezifische Isolierung und spezifische Infektion - führte also dazu, daß die
überkommene Gesundheitspolizei auf zeitgemäßem wissenschaftlichen Stand abgesichert und technisiert werden konnte.12
Die weitreichendste These zum Erfolg der Bakteriologie im deutschen Kaiserreich legte 1987 Richard J. Evans vor. Im Zusammenhang seiner Untersuchung der Hamburger Cholera-Epidemie des Jahres 189213 formulierte er
Hypothesen über den Zusammenhang zwischen dem Aufstieg der Bakteriologie, ärztlicher Standespolitik und dem politischen Kontext. Zunächst gelang es Koch, so Evans, durch die Neubegründung der Kontagienlehre die
Verfügungsgewalt der naturwissenschaftlichen Medizin über Gesundheit
und Krankheit zu festigen. Am Beispiel der Cholera formuliert er:
Indem Koch einen unsichtbaren Erreger als Überträger der Krankheit ansetzte und die
Mittel zur Verfügung stellte, mit denen man ihn identifizieren und unschädlich machen konnte, vermochte er die Ansteckungslehre auf eine Weise neu zu formulieren,
daß die wissenschaftliche Medizin für die Choleraverhütung noch dringlicher gebraucht wurde.14
Zum zweiten sah Evans die von Koch so definierte „unpolitische Vernunft“
der Krankheitserreger als kongenial zu den politischen Strukturen ihres
Zeitalters an: „Warum heimste Koch den Ruhm [als Entdecker bakterieller
Krankheitserreger] ein? Die Schlußfolgerung dürfte unausweichlich sein,
daß sein Erfolg vor allem auf gesellschaftliche und politische Faktoren zurückging.“15 Einem innen- wie außenpolitisch auf Intervention und Aggression zielenden Staat konnte die unpolitische Wissenschaft der Bakteriologie
als Legitimation seiner sich ausweitenden Kontrolle der Gesellschaft dienen.
‘Reine’ Wissenschaft und imperialistische Politik waren für Evans in diesem
Sinne komplementär.
11 Labisch (wie Anm.5), S. 133.
12 Ebd., S. 140.
13 Evans (wie Anm.4).
14 Ebd., S. 347.
15 Ebd., S. 344.
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Christoph Gradmann
Evans knüpfte mit seiner Interpretation explizit an die ältere These Erwin
H. Ackerknechts an. Dieser hatte in seiner Arbeit über Anticontagionism
between 1821 and 1867 eine enge Verbindung zwischen Liberalismus und
Antikontagionismus gesehen und geurteilt:
This strange story of anticontagionism between 1821 and 1867 - of a theory reaching
it's highest degree of scientific respectability just before its disappearance; of its opponents suffering its worst eclipse just before its triumph; of an eminently ‘progressive’
and practically sometimes very effective movement based on a wrong scientific theory
[...]16
In Fortsetzung dieser These erschien bei Evans die Bakteriologie als politisch ‘konservative’ aber ebenso effektive Bewegung - auf der Basis einer
zutreffenden wissenschaftlichen Theorie.17
II.
Unbestreitbar gab es also eine Beziehung zu gegenseitigem Nutzen zwischen
preußisch-deutschem Staat und der bakteriologischen Forschung. Das allerdings ist weniger bemerkenswert, als es bis hierher erscheinen könnte:
Die politisch motivierte Förderung und Inanspruchnahme von Großforschung war, nicht nur im deutschen Reich, ein Zug der Zeit. Die Förderung
von Kochs Institut für Infektionskrankheiten oder des Reichsgesundheitsamtes reiht sich in die Gründung anderer universitätsunabhängiger und
staatsnaher Forschungsinstitutionen in diesem Zeitraum.18 Die diesbezügli16 Erwin H. Ackerknecht: Anticontagionism Between 1821 and 1867, In: Bulletin of the
History of Medicine 22 (1948), S. 562-93; hier S. 593.
17 Die bei Evans u.a. analysierte Beziehung zwischen dem preußisch-deutschen Staat und
„seiner“ Bakteriologie, zwischen Politik und Wissenschaft findet eine gewisse Bestätigung im Vergleich der Forschungsstile des Pasteur-Institutes in Paris und Kochs Berliner Institut für Infektionskrankheiten. Kochs Biograph Brock führt dazu, ohne allerdings ins Detail zu gehen, aus: „There was a marked contrast between the French and
the German approaches to infectious diseases. Pasteur and the French school developed treatment for individuals, whereas Koch and the German school developed approaches for the control of infectious diseases in populations. The strong central
government that dominated Germany at that time was probably a major factor in the
success of this approach. [...] The militaristic approach to research of the Koch group
was frequently noted outside Germany.“ Vgl. Brock (wie Anm.2) S. 293.
Paul Weindlings neuerer Vergleich beider Institute kann als Bestätigung von Brocks
These gelesen werden. Ohne zu ähnlich weiten Schlußfolgerungen über die Beziehung
der Kochschen Bakteriologie zu den politischen Strukturen des Kaiserreiches zu gelangen wie die oben referierten Autoren, formuliert er: „There (in Kochs Institut;
d.Verf.) was greater hierarchy, uniformity and direct state and military involvement
than at the Pasteur Institute.“ (Scientific Elites and Laboratory Organisation in fin de
siècle Paris and Berlin. The Pasteur Institute and Robert Kochs Institute for Infectious
Diseases compared, in: Andrew Cunningham u. Perry Williams (Hg.): The Laboratory Revolution in Medicine, Cambridge 1992, S. 170-188; hier: S. 184.)
18 Als Überblick: Gerhard A. Ritter: Großforschung und Staat in Deutschland. Ein historischer Überblick. München 1992. Rudolf Vierhaus/Bernhard vom Brocke (Hg.):
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che, mit dem berühmten ‘System Althoff’ verbundene Politik des Preußischen Kultusministeriums hat in den letzten Jahren einige Aufmerksamkeit
gefunden.19 Auch wenn durchaus ein Zusammenhang zwischen Bakteriologie und Politik erkennbar ist, bleibt doch unklar, ob er sich exklusiv auf die
Kochsche Bakteriologie beziehen läßt.
Zudem hat sich die Forschung bislang darauf beschränkt, das gesellschaftliche Umfeld ziemlich einseitig als Wechselspiel von Staat und Wissenschaft
zu beschreiben, andere Rahmenbedingungen blieben demgegenüber außen
vor. Dabei wirft gerade das bekanntermaßen große öffentliche Aufsehen,
das Koch mit seinen Entdeckungen erregte und das in den genannten Darstellungen als gegeben vorausgesetzt wird,20 die Frage auf, wie dieses Aufsehen beschaffen war und in welcher Weise es zur Wahrnehmung der Kochschen Arbeiten als wissenschaftlicher Fortschritt - und damit zu ihrer raschen Durchsetzung - beigetragen hat.
Die publizistische Dimension des Erfolges der Bakteriologie verweist darauf, daß dieser Erfolg nicht allein ein staatlich forcierter, sondern eben
auch ein öffentlich inszenierter war. Entsprechend fehlte es in der Erfolgsgeschichte der Kochschen Bakteriologie nicht an widersprüchlichen Phänomenen, die dieses illustrieren. In der verständlichen Euphorie über die bakteriologische Entschlüsselung der Krankheiten wurde vielfach übersehen,
daß sich die Heilungsaussichten damit in der Regel nicht besserten.21 Gerade diese Erwartung war es aber, die die Umdeutung eines medizinischsozialen Phänomens in ein rein medizinisches beförderte. Diese Euphorie
über die eigene Entdeckung kam bei Koch deutlich zum Ausdruck. Er formulierte 1882 nach der Entdeckung des Tuberkuloseerregers:
Bisher war man gewöhnt, die Tuberculose für den Ausdruck des sozialen Elends anzusehen und hoffte von dessen Besserung auch eine Abnahme dieser Krankheit. Eigentliche gegen die Tuberculose selbst gerichtete Maßnahmen kennt deswegen die Gesundheitspflege noch nicht, aber in Zukunft wird man es im Kampf gegen diese
Forschung im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft. Geschichte und Struktur
der Kaiser-Wilhelm-/Max-Planck-Gesellschaft. Stuttgart 1990.
19 Bernhard vom Brocke (Hg.): Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftspolitik im
Industriezeitalter. Das „System Althoff“ in historischer Perspektive. Hildesheim 1991.
20 Bei Möllers (wie Anm.6) ist es in epischer Breite dokumentiert.
21 Dies ist ein Punkt, der in der oben angeführten Literatur nur wenig Beachtung findet,
ja reproduziert wird. Wenn z.B. Evans (wie Anm.4) davon spricht, Koch habe Bacillen „identifizieren und unschädlich machen“ (S. 347) können, so wird nicht deutlich,
daß de facto die Anwendungen der Bakteriologie auf reine Prävention beschränkt blieben. Vgl. zur Kritik der Rolle der Medizin bei Seuchenbekämpfung: Thomas McKeown: Die Bedeutung der Medizin. Frankfurt am Main 1982; als Forschungsüberblick:
Roland Otto/Reinhard Spree/Jörg Vögele: Seuchen und Seuchenbekämpfung in deutschen Städten während des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Stand und Desiderate der
Forschung. In: Medizinhistorisches Journal 25 (1990), S. 286-304.
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schreckliche Plage des Menschengeschlechtes nicht mehr mit einem unbestimmten
Etwas, sondern mit einem faßbaren Parasiten zu tun haben, [...]22
Die Hoffnungen, die sich an die neue Wissenschaft knüpften, waren hoch.
Ein unter dem Titel Koch, dem Bacillentödter im November 1890 in der satirischen Zeitschrift Ulk veröffentlichtes Gedicht illustriert die Erwartungen, die
an die Bakteriologie formuliert wurden:
[...] Du großer Mann, und wenn ein Gott dir gab,
Der herbsten Wunde Heilung zu ergründen,
Wird die Geschichte Deinen Namen künden
Weit über unser Grab
Doch naget an uns noch manch' anderer Feind Vielleicht, wenn des Glückes Sonne Dir scheint,
Schickst Du auch diese zum Teufel,
Sie schleichen tückisch von Mann zu Mann,
Sie stecken meuchlings Tausende an, Bacillen ohne Zweifel.
Wer treibt in Afrika zur Sklavenjagd?
Und in Europa, dem viel besseren Lande,
In Schwindelgründung, Spiel und Contrebande,
Die auch da Leben wagt?
Bacillus „auri sacra fames“,
So heiße er Deiner Lehre gemäß,
Der nimmersatte Schlinger;
Dem Forscherblick zeigt er sich bald
In seiner widrigen Gestalt
Wie ein gekrümmter Finger.
Von wannen stammt das häßliche Geschwür,
Das westwärts eitel als „Revanche“ gleißet,
Im rauhen Osten „Panslawismus“ heißet
Und Klassenhetze hier?
Es ist der Erreger der Epidemie
Bacillus communis odii
Und gleich einem spitzigen Messer, Die allgemeine Verbrüderungskur
Erwies sich da als schwächlich nur,
Gib Du uns ein Mittel das besser. [...]23
Weniger die - angesichts der bedrohlichen Krankheiten, um die es ging,
und der Technikgläubigkeit des Zeitalters - verständlicherweise überzogenen
Erwartungen interessieren hier als die Begriffe, in die sie gekleidet wurden.
Diese deuten darauf hin, daß den durch die Bakteriologie veränderten wissenschaftlichen Krankheitsbegriffen ebenso spezifische populäre Vorstellun22 Die Ätiologie der Tuberculose, 1882. In: Robert Koch: Gesammelte Werke, hg. v. J.
Schwalbe, 2 Bde. Leipzig 1912, Bd.1, S. 444.
23 Koch, dem Bacillentödter. In: Der Ulk, 7.11.1890 (Nr. 45), S. 6. Hervorhebungen im
Original.
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gen über Wesen, Verbreitung und Therapie von Krankheiten entsprachen.24
Die in der Form sprachlicher und visueller Bilder, also in metaphorischer
Weise, verarbeitete Bakteriologie stand in einer anzunehmenden komplexen
Beziehung mit der Wissenschaft und der sie umgebenden Gesellschaft.
Nun hat die neuere wissenschaftsgeschichtliche Forschung den Zeichencharakter wissenschaftlicher Abbildungen in semiotischer Hinsicht thematisiert25 und dabei methodische Anleihen bei der strukturalistischen Linguistik gemacht. Ebenso sollen auch hier Popularisierungen nicht einfach als
Illustrationen bestimmter Sachverhalte aufgefaßt werden, sondern - im Sinne der von der amerikanischen intellectual history entwickelten Methoden als symbolische Repräsentationen, die wissenschaftliche und gesellschaftliche Diskurse über Krankheiten vermitteln und selbst Teil dieser Diskurse
sind.26
Systematischen Überlegungen zu solchen populären Krankheitsbegriffen
seien zunächst noch einige Beispiele vorweggeschickt. Vorstellungen dieser
Art deuten sich schon bei Koch selbst an: Dort wo der ansonsten überaus
trockene Autor sich um die Veranschaulichung seiner Forschungen bemüht, verwendet er charakteristische Metaphern von Verbrechen und
Krieg. So spricht er vom „Kriege gegen die kleinsten, aber gefährlichsten
Feinde des Menschengeschlechts“.27 Auch sonst finden sich häufig militärische Fachausdrücke als sprachliche Bilder wieder. Die Auswirkungen der
von ihm geklärten Ätiologie der Cholera beschrieb Koch im Jahre 1902
retrospektiv wie folgt:
Früher verhielt man sich (gegenüber der Cholera; d.Verf.), ich möchte sagen, mehr defensiv. Man versuchte so viel wie möglich für Reinlichkeit zu sorgen, die Wasserverhältnisse zu verbessern, Das geht aber, wie gesagt, nur an bestimmten Punkten, die
24 Systematische Untersuchungen zu solchen populären Krankheitsbegriffen sind bislang
selten. Als Einführung: Roy Porter (Hg.): The Popularisation of Medicine 1650-1850.
London/NY 1992.
25 Vgl. einführend mit Literatur: Albert Cambrosio/Daniel Jacobi/Peter Keating: Ehrlich's „Beautiful Pictures“ and the Controversial Beginnings of Immunological Imaginary. In: Isis 84 (1993), S. 662-699; aus kunsthistorischer Sicht thematisiert Astrit
Schmidt-Burkhardt die Ästhetik des mikroskopischen Blicks: Sehende Bilder. Die Geschichte des Augenmotivs seit dem 19. Jahrhundert. Berlin 1992, S. 195-226.
26 Grundlegend für das Verständnis des Verf. sind die Arbeiten Dominck LaCapras:
ders.: Geistesgeschichte und Interpretation. In: ders./Steven L. Kaplan (Hg.), Geschichte denken. Neubestimmung und Perspektiven europäischer Geistesgeschichte,
Frankfurt am Main 1988, S. 45-86; ders.: Geschichte und Kritik. Frankfurt am Main
1987; einführend in Literatur und aktuelle Debatten: Karin J. MacHardy: Geschichtsschreibung im Brennpunkt postmoderner Kritik. In: Österreichische Zeitschrift für
Geschichtswissenschaften 4 (1993), S. 337-369; zur Entwicklung historischer Methoden nach der ‘linguistischen Wende’ John E. Toews: Intellectual History After the
Linguistic Turn: the Autonomy of Meaning and the Irreducibility of Experience. In:
American Historical Review 92 (1987), S. 879-907.
27 Koch, Über bakteriologische Forschungen (1890), Werke (wie Anm.22), Bd.1, S. 660.
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Christoph Gradmann
man in dieser Beziehung etwa wie Festungen bezeichnen könnte, hinter die man sich
verschanzte. [...] Wir sind von diesem defensiven Standpunkte ganz abgegangen und
haben die Offensive ergriffen.28
Militärische Metaphern zeigten eine hohe Affinität zu Bildern des Kriminellen. Bakterien bzw. bakteriell verursachte Krankheiten erscheinen dann als
Verbrecher. Über Heeresseuchen formulierte Koch:
Schon im Frieden schleichen sie umher und zehren am Mark der Armee, aber wenn die
Kriegsfackel lodert, dann kriechen sie hervor aus ihren Schlupfwinkeln, erheben das Haupt zu
gewaltiger Höhe und vernichten alles, was ihnen im Wege steht. Stolze Armeen sind schon
oft durch Seuchen dezimiert, selbst vernichtet; Kriege und damit das Geschick der
Völker sind durch sie entschieden.29
Mit solchen Assoziierungen stand der Forscher nicht allein. Bilder von
Krieg und Verbrechen erfreuten sich in der Popularisierung der Bakteriologie generell großer Beliebtheit. Das belegt das Liederbuch für deutsche Ärzte
und Naturforscher von 1892.30 Es enthält eine große Zahl von Liedern, in
denen die angesprochene Metaphorik reichlich verwendet wird. Da ist von
einem „glorreichen Vernichtungskrieg [gegen] das gesamte Microgesindel“31
die Rede und nach der Melodie von „Vom hohen Olymp herab“ durfte das
Lied „Krieg den Bacterien!“ gesungen werden:
Der Geist der Medizin ist leicht zu fassen,
Man durchstudieret die Bacterienwelt,
Nicht um am Ende Alles geh'n zu lassen,
Wie es dem lieben, gnäd'gen Gott gefällt, Nein, auf Collegen, zum fröhlichen Krieg
Mit den Bacterien, - uns winket der Sieg!
[...]
Dort wo die Lotosblum' am Ganges blühet,
Wächst auch der Kommapilz im trüben Tank,
Vor welchem der Kulturmensch ängstlich fliehet, Der das entdeckte, Koch, sei tausend Dank!
Kennt man den Feind erst von Angesicht,
Fehlt es auch sicher an Mitteln uns nicht. [...]32
Auch die 'Gegner’ kommen im Liederbuch zu Wort, so in „Der TuberkelBacillen Klage“:
Ein grosser Theil der Menschen fand
Durch uns den frühen Tod;
28 Koch, Die Bekämpfung des Typhus (1902), Werke (wie Anm.22), Bd.2.1, S. 298. Hervorhebungen d.Verf.
29 Koch, Die Bekämpfung der Infektionskrankheiten, insbesondere der Kriegsseuchen,
1888, Werke (wie Anm.22), Bd.2.1., S. 277, Hervorhebungen d. Verf.
30 2. Absch., Ambrosia und Nektar, ges. und geordnet von Dr. med. Korb-Döblen.
Hamburg 1892.
31 Ebd., S. 479-480.
32 Ebd., S. 467-468.
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„Auf Collegen zum fröhlichen Krieg“
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Wir hausten überall im Land
Und kannten keine Not.
[...]
Wir pflanzten uns wie Sand am Meer
Durch Sprossenbildung fort;
Wir waren ein gar stattlich Heer,
Und all von einer Sort.
[...]
Nicht leichten Kauf's d'rum scheide ich, Das Herrschen war so schön;
Ich will, sind Götter gegen mich,
Nur kämpfend untergehen.
D'rum öffne, Koch, jetzt das Visier,
Wir sind zum Kampf bereit;
Gebührt die Palme Dir ob mir,
Das lehret erst die Zeit. [...]33
Aus den angeführten Beispielen wird deutlich, worin das Charakteristische
der Popularisierungen besteht. Die Typik eines popularisierten, auf Bakteriologie beruhenden Krankheitsverständnisses läßt sich in vier Punkten zusammenfassen:
1.
Zwischen Krankheit und Erreger wird nicht unterschieden. 'Umherschleichende Kriegsseuchen’ sind das eine so gut wie das andere. Analog läßt sich die Therapie zum 'fröhlichen Krieg mit den Bacterien’
metaphorisieren.
2.
Auffällig ist, daß ein eigenständiger Krankheitsprozeß nicht angenommen wird. Demgegenüber treten Infektion und Therapie in den
Vordergrund, zumeist in der charakteristischen Veranschaulichung
eines Angriffs (der Bakterien), auf den eine Gegenattacke (der Ärzte)
folgt. Die Krankheitserreger werden personifiziert und selber zu handelnden Wesen. 'Krankheit’ erscheint als Auseinandersetzung von
Bakterien und Ärzten. Es gilt, 'den Feind von Angesicht' kennenzulernen, gegen ihn die 'Offensive’ zu ergreifen.
3.
Zusammen mit dem Krankheitsprozeß verflüchtigt sich auch der
Kranke, bzw. er wird mit der Krankheit identifiziert: In Abwesenheit
des Kranken wurde Krankheit zum Duell von Ärzten und Krankheitserregern stilisiert.34
33 Ebd., S. 475-476.
34 Vgl. Gorsboth/Wagner (wie Anm.10), S. 142: „[es] machte sich im Gefolge der von
Koch verkündeten quasi-Ubiquität des Tuberkelbazillus ein Vulgärkontagionismus
breit, der zunehmend die Erkrankten mit den Krankheitserregern identifizierte; [...].“
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4.
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Erkennbar wird in den Popularisierungen und ihren Bildern also eine
zweite, gewissermaßen symbolische Bakteriologie, die die neue Wissenschaft „verständlich“ macht, indem sie sie in das rhetorische Arsenal der Gegenwartssprache inkorporiert und diese dabei gleichzeitig
weiterentwickelt.
Konkret ist - in der Popularisierung wohlgemerkt - eine gewisse Militarisierung der Medizin und ihres Krankheitsverständnisses zu beobachten. Bakterien werden zu Feinden, Ärzte zu Verteidigern, die ihrerseits zu Angreifern werden, stilisiert. Die Metaphern, deren man sich dabei bediente, waren allerdings nur in geringem Maße spezifisch, vielmehr erkennbar dem
rhetorischen Arsenal des aggressiven Nationalismus im Zeitalter des Imperialismus entliehen. Im Fall des Wilhelminischen Deutschland, das hier in
den Blick genommen wird, bedeutete das: einfaches Freund-Feind-Denken,
das Ziel der Isolierung von Gegnern und ihre darauffolgende Vernichtung
und die nicht hinterfragte Verteidigung des Status Quo gegen alles, was von
außen kommt.35
Unabhängig davon, daß sich die neue Wissenschaft massiver staatlicher
Unterstützung erfreute und sich ihre Ergebnisse in Auseinandersetzungen
mit älteren Krankheitstheorien als zutreffend erwiesen, war ihr Erfolg auch
darauf zurückzuführen, daß sie überaus leicht popularisierbar war. Gegenüber einer einfachen militärischen Metaphorik, wie sie die Medizin vermutlich schon immer begleitet, bot die Bakteriologie das Novum einer anschaulichen Personalisierung der Krankheit als Bacterium. Der rasche Erfolg ist
damit auch auf einen Dialog zwischen medizinischer Theorie und der zeitgenössischen politischen Sprache zurückzuführen, der der neuen Wissenschaft Popularität und Plausibilität verschaffte.
„Es begann eben auch in der Medizin damals etwas laut herzugehen: Der
Theaterdonner der Epoche Wilhelms II. hat auch Medizin und Hygiene
nicht verschont“36; so formulierte es ein Zeitgenosse. Die Bakteriologie besaß - wie die jüngere Forschung gezeigt hat - nicht allein in ihren wissenschaftlichen Resultaten und Institutionen eine Affinität zum sich ausbildenden Interventionsstaat, vielmehr bildete sich in Anlehnung an sie ein dem
Zeitgeist und seiner Politik komplementärer populärer Krankheitsbegriff
aus. Im Verständnis von Krankheit als Angriff von Mikroben war eine
pseudowissenschaftliche Rechtfertigung einfachen Freund-Feind-Denkens
angelegt. Durch die Wissenschaftsgläubigkeit der Epoche und ihre damit
einhergehende Neigung zu biologistischer Begriffsbildung in der politischen
Sprache wurde dies noch befördert. Die neue Wissenschaft ließ sich als Be35 Vgl. zur semantischen Verbindung von Nationalismus und Imperialismus: Dieter
Groh: Imperialismus. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hg v. Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart
Koselleck, Bd.3. Stuttgart 1982, S. 171-236; bes. S. 192-211.
36 Alfred Grotjahn: Erlebtes und Erstrebtes. Erinnerungen eines sozialistischen Arztes.
Berlin 1932, S. 51, nach: Gorsboth/Wagner (wie Anm.10), S. 131.
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„Auf Collegen zum fröhlichen Krieg“
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stätigung eines aggressiven und nationalistischen Verständnisses von Politik
auffassen, und sie erweist sich als echtes Kind ihres Zeitalters. Für das deutsche Kaiserreich bedeutet das: In zumeist militärischen Metaphern mit dichotomischer Struktur reproduzierte die Bakteriologie das sich in den
1890er Jahren ausbreitende apokalyptische und aggressionsgeladene Lebensgefühl der 'Wilhelminer’.37
III.
Um die formulierte Hypothese zu überprüfen, erscheint es notwendig, die
Verwendung der skizzierten Metaphorik innerhalb eines konkreten historischen Zusammenhangs zu rekonstruieren. Als ein solcher bietet sich der
sogenannte Tuberkulinrausch des Jahres 1890/91 an. Zunächst haben an
ihm bereits verschiedene Autoren die Verquickung von Politik und Wissenschaft, die diese Affäre auszeichnete, analysiert,38 gleichzeitig ist die dramatische Reaktion der Öffentlichkeit auf das von Koch entwickelte, als Tuberkulin bekannt gewordene Mittel39 für den hier diskutierten Zusammenhang
von besonderem Interesse. Auf die Euphorie über ein angenommenes
Heilmittel folgte, als eindeutige Heilerfolge ausblieben, maßlose Enttäuschung. In welchem Umfang fanden nun die Metaphern der popularisierten
Bakteriologie Verwendung in Tuberkulinrausch und -kater, und wenn ja,
welche Bedeutung ist ihnen jeweils zuzuschreiben?
Die Ereignisse selbst lassen sich in wenigen Worten zusammenfassen: Robert Koch war im August 1890 mit der Mitteilung an die Öffentlichkeit
getreten, ein Heilmittel gegen Tuberkulose gefunden zu haben. Der im öffentlichkeitswirksamen Rahmen des 10. Internationalen Medizinischen
Kongresses gehaltene Vortrag schloß mit den pathetischen Worten:
37 Vgl. zur Mentalitätsgeschichte des Wilhelminismus: Martin Doerry: Übergangsmenschen. Die Mentalität der Wilhelminer und die Krise des Kaiserreiches, mit einem Ergänzungsband. München 1986; Klaus Vondung (Hg.): Das wilhelminische Bildungsbürgertum. Zur Sozialgeschichte seiner Ideen. Göttingen 1976. Sehr gut zum apokalyptischen Lebensgefühl: Roger Chickering: We Men Who Feel Most German. A Cultural Study of the Pan-German League, 1886-1914. Boston etc. 1984. Zum Biologismus: Gunter Mann (Hg.): Biologismus im 19. Jahrhundert. Stuttgart 1973.
38 Barbara Elkeles: Der „Tuberkulinrausch“ von 1890. In: Deutsche medizinische Wochenschrift 115 (1990), S. 1729-1732; dies.: Der moralische Diskurs über das medizinische Menschenexperiment zwischen 1835 und dem ersten Weltkrieg. Habilschr.,
Typoskript, Hannover 1991, S. 230-250; Wolfgang U. Eckart: Friedrich Althoff und
die Medizin. In: vom Brocke (wie Anm.19); Gorsboth/Wagner (wie. Anm.10); B.
Opitz u. H. Horn: Die Tuberkulinaffäre. Neue medizinhistorische Untersuchungen
zum Kochschen Heilverfahren. In: Zeitschrift für die gesamte Hygiene 30 (1984), S.
731-34.
39 Der Name „Tuberkulin“ bürgerte sich erst Anfang 1891 ein, zunächst wurde zumeist
als „Kochsche Lymphe“ oder auch als „Kochsches Heilverfahren“ bezeichnet, Brock
(wie Anm.2), S. 212.
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Christoph Gradmann
Und so lassen Sie mich diesen Vortrag schließen mit dem Wunsche, daß sich die
Kräfte der Nationen auf diesem Arbeitsfelde und im Kriege gegen die kleinsten, aber
gefährlichsten Feinde des Menschengeschlechtes messen mögen und daß in diesem
Kampfe zum Wohle der gesamten Menschheit eine Nation die andere in ihren Erfolgen immer wieder überflügeln möge.40
Anfang November schließlich kam das Heilmittel an die Öffentlichkeit41,
die enthusiastisch reagierte: Auf die überstürzte Anwendung folgten innerhalb weniger Tage übereilte Meldungen über Heilerfolge, es entstand eine
schwer nachvollziehbare euphorische Stimmung, die sich nicht allein in der
ärztlichen Fachpresse niederschlug: Große Tageszeitungen richteten tägliche
Kolumnen mit Überschriften wie „Dr. Koch“, „Das Kochsche Heilverfahren“42 u.ä. ein, die mit immer neuen Meldungen über Anwendung und Erfolge das Prestige des Mittels und seines Erfinders noch vergrößerten. Berlin
wurde, wie es die Vossische Zeitung ausdrückte, zum „Wallfahrtsort für Ärzte
aller Länder“43, und man darf hinzufügen: auch für Patienten. Bei alledem
war Tuberkulin zunächst ein Geheimmittel. Über seine Zusammensetzung
war monatelang nichts zu erfahren, und es war nur über einen Mitarbeiter
Kochs zu beziehen.44
Abb. 1 (Aus: Kladderadatsch, 23.11.1890). Personifizierung der Krankheit im Bakterium:
die in Stäbchenform geläufigen Krankheitserreger werden zu Strichmännchen.
40 Koch, Über bakteriologische Forschung (1890), Werke (wie Anm.22), Bd. 1, S. 660.
Zum Rahmen des Vortrags: Rolf Winau: Bakteriologie und Immunologie im Berlin
des 19. Jahrhunderts. In: Naturwissenschaftliche Rundschau 43 (1990), S. 369-377;
bes.S. 370.
41 Elkeles, Tuberkulinrausch (wie Anm.38), S. 1729.
42 Kölnische Zeitung und Neue Preußische (Kreuz-)Zeitung.
43 Vossische Zeitung 21.11.1890 (Nr.545).
44 Brock (wie Anm.2), S. 201-11.
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„Auf Collegen zum fröhlichen Krieg“
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Die beschriebene Metaphorik fand im Zusammenhang der Begeisterung
über die Kochsche Entdeckung natürlich große Verbreitung. So etwa in
einer im Kladderadatsch vom 23. November 1890 veröffentlichten Karikatur,
die einige Elemente der populären Krankheitsvorstellungen enthält, besonders deutlich die Identifizierung von Krankheit und Erreger, in diesem Falle
durch Personifizierung der Krankheit. Ein anderes Beispiel liefert die satirische Beilage der Vossischen Zeitung, der Ulk. Dort findet sich am 9. Januar
1891 ein Bericht „Vom ersten internationalen Bacillenkongreß“45, der - der
Lage der Dinge gemäß - als ausgesprochene Krisensitzung gestaltet ist. In
die „etwas gedrückte Stimmung“ hinein wurde seitens einiger Bazillen der
Antrag gestellt
[...] sich erstens so energisch als möglich zu vermehren, zweitens jeden verfügbaren
Nährboden schleunigst zu besiedeln und so dem Menschengeschlecht Krieg bis auf's
Messer zu erklären, [...]
Der Antrag wurde allerdings abgelehnt. War doch die Mehrheit der anwesenden Bazillen der Meinung,
daß nach der Koch'schen Entdeckung natürlich in den Kulturstaaten ferner nicht
mehr ihres Bleibens sei; sie hätten daher beschlossen auszuwandern und hofften in
den Lungen und Gelenken der menschenähnlichen Affen Inner-Afrika's noch eine
Zeitlang ihr Fortkommen zu finden.
Die Liste der Beispiele ließe sich verlängern: praktisch alle der oben zitierten Beispiele entstanden in diesem Zusammenhang, ebenso die geläufige
Abbildung Kochs als „neuer Ritter St.Georg“ (Abb. 2). Die Metaphorik der
popularisierten Bakteriologie nahm also im Tuberkulinrausch einen kräftigen Aufschwung.46
Die Beziehung, in der die sprachlichen und sonstigen Bilder zu aggressiven
und nationalistischen Politikverständnissen standen, ist dennoch komplizierter, als anzunehmen wäre. Auch wenn die beschriebene Metaphorik im
näheren Zusammenhang mit der Krankheit und ihrer Bekämpfung reichlich Verwendung fand, so waren doch chauvinistische u.ä. Untertöne in der
Kommentierung der Ereignisse eher selten. Zwar war davon die Rede, die
Entdeckung trüge „den Stempel der deutschen Wissenschaft“,47 und es fehlte auch nicht an hämischen Kommentaren in Richtung der französischen
Konkurrenz.48 Insgesamt aber dominierte eher Menschheitspathos, das mit
45 Ulk, Nr.2, 9.1.1891.
46 Aufgrund der Anlage der Untersuchung ist es nicht möglich zu klären, ob die Metaphorik der Bakteriologie dort auch ihren Ausgang nahm.
47 Max Salomon: Eine Großthat der Wissenschaft. Robert Koch und die Heilung der
Lungenschwindsucht. In: Die Gartenlaube, Nr.47 1890, S. 808-812; hier S. 808.
48 Zu den medizinischen Fachzeitschriften: Elkeles, Tuberkulinrausch (wie Anm.38), S.
1729. Nationalistische Töne finden sich besonders in der für ihren ruppigen Nationalismus bekannten Kreuzzeitung. So z.B. am 30.11.1890, als man über „zwei französische Ärzte, die sich dadurch beleidigt fühlen, daß der ´Prussien` Koch auf eigene Faust
ein Heilmittel gegen die Tuberkulose gefunden und nicht auf seine französischen Kol-
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Hinweisen auf die deutsche Wissenschaft angereichert wurde, so etwa in der
Vossischen Zeitung vom 29. November 1890. Dort hielt man fest, daß „[...]
Kochs Forscherdrang und Wahrheitsliebe nur erreicht werde von seiner
Uneigennützigkeit und Liebe zur Menschheit [...]“49. Und wenn die Kölnische
Zeitung in einem Stimmungsbericht aus den Davoser Sanatorien formulierte: „Wie ein Frühlingssturm ist die Hoffnung in viele Tausend längst verzagte Herzen eingezogen [...] Der Name Koch schwebt auf aller Lippen“,50
sich aber jeglicher Anspielungen auf einen Triumph deutscher Wissenschaft
völlig enthielt, so lag auch dies auf der Linie. Der preußische Landtag, der
sich am 29. November 1890 eigens mit der Förderung der Kochschen Forschungen befaßte, blieb in der Tonlage moderat: Man feierte einen Triumph „deutscher Wissenschaft“, dieser blieb aber eingebunden in den
„Fortschritt der Kulturnationen“, hämische Kommentare etwa in Richtung
der französischen Konkurrenz unterblieben. Der Abgeordnete Graf formulierte:
Meine Herren, ich halte mich für berechtigt, an dieser Stelle der hohen Freude Ausdruck zu geben, daß es einer der Unsrigen war, dem diese folgenschwere Entdeckung
gelungen ist, (lebhaftes Bravo) daß der Lorbeer, welcher heute von allen Kulturnationen unserm großen Landsmanne dargebracht wird, zugleich eine Huldigung für deutsche Wissenschaft und deutsche Forschung darstellt. (Bravo!)51
Der preußische Kultusminister Goßler, einer der wichtigsten Förderer
Kochs, schloß mit den Worten:
[...], daß, wenn ich aus dem Amte scheide, es kaum eine glücklichere Erinnerung für
mich geben wird, als das Glück gehabt zu haben, einem Manne wie Koch den Weg zu
ebnen. Seine Forscherkraft und seine Wahrheitsliebe wird nur erreicht von seiner Uneigennützigkeit und seiner Liebe zur Menschheit, und ich glaube, unser Vaterland
kann glücklich sein, einen solchen Sohn sein eigen zu nennen. (Lebhaftes Bravo und
Beifallklatschen)52
Damit ergibt sich für den sogenannten Tuberkulinrausch das Problem, daß
in seinem Umfeld die Ausbildung eines spezifischen populären Krankheitsverständnisses zu beobachten ist, das in seiner Aggressivität große Nähe zu
legen gewartet hat“ berichtete. Gemeint sind die Bakteriologen Richet und Héricourt,
die an einem Blutserum gegen Tuberkulose arbeiteten.
49 Die Interpellation über das Koch'sche Heilverfahren, Vossische Zeitung 29.11.1890
(Nr. 560).
50 Davos und die Kochsche Entdeckung, Kölnische Zeitung, 18.11.1890 (Nr.320).
51 Stenographische Berichte über die Verhandlungen beider Häuser des Landtages. Haus
der Abgeordneten, 29.11.1890, S. 191-192. Zur Geläufigkeit der Verweise auf die
„Deutsche Wissenschaft“ vgl. Jutta Kollenbrock-Netz: Wissenschaft als nationaler Mythos. Anmerkungen zur Haeckel-Virchow Kontroverse auf der 50. Jahresversammlung
der deutschen Naturforscher und Ärzte in München (1877). In: Jürgen Link/Wulf
Wülfling: Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Stuttgart 1991, S. 212-236; Pierangelo Schiera: Laboratorium der bürgerlichen Welt.
Deutsche Wissenschaft im 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1992, bes. S. 211-256 .
52 Ebd., S. 201.
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„Auf Collegen zum fröhlichen Krieg“
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imperialismus-typischen Denkmustern zeigt, während andererseits eine solche Beziehung in der politischen Öffentlichkeit zur Zeit des Tuberkulinrausches ohne Bedeutung ist. Die aggressive und martialische Metaphorik der
Bakteriologie steht vielmehr in auffälligem Kontrast zur pathetischen Gemütslage der politischen Kommentatoren der Zeit. Diese zogen es statt dessen vor, auf die Rhetorik einer Förderung des Menschheitswohles durch die
Wissenschaft zu rekurrieren.
Dies änderte sich mit dem Frühjahr 1891, als klar wurde, daß eine Heilung
der Tuberkulose vom Kochschen Heilmittel nicht zu erwarten war. Zwar
erreichte der „Tuberkulinkater“, nach dem Presseecho zu urteilen, bei weitem nicht das Ausmaß der vorangegangenen Euphorie, dennoch befanden
sich Koch und die, die ihn unterstützten, nun in Rechtfertigungszwängen.
Kritik an der tatsächlichen oder beabsichtigten Geschäftemacherei Kochs
und anderer mit dem Tuberkulin wurde jetzt weit offener formuliert.53 Es
gilt als sicher, daß die Durchsetzung von Behrings und Kitasatos Diphtherieserum ab 1891 durch diese Diskussion wesentlich erschwert wurde.54
In dieser Situation hatte sich am 9. Mai 1891 der preußische Landtag erneut mit den Kochschen Forschungen zu befassen. In der 'Jubelsitzung' des
29. November 1890 war die Gründung des Institutes für Infektionskrankheiten beschlossen worden. Nun stand der erste Jahresetat zur Debatte und
das preußische Kultusministerium vor der Notwendigkeit, seine Rolle in der
Tuberkulinaffäre im allgemeinen und den Etat in Höhe von RM 165.000
im besonderen zu rechtfertigen.
Gegen die Kritiker des preußischen Kultusministeriums, unter ihnen auch
Virchow, griff nun der Ministerialdirektor Friedrich Althoff an zentraler
Stelle seiner Ausführungen auf die kriegerische Metaphorik zurück und setzte sie gezielt als Rechtfertigung ein. Kurz auf die geläufigen Stilisierungen
der Bakterien als militärische Gegner anspielend, erklärte er die medizinische Wissenschaft seinerseits zur kriegführenden Partei, der man Unterstützung nicht versagen dürfe:
Wenn Sie sich aber die großen Aufgaben vergegenwärtigen, welche dem Institut [für
Infektionskrankheiten] gestellt sind, dann werden Sie selber sagen, daß da mit kleinen
Mitteln nichts gemacht werden kann; es muß, wenn der Kampf gegen die Infektionskrankheiten wirksam unternommen werden soll, eine vollständige wissenschaftliche
Mobilmachung erfolgen, da darf es in nichts an der Rüstung fehlen.55
53 Zum finanziellen Gebaren Kochs besonders: Opitz/Horn (wie Anm.38) und sehr polemisch Gorsboth/Wagner (wie Anm.10.), S. 132-133.
54 Vgl. Elkeles, Menschenexperiment (wie Anm.38), S. 251; Rolf Winau: Serumtherapie:
Die Entdeckung eines bahnbrechenden Therapieprinzips im Jahr 1890. In: Deutsche
Medizinische Wochenschrift 115 (1990), S. 1883-1886.
55 Stenographische Berichte (wie Anm.51), 9.5.1891, S. 2264. Althoff ergriff in der Debatte an Stelle des zwischenzeitlich zurückgetretenen Goßler das Wort.
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Christoph Gradmann
Flankiert wurde diese Apologie - in auffälligem Kontrast zum Menschheitspathos der Zeit des Tuberkulinrausches - durch ausdrücklichen Verweis auf
die nationalstaatliche Konkurrenz:
Die Sache hat auch eine patriotische Seite. Es handelt sich um einen Ehrenpunkt für
die deutsche Wissenschaft. Meine Herren, die deutsche Forschung hat vorzugsweise
das Verdienst, die Ursache der Infektionskrankheiten - und ich habe auch die Männer
schon genannt - nachgewiesen zu haben. Es sind uns andere Staaten mit ähnlichen
oder verwandten Instituten vorausgegangen. [...] Wir möchten nicht zuweit hinter
ihnen zurückbleiben, wir möchten ihrem Vorgange folgen, wir möchten, daß Sie die
deutsche Wissenschaft in den Stand setzen, das zu vollenden, was sie angefangen hat,
da zu ernten, wo sie gesät hat.56
Die vaterländische Rhetorik Althoffs diente nicht nur illustrativen Zwecken.
Vielmehr lag die Bedeutung der militärischen Metaphorik vor allem darin,
daß sie dem Redner Argumente zur Nützlichkeit der Bakteriologie zumindest teilweise ersparte. Metaphern nehmen die Stelle von Argumenten ein.
Statt auf wissenschaftliche Begründungen greift Althoff auf den beschriebenen populären Diskurs der Bakteriologie zurück: Wo, wie gezeigt, der
Schlachtruf „Krieg den Bacterien“ ebenso populär wie unkontrovers ist,
bleibt gegen eine „wissenschaftliche Mobilmachung“ nur wenig einzuwenden. Die von Althoff verwendete Metaphorik produzierte das, was der französische Philosoph Roland Barthes einen Alltagsmythos genannt hat: „Die
Welt tritt in die Sprache als eine dialektische Beziehung von Tätigkeiten,
von menschlichen Akten ein, sie tritt aus dem Mythos hervor als ein harmonisches Bild ...“.57 Der Mythos stattet Problematisches mit dem Anschein des Selbstverständlichen aus, Geschichte wird als Natur maskiert
und der Notwendigkeit zur Rechtfertigung enthoben. Tatsächlich fanden
Althoffs Ausführungen in der Debatte, in der es vordem heftige Einwendungen gegeben hatte, kaum Widerspruch, und der erste Jahresetat des Institutes wurde genehmigt.58
IV.
Neben der staatlichen Förderung der Bakteriologie, besonders durch das
preußische Kultusministerium, hat also auch die spezifische Form der öffentlichen Wahrnehmung der neuen Wissenschaft zu deren raschem Erfolg
beigetragen. Zentral dafür war, daß sich ein spezifischer populärer Krankheitsbegriff ausbildete. Auf dem Wege über metaphorische Popularisierungen entwickelte sich ein die wissenschaftliche Bakteriologie symbolisierender Diskurs, der diese mit ihrem Zeitalter verband, indem er sie in das rhetorische Inventar seiner politischen Sprache einordnete. Er bezog sich auf
56 Ebd.
57 Roland Barthes: Mythen des Alltags. Frankfurt am Main 1964, S. 130.
58 Zur Entstehung des Institutes vgl. Brock (wie Anm.2), S. 214-223; Weindling (wie
Anm.17), S. 175-178.
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„Auf Collegen zum fröhlichen Krieg“
51
Bakteriologie und legte zugleich ein Verständnis von Krankheit und Medizin in militärisch-aggressiven Begriffen nahe.
Dies beförderte zuallererst die Rechtfertigung und Heroisierung der auf
Bakteriologie beruhenden Medizin als Krieg gegen das „gesamte Microgesindel“. Die Euphorie des Tuberkulinrausches ist daher nicht zufällig übermächtig von der beschriebenen Metaphorik geprägt. Allerdings blieb es
nicht bei dieser Heroisierung der naturwissenschaftlichen Medizin und ihrer
Protagonisten. Vielmehr ließen sich die populären Krankheitsbegriffe ihrerseits als Beleg und Rechtfertigung von Aggression auffassen.59 Darüber hinaus war in der Metaphorik, die sich ja durch große Nähe zu imperialismustypischen Denkfiguren auszeichnete, eine Rechtfertigung aggressiver Politikstrategien angelegt. Kennzeichnend dafür sind Begriffsbildungen wie der
Bacillus communis odii: Die von ihm verursachten „Geschwüre“ sind „Revanche“ und „Panslawismus“, sprich die tatsächliche oder eingebildete Bedrohung durch Frankreich und Rußland. Die Entpolitisierung der Krankheiten durch die so definierte „unpolitische Vernunft“ der Bakterien fand
damit ihr Komplementärphänomen in einer Pathologisierung des Politischen in der politischen Sprache (Abb. 3).
Solche Übertragungen in die politische Sprache sind, das sollte betont werden, in den 1890er Jahren allenfalls in Ansätzen erkennbar. Eine Generation später allerdings waren sie dann wesentlicher Bestandteil der politischen
Propaganda und Ikonographie der Nationalsozialisten.60 Auf eine Popularisierung von Wissenschaft, die Bakterien als Feinde begriff, konnte eine Ideologie folgen, die ihrerseits ihre Feinde als Bakterien porträtierte und damit
noch ihrer 'Isolierung und Vernichtung' den Anschein der Wissenschaftlichkeit zu geben vermochte.
59 Die ältere These Rüdiger vom Bruchs, Medizin und Naturwissenschaften hätten keinen Beitrag zur Militarisierung der Gesellschaft im Wilhelminismus geleistet, da sie
„weitestgehend von ihren Gegenstandsbereichen her“ entfielen, bedarf damit der Korrektur (Krieg und Frieden, Zur Frage der Militarisierung deutscher Hochschullehrer
und Universitäten im späten Kaiserreich, in: Jost Dülfer/ Karl Holl (Hg.): Bereit zum
Krieg. Kriegsmentalität im Wilhelminischen Deutschland. Göttingen 1986, S. 74-98,
hier: S. 83). Was die Medizin selbst betrifft, so ist in diesem Zusammenhang an Barbara Elkeles, Tuberkulinrausch (wie Anm.38), S. 1730-1731, Hinweis auf die Bedenkenlosigkeit, mit der in der Tuberkulin-Euphorie auch gefährliche Menschenversuche
unternommen wurden, zu erinnern.
60 Als Überblick: Michael Mareck: „Wer deutsch spricht, wird nicht verstanden!“. Der
wissenschaftliche Diskurs über das Verhältnis von Sprache und Politik im Nationalsozialismus - Ein Forschungsbericht. In: Archiv für Sozialgeschichte 30 (1990), S. 454492.
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Christoph Gradmann
Abb. 2. (Aus: Ulk, 18.11.1890). Robert Koch als Gotteskrieger St.Georg. Auffällig nicht
nur die Darstellung der Krankheit als Hydra, sondern auch die Abwesenheit der Kranken
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„Auf Collegen zum fröhlichen Krieg“
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Abb. 3. (Aus: Der Stürmer, 15.4.1943, Nr.16). Die Struktur des Bildes ist emblematisch.
Auf dem hinter der Ikone der Wissenschaftlichkeit, dem Mikroskop, vergrößert dargestellten Objektträger befinden sich Symbole in der NS-Ideologie wichtiger Feinde: Juden, Homosexuelle, internationaler Kapitalismus und sowjetischer Kommunismus. Das
Gedicht faßt den Bildinhalt in der Phraseologie der „jüdischen Weltverschwörung“ zusammen.
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Christoph Gradmann
Summary
The text analyses Koch’s microbiology and its rapid success within the context of the intellectual history of Wilhelminian [1888-1918] Germany. Studies of visual and verbal popularisations of microbiology, show that scientific theory of microbiology, by communicating in the political language of its age, was followed by an equally specific popular
image of the same topic. This included both popularisations of microbiology in militaristic
metaphors and the analogous use of microbiological concepts as popularisations of imperialistic and agressive concepts of politics. Thus, the developement and success of microbiology is linked to the developement of the political language of its age.
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Police Service in Victorian and Edwardian London: A Somewhat Atypical Case of a Hazardous Occupation
Haia Shpayer-Makov
The intense interest of the Victorians in public-health issues involved a
growing concern with occupational hazards and their associated impact on
ill-health.1 Revelations about the different mortality rates of diverse occupational groups and their characteristic patterns of disease and disability served to emphasize the importance of this factor. The occupational group
whose working conditions and related hazards drew the greatest attention
was the miners. A correlation between health and work experience was also
found in industries where the workers were exposed to substances such as
copper, lead, mercury, arsenic and phosphorus, as well as in the textile,
metal and pottery industries. So direct was the link in certain industries
between conditions of work and health that employees were easily identifiable by the physical manifestations of their illness.2
There were occupational groups among whom the link between working
conditions and health hazards was less obvious. One such group was the
police. As a form of labour which was providing a service and was not directly engaged in industrial production, police work involved no machine
or chemical accidents, and it was, in general, not performed in a crowded
and noisy environment. Police work was therefore not considered one of
the „noxious trades“, nor was it classified as a high-risk occupation by the
various parliamentary committees of inquiry into public health.3 The popular image of the policeman was rather that of a potential source of physical
injury.
Nevertheless, the police work environment can be shown to have been largely responsible for the physical deterioration of police employees. The policeman entered the force much healthier than when he retired; and this gap
was not merely age-related. In fact, his retirement was often premature as a
consequence of serious work-related health problems. Our concern here is
with the Metropolitan Police of London in the Victorian and Edwardian
1
Henry Ratcliffe: Observations on the Rate of Mortality & Sickness existing among
Friendly Societies. Heppenheim, West Germany 1974, Section 4. (First published in
1850); E. H. Greenhow: Papers relating to the Sanitary State of the People of England.
Westmead, England 1973, p. 132. (First published in 1858); J. T. Arlidge: The Hygiene Diseases and Mortality of Occupations. London 1892.
2
Anthony S. Wohl: Endangered Lives. Public Health in Victorian Britain. London
1983, pp. 261,264-265.
3
See, for instance, the various reports of the Departmental Committee appointed to
Inquire into certain Dangerous Trades, Parliamentary Papers (PP) 33 (1896); 17
(1897); 12 (1899) and Thomas Oliver: Occupations. From the Social, Hygienic and
Medical Points of View. Cambridge 1916.
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Haia Shpayer-Makov
periods, then one of the largest police forces in the world. A great number
of Metropolitan policemen were, to differing degrees, casualties of their
work environment. Towards the end of the nineteenth century no more
than 14% had completed 25 years of service.4 Many of those who left earlier had been „physically incompetent to carry out“ police duties.5
This article explores the state of health of London policemen in the context
of their work. It attempts to answer the following questions: What were the
prevalent injuries and illnesses in the Metropolitan Police, and what were
the main causes of incapacitation and death? What was the experience of
the individual employee and how did it affect his health? How did occupational hazards shape the level of health of the entire force? In addition, the
article exposes the prevailing public perceptions of the relationship between
ill-health and work in the Metropolitan Police.
It can be difficult to trace the causes of illness or permanent physical discomforts directly to working conditions. In general, many factors combine
to produce ill-health. Both genetic and psychological factors as well as
childhood experiences influence an adult's ability to resist disease. Living
conditions and personal life-styles also have their impact on the health of
individuals. Moreover, it is not always possible to isolate these variables
when analysing health records, and to detach them from the effects of working conditions. To find a correlation between work and health was even
more difficult in the nineteenth century, when comparatively little was
known about the aetiology and nature of diseases. Many babies in Victorian Britain were born sick, and grew up in an overcrowded, unhygienic and
disease-conducively environment.6 As a result, the majority of English
children were „ill-formed and ill-equipped to lead vigorous lives or to
sustain the heavy labour which was their lot“.7 Since the minimum age of
joining the police force was 20, policemen began employment as adults
bearing the effects of a relatively long medical history, and the effects of
previous work experience. Despite all this, the task of detecting a link
between occupational hazards and work environment is less problematic
for policemen than for many other occupations.
The novice policeman was endowed with better health than the average
worker, otherwise he would not have been admitted into police service. To
recruit healthy and able-bodied men was a top priority for the authorities,
who were aware of the strenuous and highly-demanding nature of police
4
Departmental Committee of 1889 Upon Metropolitan Police Superannuation (Hereafter Departmental Committee on Superannuation), PP 59 (1890), p. 354.
5
Ibid., p. 353.
6
Wohl (see note 2), p. 15.
7
Ibid., p. 57.
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Police Service in Victorian and Edwardian London
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work.8 Candidates in good health were in short supply and a high turnover
was too costly and detrimental to efficient police service and administration. The authorities were therefore keen on recruiting men who would be
healthy and strong enough to withstand the heavy demands of police
work.9 The ability to predict the performance and resistance to disease of an
individual was crucial. As a result, screening procedures for candidates were highly selective. Recognizing the impact of childhood experiences on
subsequent health of individuals, police medical officers, like their army
counterparts, discriminated in favour of candidates from the countryside,
since these, it was assumed, were essentially healthier and stronger than
townsmen.10 More importantly, every candidate was meticulously examined by a qualified surgeon, who sought symptoms of disease or other
weaknesses.11 The police would never recruit a man unless pronounced
entirely fit by the examining medical officer.
The means doctors used to examine candidates were limited in their ability
to identify physical disorders and to detect long-term effects of ill-health.12
Some sick or weak officers managed to enter police service. Yet despite the
limitations of the selective mechanism, those chosen for police work represented a relatively healthy group among the working classes. In addition, every candidate had to undergo tests measuring his physique, height
and weight. No man with an under-developed physique was accepted. Men
had to be able-bodied and at least 5 feet 9 inches tall to be considered capable of coping with a long and strenuous police career.13 Alexander O. Mackellar, chief surgeon of the Metropolitan Police between 1886 and 1904,
explained that the police constantly rejected candidates „when there is not
really anything the matter with the man, but where he has not the physique,
the vigorous constitution necessary for police service“.14 The fact that police
recruits were free from any recognisable disease or deformity and were tall
8
Report of the Commissioner of Police of the Metropolis for the Year 1870, PP 28
(1871), p. 12.
9
Departmental Committee on Superannuation, pp. 398, 417.
10 Haia Shpayer-Makov: The Appeal of Country Workers: The Case of the Metropolitan
Police. In: Historical Research, 64 (June 1991), pp. 187-188; Report of the InterDepartmental Committee on Physical Deterioration, PP 32 (1904), p. 40. For modern
views on the subject see Robert Woods and John Woodward: Mortality, Poverty and
the Environment. In: Robert Woods and John Woodward (eds.): Urban Disease and
Mortality in Nineteenth-Century England. London 1984, p. 20.
11 Haia Shpayer-Makov: Notes on the Medical Examination of Provincial Applicants to
the London Metropolitan Police on the Eve of the First World War. In: Histoire
sociale-Social History 24 (mai-May 1991), pp. 174-175.
12 Departmental Committee on Superannuation, pp. 417, 422.
13 Harriet Martineau: The Policeman. His Health. In: Once a Week, 2 June 1860, p.
523.
14 Departmental Committee on Superannuation, p. 398.
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Haia Shpayer-Makov
and well-built indicates their relatively healthy state on joining the police.
Their medical history is therefore less crucial to the understanding of their
state of health as policemen.
Even though police wages were a constant cause of discontent, in relative
terms the policeman did not live a life of poverty. At times his income
compared with that of agricultural workers, one of the lowest-paid groups.
But unlike the agricultural worker, the policeman was provided with a relatively advanced welfare package, including medical care, clothing, coal and,
from 1890, a mandatory pension - all of which tended to cushion the effects
of poor wages. The policeman was also privileged to have a steady income,
which facilitated reasonable levels of nutrition and accommodation, although the latter was often a problem due to high rents in London. We may
thus assume that in his mature life the London policeman experienced a
higher standard of living, and perhaps a healthier domestic environment,
than the average working man. Although we cannot dismiss altogether the
impact that his out-of-work life had on him, methodologically a closer relationship between ill-health and conditions of work in comparison to other
work groups may be assumed.
Further reason why some police occupational hazards are relatively easy to
identify is the availability of a rich data source on the subject. As a public
service whose top officials shared the growing fascination of the Victorians
with statistics and the systematic recording of information, the police accumulated, compiled and tabulated information about the police labour
force and the results of its law-enforcing activities. The police were amongst
the few work organisations in Victorian Britain to record the illnesses and
injuries sustained by their labour force on a daily basis. The lists from each
station were collected by the divisional medical surgeons and handed over
to the chief police surgeon who tabulated the data and presented the statistics in the yearly reports of the Commissioner of the Metropolitan Police to
the House of Commons.15 Eclectic and sparse data about the ill-health of
the force had been given before 1870, but following that year, reports by
the chief medical surgeon of the Metropolitan Police became regular,
gradually providing a growing body of information. As the century continued, new tables were added - usually on the initiative of a new chief surgeon - sometimes replacing old ones and always providing greater detail.
Despite the wealth of information provided in the Commissioner's reports,
it should be regarded with caution. There were occasional changes in the
rules of classification of diseases and the organisation of data; and diagnostic practices were far from satisfactory. But these deficiencies were not unique to the police. All medical statistics of the period suffered from the same
15 Police Orders (It is a printed source which can be found in the Public Records Office
(PRO) in London), 4 April 1907, p. 317.
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Police Service in Victorian and Edwardian London
inadequacies.16 The shortcomings reflected attempts to attain more reliable
and better-organized records of health. Despite the deficiencies, the (hitherto
unused) information presented in the chief surgeon's reports allows for a
systematic analysis of the state of health of the thousands of employees who
were working for the Metropolitan Police during the Victorian and Edwardian eras, and enables us to detect the illnesses and injuries caused by the
conditions prevailing in their place of work. Qualitative sources confirm
and add information about the relationship between health and work, and
reveal how contemporaries perceived the subject.
However privileged the Victorian policeman was in terms of welfare benefits and standard of living, he suffered greatly from illnesses. These not
only incapacitated him temporarily but also removed him from service or
even caused his premature death. Table 1 provides some indications about
the extent of illness, incapacitation and death in the force.
Table 1: Illness, incapacitation and death in the force 1
Year
Officers on
sick list
Departed with
Departed
pensions or gra- due to ill
tuities due to ill health
health
Death per Total au1,000
thorised
strength
1870
219(2.4%)
62(0.7%)
4.8
9,160
1875
278(2.6%)
66(0.6%)
5.6
10,227
1882
262(2.2%)
45(0.4%)
5.4
11,699
1885
6328(47.5%)
196(1.2%)
26(0.2%)
5.0
13,319
1887
6558(46.6%)
365(2.6%)
26(0.2%)
5.0
14,081
1892
8436(56.2%)
4.7
15,000
1902
8391(51.2%)
3.4
16,374
1 The figures are derived from information provided in various tables in the Commissioners' reports to the House of Commons. The difference between the third and fourth
column is that the latter left of their own accord and were not entitled to any financial
compensation.
Table 1 reveals that every year about 50% of the officers suffered from disorders which prevented them from fulfilling their duties. The rate of morta16 For radical changes in the rules of classification early in the twentieth century see Mel
Bartley: 'Coronary' Heart Disease - A Disease of Affluence or a Disease of Industry?.
In: Paul Weindling (ed.): The Social History of Occupational Health. London 1985,
pp. 139-140.
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Haia Shpayer-Makov
lity was around 5 deaths per 1,000 of the authorised strength. A closer look
at some of the figures provided by the chief surgeon reveals definite trends.
A gradual decline in both the sickness and death rates is clearly noticeable.
In 1866 the average daily percentage of „sick of all kinds“ was 5.5, in 1869
3.5, in 1870 3.3 and in 1888-1889 2.9.17 The average death rate in the
1860s was 0.68% of the authorised strength, in the 1870s 0.50%, in the
1880s 0.48%, in the 1890s 0.36%, in 1900s 0.28% and between 1910 and
1913 0.20% (calculated on the basis of the annual cases of death). Whether
the result of improved working conditions in the Metropolitan Police in late
Victorian Britain or of living conditions in the country at large, policemen,
like the general population, gradually enjoyed better health.
In order to help evaluate the extent to which police service was a hazardous
occupation, it may be useful to compare the health status of policemen with
that of other occupational groups of a similar age group. Such a comparison is difficult to make not only because of the changes in the classification
of diseases, the deficient diagnostic practices, and the scarcity of analogous
data, but also because of the problems inherent in police statistics and in
the statistics of other occupational groups. An analysis based on the figures
given in Table 1 cannot lead to an objective assessment of the level of
health in the force, as they reflected the interaction between the state of
health of officers and police policies. Ideally, until 1890 the combined figures of officers on the sick list with those who died or had left the service due
to ill health, would give us a reliable record of disease and injury. This is
because until the Police Act of 1890 pensions and gratuities were granted
only on account of medical unfitness for service. The Act allowed officers
with 25 years of service to retire with a pension regardless of their medical
state. Therefore data on pensions after 1890 included officers who were not
incapacitated but opted to leave the force. However, even before 1890 the
figures fluctuated in tandem with changing policies regarding the granting
of sick leave and pensions.18 In addition, the number of officers on the sick
list does not represent all ailing policemen. Some sick officers continued to
work. Officers who were on short- or long-term sick leave were not included in the figures presented in column two. There was also a considerable number of men who were not designated as unfit, but who retired annually on their own application, feeling too ill to perform the duties of a
constable.19 It is also important to note that the number of policemen serving in the force was lower than its authorised strength. Thus the level of
health in the force was lower than appears at first sight.
17 Report of the Commissioner of Police of the Metropolis for the Year 1870, PP 28
(1871), p. 12 and Departmental Committee on Superannuation, p. 418.
18 For the changes in police policies see ibid., p. 12 and J. Monro: The Story of Police
Pensions. In: The New Review 3 (September 1890).
19 Departmental Committee on Superannuation, p. 456.
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61
Other employers had their own calculations as to whom and when to grant
pensions and who should be put on the sick list. Moreover, the age distribution was different in each employment statistics. It is therefore difficult to
obtain a satisfactory basis for comparision between police medical statistics
and that of other work groups.
The use of death rates for comparative studies entails an additional difficulty. Sick officers were invalided before the fatal consequences of their various
diseases were manifested. Yet the impact of the changing policies on mortality statistics was less noticeable than on the statistics of illness. Therefore
comparisons based on death rates are more reliable. Apparently, the figures
presented in Table 1 do not relate police service to occupations which „are
positively destructive to human life“.20 The death rate was higher in the case
of a Cornish miner, a Lancashire weaver or a Sheffield grinder.21 The number of annual deaths per 1,000 metal miners in Cornwall during 1860-1861,
aged between 25 and 35, was 9.57, compared with 5.7 per 1,000 policemen
in London in the same years.22
Comparison with the mortality rates in other public services confirms the
relatively low rate of death among policemen. Army records reveal a ratio
of 9.48 deaths per 1,000 non-commissioned officers and men serving in the
UK in 1870 and a ratio of 4.6 per 1,000 in 1895.23 The corresponding figures among Metropolitan policemen were 4.8 and 3.2. The death rates in the
20 Oliver (see note 3), p. 55. We have no information on the life expectancy of policemen, but data about pensioned officers show that they had a higher-than-average life
expectancy. The average age of retirement with a pension in the 1880s was 46 (Departmental Committee on Superannuation, p. 378). In that decade life expectancy in
England and Wales increased from 41.9 to 44 years (F. B. Smith: The People's Health
1830-1910. New York 1979, p. 197). The average rate of pensioned officers in the
1880s (out of the total number of leavers) was about 30%. A report by William Farr,
the famous superintendent in the General Register Office, referring to the early 1860s,
confirmed that pensioned officers had a relatively high expectation of life. He showed
that only a small percentage of the pensioned officers (then only about 13% of all
leavers) died in the course of the fifteen years following retirement (9.36%), although
these officers probably retired earlier than officers in the closing decades of the century
(Departmental Committee on Superannuation, p. 400).
21 Departmental Committee on Superannuation, p. 398.
22 It is important to note, however, that the annual death rates of policemen in 1860 and
1861 were the lowest in this decade, except for 1869, when the death rate was 5.0 per
1,000. From 1862 to 1868 the rates fluctuated between 6.8 and 8.5, but these figures
applied to policemen of all ages. For death rates among miners see W. R. Lee: Occupational Medicine. In: F. N. L. Poynter (ed.) Medicine and Science in the 1860s. London 1968, pp. 154-158, 166-167.
23 Army Medical Department Report for 1870, PP 38 (1872), p. 1 and Fifty Eighth Annual Report of the Registrar-General (1895), PP, 21 (1897), p. xxvii.
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navy were higher too: 6.61 per 1,000 in 1895 compared to 3.2 per 1,000
policemen.24
Policemen were often compared with postmen because of the similarity in
exposure to weather conditions that both groups experienced. Data released
in 1897 showed that the mortality rate among officers in the Metropolitan
Police was lower than that of postmen (4.2 per 1,000 officers in the years
1891 to 1894 compared to 6.3 per 1,000 postmen).25 Comparisons with
other postal officers reveal that Metropolitan policemen experienced a higher death rate than sorters (4.1) and porters (3.8) and the same death rate as
telegraphists (4.2). In 1890 the death rate among all occupied males
between 25 to 45 years of age was 9.99.26
Judging by the death rates the police could not be counted among the riskiest occupations. But this finding should not be surprising. Policemen were
„picked“ men, the „fittest of the fit“ and were therefore supposed to show
greater resistance to disease than most other manual workers.27 The medical
examinations conducted by the police were stricter and the physical criteria
higher than those of the army and the navy.28 Dr. Wilson, the chief medical
officer of the post office at the turn of the century, asserted that the standard
of the medical examination in the post office was low and that „a much
higher physical standard is required of the policeman“.29 The percentage of
rejection of candidates to the Metropolitan Police was usually much higher
than in most other occupations which conducted medical examinations.
For example, between 1909 and 1912 over 70% of the 8,092 men who
presented themselves as candidates in provincial centres were not accepted
for service.30 A few years earlier the rate of rejection in the post office was
about 8% compared with that of the army which averaged between 30%
and 40%.31 This difference between young policemen and recruits to other
employments constitutes another reason why comparisons with the rate of
illness of other occupational groups is not essential. We should thus confine
ourselves to the question: Why did many policemen who entered the force
24 Fifty Eighth Annual Report of the Registrar-General (1895), PP 21 (1897), p. 27.
25 Report from the Post Office Establishments Committee, PP 44 (1897), p. 578.
26 Supplement to the Fifty-Fifth Annual Report of the Registrar-General. pt. 2, PP, 21
(1897), Table 7.
27 Departmental Committee on Superannuation, p. 399.
28 Ibid., pp. 396, 424.
29 Report from the Select Committee on Post Office Servants, PP 12 (1906), pt. 1, pp. 57,
525.
30 Report of working of the scheme for the examination and selection of Provincial Recruits with results obtained and the cost to 31 December 1912, 7 January 1913,
P.R.O., MEPO 2/8124. See also Police Review, 17 June 1910, p. 288.
31 Report from the Select Committee on Post Office Servants, PP 12 (1906), pt. 1, p. 57.
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highly fit and in good health leave the service incapable of performing physically demanding duties? The views of contemporaries will be presented.
Medical observers at the time had diverse opinions about the degree of severity of police work and about the impact of the work environment on the
health of policemen. While the chief surgeon of the Metropolitan Police in
the late nineteenth century had no doubt that police service was an unhealthy occupation and that conditions of work were more severe than those of the agricultural labourer, one of the divisional surgeons did not regard
police work as „an unwholesome occupation“ and thought that the work of
the agricultural labourer was „far more arduous“.32 Both did agree, however, that conditions of work for policemen were severe.
Also contemporaries were greatly puzzled by the question why policemen,
who had „good food, sleep, and exercise“ and had been in excellent health
upon recruitment, found themselves in great numbers on the sick list.33
Harriet Martineau, the famous progressive Victorian reformer, dedicated an
article in 1860 to this question, basing herself on police data from 18521856. Martineau was surprised that „of a picked set of young men - the
soundest and strongest that could be obtained between twenty and thirty - a
larger proportion should be ill than of persons of all ages in many English
towns“.34 According to her, each policeman was „ill from twelve to thirteen
days in the year; ill enough to be in the doctor's hands, and to have a
stoppage of one shilling a day made out of his pay for expenses“.35 She
pointed out that although policemen did not sustain a high rate of death
compared to many other occupations, it was „more than there should be of
so select a class. Six or seven in the thousand each year is a high rate of
death“.36 She also considered that too many policemen were invalided.
The explanations for this phenomenon given in statistical records and by
contemporary observers focused on two items: exposure to the weather and
injuries. An article in The Quarterly Review argued that the policeman in
London was not at risk from riots, „but in the ordinary execution of his
duty: in his solitary beats by night in all weathers, when he is liable to the
various diseases incident to exposure, and more particularly in the danger
to which he is subject in dealing with criminals of the most desperate and
abandoned character“.37 The conclusive report of the Royal Commission
upon the Duties of the Metropolitan Police (1908) reiterated these findings.
It defined police work as „a dangerous occupation“, first because „it invol32 Departmental Committee on Superannuation, pp. 399, 418.
33 Martineau (see note 13), p. 525.
34 Ibid.
35 For comparable figures in the mining industry see Smith (see note 20), p. 322.
36 Martineau (see note 13), p. 526.
37 The Police of London. In: The Quarterly Review 129 (July 1870), p. 125.
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ves exposure at all hours of the day and night, and all seasons of the year,
in the open air, and, secondly, because it involves actual physical conflict
with offenders“.38 The dangers policemen faced in their career were well
known in working-class communities. Women were reluctant to see male
members of the family join police service, believing that „wherever there is
danger, there the policeman must be“.39 As will be shown below, awareness
of such dangers influenced the attitudes of officers to their place of work.
That police authorities shared the prevalent assessments of the dangers inherent in police work is manifested in the statistical reports. From the beginning two tables had been inserted in these reports, one relating to the
number of injuries in the force and another to the number of officers suffering from „diseases of exposure“. These tables were provided in addition
to information about the general causes of death and incapacitation in the
force. Obviously the link between disabilities and work activities is more
easily determined in the case of injury than in the case of disease and will
therefore be discussed first.
Until 1892 the table concerning injuries was divided into three: the number
of „traumatic“ injuries sustained on duty, off duty, and the number of
„cases in which men were obliged to give up duty for a time from sore
feet“.40 The information provided in these tables suggests that the rate of
accidents resulting from the officers' occupational demands far exceeded the
rate of accidents outside of work. In 1889 five times as many accidents occurred on duty (1103) as off-duty (226). The information in the table also
suggests that the problem of sore feet (167 cases in 1876, 100 cases in 1889
and 124 in 1892) interfered with routine work to such an extent that it was
given a separate column. Beginning in 1893 this table was replaced by two
detailed tables of injury: one of policemen „injured whilst in the execution
of their duty“ and the other of policemen „accidentally injured whilst on
duty“. The separate tables reflect the distinction made by the chief surgeon
between accidents due to occupational hazards (that is to say, injuries inherent in police work which could not have been avoided by extra care), and
avoidable accidents, although in all cases the injury occurred at work. Table 2 provides a distribution of the causes of injury in selected years, with a
distinction between work-related injuries and accidental injuries.
38 Police Review, 3 July 1908, p. 321.
39 Martineau (see note 13), p. 523.
40 Report of the Commissioner of Police of the Metropolis for the Year 1876, PP 42
(1877), p. 48.
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Table 2: Causes of injury in selected years
Total of Non-accidental injuries
Assaults by prisoners
Assaults by others
By horse
Animal bites
During crowd dispersal
By fire
By Vehicle
Other causes
Total of accidental injuries
By horses
Falling down
While ship searching
During fire drill
While riding Bicycle
By bicycle
Testing vehicles or boats
Other causes
Total of injuries
Authorised strength
% of injuries in the force
1895
2529
2249
42
88
65
10
16
15
44
1900
3099
2788
79
77
60
18
17
16
44
1905
2954
2640
63
93
63
5
21
25
44
1910
2851
2426
66
111
100
68
32
36
12
520
61
316
9
11
0
0
0
123
3049
15271
20%
513
101
291
15
3
0
0
0
103
3612
15847
23%
615
94
342
0
4
88
0
0
87
3569
17210
21%
726
36
376
0
9
136
6
12
151
3577
19418
18%
The table shows that assaults while officers were gaining control over a prisoner, or when making an arrest, constituted the most common causes of
occupational injury (about 73% of all injuries between 1892 and 1914). If
we combine assaults by prisoners with assaults by other persons, assaults on
policemen formed about three quarters of all injuries. From 1902 reports on
injuries differentiated between assaults by drunken prisoners and other prisoners. This division reveals that in the majority of cases the officers were
attacked by people who had been under the influence of alcohol. Even if we
take into account the possibility that the „drunken“ label had occasionally
been attributed unjustifiably to a suspect, the fact that about twice as many
assaults by drunks than by sober people were recorded in the tables, shows
that alcohol-associated assault was a major adverse factor in police welfare.
The statistics of assaults on the police form a mirror image of the ones
presented in working-class discourse. While working-class literature gave
expression to complaints about police abuse of duties, the image of the police emerging from the statistics and the rhetoric accompanying the figures,
is of officers as the victims, and members of the public as the aggressors.41
41 Carolyn Steedman: Policing Victorian Community. The Formation of English Provincial Police Forces, 1856-80. London 1984, p. 160.
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Descriptions in the daily press and in police journals of confrontations
between civilians and policemen tended to heighten this impression.42 The
report in the Police Review of a police-civilian confrontation in the streets
of London was couched in terms which presented the officers as almost
passive targets of violent assaults: Constable Webb (the report says), one of
the warrant officers of the Westminster Police Court, was in the street wearing plain clothes when he saw several men knocking an old man about.43
He told them to let the old man go, and in response „they all set upon him,
and he was struck seven or eight blows“. A constable who arrived on the
scene to take the man into custody was struck in the mouth - two of his
teeth were knocked out and two more were loosened. A randomly-picked
list of brutal attacks on the police, which appeared in the Police Review on
16 February 1906 bears witness not only to the extent and variety of the
attacks, but also to the way in which they were perceived by the police and
their sympathisers.44 The first incident involved an officer who tried to remonstrate with someone creating a disturbance in Chelsea. The latter, who
had previously been convicted of assault, „struck the officer, threw him
down, and kicked him. A crowd assembled, and in the scuffle the Constable was kicked by other men“. In another incident, a policeman „was attacked by a drunken man“ in Clerkenwell, where another officer was struck
by a man. In Soho an officer was knocked down by a man and, whilst on
the ground, was kicked „about the head and body“, so that he had to be
put on the sick list. Another officer was struck „in the face“ when attempting to arrest a drunkard in Walthamstow.
The reality was more complex and ambiguous than the above incidents
might indicate. Clearly the nature of police-public relations, in the context
of the growth of institutional regulation and control, is crucial for the understanding of the rate of police injury. Before the possession of private cars
by the middle classes made them subject to police attention, clashes with
the public, particularly those of a physical nature, involved almost exclusively working-class people. This article is not designed to explain police violence and the public response to it, but it is important to sketch possible
areas of tension between the police and the public in order to understand
some of the circumstances leading to police injury.
The working classes had remained suspicious of police intentions and practices even at the end of the nineteenth century, when the middle classes had
long been supporters of police services.45 Some resentment was inevitable
42 See Saturday Review, 8 July 1882, pp. 47-48 quoting an article in the Macmillan's
Magazine.
43 Police Review, 1 November 1907, p. 526.
44 Ibid., 16 February 1906, p. 76.
45 Wilbur R. Miller: Cops and Bobbies. Chicago 1973, p. 139; Phillip Thurmond Smith:
Policing Victorian London. Westport, Conneticut 1985, pp. 206-207.
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due to the coercive powers the police enjoyed. One of the tasks of the police
was to regulate working-class life, a task which they carried out relentlessly.46 Frequent police inspection and surveillance of slum districts, interference in the traditional street economy to benefit middle-class retailers, strike-breaking, and the use of excessive force in public demonstrations (such
as in „Bloody Sunday“ in 1887), made the police the target of intensive
working-class resentment.
Daily police activities in working-class communities were often regarded as
provocative. The policeman enjoyed wide powers of discretion, and he often opted for arrest. While to the police arrests were perceived as fulfilling
an obligation to maintain law and order, they were perceived by the inhabitants as arbitrary and an abuse of the officers' legal authority.47
As is clear from medical statistics, one type of behaviour which was not
tolerated by the police, and „was always work for the uniformed officer“,
especially after workers' pay-day, was drunkenness.48 Although the period
saw a shift of police attention „from drunkenness per se to drunk and disorderly offenses“, different interpretations of these terms and continued police high-handedness promoted tension in the streets between the public and
the police, especially since most of the arrested drunks were working people, while middle-class drunks were let off.49 The drastic decline in the number of arrests of drunks between 1913 to 1932 (from 70,000 to 13,760) resulted in a dramatic fall in police injury - to about a quarter of the rate on
the eve of the First World War.50
As a result the figures presented in the chief surgeon's reports concealed
police practices which provoked abusive behaviour. Descriptions of violent
assaults on the police were not necessarily accurate, but a reflection of the
police perception of events or an attempt to promote a non-aggressive
image. Whether as a result of widespread resentment of police activities,
46 Robert R. Storch: The Policeman as Domestic Missionary: Urban Discipline and
Popular Culture in Northern England, 1850-1880. In: Journal of Social History 9
(June 1976), p. 481.
47 For policemen's views see Police Review, 4 January 1907, p. 4. For the public's views
see evidence before the Royal Commission of Inquiry into the Duties of the Metropolitan Police in ibid., 27 July 1906, p. 352; 19 October 1906, p. 502; 26 October 1906,
pp. 507-509. See also Clive Emsley: The English Police. Hemel Hempstead 1991, p.
74. For a discussion of the circumstances that gave rise to police violence on the beat
see Clive Emsley: The Thump of Wood on A Swede Turnip: Police Violence in Nineteenth-Century England. In: Criminal Justice History 6 (1985), pp. 129-135.
48 Malcolm Young: An Inside Job. Policing and Police Culture in Britain. Oxford 1991,
p. 310.
49 Martin J. Wiener: Reconstructing the Criminal. New York 1990, p. 298; John
Moylan: Scotland Yard and the Metropolitan Police. London 1934, p. 45. (First published in 1929); Miller, p. 69.
50 Moylan (see note 49), p. 335.
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conflicting interpretations of grey areas in law enforcement, or the officer's
own provocation, the policeman was subject to assaults of all kinds. He was
subjected to kicks, fists, blows, knifing, shooting and other brutal attacks
that might result in death.51 These were the kind of risks he had faced since
the Metropolitan Police was established in 1829.52 There were areas in
London which were outside the boundaries of police activities, places that
the police did not dare enter - like the Flower and Dean Street in the East
End, where it was not „safe for the police to venture [...] alone“.53 The H
Division in Whitechapel was the „dread of every young and well-informed
constable“, as officers „were continually exposed to the dangers of physical
attack“.54 In these areas, where petty crime was commonplace and where
drink was the most popular pastime, there were daily confrontations
between inhabitants and constables. If the crowds did not agree with a policeman's decision to arrest an offending individual, they would attack the
policeman and mishandle him.55 Sometimes officers were hurt so badly that
they had to go off-duty for long periods or even leave the force.56
These risks were a major reason why women opposed a police career for
male members of their family. They were apprehensive „of the host of enemies which their lad will make among desperate thieves...and shudder[ed]
at the thought of the kicks, the bitings, the blows, the throwings down-stairs
or out of the window, to be expected in such dreadful dens as the police
have to visit“.57
Assaults on the police had declined since about the mid-1860s and reached
a record low at the end of the nineteenth century.58 Yet they gained everincreasing publicity, with reports about attacks on police officers becoming
a regular item in newspapers of various kinds. The issue provoked such
attention that it was debated in Parliament, which noted that „the police of
51 Saturday Review, 14 April 1888, p. 429; Police Review, 1 November 1907, p. 526;
The Spectator, 24 December 1887, p. 1777; Police Review, 18 October 1912, p. 499.
52 Report from the Select Committee of Inquiry on the Metropolitan Police, PP 16
(1834), p. 32.
53 Jerry White: Rothschild Buildings. Life in an East End Tenement Block 1887-1920.
London 1980, p. 8.
54 William J. Fishman: East End 1888. London 1988, pp. 191-192.
55 White (see note 53), p. 127.
56 Raphael Samuel (ed.): East End Underworld. Chapters in the Life of Arthur Harding.
London 1981, p. 198.
57 Martineau (see note 13), p. 523.
58 David Jones: Crime, Protest, Community and Police in Nineteenth-Century Britain.
London 1982, p. 124. See also J. P. Martin and Gail Wilson: The Police; A Study in
Manpower. London 1969, p. 23.
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London practically carried their lives in their hands every moment of the
day and night that they were on duty“.59
As can be seen from Table 2, animals, too, threatened the well-being of policemen. Officers were hurt when „thrown from horses“, when trying „to
stop runaway horses“, and „when assisting with fallen or restive horses“.
Moreover, dozens of policemen in the London area were annually reported
to have been „kicked“, „trodden upon“ and „knocked down by horses“.
Horse and dog bites also contributed to police injuries. However, the risk of
injury from horses began to decrease towards the end of the century as
other means of transport became common, and a growing proportion of
the police workforce was engaged in handling the problems created by the
transition.
The appearance of cars in the streets of London was the cause of yet
another type of police accidents. An increasing number of policemen were
injured by vehicles when directing traffic or when driving motor vehicles or
boats. The fatal case of Constable John Smith, knocked down and killed
instantly by a motor omnibus when on point duty at Ludgate Circus (apparently the first death of a City policeman caused by a motor omnibus), reminded many commentators that times had changed and that cars were
much more dangerous than horses.60 The new occupational hazard -point
duty in the midst of London's traffic - put great strain on officers.
The appearance of bicycles in the streets and their introduction into the
service added to the number of traffic-related accidents of policemen.
Scores were hurt annually „while riding bicycles“ and „by bicycles ridden
by other persons“, although the authorities did not consider these as workrelated hazards and classified them as accidental injuries. Also, one or two
dozen officers were injured each year „dispersing disorderly crowds“.
According to Table 2 several hundred policemen were hurt annually „by
falling down or slipping in the streets or when examining premises“, or
„while ship searching“. The authorities regarded these as accidental injuries.
At the same time, an officially recognised job-related risk involved „assisting at or extinguishing fires“, which sometimes ended in the policeman's
death.61 A number of policemen were injured annually „at fire engine
drills“. Thus a significant number of injuries occurred while officers were
providing services of undisputed concern to the community. Some of these
activities were seen as originating in a desire to control and supervise the
working classes. This led to confrontations with civilians, but it was, in fact,
activities of this kind which accounted for the increasing acceptance of the
police by the middle, as well as the less privileged, classes.
59 Police Review, 13 March 1909, p. 3.
60 Ibid., 24 January 1913, p. 44.
61 Ibid., 5 January 1900, p. 12; 16 February 1900, p. 79.
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Injuries may have had serious consequences. Data provided by the chief
surgeon (see Table 3 and Chart 1 below) on the causes of invaliding and
death in the force broaden the picture of risks from injury. Between 1870
and 1888 over 250 policemen had to leave the force as a direct result of
injuries at work. Moreover, at least 85 policemen died of accidents between
1870 and 1903.
The injuries sustained by policemen were distinctly characteristic of police
work. However, as in most other occupations, illness rather than injury was
the major cause of incapacitation, and here the connection to working conditions is more difficult to establish.62
Individual officers differed in their susceptibility and resistance to disease.
Many officers managed to complete a full term of service (25 years as of
1890) with the occasional sick leave, while others succumbed to disease and
left the force prematurely, either of their own choice or as a result of the
chief surgeon's recommendations. Policemen were also subject to illnesses
which were severe enough to cause death. Data relating to the causes of
death and invaliding were released annually in the Commissioner's reports
to the House of Commons. Chart 1 provides a distribution of the major
causes of death and Table 3 of the major causes of invaliding.63
Chart 1:
62 James C. Riley: Sickness, Recovery and Death: A History and Forecast of Ill Health.
Iowa City 1989, p. 183.
63 The tables relating to the causes of death and invaliding changed format in 1903 and
1888 respectively. We therefore terminate our tables in these years.
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Police Service in Victorian and Edwardian London
Table 3: Medical causes of invaliding 1870-1888
Causes of invalidation
Rheumatism
Debility and long service
Phthisis
Bronchitis
Injuries
Defective vision and disease of the eye
Heart diseases
Insanity and mental affection
Varicose veins and chronic ulceration of legs
Gout
Pneumonia and pleurisy
Other Causes
Total
Average number of officers per
year (rounded)
54
54
32
14
14
12
11
9
7
6
3
35
251
As the chart and table demonstrate, officers were mainly afflicted with diseases of the lungs and air-passages. Tuberculosis (phthisis in the table),
pneumonia and bronchitis accounted for almost half of all deaths in the
force and about one fifth of all invalidations.64 Tuberculosis was the number one killer (accounting for over a quarter of all deaths).65 The highest
rate (43.8% of all deaths - a total of 28 cases) was recorded in 1878. From
1870 to 1887 the average number of officers who died each year from the
disease was about 19 (about 0.2% of the total strength). From 1888, although the force grew in size, one can discern a downward trend in the
number of officers who died of tuberculosis (an average of 11 officers a year
between 1888 and 1903), which mirrored the marked decline in the prevalence of tuberculosis in the community. Tuberculosis was also the third
most prevalent cause of invaliding, responsible for the departure of an
average of 32 officers a year between 1870 and 1888.
Pneumonia was the second most common fatal disease (responsible on
average for the deaths of 8 officers a year between 1870 and 1903). Bron64 The rate of invaliding of certain diseases was higher than reported here. Since single
cases were lumped together by the chief surgeon, they were not incorporated into the
data. Also, some causes of death and invaliding were inconsistently classified. Haemoptysis, for instance, was at times reported together with bronchitis and at times
separately. In this case, as with other infrequent diseases, the data were incorporated in
our table and chart into „others“. There were 17 cases of haemoptysis registered separately in the table of deaths between 1891 and 1902. The number of casualties of lung
diseases was thus larger.
65 In both tables „phthisis“ was usually clustered together with the vague term „disease of
the lungs“.
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chitis accounted for over 5% of the causes of death (an average of 3 men a
year between 1870 and 1903) and invaliding (an average of 14 men a year
between 1870 and 1888). The most prevalent cause of invaliding in the period, though causing only a small number of deaths, was rheumatism and
rheumatic fever (which the chief surgeon occasionally lumped together with
rheumatic gout and sciatica), accounting for over one fifth of all invalidations (over 1000 cases between 1870 and 1888).66
The rate of venereal diseases was recorded separately in the surgeon's reports. The figures fluctuated and showed an average of about 20 cases a
year in the latter part of the century. This figure applied to those officers
who were rendered incapable of performing police duties. It was, however,
suspected that the „number of men suffering from concealed venereal diseases“, but who were able to perform their duties, was considerably higher.67
It is difficult to establish a causal link between working conditions in the
Metropolitan Police and the origins of the diseases mentioned in Chart 1
and Table 3. The prevalent diseases among officers also predominated in
the population at large and were not directly connected to conditions of
service in the police force. Pulmonary infections were the chief causes of the
high death rates in the country at large and in London in particular.68 Tuberculosis was the great scourge of the Victorian age, killing more people
than any other disease in the nineteenth century.69 In the 1890s it was
responsible for an annual death of some 70,000 in England and Wales.70
The disease obsessed the Victorians and Edwardians, as it tended „'to attack and kill those at the working, marriageable and reproductive periods
of life; that is to say, at ages when loss of working capacity inflicts the greatest economic losses upon the community“.71 Next to tuberculosis, pneumonia and bronchitis were „the two most frequent and fatal diseases of the
organs of respiration“, while the „direct mortality produced by rheumatism
in any form“ constitued „but a very small fraction of the deaths in any district“.72
66 The number in reality was higher since sometimes rheumatic fever was incorporated
into „other fevers“.
67 Report of the Commissioner of Police of the Metropolis for the Year 1870, PP 28
(1871), p. 13.
68 Greenhow (see note 1), p. 25.
69 Gillian Cronje': Tuberculosis and mortality decline in England and Wales, 1851-1910.
In: Woods, p. 79.
70 Anne Hardy: Diagnosis, Death, and Diet: The case of London, 1750-1909. In: Journal
of Interdisciplinary History 18 (Winter 1988), p. 397.
71 Gregory Anderson: Victorian Clerks. Manchester Press 1976, p. 17, quoting official
medical opinion in 1905-1906.
72 Greenhow, pp. 42, 124.
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Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
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Police Service in Victorian and Edwardian London
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In evaluating the potential hazards to policemen in the nineteenth century
we cannot point to conditions of service as the direct causes of the predominant diseases in the force. Diseases developed from an interaction of factors, of which occupational demands were not necessarily crucial. Some of
the presymptomatic illnesses in police candidates were not detected by
screening procedures. Illnesses caused by childhood conditions or a former
job may not have developed until years later, when they incapacitated unfortunate policemen. However, working conditions in the Metropolitan Police certainly aggravated the state of health of their employees. In order to
understand the relationship between police work and illnesses we must
examine the work environment in which Victorian and Edwardian policemen operated.
The list of injuries gives some idea of the various tasks policeman had to
perform and the associated hazards. Officers also appeared in court, guarded the Houses of Parliament and other public places, and worked in police stations or at headquarters. However, the majority of officers, principally
constables, performed routine work outdoors. Of approximately 13,000
officers employed in the Metropolitan Police in the mid-1880s, 9000 (about
two-third) were patrol constables, although the proportion was gradually
changing.73 Constables had a waterproof cape and strong boots, but they
frequently got „wet through“.74 The penetrating frost of winter was the
dread of every officer who had to carry on with his duties regardless of
weather conditions.75
The work of the constable was done in shifts. Three-fifths of the available
force were employed in night duty. In 1870 „the average length of the daybeats all over the metropolitan district“ was „about seven and a half miles,
and of the night-beats a little over two miles“.76 Each man took his turn of
eight months of night duty and four months of day duty a year, working on
night duty for a month at a stretch. Many officers testified that night duty
was „the principal cause of men breaking down“.77 The night shift was a
long, strenuous and continuous stretch of duty, from 10 p.m to 6 a.m.78
The members of the Royal Commission upon the Duties of the Metropolitan Police (1908), were „not aware of any other occupation on land in
which any considerable number of persons is employed, in which exposure
during the night is so continuous throughout the year, and so prolonged on
73 Departmental Committee on Superannuation, p. 419.
74 Ibid., 399.
75 The Leisure Hour, 7 January 1858, p. 14.
76 The Police of London, p. 100.
77 Departmental Committee on Superannuation, pp. 358, 385, 424.
78 For details about the night shift see ibid., p. 385.
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each turn or shift of duty, as in the case of Constables, except perhaps some
branches of railway service“.79
Even officers with a particularly strong physique were affected by the beat.
Those who had not contracted any organic disease were „worn out men they have lost their nerve; they may have some rheumatism, but they are
prematurely aged men - men who appear to be many years older than they
really are from the premature senile decay that has taken place“.80 The
prospect of continuous service with predominantly outdoor duties was an
important element in officers' attitude towards their work. The knowledge
that promotion led to shorter tours and more indoor tasks drove officers to
seek advancement.81 Those officers who had not been promoted and had to
perform street duties throughout their working life were keen on leaving the
police service as soon as they could retire.82
It is apparent that contemporaries believed that a correlation existed
between police work and the state of health of police employees. The factor
that was widely seen as primarily responsible for police disabilities was the
„inclemency of the climate“.83 T. Holmes, the chief surgeon from the late
1860s to the mid-1880s, noted that „the excess in our sickness“ was „caused
by the diseases resulting from exposure to weather“.84 Mackellar, the chief
surgeon who succeeded him, shared this assessment. He maintained that
„the men are an exceptionally healthy and fine body of men, but they are
exposed to all weathers; and we loose [sic] a very large number of men
from diseases of the lungs, consumption, and so on“.85 As a reflection of
this belief, separate tables were published irregularly (between 1876 and
1902), providing information concerning four „diseases of exposure“:
rheumatism, common cold, bronchitis and tonsillitis. In fact, officers of all
ranks shared the belief that policemen broke down mainly because of
„constant exposure to all kinds of weather, and the hardship of want of rest
at night“.86
Although police work was not commonly associated with tuberculosis, people like Harriet Martineau felt that such a connection existed. She asked:
79 Police Review, 3 July 1908, p. 321.
80 Departmental Committee on Superannuation, p. 400.
81 Police Review, 13 February 1893, p. 79.
82 Ibid., 21 February 1902, p. 92.
83 Police Review, 30 October 1893, p. 522. See also Report of the Commissioner of Police of the Metropolis for the Year 1870, PP, 28 (1871), p. 12.
84 Report of the Commissioner of Police of the Metropolis for the Year 1870, PP, 28
(1871), p. 13.
85 Departmental Committee on Superannuation, p. 398.
86 Ibid., pp. 358, 396, 424.
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„Their lungs were sound when they entered the force, or the doctor would
not have passed them. How is it that they have gone so soon?“87 As a child
of her age, who believed in individual responsibility and self-help, she attributed the acquisition of the disease to the carelessness of policemen: „It is
not the wet weather that kills them;“ she asserted, „it is not the winter cold
that kills them; but it is the fatal rashness with which they encounter both
the one and the other [...] One man is lazy about changing his boots and
socks when he comes in on a wet day; and he even sits by a great fire with
his coat and trousers reeking with damp, instead of putting on the old suit,
which should always be at hand for use“. An 1858 article published in The
Leisure Hour made a similar connection between exposure and consumption: „In the long piercing nights of winter, the east wind will sometimes stab
him to the heart, and he will be found frozen to death at his post; or, where
the fierce blast is not immediately fatal, it will seize upon his vitals, and entailing consumption as a consequence, consign him to a lingering death“.88
Alexander Mackellar, the chief surgeon, reiterated: Phthisis and pneumonia
„are common diseases, but in the police I should say they result directly
from exposure“.89 Since the period discussed here conditions of work of
policemen have changed as did explanations concerning the origins of
diseases. It is from today's perspective that we should answer the question:
why men, who entered the force relatively healthy, were completely worn
out by the time they were forty, suffering from various ailments and disabilities other than injuries?90
As was noted earlier, candidates from rural areas were particularly favoured
for police work, since they were believed to be more fit and healthy than
city-born persons. Thus the ranks of the police included a large core of
countrymen. The most important underlying factors in their favoured
health status were better nutrition and lesser population numbers. However,
since during childhood and adolescence they were probably less likely to
have come into contact with serious childhood infectious diseases (which in
the nineteenth century included tuberculosis), they would have been less
likely to have built up natural resistance to these diseases than their cityborn colleagues. The very factors which made them ideal candidates for
selection into the Metropolitan Police could have been detrimental in their
adult life in the city.
All officers, whatever their origins, lived in London, where the rates of disease and death were notably high. The most prevalent diseases affecting the
police were those spread by droplet infection and inspiration. For optimum
spread by this method, a prerequisite is high population density, a conditi87 Martineau (see note 13), p. 525.
88 The Leisure Hour, 7 January 1858, p. 14.
89 Departmental Committee on Superannuation, p. 399.
90 Ibid., p. 423.
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on which clearly was met in London. On moving there, countrymen were
more prone to contract infectious diseases, especially since the investigatory
tasks of policemen took them to poverty-stricken slums.
Most policemen were exposed to adverse weather conditions for long stretches of time, and contemporary observers related this exposure to the most
common diseases in the force and to the high incidence of incapacitation.
Today it is known that tuberculosis is caused by Mycobacterium tuberculosis.
Other diseases which predominated among the policemen resulted from
their exposure to the causative micro-organisms. Today we know that exposure to cold weather is not in itself a cause of infectious diseases. In fact,
some officers believe that „rainy weather is the policeman's best friend“,
since then fewer people are in the streets, hence the likelihood of policemen
getting physically hurt lessens.91 But these opinions were expressed long
after the introduction of car patrols. There is, however, enough evidence to
support the view that long-term exposure to the weather in London could
have been an accessory detrimental influence. Symptoms became more
pronounced, and in some cases the risk of developing illness increased.
Current medical opinion associates certain other weather conditions, to
which the Victorian and Edwardian policemen in London were frequently
exposed, with the onset of respiratory problems. According to one medical
source, „Fog is the one weather condition in Britain which is undoubtedly
and specifically responsible for an increase in morbidity and mortality [...]
A period of fog is always followed by an excessive number of deaths from
diseases of the respiratory systems“.92 A dense fog, which covered the Greater London area between the fifth and eighth of December 1952, was followed by a rise in the number of deaths, exceeding the expected rate by 3500
to 4000 cases.93 Humid, cold, foggy weather can cause a deterioration in the
health of sufferers of pulmonary tuberculosis.94 Increasing complaints by
persons with bronchitis were recorded during fog, particularly in airpolluted areas and specially if accompanied by atmospheric cooling.95 Research carried out at the London School of Hygiene and Tropical Medicine
and published in 1958 compared postmen, who like Victorian and Edwardian policemen worked outdoors, with clerks with respect to the incidence
of bronchitis. It transpired that in foggy and polluted areas „the bronchitis
91 Stephen Rosen: Weathering. New York 1979, p. 9.
92 G. Melvyn Howe: Man, Environment and Disease in Britain. New York 1972, pp. 2526.
93 Great Britain. Ministry of Health: Mortality and Morbidity during the London Fog of
December 1952. Report on Public Health and Medical Subjects, no.95. London 1954,
pp. 1,43.
94 Frederick Sargent II and Solco W. Tromp (eds.): A Survey of Human Biometeorology. Geneva 1964, p. 59.
95 Ibid.
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Police Service in Victorian and Edwardian London
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ratio between postmen and clerks (working indoors) became larger“.96 „The
fact that chronic bronchitis is more prevalent in Britain than in any other
country in the world is mainly the result of failure to control atmospheric
pollution. Britain's generally damp and cold climate may, however, be an
aggravating factor“.97 There is also evidence that cold, moist air is unfavourable to rheumatic diseases.98 This modern evidence supports the view
that certain weather conditions could have been markedly detrimental to
the health of the Victorian policeman. Indeed, it was mainly the patrol
officers who were prone to illness. The rate of sickness varied from one division to another. Division A, where the men were relatively sheltered from
outdoor work, had a much lower rate of sickness (30% against 60% or 70%
in other divisions).99
Nowadays it is recognised that aside from „physical, chemical, and biological hazards in the workplace [...] the social organisation of work can affect
the health of workers and their families“.100 Modern research greatly emphasizes the risk factors in shift work. Although there is no evidence that
shift work affects life expectancy, it can cause dyspeptic disorders, bowel
problems and disturbances of sleep, as well as other dysfunctions.101 Night
shift, in particular, involves a disruption of basic physiological functions.102
Experimental studies show „a decrease in sensory-motor performance at
night“, contributing significantly to serious accidents occurring during night
shifts.103 By „running counter to man's natural rhythm of work and sleep“,
96 Solco W. Tromp et al: Medical Biometeorology. Amsterdam 1963, p. 501 quoting
research carried out by D. D. Reid and A. S. Fairbairn.
97 William A. R. Thomson: A Change of Air. Climate and Health. London 1979, pp.
145-146. See also Howe (see note 92), p. 190.
98 W. So'nnin et al: The Influence of Weather on Rheumatoid Arthritis. In: S. W.
Tromp and Janneke J. Bouma (eds.): Biometeorological Survey. 1 (1973-1978), pt. A.
London 1979, p. 143.
99 Departmental Committee on Superannuation, pp. 381, 387, 420, 453.
100 Dean Baker: The Use and Health Consequences of Shift Work. In: Vicente Navarro
and Daniel M. Berman (eds.): Health and Work Under Capitalism: an International
Perspective. Farmingdale, New York 1983, p. 107.
101 Ibid., pp. 116-117. See also Robert T. Golembiewski and Byong-Seob Kim: Burnout
in Police Work: Stressors, Strain, and the Phase Model. In: Police Studies 13 (Summer
1990), p. 75.
102 The adverse effects which the eight-hour night tour had on the health of police officers
had been recognized by medical opinion at the beginning of the twentieth century.
Professionals recommended a break of half an hour for rest and food as a preventive
measure (Police Review, 14 February 1908, p. 79). It was granted at the beginning of
the century.
103 Baker (see note 100), p. 117.
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shift work is known to be a „potent cause of fatigue“.104 It takes time for the
internal clock to readjust to the work clock.
In addition to the negative effects of shift work, routine police work in the
nineteenth century was characterised by the expenditure of considerable
energy. Policing in London was more complex and demanding than elsewhere, and was known to deplete the vitality of officers.105 Fatigue could
exacerbate a health condition and even induce disease. The body's defences
against adverse conditions gradually weakened and policemen fell ill, resulting in many having their services terminated prematurely.
Modern research into police health in the USA suggests that policemen face
certain physical hazards associated with the job, but that „these nonpsychological stressors play only a small part in the health and well-being of the
policemen“.106 Recognising that there is a noticeable deterioration in the
health of officers „after only a short period of employment in the policing
profession“, current research focuses on psychological job stresses.107 Although the subject of some debate, the majority view of the wealth of publications on this topic maintains that „the police have more stress-related
health problems than most other workers“, and that the police are subjected
to unique job stressors which result in physical as well as psychological ilnesses.108 The record of police ailments is diverse, but points to a high rate
of heart and circulatory diseases, diabetes, back disorders, peptic ulceration
and tense headaches.109. Studies also emphasize high rates of injury and
suicide among US policemen.110
The assumption that policemen suffer from physical and in particular acute
mental strain is so widely accepted today that many of the current investigations into the „burnout syndrome“ focus on police work. This syndrome
is expressed by „fatigue, emotional and physical exhaustion, low personal
accomplishment, irritability, negative self-concept, negative job attitude, loss
104 Alex Poteliakhoff and Malcolm Carruthers: Real Health. The Ill Effects of Stress and
their Prevention. London 1981, p. 58.
105 Departmental Committee on Superannuation, p. 334.
106 William H. Kroes: Society's Victims - The Police. Springfield, Illinois 1985, p. 5; See
also William H. Kroes and Joseph J. Hurrell jr. (eds.): Job Stress and the Police
Officer. Cincinnati, Ohio 1975.
107 John H. Burge: Occupational Stress in Policing. La Canada, California 1984, p. 38.
108 Kroes, Society's Victims (see note 106), p. VII; Mary Jeanette C. Hageman: Occupational Stress of Law Enforcement Officers and Marital and Familial Relationships.
PhD. Washington State University 1977; Alan Mitchell Goodman: A Model for Police Officer Burnout. PhD. The California School of Professional Psychology 1983; Golembiewski (see note 101), p. 74.
109 Kroes, Society's Victims (see note 106), p. 129-130; Hageman (see note 108), p. 1;
Burge (see note 107), pp. 163-169; Golembiewski (see note 101), p. 76.
110 Burge (see note 107), pp. 146-149; Golembiewski (see note 101), p. 76.
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Police Service in Victorian and Edwardian London
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of concern and feeling for clients, and a cynical attitude“.111 Researchers
relate these symptoms to the environment, organisation and nature of police work.112
Despite the very marked differences in place, time, and police activities, the
partial similarity in the strenuous work environment of policemen in the
nineteenth century and at present may suggest that a „burnout syndrome“
affected some Metropolitan policemen in the period under discussion. Its
consequences may explain the large number of officers who were invalided
as a result of non-physical complaints and whose reasons of departure were
described as „debility and long service“ (see Table 3 above). Perhaps some
of the officers who were invalided under the rubric of „mental affection and
insanity“, and even suicide, were also victims of the burnout syndrome.
Contemporary observers were acutely aware of the mental strain associated
with police work. Like present-day researchers, they pointed at factors such
as police relationship with the public, the criminal justice system, the harsh
discipline within the force, and the tensions between the men and the
commanding officers.113 The reaction of individuals to their work environment clearly depends on their physical, mental and emotional constitutions.
Those officers who could not cope with the mental strain, contributed to
the statistics of sick leave, invaliding and even death. Physical strain and
stressful conditions combined to render police work a hazardous occupation. The fact that the medical profile of the force showed a relatively low
death rate should not obscure the detrimental effects of police work.
111 Goodman (see note 108), p. 6.
112 Burge (see note 107), pp. 38-39; Goodman (see note 108), p. 16; Golembiewski (see
note 101), pp. 74-76.
113 See The Spectator, 20 August 1887, p. 1114; Frederick Porter Wensley: Forty Years of
Scotland Yard. London 1930, pp. 14-16 and Departmental Committee on Superannuation, pp. 360, 404.
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Haia Shpayer-Makov
Summary
British society in the nineteenth century showed a growing concern with public-health
issues and with occupational hazards. Police service, which is at the centre of this paper,
was not viewed by many as a hazardous occupation. Using the London Metropolitan Police as a case study, the paper suggests that working conditions in the Victorian and Edwardian police had detrimental effects on the health of officers. It is true that medical statistics
of the time showed that police officers in London had a lower death rate than the average
working man, but this comparison should not obscure the fact that policemen entered the
force much healthier than when they retired and that this gap was not merely age-related.
The paper sets out to answer the following questions: What were the prevalent injuries and
illnesses in the Metropolitan Police? What was the work experience of the police officer
and what impact did it have on his state of health? In addition to accounting for the deteriorating health of police officers, the paper provides the views of contemporary observers
on the subject.
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„Ruhe ist die erste Bürgerpflicht.“ Lärm, Großstadt und Nervosität im Spiegel von Theodor Lessings „Antilärmverein“*
Matthias Lentz
Wer immer behauptet, Historiker zu
sein und sich nicht bemüßigt fühlt,
den Menschen aufzuspüren, wo dieser
auch verborgen sein mag, den lebenden
fühlenden Menschen voller Leidenschaft,
Feuer und Temperament - der ist ein
stumpfer Geist.
Lucien Febvre
I.
Die Reize der Großstadt
1903 veröffentlichte der Philosoph und Soziologe Georg Simmel seinen
Essay „Die Großstädte und das Geistesleben“. Im Kontrast zum „langsameren, gewohnteren, gleichmäßiger fließenden Rhythmus“ des Kleinstadt- und
Landlebens ist demnach die
psychologische Grundlage, auf der der Typus großstädtischer Individualitäten sich
erhebt, [...] die Steigerung des Nervenlebens, die aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke hervorgeht.1
Diese Sichtweise teilte auch der bedeutende Historiker Karl Lamprecht. Als
scharfsinniger Zeitgenosse beobachtete er ebenfalls 1903:
Und hat sich nicht unser aller heutzutage [...] eine gewisse Nervenstimmung bemächtigt, die zwar nicht mit der alten groben und krankhaften Nervosität identisch ist, von
der man vor zwei bis drei Jahrzehnten allein sprach, - die aber doch eine Feinfühligkeit gegenüber Reizen aufweist, wie sie frühere Geschlechter nicht kannten? In dieser
Erscheinung aber kann die heutige allgemeine Nervosität nicht mehr als eine Form
der Entartung bezeichnet werden: vielmehr ist sie, so geartet, nichts als eine entwicklungsgeschichtlich herbeigeführte und zwar im Sinne der Verfeinerung entfaltete Abart
früherer Nervenstimmungen.2
*
Für wertvolle Hinweise und anregende Gespräche habe ich Thomas Gorsboth und
Prof. Dr. Joachim Radkau zu danken.
1
Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben. In: Ders.: Brücke und Tür. Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft. Stuttgart 1957,
S. 227-242, hier S. 227-228. Vgl. dazu Lothar Müller: Die Großstadt als Ort der Moderne. Über Georg Simmel. In: Klaus R. Scherpe (Hg.): Die Unwirklichkeit der Städte. Großstadtdarstellungen zwischen Moderne und Postmoderne. Reinbek 1988, S. 1436. Bemerkenswert ist die Tatsache, daß Simmel den positiven Begriff der „Steigerung
des Nervenlebens“ benutzt, nicht den der „Reizung“.
2
Karl Lamprecht: Deutsche Geschichte. Zweiter Ergänzungsband. 1. Hälfte: Zur jüngsten deutschen Vergangenheit. Freiburg 1903, S. 262. Jedoch wird sich Lamprechts
merkwürdige historische Unterscheidung verschiedener Nervositäten empirisch wohl
kaum belegen lassen.
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Matthias Lentz
Zusammenfassend prägte Lamprecht für diese entwicklungsgeschichtliche
Erscheinung, deren Ursprung er in der „freien Unternehmung“ sah, den
Ausdruck „Reizsamkeit“.3 Dieses Moment der Reizüberflutung ist ein fester
Bestandteil unseres Bildes der Jahrhundertwende und des aufziehenden 20.
Jahrhunderts geworden. So sah jüngst Thomas Nipperdey neben der allgemeinen Beschleunigung der Lebensverhältnisse als weitere Grunderfahrung
des Lebens im deutschen Kaiserreich die „Zunahme der Eindrücke und Erlebnisse, der Reize.“4 Sie gilt damit als Bestandteil der Moderne, welche das
Deutsche Reich zwischen 1871 und 1914 gravierend verändert hat. Von
den zahlreichen Elementen, die gemeinhin unter dem Sammelbegriff der
„Modernisierung“ subsumiert werden,5 können solche objektiven Charakters von anderen subjektiver Natur unterschieden werden. In die erste Kategorie gehören beispielsweise Phänomene wie Bevölkerungswachstum, Urbanisierung, Produktivitätssteigerung. Diese einschneidenden Wandlungsprozesse sind in der Literatur ausführlich und differenziert dargestellt worden.6 Was allerdings wesentlich seltener in Untersuchungen thematisiert
wird, sind die Merkmale der zweiten Kategorie, die das Erleben solcher
Vorgänge und Strukturbildungsprozesse auf der Ebene des menschlichen
Individuums reflektieren.
Hier soll daher der Versuch einer Wahrnehmungsgeschichte unternommen
werden, die Bausteine einer Innenansicht des Dezenniums nach der Jahrhundertwende bietet. Präsentiert wird ein Ausschnitt der Befindlichkeit
großstädtischer Bevölkerung zwischen etwa 1900 und 1910 im Spiegel ihrer
subjektiven Perzeption von Umwelt, Technik, Verkehr und Mitmenschen.
Zum Sammelpunkt dafür wird jegliche Form des Erfahrens von Lärm und
Geräusch, deren Bekämpfung sich seit 1908 der „Deutsche Lärmschutzverband“, prägnant „Antilärmverein“ genannt, zum Ziel gesetzt hatte. Es ist zu
fragen, welcher Lärm in dieser Vereinigung thematisiert, welcher ignoriert
wurde und in welchen Kommunikationsformen dies geschah. Welche Argumente begegnen uns, wenn dem Phänomen Lärm oder seiner Bekämpfung Sinn und Bedeutung zugewiesen werden sollte? Von welchen Diskursen wurden die Wahrnehmungsmuster urbaner Umwelten der Jahrhundertwende bestimmt?7 Klagen über Lärm und Maßnahmen zu seiner Be3
Ebenda. Vgl. auch ders.: Deutsche Geschichte der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart. Bd. 1. Berlin 1912, S. 281.
4
Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866-1918. Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist. München 1990, S. 188.
5
Vgl. die umfassende Zusammenstellung bei Thomas Nipperdey: Probleme der Modernisierung in Deutschland. In: Saeculum 30 (1979), S. 292-303, hier S. 292.
6
Einen ersten Zugang bietet Jürgen Reulecke: Geschichte der Urbanisierung in
Deutschland. Frankfurt/Main 1985.
7
Ich greife hier Ideen von Ute Daniel auf, die für eine Integration von „Sinnzuweisungen, Bedeutungs- und Wahrnehmungsmustern der gesellschaftlichen Subjekte“ in die
Sozialgeschichte plädiert, an deren Ende diese „nicht nur zum Zentrum der Analyse,
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„Ruhe ist die erste Bürgerpflicht“
83
kämpfung finden sich in allen Epochen der Menschheitsgeschichte,8 aber
was bildet das Spezifische des Geräuscherfassens in den neuen Metropolen?
Wie sahen mögliche Formen der Verarbeitung aus, und welcher Erfolg war
ihnen beschieden?
Mit der Beantwortung dieser Fragen ist es natürlich unmöglich, ein Gesamtporträt der Stadt zu entwerfen, aber zumindest sind „Momentaufnahmen der Erfahrung von Modernität“9 zu erwarten.
II.
Theodor Lessings „Antilärmverein“ und die Nervositätsdebatte
der Moderne
Der Philosoph, Schriftsteller und Mediziner Theodor Lessing (1872-1933),10
der hauptsächlich durch seine kulturpessimistische Abhandlung „Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen“ (1919) bekannt wurde, litt bereits als Student unter dem Lärm seiner Umgebung. „Die lauteste Wohnung, die ich je
bewohnt habe“, so Lessing, bezog er 1895 in München: „Jeden Morgen
fluchte ich: 'Ich ziehe aus! Ich habe nicht geschlafen'.“11 Den Torturen folgten 1901 und 1902 erste Veröffentlichungen zum Thema. Mittlerweile zum
Doktor der Philosophie promoviert und von Schopenhauer inspiriert, der
mehr als fünfzig Jahre vorher entrüstet gegen das „wahrhaft infernale Peitschenklatschen“12 der Fuhrknechte wetterte, kritisierte er darin hauptsächlich das störende Verhalten des „Pöbels“, dem er die geistig Arbeitenden
entgegenstellte: „Der Lärm ist das verfeinerte Faustrecht, durch welches der
sondern auch der wissenschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit“ werden. Vgl. Ute
Daniel: „Kultur“ und „Gesellschaft“. Überlegungen zum Gegenstandsbereich der Sozialgeschichte. In: Geschichte und Gesellschaft 19 (1993), S. 69-99, hier S. 72 u. S. 99.
Ähnlich verfährt übrigens auch die historische Umweltforschung. Vgl. Gerhard Jaritz:
Umweltbewältigung. Der Beitrag der Geschichtswissenschaften. In: Ders. u. Verena
Winiwarter (Hg.): Umweltbewältigung. Die historische Perspektive. Bielefeld 1994, S.
7-22, hier S. 9.
8
Hans Wiethaup: Lärmbekämpfung in historischer Sicht. In: Zentralblatt für Arbeitsmedizin und Arbeitsschutz 16 (1966), S. 120-124.
9
Lothar Müller: Modernität, Nervosität und Sachlichkeit. Das Berlin der Jahrhundertwende als Hauptstadt der 'neuen Zeit'. In: Mythos Berlin. Zur Wahrnehmungsgeschichte einer industriellen Metropole. Katalog zur Ausstellung. Berlin 1987, S. 79-92,
hier S. 87.
10
Auf die Biographie dieses couragierten Denkers, der schon 1926 aufgrund einer antisemitischen Hetzkampagne seinen Lehrstuhl verlor und 1933 ein frühes Opfer des NSTerrors wurde, kann an dieser Stelle leider nicht ausführlich eingegangen werden. Vgl.
Rainer Marwedel: Theodor Lessing 1872-1933. Eine Biographie. Darmstadt 1987. Zusammengefaßt jetzt auch in Bernward Baule: Kulturerkenntnis und Kulturbewertung
bei Theodor Lessing. Hildesheim 1992 (= Beiträge zur Historischen Bildungsforschung, Bd. 11), S. 1-22.
11
Theodor Lessing: Einmal und nie wieder (Autobiographie). Gütersloh 1969, S. 290.
12
Arthur Schopenhauer: Über Lärm und Geräusch. In: Ders.: Parerga und Paralipomena. Bd. 2. Frankfurt/Main 1986 (= Sämtliche Werke, Bd. 5), S. 753-757, hier S. 754.
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Pöbel, der zahlreicher ist als Bandwürmer und Störe, sich an denen rächt,
die vermöge ihres überlegenen Geistes ihm Gesetze vorschreiben.“13 Dieses
Verhalten der Ruhestörer wird auf originelle und einzigartige Weise psychologisch motiviert:
Denn der Lärm geschieht nie ohne Selbstgefühl. Ein Fuhrknecht, welcher mit der Peitsche knallt, eine Magd, welche Betten klopft, ein Tambour, der die Trommel schlägt,
empfindet in seinem Lärme die genußreiche Besthätigung seiner selbst und eine Vergrößerung seiner Machtsphäre. Haben diese Leutchen auch kein anderes Mittel, sich
der Welt bemerkbar zu machen und ihre Macht Andere spüren zu lassen, so können
sie sich durch die Ohren ihrer Mitmenschen ihre Existenz und ihren Einfluß sich
deutlich beweisen.14
Lessing hat wenig später über die „Psychologie der Betäubung“ ausgeführt,
daß dem Menschen ein Bedürfnis nach Bewußtlosigkeit und Vergessen wesenseigen sei. Ähnlich wie z.B. Alkohol diene auch Lärm dem Erreichen
dieses Zustandes.15 Und da die breite Masse des Volkes eine „schale und
nichtige, inhaltslose und flache Existenz“ führt, ist gerade sie es, die ein Bewußtwerden dieses Umstandes zu verhindern trachtet: „Denn all' dieses
Lärmen rund um uns her ist nur das uralte Palliativmittel, welches die Menschen gegen ihr Erwachen zur Bewußtheit des Lebens gebrauchen.“16 Die
zivilisierten Menschen hingegen, die „schaffenden und schaffend denkenden
Geister“, geben sich durch ihre Lautlosigkeit oder besser noch durch ihr
Schweigen zu erkennen und „empfinden allen Lärm als Störung.“17 Am
Jahrhundertbeginn schien dem Philosophen daher die kulturelle Entwicklung existentiell gefährdet:
Aber erst in den letzten Jahren hat der großstädtische Lärm durch Hochbahnen, elektrische Bahnen, Dampfwagen, Automobile und andere malthusianische Decimirungsmittel jenen Gipfelpunkt erreicht, auf welchem subtiles, geistiges Arbeiten unmöglich
und der erwünschte halbbewußte Dämmerdusel der Mediokritäten dauernd gesichert
zu sein scheint.18
Aus dieser schneidenden Beschreibung der Zustände um 1900 zog Lessing
ein Fazit, das die gesamte spätere Arbeit und soziale Struktur des „Antilärmvereins“ vorherbestimmte:
13
Theodor Lessing: Über den Lärm. In: Nord und Süd. Eine deutsche Monatsschrift 97
(1901), S. 71-84, hier S. 80.
14
Ebenda, S. 76.
15
Theodor Lessing: Der Lärm. Eine Kampfschrift gegen die Geräusche unseres Lebens.
Wiesbaden 1908 (= Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens, H. 54), S. 3-13. Ähnlich auch ders.: Über Psychologie des Lärms. In: Zeitschrift für Psychotherapie und
medizinische Psychologie 1 (1909), S. 77-87.
16
Lessing: Über den Lärm (wie Anm. 13), S. 74.
17
Ebenda.
18
Theodor Lessing: Noch einiges über den Lärm. In: Nord und Süd. Eine deutsche
Monatsschrift 103 (1902), S. 330-339, hier S. 336.
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„Ruhe ist die erste Bürgerpflicht“
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Da können nur Coalitionen der Geistesarbeiter helfen, die streng dringen auf Einschreiten gegen Peitschenknallen, Klingeln, Hausiren, auf geräuschloses Pflaster,
Gummiräder und feste Ruhestunden. Ebenso ist Hundegebell, zumal in Neubauten,
Teppichklopfen, Ruhestörung durch Pfeifen und Schreien in den Straßen so lange
energisch zu rügen, bis wirklich und wahrhaftig Ruhe zur „ersten Bürgerpflicht“ geworden ist [...]19
Ein solches Bündnis kam dann erst 1908 zustande, nachdem sich Lessing
als Privatdozent in Hannover dauerhaft niedergelassen hatte. Hier gründete
er den „Deutschen Lärmschutzverband“, der als „Antilärmverein“ bald allgemeine Bekanntheit erlangte.20 Kurz zuvor hatte der Hannoveraner seine
bisherigen Überlegungen in dem Buch „Der Lärm. Eine Kampfschrift gegen die Geräusche unseres Lebens“ zusammengefaßt und damit das „Signal
[...] zu einem allgemeinen Kampf gegen das Übermass von Geräusch im
gegenwärtigen Leben“ gegeben.21 Beide Ereignisse fanden in der Tagespresse lebhaften Widerhall, wenn auch nicht durchgängig von allgemeiner Zustimmung berichtet werden kann.22 Ab November 1908 erschien dann monatlich das Mitteilungsorgan „Der Anti-Rüpel. Antirowdy. Das Recht auf
Stille“, dessen Untertitel „Monatsblätter zum Kampf gegen Lärm, Roheit
und Unkultur im deutschen Wirtschafts-, Handels- und Verkehrsleben“ die
weitreichende Zielsetzung der Vereinigung bekannt machte. Doch bereits
der schlagkräftige Zeitschriftentitel führte zu ersten Irritationen. Schon in
der zweiten Ausgabe wurde der Nebentitel „Das Recht auf Stille“ zum
Obertitel gemacht, wenn auch der Herausgeber die Entschärfung bedauerte.
Während der kurzen Erscheinungsphase des „Antirüpels“ blieb diese Ände19
Lessing: Über den Lärm (wie Anm. 13), S. 83-84.
20
Ein vergleichbarer Verein war bereits 1906 in New York unter dem Namen „Society
for the Suppression of Unnecessary Noise“ gegründet worden. Seine Arbeit war dauerhafter und erfolgreicher als die des deutschen Pendants, kann hier aber nicht weiter
berücksichtigt werden. Vgl. dazu Lawrence Baron: Noise and Degeneration. Theodor
Lessing's Crusade for Quiet. In: Journal of Contemporary History 17 (1982), S. 165178; Raymond W. Smilor: Toward an Environmental Perspective. The Anti-Noise
Campaign 1893-1932. In: Martin V. Melosi (Hg.): Pollution and Reform in American
Cities 1870-1930. Austin 1980, S. 135-151; ders.: Confronting the Industrial Environment. The Noise Problem in America, 1893-1932. phil.Diss. Austin 1978
(masch.). Gleichzeitig mit der Vereinsgründung in Hannover konstituierte sich auch
in London das „Street-Noise-Abatement-Committee“. Vgl. Der Antirüpel 1 (1908), S.
4-5. Am 10. August 1909 kam es zwischen Vertretern aller drei Vereinigungen sogar
zu einer Konferenz in London. Vgl. Der Antirüpel 1 (1909), S. 209-210. Ausführlichere Pressedokumentation darüber im Stadtarchiv Hannover, Nachlaß Lessing, Nr.
2555.
21
Lessing: Der Lärm (wie Anm. 15), S. 2. Auf publizistischem Wege warb Lessing mit
Aufsätzen in verschiedenen Zeitschriften für seine Idee. Vgl. z.B. Theodor Lessing:
Der Verein gegen Lärm. In: Die Zukunft 64 (1908), S. 437-442; ders.: Die Lärmschutzbewegung. In: Dokumente des Fortschritts 1 (1908), S. 954-961.
22
Vgl. dazu die umfangreiche Sammlung von Zeitungsausschnitten im Stadtarchiv
Hannover, Nachlaß Lessing, Nr. 2483 bis 2554 und Nr. 2555. Zum „Antilärmverein“
allgemein auch Marwedel (wie Anm. 10), S. 104-107; Baule (wie Anm. 10), S. 7-8.
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rung jedoch nicht die einzige. Mit Beginn des zweiten Jahrganges 1910
wurde er zur Beilage der volkspädagogisch-sozialreformerischen Zeitschrift
„Der Arzt als Erzieher“. Aber weder diese Maßnahme noch die zwei Sekretärinnen im Zentralbüro des Verbandes konnten den vielbeschäftigten Initiator Lessing entlasten. Bald stand er vor der Frage: „Soll ich mein Denkerleben aufgeben, um dieser praktischen Volksbewegung mich zu weihen,
oder soll ich das soziale Werk aufgeben, um mir selbst zu gehören.“23 Die
Entscheidung fiel zugunsten der Philosophie aus. Im Juni 1911 erschien der
„Antirüpel“ zum letztenmal. Nicht frei von Desillusion waren die Abschiedsworte des obersten „Antilärmiten“:
Indem ich von der mir ans Herz gewachsenen Schöpfung Abschied nehme - ans Herz
gewachsen wie ein Sorgenkind, trotz vieler Bitterkeit und Enttäuschung - mag ich
nicht viele Worte machen, sondern nur sagen, daß ich allen, die die neue soziale Idee
unserer Liga verstanden und sie unterstützten, herzlich danke [...]. Unsere Sache kam
noch zu früh, wird sich aber immer wieder melden und wird siegen.24
Eine Neuorganisation des Vereins wurde noch von ihrem Begründer eingeleitet. Sie sah die Verlagerung der Aktivitäten auf die Ebene lokaler Gruppen vor. Die Geschäftsstelle wurde nach Berlin abgegeben, der „Lärmschutzverband“ bestand noch bis 1914. Die Publizität der Jahre 1908 bis
1911 indes erreichte er längst nicht mehr. Unter den aufziehenden „Stahlgewittern“ (E. Jünger) des Ersten Weltkrieges wurde das Leid am Krach
nachbarlichen Teppichklopfens peripher. In den letzten Vorkriegsjahren
entsprach das Streben nach Ruhe nicht mehr dem Geist der Zeit.
Dieser Wandel läßt sich deutlich in der allgemeinen Nervositätsdebatte des
Kaiserreichs festmachen. Sie geht zurück auf das 1880 veröffentlichte Buch
„Neurasthenia“ des amerikanischen Neurologen George M. Beard. Darin
wurde erstmals die rastlose Anspannung des Menschen in der technisierten
und beschleunigten Umwelt industrialisierter und urbanisierter Räume als
Ursache für eine bisher nicht gekannte geistige Erschöpfung und allgemeine
Nervenschwäche benannt. Als ihre Symptome galten Kopfschmerzen,
Schlaflosigkeit, Schwindelgefühle, Verdauungsstörungen, Herzbeschwerden
und Impotenz. Brockhaus` Konversationslexikon porträtierte den Neurastheniker 1894 „als leicht ermüdbares, ständig reiz- und erregbares, chronisch überanstrengtes Wesen.“25 Das Neurasthenie-Konzept selbst blieb
terminologisch unscharf, wurde aber gerade dadurch erfolgreich, da diese
Ungenauigkeit die Möglichkeit eröffnete, verschiedenste Sachverhalte zu
integrieren. Besonders in Deutschland zeigte eine Übersetzung der Abhand-
23
Lessing: Einmal (wie Anm. 11), S. 405.
24
Der Antirüpel 3 (1911), S. 30.
25
Zitiert nach Müller: Modernität (wie Anm. 9), S. 85.
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lung große publizistische Wirkung und entfachte eine Kontroverse um die
Belastung und Überlastung der Nerven. Sie lief erst kurz vor 1914 aus.26
Zwei Richtungen der Debatte sind für unsere Fragestellung wichtig und
sollen kurz skizziert werden. Der Mediziner Wilhelm Erb führte in einer
Rede „Ueber die wachsende Nervosität unserer Zeit“ (1893) „das Leben in
den großen Städten“ als generelle Ursache für die neue Krankheitserscheinung an, denn in seinem Gefolge stünden unter anderem „Religionslosigkeit, die Unzufriedenheit und Begehrlichkeit“ sowie ein „ins Ungemessene
gesteigerter Verkehr.“27 Diese zeitkritische Einstellung wird in abgewandelter Form häufig geäußert. Der Psychiater Binswanger betonte beispielsweise
1896 „die nahen Beziehungen, welche das moderne Leben, das ungezügelte
Hasten und Jagen nach Geld und Besitz, die ungeheuren Fortschritte auf
technischem Gebiete [...] zu dieser Krankheit aufweisen.“28 Derartige Zitate
ließen sich leicht vermehren. Elaborierte Gegenkritiken an diesen Einschätzungen hingegen sind seltener, aber dennoch zu finden. Als Beispiel eines
Zeitgenossen, der den simplen Zusammenhang von Großstadt und Zunahme der Nervenkrankheiten nicht ungeprüft hinnehmen wollte, sei der Nervenarzt Albert Moll genannt. In einer sehr differenzierten Argumentation
arbeitete er, teils auf statistischer Basis, heraus, daß „die Großstadt weder als
etwas sittlich oder sozial Minderwertiges noch als eine pathologische Erscheinung der Gegenwart“ betrachtet werden darf.29 Moll geht aber weiter,
denn noch eine andere Fehleinschätzung sieht er mit seiner Beweisführung
ausgeräumt: „Wenn wir dies alles berücksichtigen, können wir das Dogma
von den gesunden Nerven der Kleinstädter und der Landbewohner ebenso
zu den Märchen rechnen, wie die Erzählung von der Unschuld vom Lande.
Es ist ein Irrtum, die Nervenkrankheiten allgemein für ein Produkt der
Großstadt zu erklären.“30
26
Allgemein zum Neurastheniediskurs jetzt Joachim Radkau: Technik, Tempo und nationale Nervosität. Die Jahrhundertwende als Zäsur im Zeiterleben. In: Martin Held u.
Karlheinz A. Geißler (Hg.): Ökologie der Zeit. Vom Finden der rechten Zeitmaße.
Stuttgart 1993, S. 151-168, bes. S. 156-157 u. S. 165-166; ders.: Die wilhelminische
Ära als nervöses Zeitalter, oder: Die Nerven als Netz zwischen Tempo- und Körpergeschichte. In: Geschichte und Gesellschaft 20 (1994), S. 211-241, bes. S. 212-214.
27
Wilhelm Erb: Ueber die wachsende Nervosität unserer Zeit. Heidelberg 1893, S. 20.
28
Zitiert nach Sigmund Freud: Die 'kulturelle' Sexualmoral und die moderne Nervosität.
In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 7. Frankfurt/Main 61976, S. 143-167, hier S. 147.
Freud selbst empfand solche Lehren als „unzulänglich“ und sah als wesentliches ätiologisch wirksames Moment des nervösen Krankseins „die schädliche Unterdrückung
des Sexuallebens“, ebenda, S. 148.
29
Albert Moll: Der Einfluss des großstädtischen Lebens und des Verkehrs auf das Nervensystem. In: Zeitschrift für pädagogische Psychologie und Jugendkunde 4 (1902), S.
121-134 u. S. 229-247, hier S. 247.
30
Ebenda, S. 240.
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Zwischen diesen beiden Polen verläuft also die Diskussion über Großstadt
und Nervosität. Einen vermittelnden Standpunkt nimmt der Medizinalrat
Cramer ein, wenn er beim „Zustandekommen der Nervosität [...] angeborene (endogene) und erworbene (exogene) Ursachen“ beteiligt sieht.31 Bei
Cramer spielt die Großstadt nicht die Hauptrolle in der Ätiologie der Nervosität, aber ihre Reize bleiben dennoch nicht unbeachtet:
Bei weitem die wichtigere Rolle spielen die akustischen Reize [...] Namentlich im
großstädtischen Leben (werden) eine Menge von akustischen Reizen produziert, die
vermeidbar sind. Der Höllenlärm, der heute in den belebten Straßen der Großstädte
vorhanden und für empfindliche Individuen sicher schädlich ist, läßt sich bei gutem
Willen wohl verringern.32
Wenn Lessing also in der ersten Ausgabe des „Antirüpels“ unter der Überschrift „Kultur und Nerven“ als Voraussetzungen für die Gründung des
„Antilärmvereins“ „Nervosität, Großstadt und Armut“ angibt, so tut er dies
ganz bewußt als informierter
Zeitgenosse.33 Zum einen greift er damit die
Verspottung von seiten der Presse auf, die ihn als „Lärmprofessor“ verulkte,
zum anderen schlägt er die Brücke zu dem bereits etablierten und populären Neurastheniediskurs des Kaiserreichs. Diese Verbindung scheint Lessing
allemal akzeptabel:
Nun wollen wir ruhig annehmen, die „Antilärmbewegung“ wäre eine Folgeerscheinung der städtischen Neurasthenie, der Reizbarkeit und zunehmenden nervösen Verletzlichkeit des heutigen Menschen. Was wäre damit eigentlich gegen sie gesagt? Wenn
die Menschen nun einmal so nervös geworden sind, daß sie die Hölle von Geräuschen, die uns heute umgibt, schlechterdings nicht mehr ertragen können, will man sie
dann lieber zugrunde gehen lassen, als ihnen helfen? Will man etwa eine „Auslese der
Lärmstumpfesten“, eine Auslese der gegen Geräusche unempfindlichen Personen herbeiführen? Wir beneiden diese lärmstumpfen Personen keineswegs um ihre „gesunden
Nerven“! Denn wir können nicht glauben, daß sie imstande sind, nach irgendeiner
Richtung hin am Geistesleben unserer Zeit Anteil und Interesse zu nehmen.34
Ruhelosigkeit wird zum Kennzeichen des verfeinerten Menschen, „wachsende Nervosität der Kaufpreis, um den wir Kulturmenschen sind.“35 Die
Idee der Nervosität als Kultur wurde bereits 1902 von dem Nervenarzt und
Sozialpsychologen Willy Hellpach herausgearbeitet. Er führte folgendes
aus: „Die unendlich gesteigerte Anteilnahme an den auf uns eindringenden
Reizen, die Eroberung ganz neuer Gebiete des Lebens für Stimmung und
ästhetischen Genuss, das Reagieren auf die leisesten Regungen in der Psyche des Mitmenschen, die uns oft nur in Ahnungen sich andeuten - alles
31
A. Cramer: Die Ursachen der Nervosität und ihre Bekämpfung. Braunschweig 1908,
S. 1.
32
Ebenda, S. 14.
33
Der Antirüpel 1 (1908), S. 2.
34
Ebenda.
35
Ebenda, S. 3
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das ist dauernder Neuerwerb, ist gesund, ist reizsam.“36 Georg Simmel hat,
wie bereits oben gezeigt wurde, diese „Steigerung des Nervenlebens“ dann
als Grundlage des Großstadtmenschen aufgefaßt. Eine solchermaßen exponierte Kreatur muß jedoch, so Lessing, unter den gegebenen Lebensbedingungen zugrunde gehen. Aber sie „wird gesund bleiben und sozusagen eine
Gesundheit auf neuer Lebenstufe erlangen, wenn die Bedingungen des Verkehrs, des Handels, der Städteordnung mit der Verfeinerung des Leibes und
der Seele Schritt halten.“37 Nicht ohne Stolz formuliert die „leidende Minorität“: „World`s work is done by its invalids.“38 Diese Parole begegnet abgewandelt wenige Jahre vorher bei der amerikanischen Nervenärztin Margaret
A. Cleaves, die „die anerkannte Tatsache“ formulierte, „that the work of the
world is largely done by neurasthenes.“39 Hier also findet die Antilärmbewegung ihren Rückhalt. Nur gebrochen im Neurastheniediskurs begegnen
uns die komplexen Netze aus Technik, Verkehr, Industrie und Nerven. Das
Aufsuchen simpler Kausalitäten erweist sich als unzureichend.
Auch die Rezeption und Diskussion des „Antilärmvereins“ in der Öffentlichkeit fand im Rahmen der Nervositätsdebatten statt. Das demonstrativ
zur Schau gestellte Elitebewußtsein der Lärmempfindlichen mußte derbe
Gegenäußerungen provozieren. „Ein erfahrener Psychiater“ schrieb an den
Herausgeber des „Antirüpels“:
Alle die, welche Ihnen zustimmen, mit Ihnen hoffen, sind Kranke! Als ich die Statuten
las, in denen nichts vergessen worden ist, sagte ich mir, da können nur Kranke, wie
ich sie kenne, mitgewirkt haben.- Vielleicht oder wahrscheinlich sind Sie selbst ein
Kranker im pathologischen Sinne: Die Krankheit oder das Symptom ist Hyperästhesie des Akustikus. [...] Zugrunde liegt in erster Linie Hysterie, in zweiter Diabetes, oft
ganz geringen Grades. Dann kommen allerdings andere Zustände in Betracht: Salizylvergiftung, Blasenleiden, alter Tripper, Alkoholabstinenz bei Alkoholisten, ebenso
Abstinenz der Morphinisten, Abstinenz des Rauchens, Klimax, Arteriosklerose etc.,
auch Lues.40
Diese radikale Pathologisierung des Leidens unter Lärm stellt zwar eine
Ausnahme dar, benutzt aber weitverbreitete Argumentationsmuster der Zeit.
Die Diagnose „Hysterie“ zielte mittels ihres frauenfeindlichen Grundzuges
gegen eine offenbar als „unmännlich“ empfundene Lärmempfindlichkeit.
Männer wie Lessing und seine Bundesgenossen sollten durch einen solchen
Befund zu Vertretern eines schwachen Geschlechts degradiert werden.
Damit war das zeitgenössische Repertoire aber nicht erschöpft. Ergänzend
treten zwei verbreitete Auffassungen von den Ursachen der Nervenschwäche hinzu. Erstens sexuelle Ausschweifungen, in deren Folge es zu Erkran36
Willy Hellpach: Nervosität und Kultur. Berlin 1902 (= Kulturprobleme der Gegenwart, Bd. 5), S. 17.
37
Der Antirüpel 1 (1908), S. 3.
38
Ebenda, S. 4.
39
Zitiert nach Radkau: Wilhelminische Ära (wie Anm. 26), S. 221.
40
Der Antirüpel 1 (1909), S. 44.
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kungen wie Tripper und Syphilis kommt, zweitens Alkohol- bzw. Drogenmißbrauch. Beides geht letztlich auf ein ungezügeltes Triebleben zurück,
mithin also auf eine mangelnde Rationalisierung der Lebensführung.41
III. Zur Innenansicht des „Antilärmvereins“
Ging Lessing noch in der Gründungseuphorie von einer baldigen Zahl von
6000 Vereinsmitgliedern aus, so mußte er sich in kürzester Zeit eines Besseren belehren lassen. Im Dezember 1910 bekannten sich ganze 1085 Personen zu den Zielen der Antilärmbewegung. Davon stammte allein fast ein
Viertel aus Berlin, also der Metropole, die sich selbst als „die schnellste der
Welt oder wenigstens (als) das ‘New York Europas’ pries.42 Die weitere
Mitgliederschaft rekrutierte sich ebenfalls hauptsächlich aus den anderen
Großstädten des Kaiserreichs bzw. der Donaumonarchie, und zwar in folgender Reihenfolge: Hannover, München, Frankfurt am Main, Hamburg,
Wien, Bremen, Düsseldorf, Dresden, Leipzig, Breslau, Königsberg, Köln.43
Alle diese Orte hatten zwischen 1875 und 1910 Bevölkerungszunahmen
von 100 bis 363% zu verzeichnen.44 Auffallend ist aber, daß aus typischen
Industriestädten wie Essen, Duisburg und Kiel, deren Wachstum im Kaiserreich geradezu als explosiv zu bezeichnen ist (Bevölkerungszunahmen im
besagten Zeitraum zwischen 438 und 514%),45 keine nennenswerten Mitgliederzahlen zu Buche schlagen. Dies ist bemerkenswert, da gerade
Stahlerzeugung und -verarbeitung wie z.B. der Bau von Schlachtschiffen in
den Werften der Ostseestadt ununterbrochene Lärmbelästigungen mit sich
brachten. Der Sachverhalt lenkt unseren Blick auf die beruflichen Tätigkeiten der Vereinsangehörigen.
Bereits oben wurde auf Lessings scharfe Trennung zwischen „störendem
Pöbel“ und ruhebedürftigen „Geistesarbeitern“ hingewiesen. Die Mitgliederstruktur des „Antilärmvereins“ spiegelt diese bildungsbürgerliche Ausrichtung genau wider. Hauptsächlich Gelehrte und Künstler aller Art, (Nerven-)
Ärzte und Rechtsanwälte bekannten sich zu den Zielen des Lärmschutzverbandes, wie eine Durchsicht des „Antirüpels“ aufweist.46 Als Körperschaften
verbunden waren zudem einige Fremdenverkehrs-Vereine, Bildungsheime,
41
Vgl. zu diesen Stereotypen Radkau: Technik, Tempo (wie Anm. 26), S. 157.
42
Bodo-Michael Baumunk: Die schnellste Stadt der Welt. In: Gottfried Korff u. Reinhard Rürup (Hg.): Berlin, Berlin. Die Ausstellung zur Geschichte der Stadt. Katalog.
Berlin 1987, S. 459-472, hier S. 459. Über Leben, Lärm und Tempo auf den Straßen
Berlins berichtet auch Helmut Geisert: Stadt, Verkehr, Terrainspekulation. In: Berlinische Galerie e.V. (Hg.): Berlin um 1900. Berlin 1984, S. 24-35.
43
Der Antirüpel 2 (1910), S. 56/57.
44
Nipperdey: Geschichte (wie Anm. 4), S. 37.
45
Ebenda.
46
Derartige Hinweise lassen sich in jeder Ausgabe finden. Vgl. aber besonders Der Antirüpel 3 (1911), S. 25-26.
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Sanatorien und Privatkliniken, Hotels wie Familienpensionen.47 Nachdem
Anfang 1909 eine vereinsinterne Enquete zahlreiche zustimmende Briefe für
den Antilärmkampf erbracht hatte, meldete Lessing diesen Erfolg sofort an
die Presse weiter. Stolz heißt es zu den Antwortschreiben:
Darunter befinden sich Stimmen aus der Elite unserer gesellschaftlichen und geistigen
Kultur, die zweifellos ein Recht haben, gehört zu werden, und die bezeugen, dass unter den Qualen, die das immer anwachsende Geräusch der grosstädtischen Technik
und der ´modernen Civilisation´ über uns verhängt, gerade die feinsten und wertvollsten Elemente der Kultur am tiefsten zu leiden haben.48
Für die in den Zeugenstand gerufene Elite sollen stellvertretend zwei Namen
bürgen. Zum einen war der Schriftsteller Hugo von Hofmannsthal ordentliches Mitglied geworden. Selbst in seinem Rodauner „Fuchsschlössl“ fern
der pulsierenden Donaumetropole Wien litt er „aufs peinlichste unter Geräuschen“, besonders unter „dem Klopfen zu Reinigungszwecken, unter
Drehorgeln und in Hotels unter überflüssigem und unbescheidenem Geschwätz der Zimmernachbarn.“49 Zum anderen begegnet uns erneut der
Geschichtsprofessor Karl Lamprecht. Er prägte nicht nur den Begriff der
„Reizsamkeit“, sondern wurde von ihren Erscheinungen selbst gepeinigt:
„Ich leide unter den üblichen Großstadtgeräuschen und empfinde namentlich deren Disharmonie.“50
Es kann nicht verwundern, daß eine derartig bürgerliche Zusammensetzung
der Vereinigung auf die Auswahl der Ziele zurückwirkte. In seinen Lebenserinnerungen nennt Lessing folgende Lärmquellen, die vornehmlich bekämpft werden sollten: „Klavierplage, Autoplage, Glockenplage, Teppichklopfplage, falsche Straßenpflasterung.“51 Und im April 1909 verkündete er
im „Fränkischen Kurier“ selbstbewußt: „Zumal im Kampf gegen den Mißbrauch der Hausmusik, der Grammophone, Orchestrions usw. [...] hat der
47
Vgl. Der Antirüpel 2 (1910), S. 54-55.
48
Korrigiertes Maschinenskript „Erfolge im Lärmschutz“ im Stadtarchiv Hannover,
Nachlaß Lessing, Nr. 2096, fol. 6. Diese Mitteilung wurde in zahlreichen Tageszeitungen abgedruckt, z.B. Fränkischer Kurier (Nürnberg), 77. Jg., Nr. 208, 24.04.1909
(Abendausgabe). Vgl. Stadtarchiv Hannover, Nachlaß Lessing, Nr. 2484.
49
Der Antirüpel 1 (1909), S. 53. Hofmannsthals Bekenntnis paßt sehr gut zu dem Bild,
das sein Biograph Hermann Broch im Vergleich mit Kaiser Franz Joseph I. von ihm
zeichnet: „Jede Neuerung, und sei sie noch so geringfügig, jede technische Erfindung,
jede Lebensmodernisierung, ob durch Automobile, Badezimmer oder Aufzüge, [...],
das alles wurde ihm zum Symbol und Symptom jener Kräfte, die Österreich an den
Abgrundsrand gebracht hatten“, Hermann Broch: Hofmannsthal und seine Zeit.
München 1964, S. 73-74. Vgl. auch Michael Worbs: Nervenkunst. Literatur und Psychoanalyse im Wien der Jahrhundertwende. Frankfurt/Main 1983, S. 47-48.
50
Der Antirüpel 1 (1909), S. 57. Zur Biographie von Karl Lamprecht jetzt Roger Chickering: Karl Lamprecht. A German Academic Life (1856-1915). New Jersey 1993.
51
Lessing: Einmal (wie Anm. 11), S. 405.
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Matthias Lentz
Antilärmverein schon positive Fortschritte zu verzeichnen.“52 Dieses Aufgabengebiet blieb in der kurzen Vereinsgeschichte fast unverändert bestehen.
Der „Antirüpel“ ist voll von Klagen über Störungen im häuslichen, nachbarschaftlichen Bereich, über Hausmusik und bellende Hunde. Dies mag
als Ergebnis der expandierenden Städte gewertet werden, in denen immer
mehr Menschen auf immer weniger Raum zusammenleben mußten; - zweifelsohne eine moderne Erfahrung, die in der demographischen Entwicklung
begründet lag. Dahingehend äußerte sich Lessing anläßlich eines Vortrages
in Wien:
Der Kampf ums Dasein wird, wenn das Anwachsen der Bevölkerung so fortschreitet
wie in den letzten Jahrhunderten, die Menschheit zwingen, Mittel zu ergreifen, um den
Nervenapparat zu schützen.53
Dennoch erstaunt die Konzentration auf private Immissionen im Alltagsgeschäft des Vereins. Hinter sie treten nämlich die der Fabrikanlagen, der
Straßenbahnen und Vorortzüge, der aufkommenden Automobile und ähnlicher gravierender technischer Innovationen zurück. Dies verwundert um
so mehr, als bereits 1903 der Berliner Stadtbauinspektor Pinkenburg ein
steigendes Bedürfnis nach „Beförderungsmitteln für die Massen“ konstatiert
hatte, in dessen Gefolge er eine Zunahme des Straßenlärms begründet sah.
Und letzterer wiederum „beeinflußt unsere Nerven ungünstig [...], zumal sie
durch das sonstige Großstadtgetriebe, durch die ewige Hetze, in der wir uns
befinden und durch das angestrengte Arbeiten, zu dem wir gezwungen sind,
bereits ohnehin stark gereizt und erregt werden.“54 Als Ursachen des Lärms
nennt der städtische Beamte explizit die Straßenpflasterung, die Fuhrwerke,
Zugtiere, Hochbahnen, aber auch die Menschen. Seine realistischen Vorschläge zur Verminderung oder gar Verhinderung des Lärms blieben jedoch auf der Ebene rein technischer Verbesserungen oder behördlicher
Aufsicht. Ein disziplinierender Impetus lag ihm ebenso fern, wie auch jegliche Störung des individuellen Umfeldes nicht berücksichtigt wurde. Die
kleine Schrift Pinkenburgs wird von Lessing folglich kaum herangezogen.
Und selbst der heutige Betrachter, der gerade im industriellen Sektor den
häufigsten Anlaß zum Einschreiten des Lärmschutzverbandes erwartet hätte, wird bei der Lektüre des „Antirüpels“ enttäuscht.55 In ihm dominiert
52
Fränkischer Kurier (Nürnberg), 77. Jg., Nr. 208, 24.04.1909 (Abendausgabe). Vgl.
Stadtarchiv Hannover, Nachlaß Lessing, Nr. 2484.
53
Neues Wiener Tagblatt, 16.03.1911. Vgl. Stadtarchiv Hannover, Nachlaß Lessing, Nr.
2485 und Nr. 2555. Dazu auch Theodor Lessing: Lärm und Bevölkerungsproblem.
In: Der Antirüpel 2 (1910), S. 21-22.
54
G. Pinkenburg: Der Lärm in den Städten und seine Verhinderung. In: Theodor Weyl
(Hg.): Handbuch der Hygiene. 3. Supplement-Band. 1. Lieferung. Jena 1903, S. 6.
55
Eine ähnlich gelagerte Erfahrung machte Joachim Radkau an den Aktenbeständen
von Sanatorien. Entgegen den Erwartungen „kommen in Krankengeschichten von
Neurasthenikern Technik und Tempobeschleunigung nur selten als direkte, explizit
genannte Leidensursachen vor.“ Radkau: Technik, Tempo (wie Anm. 26), S. 164.
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„Ruhe ist die erste Bürgerpflicht“
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eine subjektive Wahrnehmung der Großstadt, die geprägt ist von dem begrenzten Erfahrungsraum eines Teiles ihrer bildungsbürgerlichen Bewohner. Fast symbolische Bedeutung erhält in diesem Zusammenhang eine gedruckte Beschwerdekarte, die als „Vorteil der Mitgliedschaft am Antilärmverein“ angepriesen und kostenlos an Anhänger abgegeben wurde. Sie war
mit dem Aufdruck „Ruhe ist vornehm“ versehen und sollte zur „Einwirkung auf private Störenfriede“ dienen.56 Zugegeben, der Katalog der Ziele
und Kampfmittel des „Antilärmvereins“ ist damit nicht abgedeckt. Bei
Kommunen und Behörden sollten durch „Resolutionen, Proteste, Adressen,
Gesuche, Versammlungen, Presse“ Verordnungen und Gesetze gegen Verkehrslärm, schreiende Straßenhändler und hausierende Musiker, Peitschenknallen, gegen Privatmusik und Kirchenglocken, Teppichklopfen und
schalldurchlässigen Häuserbau erreicht werden. Zur Veröffentlichung gelangten „blaue Listen“ mit den Adressen von ruhigen Mietshäusern und
Hotels, während „schwarze Listen“ unruhige Herbergen und überlaute
Wohnhäuser registrierten. Als zukunftsfähig erwies sich die Einrichtung von
Ruhezonen in der Umgebung von Schulen, Krankenhäusern u.ä.57 Moniert
wurde immer wieder das Fehlen eines Reichsgesetzes gegen unnötigen
Lärm, doch alle Vorstöße in diese Richtung blieben letztlich ohne Erfolg.58
Ganz unbestritten sind Eingaben an Ämter, Verhandlungen mit Behörden,
die Publikation einschlägiger Rechtsfälle und die Versuche zur Ergänzung
der Reichsgesetzgebung Ausdruck „einer sich als wissenschaftlich verstehenden Lebensweise“, die das „Recht auf Gesundheit“ einforderte.59 Und ist
nicht das von Lessing und seinen Anhängern geforderte „Recht auf Stille“
wie selbstverständlich direkt aus diesem „Recht auf Gesundheit“ hergeleitet?
Ein weiteres Argument stellt sich dem an die Seite. Simmel meinte, daß aus
der Steigerung des Nervenlebens die Ausbildung der „Verstandesmäßigkeit
[...] als ein Präservativ des subjektiven Lebens gegen die Vergewaltigung der
Großstadt“ folge.60 Doch nur bei oberflächlicher Betrachtung würde der
„Antilärmverein“ gut in diesen Rahmen passen. Seine bewußte Beschränkung auf „Geistesarbeiter“, die Konzentration auf Lärmquellen, die eher
56
Der Antirüpel 2 (1910), S. 53/54. Zur Einführung und Aufnahme dieser Karte vgl.
Der Antirüpel 1 (1909), S. 121-122 und S. 154-155.
57
Ebenda, S. 54.
58
Ebenda, S. 9. Zum unzulänglichen „Rechtsschutz wider den Lärm“ vgl. Lessing: Der
Lärm (wie Anm. 15), S. 73-91. Diese rechtlichen Überlegungen sind keine singuläre
Erscheinung. Vgl. Hermann Beuttenmüller: Der rechtliche Schutz des Gehörs. Karlsruhe 1908.
59
Alfons Labisch: „Hygiene ist Moral - Moral ist Hygiene“. Soziale Disziplinierung
durch Ärzte und Medizin. In: Christoph Sachße u. Florian Tennstedt (Hg.): Soziale
Sicherheit und soziale Disziplinierung. Frankfurt/Main 1986, S. 265-285, hier S. 276
u. S. 280.
60
Simmel (wie Anm. 1), S. 229.
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dem bürgerlichen Lebensumkreis entspringen (wie z.B. Hausmusik), kurzum, ein begrenztes Wahrnehmen der großstädtischen Realität um
1900/1910 deutet auf anachronistische Züge hin, die mit dem modernen
Ideal der Verstandesmäßigkeit im Widerspruch stehen. Lessing hatte mit
diesen Ambivalenzen zu kämpfen,61 blieb aber selbst in sie verstrickt. Seine
Antilärmbewegung, die er für „eine wahre Kulturbewegung“ hielt,62 grenzte
weite Kreise der großstädtischen Bevölkerung aus, und sowohl Ziele als
Kampfmittel beschnitten von vornherein die Erfolgschancen, obwohl Sympathie für das Vorhaben häufig war. So druckte die Redaktion der „Allgemeinen Zeitung“ aus München zwar einen programmatischen Bericht über
den „Antilärmverein“, fügte aber das bedenkenswerte Bedauern hinzu, daß
„die bisher leider ziemlich akademischen Bemühungen des AntilärmVereins und seiner Zeitschrift“ wohl nutzlos bleiben würden.63
Bei aller berechtigten Kritik dürfen zwei grundlegende Probleme des Kampfes gegen den Lärm nicht vergessen werden. Erstens mangelte es um 1910
an einer wissenschaftlichen Methode, die Schallintensität exakt zu bestimmen. Geräuschmessungen waren nicht möglich, und damit war es problematisch, Schädigungen auf Lärmeinwirkungen zurückzuführen. Folglich
konnte der Gesetzgeber keine Grenzwerte festlegen, deren Übertretung hätte
geahndet werden können. Der häufige Vorwurf, die Nervosität erst mache
gegen Lärm empfindlich, und das Leiden unter ihm sei nur eine subjektive
Befindlichkeit, konnte nicht entkräftet werden.64 Der „Antilärmverein“ hielt
es daher für eine seiner Aufgaben, „medizinische und psychologische Arbeit
über Wirkung der Geräusche und ihren Einfluß auf Rassegesundheit“ anzuregen.65 An der Technischen Hochschule Hannover begannen Kollegen
61
Beispielsweise begründete im Dezember 1909 ein Mitglied seinen Austritt damit, Lessing hätte einen offenen Brief mit der Wendung „Damen und Herren“ gedruckt, wo
doch zweifelhaft sei, ob je „eine Dame irgendeine Kulturarbeit geleistet“ habe. Eine
solche Anrede sei „ehrlos hündisches Speichellecken.“ Wenige Wochen später erfolgte
dann eine Entschuldigung des Mitglieds für das, „was die Raschheit verbrochen hat.“
Der Antirüpel 2 (1910), S. 5 u. S. 12. Baron sieht ebenfalls in der Person des streitbaren Professors und einer falschen Konfliktstrategie, deren Ursprung in einer fehlenden
einheitlichen Grundüberzeugung zu suchen ist, die Gründe für das Scheitern der deutschen Lärmschutzbewegung. Vgl. Baron (wie Anm. 20), S. 174-175.
62
Lessing: Einmal (wie Anm. 11), S. 405.
63
Julius Schiller: Der Antilärmverein. In: Allgemeine Zeitung (München), 14.10.1911.
Vgl. Stadtarchiv Hannover, Nachlaß Lessing, Nr. 2489.
64
Vgl. z.B. folgende Äußerung eines Kritikers der Antilärmbewegung: „So klagt ein
Mann wegen nächtlichen Hundebellens. Bei der Beweisaufnahme steht er allein und
hat gegen sich drei Zeugen, die aussagen, „mich stört das nicht, und ich habe nichts
gehört“. So geht es eigentlich jedesmal! [...]“, Der Antirüpel 1 (1909), S. 44. Den leidigen Sachverhalt hatte schon Pinkenburg erkannt: „Das Schlimme bei der ganzen Frage der Verhinderung des Straßenlärms ist eben, daß es an jeder zuverlässigen Grundlage fehlt.“, Pinkenburg (wie Anm. 54), S. 24.
65
Der Antirüpel 2 (1910), S. 54.
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Lessings mit Experimenten zur Schalldämpfung,66 doch erst in den 1920er
Jahren setzte in Europa und Nordamerika eine umfassendere Erforschung
des Lärms und seiner Wirkungen ein. Der Physiker Heinrich Barkhausen
führte 1926 das Phon als Meßeinheit der Lautstärke ein,67 und seit dieser
Zeit verfügt man mit dem Audiometer über ein Gerät zur Messung des Gehörs.68
Selbst die Entwicklung individuellen Hörschutzes steckte noch in den Kinderschuhen. 1885 hatte ein Hauptmann Pleßner mit dem „Antiphon“ einen
„Apparat zum Unhörbarmachen von Tönen und Geräuschen“ auf den
Markt gebracht. Das „Antiphon“ war ein ankerförmiges Instrument aus
Metall mit einem kugelförmigen Aufsatz, das in den äußeren Gehörgang
eingeführt wurde und diesen verschloß.69 Problematisch waren dabei die
Anpassung an die individuelle Größe der Ohrmuschel und das Hören von
Innengeräuschen des Kopfes. Lessing wünschte sich die „Antiphone“ daher
„brauchbarer“ und verwendete an ihrer Stelle, „nachdem ich von Antiphonen aller Art die unangenehmsten Wirkungen gesehen habe, kurze Zäpfchen aus Hartgummi.“70 Dies erinnert an den griechischen Helden Odysseus, der die Ohren seiner Weggefährten mit Wachs verklebte, um sie vor
dem betörenden Gesang der Sirenen zu schützen. Das klassische Rezept
griff 1907 in Berlin der Apotheker und Drogist Max Negwer auf, der
Baumwollwatte mit einer ausgeklügelten Mischung von Wachsen und Vaselinen tränkte, so daß dieses Gemenge den Abschluß des Gehörganges auf
angenehme Art sicherstellte. Unter dem Namen „Ohropax“ wurde das Produkt erst in den zwanziger und dreißiger Jahren allgemein bekannt, nachdem es bereits im ersten Weltkrieg von der Armee gegen die Schallwirkung
des Kanonendonners genutzt wurde. „Ohropax“ galt in der Werbung als
Liebesgabe für die nervösen Kriegsteilnehmer.71 Negwers Erfindung ist dem
„Antilärmverein“ offensichtlich nicht zu Ohren gekommen. Die Tatsache
jedoch, daß sie gerade 1907 in Berlin gemacht wurde, streicht den Problemzusammenhang von Großstadt und Lärm in dieser Periode erneut deutlich heraus. Von der naturwissenschaftlichen Seite jedoch war Lessings Bewegung eine Frühgeburt.
Und ein zweiter Mangel war nicht weniger folgenreich. Wenn den Mitgliedern des „Antilärmvereins“ von ihrer bürgerlichen Warte her der Lärm in
66
Ebenda, S. 34.
67
Wiethaup (wie Anm. 8), S. 122.
68
Vgl. Smilor: Environmental Perspective (wie Anm. 20), S. 145-146.
69
M. Pleßner: Das Antiphon. Ein Apparat zum Unhörbarmachen von Tönen und Geräuschen. Rathenow 21885.
70
Lessing: Über den Lärm (wie Anm. 13), S. 80.
71
Freundliche Mitteilung der Firma Ohropax GmbH, Wehrheim/Taunus vom 7. Juli
1994. Die Anzeige aus dem ersten Weltkrieg findet sich bei Rolf Michaelis: Sonnenbrille für die Ohren. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. August 1973.
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den Fabriken und Industrieanlagen fremd blieb und nicht Ziel ihres Kampfes wurde, so fragt sich natürlich, ob zumindest davon betroffene Arbeiter
darunter litten und auf Abhilfe sannen. Dieser Frage soll im folgenden Abschnitt unter Einbeziehung von arbeitsmedizinischen Untersuchungen
nachgegangen werden.
IV. Arbeiter, Arbeitslärm und Arbeitsmedizin
Alf Lüdtke hat die „Erfahrungen von Industriearbeitern“ als „vernachlässigte Dimension der Arbeitergeschichte“ gekennzeichnet.72 Dies ist größtenteils
aus dem Fehlen zuverlässiger Quellen erklärlich. Die zeitgenössischen Erhebungen durch Adolf Levenstein stellen eine große Ausnahme dar.73 In
ihnen führt ein langjähriger Metallarbeiter folgendes aus:
Als mein Geschäft mit Maschinen versehen wurde, mit dem Glüh- und SchmelzofenWalzen, in dem jetzt 80-100 Menschen arbeiten, da kann man sich denken, wenn
man 42 Jahre ohne Getös gearbeitet und auf einmal ein Gesause und Getöne ertönt,
wie dies einem alten Manne die Nerven erregt. Ich schwitze den ganzen Tag, bekomme Angstgefühle. Ich weine öfters wie ein kleines Kind, kann die Nacht nicht mehr
schlafen. Ich habe jetzt zur Nachtzeit ein Licht brennen, und dadurch tue ich meine
Gefühle besser erhalten. Dieses bin ich nicht allein. Verschiedene Arbeiter haben das
gleiche Leiden davongetragen. Einer kam sogar soweit, dass er sich den Hals abschnitt.74
Gerade bei der Metallbearbeitung dürfte der Lärm also eine größere Rolle
in den Beschwerden der Arbeiter spielen. Jedoch, er tut es nicht! Bei Durchsicht der Umfrage Levensteins klagt nur ein zweiundfünfzigjähriger Metaller, der 9,5 Stunden täglich im Akkord tätig ist: „Da diese Arbeit eine sehr
geräuschvolle ist, bin ich infolgedessen sehr nervös.“75 Seine meist jüngeren
Kollegen brachten diesen Sachverhalt hingegen nicht vor, so daß Lärm als
Ursache der Ermüdungserscheinungen von Metallarbeitern nicht kategorisiert wurde.76 Selbst den „Deutschen Metallarbeiter-Verband“ störte der
Krach nicht. In einer großen Mitgliederbefragung vom Jahre 1910 spielten
neben Arbeitszeiten, Löhnen und Strafsystemen auch sanitäre Zustände und
Unfallverhütung eine Rolle. Zusammenfassend heißt es: „Die Schädigung
der Gesundheit der Arbeiter infolge der langen Arbeitszeit und infolge der
72
Alf Lüdtke: Erfahrungen von Industriearbeitern. Thesen zu einer vernachlässigten
Dimension der Arbeitergeschichte. In: Werner Conze u. Ulrich Engelhardt (Hg.): Arbeiter im Industrialisierungsprozeß. Herkunft, Lage und Verhalten. Stuttgart 1979 (=
Industrielle Welt, Bd. 28), S. 494-512, bes. S. 502-503.
73
Adolf Levenstein (Hg.): Aus der Tiefe. Arbeiterbriefe. Beiträge zur Seelen-Analyse
moderner Arbeiter. Berlin 1909; ders.: Die Arbeiterfrage. Mit besonderer Berücksichtigung der sozialpsychologischen Seite des modernen Großbetriebes und der psychophysischen Einwirkungen auf die Arbeiter. München 1912.
74
Levenstein: Arbeiterfrage (wie Anm. 73), S. 77.
75
Ebenda, S. 100.
76
Ebenda, S. 80.
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„Ruhe ist die erste Bürgerpflicht“
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vielen Überstunden bei Rauch, Hitze und Zugluft, das Fehlen von Wasch-,
Bade- und Ankleideräumen ist ausgiebig erörtert worden.“77 Von Lärm
hingegen ist nirgends die Rede. Selbst in der historischen Rückschau Jahrzehnte später bleibt die Gewerkschaft ihrer alten Sichtweise treu, denn die
Festschrift zum 90jährigen Geburtstag der IG Metall im Jahre 1981
schweigt ebenso zu den Problemen lärmbedingter Erkrankungen.78 Arne
Andersen und Engelbert Schramm haben anhand verschiedener Beispiele
aus dem Bereich des Arbeits- und Umweltschutzes derartige Wahrnehmungsdefizite der Arbeiterbewegung erschreckend deutlich gemacht.79 Produktionsbedingte Umweltschäden wurden häufig von den Fabrikbelegschaften ignoriert oder mit dem Argument des Arbeitsplatzerhalts toleriert.80 Die
Kritik am oft mangelhaften Arbeiterschutz begrenzte sich auf Randbedingungen, ohne jemals die „Art und die stoffliche Seite der Industrieproduktion“ generell zur Disposition zu stellen.81 Dieses Verhalten wird nachvollziehbarer, wenn man sich die dahinter wirksam werdenden Deutungsmuster und Sinnzuweisungen klarmacht. Solange in der Arbeiterbewegung die
technische Entwicklung zugleich Garant für das gesellschaftliche Fortschreiten war, überhörte oder übersah man gerne ihre Folgen. Der sozialistische
Theoretiker Karl Kautsky gab den Menschenopfern in ideologischer Überhöhung sogar eine zentrale Funktion im geschichtlichen Weltenlauf:
Nachdem uns Marx diese Ausblicke in die Zukunft eröffnet, dürfen wir wohl versöhnt
dem System der Maschinen gegenüberstehen. So unermeßlich auch die Leiden sind,
die es auf die arbeitenden Klassen wälzt, so sind sie wenigstens nicht vergeblich. Wir
wissen, daß auf dem Felde der Arbeit, das mit Millionen von Proletarierleichen gedüngt worden, eine neue Saat aufsprießen wird, eine höhere Gesellschaftsform. Die
77
Vorstand des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes (Hg.): Die Schwereisenindustrie im
deutschen Zollgebiet, ihre Entwicklung und ihre Arbeiter. Nach vorgenommenen Erhebungen im Jahre 1910. Stuttgart 1912, S. 582. Vgl. auch ders. (Hg.): Arbeiterferien
unter besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse in der Metallindustrie. Nach einer
im Jahre 1912 veranstalteten Erhebung. Stuttgart 1913, S. 10.
78
Vgl. 90 Jahre Industriegewerkschaft, 1891 bis 1981. Vom Deutschen MetallarbeiterVerband zur Industriegewerkschaft Metall. Köln 1981.
79
Arne Andersen: Arbeiterschutz in Deutschland im 19. und frühen 20. Jahrhundert. In:
Archiv für Sozialgeschichte 31 (1991), S. 61-83; Engelbert Schramm: Arbeiterbewegung und industrielle Umweltprobleme. Wahrnehmung und Theoriediskussion seit
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (bis 1918). In: Helmut Konrad u. Arne Andersen (Hg.): Ökologie, technischer Wandel und Arbeiterbewegung. Wien 1990, S. 132.
80
Arne Andersen: Arbeiterschutz und Ökologie. Grundsätzliche Überlegungen über das
Verhältnis von Arbeiterbelegschaften und Umwelt. In: Hamburger Stiftung für Sozialgeschichte (Hg.): Arbeitsschutz und Umweltgeschichte. Köln 1990, S. 37-51.
81
Andersen: Arbeiterschutz in Deutschland (wie Anm. 79), S. 76.
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Maschinenproduktion bildet die Grundlage, auf der ein neues Geschlecht entstehen
wird.82
Vor dem Hintergrund eines derartigen Weltbildes konnte sich natürlich nur
ein eingeschränktes Muster der Risikobewertung ausbilden. Und wo selbst
Erfahrungswissen blockiert ist und allenfalls unzulänglich zu Gegenreaktionen führt, da hat es auch die Wissenschaft schwer. Die arbeitsmedizinische
Lärmforschung im deutschen Kaiserreich zeigt das.
Bereits der Arzt Bernardino Ramazzini hatte in seinem 1700 veröffentlichten Buch über die Krankheiten der Handwerker („De morbis artificum diatriba“) Ohrenleiden durch zu starken Lärm beschrieben.83 Aber erst für das
letzte Drittel des 19. Jahrhunderts kann von einer eingehenderen medizinischen Beschäftigung mit diesem Thema gesprochen werden. Auf dem Zweiten Internationalen Kongreß für Ohrenärzte in Mailand 1880 berichtete S.
Moos „Ueber die Ohrenkrankheiten der Locomotivführer und Heizer, welche sociale Gefahren in sich bergen“. Sein Fazit lautete, daß diese „durch
die Ausübung ihres Berufes“ eine „bedeutende Verminderung der Hörschärfe“ erleiden.84 Von dieser Feststellung angeregt, veröffentlichten die
Mediziner Gottstein und Kayser ihre statistischen Erhebungen „Ueber die
Gehörsverminderung bei Schlossern und Schmieden“. Auch ihr Ergebnis
fiel eindeutig aus:
Schlosser und Schmiede erfahren in Folge ihrer Beschäftigung eine beträchtliche, im
Laufe der Jahre sich steigernde Verminderung des Gehörs. Die Gehörsverminderung
bei Schlossern und Schmieden entsteht wesentlich durch das sie bei der Arbeit umgebende Geräusch und beruht mit grosser Wahrscheinlichkeit auf einer Affection des
Hörnerven in Folge Ueberreizung [...] durch Schall und Erschütterung.85
Ähnliche Veröffentlichungen folgten bis über die Jahrhundertwende hinaus,
doch beschränkten sie sich lediglich auf spezielle Aspekte oder auf die
Schilderung weiterer Einzelfälle, so daß der Erkenntniszuwachs minimal
war.86 Die erste systematische Darstellung der „Berufskrankheiten des Oh-
82
Zitiert nach Hans-Albert Wulf: „Maschinenstürmer sind wir keine“. Technischer Fortschritt und sozialdemokratische Arbeiterbewegung. Frankfurt 1987, S. 179.
83
Vgl. Siegfried Krömer: Lärm als medizinisches Problem im 19. Jahrhundert.
med.Diss. Mainz 1981 (masch.), S. 2-3.
84
S. Moos: Ueber die Ohrenkrankheiten der Locomotivführer und Heizer, welche sociale Gefahren in sich bergen. In: Zeitschrift für Ohrenheilkunde 9 (1880), S. 370-383,
hier S. 381.
85
J. Gottstein u. R. Kayser: Ueber die Gehörsverminderung bei Schlossern und Schmieden. In: Breslauer Aerztliche Zeitschrift 3 (1881), S. 205-207, hier S. 207.
86
Beispielsweise Joh. Habermann: Ueber die Schwerhörigkeit der Kesselschmiede. In:
Archiv für Ohrenheilkunde 30 (1890), S. 1-25; ders.: Beitrag zur Lehre von der professionellen Schwerhörigkeit. In: Archiv für Ohrenheilkunde 69 (1906), S. 106-130. Weitere Schriften verzeichnet Krömer (wie Anm. 83), S. 25-37.
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res“ wurde 1902 von Friedrich Röpke verfaßt.87 Damit lag zu Beginn dieses
Jahrhunderts ein grundlegendes Werk vor, auf dessen Basis in allen Bereichen von Industrie und Gewerbe eine Neubewertung des Lärmrisikos hätte
vorgenommen werden können. Sie unterblieb. Der Sanitätsrat Alfred Peyser mußte auf dem Zweiten Internationalen Kongreß für Gewerbekrankheiten 1910 in Brüssel mit Bedauern konstatieren:
Die Gewerbekrankheiten des Gehörorgans sind bisher fast ausschließlich von Ohrenärzten und auch von diesen meist als rein wissenschaftliches Problem studiert worden.
Praktisch wird ihnen von seiten der Gewerbehygieniker geringe Beachtung geschenkt.88
Zu Zeiten des „Antilärmvereins“ waren demnach die (berufs-) lärmbedingten pathologischen Veränderungen des Hörorgans bewiesen. Woran es
mangelte, war eine sozialpolitische und juristische Umsetzung dieser Erkenntnis.89 Von Angehörigen der Arbeiterbewegung war diese unter den
oben geschilderten Rahmenbedingungen nicht zu erwarten, und die
Dethematisierung des Lärmproblems als „Nervosität“ auf seiten der bildungsbürgerlichen Bevölkerung ließ die Angelegenheit vor dem Ersten
Weltkrieg vollends ins Leere laufen. So dauerte es bis 1929, als endlich mit
der „Zweiten Verordnung über die Ausdehnung der Unfallversicherung auf
Berufskrankheiten“ „durch Lärm verursachte Taubheit oder an Taubheit
grenzende Schwerhörigkeit“ als entschädigungspflichtige Erwerbskrankheit
anerkannt wurde. Sie galt jedoch ausschließlich nur für „Betriebe der Metallbearbeitung und -verarbeitung“.90 Erst im Gefolge dieser legislativen
Maßnahme bildete sich eine neue Einstellung zum Lärm aus.91
V.
Großstadt, Technik, Lärm und Nerven
Weitere interessante Einsichten verspricht die Klärung der Frage, wie die
Lärmbekämpfer die moderne großstädtische Technik beurteilten. Als Prüfstein dafür soll das Auto dienen. Sein Siegeszug begann mit diesem Jahrhundert und war bei allem Enthusiasmus heftig umkämpft. Eine Stimme
87
Friedrich Röpke: Die Berufskrankheiten des Ohres und der oberen Luftwege. Wiesbaden 1902.
88
Alfred Peyser: Die gewerblichen Erkrankungen und Verletzungen des Gehörs bei den
Industriearbeitern, mit besonderer Berücksichtigung der Schädigungen durch Betriebslärm. In: Archiv für soziale Hygiene 6 (1911), S. 143-164, hier S. 143.
89
Erich Neisius: Geschichte der arbeitsmedizinischen Lärmforschung in Deutschland.
med.Diss. Frankfurt/Main 1989 (masch.), S.114.
90
Wolfhard Weber: Arbeitssicherheit. Historische Beispiele - aktuelle Analysen. Reinbek
1988, S. 217; vgl. Neisius (wie Anm. 89), S. 56-61. Zur Entstehung dieser Verordnung
kritisch Dietrich Milles: Chancen und Blockaden. Der Aufschwung gewerbehygienischer Anstrengungen und die Herausprägung des Berufskrankheitenkonzepts in der
Weimarer Republik. In: Ders. u. Rainer Müller (Hg.): Berufsarbeit und Krankheit.
Frankfurt/Main 1985, S. 84-109, bes. S. 97-100.
91
Vgl. Neisius (wie Anm. 89), S. 61-70.
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Matthias Lentz
mag davon Zeugnis ablegen. 1902 schrieb Emil Jung über den „öffentlichen
Unfug“ der Automobile:
Ausschlaggebend für die unerläßliche besondere Behandlung dieser Fahrzeuge ist aber
deren außerordentlich geschwinde Gangart, welche im Vereine mit ihrem störenden
Geräusche dem Verkehre derselben auf öffentlichen Straßen und Wegen einen gemeingefährlichen Charakter verleiht.92
Für den „Antilärmverein“ ist zu diesem Problemkreis die Auseinandersetzung aufschlußreich, die der Bericht „Die Tyrannei der Nervösen“ in der
Zeitschrift „Die Automobil-Welt“ auslöste. Sein Verfasser Arthur Wilke,
von Lessing übrigens zu Wilde verballhornt, äußerte folgenden Verdacht
gegenüber dem Lärmschutzverband:
[...] daß dieser Verein den Lärm nicht nach seinem objektiven Maß bemißt, sondern
nach dem subjektiven Eindruck, daß er also ein Verein der lärmempfindlichen Menschen, der Nervösen ist. Da wird aber die Sache sehr bedenklich. Denn die Nervösen
sind nicht nur in ihrer Empfindung, sondern auch in ihren Äußerungen und Forderungen ziemlich maßlose Menschen, und in der dritten Sorte von Lärm, im intellektuellen Lärm, ganz gehörige Spektakelmacher [...] Denn je nervöser, je egoistischer.93
Besonders für den aufkommenden, aber noch nicht unumstrittenen Automobilismus wird das „Ideal der Kirchhofstille“ zum Schreckgespenst. In der
Wahrnehmung des Elektroingenieurs und prominenten Technik-Publizisten
Wilke, der auch an dem erfolgreichen und populären „Buch der Erfindungen“ mitarbeitete, sind die Lärmfeinde wahre Maschinenstürmer:
Natürlich sind ihnen auch die Autler verhaßt, die sogar ganz besonders. Die Huppe
ist ihnen ein Greuel und das Rasseln des Motors ein Schrecken. Sie werden also sehr
bald die Automobile angreifen, zumal ihnen die Zeiten für einen solchen Angriff recht
günstig sind. [...] So kann es den nervösen Antilärmbolden mit ihrer tapageusen Art
wohl gelingen, das Volk aufs neue gegen das Auto aufzubringen.94
Damit nicht genug. „Die Automobil-Welt“ witterte eine „Unterdrückung
des Verkehres, der Industrie, der Technik“, denn „das Geräusch (ist) ein
leidiger, aber nicht zu beseitigender Bestandteil der technischen Tätigkeit.“
Kurzum, es gab nur einen Ausweg: dem „Recht auf Stille“ wurde das
„Recht auf Geräusch“ entgegengestellt.95
Entsprechend heftig fiel die Reaktion Lessings aus. Er sah sich genötigt,
grundlegende Klarstellungen vorzunehmen:
92
Emil Jung: Radfahrseuche und Automobilenunfug. Ein Beitrag zum Recht auf Ruhe.
München 1902, S. 30. Eine regionale Fallstudie der Frühzeit des Autos bietet Joachim
Radkau: „Ausschreitungen gegen Automobilisten haben überhand genommen“. Aus
der Zeit des wilden Automobilismus in Ostwestfalen-Lippe. In: Lippische Mitteilungen aus Geschichte und Landeskunde 56 (1987), S. 9-26.
93
Der Antirüpel 2 (1910), S. 12/13.
94
Ebenda, S. 13.
95
Ebenda.
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Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
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„Ruhe ist die erste Bürgerpflicht“
101
Der Antilärmverein ist kein Verein von Nervenkranken. Es ist unwahr, daß wir Antilärmiten immer und unter allen Umständen Geräusche befehden, immer und unter allen Umständen geräuschempfindlich sind. [...] Wir bekämpfen Geräusche! Gewiß!
Erstens, wo sie nicht hingehören. Zweitens, wo sie nicht nötig sind. Sie gehören nicht
hin: in die Kirchen, in Schulstuben, in Künstlerateliers, in Gelehrtenstuben, in Schlafstuben, in Erholungsräume, in Krankenhäuser, in Sanatorien. [...] Unnötig aber ist das
meiste Geräusch der Technik. Besonders die Geräusche der Automobile, besonders
auch der Automobilomnibusse.96
Simple Technikfeindschaft jedoch lag dem „Antilärmverein“ fern. Ihm war
durchaus an technischem Fortschritt gelegen, und gerade das bewährte Mittel der Kritik sollte diesen Prozeß forcieren:
Und damit sich die Technik des Verkehrs vervollkommne, dazu müssen Menschen
auftauchen, die unter dem noch Unvollkommenen leiden, und die das machen, was
ich hier mache: intellektuellen Lärm. [...] Wo immer Fortschritt, Veränderung, Entwicklung ist, da muß zunächst eine Not, ein Bedürfnis sein. Darum bin ich den Nervösen dankbar: ich betrachte in der Tat als meine Aufgabe, die Nervösen mobil zu
machen, sie aufzurütteln, damit sie endlich lernen, sich erwehren, damit sie neue Gesundheit erkämpfen. [...] Wer unsern Kampf beobachtet, der weiß, daß wir gegen die
Automobiltechnik sehr verständnisvoll, sehr schonend verfahren; darum nämlich,
weil diese Verkehrstechnik zu jung ist, als daß Vollkommenheit von ihr zu fordern
wäre. Wir hüten uns klüglich, reaktionäre Instinkte im Volke zu unterstützen, und einem herrlichen Sport die Zukunft zu verbauen.97
Hier offenbart sich der Verein mit einer in die Zukunft weisenden Programmatik als sehr modern. Von rückwärts gewandten Romantikern kann
keine Rede sein. Die Einforderung eines Bewußtseins der „volkshygienischen Pflichten aller Technik“98 ist aktueller denn je. In diesem Punkt weisen die Lärmgegner von 1910 weit über ihre eigene Zeit hinaus. Wie diese
Zukunft aussehen könnte, hat Lessing an anderer Stelle entworfen:
Ich glaube gewiss, dass Autos, Motorräder, Krafträder und lenkbare Flugmaschinen
die Vehikel der Zukunft sind; ich glaube, dass erst die allgemeine Ausbreitung des
elektrischen Vorortverkehrs schliesslich ganz neue Riesenstädte, voll Feldern, Parks
und Gärten, möglich macht, deren eine einzige vielleicht so gross wie halb Belgien
ist.99
Aber die ethische Grundlage dieses alternativen Fortschreitens wird unmißverständlich niedergeschrieben: „Wer leidet, der hat immer recht, wenn er
sich wehrt. Es gibt auf unserer Erde kein Recht auf Leidenmachen.“100 Es
ist diese humane Maxime, um die Lessing die Fortschrittsdiskussionen zwischen Kultur und Nervosität erweitert. Sein Zeitgenosse Willy Hellpach hatte wenige Jahre früher weit unkritischer die technische Entwicklung be96
Ebenda.
97
Ebenda. Es sei angemerkt, daß hier die „Nervösen“ für Lessing eine identifizierbare,
homogene Gruppe darstellen.
98
Ebenda.
99
Lessing: Der Lärm (wie Anm. 15), S. 45.
100
Ebenda.
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102
Matthias Lentz
grüßt, denn ihre Tendenz sei, „unsere Sinne zu schonen“.101 Er spart nicht
mit Beispielen, über die man im Rückblick lächeln kann:
Am stärksten scheint mir freilich der moderne Bahnhof die Tendenz des technischen
Fortschritts zur Ruhe und Lautlosigkeit zu verkörpern. [...] Auf einem Musterbahnhofe
wie Frankfurt a.M. kann der Reisende sich so sinnlich unbelästigt und so seelisch ruhig bewegen, wie nur in seinem eigenen Hause. [...] Die Großstadt einer gar nicht fernen Zukunft wird nicht lauter und greller, sondern viel stiller und massvoller sich präsentieren, als die alten lebhaften Kleinstädte, trotz des hundertfachen Verkehrs, der in
ihr sich abspielt; gerade die jüngste Entwickelung der Gefährte lässt es als gar nicht
unmöglich erscheinen, dass hier der mehr individuell geprägte Motorwagenverkehr
die kommunistische Strassenbahn bedeutend entlastet.102
Das Quartett „Großstadt, Technik, Lärm und Nerven“ besitzt für die spätwilhelminische Gesellschaft hohen heuristischen Wert. In ihm verschränken
sich neue Erfahrungen moderner Lebensformen mit Einsichten, die aus und
in der Vergangenheit gewonnen wurden, um in die Zukunft hinein zu wirken. Seine sozialgeschichtliche Relevanz ist unbestreitbar, wenn auch seine
Erscheinungsform die subjektiv-begrenzte Wahrnehmung bleibt. Im Nervendiskurs begegnen uns Bausteine einer Pathogenese der industrialisierten
und technisierten Welt. Hinter ihm läßt die Forderung nach zurückhaltendem Umgang mit technischen Innovationen, dessen Maßstab der Mensch
bleibt, eine „Sensibilität für tatsächliche Gefahren“ aufscheinen.103
VI. Unbegrenzte Reize und begrenzte Wahrnehmung, oder: habituelle Distanzierung als Bewältigungsstrategie
Simmel, Lamprecht und ihre Adepten haben recht. Die „Steigerung des
Nervenlebens“ (Simmel), die „Reizsamkeit“ (Lamprecht) und die Beschleunigung des Lebens können als Grunderfahrungen der großstädtischen Bewohnerschaft um 1900 bezeichnet werden. Deren Lamento über Hektik,
Lärm und Nervosität muß beachtet werden. Jedoch lehrt der Blick auf die
Selbstäußerungen der Beteiligten am Beispiel des Lärmproblems, daß weniger die großen strukturellen Umbrüche wahrgenommen wurden. Vielmehr
begrenzte der direkte Lebensraum die Erfahrung, die sich dann nur sehr
subjektiv und eingeschränkt äußerte. In dem Bedauern des Stadtbauinspektors Pinkenburg kommt dies zum Ausdruck: „Endlich ist der Umstand erschwerend, daß die Städtebewohner in ihrer Allgemeinheit noch längst
nicht von der Schädlichkeit des Straßenlärms in hygienischer Beziehung
überzeugt sind.“104 Der bellende Hund des Nachbarn, das Hupen der Autos an der „eigenen“ Häuserecke sowie das „Hetzen und Jagen“ des Einzelnen wurden viel häufiger im Mitteilungsorgan des „Antilärmvereins“ erwähnt als die kollektiven Belastungen der gesamten Großstadtbevölkerung.
101
Hellpach (wie Anm. 36), S. 31.
102
Ebenda, S. 32/33 u. S. 37.
103
Radkau: Technik, Tempo (wie Anm. 26), S. 164.
104
Pinkenburg (wie Anm. 54), S. 24.
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„Ruhe ist die erste Bürgerpflicht“
103
Und vom Lärm in den Fabrikhallen und an anderen geräuschvollen Arbeitsplätzen sprachen die Mitglieder schon gar nicht. Ihre meist bildungsbürgerliche Herkunft führte zu einer nur begrenzten Wahrnehmung des
Lärmproblems. Ihren Einspruch erhoben sie auf der Bühne des populären
Nervositätsdiskurses des Kaiserreichs. Dieser stellte sowohl Argumente als
auch eine interessierte Öffentlichkeit bereit, prägte aber gleichzeitig Verlaufsformen des Protestes sowie die Rezeption der „Antilärmiten“ in den
Medien, die außerhalb des Diskurses standen. In Lessings Verein wird nervöse Empfindsamkeit zum Beweis für eine entwicklungsgeschichtlich höhere Stufe, die der Mensch erreicht hat. Sie ist persönliche Auszeichnung und
allgemeine Bedingung aller weiteren Kultur. Das konkrete Problem des
Lärms wird durch diese Denkmuster gefiltert lediglich abstrahiert und ästhetisiert wahrgenommen. Mit dem Auslaufen der Neurastheniedebatte in
den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg klang ebenfalls die „Antilärmbewegung“ aus.
Ein eingeschränktes Erfassen der Lärmgefahren zeigte auch die Arbeiterbewegung. Trotz eigener leidvoller Erfahrungen an vielen Arbeitsplätzen und
trotz entsprechender arbeitsmedizinischer Untersuchungen, die die Ohrenschäden eindeutig auf übermäßige Belastung der Hörnerven durch Berufslärm zurückführten, wurde seine Bekämpfung nicht zu einer Forderung der
Gewerkschaften oder der Sozialdemokratie. Ein optimistisches Fortschrittsparadigma hatte dort das Leiden unter den Maschinen zu einer historischen Durchgangsstation auf dem Weg in eine goldene Zukunft verklärt
und das Dulden gelehrt. Wenn Lessing in seiner Technikbewertung die
Maxime aufstellte, sich zu wehren, wenn immer der Einzelne leidet, spricht
er sich klar und deutlich gegen ein Erdulden und Hinnehmen und für den
Versuch einer Abänderung nach menschlichen Maßstäben aus. Um diesen
Punkt ergänzte er das in die Kritik geratene Fortschrittsmodell - bekanntlich
ohne Erfolg. Als Fazit ergibt sich, daß Lärm als handfestes Umweltproblem
im Jahrzehnt nach der Jahrhundertwende in einem gesellschaftlich relevanten Maße nicht gesehen wurde. Diese Erkenntnis muß dazu führen, „Reizzunahme“ und „Beschleunigung“ als Sammelbegriffe zu verstehen, die individuell unterschiedlich registrierte Zeiterlebnisse auf einer von konkreten
Personen abgelösten höheren Ebene speichern. Hinter ihnen verbergen sich
sehr verschiedene Erfahrungsweisen und Sinngebungen, oder gar Dethematisierungen.
So zelebrierte der „Antilärmverein“ ein elitäres Selbstbewußtsein. Sein
Selbstverständnis wie die Formen seiner alltäglichen Arbeit können als intellektuell charakterisiert werden. Der Lärmschutzverband ist ein gutes Beispiel dafür, wie „der innere Tumult durch die habituelle Distanzierung vom
äußeren“ vermieden wird.105 Das Leiden unter Lärm und seine Bekämpfung
mit Instrumentarien des Verstandes und der Administration können als
eine mögliche Form der Lebensbewältigung vor dem Hintergrund kontin105
Müller: Großstadt (wie Anm. 1), S. 16.
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104
Matthias Lentz
genter Gegenwartserfahrungen interpretiert werden. Das komplexe Netzwerk aus neuen technischen Entwicklungen und sinnlichen Erfahrungen,
das in den Großstädten der Jahrhundertwende erstmalig gewoben wurde,
mußte ohne das Vorliegen einer ähnlich gelagerten historischen Erfahrung
be- und verarbeitet werden. Hinter dem „Antilärmverein“ wird dafür eine
mögliche Strategie erkennbar, die die Medizinsoziologin Uta Gerhardt als
„social coping“ bezeichnet hat und wie folgt definiert:
Social coping, as a [...] reaction to stressful experiences, leads to active change or an
attempt at such change. This presupposes that the individual preconceives his world
in the ideal shape into which he would like to transform it through his action [...]
Social coping is based on a plan or idea which governs the individual's actions and
informs his interpretations [...] Potentially, social coping merges into political action.106
Dies trifft alles auf den „Antilärmverein“ zu und verdeutlicht zudem, daß er,
gerade in Distanzierung zur Großstadt entstanden, doch immer auch ihr
Produkt bleibt. Die darin liegende Chance, im Gegenzug auf die großstädtische Entwicklung bewußt Einfluß zu nehmen, wurde von Lessing zwar erkannt, aber letztlich nicht fruchtbar gemacht. Bedenkenswert bleibt die gesellschaftliche Dimension eines solchen Versagens, auf die Pearlin und
Schooler hingewiesen haben:
Coping failures [...] do not necessarily reflect the shortcomings of individuals; in a real
sense they may represent the failure of social systems in which the individuals are enmeshed.107
106
Uta Gerhardt: Coping and social action. Theoretical reconstruction of the life-event
approach. In: Sociology of Health & Illness 1 (1979), S. 195-225, hier S. 217-218. Das
Konzept des „coping“ ist mehrdeutig und nicht unumstritten. Es wird hier lediglich im
reduzierten Sinn des „social coping“ verwendet. Dieses findet eine Entsprechung in
dem von Pearlin und Schooler herausgearbeiteten Typ „Responses that change the situation out of which strainful experience arises“. Vgl. Leonard I. Pearlin u. Carmi
Schooler: The Structure of Coping. In: Journal of Health and Social Behavior 19
(1978), S. 2-21, hier S. 6.
107
Pearlin u. Schooler (wie Anm. 106), S. 18.
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„Ruhe ist die erste Bürgerpflicht“
105
Summary
The slogan of an increase in external stimuli is seen as a characteristic of the diverse processes of modernization in the German Empire. A study of Theodor Lessing's „Anti-Noise
Society“ (1908-1914) showed how the individual experienced auditory stimuli and how
these stimuli were understood and digested. Apart from the writings of Lessing, the
Society's mouthpiece „Anti-Rowdy. The Right to Quietness“ was analysed hermeneutically
and with respect to questions of social history. The combination of this analysis with the
relevant medical results and discussions in specialist literature (question of nervousness;
occupational medicine) have shown that the use of an expression like „increase in stimuli“
is justified when urban life before World War I is to be characterised. It is, however, only
an abstract collective term under which diverse forms of practical knowledge, different
ways of giving meaning to this psychosocial phenomenon, and even wilful disregard for it
as a relevant contemporary issue are subsumed - just as with noise as an environmental
problem.
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Psychopathia sexualis - die ärztliche Konstruktion der sexuellen Perversionen zwischen 1869 und 1914
Per Klabundt
Auf keinem Gebiete des Strafrechtes ist ein Zusammenarbeiten von Richtern und medizinischen Experten so sehr geboten, wie bei den sexuellen Delikten, und nur die
anthropologisch-klinische Forschung vermag hier Licht und Klarheit zu verbreiten.1
Dieses Diktum des Psychiaters Richard Freiherr von Krafft-Ebing (18401902) formulierte gegen Ende des 19. Jahrhunderts den Anspruch einer
Gruppe medizinischer Spezialisten, die entscheidende Erklärung und zugleich Bewertung für sexuell von der Norm abweichendes Verhalten zu
liefern. Diese Bewertung, welche auf der Klassifizierung und Definition verschiedener sexueller Abweichungen2 (in Handlungen oder Gedanken) als
Krankheiten fußte, ist das Thema der folgenden Ausführungen.3
Es handelt sich bei dem hier untersuchten Ereignis, der Entstehung und
Entwicklung einer Sexualpathologie unter dem zunächst üblichen Namen
Psychopathia sexualis, um einen sowohl medizin- als auch kulturhistorischen
Prozeß, der nicht nur als eigenständiges Phänomen Beachtung verdient.
Interesse darf die Entstehung der Sexualpathologie auch als Teilbewegung
und damit als Fallbeispiel für zwei größere Prozesse beanspruchen: der Medikalisierung immer weiterer sozialer Felder (in diesem Fall des Lebensbereiches Sexualität) und der Pathologisierung abweichenden (in diesem Falle
sexuellen) Verhaltens.
Die medizinische Wissenschaft ver- und erlangte zwischen 1870 und 1900
die Einbeziehung sexuell devianten Verhaltens in ihren Wissens- und
Kompetenzbereich. Es soll nun dargestellt werden, wie es dazu kam und
welche Konsequenzen sich daraus ergaben. Ferner soll untersucht werden,
mit Hilfe welcher Krankheitskonzepte eine bestimmte Gruppe von ärztli1
Richard von Krafft-Ebing: Psychopathia sexualis. Mit besonderer Berücksichtigung
der konträren Sexualempfindung. Nachdruck der 14. Aufl., München 1984, S. 374.
2
Im folgenden werde ich auch den Begriff Perversion(en) verwenden, und zwar so, wie er
in der damaligen Literatur gebräuchlich war. Eine Übernahme der zeitgenössischen
Wertung meinerseits ist damit nicht verbunden. Auf die Verwendung von Anführungszeichen als Mittel der Distanzierung habe ich verzichtet. Der Begriff pervers ist
bereits im 16. Jahrhundert aus dem Lateinischen ins Deutsche entlehnt worden und
hatte die Bedeutungen verkehrt, widernatürlich, entartet, schlecht, verwirrt. Für die starke
sexuelle Konnotation des Begriffes wird man wohl Krafft-Ebing verantwortlich machen müssen, Belege fehlen hier allerdings bislang. S. Deutsches Fremdwörterbuch.
Begonnen von Hans Schulz, fortgeführt von Otto Basler. 2. Bd., Berlin 1942, S. 475f.
3
Mein Aufsatz geht aus einem Vortrag hervor, den ich am 29.4.94 auf dem 13. Stuttgarter Fortbildungsseminar des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch
Stiftung gehalten habe. Ich möchte an dieser Stelle für die genossene Gastfreundschaft
danken und für die Möglichkeit, meine Ausführungen hier noch einmal ausführlich in
schriftlicher Form vorlegen zu können.
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108
Per Klabundt
chen Spezialisten die neue medizinische Disziplin namens Sexualpathologie
schuf und etablierte und welche Auswirkungen dies alles auf das Verständnis von Sexualität hatte.
Methodisch wird sich mein Aufsatz überwiegend der Diskursanalyse bedienen, da diese meinem Quellenmaterial - das gänzlich aus gedruckten ärztlichen Schriften zur Sexualpathologie besteht - am angemessensten ist. In
diesem Zusammenhang werde ich auch nach sozialhistorischen Erklärungen suchen.
Mit sexueller Devianz und damit mit dem, was später das Forschungsobjekt
der Psychopathia sexualis ausmachen sollte, beschäftigten sich im 19. Jahrhundert die Gerichtsmedizin und die Psychiatrie. Schon zu Beginn des 19.
Jahrhunderts waren die Gerichtsärzte in der Praxis mit dem Phänomen abweichender Sexualität konfrontiert worden, sie hatten beispielsweise die Opfer von Lustmördern oder den Anus derjenigen zu untersuchen, die im
Verdacht der passiven Päderastie standen. Ab den 70er Jahren des Jahrhunderts entwickelten dann die Psychiater theoretische Konzepte, denen
zufolge die „sexuellen Abirrungen“4 als psychische Krankheiten aufgefaßt
wurden. Aus der Sexualpathologie, einem sehr wichtigen Teilgebiet der Sexualforschung, ging schließlich im deutschsprachigen Raum um 1900 die
Sexualwissenschaft hervor; 5 daher lieferten ab 1900 neben den Nervenärzten auch andere medizinische Spezialisten, die zur ersten Generation der
Sexualwissenschaftler gehörten, Beiträge zur Erforschung der sexuellen Devianz. Die Auseinandersetzung mit abweichendem Sexualverhalten und
empfinden sollte noch für längere Zeit den Kern der Erforschung menschlicher Sexualität bilden.
Der bereits zu Lebzeiten sehr bekannte Universitätsprofessor Richard von
Krafft-Ebing6 legte 1886 mit seiner „Psychopathia sexualis“ die erste umfassende Monographie über Perversionen vor.7 Er war damit der Begründer
4
Sexuelle Abirrungen war spätestens seit den 1890ern ein gängiges Synonym für Perversionen, Freud beispielsweise gebrauchte es ständig.
5
Zur Geschichte der Sexualwissenschaft und der Sexualreformbewegungen im deutschsprachigen Raum zwischen 1886 und 1918 wird demnächst eine Dissertation des Verfassers erscheinen.
6
Richard Frhr. von Krafft-Ebing wurde 1840 in Mannheim geboren; nach Professuren
in Straßburg (1872) und Graz (1873-89) übernahm er 1889 einen der beiden renommierten Lehrstühle für Psychiatrie in Wien. Einen Überblick über Leben und Werk
gibt Paul Kruntorad: Krafft-Ebing. In: Krafft-Ebing (wie Anm. 1), S. 7-13.
7
Es gab gewisse Vorläufer und eine ideenhistorische Vorgeschichte; s. dazu die noch
immer sehr wichtige Studie von Annemarie Wettley: Von der "Psychopathia sexualis"
zur Sexualwissenschaft, Stuttgart 1959, insb. S. 3-10. Eine hervorragende Arbeit zur
Psychiatriegeschichte, die viele Aspekte dieses Aufsatzes behandelt, ist außerdem Henry F. Ellenberger: Die Entdeckung des Unbewußten. 2. Bde., Bern 1973.
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Psychopathia sexualis
109
der Sexualpathologie auch über den deutschen Sprachraum hinaus.8 Zugleich war er ihr großer Systematiker, da er von der ersten Auflage an ein
immer differenzierteres System der Perversionen entwickelte. In seinem ersten Teil wird sich der vorliegende Aufsatz daher darauf konzentrieren,
Krafft-Ebings Vorstellungen von perverser Sexualität darzulegen. Diese
Konzentration auf nur einen Experten der Sexualpathologie vor der Jahrhundertwende ist dadurch gerechtfertigt, daß mit Krafft-Ebing der unumstrittene Hauptvertreter des neuen Wissenschaftzweiges in den Mittelpunkt
der Untersuchung gestellt wird. Krafft-Ebings Vorgabe, was unter Perversionen und Perversen zu verstehen sei, wurde sehr einflußreich. Wir sprechen
heute ganz selbstverständlich von Sadisten, Homosexuellen und Stiefelfetischisten und verknüpfen mit diesen Bezeichnungen bestimmte Persönlichkeitstypen. Damit übernehmen wir Krafft-Ebings Klassifikation abweichender Sexualität, selbst wenn wir weder seine moralische Bewertung dieser
Sexualität, noch sein dahinterstehendes Krankheitskonzept teilen.
Im zweiten Teil meines Aufsatzes möchte ich die frühe Rezeption von
Krafft-Ebings Krankheitskonzept durch die ärztlichen Nachfolger untersuchen. Diese erste fachliche Auseinandersetzung mit Krafft-Ebings Theorie
der perversen Sexualität war, wie sich zeigen wird, von mehr oder minder
scharfer Kritik an der Ätiologie der Perversionen geprägt.
I.
Krafft-Ebings Konzept der perversen Sexualität
Krafft-Ebings „Psychopathia sexualis mit besonderer Berücksichtigung der
konträren Sexualempfindung“ - gemeint ist damit die Homosexualität9 war ein wissenschaftlicher Bestseller. Das Werk, „eine medizinischgerichtliche Studie für Ärzte und Juristen“ (so der Untertitel), erlebte bis
zum Tode seines Verfassers 1902 elf Auflagen. Krafft-Ebing erweiterte und
überarbeitete seine rasch zum Standardwerk der Gerichtsmedizin avancierte
Arbeit fortwährend: Die erste Ausgabe, 1886, hatte auf insgesamt 110 Seiten
45 Krankengeschichten enthalten, die größtenteils aus anderen, häufig französischen Veröffentlichungen stammten. In der letzten von ihm bearbeite8
Die „Psychopathia sexualis“ wurde in sieben Sprachen übersetzt und galt bis weit ins
20. Jahrhundert hinein als das internationale Standardwerk der Sexualpathologie.
9
Es wäre einen größeren Aufsatz wert, der Frage nachzugehen, warum die männliche
Homosexualität von allen ärztlichen Autoren als die mit Abstand wichtigste, problematischste und bedrohlichste Perversion angesehen wurde. Als These möchte ich vorschlagen, daß die Homosexualität deshalb so viel Aufmerksamkeit erlangte, weil sie anders als Sadismus, Masochismus und Fetischismus - die im Kaiserreich noch sehr
starren, wenn auch einer immer heftiger werdenden feministischen Kritik ausgesetzten
Geschlechterrollen gleichsam verfehlte. Sie paßte sozusagen nicht ins geschlechtliche
Schema. Bezeichnend ist, daß die Homosexualität dann unter umgekehrten Vorzeichen in die Geschlechterordnung integriert wurde. Der Homosexuelle wurde als Frau
in männlicher Körperform, die Homosexuelle komplementär als Mann in weiblicher
Form betrachtet. S. auch Anm. 28.
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110
Per Klabundt
ten Auflage von 1903 präsentierte Krafft-Ebing dann auf 437 Seiten 238
Fallgeschichten und ihre Deutung.
Krafft-Ebing definierte pervers wie folgt: „Als pervers muss - bei gebotener
Gelegenheit zu naturgemässer geschlechtlicher Befriedigung - jede Aeusserung des Geschlechtstriebes erklärt werden, die nicht den Zwecken der Natur, i. e. der Fortpflanzung entspricht.“10 Die zumindest potentielle Fortpflanzung markierte also die Scheidelinie, die von nun an gesunde von
krankhafter sexueller Aktivität trennen sollte. Gesunde Sexualität stand dabei im Rahmen einer nicht näher bestimmten Natur, krankhafte Sexualität
wurde zugleich als widernatürlich angesehen. Diese Trennungslinien zwischen einer richtigen und einer falschen Sexualität stimmten mit der bislang
gültigen Unterscheidung zwischen ethisch-religiös einwandfreiem, wenn
nicht gar gebotenem Sexualverhalten und moralisch verwerflicher Sexualität durchaus überein. Aber aus Schuld, für die man zur Verantwortung gezogen werden konnte, wurde bei Krafft-Ebing schicksalhafte Krankheit, aus
sündigen wurden bemitleidenswerte Menschen.
Neben den kranken Perversen gab es für Krafft-Ebing allerdings noch „lasterhafte Wüstlinge“, die als gesunde Menschen die gleichen sexuellen Abirrungen verfolgten; Krafft-Ebing schrieb hierzu:
Die konkrete perverse Handlung, so monströs sie auch sein mag, ist klinisch nicht entscheidend. Um zwischen Krankheit (Perversion) und Laster (Perversität) unterscheiden
zu können, muss auf die Gesamtpersönlichkeit des Handelnden und auf die Triebfeder
seines perversen Handelns zurückgegangen werden.11
Krafft-Ebings Auffassung von Perversität entsprach genau der älteren,
nichtmedizinischen Be- und Verurteilung sexuell devianten Verhaltens, also
jeglichen Verhaltens, das nicht der Fortpflanzung dienlich war und damit
gegen Natur und göttliches Gebot verstieß. Gegen diese ältere Auffassung
zog er nun allerdings als Gerichtssachverständiger und Irrenarzt im Namen
von Wissenschaft und Humanität zu Felde, wenn er einen Fall von Perversion vor sich zu haben meinte.
Die ältere, religiös geprägte Betrachtungsweise hatte sexuell abweichendes
Verhalten entweder noch völlig undifferenziert unter den Begriffen Sodomie12 und Unzucht gefaßt oder gar nicht als solches wahrgenommen. Die
10 Krafft-Ebing (wie Anm. 1), S. 68. Nach dieser sehr weiten Definition zählten auch der
Geschlechtsverkehr mit Verhütungsmitteln, heterosexuelle Pädikation, Cunnilingus,
Fellatio und, nicht zu vergessen, die Onanie zum perversen Sexualverhalten. All diesen „Aeusserungen des Geschlechtstriebes“ schenkte Krafft-Ebing jedoch in seinem
Standardwerk nur sehr geringe Beachtung, er hielt sie nicht für psychopathisch (vgl. S.
377). Spricht er von Perversion, so meint er immer nur Homosexualität, Sadismus,
Masochismus und Fetischismus.
11 Krafft-Ebing (wie Anm. 1), S. 68.
12 Im Deutschen wird unter Sodomie heute nach dem Duden nur "Geschlechtsverkehr
mit Tieren" verstanden. Der alte Sodomie-Begriff lebte indirekt im Reichsstrafgesetzbuch (§ 175) und im österreichischen Strafgesetzbuch (§ 129) fort. Beide Paragraphen
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Psychopathia sexualis
111
Sündhaftigkeit der Tat war der entscheidende Aspekt; daher interessierte es
relativ wenig, worin der unsittliche bzw. verbrecherische Akt genau bestand. Da Lasterhaftigkeit als Ursache der sittlichen Verfehlung angenommen wurde, galt es diese ganz allgemein im Sinne eines Sühnestrafrechts zu
ahnden. Spezifiziert wurde im Falle einer gerichtlichen Verurteilung nur
nach strafrechtlichen Kriterien, d.h. es wurde danach gefragt, welches
Rechtsgut verletzt worden war.13
In seiner im Laufe der verschiedenen Auflagen sich entwickelnden Systematik ordnete Krafft-Ebing die Perversionen der Parästhesie des Geschlechtstriebs zu, d.h. der „Erregbarkeit des Sexuallebens durch inadäquate Reize“14. Diese Parästhesie bildete neben der Paradoxie (Auftreten sexueller Erregung im Genitalbereich vor der Pubertät und im Greisenalter), der Anästhesie (Fehlen sexueller Erregung) und der Hyperästhesie (abnorm starker Geschlechtstrieb) für ihn eine Untergruppe der zerebral bedingten Neurosen.
Er unterschied vier Hauptgruppen von Perversionen: Sadismus, Masochismus, Fetischismus und Homosexualität.15
Krafft-Ebing, der selbst den Begriff Masochismus prägte, übernahm von den
Franzosen nicht nur manche Fallbeschreibungen und Begriffe,16 sondern
auch die Erklärung der Entstehung von Perversionen. Die von den Psychiatern Benedict Morel und Valentin Magnan übernommene Theorie der vererbten Entartung bildete sein zentrales Erklärungsmodell.17 Krafft-Ebing
ging davon aus, daß aufgrund einer körperlichen Degeneration eine neuropathische Konstitutionsschwäche bei den Perversen vorläge. Die neuropathische Konstitution ermöglichte dann die Entwicklung einer perversen
bedrohten nämlich nicht nur beischlafähnlichen Geschlechtsverkehr unter Menschen
gleichen Geschlechts (§ 175 nur Männer) mit Strafe, sondern auch den Geschlechtsverkehr zwischen Mensch und Tier.
13 Ein Taschentuchfetischist z.B., der Frauentaschentücher zur Befriedigung seiner Sexualität gestohlen hatte, wurde nicht wegen Unzucht, sondern wegen Diebstahls verurteilt. Einen Straftatbestand Fetischismus hat es in deutschen Strafgesetzbüchern nie gegeben, genausowenig wie Straftatbestände Sadismus oder Masochismus. Als sexualpathologische Kriterien und Bewertungen dann aber in der Rechtssprechung Geltung
und Einfluß erlangten, spielte der jeweilige perverse Charakter des Täters doch eine
entscheidende Rolle: Aus dem (etwas seltsamen) Taschentuchdieb wurde nun ein unzurechnungsfähiger Kranker.
14 Krafft-Ebing (wie Anm. 1), S. 47.
15 Nekrophilie zählte Krafft-Ebing zu den Erscheinungsformen des Sadismus, Koprolagnie zu denen des Masochismus. Geschlechtsverkehr mit Tieren hielt er für eine originäre Perversion, die er als Zooerastie bezeichnete; ihr widmete er allerdings kaum Beachtung. Vgl. Krafft-Ebing (wie Anm. 1), S. 82f., 143f., 423f.
16 Z.B. den Begriff Fetischismus, den Alfred Binet 1887 prägte; s. Ellenberger (wie Anm.
7), 1. Bd., S. 414.
17 Vgl. die ausführliche Darstellung der Entwicklung der Entartungstheorie bei Wettley
(wie Anm. 7), S. 39-65.
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Orientierung (wie beim Fetischismus) oder beinhaltete sie bereits (wie bei
der Homosexualität). Daneben machte er den häufigen „Missbrauch der
Generationsorgane“,18 d.h. vor allem onanistische Betätigungen, für die in
seinen Augen „fortschreitende Zunahme“19 perverser Handlungen verantwortlich. Die Zunahme der Zahl der Perversen behauptete, Krafft-Ebing,
stehe
im modernen socialen Culturleben mit der überhandnehmenden Nervosität der letzten
Generationen in Zusammenhang [...], insoferne sie neuropathisch belastete Individuen
züchtete, die sexuelle Sphäre erregt, zu sexuellem Missbrauch antreibt und bei fortbestehender Lüsternheit, aber herabgeminderter Potenz, zu perversen sexuellen Akten
führt.20
Diese übersteigerte Nervosität - nicht nur die Nervenärzte sprachen in diesem Zusammenhang gern von Neurasthenie21- war nicht nur für KrafftEbing ein Zeichen der kulturbedingten Entartung des modernen (Großstadt)lebens.22 Der kausale Nexus zwischen Nervosität in pathologischem
Ausmaß auf der einen und dem im Bild der Großstadt manifestierten modernen Leben auf der anderen Seite war eine der Grundüberzeugungen der
weit verbreiteten Zivilisationskritik des fin de siècle. Krafft-Ebings historische
Argumentation repräsentierte die Communis opinio seiner Zeit: „Dass die
Grossstädte Brutstätten der Nervosität und entarteten Sinnlichkeit sind,
ergibt sich aus der Geschichte von Babylon, Ninive, Rom, gleichwie aus
den Mysterien des modernen grossstädtischen Lebens.“23
Die Charakteristika der einzelnen Perversionen in ihren verschiedenen Erscheinungsformen wurden von Krafft-Ebing anhand typischer Fälle illustriert. Als Beispiel für den Stoffetischismus führte er u.a. folgenden Fall an:
Beobachtung 127. Herr Z., 33 Jahre, Fabrikant aus Amerika, seit 8 Jahren in glücklicher, mit Kindern gesegneter Ehe lebend, konsultierte mich wegen eines sonderbaren
Handschuhfetischismus, der ihn quäle, wegen dessen er sich verachten müsse und der
ihn noch zur Verzweiflung und zum Wahnsinn bringen könnte. Z. ist ein angeblich
aus ganz gesunder Familie stammender, aber von Kindesbeinen auf neuropathischer,
leicht erregbarer Mann. Er bezeichnet sich selbst als eine sehr sinnliche Natur, während seine Frau eher eine Natura frigida sei. Mit etwa 9 Jahren gelangte Z. durch Kameraden, welche ihn verführten, zur Masturbation. Er fand daran grosses Gefallen
und ergab sich ihr leidenschaftlich. [...] Oft fühlte er sich getrieben, lange Handschuhe
18 Krafft-Ebing (wie Anm. 1), S. 44.
19 Krafft-Ebing (wie Anm. 1), S. 372.
20 Krafft-Ebing (wie Anm. 1), S. 373.
21 Die Neurasthenie, zu deutsch Nervenschwäche, war eine der Modekrankheiten des
ausgehenden 19. Jahrhunderts; ihr "Entdecker" war der amerikanische Nervenarzt
George M. Beard.
22 Die gesamte Lebensreformbewegung z.B. sah in diesem Topos einen der Eckpfeiler
ihrer Weltanschauung. S. dazu Klaus Bergmann: Agrarromantik und Großstadtfeindschaft. Meisenheim am Glan 1970.
23 Krafft-Ebing (wie Anm. 1), S. 7.
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mit Wolle u. dgl. auszustaffieren dass sie bekleideten Armen glichen. Dann machte er
tritus membri inter brachia talia artificialia, bis er seinen Zweck erreicht hatte. [...] Z.
ist oft sehr deprimiert über seine Anomalie. Er schäme sich gegenüber den unschuldigen Augen seiner Kinder und bitte Gott, dass sie niemals werden mögen wie ihr Vater.24
Anhand dieser stark gekürzten Fallbeschreibung kann man gut nachvollziehen, wie Krafft-Ebing und seine Schüler diagnostisch vorgingen: Den
ersten Zugang zur perversen Persönlichkeit des Patienten oder Angeklagten
lieferte dessen Beobachtung, ein Geständnis oder die zu beurteilende Tat. Es
folgten die Untersuchung auf körperliche Degenerationszeichen (wie z.B.
mißgebildete Ohren), welche im zitierten Fall anscheinend erfolglos blieb,
und die Anamnese. Daneben wurde nach physischen und psychischen Entartungsanzeichen in der Verwandtschaft und nach onanistischer Betätigung
gefragt. Spätestens nach intensiver Befragung gaben die meisten der größtenteils männlichen Patienten bzw. Täter zu, onaniert zu haben - ein Faktum, das zu beweisen war. Auch Degenerationsmerkmale fand Krafft-Ebing
bei jedem Patienten. Das fiel ihm insofern nicht weiter schwer, als er die
perverse Neigung des Untersuchten selbst als „funktionelles Degenerationsmerkmal“25 einstufte, wenn er keine anderen Anzeichen finden konnte.
Betrachten wir den zitierten Fall des Fabrikanten Z. genauer. Z. sucht von
sich aus ärztliche Hilfe auf, um von einer ihn quälenden sexuellen Orientierung loszukommen. Der Hilfesuchende sieht sich anscheinend selbst als
Kranken, er empfindet zugleich aber auch moralische Schuld, zumindest
Scham, wie Krafft-Ebing bereitwillig berichtet. Der Sexualpathologe findet
in der Geschichte des Patienten für ihn typische Krankheitsanzeichen, die er
als Ursache für den späteren Ausbruch des Fetischismus ansieht: Der Patient ist ein „neuropathischer, leicht erregbarer Mann“, er ist „eine sehr sinnliche Natur“ und er onanierte „leidenschaftlich“, seit er ca. 9 Jahre alt war.
Nach dem gleichen Schema und mit lateinischen Wendungen, wenn es um
die Beschreibung von delikaten Einzelheiten im Sexualverhalten geht, präsentierte Krafft-Ebing seine übrigen Fallgeschichten.26 Den vielen männlichen Perversen stellte er nur ein paar wenige perverse Frauen gegenüber: 3
Fälle von weiblichem Sadismus, 4 Fälle von Masochismus, keinen Fall von
24 Krafft-Ebing (wie Anm. 1), S. 219-21.
25 Vgl. z.B. Krafft-Ebing (wie Anm. 1), S. 160.
26 Daß Krafft-Ebing stellenweise ins Lateinische wechselt, läßt sich nicht mit der für diese
Zeit noch typischen Verwendung lateinischer Beschreibungen als Teil der medizinischen Fachsprache erklären. Im Vorwort zur 12. Aufl. (1903) nennt er den Grund für
die Verwendung des Lateinischen: „Um seine [des Buches] Lektüre etwaigen Unberufenen zu erschweren und zu verleiden, wurde tunlichst von Terminis technicis und lateinischer Sprache Gebrauch gemacht.“ Krafft-Ebing (wie Anm. 1), S. VI. KrafftEbings unmittelbare Nachfolger verzichteten bereits wenige Jahre später auf diese
Vorsorge.
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Fetischismus27 und 18 Fälle von Homosexualität.28 Dieses (Miß)verhältnis
zwischen der Anzahl männlicher und weiblicher Perverser spiegelt nicht
nur die Verhältniswerte der Kriminalstatistik für Sexualdelikte und wohl
auch das Verhältnis von männlichen zu weiblichen Patienten wider, sondern auch Krafft-Ebings Konzept von den jeweiligen Geschlechtscharakteren. Stellte Krafft-Ebing doch in der „Fragmente einer Psychologie des Sexuallebens“ betitelten Einleitung der „Psychopathia sexualis“ fest:
Ohne Zweifel hat der Mann ein lebhafteres geschlechtliches Bedürfnis als das Weib.
Folge leistend einem mächtigen Naturtrieb, begehrt er von einem gewissen Alter an
ein Weib. [...] Anders das Weib. Ist es geistig normal entwickelt und wohlerzogen, so
ist sein sinnliches Verlangen ein geringes. Wäre dem nicht so, so müsste die ganze
Welt ein Bordell und Ehe und Familie undenkbar sein. Jedenfalls sind der Mann, welcher das Weib flieht, und das Weib, welches dem Geschlechtsgenuss nachgeht, abnorme Erscheinungen.29
Ein Mann entartet nach dieser Vorstellung sexuell recht leicht, wenn nämlich zu dem bei jedem Mann vorhandenen starken Sexualtrieb eine neuropathische Anlage hinzukommt. Ein Mann ist dann abnorm, wenn seine
Sexualität nicht auf eine normale sexuelle Betätigung mit einer Frau zielt,
wenn also ein perverses Sexualziel vorliegt: das Zufügen oder Zugefügtbekommen von Schmerz, der Besitz eines Fetisches oder ein anderer Mann.
Eine Frau war für Krafft-Ebing dagegen schon dann als abnorm anzusehen,
wenn sie überhaupt einen stärkeren Sexualtrieb verspürte. Es ist daher nicht
die Perverse, die den Prototyp der weiblichen Abnormität auf sexuellem
Gebiet darstellte, sondern die Prostituierte. Krafft-Ebings oben zitierter
Hinweis auf das Bordell weist darauf hin, daß er zumindest ähnliche Ansichten wie der italienische Nervenarzt Cesare Lombroso vertrat. Dieser sah
27 Krafft-Ebing schreibt dazu, er wisse von keinem einzigen Fall von pathologischem
weiblichen Fetischismus und sei auf Vermutungen angewiesen. Er nimmt aber an, daß
der weibliche Fetischismus pathologisch analoge Formen zum Fetischismus bei Männern aufweist. Vgl. Krafft-Ebing (wie Anm. 1), S. 21f., 179.
28 Nicht eine einzige Frau scheint bis 1900 nach § 129 des österreichischen StGB, der
auch Geschlechtsverkehr zwischen Frauen verbot, angeklagt worden zu sein. KrafftEbing mutmaßte, daß die öffentliche Meinung in Österreich derartige Gesetzesverstöße nicht als solche, sondern nur als sittliche Verfehlungen ansehe. Vgl. Krafft-Ebing
(wie Anm. 1), S. 289. In der Anstalt landeten einige lesbische Frauen trotzdem. Ein
Grund dafür, daß männliche Homosexualität viel schwerer geahndet wurde als weibliche, liegt darin, daß gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Theorie von der möglichen
Verschwendung des Samens immer noch Überzeugungskraft besaß. Im homosexuellen „beischlafähnlichen Verkehr“ vergeudeten nach dieser Theorie Männer einen Teil
ihres Spermavorrats, während diese Gefahr für Frauen natürlich nicht bestand. Ein
weiterer Grund ist sicherlich, daß weibliche Homosexualität keinerlei persönliche psychische Bedrohung für die männlichen Sexualpathologen darstellte.
29 Krafft-Ebing (wie Anm. 1), S. 12f. Man findet dieses Zitat recht häufig in der Sekundärliteratur als Beleg für die sexuelle Unterdrückung der Frau im viktorianischen Zeitalter. Dafür ist es auch sehr passend, man sollte aber nicht vergessen, daß es auch
ganz anders lautende Aussagen (z. B. in August Bebels „Die Frau und der Sozialismus“) gab.
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in den allermeisten Prostituierten degenerierte Frauen, die aufgrund ihrer
Anlage zur Prostitution geboren wären.30
Für Krafft-Ebing und seine Nachfolger war es sowohl strafrechtlich als auch
therapeutisch ein entscheidender Unterschied, ob z.B. ein festgenommener
Sadist als erblich degenerierter und damit kranker Psychopath identifiziert
werden konnte, oder ob er als lasterhafter Zyniker31 eingestuft werden mußte, der durch ungewohnte Reize seine Lust zu steigern versucht hatte. Auch
für die gesellschaftliche Reaktion auf sexuelle Devianz spielten diese Fragen
eine große Rolle, da nach Krafft-Ebing „in dem Kampf gegen die Sinnlichkeit“ „die Erhaltung von Zucht und Sitte eine der wichtigsten Existenzbedingungen für das staatliche Gemeinwesen ist“.32 Die Unterscheidung zwischen Krankheit und Lasterhaftigkeit führte Krafft-Ebing und seine Kollegen als Gutachter und Heiler in jedem Einzelfall zu der konkreten Frage, ob
das abnorme Sexualverhalten angeboren oder erworben ist. Krafft-Ebing
kam in der Mehrzahl der Fälle zu dem Ergebnis, daß der Perversität ein
angeborener Defekt zugrunde läge.
Warum beschäftigte sich Krafft-Ebing so intensiv mit der perversen Sexualität? Er selbst hätte sicherlich eine dem folgenden Zitat aus der „Psychopathia sexualis“ ähnliche Antwort gegeben: „Die [...] perversen geschlechtlichen Akte sind klinisch, sozial und forensisch äusserst wichtig; deshalb
muss auf sie hier näher eingegangen und jeder ästhetische und sittliche Ekel
überwunden werden.“33 Es ist schwer zu sagen, warum Krafft-Ebing das
deviante Sexualverhalten in mehrfacher Hinsicht für so wichtig hielt.34 Unbestreitbar ist, daß Krafft-Ebing der Psychiatrie und damit sich selbst ein
neues, umfangreiches Arbeits- und Wirkungsfeld eröffnete, das den gesellschaftlichen Wert und das entsprechende Ansehen der Nervenheilkunde
erhöhte - vorausgesetzt, die psychiatrische Deutung der Perversionen setzte
sich durch.
30 Lombroso/Gugliemo Ferrero: Das Weib als Verbrecherin und Prostituierte. Anthropologische Studien, gegründet auf eine Darstellung der Biologie und Psychologie des
normalen Weibes. Hamburg 1894 (ital. Ausg. Turin/Rom 1893). Lombroso war wie
Krafft-Ebing eine große Autorität des Entartungsdenkens; er pathologisierte im Gegensatz zu diesem weniger die Perversen als vielmehr die Kriminellen.
31 Wüstlinge waren für Krafft-Ebing sexuelle Zyniker.
32 Krafft-Ebing (wie Anm. 1), S. 372.
33 Krafft-Ebing (wie Anm. 1), S. 68. Es ist bezeichnend, daß Krafft-Ebing es noch für
erforderlich hielt, diese Rechtfertigung, die zugleich natürlich auch eine Werbung für
die Bedeutung der eigenen Arbeit darstellt, seinen Ausführungen über die einzelnen
Perversionen voranzustellen. Interessant ist auch die ästhetisch-moralische Distanzierung im Zitat: mit ihr widerspricht sich Krafft-Ebing, der sich wissenschaftlichobjektiv gibt, praktisch selbst.
34 Weitere Forschungen können vielleicht klären, ob es mehr individuell-psychologische
oder mehr sozial- und ideengeschichtliche Einflüsse waren, die dazu führten. Für erstere gibt es noch keine Belege, für letztere kann man einige Nachweise führen.
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Wie weiter oben ausgeführt wurde, bestätigte Krafft-Ebings Kasuistik in
seinen Augen den übernommenen Erklärungsansatz, er schien auf alle Perversionen zu passen. Die Entartungstheorie, die sich mit ihrem kulturkritischen Hintergrund auch in der gebildeten Öffentlichkeit größerer Beliebtheit erfreute,35 traf mit ihrer sichtbar im Körperlichen verankerten Krankheitserklärung den Nerv der Zeit. Darüber hinaus hat Krafft-Ebings Eintreten für die Entartungstheorie auch einen engeren psychiatriehistorischen
Hintergrund. Im Rahmen der Professionalisierung der Psychiatrie als medizinische Fachdisziplin versuchten deren Vertreter nämlich, zu allen psychischen Erkrankungen eine organische Erkrankung als Korrelat zu finden.
Davon erhoffte man sich u.a., das höhere Ansehen der von naturwissenschaftlicher Methodik und Theorie geprägten klinischen Fächer zu erlangen.36
Da der Vererbung die entscheidende Rolle in der Degenerationstheorie zugesprochen wurde, war diese naturwissenschaftliche Theorie um 1890 herum nicht nur in den Augen ihrer professionellen Vertreter höchst zeitgemäß
und modern. Diese Tatsache, die auch das Pathos mancher Äußerungen
Krafft-Ebings erklärt, gerät heute allzu leicht aus dem Blick, wirkt doch die
Degenerationstheorie mit all ihren impliziten Werturteilen auf uns sehr
rückständig.
Ein Rückblick auf die Jahrzehnte, die zwischen der Jahrhundertmitte und
dem Erscheinungsjahr der Psychopathia sexualis liegen, also zwischen 1850
und 1886, soll nun noch einmal die Neuartigkeit der sexualpathologischen
Auffassungen verdeutlichen. Gerichtsärzte und auch einige Nervenärzte,
darunter sehr viele französische, hatten bereits seit den 1850er Jahren Fälle
devianten Sexualverhaltens aufgezeichnet und in Fachorganen ihren Kollegen vorgestellt.37 Wie Klaus Müller am Beispiel der Homosexualität sehr
überzeugend gezeigt hat, besaßen die Gerichtsmediziner jedoch noch keinerlei theoretisches Konzept, das eine Identifizierung der verschiedenen
Perversen oder gar deren Heilung ermöglicht hätte.38 Die Gerichtsmediziner
interessierte nur der Nachweis von Handlungen, die mit dem Sittengesetz
35 Vgl. dazu ausführlich Gunter Mann: Dekadenz-Degeneration-Untergangsangst im
Licht der Biologie des 19. Jahrhunderts. In: Medizinhistorisches Journal 20 (1985), S.
6-35.
36 S. Hans-Heinz Eulner: Die Entwicklung der medizinischen Spezialfächer an den Universitäten des deutschen Sprachgebietes. Stuttgart 1970, S. 260, 282.
37 Es gibt noch keine Untersuchung, die diese Fallgeschichten in ihrer Struktur und ihren
Inhalten genauer und vor allem im internationalen Vergleich untersucht hat. Daher ist
es auch noch nicht möglich, unter Krafft-Ebings psychiatrischen Vorgängern bestimmte Lager mit verschiedenen Konzepten auszumachen. Hier liegt eine sehr lohnende Aufgabe für die Historiographie der Psychiatrie vor.
38 Klaus Müller: Aber in meinem Herzen sprach eine Stimme so laut. Homosexuelle
Autobiographien und medizinische Pathographien im neunzehnten Jahrhundert. Berlin 1991. S. insb. S. 55-151.
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und dem Strafrecht kollidierten. Der Tat galt die ganze Aufmerksamkeit des
Gerichtsarztes, daher z.B. die z.T. umfangreichen Anusuntersuchungen bei
denen, die der passiven Päderastie angeklagt worden waren. Das Seelenleben derjenigen, die der passiven und auch der aktiven Päderastie verdächtigt wurden, war hierbei nicht von Belang. Die Arbeit der Gerichtsmediziner hatte im Falle der perversen Sexualität keinen therapeutischen Charakter, sie kann vielmehr als eine kriminalistische Unterstützung der Sittenpolizei bezeichnet werden.
Man kann den Unterschied zwischen Gerichts- und Nervenärzten verkürzt
in einem Satz charakterisieren: Die Gerichtsmediziner untersuchten den
Päderasten, die Psychiater konstruierten den Homosexuellen. Der Päderast ist
nur durch sein sexuelles Handeln definiert, beim Homosexuellen ist das
Sexualverhalten dagegen nur noch ein Symptom unter vielen, wenn es auch
- nicht nur wegen seiner strafrechtlichen Relevanz - das entscheidende
bleibt.
Klaus Müller, der die semantische Bedeutung dieser Bezeichnungsunterschiede herausgearbeitet hat, fand noch einen dritten Typus der Männerliebe: den Urning. Den Urning - der unserem heutigen, nicht mehr von
Krankhaftigkeit geprägten Bild des Homosexuellen recht nahe kommt - und
das mit ihm verbundene Konzept von Sexualität stellte der hannoveranische Jurist Karl Heinrich Ulrichs (1825-1895) in den zwischen 1864 und
1879 veröffentlichten „Zwölf Schriften über das Rätsel der mannmännlichen Liebe“ vor. Auf 1200 Seiten entwarf Ulrichs eine im Stil der gerichtlichen Klageschrift gehaltene Verteidigung der Männerliebe aus der Perspektive des Betroffenen. 39
Für die Entwicklung der Sexualpathologie war die in diesem Rahmen von
Ulrichs entworfene Theorie der Homosexualität ein sehr wichtiger Vorläufer. Denn Ulrichs sah Homosexualität als angeborene Anlage und charakterisierte den Urning als eine weibliche Seele, die in einen männlichen Körper
eingeschlossen ist. Zum Erstaunen seiner Zeitgenossen hielt Ulrichs dieses
„dritte Geschlecht“ für eine natürliche und mit dem Sittengesetz in Einklang
stehende Erscheinung.
Die größte wissenschaftliche und bis heute populär nachwirkende Karriere
machte allerdings die folgende Ansicht Ulrichs’:
39 Magnus Hirschfeld gab die vorher einzeln und bis 1868 unter dem Pseudonym Numa
Numantius erschienenen Schriften 1898 unter dem Titel „Forschungen über das Rätsel
der mannmännlichen Liebe“ heraus; in dieser Ausgabe umfaßten die Schriften über
1200 Seiten. Vgl. zu Ulrichs Müller (wie Anm. 38), S. 55-90, sowie die Biographie von
Hubert Kennedy: Karl Heinrich Ulrichs: sein Leben und Werk. Stuttgart 1990.
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Seinem ganzen geistigen Organismus nach, nicht blos was geschlechtliche Liebesempfindung betrifft, seiner ganzen geistigen Naturanlage nach, seiner ganzen Gemüthsart
nach: ist der Urning nicht Mann, sondern ein Wesen weiblicher Art.40
Die Sexualität erfaßte für Ulrichs den ganzen Menschen, sie prägte alles:
Charakter, Träume, Seele, Identität. Noch unsicher war sich Ulrichs allerdings in der Frage, ob sich das urnische Wesen auch im Körperbau manifestiere.41
Die selbstgewählte Aufgabe der nervenärztlichen Autoren, die wohl alle
Ulrichs’ Arbeiten kannten,42 bestand darin, dessen Theorie in medizinische
und damit pathologisierende Konzepte zu übertragen bzw. zu übersetzen.
Krafft-Ebing verknüpfte dann, ausgehend von der Homosexualität, alle
Perversionen dezidiert mit der Degenerationstheorie: Die „Psychopathia
sexualis“ war als naturwissenschaftlich abgesicherte medizinische Disziplin
geboren.
Die Generation der Sexualpathologen nach Krafft-Ebing übernahm seine
Einteilung der Perversionen und baute das System mit weiteren Differenzierungen aus. Einige Sexualforscher, insbesondere Magnus Hirschfeld, folgten
dem Gründer der Sexualpathologie auch auf sexualtheoretischem Gebiet.
Hirschfeld konnte Krafft-Ebing noch kurz vor dessen Tod 1902 davon
überzeugen, daß homosexuelles Verhalten und Fühlen immer krankhaft
und nie lasterhaft sei.43 Hirschfeld schwächte den Krankheitscharakter der
Homosexualität allerdings immer mehr ab. Er bezeichnete Homosexualität
1914 schließlich als natürliche, angeborene Abweichung von der Norm, als
Varietät, um sie vom Makel der Degeneration und damit der Krankheit zu
befreien. Er vertrat damit praktisch die Position Ulrichs’.44
Gerade Hirschfeld vervollständigte endgültig jene Konstruktion, die erstmals in schwachen Ansätzen in dem 1852 erschienenen Aufsatz des Gerichtsmediziners Johann Ludwig Casper45 über Päderastie vorgeführt wor40 Numa Numantius (= Karl Ulrichs): „Vindex“. Social-juristische Studien über mannmännliche Geschlechtliebe. Leipzig 1864, S. 5. Die Schrift ist u.a. nachgedruckt in:
Joachim S. Hohmann (Hg.): Der unterdrückte Sexus. Lollar 1977, S. 273-308.
41 Vgl. Müller (wie Anm. 38), S. 65-67.
42 Vielen Ärzten, z.B. Rudolf Virchow und Krafft-Ebing, schickte Ulrichs seine mutigen
Manifeste zu und bat um eine Beurteilung. Vgl. dazu Müller (wie Anm. 38), S. 130f.
43 Krafft-Ebing: Neue Studien auf dem Gebiete der Homosexualität. In: Jahrbuch für
sexuelle Zwischenstufen 3 (1901), S. 1-36.
44 Vgl. Hirschfeld: Die Homosexualität des Mannes und des Weibes. Berlin: 21920, S.
384-92. Zu Ulrichs und Hirschfeld s. auch den Überblick von Rolf Gindorf: Homosexualitäten in der Geschichte der Sexualforschung. In: ders./Erwin J. Haeberle (Hg.):
Sexualitäten in unserer Gesellschaft. Berlin/ New York 1989, S. 9-32.
45 Casper (1796-1864) war seit 1839 Ordinarius in Berlin. Sein Aufsatz trägt den Titel:
Ueber Nothzucht und Päderastie und deren Ermittelung Seitens des Gerichtsarztes.
Nach eigenen Beobachtungen. In: Vierteljahresschrift für gerichtliche und öffentliche
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den war: die Konstruktion der sexuellen Persönlichkeit. Mit den neuen
Krankheiten Sadismus, Masochismus, Fetischismus und Homosexualität
entstanden die entsprechenden Typen: der Schuhfetischist, der ideelle Masochist, der Lustmörder usw. Wie oben bereits ausgeführt, waren insbesondere der und die Homosexuelle speziell ausgeprägte Persönlichkeiten, denen
außer ihrer sexuellen Orientierung charakteristische Seelenzüge, Vorlieben,
Begabungen und soziale Verhaltensweisen eigentümlich waren. Dazu gesellten sich bei Hirschfeld und anderen bestimmte Körpermerkmale.
Vor 1850 hatte man nur einen über seine spezifische sexuelle Betätigung
definierten Typus gekannt: den Onanisten. Auch er hatte ein bestimmtes
(krankes) Aussehen und einen bestimmten (schlechten) Charakter,46 beide
waren aber nach damaliger medizinischer Theorie erworben. Es ist anzunehmen, daß der Onanist eines der Vorbilder lieferte, nach dem man in der
2. Hälfte des 19. Jahrhunderts die perversen Charaktere entwickelte. Auffällig ist jedenfalls, daß man mit dem Sammeln von Fallgeschichten zugleich
Krankheiten und Krankheitspersönlichkeiten konstruierte. Der Psychiater
Carl Westphal,47 der mit seinem 1869 veröffentlichten Aufsatz „Die conträre Sexualempfindung“48 eben diesen Begriff schuf, gründete seine Ansichten
über die von ihm entdeckte Nervenkrankheit auf die Untersuchung von nur
zwei Fällen49 - und auf Ulrichs’ Ausführungen50.
Medizin 1 (1852), S. 21-78; Nachdruck der S. 21-26, 56-78 in: Hohmann (wie Anm.
40), S. 242-70.
46 Typisch für diese Ansicht ist ein Zitat aus der Fallbeschreibung eines Taschentuchfetischisten, den Krafft-Ebing aus der „Wiener medizinischen Wochenschrift“ übernahm. In Krafft-Ebings Beobachtung steht: "Sein ängstliches, unsicheres Wesen machte den Verdacht der Onanie rege. Inkulpat gestand, dass er seit dem 19. Jahr diesem
Laster in exzessiver Weise ergeben war." Krafft-Ebing (wie Anm. 1), S. 200.
47 Westphal (1833-1890) war als Nachfolger Griesingers seit 1874 Ordinarius in Berlin.
48 Die conträre Sexualempfindung: Symptom eines neuropathischen (psychopathischen)
Zustandes. In: Archiv für Psychiatrie 2 (1869), S. 73-108. Die Begriffsgeschichte zeigt
deutlich, wann man sich mit dem Phänomen der Männerliebe als einem Arbeitsgebiet
der Medizin zu beschäftigen begann: Casper hatte noch - in Ermangelung eines adäquaten Begriffes - von Päderasten, also Knabenliebhabern, gesprochen. Der wie die
konträre Sexualempfindung ebenfalls 1869 erdachte Begriff Homosexualität (Urheber war
der ungarische Schriftsteller Károly M. Kertbeny, der sich in 2 anonymen Schriften
gegen die Übernahme des preußischen Sodomieparagraphen ins Reichsstrafgesetzbuch aussprach) setzte sich erst nach 1900 gegenüber Westphals Schöpfung durch.
Auch der 1882 von den französischen Psychiatern Charcot und Magnan verwendete
Begriff der sexuell Invertierten wurde im deutschen Sprachraum übernommen.
49 Die von Westphal beschriebene Frau würde auch heute noch als homosexuell eingestuft werden, allerdings nicht mehr als Kranke. Bei dem von ihm als männlicher Homosexueller identifizierten Patienten handelte es sich nach heutiger Definition dagegen
eindeutig um einen Heterosexuellen mit transvestitischen Neigungen. Daß Westphal
allen Erklärungen seines Patienten, er habe niemals Männern gegenüber sexuelles Interesse verspürt, zum Trotz zur Diagnose “Homosexualität“ gelangte, ist bezeichnend.
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Westphals Aufsatz markiert einen entscheidenden Punkt in der Geschichte
der Pathologisierung von abweichendem Sexualverhalten, weil Westphal
der erste Arzt war, der Homosexualität als angeborene Krankheit verstand,
deren Grundlage eine psychopathische Konstitution ist. Zwar hatte auch
der Gerichtsmediziner Casper schon das Angeborensein vermutet, als er
fast zwei Jahrzehnte zuvor noch recht ratlos von einigen Päderasten berichtete, deren „unerklärliche geschlechtliche Verirrung sich“ „bei nicht wenigen [...] in den Gränzen eines gewissen Platonismus erhält“.51 Aber im Gegensatz
zu seinem Nachfolger Westphal sah er keine neue Patientengruppe vor sich,
der mit Hilfe eines bestimmten Krankheitskonzepts geholfen werden konnte. Auffälligerweise kam bereits Casper der Ausdruck „Geschlechtswahnsinn“ in den Sinn, als er ein Phänomen vorstellte, das „in den Annalen der
Psychologie und Criminaljustiz ganz neu und unerhört ist“.52
II.
Krafft-Ebings Nachfolger: Die kritische Übernahme des Erbes
Ein paar Buchtitel mögen die von Krafft-Ebing ausgehende Entwicklung
der Sexualpathologie andeuten: Der Berliner Nervenarzt Albert Moll (18621939) veröffentlichte 1891 die erste und zugleich sehr umfangreiche Monographie über „Die konträre Sexualempfindung“; der Münchner Nervenarzt
Albert von Schrenck-Notzing (1862-1929) verfaßte 1892 ein Werk über
„Die Suggestions-Therapie bei krankhaften Erscheinungen des Geschlechtssinnes“; Albert Eulenburg (1840-1917), einer der ersten deutschen Sexualforscher, schrieb 1902 eine größere Abhandlung über „Sadismus und Masochismus“; der Berliner Spezialarzt für Geschlechtskrankheiten Iwan Bloch
(1872-1922) ließ 1902/03 seine „Beiträge zur Aetiologie der Psychopathia
sexualis“ erscheinen; Freuds (1856-1939) bekannte „Drei Abhandlungen zur
Sexualtheorie“, von denen die erste „Die sexuellen Abirrungen“ behandelte,
erschienen 1905; und Magnus Hirschfeld (1868-1935) lieferte 1914 mit einer über 1000 Seiten starken Monographie über „Die Homosexualität des
Mannes und des Weibes“ einen gewichtigen, seine jahrelangen Untersuchungen abschließenden Beitrag über die in den Augen aller Zeitgenossen
relevanteste Perversion.
Die genannten und viele andere ärztliche Autoren verfaßten außer den aufgezählten Werken Abhandlungen und Aufsätze über sexualpathologische
Themen, die in medizinischen und sexualwissenschaftlichen Fachblättern
veröffentlicht wurden. Die äußerst beachtliche Anzahl dieser Texte wird
Ein Patient, der Frauenkleider trug und sich weiblich gebärdete, mußte einfach in jedem geschlechterbezogenen Punkt konträr sein, also auch in seinem Sexualempfinden.
50 Westphals Aufsatz enthält eine längere Zusammenstellung von Zitaten aus Ulrichs’
Schrift „Inclusa“ (1864).
51 Casper (wie Anm. 45), S. 76.
52 Casper (wie Anm. 45), S. 67.
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schon daraus ersichtlich, daß allein zur Homosexualität zwischen 1898 und
1908 über 1000 Titel erschienen sind - die meisten davon waren wissenschaftliche Arbeiten.53
Um die Jahrhundertwende herum kam von vielen Seiten Kritik an KrafftEbings Ätiologie der Perversionen auf. So widersprachen z.B. die Sexualwissenschaftler Albert Moll und Hermann Rohleder entschieden KrafftEbings Auffassung, (exzessive) Onanie führe zu perversem Empfinden. Sie
wiesen darauf hin, daß es viel mehr Perverse geben müßte, wenn dem so
wäre. Die nun lebhaft geführte sexualpathologische Diskussion drehte sich
in erster Linie um die Ursachen der einzelnen Perversionen und das zahlenmäßige Verhältnis der psychisch Kranken zu den lasterhaften Gesunden,
weniger um therapeutische Fragen und kaum um die Krankheitsdefinitionen. Einen wissenschaftlichen Streit wie beispielsweise den über das Krankheitsbild der sexuellen Neurasthenie gab es nicht.54
Fast alle Beteiligten waren sich auch einig über den strafrechtlichen Umgang mit den Perversen. Die allgemeine nervenärztliche Forderung um
1910 herum lautete: Kranke müßten wie Kranke und nicht wie Verbrecher
behandelt werden, und insbesondere der § 175 gehöre ersatzlos gestrichen.55
Das hieß selbstverständlich nicht, daß die Nervenärzte abweichendes Verhalten einfach tolerieren wollten. Es sollte bloß die ihnen zukommende gesellschaftliche Aufgabe sein, aus diesen Kranken wieder sexuell normale
Mitglieder der Gesellschaft zu machen. War das nicht möglich, fiel es nach
Ansicht der Nervenärzte in ihren Kompetenzbereich, die Öffentlichkeit vor
diesen Menschen zu schützen, indem man sie in Anstalten und nicht im
Gefängnis von dieser separierte.
Der Forderung der Psychiater an den Staat, nun auch die Perversen in ihre
Anstalten zu überweisen, lagen bei aller modernen und menschenfreundlichen Rhetorik auch egoistische Motive zugrunde. Denn man muß diese
Forderung auch als Maßnahme im Interesse der Nervenärzte verstehen, die
im Zusammenhang mit ihrer Professionalisierung neues Krankengut rekrutierten. Die Psychiater befanden sich nämlich zwischen 1870 und 1900 in
53 Angabe nach Hirschfeld, Die Homosexualität des Mannes und des Weibes, 1914, S.
V; bei Manfred Herzer (Hg.): Bibliographie zur Homosexualität. Berlin 1982 sind die
Titel der nichtbelletristischen Literatur chronologisch zusammengestellt.
54 Der bereits erwähnte George Beard hatte diese Sonderform der Neurasthenie als erster
vorgestellt (Die sexuelle Neurasthenie. Wien 1885).
55 Vgl. Anm. 12. Zu den Argumenten der Verteidiger des § 175 s. die forensischen Psychiater Hoche, Cramer und Kautzner; Alfred Hoche: Zur Frage der forensischen Beurtheilung sexueller Vergehen. In: Neurologisches Centralblatt 15 (1896), S. 57-68;
August Cramer: Die konträre Sexualempfindung in ihren Beziehungen zum § 175 des
Strafgesetzbuches. In: Berliner klinische Wochenschrift (1897), S. 934-36, 962-65; K.
Kautzner: Homosexualität. In: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik
2 (1899), S. 152-63. Alle drei sahen die meisten Perversionen als erworben oder gar als
willentlich angenommen an.
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einer Auseinandersetzung mit den Gerichtsärzten und den Internisten, welche sich damals als Neurologen mit den Psychiatern um Patientenmaterial
und Zuständigkeiten stritten.56
Krafft-Ebings Entartungstheorie, die ja mit einer Kritik an der nervösen
Reizbarkeit der modernen Zivilisation eng verknüpft war, verlor besonders
an Überzeugungskraft, als Iwan Bloch und Sigmund Freud andere umfassende Erklärungen vorstellten. Bloch argumentierte in seinen „Beiträgen zur
Aetiologie der Psychopathia sexualis“ von 1902/03, auf historische und
ethnologische Quellen gestützt, daß perverses Sexualverhalten zum anthropologisch konstanten Verhalten gezählt werden müsse.57 Er zog daraus den
Schluß, daß nur ein geringer Teil der Perversen degeneriert sei.58 Der gewöhnliche Perverse, und damit auch der Homosexuelle, befriedigt nach
Bloch nur seinen „sexuellen Reizhunger“ durch sexuelle Abwechslung. Daraus folgte für Bloch zwangsläufig, daß die Perversen für ihr Handeln strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden sollten.
Nur fünf Jahre später hatte Bloch unter Hirschfelds Einfluß zumindest seine
Auffassung der Homosexualität revidiert. Er ging nun davon aus, daß Homosexualität immer angeboren sei, und bezeichnete alle Formen erworbener Homosexualität als „Pseudohomosexualität“.59 Insbesondere in der
Frage der strafrechtlichen Konsequenzen bezog er nun folgerichtig die Gegenposition.60
Freud entwickelte 1905 in den „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ ein
ganz anders geartetes Erklärungsmodell der „sexuellen Abirrungen“ als
Blochs kulturvergleichenden Relativismus. Seine tiefenpsychologische Erklärung sieht Perversität durch Störungen in der psychischen Entwicklung
vom polymorph perversen Kind zum heterosexuellen Erwachsenen verur56 S. dazu Eulner (wie Anm. 36), S. 282.
57 Vgl. Iwan Bloch: Beiträge zur Aetiologie der Psychopathia sexualis. 2 Bde., Dresden:
1902/03, 1. Bd., S. 16-19 u. 2. Bd., S. 362-65.
58 Bloch lehnte Krafft-Ebings Degenerationsbegriff nicht als solchen ab, sprach ihm aber
wesentlich weniger Bedeutung zu. Im Vorhandensein einer Perversion sah er kein Degenerationszeichen; vgl. ders. (wie Anm. 57), 1. Bd., S. 14 u. 2. Bd., S. 362f.
59 Vgl. Iwan Bloch: Das Sexualleben unserer Zeit in seinen Beziehungen zur modernen
Kultur, Berlin: 41908, S. 541 sowie das Kap. über Pseudohomosexualität, S. 595-611.
60 Bloch hatte 1902 noch geschrieben: „Die ‘angeborenen’ Fälle von Homosexualität
existieren wohl überhaupt nicht.“ Beiträge (wie Anm. 57), 1. Bd., S. 11. Für ihn folgte
daraus: „Die gänzliche Aufhebung des bekannten § 175 des Strafgesetzbuches wäre
gleichbedeutend mit einer offiziellen Sanktionierung der Homosexualität [...]. Die Folge wäre unfehlbar eine fortschreitende moralische und physische Entartung des Menschengeschlechts.“ Dort S. 251f. 1907 beschrieb er dann die beständige Bedrohung der Homosexuellen durch den § 175 und kam zu folgendem Schluß: „Abhilfe für alle diese
Übelstände, die Selbstmorde sowohl wie die Erpressung, kann nur durch Aufklärung
des ganzen Volkes - das Allerwichtigste - und durch bedingungslose Aufhebung des § 175
geschaffen werden.“ Ders., Das Sexualleben (wie Anm. 59), S. 580.
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Psychopathia sexualis
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sacht. Jemand wird nach dieser Theorie pervers, wenn es ihm oder ihr nicht
gelingt, die in der Anlage bei jedem Menschen vorhandenen perversen
Triebregungen zu verdrängen und zu verarbeiten.61
Wie kam es nun dazu, daß Bloch und Freud das physische Erklärungsmodell Krafft-Ebings durch zwei unterschiedliche psychologische Erklärungsmodelle ersetzten? Bloch war der Widerspruch zwischen seinen Quellen
und den Aussagen Krafft-Ebings aufgefallen. Seine Reizhungerhypothese
basierte auf der auch heute noch gängigen Annahme, daß menschliche
Neugier auf der Suche nach sexueller Abwechslung und Reizsteigerung von
allein auf ungewöhnliches Sexualverhalten kommen kann. Eine ähnliche
Erklärung hatte Krafft-Ebing ja auch gefunden für diejenigen Fälle, die er
als übersättigte Wüstlinge einstufte. Freuds Erklärung für die Entstehung
der Perversionen kann nur im Rahmen der psychoanalytischen Theorie
und ihrem Triebmodell verstanden werden. Voraussetzung des mit Hilfe
von Eigen- und Fremdanalyse entwickelten Erklärungsmodells Freuds war
die Konstruktion des polymorph perversen Kindes und seine Theorie der
psychosexuellen Entwicklung. Im Rahmen seiner Neurosenlehre mit ihrem
Konzept der verdrängten Triebregungen fand Freud dann auch seine Ätiologie sexueller Abirrungen. Krafft-Ebings Degenerationsbegriff wurde von
Freud völlig verworfen.62
Als die Entartungstheorie medizinisch bereits an Überzeugungskraft zu verlieren begann, vertrat Hirschfeld eine andere Theorie der angeborenen
Homosexualität: seine Zwischenstufentheorie.63 Die Zwischenstufentheorie
ordnete, in enger Anlehnung an Ulrichs’ Theorie der Homosexualität,
männliche und weibliche Homosexuelle mit Hilfe von vier Skalen verschiedenen Zwischenstufen zu, die sich mehr oder weniger von den beiden
Polen „Vollweib“ und „Vollmann“ entfernten. Die körperliche Grundlage
für diese Theorie suchten er und andere zunächst in speziellen Geschlechtszellen, später in den Hormondrüsen.64 Vergleicht man Hirschfelds, Blochs
61 Vgl. Freud: Studienausgabe, Bd. 5: Sexualleben. Frankfurt a. M. 1972, S. 43-145; hier
S. 79f., 97, 134f.
62 „Die Degeneration unterliegt den Einwänden, die sich gegen die wahllose Verwendung des Wortes überhaupt erheben. Es ist doch Sitte geworden, jede Art von Krankheitsäußerung, die nicht gerade traumatischen oder infektiösen Ursprungs ist, der Degeneration zuzurechnen. [...] Unter solchen Umständen darf man fragen, welchen
Nutzen und welchen neuen Inhalt das Urteil ´Degeneration` überhaupt noch besitzt.“
(wie Anm. 61), S. 50.
63 Vgl. zur Zwischenstufentheorie Manfred Herzer: Magnus Hirschfeld. Leben und Werk
eines jüdischen, schwulen und sozialistischen Sexologen. Frankfurt a. M./New York
1992, S. 59-61.
64 Heute forscht man in den Genen nach dem Stoff, aus dem die Homosexuellen sind.
Man hat Anfang 1994 tatsächlich die Entdeckung eines Homosexuellengens und neuerdings die eines Untreuegens verkündet. Beim heutigen Stand der Genomanalyse und
den prinzipiellen Schwierigkeiten, Charaktereigenschaften auf bestimmte DNA-
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und Freuds Ansätze mit dem Krafft-Ebings, so fällt auf, daß die Perversionen in Krafft-Ebings Erklärung nur Nebenprodukt bzw. Folge der eigentlichen Erkrankung, der Degeneration oder der neuropathischen Konstitutionsschwäche, waren. Hirschfeld, Bloch und Freud lieferten dagegen spezifische Erklärungen für die Entstehung der einzelnen Perversionen.
Therapeutisch probierten die Mediziner verschiedene Methoden der psychischen Beeinflussung aus, die von der Hypnose über sogenannte Suggestionstherapien bis hin zur psychoanalytischen Behandlung reichten. Auch
operativ und später mit Hormonpräparaten versuchte man insbesondere
die Homosexuellen von ihrer sexuellen Orientierung zu befreien. Die Therapie trat in der Sexualpathologie allerdings gegenüber der Diagnose sehr in
den Hintergrund.65
III. Fazit
Nach dieser detaillierten Beschreibung des medizinischen Umgangs mit
sexueller Devianz im 19. Jahrhundert soll es nun um die generelle Frage
gehen, warum sich die Psychiatrie ab 1869 überhaupt die Aufgabe stellte,
sexuell abweichendes Verhalten und Empfinden zu definieren, zu beschreiben und zu erklären. Gerichts- und Irrenärzte waren in der Praxis, d.h. vor
Gericht und in der Anstalt, dazu aufgefordert, Fälle von abweichendem
Verhalten zu begutachten und - das galt nur für die Nervenärzte - wenn
möglich, zu therapieren. Für die Nervenärzte handelte es sich hier also zum
Teil um eine von außen an sie herangetragene Aufgabe, zum Teil um eine
selbstgewählte.
Es ergab sich für die Psychiater die Notwendigkeit, Erklärungen für sexuelle
Abweichungen von der von ihnen selbst definierten Norm zu finden. Die
bisherige moralische Erklärung, die weltanschaulich im Religiösen verankert war, verlor nicht nur mit der fortschreitenden Säkularisierung an Gewicht. Sie war in ihrer Undifferenziertheit auch wissenschaftlich ungenügend und wies keinerlei Bezugspunkte zur naturwissenschaftlichen Medizin
auf.
Der sehr bedeutsame erste Schritt der frühen Sexualpathologen bestand
darin, sexuell deviantes Verhalten überhaupt als krankhaft anzusehen. DieSequenzen zu beziehen, kann man derartige „Entdeckungen“ nur als unseriös bezeichnen.
65 Eine Arbeit über die verschiedenen Therapiekonzepte zur „Heilung“ der Homosexuellen einerseits, der Perversen insgesamt andererseits, steht noch aus. In der vorhandenen Literatur wird die Geschichte der Therapieversuche immer nur gestreift, meist
wird von besonders grotesken Beispielen berichtet. Mein Eindruck ist, daß die Sexualpathologen dem Phänomen Perversion therapeutisch recht hilflos gegenüberstanden,
auch wenn es viele Äußerungen behandelnder Ärzte in den Quellen gibt, die selbstbewußt von den Erfolgen ihrer jeweiligen Heilmethode sprechen. Vgl. Müller, Aber in
meinem Herzen, 1991, S. 143f.
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Psychopathia sexualis
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se Pathologisierung war für die modernen, naturwissenschaftlich ausgebildeten Psychiater, welche die moralisierende Psychiatrie der Aufklärung und
der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts scharf ablehnten,66 meiner Meinung
nach die naheliegendste Reaktion gegenüber sexueller Devianz. Die beiden
anderen Wahrnehmungsmöglichkeiten gegenüber diesem Phänomen wären
moralischer Abscheu oder Anerkennung abweichenden Sexualverhaltens
als legitime Form der Sexualität gewesen. Die erstere Möglichkeit war für
die Nervenärzte aus den oben genannten Gründen hinfällig geworden, auch
wenn diese Sicht der Dinge noch sehr lange latent vorhanden war und eine
nicht zu unterschätzende Rolle spielte. Letztere Haltung, die Anerkennung
abnormen Sexualverhaltens als moralisch legitimes und medizinisch einwandfreies Verhalten, war für die allermeisten Menschen im 19. Jahrhundert überhaupt nicht vertretbar - das zeigen schon die Reaktionen auf Ulrichs’ Aufklärungsversuche.67
Der generellen Pathologisierung folgte die Definition immer weiterer
krankhafter Perversionen, das Erstellen eines Systems dieser Perversionen
sowie therapeutische Konzepte. Individuelles ärztliches Interesse am Forschungsgegenstand verband sich dabei schnell mit sexualreformerischen
Anliegen wie der Emanzipation der Homosexuellen.68 Der um 1900 geäußerte ärztliche Appell an Gesellschaft und Justiz, die Perversen müßten wie
Kranke und nicht wie Verbrecher behandelt werden, war aber nicht von
Verständnis, sondern nur von Mitleid geprägt.
Die Sexualpathologen fühlten sich spätestens um 1900 dazu berufen, das
nicht nur individuelle, sondern auch gesellschaftliche Problem der Perversionen (vor allem der männlichen Homosexualität) zu lösen. Mit der zunehmenden Professionalisierung der Mediziner im 19. Jahrhundert im allgemeinen69 und der Psychiater im besonderen war auch der Anspruch der
Sexualpathologen gewachsen, als die alleinigen Experten der Psychopathia
sexualis angesehen zu werden. Dieser Anspruch richtete sich unausgesprochen gleichermaßen gegen die Gerichtsmediziner sowie die Betroffenen,
66 Zur Psychiatrie der Aufklärung und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts s. Klaus
Dörner: Bürger und Irre. Überarb. Neuaufl., Frankfurt a. M. 1984.
67 Vgl. Müller (wie Anm. 38), S. 131-34.
68 Damit ist v.a. die strafrechtliche Emanzipation gemeint. Eine soziale Emanzipation,
d.h. die Anerkennung der Gleichwertigkeit von Homo- und Heterosexualität, wurde
noch nicht einmal von Hirschfeld, dem prominentesten Anwalt der Homosexuellen
im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, wirklich vertreten. Vgl. zu Hirschfelds
ambivalenter Haltung Herzer (wie Anm. 63), S. 54f., 80f. Bloch und Freud haben mit
ihrer Bewertung, Homosexuelle seien sozial gesehen nutzlos und überflüssig, voll im
Trend gelegen; vgl. Bloch, Das Sexualleben (wie Anm. 59), S. 591 und Freud: Die
„kulturelle“ Sexualmoral und die moderne Nervosität. In: Gesammelte Werke, 7. Bd.,
Frankf.a.M. 51972, S. 143-67, hier S. 153.
69 Gerd Göckenjahn: Kurieren und Staat machen. Frankfurt a. M. 1985; Alfons Labisch:
Homo Hygienicus. Frankfurt a. M./ New York 1992.
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also die Perversen selbst. Auf deren Auskünfte bezüglich ihres geheimnisvollen Geschlechtslebens war man ärztlicherseits zunächst angewiesen gewesen. Nachdem die Sexualpathologen dann ihre auf den autobiographischen Geständnissen basierenden Typologien der Perversen entwickelt hatten, wähnten sie sich im Besitz des wahren, objektiven Wissens über die
perverse Sexualität. Die Perversen verloren dadurch den Status des verläßlichen Zeugen, ihre Geschichten über sich und ihre Sexualität standen von
nun an unter dem Verdacht der Subjektivität, wenn nicht gar der interessensgebundenen Verlogenheit.70
Daß sich die Sexualpathologen als neue Expertengruppe im innermedizinischen Konkurrenzkampf gegenüber den Gerichtsmedizinern durchsetzten,
sieht man schon daran, daß sie die Aufgabe der forensischen Begutachtung
von Sexualdelikten weitgehend übernahmen - auch wenn die gerichtsmedizinische Spurensicherung nach wie vor von Bedeutung blieb. Ein Grund
für diesen Gewinn an Prestige und Einfluß für die Sexualpathologen lag
sicherlich darin, daß die Seelenexperten im Gegensatz zu den Gerichtsmedizinern eine umfassende Theorie der Ursachen, der zugrundeliegenden
Kräfte und Motive besaßen. Sie überführte den Täter und erklärte zusätzlich
sein Handeln. Damit unterstützte die Sexualpathologie ein bedeutendes
Konzept der Moderne: die psychologische Idee des Menschen.71 Unter diesem Begriff verstehe ich die in vielen Varianten ausgeformte Vorstellung,
daß der Mensch von Triebkräften stark beeinflußt wird, die im Unterbewußten oder Unbewußten seiner Persönlichkeit verankert sind.72
Als eine wichtige Triebkraft ist von allen Vertretern der psychologischen
Idee des Menschen stets der Sexualtrieb angesehen worden. Seine Existenz
und sein Einfluß auf das menschliche Leben schien allen Sexualexperten
des ausgehenden 19. Jahrhunderts evident zu sein. Krafft-Ebing beschrieb
ihn als „einen Naturtrieb [...], der allgewaltig, übermächtig nach Erfüllung
verlangt.“73 Für Bloch war er „neben dem Selbsterhaltungstrieb immer der
mächtigste Lebensreiz“.74
Die Sexualpathologie strich am Negativbeispiel der abweichenden Sexualität die elementare Bedeutung des Sexuellen für den Einzelnen und die Gesellschaft heraus. Aus sexualpathologischer Perspektive stellte sich der Se70 Das Verhältnis von perverser (hier: männlicher homosexueller) Autobiographie und
ärztlicher Pathographie ist das Thema der schon mehrfach erwähnten Dissertation
Klaus Müllers. Vgl. insb. ders. (wie Anm. 38), S. 254-63.
71 Die Entstehung und Bedeutung dieser Idee hat Michel Foucault am Beispiel der Strafverfolgung dargestellt. Vgl. ders.: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a. M. 1976.
72 Man könnte den Gesamtvorgang, die Durchsetzung der psychologischen Idee des
Menschen im 19. und 20. Jh., auch als Psychologisierung bezeichnen.
73 Krafft-Ebing (wie Anm. 1), S. 1.
74 Iwan Bloch, Das Sexualleben (wie Anm. 59), S. 743.
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xualtrieb und damit die Sexualität insgesamt als bedrohlich dar, die gesunde Sexualität entartete leicht ins Krankhafte. Die Hektik des Großstadtlebens, dauerhaft betriebene Onanie in der Jugend, Coitus interruptus im ehelichen Schlafzimmer, der wiederholte Bordellbesuch, das alles konnte zu jenen Abirrungen der Seele führen, die ärztliche Systematiker mittels einer
umfangreichen Kasuistik immer genauer klassifizierten.
Die Erforschung der Sexualität, die im Laufe des 19. Jahrhunderts immer
mehr an Dynamik gewann und schließlich kurz nach 1900 zur Entstehung
der Sexualwissenschaft führte, setzte beim Problematischen an. Die Sexualforscher, von denen die meisten Ärzte waren, näherten sich ihrem Interessensfeld von der Nachtseite her: Onanie, Prostitution, Perversionen. Hier
sahen die Ärzte ihre gesellschaftliche Aufgabe: diagnostizieren und kurieren.
Ob es dabei um soziale Mißstände ging, wie es bei der Prostitution vorrangig der Fall war, oder um die individuelle Krankheit, um Pathologisches
handelte es sich nach Definition der Ärzte auf jeden Fall. Damit fiel es nach
ihrer Ansicht in den eigenen Kompetenzbereich, Lösungskonzepte zu entwickeln. Daß die Medizin diesem Anspruch der Beseitigung von Prostitution und Geschlechtskrankheiten sowie der Heilung von Perversen und
Onanisten nicht gerecht wurde, ist wenig verwunderlich, eher schon das
Selbstbewußtsein, mit dem die verschiedenen Ärztegruppen ihre Lösungsvorschläge der Öffentlichkeit präsentierten.
Fragt man nach den Auswirkungen der Pathologisierung normabweichenden Sexualverhaltens, so ergeben sich folgende Antworten: Die Ausbildung
einer Sexualpathologie als eigenständiges medizinisches Forschungsfeld und
die davon ausgehende Erforschung des Sexuellen überhaupt verstärkte drei
miteinander verwobene Prozesse: 1. die Professionalisierung der Ärzte, 2.
die Verwissenschaftlichung der Lebenswelt und 3. die Medikalisierung diverser Lebensbereiche.
Das hatte weitreichende Folgen sowohl auf individueller wie auf sozialer
Ebene. Das von den Sexualpathologen produzierte Wissen über den perversen Menschen prägte nicht nur die Wahrnehmung der Ärzte, sondern auch
die der Strafrichter, in einem schwer abzuschätzenden Maß die der Öffentlichkeit und nicht zuletzt die des Patienten.75 Krafft-Ebing schrieb 1902 im
Vorwort zur 12. Auflage seiner "Psychopathia sexualis":
75 Die Rezeption sexuellen Wissens ist bislang eines der am wenigsten erforschten Felder
der Geschichte der Sexualität. Daher kann ich hier nur meine Eindrücke wiedergeben,
die auf der Untersuchung verschiedener Quellengattungen beruhen. Die Analyse von
Tagebüchern, belletristischer Literatur, Gerichtsakten, Rezensionen in Fachzeitschriften, Tageszeitungen (v.a. Prozeßberichte, Buchbesprechungen und Leserbriefe) könnte
Aufschluß geben über Art und Umfang der Rezeption; rein quantitative Rezeptionsbelege bieten die Auflagenhöhen der sexualpathologischen Monographien. Zu der praktisch relevanten juristischen Rezeption möchte ich noch dieses optimistische KrafftEbing-Zitat anführen: „Die ausnahmslos günstige Kritik, welche das Buch [Psychopathia sexualis] bisher in juridischen Kreisen gefunden hat, ist dem Verfasser Gewähr dafür, dass es nicht ohne Einfluss auf Rechtsprechung und Gesetzgebung bleiben und
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Der unerwartet große buchhändlerische Erfolg ist wohl der beste Beweis dafür, dass es
auch unzählige Unglückliche gibt, die in dem sonst nur Männern der Wissenschaft
gewidmeten Buche Aufklärung und Trost hinsichtlich rätselhafter Erscheinungen ihrer
eigenen Vita sexualis suchen und finden.76
Wie Klaus Müller für die männlichen Homosexuellen nachgewiesen hat,
machte sich mancher Betroffene die Definition, die er fand, zu eigen. Wie
weiter oben erwähnt wurde, basierten die Definitionen der einzelnen Perversionen auf den sexuellen Lebensgeschichten der „Unglücklichen“ selbst, auf
den Aussagen Ulrichs’ und des Fabrikanten Z. beispielsweise. Die sexualpathologischen Definitionen waren für die Betroffenen Identitätsangebote.
Auch wenn die perversen Identitäten nicht besonders einladend waren, so
versprachen sie den Perversen immerhin „Aufklärung und Trost hinsichtlich rätselhafter Erscheinungen ihrer eigenen Vita sexualis“, d.h. eine wissenschaftlich abgesicherte Wahrheit über sich selbst.77
Verspürte der Leser der „Psychopathia sexualis“ homosexuelle Neigungen,
so wird er nach der Lektüre nach den untrüglichen körperlichen und nichtkörperlichen Zeichen gesucht haben, die ihn zum Homosexuellen stempelten. Auch mancher in Krafft-Ebings Sinne gesunde Leser wird ängstlich in
sich hineingeforscht haben, ob nicht Anzeichen für eine perverse Anlage in
ihm schlummerten.
Hier wurde u.a. der Weg bereitet und beschritten, den Michel Foucault in
„Der Wille zum Wissen“78als den Weg der „Sexualisierung“79 des einzelnen
und unserer Kultur in den letzten zwei Jahrhunderten beschrieben hat.
Foucault zeichnete nach, wie vielfältige Diskurse - von denen der medizinische nur einer unter anderen ist - eine Vorstellung von etwas entwerfen, das
wir als Sexualität bezeichnen. Diese Sexualität ist weit mehr als der Oberbegriff so verstreuter Dinge und Phänomene wie der „Körper, Funktionen,
physiologischen Prozesse, Empfindungen, Lüste“,80 sie ist vielmehr das
große Geheimnis unserer Individualität, der dunkle Grund unserer Handlungen, der verborgene Kern unserer Seele und Persönlichkeit.81 Foucault
hat stichwortartig versucht, Stationen dieser Sexualisierung festzumachen
und zu analysieren: 82 Eine Station des langen Entwicklungsprozesses, der
zur Beseitigung von vielhundertjährigen Härten und Irrtümern beitragen wird.“
Krafft-Ebing, Vorwort zur zwölften Auflage [1902] (wie Anm. 1), S. VI.
76 Krafft-Ebing (wie Anm. 1), S. VI.
77 Vgl. Müller (wie Anm. 38), S. 254-58.
78 Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, 1. Bd., Frankfurt a.
M. 1977.
79 Foucault selbst hat diesen Ausdruck nicht verwendet. Er benennt meiner Ansicht nach
aber am treffendsten den Prozeß, den Foucault beschrieben hat.
80 Foucault: Der Wille (wie Anm. 78), S. 180f.
81 Vgl. Foucault: Der Wille (wie Anm. 78), S. 185f.
82 Vgl. Foucault: Der Wille (wie Anm. 78), S. 127f.
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Psychopathia sexualis
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die Sexualität entwirft und ihr immer größere Bedeutung zuspricht, ist im
vorliegenden Aufsatz untersucht worden.
Ein für Foucault eher oberflächliches Phänomen dieses großen Transformationsprozesses stellt der Wandel der Sexualmoral dar, der meines Erachtens
neben vielem anderen auch als ein langfristiges Ergebnis der sexualpathologischen Beschäftigung mit dem Sexuellen zu betrachten ist. Denn auf die
lange Sicht relativierte die sexualpathologische Forschung83 so manches
Urteil über die Natürlichkeit bzw. Widernatürlichkeit der vielfältigen Formen und Praktiken der Sexualität, zwischen denen der Mensch wählen
kann.
83 Einer der Klassiker der kulturvergleichenden Sexualwissenschaft, der zusätzlich noch
das Sexualverhalten höherer Säugetiere in den Vergleich miteinbezieht, Clellan S.
Fords und Frank A. Beachs Formen der Sexualität. Das Sexualverhalten bei Mensch
und Tier. Reinbek 1968 (amerik. Ausg.: Patterns of Sexual Behavior, 1951), ging über
Blochs „Beiträge zur Aetiologie der Psychopathia sexualis“ weit hinaus; er markierte
den Abschluß einer Entwicklung, die mit Blochs noch ganz den sexualpathologischen
Formen des Sexualverhaltens gewidmeten „Beiträgen“ knapp 50 Jahre vorher ihren
Ausgang genommen hatte.
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Per Klabundt
Summary
The article investigates the culture- and socialhistorical background of the origin and early
development of sexual pathology in Germany. In ist first part it shows how sexual pathology, first known as Psychopathia sexualis, came into being as a special field of psychiatry.
Ist most important founder, Richard von Krafft-Ebing, constructed a system of sexual
perverts. After 1869, together with colleagues he developed wholly new concepts if deviant
sexuality and how to deal with it.
The second part it is shown which points of Krafft-Ebing’s concept of perversity were taken over by his medical successors and which points were modified or even rejected as a
result of sharp criticism.
Finally the long-term effects of the pathologization of deviant sexual behaviour are depicted, the medicalization of social deviance, the change in understanding of sexuality and
other developments.
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II.
Zur Geschichte der Homöopathie und alternativer
Heilweisen
Die Enträtselung der Hahnemannschen Q-Potenzen - Eine
wissenschaftsgeschichtliche Miszelle
Robert Jütte
Die Entdeckung der Hochpotenzen - möge sich dagegen stemmen wer da wolle überstrahlt doch alle andern, die bisher auf unserm Gebiete gemacht worden sind. Mit
ihr ist ein neuer Zeitraum angebrochen und mit ihr wird einst der Geschichtsschreiber
unserer Wissenschaft einen neuen Abschnitt beginnen.
Constantin Hering (AHZ 1845, Nr. 13)
Im Jahre 1859 veröffentlichte Samuel Hahnemanns „Lieblingsschüler“ und
Freund, Dr. jur. Freiherr Clemens von Bönninghausen (1785-1864), einen
Beitrag über die homöopathische Gabenlehre („Dosologie“) in der er seine
guten Erfahrungen mit den Hochpotenzen (> C 30) beschreibt und in einer
Anmerkung seiner Hoffnung Ausdruck verleiht, daß Hahnemanns Witwe,
Mélanie d'Hervilly, endlich die 6. Auflage des „Organons“ zum Druck
bringen würde, da darin eine „neue Dynamisationsmethode“ dargestellt
werde, die sich auf „Hochpotenzen beziehe, „die [...] an Kräftigkeit alle bisherigen Präparate übertreffen“.1 Zwei Jahre später erschien in der gleichen
Zeitschrift ein weiterer Artikel aus der Feder Bönninghausens, indem dieser
erneut die von ihm und anderen Homöopathen angeblich mit großem Erfolg angewandten Hochpotenzen verteidigt und sich dabei ausdrücklich auf
Hahnemann beruft. Welche sehr hohen Dosen Hahnemann aber in seinem
letzten Lebensjahrzehnt den Patienten im Einzelfall verschrieb, dazu macht
Bönninghausen leider keine Angaben, sondern beschränkt sich auf den
sybillinischen Hinweis „Welche Fortschritte er in dieser Beziehung in späteren Jahren bis zu seinem Tod gemacht hat, ist nur seinen näheren Freunden
bekannt, wozu wir das Glück haben, zu gehören“.2 Das Geheimnis, das sich
seitdem um diese sogenannten médicaments au globule oder FünfzigtausenderPotenzen rankt, wurde erstmals von Richard Haehl teilweise gelüftet, als er
1921 die Organon-Ausgabe letzter Hand aus dem Nachlaß herausgab. Der
berühmte Zusatz zum § 270 enthält nämlich eine detaillierte Beschreibung
des Herstellungsverfahrens. Danach verringert sich „das Materielle der Arznei [...] bei jedem Dynamisationsgrad um 50000 mal“ und nimmt „dennoch
1
Clemens von Bönninghausen, Einige Worte über Dosologie. In: Allgemeine Homöopathische Zeitung (AHZ) 58 (1859), S. 155-56, 165-167, 173-74, Zitat: S. 156 Anm. 1
2
Clemens von Bönninghausen: Zur Würdigung der Hochpotenzen. In: AHZ 61 (1860),
S. 134-35, 140-142, 159-60, 164-65, Zitat: S. 159.
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132
Robert Jütte
unendlich an Kräftigkeit zu“. 3 Auch über die Bedeutung dieser QPotenzen, wie sie heute meist genannt werden, für die therapeutische Praxis
in Hahnemanns letzten Lebensjahren, hat sich Haehl - wenn auch an anderer Stelle - geäußert. In seiner Hahnemann-Biographie heißt es dazu: „Arzneipotenzen, die auf diese neue Weise gewonnen wurden, bezeichnete
Hahnemann als 'Médicaments au globules', zum Unterschied von den nach
dem früheren System hergestellten 'Médicaments à la goutte', deren Potenzstufen er stets in römischen Zahlen auszudrücken pflegte; die neuen Arzneipräparate aus Streukügelchen zeichnete er mit arabischen Ziffern, über die
er ein Ringlein setzte (also 1, 2, 3, 5 usw.).“4 Außerdem erwähnt Haehl, daß
ausweislich einer damals noch vorhandenen Hausapotheke Hahnemanns,
diese Arzneien in zehn verschiedenen Potenzstufen hergestellt wurden.5
Welche Potenzierung Hahnemann allerdings bevorzugte, wann und in welchen Krankheitsfällen er zu den umstrittenen Q-Potenzen6 griff und wie
häufig er sie tatsächlich anwandte, vermochte auch Haehl nicht zu sagen,
da die von ihm bereits geplante Herausgabe der unveröffentlichten und ursprünglich nicht für den Druck bestimmten Krankenjournale Hahnemanns
durch seinen frühen Tod nicht mehr zustande kam.
Auch die von Heinz Henne Anfang der 1960er Jahre in die Wege geleitete
Teilveröffentlichung der frühen Krankenjournale7 konnte auf die Frage, die
viele Homöopathen brennend interessiert, keine Antwort geben, da
Hahnemann bekanntlich erst in seinem letzten Lebensjahrzehnt mit diesen
extremen Verdünnungen homöopathischer Arzneimittel experimentierte.
Hennes Forschungen verdanken wir aber immerhin den auch nicht unwichtigen Nachweis, daß Hahnemann bereits lange vor der Erstveröffentlichung
3
Vgl. Samuel Hahnemann: Organon der Heilkunst. Nach der handschriftlichen Neubearbeitung Hahnemanns für die 6. Auflage herausgegeben und mit einem Vorwort
versehen von Richard Haehl. Leipzig 1921, S. 250. Vgl. jetzt auch Samuel Hahnemann, Organon der Heilkunst. Textkritische Ausgabe der 6. Auflage, bearb. und hrsg.
von Josef M. Schmidt. Heidelberg 1992, S. 218.
4
Richard Haehl: Samuel Hahnemann. Sein Leben und Schaffen. Leipzig 1922, Bd. 1,
S. 360.
5
Vgl. Haehl (wie Anm. 4), Bd. 2, S. 439. Diese Apotheke, die noch in den 1920er Jahren im privaten Stuttgarter Hahnemann-Museum zu sehen war, gehört zu den Kriegsverlusten, die die Sammlung Robert Boschs 1944 erlitten hat.
6
Zum Streit um die fälschlicherweise oft als LM-Potenzen bezeichnete Verdünnungen
Fünfzigtausender-Potenzen vgl. Ursula Isabell Jacobi: Der Hochpotenzenstreit. Von
Hahnemann bis heute. Eine pharmaziehistorische Untersuchung. Naturwiss. Diss.
Heidelberg 1993. Zum Ursprung dieser falschen Bezeichnung vgl. Friedrich Dellmour:
Die Entwicklung der Potenzierung bei Samuel Hahnemann und nachträgliche Änderungen der Arzneiherstellung. In: Documenta Hommoeopathica 13 (1993), S. 139188, hier: S. 156.
7
Hahnemanns Krankenjournale Nr. 2 und 3. Hrsg. von Heinz Henne. Stuttgart 1963;
Hahnemanns Krankenjournal Nr. 4. Hrsg. von Heinz Henne. Stuttgart 1968.
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Die Enträtselung der Hahnemannschen Q-Potenzen
133
des „Organon“ im Jahre 1810 mit homöopathischen Verdünnungen therapierte.8
Wie Hahnemann im Laufe seiner über vierzigjährigen homöopathischen
Praxis schrittweise zu immer höheren Verdünnungstufen (zunächst bis C
200) kam, bevor er schließlich die „médicaments au globules“ entwickelte,
haben 1990 unabhängig voneinander ein homöopathischer Praktiker, Peter
Barthel9, und ein philologisch geschulter Medizinhistoriker, Karl-Otto Sauerbeck10, anhand einer kursorischen Lektüre der Krankenjournale nachgewiesen. Besonders anschaulich, wenn auch nicht unproblematisch, ist die
graphische Darstellung der einzelnen Entwicklungsstufen, wie sie Barthel
entworfen hat. Dieses Schaubild findet sich gelegentlich auch in der einschlägigen Fachliteratur11 wieder, hat also recht große Resonanz gefunden.
Wann Hahnemann aber zum ersten Mal die Q-Potenzen nachweislich anwandte, konnte nur ein Blick in die 17 noch vorhandenen Krankenjournale
aus der Pariser Zeit klären. Das erste französische Krankenjournal, das im
Rahmen einer historisch-kritischen Edition von Arnold Michalowski12 bearbeitet wurde, erschien 1992 und fand gleich nach der Drucklegung große
Aufmerksamkeit in Kreisen homöopathischer Ärzte, die sich davon Aufschlüsse über die Anwendung der Q-Potenzen in der Pariser Zeit erhofften.
Umso größer war die Enttäuschung (auch die einiger Rezensenten), die vergeblich nach Hinweisen auf die Fünfzigtausender-Potenzen in diesem Krankenjournal fahndeten.13 So wurde unter anderem die Vermutung angestellt,
der Bearbeiter habe einen entsprechenden Eintrag vielleicht einfach „übersehen“ oder die einschlägige Abkürzung bzw. Notation nicht entschlüsseln
können. Da die Krankenjournale in der Pariser Zeit nicht mehr wie früher
chronologisch angelegt, sondern bereits in Form einer Patientenkartei geführt wurden, konnte Michalowski solche Einwände mit dem Hinweis zer8
Heinz Henne: Von wann an gebrauchte Hahnemann nachweislich hohe Arzneiverdünnungen? In: Verhandlungen des XIX. Internationalen Kongresses zur Geschichte
der Medizin in Basel 1964. Basel und New York 1966, S. 333-340. Vgl. auch derselbe:
Quellenstudien über Samuel Hahnemanns Denken und Wirken als Arzt. Zum Beginn
der Edition seiner Krankenhjournale. Stuttgart 1963, S. 37ff.
9
Peter Barthel: Das Vermächtnis Hahnemanns - die Fünfzigtausender Potenzen. In:
AHZ 235 (1990), S. 47-61. Vgl. jetzt auch derselbe: Blick auf die Quellen - Qualität
und Dosologie. In: Zs. für Klassische Homöopathie 39 (1995), S. 152-156.
10 Karl-Otto Sauerbeck: Wie gelangte Hahnemann zu den hohen Potenzen. In: AHZ 235
(1990), S. 223-232.
11 Vgl. z.B. Gotthard Behnisch: Die geschichtlichen Grundlagen der Homöopathie. In:
Dokumentation der besonderen Therapierichtungen und natürlichen Heilweisen in
Europa. Essen 1991, Bd. 1.1, S. 351-398, hier: S. 390.
12 Samuel Hahnemanns Krankenjournal DF 5. Bearbeitet von Arnold Michalowski.
Heidelberg 1992.
13 Vgl. z.B. Stefan Reis, Rezension „Samuel Hahnemann, Krankenjournal DF 5“. In:
Archiv für Homöopathik 2 (1993), S. 47-49, bes. S. 48.
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134
Robert Jütte
streuen, es sei vermutlich eher dem Zufall zuzuschreiben, wenn die im DF5
dokumentierten Behandlungsfälle keinen Hinweis auf die Anwendung von
Q-Potenzen enthalten.
Daß jedoch in anderen französischen Krankenjournalen solche extremen
Verdünnungen notiert sein müssen, hat erstmals Hanspeter Seiler nachzuweisen versucht. Er veröffentlichte 1988 unter anderem fünf Krankengeschichten aus den frühen 1840er Jahren, in denen Hahnemann seiner Meinung nach verschiedene Q-Potenzen verabreicht haben soll. Weiterhin
nimmt er an, daß Hahnemann sich in der Praxis weitgehend an seine eigene Vorschrift im Nachtrag zu § 270 gehalten und die Behandlung zunächst
mit einem niedrigen Dynamisierungsgrad begonnen und dann gegebenenfalls eine höhere Q-Potenz verschrieben hat.14 Leider geht Seiler nicht näher
darauf ein, aufgrund welcher Kriterien er Hahnemanns Notation in dem
betreffenden Fall eindeutig als Beleg für eine Q-Potenz identifiziert, denn
Hahnemann hat weder in den späten Krankenjournalen noch in der 6. Auflage des „Organon“ eindeutige Hinweise hinterlassen, wie er diese Form der
Medikation in seinen Aufzeichnungen abzukürzen pflegte.
Das gleiche gilt für Rima Handley, deren Doppelbiographie über Samuel
und Mélanie Hahnemann zuerst 1990 auf englisch erschien und inzwischen
auch in deutscher Übersetzung vorliegt. Als Beweis für Hahnemanns neues
Potenzierungsverfahren bringt sie die Krankengeschichte von Madame
Carré, die zu Beginn der Behandlung Sulphur in der 7. Q-Potenz erhalten
haben soll.15 Allerdings bleibt auch Handley dem Leser den Nachweis
schuldig, aufgrund welcher Überlegungen sie zu der Interpretation des entsprechenden Eintrag im Krankenjournal DF 12 gekommen ist.
Im diesem Heft wird nun von einem brasilianischen Homöopathen der
Versuch unternommen, den geheimnisumwitterten Q-Potenzen auf die Spur
zu kommen, indem er einen überzeugenden und logisch schlüssigen Beleg
vorlegt, warum bestimmte Notationen von Arzneimittelgaben eindeutig als
Q-Potenzen interpretiert werden können. Wie stichhaltig seine Beweisführung ist, wird sich allerdings erst nach Abschluß der Gesamtedition der
französischen Krankenjournale herausstellen.
14 Vgl. Hanspeter Seiler: Die Entwicklung von Samuel Hahnemanns ärztlicher Praxis
anhand ausgewählter Krankengeschichten. Heidelberg 1988, S. 189. Beispiele für QPotenzen finden sich in den Fällen Nr. 28-32.
15 Rima Handley: Eine homöopathische Liebesgeschichte. Das Leben von Samuel und
Mélanie Hahnemann. Aus dem Englischen von Corinna Fiedler. München 1993, S.
141.
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Nachweis von 681 Q-Potenzen in den französischen Krankenjournalen Samuel Hahnemanns
Ubiratan C. Adler
Während etwa 50 Jahren homöopathischer Tätigkeit hat der Begründer der
Homöopathie, Samuel Hahnemann, mit einer Vielzahl von Präparationsund Verabreichungsformen homöopathischer Arzneien experimentiert.
Schrittweise gelangte er zu einer Methode, die, wie er in der 6. Auflage des
Organon schrieb, die „höchste Kraftentwicklung und gelindeste Wirkung
erzeugt”.1 Eineinhalb Jahrhunderte nach Hahnemanns Tod ist nur wenig
über die klinischen Erfahrungen mit dem dort beschriebenen Potenzierungsverfahren bekannt.2
Die in der 6. Auflage des Organon beschriebene letzte und wesentlich verbesserte Methode der Dynamisierung ist Grundbestandteil der neuen Therapie, da die Anweisungen zur Herstellung und Anwendung der homöopathischen Arzneien bis heute auf ihr beruhen. Die dort beschriebenen Potenzen sind heute unter den Bezeichnungen „fünfzigtausendstel“, „LM“ oder
„Q“ bekannt, was nicht ganz richtig ist, denn wenn die Instruktionen in der
6. Auflage des Organon befolgt werden, ergibt sich bei Dynamisierung um
jeweils einen Grad eine wesentlich höhere Verdünnung als 50.000.
Die erste Schwierigkeit beim Studium dieser Fälle ist die Identifizierung einer solchen Q-Potenz. In dieser Arbeit gilt diese Bezeichnung für jede Arznei, die von Hahnemann in den Krankenjournalen gemä der in der 6.
Auflage des Organon beschriebenen Methode verordnet wurde. Wie nachfolgend beschrieben, hat Hahnemann für die Q-Potenzen keine spezifische
Bezeichnung verwandt. Daher ist es die Zielsetzung dieser Arbeit, zum einen eine einheitliche Regelung für eine solche Identifizierung zu erstellen
und zum anderen eine Liste der Verordnungen von Q-Potenzen in den
Krankenjournalen zusammenzustellen.
Die Erschließung der Krankenjournale bietet eine Reihe von Schwierigkeiten: So folgen die Manuskripte zwar einer präzisen chronologischen Ordnung, das Datum der Behandlungstermine ist jedoch häufig nicht vollständig vermerkt und mu aus früheren oder späteren Aufzeichnungen abgeleitet werden. Manche Termine sind an den Seitenrändern oder in Funoten
lediglich in kleiner Schrift vermerkt. Daher soll die nachfolgend vorgestellte
1
Samuel Hahnemann: Organon der Heilkunst, Textkritische Ausgabe der von Samuel
Hahnemann für die sechste Auflage vorgesehenen Fassung, bearbeitet von Josef M.
Schmidt, Heidelberg 1992, Paragraph 270.
2
Die folgenden Angaben beruhen auf der Untersuchung der Originalmanuskripte von
Hahnemanns Krankenjournalen im Institut für Geschichte der Medizin der Robert
Bosch Stiftung in Stuttgart.
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und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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136
Ubiratan Adler
Liste nur der vorläufigen Information dienen und durch spätere, detailliertere Untersuchungen ergänzt werden.
Hahnemann erwähnt in der 6. Auflage des Organon, da er im Laufe von
vier oder fünf Jahren Erfahrungen mit den Q-Potenzen gesammelt habe.
Wenn man das von Haehl genannte Datum3 als richtig akzeptiert, wäre das
Manuskript der geplanten Neuauflage im Februar 1842 beendet worden, so
daß die ersten Aufzeichnungen dieser Potenzen in den Krankenjournalen
zwischen 1837 und 1838 erfolgt sein müßten. Zur Identifizierung dieser
Potenzen müssen die zu jener Zeit von Hahnemann mit anderen Potenzen
durchgeführten Versuche betrachtet werden.
Bei Durchsicht der Krankenjournale der Jahre 1837 und 1838 stellt man
fest, da zunächst die Behandlungen nach den von Hahnemann in der Einführung des 3. Teils der „Chronischen Krankheiten”4 gegebenen Anweisungen erfolgten, d. h. es wurde C30, wahrscheinlich mit zehn Schlägen präpariert, in einer Lösung verabreicht. Gegebenenfalls wurde auch C24, C18,
C6 - in ähnlicher Art zubereitet - verordnet.
Hahnemann empfahl später (1837) eine gröere Anzahl von Schüttelschlägen bei der Zubereitung der Medikamente, nämlich 20, 30, 50 oder mehr.5
Daran hielt er sich auch in der Praxis: Ab 1839 dominieren in den Krankenjournalen Arzneien, die mit 100 Schüttelschlägen hergestellt und in abnehmender Reihenfolge von C-Potenzen verschrieben wurden. Die im folgenden aufgeführten Fälle, dem 11. Krankenjournal aus der Pariser Zeit
Hahnemanns (DF11) entnommen, sind Beispiele von Verordnungen von
Sulphur, die ausgewählt wurden, um einen Vergleich der Potenzen zu ermöglichen.
Seite
24
24
25
54
58
58
58
58
Datum
12.04.1839
25.05.1839
07.10.1840
08.05.1841
29.05.1841
22.06.1841
28.08.1841
04.09.1841
Arznei
Sulph
Sulph
Sulph
Sulph
Sulph
Sulph
Sulph
Sulph
Potenz
190/100
191 +
184
4 oo
7o
8o
9o
10 o
Patientin: Frau Racine
3
Richard Haehl: Samuel Hahnemann, His Life and Work, Delhi 1989, Bd. 1, S. 241242.
4
Samuel Hahnemann: Die chronischen Krankheiten, 2. Aufl., 3. Teil, 1837, Nachdruck, Heidelberg 1988, S. V-XII.
5
Ebd.
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Q-Potenz-Verordnungen in den Krankenjournalen
59
18.11.1841
Sulph
5o
22
22
22
22
31.08.1840
29.09.1840
20.11.1840
05.12.1840
Sulph
Sulph
Sulph
Sulph
17
18
19+
20+
61
61
61
61
63
63
63
?. ?.1840
?. ?.1840
?. ?.1840
06.03.1840
20.05.1840
04.06.1840
07.08.1840
Sulph
Sulph
Sulph
Sulph
Sulph
Sulph
Sulph
184
185
190
191
200/100
29 +
28 +
111
111
111
111
111
111
111
111
112
112
112
112
112
112
113
04.02.1840
08.02.1840
15.02.1840
04.03.1840
10.03.1840
16.03.1840
31.03.1840
04.04.1840
16.05.1840
04.07.1840
17.07.1840
13.07.1840
14.12.1840
12.01.1841
01.05.1841
Sulph
Sulph
Sulph
Sulph
Sulph
Sulph
Sulph
Sulph
Sulph
Sulph
Sulph
Sulph
Sulph
Sulph
Sulph
199
184
185
190
191
192
193
194
195
20
21
12
20
13
6 oo
Patientin: Frau Prosper
Patient: Herr Coran
Patientin: Fraeul. Paulina
Die Bezeichnungen „/00, +, oo, o“, die in einigen Fällen diesen Potenzen
zugeordnet sind, haben wahrscheinlich eine identische Bedeutung, d.h. sie
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138
Ubiratan Adler
kennzeichnen vermutlich die 100 Schüttelschläge, die bei der Herstellung
des Medikamentes angewandt wurden.6
An diesen Beispielen erkennt man, da Hahnemann relativ hohe
C-Potenzen (bis zu C200) erprobt hat und in variierender Reihenfolge der
gleichen Skala bis zu C4 herunterging. Die niedrigsten Grade in der Skala
C3, C2 und C1 erscheinen nicht, da es sich um triturierte Produkte handelt,
wie sie von Hahnemann nur am Anfang seiner Erfahrungen mit der Verreibung von Arzneisubstanzen verwendet wurden.7
Schon bei dem nachfolgend angeführten Fall aus dem Krankenjournal DF
12 folgt dieser Phase niedriger C-Potenzen eine Abfolge von Potenzen (1, 2,
3, 4), die von Hahnemann nie beschrieben wurde, ausgenommen in der 6.
Auflage des Organon im Zusammenhang mit den Q-Potenzen. Hier bestimmt er, da die Behandlung mit dem niedrigsten Grad der Potenz beginnen soll und da nach einem Zeitraum von ein oder zwei Wochen auf
den jeweils nächsthöheren Grad übergegangen werden soll.8
Seite
129
129
129
130
130
133
133
133
134
Datum
30.03.1841
06.04.1841
16.04.1841
02.06.1841
15.06.1841
05.02.1842
26.02.1842
22.03.1842
29.08.1842
Arznei
Sulph
Sulph
Sulph
Sulph
Sulph
Sulph
Sulph
Sulph
Sulph
Potenz
10oo
11oo
12oo
7o
Patientin: Frau Brevilly
8o
1
2
3
4
In den Pariser Jahren, in denen die Q-Potenzen wahrscheinlich angewandt
wurden, gibt es in den Krankenjournalen Eintragungen von Potenzen mit
niedrigen Ziffern ohne die zu erwartenden Folgeeintragungen. Der nachstehende Fall, aus DF 12, zeigt, da Hahnemann keine besondere Bezeichnung für die Q-Potenzen, sei es in der Schreibweise des Medikamentes oder
in der Dynamisierung, angewendet hat:
6
Diese Beobachtung wurde dem Verfasser erstmals durch Herrn Peter Barthel, Direktor
des Freien Forschungsinstituts, zur Kenntnis gebracht.
7
Samuel Hahnemann: Krankenjournal DF4 (nicht publiziert), S. 354; ders.: Krankenjournal DF8 (nicht publiziert), S. 17; ders., Die chronischen Krankheiten, 2. Aufl., 1.
Teil, 1835, Nachdruck, Heidelberg 1988, S. 185.
8
Hahnemann, Organon (wie Anm. 1), Par. 246, 248.
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Q-Potenz-Verordnungen in den Krankenjournalen
Seite
I
I
2
2
2
2
Datum
25.05.42
08.06.42
25.07.42
20.08.42
05.09.42
13.01.43
Arznei Potenz

/1

1/2

1/3

1/4

5o
Sulphur
/6
Patientin:Frau de Chagnon
Es wurden daher zur Identifizierung einer Q-Potenz in den Krankenjournalen die nachstehenden beiden Kriterien angewandt:
Erstens Aufzeichnung in den Krankenjournalen ab 1837, zweitens Potenz
geringer als oder gleich 3, oder Potenz höher als 3, vorausgesetzt, daß die
Behandlung des Patienten mit einer der ersten drei Potenzen des gleichen
Medikamentes begonnen und schrittweise eine steigende Reihenfolge bis zu
einer Potenz von mehr als 3 angewandt wurde.
Mit der Zielsetzung, ausschließlich von Hahnemann stammende Verordnungen in diese Arbeit aufzunehmen, wurden nur Aufzeichnungen von
Q-Potenzen in den Krankenjournalen bis zum 1. Mai 1843 berücksichtigt,
dem Datum der letzten feststellbaren Eintragung von Hahnemanns Hand.
Nach diesem Datum hat Hahnemann wahrscheinlich weniger oder gar
nicht mehr an den Sprechstunden seiner Frau Melanie teilgenommen, da er
seit Mitte April erkrankt war9 und am 2. Juli desselben Jahres starb.
Das auf den nachstehenden Seiten aufgelistete Ergebnis beruht auf der Untersuchung der 17 Krankenjournale aus der Pariser Zeit Hahnemanns
(DF2a-15), die sich heute im Institut für Geschichte der Medizin der Robert
Bosch Stiftung befinden.
Jede der Aufzeichnungen beinhaltet acht Felder:
1. Nummer der Eintragung in der Liste
2. Nummer des Krankenjournals
3. Seite des Krankenjournals
4. Tag der Behandlung
5. Monat der Behandlung
6. Jahr der Behandlung
7. verordnete Arznei
8. verwendete Potenz.
9
Vgl. Haehl 1989 (wie Anm. 3).
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Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
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140
Ubiratan Adler
(Anmerkung: Im Manuskript des Krankenjournals DF 14 wurde die Seite
240 irrtümlich als Seite 340 numeriert, so daß die Folgeseiten eine um 100
Seiten höhere Numerierung aufweisen. Dieser Fehler wurde beibehalten.)
Nummer
DF
Seite
Tag
Monat
Jahr
Arznei
Potenz
1
2a
22
10
6
1838
Sulph
1
2
4
160
26
3
1842
Sulph
1
3
4
166
4
10
1842
Nux v
1
4
4
166
6
7
1842
Sulph
1
5
4
168
28
11
1842
Verat
1
6
5
23
20
4
1848
Sulph
3
7
5
23
23
3
1842
Sulph
1
8
5
23
13
4
1842
Sulph
2
9
5
27
12
11
1842
Sulph
4
10
6
90
12
10
1842
Carb v
1
11
6
90
9
9
1842
Sulph
1
12
6
92
17
1
1843
Calc c
1
13
6
119
10
5
1842
Sulph
2
14
6
119
3
5
1842
Sulph
1
15
6
120
31
5
1842
Sulph
3
16
6
120
26
7
1842
Sulph
4
17
6
120
27
6
1842
Sulph
4
18
6
120
1
10
1842
Sulph
5
19
6
124
5
1
1843
Sulph
1
20
6
124
7
10
1842
Sulph
2
21
6
124
27
8
1842
Sulph
1
22
6
133
1
4
1843
Kali c
1
23
6
133
21
1
1843
Sulph
1
24
6
145
9
3
1838
Sulph
1
25
6
165
1
4
1842
Sulph
2
26
6
165
22
3
1842
Sulph
1
27
6
225
7
4
1843
Aur
1
28
6
225
15
11
1842
Sulph
3
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
© Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015
141
Q-Potenz-Verordnungen in den Krankenjournalen
Nummer
DF
Seite
Tag
Monat
Jahr
Arznei
Potenz
29
6
225
26
9
1842
Sulph
2
30
6
225
5
8
1842
Sulph
1
31
6
306
8
4
1842
Sulph
2
32
6
306
20
3
1842
Sulph
1
33
6
362
5
5
1842
Sulph
1
34
6
369
15
4
1842
Sulph
2
35
6
369
27
5
1842
Sulph
3
36
6
370
8
9
1842
Sulph
4
37
6
401
24
3
1843
Sulph
1
38
6
427
24
8
1842
Sulph
1
39
7
52
19
4
1843
Sulph
1
40
7
77
27
1
1843
Phos
1
41
7
77
9
5
1842
Sulph
1
42
7
77
27
8
1842
Sulph
1
43
7
91
27
1
1843
Thuja
1
44
7
91
12
12
1842
Sulph
1
45
7
92
6
3
1843
Merc v
1
46
7
92
27
3
1843
Merc v
2
47
7
93
20
3
1843
Calc
1
48
7
93
4
4
1843
Calc
2
49
7
94
19
4
1843
Sulph
2
50
7
387
3
6
1842
Sulph
1
51
7
387
24
6
1842
Sulph
1
52
7
399
24
1
1843
Ip
1
54
7
400
18
2
1843
Ip
2
55
7
400
5
3
1843
Alum
1
56
8
189
26
9
1842
Sulph
1
57
8
190
31
10
1842
Sulph
1
58
8
190
24
3
1843
Sulph
2
59
8
190
9
1
1843
Ars
1
60
8
190
9
1
1843
Sulph
2
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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142
Ubiratan Adler
Nummer
DF
Seite
Tag
Monat
Jahr
Arznei
Potenz
61
8
190
31
3
1843
Phos
1
62
8
200
13
4
1843
Nux v
1
63
8
200
15
4
1843
Ip
1
64
8
278
16
3
1842
Sulph
1
65
8
278
9
5
1842
Sulph
2
66
8
278
28
4
1842
Sulph
1
67
8
278
5
7
1842
Sulph
4
68
8
278
3
6
1842
Sulph
3
69
8
278
23
4
1842
Sulph
1
70
9
26
30
8
1842
Sulph
2
71
9
26
12
8
1842
Sulph
1
72
9
27
2
9
1842
Sulph
2
73
9
88
6
6
1842
Sulph
1
74
9
88
8
7
1842
Sulph
2
75
9
188
18
10
1842
Calc
1
76
9
211
3
6
1842
Sulph
1
77
9
442
7
4
1843
Sulph
1
78
9
448
7
6
1842
Sulph
2
79
9
448
14
3
1842
Sulph
1
80
9
460
21
5
1842
Sulph
1
81
9
465
29
3
1842
Sulph
1
82
9
466
5
4
1842
Sulph
1
83
10
6
16
5
1842
Sulph
2
84
10
6
10
5
1842
Sulph
1
85
10
9
22
3
1842
Sulph
3
86
10
17
31
10
1840
Sulph
2
87
10
17
22
10
1840
Sulph
1
88
10
23
10
5
1842
Sulph
1
89
10
23
31
5
1842
Sulph
4
90
10
23
16
5
1842
Sulph
2
91
10
23
24
5
1842
Sulph
3
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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143
Q-Potenz-Verordnungen in den Krankenjournalen
Nummer
DF
Seite
Tag
Monat
Jahr
Arznei
Potenz
92
10
200
21
3
1843
Sil
2
93
10
200
30
9
1842
Sulph
1
94
10
200
3
2
1843
Sulph
2
95
10
200
3
3
1843
Sil
1
96
10
412
13
3
1843
Grap
1
97
11
21
7
2
1842
Sulph
1
98
11
41
4
4
1842
Carb v
1
99
11
41
31
3
1842
Sulph
3
100
11
48
23
3
1843
Ars
1
101
11
130
17
3
1843
Nat m
1
102
11
130
28
3
1843
Nat m
2
103
11
131
4
3
1842
Sulph
1
104
11
145
24
2
1840
Hep
1
105
11
148
2
5
1842
Sulph
1
106
11
222
31
3
1842
Sulph
2
107
11
222
21
3
1842
Sulph
1
108
11
272
27
1
1842
Sulph
2
109
11
272
5
4
1842
Sulph
5
110
11
272
13
3
1842
Sulph
4
111
11
272
23
3
1842
Bry
1
112
11
272
4
1
1842
Sulph
1
113
11
272
13
2
1842
Sulph
3
114
11
272
27
5
1842
Sulph
6
115
11
286
25
11
1842
Calc
2
116
11
286
24
10
1842
Calc
1
117
11
287
30
11
1842
Phos
1
118
11
287
27
11
1842
Calc
3
119
11
309
1
8
1842
Sulph
2
120
11
309
29
7
1842
Sulph
1
121
11
309
19
8
1842
Sulph
3
122
11
310
1
6
1842
Sulph
1
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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Ubiratan Adler
Nummer
DF
Seite
Tag
Monat
Jahr
Arznei
Potenz
123
11
316
8
10
1842
Sep
1
124
11
358
8
3
1842
Sulph
1
125
11
358
28
3
1842
Sulph
3
126
11
358
16
3
1842
Sulph
2
127
11
359
20
1
1843
Sulph
8
128
11
359
18
5
1842
Sulph
4
129
11
359
19
12
1842
Sulph
7
130
11
359
10
12
1842
Sulph
6
131
11
359
12
9
1842
Sulph
5
132
11
360
15
2
1843
Nux v
2
133
11
360
7
2
1843
Nux v
1
134
11
368
4
2
1843
Sulph
2
135
11
368
31
8
1842
Sulph
1
136
11
368
16
1
1843
Nat m
1
137
11
375
6
3
1843
Sulph
3
138
11
378
14
3
1843
Sulph
4
139
11
378
20
1
1843
Sulph
3
140
11
418
3
3
1842
Sulph
1
142
11
441
14
5
1842
Sulph
1
143
11
452
16
4
1842
Sulph
1
144
11
454
13
3
1843
Ip
1
145
11
474
18
4
1842
Sulph
1
146
12
1
25
5
1842
Sulph
1
147
12
1
8
6
1842
Sulph
2
148
12
2
5
9
1842
Sulph
5
149
12
2
20
8
1842
Sulph
4
150
12
2
?
?
1843
Sulph
6
151
12
2
25
7
1842
Sulph
3
152
12
4
16
7
1842
Calc
2
153
12
17
10
8
1841
Sulph
1
154
12
44
26
3
1842
Sulph
1
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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Q-Potenz-Verordnungen in den Krankenjournalen
Nummer
DF
Seite
Tag
Monat
Jahr
Arznei
Potenz
155
12
47
30
5
1842
Sulph
2
156
12
47
8
5
1842
Sulph
1
157
12
58
8
5
1842
Sulph
1
158
12
102
10
8
1842
Calc
1
159
12
133
22
3
1842
Sulph
3
160
12
133
5
2
1842
Sulph
1
161
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1842
Sulph
2
162
12
133
17
5
1842
Sulph
2
163
12
146
29
7
1842
Ars
1
164
12
146
15
7
1842
Sulph
1
165
12
190
22
1
1842
Sulph
1
166
12
190
22
2
1842
Sulph
2
167
12
199
12
3
1842
Sulph
1
168
12
200
2
5
1842
Sulph
1
169
12
210
25
11
1842
Sulph
1
170
12
210
30
11
1842
Bell
3
171
12
210
9
12
1842
Sulph
1
172
12
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15
10
1842
Sulph
1
173
12
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3
1842
Sulph
1
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2
1843
Sulph
1
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12
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1842
Sulph
1
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4
1843
Sulph
1
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13
1
1841
Sulph
1
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12
391
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2
1841
Sulph
2
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12
3
1842
Sulph
1
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4
1842
Sulph
1
181
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16
5
1842
Sulph
3
182
12
396
20
4
1842
Sulph
2
183
12
403
30
9
1842
Sulph
2
184
12
403
23
9
1842
Sulph
1
185
12
404
15
10
1842
Sulph
4
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
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und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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Ubiratan Adler
Nummer
DF
Seite
Tag
Monat
Jahr
Arznei
Potenz
186
12
404
1
11
1842
Graph
1
187
12
404
30
11
1842
Graph
4
188
12
404
7
10
1842
Sulph
3
189
12
404
16
11
1842
Graph
2
190
12
404
23
11
1842
Graph
3
191
12
406
5
4
1843
Nux v
1
192
12
406
14
4
1843
Nux v
2
193
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1842
Sulph
3
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1842
Sulph
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1842
Sulph
2
196
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3
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1843
Sulph
1
197
12
411
17
10
1842
Bell
3
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12
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23
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1842
Sulph
1
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10
1842
Sulph
1
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12
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1842
Sulph
1
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1842
Sulph
2
202
12
425
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1842
Sulph
3
203
12
441
11
2
1842
Bell
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2
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1843
Sulph
3
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445
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1843
Sulph
4
206
12
445
18
11
1842
Sep
1
207
12
446
10
3
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Merc v
1
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12
446
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Merc v
2
209
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488
7
11
1842
Sulph
1
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488
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11
1842
Sulph
2
211
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1842
Bell
1
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12
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10
?
Phos
1
213
12
510
8
5
1842
Sulph
1
214
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14
11
1842
Calc
1
215
12
511
17
1
1843
Calc
2
216
12
511
23
1
1843
Calc
3
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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Nummer
DF
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Tag
Monat
Jahr
Arznei
Potenz
217
12
514
2
5
1842
Sulph
1
218
12
521
29
10
1842
Sulph
2
219
12
521
19
10
1842
Sulph
1
220
12
531
25
10
1842
Sulph
1
221
12
531
2
11
1842
Sulph
2
222
12
532
30
12
1842
Calc
1
223
12
532
9
1
1843
Calc
2
224
12
532
19
12
1842
Bell
1
225
12
536
5
9
1842
Sulph
2
226
12
546
6
3
1842
Sulph
1
227
12
562
29
4
1842
Sulph
2
228
12
562
9
4
1842
Hep
1
229
12
562
28
3
1842
Sulph
1
230
13
18
9
3
1842
Sulph
1
231
13
31
20
5
1842
Sulph
2
232
13
40
19
4
1843
Pb
1
233
13
45
20
4
1842
Sulph
1
234
13
47
11
3
1842
Sulph
1
235
13
53
28
3
1842
Sulph
3
236
13
53
11
4
1842
Sulph
5
237
13
53
3
4
1842
Sulph
4
238
13
53
14
3
1842
Sulph
2
239
13
53
7
3
1842
Sulph
1
240
13
70
1
3
1842
Sulph
1
241
13
70
22
4
1842
Sulph
2
242
13
84
4
5
1842
Sulph
1
243
13
90
21
3
1842
Sulph
3
244
13
90
16
3
1842
Sulph
2
245
13
90
5
3
1842
Sulph
1
246
13
94
19
1
1843
Hep
3
247
13
94
9
2
1843
Sulph
5
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
© Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015
148
Ubiratan Adler
Nummer
DF
Seite
Tag
Monat
Jahr
Arznei
Potenz
248
13
94
22
2
1843
Sulph
6
249
13
94
2
2
1843
Hep
5
250
13
94
26
1
1843
Hep
4
251
13
95
9
3
1843
Sulph
8
252
13
95
2
3
1843
Sulph
7
253
13
95
4
4
1843
Sulph
1
254
13
110
3
6
1842
Sulph
3
255
13
110
15
7
1842
Sulph
5
256
13
110
30
4
1842
Sulph
1
257
13
110
16
5
1842
Sulph
2
258
13
110
24
6
1842
Sulph
4
259
13
117
8
6
1842
Sulph
1
260
13
119
1
6
1842
Sulph
2
261
13
119
20
2
1842
Sulph
1
262
13
125
24
6
1842
Sulph
2
263
13
125
29
3
1842
Sulph
1
264
13
127
13
2
1843
Lyc
2
265
13
127
3
2
1843
Lyc
1
266
13
129
6
3
1842
Sulph
1
267
13
130
11
3
1842
Sulph
1
268
13
134
11
4
1842
Sulph
1
269
13
134
11
4
1842
Sulph
2
270
13
136
29
4
1842
Sulph
1
271
13
136
11
10
1842
Lyc
1
272
13
143
26
7
1841
Sulph
1
273
13
143
28
3
1842
Sulph
1
274
13
143
28
4
1842
Sulph
1
275
13
145
2
4
1842
Sulph
1
276
13
145
3
5
1842
Sulph
3
277
13
145
12
4
1842
Sulph
2
278
13
145
17
5
1842
Sulph
4
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
© Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015
149
Q-Potenz-Verordnungen in den Krankenjournalen
Nummer
DF
Seite
Tag
Monat
Jahr
Arznei
Potenz
279
13
149
18
4
1842
Sulph
1
280
13
149
3
5
1842
Sulph
3
281
13
149
26
4
1842
Sulph
2
282
13
149
9
5
1842
Sulph
4
283
13
152
2
5
1842
Sulph
1
284
13
152
10
5
1842
Sulph
2
285
13
153
6
6
1842
Sulph
4
286
13
153
30
5
1842
Sulph
3
287
13
154
1
8
1842
Sulph
6
288
13
154
18
7
1842
Sulph
5
289
13
155
24
8
1842
Sulph
7
290
13
157
31
5
1842
Sulph
2
291
13
157
16
5
1842
Sulph
1
292
13
160
31
8
1842
Sulph
1
293
13
171
22
8
1842
Sulph
2
294
13
171
17
6
1842
Sulph
1
295
13
172
7
1
1843
Bry
1
296
13
172
9
1
1843
Merc
1
297
13
177
2
4
1842
Sulph
1
298
13
178
31
8
1842
Sulph
2
299
13
178
21
3
1842
Sulph
6
300
13
178
29
11
1842
Sulph
4
301
13
178
7
1
1843
Sulph
1
302
13
178
21
3
1843
Sulph
2
303
13
178
11
4
1843
Sulph
3
304
13
178
31
8
1842
Sulph
1
305
13
178
13
12
1842
Sulph
5
306
13
178
18
10
1842
Sulph
3
307
13
178
11
4
1843
Sulph
7
308
13
188
1
3
1842
Sulph
1
309
13
189
4
5
1842
Sulph
2
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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150
Ubiratan Adler
Nummer
DF
Seite
Tag
Monat
Jahr
Arznei
Potenz
310
13
193
16
1
1843
Alum
2
311
13
193
26
12
1842
Calc
1
312
13
194
24
1
1843
Alum
2
313
13
194
3
3
1843
Calc
3
314
13
194
13
3
1843
Calc
4
315
13
194
2
2
1843
Calc
1
316
13
194
15
2
1843
Calc
2
317
13
195
22
4
1842
Sulph
1
318
13
195
19
5
1842
Sulph
4
319
13
195
19
5
1842
Sulph
3
320
13
195
4
5
1842
Sulph
2
321
13
196
20
8
1841
Sulph
1
322
13
197
28
9
1842
Sulph
3
323
13
197
8
9
1842
Sulph
1
324
13
197
5
10
1842
Sulph
4
325
13
197
16
9
1842
Sulph
2
326
13
197
19
10
1842
Sulph
5
327
13
212
21
3
1842
Sulph
1
328
13
213
8
4
1842
Sulph
1
329
13
213
25
4
1842
Sulph
2
330
13
219
27
4
1842
Sulph
1
331
13
236
26
7
1842
Sulph
1
332
13
243
20
8
1842
Sulph
2
333
13
243
12
7
1842
Sulph
1
334
13
250
20
8
1842
Sulph
1
335
13
252
10
10
1842
Sulph
1
336
13
253
11
3
1842
?
1
337
13
254
31
12
1842
Ars
1
338
13
262
16
1
1842
?
1
339
13
264
30
3
1842
Sulph
2
340
13
264
18
5
1842
Sulph
4
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
© Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015
151
Q-Potenz-Verordnungen in den Krankenjournalen
Nummer
DF
Seite
Tag
Monat
Jahr
Arznei
Potenz
341
13
264
23
3
1842
Sulph
1
342
13
264
20
4
1842
Sulph
3
343
13
271
22
4
1842
Sulph
1
344
13
271
27
4
1842
Sulph
2
345
13
271
21
5
1842
Sulph
3
346
13
278
22
5
1842
Sulph
1
347
13
278
3
6
1842
Sulph
2
348
13
279
5
9
1842
Sulph
1
349
13
279
23
9
1842
Sulph
2
350
13
280
12
10
1842
Sulph
3
351
13
280
8
12
1842
Sulph
5
352
13
280
6
11
1842
Sulph
4
353
13
282
5
2
1843
Graph
1
354
13
284
14
4
1843
Graph
2
355
13
285
15
11
1842
Sulph
1
356
13
287
9
8
1842
Sulph
1
357
13
288
2
12
1842
Sulph
1
358
13
291
7
11
1842
Sulph
3
359
13
291
7
11
1842
Sulph
2
360
13
291
16
9
1842
Sulph
1
361
13
293
8
9
1842
Sulph
1
362
13
305
5
3
1842
Sulph
1
363
13
305
30
8
1842
?
1
364
13
305
30
3
1842
Sulph
2
365
13
313
13
2
1843
Sulph
1
366
13
313
11
3
1843
Nat m
1
367
13
316
17
5
1842
Sulph
1
368
13
316
31
8
1842
Sulph
4
369
13
316
13
9
1842
Sulph
5
370
13
316
15
7
1842
Sulph
3
371
13
316
28
5
1842
Sulph
2
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
© Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015
152
Ubiratan Adler
Nummer
DF
Seite
Tag
Monat
Jahr
Arznei
Potenz
372
13
317
26
9
1842
Sulph
6
373
13
319
31
8
1842
Sulph
1
374
13
319
9
9
1842
Sulph
2
375
13
320
15
10
1842
Sulph
1
376
13
320
2
11
1842
Sulph
2
377
13
320
28
9
1842
Sulph
1
378
13
327
23
3
1842
Sulph
1
379
13
331
27
12
1842
Sulph
3
380
13
331
25
1
1843
Sulph
4
381
13
332
12
5
1842
Sulph
1
382
13
332
18
5
1842
Sulph
2
383
13
338
18
10
1842
Sulph
1
384
13
344
28
10
1842
Sulph
1
385
13
345
17
3
1842
Sulph
1
386
13
346
15
4
1842
Sulph
3
387
13
346
7
10
1842
Sulph
4
388
13
346
28
11
1842
Sulph
5
389
13
346
2
4
1842
Sulph
2
390
13
349
19
4
1842
Sulph
1
391
13
350
2
7
1842
Sulph
1
392
13
356
12
7
1842
Sulph
1
393
13
362
25
6
1842
Sulph
1
394
13
363
29
8
1842
Sulph
1
395
13
370
20
7
1842
Sulph
2
396
13
370
12
7
1842
Sulph
1
397
13
371
12
7
1842
Sulph
1
398
13
372
6
9
1842
Sulph
1
399
13
373
14
1
1843
Bry
1
400
13
378
8
3
1842
Sulph
1
401
13
380
31
8
1842
Sulph
1
402
13
385
17
2
1843
Carb v
1
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
© Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015
153
Q-Potenz-Verordnungen in den Krankenjournalen
Nummer
DF
Seite
Tag
Monat
Jahr
Arznei
Potenz
403
13
393
26
4
1842
Sulph
2
404
13
393
30
7
1842
Sulph
1
405
13
393
30
9
1842
Sulph
2
406
13
393
16
6
1842
Sulph
3
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13
395
10
5
1842
Sulph
1
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13
398
19
8
1842
Sulph
1
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13
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1842
Sulph
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13
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10
1842
Sulph
2
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408
24
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1842
Sulph
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13
408
27
7
1842
Sulph
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13
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6
5
1842
Sulph
1
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13
408
15
6
1842
Sulph
2
415
13
408
6
5
1842
Sulph
2
416
13
408
9
7
1842
Sulph
5
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13
408
5
9
1842
Sulph
7
418
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408
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10
1842
Sulph
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419
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408
15
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1842
Sulph
4
420
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408
16
8
1842
Sulph
1
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13
409
7
3
1842
Sulph
1
422
13
409
22
3
1842
Sulph
2
423
13
410
30
4
1842
Graph
1
424
13
412
6
9
1842
Sulph
1
425
13
412
12
9
1842
Sulph
2
426
13
416
26
9
1842
Sulph
3
427
13
416
16
8
1842
Sulph
1
428
13
416
20
10
1842
Sulph
4
429
13
416
6
9
1842
Sulph
2
430
13
423
1
8
1842
Sulph
2
431
13
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16
8
1842
Sulph
4
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13
423
7
8
1842
Sulph
3
433
13
423
23
8
1842
Sulph
5
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
© Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015
154
Ubiratan Adler
Nummer
DF
Seite
Tag
Monat
Jahr
Arznei
Potenz
434
13
423
25
7
1842
Sulph
1
435
13
424
26
9
1842
Sulph
7
436
13
424
7
9
1842
Sulph
6
437
13
425
28
2
1842
Sulph
1
438
13
427
2
3
1842
Sulph
1
439
13
429
3
6
1842
Sulph
2
440
13
429
24
5
1842
Sulph
1
441
13
429
14
6
1842
Sulph
3
442
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15
10
1842
Sulph
6
443
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1
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1842
Sulph
5
444
13
430
4
9
1842
Sulph
4
445
13
431
8
3
1842
Sulph
1
446
13
431
15
3
1842
Sulph
2
447
13
431
18
4
1842
Sulph
4
448
13
431
22
3
1842
Sulph
3
449
13
432
29
7
1842
Phos
1
450
13
432
11
5
1842
Sulph
5
451
13
432
6
7
1842
Sulph
7
452
13
432
24
5
1842
Sulph
6
453
13
442
14
3
1843
Calc
4
454
13
442
22
11
1842
Calc
1
455
13
442
20
12
1842
Calc
2
456
13
442
11
2
1843
Calc
3
457
13
444
13
4
1842
Sulph
1
458
13
447
2
4
1842
Sulph
2
459
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447
30
4
1842
Sulph
4
460
13
447
22
4
1842
Sulph
3
461
13
447
2
4
1842
Sulph
1
462
13
448
25
6
1842
Nat m
1
463
13
453
25
10
1842
Sep
1
464
13
454
7
11
1842
?
1
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
© Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015
155
Q-Potenz-Verordnungen in den Krankenjournalen
Nummer
DF
Seite
Tag
Monat
Jahr
Arznei
Potenz
465
13
455
17
12
1842
Sep
2
466
13
455
27
12
1842
?
2
467
13
456
8
2
1843
Phos
1
468
13
457
6
3
1843
Phos
1
469
13
461
27
6
1842
Sulph
1
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13
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1842
Sulph
3
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19
7
1842
Sulph
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472
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462
4
10
1842
Sil
1
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7
1842
Sulph
1
474
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1
1842
Sulph
1
475
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2
1842
Sulph
2
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14
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3
1842
Sulph
3
477
14
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3
4
1842
Acon
1
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14
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5
1842
Nat m
1
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5
1842
Nat m
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12
1842
Sulph
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20
11
1842
Sulph
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11
10
1842
Sulph
3
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20
12
1842
?
1
484
14
2
10
1
1843
Graph
1
485
14
3
25
1
1843
Sil
1
486
14
7
5
10
1842
Sulph
1
487
14
7
12
10
1842
Sulph
2
488
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3
12
1842
Sulph
4
489
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26
10
1842
Sulph
3
490
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14
12
1842
Sulph
5
491
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11
25
1
1843
Thuja
1
492
14
11
30
1
1843
Thuja
2
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3
2
1843
Thuja
4
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14
14
8
4
1843
Sulph
6
495
14
17
14
1
1843
Calc
1
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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156
Ubiratan Adler
Nummer
DF
Seite
Tag
Monat
Jahr
Arznei
Potenz
496
14
17
5
10
1842
Sulph
1
497
14
17
17
10
1842
Nat m
1
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14
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20
2
1843
Nat m
1
499
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7
10
1842
Sulph
1
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9
11
1842
Sulph
1
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11
1842
Nat m
1
502
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12
4
1843
Nux v
1
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14
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12
1842
Sulph
1
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1
1843
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2
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1843
Sulph
2
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2
1843
Sulph
1
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14
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1
5
1843
Nat m
1
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14
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3
4
1843
Ars
2
509
14
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23
10
1842
Sulph
1
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2
1843
Sulph
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3
1843
Sulph
4
512
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2
1843
Sulph
2
513
14
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11
1842
Sulph
1
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4
1843
Lyc
1
515
14
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11
1842
?
1
516
14
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21
12
1842
Sulph
1
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1843
Sulph
3
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11
1842
Sulph
1
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1842
Sulph
2
520
14
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2
1843
Sulph
1
521
14
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2
11
1842
Sulph
1
522
14
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30
11
1842
Sulph
1
523
14
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7
11
1842
Sulph
1
524
14
57
26
11
1842
Sulph
2
525
14
62
10
2
1843
Phos
1
526
14
62
27
1
1843
Chin
1
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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157
Q-Potenz-Verordnungen in den Krankenjournalen
Nummer
DF
Seite
Tag
Monat
Jahr
Arznei
Potenz
527
14
62
16
1
1843
Merc v
1
528
14
63
10
3
1843
Phos
2
529
14
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14
3
1843
Sulph
2
530
14
67
2
3
1843
Sulph
1
531
14
69
8
11
1842
Sulph
1
532
14
70
20
1
1843
Sep
1
533
14
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12
11
1842
Sulph
1
534
14
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17
2
1843
Sulph
6
535
14
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7
12
1842
Sulph
3
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14
73
14
12
1842
Sulph
4
537
14
73
24
12
1842
Sulph
5
538
14
73
3
3
1843
Sulph
7
539
14
73
29
11
1842
Sulph
1
540
14
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11
4
1843
Lyc
1
541
14
77
14
11
1842
Caust
1
542
14
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26
11
1842
Sulph
2
543
14
78
9
12
1842
Sulph
3
544
14
85
4
12
1842
Calc
1
545
14
85
13
1
1843
Calc
2
546
14
87
9
12
1842
Sulph
1
547
14
87
17
12
1842
Sulph
2
548
14
88
27
12
1842
Calc
1
549
14
88
18
4
1843
Calc
3
550
14
91
24
12
1842
Sil
3
551
14
91
17
12
1842
Sil
2
552
14
91
10
12
1842
Sil
1
553
14
92
7
1
1843
Sil
4
554
14
92
23
1
1843
Sil
5
555
14
93
24
2
1843
Sulph
3
556
14
93
10
2
1843
Sulph
1
557
14
93
17
2
1843
Sulph
2
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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158
Ubiratan Adler
Nummer
DF
Seite
Tag
Monat
Jahr
Arznei
Potenz
558
14
97
4
11
1843
Sulph
1
559
14
98
31
1
1843
Kali c
1
560
14
98
18
1
1843
Sulph
2
561
14
98
21
2
1843
Calc
1
562
14
98
21
1
1843
Nat m
1
563
14
99
28
3
1843
Calc
3
564
14
99
7
3
1843
Calc
2
565
14
103
2
3
1843
Sulph
2
566
14
103
29
3
1843
Graph
1
567
14
103
14
3
1843
?
1
568
14
103
19
4
1843
Sulph
1
569
14
106
2
1
1843
Sulph
1
570
14
107
15
2
1843
Sulph
3
571
14
107
31
1
1843
Sulph
2
572
14
107
7
3
1843
Sulph
4
573
14
112
25
1
1842
Sulph
3
574
14
112
15
2
1842
Sulph
5
575
14
112
31
1
1842
Sulph
4
576
14
112
3
1
1842
Sulph
1
577
14
112
2
3
1842
Sulph
6
578
14
112
18
1
1842
Sulph
2
579
14
113
7
3
1842
Calc
1
580
14
113
29
3
1842
Calc
3
581
14
113
15
3
1842
Calc
2
582
14
116
15
2
1843
Calc
1
583
14
116
11
1
1843
Sulph
1
584
14
117
19
4
1843
Alum
1
585
14
120
18
1
1843
Sulph
2
586
14
120
25
1
1843
Carb an
1
587
14
120
21
2
1843
Sulph
3
588
14
120
11
1
1843
Sulph
1
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
© Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015
159
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Nummer
DF
Seite
Tag
Monat
Jahr
Arznei
Potenz
589
14
121
23
3
1843
Ant c
1
590
14
122
19
4
1843
Lyc
1
591
14
126
23
12
1842
Sulph
1
592
14
132
27
12
1842
Sep
1
593
14
134
31
12
1842
Hep
1
594
14
138
31
12
1842
Sulph
1
595
14
142
27
12
1842
Ars
1
596
14
144
11
1
1843
Sulph
1
597
14
144
18
1
1843
Sulph
2
598
14
145
31
1
1843
Sulph
3
599
14
148
11
1
1843
Sulph
1
600
14
148
18
1
1843
Sulph
1
601
14
154
16
1
1843
Merc v
1
602
14
154
20
1
1843
Merc v
2
603
14
154
13
2
1843
Merc v
3
604
14
154
7
2
1843
Sulph
2
605
14
166
8
3
1843
Sulph
2
606
14
166
8
2
1843
Sulph
1
607
14
174
31
1
1843
Sulph
2
608
14
178
4
2
1843
Sulph
2
609
14
182
10
2
1843
Sulph
1
610
14
182
18
2
1843
Sulph
2
611
14
188
24
2
1843
Sulph
3
612
14
188
14
2
1843
Sulph
1
613
14
188
18
2
1843
Sulph
2
614
14
189
14
3
1843
Sulph
4
615
14
189
24
3
1843
Sulph
5
616
14
190
14
2
1843
Sulph
1
617
14
190
18
2
1843
Sulph
2
618
14
190
24
2
1843
Phos
1
619
14
202
10
2
1843
Sulph
1
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
© Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015
160
Ubiratan Adler
Nummer
DF
Seite
Tag
Monat
Jahr
Arznei
Potenz
620
14
202
4
3
1843
Sulph
2
621
14
202
13
3
1843
Sulph
3
622
14
206
20
2
1843
Sulph
1
623
14
206
1
3
1843
Sulph
2
624
14
210
2
3
1843
Sulph
2
625
14
210
21
2
1843
Sulph
1
626
14
210
15
3
1843
Sulph
3
627
14
216
23
3
1843
Sulph
1
628
14
220
24
2
1843
Calc
1
629
14
220
2
3
1843
Sulph
1
630
14
221
11
3
1843
Sulph
2
631
14
230
6
3
1843
Calc
1
632
14
230
27
2
1843
Sulph
1
633
14
231
14
4
1843
Sulph
4
634
14
231
21
3
1843
Sulph
2
635
14
238
3
3
1843
Ip
1
636
14
344
6
3
1843
Graph
1
637
14
344
20
3
1843
Graph
2
638
14
350
29
4
1843
Graph
1
639
14
354
10
3
1843
Sulph
1
640
14
354
17
3
1843
Sulph
2
641
14
362
13
3
1843
Sulph
1
642
14
366
14
3
1843
Acon
1
643
14
366
14
3
1843
Sulph
1
644
14
367
18
4
1843
Sulph
2
645
14
374
4
4
1843
Sulph
1
646
14
382
20
3
1843
Sulph
1
647
14
382
19
4
1843
Sulph
3
648
14
382
28
3
1843
Sulph
2
649
14
388
23
3
1843
Sulph
1
650
14
388
29
3
1843
Sulph
2
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
© Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015
161
Q-Potenz-Verordnungen in den Krankenjournalen
Nummer
DF
Seite
Tag
651
14
389
12
652
14
394
653
14
654
Monat
Jahr
Arznei
Potenz
4
1843
Sulph
3
27
3
1843
Sulph
1
400
13
4
1843
Sulph
3
14
400
15
4
1843
Nux v
1
655
14
400
29
4
1843
Nux v
2
656
14
400
29
4
1843
Sulph
2
657
14
404
28
3
1843
Phos
1
658
14
408
28
3
1843
Sulph
1
659
14
410
15
4
1843
Sulph
1
660
14
414
8
4
1843
Sulph
1
661
14
416
8
4
1843
Sulph
1
662
14
418
28
4
1843
Sulph
2
663
14
418
12
4
1843
Sulph
1
664
14
434
19
4
1843
Sulph
1
665
14
438
21
4
1843
Sulph
2
666
14
442
22
4
1843
Sulph
1
667
14
452
18
1
1843
Sulph
2
668
14
452
12
1
1843
Sulph
1
669
14
453
8
2
1843
Sulph
3
670
14
453
2
3
1843
Sulph
5
671
14
453
22
2
1843
Sulph
4
672
14
454
17
3
1843
Sulph
6
673
15
0
21
4
1843
Kali c
1
674
15
0
12
10
1842
Calc
2
675
15
0
5
10
1842
Calc
1
676
15
0
29
2
1843
Calc
3
677
15
3
21
1
1843
Carb v
1
678
15
11
5
11
1841
Sulph
1
679
15
13
16
8
?
Sulph
1
680
15
58
8
8
?
Sulph
1
681
15
58
29
8
?
Sulph
2
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
© Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015
162
Ubiratan Adler
Gemä der oben beschriebenen Kriterien konnten 681 Verordnungen von
Q-Potenzen erstmals identifiziert werden. Die aufgelisteten Aufzeichnungen
sind in den nachstehenden vier Tabellen entsprechend der Aufteilung der
Q-Potenzen nach Nummer des betreffenden Krankenjournals, nach Jahr,
nach Arznei (auch Graphik 1 und 2) und nach Grad der angewandten Potenz zusammengefaßt.
Tabelle 1: Anzahl der Verordnungen von Q-Potenzen pro
DF-Krankenjournal
DF
absolut
%
1
0
0
2
1
0.1
3
0
0
4
4
0.6
5
4
0.6
6
29
4.3
7
17
2.5
8
14
2.1
9
13
1.9
10
14
2.1
11
49
7.2
12
84
12.3
13
244
35.8
14
199
29.2
15
9
1.3
16
0
0
17
0
0
Gesamt
681
100
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
© Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015
163
Q-Potenz-Verordnungen in den Krankenjournalen
Tabelle 2: Anzahl Verordnungen von Q-Potenzen pro Jahr
Jahr
abs.
%
?
1838
1840
1841
1842
1843
Gesamt
4
2
3
6
437
229
681
0.6
0.3
0.4
0.9
64.2
33.6
100
Tabelle 3: Anzahl Verordnungen Q-Potenzen pro Arznei
Arznei
?
1. Acon
2. Alum
3. Ant c
4. Ars
5. Aur
6. Bell
7. Bry
8. Calc
9. Carb an
10. Carb v
11. Caust
12. Chin
13. Graph
14. Hep
15. Ip
16. Kali c
17. Lyc
18. Merc v
19. Nat m
20. Nux v
21. Pb
absolut
%
8
2
4
1
6
1
5
3
40
1
4
1
1
13
6
5
4
6
9
12
9
1
1.2
0.3
0.6
0.1
0.9
0.1
0.7
0.4
5.9
0.1
0.6
0.1
0.1
1.9
0.9
0.7
0.6
0.9
1.3
1.8
1.3
0.1
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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Ubiratan Adler
22. Phos
23. Sep
24. Sil
25. Sulph
26. Thuja
27. Verat
Gesamt
11
6
9
508
4
1
681
1.6
0.9
1.3
74.6
0.6
0.1
100
Tabelle 4: Anzahl der Verordnungen von Q-Potenzen nach Grad der Potenz
Q-Potenz
absolut
%
1
2
3
4
5
6
7
8
Gesamt
346
158
80
47
25
15
8
2
681
50.8
23.2
11.7
6.9
3.7
2.2
1.2
0.3
100
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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165
Q-Potenz-Verordnungen in den Krankenjournalen
Grafik 1: Verordnungen von Q-Potenzen: Sulphur im Vergleich mit
anderen Arzneien
600
500
400
300
200
100
0
Sulphur
andere
Grafik 2: Verordnungen “anderer” Medikamente
Verat
Thuja
Thuja
Sil
Sep
Phos
Sep
Pb
Pb
Nux v
Nat m
Merc
Nat m
Lyc
Lyc
Kali c
Ip
Hep
Ip
Graph
Graph
Chin
Caust
Carb v
Carb an
Caust
Carb an
Calc
Bry
Bry
Bell
Aur
Ars
Ant c
Alum
Acon
Aur
Ant c
Acon
0
10
20
30
40
50
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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166
Ubiratan Adler
Schluß
Der hier vorgenommene Versuch einer Identifizierung der Q-Potenzen soll
den Zugang zu den Fällen, die nach dem von Hahnemann in der 6. Auflage
des Organon beschriebenen Verfahren behandelt wurden, erleichtern. Das
Studium dieser Krankengeschichten kann helfen zu klären, warum es zu
einer 6. Auflage des Organons kam und wie die dort geschilderten Vorschriften zu verstehen sind.
Summary
In Samuel Hahnemann’s French Medical diaries which are owned by the Institute for the
History of Medicine of the Robert Bosch Foundation in Stuttgart, 681 prescriptions of Qpotencies, complying with the findings of the 6th edition of the Organon, were identified
and listed. The first of these originates in 1838, the last in 1843. This corresponds with
Hahnemann’s statement that he had gathered 4 to 5 years’ experience with his „modified,
new, perfected method“ (dynamisation method). According to his data, Hahnemann prescribed Sulphur 3 times more than all other medicines put together, followed by Calcarea
as the second most prescribed substance. No higher potencies than Q 8 could be determined. By far the largest number of prescriptions of Q-potencies are to be found in the asyet unpublished case-books 13 and 14.
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
© Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015
„Das unsichere Brot eines von Aerzten diskreditirten Heilkundigen“.
Der Laienheiler Eugen Wenz (1856-1945) und seine Naturheilanstalt „Marienbad“ in Mühringen1
Thomas Faltin
Im Frühjahr 1895 kaufte der Laienheiler Eugen Wenz für 5000 Mark das
Anwesen „An der Imnauer Straße Nr.152“ in Mühringen (bei Horb am
Neckar) und richtete darin die „Naturheilanstalt Marienbad“ ein. Zur offiziellen Eröffnung der Anstalt heißt es am 16. September in einem Zeitungsartikel: „Auf stattgehabte Bekanntgabe fanden sich zur Eröffnung viele Ortseinwohner sowie auswärtige Gäste in den schönen, freundlichen Räumen
der Restauration ein. Die Gäste wurden alsbald von dem leutseligen und
sich bereits der Sympathie vieler erfreuenden Besitzers, Herrn Wenz, warm
begrüßt [...]. Gerne stimmten alle Anwesenden in das ‘Hoch’ ein, welches
Herr Lehrer Stern dem freundlichen Hauswirt und seiner Familie ausbrachte, den Wunsch daran knüpfend, daß das Unternehmen recht gedeihen und
wachsen möge“.2 Dieser Wunsch ging jedoch zu keiner Zeit in Erfüllung.
Bis 1899, also vier Jahre lang, hat Wenz dieses Sanatorium geleitet, an das
eine Praxis für ambulant behandelte Patienten angeschlossen war - einen
nennenswerten Ruf hat das Marienbad jedoch niemals erreicht, und auch
eine hinreichende Zahl von Patienten hat sich dort niemals eingefunden.
Eugen Wenz hat während seines Lebens zahlreiche Schriften und Manuskripte verfaßt und so einen umfangreichen Nachlaß hinterlassen.3 Deshalb
bietet sich hier die seltene Gelegenheit, das soziale und medizinische Profil
eines Heilkundigen um die Jahrhundertwende zu untersuchen, was vor allem deshalb von Interesse ist, weil es sich bei Wenz nicht um einen berühmten und erfolgreichen Heilkundigen wie beispielsweise Vinzenz Prießnitz oder Sebastian Kneipp handelt, sondern um einen recht durchschnittli1
Dieser Aufsatz entstand im Rahmen einer größeren Arbeit über Eugen Wenz, der als
Vertreter der alternativen Medizin und der Lebensreformbewegung sowohl aus medizin- wie aus sozialgeschichtlicher Perspektive interessant ist. Die Quellenbasis für diese
Arbeit bildet der Nachlaß Wenz’, der sich im Stadtarchiv Bretten befindet. Die Auswertung dieses Nachlasses wurde durch die Robert Bosch Stiftung gefördert. Zu Eugen
Wenz siehe auch: Stefan Rhein: Eugen Wenz - ein unbekannter Heilkünstler und
Denker. In: Geschichte der Pharmazie 42 (1990), S. 13-19.
2
Der Artikel ist ohne Angabe der Zeitung in den hinteren Einband des Patientenbuches
(StA Bretten, SAM 28) eingeklebt. Diese und alle folgenden Signaturen des Stadtarchives Bretten beziehen sich auf den Bestand Wenz.
3
Als Quellen für die Untersuchung des Marienbades kommen - neben einigen Flugblättern - vor allem Wenz’ Patientenbuch (StA Bretten, SAM 28) und Rechnungsbuch
(StA Bretten, WP 3) sowie die beiden folgenden im Selbstverlag gedruckten Broschüren in Betracht: E.W.: Wie die Natur heilt und die verschiedenen Heilmethoden im
Lichte der gesunden Vernunft. Mühringen 1895 (StA Bretten, SD 4); E.W.: Willst du
gesund werden? oder Die wahre Lebenskunst. Ebingen 1905 (StA Bretten, SD 7).
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
© Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015
168
Thomas Faltin
chen Vertreter des Laienheilgewerbes. Durch Eugen Wenz’ Nachlaß ist es
also möglich, historischen Zugriff auf jene Schicht der Heilkundigen zu erhalten, über die ansonsten mangels Quellen meist nur indirekte Aussagen
gemacht werden können.
Herkunft und Ausbildung Eugen Wenz’
Eugen Wenz wurde am 23. Mai 1856 in Stuttgart als Sohn eines vermögenden Zigarrenfabrikanten geboren. Er besuchte in Ludwigsburg das Lyzeum, wo er eine humanistische Ausbildung erhielt. Nach dem frühen Tod
beider Elternteile (1868 und 1869) trat Wenz 1872 bei seinem Paten Albert
Bernhold in eine kaufmännische Lehre ein und war bis 1885 - ein Jahr lang
auch als Teilhaber an einer mechanischen Weberei - als Kaufmann tätig. Zu
Beginn der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts beschäftigte sich Wenz
immer stärker mit Theologie und entschied sich schließlich, Mitte 1885
nach Amerika auszuwandern, um dort in der „Evangelischen Synode von
Nordamerika“, einer unierten Kirche, Prediger zu werden. Wenz war von
einem starken christlichen Glauben beseelt, der mit einer gewissen Selbstüberschätzung verbunden war. Bereits 1886, also nur ein Jahr später, hat er
das Ausbildungsseminar in St. Louis, Missouri, wieder verlassen, wohl auf
einen gewissen Druck der Kirche hin, da er sich als „erlöstes Kind Gottes“4
fühlte, in dem der Heilige Geist wohne. Seine permanenten Visionen wurden letztlich nicht geduldet.
So kehrte Wenz nach Deutschland zurück und arbeitete von 1887 bis 1895
als Sekretär bei zwei Ärzten, zunächst etwa fünf Jahre lang bei Dr. Oskar
Königshöfer (1851-1911) in der Charlottenheilanstalt5 in Stuttgart, sodann
gut zwei Jahre bei dem homöopathisch ausgerichteten Arzt Emil Schlegel
(1852-1934)6 in Tübingen. Da es sich bei der Charlottenklinik um eine Anstalt für Augenkranke handelte, in der keine naturheilkundlichen oder homöopathischen Ärzte behandelt haben, hat Eugen Wenz hier vor allem
„schulmedizinische“7 Kenntnisse erlangt, während er sein Wissen über die
4
E.W.: Göttliche Offenbarung und menschliche Vernunft. Wahres Prophetentum und
der heutige Spiritismus in ihrem Verhältnis zu einander. Nebst einem Anhang Winke
für die Heilung Besessener. Selbstverlag, Stuttgart 1887, S. V (StA Bretten, SD 2).
5
Siehe dazu: Karl Bok: Oscar Königshöfer. In: Medicinisches Correspondenz-Blatt des
württembergischen aerztlichen Landesverbandes 81 (1911), S. 422-426. Bernhard
Rolf: Die Charlottenklinik für Augenkranke in Stuttgart von ihrer Gründung 1883 bis
zum Wiederaufbau 1955. In: 100 Jahre Charlottenklinik für Augenkranke in Stuttgart
1891-1991. Festschrift hg. von der Charlottenklinik für Augenkranke in Stuttgart aus
Anlaß des hundertjährigen Bestehens. Stuttgart 1991, S. 7-41.
6
Autobiographische Skizzen finden sich in seinen Werken: Emil Schlegel: Heilkunst als
Weltmitte. Grundriß einer physiognomischen Medizin. Karlsruhe 1931. Ders.: Erinnerungen seit 1875. Sonderabdruck aus der Deutschen Zeitschrift für Homöopathie 9
(1928).
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
© Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015
Der Laienheiler Eugen Wenz (1856-1945)
169
Homöopathie bei Schlegel erworben hat - wohlgemerkt nebenbei, da er
primär für kaufmännische Aufgaben eingestellt war. Allerdings betonte
Wenz später, daß er bei Schlegel „tägliche[n] Umgang mit Patienten“8 gehabt habe. Sein Fachwissen im Bereich der Naturheilkunde dürfte sich
Wenz teilweise bei Schlegel, der auch Naturheilverfahren angewandt hat,
und teilweise im Selbststudium9 angeeignet haben.
Wenz’ Weg hin zur Laienheilkunde ist nicht ungewöhnlich, soweit man
dies aufgrund der dürftigen Vergleichsmöglichkeiten10 abschätzen kann:
Viele Personen kamen nach einer schweren Krankheit, von der sie die Naturheilkunde oder die Homöopathie geheilt hatte, zur alternativen Medizin;11 andere fühlten sich zum Heilen berufen, hatten aber aufgrund ihres
Herkommens nicht die Möglichkeit, Medizin zu studieren.12 Bei Wenz trifft
die zweite Ursache zu: Zwar wäre ihm, was Schulbildung und Herkunft
anbetrifft, das Studium möglich gewesen, aber man muß wohl davon ausgehen, daß seine Eltern ihn zum Kaufmannsberuf drängten. Außerdem
wurden seine medizinischen Ambitionen erst nach seiner Rückkehr aus
Amerika geweckt - zum Studium war er jetzt aber erstens bereits zu alt, und
zweitens besaß er auch das notwendige Vermögen nicht mehr.13 Trotzdem
7
Zur Begriffsgeschichte siehe Achim Wölfing: Entstehung und Bedeutung des Begriffs
Schulmedizin und die Auseinandersetzungen zwischen der naturwissenschaftlichen
Medizin und Vertretern anderer Heilmethoden im 19. Jahrhundert. med. Diss. Freiburg 1974.
8
StA Bretten, CHR I, S. 1.
9
Die zahlreichen medizinischen Schriften in der erhaltenen Bibliothek Wenz’ belegen
den großen Umfang seiner autodidaktischen Studien.
10 Detaillierte Untersuchungen zu Laienheilern existieren leider nicht, wenn man einmal
von den herausragenden Gestalten der Naturheilkunde wie Vinzenz Prießnitz oder
Sebastian Kneipp absieht. Eine allgemeine Charakterisierung der Naturheilkundigen
versucht Cornelia Regin: Naturheilkunde und Naturheilbewegung im Deutschen Kaiserreich. Geschichte, Entwicklung und Probleme eines Bündnisses zwischen professionellen Laienpraktikern und medizinischer Laienbewegung. In: Medizin, Gesellschaft
und Geschichte 11 (1993), S. 177-202, hier S. 180ff. Einen Überblick über die Geschichte der nichtapprobierten Heiler in Hamburg, der sich aber auf die Frühe Neuzeit konzentriert, bietet Hansjörg Reupke: Zur Geschichte der Ausübung der Heilkunde durch nichtapprobierte Personen in Hamburg von den Anfängen bis zum Erlaß
des „Heilpraktikergesetzes“ im Jahre 1939. Herzogenrath 1987.
11 Dies war zum Beispiel, um eine bisher kaum beachtete Person zu wählen, bei M.E.G.
Gottlieb (1872-1923) der Fall, der neben seiner heilkundlichen Tätigkeit in Heidelberg
mehrere Zeitschriften herausgab (Archiv für rationelle Therapie, Freie Heilkunst) und
von 1907 bis zu seinem Tod Vorsitzender des von ihm gegründeten „Zentralverbandes für Parität der Heilmethoden“ war.
12 Frauen waren um die Jahrhundertwende noch grundsätzlich nicht an den Universitäten zugelassen. Zum medizinischen Studium von Frauen siehe Eva Brinkschulte (Hg.):
Weibliche Ärzte. Die Durchsetzung des Berufsbildes in Deutschland. Berlin 1993.
13 Von seinen Eltern hat Wenz mindestens 14.000 Gulden geerbt (StA Vaihingen/Enz,
Inventuren und Teilungen Nr.2543). Im „Beibringens-Inventar“, das anläßlich seiner
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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170
Thomas Faltin
lag bei Wenz, als er sich 1895 als Laienheiler selbständig machte, keine
wirtschaftliche Notlage vor, denn er war bei Emil Schlegel ungekündigt, so
daß man zu dem Schluß kommen muß: Wenz wählte in vollem Bewußtsein
und aus Überzeugung den Beruf des Heilkundigen. Zwei Beweggründe
dürften ausschlaggebend gewesen sein: Zum einen hat ihn sicherlich das
immer wieder gerühmte medizinische Charisma Schlegels14 diesen Weg
einschlagen lassen, zum anderen sah Wenz, als zutiefst christlicher Mensch,
im Heilen eine religiöse Tat: „Es ist [...] nach dem Gottesdienst der erhabenste Beruf des Menschen doch der, Priester der heiligen Flamme des Lebens und der Verwalter der höchsten Gaben Gottes und der geheimsten
Kräfte der Natur, d.h. Arzt zu sein.“15
Eugen Wenz besaß als Heilkundiger also ein hohes Ethos, was aber natürlich nicht bedeuten muß, daß seine medizinische Kompetenz auch der Intensität seines Heilwunsches entsprach. Wie kompetent Wenz nach seiner
medizinischen „Ausbildung“ bei Königshöfer und Schlegel war, läßt sich
kaum abschätzen und ist für die sozialgeschichtlich orientierte Forschung
auch nur von sekundärem Interesse. Für Wenz’ medizinisches Können
spricht aber immerhin, daß Emil Schlegel zu seiner Zeit als bedeutender
Arzt der Homöopathie galt, dessen Ansehen weit über Tübingen hinausreichte.16 Und Schlegel scheint auch Wenz’ Können vertraut zu haben, da
er ihm in der Folgezeit mehrere Patienten nach Mühringen überwiesen
hat.17
Hochzeit 1894 angefertigt worden war, besaß Wenz dagegen nur noch rund 500 Mark
an Geldvermögen (Gemeindearchiv Mühringen, Beibringens-Inventar Nr.262 vom 13.
Juli 1894).
14 Dieses Charisma Schlegels beschreibt zum Beispiel Dr. Heinrich Meng mit folgenden
Worten: „Wie kam es, daß er viele Zeitgenossen, gelehrte und ungelehrte, zur eigenen
Besinnung und zur Überprüfung des Althergebrachten und Modernen in der Heilkunde anregte? [...] Vielleicht war es der Einfluß seiner Persönlichkeit, der Blitzschlag
seiner Leidenschaft, die Güte seines immer jungen Sinns und die männliche Streitkraft.“ (In: Deutsche Zeitschrift für Homöopathie 10 (1932), S. 229). Außerdem wurde
Wenz sicherlich durch die Tatsache ermutigt, daß auch Emil Schlegel zunächst zum
Kaufmannsberuf bestimmt gewesen war.
15 StA Bretten, SD 4, S. 6. Der christliche Glaube spielte deshalb in Mühringen auch als
Therapieform eine bedeutende Rolle; in einem Flugblatt (StA Bretten, Flugblatt „Das
Erholungsheim Marienbad“, WP 3 Beilage) heißt es: „[...] und stellt sich derselbe
[Wenz] die Aufgabe hiebei im Sinn und Geiste Jesu zu wirken, der da allen Leidenden
und Kranken zuruft: ‘Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich
will euch erquicken.’
16 So war der homöopathische Arzt Dr. Leeser der Meinung, daß „in ganz Württemberg
und Baden wohl kaum ein Arzt“ so bekannt sei wie Emil Schlegel (In: Deutsche Zeitschrift für Homöopathie 10 (1932), S. 228).
17 Insgesamt acht Patienten kamen von Schlegel zu Wenz, z.B. StA Bretten, SAM 28, S.
97.
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Der Laienheiler Eugen Wenz (1856-1945)
171
Der Werdegang Wenz’ - reiches Herkommen, höhere Schulbildung und
sechsjährige Tätigkeit bei Ärzten - entspricht nur teilweise dem noch sehr
unscharfen Bild, das sich die Forschung bisher vom sozialen Profil der
Laienheiler gemacht hat. So vermutet Cornelia Regin für die Naturheilkundigen, daß zahlreiche Personen zunächst Praktika bei Heilkundigen gemacht hatten oder als Krankenpfleger, Masseur oder Badediener tätig waren, bevor sie sich selbständig machten;18 diese Aussage wird durch den
Werdegang von Eugen Wenz bestätigt. Umgekehrt geht sie aber davon aus,
daß ein Großteil der Laienheiler den Unterschichten und unteren Mittelschichten entstammte.19 Dies trifft für Wenz nur bedingt zu; erst nach seinem Amerikaaufenthalt, durch den er sein Vermögen verloren hat, sank
Wenz auf der gesellschaftlichen Skala in die Mittelschicht ab.
Die offiziellen Statistiken sind zu Recht immer wieder angezweifelt worden,
so daß es schwierig ist, genauere Aussagen über die Herkunft der Heilkundigen zu machen.20 Hier helfen zumindest teilweise die Angaben des württembergischen Medizinalberichts für das Jahr 1895 über die Betreiber der
Badeanstalten und Heilbäder in Württemberg weiter, auch wenn sie auf
einer schmalen Zahlenbasis beruhen.21 Sie sind dennoch zuverlässiger als
die oft tendenziösen Statistiken, da es sich hier um eine detaillierte - und
deshalb nachprüfbare - Liste handelt und da diese Statistik primär nicht als
Kampfmittel gegen das „Kurpfuschertum“ entstanden ist. Sie bietet Aufschluß über jenen Teil der Laienheiler, der in eigenen Anstalten zumindest
hydropathische Behandlungen durchgeführt hat. Insgesamt waren über 70
Prozent der württembergischen Bäder im Besitz von nichtapprobierten Personen,22 während sich nur drei approbierte Ärzte als Halter eines württembergischen Bades finden. Die Statistik für das Jahr 1895 zeigt, daß Wenz’
18 Regin, Naturheilkunde (wie Anm. 10), S. 181.
19 Regin beruft sich dabei auf eine Statistik des Königreiches Sachsen für die Jahre 1903
und 1909, die ihr noch am glaubwürdigsten erscheint (Regin, Naturheilkunde, wie
Anm. 10, S. 180). Zur Problematik aller medizinalpolitischen Statistiken siehe: Cornelia Regin: Die Naturheilbewegung in Deutschland 1889 bis 1914. phil. Diss. Kassel
1992, hier S. 357-367.
20 Zum Beispiel gibt der Gesetzentwurf „gegen Mißstände im Heilgewerbe“ aus dem Jahr
1910 zwei Zahlenreihen über die früheren Berufe der Laienheiler in Preußen für 1898
und 1906 an, die jedoch nur sehr bedingt aussagekräftig sind, da neben Laienheilern
auch Dentisten, Masseure, Heilgehilfen etc. hinzugerechnet worden waren. Danach
verteilten sich 1898 die früheren Berufe wie folgt (Einteilung des Autors): Landwirte
15%, Handwerker 22%, Handel und Gewerbe 17%, Arbeiter 4%, Beamte 10%, ohne
Beruf 13%, Sonstige 17%. Der Gesetzentwurf ist an verschiedenen Orten abgedruckt,
z.B. in: Freie Heilkunst 4 (1910), Sondernummer Nr.2a (November).
21 Medizinal-Bericht von Württemberg für das Jahr 1895. Stuttgart 1898, S. 104-109.
22 Wobei natürlich fraglich ist, ob der Besitzer zugleich auch die medizinische Betreuung
übernommen hatte. Darauf deutet aber hin, daß in der Liste 14 Mal angemerkt wird,
daß ein approbierter Arzt zur Verfügung stünde; man muß also davon ausgehen, daß
kein approbierter Arzt vor Ort war, wenn eine solche Anmerkung fehlt.
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Thomas Faltin
berufliches Herkommen nicht atypisch war für die Badbesitzer: Zehn der
106 medizinischen Bäder23 wurden von Kaufleuten geführt; noch vor den
kaufmännischen Berufen rangieren aber die Berufsgruppen der Wirte und
der Handwerker.
Tabelle 1: Besitzer der württembergischen Badeanstalten und Heilbäder
im Jahr 1895 (ohne Fluß- und Seebäder; in absoluten Zahlen.
Quelle: Medizinal-Bericht von Württemberg für das Jahr 1895).
Kurierfreiheit
Bevor wir uns nun den Heilweisen von Eugen Wenz und seiner Leitung des
Marienbades zuwenden, soll zunächst der rechtliche Rahmen abgesteckt
werden, in dem die Heilkundigen kurz vor der Jahrhundertwende agierten.
An Pfingsten 1894 hat Eugen Wenz in Tübingen Maria Luise Albrecht geheiratet; mit Hilfe ihres Vermögens hat Wenz im April 1895 das Marienbad gekauft. Zugleich beantragte er die Konzession zur Führung einer
Gastwirtschaft. Dies war ein doppelt geschicktes Vorgehen: Zum einen besaß Wenz mit dem Gasthaus ein zweites Standbein für den (dann auch eingetretenen) Fall, daß die Heilanstalt seinen Lebensunterhalt nicht sichern
sollte; zum anderen verschleierte er damit die Ziele und Bedeutung des Sanatoriums bei den Behörden, mußte er doch befürchten, daß ihm als nichtapprobiertem Heiler die Leitung einer Privatkrankenanstalt nicht gestattet
wurde.
23 Insgesamt verzeichnet die Liste 128 Badeanstalten und Heilbäder, aber nicht alle boten auch eine medizinische Behandlung an. Sofern die rein hygienische Funktion eines
Bades aus der Liste hervorgeht, wurde diese Anstalt hier nicht miteingerechnet.
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Der Laienheiler Eugen Wenz (1856-1945)
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Zwar galt überall im Deutschen Reich seit etwa 1871 die Kurierfreiheit, die
jeder Person, unabhängig von ihrer Qualifikation, das Recht zuerkannte,
Kranke zu behandeln. Aber die Reichsregierung und die Regierungen der
Bundesstaaten hatten diese Kurierfreiheit von Anfang an mit gemischten
Gefühlen betrachtet, und vor allem bei den Medizinalbehörden blieb auch
nach 1871 ein deutliches Mißtrauen gegen Laienheiler bestehen.24 Die Obrigkeit versuchte deshalb auf gesetzlichem Wege immer wieder, die Kurierfreiheit auszuhöhlen. So wurden die Heilpraktiker in den aufkommenden
Krankenkassen zunächst nur geduldet und 1914 durch die neue Reichsversicherungsordnung ganz ausgeschlossen.25 Eugen Wenz wurde in seiner
Mühringer Zeit nicht einmal geduldet: Es ist kein Fall bekannt, daß eine
Krankenkasse medizinische Leistungen Wenz’ bezahlt hat. Auch mehrere
Novellen schränkten die Ausübung der Heilkunde durch nichtapprobierte
Personen immer stärker ein. So wurde allein bis in die 1890er Jahre hinein
das Kurieren im Umherziehen verboten, die Ausübung der Geburtshilfe
wurde untersagt, die Werbemöglichkeiten eingeschränkt, und auch die Bestimmungen über die Errichtung von Privatheilanstalten wurden verschärft26
- diese letzte Novelle war für Wenz von besonderer Bedeutung. Sicherlich
hatte Wenz von Anfang beabsichtigt, ein Naturheilbad zu eröffnen, zunächst meldete er aber nur die Wirtschaft zur „Sonne“ an, erst im August
1895 dann auch die Heilanstalt. Die zuständige Behörde, die Königliche
Regierung des Schwarzwald-Kreises, machte daraufhin prompt von der seit
1879 geltenden Gesetzeslage Gebrauch und wollte das Gesuch Wenz’ ablehnen. Erst als Wenz protestierte, erteilte schließlich das übergeordnete
Medizinalkollegium in Stuttgart am 6. August 1895 die Erlaubnis, welche
wie folgt begründet wurde: „Es [das Marienbad] ist nicht eine geschlossene,
lediglich zur Aufnahme von Kranken bestimmte Einrichtung, sondern einfach ein Gasthaus, dessen Gäste theilweise die Badeeinrichtung unter Controle des Wenz benutzen und von diesem sich über Gesundheitspflege belehren lassen, wie dies [...] Badewärter und Masseure [...] in türkischen Bä24 Regin, Naturheilbewegung (wie Anm. 19), S. 473.
25 Ebd., S. 482.
26 Sowohl das Reich als auch die einzelnen deutschen Staaten konnten gesetzliche Einschränkungen vornehmen, so daß auch nach 1871 die rechtliche Stellung der Laienheiler je nach Bundesstaat verschieden sein konnte. Zu diesen gesetzlichen Einschränkungen der Kurierfreiheit siehe die zeitgenössische Studie von Martin Beradt: Die gesetzlichen Handhaben gegen Auswüchse der Kurierfreiheit (= Medizinalpolitische Untersuchungen. Soziologische, juristische und nationalökonomische Untersuchungen
über die Kurierfreiheit, das sogen. Kurpfuschertum und die damit zusammenhängenden Fragen, hg. vom Zentralverband für Parität der Heilmethoden, Heft II). Berlin
1910. Die Bemühungen um die Aushöhlung der Kurierfreiheit gipfelten 1908 in einem
Gesetzentwurf, der die Aufhebung der Kurierfreiheit im gesamten Deutschen Reich
zum Inhalt hatte. Das Gesetz konnte jedoch aufgrund massiver Proteste nicht durchgesetzt werden - die Kurierfreiheit blieb im Deutschen Reich bis 1939 grundsätzlich
bestehen.
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Thomas Faltin
dern zu thun belieben“.27 Wenz’ Strategie, die Bedeutung der Gastwirtschaft
hervorzuheben, hatte also zum Erfolg geführt.
Wenz’ Medizinkonzept und Heilweise
Die Einschätzung des Medizinalkollegiums ist jedoch schlichtweg falsch.
Das Patientenbuch Wenz’, das sich aus der Mühringer Zeit erhalten hat,
und auch einige Werbeflugblätter für das Marienbad beweisen deutlich, daß
Wenz sowohl im Marienbad als auch in der angeschlossenen Praxis für
ambulante Patienten umfangreiche medizinische Behandlungen vorgenommen hat; Badekuren waren nur eine, wenn auch eine wichtige, der vielen angewandten Therapieformen.
Seit Beginn seiner heilkundlichen Tätigkeit war es Eugen Wenz wichtig gewesen, daß seine Heilmethode auf einem theoretischen Fundament steht. Im
Mittelpunkt seiner theoretischen Überlegung stand bei Wenz das bekannte
naturheilkundliche Axiom von einer dem Menschen immanenten Lebenskraft: Der Arzt müsse mit der entsprechenden Therapie nur die Natur in
ihrer Selbstheilkraft unterstützen.
Was die Lebenskraft nun sei, darüber hat es im Laufe des 19. Jahrhunderts
sehr unterschiedliche Auffassungen gegeben.28 Wenz glaubte, daß die Lebenskraft in der richtigen Zusammensetzung des Blutes liege,29 was er übrigens mit einem Bibelzitat, also einem religiösen Argument, belegte.30 Das
Blut bestünde, so Wenz, zu fast hundert Prozent aus den vier Elementen
Kohlenstoff, Wasserstoff, Stickstoff und Sauerstoff, und zwar in einem ganz
bestimmten Mischungsverhältnis. Jedes dieser Elemente besäße eine spezifische sogenannte „Vitalität“, oder einfacher gesagt, eine positive oder negative Kraft: Kohlenstoff und Wasserstoff seien von positiver, Sauerstoff und
Stickstoff von negativer Vitalität.31 Die Definition des Begriffes „Krankheit“
war als Konsequenz dieses Grundgesetzes für Wenz denkbar einfach: Jede
Krankheit beruhe letztlich auf einer Veränderung der normalen Zusammensetzung des Blutes. Danach gebe es vier verschiedene Krankheitstypen
27 Staatsarchiv Ludwigsburg, E 162 I Büschel 1622.
28 Siehe dazu: Karl Eduard Rothschuh: Konzepte der Medizin in Vergangenheit und
Gegenwart. Stuttgart 1978, S. 331ff.
29 Diese Anschauung ist keine originäre Schöpfung Wenz’. Seit der zweiten Hälfte des
17. Jahrhunderts war der Glaube an eine besondere Vitalität des Blutes in vielen Medizinkonzepten weit verbreitet, hat aber in der Mitte des 19. Jahrhunderts - zumindest
in der „Schulmedizin“ - stark an Bedeutung eingebüßt. Siehe dazu: Rothschuh (wie
Anm. 28), S. 220ff.
30 Nach 3 Mose 17,11: „Die Lebenskraft des Fleisches sitzt nämlich im Blut.“ (zitiert in:
StA Bretten, SD 11, S. 10).
31 Wenz selbst beruft sich bei diesen Vitalitätsbestimmungen auf den Kunstmaler Professor Johann Karl Bähr (1801-1869) aus Dresden, der die Ergebnisse seiner „Pendelprüfungen“ im Jahr 1861 in dem Buch „Der dynamische Kreis“ veröffentlicht hat.
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Der Laienheiler Eugen Wenz (1856-1945)
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oder Krankheitskonstitutionen, je nachdem, welches der vier Elemente in
erhöhter Quantität im Blut vorhanden war. Es existierte also die carbogene
Konstitution - ein Übergewicht von Kohlenstoff im Blut -, die hydrogene, die
nitrogene und die oxygene Konstitution.32 Jede Konstitution hatte ihre typischen Krankheiten.33
Auch die Heilweise ergibt sich automatisch aus dieser Anschauung: Bei
einem Kranken müsse man die positiven Kräfte soweit vermehren bzw.
vermindern, daß sie sich wieder im normalen Gleichgewicht des gesunden
Blutes befänden.34
Aus diesem Konzept zieht Wenz den Schluß, daß keine Therapieform die
Vorherrschaft über eine andere besitze. Jede Heilweise, die das Gleichgewicht der Lebenskraft wiederherzustellen imstande sei, habe ihre Berechtigung. Diese Einwirkung auf die Lebenskraft sei in verschiedenster Weise
möglich, in anatomischer, physiologischer, mechanischer, chemischer,
elektrischer, magnetischer und in spiritueller Weise.35 Deshalb ließ Wenz
nicht nur Naturheilkunde und Homöopathie als Heilweisen gelten, sondern
beispielsweise auch religiöse Suggestionsverfahren und sogar die „Schulmedizin“, sofern sie das Prinzip der Lebenskraft anerkannte.
Homöopathie und Naturheilkunde waren aber die beiden bedeutendsten
Heilweisen, die Wenz selbst angewandt hat. Für ihn waren Homöopathie
und Naturheilkunde zwei gleichberechtigte Schwestern. In einer Broschüre
schreibt Wenz: „Die moderne Naturheilkunde beraubt sich [...] selbst eines
segenreichen Mittels um das Heilbestreben der Lebenskraft zu unterstützen,
so lange sie principiell den Gebrauch homöopathischer Arzneien aus ihrem
Heilschatze ausschließt.“36 Und an anderer Stelle wird er sogar pathetisch:
„Wenn auch nach ihrem Aussehen und ihrer Gestalt nach verschieden, sind
Homöopathie und Naturheilkunde dennoch zwei Schwestern, die, getrieben
von ihrer Liebe zu der unter Krankheit und Elend seufzenden Menschheit,
32 Hier spiegelt sich natürlich die antike Viersäftelehre wider, und Wenz hat auch selbst
die Verbindung zur Humoralpathologie geknüpft. Die Beziehungen zu den vier Stoffen Wasserstoff, Stickstoff, Sauerstoff und Kohlenstoff ist ebenfalls keine originäre
Entdeckung Wenz’: Sie tauchen bereits, in etwas anderer Form, im Medizinkonzept
von Ignaz Paul Vitalis Troxler (1780-1866) auf. Vor allem der homöopathische Arzt
Eduard von Grauvogl (1811-1877) hat dann die vier Elemente in den Mittelpunkt seiner Konstitutionslehre gestellt. Siehe dazu Barbara Czech: Zur Entwicklung konstitutioneller Betrachtungsweise in der Homöopathie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts.
med. Diss. Tübingen 1995 [unveröffentlicht]. Obwohl sich keine Schriften Grauvogls
in der Bibliothek Wenz’ nachweisen lassen, muß davon ausgegangen werden, daß er
von ihm entscheidend beeinflußt worden ist.
33 Einfluß auf die Konstitution hatte nach Wenz nicht nur die Zusammensetzung des
Blutes, sondern auch das Geschlecht, das Alter, die Jahreszeit und das Klima.
34 Die Beschreibung dieser Theorie nach StA Bretten, SD 7.
35 StA Bretten, SD 4, S. 19.
36 StA Bretten, SD 4, S. 2.
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vom Himmel herabgestiegen sind, um [...] kranke Menschen [...] zum Lichte des Lebens zurückzuführen.“37
Seine persönliche Heilweise nannte Wenz „das kombinierte NaturHeilverfahren“.38 Darunter verstand er die „Anwendung der äusserlichen
Heilfaktoren wie Licht, Luft, Wasser etc. in Verbindung mit rationeller Diät
und den innern Gebrauch solcher Arzneikräfte, welche das natürliche Heilbestreben der Lebenskraft zu unterstützen geeignet sind“.39 Konkret bedeutet dies: Wenz verschrieb homöopathische Medikamente und unterstützte
deren Wirkung durch verschiedene Therapieformen wie Bäder, Güsse,
Lichtbäder, Massage, Umschläge und Wickel, Inhalationen, Diät, gymnastische Übungen und auch durch präzise Lebensvorschriften, die er seinen
Patienten machte.40 Später kam noch die elektrogalvanische Therapieform
hinzu. Auch eine Horizontverengung auf eine bestimmte naturheilkundliche
Richtung ist bei Wenz nicht festzustellen: Er verschrieb Wickel und Güsse
nach Kneipp, Umschläge und Verbände nach Prießnitz und HautreizBehandlungen nach Carl Baunscheidt.41
Eine Zusammenstellung der behandelten Beschwerden nach dem Patientenbuch ergab, daß Wenz grundsätzlich alle Krankheiten behandelte; ein
Großteil der Patienten kam aber wegen Lungen- und Brustbeschwerden
(etwa zwölf Prozent) sowie wegen Rheuma und Gicht (etwa neun Prozent)
zu ihm. Grundsätzlich verboten war Wenz die Geburtshilfe.42 Außerdem
nahm er keine chirurgischen Eingriffe vor, zum einen, weil er die dazu
notwendigen Kenntnisse nicht besaß, zum anderen aber auch, weil Emil
Schlegel, Wenz’ Lehrer, der Ansicht war, selbst schwere Krankheiten wie
Krebs mit homöopathischen Arzneimitteln kurieren zu können.43 Und diese
Meinung hatte Wenz übernommen. Für diese sanfte und unblutige Heilmethode machte Wenz sogar Werbung: „Selbst in solchen Fällen, wo ärztlicherseits dem Patienten eine Operation als unbedingt nötig bezeichnet wurde, wie insbesondere bei Kropf- & Krebsleiden, Geschwülsten etc. hat dieses
37 E.W.: Homöopathie und Naturheilkunde. In: Willst Du gesund werden? Zeitschrift
für homöopathische Heilerfolge. Nr.7, 4 (1900), S. 98 (StA Bretten, B 615/2).
38 So zum Beispiel in StA Bretten, DW 10.
39 StA Bretten, Flugblatt „Das kombinierte Natur-Heilverfahren“, WP 3 Beilage.
40 Diese Auflistung nach dem im Patientenbuch erwähnten Therapieformen.
41 Im württembergischen Medizinal-Bericht für das Jahr 1895, S. 102, wird außerdem zu
Wenz vermerkt, daß er das „Kuhne’sche Verfahren“ anwende; im Patientenbuch wird
diese Heilweise dagegen nicht erwähnt. Zu Louis Kuhne (1835-etwa 1915) siehe Alfred
Brauchle: Die Geschichte der Naturheilkunde in Lebensbildern. Leipzig 1937, S.362366.
42 Das Patientenbuch beweist aber, daß Wenz in Mühringen mit Hebammen zusammengearbeitet hat (z.B. StA Bretten, SAM 28, S. 317).
43 Emil Schlegel: Die Krebskrankheit. München 1908.
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Der Laienheiler Eugen Wenz (1856-1945)
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Heilverfahren, wenn auch nicht vollständige Heilung, so doch Stillstand
und Rückgang des Leidens herbeigeführt“.44
Zusammenfassend läßt sich sagen, daß Eugen Wenz ein Eklektiker und
Synthetiker war, sowohl was sein theoretisches Medizinkonzept anbetrifft
als auch in bezug auf seine konkreten Heilweisen.
Sozial- und medizinpolitisch war Wenz insofern ein untypischer Heilkundiger, als er nicht nur ein Vermittler zwischen Homöopathie und Naturheilkunde, sondern auch zwischen alternativer Medizin und „Schulmedizin“45
sein wollte, was um die Jahrhundertwende noch alles andere als selbstverständlich war. Schon zu Beginn seiner heilkundlichen Tätigkeit im Jahr
1895 schrieb Wenz: „Ein solches trauriges Schauspiel bieten in der Gegenwart die Vertreter der Hydropathie, der Allopathie und Homöopathie, die
als feindliche Brüder einander gegenüberstehen. [...] Im Interesse der Heilung und Hebung dieses brüderlichen Zwistes, der einen segensreichen
Fortschritt der wahren Heilwissenschaft unmöglich macht und zum Schaden der leidenden Menschheit ist, rufen wir allen denen, die es angeht, mit
brüderlichen Worten zu: Lasset ab von eurem vergeblichen und verderblichen Richten und Kämpfen“.46
In Konflikt mit der „Schulmedizin“
Eugen Wenz’ Aufruf zur Versöhnung aber blieb damals gänzlich ungehört.
Vielmehr verstärkte sich in den 1890er Jahren allgemein die Heftigkeit der
Auseinandersetzung zwischen „Schulmedizin“ und alternativer Medizin.
Ein Mittel vieler approbierter Ärzte, gegen die Laienheiler vorzugehen, war
deren argwöhnische Überwachung vor Ort:47 Es kam häufig vor, daß Ärzte
die Heilkundigen der Umgebung kontrollierten und sie anzeigten, sofern
sich Anhaltspunkte für eine - aus ihrer Sicht - unsachgemäße Behandlung
ergaben. In den Zeitschriften der alternativen Medizin finden sich immer
wieder Beispiele, wie sich Laienheiler vor Gericht zu verantworten hatten,
nachdem sie von approbierten Ärzten angezeigt worden waren.48 Eugen
44 StA Bretten, Flugblatt „Das kombinierte Natur-Heilverfahren“, WP 3 Beilage.
45 Wenz betonte immer wieder, daß er auch „allopathische“ Kenntnisse erworben habe
und anwende (z.B. StA Bretten, DW 4, S. 3.)
46 StA Bretten, SD 4, S. 23.
47 Zu der Vielzahl der „schulmedizinischen“ Strategien siehe Regin, Naturheilbewegung
(wie Anm. 19), S. 346ff. Diese Auseinandersetzung zwischen Heilkundigen und Ärzten
ist Teil des umfassenden Prozesses der ärztlichen Professionalisierung im 19. Jahrhundert. Siehe dazu: Ute Frevert: Krankheit als politisches Problem 1770-1880. Soziale
Unterschichten in Preußen zwischen medizinischer Polizei und staatlicher Sozialversicherung. Göttingen 1984. Annette Drees: Die Ärzte auf dem Weg zu Prestige und
Wohlstand. Sozialgeschichte der württembergischen Ärzte im 19. Jahrhundert. Köln
1988.
48 Zum Beispiel: Der Naturarzt 28 (1900), S. 81.
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
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Thomas Faltin
Wenz kam mit Ärzten des Oberamtes Horb ebenfalls in Konflikt, wenn
auch nicht in dieser drastischen Form. Aber Wenz mußte mehrmals die
Behandlung eines Patienten abbrechen, nachdem ein approbierter Arzt eingegriffen hatte. So diagnostizierte Eugen Wenz beispielsweise im Oktober
1896 bei einem 13jährigen Mädchen Veitstanz.49 Nach zwei Konsultationen
erhielt er vom Vater des Mädchens einen Brief, dessen Inhalt Wenz im Patientenbuch so wiedergab: „Schreibt, daß sich Patientin der Behandlung des
Dr. Sch. aus Eutingen nicht entziehen kann. Patientin soll in eine Anstalt
kommen“.50
Ob die Schulmediziner Wenz als „Kurpfuscher“51 betrachtet haben, den sie
glaubten bekämpfen zu müssen, ist nicht bekannt. Jedenfalls war er - nach
der offiziellen Statistik des württembergischen Medizinalkollegiums - der
einzige nichtapprobierte Heilkundige im Oberamt Horb;52 für die dort ansässigen Ärzte stand Wenz deshalb sicherlich im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit.
Konkurrenzneid konnte jedenfalls kein gewichtiger Grund sein für dieses
problematische Verhältnis zwischen Wenz und den Ärzten. Denn das
Oberamt Horb besaß damals die (absolut und relativ) niedrigste Ärztedichte in ganz Württemberg: Laut einer Statistik gab es dort im Jahr 1896 für
rund 20.000 Einwohner nur drei approbierte Ärzte; danach kamen also auf
10.000 Einwohner nur rund 1,5 Ärzte (zum Vergleich: Die Zahl der Ärzte
pro 10.000 Einwohner für Württemberg lag im Jahr 1899 bei 4,253).
Es spricht demnach manches dafür, daß die Ärzte in Eugen Wenz einen
gefährlichen „Kurpfuscher“ sahen und ihn aus diesem Grund argwöhnisch
beäugten. Rückblickend sah Wenz in der ärztlichen Abwertung seiner Tätigkeit sogar einen der wichtigsten Gründe, das Marienbad zu schließen.
Als er sich Jahre später um eine Stellung bewarb, bemerkte er zu Mühringen in etwas undurchsichtigen Worten: „Veränderte örtliche Verhältnisse
und Umstände schränkten jedoch meinen Wirkungskreis derart ein, dass
ich meinen Unterhalt nicht mehr genügend finden konnte und ich das un49 Zu diesem Krankheitsbild siehe Max Höfler: Deutsches Krankheitsnamen-Buch.
München 1899, Stichwort „St. Veit“, S.765.
50 StA Bretten, SAM 28, S. 34. Mit „Dr. Sch.“ ist womöglich der damalige Horber
Oberamtsarzt Dr. Scheff gemeint.
51 Diesen Begriff gebrauchte ein Großteil der Ärzte in pejorativem Sinne und meinte
damit nach einem formalen Kriterium alle nichtapprobierten Heilkundigen. Zur Vielschichtigkeit des „Kurpfuscher“-Begriffes siehe Regin, Naturheilbewegung (wie Anm.
19), S. 351-357.
52 Statistisches Handbuch für das Königreich Württemberg Jahrgang 1901. Stuttgart
1902, S. 152f. Ein Indiz für die Richtigkeit der Statistik ist, daß nach Wenz’ Wegzug
von Mühringen im Jahr 1899 im folgenden Jahrbuch die Zahl der nichtapprobierten
Heilkünstler im Oberamt Horb mit Null angegeben wird.
53 Drees (wie Anm. 47), S. 165.
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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179
Der Laienheiler Eugen Wenz (1856-1945)
sichere Brot eines von Aerzten diskreditirten Heilkundigen mit einer kaufmännischen Stellung zu vertauschen beschloss“.54
Engagement in der homöopathischen und naturheilkundlichen
Laienbewegung
Dieser letzte Satz hört sich zunächst wie Resignation an, aber dem war keineswegs so. Wenz hat sich nach seiner Mühringer Zeit sogar verstärkt für
die medizinische Laienbewegung eingesetzt und dabei immer auch gegen
die Vorherrschaft der „Schulmedizin“ gekämpft. Von etwa November 1899
bis August 1902 war Wenz Vorsitzender des „Verbandes süddeutscher Vereine für Homöopathie und Naturheilkunde“, der sich zur Aufgabe gestellt
hatte, sämtliche in Süddeutschland bestehenden Vereine, die auf dem Boden der Homöopathie und Naturheilkunde standen, zusammenzufassen,
um „mit vereinten Kräften die Gesundheit und Wohlfahrt des Volkes zu
fördern“.55 Der Verband hatte 1897 rund 4700 Mitglieder.56 Nach 1908
arbeitete Wenz dann im „Zentralverband für Parität der Heilmethoden“
mit, der sich vehement gegen die drohende Abschaffung der Kurierfreiheit
wandte. Eugen Wenz war also nicht nur Heilpraktiker und Heiltheoretiker,
sondern auch medizinalpolitischer Kämpfer für die homöopathische und
naturheilkundliche Laien- und Laienheilerbewegung.
Der Erfolg der Naturheilanstalt und die Patientenschaft
Wieviele Patienten das Marienbad stationär aufnehmen konnte, ist nicht
bekannt. Aus einer Einschätzung für die Gebäudebrandversicherung57 geht
aber die Größe des Anwesens hervor. Danach umfaßte das Marienbad ein
zweistöckiges Wohnhaus und einen separaten überdachten Gewölbekeller.
Im Erdgeschoß dürfte sich die Gastwirtschaft befunden haben, die Wenz
zumindest bis September 1899 nebenbei betrieben hat. Außerdem gibt die
Akte für das Erdgeschoß zwei Badekabinette an. Im ersten Stock befanden
sich zwei heizbare und sieben nicht heizbare Zimmer sowie ein weiteres
Badlokal - die Zahl der möglichen Patienten dürfte deshalb höchstens bei
sechs oder sieben gelegen haben, da Wenz mindestens zwei oder drei Räume für seine Familie benötigte. Insgesamt standen drei Badewannen zur
Verfügung; das Wasser wurde mit Hilfe einer Pumpe direkt ins Haus geführt und in einem Reservoir erwärmt.58
54 StA Bretten, SAM 10.
55 Paragraph 2 der Revidierten Statuten des „Verbandes Süddeutscher Vereine für Homöopathie und Naturheilkunde“. Stuttgart 1900 (Stadtarchiv Bretten, SWF 26).
56 Homöopathische Monatsblätter 22 (1897), S. 113.
57 Gemeindearchiv Mühringen, „Protokoll für die durchgreifende Gebäudeeinschätzung
zur Gebäude-Brandversicherung im Jahr 1899“.
58 Gemeindearchiv
Mühringen,
Brandversicherung 1896“.
„Schätzungs-Protocoll
für
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die
Gebäude-
180
Thomas Faltin
Mit Flugblättern und Inseraten in einer Vielzahl von Zeitungen hat Wenz
versucht, das Marienbad bekannt zu machen. Dabei pries er Mühringen als
idealen Erholungsort: Das Marienbad „liegt in schönster Gegend des durch
seine vielen kohlensauren Quellen berühmt gewordenen Eyachthales, welches auch sonst wegen seiner Naturschönheiten und Romantik von Touristen häufig besucht wird. [...] Seiner gesundheitlich günstigen Lage wegen,
mildes subalpines Klima, am Fuße leicht zugänglicher Tannenwaldungen
gelegen, wird das Marienbad schon seit Jahren von Erholungsbedürftigen
und Leidenden gerne besucht“.59
Bei diesem letzten Satz muß jedoch der Wunsch als Vater des Gedankens
angesehen werden. Sowohl die offiziellen Zahlen des Medizinalkollegiums
als auch eine Auswertung des Patientenbuches ergeben: Das Erholungsheim
hatte eine katastrophal schlechte Auslastung.
Tabelle 2: Zahl der Kurgäste und der Wasseranwendungen im Marienbad (Quelle: Medizinal-Berichte von Württemberg für die
Jahre 1895-1898)
Jahr
davon männl.
davon weibl.
1895
Kurgäste
gesamt
1
1
0
warme Wannenoder Sitzbäder
?
1896
9
4
5
?
1897
20
10
10
300
1898
20
7
13
250
Das Patientenbuch bestätigt diese in der Tabelle genannten behördlichen
Zahlen weitgehend. Innerhalb der vier Mühringer Jahre, über die das Patientenbuch Auskunft gibt, lassen sich nur 30 Patienten nachweisen, die eindeutig stationär aufgenommen worden waren. Die Anstalt dürfte zu rund
60 Prozent der Zeit völlig leergestanden haben.
Einen kaum größeren Erfolg hatte Eugen Wenz bei seiner ambulanten Tätigkeit. Insgesamt hat Wenz laut Patientenbuch 444 Personen in 1521 Konsultationen behandelt.60 Statistisch gesehen kam also nur alle drei Tage ein
neuer Patient zu Wenz, pro Tag führte er im Durchschnitt gerade eine Konsultation durch.
Wie die nachfolgende Graphik zeigt, wohnten die meisten Patienten in der
allernächsten Umgebung. Darüber hinaus war Wenz kaum noch bekannt,
obwohl er immer wieder versucht hatte - zum Beispiel durch Zeitungsannoncen in Stuttgart, Reutlingen und Tübingen -, Anhänger der naturheil59 StA Bretten, Flugblatt „Das Erholungsheim Marienbad“, WP 3 Beilage.
60 Die 30 stationären Patienten sind hier mit eingerechnet.
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Der Laienheiler Eugen Wenz (1856-1945)
181
kundlichen und homöopathischen Methode aus der weiteren Umgebung
anzuziehen. Auch scheute Wenz keine Mühen, wenn es darum ging, entfernt wohnende Patienten zu behandeln: So machte er des öfteren in der
Gegend um Alpirsbach Hausbesuche, auch Fahrten nach Saulgau oder
Göppingen lassen sich nachweisen. Die stationären Patienten kamen ebenfalls zum großen Teil aus der Umgebung; einige wenige Patienten reisten
aus größerer Entfernung an: Es finden sich Personen aus Stuttgart, Sigmaringen, Nagold, Honau, Ebingen und sogar ein Patient aus Antwerpen.
Insgesamt muß man aber zu dem Schluß kommen, daß die Anstalt und die
Praxis lediglich eine lokale Funktion besaßen. Da Wenz Beschwerden fast
aller Art behandelte, kann man daraus schließen, daß er de facto ein nichtapprobierter Allgemeinmediziner für die nähere Umgebung Mühringens
war.
Tabelle 3: Herkunft der Patienten (in absoluten Zahlen. Quelle: Patientenbuch im StA Bretten, SAM 28).
Wenz’ Patientenschaft rekrutierte sich zum überwiegenden Teil aus Bauern,
Gastwirten und Handwerkern; diese Gruppen machten allein fast zwei Drittel der Patientenschaft aus. Aber auch Lehrer, Pfarrer, Bürgermeister und
Fabrikdirektoren gehörten in nicht unerheblicher Zahl zu Wenz’ Patienten.
Insgesamt spiegelte Wenz’ Patientenschaft recht genau die lokale Gesellschaftsschichtung wider. Die Vermutung, der Laienpraktiker Eugen Wenz
sei allein ein Arzt der Unterschichten gewesen, trifft jedenfalls keineswegs
zu, was schon der geringe Anteil von Hauspersonal und Tagelöhnern unter
der Patientenschaft Wenz’ beweist. Wenz’ Patienten kamen aus allen Bevölkerungsschichten.
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182
Thomas Faltin
Tabelle 4: Berufsstruktur der Patienten (in Prozent. Quelle: Patientenbuch im StA Bretten, SAM 28).
Allerdings wurde Wenz nicht von allen potentiellen Patienten akzeptiert.
Aus der schlechten Auslastung läßt sich indirekt schließen, daß die Anstalt
und die Praxis Wenz’ bei einem Großteil der Bevölkerung auf Desinteresse
stießen, denn eines wurde ja schon deutlich: Aufgrund der sehr geringen
Ärztedichte im ländlich strukturierten Oberamt Horb hatten die kranken
Menschen grundsätzlich nur wenige andere Möglichkeiten, sich ärztlich
behandeln zu lassen - trotzdem wandten sich nur relativ wenige Menschen
an Wenz.61
Allein von den Patienten der näheren Umgebung zu leben, erwies sich als
unmöglich, und Anhänger der naturheilkundlichen und homöopathischen
Methode aus dem weiteren Umkreis anzuziehen, war Wenz nicht gelungen.
Die wichtigste Frage in diesem Zusammenhang lautet: Warum konnte
Wenz das auch in der Umgebung vorhandene Reservoir potentieller Patienten nicht ausschöpfen? Lag es an der Person Wenz’, dem die Bevölkerung
nicht vertraute, lag es an seinem speziellen, womöglich nicht wirksamen
kombinierten Naturheilverfahren, oder vielleicht sogar an einem allgemeinen Mißtrauen gegenüber der Naturheilkunde und der Homöopathie? Auszuschließen ist auch letzteres nicht, denn Untersuchungen62 haben gezeigt,
61 Als Wenz sich im Jahr 1913 in Bretten als Heilkundiger niederließ, traf er deshalb
Vorkehrungen, eine ausreichende Zahl von Patienten anzuziehen. Er trat schon kurz
nach seiner Ankunft in den homöopathischen Verein Bretten ein und hatte womöglich sogar die Funktion des Vereinsarztes inne, wodurch er sich ein gewisses Potential
an Patienten sicherte.
62 So zum Beispiel: Renate Wittern: Natur contra Naturwissenschaft. Zur Auseinandersetzung zwischen Naturheilkunde und Schulmedizin im späten 19. Jahrhundert (= Erlanger Universitätsreden Nr.37/1992 3. Folge), S. 10. Überhaupt waren die Laienbewegungen in den 1890er Jahren erst allmählich am Erstarken. So existierte der größte
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
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Der Laienheiler Eugen Wenz (1856-1945)
183
daß vor allem die Naturheilkunde ihre Anhänger vorwiegend in den Städten gefunden hat und sehr viel weniger auf dem Land, zu dem Mühringen
mit seinen damals 900 Einwohnern zu rechnen ist. Eine Gewichtung der
möglichen Ursachen für das Scheitern Wenz’ wäre aber reine Spekulation.
Das Beispiel Eugen Wenz zeigt jedoch, daß die Laienheiler um die Jahrhundertwende zwar von Menschen aller Gesellschaftsschichten als ärztliche
Alternative in Betracht gezogen wurden, daß sie aber umgekehrt nicht nur
bei den Schulmedizinern, sondern auch in der (ländlichen) Bevölkerung auf
große Vorbehalte stoßen konnten.
Weiter stellt sich natürlich die Frage, inwieweit diese Einzelfallstudie repräsentativ ist. Ein Indiz dafür, daß Eugen Wenz keine Ausnahme war, bieten
wiederum die Medizinal-Berichte für Württemberg: Danach wurden zwischen 1885 und 1895 in Württemberg 24 Badeanstalten bzw. Heilbäder63
von nichtapprobierten Personen gegründet. Von diesen 24 Anstalten wurden 15, also 62 Prozent, in den Jahren bis 1904 wieder geschlossen. Die
durchschnittliche Lebensdauer der eingegangenen Anstalten lag bei gerade
7,5 Jahren. Viele andere Laienheiler scheinen also mit ähnlichen Problemen
wie Wenz gekämpft zu haben.
Finanzielles Desaster
Die miserable Auslastung hatte natürlich zur Folge, daß das Marienbad selbst unter Einschluß der Gastwirtschaft - Wenz und seiner Familie kein
Einkommen sichern konnte. Aufgrund des erhaltenen Rechnungsbuches64
läßt sich der genaue Umsatz Wenz’ bestimmen. Danach verfügte Wenz zwideutsche Dachverband für Naturheilvereine, der „Deutsche Bund der Vereine für Gesundheitspflege und arzneilose Heilweise“, erst seit 1889 und hatte 1896 gerade 60.000
Mitglieder in ganz Deutschland (1912 waren es rund 150.000; nach Regin, Naturheilbewegung, wie Anm. 19, S. 45). Weiter ist zu berücksichtigen, daß die naturheilkundliche Laienbewegung in Süddeutschland grundsätzlich nicht sehr ausgeprägt war,
sondern ihre Schwerpunkte in Mitteldeutschland hatte, wie Gunnar Stollberg nachgewiesen hat (Gunnar Stollberg: Die Naturheilvereine im Deutschen Kaiserreich. In:
Archiv für Sozialgeschichte 28 (1988), S. 287-305, hier S. 291). Für die homöopathische Laienbewegung gibt Eberhard Wolff dagegen an, daß sich auch in ländlichen
Gegenden Laienvereine gebildet haben (Eberhard Wolff: „... nichts weiter als eben einen unmittelbaren persönlichen Nutzen ...“. Zur Entstehung und Ausbreitung der
homöopathischen Laienbewegung. In: Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung 4 (1985), S. 61-97, hier S. 66). Über die nichtorganisierten Anhänger der Naturheilkunde und der Homöopathie lassen sich für die Zeit
um 1900 keine Angaben machen. Zur homöopathischen Laienbewegung siehe auch
Eberhard Wolff: Gesundheitsverein und Medikalisierungsprozeß. Eine Studie am Beispiel des Homöopathischen Vereins Heidenheim/Brenz zwischen 1886 und 1945.
Tübingen 1989.
63 Nach den Medizinal-Berichten von Württemberg für die Jahre 1895-1904. Nicht bei
allen diesen 24 Anstalten ist gesichert, daß in ihnen auch medizinische Behandlungen
vorgenommen wurden; alle verabreichten aber zumindest Warm- oder Kaltbäder.
64 StA Bretten, WP 3.
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184
Thomas Faltin
schen 1897 und 1901 über eine Summe, die zwischen 3000 und 6700 Mark
jährlich lag. Von diesem Geld müssen aber noch die Aufwendungen für
Wareneinsatz, Arzneien etc. abgezogen werden; außerdem sind hier auch
die außergewöhnlich hohen Sondereinnahmen wie Erbschaften und Darlehen bereits eingerechnet, deren Erwirtschaftung nicht auf das Marienbad
zurückzuführen ist. Nach einer Berechnung des Autors, durch die das Nettoeinkommen Wenz’ annähernd ermittelt werden konnte, erzielte Wenz
gerade etwa 15 Prozent seiner Erträge mit der Naturheilanstalt, ungefähr ein
Viertel mit der Pension und der Gastwirtschaft.
Tabelle 5: Nettoeinnahmen Eugen Wenz´ nach den verschiedenen "Geschäftszweigen" (Schätzung des Autors nach dem Cassabuch
im StA Bretten, WP 3).
Zur Einschätzung der Kaufkraft der Einnahmen eignet sich eine Aufstellung, die Wenz auf der dritten Seite des Rechnungsbuches eingetragen hat:
Danach veranschlagte er allein die Kosten für die Lebensmittel, die seine
siebenköpfige Familie (Wenz, seine Frau, vier Kinder aus erster Ehe der
Frau und das Dienstmädchen) benötigte, auf jährlich zwischen 1584 und
2420 Mark. Rechnet man vom Umsatz die Aufwendungen ab, so blieb
Wenz mit ziemlicher Sicherheit nicht einmal diese Summe für die Verpflegung der Familie übrig. Aus diesem Grund mußte Wenz auch immer wieder Darlehen aufnehmen.
Die desolate wirtschaftliche Situation dürfte schließlich der Grund gewesen
sein, weshalb Eugen Wenz im Oktober 1899 Mühringen vorerst verließ
und in Stuttgart einen Neuanfang versuchte.65 Es muß Wenz bewußt gewesen sein, daß mit diesem Schritt große Risiken verbunden waren, denn in
Stuttgart fand er eine weitaus härtere Konkurrenzsituation vor als in Mühringen. In Stuttgart waren im Jahr 1901 immerhin 204 approbierte Ärzte
65 Das Marienbad hat er 1899 beim Medizinalkollegium auch offiziell abgemeldet (Medizinal-Bericht von Württemberg für das Jahr 1899, S. 94).
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Der Laienheiler Eugen Wenz (1856-1945)
185
und 72 nichtapprobierte Heilkundige tätig.66 Die Ärztedichte lag danach
bei 17,4 Ärzten pro 10.000 Einwohner; auf die gleiche Einwohnerzahl kamen zudem noch 6,2 nichtapprobierte Heilkundige.
Allerdings muß man berücksichtigen, daß Wenz in der Landeshauptstadt
bei weitem nicht so exponiert war wie in Mühringen; außerdem spezialisierte sich Wenz nun und hoffte vielleicht, damit eine unbesetzte heilkundliche
Nische zu besetzen. In der Calwerstraße 33 eröffnete er ein „Elektrisches
Heilinstitut“, das er in einem Flugblatt folgendermaßen charakterisierte:
„Kuranstalt für die gesammte moderne Elektrotherapie, speziell elektrischgalvanisch-magnetische Behandlung, elektrische Wasser- und Lichtbäder,
sowie Vibrations-Massage, nach bewährtem, von Aerzten empfohlenen System, mit elektrischem Motorbetrieb“.67
Doch Wenz erlitt mit diesem Institut abermals Schiffbruch. Keine zwei Jahre später, im Juli 1901, gab er die Stuttgarter Anstalt - zunächst nach einem
Umzug in kleinere Räume - endgültig auf und kehrte nach Mühringen zurück. Unklar ist, was in diesen beiden Stuttgarter Jahren mit dem Marienbad geschehen war. Wenz hat dort mit Sicherheit nicht mehr praktiziert;
möglich wäre aber, daß seine Frau die Gastwirtschaft weiterbetrieben hat.
Auch nach seiner Rückkehr hat Wenz das Marienbad nicht mehr wiederbelebt.68 Aufgrund einiger Indizien kann man annehmen, daß Wenz sich ab
August 1901 auf eine völlig andere Erwerbsquelle konzentriert hat. Am 10.
August meldete Wenz in Mühringen den „Wohlfahrtschriftenvertrieb und
Verlag“ an, in dem er „theils provisionsweise theils für eigene Rechnung“69
Schriften herausgab und verkaufte. Es handelte sich dabei vorwiegend um
medizinische und theologische Schriften. In drei erhaltenen Flugblättern des
Verlages beschäftigte sich Wenz, unter dem Pseudonym „Theophilus germanicus“ (der deutsche Gottliebende), mit religiösen Fragen.70 Wenz
kommt nun also zu seinem früheren Thema zurück und wird ihm zukünftig, in Verbindung mit politischen Ideen, auch treu bleiben.
Doch auch dieses Unternehmen scheint nicht von Erfolg gekrönt gewesen
zu sein. Am 31. August 1904 meldete Wenz den Verlag wieder ab, und mit
diesem Tag verließ er Mühringen für immer. Sein Wegzug muß als Schei66 Medizinal-Bericht von Württemberg für das Jahr 1901, S. 20f.
67 StA Bretten, Flugblatt „Elektrisches Heilinstitut Stuttgart“, WP 3 Beilage.
68 Das Patientenbuch bricht mit der Aufgabe des Stuttgarter Instituts ab. Auch in den
Medizinal-Berichten taucht Wenz nicht mehr auf.
69 Gemeindearchiv Mühringen, Akte „Verzeichnis der Gewerbe-Anzeigen“, Nr.408, 436
und 440.
70 E.W.: Ein deutsch-christliches Manneswort über die menschlichen Ehrbegriffe und
des Christen-Menschen wahre Ehre. E.W.: Ein deutsch-christliches Manneswort an
Deutschlands Männer und Frauen in ernster Zeit. E.W.: Was dünket Dich von Christo, wes Sohn ist er? Eine zeitgemäße Betrachtung für denkende Christen, nebst einem
prophetischen Ausblick auf die Wiederkunft Christi. (alle StA Bretten, DW 7).
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
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Thomas Faltin
tern interpretiert werden: In Ebingen, wohin Wenz jetzt ging, war er wieder
vorwiegend als Kaufmann tätig. Erst 1913, als er sich in Bretten niederließ,
eröffnete er wieder eine eigene Praxis. In Ebingen wandte sich Wenz stärker
gesellschaftspolitischen Themen zu, zu denen er sich aus seiner religiösen
Perspektive äußerte; sichtbarster Ausdruck seines Engagements war die
Gründung des „Deutschen Wohlfahrtsbundes“. Er starb, verarmt und vereinsamt, am 22. August 1945 in einem Altersheim in Ottersweier.
Zusammenfassung
Der Laienheiler Eugen Wenz wurde von mehreren Seiten in seinem Heilgewerbe beeinträchtigt. Die Krankenkassen honorierten seine ärztliche Tätigkeit nicht, die Medizinalbehörden versuchten zunächst, die Gründung
des Marienbades zu verhindern, und auch die approbierten Ärzte der Umgebung scheinen Wenz in der Ausübung seiner heilkundlichen Tätigkeit
behindert zu haben. Zuletzt fehlte Wenz auch der notwendige Zulauf an
Patienten; die schlechte Auslastung des Marienbades führte schließlich zu
einem finanziellen Bankrott. Ein statistischer Vergleich deutet darauf hin,
daß andere Laienheiler mit ähnlichen Problemen gekämpft haben. Ob die
mangelnde Zahl von Patienten an einem Mißtrauen der Bevölkerung gegenüber Wenz’ persönlichem Heilverfahren oder allgemein gegenüber der
alternativen Medizin lag, muß offen bleiben.
Die soziale Herkunft von Eugen Wenz widerlegt teilweise das Bild, daß die
Forschung bisher von der Berufsgruppe der Laienheiler gezeichnet hat. Für
den Heilberuf entschied er sich aufgrund eines hohen, religiös motivierten
Ethos.
Summary
The article describes the social and medical profile of the lay healer Eugen Wenz (18561945) during his first period of medical activity as owner of the naturopathic and homoeopathic establishment „Marienbad“ in Mühringen in the years 1895-1899. Wenz was severely restricted in his activities: the health insurance schemes did not reimburse him, the
medical authorities of Württemberg attempted at first to prevent the foundation of the
‘Marienbad’ and the doctors of the surrounding area interfered several times in his medical
treatment. Finally Eugen Wenz appears not to have been accepted by the population of the
district (Oberamt), since the Marienbad was very poorly frequented and so unable to provide Wenz with a secure income. A statistic comparison shows that many other lay healers
seemes to have been confronted with similiar problems. The social profile of Eugen Wenz
disproves partially the general picture of the profession of German lay healers depicted by
research in medical history hitherto.
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
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Kleingartenbewegung und Arbeitergesundheit 1
Ingrid Matthäi
1.
Die Armengärten des frühen 19. Jahrhunderts
Die Entstehung und Ausbreitung von Kleingärten ist ein relativ neues und
modernes Phänomen, das eng mit den Industrialisierungs- und Verstädterungsprozessen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts verbunden ist. Indirekte Vorläufer waren die städtischen Armengärten, die bereits zu Beginn
des damaligen Jahrhunderts in einigen Kommunen2 zur Versorgung der
marginalisierten Schichten eingerichtet wurden. Diese Armengärten oder
Kartoffeläcker wurden von den städtischen Verwaltungen als obrigkeitliche
Maßnahme ortsansässigen Armen und kinderreichen Familien zur Verfügung gestellt, um die kommunalen Armenkassen zu entlasten. Gleichzeitig
konnte bei sehr geringen Investitionskosten ein beachtlicher Gewinn für die
Kommune durch Erhebung von Pachtzinsen erzielt werden3. Für die Gemeindeverwaltungen war offensichtlich, daß „mit verhältnismäßig sehr geringen Kosten den Armen eine Wohltat, gleichzeitig aber auch der Kommune ein Vorteil“ entstehen würde4. Neben der Funktion, einen Beitrag zur
Subsistenz durch Nahrungsmittelproduktion zu leisten, um die existentielle
Not der Pauperisierten zu mildern, dienten die Armengärten gleichzeitig als
Erziehungsinstrument, „um die noch arbeitsfähigen, aber arbeitsscheuen
Armen zur Arbeit anzuhalten und sie an Arbeit zu gewöhnen“, wie es in
Kiel aktenkundig vermerkt ist5. Restriktive Gartenordnungen, die genau
vorschrieben, was gepflanzt werden durfte und in welcher Weise der Garten
zu nutzen war, sowie der Einsatz staatlicher Aufseher, die Verstöße mit sofortigem Gartenentzug bestraften, bedingten eine totale Kontrolle und waren einer affektiven Bindung an den Garten bzw. einer intensiven und auf
einen längeren Zeitraum angelegten Nutzung nicht förderlich, denn die
1
Dieser Aufsatz ist eine überarbeitete Fassung meines auf der IGA '93 in Stuttgart gehaltenen Vortrags im Rahmen der Ringvorlesung „Gesundheit und Garten“, die von
der Robert Bosch Stiftung veranstaltet wurde.
2
Armengärten wurden u.a. in den Städten Kiel, Flensburg, Königsberg, Frankfurt/M.,
Leipzig und Berlin eingerichtet. Vgl. genauere Übersicht bei Karl Wille: Entwicklung
und wirtschaftliche Bedeutung des Kleingartenwesens. Frankfurt/Oder 1939.
3
Vgl. Bericht über die Gemeindeverwaltung der Stadt Berlin im Jahre...1841/50.
1851/60. 1853/63. Bis auf das Jahr 1847 machte die Kommune regelmäßig einen beachtlichen Netto-Gewinn durch die Vergabe von Kartoffeläckern. Pro Parzelle standen
z.B. im Jahr 1850 städtischen Ausgaben von 1,15 Reichstalern Einnahmen von 2,15
Reichstalern gegenüber, was der Kommune einen Reingewinn von rund 735 Reichstalern bescherte.
4
Bericht über die Gemeindeverwaltung der Stadt Berlin in den Jahren 1853/63. S. 219.
5
Vgl. Wille (wie Anm. 2), S. 16, der ausführlich das Kieler Modell anhand der Akten
aus dem Stadtarchiv rekonstruierte.
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
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Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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190
Ingrid Matthäi
Angst vor dem permanent drohenden Entzug des Besitzes verhinderte ein
stärkeres Engagement.
Hinter der Idee der Armengärten standen sozialpolitische Interessen des
Obrigkeitsstaates: Neben der Disziplinierung und Erziehung sowie der Sicherung eines gewissen Existenzminimums wurden erstmals auch Gedanken zur Gesundheitsvorsorge in Verbindung mit Gartenarbeit geäußert.
Man erkannte, daß körperliche Betätigung in freier Natur der Gesundheit
förderlich sein und zudem dazu beitragen konnte, das Individuum zu einem
„angenehmen Staatsbürger und brauchbaren Glied der Gemeinschaft“6 zu
erziehen.
Allerdings war diesem Experiment kein langes Leben beschert; in den 80er
Jahren des letzten Jahrhunderts wurden die verbliebenen kommunalen Armengärten wieder aufgelöst. Das lag zum einen an den restriktiven Gartenordnungen und den sich abzeichnenden Alternativgründungen der
Schreber- und sonstigen Kleingartenbewegungen, zum anderen aber auch
daran, daß Grund und Boden aufgrund der starken Expansion der Städte
immer kostbarer und damit zum Spekulationsobjekt wurden, so daß die
Landvergabe an Arme keinen Gewinn mehr brachte bzw. die städtischen
Kassen nicht mehr entlastete.
2.
Ursachen und Entstehungsbedingungen der Kleingärten
Kleingärten7 i.e.S. entstanden ab den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts, wobei allerdings nach verschiedenen Bewegungen differenziert werden muß.
Es gab nicht die Kleingärtnerbewegung, sondern sie zerfiel in Schreber-,
Laubenpieper-, Lebensreform- und Arbeitergärtenbewegungen, denen gänzlich unterschiedliche ideelle, soziale und politische Motive zugrunde lagen
und die sich teilweise ideologisch vehement bekämpften8. Diese sogenannten „freien“ Kleingartenbewegungen unterschieden sich wesentlich von den
Modellen der Armengärten, die als dirigistische Maßnahmen von „oben“
gegründet worden waren, während jene - bis auf die Arbeitergärten - als
voluntaristische Gruppierungen von „unten“ entstanden.
Die Ursachen für die Entstehung der Kleingärten im letzten Drittel des 19.
Jahrhunderts sind eng mit der historischen Situation der damaligen Zeit
verknüpft, die von starken wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und sozialen
Umbrüchen gekennzeichnet war, welche das Leben der Individuen nachhaltig veränderten und traditionelle Lebensentwürfe obsolet werden ließen.
6
Paul Brando: Kleine Gärten - einst und jetzt. Hamburg 1965. S. 12.
7
Die besondere Charakteristik von Kleingärten liegt darin, daß sie sich durch eine
räumliche Trennung von Wohnung und Garten auszeichnen und daß eine räumliche
Verbundenheit mit anderen Parzellen besteht, die zu einer Kolonie bzw. Anlage zusammengefaßt sind. Die Parzellen sind kein Eigentum der Nutzer, können also nicht
käuflich erworben, sondern lediglich gepachtet werden.
8
Vgl. Ingrid Matthäi: Grüne Inseln in der Großstadt. Marburg 1989. S. 147 ff.
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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Kleingartenbewegung und Arbeitergesundheit
191
Kennzeichnend für die neu heraufkommende Epoche nach Gründung des
Deutschen Reichs war eine stark forcierte Industrialisierung mit den Folgen
einer Ost-West-Binnenwanderung nie gekannten Ausmaßes9, einer immensen Verstädterung durch Landflucht und Wanderung, die große soziale
Probleme für die rasch wachsenden Kommunen heraufbeschwor. Die Menschen wurden aus alten Bindungen herausgelöst und waren auf der Suche
nach neuen Orientierungen und neuen Lebensformen: Das Phänomen der
Massengesellschaft war entstanden. Gleichzeitig wandelte sich Deutschland
vom überwiegenden Agrarstaat zum Industriestaat, was einen enormen Bedarf an Arbeitskräften weckte, der nicht mehr allein aus der heimischen
ländlichen Bevölkerung rekrutiert werden konnte. So setzte in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts eine riesige kontinentale Ost-West-Wanderung
ein, die das Land von einem Auswanderungsland zu einem Einwanderungsland machte und die nur wenige Jahre zurückliegende große Auswandererwelle nach Übersee ablöste. Regionale Ziele der Zuwanderung waren
vor allem Berlin, das Ruhrgebiet und Sachsen. Die Sogkraft der neuen Industriezentren sowie der entstehenden Metropolen wie Berlin auf die Landbevölkerung war enorm. Innerhalb der Zeit von 1850 bis 1870 verdoppelte
sich die Berliner Bevölkerung auf 825 Tausend, bis 1900 verfünffachte sie
sich10. Von 1880 bis 1907 strömten beispielsweise über 1,2 Mio Zuwanderer ins Rheinland und nach Westfalen11. Im Jahr 1910 war jeder fünfte
Einwohner zu einem Großstädter geworden.
Wir können damit vielleicht ermessen, welch tiefgreifende Veränderungen
die damalige Gesellschaft durchdrangen und welche Probleme sich daraus
ergaben. Diese Transformationsprozesse spielten sich innerhalb von ein bis
zwei Generationen ab und mußten erst einmal auf individueller Ebene verarbeitet werden. Alte Familienstrukturen lösten sich auf, moralisch-ethische
Bindungen und Normen lockerten sich. Die Zuwanderer und Landflüchtlinge benötigten dringend Wohnraum, soziale Unterstützung und Möglichkeiten, sich von der schweren Fabrikarbeit zu erholen.
Die Arbeits- und Lebensbedingungen zu Beginn des Industriezeitalters waren für die Mehrzahl der Arbeiter und Marginalisierten erdrückend und für
heutige Verhältnisse kaum mehr vorstellbar12. Neben der physischen Ausbeutung bei einem 10-12 Stundentag und einer 6-Tage-Woche, minimalen
Löhnen und menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen kam noch eine
9
Vgl. Jürgen Kuczynski: Geschichte des Alltags des deutschen Volkes. 4. 1871-1918.
Köln 1982. S. 176 ff. Vgl. Jürgen Reulecke: Geschichte der Urbanisierung in Deutschland. Frankfurt 1985. Vgl. Wolfgang Köllmann: Bevölkerung in der industriellen Revolution. Göttingen 1974.
10 Vgl. Kuczynski (wie Anm. 9), S. 182.
11 Vgl. Reulecke (wie Anm. 9), S. 68 ff.
12 Vgl. dazu die Beschreibungen im Sammelband von Jürgen Reulecke u. Wolfhard
Weber (Hg.): Fabrik - Familie - Feierabend. Wuppertal 1978.
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immense Wohnungsnot hinzu, was zu hoher Überbelegung von Wohnungen und unhygienischen, gesundheitsgefährdenden Zuständen führte. Besonders die Mietskasernen in Berlin waren unter diesen Aspekten berüchtigt, denn die Menschen wohnten meist in
dunklen, oft genug feuchten, schmutzigen und stickigen Räumen, bisweilen ohne Heizung, ohne Licht und Lüftung, voll Ungeziefer, Pilzbefall und übler Gerüche; mit
Abort auf dem Treppenpodest oder auf dem Hof; benutzt von mehreren Mietpartien,
nicht selten bis zu 45 Personen; mit Schlafräumen, in denen häufig fünf, sechs oder
mehr Personen die Nacht verbringen mußten13.
Viele Familien waren zudem gezwungen, sogenannte Schlafgänger, also
fremde Personen, in ihre vielfach bereits überbelegten Wohnungen aufzunehmen, um die Mieten zahlen zu können14. Die Überbelegung, aber auch
der Mangel an sanitären Anlagen und unhygienische Verhältnisse machten
die Wohnungen zu Brutstätten chronischer Erkrankungen und waren einer
stabilen Gesundheit sicherlich abträglich. Diese desolaten, beengten häuslichen Zustände, die keinerlei Privatsphäre oder Rückzugsmöglichkeiten für
den einzelnen zuließen, verleiteten die Bewohner häufig zur Flucht nach
draußen, zu Wirtshausbesuchen mit exzessivem Alkoholkonsum, nicht selten führten sie zur Verwahrlosung, wie zeitgenössische Quellen vermerkten15.
Die Menschen, die unter solch unwürdigen und gesundheitsgefährdenden
Bedingungen leben mußten, besaßen keine grünen Freiflächen in Wohnungsnähe, noch viel weniger einen eigenen Hausgarten16, sondern waren
zur damaligen Zeit auf die wenigen öffentlichen Parkanlagen angewiesen,
die selten genug existierten, da der Boden Spekulationsobjekt und damit ein
teures - oft zu teures Gut war, um daraus öffentliche Grün- und Freizeitflächen zu machen. Naturerlebnis und Gartenbesitz waren somit das privilegierte Vorrecht des Bürgertums und damit Klassenvorrecht17. Die gärtnerisch gestaltete Natur in der Stadt hatte Zeichencharakter, sie trennte nicht
13 Gesine Asmus (Hg.): Hinterhof, Keller, Mansarde. Hamburg 1982. S. 8.
14 Vgl. die Darstellung über das Schlaf- und Kostgängertum im Ruhrgebiet bei FranzJosef Brüggemeier u. Lutz Niethammer: Schlafgänger, Schnapskinos und schwerindustrielle Kolonie. In: Reulecke/Weber (wie Anm. 12), S. 178.
15 Vgl. Friedrich Coenen: Das Berliner Laubenkoloniewesen. Göttingen 1911. (Schriften
des Ansiedlungs-Vereins Groß-Berlin. 10). S. 6.
16 Vgl. Alfred Erlbeck: Die sozialhygienische und volkswirtschaftliche Bedeutung der
Kleingärten für die städtische Bevölkerung. In: Gesundheit 40 (1914), S. 26. Er weist
nach, daß 1915 in den deutschen Großstädten nur jede hundertste Familie im Besitz
eines eigenen Gartens war. Er hält dieses Faktum im Hinblick auf den gesundheitlichen und moralischen Wert bzw. den volkswirtschaftlichen Nutzen des Gartens für
höchst bedenklich, da für jeden fehlenden Garten „ohne weiteres Alkohol, Krankheit
und unglückliches Familienleben als Eigenfaktoren in Rechnung gestellt werden können“.
17 Vgl. Leberecht Migge: Die Gartenkultur des 20. Jahrhunderts. Jena 1913. S. 4.
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Kleingartenbewegung und Arbeitergesundheit
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nur die Besitzlosen von den Besitzenden, sondern auch die „wilde“ Natur
vom „Kunstwerk“ Garten und damit die „Kulturlosen“ von den „Kulturmenschen“.
Aber es gab bereits damals weitsichtige Politiker, wie den Posener Oberbürgermeister Wilms, die auf die Bedeutung privater Grünflächen für die
unteren Schichten hinwiesen und eine weitergehende Entfremdung von der
Natur für schädlich hielten.
Der Zusammenhang mit der Natur ist in unseren Großstädten jedenfalls für die weniger bemittelten Klassen fast ganz zerstört. Der Anblick der Natur beschränkt sich
meist auf den Genuß mehr oder weniger schöner öffentlicher Anlagen und ab und zu
einmal an einem Sonntage auf einen Ausflug ins Freie. Die Mietskaserne schließt den
Hausgarten von selbst aus. Weite Volksschichten sind naturfremd geworden [...] Das
schnelle Anwachsen der Großstädte hat auf diesem Gebiete einen für die gesundheitliche und sittliche Entwicklung unserer Bevölkerung verhältnismäßig ungünstigen Einfluß ausgeübt [...] Die Schaffung eines Stückes Hausgarten in nächster Verbindung
mit der Wohnung liegt außerhalb des Rahmens der Möglichkeit in unseren Großstädten, besonders dort, wo die Mietskaserne gegenüber dem Eigenhause das Übergewicht
hat. Hier kann nur die Anlage von sogenannten Schreber- oder Familiengärten einen
gewissen Ausgleich bilden, die möglichst in allen Stadtteilen vorhanden sein sollen18.
Wilms konstatierte einen engen Zusammenhang zwischen physischer und
psychischer Gesundheit und der Nähe zur Natur, wobei die (Klein-) Gärten
fraglos ein „Gegengewicht gegen die gesundheitlichen Schädigungen der
Großstadt“ bilden sollten19.
Für die zumeist aus ländlichen Regionen stammenden Zuwanderer dürfte
der Verlust am Zugang zur und dem unmittelbaren Umgang mit der Natur
besonders schmerzlich gewesen sein. Um den urbanen Mißständen zu entfliehen, errichteten viele Berliner Proletarierfamilien in Eigeninitiative und
häufig ohne ausdrückliche Legitimation Parzellen auf unbebautem Gelände,
das bis zu einer späteren Erschließung brachlag, oder pachteten von Baulandgesellschaften, Kommunen oder Privatpersonen Grundstücke, um sie
als privaten, weitgehend ungestörten Freiraum zu nutzen. Als erstes wurde
meist eine Laube, die sich oft als primitiver Bretterverschlag entpuppte, errichtet, um einen Teil der Freizeit außerhalb der Wohnung zubringen zu
können. In Fällen akuter Wohnungsnot oder drohender Exmission wurden
Lauben auch als Behelfswohnungen ausgebaut und zum vorübergehenden
Wohnen genutzt.
Bei den in Berlin zahlreich aus dem Boden sprießenden Laubenkolonien20
war weniger der Garten an sich als der Wohnraum im Freien, der im Ge18 Wilms: Erfahrungen mit der Ausgabe von Land zur Wohlfahrts- und Armenpflege.
In: Jahrbuch der Bodenreform 6 (1910), S. 293-314, hier S. 294.
19 Wilms (wie Anm. 18), S. 295.
20 Vgl. Coenen (wie Anm. 15), S. 13 ff. Er erwähnt für 1907 bereits 40.000 unorganisierte Laubenkolonisten in Berlin, während Mangoldt von ca. 30.000 Kleingärtnern ausgeht. Vgl. Karl von Mangoldt: Die städtische Bodenfrage. Göttingen 1907. (Die Wohnungsfrage und das Reich. 8). S. 677.
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gensatz zu den überfüllten Wohnungen eine gewisse Privatsphäre garantierte, das ausschlaggebende Motiv für den Gartenbesitz.
Erst später begann man rund um die Lauben kleine Gärten oder Beete anzulegen und sie mit Zäunen gegen die Außenwelt abzugrenzen. Durch den
Anbau von Gemüse und Obst wurde die Ernährung abwechslungsreicher
und gesünder, da die meist aus Kartoffeln bestehende Hauptnahrung dieser
proletarischen Schichten nun mit Vitaminen angereichert werden konnte.
Fleisch und Fett gab es so gut wie nie, und das selbst geerntete Gemüse war
eine willkommene Bereicherung des monotonen Küchenzettels sowie ein
erster Schritt zu einer ausgewogeneren und gesünderen Ernährung.
Da man aber keine rechtliche Absicherung über einen langfristigen Pachtvertrag hatte, wußte man nie, wie lange man die Parzelle behalten konnte,
so daß jeweils nur das absolut Notwendigste angebaut wurde und sich die
Investitionen auf ein Minimum beschränkten. Daraus entwickelten sich
häufig Klagen über die Verschandelung der Gegend, die durch wilde Laubenkolonien verursacht waren. Die sogenannten „wilden“ Laubenkolonien
waren ein Spezifikum Berlins. Sie wurden deshalb so genannt, weil sehr
häufig unbebautes fremdes Areal illegal in Besitz genommen wurde, aber
auch, weil von ihrer äußeren Erscheinung her kein einheitliches, normiertes
oder besonders ästhetisches Bild vermittelt werden konnte. Diese Kolonien
spiegelten einerseits die Not und das Elend der Massen wider, andererseits
aber auch die daraus resultierende Selbsthilfe der Betroffenen.
Sehr schnell erkannten die Terrain- und Bodengesellschaften diesen neuen
Bedarf an privaten Grünflächen und verpachteten den Boden vorübergehend an meistbietende Generalpächter, die das Land parzellierten und an
die einzelnen Kleingärtner unterverpachteten21. Die Generalpächter wiederum konnten nach Belieben die Pachtpreise bestimmen und hatten damit
ein Druckmittel, sich unbequemer und renitenter Kleinpächter zu entledigen, was besonders auf klassenbewußte und organisierte Arbeiter zutraf22.
Bei Mißachtung von Anordnungen drohte der sofortige und entschädigungslose Entzug des Gartens. Die Kleingärtner waren damit dem Treiben
der Generalpächter völlig ausgeliefert, da sie über keinerlei rechtliche Absicherung verfügten. Diese sittenwidrige Praxis sollte später auch dazu führen, daß die Berliner Laubenpieper, wie sie sich bis heute nennen, began-
21 Damit ersparten sich die Bodeneigentümer viel Verwaltungsaufwand, da sie es nur mit
einem einzelnen Generalpächter und nicht einer Vielzahl an Gartenbesitzern zu tun
hatten.
22 Vgl. die Darstellungen zum Generalpachtsystem bei Coenen (wie Anm. 15) und vgl.
W. Reinhold: Die Entwicklung des Berliner Kleingartenwesens von seiner Entstehung
bis 1921. In: H. Förster [u.a.]: Geschichte des deutschen Kleingartenwesens. Frankfurt
1931. S. 27-39.
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nen, sich ihre eigene Organisation zu schaffen, was aber erst nach zähen
Kämpfen gelang, zumal ihnen auch staatliche Repressalien drohten23.
Im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts mußten die Laubenpieper nicht nur
gegen die Generalpächter, sondern auch gegen eine mißtrauische Behörde
ankämpfen, die deren Aktivitäten als störend empfand und zu vereiteln
trachtete24. Die Behörden befürchteten eine zunehmende Politisierung unter
der überwiegend proletarisch ausgerichteten Kleingärtnerschaft und eine
Indoktrination besonders durch Teile der aktiven Arbeiterschaft, zu der
gewerkschaftlich organisierte oder sozialdemokratisch und kommunistisch
orientierte Arbeiter zählten. Von daher wurde diese Kleingartenbewegung
von den staatlichen Organen voller Mißtrauen beobachtet. Die tatsächlich
traditionell enge Verbindung der Laubenkolonisten mit proletarischen und
sozialdemokratischen Bewegungen führte zu verstärkten Polizeiaktionen
und nächtlichen Razzien in den Kleingärten und löste eine Verschärfung
der gesetzlichen Bestimmungen aus, die ein Verbot der Sonntagsarbeit im
Garten, sonntägliches Feuerstättenverbot und generelles Versammlungsverbot auf den Parzellen zum Inhalt hatten. Außerdem wurde eine Besteuerung
der Feuerstätten erlassen und die Übernachtung in den Lauben grundsätzlich verboten. Hinzu kam eine tendenziöse Berichterstattung in den bürgerlichen Medien, die bewußt Stimmung gegen diese proletarische KleingartenBewegung machte.
In Anbetracht der zahllosen Mißstände politisierte sich der Bund der Laubenkolonisten, wie er sich ab 1910 nannte, tatsächlich zusehends. Die Forderungen, die die Laubenkolonisten erhoben, beschränkten sich nicht mehr
nur auf kleingärtnerische Aspekte, sondern waren nunmehr allgemeingesellschaftspolitischer Art. Diese Entwicklung war unausweichlich, wenn
man bedenkt, daß die Ursachen für die Mißstände in den Kleingartenkolonien die gleichen waren wie im Arbeits- und Wohnbereich, nämlich gesellschaftliche und soziale. Hier wie dort wurden profitorientierte Interessen
durchgesetzt ohne Rücksicht auf die sozialen, gesundheitlichen oder humanitären Belange der Arbeiterschaft. Nun stießen die Arbeiter auch in ihren
23 Der Zusammenschluß aller Kleingärtner auf Reichsebene erfolgte erst 1921 mit Gründung des „Reichsverband der Kleingartenvereine“. Vgl. die Darstellungen zur Verbandsgeschichte bei Matthäi (wie Anm. 8), S. 153 ff. Die erste rechtliche Absicherung
erfolgte reichsweit 1919 mit Erlaß der Kleingarten- und Kleinpachtlandordnung
(KGO), welche das profitable Zwischenpachtsystem verbot, eine Pachtpreisbindung
festlegte und Vereinigungen, die die Klauseln der Gemeinnützigkeit erfüllten, mit der
Verpachtung betrauten.
24 Nicht nur im Kaiserreich, auch später in der Weimarer Republik wurden häufig Razzien und Polizeiaktionen in den Kleingartenkolonien durchgeführt, um Funktionäre
der Arbeiterbewegung bzw. Kommunisten zu verfolgen. Die bürgerlichen Kleingartenbewegungen hingegen konnten sich der staatlichen Förderung und Unterstützung
sicher sein. Vgl. dazu Familiengärten und andere Kleingartenbestrebungen in ihrer
Bedeutung für Stadt und Land. Berlin 1913. (Schriften der Zentralstelle für Volkswohlfahrt. N. F. 8). S. 192.
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Kleingärten, die gerade eine temporäre Flucht aus den elenden Alltagsbedingungen ermöglichen sollten, auf die gleiche skrupellose Ausbeutung und
Repression. Die Politisierung war unausweichlich, und die Behörden reagierten dementsprechend repressiv auf die Laubenkolonisten, die als Umstürzler und staatsgefährdende Elemente galten.
3.
Kleingärten und bürgerliche Wohlfahrt
3.1. Gesundheitsfürsorge und Sozialhygiene
Allerdings mehrten sich zur gleichen Zeit die Stimmen aus dem bürgerlichen Lager, darunter besonders die wohlfahrtlichen Institutionen, die sich
der Gesundheitspolitik verschrieben hatten und die darauf hinwiesen, daß
dem Staat durch Unterstützung dieser Pächter, welche „fast durchweg den
wirtschaftlich schwachen Elementen [...] aus den Kreisen der Arbeiter und
kleinen Beamten“ entstammten, ein Mittel zur Systemerhaltung und -einbindung zur Verfügung stünde, da gerade der Kleingartenbesitz „dem Staate auf gesundheitlichem und ethischem Gebiete große Dienste erweisen“25
und damit auch konformes Verhalten bewirken könne. Die „sozialhygienische“ und gesellschaftspolitische Bedeutung des Kleingartens wurde in diesen Kreisen deutlich erkannt.
Die wissenschaftliche Sozialhygiene, die den ideologischen Überbau der
staatlichen und kommunalen Gesundheitspolitik lieferte, versuchte, die Zusammenhänge zwischen sozialen Faktoren wie Verstädterung, Arbeits-,
Wohn- und Ernährungsweise sowie sozialer Lage und Krankheit zu erforschen26. Eine effiziente Gesundheitspolitik sollte die Zivilisationsschäden in
Grenzen halten und den „Volkskörper“ stärken. Mit Hilfe spezieller gesundheitspolitischer Strategien wurde der Versuch unternommen, das wirtschaftliche Risiko der Arbeiterschichten infolge von Krankheit, Invalidität
und Tod einzugrenzen und damit der Verarmung vorzubeugen27. Frühzeitig wurde ein Zusammenhang zwischen den Folgen der Urbanisierung und
der Zunahme an Zivilisationskrankheiten konstatiert. Unter anderem setzte
sich die Zentralstelle für Volkswohlfahrt 1912 intensiv mit den Problemen
der Verstädterung und den daraus folgenden gesundheitlichen und sozialen
Mißständen auseinander, wobei besonders die elenden Wohnverhältnisse
kritisiert wurden:
25 Max Christian: Städtische Freiflächen und Familiengärten. Berlin 1914. (Flugschriften
der Zentralstelle für Volkswohlfahrt. 9). S. 46.
26 Vgl. Dietrich Tutzke: Entwicklung der bürgerlichen Sozialhygiene in Deutschland. In:
Zur gesellschaftlichen Bedingtheit der Medizin in der Geschichte. Jena 1981. S. 104116.
27 Zu den Maßnahmen gehörten u.a. Krüppelvorsorge, Arbeiterversicherung, Invaliditäts- und Rentenversicherung sowie die Volksheilstättenbewegung, die sich der Bekämpfung der Tuberkulose verschrieben hatte.
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Kleingartenbewegung und Arbeitergesundheit
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Daß die sittlichen Zustände in den großstädtischen Wohnungen eine starke Einbuße
erleiden müssen, ist leicht begreiflich, wenn man bedenkt, wie überfüllt diese sind.
Wenn die intimsten Vorgänge im Leben der Einzelnen und Familien sich gewissermaßen in der Öffentlichkeit abspielen [...], muß die Schamhaftigkeit und damit die natürliche Schutzwehr gegen unsittliche Einflüsse verloren gehen. Die Trostlosigkeit der
Umwelt und die dadurch mitverursachte Verringerung der Arbeitsfreude und die
Unmöglichkeit, sich mit edleren Vergnügungen die Zeit zu vertreiben, verleiten zum
Müßiggang, und den Rest veranlaßt der Alkoholismus [...]. Die Zunahme der Krankheiten und Krankheitsanlagen, der Arbeitsunfähigkeit und Arbeitsscheu, des Alkoholismus und des Verbrechens mußte natürlich auch zu einem wirtschaftlichen Niedergang in weiten Bevölkerungskreisen führen, der sich somit mittelbar aus den Wohnverhältnissen ergeben hat28.
Im Anschluß daran wurden soziale Maßnahmen gefordert, welche die
durch die Wohnweise verursachten Schädigungen im gesundheitlichen,
sittlichen und wirtschaftlichen Bereich auszugleichen hätten. Obwohl die
Ursachen der elenden Lebensverhältnisse klar erkannt wurden, forderte
man nun aber nicht deren Behebung bzw. Beseitigung, sondern lediglich
Kompensation in Form von Grün- und Erholungsanlagen29. Dazu zählten
„ausreichende und brauchbare Erholungsmöglichkeiten“ wie Volksparks
mit Spielwiesen, Volksgärten, Spielplätze, aber auch Haus- und Gartenkolonien. Die Gartenanlagen sollten in städtischer Regie geführt werden, um
Mißbräuche zu vermeiden und um sicherzustellen, daß auch Nichtpächtern
diese Naherholungsgebiete erschlossen würden. Nachdrücklich wurde betont, wie wichtig der lange Aufenthalt im Freien und die Gartenarbeit auf
die physische und psychische Konstitution der Familien seien.
Mithin wird der Besitz eines Pachtgartens für die Familien der Pächter mit einem sehr
reichlichen Aufenthalt im Freien verbunden sein, der hinsichtlich der Konstitutionskräftigung, der Verhütung von Infektionskrankheiten und der Kindersterblichkeit von
noch größerem Nutzen sein muß, als ihn der naturgemäß kürzere Aufenthalt in Parks
oder auf Spielplätzen stiften kann. Dazu kommt, daß die Tätigkeit im Gartenbau, die
von jung und alt ausgeübt werden kann, von großem gesundheitlichen Werte ist30.
Um den Kommunen Anreize zur Finanzierung zu geben, wurde darauf
verwiesen, daß durch die Errichtung von Gartenkolonien Einsparungen auf
dem Gebiet der öffentlichen Gesundheitsfürsorge und der Armenversorgung erzielt werden könnten und sich aus der lukrativen Verpachtung das
Anlagekapital amortisieren würde31.
28 Christian (wie Anm. 25), S. 6.
29 Vgl. auch Mangoldt (wie Anm. 20), S. 671, der als Vertreter des Deutschen Vereins
für Wohnungsreform bereits 1907 die Förderung von Kleingärten als Kompensation
für mangelnden Wohnraum und mangelnde Bewegung am Arbeitsplatz anregte, um
körperliche und gesundheitliche Schäden zu vermeiden.
30 Christian (wie Anm. 25), S. 33.
31 Daß diese Rechnung aufgehen konnte, hatte bereits die Einrichtung von Armengärten
bewiesen, die den kommunalen Kassen meist Gewinne bescherte.
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Die geringeren Erkrankungs- und Invaliditätsziffern, die bei ausreichender Gartenfürsorge eintreten müssen, werden sich in den Haushalten der Städte bemerkbar machen.
Sonst würden die Versicherungsanstalten die Gartenbestrebungen nicht so nachhaltig
unterstützen32.
Gerade der Gesundheitsaspekt wurde - auch unter volkswirtschaftlichen
Aspekten - wiederholt von privaten Wohlfahrtseinrichtungen, aber auch
von den institutionalisierten Fürsorgeeinrichtungen wie den Versicherungsanstalten hervorgehoben.
Man trifft in unseren Groß- und Mittelstädten so mancherlei kostspielige und schöne
hygienische Einrichtungen; in volkstümlichen Vorträgen und Schriften wird der Arbeiter belehrt, daß er sich seine Gesundheit erhalten, die Lungen vor Tuberkulose, die
Nerven vor Zerrüttung bewahren soll. Wie verhältnismäßig einfach und billig ist es,
diese Lehren durch Einrichtung von Arbeitergärten vor den Toren der Stadt in die
Praxis umzusetzen [...]. Die Arbeiterversicherung kann sich jedenfalls für ihre vorbeugenden, gesundheitlichen Maßnahmen keinen besseren Bundesgenossen wünschen als
Arbeitergärten33.
Die Bedeutung des Kleingartens für Prophylaxe und Rekonvaleszenz wurde
deutlich unterstrichen. Der Kleingarten avancierte zur „FreiluftErholungsstätte“ und zum Kur-Ersatz für „kleine“ Leute. Die Landesversicherungsanstalt der Hansestädte empfahl in ihren „Ratschlägen für Lungenkranke“ die Anpachtung eines Gartens in der Nähe der jeweiligen
Wohnung34 des Patienten. In einer anderen Quelle wird erwähnt, daß
„schwächliche und kranke Personen [...] nach längerem Aufenthalt in den
Gärten sichtlich ihre Kräfte und frische Farbe“ wiedergewonnen hätten und
daß sich Tuberkulöse „so sehr an die kräftigende Gartenluft“ gewöhnt hätten, „daß sie in ihre dumpfe Hofwohnung nicht zurückkehren wollten und
selbst die Nächte in ihrer Laube“ zubrächten35.
Interessant ist auch der Hinweis, daß Rentenversicherungsanstalten gemäß
ihrer Satzung den Rentenanspruch auf Antrag der Rentenberechtigten ganz
oder teilweise auf Dritte übertragen konnten, was in Einzelfällen genutzt
wurde, um den Pachtzins für einen Kleingarten zu zahlen36. Mit dieser Vor32 Christian (wie Anm. 25), S. 36.
33 Leitartikel „Arbeiterversicherung und Arbeitergärten“. In: Monatsblätter für Arbeiterversicherung 11, 4 (1908), S. 43.
34 Arbeiterversicherung und Arbeitergärten (wie Anm. 33), S. 46.
35 Alwin Bielefeldt: Arbeitergärten vom Roten Kreuz. In: Das Deutsche Rote Kreuz und
die Tuberkulose-Bekämpfung. 4. Aufl. Berlin 1912. S. 181-184, hier S. 184. Lungenkrankheit und Tuberkulose werden in diesem Zusammenhang relativ häufig erwähnt.
Dies ist kein Zufall, da die Tuberkulose um die Jahrhundertwende das größte Gesundheitsrisiko unter Erwachsenen, speziell in den unteren Schichten, darstellte. Erst
durch hygienische Maßnahmen, erhöhten Lebensstandard und verbesserte Ernährung
konnte diese Gefahr gebannt werden. Christian (wie Anm. 25), S. 33 ff, berichtet, daß
die Versicherungsanstalten z.T. dazu übergegangen waren, aus Heilanstalten entlassene Tbc-Patienten in Kleingartenkolonien unterzubringen.
36 Vgl. Arbeiterversicherung und Arbeitergärten (wie Anm. 33), S. 44/45.
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gehensweise sollten unzureichende Invaliden- und Altersrenten durch eine
kleingärtnerische Eigenversorgung aufgestockt werden.
Es ist nicht sonderlich überraschend, daß die privaten und staatlichen
Wohlfahrtsinstitutionen den Kleingarten als gesundheitsförderndes und -bewahrendes Mittel propagierten, stellte er doch ein relativ kostengünstiges
und zudem multifunktionales Element der Vorsorge dar, was zudem die
Kassen der Versicherungsanstalten entlastete.
Aus dem Gesagten ergibt sich, daß die Arbeiterversicherung ein unmittelbares Interesse an der Errichtung und Erhaltung von Gartenkolonien für Arbeiter hat. Die Gärten
tragen wesentlich zur Verhütung von Krankheit und vorzeitigem Siechtum bei, sie erhöhen die Geschmeidigkeit des den Unfallgefahren des Fabrikbetriebs ausgesetzten
Körpers, sie kräftigen Kranke und Rekonvaleszenten und sichern den Unfall-, Altersund Invalidenrentnern einen auskömmlichen Lebensunterhalt. Mittelbar wird durch
Gartenanlagen ein gesunder Nachwuchs unserer gewerblichen Arbeiterbevölkerung
gewährleistet37.
Für die Alters- und Invalidenrentner war dieses Zubrot, das der Garten abwerfen konnte, häufig von existentieller Bedeutung, denn die zur damaligen
Zeit gewährten Unterstützungsgelder durch die Versicherungen waren immer nur auf ein absolutes Minimum ausgelegt und konnten vielfach die
elementarsten Bedürfnisse kaum abdecken. Neben der gesundheitlichen und
wirtschaftlichen Bedeutung kam hier ein weiterer Aspekt zum Tragen, nämlich die bevölkerungspolitische Dimension. Die Erhaltung und Mehrung
des „Volkskörpers“ war ein wichtiger Gegenstand der damaligen Gesellschaftspolitik, ging man doch davon aus, daß der Geburtenrückgang bedrohliche Ausmaße angenommen habe, was den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt in Frage stellen konnte38. Den Kleingärten kam in diesem
Zusammenhang eine wichtige familienpolitische Bedeutung zu, weil sie genügend Freiraum und Spielmöglichkeiten sowie eine naturnahe Erziehung
garantierten39. Mit der Propagierung derartiger familienpolitischer Thesen
wurde u.a. versucht, den Bevölkerungsrückgang zu stoppen.
37 Arbeiterversicherung und Arbeitergärten (wie Anm. 33), S. 45/46.
38 Vgl. Ulrich Linse: Arbeiterschaft und Geburtenentwicklung im Deutschen Kaiserreich
von 1871. In: Archiv für Sozialgeschichte 12 (1972) S. 205-271. Vgl. auch Peter Marschalck: Bevölkerungsgeschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt
1984.
39 Vgl. Mangoldt (wie Anm. 20), S. 670 ff.
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3.2 Die Arbeitergärten der Wohlfahrtseinrichtungen
Die oben erwähnten bürgerlichen Apologeten der Kleingartenidee unterstützten bzw. förderten allerdings nur bestimmte Kleingartenbewegungen40.
Einige Wohlfahrtseinrichtungen beließen es nicht bei der ideellen oder finanziellen Förderung, sondern gründeten Anfang des 20. Jahrhunderts
selbst Kleingartenanlagen wie die Berliner Arbeitergärten des Volksheilstättenvereins und des Vaterländischen Frauenvereins, beides Unterabteilungen
des Roten Kreuzes41. Die bewußt gewählte Bezeichnung Arbeitergärten war
Programm und Abgrenzung zugleich, sollte sie doch „ein Programm zum
Ausdruck bringen, das in gleicher Weise wie der Begriff Schrebergärten
Werbe- und Zugkraft“ beinhaltete und zugleich „wesentlich über den
Schrebergartenbegriff“ hinausging42. Bielefeldt, Mitglied des Reichsversicherungsamtes, hatte die Idee der Arbeitergärten aus Frankreich importiert43.
Die Parzellen wurden bevorzugt an kinderreiche Familien aus der Arbeiterschicht, an Kriegsinvaliden und kränkliche, ärmere Personen abgegeben.
Die einzelnen Kolonien wurden mit Spielplätzen, Unterkunfts- und Versammlungsräumen sowie Trinkhallen, Einkaufsgenossenschaften für Saatgut, Gartengeräten und z.T. sogar Büchereien ausgestattet. Ein ganzes Bündel von unterschiedlichen Zielen wurde mit der Errichtung dieser Gartenanlagen verfolgt:
Erholung des Arbeiters und seiner Angehörigen in frischer Luft, Kräftigung von Rekonvaleszenten und alten Personen, Ablenkung der Gartenbesitzer vom Wirtshausbesuch, Stärkung des Familiensinnes und Liebe zur Natur und zur Arbeit44.
Nicht nur hygienisch-gesundheitliche und sittlich-moralische Ziele, sondern
auch handfeste volkswirtschaftliche und sozialpolitische Interessen wurden
mit der Kleingartenidee in Verbindung gebracht, so daß der Kleingarten zu
einem multifunktionalen Element der Vorsorge und Volkswohlfahrt wurde.
40 Gefördert werden sollten die bürgerlichen und die ideell ausgerichteten Kleingartenbewegungen, u.a. die der Schrebergärtner, der Naturheilkundler und die Gartengründungen des Roten Kreuzes, nicht aber die Kolonien der proletarischen Kleingärtner,
die keinerlei Vorbildcharakter besaßen. Das lag zum einen an der Desorganisation
(keine Vereine, Generalpachtsystem) und der nicht vorhandenen Institutionalisierung,
zum anderen an dem generellen Mißtrauen gegenüber proletarischer Selbsthilfe. Vgl.
dazu Die Arbeitergärten des Volksheilstättenvereins vom Roten Kreuz. Berlin 1918. S.
5.
41 Bereits 1901 wurden die ersten Arbeitergärten in Charlottenburg angelegt. Vgl. Familiengärten und andere Kleingartenbestrebungen in ihrer Bedeutung für Stadt und
Land (wie Anm. 24), S. 190.
42 B. Blömeke: Die Bedeutung der Arbeitergärten vom Roten Kreuz. In: 25 Jahre Arbeitergärten vom Roten Kreuz Berlin. Berlin 1930. S. 9-11, hier S. 10.
43 Vgl. Alwin Bielefeldt: Arbeitergärten. In: Archiv für Volkswohlfahrt 1 (1908), S. 454464, hier S. 455 ff.
44 Bericht über die Tätigkeit des Vaterländischen Frauen-Vereins, Zweigverein Charlottenburg (e.V.). Charlottenburg 1913. S. 17.
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Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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Kleingartenbewegung und Arbeitergesundheit
201
Ein wichtiges Ziel war natürlich auch die Einbindung des Arbeiters in die
Gesellschaft. Die Beschäftigung mit dem Garten sollte ihn zu einem systemkonformen Mitglied erziehen und ihn den politischen Parteien und Organisationen der Arbeiterbewegung entfremden und damit zur Spaltung der
Arbeiterschaft beitragen. Die aus dem Bürgertum kommenden Träger dieser Armengärten, denen die alleinige Kontrolle und Verwaltung unterstand,
konnten damit einerseits ihr soziales Gewissen beruhigen und ihrer moralischen Verpflichtung zur Nächstenliebe nachkommen, andererseits durch
paternalistische Wohlfahrt zur Entpolitisierung der Arbeiterschaft beitragen.
Die Arbeitergärten waren somit nützlich zur Abwehr kommunistischer
Ideen und individualistischer Bestrebungen und dienten der Formung
staatstreuer Untertanen:
Der Kleingarten ist Abwehr! Er wehrt sich ebenso gegen den Materialismus als Speerträger des Existenzkampfes wie gegen die Verkapselung des Ich“s. In den Kolonien
der Kleingärtner lebt der Gemeinschaftsgedanke, er schafft Säfte, die der Raum zum
Leben braucht, der Staat zum Aufbau45.
Die selbstverwaltete proletarische Kleingartenbewegung reagierte demzufolge auch ausgesprochen mißtrauisch und ablehnend auf diese institutionellen
Gartengründungen. Otto Albrecht, einer der Protagonisten der Berliner
Laubenpieperbewegung, polemisierte, daß es sich bei den Arbeitergärten
des Roten Kreuzes „nur um berechnende Wohltäterei zur Verherrlichung
dynastischer Zwecke und zur Unterstützung kapitalistischer Interessen“
handele46.
Nicht nur bürgerliche Politiker und Wohlfahrtsgesellschaften erkannten den
gesundheitlichen und gesellschaftlichen Wert von Gartenbesitz und Gartenarbeit, sondern auch Fabrikbesitzer und Industrielle, die, besonders im
Ruhrgebiet, ihrer Arbeiterschaft in vielen Fällen Gärten bzw. Werkswohnungen und Häuser mit anliegender Gartenfläche zur Verfügung stellten.
Nicht nur rein humanitäre Aspekte, vielmehr handfeste sozialpolitische
Überlegungen waren der Grund für diese Maßnahmen. Während um 1890
nur etwa jeder zehnte Arbeiter im Ruhrgebiet eine Werkswohnung besaß,
waren dies 1920 bereits über 40%. Im Jahre 1900 verfügten dort bereits
über 86% der Arbeiterfamilien über einen meist hausnahen Garten. Mit
diesen Maßnahmen sollte einer stärkeren Fluktuation unter den Arbeitern
vorgebeugt und dem Betrieb zu einer Stammbelegschaft verholfen werden.
Diese Gruppe konnte durch die Bereitstellung von Wohnung und Garten
eng an die Interessen des Betriebs gebunden werden, so daß sie als Streikbrecher bzw. als Puffer gegen Gewerkschaftsaktivitäten einsetzbar war47;
45 Alfred Kuhnigk: Das Feuermal. In: 25 Jahre Arbeitergärten vom Roten Kreuz Berlin
(wie Anm. 42), S. 11-12, hier S. 12.
46 Otto Albrecht: Kleingartenwesen, Kleingartenbewegung und Kleingartenpolitik. Berlin
1924. S. 4.
47 Vgl. Gerhard A. Ritter (Hg.): Deutsche Sozialgeschichte. Bd. 2. 1870-1914. 2., durchges. Aufl. München 1977. S. 150 ff.
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Ingrid Matthäi
denn das Privileg einer Werkswohnung mit Garten war an einen Arbeitsvertrag gebunden, so daß vielen Familien das Streikrisiko zu hoch war, da
sie in solchen Fällen damit rechnen mußten, Wohnung und Garten zu verlieren. Die Fabrikbesitzer erkannten auch frühzeitig den Erholungs- und
Freizeitwert gärtnerischer Betätigung, der sich wiederum positiv auf Gesundheit, Arbeitsmotivation und Arbeitsleistung auswirkte, so daß derartige
Freizeitaktivitäten voll unterstützt wurden.
4.
Idealistisch-bürgerliche Gartenbewegungen
4.1
Die Schrebergartenbewegung
Die Schrebergartenbewegung hat eine völlig andere Entstehungsgeschichte
als die bisher beschriebenen Kleingartengründungen. Sie war ein eher zufälliges Nebenprodukt bildungsbürgerlicher Kreise, die jugendpflegerische und
erzieherische Ambitionen hegten. Die ersten Schrebergärten entstanden bereits um 1870 in Leipzig und wurden nach dem Orthopäden und Pädagogen Daniel Gottlob Moritz Schreber benannt, der eine orthopädische Heilanstalt betrieb und zahllose Schriften über Jugend- und Volkserziehung
sowie sportliche Ertüchtigung veröffentlichte. Einerseits vertrat er darin für
seine Zeit relativ fortschrittliche Ideen, indem er Turn- und Spielplätze für
die städtische Jugend forderte, andererseits verfolgte er damit konservative
Ziele, indem Erziehung und körperliche Ertüchtigung in den Dienst des
Staates gestellt werden bzw. der „physischen und geistigen Erneuerung des
Volkes“ dienen sollten. Durch gezielte sportliche Betätigung sollten die Jugendlichen diszipliniert, militärtauglich gemacht und sittlich „veredelt“
werden. Für Schreber stellte die Jugendpflege „die fundamentalste Lebensfrage des Staates“ dar, denn nur „der allseitig kräftig und gut entwickelte
Mensch kann seine Lebensaufgabe für sich und für die Welt vollständig
erfüllen, kann dem Staate sein, was er sein soll“: Nämlich treuer Untertan
und braver Soldat48.
In seinen Schriften findet sich indes noch kein Gedanke an Kleingartenanlagen im eigentlichen Sinne. Diese Verbindung zwischen Spielplätzen und
Gartenanlagen wurde erst von seinen Nachfolgern Hauschild und Gesell
hergestellt. Schreber selbst sah sich eher als Apostel und Wahrer der Volksgesundheit, der Spiel, Sport und Betätigung in frischer Luft als Allheilmittel
gegen die Auswirkungen der aufkommenden technischen Zivilisation und
der sich verschlechternden städtischen Lebensbedingungen empfahl.
Erst nach Schrebers Tod nahm der Pädagoge Hauschild diese Ideen auf
und gründete 1864 in Leipzig den ersten Schreberverein. Ziele des Vereins
waren die „harmonische Ausbildung der Jugend, die Koordination von El-
48 Daniel Gottlob Moritz Schreber: Die Jugendspiele in ihrer gesundheitlichen und pädagogischen Bedeutung. In: Die Gartenlaube (1860), S. 414-416, hier S. 416.
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Kleingartenbewegung und Arbeitergesundheit
203
ternhaus und Schule und die Schaffung von Turn- und Spielplätzen“49. Bereits kurze Zeit später, nämlich 1870, wurden in den Schrebervereinen die
ersten Gärten angelegt, die ursprünglich von Kindern und Jugendlichen
betreut werden sollten. Rund um eine riesige Spielfläche herum wurden die
ersten Gartenparzellen angelegt, die bald von den Eltern in Pflege genommen wurden, da die Kinder mit einer kontinuierlichen Betreuung überfordert waren.
In den folgenden Jahren breitete sich diese Idee über ganz Deutschland aus,
und in vielen Städten entstanden Schrebergartenkolonien50, die sowohl Garten- als auch Jugendpflege betrieben, wobei der primäre Akzent dieser frühen Gründungen auf der Jugenderziehung lag. Aus dieser engen Verflechtung zwischen Garten und Jugendarbeit ging später die Deutsche Schreberjugend hervor, die bis heute als Organisation existiert und sich primär der
Jugendarbeit und -betreuung verschrieben hat.
4.2
Die Gärten der Lebensreformbewegung
Die zweite eher idealistisch ausgerichtete Gartenbewegung neben der
Schreberbewegung wurde von den Lebensreformern initiiert. Von Teilen
dieser Bewegung gingen fast zwangsläufig Impulse zur Gründung von Gartenkolonien aus, da sie die Mißstände der Industrialisierung, Urbanisierung
und Zivilisierung anprangerten und nach Auswegen und Abmilderungen
Ausschau hielten, um die Lebenssituation bzw. die Lebensweise der Einzelnen zu verbessern.
Die Lebensreformbewegung konstituierte sich ab Mitte des letzten Jahrhunderts als zivilisations- und kulturkritisch reformistische Bewegung, deren
Führer aus bildungsbürgerlichen Schichten kamen, die sich gegen die negativen Folgen der Industrialisierung und einer zunehmenden Verstädterung
wandten51. Die Verschlechterung der Lebensbedingungen in den Großstädten und der stark ansteigende Alkohol- und Genußmittelmißbrauch wurden
bekämpft, da diese zwangsläufig zu einer entfremdeten, gesundheitsschädigenden Lebensweise der Menschen führen mußten. Die Lebensreformer
setzten dagegen die Parole von der natürlichen, der naturgemäßen Lebensweise, die die Rückkehr zum einfachen Leben postulierte. Zwischen dem
etablierten bildungsbürgerlichen Idealismus einerseits und dem proletarischen Sozialismus andererseits sollte ein dritter Weg der Reformen gefunden werden, um die Gesellschaft zu verbessern oder genauer gesagt, um die
Individuen zu bessern. Mit den angestrebten Reformen sollte Einfluß auf
die persönliche Lebensweise der Einzelnen durch Propagierung des einfa49 Vgl. Wille (wie Anm. 2), S. 38.
50 Vgl. die Übersicht über die damals existierenden Schreberkolonien bei Förster (wie
Anm. 22), S. 14 ff.
51 Vgl. Janos Frecot: Die Lebensreformbewegung. In: Klaus Vondung (Hg.): Das wilhelminische Bildungsbürgertum. 1976. S. 138-152.
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204
Ingrid Matthäi
chen, sittlich enthaltsamen, gesunden Lebens genommen werden, während
gesellschaftliche Veränderungen nicht unmittelbar und nur bedingt eingefordert wurden.
Innerhalb der Reformbewegung lassen sich drei Phasen differenzieren mit
sehr unterschiedlichen politischen und ideologischen Positionen52. Die früheste Richtung setzte sich mit medizinisch-hygienischen Fragen auseinander
und brachte die Naturheilkunde, den Vegetarismus, die Freikörperkultur
und die Kleidungsreform hervor. Die zweite Phase der Bewegung befaßte
sich vornehmlich mit sozialpolitischen Fragen, was sich in der Gründung
von Bodengesellschaften, Frauen- und Naturschutzvereinen sowie der Gartenstadtbewegung niederschlug. Die dritte Richtung war eher religiösweltanschaulich ausgerichtet und brachte die Theosophen, die Monisten
und die Anthroposophen hervor.
Die lebensreformerische Kleingartenbewegung ging aus der Verschmelzung
der Ideen der Naturheilkundler und der Bodenreformer hervor, die sich
besonders der Schaffung städtischer Grünflächen und Erholungsrefugien
verschrieben hatten. Von daher war es naheliegend, Gärten einzurichten, in
denen man der Natur und dem einfachen Leben huldigen und sich mittels
Licht- und Luftbädern wunderbar vom hektischen Stadtleben regenerieren
konnte. Licht, Luft, Wasser, Bewegung und eine asketische, gesundheitsbewußte Lebensführung in einem naturnahen Umfeld waren die bestimmenden Faktoren für eine naturgemäße Lebensweise. Von daher wurden die
Kleingärten dieser Vereine nahezu zwangsläufig zu einem Terrain für naturgemäße Lebens- und Heilweise, die allerdings nur bestimmten Schichten
- nämlich den bürgerlichen - zur Verfügung standen. Die Kolonien waren
mit Spielplätzen, Licht- und Luftbädern, Liegehallen, FKK-Plätzen und anderen Einrichtungen volksgesundheitlicher Art ausgestattet53.
Die Vereine für naturgemäße Lebens- und Heilweise sahen den Garten in
erster Linie als Erholungs- und Gesundheitsborn, der zur „Kräftigung und
Erhaltung der Gesundheit durch den Aufenthalt im Freien, durch Luft- und
Sonnenbäder und vernunftmäßige Ernährung“ beitragen konnte54. Auch
hier stand weniger der gärtnerische, sondern stärker der regenerative und
gesundheitliche Aspekt bei der Errichtung der Kleingartenkolonien im
Vordergrund.
52 Vgl. Janos Frecot [u.a.]: Abriß der Lebensreform. In: Wolfgang Kraushaar (Hg.): Autonomie oder Getto? Frankfurt/M. 1978. S. 210-245.
53 Vgl. die Beschreibungen bei Förster (wie Anm. 22), S. 13.
54 Vgl. H. Förster u. M. Krüger: Schafft Kleingärten! Frankfurt am Main 1924. (Schriften
des Reichsverbands der Kleingartenvereine Deutschlands. 1). S. 7.
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Kleingartenbewegung und Arbeitergesundheit
5.
205
Fazit und Ausblick
Die beschriebenen historischen Kleingarten-Bewegungen unterschieden sich
in ihren Motiven und Zielsetzungen, waren aber auch von ihrer sozialen
Trägerschaft her sehr heterogen. Das verbindende Element bei allen war
jedoch die Suche nach Möglichkeiten, sich der verlorengegangenen Natur
wieder anzunähern und den negativen Folgen der zunehmenden Verstädterung zu entfliehen. Die Menschen wollten sich einen „privaten“ Ort, eine
„grüne“ Stube, einen idyllischen Winkel erschließen, der zur Regeneration
und gesundheitlichen Erneuerung einladen bzw. eine „nicht-öffentliche“
Nutzung von Grünflächen einschließen sollte. Eines der wesentlichsten Ziele
der bürgerlichen und wohlfahrtlichen Gartenbewegungen lag im gesundheitlichen Nutzen dieser Einrichtungen, wobei die einen eher die individuellen Bedürfnisse, die anderen eher sozialpolitische Interessen der Gesellschaft
im Blick hatten.
Die Gründe für die Anpachtung eines Kleingartens sind heutzutage vielfältig und von individuellen Bedürfnissen abhängig55. Es ist jedoch keineswegs
überraschend, daß an erster Stelle der Wunsch nach Entspannung und Erholung steht. Man möchte ein eigenes Fleckchen im Grünen haben, um der
Hektik, dem Streß und dem Lärm, aber auch den Umweltbelastungen und
Emissionen der Großstadt entfliehen zu können. Die Parzellen werden als
grüne Inseln der Erholung empfunden, auf denen man sich regenerieren
und vom Alltag abschalten kann. Gartenarbeit wird zudem als Ausgleich
für eine einseitig ausgerichtete Berufstätigkeit empfunden, die das Naturerleben und Naturempfinden steigert. Von daher unterscheiden sich die Motive des modernen Kleingärtners nicht von jenen seiner historischen Vorgänger.
Mehr als ein Drittel der von mir befragten Berliner Kleingärtner erwähnte
ausdrücklich den gesundheitlichen Aspekt der Gartennutzung, der für sie
als Pachtmotiv ausschlaggebend war. Die Bewegung und Arbeit in frischer
Luft und in natürlicher Umgebung sind in gesundheitlicher Hinsicht sowohl für die Prophylaxe als auch für die Rekonvaleszenz von Bedeutung.
Auch und gerade heute wird immer wieder von Medizinern betont, daß das
Gärtnern um der Gesundheit willen zu den wichtigsten Faktoren der vorbeugenden Medizin gehöre. Moderne Kleingärten sind von Fachleuten aller
Sparten und natürlich von den Kleingärtnern selbst längst als „grüne Medizin“ anerkannt, besonders im Hinblick darauf, daß sehr viele Menschen
ihre Arbeitszeit nur noch in sitzender oder bewegungsarmer Tätigkeit verbringen und durch Gartenarbeit zu einem körperlichen Ausgleich kommen
können. Die Gartenlandschaften stellen somit einen günstigen Erholungs55 Vgl. Matthäi (wie Anm. 8), S. 398, Tab. 37. Die Ergebnisse einer 1987 in Berliner
Kleingärten durchgeführten Untersuchung zeigen deutlich, daß die Motive für die
Anpachtung einer Parzelle multifunktional sind, jedoch die regenerativen, kompensatorischen, gesundheitlichen und soziokommunikativen Aspekte überwiegen.
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raum nicht nur für die Pächter und ihre Familien, sondern für viele Schichten der städtischen Bevölkerung dar.
Anhand der Geschichte des Kleingartenwesens lassen sich gesellschaftlichsoziale Umbrüche nachvollziehen, in ihr spiegeln sich die sozioökonomischen Machtstrukturen, aber auch die sozialen Veränderungen
wider, denen die Menschen um die Jahrhundertwende ausgesetzt waren.
Industrialisierung, Technisierung, Modernisierung und Verstädterung
brachten neue Lebensweisen mit sich und damit auch neue Formen der
Freizeitgestaltung, der Gesundheitsvorsorge und der Regeneration. Der
Freizeit- und Erholungswert öffentlicher Grünanlagen und privater Formen
der Gartennutzung wurde bereits früh erkannt und ist bis heute unumstritten. Allerdings waren die Beweggründe für die Gründungen von Kleingärten höchst heterogen und klassenspezifisch; während bürgerliche Wohlfahrtsinstitutionen und private Initiativen immer den affirmativen Aspekt
der Volkswohlfahrt, sprich kostensparende Gesundheitsvorsorge sowie Pazifizierung und Systemeinbindung der Arbeiter im Auge hatten, wollten die
unteren Schichten autonom und in Eigeninitiative ein selbstbestimmtes privates Refugium schaffen als Ausgleich für die weitgehend fremdbestimmten,
depravierten Arbeits- und Lebensbedingungen. Für diese Schichten hatte
der Kleingarten somit auch Kompensationsfunktion und war letztlich eine
zeitlich begrenzte eskapistische Flucht in die Idylle, in der die sozioökonomischen Defizite und Zwänge des Erwerbs- und Alltagslebens für
kurze Zeit vergessen werden konnten56.
Summary
The rise of allotment gardens at the end of the 19th century is directly connected with
radical social changes in society. Industrialization, urbanization and massive migration
had to serious effects on the way of living of the working class. New forms of industrial
labour and miserable living conditions in the urban regions alienated people/the working
class population from nature and natural living conditions. In search of nature and a better
living, the proletarians founded allotment gardens to escape from urbanization and unhealthy housing conditions. Soon other allotment movements grew up as middle class
movements and civil welfare institutions also became involved in it. They were all aware
that to be out and moving in the open air and to be working in a garden had positive
effects on the state of health and the physical condition. These leisure activities were a cheap and effective part of mental and physical recuperation for the working class members
and relieved civil welfare institutions.
56 Dies gelang aber erst, nachdem sich die proletarischen Kleingarten-Bewegungen institutionalisiert hatten, zur Interessensgruppe geworden waren und dadurch genügend
politischen Druck ausüben konnten, um zum einen auf Abschaffung des Generalpachtsystems bestehen und zum anderen zur Verabschiedung des Reichskleingartengesetzes beitragen zu können, das endlich einen rechtlichen Schutz gegen Übergriffe
und Enteignung bieten konnte.
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III. Neuerwerbungen der Bibliothek
des Homöopathie-Archivs 1994 (8)
Bearbeitet von Helena Korneck und Beate Schleh
Monographien
A
American homeopathy in the world war / Frederick M. Dearborn, ed. - Chicago, Ill. :
American Institute of Homeopathy, 1923. - 447 S. : zahlr. Ill.
H/a/2/922
B
Biedensteedt, Charles: Geschlechts-Krankheiten und ihre homöopathische und naturgemässe Behandlung und Heilung : nebst einem Anhang / von Charles Biedensteedt. 1. Aufl. - o.O., o.J. - 20 S.
H/d/5/244
Der Biochemiker : praktische Einführung in den Wirkungskreis der biochemischen Mittel ; mit einer kurzen Darstellung der häufigsten Krankheiten und deren biochemischer Behandlung. - 5., revidierte u. verm. Aufl. - Lage i. L. : Welchert, 1928. -260 S.
H/d/9/344
Biologische Injektionen / Wissenschaftliche Abt. d. Chem.-Pharmazeut. Fabrik Göppingen Carl Müller, Apotheker, Göppingen (Württ.). - Göppingen : Müller, [1938]. 20 S.
H/d/9/525
Buschauer, Walter: Grundlagen und Praxis der Homöopathie zur Vollendung der Hippokratischen Medizin / von Walter Buschauer. - 2., überarb. Aufl. - Heidelberg :
Haug, 1994. - 375 S.
1. Aufl. u.d.T.: Buschauer, Walter: Homöopathie als Vollendung der hippokratischen Medizin
ISBN 3-7760-1389-3
H/b/2/166/1994
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208
Helena Korneck und Beate Schleh
C
Chargé, Alexandre: Traitement homoeopathique préservatif et curatif du choléra
épidémique : instruction populaire pouvant servir de guide en l'absence du médecin
/ par le Dr Chargé. - 8. éd., suivie de notes relatives à la dernière épidémie. - Marseille : Barlatier-Feissat et Demonchy, 1854. - 48 S.
Daran:
1. Sirarol, Cristóbal: Aviso à los amigos y enemigos de la homeopatía. 1852.
2. Chargé, Alexandre: Traitement homoeopathique, préservatif et curatif du choléra
épidémique. 3. éd. 1849.
3. Rapou, T.: Seul traitement préservatif et curatif du choléra asiatique. 1835.
4. Duplat, : Traitement homoeopathique préservatif et curatif du choléra
épidémique. 1849.
5. Sirarol, Cristóbal: Preceptos higiénicos y regimen que debe seguirse durante el
tratamiento homeopático. 1850
H/d/6/147
Chargé, Alexandre: Traitement homoeopathique, préservatif et curatif du choléra
épidémique : instruction populaire pouvant servir de guide en l'absence du médecin, suivie de notes et pièces justificatives / par le Dr Chargé. - 3. éd. - Marseille :
Barlatier-Feissat et Demonchy, 1849. - 47 S.
(Extrait de la Revue homoeopathique du Midi ; 2. année. Avril 1849)
Daran:
Chargé, Alexandre: Traitement homoeopathique préservatif et curatif du choléra
épidémique. 8. éd. 1854
2 an: H/d/6/147
Clarke, John H.: Der neue Clarke : eine Enzyklopädie für den homöopathischen Praktiker ; völlig neu bearbeitete, vielfach berichtigte ins Deutsche übertragene u. vermehrte Ausgabe des Dictionary of Practical Materia Medica von John Henry Clarke
; nebst genauer Angabe der Abstammung der Symptome. - Bielefeld : Stefanovic
Einheitssacht.: Dictionary of practical materia medica <dt.>
ISBN 3-9802053-9-8
(vorhanden 1-6)
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Scheible. - 1994. - III S., S. 3753-4395
H/c/2/715/1990
Coulter, Harris L.: Hahnemann und die Homöopathie : eine medizinhistorisch begründete Einführung in die Grundgedanken der homöopathischen Heilkunst / von Harris L. Coulter. Aus d. Amerikan. übers. von Thomas von Grudzinski. - Heidelberg :
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Einheitssacht.: Hahnemann and homoeopathy <dt.> aus: Divided legacy
ISBN 3-7760-1399-0
H/b/2/192
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D
Doktor-Willmar-Schwabe <Leipzig>: Bericht und Preisliste des Grosso- und Exportgeschäftes homöopathischer Artikel und dem Verlage homöopathischer Werke von
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H/c/1/829
Duplat,: Traitement homoeopathique préservatif et curatif du choléra épidémique : suivi
de succès dans les trois épidémies de Marseille ; instruction populaire pour servir de
guide en l'absence du médecin, et les pièces justificatives / par le Dr Duplat. - Lyon
: Dumoulin et Ronet, 1849. - 44 S.
4 an: Chargé, Alexandre: Traitement homoeopathique préservatif et curatif du
choléra épidémique. 8. éd. 1854
4 an: H/d/6/147
E
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ISBN 3-7760-0873-3
H/d/3/825
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Rückent.: Homoeopathy & teaching
H/Z/i/55
Ensinger, Theodor: Leitfaden zu Kents Repertorium / von Theodor Ensinger. Überarb.:
Rudolf Drechsler. - 5. Aufl. - Heidelberg : Haug, 1992. - 187 S.
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Piper ; Bailliere, 1850. - XVI, 320 S.
H/b/2/224
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Karl Heinz Faber. - Mainz, 1993. - 243 S.
Mainz, Univ., Diss., 1993
H/a/2/566
Fritsche, Herbert: Christliche Heilkunst / Herbert Fritsche. - 2., erw. Aufl. - Bad Pyrmont
: Friedrich, 1946. - 15 S.
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H/b/2/274/1935
Gorges, Heinrich: Kleiner homöopathischer Thierarzt : oder Anweisung für Viehbesitzer,
Kutscher, Stallbedienstete und Hirten, welche die am häufigsten vorkommenden
Krankheiten ihrer Pferde, Rinder, Schafe, Schweine, Ziegen und Hunde mit homöopathischen Mitteln sicher und billig selbst heilen wollen ; nach langjährigen eigenen Erfahrungen und unter Anwendung der besten Hülfsquellen bearbeitet / von H.
Gorges. - 2., verbess. u. verm. Aufl. - Leipzig : Homöopathische Central-Apotheke
Dr. Willmar Schwabe, 1894. - 104 S. : zahlr. Ill.
1. Aufl. u.d.T.: Der homöopathische Hausthierarzt
H/d/7/827
Grams, Konrad: Handbuch der Komplex-Biochemie / von Konrad Grams. - 2. Aufl., 6.10. Taus. - Berlin : Biko-Verl., 1926. - 154 S.
H/d/9/343/1926
Grams, Konrad: Handbuch der Komplex-Biochemie „Kombi“ / von Konrad Grams. - 3.,
verm. u. verbess. Aufl., 11.-13. Taus. - Berlin : Verlag Kombi, 1928. - 231 S.
H/d/9/343/1928
Gregg, Rollin R.: Synopsis of a forthcoming work upon consumption and its numerous
kindred maladies : with tracings of their causes, and of their cures, under homoeopathic treatment / by Rollin R. Gregg. - Buffalo : Matthews & Warren, 1865. - 33 S.
an: The homoeopathic quarterly. - Vol. 2. 1870
an: H/Z/h/31
Gutmann, Salomo: Die Dynamik der Zahnheilkunde : bearbeitet nach den Grundsätzen
der Homöopathie / von S. Gutmann. Mit e. Nachw. hrsg. von Caris-Petra u. Günter
Heidel. - Repr. d. Orig.-Ausg. Leipzig, 1833. - Leipzig : Zentralantiquariat der DDR,
1990. - VIII, 160, XI S.
ISBN 3-7463-0175-0
H/d/4/715/1990
Gypser, Klaus-Henning: Generalregister zu den Werken Bönninghausens / von KlausHenning Gypser. - Heppenheim : Ed. Kastner, 1992. - 52 S.
ISBN 3-926519-02-9
H/g/1/300/1992
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H
Hayn, Walter: Der Biochemische Bund Deutschlands : Reichsbund der Vereine für Mineralstofflehre e.V., gemeinnütziger Verband zur Hebung der Volkswohlfahrt und
seine Einrichtungen im Lichte der Statistik / von Walter Hayn. - Neubabelsberg :
Bio-Verlag, 1930. - 92 S. : zahlr. Ill., graph. Darst.
KOPIE
H/d/9/345
Heinrich, Erich: Biologische Therapie in der Zahnheilkunde : Konstitutionstherapie,
Homöopathie, Biochemie, anthroposophische Medizin, Naturheilkunde und Psychotherapie / von E. Heinrich. - Berlin : Berlinische Verlagsanstalt, 1935. - VIII,
226 S.
Außens. 100 Zahn 1935
Henderson, William: Homoeopathy fairly represented : a reply to professor Simpson's
„Homoeopathy“ misrepresented / by William Henderson. - 1st American, from the
last Edinburgh ed. - Philadelphia : Lindsay & Blakiston, 1854. - XII, 302 S.
H/a/3/1854,1
Hering, Constantine: Homöopathische Lehr- und andere Stühle : in „Berücksichtigung“
der „Corporations- und anderen Autoritäten“ des Dr. Alexander Gösche & Co. in
Berlin / von Constantin Hering. - Philadelphia ; Leipzig, 1860. - 24 S.
(Neue Hauhecheln / von Constantin Hering ; 1)
KOPIE
H/a/3/1860,2
Hering, Constantine: Nux moschata / Constantin Hering. - o.O., um 1875. - 120 S.
Titelblatt fehlt; mutmaßl. Verfasser=Constantin Hering
H/c/4/Nux.mosch.(3)
Hitchman, William: Consumption : its nature, prevention, and homoeopathic treatment,
(with illustrations of homoeopathic practice) / by William Hitchman. - Philadelphia
: Radde, 1859. - VIII, 184 S.
H/d/4/461
Homeopathic imprints: 1825-1925 / comp. by Christopher Ellithorp and Julian Winston. - Philadelphia, PA : Homoeopathic Archives, 1992. - 15 S.
Ergänzung zu: Cordasco, Franceso: Homoeopathy in the United States. 1991. Bradford, Thomas L.: Homoeopathic bibliography of the United States.. 1892
H/a/1/466
Homöopathie 150 Jahre nach Hahnemann : Standpunkte und Perspektiven / hrsg. von
Rainer G. Appell. - Heidelberg : Haug, 1994. - 301 S. : Ill.
ISBN 3-7760-1382-6
H/b/3/194
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
© Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015
212
Helena Korneck und Beate Schleh
Homöopathische Pharmacopöe und Arzneimittellehre / hrsg. von Max Hennig. 1. Aufl. - Brandenburg (Havel) : Populär-Med. Bücher- u. Schriften-Versand
„Volkswohl“, 1925-1926. - Getrennte Zählung + Alphabetisches Gesamtregister für
die Hefte 1-12
H. 1-12 u. Registerheft 1925-1926 im Original-Hefter
H/c/2/658/1925
Homöopathisches Vademecum : Berichtigung der über die homöopathische Heilmethode bestehenden irrigen Anschauungen und Vorurtheile nebst Rückblicken auf
die Geschichte und Statistik der Homöopathie ; mit Anhang: Kleiner homöopathischer Hausarzt : nebst Charakteristik von vierzig wichtigen homöopathischen Arzneimitteln und genauer Angabe der Gabengröße für jeden Einzelfall. - Leipzig :
Homöopathische Central-Apotheke von Dr. Willmar Schwabe, 1890. - 222 S. : Ill.
an: Specielles illustrirtes Preis-Verzeichniß der Homöopathischen Central-Apotheke
von Dr. Willmar Schwabe in Leipzig ... 1890
an: H/c/1/807
I
Instituição Allan Kardec-Alice Pereira <São Paulo>: Instituição Allan Kardec-Alice
Pereira / IAKAP. - São Paulo, [o.J.]. - [12 S.]
KOPIE
H/a/5/241
Die Iso-Komplex-Heilweise : ein biologisches Heilverfahren ; allgemeine Grundlagen
und Arzneimittellehre / von O. M. Bruch, Johannes Sonntag, Fritz Sonntag u. Joseph Wüst. - 2., durchges. Aufl. - Regensburg : Sonntag, 1939. - 207 S.
1. Aufl. u.d.T.: Die Elektro-Komplex-Homöopathie
H/d/9/608/1939
K
Katalog der Bibliothek des Homöopathie-Archivs : Neuerwerbungen der Bibliothek
des Homöopathie-Archivs. - Stuttgart : Steiner - aus: Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Bd...
7./ bearb. von Beate Schleh. - 1994. - S. 231-244 - aus: Medizin, Gesellschaft und
Geschichte, Bd 12.1993 (1994)
H/a/1/460
Kent, James T.: [Final general repertory of the homoeopathic materia medica] Kent's final
general repertory of the homoeopathic materia medica / revised, corrected, augmented & edited by Pierre Schmidt & Diwan Harish Chand. - Revised ed., 2. ed. New Delhi : National Homoeopathic Pharmacy, 1982. - XXX, 1423 S. : Ill.
Einheitssacht.: Repertory of the homoeopathic materia medica
H/d/2/220/1982
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
© Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015
Neuerwerbungen der Bibliothek des Homöopathie-Archivs
213
Kent, James T.: [Repertorium der homöopathischen Arzneimittel] Kents Repertorium der
homöopathischen Arzneimittel / neu übers. u. hrsg. von Georg v. Keller u. Künzli
von Fimmelsberg. - 13., überarb. Aufl. / unter Mitarb. von Stefan Reis.-Dünndr.Ausg. - Heidelberg : Haug, 1993
Einheitssacht.: Repertory of the homoeopathic materia medica <dt.>
ISBN 3-7760-1372-9
1. Bd. XXXVIII, 529 S.
2. Bd. 728 S.
3. Bd. VIII, 805 S.
H/d/2/224/1993
L
Lavarenne, M.: Pages choisies d'homéopathie et esquisse d'une bibliographie méthodique
de la doctrine : à l'usage du corps médical et du grand public / M. Lavarenne. - Paris : Baillière ; Clermont-Ferrand : Lavarenne, 1942. - 215 S.
(Documents authentiques sur une doctrine mystérieuse)
KOPIE
H/b/2/422
Lemke, Hermann: Einführung in die Grundlagen des Naturheilverfahrens und der Homöopathie / von Hermann Lemke. - Jena : Schultechnik-Verl.
3. Bd.: Entzündungskrankheiten : aufgebaut auf der Augendiagnose. - [1927]. 16 S. : Ill.
H/d/4/304
Lemke, Hermann: Die Heilung vom Tripper : giftfrei behandelt, restlos geheilt / von
Hermann Lemke. - Jena : Schultechnik-Verl., 1922. - 16 S. : Ill.
H/d/5/245
Lemke, Hermann: Die Syphilis und ihre Heilung auf naturgemäßer Grundlage ohne
Quecksilber und Salvarsan : ein neuer Weg zur Volksgesundung / von H. Lemke. 5. Aufl. - Berlin : Lemke, 1925. - 56 S. : Ill.
H/d/5/243
M
Manual clínico : fundamentado na VI edição do Organon da Medicina do Dr. Samuel
Hahnemann / IAKAP, Ambulatório Médico Hahnemanniano. Autores e médicos
do Ambulatório Médico Hahnemanniano da IAKAP: Elizete Cappello ... Ubiratan
Cardinalli Adler. - São Paulo : Robe Editorial, 1993. - 75 S.
H/a/5/240
Mattei, Cesare: Neues Vade-Mecum : neuer und wahrer Führer für einen jeden, welcher
sich selbst mit Elektro-Homöopathie kuriren will / von Cesare Mattei. Auf Wunsch
d. Verfassers ins Dt. übers. - 2. Aufl. - Regensburg : Manz, 1884. - 93 S.
H/d/9/455/1884
Müller, Andres: Pastor Felke und seine Heilmethode / von Andres Müller. - 12., stark
verm. u. verbess. Aufl. - Crefeld : Worms & Lüthgen, [nach 1912?]. - 375, VIII S.
Naturh. 29 1912
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
© Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015
214
Helena Korneck und Beate Schleh
Müller-Kypke, Arthur: Verhaltungsmaßregeln beim Gebrauche einer homöopathischen
Kur / von Müller-Kypke. - Berlin : Homöopathischer Central-Verl.
1. Bd. - 9.-18. Taus., 4., verm. u. verbess. Aufl. - 1911. - 87 S.
H/d/1/443
N
New, old and forgotten remedies : papers by many writers / collected, arranged and
ed. by Edward Pollock Anshutz. - Indian edition. - Calcutta : Roy, 1961. - VII, 441
S.
H/c/2/908
O
Ottinger, Hermann U.: Ottinger's verbesserte Komplex-Homöopathie : Ottinger's Homöopathie ; diese vereinfachte, zusammengesetzte Homöopathie ist das Resultat einer sehr großen Heilpraxis und bewährte sich in Tausenden von Krankheitsfällen ;
für den Volksgebrauch dargestellt / von Hermann U. Ottinger. Mit e. Vorw. von G.
W. Surya. - Berlin-Pankow : Linser, 1921. - 140 S. : Ill.
H/d/9/607
P
Puhlmann, C. G.: Kleiner homöopathischer Hausarzt : nebst Charakteristik von vierzig
wichtigen homöopathischen Arzneimitteln und genauer Angabe der Gabengröße für
jeden Einzelfall / [mutmaßl. Verfasser: C. Gustav Puhlmann]. - Leipzig, 1890
In: Homöopathisches Vademecum ; S. 82-218
in: an: H/c/1/807
R
Rabovsky, Kristin: Homöopathie und ärztliche Ethik : Begriffe und handlungsorientierende Werte homöopathischer Ärzte heute / von Kristin Rabovsky. - Freiburg i.
Brsg., 1993. - 177 S.
Freiburg, Breisgau, Univ., Diss., 1993
H/d/1/111
Rapou, Toussaint de: Seul traitement préservatif et curatif du choléra asiatique : dont
l'expérience a constaté l'efficacité, d'après les procédés homéopathiques / par T.
Rapou, de Lyon. - Paris [u.a.] : Baillère [u.a.], 1835. - 48 S.
3 an: Chargé, Alexandre: Traitement homoeopathique préservatif et curatif du
choléra épidémique. 8. éd. 1854
3 an: H/d/6/147
Rehm, Emil: Homöopathisches Laienbrevier : 100 homöopathische Arzneimittel für die
häusliche Krankenpflege / Emil Rehm. Mit e. Vorw. von Martin Stübler. - 5., überarb. Aufl. - Stuttgart : Paracelsus-Verl., 1981. - 85 S.
ISBN 3-7899-0031-1
H/d/8/469
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
© Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015
Neuerwerbungen der Bibliothek des Homöopathie-Archivs
215
Reis, Stefan: Homöopathische Behandlung von Verletzungen : ein Leitfaden für den homöopathischen Praktiker / Stefan Reis. - Oberhausen : Dynamis-Verlag, 1994. 64 S.
ISBN 3-9802961-5-6
H/d/5/754
Reza, Bettina: Das Leben und Wirken Samuel Hahnemanns in Köthen 1821-1835 / von
Bettina Reza. - Leipzig, 1986. - 32 S., 12 Anlagen
KOPIE. - Leipzig, Ingenieurschule für Pharmazie, Fachschulabschlussarbeit, 1986
H/a/2/412
S
Sauters Homöopathie und Gesundheitspflege / Sauters Laboratorien G.m.b.H., Tumringen (Baden). - 47. Aufl. - Tumringen (Baden) : Sauters Laboratorien, o.J. - 48 S. :
zahlr. Ill.
Umschlagt.: Homöopathie Sauter
H/d/9/561/o.J.
Sauters Homöopathie und Gesundheitspflege / Sauters Laboratorien G.m.b.H., Tumringen (Baden). - Tumringen (Baden) : Sauters Laboratorien, 1927. - 32 S. : zahlr.
Ill.
Umschlagt.: Sauter Homöopathie
H/d/9/561/1927
Scheible, Karl-Friedrich: Hahnemann und die Cholera / von Karl-Friedrich Scheible. Heidelberg : Haug, 1994. - 95 S.
Zugl.: Würzburg, Univ., Diss., 1992
ISBN 3-7760-1406-7
H/d/6/167/1994
Schier, Josef: Biologische Erfahrungsheillehre : mit vorzugsweiser Berücksichtigung der
homöopathischen Behandlung ; mit einer Tabelle der gebräuchlichsten homöopathischen Arzneien / von Josef Schier. - 2., neubearb. u. verbess. Aufl. - Stuttgart :
Hippokrates-Verl. Marquardt, 1941. - XX, 388 S.
H/d/9/120/1941
Schindler, Herbert: Inhaltsstoffe und Prüfungsmethoden homöopathisch verwendeter
Heilpflanzen / von Herbert Schindler. Aus d. wiss. Abt. d. Firma Dr. Willmar
Schwabe, Karlsruhe. - Aulendorf i. Württ. : Editio Cantor, 1955. - 231 S. : graph.
Darst.
H/c/1/220
Schürer-Waldheim, Fritz: Biologische Behandlung der Lues : für Aerzte und Studierende der Medizin / von F. Schürer-Waldheim. - Berlin : Madaus, 1928. - 152 S.
Enth.: T.1: Das Prießnitzsche Heilverfahren. T.2: Homöopathische Luesbehandlung
H/d/5/246
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
© Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015
216
Helena Korneck und Beate Schleh
Schultheiß, Ulrich G.: Warum gehen Patienten zum Arzt mit der Zusatzbezeichnung
Homöopathie oder Naturheilverfahren? / von Ulrich Gregor Schultheiß u. Thomas
Schriever. - Ulm, 1991. - 150, 12, 8 S.
Ulm, Univ., Diss., 1992
H/d/1/109
Sirarol, Cristóbal: Aviso à los amigos y enemigos de la homeopatía : ò sea instruccion
sucinta y breve à los que no están iniciados en la homeopatía para que puedan juzgar con algun fundamento de ella ; opúsculo publicado / por el Doctor Don
Cristóbal Sirarol. - Barcelona : Tasso, 1852. - 40 S.
1 an: Chargé, Alexandre: Traitement homoeopathique préservatif et curatif du
choléra épidémique. 8. éd. 1854
1 an: H/d/6/147
Sirarol, Cristóbal: Preceptos higiénicos y regimen que debe seguirse durante el tratamiento homeopático : en las enfermedades agudas y crónicas / por el Doctor D.
Cristóbal Sirarol. - Barcelona : Tasso, 1850. - 16 S.
5 an: Chargé, Alexandre: Traitement homoeopathique préservatif et curatif du
choléra épidémique. 8. éd. 1854
5 an: H/d/6/147
Specielles illustrirtes Preis-Verzeichniß der homöopathischen Central-Apotheke
von Dr. Willmar Schwabe in Leipzig, Querstraße Nr. 5 (in der Nähe der Johanneskirche) : das umfangreichste homöopathische Etablissement der Welt ; PreisMedaillen in Bronze, Silber u. Gold: Aussstellungen zu Chemnitz, 1867; Horodenka, 1869; Moskau, 1872; Wien, 1873; Halle a/S., 1881; Porto Alègre, 1881; Calcutta, 1884; Brüssel, 1888; Melbourne, 1888 und Rom (Vatican), 1888. - Leipzig : Dr.
Willmar Schwabe, 1890. - 153 S. : zahlr. Ill.
Daran: Homöopathisches Vademecum. 1890
H/c/1/807
Stur, Carl E. von: Praktische Andeutungen im Bezug auf das erfolgreichste Verfahren am
Krankenlager, nebst jatrochemischen und einigen homöopathischen Notizen für
Aerzte und Patienten / von Carl Edlen von Stur. - Wien : Heubner, 1852. - XVI,
191 S.
H/d/1/106
T
Twenhöfel, Ralf: Homöopathie und Schulmedizin : zur Soziologie eines Konfliktes / von
Ralf Twenhöfel. - Heidelberg : Haug, 1994. - 102 S.
(Homöopathie)
ISBN 3-7760-1408-3
H/b/3/195
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
© Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015
Neuerwerbungen der Bibliothek des Homöopathie-Archivs
217
V
Verzeichnis homöopathischer Arzneimittel : mit Potenzierungstabelle und Auszug aus
dem homöopathischen Arzneibuch / Hom. Central-Offizin Dr. Wagner & Dr.
Haas, Basel. - Basel : Homöopathische Central-Offizin Dr. Wagner & Dr. Haas,
[um 1939?]. - 52 S.
H/c/1/810
Yasgur, Jay: A dictionary of homeopathic medical terminology / Jay Yasgur. - 2nd ed.,
rev. and enlarged. - Greenville, PA : Van Hoy Publ., 1992. - 181 S.
H/a/1/169
Z
Zimmermann, Walther: Homöopathie in der Klinik : eine erlebte Heilmethode /
Walther Zimmermann. - München : Quintessenz-Verl., 1990. - 295 S. : zahlr. Ill.
H/c/3/220
Zeitschriften
Allgemeine homöopathische Zeitung : für wissenschaftliche und praktische Homöopathie / Hauptschriftleitung: Kalr-Heinz Gebhardt ... - Heidelberg : Haug - ISSN
0175-7881
239.1994
H/Z/a/20
The American homeopath : the journal of the North American Society of Homeopaths.
- Lafayette, Ca. : NASH
1. 1994
H/Z/a/33
American Institute of Homeopathy <Washington, DC>: Journal of the American
Institute of Homeopathy. - Denver, CO
H/Z/j/70
82. 1989
86. 1993
H/Z/j/70
Archiv für Homöopathik / Schriftleitung: Michael Terlinden. Red.: Stefan Reis ... Oberhausen : Dynamis-Verl. - ISSN 0940-9963
3.1994
H/Z/a/71
The Berlin journal on research in homoeopathy / The Berlin Documentation Project
on Research in Homoeopathy. Ed.: Joachim Hornung. - Berlin
1. 1990/1991 (damit Erscheinen eingestellt)
H/Z/b/15
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
© Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015
218
Helena Korneck und Beate Schleh
British homoeopathic journal : with Simile / ed. ... - London : Faculty of Homoeopathy
- Enthält: Simile - ISSN 0007-0785
83.1994. - Enthält: Simile 4.1994
H/Z/b/40
Current health literature awarness services : homoeopathy, allied sciences / India /
Central Council for Research in Homoeopathy. - New Delhi,
4. 1991, Nr. 2,3,4
5. 1992, Nr. 1,4
6. 1993
H/Z/q/25
Deutsches Journal für Homöopathie / Hrsg.: Michael Barthel. - Berg am Starnberger
See : Barthe & Barthel - ISSN 0721-8974
13.1993
H/Z/d/30
Health and homoeopathy : incorporating Homoeopathy Today / editors ... - London :
Homoeopathic Society of Great Britain. - ISSN 0261-2828
6. 1994, 1,2,3
Homoeopath : the journal of the Society of Homoeopaths. - Northampton : Soc. of Homoeopaths
1994, no. 52-55
H/Z/h/21
The Homoeopathic eye, ear and throat journal : official organ of the American Homoeopathic Ophthalmological, Otological and Laryngological Society / Ed.: John
L. Moffat ... - Lancanster, Pa.
Aufgegangen in ---> The Journal of ophthalmology, otology and laryngology (s.d.)
16.1910, 4-6, 8-12
H/Z/h/27
The Homoeopathic heritage / ed. S.P. Dey ... . - New Delhi : Jain - ISSN 9070-6038
19.1994
H/Z/h/32
Homoeopathic links : international journal for classical homoeopathy. - Bern : Homoeopathic Links
ISSN 1019-2050
6. 1993
7. 1994
H/Z/h/30
Homoeopathic links : Special issue 1987-90 ; a compilation of Links Vol. 1-3. - 1994; a
compilation of the main articles of the issues Nr. 1-10 publ. between July 1987 and
December 1990
H/Z/h/30
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
© Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015
Neuerwerbungen der Bibliothek des Homöopathie-Archivs
219
The homoeopathic quarterly : a journal devoted to the interests of pure homoeopathy /
Rollin R. Gregg, ed. and proprietor. - Buffalo, N.Y. : Matthews & Warren
1. 1869
2. 1870 (Vol. 1/2 in 1 Bd.)
Daran: Gregg, Rollin R.: Synopsis of a forthcoming work upon consumption and
the numerous kindred maladies. - 1865
H/Z/h/31
Homoeopathic up-date / ed. Prem Nath Jain. - New Delhi : Jain
1994
H/Z/h/38
Homoeopathica : Journal of LMHI / Liga Medicorum Homoeopathica Internationalis. Wien : Herold Business Data Ges.
Bis 1994 u.d.T.: Journal of L.M.H.I.
1.1994, Spring, Summer, Autumn
H/Z/j/84
The homoeopathician : a journal for pure homoeopathy / ed. by James Tyler Kent and
Julia C. Loos. - Harrisburg, PA : Homoeopathician Publishing Co.
H/Z/h/45
1. 1912 (KOPIE - Vol. 1/2 in 1 Bd.). - Es fehlen die S. 164-165+220-221
2. 1912 (KOPIE - Vol. 1/2 in 1 Bd.). - Es fehlen die S. 30-31+40-47
3. 1913 (KOPIE)
4. 1914 (KOPIE)
5. 1915 (KOPIE). - Es fehlen die S. 230-231+286-287
H/Z/h/45
Homöopathie aktuell : Naturgesetzlich heilen / Hrsg.. Dt. Gesellschaft zur Förderung
naturgesetzlichen Heilens e.V. - Bielefeld : Bielefelder Verl.-Anst.
9.1994
H/Z/h/48
Homöopathie in Österreich : Mitteilungen der Österreichischen Gesellschaft für Homöopathische Medizin / Red. Friedrich Dellmour. - Wien : Österr. Ges. für Hom.
Med.
5.1994
H/Z/H/54
Homöopathie-Zeitschrift / Hrsg. Homöopathie-Forum e.V. - Gauting : Hom.-Forum
1994,1,2
H/Z/h/60
Homöopathische Flugblätter : Mitteilungsblatt des Wilseder StudentInnen Forums für
Homöopathie / Red.: Dorothee Schimpf, Karl und Veronica Carstens-Stiftung, Oliver Bonifer. - Essen
1992, Nr. 1-4
1993, Nr. 1,4,5
1994, Nr. 1,2,3
H/Z/h/63
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
© Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015
220
Helena Korneck und Beate Schleh
Homöopathischer Kalender für das Jahr ... / hrsg. von der Homöopathischen CentralApotheke Dr. Willmar Schwabe in Leipzig. - Leipzig : Schwabe
4. 1894 . ... für das Jahr 1894. - 1893. - 79 S.
H/Z/h/74
Homöopathischer Taschenkalender für das Jahr ... / hrsg. vom Verband Homöopathischer Vereine Sachsens e.V. - Leipzig : Schwabe
1931 . ... für das Jahr 1931. - 1931. - 162 S.
H/Z/h/75
Homoeopathy : the journal of the British Homoeopathic Association. - London : British
Homoeopathic Association
1.1932 - 10.1941
N.S. 43.1993, 6
N.S. 44.1994 1-6
H/Z/h/77
India/ Central Council for Research in Homoeopathy:
CCRH news / Central Council for Research in Homoeopathy. - New Delhi
18. 1991
19. 1992
20. 1992/93
H/Z/q/25
India / Central Council for Research in Homoeopathy:
Quarterly bulletin. - New Delhi
14. 1992
15. 1993
H/Z/q/25
International Homeopathic League:
Dossier / International Homeopathic League. - Selva, Mallorca, Balears : L.M.H.I.
Investigacion en medicina homeopatica / Liga Medicorum Homoeopathica Internationalis. - Selva, Mallorca, Balears : L.M.H.I., 1989. - 406 S.
(Dossier / International Homeopathic League)
Rückent.: Homoeopathy & research
H/Z/i/55
International Homoeopathic League:
Journal of L.M.H.I.
Ab 1994 s. ---> Homoeopathica
Le journal de l'homéopathie : lettre mensuelle d'informations médicales. - Sainte-Foylès-Lyon : Boiron, 1993ISSN 0989-6244
N.S. 1993, no. 1-11
N.S. 1994, no. 12-22
H/Z/j/54
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
© Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015
Neuerwerbungen der Bibliothek des Homöopathie-Archivs
221
[Le journal de l'homéopathie / Hors-série] Le journal de l'homéopathie : lettre mensuelle d'informations médicales. Hors-série. - Sainte-Foy-lès-Lyon : Boiron
(Le journal de l'homéopathie : Supplément)
1993, no. 1.2
1994, no. 3.4
ISSN 0989-6244
H/Z/j/54
The Journal of ophthalmology, otology and laryngology : devoted to the interests of
exclusivists, specialists and general practitioners / Ed:: John L. Moffat ... - Lancaster,
Pa [u.a.]
Darin aufgegangen ---> The Homoeopathic eye, ear and throat journal (s.d.)
[Sign:: H/Z/h/27]
17. 1911
18. 1912, 1,2, 4,5,6,7,8,9,10,11,12
19. 1913, 1,2,3, 5,6,7,8,9,10,11,12
20. 1914, 1,2, 4,5
Zs. 171
La lettre de la nutrithérapie : information médicale ; trimestriel / Boiron, Département
nutrithérapie. - Sainte-Foy-lès-Lyon : Boiron
(Journal de l'homéopathie : Supplément) 19931993, no. 1-2
1994, no. 3-5
H/Z/j/54
Quarterly bulletin / Central Council for Research in Homoeopathy. - New Delhi
s. India / Central Council for Research in Homoeopathy : Quarterly bulletin
Revue belge d'homoeopathie. - Bruxelles : Association Homoeopathique Belge
Année 24 = Vol. 8. 1972, No. 2. 3
46.1994
H/Z/r/10
Simile : news, views and case reports from the Faculty of Homoeopathy / Faculty of Homoeopathy. - London : Faculty of Homoeopathy. - Enthalten in: British homoeopathic journal
4.1994 - in: British homoeopathic journal 83.1994
H/Z/b/40
Das Similimum : das Mitteilungsblatt des Dietrich-Berndt-Institutes zur Förderung der
Homöopathie. - Göttingen : Dietrich-Berndt-Institut
1994, H.9
H/Z/s/29
Simillimum : the journal of the Homeopathic Academy of Naturopathic Physicians. Portland, OR
7.1994, (mit Index 1990-94)
H/Z/s/31
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
© Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015
222
Helena Korneck und Beate Schleh
Situacion legal de la medicina homeopatica en el mundo / Liga Medicorum Homoeopathica Internationalis. - Selva, Mallorca, Balears : L.M.H.I., 1989. - 351 S.
(Dossier / International Homeopathic League)
Rückent.: Homoeopathy & legal status
H/Z/i/55
Zeitschrift für homöopathische Thierheilkunde : Organ für Thierärzte, Landwirthe,
Viehbesitzer u. Freunde der Homöopathie. - Leipzig
Jg. 1.1886 - 3.1888 - damit Erscheinen eingestellt.
Erscheint 1898 neu als Beilage zu ---> Volksthümliche homöopathische Rundschau
[Sign.: H/Z/v/60]
1. 1886 (Jg. 1/2 in 1 Bd.)
2. 1887 (Jg. 1/2 in 1 Bd.)
3. 1888
H/Z/z/55
Zeitschrift für homöopathische Thierheilkunde : Beilage zur „Volksthümlichen homöopathischen Rundschau“. - Berlin
Beilage zu ---> Volksthümliche homöopathische Rundschau - 1. 1886 - 3. 1888
selbständig in Leipzig erschienen
1. 1889
H/Z/v/60
Zeitschrift für klassische Homöopathie : Grundlagen, Materia medica, Praxis / Schriftleitung: Thomas Genneper ... - Heidelberg : Haug - ISSN 0935-0853
38.1994
H/Z/z/60
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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IV. Homöopathiegeschichte: Laufende Forschungen und
Veranstaltungen
1. Laufende Forschungen
Beck, Miriam, cand. med.
Sumpfweg 15
72070 Tübingen
Biographie über Gustav Wilhelm Groß
Anfang 1994 - voraussichtl. 1996
Dissertation bei Prof. Dr. Robert Jütte, Institut für Geschichte der Medizin der Robert
Bosch Stiftung, Stuttgart und Prof. Dr. Mocker, Studiendekan für Medizin, Universität
Tübingen
Gustav Wilhelm Groß, einer der ersten und treuesten Schüler Hahnemanns, lebte von
1794-1847 und praktizierte in seiner Geburtstadt Jüterbog als homöopathischer Arzt.
Neben seiner Praxis war er Mitherausgeber des Archiv für homöopathische Heilkunst und
der AHZ, außerdem schrieb er einige Bücher und kritische Buchbesprechungen, unter
denen der „Antiorganon des Herrn D. Joh. Chr. Ay Heinroth“ der wohl bekannteste ist.
Außerdem befindet sich in Stuttgart Hahnemanns „Materia medica pura“, die Groß geschrieben hatte.
Hahnemann bezeichnete ihn als einen „seiner besseren Schüler“, und betrachtet man das
Lebenswerk von Groß, so war er sicher ein wichtiger früher Homöopath, obwohl er jetzt
eher in Vergessenheit geraten ist.
Brühl, Catrin, cand. med.
Unterhof 67 - 9116
35392 Gießen
„Prinzipien und Methoden der Frauenheilkunde in der Homöopathie des 19. Jahrhunderts“
Beginn: Dezember 1994
Dissertation bei Prof. Dr. Dr. Schott, Medizinhistorisches Institut der Universität Bonn
Berücksichtigt werden nur Quellen der sogenannten Klassischen Homöopathie nach Samuel Hahnemann, keine Komplexmittel - „Homöopathie“.
Das Werk Hahnemanns wird im Rahmen dieser Arbeit nicht betrachtet.
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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Homöopathiegeschichte
224
von Hörsten, Iris, cand. med.
Siegesstr. 9
30175 Hannover
Kommentar der Krankenjournale D2, D3 und D4
Oktober 1994 - Ende 1996
Dissertation bei PD Dr. Dr. Udo Benzenhöfer, Medizinische Hochschule Hannover
Sivermark-Wedberg, Brigitta, B.A.
Wedberg, Lennart, Ph.Dr.
Tinevej 9
DK- 3060 Espergaerde
Denmark
Is homoeopathy a success story?
1993 - Jan./Febr. 1996
Monographie, Uppsala Universität, Medizinische Fakultät, Schweden
Einleitende Forschungsarbeit als Basis für Vorlesungen zur Homöopathie. Folgendes wird
behandelt: Geschichte, Prinzipien, Konstitutionslehre etc, insgesamt Homöopathie in verschiedenen Ländern, besonders in Schweden, Staatliche Berichte.
Vigoureux, Ralf
Homöopathische Gemeinschaftspraxis
Schwartauer Allee 10
23554 Lübeck
Leben und Werk des Geheimen Sanitätsraths Dr. Julius Aegidi
April 1994 - voraussichtl. 1996
Dissertation bei PD Dr. Dr. Udo Benzenhöfer, Abteilung Geschichte der Medizin, Medizinische Hochschule Hannover
Julius Aegidi (geb. 1794 oder 1795, gest. 1874) erlangte durch die von ihm angestrebte
Diskussion über die Verwendung von Doppelmitteln in der homöopathischen Therapie
einige Bekanntheit. Neben der allgemeinen biographischen Darstellung versucht die Arbeit
besonders seinen Austausch mit Hahnemann zu beleuchten, mit dem ein recht umfangreicher, teilweise noch nicht transkribierter Briefwechsel bestand. Desweiteren wird eine Zusammenstellung und Bewertung seiner größtenteils in homöopathischen Fachzeitschriften
erschienenen Veröffentlichungen erarbeitet.
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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V.
Sozialgeschichte der Medizin: Laufende Forschungen
und Veranstaltungen
1. Laufende Forschungen
Aumüller, Gerhard, Prof. Dr.
Lauer, Hans H., Prof. Dr.
Remschmidt, Helmut, Prof. Dr.
Klinikum der Philipps-Universität Marburg
Fachgebiet Geschichte der Medizin
Biegenstraße 43
35037 Marburg
Die Marburger Medizinische Fakultät zur Zeit des Nationalsozialismus. Strukturelle, personelle und thematische Konsequenzen der Einflußnahme von Partei und Staat auf die
Fakultät.
1.1.1995 - 31.12.1996
Monographie
Das Projekt versucht, das Verhältnis und die wechselseitige Beeinflussung von Gesellschaftssystem und wissenschaftlicher Medizin, Forschung und Lehre an der Universität
Marburg während des „Dritten Reiches“ zu erhellen. Im Mittelpunkt steht die Untersuchung, inwieweit der Nationalsozialismus Einfluß auf Personal- und Leistungsstrukturen,
auf Krankenversorgung und auf Unterricht und Forschung genommen hat und umgekehrt,
welche Impulse von der Fakultät selbst ausgingen. Im Vergleich mit bis jetzt vorhandenen
Untersuchungen an anderen Universitäten soll der Marburger Fall eingeordnet und bewertet werden, um damit schließlich auf reichsweite Entwicklungen und Strukturen schließen
zu können.
Barth-Scalmani, Gunda, Mag. Dr. phil. Univ. Ass.
Leopold-Franzens Universität Innsbruck
Institut für Geschichte
Abt. f. Österreichische Geschichte
Innrain 52
A-6020 Innsbruck
E-mail: [email protected]
Modernisierung und Professionalisierung des Hebammenwesens in Salzburg vom 18.
Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg.
Teil 1 bereits abgeschlossen und veröffentlicht: „Die Reform des Hebammenwesens in
Salzburg zwischen 1760 und 1815“, in: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde, Bd. 134 (1994), S. 365-398.
Die Quellenrecherche soll im Herbst 1995 abgeschlossen werden und im Jahre 1996/97
publiziert werden.
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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Sozialgeschichte
226
Aufsatz
Teil 2 beinhaltet die Untersuchung zum Hebammenwesen im Kronland Salzburg von
1815 bis 1918 anhand folgender Aspekte: Ausbildung (vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Reformansätze zur Hebammenausbildung in der Habsburgermonarchie),
Handlungspraxis der Hebammen (Bestellung, Bezahlungsmodalitäten), Rekrutierung (soziale und geographische Herkunft, Rolle der katholischen Kirche bei der Rekrutierung),
Organisierung (Ursachen für die Gründung von Berufsvereinen, Partizipation, WienDominanz oder autonome lokale Ansätze).
Die Behandlung dieser Thematik steht in dem größeren Zusammenhang mit der Frage
nach den Auswirkungen der Modernisierung der staatlichen Verwaltung (d.h. hier Sanitätsverwaltung) für traditionelle Frauenberufe.
Dornheim, Jutta, Dr.
Wolff, Eberhard, Dr. des.
Institut für Geschichte der Medizin
der Robert Bosch Stiftung
Straußweg 17
D-70184 Stuttgart
Netzwerk „Gesundheit und Kultur in der volkskundlichen Forschung“
seit 1995
Mit dem Aufbau des Netzwerks soll versucht werden, Forscherinnen und Forscher, die in
der Volkskunde oder mit volkskundlichem Interesse bzw. Methoden und Fragestellungen
des Faches zu Fragen von Gesundheit, Krankheit und Medizin arbeiten (historisch oder
aktuell), in einen engeren Kontakt zueinander zu bringen. In einem ersten Schritt wird ein
Überblick über laufende Forschungen erstellt und voraussichtlich gegen Ende des Jahres
1995 veröffentlicht. Ein erstes Treffen auf dem Volkskunde-Kongreß in Karlsruhe im September 1995 dient darüber hinaus dazu, die Möglichkeiten eines weiteren gemeinsamen
Vorgehens auszuloten. Dabei steht die Frage im Blickpunkt, welchen Beitrag die Volkskunde für eine interdisziplinäre Gesundheitsforschung leistet oder leisten könnte.
Ellerbrock, Dagmar, M.A.
Leinenbrunnen 1
71083 Herrenberg
„Gesundheitspolitik in der amerikanischen Besatzungszone“
Januar 1994 - Dezember 1996
Dissertation bei Prof. Dr. Ute Frevert, Universität Konstanz, Fachgruppe Geschichte
Ausgehend von der Tatsache, daß die amerikanische Besatzungsmacht gesundheitspolitischen Angelegenheiten eminente politische Bedeutung zumaß, soll der Frage nachgegangen
werden, welche politischen Ziele sich hinter der anvisierten „medical mission“ verbargen.
Anhand der nachfolgenden vier Bereiche sollen amerikanische und deutsche Konzepte
einander gegenübergestellt und die jeweiligen Planungen in ihrer länderspezifischen Tradition diskutiert werden:
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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Laufende Forschungen und Veranstaltungen
227
a) Restauration des deutschen Gesundheitssystems, i.e. Streitpunkte zwischen Militärregierung (MG) und Ärztekammern, kassenärztlichen Vereinigungen und Versicherungsträgern
b) amerikanisches „public health concept“ als Modell für das deutsche Gesundheitswesen:
Übertragungsversuche der MG und deutsche Widerstände
c) überwiegende Konzentration der MG auf Geschlechtskrankheiten, gesellschaftliche Implikationen, Reaktion und abweichende Einschätzung der zuständigen deutschen Behörden
d) soziale Wahrnehmung und gesellschaftlich / medizinische Reaktion auf Tuberkulose.
Zugrunde liegt die Überlegung, ob und bis zu welchem Grad Gesundheitspolitik ein geeigneter „Transmissionsriemen“ (Ute Frevert) amerikanischer Gesellschaftsvorstellungen war,
vor allem vor dem Hintergrund, daß der gesellschaftspolitische Diskurs in den USA eine
stark nationale Komponente besaß. Zu fragen ist also, ob amerikanische Gesundheitspolitik hinsichtlich der Assimilation der Deutschen an den „American Way of Life“ erfolgreich
war, ob sie mit Beginn des Kalten Krieges eine neue Stoßrichtung erhielt oder ob die amerikanische Idee, gesundheitspolitische Visionen vermitteln zu können, verwässert wurde
durch den Aufstieg der (West)Deutschen vom Feind zum Verbündeten. Wurde durch diese
Entwicklung, die die gesundheitspolitischen Eigenleistungen der Deutschen wieder ins
Blickfeld rückte und gesundheitspolitischen Planungen deutscher Behörden stärkeres Gewicht verlieh, die amerikanische Selbststilisierung als medizinischer Missionar überflüssig
oder sogar bestätigt?
Huber, Katharina, Lic.phil.I
Ryffstraße 30
CH - 4056 Basel
Felix Platters „Observationes“ - Studien zum Gesundheitswesen im frühneuzeitlichen Basel
(16. / 17. Jahrhundert)
Oktober 1994 - Ende 1997/1998
Dissertation bei Prof. Dr. H.R. Guggisberg, Universität Basel, Phil.I / Geschichte und bei
Prof. Dr. med. H.M.F. Koelbing, Universität Zürich
Ausgehend von der Analyse der medikalen Kultur in der frühneuzeitlichen Stadt Basel soll
gezeigt werden, daß - obwohl im 16. / 17. Jahrhundert noch die Gesamtheit des mittelalterlichen, medizinischen Angebotes vorherrscht - die Reintegration von Anatomie, Chirurgie
und (zumindest der theoretischen) Gynäkologie in die Medizin in diesen Zeitraum fällt.
Diese Entwicklung bildet die Basis für die zu einem späteren Zeitpunkt erfolgende obrigkeitliche Ausgrenzung des nicht-akademischen medizinischen Angebotes und wird durch
den Stadtarzt und Prof. Praxeos Felix Platter (1536-1614) verkörpert. Die Untersuchung
des Ausbaus der Medizinischen Fakultät und die Entwicklung des Medizinstudiums seit
Felix Platter soll zeigen, daß sich dem akademisch ausgebildeten Arzt durch die neuen
wissenschaftlichen Erkenntnisse und durch die verbesserte Ausbildung neue Handlungsräume erschlossen, die im Mittelalter noch ausschließlich handwerklich geschulten Barbierchirurgen, praktisch erfahrenen Hebammen oder etwa bei psychischen Erkrankungen
Priestern vorbehalten waren. Einerseits möchte die projektierte Arbeit aus einer „Makroperspektive“ die großen strukturellen Veränderungen im städtischen Gesundheitswesen
aufzeigen, andererseits sollen aus einer „Mikroperspektive“ Felix Platters „Observationes“ im
Hinblick auf die Körpervorstellungen, Therapieformen und vor allem auf Krankheits- und
Gesundheitsbegriffe untersucht werden. Im Zentrum der systematischen sozial-, kultur- und
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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Sozialgeschichte
228
medizinhistorischen Auswertung der Krankengeschichten stehen Patient und akademisch
ausgebildeter Arzt.
Jütte, Robert, Prof. Dr. (Projektleiter)
Wolff, Eberhard, Dr. des. (Bearbeiter)
Schlich, Thomas, Dr. med. (Arbeitsgruppenmitglied)
Institut für Geschichte der Medizin
der Robert Bosch Stiftung
Straußweg 17
D-70184 Stuttgart
Anfang 1995 bis Ende 1996 (erster Forschungsabschnitt)
Die Rolle der Medizin bei der Wandlung des Judentums in der Aufklärung
Das Projekt stellt den medizinischen Teil eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft
geförderten Gruppenprojekts über den kulturellen Wandel des Judentums in der Aufklärung dar. Im ersten Forschungsabschnitt sollen ausgewählte Biographien jüdischer Ärzte
im 18. und frühen 19. Jahrhundert auf ihre Rolle als Repräsentanten des mit der Emanzipation eng verbundenen Prozesses der kulturellen Öffnung des Judentums gegenüber der
christlich-bürgerlichen Gesellschaft untersucht werden.
Krähwinkel, Esther, M.A.
Deutschhausstraße 34
35037 Marburg
Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Gesundheitspolitik. Die Institutionen der Gesundheitsfürsorge und ihre Arbeitsweise in der Weimarer Republik und im „Dritten Reich“
am Beispiel Marburgs.
Januar 1995 bis Ende 1997 / Anfang 1998
Dissertation bei Prof. Dr. Peter Borscheid, Fachbereich Geschichtswissenschaften, Institut
für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Philipps-Universität Marburg
In der Dissertation wird es darum gehen, Kontinuitäten und Diskontinuitäten zwischen
dem Gesundheitssystem der Weimarer Republik und dem des „Dritten Reiches“ am Beispiel Marburgs herauszuarbeiten. In der Untersuchung der lokalen Praxis vor den Strukturen einer universitären, deutlich dienstleistungsbezogenen Kleinstadt wird der Frage nachgegangen, ob sich die Annahme einer konzeptionell und zeitlich scharfen Trennung von
Sozial- und Rassenhygiene bestätigen läßt.
Lempa, Heikki
Heuberger-Tor-Weg 9/4
72076 Tübingen
E-mail: [email protected]
Körperlichkeit der Bildung. Zur Alltagsgeschichte des deutschen Bildungsbürgertums,
1800-1850
1995-1997
Monographie, Universität Turku, Historisches Institut
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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Laufende Forschungen und Veranstaltungen
229
In diesem Projekt geht es um eine historische Analyse der Bildung als Körperlichkeit. Drei
Aspekte der Lebensführung des deutschen Bildungsbürgertums werden schwerpunktmäßig
betrachtet, das Tanzen, die Diätetik (Lebensordnung) und die Gymnastik bzw. das Turnen.
In all diesen Aspekten werden nicht nur die Entwicklung der Wissenschaften, sondern
auch die diesen zu Grunde liegenden sozialen und kulturellen Bedingungen untersucht.
Dadurch läßt sich zeigen, daß das deutsche Bildungsethos nicht als vorwiegend intellektuelle Lebenshaltung zu betrachten ist, sondern wesentlich von körperlichen Praktiken geprägt war. Die Diskussion um die Diätetik der Gebildeten war eine der zentralen Auswirkungen dieser Entwicklung.
Loytved, Christine, M.A.
Medizinische Universität zu Lübeck
Institut für Medizin- und Wissenschaftsgeschichte
Königstr. 42
23552 Lübeck
Dem Hebammenwissen auf der Spur
1.1.1995- 1.1.1996
Aufsatz, evtl. Ausstellung(skatalog), Medizinische Universität Lübeck
Es geht um die Frage, ob überhaupt und wenn welches Hebammenwissen sich aus Lehrbüchern für Hebammen von 1500-1850 ableiten läßt.
Die Quellen sind etwa 80 Hebammenlehrbücher der Bibliothek des Ärztlichen Vereins zu
Lübeck (gegründet 1809), die als Dauerleihgabe der Stadtbibliothek im Institut für Medizin- und Wissenschaftsgeschichte untergebracht ist. Mit dieser örtlichen Eingrenzung kann
gleichzeitig etwas über die (zumindest in Buchform vorliegende) Verfügbarkeit geburtshilflichen Wissens in Lübeck ausgesagt werden.
Nitschke, Asmus, M.A.
Hegelstraße 39
28201 Bremen
Erb- und Rassenpflege in Bremen. Der öffentliche Gesundheitsdienst Bremens im Dritten
Reich.
1993 - 1995
Dissertation bei Prof. Dr. Steinberg, Fachbereich 8, Universität Bremen
Es geht um die Rolle der Gesundheitsämter im Dritten Reich. Im lokalen Kontext soll
verdeutlicht werden, wie der öffentliche Gesundheitsdienst im Nationalsozialismus zu einem Werkzeug der Erb- und Rassenpflege aufgerüstet wurde. Am Beispiel Bremen soll auf
solider Quellenbasis besonders untersucht werden, welche Spuren der staatliche Rassismus
in der Gesundheitsbürokratie hinterließ, wieweit (und um welchen Preis) die „Aufartung
des deutschen Volkes“ realiter getrieben wurde.
Rein, Oliver
Wasagasse 25/11
A-1090 Wien
Völlerei und Völlereiverbote im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert.
31.10.1994 - 31.10.1995
Magisterarbeit bei Prof. Dr. E. Saurer, Institut für Geschichte, Universität Wien
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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Sozialgeschichte
230
In Tagebüchern, Briefen, Autobiographien, Reise- und Städtebeschreibungen, Schauspielen, diätetischen Schriften und polizeywissenschaftlichen Werken wurden die unterschiedlichsten Umgangsformen mit Nahrung thematisiert und propagiert. Mit dem Schwerpunkt
auf Wiener Quellen aus der Zeit zwischen 1780 und 1810 sollen mögliche Formen des
Umgangs und der Bewertung von Übersättigung und „Völlerei“ dargestellt werden. Hierbei werde ich besonders auf die Darstellung des diätetischen Diskurses, - die Ernährungslehren und die Vorstellungen von Verdauung - Wert legen. Am Beispiel der Völlerei sollen
damals gängige diskursive Praktiken im Bereich Körper erarbeitet, gegenübergestellt und in
ihren Interdependenzen dargestellt werden. Es geht darum, anhand der Völlerei ansatzweise das sich durchsetzende bürgerliche Verständnis von Körper auch in seinen Auswirkungen zu erklären. Läßt sich der Körper im ausgehenden 18. Jahrhundert als Feld bürgerlicher Distinktionspraktiken verstehen?
Roche, Juanita
University of Leeds
Department of History
GB-Leeds LS2 9JT
E-mail: [email protected].
Der Kurort in der Sozialgeschichte der Medizin, 1870-1918
September 1995 - Ende 1998
Monographie
Die führenden Kurorte Deutschlands und Österreich-Ungarns bildeten einige der wichtigsten Treffpunkte der internationalen Elite im späten neunzehnten und frühen zwanzigsten
Jahrhundert; die sozialgeschichtliche Rolle des Kurorts in der Erhebung und Erhaltung
einer solchen Elite ist bis jetzt nicht genau erforscht worden. Gleichzeitig war der Kurort
aber auch eine zentrale Stelle europäischer medizinischer Praxis, und deswegen ist dessen
Untersuchung unentbehrlich für das Verstehen der Medizin in jenem Zeitalter. Als Fallstudien habe ich Baden-Baden, Marienbad und Karlsbad ausgewählt. In meiner Forschungsarbeit werde ich darstellen, wie Patient/innen und Ärzt/innen der deutschen, englischen
und französischen Elite diese Kurorte erlebten, nämlich als Stätten nicht nur von medizinischer Behandlung im engen Sinn, sondern auch von gesellschaftlicher Aktivität. Ich werde
fragen, ob die Teilnehmenden die Suche nach Heilung und die Herstellung gesellschaftlicher Verbindungen als einfach oder schwer vereinbar sahen, und wie sie die Beziehung
zwischen körperlicher und geistiger Krankheit begriffen. Schließlich hoffe ich insbesondere
von dem Vergleich zwischen den Einstellungen deutscher und englischer Teilnehmenden,
Hinweise darauf zu finden, warum der Kurort in Mitteleuropa, nicht aber in England, ein
geachteter Teil medizinischer Kultur blieb.
Rzihacek-Bedö, Andrea, Mag.phil.
Institut für Österreichische Geschichtsforschung
Dr. Karl-Lueger-Ring 1
A- 1010 Wien
Studien zur Pflege der medizinischen Fachprosa im Stift Admont bis 1500.
Herbst 1989 bis Ende 1996
Dissertation bei Prof. Dr. Winfried Stelzer, Fachbereich mittelalterliche Geschichte, Universität Wien und Prof. Dr. Helmut Grössing, Fachbereich Neuere Geschichte / Wissenschaftsgeschichte, Universität Wien
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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Laufende Forschungen und Veranstaltungen
231
Anhand der mittelalterlichen Bibliothekskataloge des Stiftes (in erster Linie des 2. Katalogs
Peters von Arbon von 1380) sowie der heute noch im Stift vorhandenen mittelalterlichen
Handschriften soll untersucht werden, welche medizinischen Schriften im Mittelalter im
Besitz des Stiftes waren. Es wird versucht werden, die in den mittelalterlichen Bibliothekskatalogen verzeichneten medizinischen Handschriften im heutigen Handschriftenbestand
nachzuweisen; die heute im Stift vorhandenen Handschriften sollen mit Hilfe von Besitzvermerken, Signaturen, Schreibvermerken, Einbänden dahingehend untersucht werden, ob
sie sich bereits im Mittelalter im Stift befunden haben.
Simon, Michael, Dr. phil.
Seminar für Volkskunde / Europäische Ethnologie
der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster
Domplatz 23
48143 Münster / W.
„Volksmedizin“ im frühen 20. Jahrhundert. Zum Quellenwert des Atlas der deutschen
Volkskunde
11/1992 - Herbst 1996
Habilitation
Von 1930 bis 1935 wurden vom Atlas der deutschen Volkskunde (ADV) nach dem Vorbild des Deutschen Sprachatlas (DSA) umfassende Umfragen zu einer Vielzahl volkskundlicher Themen im gesamten deutschsprachigen Raum durchgeführt. Mehrere Fragen befassen sich mit Aspekten, die nach damaligem Verständnis dem Bereich der „Volksmedizin“
zuzuordnen sind. Unter anderem wurde die „volkstümliche“ Behandlung verschiedener
Bagatellerkrankungen wie Schnupfen, Nasenbluten oder Schluckauf abgefragt und das
„Besprechen“ von Krankheiten als Heilverfahren thematisiert, dessen Verbreitung und
Erscheinungsformen man für die Zwischenkriegszeit zu erfassen suchte. Zu jeder Frage
liegen ca. 18.000 Antworten vor, die bis heute weitgehend unausgewertet geblieben sind.
Ziel meines Projektes ist es, am Beispiel der Fragen zur Volksmedizin die Möglichkeiten
einer computerunterstützten Auswertung dieses Massenmaterials zu untersuchen. Darüber
hinaus versuche ich unter Berücksichtigung weiterer Quellen, mehr über das komplizierte
Verhältnis zwischen Volks- und Schulmedizin im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts herauszubekommen.
Steffens, Robert, Dr. rer. nat.
Ernst-Moritz-Arndt Universität
Abteilung für Geschichte der Pharmazie/Sozialpharmazie
Friedrich-Ludwig-Jahn-Str. 17
17487 Greifswald
Der Professionalisierungsprozeß im Bereich der Arzneimittelversorgung im Krankenhaus
des frühen 20. Jahrhunderts.
Beginn 1993
Habilitationsprojekt
vgl. MedGG, Bd. 12, 1993, S. 253 f.
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
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Sozialgeschichte
232
Täubert, Klaus
Fuhrmannstr. 1
D-12099 Berlin
Fritz Fränkel: Rausch-Therapeut politischer Observanz
Vorarbeiten seit 1985 - s. Dt. Ärzteblatt, 17. September 1987
Monographie bzw. Sammelband
Ziel der Arbeit ist es, Werk und Vita des Neurologen und Psychiaters Dr. Fritz Fränkel
(1892-1944) zu untersuchen und auf den bisher noch kaum zur Kenntnis genommenen
Fürsorgearzt, Rauschtherapeuten, Mitbegründer der KPD, Exilant in Frankreich und
Kämpfer der Interbrigataen in Spanien aufmerksam zu machen.
Walther, Peter, Dipl. Volkswirt
Augustenstraße 71 A
70178 Stuttgart
Die Betriebskrankenkassen von der RVO bis zur Machtergreifung
April 1992 - voraussichtl. Dezember 1995
Dissertation bei Prof. Chr. Buchheim, LS Wirtschafts- und Sozialgeschichte, VWL, Universität Mannheim
In der Dissertation werden sowohl Anreizsystem als auch Leistungsstandard und Strukturentwicklungen der gesetzlichen Krankenversicherungen unter besonderer Rücksicht auf
den Kassentyp Betriebskrankenkasse analysiert.
Ein weiterer Schwerpunkt ist die Betrachtung des Typus Betriebskrankenkasse in seiner
ambivalenten Beziehung zwischen staatlicher Gesetzgebung und betrieblicher Sozialpolitik.
Zu diesem Themenbereich wurde schon einige Quellenarbeit in Unternehmensarchiven
geleistet. Am Ende soll eine kritische Würdigung des Kassentypus Betriebskrankenkasse auch im Hinblick auf heutige Reformbestrebungen - stehen.
Walther, Peter, Dipl. Volkswirt
Augustenstraße 71 A
70178 Stuttgart
Vergleich der Krankenversicherungssysteme Deutschlands und Großbritanniens während
der Erholungsphase von der Weltwirtschaftskrise
September 1993 - voraussichtl. September 1995
Aufsatz
Obwohl die politischen Systeme im Deutschland nach der Machtergreifung und in Großbritannien sehr unterschiedlich waren, wurde in beiden Ländern eine dirigistische Wirtschaftspolitik verfolgt, die zumindest kurzfristige Erfolge zeitigte.
Im Aufsatz sollen die Intentionen und Auswirkungen der von Leistungseinschränkungen
und Zentralisierung gekennzeichneten Krankenversicherungspolitik beider Länder analysiert werden. Auch sollen die Wege beider Länder hin zu staatlichen Gesundheitssystemen,
die im Falle des National Health Service Großbritanniens auch „Erfolg“ hatten, näher beleuchtet werden.
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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Laufende Forschungen und Veranstaltungen
233
Zinn, Sabine, M.A.
Düppelstraße 82
24105 Kiel
Menstruation und Monatshygiene - zum Umgang mit einem körperlichen Vorgang
August 1992 - voraussichtl. Sommer 1995
Dissertation bei Prof. Dr. Max Matter, JohannWolfgang von Goethe Universität Frankfurt/a.M., Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie
Untersucht wird der gesellschaftliche Diskurs zur Menstruation. Dabei geht es darum,
Deutungen und Wertungen der Gesellschaft zur Menstruation zu analysieren und Vorstellungen zur Menstruation, wie sie den Umgang und das menstruelle Erleben prägen, herausarbeiten. Quellen: Populäre Gesundheitsbücher aus dem Bestand der Bibliothek des
Hygiene Museums Dresden seit 1900 und Interviews (40) mit Frauen aus vier Generationen.
2. Veranstaltungen
14. Oktober 1995, St. Pölten
„St. Pöltner Gespräche zur Sozialgeschichte der Medizin. 14. Oktober 1995“ (historische
Entwicklung von freien und normierten Berufsbildern im medizinischen Umfeld)
Geschlossene Veranstaltung
Veranstalter: Dr. Sonia Horn, AG Wissenschaftsgeschichte, Universität Wien, Dr. Gunda
Barth-Scalmani, Dr. Elisabeth Dietrich, Institut für Geschichte der Universität Innsbruck.
Ort: Diözesanarchiv St. Pölten
Kontaktadresse: AG Wissenschaftsgeschichte, Universität Wien, Institut für Geschichte,
Karl Lueger Ring 1, 1010 Wien
9.-11. Mai 1996, Stuttgart
„Wirtschaftsgeschichte der Medizin“, 15. Stuttgarter Fortbildungsseminar
Geschlossene Veranstaltung
Veranstalter: Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung
Ort: ebd.
Kontaktadresse: Dr. Thomas Schlich, Institut für Geschichte der Medizin der Robert
Bosch Stiftung, Straußweg 17, 70184 Stuttgart
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Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
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