1 Figurenvergleich und Reflexion Kammerherr Marinelli und Aus

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1 Figurenvergleich und Reflexion Kammerherr Marinelli und Aus
Figurenvergleich und Reflexion
(Ein Versuch)
Kammerherr Marinelli
Aus:„Emilia Galotti“ (G.E. Lessing)
und
Ehem. KZ-Aufseher Arnold Heppner
Aus: „Bronsteins Kinder“ (Jurek Becker)
Wichtiger Hinweis:
Interpretation und Reflexion folgen weder inhaltlich noch sprachlich allgemeinen
Normen und Grundsätzen und entsprechen insbesondere nicht
den Richtlinien im Fach Deutsch der Oberstufe © Petra Kreuter
Figurenvergleich:
Im Folgenden möchte ich die Figur des Kammerherrn Marinelli aus Lessings
Drama „Emilia Galotti“ sowie die Figur des ehemaligen KZ Aufsehers Arnold
Heppners in Jurek Beckers Roman „Bronsteins Kinder“ vergleichen.
Beginnen möchte ich mit der gesellschaftlichen Stellung und den äußerlichen
Merkmalen der Figuren:
Marinelli bekleidet als Kammerherr des Prinzen eines der höchsten Ämter am
Hofe und verfügt dadurch über ein großes Machtpotenzial. Arnold Heppners
gesellschaftliche Stellung hingegen ist denkbar ungünstig. Die Zeit in der er als
KZ-Aufseher tätig war ist lange vorbei, und als DDR-Bürger muss er aufgrund
seiner Vergangenheit Repressalien fürchten. Er ist Mitte sechzig, verheiratet und
lebt scheinbar zurückgezogen. © Petra Kreuter
Schon die Beschreibung seines Äußeren vermittelt, wie Hans treffend bemerkt,
einen enttäuschend schwachen Eindruck. Sein Gesicht wird dominiert von einem
kleinen blassen Mund, grauen Augen ohne Brauen, in dem Hans das
Ungeheuerliche nicht entdecken kann. Verstärkt wird dieser Eindruck
zusätzlich durch den schlechten hygienischen Zustand in dem sich Heppner
befindet. © Petra Kreuter
Eine äußerliche Beschreibung Marinellis kann dem Drama nicht entnommen
werden, doch ist davon auszugehen, dass er als Kammerherr stets angemessen
gekleidet ist und sich sein Verhalten und sein Charakter in seinem Äußeren
wiederspiegelt.
Während des gesamten Dramas zeigt sich Marinelli äußerst souverän, so
dominiert er einen Großteil der Dialoge und weiß es, die Gesprächsführung in der
Hand zu behalten. © Petra Kreuter
Arnold Heppner hingegen nimmt in allen Gesprächen eine unterwürfige Haltung
ein. Auf Fragen seiner Entführer antwortet er zögernd und ängstlich. Selbst im
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Gespräch mit Hans redet er kaum und ergreift kaum von sich aus das Wort.
Längere Sätze verwendet er nur auf das Thema seiner Unschuld (S. 103 Ich habe
mir den Mund fusselig geredet, was für ein Nichts ich damals war). Sein Gesicht
und seine Stimme bleiben außer in einer Phase des Selbstmitleids weitgehend
ausdruckslos. (S. 98 Er war laut geworden und in seinen Augen schwammen
Tränen (...) Es erschütterte ihn, was hier mit ihm geschah) Sein ganzes
Verhalten ist darauf ausgerichtet, Hans Wohlwollen nicht zu gefährden, (S. 102
Er verwahrte sich nicht dagegen, er schwieg, den ich war der letzte den er
verärgern wollte.) da er für ihn der Schlüssel zur Freiheit ist. © Petra Kreuter
Marinelli richtet sein Handeln stets nach einem sorgfältigen Plan aus. Er nutzt die
zunehmende Verzweiflung des Prinzen dazu aus, seine eigenen Rachepläne zu
verwirklichen. Geschickt macht er ihm die Unausweichlichkeit des Überfalls auf
den Grafen deutlich, indem er ihn bspw. mit falschen Informationen täuscht (Er
berichtet dem Prinzen, nicht er sondern der Graf habe sich duellieren wollen, und
er hätte den Grafen zu einem Aufschub überreden können). Indem er dem
Prinzen zum richtigen Zeitpunkt sein eigenes Versagen verdeutlicht, bringt er ihn
nicht nur dazu, ihm das weitere Geschehen zu überlassen und ihm blind zu
vertrauen, sondern impliziert ihm, dass er die alleinige Schuld trägt, falls man
ihn für den Täter halte.(S.57 Z.18-22) Zweifel an seiner Loyalität räumt er aus
indem er behauptet, er habe für den Prinzen sein Leben opfern wollen ( S. 40 Z.
10 – 40). Und noch bevor der Prinz begreifen kann von welchem Ausmaß
Marinelli´s Plan ist, hat Marinelli ihn dazu gebracht, ihm im Falle eines Unglücks
Absolution zu erteilen. © Petra Kreuter
Insgesamt scheint Marinelli ein machtstrebsamer, intelligenter Mensch zu sein,
dessen Handeln von emotionaler Kälte geprägt ist und nur darauf abzuzielen
scheint, eigene Bedürfnisse zu befriedigen und seine Machtposition auszubauen.
Arnold Heppner hingegen, scheint insgesamt ein gebrochener Mensch mit einer
labilen Persönlichkeit zu sein, dessen gesamtes Erscheinungsbild in einem
diametralen Verhältnis zu seiner Vergangenheit steht. © Petra Kreuter
Eine Parallele zwischen diesen ungleichen Figuren scheint, zumindest
vordergründig, ein fehlendes Unrechtsbewusstsein zu sein. Doch muss man
meiner Meinung nach auch hier differenzieren:
Bei Marinelli scheint dies tatsächlich gänzlich zu fehlen und in einer
pathologischen Persönlichkeitsstruktur begründet zu sein. Arnold Heppner
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erscheint hier ambivalenter: Einerseits lehnt er eine Verantwortung ab indem er
bspw. sagt damals hätte ein anderes Recht gegolten (Seite 25) und er für die
Ereignisse von damals keine Verantwortung trage (Seite 103),
Anderseits ist ihm aber zumindest bewusst, dass seine Rolle im 3. Reich
moralisch fragwürdig ist und gesellschaftlich kritisch betrachtet wird. Dafür
spricht bspw. das er den Spaziergänger nicht um Hilfe bittet und Angst hat Teile
des Gesprächs zwischen ihm und Hans könnten durch das offene Fenster nach
außen dringen (Seite 99).
© Petra Kreuter
Marinelli scheint dieses Bewusstsein dagegen zu fehlen. Er scheint nicht in der
Lage zu sein, auch nur ansatzweise in Betracht ziehen zu können, dass seine
Ansichten mit denen anderer nicht konform sind. Darüber hinaus scheint ihm
jegliches emotionale Gespür, sowie der Zugang zu Moral und Tugend zu fehlen.
Die Heirat zwischen Emilia und dem Grafen ist ihm völlig unverständlich, weil sie
dem Grafen gesellschaftlich nur schadet. Für Gefühle als Grund ist er überhaupt
nicht zugänglich.
© Petra Kreuter
Diese fehlende Empathie lässt ihn auch, trotz seiner Intelligenz, Emilias Eltern
teilweise völlig falsch einschätzen und deren Handlungen völlig falsch
voraussagen. (S. 50 Z. 24/25: Wenn ich die Mütter recht kenne, so etwas wie die
Schwiegermutter eines Prinzen zu sein, schmeichelt die meisten.)
Er scheint aufgrund seiner Persönlichkeitsstruktur gar nicht zu einem
Unrechtsbewusstsein fähig, da ihm dafür wesentliche und menschlich natürliche
Persönlichkeitsmerkmale fehlen. Dies ist auch der Grund dafür das er nur im
Machtgefüge des Hofes überlebensfähig ist. © Petra Kreuter
Arnold Heppner hingegen ist zu einem Unrechtsbewusstsein im Grundsatz schon
fähig, trotzdem mangelt es auch ihm teilweise hieran. Dieser Mangel resultiert
aber nicht aus einer tiefen Überzeugung für die Richtigkeit seiner Taten, sondern
ist vielmehr als ein psychologischer Schutzmechanismus zu verstehen. Er
versucht seine Vergangenheit zu verdrängen. Einen naiven und zugleich hilflosen
Versuch der Verdrängung, welche letztlich in seiner Flucht aus der DDR ihren
Höhepunkt findet, zeigt er beispielsweise indem er Hans Geld für seine Befreiung
anbietet (Seite 105: Ich wäre froh wenn ich auf diese Weise einen Schlussstrich
unter die Vergangenheit ziehen könnte). Hervorzuheben ist, das er
von „der“ und nicht von „seiner“ Vergangenheit spricht.
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Des weiteren zeigt er keine wirkliche Fähigkeit zur Reflexion bzw.
Reflexionsbereitschaft. Dies zeigt sich zum einen wieder in der Aussage, dass
damals ein anderes Recht gegolten habe, und zum anderen in seinem
mangelnden Verständnis für die Motive seiner Gefangenschaft (Seite 103).
© Petra Kreuter
Reflexion:
Von gesellschaftlicher Relevanz, ist sowohl die Figur des Kammerherrn Marinelli
als auch die des ehemaligen Aufsehers Heppner, insbesondere in der Zeit des 3.
Reichs und der Nachkriegszeit.
Marinelli verkörpert mit seiner emotionalen Kälte und seiner Machtbesessenheit
einen typischen NS Funktionär.
© Petra Kreuter
Arnold Heppner dagegen scheint stellvertretend für einen Großteil der Deutschen
Bevölkerung während des Dritten Reichs zu stehen. Zwar war die Mehrzahl nicht
aktiv an den nationalsozialistischen Verbrechen beteiligt, doch hatten sie auch
kaum Mut zum Widerstand.
Aufgrund des schlechten Zustands in dem sich Deutschland nach dem 1.
Weltkrieg befand, waren Sie für die Manipulation Hitlers empfänglich und
klammerten sich an den Glauben das er sie aus der Krise führen würde, anstatt
seine Absichten kritisch zu hinterfragen. Mehr und mehr verdrängten sie die
Wirklichkeit und wollen auch später nichts vom
Ausmaß der Verbrechen gewusst haben. Darüber hinaus bot das
nationalsozialistische System vielen Bürgern plötzlich die Möglichkeit, sich aus
der Rolle einer unbedeutenden und schwachen Persönlichkeit zu befreien und
Macht über andere auszuüben.
Viele machten sich bereitwillig zum verlängerten Arm der NS Funktionäre.
30 Jahre später sind viele von Ihnen gesellschaftliche und politische
Funktionsträger und entschuldigen Ihre Rolle im 3. Reich mit der Begründung
dass damals ein anderes Recht gegolten habe. © Petra Kreuter
Jurek Becker scheint hier Bezug auf ein reales Beispiel zu nehmen:
Hans Karl Filbinger, von 1966 bis 1978 amtierender Ministerpräsident Baden –
Württembergs, begründete seine Todesurteile als Marinerichter im 3. Reich
ebenfalls damit, dass damals ein anderes Recht gegolten habe. Nach dem
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öffentliche Kritik laut wurde, trat er erst als Ministerpräsident und später von
allen weiteren politischen Ämtern zurück.
© Petra Kreuter
Doch auch über 50 Jahre später, scheinen beide Figuren nicht an Aktualität
verloren zu haben. Die Figur des Arnold Heppners scheint bspw. verstärkt unter
Jugendlichen rechter Gruppierungen zu finden sein:
Unreflektiert übernehmen sie diskriminierende und menschenverachtende
Ansichten, machen sich diese zu Eigen, und versuchen Ihr Selbstbewusstsein
durch physische und psychische Gewalt gegen Minderheiten zu stärken.
Menschen mit einer pathologisch geprägten Persönlichkeit Marinellis, bilden in
einer Demokratie eher eine Minderheit und man findet sie unter psychiatrisch
und/oder forensisch Auffälligen.
Anders hingegen in einer Diktatur: Es scheint in der Natur der Sache zu liegen,
dass Menschen wie Heppner als auch Marinelli hier ein gängiges Bild sind.
© Petra Kreuter, Mai 2007
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Zum Nachdenken
Erich Fried:
Zeit der Steine
Die Zeit der Pflanzen,
dann kam die Zeit der Tiere,
dann kam die Zeit der Menschen,
dann kam die Zeit der Steine.
Wer die Steine reden hört,
weiß es werden nur Steine bleiben,
wer die Menschen reden hört,
weiß es werden nur Steine bleiben.
Der Überlebende (nach Auschwitz)
Wünscht mir Glück,
zu diesem Glück dass ich noch lebe.
Was ist Leben nach so viel Tod?
Die Schuld der Unschuld?
Die Gegenschuld die wiegt so schwer
Wie die Schuld der Töter
Wie ihre Blutschuld
die entschuldigte,
die abgewälzte.
Wie oft muss ich sterben,
dafür,
dass ich dort nicht gestorben bin.
Dann wieder
Was keiner geglaubt haben wird,
was keiner geahnt haben durfte,
dass wird dann wieder das gewesen sein,
was keiner gewollt haben wollte.
Jürgen Fuchs:
Erst dann
Das Schlimme ist nicht,
in einer Zelle zu sitzen
und verhört zu werden,
erst danach
wenn du wieder vor einem Baum stehst,
oder eine Flasche Bier trinkst,
und dich freuen willst,
richtig freuen
wie vorher
erst dann
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