Mythen und Mythenbildung in Kunst und Werbung

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Mythen und Mythenbildung in Kunst und Werbung
Mythen und Mythenbildung in Kunst und Werbung
Grundmuster der Kommunikation
Thesen und Beispiele
Dissertation
an der
Universität Kassel
Fachbereich Kunstwissenschaft
Werner Pelikan
Kassel, 03.02.2005
2
I. Einleitung
4
a. Allgemeine Projektbegründung
4
b. Ausgangsthesen
8
II. Das Phänomen Mythos
14
a. Das Mitteilungssystem
17
b. Die Deutungsansätze
21
1.
Allegorismus und Symbolismus
2.
Die Dialektik des mythischen Bewusstseins und die
Dialektik der Aufklärung
3.
25
Psychologische und ritualistisch-soziologische
Mythos-Deutungen
4.
22
29
Deutungen mittels numinoser Erfahrung und strukturalistischer
Analyse
32
c. Die Kernelemente des Mythos
36
d. Die Erscheinungsformen des Mythos
40
III. Mythos und Werbung
a. Die Entstehung werblicher Mythenbilder
44
45
1. Die Rahmenbedingungen für die Werbung
45
1.1. Allgemeine Rahmenbedingungen
45
1.2. Verbraucherspezifische Rahmenbedingungen
47
1.3. Anbieterspezifische Rahmenbedingungen
54
2. Die Werbekonzeption als Fundament der Markenbildung
56
2.1. Grundlagen der Werbekonzeption
57
2.2. Marken, Beispiele werblicher Mythenbildung
60
b. Die Manifestation der Mythen in der Werbung
68
1. Die Wirkungsweise der Markenmythen
68
2. Die Werbung als Makromythos
74
3. Abwehr- und Relativierungsstrategien
80
3
IV. Mythos und Kunst
a. Der Kunstbetrieb
81
1. Der kulturelle Hintergrund
81
2. Der aktuelle Bedingungskanon des Kunstbetriebs
84
b. Die Manifestation des Mythos in der Kunst
1. Der einzelne Mythos-Stoff im Wandel
93
93
1.1. Die Nympha
94
1.2. Die Medusa
113
2. Der Mythos und einzelne Künstler
128
2.1. Picasso und Duchamp
129
2.2. Magritte und Warhol
139
2.3. Beuys und Broodthaers
147
2.4. Barney und Cattelan
156
2.5. … und mehr
165
c. Wesentliche Mythoselemente in der Kunst im Überblick
V.
81
171
1. Mythos ,abstrakt’
172
2. Mythos ,im Modell’
183
Mythosanalyse als Orientierungshilfe zur Standortbestimmung
von Kunst und Werbung
190
a. Das verflixte Beziehungsgeflecht zwischen Kunst und Werbung
und die Rolle des Mythos
190
1. Gemeinsames und Differenzierendes
190
2. Die Liebe zur Werbekritik
202
b. Entmythologisierung oder Remythologisierung
VI.
208
1. Die mythische Postmoderne
208
2. Mythosanalyse und praktische Philosophie
212
Schlussbemerkungen
216
Abbildungsverzeichnis
222
Verzeichnis der Tabellen und Schaubilder
231
Literaturverzeichnis
232
4
I. Einleitung
Der Rückblick auf das letzte Jahrhundert und die ersten Jahre des neuen Jahrtausends
macht deutlich, dass die rationalisierte Welt noch nicht ausreichend vernünftig ist. Wir
sprechen von Postmoderne, sollten wir auch von Post-Aufklärung sprechen?
Wenn wir uns an dieser Stelle mit dem Mythos in Kunst und Werbung
auseinandersetzen, so hat dies zweifellos mit einem gespaltenen Mythosbewusstsein in
unserer Gesellschaft zu tun. Die einen werden sagen: Hoffentlich ist der Mythos endlich
mal weg; die anderen werden argumentieren: Davon ist uns zu wenig geblieben. Diese
völlig gegensätzlichen Einschätzungen führen zu differenzierten Lösungsvorschlägen,
wenn es um Ideen zur Bessergestaltung unseres Zusammenlebens geht. Ein Projekt, das
sich auf die Begriffe Mythos, Kunst, Werbung und Kommunikation stützen will, muss
sich nunmehr zu den einzelnen Gründen für gerade dieses Vorhaben in dieser
Zusammenstellung erklären.
a. Allgemeine Projektbegründung
Zur Projektbegründung und ihren Fragestellungen lassen sich anschaulich zwei
Betrachtungsweisen anführen:
Zum ersten möchten wir dazu mit Hilfe von drei Beispielen aus der formalen
Objektgestaltung – nennen wir es von der Ästhetik im strengen Sinn – ausgehen:
1. Zwei Künstler malen im Jahr 2000 gleichzeitig Mona L.: Einer, weil er sie einfach
schön findet, der andere, weil er einen Auftrag erhält. Es entstehen zwei ausdrucksstarke, rätselhaft lächelnde Porträts. In beiden Fällen liegt der Gestaltung das
geheimnisvolle Lächeln der Gioconda zu Grunde, jenes ursprüngliche, tiefsinnige
Lächeln, das neben seiner bildhaften Subtilität zur zeitlosen Idealisierung des WeiblichGeheimnisvollen geworden ist. Ein lebendiger Mythos also, der auf griechische
Vorbilder (z.B. Kora von Chios, ca. 520 v.Chr., Akropolis-Museum Athen) zurückgehen könnte, aber abgewandelt durch diese beiden Künstler, aktuell benutzt wird. – Ist
eines der Bilder Kunst, das andere nicht?
Nun wandert ersteres ins Museum und wird zusätzlich vielfach reproduziert
(Kataloge, Postkarten), das zweite wird als Titelbild einer Wochenzeitschrift abgebildet.
Ändert sich der Kunstcharakter? Wohl kaum. Eine offenkundig neue Situation aber tritt
ein, wenn eines der Bilder auf der Rückseite des Magazins eine zusätzliche Dimension
erhält: L’Oréal-Lippenstift oder Lux-Seife. Das künstlerische Objekt an sich bleibt
bestehen, es wird jedoch untergeordnet bzw. Mittel zum Zweck in einem neuen Gefüge.
5
Jener lebendige Mythos wird mindestens erneut abgewandelt, wenn nicht gar durch
Bereicherung verarmt.
2. Zwei zeitgenössische Fotografen, Richard Prince und Oliviero Toscani,
beschreiben jeder auf seine Art den Verbrauch der Natur und den Hedonismus unserer
Tage (vgl. Abb.1, 2 und Tabl.1):
Abb.1a: Richard Prince, Boat, full yard,
next to GNH Lumber Yard in
Norton Hill, Fotografie, 1966/99
Abb.1b: Richard Prince,
Untitled (Party),
Fotografie, 1966/99
Abb.2a: Oliviero Toscani, United Colors of
Benetton, Ente, 1992/93
Abb.2b: Oliviero Toscani, United Colors of Benetton, HIV,
1992/93
R. Prince
O. Toscani
Mythos Amerika
Mythos Benetton
Landschaft
Ente
Party
HIV
Naturverbrauch
Abb. 1a + 2a
Hedonismus / „Ausleben“
Abb. 1b + 2b
Tabl.1: Mythen im Vergleich: R. Prince und O. Toscani
6
Prince demonstriert auf seine Art – in Frage stellend, wenn nicht subversiv – einen
Teil der heutigen US-Identität, die allgemeinhin als ,Mythos Amerika’ beschrieben
werden kann, mittels deren Umgang mit Natur und mittels deren Partygestalt: eine
Aussage gegen die Konditionierungen der Massenkultur und deren Verbindlichkeiten.1
Toscanis
Problemgestalten
,Ente’
oder
,HIV-Körper’
bezeichnen
allgemeine
Zeiterscheinungen, die ebenso Amerika betreffen können, gleichzeitig aber durch den
Zusatz United Colors of Benetton (à la United States of America) in eine andere Welt
(Konsumwelt) befördert werden. Wiederum ist, wie bei Mona L., durch die Addition
des Logos eine abweichende Struktur entstanden, auch wenn mancher mit JeanChristophe Ammann oder Julian Nida-Rümelin übereinstimmen wird, dass auch nach
dem Markenzusatz künstlerische Elemente das Plakat dominieren (selbst wenn es auf
einer journalistischen Vorlage beruht).2
3. Der Weg von Amor und Psyche durch die Jahrhunderte ist vielfältig. Eine
Erzählung aus den Metamorphosen des römischen Dichters Apuleius (ca. 125 – 180)
geht höchstwahrscheinlich auf einen alten griechischen Mythos zurück, der mit der
Geschichte dieser beiden Figuren Höhen und Tiefen körperlicher und seelischer Liebe
beschrieb. Aus dem stattlichen Jüngling und dem jungen Mädchen der Griechen werden
in den Kunstwerken Roms niedliche Kinder. Die Renaissance und das Paris des 19.
Jahrhunderts gestalten ihre zahlreichen Ausprägungen, bis wir bei Mel Ramos’ Parodie
auf den neoklassischen Idealismus und schließlich dem Mythos-Motiv des Werbefotos
für Betten – mit hinzugefügter Marke – ankommen3. Der Mythos scheint sich für
Transformationen, gleichermaßen in Kunst und Werbung, zur Verfügung zu stellen.
In allen drei Beispielen stoßen Kunst und Werbung zusammen. Ein Gleiches, das wir
als Mythos bezeichnen können, bestimmt ihre Schnittmengen, sodass die Frage nach der
Grenzziehung zwischen Kunst und Werbung und der Rolle des Mythos evident wird.
Zum zweiten ergibt sich neben obigem streng ästhetischen Ansatz aus einer
erweiterten kulturphilosophischen Perspektive die Frage, welche Interdependenzen
1
In diesem Zusammenhang halten wir fest, dass R. Prince bei seinen Arbeiten u. a. auch vorhandene
Fotos erneut für seine Zwecke fotografiert, also „Fertigteile“ (Ready-mades) nach seinen Vorstellungen
umgestaltet. Vgl. Noever, Peter; MAK Center, Wien (Hg): richard prince, the girl next door. Wien
2000, S. 63 – 67.
2
Nida-Rümelin, Julian: Werbung und Ethik. In: Bäumler, Susanne, Münchner Stadtmuseum (Hg): Die
Kunst zu werben. Das Jahrhundert der Reklame, DuMont, Köln 1996, S. 327 – 335, hier: S. 333.
3
Vgl. Zänker, Jürgen: Amor & Psyche. In: Hartmann, Hans A.; Haubl, Rolf (Hg): Bilderflut und
Sprachmagie, Westdeutscher Verlag, Opladen 1992, S. 123 – 140. – Übrigens: Bei Apuleius darf
Psyche Amor nicht ansehen, weil er sonst entschwindet. Das „Märchenhafte“ der Situation trägt dazu
bei, dass Amor sein „Kindliches“ erhält.
7
zwischen mythischem Denken und dessen Widersacher bzw. Kontrastprogramm, dem
aufgeklärten Rationalismus einerseits sowie Kunst und Werbung andererseits bestanden
bzw. bestehen. Ist nicht affirmative Werbung mit ihren mythischen Bezügen eines der
Resultate der sogenannten aufgeklärten Industrie-, Informations- und Erlebnisgesellschaften und haben diese nicht wiederum zu besonderen Formen der künstlerischen
Darstellung – zum Beispiel verschiedenen Gradierungen der Abstraktion – geführt? Vor
welchem Hintergrund benutzen die künstlerischen Avantgarden des letzten Jahrhunderts
ihre – wie Peter Bürger es nennt – „Kategorien … [zur] Erfassung des avantgardistischen Kunstwerks“: das Neue, den Zufall, die Allegorie, die Montage?4 Welchen
Anteil hat die Werbung an dem, was die Gesellschaft zu diesem unermesslichen
Konglomerat selbstbezogener Individuen macht, woran die Kunst womöglich lediglich
noch als kommerzieller Teilhaber fungiert? Oder gibt es Werte in dieser
erlebnishungrigen Informationsgesellschaft, die die Werbung mythifizierend aufgreift
und vervielfältigt, die die Kunst eventuell vernachlässigt hat?
Erneut geht es bei diesen Fragestellungen um das Beziehungsgeflecht zwischen
Kunst und Werbung, allerdings jetzt erweitert um eine imaginäre Stufenleiter der
kulturrelevanten Orientierungen unter rationalen und nichtrationalen Aspekten und um
entsprechende, verbindende Kommunikations- und Vermittlungsbezüge, letztlich zum
Verstehen, wenn nicht gar zur Veränderung bestehender (Miss-)Verhältnisse. Eine
Mythos-Diskussion kommt an einem Kritikansatz zur Aufklärung nicht vorbei. Unsere
Fragestellung – wie Tabl.2 zeigt – wird komplexer:
Mythos
Werbung
Kulturelle
Wertestrukturen
Kunst
Aufklärung
Tabl.2: Individuelle und gesellschaftliche (Kommunikations-/Vermittlungs-)Bezüge
um Kunst/Werbung und Mythos/Aufklärung
4
Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde, Suhrkamp 727, Frankfurt/M. 1974, S. 76 – 116.
8
b. Ausgangsthesen
Vor diesem Hintergrund lässt sich der Zweck der Fragestellung unseres Projekts
konkreter wie folgt zusammenfassen:
1. Eine Diskussion der Phänomene Kunst und Werbung zueinander – insbesondere
unter dem Mythosaspekt – erscheint allein schon wegen ihrer jeweiligen gewaltigen
Anteile am gegenwärtigen Kulturgeschehen eine Notwendigkeit zu sein; denn beide
mischen sich dominant unter das enorme Unterhaltungsangebot unserer Erlebnisgesellschaft. Durchaus anders als die Gegenstände der Religion oder der Philosophie
sind darüber hinaus in fast jeder Tages- oder Wochenzeitung ausdrücklich Themen des
Mythos im Gespräch. Bezugspunkte sind dabei häufig Geschichten, die sich um
Ereignisse, Personen und Vorstellungen im Rahmen des Zeitgeistes als ein begrenztes
Stück Wirklichkeit entwickelt haben – also Geschehnisse (Untergang der Titanic,
olympische Zeremonien), Personen (John F. Kennedy, Albert Einstein) oder Produkte
(Marlboro, Chanel), daneben aber auch Rückgriffe auf allgemeine Vorstellungsbilder
(Mythos Amerika, Mythos Jugendlichkeit, Mythos des Bösen) oder Rückgriffe auf
Images der klassischen Antike (Sisyphos, Odysseus) oder solche auf Denkmuster der
Ureinwohner unserer Erde (Mythen der Natur). Siehe Abb.3:
Abb.3: Mythos-Spiegel
9
Dieser mythische Geist – singulär auf einen Mythos bezogen oder daneben als
mythische Gesamtheit verstanden – scheint einen Sinnzusammenhang zu repräsentieren,
der vor wie nach der Jahrtausendwende unsere Wahrnehmung erfasst und unser
Verhalten steuern kann. Keine Zeitwende hat ihn aufgehalten, vielleicht verändert, aber
nicht beseitigt. Oft hat er historisch-archaischen Charakter, manchmal tritt er im
Seidenhemd eines Popstars auf, manchmal in der Verpackung eines begehrenswerten
Konsumartikels, manchmal auf dem Podest eines Museums oder im Bilderrahmen einer
Galerie, manchmal im akademischen Text eines Philosophen als zu erklärende
Bewusstseinslage etc.
These 1: Der Mythos tritt in verschiedenen Qualitäten bzw. Formen auf und stellt in
seiner allgemeinsten Form den Träger einer Botschaft bzw. eines Sinnzusammenhanges dar, ist also ein Mitteilungssystem, das sich darüber hinaus
auch als besondere, als mythische Bewusstseinsebene – neben dem rationalen
Denken der Neuzeit – in Kunst und Werbung offenbart. Es ist daher
notwendig, einen erweiterten Mythos-Begriff zu verfolgen.
2. Es ist viel über Autonomie der Kunst gesprochen worden, deren ideologischer
Anspruch sich aus dem Absetzen von Alltags- und Massenkultur ableitet. Avantgarden
suchten und suchen nach neuen formalen und inhaltlichen Ausdrucksmöglichkeiten.
Gerade weil aber werbliche ebenso wie künstlerische Bestrebungen auf neue,
überraschende Darstellungen aus sind, bedarf es der Analyse der jeweils unterschiedlichen Zielprojektionen. Werbung folgt dem Ziel eines Auftraggebers nach Darlegung
von Glück- und Machbarkeitsversprechen auf der Grundlage von Produkten im
weitesten Sinn, die in der Regel durch Marken gekennzeichnet sind. Kunst hingegen
sucht den Anlass der Reflexion, stößt den Betrachter neuerdings in Irritationen, die ihn
bei
Beteiligung
Grenzüberschreitungen
zu
neuen
Erkenntnissen
für
seine
Lebensgestaltung ermöglichen können – an dieser Stelle gleichgültig, ob konservativ
festhaltend oder progressiv erneuernd. Zur Bewältigung dieser unterschiedlichen
Aufgaben benutzen beide mythische Ausdrucksformen, wobei Umformungen eines
ursprünglichen
oder
vorhergehenden
Mythosbildes
entstehen.
Dabei
können
künstlerische oder werbliche Gestaltungsprozesse selbst ein neues Mythengebilde
wachsen lassen.
These 2: Kunst und Werbung als wesentliche Ausdrucksformen des gesellschaftlichen
Zusammenlebens treten mit unterschiedlichen Zielsetzungen an (unter-
10
schiedliche Funktionen). Unter Einsatz mythischer Substanz führt dies jeweils
zu gezielten Transformationsprozessen der Grundmaterie und zur Bildung
neuer Mythen in beiden Segmenten, die Einfluss auf unsere Lebensverhältnisse ausüben können.
3. Bewusst oder unbewusst, zielgerecht, nachlässig oder mit Vorsatz verfremdet
werden mythische Vorstellungsbilder also zur Illustration, als Beweis oder Gegenbeweis, als Beglaubigung oder als Weltanschauung rundum von jedermann zitiert, eine
Gemengelage im aktuellen Medienkonzert, die auf fließende Grenzen zwischen Kunst
und Werbung schließen lässt. Hieran knüpft sich die Frage, wie ein Künstler es dennoch
schaffen könnte, nicht vom populären Mainstream vereinnahmt zu werden, selbst wenn
– oder gerade weil – er sich der modernsten (in der finanzstarken Werbung
entwickelten, erprobten und damit festgelegten) Techniken der neuen Medien bedient.
Oder auch umgekehrt: Verschenkt der Künstler bei Anlehnung an Mythen orientierte
Werbung ein Stück seiner selbst?
These 3: Der Mythos bietet die Chance der illustrativen Darstellung von Ent- und
Remythologisierungs-Prozessen im Sinne bestimmter Zweck- bzw. Wunschvorstellungen (s. auch These 2). Dabei entstehen bei der Kunst u.a. Gefahren
der Vereinnahmung durch die allgemeinen Kulturbedingungen, bei der Werbung u.a. das Risiko der Überbewertung werblich vorgeschlagener Lösungen.
4. Das Auseinanderhalten von Kunst und Werbung ist also kein Selbstzweck, da
beide - bei aller Nähe und Verästelung – unterschiedliche Funktionen ausüben, deren
Erkennen zur Selbstorientierung, zur bewussten Entscheidung für oder gegen einen
Sachverhalt von Bedeutung ist. Eine Mythosanalyse, das heißt die Feststellung und
Beschreibung eines mythischen Zusammenhangs, ist daher notwendige Voraussetzung
für einen differenzierten, freiheitsbewussten Lebensentscheid, da sich mythischer Geist
– ausgestattet mit besonderer Gewichtigkeit (,Bedeutsamkeit’) – ja nicht nur direkt,
sondern auch indirekt und zum Teil auf den ersten Blick unsichtbar, in diesen beiden
Kulturphänomenen aufhält und von dort aus auch auf andere Lebensbereiche einwirkt,
etwa die Politik.
These 4: Die Verschachtelung von Kunst und Werbung und deren Bezug zum Mythos
erfordert eine Mythosanalyse, um zu differenzierten Lebensentscheiden zu
gelangen.
11
5. Die westliche Industriegesellschaft ist in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
zur Informationsgesellschaft mutiert, wobei letztere zur Zeit ihr Lieblingskind hegt und
pflegt: die Erlebnisgesellschaft, die alle anderen ,Gesellschaften’ (Minderheiten,
Kirchen, selbst die Arbeitswelt) überstrahlt und in ihrem ichbezogenen Gegenwartskult
mit immer neuen Krediten ihre sogenannte „Zukunft“ erhält. Diese Überlagerung wird
im
Besonderen
den
Massenmedien
mit
ihren
exponierten
Vertretern
der
Unterhaltungsindustrie sowie der Werbung und deren Initiatoren zugeschrieben.
Angesichts der Entwicklung unserer Gesellschaft in Umfang und heterogenen
Substrukturen einerseits und der ständig sich ausweitenden Informationsmöglichkeiten
(TV, Internet, Buch, Presse, Events etc.) andererseits kann es kaum um die Frage gehen,
ob es gut oder schlecht ist, dass es Massenmedien gibt; vielmehr geht es darum sicherzustellen, dass die Massenmedien ihre übermittelten kulturellen Werte verantworten
können, nachdem die Industriegesellschaft jenes kommunikative Verhältnis, das als
Gesamtheit der Massenmedien bekannt ist, unabwendbar gemacht hat5.
Zur Betrachtung dieser kulturellen Werte gehört aber nicht nur das erforderliche
Auseinanderhalten von Kunst und Werbung mittels einer Mythosanalyse, sondern für
einen differenzierten Lebensentscheid ist es ebenso wichtig, dass diese fundierte
Mythosbetrachtung auch zu einer (lebendigen) Mythoshierarchie führt und damit eine
praktische Mythos-Philosophie ermöglichen kann, die Eingang finden sollte in eine
allgemeine praktische Philosophie. Hierbei darf man nicht daran vorbei, dass die
Lebendigkeit des Mythos nicht allein mit dem Wiedererscheinen ursprünglicher,
historischer Vorstellungsprozesse erläutert werden kann, sondern dass der Mythos auch
eine die Rationalität herausfordernde Qualität (Bewusstseinslage) besitzen könnte, die
sich im Wertepluralismus unserer Tage bewegt oder bewegen sollte.
Wenn man wie Peter Sloterdijk genug von Theorie und Praxis hat und nach einer
noch höheren Intelligenz als der heutigen strebt, die uns in ihrem Aufgeklärtsein so
viele Probleme geschaffen hat, wenn man also wie er „ins Medium einer
geistesgegenwärtigen Mediativität“6 vordringen möchte, muss die Frage gestellt
werden, ob dies ohne breite Mythosbetrachtung möglich ist. Wenn Lothar Knatz7 vor
dem Hintergrund seiner Schelling-Studien die Komplementarität von aufklärerischer
5
Vgl. auch bei Eco, Umberto: Apokalyptiker und Integrierte, Zur kritischen Kritik der Massenkultur,
Fischer, Frankfurt/M. 1986, S. 48.
6
Sloterdijk, Peter: Taugenichts kehrt heim oder das Ende des Alibis. In: Friedrich, Heinz et al.: Ende der
Kunst, Zukunft der Kunst. Deutscher Kunstverlag, München 1985, S. 133.
7
Knatz, Lothar: Geschichte, Kunst, Mythos; Schellings Philosophie und die Perspektive einer
philosophischen Mythos-Theorie. Königshausen & Neumann, Würzburg 1999, S. 37 ff.
12
Rationalität und Mythos auf Basis einer philosophischen Mythostheorie einfordert, so
unterstreicht dies die Notwendigkeit einer aktuellen, breiten Mythosbetrachtung, die
auch an Kunst und Werbung nicht vorbei kann.
Ob nun sinnvoll als Hinweis für eine praktische Lebensorientierung oder als Basis
für eine philosophische Mythostheorie, die reichen könnte von einer radikalen MythosNegation bis zu einer völligen Wiederbelebung des Phänomens, in jedem Falle verlangt
die Gegenwärtigkeit des Mythos seine nähere Bestimmung. Oder um mit Hans
Blumenberg8 zu sprechen: eine ständige Arbeit am Mythos.
These 5: Eine Mythosanalyse sollte zwangsläufig zu einer (lebendigen) Mythoshierarchie, einer praktischen Philosophie führen, um regulative Ideen zur Lösung
grundsätzlicher oder aktueller gesellschaftlicher Probleme zu erhalten.
6. In Zusammenhang mit dem Mythischen ist der Begriff der Kommunikation ein
ständiger Begleiter: jedenfalls betrachtet man Werbung als kommunikativen Vorgang,
und Kunst ist zumindest dort am Anfang, wo Kommunikation endet und Vermittlung
beginnt. Roland Barthes hat, bevor er die ideologische Seite des Mythos anprangerte,
dessen strukturale Seite als Mitteilungssystem analysiert und Mythos als „Aussage“, als
ein substantielles Element zur Kommunikation bezeichnet (These 1), dessen
metasprachlicher Charakter nachgewiesen werden sollte9.
Weniger um das ,Was’ der Kommunikation, sondern zunächst um das ,Das’ geht es
Jürgen Habermas in der Theorie des kommunikativen Handelns, wobei der
kommunikative Prozess (Diskurs), basierend auf rationaler Argumentation und deren
Überlegenheit gegenüber dem Bezug zum historischen Mythos und seiner „magischen
Einwirkung auf die Welt“10, zur Voraussetzung für Sinn gebendes Handeln oder für die
Einlösung problematisierter Geltungsansprüche erklärt wird.
Kommunikation in Kunst und Werbung kann demnach einmal auf eine zu
übermittelnde Substanz – es sei dahin gestellt, ob erbaulich oder verwerflich –
verweisen, darüber hinaus andererseits als Mittel betrachtet werden, Rationalität
gegenüber „Irrationalem“ sinnvoll „wachsen“ zu lassen. Wir begegnen dabei einer
Vorstellung, die seit der Entzauberung der Welt immer wieder in Zusammenhang mit
dem Mythischen zum Zwecke ihrer gezielten Wiederverzauberung Verwendung findet.
8
Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos [1979], 5. Aufl., Suhrkamp, Frankfurt/M. 1990.
Barthes, Roland: Mythen des Alltags [1957], sv 92, Frankfurt/M. 1964, S. 85 ff.
10
Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns (TKH), Bd. 1 [1981], Suhrkamp, 3. Aufl.,
Frankfurt/M. 1999, S. 79.
9
13
These 6: Der Weg zu einer praktischen Mythos-Philosophie führt über die offene
Begegnung mit dem Mythos notwendigerweise auch in Werbung und Kunst.
Dies erfordert ein argumentatives, diskursives Verhalten. Beide können mit
ihren äußersten (radikalen) Ansprüchen zur Vermittlung (Kunst) und des
Versprechens (Werbung) letztlich nur im Diskurs bestehen. Dabei führt ein
völliges, uneinsichtiges Negieren bzw. Verdrängen des Mythos zu Verlusten
an Chancen zur Daseinsbewältigung.
Aus diesen Fragestellungen ergibt sich folgender Aufbau unserer Arbeit: In Kapitel
II wird der Versuch unternommen, Kriterien für eine Mythosbestimmung festzulegen.
Dabei geht es nicht um eine Wiederholung der vorhandenen Beschreibungen zur
Geschichte der Mythosdeutungen11. Vielmehr werden im Wesentlichen nur unserem
Sachverhalt dienende Schwerpunkte und Begriffe eingeführt, um dann den in Kapitel III
erläuterten Mythos in der Werbung und den in Kapitel IV zu besprechenden Mythos in
der Kunst einkreisen und erklären zu helfen. In Kapitel V wird dann unter den eben
dargestellten thesenartigen Fragestellungen zusammengeführt, was in Kapitel III und IV
erarbeitet wurde. Dabei werden vor dem Hintergrund der Aktualität der Mythosfunktion
Notwendigkeit und Ansätze einer praktisch orientierten philosophischen MythosTheorie erörtert.
Als wesentlichen Bezugsrahmen für unsere Betrachtungen haben wir uns – von
einigen notwendigen weiterführenden Rückblenden abgesehen – für die letzten 100
Jahre entschieden, in denen die Werbung ihre eigentliche Entwicklung nahm und
während derer Kunst sich wie nie zuvor ständig neu zu orientieren und zu beweisen
suchte. Materielle Grundlagen werden in erster Linie Arbeiten der bildenden Kunst mit
Ausblicken in die neuen Medien bzw. Anzeigenwerbung mit Hinweisen auf Fernsehen
und Plakatreklame sein. Die griechisch-römische Mythologie ist der bevorzugte
Hintergrund für die spezifische historische Mythenbetrachtung.
11
Vgl. u.a.: Horstmann, A., in: Ritter, Joachim; Gründer, Karlfried: Historisches Wörterbuch der
Philosophie, Bd. 6, Schwabe, Basel 1986, S. 281 – 318. Oder: Jamme, Christoph: Einführung in die
Philosophie des Mythos, Bd. 2. Neuzeit und Gegenwart, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt
1991. Oder: Hübner, Kurt: Die Wahrheit des Mythos, Beck, München 1985, S. 48 – 90.
14
II. Das Phänomen Mythos
Bereits ein kurzer Streifzug durch Äußerungen der verschiedensten Wissenschaften,
der Presse, der Politik, des Mitbürgers auf der Straße beweist, dass wir es mit einer
nahezu unüberschaubaren Vieldeutigkeit des Mythosbegriffs zu tun haben. Die folgende
längst nicht umfassende Zitatensammlung bestätigt diesen Eindruck zur aktuellen Verwendung des Mythosbegriffs (vgl. auch Abb.3):
- Mythos ist die genuine Sprache der Religion.12
- Die falsche Klarheit ist nur ein anderer Ausdruck für den Mythos.13
- Im Extremfall ist der Mythos zum Fixpunkt einer radikalen Vernunftkritik
und zum Schlagwort einer ,alternativen Vernunft’ avanciert.14
- Mythos ist das, was man erzählt und zwar so …, dass keiner daran auch
nur zweifeln mag.15
- Mythos ist das allgemeinste Konkrete.16
- Der Mythos ist ein Mythos für sich.17
- Der Mythos ist eine Aussage.18
- … ist Ideologie, … ist Ammenmärchen.
Im Rahmen einer kulturhistorischen Betrachtung – und hierüber wird es in dieser
allgemeinen Formulierung wohl relativ wenig Widerspruch geben – bezeichnet Mythos
die ersten Interpretationen zur Welt sowie der sie geschaffen habenden und steuernden
Mächte. Weit vor der archaischen Welt, d.h. weit vor 1300 v.Chr., der Stunde des
Aufkommens der Schriftkulturen, entwickelt sich das Menschendasein über ca. zwei
Millionen Jahre: Gerhard Schlatter19 gebraucht das anschauliche Bild der Uhr, die,
wenn die Menschheitsgeschichte darauf zwölf Stunden repräsentierte, nur wenige
Sekunden für die Zeit von den Vorsokratikern (ab 600 v.Chr.) bis heute anzeigen
würde. Anhand von „Spurensicherungen“ in aller Welt, Schriftanalysen und entsprechenden Zuordnungen und Vergleichen mit heute noch vorhandenen (Sub-)Kulturen
12
Petzoldt, Leander: Die Geburt des Mythos aus dem Geist des Irrationalismus. In: Europäische
Märchengesellschaft Rheine: Antiker Mythos in unseren Märchen, Röth, Kassel 1984, S. 142.
13
Horkheimer, Max; Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung [1944], Fischer, Frankfurt/M. 1988,
S. 4.
14
Knatz, Lothar: Geschichte, Kunst, Mythos, a.a.O., S. 43.
15
Gadamer, Hans-Georg: Ende der Kunst? In: Bayrische Akademie der Schönen Künste (Hg.): Ende der
Kunst – Zukunft der Kunst, Deutscher Fachverlag, München 1985, S. 19.
16
Kerényi, Karl (Hg.): Die Eröffnung des Zugangs zum Mythos, ein Lesebuch [1967], Wissenschaftliche
Buchgesellschaft, 5. unv. Auflage, Darmstadt 1996, S. 241.
17
Bismarck, Wolf-Bertram, von; Baumann, Stefan: Markenmythos [1995], 2. unv. Auflage, Lang,
Frankfurt/M. 1995, S. 85.
18
Barthes, Roland: a.a.O., S. 85.
19
Schlatter, Gerhard: Mythos, Streifzüge durch Tradition und Gegenwart, Trickster, München 1989, S. 30.
15
ergeben sich Anhaltspunkte über Inhalte erster Weltinterpretationen und Lebensorientierungen von gewisser inhaltlicher Beständigkeit und Übereinstimmung, z.B. bezüglich
der Urelemente Erde, Wasser, Feuer, Luft oder bezüglich der Gestirne und Jahreszeiten.
Für diese Phänomene hat sich kulturhistorisch der Begriff ,Mythos’ etabliert.
Ehe das wissenschaftliche Weltbild sich durchzusetzen begann – ausgehend von der
griechischen Philosophie –, erzählten sich die Menschen Geschichten zur Welt- und
Lebensorientierung: Mythen. Die Geschichte des (Weiter-)Erzählens ist gleichzeitig die
Geschichte der Veränderungen und Erweiterungen der entsprechenden Inhalte, ganz im
Sinne des jeweils Erzählenden. Dabei ist die z.T. drastische Bildhaftigkeit des Vortrags
auffällig, sicherlich auch, um den innewohnenden Verhaltensregeln zum ,ordentlichen’
Stammes- und Gesellschaftsleben Nachdruck zu verleihen. Diese mythischen
Erzählungen gehen schließlich in das reale Geschichtsbild der Griechen über; Homer
und Hesoid arbeiten dichterisch das Erzählwerk auf, das griechische Theater benutzt die
mythischen Figuren zur Aufarbeitung aktueller Probleme. Die hellenistischen Herrscher
und später die römischen Kaiser nutzten den Mythos zur Untermauerung ihrer Macht,
„indem sie sich in Kulten feiern ließen, wie sie früher nur den Heroen und den Göttern
zugestanden“ waren20. Auch die Kulturepochen der Moderne seit der Renaissance
benutzten die Mythenbilder z.T. zur Darstellung ihrer Weltbilder. Bis heute wirkt an der
Oberfläche vieles aus diesen Geschichten nach, wenn man Tantalus-Qualen leidet oder
eine Sisyphos-Arbeit vollbringt oder jemand becirct wird etc.
Neben dieser ersten groben geschichtlichen Annäherung an den Mythos-Begriff
können wir den linguistischen Zugang zum Mythos verfolgen: Die griechische
Verbalform myein bedeutet „Geheimnisse sagen“, auch „kraftvoll reden“, sodass
Mythos als Rede bzw. als Erzählung verstanden werden kann. Zwei Begriffspaare
erweitern diesen ersten Zugang zum Mythos-Verständnis:
Mythos vs. logos:
Beide Begriffe deuten ursprünglich auf Ähnliches: „Wort, Rede, Aussage“.
Spätestens aber seit Platon entwickelt sich die heute geläufige Gegensätzlichkeit: Mit Einstufung des Mythos als Lüge und als kindliches
Bewusstsein erhält dieser den Status einer unverbindlichen Erzählung im
Gegensatz zu Logos, der Rede als argumentativem und begründendem Akt21.
20
Dommermuth-Gudrich, Gerold: 50 Klassiker Mythen [2000], 3. Aufl., Gerstenberg, Hildesheim 2001,
S. 17.
21
Beachtenswert ist allerdings, dass Platon selbst im Timaios-Dialog in dichterischer Form einen eigenen
Mythos beschwört, wonach der Demiurg, der Weltenschöpfer, die Weltseele geschaffen habe,
gleichermaßen das Reich der unveränderbaren Ideen und Erscheinungen.
16
Unter vielen anderen Diskussionsbeiträgen hat Wilhelm Nestle die Spannung
dieses Begriffspaares als lineare Entwicklung des einen zum anderen
beschrieben, wobei das aufklärerische Denken der Moderne Pate steht und die
Richtung angibt.22 „Die Konfrontation von Mythos und Logos hat sich [dann
u.a.] am Ausgang der Moderne in der Antithese von Aufklärung und Romantik
wiederholt“23 sowie sich in zahllosen philosophischen und kulturanalytischen
Beiträgen gespiegelt, wobei diese Ansätze einmal die Subordination des einen
unter den jeweils anderen – bis hin zur jeweiligen Verwerfung – sowie daneben
auch die Komplementarität beider beschworen haben.
In diesen Beiträgen ist ein wichtiger Orientierungspunkt zum Mythenverständnis, ob der Begriff im Singular oder Plural gebraucht wird: Im Plural
verwendet, verweist der Ausdruck auf die oben erwähnten zahlreichen Erzählungen und Erscheinungen in den verschiedenen Kulturräumen und -epochen bis
hinein in unsere Tage. Gleichzeitig aber erlaubt der Singular den Zugang zu
einem übergreifenden Funktionalitätsverständnis, etwa in Zusammenhang mit
dem aufklärerischen Diskurs.
Mythos vs. poiesis:
Im erweiterten Sinn wird nach Platon mythos auch als mythos legein oder
mythologia gebraucht. Platon versteht darunter die Tätigkeit des Dichtens,
poiesis, wir können sagen ,bildende Literatur’, und wertet diese wie alle Kunst
als falsches (Gottes-Vor-)Bild und als pädagogisch ungeeignet ab, es sei denn,
sie hält seinen strengen Zensurmaßstäben stand – wie er es etwa Homer zubilligt.
Karl Kerényi (1897 – 1973) filtert aus dieser Gegenüberstellung bei Platon
heraus, dass es neben dem „Machen, das erst nachträglich in etwas Gemachtes
und demzufolge Vorhandenes … das Werk … mündet“, ein primäres
Urbildhaftes geben müsse: nämlich die überlieferte Stoffmasse der Erzählungen
über Gottwesen und deren Taten.24 Auch bei Klaus Heinrich (geb. 1927) finden
wir diesen Gedankengang, wenn er den Stoff über Götter, Dämonen, Heroen
und unterweltliche Wesen als Ursprungsmächtiges bezeichnet und diesen Stoff
22
Nestle, Wilhelm: Vom Mythos zum Logos. Die Selbstentfaltung des griechischen Denkens, Stuttgart
1942. – Bei Peter L. Berger, Thomas Luckmann: Die „Mythologie [ist] die archaischste Form einer
Stützkonzeption und Legitimation von Sinnwelten.“ Dies.: Die gesellschaftliche Konstruktion der
Wirklichkeit, Eine Theorie der Wissenssoziologie [1966], Fischer, Frankfurt/M. 1994, S. 118.
23
Knatz, Lothar: a.a.O., S. 46.
24
Kerényi, Karl: a.a.O., S. 215.
17
als Fundament für eine daraus erwachsene Geisteslage bezeichnet, die bei ihm
allerdings weiter reicht als dichterische Verklärung.25
Aus praktisch sprachwissenschaftlicher Sicht gibt es noch einen weiteren interessanten Verweis, der einen ersten Zugang zum Mythenverständnis bietet: George Grey,
der 1845 in Britanniens Auftrag Neuseeland kolonialisieren sollte, berichtet von seinen
Erfahrungen bei diesem Unterfangen: Er versteht seine neuen Untertanen nicht, und er
lernt mühsam ihre Sprache, ohne dass ihm dies in seinen Unterhandlungen entscheidend
weiter hilft. Zu häufig waren deren Äußerungen nämlich in Formen und Bilder
gekleidet, die auf einem alten mythologischen System beruhten, sodass er als nächstes –
quasi das eigentliche Sprachsystem überragend – für eine erfolgreiche Kommunikation
die polynesische mythologische Bilder-Sprache erforschen und erlernen musste26.
Nach diesen einführenden Anmerkungen sollten wir nunmehr in der Lage sein, eine
genauere Annäherung an das Mythos-Phänomen vorzunehmen; denn diese Hinweise
lassen eine Ausgangshypothese zur Mythosorientierung zu, die wir anschließend mittels
der Kurzdarstellung einschlägiger Deutungsversuche, durch die daraus abgeleiteten
mythischen Kernfunktionen und die unterschiedlichen Mythos-Erscheinungsformen
untermauern werden (vgl. Aufbau unserer Argumentation in Tabl.4 – S. 19).
a. Das Mitteilungssystem
Wie bei Greys neuseeländischen Untertanen nachzuvollziehen ist, lassen sich
mythologische Elemente als Grundlage für einen Verständigungsprozess ausmachen,
die sich gleichermaßen aus den Worten der Alltagssprache und den darüber liegenden
Wortbildern zusammensetzen. Oder: aus einem ,Stoff’ und einer darauf aufbauenden
Geisteslage besonderer Prägung, wie bei Klaus Heinrich angesprochen. Oder: aus dem
Ursprungsmaterial zur Weltorientierung und der Dichtung, die sich dieses reine
Material für ihre spezifischen Aussagen zu Nutze macht. Daraus ergibt sich nunmehr
unsere Ausgangshypothese, dass der Mythos einen Aufbau hat, der eine primäre Ebene
mit einer sekundären zu einer Mitteilung bzw. zu einer gebündelten Aussage verknüpft.
Dabei ist zunächst nichts über die Aussage selbst bzw. über eine inhaltliche Substanz
25
Heinrich, Klaus: Vernunft und Mythos, Die Funktion der Genealogie im Mythos/1963 [1982],
Stroemfeld/Roter Stern, Basel, Frankfrut/M. 1992, 11/12.
26
Grey, Sir George: Vorwort zur polynesischen Mythologie. In: Kerényi, Karl (Hg.): a.a.O., S. 103 – 109,
hier: S. 105.
18
ausgesagt, wohl aber über die Existenz einer Doppelstruktur des Phänomens, dessen
zweite Ebene eine herausragende Bedeutung erlangt hat oder gezielt erlangen soll.
Beachtet man, dass sowohl die primäre wie auch die sekundäre Ebene mit völlig
unterschiedlichen Gegenständen besetzt werden können, dann wird deutlich, dass dieser
Aufbau eine geradezu unendliche Vielzahl an Aussagemöglichkeiten eröffnet. Genau
diese Feststellung wird nun von Roland Barthes als Ausgangspunkt für seine späteren
ideologie-kritischen Ausführungen benutzt (s. auch S. 34/5). Er bezeichnet den Mythos
als „sekundäres semiologisches System“, das auf einem ersten, primären Zeichensystem
aufbaut, wobei er die beiden Ebenen als Objektsprache (O) und Metasprache (M)
bezeichnet (Tabl.3)27:
1. Bedeutendes
Signifikant a
2. Bedeutetes
Signifikat a
O
3. Zeichen (Sinn)
I. Bedeutendes b
Signifikant b
II: Bedeutetes b
Signifikat b
M
III. Zeichen (Bedeutung/Form)
O= Objektsprache, M = Metasprache
Tabl.3: Sekundäres semiologisches System nach R. Barthes
In Anlehnung an Andreas Hirseland28 kann das folgende Beispiel dieses System
verdeutlichen. Die Korrelationen der in der Abbildung platzierten Signifikanten und
Signifikate bilden jeweils Zeichen, etwa:
1. Signifikant a
ist
die Buchstabenfolge A-U-T-O
2. Signifikat a
ist
ein Fahrzeug auf 4 Rädern
hieraus (aus 1. + 2.) wird
3. das Zeichen (Sinnbild) „Auto“
Jetzt wird in der Folge ein neues Signifikat b aus einem kollektiv vorhandenen
kulturellen Wertekanon hinzugefügt, wie er in einer bestimmten Epoche (hier der
unseren) besteht (verfolge auf Seite 20):
27
28
Barthes, Roland: a.a.O., 92/3.
Hirseland, Andreas: Vertreibung ins Paradies. In: Hartmann, Hans A.; Haubl, Rolf (Hg): a.a.O,
S. 225 – 244, hier: S. 229.
19
a. Das Mitteilungssystem
b. Die Deutungsansätze (selektiv)
Ausgangshypothese:
Mythos ist eine betont herausgehobene Aussage
in einem Mitteilungssystem zweier Ebenen, z.B.:
1. Allegorismus
-
Symbolismus
Bei R. Barthes:
Objektsprache
Metasprache
2. Dialektik des mythologischen
Bewusstseins
Dialektik der Aufklärung
Bei K. Heinrich:
Stoff
Geisteslage
3. Psychologie
-
Ritual und Soziologie
4. Numinose
-
Strukturalismus
Mythos
d. Die Erscheinungsformen
1. Authentischer/hist. Mythos -
2. Reflektierter Mythos
3. Zeitgeist-Mythos
4. Alltagsmythos
-
Auf Basis von Erzählungen,
Abgesetzt von Märchen,
Objekten und Personen,
Legende/Sage,
Bes. Ereignissen und Ideen,
Mysterien,
Verhalten (Ritus, Kultus)
Magie/Mystik,
------Aufklärung
Tabl.4: Das Phänomen , Mythos’: Orientierungskriterien (Definitionsersatz)
c. Die Kernelemente
1. Formbezogene Funktionen
Bildhaftigkeit im Transformationskontext
Transport von Bedeutsamkeit durch Doppeldeutigkeit
2. Inhaltsbezogene Funktionen
Chaos- und Angstbewältigung
Indentitätsverleihung
Rationalitätskritik (Ent-/Remythologisierung)
20
I. Signifikant b
ist
identisch mit 3. = „Auto“
II. NEUES Signifikat b
ist
(z. B.) Status oder Freiheit
hieraus (aus I. + II.) wird
III. Zweites Zeichen (Bedeutung, Form): Statussymbol „Auto“.
Sind nun aber diese zwei Ebenen auch identifizierbar, wenn es nicht um ein derartig
profanes Beispiel geht, sondern um Zusammenhänge, die den Mythos nicht in der Alltagswelt, wohl aber in den von uns als mythisch bezeichneten Göttererzählungen platziert sehen? Dazu zwei Beispiele:
Anton Grabner-Haider29 beschreibt, als unter den Grundworten archaischer Glaubenssprache vorhanden, die melanesische Bezeichnung ,Mana’ als „das unverfügbare
Kraftfeld, dem Menschen sich ausgesetzt wissen … ein Kraftfeld, das von außerhalb in
die Lebenswelt der Menschen einwirkt“. Danach ist z.B. die ,Erde’ ein derartiges Kraftfeld, das in der Frühzeit der Ackerbaukulturen als Mythos ,Urmutter Erde’ verehrt
wurde. Auf einem einfachen gedanklichen Umweg lassen sich die zwei Barthesschen
Ebenen nachweisen:
1. Steine, Sand, Acker
+
2. ergiebiger Boden
wird zu
3. = I. = fruchtbarer Erde
+
II. Lebensspender
wird zu
III. Urmutter Erde.
Erwähnen wir schließlich ein weiteres einfaches allegorisches Beispiel aus der griechischen Mythologie, den Prometheus-Mythos, dessen Vielschichtigkeit und Vieldeutigkeit Hans Blumenberg in ausführlicher Weise nachgeht:
1. Ein Titan schafft
eine menschliche Form
3. = I. = Prometheus,
dem Menschenbildner
+
wird zu
+
2. veranlasst eine Göttin (Athene),
dieser Form Leben zu geben
II. Beschaffer für das Feuer
wird zu
III. Prometheus, dem „Urheber des Menschen“.
Die Doppelschichtigkeit des mythischen Systems lässt sich auch – deutlich weniger
formalistisch – als Vertiefung oder Erweiterung einer auf einer Grundmaterie beruhenden Erfahrung begreifen bzw. als ein System von Denotation und Konnotation, wobei
29
Grabner-Haider, Anton: Strukturen des Mythos, Theorie einer Lebenswelt, Echter, Würzburg; Oros,
Altenberge 1993, S. 23 ff.
21
unter ersterer die für jedermann erfahrbare Bedeutung eines Objekts, unter letzterer eine
schlussendlich subjektive Interpretation oder zusätzlich begleitende (Be-) Deutung zu
verstehen sind.
Hieraus ergibt sich für uns die Bestätigung der Hypothese, dass der Mythos ein Mitteilungssystem mit einer Doppelstruktur über zwei Ebenen darstellt, die inhaltlich wie
Materie und zu deutender Sinn zueinander stehen. Interessant ist nun festzustellen, dass
dieses strukturale Charakteristikum auch bei anderen Annäherungsversuchen an den
Mythos zu konstatieren ist. Wir haben in unserem Schaubild Nr. 4 in diesem Zusammenhang Klaus Heinrich erwähnt: Auch er als Religionswissenschaftler erkennt als
mythosspezifisches Kriterium zu dessen Verständnis, dass man zunächst eine BasisStoffmasse ausmachen müsse, auf der sich eine „Geisteslage“, ein weiteres Gerüst erhebt, das es zu erfassen gilt. Wir werden sehen, dass hierauf verweisende weitere Deutungsversuche uns der entscheidenden Mythosfunktion näher bringen, die über alle
Definitionsversuche zum Mythos hinaus das eigentliche Mythosverständnis erschließen
helfen. Denn: Unsere Ausgangshypothese zum Mythenverständnis umfasst ja nicht nur
die Erkennung einer formalen Doppelschichtigkeit des Mythossystems; der zweite
Aspekt dieses Systems ist seine entscheidende inhaltliche Komponente mit seiner
gewichteten Bedeutung, deren (individuelle) Besonderheiten uns die folgenden
Deutungsversuche beispielhaft aufzeigen können. Aus unseren Bemerkungen zu
,mythos/logos’ lässt sich ferner vermuten, dass das mythische Denken ein permanenter
Austausch innerhalb des menschlichen Wertedenkens ist – entweder linear wie bei
Wilhelm Nestle oder im Hin und Zurück eines Prozesses. – Welche wesentlichen
Aussagen hat nun die Geschichte der Mythosdeutung bezüglich der Metasprache
gemacht?
b. Die Deutungsansätze
Der Titel des Buches von Hans Blumenberg, „Arbeit am Mythos“, kann uns
vorgeben, dass es nicht die eine Deutung des Mythos gibt. In der Tat ist die Historie des
Umgangs mit dem Begriff und seinen Inhalten Jahrtausende alt, und es gibt zahlreiche
entsprechende Darstellungen, die sich mit nahezu jedem Jahrzehnt verlängern lassen.
Die Deutung der Mythen ist so alt wie philosophisches Denken, so alt wie die Abkehr
von unkritischer Akzeptanz überlieferter Geschichten. Da Kunst und Werbung – wie
wir sehen werden – sich nicht nur der Mythos-Strukturen bedienen, sondern sich dabei
auch auf verschiedene Deutungsansätze berufen, wollen wir einige wichtige Stationen
22
dieser Ansätze und ihre Verflechtungen herausheben, um damit das umfangreiche
Spektrum mythischer Formen, Inhalte und Erfahrungen sowie letztlich – entscheidend –
deren Funktionalität hervor treten zu lassen. Wir bedienen uns dabei einiger z.T.
polarisierender Gegenüberstellungen, um diesen Komplex in Kürze schwerpunktmäßig
zu erhellen.
1. Allegorismus und Symbolismus
Zu den ältesten Mythos-Deutungen zählen die allegorischen, die den Mythos als
„Anderssagen“, das Einkleiden, das Verstellen oder das Verhüllen von Wahrheit zu
erklären versuchen. Dabei wird eine gedankliche Beziehung zwischen den bildhaft
dargestellten Signifikanten und dem gemeinten Signifikat aufgebaut, wenn z.B. die
olympischen Götterstreitigkeiten als Kampf der Elemente (Theagenes von Rhegion,
539 – 450 v.Chr.) oder die Naturelemente Feuer, Luft, Erde und Wasser als Zeus, Hera,
Hades und Nestis (Empedokles aus Agrigent, ca. 490 – 430 v.Chr.) erscheinen30. Eng
verwandt mit der allegorischen ist die euhemeristische Deutungsweise, die auf
Euhemeros (ca. 340 – 270 v.Chr.) zurückgeht, wonach Mythen für historische Ereignisse oder vergöttlichte Personen eintreten – wie z.B. in der mittelalterlichen Darstellung König Davids als Vorfahr Christi.
Das oben thesenhaft beschriebene formale Mythoskriterium einer dualen Struktur ist
unschwer in dieser allegorischen Methode auszumachen. Sie leitet uns einerseits zu
einer Art Rationalisierung des Weltgeschehens und dadurch weiterhin zu einer
nachvollziehbaren (primitiven) Schreckensbehauptung und Identifikationsmöglichkeit
des Menschen, wodurch diese bildhafte Methodik ein wesentliches mythisches
Funktionsgrundmuster erkennen lässt.
Weit nachhaltiger greift das Mythosverständnis des Symbolismus. Obwohl dieser
seine Verwandtschaft zum auf direkte Sinn-Bild-Verhältnisse abhebenden Allegorismus
nicht leugnen kann, ist er in seiner vielfältigen Ausprägung jedoch ständig auf der
Suche nach einem beziehungsreicheren, tieferen Sinn, die bis in die Religionswissenschaft zur Beschreibung göttlicher Gegenwärtigkeit reicht31. Aus der großen Zahl
der Vertreter dieses Denkansatzes sollen hier einige heraus gegriffen werden, die ihre
Ergebnissuche in punkto mythischer Funktionalität nicht nur über den bereits bekannten
30
31
S. hierzu im einzelnen Schlatter, Gerhard: a.a.O., S. 40.
Ebd., S. 45.
23
dualen Ansatz ableiten, sondern die Abgrenzung zu allegorischem Denken besonders
deutlich machen:
Auf der Schwelle vom allegorischen zum symbolischen Deutungsakt können wir
Giambattista Vico (1688 – 1744) einordnen. Er verwirft den Gedanken einer mythischallegorischen Verhüllung wahrer Gestalten und findet die innere ,Logik’ der Mythen der
antiken Epochen darin, dass sich in ihr Sprachbilder bzw. Ähnlichkeitsbeziehungen
offenbaren, die in poetischer Weise Bedürfnisse der alten Völker widerspiegeln.32
Christoph Jamme33 hebt die stimulierende Bedeutung von Karl-Philipp Moritz (1756
– 1793) für die Mythologie der Klassik und Romantik hervor: Während das MythosAllegorische der Kunst Ornamente und Formelemente liefere, repräsentiert für ihn der
antike Mythos symbolhaft die Sprache der Phantasie: „Mythen sind als [symbolisch]
bildende Kraft in der Welt im menschlichen Dasein wirksam und können als
Kunstwerke ästhetische Autonomie beanspruchen … Hauptzweck der Mythologie ist
die Schönheit.“ Das Verständnis des antik-mythologischen Geschehens und seiner
Repräsentanten im Sinne von Poesie und Dichtung – wie sie in besonderer Weise von
Goethe übernommen bzw. weiter entwickelt wurde – zeugt von dem kunstorientierten
Symbolansatz zur Mythenbestimmung bei Moritz.
Zum Kreis der herausragenden Symboliker ist vor allem Johann Gottfried Herder
(1744 – 1803) zu rechnen, der mit der Abkehr von der Allegorie dem romantischen
Weltbild Fundamente legte. Es geht ihm bei der Mythosbetrachtung nicht mehr um
irgendeinen phantasievollen Abbau an Erklärungsbedarf zum Weltgeschehen, sondern
für ihn ist Mythos Poesie, „und wichtig: geglaubte Poesie…die ganze Schöpfung ist
[für ihn] nichts als ein Symbol, eine Hieroglyphe Gottes“34. Symbole sind für ihn
Zeichen, die nicht einfach für sich rationalistisch interpretierbar sind, sondern solche,
die einen Übersinn aufgreifen, der sich aus den Glaubensinhalten der Zeitepoche, hier
der antikmythischen Periode, ergeben und nur über das Durchdringen dieser
Zusammenhänge zu begreifen sind.
Georg Friedrich Creuzer (1771 – 1858), einer der Vertreter der Heidelberger
Romantik, steht stark unter dem Einfluss ethnologisch bestimmter symbolischer
Mythenbetrachtung. U.a. auf der Grundlage orientalischer und griechischer Überlieferungen und seiner Zuwendung an die Astrologie repräsentieren Mythen für Creuzer
,alten Glauben und alte Lehre’ in religiösem Sinn; das Symbol aber, das sich darüber
32
Jamme, Christoph (1991): a.a.O., S.13.
Ebd., S. 42 - 44.
34
Schlatter, Gerhard: a.a.O., S. 45/46.
33
24
erhebt, ist die „versinnlichte, verkörperlichte Idee selbst“35. Für ihn sind die alten
Mythen ausgesprochene Symbole, die als versinnlichte Ideen den Menschen ergreifen.
Es ist hier nicht der Ort, im Einzelnen darzulegen, dass - vor dem Hintergrund des
parallelen aufklärerischen Denkens seiner Zeit – Creuzer die heftigste Kritik u.a. wegen
seines Rückfalls in den Allegorismus erfahren hat.36
Letztlich wollen wir bei dieser Gegenüberstellung von allegorischen und
symbolischen Ansätzen zur Mythendeutung nicht Friedrich Wilhelm Josef Schelling
(1775 – 1854) übergehen, der sich strikt gegen das allegorische Prinzip wendet und –
gewissermaßen tautologisch – die Mythosbestimmung aus dem Mythos selbst heraus
fordert. Seine ,Philosophie der Mythologie’ „versucht, die Notwendigkeit wirklicher
Wesen, die zugleich Principien, allgemeine und ewige Begriffe – nicht bloß bedeuten,
sondern sind…, philosophisch zu erweisen“.37 Die Mythologie verweist nach Schelling
nicht auf irgendein anderes „Wahres“, sondern sie ist das Wahre selbst.38 – Getrieben
von der Notwendigkeit einer neuen allgemeinen philosophischen Darstellungsform –
einer ,Neu-Mythologie’ – orientiert sich der späte Schelling, nachdem er anfänglich
aufklärerisch den Mythos als Zustand des menschlichen Kindheitsalters auffasste, an
der Idee der Evolution des Göttlichen: In einem geschichtlichen theogonischen Prozess
entwickelt sich die ursprüngliche Gottgestalt im menschlichen Bewusstsein über
mehrere Phasen des Mono- und Polytheismus: als Mythos. Es muss hervorgehoben
werden, dass in diesem Prozess nicht die Direktheit archaischer Mythologie Pate steht,
sondern dass das mythische Bewusstsein, gewonnen aus jenem Ablauf der
Bewusstwerdung zum Göttlichen, die Grundlage seiner Mythosbestimmung ist.
In der Symboldiskussion des 20. Jahrhunderts schließlich spielt Ernst Cassirer (1874
– 1945) eine zentrale Rolle. Auf der Suche nach einem übergreifenden umfassenden
Ansatz für eine Kulturphilosophie bestimmt er – durchaus in Anknüpfung an Schelling
– einen weitreichenden Symbolbegriff. Auch Aby Warburgs Bibliothek und Denken
stehen ihm zur Seite, wenn er unter „symbolischer Form“ eine Energie des Geistes
versteht, durch welche ein geistiger Bedeutungsinhalt an ein konkretes sinnliches
35
Jamme, Christoph (1991): a.a.O., S.52/53.
Karl Kerényi bezeichnet Creuzers Symbolik als im Grunde „eine Allegorie, die höheren,
philosophischen und religiösen Ansprüchen genügen sollte“. Das hermeneutische Bedürfnis betrüge
sich durch selbst erschaffene Symbolik. Vgl. Kerényi, Karl: a.a.O., S. XIV.
37
Jamme, Christoph: „Gott hat an ein Gewand“, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1999, S. 81, Anmerkungen 15
und 16.
38
Es ist hier nicht der Ort, um diese Haltung Schellings mit der Hegels im Einzelnen und im Zeitablauf
abzugleichen, der letztendlich die Historizität des Mythos vertritt. S. Jamme, Christoph (1991): a.a.O.,
S. 58 ff.
36
25
Zeichen geknüpft wird. Dabei sind für ihn vor allem die Sprache, aber auch die Kunst
Beispiel symbolischer Formungen.
Mit Ernst Cassirer haben wir nicht nur noch einmal den Wechsel des mythischen
Dualismus von der allegorischen Deutung zur symbolischen nachvollzogen, sondern
nähern uns einem weiteren Begriffspaar, das uns die Substanz des Mythosbegriffs
weiter erhellen hilft:
2. Die Dialektik des mythischen Bewusstseins und die Dialektik der
Aufklärung
Etwas kurzsichtig könnte man unterstellen, Dialektik der Mythologie und Dialektik
der Aufklärung würden eine grundsätzliche Gegensätzlichkeit signalisieren; dennoch
wird sich zeigen, dass eine kurze Analyse, wie sich beide Begriffe zum Mythos
verhalten, interessante Gemeinsamkeiten offenbart. Dabei führt uns Cassirers
Auseinandersetzung mit dem Symbolischen zu einer Annäherung an den Mythos, die
erneut keine Pluralbildung des Begriffs erlaubt, die den Mythos vielmehr als
allgemeines Ganzes, als Einheit im menschlichen Bewusstsein, als Gegenspieler zum
aufklärerischen Denken interpretiert: Cassirer bezieht sich zunächst auf die von Comte
vertretene positivistische Philosophietheorie, nach der der Mensch durch mehrere
verschiedene Bewusstseinsphasen von einem Primitivzustand „zur vollendeten geistigen
Beherrschung der Wirklichkeit empor geführt wird“39. Während nun allerdings der
positivistische Ansatz davon ausgeht, dass bei Erreichen einer höheren Stufe der
menschlichen Bewusstwerdung zum Weltgeschehen die vorangegangenen Stufen
entbehrlich bzw. abgestorben seien, unterstellt Cassirer eine Dialektik des mythischen
Bewusstseins derart, dass während des genannten Fortschrittsprozesses dieses
Bewusstsein stets als Negation wie auch als Position anwesend ist. Der Prozess der
Vernichtung mythischer Substanz kann nicht stattfinden, wenn er nicht in einen Prozess
der
mythischen
Selbstbehauptung
gegen
das
wissenschaftliche
Denkschema
eingebunden wäre: Während anfänglich die Absetzung des Mythos von der Dingwelt
das Ausschlaggebende ist, führt im weiteren historischen Verlauf die geistige
Denkaktivität zu neuen Formen des (teilweise anderen oder eingeschränkten)
mythischen Elements selbst (Tausch an Gestalten und Bildern). In jenem anfänglichen
39
Cassirer, Ernst: Gesammelte Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 12: Philosophie der symbolischen
Formen, 2. Teil: Das mythische Denken [1924], Meiner, Hamburg 2002, S. 276. – Die drei Phasen nach
Cassirer sind: 1. Die subjektiven Wünsche und Vorstellungen der Menschen werden zu Götterwesen
und Dämonen. 2. Wünsche und Vorstellungen werden zu abstrakten Begriffen. 3. Innere und äußere
Erfahrungen werden streng geschieden.
26
mythischen Bewusstsein ist das Subjekt von dem Glauben an die objektive Wesenheit
und an die objektive Kraft des mythischen Zeichens durchdrungen. In der
Vorstellungswelt des Menschen bilden demnach Dingmoment und Dingbedeutung
zunächst („konkreszierend“) eine Einheit; wesentlicher Bestandteil aktueller Mythenbetrachtung aber ist nach Cassirer die trennende Analyse, mittels derer sich der Mythos
später geistig über die Dingwelt erhebt. Der fortschrittliche, Freiheit suchende Geist
empfindet jede neue Stufe dieser Entwicklung zu seiner Zeit als Zwang, setzt sich zu
der Welt der Bilder und Zeichen in ein neues freies Verhältnis und hebt damit das
Ergebnis der vorausgegangenen Etappe teilweise auf („logische Genese“40).
Cassirers Mythosbegriff wird in besonderer Weise anschaulich, wenn er Mythos mit
Sprache – in Anlehnung an Wilhelm von Humboldt – vergleicht: so wie Sprache das
Bindeglied zwischen Mensch und auf ihn wirkender Natur darstellt, so spielt für ihn der
Mythos die vermittelnde Rolle zwischen Individuen und Umwelt und ist in stetiger
Dynamik mittels aktiver geistiger auf sie einwirkender Kräfte auf dem Wege zu
größerer Vielgestaltigkeit und Freiheit. Für Cassirer ist diese Dialektik mythischer
geistiger Formen charakterisiert durch ihre jeweilige Formsprache, d.h. durch ihre
Symbolik – so wie die Naturwissenschaft sich der mathematischen Symbolsprache
bedient.
Für Cassirer sind Existenz und Rechtfertigung des Mythos unbestritten, allerdings
auf jeder seiner transformativen Etappen als eine der höheren Vernunft vorgelagerte
Instanz. In der Betrachtung der „Dialektik der Aufklärung“ wird nunmehr entfaltet,
wohin dieser Prozess führen könnte:
Die „Dialektik der Aufklärung“ Max Horkheimers (1895 – 1973) und Theodor
Adornos (1903 – 1969) möchte zwei Thesen unter Beweis stellen41: „Aufklärung
schlägt in Mythologie zurück“ und „schon der Mythos ist Aufklärung“. Beide Formeln
setzen wiederum den ganzheitlichen Mythosbegriff (ohne Plural!) voraus, wenn auch –
interessanterweise – gleichzeitig spezifische Mytheninterpretationen bei der Beweisführung herangezogen werden.
Hintergrund des Forderns der Autoren nach einem kritischen Denkansatz im Sinne
einer „Parteinahme für die Residuen von Freiheit für Tendenzen zur realen
Humanität“42 ist die alles steuernde gesellschaftliche Zweckrationalität westbürgerlichen Handelns, das die Welt entzaubert und ohnmächtig werden lässt. Hatte
40
Ebd., S. 17.
Horkheimer, Max; Adorno, Theodor: a.a.O., S. 6.
42
Ebd., S. IX.
41
27
Cassirer seine Dialektik des mythischen Bewusstseins als Auf und Ab innerhalb eines
permanenten Prozesses zwischen Mythos und aufgeklärter Rationalität beschrieben, so
wird bei Adorno/Horkheimer der Begriff Dialektik derart in Zusammenhang mit
Aufklärung benutzt, dass eben diese Aufklärung das Spannungsfeld zwischen sich und
dem Mythos benutzt, um dabei auf einen mythischen Endpunkt zurückzufallen. Ihr
Mythosverständnis ist auch auf dem Feld der Bemühungen zu suchen, die nach einer
Neubegründung der Rationalität streben, nach einer Ausdifferenzierung des
Rationalitätsbegriffs; dabei betreten sie allerdings das philosophische Parkett – anders
als Cassirer – von dem dem Mythos gegenüberliegenden Ufer, dem Ufer der
Aufklärung. Die zunehmende Macht der Zweckrationalität im heutigen Weltgeschehen
ist es, die die Mythenbildung geradezu forciere: „Das von Dämonen [durch die
Aufklärung] gereinigte Dasein nimmt in seiner blanken Natürlichkeit den numinosen
Charakter an, den die Vorwelt den Dämonen zuschob“43; der detaillierte Nachweis wird
u.a. im Kapitel „Kulturindustrie, Aufklärung als Massenbetrug“44 geführt. Aufklärung
schlägt in Mythologie zurück!
Die zweite These „Mythos ist Aufklärung“ wird am Einzelmythos der Odyssee
nachvollzogen. Das vorweltliche Modell aktuellen Durchsetzungsvermögens gegenüber
dem Uneinschätzbaren, Unberechenbaren und Unheimlichen ist für Adorno/Horkheimer
der Odysseus-Mythos mit der Szene der Überlistung der Sirenen, in der der instrumentale, rationale Verstand die beherrschende Kraft darstellt. Die Autoren bezeichnen
Odysseus’ Vorkehrungen, die er zur erfolgreichen Überwindung der Sirenen einsetzt, –
es sind für Adorno/Horkheimer die Verlockungen des noch vorhandenen, schon
,Vergangenen’ – „als ahnungsvolle Allegorie der Dialektik der Aufklärung“: Das wohl
durchdachte Verstopfen der Ohren seiner Gefährten vor den Sirenen-Gesängen (daraus
ergibt sich ihr Part als willfährig, hart arbeitende Ruderer) und seine Mast-Fesselung
(hieraus leitet sich seine Rolle als dem System gegenüber ohnmächtiger Herrscher ab)
sind nicht nur Ausdruck eines planvollen, aufgeklärten Verstandes, sondern gleichzeitig
durch ihr Eingebundensein in das gesellschaftliche Sirenenkonzert Paradebeispiele für
den „Fluch des unaufhaltsamen Fortschritts“45, der in die unaufhaltsame Regression
führen werde. Indem Adorno/Horkheimer hiermit in erster Linie eine politischideologisch durchsetzte Rationalität stigmatisieren, wird die Beschwörung des Mythos
als überwunden geglaubtes Vergangenes benutzt, um nach einer neuen Aufklärungs43
Ebd., S 34.
Ebd., S. 128 – 176.
45
Ebd., S. 41 f.
44
28
Begrifflichkeit zu fahnden. – Damit sind letztendlich beide von den Autoren gesetzte
Thesen zum Mythosbegriff entfaltet: „Wie die Mythen schon Aufklärung vollziehen, so
verstrickt sich Aufklärung mit jedem ihrer Schritte tiefer in Mythologie“.46
In erhellender Weise setzt sich Hans Blumenberg (geb. 1953) mit diesem
Wechselspiel zwischen Mythos und Aufklärung auseinander. Seine Formulierung
,Arbeit am Mythos’ statt ,Arbeit des Mythos’ weist zwar – ähnlich wie bei
Horkheimer/Adorno – auf die Notwendigkeit aufklärerischen Denkens hin, ohne dass
für ihn damit ein erfolgreiches einseitiges Finale eben dieses Denkens zu erwarten steht.
Für ihn ist Prometheus die Kernfigur des Mythos, die er als Symbol für
Selbstbehauptung und Angstbewältigung beschreibt. Dabei benutzt er den Begriff der
„Bedeutsamkeit“ 47 als Ausdrucksmittel des Mythos sich zu profilieren und diesen über
eine einfachere Sinnproduktion hinaus zu erheben. Und wir fügen hinzu, dass diese
Bedeutsamkeit zur Erfüllung vielfältiger Zwecke nicht nur kontinuierlich gewachsen
sein muss, sondern –auf der Grundlage sozio-kultureller Werte und deren kollektiver
Erfahrungsprozesse – bewusst wesentlich gemacht bzw. gesteuert werden kann (vgl.
insb. Kap. III).
Auf die Frage, auf welche Art und Weise der Mythos ein derart bedeutsames Profil
erreicht, zählt Blumenberg als entscheidende Wirkungsmittel auf:
- Latente Identität (unerwartete Koinzidenz von Ereignissen, das Unerwartete wird
möglich und sinnvoll),
- Steigerung (Haupt der Medusa, s.u.) und Depotenzierung (göttliche Verwandlungen
nach Lust und Laune) von Fakten,
- Erschwerung des Vollzugs von Handlungen (Odysseus als Bewältiger schwerster
Widerstände, Sisyphos als Figur der Vergeblichkeit),
- Indifferenz von Raum und Zeit (Perseus’ geflügelte Sandalen und Tarnkappe),
- Gleichzeitigkeit von Ereignissen (Stern bei Geburt Jesu).
Ein weiterer Aspekt ist im Zusammenhang mit Blumenbergs Punkt der ,Steigerung
von Fakten’ anzuführen: Der durch die Arbeit am Mythos anzustrebende Distanzgewinn
gegenüber dem ursprünglich Unfassbaren und den darin schwelenden Katastrophen, wie
sie Bilder von Sintfluten, Drachenbedrohungen oder Götterrache beschwören, dieser
Distanzgewinn hat nie das originär Schreckliche und Terror-Verbreitende des Mythos
(denken wir an Atlantis oder Titanic) völlig ausgegrenzt. D.h.: Vor die Angstbewältigung hat der Mythos oft das Angsterregende gesetzt.
46
47
Ebd., S. 18.
Blumenberg, Hans: a.a.O., S. 68 ff.
29
3. Psychologische und ritualistisch-soziologische Mythos-Deutungen
Friedrich Nietzsche (1844 – 1900) stellt in frühen Jahren (1872) vor dem Hintergrund der griechischen Tragödie durch das Apollinische (Apoll, der klare Weltenordner) und das Dionysische (Dionysos, der personifizierte, triebgesteuerte Daseinswille) das Spannungsfeld dar, das das Menschenbild bestimme. Während er das
Apollinische als Göttertraum, als schönen Schein apostrophiert, degeneriert letztlich das
Dionysische zum psychologischen Merkmal des menschlichen Machtwillens.
Nietzsches Auftritt stimuliert den psychologischen Deutungsansatz, der im
mythischen Bild Erklärungen zu menschlichem Verhalten sieht. Es ist vor allem
Sigmund Freud (1856 – 1939), der Meilensteine für die Psychoanalyse setzt, indem er
sexuelle Komplexe anhand von mythischen Erscheinungen und Handlungen
illustrierend fest macht. Narkissos (Narziss), Sohn der Nymphe Leiriope und des
Flussgottes Kephissos, gibt dem hoffnungslosen Selbstverliebtsein seinen Namen.
Ödipus steht für die unbewusste, infantil-archaische Sehnsucht jeden Sohnes,
Vatermord aus eifersüchtiger Konkurrenz um die eigene Mutter zu begehen.48
Bemerkenswert ist, dass Freud 1912/13 seine vierteilige Schrift Totem und Tabu zu
einer
Zeit
des
unbedingten
Avantgardismus
vorlegt,
als
die
romantischen
Seelenanspannungen und die subjektiv-impressionistischen Äußerungen sich allenthalben auf der Anklagebank befinden. Freud bemerkt dort, dass die Menschheit im
Laufe ihrer Entwicklung drei große Weltanschauungen hervorgebracht hat: „Die
animistische (mythologische), die religiöse und die wissenschaftliche“.49 Die erste – für
ihn die „erschöpfendste“ – die animistisch-mythologische bezeichnet er als
psychologische Theorie, deren Hauptstruktur in der janusköpfigen, tabuisierten
Verflechtung von Libido-Verlangen und versagender Realität der Individuen liegt.
Freud beruft sich auf die urgeschichtlichen Tabus menschlichen Zusammenlebens, die
sich gleichzeitig auf Glauben an und Furcht vor dämonischen Mächten und deren
Anrufung beziehen und dabei einen Sektor von unabdingbaren Wert- und
Verhaltenskodices festlegen, die von Ge- und Verboten bestimmt sind, ein Tabubereich
also, der umfasst, „was zugleich heilig, über das Gewöhnliche erhaben, wie auch
gefährlich, unrein, unheimlich“ ist50. Dieses Freudsche Dokument entsteht in einer Zeit
48
Bei dieser Ödipus-Illustration nimmt Freud allerdings in Kauf, dass er den Kern des mythischen Ödipus
insofern nicht trifft, als dieser weniger aus seelischen Zwängen verfehlte, sondern sich nicht den z.T.
orakel-behafteten Fallstricken seiner Vergangenheit entziehen konnte.
49
Freud, Sigmund: Gesammelte Werke, Bd. IX, Totem und Tabu [Imago 1913], Fischer, 6. Aufl.,
Frankfurt/M. 1978, S. 96.
50
Ebd., S. 31.
30
der Tabubrüche, in der die heiligen Kühe des 19. Jahrhunderts geschlachtet,
einschränkende Verbote gefällt oder zumindest die heilige Scheu vor vorhandenen, aber
überholten Werten in Frage gestellt werden. Werner Hofmann erkennt hierin die
Spiegelung der „ambivalenten (atavistischen) Züge der Moderne“51.
Carl G. Jung (1875 – 1961) geht von den Freudschen Thesen aus, dass der Mythos
Konturen des menschlichen Inneren abbildet, die sich ständig wiederholen und deren
Erkenntnis der Befreiung von Seelenlasten dienen kann. Dadurch wird das Mythosverständnis von einer allgemeinen geschichtlichen Ebene ebenfalls auf die Stufe
subjektiver, dem einzelnen Mythos folgender Zwangsläufigkeit verlagert. Darüber
hinaus aber hat Jung neben den individuellen Mythenbildern, die uns als Einzelperson
unbewusst traumhaft begleiten, das „kollektive Unbewusste“ ausgemacht, in dem hinter dem ersteren vermutet – die Archetypen, die Mythen bildenden Strukturelemente
als Antriebskräfte menschlicher Handlungen angesiedelt sind. Mythos ist danach eine
Art Aufsummierung kollektiver, von Vorfahren hinterlassener Inhalte des Unbewussten
(Archetypen, in Träumen und Phantasien aufscheinend).
Während die psychologische Betrachtung dem Mythenverständnis durch die
Traumanalyse näher kommen möchte, packten es die ritualistisch-soziologischen und
politischen Modelle praktischer an. Diese stellen den Mythos als eine Daseinsform
praktischer Lebenswirklichkeit und als Basis menschlicher Gemeinschaft dar.
Bronislaw Malinowski (1884 – 1942) beruft sich auf den Vorteil des Ethnologen, der
per Augenschein und Literatur die primitiven Gesellschaften studiert und feststellt, dass
der Mythos nicht allein erzählte Geschichte, sondern „gelebte Realität“ ist52. Im
Vergleich zu Märchen als Akten der Geselligkeit und zu Legenden als vergangenen
historischen Ausblicken sind Mythen für ihn heilige Geschichten, die nicht nur als
Kommentierung zu rituellen Handlungen, sondern als „Bürgschaft, Grundgesetz und oft
sogar als praktische Anleitung bei der [rituellen] Tätigkeit angesehen werden müssen.
Darüber hinaus enthalten zeremonielle Riten und die Gesellschaftsordnung als solche
direkte Bezüge auf den Mythos; sie werden als das Ergebnis mythischer Ereignisse
angesehen … und bilden … das Rückgrat einer primitiven Zivilisation“53.
Obwohl diese Betrachtungsweise des Mythos eher als traditionell bezeichnet werden
könnte, lenkt sie durch den rückgreifenden Verweis auf das zeremonielle, rituelle
51
Hofmann, Werner: Grundlagen der modernen Kunst, 4. erg. Aufl., Kröner, Stuttgart 2003, S. 526.
Malinowski, Bronislaw: Die Rolle des Mythos im Leben [1926]. In: Kerényi, Karl: a.a.O., S. 181 ff.
53
Die Ansicht, dass der Mythos als das grundlegende Element der Riten anzusehen ist, ist nicht
unbestritten. Zum Beispiel hat G. Murray umgekehrt das Ritual als die Quelle des Mythos bezeichnet.
Vgl. Hübner, Kurt: a.a.O., S. 56.
52
31
Gebaren der Primitiven, das sich im griechischen Festmahl wiederholt, doch die
Aufmerksamkeit auf einen für unsere weitere Betrachtung relevanten Punkt, nämlich die
starke Gebundenheit des Mythos an das Kollektiv, das an der rituellen Handlung
teilnimmt und dabei zum Teil aktiv die Nähe zum wie auch immer definierten Göttlichen
sucht und erlebt. Dabei bilden neben dem Gebet vor allem das Opfer und das Opfermahl
die zentralen Punkte des rituellen Geschehens. Das (blutende Tier-)Opfer tritt als Mittler
zwischen Vorfahr/Gott und dem aktuell Menschlichen auf und schafft ein
gemeinschaftliches Ganzes, eine Vereinigung – mit dem Ziel der Erlösung von Angst
oder Not. Cassirer spricht zum Beispiel von einer entstehenden ,Blutsgemeinschaft’54
und sieht letztlich die Bedeutung des Opfervollzugs nicht alleine in dem Darbieten eines
Opfers an den Gott, sondern darüber hinaus in dem Opfern des Gottes selbst, der dadurch
seine Unsterblichkeit erlangt. Ein vorrangiges Sinnmerkmal ist dabei also die Befreiung
vom Tode durch Wiedergeburt, wie es in besonderer Weise auch in den geheimnisvollen
Mysterienkulten gefeiert wird, etwa den eleusinischen, oder den Mysterien der
ägyptischen Isis/Osiris und des persischen Mithra. Je intensiver diese Mysterien erlebt
wurden, desto stärker wurden sie zum Opferbetrug benutzt, wie sehr anschaulich der von
Hans Kloft berichtete Skandal aus Kaiser Tiberius’ Zeiten beweisen kann, wobei einer
reichen Römerin in ihrer Isisverehrung der Beischlaf des Sohnes der Göttin zuteil wurde;
allerdings verbarg sich hinter dem Gottessohn lediglich ein zahlungskräftiger Verehrer
der Dame, der mit dem willigen Priester gemeinsame Sache gemacht hatte.55 In den
planmäßig betriebenen menschlichen Opferhandlungen ist in der Regel jedoch ein Betrug
am göttlichen Adressaten involviert, da diese Opferhandlungen in erster Linie
menschlichen Zwecken dienen sollen. Opferbetrug und Opferbegrenzung gehen ein nicht
immer klar voneinander zu unterscheidendes Verhältnis ein.
Die Mythenexplikation in soziologischer Hinsicht aber verweist uns auf eine weitere
höchst aktuelle Mythos-Theorie: die politische. Christopher G. Flood56 z.B. meint mit
seinem Begriff des Politischen nicht nur die äußerst wichtigen politikwissenschaftlichen
Reviere von Staat und Staatenformationen, sondern auch den allgemeinen Komplex
54
Cassirer, Ernst: a.a.O., S. 267.
Kloft, Hans: Mysterienkulte der Antike. Götter, Menschen, Rituale, Beck, München 1999, S. 48.
56
Bei dieser Betrachtungsweise ist Mythos nicht nur (wie auch das Religiöse) ein Grundelement des
Politischen, sondern die politisch erfahrbare kulturelle Gesellschaft als Ganze wird als von ihr, ihren
Urbildern und Ritualen geschaffener politischer Mythos verstanden. Christopher G. Flood führt als
Beispiel für die Schaffung eines politischen Mythos eine von Charles de Gaulle 1946 gehaltene
Grundsatzrede an, die letztlich die Basis für die Verfassung der Fünften Republik bildete. Vgl. Flood,
Christopher G.: Politischer Mythos, eine theoretische Einführung [1996]. In: Barner, Wilfried; Detken,
Anke; Wesche, Jörg (Hg): Texte zur modernen Mythen-Theorie, Reclam, Stuttgart 2003, S. 301 – 315,
hier: S. 305 f und 314.
55
32
„der Gesellschaftsordnung und des gesellschaftlichen Handelns“, zu dem u.a.
Wirtschaft, Recht, Kunst, Bildung und Volkstum zählen und der die von uns erwähnte
praktische Lebenswirklichkeit spiegelt. Selbstverständlich beeinflussen neben anderen
auch sakrale Kulturelemente (für Flood: „sakraler Mythos“) dieses politisch motivierte
Mythen-Bewusstsein, gleichzeitig aber herrscht der politische Mythos auch durch seine
Ideologie, die durch ein politisch-soziologisches ,Überzeugungssystem’ (Faschismus,
Bolschewismus) oder auch nur durch „allgemeine Kennzeichen getragen werden, die
unterschiedlichen politischen Überzeugungssystemen gemeinsam sind“.
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang der Verweis von Flood, im Einzelfall
genau analysieren zu müssen, inwieweit zielgerichtete propagandistische Manipulation
sich einseitig der Irrationalität und Selbsttäuschung bedient. „Wenn die Idee des
politischen Mythos so weit eingegrenzt wird, dass sie kaum mehr als irrationale oder
sonstwie politisch entstellte Glaubensüberzeugungen einschließt – wie es üblicherweise
bei dieser Denkrichtung geschieht –, dann wird sie identisch mit der Vorstellung von
Ideologie in einer weniger technischen als kritischen Auslegung“.57 Flood fordert an
dieser Stelle eine mythische (politisch motivierte) Rangordnung, ausgehend davon, dass
Mythenbildung im Politischen ein normaler Grundzug jeweiliger Gemeinschaften sei.
Dies wird dann zutreffen, wenn neben dem dominierenden gleichzeitig das
konkurrierende politische Modell Existenzchancen erhält, andernfalls gibt es nur den
ersten Rang, die Ideologie, und keine Rangordnung.
4. Deutungen mittels numinoser Erfahrung und strukturalistischer Analyse
Wenn wir den von Kurt Hübner explizit eingesetzten Begriff des Numinosen58
übernehmen, so soll dieser hier stehen für das u.a. von Walter Friedrich Otto (1874 –
1958) und Mircea Eliade (1907 – 1986) bis zu Karl Kerényi und Klaus Heinrich sich
spannende Spektrum religionswissenschaftlich orientierter Betrachtungsweisen zum
Mythos, das sich gegen psychoanalytische und rationalistisch aufklärerische Modelle
wendet und z.T. den romantischen Faden wieder aufgreift.
Während Otto den Mythos als „Bild der Gottheit. Ein Gespräch mit Gott“59 und
dadurch mit dem Kultus als „eins“ festlegt, betont Eliade, dass jeder Mythos von einem
Urereignis ausgehe und in ständiger Wiederholung Handlungsorientierung biete, wobei
dieser Hinweis auf das Archetypische das aktuelle Leiden erleichtern soll. „Die Wieder57
Ebd., S. 310 und 312.
Hübner, Kurt: a.a.O., S. 76 ff und S. 129 ff.
59
Kerényi, Karl: a.a.O., S. 278.
58
33
holung bringt die Aufhebung der profanen Zeit mit sich und stellt den Menschen in eine
magisch-religiöse Zeit hinein, die die ewige Gegenwart der mythischen Zeit ist.“60
Kerényis Mythosanschauung lässt sich als Handlungs- oder Lebensreligion
ausweisen, wenn er betont, dass Mythologie gelebt wird; sie ist für ihn „eine
Ausdrucks-, Denk- und Lebensform, d.h. zugleich auch Handlungsform“.61 In der Zeit,
in der Glauben und Nichtglauben noch nicht dominierten, gab es kein Auseinander von
Denken und Leben. Mythos zeigte den wahren Weg, dem Göttlichen zugewandt. Hier
knüpft Kerényi mit religiösem Sinn an das symbolhafte Doppelwesen des Mythos an,
der in seiner eigentlichen Geschichtlichkeit die Lebensrolle des Menschen steuert, wenn
nicht wiederholt. Kerényi macht auch darauf aufmerksam, dass diese Analyse zum
echten, ständig lebenden, sich erneuernden Mythos führe, den man von unechten,
politisch-ideologischen, zweckgebundenen unterscheiden müsse.
Ein weiteres Beispiel religionskritischer Auseinandersetzung mit dem Mythos liefert
Heinrich. Ausgehend von der einfachsten Bestimmung des Mythos als Göttergeschichte, wendet er sich der Ambivalenz des Begriffs zu, der nicht nur einen Stoff,
sondern gleichzeitig „eine besondere Geisteslage“ darstellt, die in jenen „Erzählungen
ein unbedingtes, d.h. religiöses Interesse findet“.62 Dieses Interesse beruht auf der
besonderen Ausdruckskraft der Gestalten und Orte des Stoffes, weil diese die
ursprünglichen Kräfte und Mächte darstellen und mobilisieren. Wir blicken erneut auf
die uns bereits geläufigen zwei Ebenen, die – und dies ist die qualifizierende Aussage
Heinrichs – durch den Mythos genealogisierend „überbrückt“ bzw. verknüpft werden:
Dieser Brückenschlag zwischen dem göttlichen Ursprünglichen und der Aktualität, dem
„Losgerissensein etwa von heimatlichen Boden oder dem mütterlichen Schoß der
Familie oder dem väterlichen Schutz“ gewähre Geborgenheit vor Ängsten und
Bedrohungen, führe auf die eigene Identität und stelle die Funktion des Mythos dar.
Ahnenkult und Totemismus sind Beispiele für diese genealogische Struktur.
Gleichzeitig mahnt er in seinem Text ,Mytheninterpretation bei Francis Bacon’63, einer
Auseinandersetzung mit den Mythenüberlegungen des aufklärerischen Philosophen
(Wissen ist Macht), die Erkennung einer naturfeindlichen Hybris an, wie er sie auch
Bacons Interpretationen entnehmen kann.
60
Eliade, Mircea: Kosmos und Geschichte, Frankfurt/M. 1984, S. 10. Zitiert nach: Jamme, Christoph,
1991, a.a.O., S. 143.
61
Kerényi, Karl: a.a.O., S. 221.
62
Heinrich, Klaus: a.a.O., S. 11 und 13.
63
Heinrich, Klaus: Parmenides und Jona [1982], Stroemfeld/Roter Stern, Basel, Frankfurt/M. 1992,
S. 29 – 60.
34
Heinrich führt dazu illustrierend u.a. das Beispiel der Atalanta an, die als Ars
(menschliche Kunstfertigkeit) das Wettrennen gegen Hippomenes (Natur) verliert, der
ihr beim Wettlauf goldene Äpfel (höchste wissenschaftliche Errungenschaft – der
Alchemie) vor die Füße wirft, sodass sie abgelenkt wird und den Wettkampf verliert.
Die überkluge, übereifrige Atalanta ist laut Bacon/Heinrich der aufgeklärte Geist, nicht
der Apfel werfende Hippomenes – eine Einsicht, die bei manchen der deutschen
Renaissancephilosophen im aufklärerischen Überschwang nicht erscheinen würde. Jene
hätten in ihrer eigenen Verwerfung mythischer Allegorien Bacons Warnung, den
Wiederholungsbann des Mythos zu durchbrechen, nicht wahrgenommen. Man sollte
dies maßvolle Entmythologisierung nennen.
Die Mythendeutung im Sinne des Numinosen, wie hier eingeordnet, lässt erneut die
mythische Doppelstruktur erkennen: Dabei spiegelt der Erzählstoff das bewusst und
betont Herauszuhebende, das Heilige (Eliade), ist Muster für Gott zugewandtes Handeln
(Kerényi) oder ist die Bühne für eine bedeutsame Geisteslage (Heinrich), die sich
entlastend an dem Urmächtigen orientiert. Gerade an dieser Stelle möchten wir darauf
verweisen, dass die e strukturalistische Mythenbetrachtung zunächst als die der
numinosen Analyse diametral entgegengesetzte gelten könnte, da sie die allgemeinste
und nüchternste Annäherung an den Mythos ist, weil sie inhaltlos ist. Sie ist jedoch
nichts anderes als eine Methode zur Annäherung an den Mythos, die den formalen
Rahmen für beliebige Deutungen (s. S. 18) bietet – z.B. Distanzgewinn zur
Angstbewältigung im Sinne von Hans Blumenberg. Als Deutungsansatz verstanden,
kann der Strukturalismus nur Unverbindlichkeit beanspruchen.
Auch Roland Barthes sieht im mythischen Prinzip zunächst die Verwandlung von
„Geschichte in Natur“64, womit der ursprüngliche Sinn wie in einem neuen ,Form’Container aufgesogen bzw. „deformiert“ wird und, die neue Wertbesetzung mit Signifikat b beherrschend, natürlich erscheint. Die Metasprache vernebelt allen vorgegebenen
Sinn und gibt sich „den Anschein einer ,Natur’, ja, einer ewigen [absoluten]
Begründung“65. Die Wertestrukturen der Metasprache entdeckt Barthes aber dann –
politisierend – in den Leitformeln und Phänomenen der bürgerlichen (Konsum-)Gesellschaft mit deren Repräsentanten aus der Waren- oder Medienwelt und benutzt ,seine’
strukturalistische Methode zur Kritikfindung gegenüber der für ihn beherrschenden
64
65
Barthes, Roland: a.a.O., S. 113 und 129.
Hübner, Kurt: a.a.O., S. 359.
35
Ideologie der Bourgeoisie.66 Die von ihm markierten Mythenbildungen („Alltagsmythen“) sind nach seiner Auffassung Verankerungen dieser Ideologie und verlangen
nach einem entmythologisierenden Lesen.67
Claude Gustave Lévi-Strauss (geb. 1908), in der Tradition der französischen
Religionswissenschaft mit starker ethnologischer Orientierung, entwickelt ein
komplexes, sich ständig erweiterndes Werk zur Gewinnung eines Theoriemodells für
die menschliche Gesellschaft. Allgemeiner Mythos und spezifische Mythen liefern ihm
die archaischen Vorlagen für seine Analyse; denn der Mythos ist für ihn eine
intellektuelle Leistung wie jede andere – zur Lösung der Grundprobleme: Selbsterhalt
und Fortpflanzung, die in jedem Mythos substanziell vorhanden sind. Lévi-Strauss’
eigentlicher Ansatz ist die Verknüpfung dieses archaisch-religiös/mystischen Materials
mit einem linguistisch-strukturalistischen Vorgehen. Es ist hier nicht die Aufgabe,
diesen Ansatz detailliert zu beschreiben68, es mag der Hinweis genügen, dass er die
einzelnen Erzählpunkte aller ihm vorliegender Mythen auf Kurzsätze, Mytheme,
zusammenschrumpft, Sätze mit bestimmten Gemeinsamkeiten (z.B. ,tötet’, ,verwandelt
sich’, ,schläft bei’) nummeriert, diese gruppiert und derart in Beziehungen zueinander
setzt, dass Beziehungsbündel entstehen, die zu dem allgemein verbindlichen Mythos
führen sollen. Unabhängig von aller kritischen Würdigung bleibt Lévi-Strauss’ Verweis
auf die elementaren Strukturen des Mythos, die einen vielfachen Wechsel des
Signifikats zulassen, also mit der Aufhebung spezieller inhaltlicher Verweise des
Mythos letztlich dessen Unverbindlichkeit festmachen. Lévi-Strauss zitiert in diesem
Zusammenhang den Mathematiker Jean-Claude Coquet: „Was das Zusammenwirken
von Signifikat und Signifikant angeht, ist es klar, dass das im allgemeinen Fließen
befindliche Signifikat den Signifikanten hervortreibt wie ein Gewächs, das sich ständig
weiter verzweigt“.69
66
Eines seiner am häufigsten zitierten Beispiele für seine Betrachtung ist ein von ihm zitiertes Titelbild
von Paris Match, das einen farbigen französischen Soldaten zeigt, der der Tricolore den militärischen
Gruß erweist, womit auf der sekundären Bedeutungsebene die Größe Frankreichs symbolisiert wird,
was darin gipfelt, dass alle Söhne Frankreichs treu und ergeben der Nation dienen – auch wenn sie zu
den kolonial Unterdrückten zählen. S. bei Barthes, Roland: a.a.O., S. 95.
67
Kurt Hübner hält Roland Barthes entgegen, dass auch die anzustrebende, angeblich ,reine Materie’ der
primären Stufe nicht mythenfrei sei, da es eine ,reine Natur’ an sich nicht gibt, „sondern nur verschiedene Deutungen der Wirklichkeit, von denen die nichtmythische keinerlei Vorrang vor der mythischen
beanspruchen kann“. Hübner räumt ein, dass Barthes eine Theorie politischer Pseudomythen bereit
stellt, also durchaus eine Theorie zu Mythen, die jedoch bewusst gemacht und lanciert werden und
damit einen anderen Charakter haben als authentische Mythen. Vgl. bei Hübner, Kurt: a.a.O., S. 360.
68
S. bei Lévi-Strauss, Claude G.: Strukturale Anthropologie I, suhrkamp, Frankfurt/M. 1967.
69
Lévi-Strauss, Claude G.: Ein kleines mythisch-literarisches Rätsel. In: Lévi-Strauss, Claude G.;
Vernant, Jean-Pierre; et al.: Mythos ohne Illusion, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1995, S. 117 – 126, hier:
S. 122/3.
36
c. Die Kernelemente des Mythos
Den Kernelementen des Mythos wollen wir uns jetzt über die Mythos-Funktionen
nähern: Denn wie zur klärenden Beschreibung eines Gebäudes nicht nur die Aufzählung
seiner materiellen Bestandteile, sondern auch die Bestimmung seiner Rolle (Funktion),
z.B. als Kirche, Wohnhaus oder Hotel gehört, ergibt sich der Zugang zum Mythos über
die Einsicht in seine Funktionalitäten. Aus unserer Kurzanalyse über die MythosDeutungen filtern wir zu deren Bestimmung im Einzelnen heraus:
1. Formbezogene Funktionen
Unsere Ausgangshypothese bezüglich des dichotomen Charakters des Mythos ist voll
bestätigt worden. Dies war zunächst ein Statement zur rein formalen Mythenstruktur,
das sich jedoch unmittelbar in ein formal-inhaltliches verwandelt, wenn wir uns in
Erinnerung rufen, welch große Breite der Interpretation bzw. Reflexion allein schon die
von uns im Vorigen ausgeführten Deutungsversuche ausmachen, die sich auf dieser
Grundstruktur ausleben. Die aktuelle Mythos-Theorie nimmt sich gerade dieses
Aspektes der Mythen-Fortentwicklung an. Die Vielgestaltigkeit des Mythos und seine
Korrelation mit aktuellen gesellschaftlichen Bezügen ist Basis für seine permanente
Wiederbelebung und „ermöglicht es ihm …, Handlungsweisen und Vorstellungen von
Gesellschaften [immer wieder neu] zu prägen und zu strukturieren, die auf rationalen
Vorstellungen und Normen gründen“.70 Wir können hier vorwegnehmen, dass wir
ebenso im Speziellen des Kunstkontextes (s. Kap. IV) dieses Phänomen der
Mythentransformation und der Mythenbildung in vollem Umfang bestätigt finden
werden.
Für uns ist wichtig, an dieser Stelle festzuhalten, dass sich sowohl in dem
strukturalen Dualismus wie auch in der Komplexität der zitierten Deutungsmöglichkeiten diese Vielfältigkeit offenbart und damit eine Funktion der multiplen
Instrumentalisierung über alle Kulturen, d.h. über die Geschichte hinweg nicht nur sich
entwickelt und erhält, sondern sich sogar vervielfältigt. Wir erkennen hierin ein
dekonstruktivistisches Element im Sinne von Ab- und Wiederaufbau mythischer
Substanz. Es ist dabei nicht immer sicher, dass der Wiederaufbau geringer als der
vorausgehende Abbau ausfällt.
70
Wunenburger, Jean-Jacques: Mytho-phorie, Formen und Transformationen des Mythos [1994]. In:
Barner, Wilfried; Detken, Anke; Wesche, Jörg (Hg): a.a.O., S. 290 – 300, hier S. 290. Für uns ist dies
allerdings ein eindeutiger Rückgriff auf Cassirers Überlegungen zum dialektischen Bewusstsein.
37
Unter eine formale Teilbestimmung des Mythos fällt noch ein besonderer Aspekt,
der
auf
die
Möglichkeiten
der
genannten
Instrumentalisierung
und
deren
Attraktionspotenzial zurückgeht: Die psychologische Interpretation des Mythos ist
häufig als allegorisch-rationalistische bezeichnet worden. Wir halten jedoch den
Standpunkt, dass hier der Ursprungsstoff zur Illustration einer psychologischen
Diagnose benutzt wird, für Hinweis gebend dafür, dass dem Mythos nicht in erster Linie
eine psychologische Funktion zuzuschreiben ist, sondern dass seine Elemente im
Rahmen einer psychologischen Analyse instrumentalisiert werden. Hierbei handelt es
sich also nicht um Tradierungen oder Transformationen eines Mythos, sondern um
seine Dienstbarmachung für Inhalte, die nur sekundär mit dem Ursprungsstoff zu tun
haben. Es ist jedoch nicht die Psychologie allein, die hierauf zurückgreift, auch Kunst
und Werbung bedienen sich vielfach dieser „Illustrations“-Möglichkeit.
Die dem Mythos innewohnende Dynamik und seine Profilierung durch
,Bedeutsamkeit’ für die am kommunikativen Geschehen Beteiligten – beschrieben
durch seinen speziellen dualen Charakter und seine Tauglichkeit zur multiplen
Instrumentalisierung für ,Wesentliches’ – bieten die gedankliche Öffnung, einen
erweiterten Mythos-Begriff zu verfolgen, der über das Wesen traditioneller Erzählungen
und ihre Tradierungen hinaus geht und der letztlich auch dieser unserer Betrachtung zu
Grunde liegt, wenn wir mythische Substanz nicht nur in Stellungnahmen von
Philosophie oder Kunst, sondern auch in aktuellen Ausdrucksformen, etwa auch im
Werbekontext, vermuten. Dem Grundmuster traditioneller Mythen entsprechend,
können sich mittels – auch bewusst lancierter – ,Bedeutsamkeit’ neue mythische
Substanzen, neue Mythen bilden, die auf bewegenden Ereignissen, tragischen und
berühmten Personen oder allgemeinen kulturellen Wertvorstellungen aufbauen. Würde,
Bedeutsamkeit und Dauerhaftigkeit dieser (Neo-)Mythen mögen in philosophischer
Hinsicht auf einem anderen, niedereren Sinnbild gebenden Niveau angesiedelt sein, die
kollektiv erlebbare Wirklichkeit dieser Phänomene aber werden wir in den folgenden
Kapiteln nachweisen können.
Die genannte Mythen-Dynamik wird zu einer Mythen-Dramatik durch die in
unserem Gedächtnisspeicher vorhandene gesteigerte Bildhaftigkeit der ursprünglichen
Mythenerzählungen mit ihren drastischen, brutalen und überraschenden Elementen.
Dazu zählen auch die zahlreichen Metamorphosen, die im Mythos eingebaut sind und
zu Kehrtwendungen der Ereignisse bzw. Verdrehung der vorhandenen Normen führen
können. Die einprägsame Aussagekraft des antiken Mythos aber hat den Weg in alle
38
Mythen-Diskurse
geebnet:
Diese
Wirkungsquelle
des
Mythos
(Blumenbergs
,Bedeutsamkeit’) ist auch eine Funktion eines permanenten und wiederholten Ins-BildSetzens eines entsprechenden Themas, gleichgültig um welche Erscheinungsform es
sich dabei handelt, gleichgültig ob werblich, journalistisch oder philosophisch
begründet (gemacht), entscheidend ist am Ende die kollektiv-rezeptive Wertigkeit der
Aussage. Man kann verstehen, dass diese Dramatik Kräfte mobilisiert hat, die zum
(aufklärerischen) Widerstand gegen manche dieser ,Bedeutsamkeiten’ angetreten sind.
2. Inhaltsbezogene Funktionen
Blumenbergs erläuternder Begriff der Bedeutsamkeit des Mythos ist für ihn die Tragfläche der von ihm vertretenen, rezeptiv orientierten Mythenfunktion des „Distanzierungsgewinns“ gegenüber den übermächtigen Schrecknissen des aktuellen Weltgeschehens, der „Unheimlichkeit“71. Die Genese des Mythos ist für ihn ein Prozess der
Entwicklung der Urmächte zu der olympischen Götterformation mit ihren deutlich
menschenfreundlicheren und humaneren Inhalten. Jene unheimlichen, Angst forcierenden Prästrukturen, die zum Mythos-Verständnis ebenso gehören wie seine Furcht
reduzierenden, werden ebenso gebrochen wie später die mittelalterlichen, im Namen
Gottes aufgebauten Strukturen der Kirchenmächtigkeit. „Der Mythos schafft
Vertrauensbedingungen nicht nur durch seine allzu menschlichen Geschichten von den
Göttern, … sondern vor allem durch die Herabsetzung ihres Machtpegels“: Kronos wird
verbannt, Uranus entmannt72. Die Auseinandersetzung mit dem Mythos führt zur
Selbstbehauptung des Individuums, zu einer humaneren Teilnahme am Weltgeschehen,
in dem Ängste und Bedrängnisse abgebaut werden können. Wir dürfen von einer Funktion der Entmythologisierung im Sinne von Angstbewältigung sprechen, die weder auf
der Allmacht eines Aufklärers, aber ebenso wenig auch auf dem Ansatz absoluter
mythischer Ergebenheit des einzelnen Subjekts beruht. Zur Bewältigung des Lebens mit
allen seinen Stolpersteinen werden Vertrauensbedingungen, Haltepunkte durch den
Mythos angeboten. Eine besondere Form der Lebensangstbewältigung ist – aus dem
Cluster der Kontingenzangebote – der Neubeginn eines „Anderen“ nach dem Tode.
An dieser Stelle erreichen wir – wie wir es hier verstehen wollen – eine noch höhere
Formation der Mythenfunktion über die Angstbewältigung hinaus: die Bewältigung des
Chaos. Statt des Chaos entsteht ein Kosmos im Kontext des Glaubens, der religiösen
71
72
Blumenberg, Hans: a.a.O., S. 132.
Ebd., S. 137.
39
Einvernehmung. Wenn die mythische Substanz sich zum Glauben erhebt, ist das
Endgültig-Wahre in Reichweite und eine grundlegende Ordnung entstanden. In einem
großen Spagat möchten wir an dieser Stelle hierunter auch die transzendenten
Erfahrungen rechnen, also jene über greifbare empirische Erlebnisse hinausreichenden
Eingriffe in unsere Lebensumstände, die uns Sicherheit und Geborgenheit verheißen.
Verwandt mit dieser Funktion der Chaosbewältigung ist jene der Verleihung von
Legitimation und Orientierung durch die Konzipierung Sinn gebender Grundprinzipien
menschlicher Werteorientierung. Hierbei wird die normative Energie des Mythos
angesprochen, auch jenseits der streng religiösen Glaubensvorstellungen und -regeln.
Zu dieser Funktion tragen in erster Linie die Symbol bezogenen und soziologischen
Interpretationen bei.
Eine spezielle Funktion ergibt sich vor allem aus der ritualistisch-soziologisch dominierten Betrachtungsweise des Mythos: die Identitätsverleihung, die über ein DaraufBerufen-Können bzw. das Abrufen gemeinsamer Verhaltensformeln den Zusammenhalt
einer Gruppe ermöglicht und fördert. Dies spiegelt die normative Kraft des Mythos als
Ordnungs- und Handlungsmuster. Gleichzeitig liefern emotionales Miterleben und
Einbezogensein in ein (rituelles) kollektives Verhalten den Individuen Sicherheit vor
Vereinsamung, Anfechtungen und überraschenden Herausforderungen. Wegen seiner
Aktualität möchten wir gerade in Zusammenhang mit diesem Funktionsbild der
Identitätsverleihung auf die Mythen bildende und Mythen empfangende Funktionalität
aufmerksam machen: de Gaulle schafft mit einer Rede wesentlich den politischen
Mythos der Fünften Republik (s. Flood), die Unterhaltungs- und Werbeindustrie
gestalten wesentlich den soziopolitischen Mythos der Kulturindustrie (s. Adorno/
Horkheimer); diese Rollenbesetzungen fänden auf der Rezipientenseite keinen Applaus,
wenn da nicht die Möglichkeiten von akzeptierten Problemlösungen angeboten werden
würden. Dabei erscheint nicht nur die jeweils aktuelle gesellschaftliche Situation
„fundierend“ im Beweis führenden Licht eines mythenbeladenen „kulturellen
Gedächtnisses“, sondern gleichzeitig auch „kontrapräsentisch“, d.h. die Gegenwart
relativierend, sobald nämlich deren Schwachstellen für die Rezipienten zu Tage treten
und aus der Vergangenheit Großes rekapituliert bzw. ersatzweise/identitätsfördernd
abgerufen werden kann.73
73
In Deutschland erlebt man im Jahre 2004 erneut den Fußball-Mythos von Bern („Das Wunder von
Bern“, 1954) zur Relativierung des fußballerischen Misserfolges bei einer Meisterschaft 2004 in Portugal. – Die zitierten Begriffe hat Jan Assmann eingeführt. S. Assmann, Jan: Mythenmotorik der Erinnerung [1992]. In: Barner, Wilfried; Detken, Anke; Wesche, Jörg (Hg): a.a.O., S. 280 – 288, hier: S. 280.
40
Und schließlich geht es bei der Mythos-Funktion auch ganz wesentlich um das
Verhältnis zwischen Mythos und Aufklärung. Unsere Deutungsansätze zeigten im
Besonderen: Historisch gesehen darf man mit der Zunahme aufklärerischen Denkens
das Verdrängen bzw. Einschränken der ursprünglich dominierenden mythischen
Substanz im menschlichen Bewusstsein konstatieren, obwohl bereits mit dem ältesten
Mythos selbst ein Stück Rationalisierung einherging (göttlicher Blitz!) und obwohl man
nicht daran vorbeikommt, aktuell ein Zurückschlagen der Aufklärung in Mythologie
und die damit verbundenen Opfer zu erkennen. Die Stellung des Mythos als Geisteslage
oder Bewusstsein sieht sich im subjektiven Welterleben einer neuzeitlichen Rationalität
gegenüber, welche in hohem Maße von einer Zweckrationalität unterlaufen ist. Mythos
in seinem allgemeinsten inhaltlichen Ansatz erfüllt hier die Funktion der Kritik an eben
dieser Rationalität, ganz unabhängig davon, ob innerhalb des wissenschaftlichrationalen Diskurses eine Suche nach anderen Begrifflichkeiten für Rationalität/Vernunft stattfindet. Hier knüpfen Überlegungen an, wie wir sie in Zusammenhang mit
unseren Betrachtungen zu Cassirer/Adorno angeführt haben.
d. Die Erscheinungsformen des Mythos
Aus unseren bisherigen Betrachtungen zum Mythos ergibt sich ein zunächst
theoretisches Bild von dessen Erscheinungsformen, das wir dann in den folgenden
Kapiteln zu Werbung und Kunst im Einzelnen belegen wollen.
Zunächst begegnen wir dem Mythos in seiner ursprünglichen Erzählform als Götterund Heroengeschichten, z.T. durchaus abgewandelt und im Geschichtsablauf verformt.
Wir wollen dies den historischen oder authentischen Mythos nennen. Gleichzeitig haben
uns die verschiedenen Deutungsversuche gezeigt, dass eben dieser historische Mythos
zu zahlreichen, unterschiedlichen Reflexionen Anlass gibt bzw. die Grundlage liefert,
wodurch ein jeweils anderes Mythenverständnis bzw. Mythenverhältnis entsteht. Die
Erscheinung des Mythos in dieser Form erkennen wir als eine Mythos-Neubestimmung,
die auf unterschiedlichen Rezeptionsansätzen beruht.74 Wir wollen im Folgenden diese
Erscheinungsform des Mythos eine reflektierte nennen. Dabei müssen wir uns klar
74
Unter Berufung auf Hans H. Holz bezeichnet Christoph Jamme – in Zusammenhang mit der Diskussion
der künstlerischen Aneignung des Mythischen – dieses Mythos-Bild als metamorphotisch, da es sich
nicht mehr „um eine Nacherzählung des Mythos, sondern um eine Freisetzung der in ihm liegenden
Erfahrung handelt.“ Der Mythos wird als „Wurzel-Zeichen“, als Mythem, verwendet. S. Jamme,
Christoph (1999): a.a.O., S. 292/3.
41
machen, dass diese Reflexion eine bestimmte Programmatik ausdrückt, die die
Neubestimmung zu einer – vom authentischen Mythos aus betrachtet – reduzierten
Mythenhaftigkeit mutieren lässt. Für Jean-Jacques Wunenburger (geb. 1946) ist Mythos
eine Konkretisierung des Imaginären im sich verändernden Spannungsgebiet des
kollektiven Umfeldes und damit „eine imaginäre Form, die in ihrem Wesen selbstbildend und kreativ ist. Die Kreativität des Mythos basiert paradoxerweise auf
Entmythologisierung“75. – Hier im Bereich der Mythenreflexion können wir die
relevanten Abgrenzungsstrategien von dem traditionellen Mythosphänomen als
philosophische Auseinandersetzung auf der Grundlage gesellschaftlicher Veränderungen erklären: religiöse und allgemein metaphysische Denkstrukturen sind es
ebenso
wie
andererseits
naturwissenschaftliche,
objektiv-rationale,
aufgeklärte
Vernunftstrategien, die die Mythos-Debatte begleiten. Dies führt in der Regel zwar zu
einem Prozess der Entmythologisierung, manchmal aber wird auch der Rückwärtsgang
im Sinne einer Remythologisierung, vor allem im politischen Bereich, eingeschaltet.
Der Verdacht auf einen Remythologisierungs-Prozess besteht allerdings auch, wenn
Adorno/Horkheimer pessimistisch feststellen, dass in unserem Industrie-/Informationszeitalter Aufklärung in Mythos zurückfällt.
Wenn wir nunmehr die Zeitung aufschlagen oder uns auf der Straße umhören, wird
Mythos auch sehr aktuell aus dem Zeitgeist heraus verwendet. Dies ist das Gebiet der
aktuellen Mythenbildung über den traditionell-historischen Mythos und seine
Tradierungen hinaus, das letztlich ein Bekenntnis zu einem erweiterten Mythos-Begriff
herausfordert. Mit dem Schlachten-/Kriegsmythos ,Tannenberg’, dem Unglücks-Mythos
,Titanic’, dem Großstadt-Mythos der Neuen Sachlichkeit oder dem PersönlichkeitsMythos ,Albert Schweitzer’ beruft sich unser Gedächtnis auf besondere Ereignisse und
Personen, die einen solchen Zeitgeist-Mythos haben entstehen lassen. Weniger
pessimistisch als Adorno/Horkheimer, ja eher optimistisch, führt der Kanadier Marshall
McLuhan (1911 - 1980) 1959 einen neuen Begriff ein, mit dem er eine besondere Form
dieses Zeitgeistmythos beschreiben möchte: den Makromythos. Damit bezeichnet er das
heterogene Gebilde der Massenmedien, die aktuellen Mittel der Massenkommunikation,
wie z.B. TV, Film, Presse, Radio – Internet würde er heute hinzufügen. Nach seiner
Einschätzung verschmelzen bzw. reduzieren sich lang andauernde gesellschaftliche
Vorgänge „auf eine abgeschlossene, zeitlose Vorstellung“, z.B. den Gorgonen- oder
Kadmos-Mythos; in gleicher Weise würden die (Mythen-)Produktionen der
75
Wunenburger, Jean-Jacques: a.a.O., S. 300.
42
Unterhaltungs- (Hollywood) und Werbe-Industrie (Madison Avenue) in einem „totalen
Bild“ auftreten, das ein vorhandenes oder gewünschtes Sozialverhalten wiedergibt76.
Diese Grundüberlegungen veranlassen ihn zu der Feststellung
„The Medium is the Message“, woraus er acht Jahre später „The
Medium is the Massage“ (siehe Abb.4, hier links) macht.
Botschaft
und
,Massage’
erfahren
eine
doppelsinnige
Beziehung: Durch die massive, gebündelte Erscheinung der
Medien in der heutigen Erlebniswelt führt nach seiner Meinung
die Art und Weise der Kommunikation zu einem stärkeren
Einfluss auf die Rezipienten als die Mitteilungssubstanz im
engeren Sinn selbst.77
Der Begriff des Makromythos fordert die Frage heraus, ob wir auch von
Mikromythen sprechen können. Hierauf ist eine positive Antwort möglich, wenn wir
uns vor Augen führen, dass wir es neben ganzheitlichen mythischen Erzählungen oft
auch nur mit deren Konzentrat oder einzelnen Elementen dieser Geschichten – denken
wir an die Archetypen von Jung – zu tun haben. Ferner gibt uns Roland Barthes eine
entsprechende Antwort, wenn er 1964 vom Alltags-Mythos spricht, den wir in Kap. III
genauer analysieren wollen. Dabei wird sich zeigen, dass damit vor allem auch aktuelle
Bedürfnislagen und zum Teil kurzfristige, aber herrschende Wert- und Wunschvorstellungen ,bedeutsam’ gemacht werden.
Generell halten wir fest, dass – wie wir gesehen haben – die Mythos-Grundlage, auf
der sich der Mythos selbst erhebt, unterschiedlich sein kann: Es sind einmal die
genannten Berichte von Göttern, Heroen oder die damit verbundenen Naturereignisse.
Es sind aber auch Objekte wie die Erde oder das Universum. Wichtig sind daneben
Personen, die die Schultern für erhöhte mythische Substanz anbieten: Götter der Antike,
Könige oder andere, auch aktuelle Berühmtheiten. Ein breites Spektrum der MythenGrundlage bieten besondere Themen und Probleme sowie Ereignisse, auf denen Mythen
76
McLuhan, Marshall: Mythos und Massenmedien [Daedalus 1959]. In: Barner, Wilfried; Detken, Anke;
Wesche, Jörg (Hg): a.a.O., S. 120 – 134, hier S. 121 ff. - Gerade diese einprägsame Formel des „The
Medium is the Message“ hat weitgehende Anerkennung gefunden, wenngleich seine Argumentation
umstritten ist, mit Gutenbergs Einführung der Buchdruckerei sei unterbrochen worden (Entpersönlichung durch industrielle Gesellschaft), was vorher in einer audiovisuellen Welt an Werten zu erfahren
und nunmehr durch die aktuellen Medien wieder aufgenommen werden würde. Vgl. auch: Hauser,
Arnold: Soziologie der Kunst [1974], 3. Aufl., Beck, München 1988, S. 650 ff. – Boris Groys hat sich
gerade dieser Frage, was unter Art und Weise der Kommunikation zu verstehen ist, angenommen und
analysiert, dass das Mediale selbst ein Begehren ausdrückt, ein Begehren nach Fortschritt, wie es im
Verständnis der Moderne wurzelt, dem McLuhans Optimismus voll verbunden ist. Vgl. Groys, Boris:
Unter Verdacht, eine Phänomenologie der Medien, Hanser, München/Wien 2000, S. 89.
77
McLuhan, Marshall; Fiore, Quentin: The Medium is the Massage, Penguin Press, Watford 1967, Titel.
43
sich entwickeln: Kriege, Olympische Spiele, das Wunder von Bern (Nachkriegsdeutschland im Rausch) und dergleichen. Auch ein ritueller Ablauf – in der Gesamtheit
der Riten: ein Kultgeschehen – ist die Basis für ein übergeordnetes Einverständnis oder
gemeinsames Erleben, oftmals ausgedrückt in der Opferszene. Bedeutsam ist aber auch
ferner, wenn sich auf der Basis von ersten Vorstellungen weitere Ideen aufbauen, dabei
denken wir an Prometheus, der sich schon als Menschenbildner einen Namen gemacht
hat, der aber durch die Feuerbereitstellung später noch die zusätzlich aufgeladene
Position des „Urhebers des Menschen“ erfährt.
Schließlich möchten wir der Vollständigkeit halber noch den Mythos von anderen
Erscheinungsformen absetzen, die zum Verwechseln ähnlich sich in seiner Nähe
aufhalten. Einmal ist es die Gruppe von Begriffen, die sich sprachlich in der
Nachbarschaft des Mythos befindet. Während der Begriff Mythologie eher formal für
die Erforschung und Darstellung von Mythen steht78, bezeichnen Mystik und Magie
Handlungs- und Erfahrungsinhalte: Mystik steht in der Regel für ein unmittelbares,
gefühlsbetontes Erfahren des Göttlichen oder eines letztlich Unbestimmbaren, das dem
erzählenden Mythos an erlebbarer Bedeutung nahe kommt, Magie bedeutet Dienstbarmachung der übernatürlichen Mächte durch geheimnisvolle Beschwörungen mit
religiösem Verständnis bei noch primitiven Kulturen. In diesem Zusammenhang
erwähnen wir schließlich das Mysterium (z.B. von Eleusis), das ein Kultgeschehen
(wiederholter ritueller Gottesdienst) darstellt, dessen Durchlaufen dem Beteiligten einen
göttlichen Zustand im Jenseits verspricht.
Zum anderen sind es Märchen, Legenden, Sagen und Fabeln, die eine Nähe zum
Mythos signalisieren, aber doch abgegrenzt werden müssen, obwohl sie auch
irrationale, phantastische Bezüge aufweisen. Während Legende als wundersame
volkstümliche Erzählung von Helden, Sage als Erzählung ohne geklärte geschichtliche
Orientierung und Fabel auf dem Umweg über nicht menschliche Gestalten
Anwendungshilfe für Handlungen leisten möchten, kommt das Märchen dem Mythos
am nächsten, jedoch ohne jeden historischen Hintergrund. Bei aller heftigen und
dramatischen Eigenart ist dem Märchen letztlich doch ein Happyend zu eigen, was Zeus
nicht immer zulässt; man kann Märchen als die niedere Stufe eines traditionellen
Mythos mit Zwergen, Riesen und Wassermännern einordnen.
78
Mythologie wird auch oft als Bezeichnung für die Gesamtheit der mythischen Überlieferungen eines
Volkes verwendet.
44
III. Mythos und Werbung
„Werbung ist Kunst“79, Werbung ist „als Zweite Säkularisierung die zweifache
Negation der Religion“80, Werbung ist ein Mythos. So lauten einige wenige Kurzbestimmungen zu diesem Themenkomplex.
Was ist Werbung, wie setzt sie sich zusammen? Ist sie als Kommunikationsmittel
Ursache oder Folge unserer ökonomisierten Kulturlandschaft? Wie ist ihr Verhältnis zu
dem, was wir Marke nennen? Was hat das alles mit Mythos zu tun? Wenn Werbung
schon nicht mythisch ist, sondern kühles, ökonomisches Kalkül, ist dann nicht doch in
ihr etwas Zwiespältiges wie in der Figur des Götterboten Hermes, der als Schutzgott der
Diebe und Händler eine Hypothek für Wirtschaft und Handel, für Werbung und Medien
sein könnte?
Werben hat sprachlich seinen Ursprung im Althochdeutschen und bedeutete etwa
„sich drehen, sich wenden“ und wurde von daher zu „sich bewegen, sich um etwas
bemühen“. Diese Tätigkeit ist im menschlichen Verhalten fest verankert; denn man
kann in der Regel davon ausgehen, dass der durchschnittliche Zeitgenosse weniger
seine schwachen, als vielmehr seine positiven Seiten darstellen, sprich für sich werben
möchte. Dieser Vorgang des Werbens greift weit zurück ins Menschwerden und
gewinnt Gestalt mit den arbeitsteiligen Produktionsweisen. Verkaufsförderndes
Ausrufen und Herzeigen von Schildern waren die ersten entsprechenden kommerziellen
Modelle, auch das ,Reclamare’, das Dagegenanschreien gehörte dazu. Propagieren, die
Propaganda, half und hilft, politische oder religiöse Zielsetzungen zu verfolgen, die
Warenwerbung der Industrie-/Dienstleistungs- und Informationsepochen begegnet uns
täglich seit den technischen Entwicklungen der industriellen Revolution im 19.
Jahrhundert in einer Vielzahl von Medien.
An dieser Stelle möchten wir einleitend in grober Form Werbung als Teil
kommunikativen Handelns, als Teil von Bedeutungsvermittlung zwischen Menschen
beschreiben, die allerdings über die reine Verständigung dadurch hinausgeht, dass sie
einer spezifischen Interessenrealisierung nachgehen möchte. Wir werden uns in dieser
Arbeit vor allem auf die Formgestalt der sogenannten klassischen Werbung beziehen,
bei der in der Kommunikationssituation das Produkt oder die Dienstleistung nicht
tatsächlich greifbar sind wie etwa beim direkten Verkauf, sondern mittels Zeichen,
Symbolen und Abbildungen in den verschiedenen Medien wiedergegeben werden. Um
79
80
Schirner, Michael: Werbung ist Kunst, Klinkhardt & Biermann, 2. Aufl., München 1991, Titel.
Cöster, Oskar: AD’AGE, Der Himmel auf Erden, Doc’s, Hamburg 1990, S. 87.
45
der Frage nach einem mythischen Gehalt dieser Werbeerscheinung und dessen
Charakter auf den Grund zu kommen, möchten wir eine kurze analytische Plattform zu
den Werbephänomenen formulieren, die ihre aktuellen Bedingungen und Ziele erläutert.
Auf dieser Basis erfahren wir dann etwas über ihre strategischen Ansätze und
Techniken, bei deren Diskussion der Mythen-Ansatz und vor allem dessen Ausmaß und
Wirkungsweise sichtbar werden können.
a. Die Entstehung werblicher Mythenbilder
Naturgemäß hat Werbung immer etwas mit den beiden Kategorien ,Anbieter’
(Industrie und Handel) und ,Verbraucher’ (Haushalt und Industrie) zu tun. Nur im
Schlaraffenland, dem wunderbaren Reich des Überflusses von Allem, dem Mythos vom
verlorenen Paradies gibt es streng genommen allein den Verbraucher, da von Natur aus
alles vorhanden ist. Das Angebot ist dort sozusagen Gott gegeben, nur dieser braucht
sich darum zu kümmern. Die Wirklichkeit hat nicht erst im 21. Jahrhundert dieser
Faulenzer-Märchenwelt abgesagt und sich von Wald, Wiese und Fluss in die Welt der
Metropolen und Ballungszentren auf dem ganzen Globus verlagert.
Bei aller Komplexität der Zusammenhänge können wir den Kern der Entstehung
werblicher Mythenbilder im Zentrum der Auseinandersetzung zwischen diesen beiden
sich gegenüberstehenden Kategorien und deren Verhältnis zueinander suchen.
1. Die Rahmenbedingungen für die Werbung
Verbraucher und Anbieter definieren neben dem Staat das Bild heutiger
Konsumgesellschaften. Ihre Traditionen und Erfahrungen, ihre Einstellungen und ihr
Verhalten bestimmen ihr wechselseitiges Kommunikationsgebaren, d.h. letztlich auch
die Rahmenbedingungen für die Werbung und – wie wir sehen werden – deren Kinder,
die Marken, die dem Verbraucher auf den Leib rücken.
1.1. Allgemeine Rahmenbedingungen
Das dominierende Faktum der modernen Werbegeschichte ist die in den letzten 150
Jahren nicht nur in der westlichen Welt gewaltig gestiegene Nachfrage nach
Verbrauchs- und Investitionsgütern. Los Angeles und Johannesburg bestanden vorher
so gut wie noch nicht, die Wege nach Tokio oder Sao Paulo waren x-fach länger, die
Entwicklung in unsere heutige Welt wurde begleitet von ungeahnten wirtschaftlichen
Wachstumsschüben und sozialen Veränderungen. Neben nationalen entstanden globale
46
Märkte, sozialistische und kapitalistische Wirtschaftsordnungen entfalteten sich und
verloren zum Teil ihre Vormachtstellungen. Die Industriegesellschaften werden von
ihren Informationsbedürfnissen überlagert. Die Bedürfnisse nach zwischenmenschlicher
Korrespondenz befriedigt ein gewaltiger neuer Medienapparat mit Nachrichtenübermittlung, Unterhaltung und – auch Werbung. Roland Burkart bezeichnet diesen
Apparat als „Informationsnetze“ in Zusammenhang mit drei grundlegenden Etappen
gesellschaftlicher Evolution: 81
Drei Stufen gesellschaftlicher Evolution
Problem
Problemlösung
Gesellschaftstyp
Transport von Materie
Verkehrsnetze
Vorindustrielle Gesellschaft
Transport von Energie
Verbundnetze
Industrielle Gesellschaft
Transport von Information
Informationsnetze
Postindustrielle Gesellschaft
Tabl.5: Stufen gesellschaftlicher Evolution nach Roland Burkart
Der jeweilige Beitrag zu den Problemlösungen, die Burkart den Stufen der
gesellschaftlichen Evolution zugeschrieben hat, lässt völlig neue Marktstrukturen
entstehen, von denen eine ihrer wichtigsten aktuellen Erscheinungskriterien die
Entwicklung von regionalen/nationalen zu multinationalen/globalen Märkten ist. Die
Entstehung der Netze im Zusammenhang mit politisch-ökonomischen Einflussfaktoren
– z.B. Schaffung des europäischen Binnenmarktes und der amerikanischen oder
asiatischen Wirtschaftszonen oder der Grenzabbau zu Osteuropa – forcieren bei
gleichzeitiger Sättigung westlicher Inlandsmärkte internationale Wachstumsstrategien,
unternehmerisch ausgeführt, politisch unterstützt.
Die Öffnung des osteuropäischen Marktes bis weit nach Asien hinein im Gefolge des
Zusammenbruchs der sozialistischen Planwirtschaften veränderte auch die dortigen
Werbeäußerungen, die sich im Wesentlichen auf (Partei-)Propaganda, PropagandaKunst und Werbung unter der Hand beschränkten. Heute hat sich der Gegensatz
kapitalistisch/mit Werbung zu sozialistisch/ohne Werbung weitgehend verflüchtigt.
Nahezu werbefreie Zonen gibt es wohl nur noch in Ländern wie Nordkorea oder in der
(Ant-)Arktis.
81
Burkart, Roland: Kommunikationswissenschaft, Grundlagen und Problemfelder [1983], 3. Aufl.,
Böhlau, Wien, Köln, Weimar 1998, S. 180. Burkart stützt sich nach eigenen Angaben auf Daniel Bell:
Die nachindustrielle Gesellschaft, Campus, Frankfurt/M., New York, 2. Aufl., 1976.
47
Ungeachtet dieser Weltbeherrschung der Werbung ist ihre Berechtigung – oder
wohlwollender: ihr Umfang und ihr Erscheinungsbild – auch an der kapitalistischen
Front nicht unbestritten. Die Vorwürfe reichen von Volksverdummung und
Manipulation bis zu ungerechtfertigter Kostenverursachung und Wettbewerbsverzerrung. Die Werbewirtschaft wehrt sich mit Argumenten wie: Schaffung neuer
innovativer Märkte und Erhalt von Arbeitsplätzen, Werbung als Bestandteil der
Meinungsfreiheit (ähnlich wie bei der Unterhaltungsindustrie), notwendige Information
zur Bedürfnisbefriedigung, selbst auferlegte Kontrollen bzw. antizipative Selbstdisziplin
(in Deutschland etwa durch den Zentralausschuss der Werbewirtschaft und dessen
Deutschen Werberates). Bei aller organisierten Kontrolle jedoch wird die wichtigste
urteilsbildende Grenzziehung in unserer offenen Gesellschaft die permanente
öffentliche Auseinandersetzung im Sinne eines Feedbacks auf das jeweils aktuelle
Werbebild sein – ein grundsätzlicher Diskurs, der auch der Kunst (s. Die zehn Gebote in
einer Bremer Kirche) und der Unterhaltung (s. Gewaltszenen im Fernsehen) nicht fremd
ist.
Von besonderer, inhärent allgemeiner Bedeutung für das Erscheinungsbild der
Werbung in einem Markt sind letztlich die Bedingungen, die auf den Grad der Marktentwicklung zurückzuführen sind: ein gesättigter Markt mit seinen Produkt-Differenzierungszwängen (Waschpulver in Westeuropa) kreiert andere Werbekonzeptionen als ein
Wachstumsmarkt (mobile Telefone in USA). An dieser Stelle betreten wir den Bereich
der verbraucherspezifischen Rahmenbedingungen für die Werbung:
1.2. Verbraucherspezifische Rahmenbedingungen
Der Verbraucher als Mikrokosmos in unserer Gesellschaft ist in den letzten
Jahrzehnten auf vielfältige Weise durchleuchtet und antizipiert worden, so dass wir uns
in unserem Zusammenhang auf ein paar wesentliche Kriterien beschränken können. Bei
seiner Bestimmung werden neben den demografischen Charakteristika – Alter,
Familienstatus, verfügbares Einkommen, Mobilität – vor allem seine Bedürfnislagen
und Werteorientierungen erfasst. Wenn wir uns hier auf Letztere konzentrieren, so
halten wir uns dabei zunächst zur Orientierung an die bewährte Maslowsche
Bedürfnishierarchie, wie sie im folgenden Schaubild wiedergegeben ist.82
82
Maslow, Abraham H.: Motivation and Personality, Harper & Row, New York 1954, S. 80 – 106. In:
Kotler, Philip: Marketing Management [1967], 9th ed., Prentice Hall International, New Jersey 1997,
S. 184/5.
48
Selbstverwirklichung
Anerkennung,
Selbstachtung
(Status)
Soziale Bedürfnisse
(Liebe, Fürsorge,
Geborgenheit)
Sicherheitsbedürfnisse
(Sorge um das
physische Bestehen)
Physiologische Bedürfnisse,
Grundlagen des Überlebens
(Hunger, Durst, Schlaf)
Tabl.6: Bedürfnisskala nach Abraham Maslow
Mag auch Abraham Maslow davon ausgegangen sein, dass nach der Erfüllung des
ersten Verbrauchermotivs an der Grundlinie seiner Pyramide in schöner Reihenfolge
das jeweils nächste angestrebt werden würde, und mögen wir heute auch dagegen
konstatieren, dass viele Motive schlichtweg situationsbedingt sind und nicht in
theoretischer Grundformation und -abfolge auftreten, so bildet doch seine Struktur ein
überschaubares Gerüst zur Erkennung unserer Bedürfnisse. Selbstverständlich ist die
Motivforschung nicht auf diesem Status stehen geblieben. Aus der Vielzahl der
weiterführenden Motive, die auf bestimmte Personen bzw. Zielgruppen zutreffen
können, rechnet man u.a. folgende wesentliche: Sparsamkeit (Preisbewusstsein),
Rationalität,
soziale
Wünschbarkeit,
Moral,
Neugier,
Lust,
Erotik,
Angst
(Sicherheitsbedürfnis), Individualität etc.83
83
Vgl. hierzu die ausführlichen Bemerkungen bei: Karmasin, Helene: Produkte als Botschaften,
Ueberreuter, Wien, Frankfurt/M. 1998, S. 67 ff. Oder: Trommsdorff, Volker: Konsumverhalten, 3.
Aufl., Stuttgart 1998.
49
Da die gewünschte Zielgenauigkeit bei der Motivanalyse häufig nicht erreicht wird,
greift man ferner zur Messung von Verbrauchereinstellungen, die als erlernte, z.T.
dauerhafte Reaktions-Bereitschaften zur Beurteilung eines Objektes verstanden werden
und das Verhalten gegenüber diesem Gegenstand bestimmen können. Was man
erwarten kann, ist auch empirisch belegt: Bei einer positiv geäußerten Einstellung zu
einem Objekt x entspricht die Eigenschaft dieses Objektes durchaus den persönlichen
Zielsetzungen des Verbrauchers und wird sein Kaufverhalten beeinflussen.
Wenn verhaltensbestimmende Motive und Einstellungen auf die kulturelle bzw.
soziologische Gesamtheit bezogen werden, spricht man von Wertorientierungen der
Gesellschaft bzw. einer Gruppe (letztlich auch wieder des Individuums). KroeberRiel/Esch verstehen „darunter die in einer Kultur bestehenden Überzeugungen und
Normen, an denen sich das Verhalten orientiert“84, d.h. Grundprogramme bzw.
Leitvorstellungen für das Erstrebenswerte. Diese Wertvorstellungen unterliegen einem
ständigen Wandlungsdruck, abhängig von kulturellen, gesellschaftlichen, familiären,
personalen Veränderungsprozessen. Das Ergebnis sind erkennbare Trends des
Verbraucherverhaltens, deren Charakteristika mit den zitierten Individualbedürfnissen
konform gehen und damit eine ganz entscheidende Rahmenbedingung für die
verbraucherorientierte Werbung darstellen.
Kroeber-Riel/Esch machen aktuell für unser Land einen übergeordneten Trend zur
Selbstverwirklichung aus, der auf folgenden Grundelementen beruht und noch stets
trotz anhaltender hoher Arbeitslosigkeit dominiert85:
(1a) – Erlebnis- und Genussorientierung,
(2a) – Betonung der Freizeit,
(3a) – Internationale und multikulturelle Ausrichtung,
(4a) – Suche nach Individualität,
(5a) – Gesundheits- und Umweltbewusstsein.
Zur besseren Einordnung dieser aktuellen Trends stellen wir ihnen nachfolgend ihren
jeweiligen Gegenentwurf zur Seite und konstatieren, dass – sollten Kroeber-Riel/Esch
Recht haben – bei nahezu allen diesen Trends sich Hinweise auf aktuelle
gesellschaftliche Mangelerscheinungen (vielleicht bis auf Punkt 5a) ergeben:
84
Kroeber-Riel, Werner; Esch, Franz-Rudolf: Strategie und Technik der Werbung,
Verhaltenswissenschaftliche Ansätze [1988], 5. Aufl., Kohlhammer, Stuttgart 2000, S. 27. An dieser
Stelle geben die Autoren zahlreiche Literaturhinweise in Bezug auf den Wertewandel in der
Gesellschaft.
85
Ebd., S. 27.
50
(1b) – Sparsamkeit, Langfristigkeit, Zurückhaltung,
(2b) – Lehre, Bildung, Arbeit,
(3b) – Nähe, Heimat,
(4b) – Solidarität, Familie,
(5b) – Verbrauch an Ressourcen.
Hieraus ergibt sich die These, dass – wenigstens als Grundlage für die
vordergründigen werblichen Äußerungen – Bilder
- geistiger Werte wie Menschenwürde, Grenzen der Freiheit, Toleranz,
- moralischer Werte wie Sitten, Gesetze, Gewissen,
- religiöser Werte wie Glaube, Gottesfürchtigkeit, Hoffnung
deutlich geringere Bedeutung haben könnten. Keinesfalls möchten wir das
Vorhandensein dieser letztgenannten Werte in unserer Gesellschaft bestreiten, jedoch
liefern die sie polarisierenden Ideen ausreichend Raum für die praktische Werbegestaltung, zusätzlich davon ausgehend, dass nicht allein argumentative, rationale
Einflussfaktoren den Verbraucher steuern, sondern dass ihn auch die konträren –
mythischen – Kriterien bestimmen und damit die Werbung konditionieren. Wir
erkennen hier Grundstrukturen unserer aktuellen Erlebnisgesellschaft86, in der die
Individuen der Selbstverwirklichung höchste Priorität zumessen, deren Orientierungsnotwendigkeiten von den oben genannten Grundelementen diktiert und von der
Werbung aufgegriffen werden.
In diesem Zusammenhang müssen wir darauf aufmerksam machen, welcher Fülle an
Eindrücken und Informationen der Verbraucher in der postindustriellen Gesellschaft
ausgesetzt
ist.
Kroeber-Riel/Esch sprechen
selbst
von
ständig
zunehmender
Informationsüberlastung, womit sie das Zuviel an verfügbarer Information meinen, das
die entsprechende Verarbeitung erschwert und zum Abschalten führt. Diese Überlastung
setzt sich aus Bild und Text zusammen.87 Der Verbraucher muss sich also zunächst in
der Welt der Mächtigkeit der Bilder zurechtfinden. Obwohl in dieser Feststellung nichts
eigentlich Neues liegt, da Bilder bereits in Altägypten (Grabbauten, Hieroglyphen), im
86
Wir verwenden hier den Begriff der Erlebnisgesellschaft im Sinne von Gerhard Schulze, der mit dieser
Bezeichnung „nicht eine absolute, sondern komparative Charakterisierung der Gesellschaft“ erreichen
will, deren Individuen im Übrigen auf ihrer Suche nach Glück stets einem Enttäuschungsrisiko ausgesetzt sind, welches allerdings wiederum ein Stachel für neuen Erlebnishunger bedeutet. Vgl. Schulze,
Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft, Campus [1992], 8. Aufl., Frankfurt/M., New York 2000, S. 14/15
und 52.
87
Kroeber-Riel/Esch verweisen auf 1994 durchgeführte Untersuchungen, denen 600 Werbeanzeigen zu
Grunde lagen, wonach 71 Prozent der Leser das Bild, 28 Prozent die Headline (Anzeigenüberschrift)
wahrgenommen und lediglich 13 Prozent das Kleingedruckte (Copy) höchstens teilweise gelesen
haben. S. Kroeber-Riel, Werner; Esch, Franz-Rudolf: a.a.O., S. 231 (Anm. 81).
51
antiken Griechenland (Tempel und Götterstatuen) und im Reich der Gläubigen (Kirchen
und deren Ausstattung) Eindruck erzeugt und Geleit gegeben haben, erfahren sie doch
in unserer Zeit im Sinne von Wiedererkennung und Aktualisierung ihrer Kräfte eine
Renaissance.88 Selbst erzeugte Bilder schaffen Ordnungsmuster, die nicht nur
Lebenserfahrung spiegeln, sondern durch ihre gewaltige Fülle und ausdrucksstarke
Inszenierungen zu Orientierungsanweisungen werden. Bilder aus der Medizin (z.B.
Computertomografie), aus der Weltraumforschung (z.B. Satellitenaufnahmen anderer
Welten), aus der Computersimulation (z.B. virtuelle Bildwelten), aus dem Kreis der
Medien (Fotografie, Video, Film, TV) erfassen nahezu alle Lebensbereiche und
profitieren dabei von der inneren Energie ihrer Anschaulichkeit und direkten
Erfassbarkeit. In diesen Merkmalen aber liegt nun auch eine besondere Stärke der
Mythen, die – obwohl Erzählung oder Text – durch ihre anschauliche Dramaturgie
grundsätzlicher Welt- und Lebenserfahrung eine unendliche Ausdauer beziehen.
Zu den herausragenden Erfahrungswerten der antiken Mythologie gehören
diejenigen, die mit Gewalt und Macht sowie mit Sexualität zu tun haben. Peter
Sloterdijk spricht im Zusammenhang mit Gewalt und Macht „von zwei [bildhaften]
Faszinationszentren … des ersten europäischen Massenmediums ,Mythos’ …: der
innerfamiliären Gewalt und der kriegerischen Heftigkeit“89, die sich im postmodernen
Gewaltbilderzyklus wieder finden und deren Opfer „symbolische Satisfaktion“ im
Erkennen des Scheiterns erhalten.
Es bedarf keiner besonderen Analyse, dass dieses Feld der Gewalt im Allgemeinen
für die Werbung ausgegrenzt ist, es sei denn, man möchte eine Lösung der teilweisen
Gewaltbeherrschung z.B. mittels Sicherheitssystemen anbieten. Von Ausdifferenzierung
kann nun allerdings keinesfalls die Rede sein, wenn es um den zweiten mythischen
Erfahrungswert, die Sexualität, geht. Die erotisch-sexuellen Praktiken, Leidenschaften
und Probleme der Götter, Göttinnen, Heroen, Satyre und Mänaden bilden einen
(unbewussten) festen Bestandteil im Orientierungskanon unserer Erlebnisgesellschaft
und damit auch für deren werblichen Abdruck. Dabei darf man nicht verkennen,
welchen besonderen Einfluss die Geschlechterbeziehung auf persönliches Aussehen
(Haarfärbemittel, Fitness-Programme), Geruch (Deos), Ausstrahlung (Kleidung) oder
88
Dieser viel diskutierte Sachverhalt hat eine interdisziplinäre Aktualität durch die Diskussionsbeiträge
zum Iconic Turn – eine Initiative von Christa Maar und Hubert Burda. Vgl. Burda, Hubert; Maar,
Christa (Hg): Iconic Turn – Die neue Macht der Bilder, DuMont, Köln 2004.
89
Sloterdijk, Peter: Bilder der Gewalt – Gewalt der Bilder. In: Burda, Hubert; Maar, Christa (Hg): ebd.,
S. 333 – 348, hier: S. 333.
52
individuelles Verhalten (Drogen) hat, um als bedeutende Rahmenbedingung der
Werbung zu fungieren.
Neben der Welt der Bilder ist es vor allem auch die Informationsüberlast kreierende
Text-Landschaft, in der sich unser Verbraucher bewegt und Orientierung angeboten
erhält. Der Hinweis bei Kroeber-Riel/Esch, dass daher die Texte in der Werbung „kurz
und klar“ sein sollten90, ist in seiner Allgemeinheit wohl richtig, kann aber in zahlreichen Fällen, bei denen ein breiteres Informationspaket gerade wünschenswert ist
(z.B. Rezepte bei Nahrungsmitteln, technische Details bei Autoanzeigen), problematisch
sein; nicht restlos befriedigend ist die Feststellung jedoch in Bezug auf eine wichtige
Verbrauchereigenschaft, die in hohem Einverständnis mit den Anforderungen der
Erlebnisgesellschaft steht: nämlich in Bezug auf die Erleichterung der Befriedigung der
Erlebnis-Nachfrage aus der Vielzahl der fragmentarischen Angebote durch leichte,
unterhaltende und weitgehend kritikfreie Erfassbarkeit.
Dabei stellen „antikonventionelle Distinktion“ und Selbstverwirklichung relevante
Bedeutungskriterien für den Verbraucher dar, die über die Unterhaltungsindustrie und
Werbung vermittelt werden.91 Das spielerisch Leichte und Unterhaltende sowie dessen
anerkennende Akzeptanz beim Verbraucher sind wohlverstandene Voraussetzungen für
die erfolgreiche textliche Erfassung des Rezipienten und erinnert an die Freudschen
Analysen über den Witz. Der Witz ist für Sigmund Freud ein sozial-kommunikativer
Vorgang, der sich in eigenwillig komprimierter Form gegen alle Kritik und Zensur
erfolgreich behauptet.92 Der (Unterhaltungs-)Wert eines Werbetextes besteht auch nicht
nur in seiner Kurzfassung allein, sondern darüber hinaus in der darin eingebauten
verblüffenden Verdichtung, die zum kritikfreien, eindeutigen Verständigungserfolg
führt, wie das beim Witz zum befreienden Lachen in Unwidersprechlichkeit und
Kritikfreiheit der Fall ist. Die Witz- und Werbe-Techniken des Sinns im Unsinn, der
90
Kroeber-Riel, Werner; /Esch, Franz-Josef: a.a.O., S. 239.
Schulze, Gerhard: a.a.O, S. 326. Schulze beschreibt ausführlich verschiedene (Verbraucher-)Milieus –
Niveau-, Harmonie-, Integrations-, Selbstverwirklichungs- und Unterhaltungsmilieu sowie deren
alltagsästhetische Konditionierungen, wozu – nach unserer Meinung als Rahmenbedingungen für die
Werbung herausragend – antikonventionelle Distinktion und Narzissmus gehören.
92
Freud, Sigmund: Gesammelte Werke, Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten, Bd. 6,
[1905 Imago], Fischer, 6. Aufl., Frankfurt a. M. 1978, s. u.a. S. 42 und 154. – Auch Jean Baudrillard
(geb. 1929) hat sich um den Nachweis des Erfolges des Witzes bemüht, meint allerdings, dass der Lustbzw. Lacherfolg nicht, wie Freud angibt, aus einer ökonomisierenden Text(-dichte) resultiert, sondern
auf der Anwendung der „Disziplin des Realitäts- und Rationalitätsprinzips“ beruht, d.h. auf der
Abschaffung des Phantasmas. Siehe hierzu: Baudrillard, Jean: Der symbolische Tausch und der Tod,
Matthes & Seitz, München [1976] 1991, S. 339 – 354, hier S. 348. Wir stellen für unseren
Zusammenhang die These auf, dass beides auf ein- und dasselbe hinaus läuft, nämlich auf den
wohlwollenden Zuspruch des Rezipienten – unter der Voraussetzung allerdings, dass die Inszenierung
gelungen ist.
91
53
verdichteten, kurz gefassten Anspielung, der Verblüffung mit anschließender Erleuchtung entsprechen sich. Wir stellen der Einfachheit halber einmal gegenüber:
- Bei Freud zum Witz: Der Doktor behandelt den Patienten „famillionär“ wie
Salomon Rothschild (wie seinesgleichen)93.
- Bei Schirner in der Werbung: „schreIBMaschinen“94.
Das Verständnis des eigentlichen Zusammenhangs setzt ein allgemein Bekanntes
voraus, etwas, was unbewusst oder bewusst abrufbar ist, gegebenenfalls wie bei Freud
traumhaft verdichtet. Der psychologisch-mythische Zugriff auf das Verbraucherbewusstsein wird dabei erkennbar. Da manchmal unterstellt wird, dass der Mythos das
eigentlich Wünschenswerte hinter dem erzählten Geschehen versteckt oder erst durch
die Erschwerung der Zielsicherung möglich macht, können wir annehmen, dass das
verspielt werbliche Unterhaltungskriterium eine verwandtschaftliche Beziehung zum
griechisch-römischen Mythos unterhält.
Werbeanzeige und Witz aber haben schließlich noch eine Gemeinsamkeit, die wir als
verbraucherspezifisches Charakteristikum erfassen können: Beide erfahren bei dem
gleichen Publikum nur einen rezeptiven Höhepunkt (und danach ein paar weniger
sensationelle), verlangen daher nach ständiger abgewandelter Repetition im gleichen
strategischen Rahmen. So wie eine Unmenge an Zitzewitz-Witzen im Umlauf ist, so
gibt es zahlreiche Anzeigenausführungen zu den hier nochmals beispielhaft
angeführten, selbst mit Werbepreisen ausgezeichneten Werbekampagnen Anti-Aids
(Abb.5) und D1 (Abb.6), die sowohl unsere Bemerkungen zu den bildlichen wie auch
den textlichen Rahmenbedingungen illustrieren:
Abb.5: Aids-Aufklärung, 1990
93
94
Ebd., S. 14.
Schirner, Michael: a.a.O., S. 38/39.
Abb.6: D1, 1995
54
Im ersten Fall argumentiert die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung
mittels sprachlicher Verdichtung mit leichter Modifikation: ,Wenn Sie wissen wollen,
warum Mützen nützen, rufen Sie uns an.’ Bei Freud könnte das entsprechende Beispiel
lauten: ,Sie hat eine große Zukunft hinter sich’.95 Im Falle der Telekom löst D1 ein
Beziehungsproblem: die unbedingte Erreichbarkeit über mobiles Telefonieren führt zur
definitiven Unerreichbarkeit: „Du bist nicht zu Hause, Du bist nicht im Büro. Aber
eines weiß ich: Du bist jetzt Single.“ Freud – bei seiner Analyse des Witzes mit
gewollter Unifizierung (im Falle der Werbung, hier: örtliche und personelle
Zuordnungen) – bezeichnet dies als „Herstellung eines innigeren Zusammenhangs
zwischen den Elementen der Aussage, als man nach deren Natur zu erwarten ein Recht
hätte“, um den Erfolgscharakter der Aussage zu erläutern.96
1.3. Anbieterspezifische Rahmenbedingungen
Die mikroökonomische unternehmensbezogene Angebotsfunktion, zu der die
Kommunikationspolitik mit Werbe- und Markenpolitik entscheidend beiträgt, wird –
bevor man Ziele und Strategie festlegt – von einer gründlichen Situationsanalyse
gesteuert. Zunächst zur Beschreibung dieser Ausgangslage: Neben den externen
Einflüssen, die zu einem wesentlichen Teil bereits im vorausgegangenen Abschnitt
angesprochen wurden, müssen dabei die internen Unternehmensbedingungen stets
aufgearbeitet werden, um letztendlich ein erfolgversprechendes Werbekonzept für den
Anbieter zu erarbeiten. Diese Analyse umfasst demnach
extern: Chancen und Risiken sowie
intern: Stärken und Schwächen.
Die Untersuchung externer Bedingungen enthält neben der Beschreibung des im Ziel
befindlichen Verbrauchers die staatlich-rechtlichen und umweltbezogenen Leitlinien,
aber vor allem auch die Erläuterung der Markt- und Wettbewerbssituation, z.B. Umfang
und Entwicklung des Marktes, Marktanteile, reales und erwartetes Verhalten der
Konkurrenten etc. Wichtig sind dabei die aktuelle Analyse der sogenannten
Informationsbelastung im Allgemeinen und der relevanten Teilmärkte im Besonderen,
eine Aussage zu eventuellen Marktsättigungen und deren Folgeerscheinungen, z.B. des
95
96
Freud, Sigmund: a.a.O, Bd VI, S. 25.
Ebd., S. 40. – Wir möchten klarstellen, dass der Erfolg der Werbeaussage keinesfalls zwangsläufig
durch witzige Texte erreicht werden kann. Es handelt sich im Falle von Humor/Witz vielmehr um ein
Mittel, das allerdings aktuell häufig anzutreffen ist und dem Charakter der Erlebnisgesellschaft
entspricht.
55
Verdrängungswettbewerbs bei möglicherweise veralteten Produkten und eine Aussage
über einen eventuellen Wandel der Werteorientierungen der Verbraucher.
Der interne Analysekatalog des Unternehmens dagegen muss eine Darstellung seiner
manageriellen,
technischen
und
finanziellen
Kapazitäten,
seiner
spezifischen
Kostensituation und seiner möglichen, sinnvollen externen Unterstützungs-Positionen
(Lieferungen von Kapital und Materialien; Beratungen zu Technologien, Werbung,
organisatorischen Prozessen etc.), seiner Produkt- und Dienstleistungs-Qualität (inkl.
Preisstellung) und vor allem deren Spiegelbild im Markt umfassen, in der Regel
ausgedrückt im Charakterbild seiner Produkte (Image der Produkt-Marken) und in der
Profilierung des Unternehmens als Ganzem (Corporate Identity). Gerade Letztere sind
in unserem Zusammenhang von Bedeutung, da Corporate Identity und Image sowie
Firmen- und Markenposition nicht kurzfristig erkauft werden können, sondern in z.T.
langfristigen Bewährungsproben der Verbrauchergunst ausgesetzt sind, wobei Qualität
der Produkte inkl. ihrer Umweltverträglichkeit, Preise, Erreichbarkeit und (positive)
Bekanntheit der Angebote – also auch Werbung als symbolische Kommunikation – die
maßgeblichen, selbst zu beeinflussenden Bestimmungsfaktoren darstellen.
Der zweite Abschnitt der strategischen Überlegungen, die der Anbieter nach dieser
Situationsanalyse treffen kann und muss, um seiner Funktion gerecht zu werden, ist die
Abwägung und Festlegung seiner periodischen (kontrollierbaren) Zielsetzungen. In
unserem Zusammenhang der Erläuterung der Rahmenbedingungen der Werbung ist es
ausreichend, als fundamentale Orientierung von der Zweiteilung nach quantitativen und
qualitativen Zielformulierungen auszugehen. Die quantitative Kernaussage für die
Willensbekundung eines Unternehmens ist in erster Linie der Quotient, der den angestrebten Gewinn mit dem erwarteten Umsatz (Umsatzrendite) oder dem einzusetzenden
Kapital (Kapitalrendite) ins Verhältnis setzt, wobei also Gewinn, Umsatz, Kosten und
Kapital gleichzeitig als Einzelgrößen festgelegt werden. Neben dem Umsatz und seiner
Entwicklung ist ferner eine entscheidende Bestimmung für den Marktanteil erforderlich,
um die Umsatzsituation gegenüber dem Wettbewerb einordnen zu können.
In qualitativer Hinsicht stehen für den Anbieter notwendige Ziel-Bekenntnisse auf
dem Programm, die z.B. Innovationsgerichtetheit, Glaubwürdigkeit, soziale Sensibilität,
Umweltbewusstsein u.ä. betreffen. Hiermit werden Richtlinien erarbeitet, die entscheidend sind einmal für das Unternehmensprofil (dokumentiert im sogenannten ,Mission
Statement’) bzw. zum anderen für spezielle Produkt-Identifikationen (Festlegung der
gewünschten Produkt-Image-Vorstellungen im ,Brand Positioning Statement’).
56
Nunmehr, wenn Analyse und Ziele abgestimmt sind, geht es an die Fixierung der
eigentlichen Unternehmensstrategie, wir wollen sagen an die Bestimmung der StrategieElemente. Diese betreffen im Einzelnen:
- Allgemeine Festlegungen zu Kernaktivitäten, Fusionen, ggf. Verteilung der
Investitionsmittel auf bestimmte Unternehmenszweige im Rahmen der
finanzpolitischen Möglichkeiten,
- Forschungsmaßnahmen (technologisch, marktbezogen),
- Produktpolitik (inkl. Zielgruppen),
- Markenpolitik,
- Kommunikationspolitik (Werbung, Public Relations),
- Preispolitik,
- Verkaufs- und Distributionspolitik,
- Produktionspolitik,
- Einkaufspolitik,
- Personalpolitik.
Erst die Einsicht in Art und Gewichtung dieser strategischen Elemente innerhalb des
Gesamtrahmens der Anbieterfunktion lässt letztendlich die Rolle der kommunikativen
Äußerungen des Anbieters erkennen, von denen wir im folgenden Abschnitt Markenund Kommunikations-Politik herausgreifen und vertiefen wollen, um dem Mythos und
seiner Entstehung in der Werbung auf die Spur zu kommen; denn Kommunikationsanstrengungen eines Unternehmens, in deren Rahmen sich Mythen aufhalten
könnten, sind kein Selbstzweck. Sie müssen sich unter den gegebenen Zielsetzungen
sinnvoll einfügen in die übrigen Elemente der Unternehmensstrategie, wie im Besonderen in das Produktkonzept mit Vor- und Nachteilen, das Preisgefüge, die Handelsaktivitäten etc.
2. Die Werbekonzeption als Fundament der Markenbildung
Marken-
und
Kommunikationspolitik
eines
Unternehmens
bedürfen
einer
permanenten Abstimmung untereinander zur Gewährleistung eines geschlossenen,
integrierten Marktauftritts, um vom Verbraucher überhaupt oder womöglich optimal
wahrgenommen zu werden. Die Verknüpfung beider ist am besten nachzuvollziehen,
wenn wir uns zunächst den Prozess der Entwicklung einer Werbekampagne, in der
Regel das Kernstück der kommunikationspolitischen Aktivitäten, vor Augen führen.
57
2.1. Grundlagen der Werbekonzeption
Ausgangspunkt für alle werbestrategischen Überlegungen und Maßnahmen ist das
sogenannte ,Briefing’ des Anbieters, das alle relevanten Informationen und Absichten
unternehmensintern, aber darüber hinaus vor allem auch für die mit der Kampagnenrealisation zu beauftragende Werbeagentur zusammenfasst – ausgehend von den im
vorigen Abschnitt dargelegten Rahmenbedingungen. Die Agentur muss von dem
Anbieter zunächst ein klares Bild von den allgemeinen Company-Wünschen (,Mission
Statement’), eine Erläuterung des relevanten Marktes bzw. dem für den Marktauftritt
bestimmten Marktsegment (welche spezielle Zielgruppe mit welchen Motiven und
Einstellungen kommt in Frage?), den Zielsetzungen und vor allem von dem ,Brand
Positioning Statement’ inkl. des bevorzugten Hauptverkaufsarguments (USP = ,Unique
Selling Proposition’) erhalten, sei dieses nun informativ, erinnernd oder überzeugend.
Dieses Dokument erläutert nicht nur die funktionalen Eigenschaften des Produktes oder
einer Produktgruppe, sondern auch seinen gewünschten Imagecharakter, der eventuell
auch durch einen besonderen Zusatznutzen zur Abgrenzung gegenüber der Konkurrenz
definiert ist.
Gemeinsam wird hieraus mit der Werbeagentur die eigentliche Werbestrategie
(,Unique Advertising Proposition’) erstellt, d.h. der zentrale Verbrauchernutzen und
dessen absichernde Beweisführung festgelegt, um sich dann auf dieser Basis mittels des
kreativen Prozesses auf eine Appellationsweise zu verständigen. Diese Beschreibung
der herauszustellenden Produktvorteile in Bild und Wort geschieht im Wesentlichen
nach den von Philip Kotler benannten Grundkriterien für eine Werbebotschaft:
Wünschbarkeit, Exklusivität und Glaubwürdigkeit97. Ziel ist dabei die Erstellung eines
Positionierungsganzen, dessen Eigenschaften über die zentralen Grundfunktionen des
Produktes, bestehend aus materieller Produktstruktur und Verpackung, hinausgehen,
wie im ,Brand Positioning Statement’ vorgegeben (s. Tabl.798):
97
Kotler, Philip: a.a.O., S. 644. In Theorie und Praxis werden diese Kriterien im Rahmen von sogenannten Werbewirkungsmodellen zahlreich diskutiert. Die nach wie vor bekannteste wurde bereits 1898 von
E. St. Elmo Lewis als strenges Abfolgemodell entwickelt: AIDA – Attention, Interest, Desire, Action.
Vgl. Meffert, Heribert: Marketing, Einführung in die Absatzpolitik [1977], Gabler, 6. Aufl.,
Wiesbaden 1982, S. 422. Später wurde daraus AIDCAS - Attention, Interest, Desire, Confidence,
Action, Satisfaction, d.h. eine Gruppierung von allgemeinen Positionierungsmerkmalen, deren
Erfüllung den Werbeerfolg versprechen soll.
98
Vgl. auch Weinberg, Peter; Diehl, Sandra: Markenerlebnispyramide. In: Esch, Franz-Rudolf (Hg):
Moderne Markenführung, Lehrbuch [1999], Gabler, 2. Aufl., Wiesbaden 2000, S. 193.
58
Grundfunktion/
Physikalische
Eigenschaften
Verpackung/
Design
Name +
Marke(nzeichen)
Logo
Zusatzleistung/
Symbolische
Wertigkeit
Tabl.7: Bestandteile eines ,markierten’ und
beworbenen Produktes (Markenartikel)
Neben der eigentlichen Namensbezeichnung des Produktes (Fischstäbchen,
Suppengewürze, Polo) gehört zu der Totalerscheinung eines Produktes zunächst seine
Markenbezeichnung: Iglo von Unilever, Maggi von Nestlé, Polo von Volkswagen.
Nachdem die Geschichte der Marken im Rahmen des Anwachsens der individuellen
Massenproduktion und der Auflösung persönlicher Beziehungen zwischen Käufer und
Verkäufer zunächst als Herkunftsnachweis begann, trägt man heute dem strategischen
Modell der „Integration angebots- und nachfragebezogener Aspekte der Markenführung“ … mit „Konsistenz von Fremd- und Selbstbild der Markenidentität“
Rechnung.99 Bei der Bestimmung dieser Marken sind der Fantasie keine Grenzen
gesetzt: Selbst der antike Mythos tritt hilfreich auf, wenn Volkswagen ein Luxusauto
Phaeton nennt und sich dabei auf den Phaëthon-Mythos stützt; denn trotz der
Katastrophenfahrt des Namensinhabers des Mythos, bezeichnet inzwischen Phaeton
eine Karosserieform für eine himmlische, leuchtende Limousine. Die Marke wird
danach zu einem strategisch gesteuerten, langfristig gültigen Identitätsnachweis für
einen Artikel bzw. eine Artikelgruppe. Das Gut, das sich hinter einer Marke verbirgt
und mit dieser zum Markenartikel avanciert, ist also charakterisiert – im Sinne des
Vorstellungsgehaltes der Marke – mit einem zeitlich relativ stabilen und prägnanten
Eigenschaftskatalog. Wir werden im nächsten Abschnitt sehen, dass das äußere
99
Meffert, Heribert; Twardawa, Wolfgang; Wildner, Raimund: Aktuelle Trends im
Verbraucherverhalten. In: Köhler, Richard; Majer, Wolfgang; Wiezorek, Heinz (Hg): Erfolgsfaktor
Marke, Neue Strategien des Markenmanagements, Vahlen, München 2001, S. 3.
59
Erscheinungsbild der Marke neben einem Schriftzug häufig durch eine eindeutige,
zusätzlich rechtlich geschützte Markierung, ein Logo, unterbaut wird.
Das Produktganze aber ist in der Regel erst vollkommen mit der Festlegung und
Sichtbarmachung der zusätzlichen symbolischen Wertigkeit, die auf den Wunschvorstellungen des Verbrauchers fußt und häufig durch langfristige (Markt-)
Trendanalysen und kurzfristige marktforscherische Untersuchungen abgesichert wird.100
Dies ist eine Reflexion auf die maßgeblichen Wertorientierungen des aktuellen
soziokulturellen Umfeldes und bildet den wesentlichen Maßstab für die auf dieser Basis
zu erstellende Werbekampagne und deren zentraler Idee. Im Mittelpunkt dieser Leitidee
steht in der Regel ein die Aufmerksamkeit bewegender, ein oft aus dem Gedächtnis der
Verbraucher schnell abrufbarer ,Schlüsselreiz’, die Produktmitteilung informativ
und/oder emotional stützend. Wenn Mythen und deren Inhalte bewusst und unbewusst
unserem Erinnerungsvermögen in bestimmten Situationen abrufbar zur Verfügung
stehen, so könnte deren Bildhaftigkeit und Direktheit einen approbaten Schlüsseldienst
liefern. Wir werden in der Tat sehen, dass die Werbung und auch die Kunst häufig sich
dieser Attraktivität aus dem kulturellen Gedächtnisspeicher dienstbar machen.
Entscheidend jedoch bleibt, dass sich immer eine intelligente oder triviale Beziehung zu
den aktuellen gesellschaftlichen Wertvorstellungen herstellen lässt, an die unbedingt
angedockt werden muss, um Aufmerksamkeit, Interesse und Vertrauensbildung (s.
AIDA u.a.) zu erzielen, d.h. um neben dem Gebrauchsnutzen des Angebots einen
Zusatznutzen aufbauen zu können, der zum Verkehrswert bzw. Tauschwert entscheidend beitragen kann.
Es wird immer wieder behauptet, dass in der Regel klassische Werbung nicht zu
einem direkten Verkauf des angebotenen Produktes führt. Vielmehr ist heute mehr denn
je ihr hervorragender Auftrag, Produkt-Marken, d.h. das in Tabl.7 dargestellte
Angebots-Ganze mit all seinen Bestandteilen in den Köpfen der Verbraucher zu
verankern bzw. auf dem Markt zu etablieren und eine dauerhafte Bindung, ein
langfristiges Treueverhältnis zwischen Marken und Verbraucher herzustellen. Die
Werbung hat also die Aufgabe, mit den anderen genannten Strategieelementen den
Eigenschaftskatalog des Markenartikels ständig zu aktivieren. Ausgehend von dem
genannten ,Brand Positioning Statement’ als Leitschnur für Marke und Werbung muss
die Festlegung der als Schlüsselreiz anerkannten Konnotation die dauerhafte Kongruenz
100
Wir können hier nicht auf die großen Unsicherheiten, die mit der Vor- und Aufbereitung derartiger
Analysen verbunden sind, eingehen. Der Entscheidungsträger wird sich immer wieder vor die
Notwendigkeit sorgfältiger Abwägungen gestellt sehen, die letztlich sein ,Schlusswort’ bestimmen.
60
dieser Appellation mit dem Verständnis des Verbrauchers von der Marke und dem
Markenkern beinhalten. „Die wahre Kunst der erfolgreichen Markenführung [im Sinne
dauerhafter Mythenbildung] ist die Erhaltung der konzeptuellen Gleichheit in einer sich
viel wandelnden, daher unterschiedlichen Umwelt“101, wie sie sich in den Werteorientierungen widerspiegelt. Anders formuliert: Der Werbung muss die Formung von
Produktmarken und deren symbolischen Inhalten durch die Einbringung latent oder
offen vorhandener Vorstellungen als Signifikate in Korrelation zu den ProduktSignifikanten auf der zweiten Ebene des Systems von Roland Barthes gelingen. Dann
entsteht eine dauerhaft mythische Bedeutung, der Marken-Mythos. Es darf bezweifelt
werden, ob der mythische Überhang der Werbeaussage immer eingelöst werden kann.
Im Falle der ,Verfehlung’ ist allerdings jemand – einverständig – zum Opfer eines
Versprechens geworden, woraus sich Enttäuschung entwickeln kann, die nach
Kompensation durch neue Angebote verlangt (s. auch Anm. 86). Ein permanenter
Prozess der Mythenkompensation, d.h. ein Prozess der Mythenbildung und -etablierung
ist die Folge, durchaus im Sinne eines Selbstverschuldens der Verbraucher.
Es ist in diesem Zusammenhang schließlich von Bedeutung, dass, sobald diese
analytischen und kreativen Prozesse zur Mythenbildung abgelaufen sind, der Anbieter
über die endgültige Form und den Inhalt der Kampagne entscheidet, d.h. über deren
Umfang, inhaltliche Ausgestaltung in den Medien und vor allem über die Kompatibilität
in Bezug auf die einzelnen Bestandteile des Produktganzen. Die Rolle des Gestalters,
die meistens der des Ideenlieferanten für die gewählte Appellation entspricht, ist
letztlich eine beratende, auch wenn seine Kreation noch so (autonom) künstlerisch
daherkommen würde.
2.2. Marken, Beispiele werblicher Mythenbildung
Wir wollen nunmehr an Hand einiger Beispiele deutlich machen, wie im Einzelnen
über den Gebrauchswert eines Produktes hinaus durch den zusätzlichen emotionalen
Mehrwert, den maßgeblich die Werbung aufbaut, der Tauschwert bzw. Verkehrswert
eines (Marken-)Produktes entsteht.
101
Auf diesen Sachverhalt wird vor allem seitens des praktizierenden Managements hingewiesen. Vgl.
u.a.: Brabeck-Lemanthe, Peter (Verwaltungsrat Nestlé AG): Perspektiven als Instrument der WerbeKommunikation. In: Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft (Hg): 50 Jahre Zukunft der
Werbung, edition ZAW, Bonn 1999, S. 37 – 55, hier S. 44/5.
61
Bei dieser Analyse möchten wir uns auf das von Roland Barthes vorgestellte Modell
(s. Tabl.4) berufen. Nehmen wir den Fall ESSO: Die vier Buchstaben E-S-S-O
korrelieren zunächst mit dem Produkt Kraftstoff/Benzin; dabei wird ESSO zu Benzin.
Nunmehr wird in der Sekundärphase diesem ESSO-Benzin ein neues Signifikat aus der
Sammlung der aktuellen Werte, ,individuelle Überlegenheit, Sieg, Kraft’, hinzugefügt
und durch einen Schlüsselreiz, den Tiger, werblich illustriert (Abb.7).
Abb.7: ESSO, Tankstelle in Bremen, 2003.
Es entsteht mit Hilfe der Werbeaktivitäten der Markenmythos ESSO als kraftvolles,
Überlegenheit verschaffendes Benzin, wobei die Großkatze als Symbol für Kraft und
hinzugedachte Dienstbarkeit steht. Bei unserer Abbildung ist überraschend festzustellen, dass die Wiedererkennung auch ohne das Markenzeichen ESSO leicht gelingt.
Es entsteht also ein Markenmythos, ein Signalmuster von stets gleich bleibender Grundaussage (wir sind ziemlich sicher, dass sich auch bald wieder der Tiger, der in den
aktuellen Anzeigen Wir sparen gerne Energie fehlt, einfinden wird).102 Als Ergebnis hat
sich laut Barthes „Geschichte in Natur“ verwandelt, d.h. es wird etwas als Absolutes
festgestellt, für das es keinerlei schlüssiger, entstehungsgeschichtlicher Erklärungen
bedarf. „Der Mythos ist eine exzessiv gerechtfertigte Aussage“103, die den Weg in ein
Leben ohne Widerspruch, in „eine glückliche Klarheit“ ebnet104.
Auch unabhängig von Barthes’ System können wir das nunmehr als Markenmythos
bezeichnete Produktganze bestimmen als bestehend aus dem denotativen Begriffsinhalt
des ESSO-Benzins, ergänzt durch die konnotative, assoziativ wertende Begleitvorstellung der Kräfte- und Überlegenheitsermächtigung (vgl. Tabl.8, S. 65).
Wie unsere Übersicht in Tabl.8 zeigt, ist die Palette der Schlüsselreize, der
vornehmlich bildbezogenen und universell-emotionalen Konzepte lang und reicht von
102
Vgl. ESSO-Anzeige, Herausforderung Energie: Packen wir’s an. In: Stern Nr. 27/2004, S. 119.
Barthes, Roland: a.a.O., S. 113.
104
Ebd., S. 132.
103
62
der Nutzung des historischen Mythos (z.B. Nymphe, Drachen) über die sakrale
Thematik (Paradies, Schutzengel), Motive der Kunst, vielerlei Symbole, personelle
Typen, Tiere/Figuren, Lifestyle-Szenen (aus Natur, Familie usw.), Kurzgeschichten mit
Witz und/oder Überraschungen bis hin zu wissenschaftlich-technischen Elementen
verschiedener Produkt-Sektoren. Wir greifen aus unserem Tableau beispielhaft die
Anzeigen von der Eiskrem-Marke Magnum (Streicheleinheit für das Ego), des
Schmuck-Anbieters Cartier (Drache als Symbol für Unwiderstehlichkeit der Trägerin,
die zugleich überwunden werden möchte) und eines Modedesigners (dauerhaft schön
wie bei Gauguin) heraus (Abb.8, 9 und 10)
.
Abb.8: Magnum, 2000
Abb.9: Cartier, Dragon, 2004
Abb.10: elena miro, 2004
Anbieter (Entscheider) und Werbeagentur (Berater) haben dabei festzulegen, ob auf
dem werblichen Weg zum inneren Markenbild, zum Kern des Marken-Mythos ein
stärker informatives oder emotionsgeladenes Schlüsselbild den Vorrang haben soll.
Wir können jedoch die Darstellung des Markenmythos nicht ohne Hinweis auf
dessen besondere Code-Eigenschaft abschließen, die sich durch einen ausgeprägten
Charakter des Markennamens und/oder ein zusätzliches (häufig grafisches) Symbol
auszeichnet. Ausgehend von der zitierten verbraucherimmanenten Bilderfaszination, die
von relevanten Bedeutungen und entsprechenden Erfahrungen aus der gelebten Welt
zehrt, sind den Markenprodukten immer wiederkehrende symbolische Bild-Kürzel oder
Codes zugefügt, deren Bestimmung es ist, „Kommunikation zwischen Menschen zu ermöglichen. Da Symbole [oder Codes] Phänomene sind, welche andere Phänomene
ersetzen (,bedeuten’), ist die Kommunikation ein Ersatz: Sie ersetzt das Erlebnis des
von ihr ,Gemeinten’“105 – in antizipativer Absicht.
105
Flusser, Vilém: Medienkultur, Fischer, Frankfurt/M. 1997, S. 23.
63
Abb.11: Langnese
Abb.12: Frauenkirche
Abb.13: Deutsche Bank
Nehmen wir uns das Eiskrem-Langnese-Zeichen aus obiger Reihe der Beispiele zur
weiteren Betrachtung heraus: Die Unilever-Eiskrem-Unternehmungen haben 1999
weltweit ein neues (Produktgruppen-)Markenlogo für Eiskrem eingeführt: Das oben
abgebildete ,Herz’. Dazu hieß es erläuternd im Internet106:
„Die Lust auf Eis gehört zum täglichen Leben und nicht mehr ausschließlich zu
heißen Sommertagen, denn Glücksmomente gibt es jederzeit und überall auf der
ganzen Welt. – Das zunehmende Bedürfnis nach mehr Nähe, Wärme und
Natürlichkeit … bestimmt die Idee, Gefühle zu leben und zu teilen – und verlangt
nach Innovation und Veränderung.
Und genau das wollen wir auch zeigen – also machen wir uns gemeinsam auf in
ein spannendes, aufregendes, neues Jahrtausend, mit jeder Menge peppiger, frischer
Eis-Ideen.
… Deshalb haben wir ein neues internationales Logo entwickelt.“
Diese Veröffentlichung liest sich wie ein Teil eines internationalen ,Brand
Positioning Statements’ für Eiskrem, d.h. die Langfrist-Botschaft des Codes – der
Erlebnisersatz (Gemeinsamkeit, Wärme, Spaß) – ist gleichzeitig emotionaler Kern der
aktuellen Produkt- und Werbethematiken.
Der Zweck dieser Codes mit ihrer durch sie getragenen Botschaft ergibt sich
schließlich auch einleuchtend aus der kurzen philologischen Betrachtung zu dem
Begriff Marke, wie sie sehr ausführlich von Pater Albert Ziegler vorgenommen worden
ist.107 Das hethitische mark bedeutet ,teilen, verteilen’, woraus sich ,Grenze’ und
,Abgrenzen’ abgeleitet haben: „Wer teilt, grenzt ab.“ Wenn wir uns nun vorstellen, dass
,merken’ zunächst ,markieren’ oder sagen wir ,beachtlich machen’ bedeutet, dann ergibt
106
107
http//www.langnese.de/c-neueslogo.html.
Ziegler, Albert: Mensch – Gesellschaft – Vertrauen – Marke, Ein Beitrag zur Erforschung des
Markenwesens. In: GEM Gesellschaft zur Erforschung des Markenwesens e.V. (Hg): Marke:
Erfolgsfaktor auch in Zukunft? Markendialog 2004, Chmielorz, Wiesbaden 2004, S. 195 -211.
64
sich daraus Zieglers Feststellung: „Was (durch eine Marke) gut markiert ist, lässt sich
leicht merken“108, im Wirtschaftsleben also die – oft gesetzlich geschützte –
Markierung. Da die menschliche Existenz räumlich und zeitlich definiert ist, bestimmen
vertrauenswürdige Grenzen unser Leben. Auch wenn es darum gehen kann, diese
gelegentlich zu versetzen (für Ziegler ist der homo domesticus auch immer ein homo
viator), setzt dies die Kenntnis der Grenzlagen voraus. Bezogen auf das ökonomische
Marktgeschehen entspricht dies der Kenntnis der Konturen von Marken als
Persönlichkeiten, die zu Mythen werden bzw. geworden sind, Persönlichkeiten also, die
zumindest die Chance haben, Überlebenskünstler zu sein oder zu werden dank ihrer
erworbenen Bekanntheit, ihrer Erlebnisqualität und ihrer existenziellen Bedeutung.
Gerade zu letzterer bietet es sich an, beispielhaft – wie Ziegler es auch tut – die
katholische Kirche als Markenpersönlichkeit anzuführen. Diese Institution ist als Marke
derart souverän und bedeutend, dass es genügt, dass die Menschen allein von der
Möglichkeit ausgehen, es gäbe Gott, um ein Funktionieren der Kirche zu gewährleisten.109 Ihr Code ist das wohl berühmteste Markenzeichen aller Zeiten (Abb.12).
Ein nicht unbedeutendes Detail ist die Feststellung, dass bei Markenmythen der
kreative Grafiker – anders als der Künstler in seinem Kontext, wie wir noch sehen
werden – i.d.R. unbekannt bleibt, in der Öffentlichkeit steht nur der Anbieter mit seiner
Marke, der die letzte Entscheidung zu der Werbekonzeption getroffen hat. Glaub- und
Vertrauenswürdigkeit für den längerfristigen Lebenslauf der Marke hängen daher
letztendlich von den Entscheidungen der Wirtschaftsführer ab, sodass es gilt, Zieglers
Mahnung zu verinnerlichen, dass Markenzugehörigkeit durch „Menschen, die selber
Marken sind“110, wächst, Persönlichkeiten also, die vor allem durch ihr argumentatives
und moralisches Verhalten – am allerwenigsten durch ihr grafisches Können –
überzeugen können, sei es unter dem Kreuz oder unter dem Quadrat der Sicherheit mit
dem inneren Zeichen für Wachstum (Abb.13). Diese Forderung nach höherer
Glaubwürdigkeit und stärkerer sozialer und innovativer Intelligenz – eine Basis für
langfristig erfolgreiche Markenführung – vertreten auch Repräsentanten aus der Gruppe
der Markenmanager selbst, wenn sie z.B. die positive Vorstellung, die man allgemein
von Spitzenmanagern hat, kritisch als Mythos bezeichnen.111 Hieran ändern letztlich
auch nichts die außerordentlich hohen finanziellen Werte der Marken, die regelmäßig
108
Ebd., S. 196.
Ebd., S. 201/2.
110
Ebd., S. 205.
111
Goeudevert, Daniel: Wie ein Vogel im Aquarium: Aus dem Leben eines Managers. Rowohlt, Berlin
1996, S. 15.
109
65
Produkt
Dienstleistung
SIGNIFIKAT
Buchstabenfolge
SIGNIFIKANT A
Bild / Zeichen
Schlüsselreiz
WERBUNG
Wertorientierung
ZEITGEIST
SIGNIFIKANT B
SIGNIFIKAT B
Denotation
Konnotation
Zeichen
MARKENMYTHOS
RR (Rolls Royce)
Auto
Cartier
Schmuck
Renault
Auto
Disney
Park
Bremen
Hansestadt
Magnum
Eis am Stiel
Marlboro
Zigarette
Esso
Benzin
Becks
1. Hist. Mythos: Nymphe
Erotisches Schweben
Drachen
Unüberwindlichkeit
2. Sakrales:
Paradies
Stressfreies Glück
3. Symbole:
Comics
Fun, Erlebnis
Schlüssel
Befreiung, Selbständigkeit
4. Person / Typ: schön, erotisch
Ego
Cowboy
Abenteuer, Freiheit
5. Tiere:
Tiger
Stärke, Energie, Sieg
Bier
6. Lifestyle:
Natur
Unabhängigkeit (mask.)
HB
Zigarette
7. Geschichten / Klischees: Witz
Golf
Auto
8. Technik:
Tabl. 8: Werbeanalyse im semiologischen System nach R. Barthes, Beispiele
Neuerungen
Machbarkeit
Dynamik plus Komfort
66
die Branchenführer herausgegeben werden und die in hohem Maße von ihrem
Goodwill-Anteil bestimmt werden112 und daher sich ohnehin kurzfristig, an den Börsenentwicklungen orientiert, ändern können.
Abb.14: e-on, Ruhrgas,
Partner des Museum Folkwang
Glaubwürdiges Kultur-Sponsoring, durchaus anerkannt und notwendig, kann neben
unternehmerischer und privater Unterstützung von Sport und Unterhaltungsprojekten
zum Erleben sinnvoller Marken-Zugehörigkeiten einen bedeutenden Beitrag leisten.
Dabei ist zunächst wohl unbestritten, dass z.B. Firmenmuseen (Wolfsburg!) oder
Unternehmensausstellungen im Allgemeinen sich grundsätzlich nicht anders darstellen
als Präsentationen in Tempeln und Kirchen mittels Reichtümern und Schätzen zur
Selbstbestimmung sowie zu Macht- und Einfluss-Demonstrationen von Glaubensinstitutionen. Obwohl diese Art der Marken stützenden Tätigkeiten der Unternehmen im
Vergleich zu ihren wirtschaftlichen Aktivitäten kein Kernanliegen ist und obwohl Kunst
sich durchaus auf die Rolle des Ornaments einlässt und sich dadurch letztlich des freien
Bestimmungsdiskurses begeben kann, ist für beide Parteien dieses Abenteuer der
Zusammenarbeit ein Gewinn; manches Unternehmen wird die Kooperation mit
einzelnen Künstlern verweigern, mancher Künstler wird andererseits gegen eine
Vereinnahmung passiv oder aktiv protestieren. Respekt und Verständnis beider am
Sponsoring beteiligter Seiten vor- und füreinander können helfen, diesen Auftritt in der
Öffentlichkeit zu größerer Annäherung, d.h. zu größerem gesellschaftlichen Ausgleich
zu benutzen; denn es heißt viel zu oft auf der einen Seite: ,Das machen wir auch noch
112
Laut Business Week gilt Coca-Cola zur Zeit als die wertvollste Marke der Welt, der Markenwert des
weltgrößten Erfrischungsgetränke-Herstellers wird zurzeit mit 67,4 Mrd. Dollar angegeben, gefolgt
von Microsoft. Als erstes deutsches Unternehmen erscheint Mercedes auf Platz elf dieser Rangliste.
Vgl. Weser-Kurier, Nr. 174/2004: Weltmarken mit Kultstatus.
67
eben’, bzw. auf der anderen: ,Wir leben nur von deren Resten’. Aus der Vielzahl der
Beispiele nennen wir hier die E-on-Unterstützung einer Ausstellung in Essen (Abb.14).
Abschließend können wir die anbieterspezifischen Rahmenbedingungen (unter
Berücksichtigung von Konsumenten und Wettbewerbern) im folgenden Schaubild
zusammenfassen:
Rahmenbedingungen der Werbung
Verbraucher
Anbieter
Konkurrent, Staat
Soziokulturelle Welt
Mythen (historische, neue), Geschichte, Religion,
Philosophie, Mode, Kunst, Unterhaltung,
Politik, Naturwissenschaft, Sport etc.
Prägende aktuelle Werteorientierungen
Allgemeiner Erlebnisbedarf (nach Neuem), Freizeit,
Erotik, Ego, Spaß, Unüberwindlichkeit, Machbarkeit,
Erfolg, Schönheit, Anti-Aging etc.
Schlüsselreize für werbliche Anwendungen
Mythische Bilder, sakrale Vorstellungen, Typen/Personen,
Symbole (z.B. Tiere), Lifestyle, Geschichten,
Klischees/Witz, Technologien etc.
Markenmythen
Tabl.9: Der Weg zum Markenmythos
68
b. Die Manifestation der Mythen in der Werbung
Wir möchten zunächst die individuelle Wirkungsweise der Alltagsmythen, die wir
soeben in ihrem Entstehungsprozess geschildert haben, erläutern, um danach die
Werbung und ihre Zöglinge, diese alltäglichen Markenmythen, in ihrer Gesamtheit als
Werbemythos in ihrem makromythischen Auftritt kommentierend zu erfassen.
1. Die Wirkungsweise der Markenmythen
Wir haben gesehen, dass für die Formulierung einer Werbekampagne, die den
Markenmythos aufbaut und pflegt, die Verbildlichung von Wertvorstellungen durch die
Schlüsselreize dient. Die allgemeinen Kennzeichen dieser Schlüsselthemen, wie wir sie
im Einzelnen konkret in Tabl.8 aufgeführt haben, sind Kriterien, die weitgehend mit
denen aus Blumenbergs Liste der Punkte zur mythischen Bedeutsamkeit identisch sind;
allerdings werden innerhalb der Kollektion der aktuellen Wertesammlungen wegen des
hohen Bedarfs an erlebnishafter Selbstverwirklichung weitgehend schwer zugängliche
und fordernde Werte verdrängt. Das Hässliche (nur als Groteskes akzeptiert) oder das
Verwundete, das Verzweifelte, das dem Tode Nahe hat allein unter großem Vorbehalt
eine Chance, wenn es um jene allgemeinen Kriterien mythischen Profils geht:
Eindringlichkeit und Ausdruckskraft der Bilder und Symbole (im Close-up, im Nacktzustand, in extremen Formen, von Farblichkeit und Musik unterstützt), übersteigerte
Darstellung von Fakten, Angebot an Problemlösungen nach vorheriger Erschwerung der
Problemsituation, Doppeldeutigkeit und Zweideutigkeit von Erzählungen, ständige
Wiederkehr des Gleichen, Dramatisierung des völlig Unerwarteten, Überspringen von
Raum und Zeit – all dies beschreibt Blumenberg als Mythen stützend. Bei diesem
Prozess werden die Schlüsselreize zum Teil selbst zu mythischen Begriffen erhoben. So
können wir von einem weit gespannten Mythos ,Großstadt’ oder von einem Mythos
,Frische’ sprechen, wenn z.B. mit dem ersten ,Aufregendes, Wechselndes, ständig auf
Neues ausgerichtetes Leben einer Metropole’ (und nicht nur WolkenkratzerAnsammlungen – Abb.15113) identifiziert wird, mit dem zweiten ,anziehende, jugendliche Attraktivität’ (und nicht nur glatte Haut – Abb.16) gemeint ist.
113
Es sind insbesondere auch Künstler, die die Bildung dieses Mythos in verschiedenartigster Form
unterstützen: Henri de Toulouse-Lautrec, Ernst Ludwig Kirchner oder George Grosz sind bekannte
Beispiele aus dem ersten Abschnitt des letzten Jahrhunderts.
69
Abb.15: L’Horloge Champs Elysées, 1879
Abb.16: Nivea, 2003
Großstadt und Frische werden mythisch verklärt, deformiert, wie Barthes sagen
würde. Man kann in diesem Zusammenhang durchaus auch von zeitgenössischen
Doppel-Mythen sprechen, wenn ein derartig etablierter Frische-Mythos sich weiter zu
dem Markenmythos NIVEA empor schwingt (es kommt noch bei dieser Marke der
Pflegeaspekt hinzu); übrigens kann auch umgekehrt NIVEA durch seinen inhaltlichen
und dauerhaften Medienauftritt den allgemeinen Zeitgeist-Frische-Mythos verstärken.
Beide, der Markenmythos sowie der i.d.R. zu Grunde liegende Zeitgeist-Mythos in
Form von Objekten (Großstadt), Konzepten (Frische) oder Personen/Typen (Cowboy)
dienen als idolatrischer Ersatz bzw. als Legitimation von Handlung wie beim
traditionellen Mythos, der auf seine Art die Hilfestellung vor ein paar tausend Jahren
leistete, etwa zur Bewältigung von Angst oder für persönlichen und weltlichen
Fortbestand. Markenmythen stellen neue Zugehörigkeiten her und bieten Identifikationsmöglichkeiten. Gerade in einer aufgeklärten Welt voller rationaler Planungen und
Abläufe ist die Nachfrage nach emotionalen Gütern groß – wie sie in den
Markenmythen eingebaut sind –, um einen Beitrag zu Selbstbestimmung und Glück
leisten zu können. Handlungshilfe und Machbarkeitsversprechen der Werbung erhalten
ihre mythische Rechtfertigung durch den Zusatznutzen. Die Struktur des Markenmythos, wie die Werbung ihn aufbaut und besetzt, lässt daher die Funktionsweise des
ritualistisch-soziologischen Mythenmodells erkennen, das zudem gleichzeitig Unterbauung durch das Material psychologischer Elemente als Triebfaktoren für die
Verhaltensweisen erfährt: durch die Wunschvorstellungen und den Realisationsdruck
zur
Selbstverwirklichung
mittels
Erlebnisbeschaffung
und
Tabubrüchen.
Die
entsprechenden Normenbekenntnisse sind vielfältig und leicht erkennbar, wenn die
jeweiligen Sinnsucher z.B. ihren Stars auf Events huldigen, wenn sie den
Modedesignern und deren Ikonen, den Models, nacheifern, wenn sie in den Stadien
70
nationale oder Klubfarben schwenken, wenn sie im aggressiven Outfit von Radikalen
randalieren oder wenn ihnen das LACOSTE-Krokodil am Pullover Dazugehörigkeit
vermittelt.114
Es gibt Analysen, nach denen Produktmarken mythischen Gehalt haben oder eben
nicht.115 Nach unseren bisherigen Überlegungen möchten wir uns eher an Barthes
halten, der von starken und schwachen Mythen des Alltags spricht.116 Selbst Produkte,
die auf den ersten Blick keinen mythengestützten Zusatznutzen zu erkennen geben, wie
z.B. das ,Flüssige Waschmittel’ von ALDI oder ein Pullover von Quelle erhalten durch
den ALDI-/Quelle-Sammeleffekt über zahlreiche angeblich markenlose Produkte
hinweg indirekt den (Handels-)Markenmythos des „Qualität ganz oben – Preis ganz
unten“ (ALDI) verliehen (Abb.17 und 18).
Abb.17: ALDI, 2004
Abb.18: Quelle, 2003
Wir verkennen natürlich keinesfalls, dass es in der Praxis Entwicklungsstufen im
Markenaufbau gibt – abhängig vom Produkt und seinen Begleitfaktoren, wie z.B.
114
Eine vollständige Liste zur Bestätigung zeichenhaften Konsums wäre lang. Zur Illustration benennen
wir nur einige dieser Erscheinungen in allgemeiner Form: Marken-Exibitionismus bei Kids, Dress- und
Beauty-Codes bei Frauen, Automarken-Fetischismus bei Männern, Markentreue bei Rauchern,
Einkaufs- und Erlebnisparks (Disneyland etc.) – Hier findet durchaus eine Kontamination von
Gebrauchs- und Tauschwerten statt. Walter Grasskamp beschreibt anschaulich das Ausmaß des
Auftritts dieser (Marken-)Zeichen und bezeichnet es als Benutzeroberfläche. Gleichzeitig verweist er
auf die (theoretische) Vernachlässigung der Auseinandersetzung mit dem Gebrauchswert einer Ware,
den es zu erneuern und zu reaktivieren gelte, weil daraus ein höherer „Freiheitsspielraum“ für den
Menschen erwachsen würde. Dabei bekämpft er allerdings eher den Abbau des für ihn durch die
Werbung überhöhten mythischen Tauschwertes, als dass die Möglichkeiten dieser Reaktivierung
ausreichend beschrieben würden. Als Beispiel der Erneuerung des Gebrauchswertcharakters führt er
die Aktivitäten des Sammlers an, der den Dingen einen Gebrauchswert zuweist „statt sich den ihren
vorschreiben zu lassen“. S. Grasskamp, Walter: Konsumglück, Die Ware Erlösung, Beck, München
2000, S. 43/4.
115
Vgl. Bismarck, von, Wolf-Bertram; Baumann, Stefan: a.a.O., S. 101 ff.
116
Barthes, Roland: a.a.O., S. 132.
71
Verbreitung des angesprochenen Wertebegriffs oder Höhe des zur Verfügung stehenden
Werbeaufwandes, die einen Marlboro- oder Coca Cola-Mythos weltweit (heute)
sichtbarer machen als denjenigen von HARIBO. Dabei spielt folgender Gesichtspunkt
eine entscheidende Rolle: In gesättigten Märkten, d.h. dort, wo Produkte bei
entsprechenden Produktionskapazitäten ausreichend in vergleichbarer Qualität einer
(inzwischen) relativ geringen oder sogar negativen Wachstumsnachfrage gegenüberstehen, nimmt der Druck des einzelnen Anbieters zu, sich von seinen Mitbewerbern zu
differenzieren. Sehr oft ist eine solche Abgrenzung mit den physikalischen Grundwerten
der angebotenen Produkte allein nicht mehr möglich, sodass dann der Zusatznutzen im
Verband mit den entsprechenden werblichen Maßnahmen bei Nutzung der gewählten
Schlüsselreize die absolute Herrschaft übernehmen kann. Es kann sich dabei z.B.
durchaus auch um einen letzten – zunächst als sinnvoll erachteten – Rettungsversuch
mit
zusätzlichen
Werbeanstrengungen
vor
einer
drohenden
wirtschaftlichen
Kapitulation mit dazugehörigen Entlassungen oder um die Steuerung einer
Neupositionierung des Produktportfolios in Zusammenhang mit verbesserten oder
völlig neuen Produkten handeln.
Wenn wir für unsere Betrachtung die innerhalb der verschiedenen Wirtschaftszweige
selbstverständlich immer wieder auftretenden, strukturell notwendigen Revisions- und
Anpassungsprozesse zur Mythenabsicherung der Marken für einen Augenblick außer
Acht lassen, dann geben die folgenden Beispiele doch Indizien dafür ab, dass Vertreter
der
Entwicklungsbranchen,
wie
z.B.
der
Telekommunikation
(Abb.19),
des
Gesundheitsmarktes (Abb.20) oder der Unterhaltungsartikel sich stärker auf die
zentralen Produktvorteile (mit geringerem mythischen Extra-Versprechen) berufen als
Anbieter auf den genannten gesättigten Märkten, wie z.B. im Falle der Zigaretten
(Abb.21), Biere, Waschpulver oder Banken (Abb.22).
Abb.19: Vodafone, 2004
Abb.20: Apothekenumschau, 2004
72
Abb.21: West, 1989
Abb.22: Sparkasse, 2004
Eine spezielle Gruppe stellen schließlich noch die Märkte dar, in denen im Sinne des
Verkehrswerts der Gebrauchswert dem Tauschwert entspricht. Hierzu zählen z.B. in
großer Anzahl Kosmetikartikel, Textilwaren oder Personenkraftwagen, vor allem der
Mittel-, Ober- und Sportklassen, Warenmärkte also, auf denen die soziale Dimension
der Gebrauchswerte besonders ausgeprägt ist, der symbolische Gebrauchswert geradezu
gefordert wird. Rico Kehrer weist zu Recht darauf hin, dass Nobelmarken nach dem
„Prinzip der natürlichen Verknappung“ verfahren, etwa durch ihre Preispolitik, um ein
exklusives Marktsegment unter Verdrängung „sehnsüchtiger“, aber hilfloser NichtBenutzer zu schaffen, sodass die Gefahr „der Entmythisierung [des Markenmythos]
durch Alltagsgebrauch“ nicht entsteht bzw. auf längere Sicht ausgeschlossen bleibt.117
Von besonderem Gewicht für die Schaffung mythischer Bedeutsamkeit über alle
Branchen hinweg ist die ,Wiederholung des Gleichen’ in allen Medien, d.h. die
geordnete Integration auf Basis eines Grundthemas in Werbung, PR, Sponsoring,
Events, Beteiligungen an Unterhaltungs-Projekten aller Art etc. Wenn dabei die
Beteiligung der Zielpersonen im Sinne von Sympathiegewinn, Annäherung oder
Anteilnahme erreicht wird, ist nicht nur der (Mythenbildungs-)Erfolg näher, sondern
auch die direkte Re-Aktion der Rezipienten, der Kauf. Kloepfer/Landbeck sprechen in
diesem Zusammenhang von Sympraxis, um darzulegen, „dass Kommunikation nicht die
Vermittlung von Inhalten, sondern wechselseitige Erweckung von Vermögen ist“118.
117
Kehrer, Rico: Marke und Mythos. In: Bruhn, Manfred (Hg): Die Marke, Symbolkraft eines Zeichensystems, Haupt, Bern, Stuttgart, Wien 2001, S. 214/5. – Das Prinzip der Verknappung ist dem Kunstbetrieb nicht fremd, wo Not bzw. Beschränkung des qualitativen Druckens vom Holzstock oder von
der Kupferplatte zur Not der Limitierung auf dem Markt führte. Letztlich kann man in diesem Zusammenhang auch von einer bewussten Verknappung von Einzelkunstwerken sprechen, die auf Auktionen
für unwahrscheinlich gehaltene Verkaufspreise sorgen und die Budgetnöte der Museen offen legen.
118
Vgl. Kloepfer, Rolf; Landbeck, Hanne: Ästhetik der Werbung. Der Fernsehspot in Europa als
Symptom neuer Macht, Fischer, Frankfurt/M. 1991, Anm. 37, S. 257. – Wir verweisen bereits hier auf
Marcel Duchamp, der die Entstehung des (sozialen) Kunstwerks allein durch die Beteiligung des
Rezipienten begreift; s. Kap. VI b 2.
73
Dennoch, ganz abgesehen von der dauerhaften Pflege einer erfolgreichen Marke:
aller Anfang ist schwer. Wer meint, mit der Erkenntnis, dass durch die mythischüberhöhte Verklärung des Produktangebots sich die Umsetzung zum Markterfolg
sozusagen allein einstellen werde, verkennt die Wirklichkeit mit all ihren zahlreichen
Fehlentwicklungen, die das Marktgeschehen schnell unsichtbar hat werden lassen.119
Die angesprochenen Entwicklungsstufen des Markenmythos lassen sich an Hand
einer historischen Analyse bezüglich ihrer werblichen Grundmotorik recht gut
nachvollziehen. Wir stellen hier nur das Grobergebnis einer solchen Analyse dar, wenn
wir die thematischen Schwerpunkte der Werbung in Deutschland nach 1945 in drei
Phasen zusammenfassen, wobei die Grenzen durchaus als fließende zu verstehen sind.
Es gab
- den Preis/Qualitäts-Schwerpunkt,
- den Positionierungs-Schwerpunkt und
- den Mythen-Schwerpunkt.
Die erste Phase befasst sich stark mit der Produktpräsenz (Neu! Nicht nur
klarspülend, sondern auch Hände schonend), die zweite hebt mehr auf die Distinktion
zum Wettbewerb ab (funktional, aber auch bereits mit emotionalen Mitteln), die dritte
erweitert die zweite Phase durch Besetzung größerer Bandbreiten und durch
universellen, polytheistischen Auftritt (Nestlé, Marlboro, NIVEA), wobei u.a. unter
weniger Marken mehr Produkte zusammengefasst werden.
Die Wissenschaft beteuert für Gegenwart und Zukunft, dass Marken als fester
Bestandteil unserer Kultur diese reflektieren und prägen120, wobei – wie bei Langnese –
die sachlichen Produktvorteile emotional überboten werden können. Esch hebt hervor,
dass über Landesgrenzen hinweg die Macht der Marke nachgewiesen werden kann,
wenn z.B. entsprechende Untersuchungen in Deutschland BMW und Mercedes ein
höheres Ansehen bescheinigen als den politischen Parteien, dass in England Adidas ein
höheres Ansehen als das Königshaus genießt oder dass in den USA die Nike-Symbolik
119
Unter Berufung auf Gerd Gerken meint Maria Panagiotidou etwas voreilig, wenn man sich „eines
kollektiven emotionalen, nicht religiösen Prinzips“ bedient „entfällt für die Werbetreibenden die
lästige Suche nach konkreten, ohnehin schwer zu ermittelnden Zielgruppen.“ (Vgl. Panagiotidou,
Maria: Mythos und Werbung. In: Tepe, Peter et al.; Fachübergreifendes Forum für Mythosforschung
(Hg): Mythos Nr. 1, Mythen in der Kunst, Königshausen & Neumann, Würzburg 2004, S. 150 – 175,
hier S. 159). Es fehlt andererseits auch nicht an guten Ratschlägen, die die in ihrer Anzahl begrenzten
wichtigen Wertvorstellungen für besetzt halten und daher „seelenanalytische Forschungsreise[n]“, d.h.
letztlich psychoanalytische Tiefeninterviews zur Erforschung derselben verlangen, um dann doch
wieder „zeitgemäße Bilder, Rezepte bzw. Verfassungen“ zu generieren, die wir als Schlüsselreize
bezeichnet haben (http://www.rheingold-online.de, datiert Juni 1996).
120
Esch, Franz-Rudolf: Zur Zukunft der Marke. In: Markenartikel Nr. 1/2004, S. 64.
74
besser verstanden wird als die des Kreuzes.121 Selbst Branchen, denen der Aufbau einer
emotionalen Marke nicht zugetraut wurde, beweisen aktuell, dass dies wohl möglich ist;
als Beispiel wird der Energiemarkt zitiert, auf dem es Yello gelingt (gelb, gut, günstig),
das Image eines alerten und agilen, preisbewussten, kundenfreundlichen Anbieters
aufzubauen, obwohl Preisvorteile dieses Image nicht ausdrücklich untermauern können.
Die mythische Wirkung bzw. Leistung hängt aber nicht nur von deren noch so gut
geplantem Unterbau, mit all seinen autonomen und steuerbaren Einflüssen ab, sondern
auch von der tatsächlich dauerhaft durch Sympathie und Kauf dokumentierten
Akzeptanz für einen Markenmythos. Dieser Kauf stellt in der Tat ein (zeitliches,
finanzielles) Opfer für den Käufer dar, der, wenn er tatsächlich von der Machbarkeit/
Erreichbarkeit von Freiheit durch eine Zigarette oder von dem partnerschaftlichen
Erfolg/Glück bei Verwendung eines Parfums ausgeht, einem Opferbetrug aufsitzen
könnte. Möglicherweise aber hat uns Pater Ziegler mit seiner Bemerkung, dass uns auch
dann bereits ein wenig Erlösung zu Teil wird, wenn das Freiheitliche oder Glückliche
auch nur vielleicht eintreten könnte, eine Relativierung des Betruges angeboten. Es gibt
wohl doch auch den – bewusst oder unbewusst – aufgeklärten Käufer, der dieses
erkennt und die Zigarette am Mythos vorbei zur Entspannung (als Droge!) oder nur
schlicht wegen ihres Geschmacks raucht oder das Parfum benutzt, weil es (nach der
Disko oder nach der Gartenarbeit) duftet oder erfrischt – dem der Gebrauchswert näher
als der Zusatzwert ist, dem also mindestens eine Relativierung der Gesamterscheinung
des jeweiligen Produktmythos gelingt.
2. Die Werbung als Makromythos
Für die Analyse der Werbung als Ganzes, dem werblichen Makrokosmos ergibt sich
an dieser Stelle: die primären Anliegen der Werbung sind Information/Produktaussage,
aber ihr Signifikat 2, ihre sekundäre Rolle ist das Glücksversprechen, die Machbarkeitsvorstellung, die die problemorientierte Kehrseite unseres Zusammenlebens, die
sich neben dem Alltag erhebt, in der Regel verdrängt. Der Sinn des Werbeansatzes wird
zum Happy-End verklärt. Werbung ist als Gesamterscheinung ein Mythos. In dieser
Rolle ist sie in der Gesellschaft nicht alleine, denn gemeinsam mit Unterhaltung und
Mode wird ihr im Konzert der Massenmedien eine bedeutende Rolle zuteil, die über
ihre wirtschaftliche Funktion hinausreicht.
121
Esch, Franz-Rudolf: Was eine Marke ist, bestimmt der Kunde. In: GEM Gesellschaft zur Erforschung
des Markenwesens e.V. (Hg): a.a.O., S. 31 – 72. Als Quelle der Untersuchungen ist Young &
Rubicam, 2003, angegeben.
75
Mit der Analyse der Print-Anzeige der HypoVereinsbank möchten wir beispielhaft
diesem Makromythos als einem generellen alltagsästhetischem Phänomen, um in der
Sprache von Gerhard Schulze zu bleiben, auf die Spur kommen (Abb.23 und Tabl.10):122
Abb.23: HypoVereinsbank, 2003
Text
Analyse
a.
Ich weiß nicht,
ob ich mir dieses Haus leisten kann.
Es ist perfekt.
Es ist zu teuer.
Unsicherheit
vor Vielfalt der (materiellen) Angebote/
Möglichkeiten zur
Erlebnisbefriedigung und deren
Erreichbarkeit.
b.
Ich könnte da in der Ecke sitzen
und mehr Bücher lesen.
Bezugsprobleme zur Realität
Zusammenfügen ungleichartiger
dichotomischer Wunschbilder.
1. Problemstellung:
Vielleicht würde ich ein Buch
schreiben.
2. Sinnsuche:
Wenn ich ein berühmter (…)
Schriftsteller wäre, könnte ich das
Haus bar bezahlen.
Ich liebe dieses Haus Kann ich dieses Haus kaufen?
Streben nach Sinnstrukturen
im Umfeld der erfahrbaren Kultur.
Mit uns laut nachdenken Leben Sie – Wir kümmern uns um
die Details!
HypoVereinsbank
Problemlösung
Mythos der aktuellen Konsumkultur
(Alltagsästhetik/Haus an Stelle von
Strebensethik/Literatur).
3. Resultat:
Tabl.10: Analyse Print-Anzeige HypoVereinsbank, 2003
Aus der Summe der einzelnen Markenmythen bildet sich als allgemeiner
Problemlösungsansatz der Gegenwart dieser – wie wir im obigen Tableau unter Punkt
122
Schulze, Gerhard: a.a.O. Der Autor unterscheidet drei alltagsästhetische Positionen: Das
Hochkulturschema (gute Literatur, Museumsbesuch) mit Streben nach Perfektion, das Trivialschema
(Arztroman, deutscher Schlager) mit Harmonie als Lebensphilosophie und das Spannungsschema
(Ausgehen, Krimi) mit narzisstischen Zielsetzungen, s. S. 163.
76
(3) sagen – Mythos der Konsumkultur oder wie Adorno/Horkheimer dieses Phänomen
nennen würden, der Mythos der Kulturindustrie. Wir haben hier nicht die Absicht,
diesen Mythos als zwanghafte Orientierungslinie unserer westlichen Lebensgemeinschaften zu beweisen, dennoch stellt er, wie in der obigen Werbeanalyse beispielhaft
demonstriert, eine wesentliche Leitfigur aktuellen Verhaltens dar: Vor dem Hintergrund
allgemeiner Unsicherheit und kontingenter Lösungsansätze bietet sich für das Streben
zur Sinnerfüllung hiernach die Alltagsästhetik (schönes Haus/Convenience) an als
überlegene Erfüllungsstrategie noch vor einer rational bestimmten Nützlichkeit oder vor
einer Ethik, die man Strebensethik (Bildung/Literatur) nennen könnte. Norbert Bolz
spricht von einem „Vakuum der großen Gefühle“, wenn „nach dem endgültigen
Schiffbruch der politischen Utopien … unsere Kultur resolut auf Ästhetik“ setzt123.
Die dem Konsumverhalten, der Werbung, der Unterhaltung, der Mode oder der
allgemeinen
Medienerscheinung
zu
Grunde
liegenden
Bedürfnislagen
und
Wertorientierungen können in ihrer Bedeutung im Zeitablauf zu- oder abnehmen,
sodass man sie durchaus mit Bolz als Trend bezeichnen kann, allerdings Trends, die in
ihrem Kultstatus im Sinne von Kurzzeit-Religionen fungieren und von Marken besetzt
werden. Wir würden uns schwer tun, wenn wir im Zusammenhang mit unserer
Untersuchung nunmehr nach einer endgültigen Lösung der Fragestellung suchten, ob
die Werbung Urheber eines Trends ist oder ob sie allein bestehende Trenderscheinungen ausnutzt? Allerdings: Markenmythen können nur dauerhaft bestehen, wenn die
Werbung tatsächlich vorhandene Trends bzw. Bedürfnislagen erfasst und der Marke
integrierend zuführt (erfolglose Werbung wird sehr schnell abgesetzt), jedoch ist die
Annahme wohl nicht unberechtigt, dass aus dem Gesamterscheinungsbild des
abgelaufenen und aktuellen Werbe- und Unterhaltungsauftritts sich Strömungen, Zivilisationsrituale, festigen bzw. abbauen, die wiederum – abseits von traditionellen Grundwertbestimmungen aus Religion oder Philosophie – werberelevante Werteorientierungen darstellen.
In einer kurzen werbehistorischen (Nachkriegs-)Rückschau möchten wir die Existenz
derartiger Trends, die die zitierten grundsätzlichen Phasenschwerpunkte der Werbung
untermauern, mit einigen Beispielen aufzeigen.124
123
Bolz, Norbert: Kultmarketing – Von der Erlebnis- zur Sinngesellschaft. In: Isenberg, Wolfgang;
Sellmann, Matthias: Konsum als Religion? Kühlen, Mönchengladbach 2000, S. 95 – 98, hier S. 95.
124
Die Übersicht ist eine Überarbeitung der Darstellungen von: W & V Extra, Eine Sonderpublikation,
Nr. 20/1999.
77
Vor 1950: ,Wir sind wieder da’ (zusammen mit der D-Mark),
Orientierung über Wiederverfügbarkeit:
Abb.24: Sunlicht Seife, 1949
Abb.25: Kaufhof Köln, 1949
Die 50er: ,Durch Leistung zum alten Glück’ - ,Mach mal Pause’,
Von der Information zu Stimmungsbildern, der Konkurrenzkampf beginnt:
Abb.26: Coca Cola, ca. 1955
Abb.27: Loewe Opta, ca. 1955
Die 60er: ,Durch Reisen zu neuem Erleben’ - ,Der Duft der großen weiten Welt’,
Die geheimen Verführer: schöne neue Werbe-Welt:
Abb.28: Stuyvesant, ca. 1965
Abb.29: VW-Käfer, 1962
78
Die 70er: ,Der Ausstieg oder die positive Anarchie’ - ,A timeless land’,
Besinnung auf den Markenkern:
Abb.30: Marlboro, ca. 1975
Abb.31: Pfanni, 1975
Die 80er: ,Der Tanz ums goldene Selbst’125 - ,Mein Magnum und Ich’,
Der Spaßfaktor breitet sich aus:
Abb.32: Kupferberg Gold, 1981
Abb.33: Du darfst, 1984
Die 90er: ,Man lebt mehrfach’ - Verblüffende und irritierende Traumwelten,
Provokation und Unterhaltung zur Markenstützung (in allen Medien):
Abb.34: Porsche, ca. 1995
125
Abb.35: TUI, 1993
Der Spiegel Nr. 22/1994, S. 58: Der Spiegel verwendet für seine Titelgeschichte zur Ego-Gesellschaft
dieses Zitat nach Ulrich Beck, München, der damit die radikale Ich-Bezogenheit der Bundesbürger
benennt.
79
Neben den rein qualitativen Aspekten der Marken-Mythenbildung – man kann nach
unserer Kurzanalyse den angestrebten intensiven Unterhaltungscharakter und die
weitere Verrätselung in besonderer Weise dazu rechnen – trägt natürlich auch das
Ausmaß der Werbung zu Effektivität bzw. Erscheinungsbild der Makro-Mythenbildung
bei:
Der Umfang der Werbeinvestitionen zur Darstellung des Neuen oder zur
Wiederholung des Gleichen: In Deutschland betrugen die entsprechenden Ausgaben im
Jahre 2001 34 Mrd. Euro für Medienaufwendungen, Honorare und Werbemittelproduktionen (plus 2,4 Prozent gegenüber 2000), davon 23,9 Mrd. Euro als Einnahmen
der Werbeträger. Dieser Betrag verdoppelt sich durch Ausgaben für sonstige Mittel
kommerzieller Kommunikation (Verkaufsförderung, Messen, Werbeartikel, Sponsoring,
Public Relations etc). Für das Jahr werden hierfür 31,55 Mrd. Euro geschätzt.126
Ausgehend von den Werbeblöcken im Fernsehen, den Regalwänden der Super- und
Hypermärkte,
den
Gebäudefassaden,
Plakatwänden und Lkw-Planen in den
Straßenbildern, den Titel- und Innenseiten der Zeitschriften, den Beilagen der
Tageszeitungen etc. kann man von einem Teppich der Alltagsmythen oder – mit Walter
Grasskamp – von einer Omnipräsenz der Logos bzw. einer „Benutzeroberfläche“
sprechen127. Diese Überflutung mit Reizen nennt Jean Baudrillard „die ästhetische
Faszination“128. Die ästhetischen Oberflächen dieser Bilder bieten dem faszinierten
Benutzer die Chance der Durchdringung, um zu flottierenden Genüssen, Freiheiten,
Sicherheiten und Glücksgefühlen vorzustoßen.
Die Wahrnehmung dieser faszinierenden Benutzeroberfläche führt zu der Erkenntnis
von drei Aspekten: Zunächst symbolisiert diese Oberfläche eine offenkundige
Scheinnähe zu den Objekten, die dahinter stecken; denn wer weiß noch, wie der Mythos
Mercedes unter der Kühlerhaube wirklich funktioniert, obwohl einige von uns täglich
darauf schauen. Wir verlieren damit eine (bisher) wesentliche Kontaktfunktion zu dem
Gebrauchsgegenstand – über die arbeitsteilig bedingten Kontaktverluste hinaus, und die
nächste Faszination wartet sowieso auf uns, ehe wir uns der Frage nach der Funktion
des Autos überhaupt bewusst geworden sind. Zweitens stellen diese Oberfläche und ihre
Subelemente die markenmythische Aufforderung zu der Suche nach dem tatsächlich
Wünschenswerten dar, um durch Grenzüberquerung in jene den Gebrauchsnutzen und
126
Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft (Hg): Werbung in Deutschland 2001, edition ZAW,
Bonn 2001, S. 9 und S. 16.
127
Grasskamp, Walter (2000): a.a.O., S. 10.
128
Baudrillard, Jean: a.a.O., S. 118.
80
seine nicht verstandene Funktionalität übersteigende bessere Welt, wenigstens aber
doch in ein Kurzzeit-Glück einzutreten. Drittens fordert die augenscheinliche
Geschlossenheit der Gesamtoberfläche auf, neugierig nach immer neuen Haltepunkten
zu spüren, um Unabhängigkeit zu gewinnen oder zu behaupten. Mehr noch als bei den
Markenmythen im Einzelnen wird in diesen Aspekten die Kritik der verführerischen
Überforderung der Rezipienten festgemacht. Wir kommen im Einzelnen in Kap. V
hierauf zurück; an dieser Stelle aber können wir konstatieren, dass Werbung formal und
inhaltlich den alten und neuen Mythostyp für ihre Zwecke einsetzt und sich darüber
hinaus als Teil heutiger Massenkultur in der Erzeuger- und Verstärkerrolle für den
Zeitgeist-Mythos bewährt. Gerade letzteres ist eine tragende Entwicklung in der
modernen (langfristigen, indirekt unterhaltenden) Marketingkommunikation und dient
letztlich globaler Markenbildung und -steuerung neben den bekannteren Positionierungsmodellen. Diese Überlegungen führen uns zu einer Kurzanalyse vorstellbarer
Abwehr- bzw. Relativierungsmechanismen gegen die Alltagsmythen und ihre Gesamterscheinung als Mythos der Kulturindustrie.
3. Abwehr- und Relativierungsstrategien
Mit unserer zielgerichteten Darstellung von Mikro- und Makromythen auf der Woge
der Werbung haben wir ein einseitiges Bild unserer Kulturlandschaft entworfen. Wir
haben zwar angedeutet, dass vor allem auch die Unterhaltungsindustrie an diesem Bild
mitarbeitet, in dem es vom Nutzen zum Ereignis, vom Nachdenken zum Erleben mit
Alltagsmythen geht, dennoch möchten wir die Kritikwürdigkeit der Werbung mit
Verweis auf Kap. V ein wenig verringern und auf folgende Mythen relativierende
Aspekte aufmerksam machen: Es sind dies die Themen von Politik und Kirche zur
gesellschaftlichen Integration oder Bildungserweiterung und -steigerung, unternehmerische bzw. Konzernmaßnahmen zur Mythenverknappung oder individuelle
Strategien zur Reaktivierung des Gebrauchswerts, zu mehr Eigenverantwortung und
Solidaritätsverhalten, aktives Auftreten gegen Blasiertheit und Selbstgerechtigkeit in
Großstädten und auf unseren Straßen. Und es gibt ja auch noch die Künstler, die zu
einer Relativierung beitragen können. Mit diesem besonderen Aspekt wollen wir uns im
nächsten Kapitel auseinandersetzen.
81
IV. Mythos und Kunst
Es bedarf keiner Beweisführung mehr, dass die Mythen – positiv oder negativ
stimulierend – ständiger Begleiter der Kunst gewesen sind und noch sind: Abgesehen
von Antike und Renaissance, allein Rubens als Vertreter des flämischen Barocks hat im
Laufe seines Lebens etwa 280 mythologische Bilder geschaffen, Emil Nolde greift
christliche Bildthemen in einer archaisch-mythologisierenden Bildsprache auf, Pablo
Picasso setzt sich mit den Gestalten des Hermes oder des Minotaurus auseinander,
Richard Long formt Steinplattenringe mit Bezug zu Ritualen an alten Kultstätten etc.
Aber sind es – wenn auch sehr häufig zielbewusst abgewandelt – allein archaische oder
historische Verbindungsstränge, die die Künstler als wahrnehmbare, wieder erkennbare
Grundmuster mythischer Substanz zur besseren Steuerung ihrer jeweiligen Kommunikationsanliegen anwenden oder wie anders stellt sich der Mythos im Kunstkontext auch
noch dar? Bevor wir dieser Fragestellung nach verschiedenen Auftrittsmöglichkeiten
des Mythos genauer auf den Grund gehen, sollen in Kürze einige wesentliche Bedingungen zur Schaffung und Perzeption des Mythos in der Kunst aufgezeigt werden.
a. Der Kunstbetrieb
1. Der kulturelle Hintergrund
Wenn wir an dieser Stelle Kultur als Inbegriff aller menschlichen Leistungen,
Orientierungen und Werte unter bestimmten orts- und zeitabhängigen Daseinsbedingungen auffassen, dann ist Kunst wie auch Mythos, Religion, Philosophie,
Sprache oder Wissenschaft ein Teil dieser Gesamtheit. Wir lehnen uns in diesem
Zusammenhang an die von Franz Dröge/Michael Müller129 besprochenen Kulturmodelle an, um die Kunstbegrifflichkeit und deren Definitionsspielraum im
Kulturspiegel zu reflektieren. Dröge/Müller erörtern drei dynamische Kulturmodelle:
das soziale, das politische und das ökonomische, wobei deutlich ist, dass eine derartige
Besprechung in erster Linie keine epochenmäßige Zwangsbestimmung darstellt,
sondern dass vielmehr der inhaltliche Austausch unter diesen Modellsituationen
Ausdruck einer jeweiligen Realität ist.
Mit der Renaissance entsteht ein neues gesellschaftliches Bewusstsein für den
Künstler in Absetzung vom Kunsthandwerker; es werden Kunstwerke geschaffen, die in
eine andere (gehobenere) Werkkategorie gehören als (einfachere) Handwerksarbeiten,
129
Dröge, Franz; Müller, Michael: Die Macht der Schönheit. Avantgarde und Faschismus oder Die
Geburt der Massenkultur, Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 1995, S. 93 – 99.
82
und in diesem Zusammenhang begründet Kunst als Säkularisierungsprogramm – sicher
anfangs unbewusst – ihren Autonomieanspruch, weil sie sich von a priori verordneten
gesellschaftlichen Verwendungszwecken abzukoppeln beginnt.130 Nach Dröge/Müller
schlägt an dieser Stelle die Geburtsstunde für ein „soziales“ Kulturmodell, „in dem
Kultur als Medium und Zielhorizont gesellschaftlicher Entwicklung begriffen wird.“
Ganz unabhängig von seiner durchaus beschränkten Realisierung (z.B. in nur einzelnen
Gesellschaftsbereichen) verdeutlichen die vielfältigen Akzente, die ein solches
umfassendes Modell über die Jahrhunderte erfährt, die Berg- und Talfahrt der
aufklärerischen Moderne – bis hin zu den radikalen künstlerischen Einflussnahmen im
ersten Drittel des letzten Jahrhunderts.
Künstlerische Tätigkeit und Kunstwerk lösen sich zunächst von der Auftragsbestimmtheit der Kirche, dann der Fürstenhöfe und erscheinen sozusagen ungebunden auf
dem Markt. Aber nun greifen neue Kräfte nach ihrem Autonomiestatus. Mit Beginn des
20. Jahrhunderts wird ein Großteil des Ästhetischen in neuer Form mehr und mehr
politisiert und ökonomisiert, so dass der Autonomie Fesseln modernen Zuschnitts angelegt werden. Der gewaltige neue kulturelle Transformationsvorgang beinhaltet die Abschleifung der affirmativen Bürgerlichkeit sowie die Begründung und den Durchbruch
der industriell erzeugten Massenkultur.131 Diese Entwicklung vollzieht sich im Laufe
des letzten Jahrhunderts in typologischer Form zweifach: politisch und ökonomisch.
Mit Walter Benjamin heben Dröge/Müller als ein bestimmendes Kennzeichen des
politischen Massen-Kulturmodells die Ästhetisierung des Politischen hervor, wobei
Kunst zu politischen Zwecken eingesetzt und verbogen wird. Zur Formfindung dieser
Ästhetisierung im Banne der Politik tragen nicht allein die Versandung des
Außergewöhnlichen der Kunst und die Einbeziehung des Alltags in das künstlerische
Erlebnis bei, sondern ebenso – so fügen wir in unserem Zusammenhang hinzu – die
Reorientierung an Heldenmythen des Stalinismus sowie an Blut- und Boden-Mythen im
deutschen Nazismus. Dabei erhebt sich die Politik selbst in den Rang des ideologischgriffig Ästhetischen. Walter Benjamin stellt diesem Konstrukt der Ästhetisierung des
Politischen das Modell der Politisierung des Ästhetischen gegenüber und verweist damit
auf die grundsätzliche Auseinandersetzung der avantgardistischen Künstler zwischen
130
Zu dieser Definition von Autonomie: S. Bürger, Peter: a.a.O., S. 46, Anm. 13. P. Bürger erweitert hier
die Autonomie-Definition von J. Habermas von „kunstexternen“ zu „gesellschaftlichen“
Verwendungszwecken.
131
F. Dröge/M. Müller geht es in ihrem Beitrag vor allem auch um eine für sie erkennbare ambivalente
Haltung der Avantgarden, die der Entstehung der Massenkultur durch „affirmativ technikbegeisterte
Programme“ (Bauhaus, Futurismus) und den Grenzabbau zwischen Hochkultur und Alltag Vorschub
geleistet hätten. Vgl. Dröge, Franz; Müller, Michael: a.a.O., S. 37f.
83
den beiden Polen der künstlerischen Integration (im Falle Benjamins der
dramatischsten, der faschistischen) und der Subversion: Innerhalb der Vorstellung eines
politischen Kulturmodells war die Avantgarde in sich durchaus gespalten, wenn wir
einerseits die homogenisierenden Intentionen (Bauhaus) und andererseits die
irritierenden, kritisch-ironischen Projekte von Dada oder die verschiedenen Etappen zur
künstlerischen Abstraktion miteinander vergleichen.132
Sicherlich hat nach dem 2. Weltkrieg in Deutschland eine Abwendung vom
mehrheitlich politischen zum ökonomischen Modell stattgefunden, und natürlich ist
dieses Modell einer Massenkultur auch durchsetzt von starken mythischen Elementen
(vgl. auch Kap. III), zu deren Entstehung und Erhaltung – weit über das Volksempfänger-Syndrom hinaus – die Mediatisierung des Zusammenlebens in den westlichen Industriegesellschaften die entscheidende Hilfestellung leistet, wie es besonders
unter dem von Horkheimer/Adorno bevorzugten Begriff der „Kulturindustrie“
herausgearbeitet wird. Die ungeheure Fülle an Zeichen und Symbolen, die dieses
Modell kennzeichnen, gipfeln „in einer einzigen, alle Einzelästhetisierungen zusammenführenden Großästhetik“133. Ohne diesen derart beschriebenen Spagat (eines demokratisch/marktwirtschaftlichen Systems) zwischen mündigen Einzelästhetisierungen und
einer – gleichsam wie bei einem mythischen schwarzen Loch – alles aufsaugenden
großästhetischen Uniformalisierung ausdiskutieren zu wollen, halten wir fest, dass die
aktuelle Kulturlandschaft vor dem Hintergrund eines allgegenwärtigen Mediennetzwerks sowie der Wohlstands- und Erlebnisbedürfnisse der kapitalistischen Massendemokratien in hohem Maße ökonomischen Regeln unterworfen ist. Wenn wir die
Funktion der Kunst mit Thomas Wulffen in dem Dreieck von Erkenntnisvermittlung,
Entertainment und Dienstleistung verorten134, dann setzt die ökonomische Regel von
‚Wachstum
und
Profit’
voll
auf
die
Elemente
der
aktuellen
Spaß-
und
Erlebnisgesellschaft – bis zu dem Punkt, an dem Kunst selbst als Erlebnis angeboten
und verkauft wird. Das grundsätzlich ökonomische Bewusstsein der heutigen
Gesellschaft hat natürlich auch vor Künstlern und ihren Produkten nicht Halt gemacht
und wird sich nach unserer Ansicht, solange der Wohlfahrtsstaat trotz schwächelnder
Tendenzen in Folge der Probleme der Globalisierung und des Terrorismus prinzipiell
erhalten bleibt, nicht wesentlich verändern. Natürlich wird dabei nicht außer Acht
bleiben, dass parallel Elemente der anderen Kulturmodelle, etwa des sozialen mit
132
Ebd., S. 38.
Ebd., S. 51.
134
Vgl. Wulffen, Thomas: Betriebssystem Kunst. http://www.aica.de.symp99/wulffen-d.html.
133
84
erkenntnistheoretischer Aussagekraft, existieren und Gehör finden, auch wenn sie sich
in ständiger Auseinandersetzung mit dem ökonomischen Mainstream befinden und
dabei der Gefahr der Vereinnahmung unterliegen. – Betrachten wir die Bedingungen
des aktuellen, stark ökonomisch dominierten Kulturmodells etwas genauer:
2. Der aktuelle Bedingungskanon des Kunstbetriebs
Tableau 11 gibt einen Überblick über das aktuelle kunstbetriebliche Beziehungsgeflecht, das durch eine ökonomische Ausrichtung auf Wachstum und Gewinn gekennzeichnet ist.
Wenn wir zunächst von den Teilnehmern des Kunstbetriebes sprechen, so ist der
Künstler die Hauptperson, ohne ihn findet nichts statt. Allerdings gehört zum
Normalfall, dass der Kunstschaffende sein Werk nicht für sich behält, sondern dieses
außer durch ihn selbst mindestens von jemandem zweiten reflektiert oder rezipiert
werden kann. Luis Camnitzer (geb. 1937), Künstler der documenta XI, beschreibt in
diesem Zusammenhang – frei nach Marcel Duchamp (vgl. Kap. IV b 2) – das
Kunstwerk als einen „Korridor, der die Wege und Abläufe zwischen Künstler und
Betrachter bestimmt“135. Allerdings wird niemand den Einfluss der sogenannten
vermittelnden Instanzen unterschätzen, die sich mehr und mehr zwischen beide im
Laufe der letzten Jahrhunderte geschoben haben:
Die Zeiten höfischer und kirchlicher Auftragskunst, in denen beispielsweise die
französischen Salonausstellungen der Königlichen Akademie für Malerei und Skulptur
noch zum Instrumentarium der Sicherung verordneter Kunstproduktionen dienten,
verändern sich mit der Französischen Revolution. Wenn auch die staatliche
Kunstförderung (z.B. Historienmalerei) weiterhin bestehen bleibt, so entfaltet doch das
neue Bürgertum eine Mehrnachfrage nach Kunstwerken zur Darstellung seines neuen
Selbstbewusstseins und Wohlstandes. Der Salon wird zur Plattform der auftragslos,
privat produzierten Kunstwerke, auf der sich im Sinne von Angebot und Nachfrage
eben diese Werke behaupten mussten. Da immer noch eine Jury über die Aufnahme zur
Ausstellung entscheidet, entsteht neben systemimmanenter Anpassung der Künstler
natürlich auch Gegenwehr und Ablehnung mittels zunehmender Gegenausstellungen
zum Salonestablishment. Allerdings spiegelt sich in beiden Haltungen die Verfestigung
der Kommerzialisierung des Kunstbetriebs: Die erlangte Freiheit der Produktion,
135
Camnitzer, Luis: Ein Erklärungsversuch. In: Balkenhol, Bernhard; Georgsdorf, Heiner; Maset,
Pierangelo (Hg.): XXD 11, Über Kunst und Künstler der Gegenwart, ein Nachlesebuch zur Documenta
11, university press, Kassel 2003, S. 80.
85
verbunden mit der damit einhergehenden größeren Unsicherheit der Akzeptanz in einem
sich erweiternden Marktgeschehen, führt bei Anpassern und Opponenten zu
wachsendem Originalitäts- und Innovationsdruck. Stefan Germer zitiert in diesem
Zusammenhang Jean-Auguste-Dominique Ingres (1780 – 1867): „Was den Künstler
zum Ausstellen veranlasst, ist die Aussicht auf Gewinn, der Wunsch, um jeden Preis
Beachtung zu finden“.136
Diese Entwicklung aus dem 19. Jahrhundert hat sich voll durchgesetzt. Aus dem
Salon und den Gegensalons ist eine nahezu unüberschaubare Menge vermittelnder
Instanzen geworden (s. Tabl.11). Die entscheidenden Konsequenzen für das Phänomen
„Kunstbetrieb heute“ lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Kunst und Kunstmarkt
im ökonomisch dominierten Kulturmodell
Wesentliche Bestimmungsfaktoren
(Wachstum und Gewinn)
____________________
• Wettbewerb der Interessen
• Der Künstler-Star in der
Erlebnisgesellschaft
• Interventionsstrategien
Künstler
Rezipient
Vermittelnde Instanzen
________________________
Sammler – Auftraggeber
„Schausteller“ – Sponsoren
Kritiker – Interessenvertreter
Tabl.11: Kunstbetrieb heute – Strukturen des ökonomisch dominierten Kulturmodells
136
Germer, Stefan: Alte Medien – neue Aufgaben. In: Wagner, Monika (Hg.): Moderne Kunst 1, Das
Funkkolleg zum Verständnis der Gegenwartskunst, Rowohlt, Reinbek 1991, S. 100.
86
2.1. Wettbewerb der Interessen
Die „Aussicht auf Gewinn“ oder auch nur der lebensnotwendige Broterwerb
veranlassen die Künstler, entsprechende Strategien am Salon vorbei zu bilden. Vincent
van Goghs Bemühungen, etwa mit Paul Gauguin und anderen zusammen ein Kollektiv
zu bilden, um künstlerische Produktion und Distribution zu erneuern („Die Kunst den
Künstlern“), scheitern, aber seine Ideen, sich am Markt unabhängig zu etablieren,
werden später von Zusammenschlüssen wie etwa „Die Brücke“, der „Blaue Reiter“ oder
den Futuristen realisiert. Paul Durand-Ruel in Frankreich oder Paul Cassirer in
Deutschland kaufen um die Jahrhundertwende (selektiv, auch mit exklusiven
Künstlerverträgen) zeitgenössische Malerei, um in eleganten Verkaufsräumen, begleitet
von Katalogen und anderen Medienauftritten, ihre Künstler auf dem Markt zu
verkaufen.
Ein auffälliges Beispiel für eine entsprechende Reaktion der „Etablierten“ gegen
Erneuerung ist der „Künstlerstreit 1911“, der sich um den Ankauf des van Goghschen
Mohnfeldes durch die Bremer Kunsthalle entwickelte, als der Worpsweder Maler Karl
Vinnen sich zum Fürsprecher der angeblich benachteiligten deutschen Kunst machte.
Der Markt aber entwickelte sich unaufhaltsam weiter, auch an der dramatischen
Grenzziehung der Faschisten vorbei. Mit Hilfe von neuen Galerien, Biennalen,
Museumserweiterungen, spektakulären Auktionen, Cross-Aktivitäten der bildenden
Kunst zu anderen Kunstrichtungen (Film, Musik, Theater), kulturellen Ereignissen
jedweder Art (Weltausstellungen, Seglerwochen) und documenten erfährt das
Kunstsystem in den vergangenen 25 Jahren einen gewaltigen Auftrieb und rückt, sich
weit verästelnd, in alle gesellschaftlichen Bereiche vor, um sich dabei gleichzeitig der
Gefahr auszusetzen, seine kritische Distanz für einen „anderen Weltentwurf“ zu
verlieren137. Dabei bilden sich Koalitionen und Seilschaften, Museen lassen sich von
Unternehmen sponsern, große internationale Auktionshäuser verfolgen ihre eigenen
Preisstrategien, Galerien kooperieren miteinander etc. Auf dem Resonanzboden des
aktuellen Mediensystems entsteht eine Kommunikationswoge, die unter sich alle
maßgeblichen Wahrnehmungs- und Entscheidungsmöglichkeiten vermischt. In dieser
Situation einer fragmentierten, unendlichen Flut von Informationen und Eindrücken allein schon zur Kunst - verlangt Harald Falckenberg „den Mut zur persönlichen
Entscheidung“, da im „Diskurs über … [eine] Bewertung keine Seite Interpretations137
Ecker, Bogomir: Jung sterben – der Kunstbetrieb. Vortrag anlässlich des Symposiums „Blindflug –
wohin steuert der Kunstbetrieb“, 20.4.2002. In: Kunstverein Hannover, Mitgliederzeitschrift Jahresheft
2002/2003, S. 13.
87
oder Bedeutungshoheit beanspruchen“ kann138. Dies verlangt von dem Rezipienten
durchaus Kritikfähigkeit und Mut, wenn er sich als Sammler auf den Weg macht oder
auch nur als Freizeit-Betrachter daherkommt und gegebenenfalls neue Eindrücke an
sich heranlassen möchte.
Auf Seiten des Künstlers fordert dieser Pluralismus der Medienerscheinungen und
ihrer Inhalte Strategien heraus, die ihm Gehör verschaffen – mit oder gegen den
Mainstream der Auffassungen; er wird nach neuen, innovativen Darstellungsformen
und –anliegen für seinen Vortrag suchen, das heißt, er wird den Mythos des Realen zu
brechen suchen oder auch nur an seinem persönlichen (individuellen) Mythos bauen –
manchmal unter Zuhilfenahme traditioneller Mythen.
2.2. Der Künstler als Star in der Erlebnisgesellschaft
Bogomir Ecker beschreibt diese künstlerische Identitäts- und Vermarktungsweise als
Abkehr von einer unbequemen Außenseiterrolle und Hinwendung zum „Trendsetter für
Lebensgefühle. Der aus dem Humanismus und der Romantik kommende Geniekult
einer bürgerlichen Gesellschaft ist endgültig abgelöst durch das Starsystem“.139 Der
Künstler als Star gelangt in diese Rolle als Teil der – auch nach dem 11. September
2001 - immer noch unverwüstlichen Spaß- und Erlebnisgesellschaft, die ihre Helden,
ihre Markenzeichen fordert. Das süchtige Verlangen nach Erlebnissen, nach dem
ungewiss Besonderen (z.B. einer Love-Parade), nach Geselligkeit mit Geselligen bei
gleichzeitigem Verdrängen oder Gutreden des Problematischen spiegelt den
Egozentrismus einer Win-Gesellschaft, der sich Künstler gegenüber sehen. Sie können
entweder zu Stars in diesem System werden oder sie bilden – wie Bogomir Ecker es
nennt – eine „Restmenge“, die sich nicht vereinnahmen lässt, die sich noch autonom
nennen kann. Zur Verunsicherung – für manchen zur Verkleinerung – dieser Restmenge
hat in besonderer Weise Salvador Dali (1904 – 1989) mit seiner paranoid-kritischen
Methode der Selbstinszenierungen und absurden Ideen beigetragen. Gerade heute zum
100. Geburtstag des Künstlers wird seine Verknüpfung von künstlerischer Perfektion
und merkantiler Zieltreue im Sinne von Nähe zur Unterhaltungs- und Warenwelt sowie
zur Politik in Barcelona dokumentiert.
138
Falckenberg, Harald: Ziviler Ungehorsam, Kunst im Klartext, Lindinger + Schmid, Regensburg 2002,
S. 42.
139
Ecker, Bogomir: a.a.O., S. 13.
88
Die Hintergründe für die rasante Entwicklung des Kunstgeschehens, das heißt der
Erweiterung des Kunstbegriffes und der permanenten künstlerischen Grenzüberschreitungen der letzten 150 Jahre, liegen allgemein in der Demokratisierung des
Denkens und der gleichzeitig enorm gesteigerten Nachfrage nach der Ware Kunst in
einer offenen Massenkultur. Der Künstler als Teil dieses stark ökonomisch gesteuerten
Systems nutzt es im Sinne seiner Ziele und produziert für die freudige
Erlebnisgesellschaft und ihre zahlreichen Biennalen, oder er stemmt sich dagegen und
sucht Distanz für mögliche Einstellungs- oder Verhaltenskorrekturen. Auch im letzteren
Fall ist jedoch die Gefahr groß, dass er vom Strudel der vereinnahmenden Vermarktung
mitgerissen oder pervertiert wird. Letzteres wird häufig beklagt, obwohl an einer
finanziell gesicherten Position eines autonomen Künstlers kein Anstoß zu nehmen ist.
2.3. Interventionsstrategien
Die Vereinnahmungsprozesse sind allgegenwärtig, auch wenn heute der Staatsdirigismus gescheiterter Systeme gefallen ist oder der amerikanische regierungsfreundliche, abstrakte Expressionismus durch die Pop Art entmachtet wurde. Harald
Falckenberg betrachtet Unternehmen und Konzerne als generell maßgebliche
Bestimmungsfaktoren in der heutigen Gesellschaft und analysiert ihre Nähe zu
zeitgenössischer Kunst – das abstrakte Bild hinter dem Schreibtisch des General
Managers, das zielgerichtete Sponsorverhalten bei zahllosen Ausstellungen, eigene
Projekte, wie z.B. das Siemens-arts-program 2002 – als Vehikel zur Eigendarstellung
im Sinne von Fortschrittlichkeit, Risikofreundlichkeit und Offenheit des Unternehmens.
Die Besonderheit der aktuellen Medienunternehmungen und ihr Einfluss auf das
kulturelle Geschehen unter der Notwendigkeit ihrer eigenen Gewinnmitnahme ist
unbestritten.
Wir haben an anderer Stelle vom Mythos der Marke gesprochen, hier geht es um den
Markencharakter des jeweiligen Unternehmens, den Mythos des Konzerns selbst, zu
dessen Schaffung und Pflege Kunst benutzt wird. Verglichen mit den Gesamtbudgets
eines Konzerns bleibt es allerdings bei einem Dekorationsaufwand für die Kunst – wie
etwa auch die Bilderreihen beim Zahnarzt (z.T. Zeitleihgabe) oder das einzige
„Original“ hinter dem heimischen Fernseher -, ein Aufwand, über den unter Zeichen
anderer
wirtschaftlicher
oder
sinneswandlerischer Gegebenheiten schnell neu
entschieden wird. Ein besonderes Augenmerk verdienen in diesem (unternehmerischen)
Zusammenhang die Mode- und Werbebranchen. Das sogenannte Neue, das mit einem
89
wirklichen Durchbruch auf neues Terrain nur im seltensten Fall etwas gemein hat,
repräsentiert eine der Erfolgsstrategien dieser Branchen und „lässt gerade [hier] die
subkulturelle Szene und radikale Kunst immer wieder Ziel des Begehrens sein“140.
Der Kunstdiskurs findet aber nicht nur in den Unternehmen statt. Bevor ein
eigenwilliger Endverbraucher erreicht wird, trifft er auf gewinnorientierte Galerien und
Auktionshäuser, die der durchschnittliche Betrachter als Tempel des Kunstgeschehens
wahrnimmt. Und es taucht selbstverständlich auch das Museum auf (hier als Vertreter
für viele andere öffentliche Institutionen), als mutmaßlich wissenschaftlich abgesicherte
Stätte der Gesellschaft mit seinen Dauer- und Wechselausstellungen. Seine Aufgabe des
„Aufhebens“ – Sammeln, Bewahren, Zeigen – wird nicht immer so populär und
intellektuell trefflich gelöst wie bei der Bremer van Gogh-Ausstellung 2002, die man als
„Paradebeispiel“ für die geglückte Symbiose von Marketing und Museum bezeichnet
hat141. 325.000 Besucher machten die Veranstaltung nach der documenta XI zur
meistbesuchten Ausstellung des Jahres in Deutschland: Mit dem Mohnfeld wurde
exquisit gesammelt, das Bewahren vor allem mit den niederländischen Museen in
Otterlo und Amsterdam erneut bewiesen und die gelungene Zusammenarbeit zwischen
Leihgebern, Bremer Institutionen, Medien, Wissenschaft und Sponsoren (Bierbrauer,
Kaufhäuser, Banken und Versorger) führte zu einer außergewöhnlichen Demonstration.
Die Kritik war deutlich auf die unvorhergesehenen Reparaturkosten und nicht auf die
Vereinnahmung der Kunst durch die Wirtschaft gerichtet.
Ausführlicher wollen wir uns in Kap. IV b mit der Institutionskritik von Marcel
Broodthaers auseinandersetzen, der Anfang der 70er Jahre u.a. mit seinen Installationen
Musée d’Art Moderne, Départment des Aigles, Section des Figures die Museums- und
Ausstellungswelt attackiert. Harald Falckenberg hat zusammengetragen, dass auch
Marcel Broodthaers zu seiner Zeit nicht alleine tätig war: So beseitigte zum Beispiel
Michael Ascher 1974 in Los Angeles eine Trennwand zwischen Ausstellungs- und
Büroräumen der Claire-Copley-Galery, „um den Zusammenhang von Kunst und Markt
zu verdeutlichen“ oder Robert Barry verkündete 1969, dass während der Ausstellung
die Galerie geschlossen bleibt142.
Einer der radikalsten Kritiker des Kunstbetriebs war allerdings der Italiener Piero
Manzoni (1933 – 1962). Sicherlich getrieben durch konkurrierendes Streiten mit
anderen Künstlern – zum Beispiel mit Yves Klein – stellt er mit seinen Arbeiten die
140
Falckenberg, Harald (2002): a.a.O., S. 124.
Vgl. Cartier, Stephan: Die Kunst zwischen Pracht und Pauschale. In: Weser-Kurier Nr. 110/2003.
142
Falckenberg, Harald (2002): a.a.O., S. 128.
141
90
Rolle der Kunst permanent in Frage. Es ist bezeichnend, dass Manzoni noch in seinem
letzten Lebensjahr in Brüssel die Nähe zu Marcel Broodthaers suchte, der allerdings
eine völlig andere Kunstkritik entwickelte. Manzonis Arbeit ist eine ungezügelte
Provokation von Bürgerlichkeit bzw. irgendeiner anderen Normalität und deren Grundlagen, eine „Absage an jegliche illusionistische Funktion der Kunst, die darüber hinaus
auch jedwede metaphysische, spirituelle oder meditative Dimension von sich weist“.143
Mit seinen Achromes, monochromen Bildern „ohne Farbe“, wird allein Material
sujetlos demonstriert, später werden Linienführungen auf Papier gebracht, vermessen
und verpackt.
Abb.36: Piero Manzoni, Merde d’Artiste,
Konservendose, Künstlerexkremente, 1961
Höhepunkt seiner kurzen Laufbahn war die Provokation Merde d’Artiste (Abb.36),
eine Produktion von 90 Konserven Künstlerscheiße à 30 g, der gedachte Preis entsprach
dem Goldpreis für dieses Gewicht (eine ,versehentlich’ geöffnete Dose enthielt Olivenpaste). Hier wird die Auflösung aller Grenzen zwischen Kunst und Umwelt, wie sie sich
als Kunstbetrieb, als alltägliches Leben definiert, gefordert. Das Verweigern jeglicher
Vereinnahmung durch die Krake Kulturindustrie endet hier in der Grauzone von
ehrgeiziger, intellektueller Skandalhascherei und verzweifeltem ironischem Aufbäumen
gegenüber dem Banalen und Gewöhnlichen, dessen Teilhaberschaft er andererseits
äußerst nachhaltig anstrebte, wie sein ambitioniertes Bemühen, im Pariser
Künstlerparadies Fuß zu fassen, beweist.
143
Ruhrberg, Bettina: Kunst als Spur der Existenz. In: Künstler, Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst,
Heft 22, 3. Quartal 1996, Weltkunst und Bruckmann, München 1996, S. 3.
91
Abb.37: Maurizio Cattelan,
Trommelwirbel, WachsInstallation, 2003
Abb.38:Werner Büttner, O.T. (Grübeln ist
das Geilste), C-Print, 2000
Spektakulär sind auch die aktuellen Auftritte von Maurizio Cattelan (geb. 1960 –
siehe Kap. IV) in Venedig als Roboter und in Köln als Trommler auf dem Dach
(Abb.37) oder die polemischen, wenn nicht auch zynischen Positionen von Jonathan
Meese (geb. 1970 – s. ebenfalls Kap. IV) und von Werner Büttner (geb. 1954). Letzterer
entwickelte Anfang der 80er Jahre zusammen mit Martin Kippenberger (geb. 1953) und
Albert Oehlen (geb. 1954) seine Form des Widerstandes gegen die sich verfestigende
Spaßgesellschaft und das Erhabene, Elitäre. Davon zeugen allein schon die Titel seiner
damaligen Werke, wie z.B. Die Probleme des Minigolfs in der europäischen Malerei
(1982), Schrecken der Demokratie (Bilderzyklus 1983) oder auch noch 1993 Meine
Frau liest! Und Deine? und spiegeln eine intendierte Interessenlosigkeit und
Unbeschwertheit, eine ironisch-spöttelnde Haltung, die sich von einer weitaus
pathetischeren, wie sie von Joseph Beuys vorgelebt worden war, abhebt. Seine neueren
Collage-Auftritte reduzieren zwar die textuale Bildbegleitung, doch Ironie, Spott und
Nonchalance „kennzeichnen [seine] schon Dada prägende Haltung einer Identität der
Nicht-Identität“ im Bild selbst144. In Abb.38: O. T. (Grübeln ist das Geilste) begegnen
uns zwei ,denkwürdige’ Gartenzwerge, etwas komfortabler positioniert als Cattelan auf
dem Dach, zwei Figuren wie Attribute einer Gesellschaft, die man sich in dem
surrealistisch maskenhaften Kopf darüber vorstellen kann, einer Kombination von
Totenschädel und gerötet fleischlicher Farbe, die den Mythos der ,lebenden Toten’
evoziert. Hier wird das Groteske benutzt, um das für Büttner aktuell-groteske gesellschaftliche Leben und dessen Normen nochmals mit einer Burleske zu demaskieren
bzw. zu decodieren.
144
Falckenberg, Harald: Theorien von mittlerer Reichweite. Einige Details. In: Grosenick, Uta (Ed):
Werner Büttner, Taschen, Köln et al. 2003, S. 14 – 17, hier: S. 17.
92
Wir können die zitierten Künstler-Positionen auch als exploratives Suchen nach der
äußersten Grenze dessen verstehen, was Kunst noch aushalten kann, um einer
Vereinnahmung durch die Gesellschaft und ihr (beklagenswertes) Regelwerk zu
entgehen. Das Lokalisieren dieser Schmerzgrenze bzw. die Identifizierung eines
Künstlers als Mitläufer im System oder andererseits als ,Überzeugungstäter’ im Sinne
eines Subjekts distanzierenden und wirklichen Widerstandes ist nicht immer leicht.
Dennoch sollte eine kritische Betrachtung dem Urteil immer vorausgehen, so z.B. ob
Werner Büttner nur dem Mainstream des gesellschaftlichen Spektakels folgt oder ob er
letztlich doch einen Tabubruch begeht, mit dem er das schwülstig Bedeutungsvolle
einer
Gesellschaft,
letztlich
das
zum
Mythos
erhobene
Unwichtige
durch
Bedeutungsentleerung bzw. groteske Verweise sichtbar machen will.
Als interessantes, gleichzeitig eindeutiges Beispiel für die „Restmenge“ an
Überzeugungstätern sei an dieser Stelle die Tropfsteinmaschine von Bogomir Ecker
genannt: Abseits vom Kunstmarkt und dessen ökonomischen Bedingungen und
Regularien tropft es in der Galerie der Gegenwart (Hamburger Kunsthalle), um im
Laufe von etwa 500 Jahren eine Skulptur von fünf Zentimeter langen Stalagmiten und
Stalaktiten entstehen zu lassen. Hier wird ein Thema (Zeitdimension, Vergänglichkeit,
Relativierung
menschlicher
Existenz)
jenseits
der
gängigen
kritischen
Gesellschaftspraxis und irgendwelcher politisch historischer Kontexte angesprochen,
das den Künstler als glaubwürdig, autonom und auf Distanz zum Star-Eifer darstellt.
Die Ermittlung vorbildgebender Distanzbeschreibung mag bei Bogomir Ecker leichter
fallen als bei Werner Büttner oder Piero Manzoni. Dennoch hat auch der schwierigere
Fall ein Recht auf Auseinandersetzung. Hierbei kann die Betrachtung eines Künstlers
über einen längeren Zeitraum den Subjektivitätsdiskurs erleichtern, der ohne
persönliche Einbringung des Rezipienten in den „Kunstkorridor“ nicht denkbar ist. Eine
solche Betrachtung über einen längeren Zeitraum sagt auch häufig etwas über die
künstlerische Haltung aus, die einen Überzeugungstäter identifizieren könnte, dem es
nicht allein auf die „Lautstärke“ seines Kunstwerks ankommt, sondern (auch) auf den
Ausdruck wirklichen Engagements. Dabei geht es auch um die Auseinandersetzung mit
kollektiven Mythen und nicht allein um die Schaffung eines persönlichen Mythos.
93
b. Die Manifestation des Mythos in der Kunst
Das Festmachen des Mythischen in der Kunst ist auf verschiedenen Wegen denkbar.
Als Medium zu dieser Darstellung haben wir uns für die Bildende Kunst und deren
Anhänglichkeit an das mythische Phänomen entschieden; dabei wollen wir die
einzelnen Künstler selbst genauer verfolgen (Kap. IV b 2). Dennoch ist es für das
Verständnis des Mythosbegriffs in der Kunst erhellend, vorab einmal einen bestimmten
Mythos und seine Wandlungsfähigkeit im Zeitablauf zu verfolgen (Kap. IV b 1), bevor
wir die Künstler ausführlich selbst sprechen lassen: Denn aus der Vielzahl der
Deutungsansätze und der Spannbreite mythischer Funktionalität lässt sich vermuten,
dass wir unsere Thesen (1) bis (3) zu Mythen als Mitteilungsorgane in Prozessen der
Transformation und Differenzierung in Abhängigkeit von kulturellen Entwicklungen
bestätigt finden können.
1. Der einzelne Mythos-Stoff im Wandel
Dieses viel besprochene Phänomen des Mythenwandels im Kunstkontext zeugt gleichermaßen von Dehnbarkeit und Aktualität des Mythos. Aus der großen Anzahl denkbarer Beispiele möchten wir zwei heraus greifen und etwas näher beleuchten, die sich in
einer grundsätzlichen Polarität gegenüberstehen: Einmal demonstrieren diese beiden
Fälle vor dem Hintergrund ihres Bezugs zum historischen Mythos die Spannbreite
weiblich verführerischer und dämonisierender Erscheinungen im Kunstkontext und zum
anderen haben sie, dadurch bedingt, letztlich auch in ihren zeitgeschichtlichen Entwicklungen jeweils ein besonderes Verhältnis gerade zur Werbung erlangt. Zunächst ist es
die Mythengestalt der Nymphe, Begleiterin von Dionysos oder Diana, eine jugendliche
Frauengestalt, erotisch-verführerisch, voller Energie und Ausstrahlung, oft mit wehendem Haar und wallendem Gewand dargestellt. Dank ihrer archaischen Wurzeln zeigt sie
sich auch kämpferisch als Mänade. In ihrer vielschichtigen Aufnahme stellt sie sich
nicht nur über ihre antiken Wurzeln hinaus in und nach der Renaissance als Symbol für
die soziale Wiederzulassung des Weiblichen in der Kunst dar, sie wurde darüber hinaus
seit dem letzten Jahrhundert insbesondere auch durch die Werbung instrumentalisiert.
Neben der Nympha hat sich in der Kunst Medusa profiliert, die man idealtypisch als
die ,andere Seite der Nympha’ bezeichnen kann, eine im kulturellen Prozess über ihr
Haupt und den davon ausgehenden Schrecken dämonisierte, gefährliche Darstellerin.
Hier hat Kunst ein umfangreiches Aufklärungswerk geleistet, vor allem durch die
Verschiebung des medusischen Schreckens von ihr weg zu einer allgemeinen
94
medusischen Realität, deren neue Träger nicht nur den Schrecken, sondern zugleich ihre
Beteiligung an der Schaffung dieses Schreckens auf sich nehmen. Im Werbekontext
spielt sie keine entscheidende Rolle, gelegentlich eventuell noch als femme fatale, deren
Qualitäten aber eher in Film und Literatur gefragt sind.
1.1 Die Nympha
Aby Warburg war – wie Ernst Gombrich erläutert – über längere Zeit seiner
Forschungsarbeiten besonders gefesselt von dem Motiv der „eilende[n] junge[n] Frau in
flatterndem Gewand. Dieses Motiv nannte Warburg die ‚Nympha’“145. Das Thema ist in
Warburgs Bilderatlas dokumentiert, wobei für ihn herausragende Bedeutung die
Diskussion um die Lastenträgerin auf Domenico Ghirlandaios Renaissance-Fresko
Geburt Johannes des Täufers erhält (Abb.39)146.
Abb.39: Domenico Ghirlandaio, Geburt Johannes des Täufers, Fresko, 1486
Der Auftraggeber Tournabuoni benutzt mit Ghirlandaio die erhaltenen Rechte, den
Chor von Santa Maria Novella in Florenz auszugestalten, um seine Angehörigen als
heilige Figuren auftreten zu lassen und konfrontiert diese dann mit Nympha. Rechts auf
dem Fresko, keineswegs an unbedeutender Stelle, schwebt in die ansonsten durchaus
starre, religiöse Szene eine auf dem Kopf Früchte tragende junge Frau in wehendem
Kleid herein, die gleichermaßen heitere Leichtigkeit und Lebenskraft einer antiken
Nymphe ausstrahlt. Die Starrheit der Szene des Besuchs in dem Wochenzimmer der
Heiligen Elisabeth wird durch diese Nympha-Dienerin gebrochen. Für Aby Warburg ist
diese Gestalt ein Beispiel lange vorgeprägter Ausdruckswerte zur Darstellung aktueller
145
Gombrich, Ernst H.: Aby Warburg, Eine intellektuelle Biografie. Das Nymphenfragment, Europäische
Verlagsanstalt, Frankfurt/M. 1970, S. 141 – 164, hier: S. 142.
146
Warburg, Aby: Der Bilder-Atlas, Mnemosyne; Warnke, Martin (Hg), Akademieverlag, Berlin 2003.
95
Lebensumstände und -gefühle: Der im strengen kirchlich-religiösen Netz jener
Jahrhundertwende agierende Auftraggeber und ebenso sein künstlerischer Botschafter
verlangen beide nach einem Ausdruck für das unterdrückte, freizügigere Leben und
finden in dem hergebrachten, erlaubten Nymphen-Mythos-Stoff der Antike das
Feigenblatt bzw. die „schützende Unwidersprechlichkeit des schon Dagewesenen“, um
dem Neuen, seinem besonderen, noch stillen Anliegen, dem Drang nach Freiheit sowie
nach geistiger und körperlicher Freizügigkeit Nachdruck zu verleihen.147
Natürlich bietet die antike Mythenwelt selbst bereits mit ihren entsprechenden
Abbildungen ein breites Anschauungsmaterial zu Nymphen, Mänaden, Musen und
weiblichen Göttern. Die Nymphen – ob nun an oder in Gewässern, auf Bäumen oder auf
Bergen – bestehen schon in der Antike nach der Vorstellung der Erzähler als schöne,
junge Frauen und waren den Griechen als Töchter des Zeus und als himmlische Wesen
niederen Ranges verführerische Personifikationen des Lebens in freier Natur, dem Tanz
und der Musik ergeben. Wenn sie schon keinen eigenen Mythos haben, so sind sie doch
wichtige Mythos-,Stützen’, wenn sie etwa Dionysos, Diana, Perseus oder Odysseus
zugeordnet werden. Beliebt ist ihre Darstellung im Dionysos-Mythos als Begleiterinnen
des Gottes. Zunächst erkennen wir sie in ihrer ursprünglichen Erscheinung, etwa als die
Schönen im Gefolge der Diana. Dann treten sie im Dionysos-Mythos als Mänaden auf:
Die Nymphen hatten durch Hermes’ Vermittlung Dionysos von der Rachsucht Heras
befreit und waren von da an als Mänaden Dionysos’ wilde Begleiterinnen. Diese
weibliche Doppel-Natur – betörende Schöne (Nymphe)/kämpfende Siegerin (Mänade)
spiegelt sich in zahllosen nymphischen Erscheinungen.
Auf archaischen Vorbildern (Amasis-Maler) aufbauend, liefert die griechische
Frühklassik ein anschauliches Beispiel der Mänade mit dem Brygos-Maler um 490
v.Chr. (Abb.40), der auf seiner Schale eine tanzende Mänade in wallendem Gewand,
sich selbst temperamentvoll befreiend, darstellt; ihr Thyrsosstab, die Lanze mit dem
Lebenskraft und Fruchtbarkeit symbolisierenden Pinienzapfen, vervollkommnet das
Bild. Ganz ähnlich geht es in der Spätklassik (400 – 320 v.Chr.) auf dem apulischen
Kelchkrater von Lipari Mitte des vierten Jahrhunderts zu (Abb.41), auf dem die
Mänade, den Stab erhoben, zum Flötenspiel eines Satyrs mit wehenden Haaren und
schwingendem Gewand voller Sinnesfreuden tanzt, vom Wein angeregt.
147
Gombrich, Ernst H.: a.a.O., S. 159. – Im Sinne von Warburg spricht man bei der Charakterisierung
einer solchen Szene, in der sich das Gegebene und Angemessene mit einem Schuss Unangemessenheit
und Leidenschaft mischt, auch von einer ,Pathos-Formel’. Vgl. Warnke, Martin: Der Kopf in der Hand.
In: Hofmann, Werner: Zauber der Medusa, Europäischer Manierismus; Hg.: Wiener Festwochen,
Löcker, Wien 1987, S. 60.
96
Abb.40: Brygos-Maler,
Schale 2645, um 490 v.Chr.
Abb.41: Apulischer Kelchkrater 2241,
Mänaden und Satyr,
Mitte 4. J.v.Chr.
Der Hellenismus Pergamons um 170 v.Chr. liefert ein weiteres Beispiel der zahlreichen antiken Nympha-Darstellungen, in der nunmehr eine Göttin (der Nacht), Nyx, in
Haltung und Ausstrahlung der Nympha gleich, am Nordteil des Großen Frieses des
Pergamon-Altars im Gigantenkampf die Partei der Olympier ergriffen hat und in
wehendem Gewand mit ausholender Bewegung siegesgewiss einen Krug auf ihre
Gegner schleudert (Abb.42).148 Der Sieg ist ihr sicher, und es mutiert die Sinnes- zur
Siegesfreude, zur befreienden Energie der Nympha, Abteilung Mänaden. Auch für Aby
Warburg war die Nympha eine antike ‚Viktoria’, eine Siegesgestalt, „die in der
Renaissance zum Leben zurückkehrte; … sie ist ein ‚Elementargeist’, weil sich in ihr
und durch sie elementare Leidenschaften ausdrücken konnten“.149
Abb.42: Nyx, Pergamon-Altar,
Nordteil des großen Frieses, um 180/160 v.Chr.
148
G. Dommermuth-Gudrich identifiziert diese Figur als Erinnye. Vgl. Dommermuth-Gudrich, Gerald:
a.a.O., S. 99.
149
Gombrich, Ernst H.: a.a.O., S. 159.
97
Abb.43: Sandro Botticelli, Geburt der Venus,
Tempera auf Leinwand, um 1485
Abb.44: Sandro Botticelli,
Minerva und Zentaur,
Tempera a. L.,um 1482
Die Wiederentdeckung der antiken Körper- und Formenwelt in der Renaissance
bleibt natürlich nicht auf Domenico Ghirlandaio (1449 – 1494) beschränkt. Fast
zeitgleich wenden sich zahlreiche andere italienische Künstler, vor allem von
florentinischem Geldadel gefördert, diesen Überlieferungen zu, wobei die Darstellung
weiblicher Körperlichkeit als Akt und in Bewegung im Sinne der ursprünglichen
schönen Nymphe, unterstrichen durch wehende oder fließende Gewänder, die eher diese
Körperlichkeit unterstreichen als verhüllen, eine große Bedeutung haben. In Sandro
Botticellis (1444/5 – 1510) Geburt der Venus vereinen sich beide Motive: der VenusAkt im Kontrapost, der lockeren Beinstellung, sowie die Frühlingshore mit fliegenden
Haaren und fließendem Gewand (Abb.43). Die befreiende Leichtigkeit der Szene wird
durch die schwimmende Muschel, das Fruchtbarkeitsattribut der Schönheitsgöttin noch
unterstrichen. – Selbst Athene, die neben zahlreichen anderen Disziplinen vor allem die
Streitkunst verkörpert, profitiert bei Sandro Botticelli von der Nympha-Ausstrahlung. In
Minerva und Zentaur (Abb.44) erscheint sie zwar nicht nackt wie zum Paris-Urteil bei
Lucas Cranach d. Ä. (1527) oder bei Peter Paul Rubens (1639), ihr Gewand jedoch ist
ebenfalls weit entfernt von strenger antiker Bekleidung. Die Szene hat keinen direkten
mythologischen Handlungsbezug und stützt sich auf einzeln vererbte Versatzstücke des
antiken Erfahrens, wie eben das der Nympha. Wehendes brust-offenes Gewand (mit
eingewebten, ineinander greifenden Diamantringen, dem Emblem Lorenzo de Medicis),
leichtfüßige Haltung, langes Haar, Kranz im Haar statt Helm; all dies reduziert trotz der
Hellebarde ihr kriegerisches Wesen und lässt sie als sanftmütige Friedensstifterin
auftreten, die Wissenschaft und Handwerk fördert. Ihr mitleidvoller Blick auf den
flehenden, unterwürfigen Zentaur soll diesen Gedanken sicher unterstützen, lässt aber
98
auch stark vermuten, dass der Medici-Auftraggeber, einer jener machtbesessenen
Herrscher, sich selbst gerne als mildtätigen Sieger gegenüber den Besiegten bzw.
Untertanen zur eigenen Selbstvergewisserung darstellen möchte. Man könnte meinen,
dass die geradezu übertriebene Geste der Minerva, dem Besiegten im Haar zu kraulen
statt ihn zu bändigen, Sandro Botticellis Unglauben an die Wunschvorstellung seines
Auftraggebers ausdrückt.150
Nympha beweist ihre besondere Nymphenfähigkeit auch bei Tizian (wahrscheinlich
1485 – 1576) als Die Hl. Magdalena (Abb.45). Ihre nackte Schönheit wird der Maria
Magdalena verliehen und unter dem Schirm des religiösen Vorwandes preisgegeben. Im
Halbakt, für den Herzog von Urbino gemalt, verbinden sich die verführerischen Reize
der Nymphe mit religiöser Askese, wie es im Werdegang der Sünderin nicht besser für
die Renaissance vorgegeben sein kann, um die gewünschte Freizügigkeit in der
Darstellung zu erreichen. Ihre Buße wird durch den Nymphenbezug in Frage gestellt,
sie erscheint gerechtfertigt in ihrem Begehren. Sinnlichkeit des Mythos und christlichreligiöses Büßertum verschachteln sich. Ihre dynamische Leidenschaft ist für Tizian
auch über den Tod hinaus gerechtfertigt und kündigt die neue Stellung der Frau im
Sinne wachsenden, anerkannten Selbstverständnisses an, wenn wir sie in Pietà (Abb.46)
als Antipodin zu dem toten Christus dem Leben zugewandt – dem Leichnam abgewandt
– erleben. Tizian hatte dieses Gemälde für seine Grabstätte geplant, es wurde erst nach
seinem Tode durch Palma Giovane fertiggestellt.
Abb.45: Tizian, Die Hl. Magdalena,
Öl auf Holz, um 1530 – 35
150
Abb.46: Tizian, Pietà, Öl auf Leinwand, 1576,
später vollendet durch Palma Giovane
U.a. wird in der Darstellung auch – weniger politisch – eine moralisierende Allegorie auf die Weisheit
der Vernunft gegenüber wilder Gewalt und niederen Trieben gesehen (Der Zentaur ist hier mit Bogen
und Köcher erschienen).
99
Abb.47: Albrecht Dürer, Venus und Amor als Honigdieb, Aquarell, 1514
Auch der kühle Norden verschließt sich nicht dieser Nympha-Bildtradition, wenn
auch bescheidener und auch schon mal moralisierend: Als Beispiel aus der Zeit der
Hochrenaissance mag hier Albrecht Dürers (1471 – 1528) Venus und Amor als Honigdieb dienen (Abb.47), das die Göttin (in wehendem Kleide) spielerisch sagen lässt,
Cupido empfange auf diese Weise nur den Schmerz eines Bienenstichs, wie umgekehrt
er anderen mit seinen Pfeilen nach kurzer Freude tiefe Schmerzen zugefügt habe.
Aus der großen Zahl der Vertreter des Barock, die sich mit den antiken MythenThemen befassten, möchten wir besonders Nicolas Poussin (1594 – 1665) anführen, der
den französischen ,style classique’ (im Gegensatz zur barocken Illusionsmalerei)
repräsentiert, nicht nur weil er als Franzose den größten Teil seiner Schaffensperioden
in Rom an den Quellen antiker Bildwelten studierte und wirkte, sondern weil auch er
sich, der als der klassische Darsteller des Edlen und tiefer Gedanklichkeit gilt, der
Ausstrahlung und Wesenskraft dieser Nympha-Figur nicht verschlossen hat. Zurecht
weist Jacques Thuillier darauf hin, dass „le lyrisme de Poussin ne peut se séparer d’un
certain érotisme“151. Insbesondere aus der ersten Hälfte seiner Karriere gibt es
zahlreiche entsprechende Beispiele, etwa die schwebend tanzende Flora in L’Empire de
Flore (1631) oder in den Bacchanalien. Aber auch in seinen religiösen Serien findet sich
abseits aller Meditation über göttliche Mysterien das Menschliche. Erwähnenswert ist in
diesem Zusammenhang sein Sakrament der Letzten Ölung, in dem er das Gnade
verleihende Zeichen darstellt und dieses an der rechten Bildperipherie mit einer
Nympha-Figur wie Ghirlandaio (in wallendem Gewand, in kesser Haltung und mit
herausforderndem Blick) sozusagen ohne Not ergänzt (Abb.48a und Abb. 48b).
151
Thuillier, Jacques: Poussin en 1994. In: Sommaire, Dijon, Nr. 21, Oktober/November 1994, S. 5 – 21,
hier: S. 8.
100
Abb.48a: Nicolas Poussin, Sakrament der Letzten Ölung,
Öl auf Leinwand, 1638 – 40 (?)
Abb.48b: Sakrament der Letzten
Ölung, Detail
Gilles Chomer152 hat sicher recht, wenn er als die beiden stilistischen und thematischen Pole, die das Werk Poussins durchziehen, das von venezianischem Colorit
bestimmte mythologische Sujet sowie das strenge, von religiösem und akademischem
Denken und Fühlen geprägte Thema beschreibt. Die Nympha steht hier für die
Lebenslust, die Sinnesfreude, die auch in der größten Not nicht unterdrückt werden
kann: Salbung mit geweihtem Öl und Gebet der Beteiligten bestimmen den
formgerechten Ablauf bzw. Vollzug des Sakraments, der zum Erhalt der heilig
machenden Gnade erforderlich ist. Poussin stellt dies in seiner charakteristischen Weise
überhöht idealistisch dar – und gleichzeitig wagt sich in diese Szene das Diesseitige mit
der Energie geladenen, jungen Frau, die es auf den Jungen neben ihr abgesehen zu
haben scheint. Die durchaus strenge Ordnung der Komposition wird durch eine –
nunmehr „verkleidete“ – Nymphe aus seinen früheren Bacchanalien unterlaufen.
Wir können den Barock jedoch nicht passieren, ohne im Zusammenhang mit der
Nympha Peter Paul Rubens (1577 – 1640) zu erwähnen. Sein Werk ist ein gewaltiges
Aufarbeiten mythologischer Themen, wobei die zahllosen Frauengestalten, berstend vor
Fleischlichkeit, wenig mit der aufrechten, stolzen Sinnlichkeit der RenaissanceDarstellungen gemeinsam haben. Die Nymphen und Göttinnen sind seinem
Zeitgeschmack entsprechend durchweg nackt und üppig, sie bewegen sich nach allen
Regeln der Kunst, dem hellenistischen Schönheitsvorbild aber entsprechen sie
,lediglich’ inhaltlich, nicht mehr bildlich. Demgegenüber bleibt Jan Boekhorst (1605 –
1668) in Merkur erblickt Herse (Abb.49), wenn auch die Farbkomponenten stark die
Nähe zu Rubens signalisieren, mit seiner Hauptdarstellerin Herse (eine der drei Töchter
152
Chomer, Gilles: Autour de Poussin, Pastiches, Influences et Héritage. In: Sommaire, a.a.O., S. 52 - 65,
hier: S. 54.
101
des Kekrop), die von Merkur unter deutlichen Hinweisen Amors begehrt wird, stark der
selbstbewussten, siegessicheren Nympha-Gestalt in wehendem Gewand verhaftet.
Abb.49: Jan Boekhorst, Merkur erblickt Herse,
Öl auf Leinwand, um 1650
Abb.50: Jan Brueghel d.Ä. und Hendrick van Balen,
Allegorie des Herbstes, Holz, 1616
Diana, des Mythos sportliche Jägerin, umgibt sich in ihrer Abwehrhaltung gegenüber
Männern gern mit Nymphen; ein gefundenes Szenario für die Maler der Renaissance,
das gewünschte erotische Sujet zu legitimieren, wie es zum Beispiel Jan Brueghel d.Ä.
(1568 – 1625) mit Diana und ihre Nymphen nach der Jagd am Badeufer, wo man sich
natürlich entblößt erfrischen muss, festhält. Ausführlicher noch beschäftigt sich Jan
Brueghel d.Ä. mit dem Nymphabild in seinen vier Jahreszeiten-Allegorien, in denen
jeweils Ghirlandaios Lastentragende auftritt, als wenn der alles erneuernde Frühling vier
Mal im Jahr zu verkünden ist. Die Nympha begleitet jeweils die Hauptfigur der
Allegorie – im Herbst ist es Bacchus (Abb.50). Der große Aufwand der Allegorisierung
sollte uns jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass Nympha als Folge der stark
verweichlichten Szenerie fast all ihren ursprünglichen Stolz und begehrliche
Ausstrahlung vermissen lässt.
Auch die Romantik hält sich von dem Nymphenbild nicht fern. Werfen wir dazu
einen Blick auf den Schweizer Arnold Böcklin (1827 – 1901), der als ,Deutsch-Römer’
– wurzelnd in den deutsch-romantischen Sehnsüchten und Gefühlen – für seine idealen
Wirklichkeiten den antiken Mythos als Hinweisform nutzt, um romantisch-subjektive
Lebenserfahrungen malerisch zu beschreiben. In seinen erdrückenden Naturbildern
taucht zum Beispiel die Nymphe mit dem Zentauren auf, eine Szene, die Werner
Hofmann „exilierten Mythos“ nennt153, um zu unterstreichen, dass diese Geschöpfe
Projektionen idealistischer Wunschvorstellungen sind. Er aktiviert die Nymphe als
153
Hofmann, Werner: Mythos im Exil. In: Öffentl. Kunstsammlung Basel / Kunstmuseum, AK Arnold
Böcklin – Eine Retrospektive. Edition Braus im Wachter Verlag, Heidelberg 2001, S. 26.
102
Bedürfniselement für die aktuelle romantische Lebensform gegen den wachsenden
Materialismus seiner Zeit.
Eine eindrucksvolle Synthese aus antikem Vorstellungsgehalt und Arnold Böcklins
aktueller Sehnsucht nach Vertiefung in Einsamkeit liefert uns sein Odysseus und
Kalypso: Die antike Nymphengestalt verharrt in Liebessehnsucht nach dem
abgewandten und entrückten Odysseus (Abb.51). Das wallende Gewand ist aufs
Äußerste reduziert, die lebende Bewegung aufgelöst in eine schaustellerische, Begehren
signalisierende Haltung, die zwar auf den Kern des Nymphencharakters, die Lust, die
Lebensbegierde zurück geht, diesen jedoch verbiegt zu einer schmachtenden
Weiblichkeit, die neben dem wie ein verlassenes Phallussymbol wirkenden,
entgeistigten, monumentalen Odysseus selbst zur Ikone der Einsamkeit und des
Ausgegrenztseins wird. Nymphas Verführungskünste reichen offenbar nicht aus, den
Helden zum Bleiben zu bewegen. Arnold Böcklin benutzt das antike Themengerüst der
Nympha für seine Aktualität, für die Entwicklung seiner persönlichen suggestiven
Bilderwelt, in der sich Traumhaftes, Schemenhaftes und Unwirkliches mit begehrlicher
Stofflichkeit irritierend begegnen – in unserem Beispiel durch die diagonal geführte
Felsspalte getrennt.
Abb.51: Arnold Böcklin, Odysseus und Kalypso, Tempera auf Holz, 1882
Zwischen Romantik und dem beginnenden Realismus Mitte des 19. Jahrhunderts
treffen wir eine weitere Eigenart des Umgangs mit dem historischen Nympha-Mythos
an. Honoré Daumier (1808 – 1879) benutzt in seinem Lithografie-Zyklus Histoire
Ancienne das auch zu seiner Zeit sehr geläufige Vorstellungspotenzial der antiken Figur,
um die aktuell dominierenden Lebensumstände in Frankreich satirisch zu kommentieren. Mit Äneas und Dido (Abb.52) parodiert er das nach der Juli-Revolution 1830
103
herrschende Großbürgertum in dessen Arroganz und Aufgeblasenheit. Nympha
erscheint uns hier erneut mit wehendem, langen Haar und wallendem Gewand als die
karthagische Königin Dido in den Armen des behelmten Äneas, erwartungsvoll und
aufgewühlt – aber ebenso wie ihr Partner als Witzfigur, das Genre satirisch überbetont,
auf dem Wege in die Höhle, um das Feuer zu stillen, wie es im Begleittext heißt.
Vorbildgebendes antikes Bildungsgut und Wirklichkeit klaffen im Sinne einer
soziokulturellen Satire weit auseinander.154
A protective fog
darkened the sky;
As they were both
without umbrellas
Into a dark cave he
took his friend,
And on that day,
Aeneas’ fires were lit
(Aeneis)
Abb.52: Honoré Daumier, Äneas und Dido,
Lithografie, 1842
Abb.53: Gustav Klimt Judith II,
Öl auf Leinwand, 1909
Wir haben mehrfach den Aufbruch in ein neues Kunst-Jahrhundert um 1900
angesprochen. Die Entwicklungen in Frankreich und Deutschland, aber auch um James
Ensor (1860 – 1949) oder Edvard Munch (1863 – 1944) und ihr z.T. düsterer
Symbolismus können hier nicht alle angesprochen werden. Für unseren NymphaKontext aber möchten wir doch die Einzelstimme Gustav Klimts (1862 – 1918), eines
Zeitgenossen der Letztgenannten herausheben, weil diesem Wiener das ,Weibliche’ –
fern aller sozial kämpferischen Auseinandersetzungen jener Jahre – das eigentliche
154
Die Geschichte von Dido und Äneas berichtet Vergil in seiner Aeneis. Auf seinen Fahrten zum
späteren Rom trifft er in Karthago auf die dortige Königin Dido, die er, obwohl mit ihr in Leidenschaft
verbunden, auf Göttergeheiß verlässt, was die verzweifelt Verlassene mit selbst gewähltem Tod durch
Schwert und Feuer beantwortet. – Zu weiteren Details betr. Daumiers historischen Zyklus siehe
Schroeren, Nina: Mythologie als Gesellschaftskritik. In: Tepe, Peter et al.: a.a.O., S. 70 – 76.
104
Faszinosum war. Weniger interessiert uns hier die lange Reihe femininer Repräsentationsbilder kühler Kultiviertheit, vielmehr ist die geringere Anzahl stark emotional
beherrschter Werke, in denen die Frau als ,mythische Rollenträgerin’ aufscheint, für uns
von Bedeutung. Nymphas Konturen, verpackt als Allegorie im ornamentalen Jugendstil,
sind bei Judith II (Abb.53) der Mänade entlehnt.155 Die halbnackte Figur steht als Judith
nach der Tat mit dem abgeschlagenen Kopf des ihr israelitisches Volk bedrohenden
Holofernes (in dessen Haaren haben sich ihre Hände verkrampft) mit offenem
schwarzen Haar und langem Gewand vor uns. Gleichzeitig erinnert uns ihre wie im
Tanz erstarrte Haltung an die neutestamentarische Salome, und für manchen Betrachter
war trotz der anderen Benennung Klimts vielmehr diese abgebildet. Jedoch gleichgültig,
ob Klimts Judith nun den eigenhändig getöteten Holofernes aus edlen Motiven auf dem
Gewissen hat oder für das Ende Johannes des Täufers verantwortlich ist, bei Klimt
gelingt die Kontamination dieser beiden biblischen Gestalten durch eine starke
Erotisierung des Motivs, dem er durch das ornamentierende Arrangement die Spitze zu
nehmen versucht. Dennoch bleibt ein gefährlich Verführerisches dem Betrachter
erhalten, das durchaus an die Judith-Vorstellung des beginnenden Jahrhunderts einer
Femme fatale mit deren Verstrickung in Sexualität und Tötung erinnert.156 Klimt
verwendet das mythische ,Motiv’, den Typus Nympha, für seinen männlichen Blick der
Jahrhundertwende auf das diabolisch Unwiderstehliche der Frau. Man könnte meinen,
dass ein gewisser Medusa-Schrecken von dieser Gestalt ausgeht, obwohl – sozusagen
rollenvertauscht – hier Judith den abgeschlagenen Kopf in der Hand hält und nicht der
männliche Held Perseus (vgl. auch den folgenden Abschnitt ,Die Medusa’). – Wir
wollen abschließend zu Klimt nicht unerwähnt lassen, dass in anderen Klimtschen
Motiven die völlige Ablösung vom historischen Vorbild vollzogen wird, in denen das
Maß von Dekoration und Harmonie geradezu übertrieben wird, z.B. in seinen Porträts
oder in Der Kuss (1908).
Auch die NS-Kunst hatte ihre Nympha, allerdings wird dort ihre erotische
Ausstrahlung gezielt für ein spezifisches Frauenbild eingesetzt, das gegenüber dem
männlichen Herrschertyp (vgl. etwa den Prometheus bei Arno Breker) zwar
ausdrücklich bedeutend, aber doch eindeutig dienend erlebt und dargestellt wurde.157
155
Pessler, Monika; Trummer, Thomas: Porträt und Pose, Zum ,femininen’ Repräsentationsbildnis der
Jahrhundertwende. In: Natter, Tobias G.; Frodl, Gerbert (Hg): Klimt und die Frauen, Katalogbuch,
DuMont, Köln 2002, S. 149.
156
Hammer-Tugendhat, Daniela: Judith. In: Natter, Tobias G.; Frodl, Gerbert (Hg): Ebd., S. 220 – 225.
157
Die Frau wird außerdem oft auch – abgehoben – als selbstherrliche Rassefigur oder als Bäuerin
(wiederum dienend) dargestellt.
105
Wenn Johann Schult (1889 - ?) zum Beispiel Im Lebensfrühling malt, dann haben sich –
wie bei Najaden zu erwarten – am Badeufer, das wir ausgiebig seit der Renaissance
kennen, zwar wie immer weibliche Darstellerinnen versammelt, ihre LebensquellSymbolik ist jedoch in unnatürlicher Nacktpose erstarrt (Abb.54). Dem Voyeurismus
preisgegeben, wirken diese Figuren in ihrer Passivität wie einer Lehranleitung für
Aktmalerei entnommen, ihre Körperlichkeit ist zu einer Geschlechtsschablone
verkommen, ausgestattet mit Verlobungsring und zeitgemäßen Frisuren. Stefanie Poley
zieht den Vergleich zu den Frauendarstellungen im ,Paris-Urteil’ (z.B. auch zu NSZeiten bei Ivo Saliger – 1939), in denen die Frauen auf eine männliche Auswahl für
ihren „Lebenssommer“ warten158. Der hier dargestellte ,frühlingshafte Lebensquell’ hat
mit dem selbstbewussten, sinnesfrohen Nymphendasein schon kaum mehr das
Äußerliche gemeinsam; mit Sicherheit fehlt gänzlich deren Ausstrahlung. Selbst die
Berufung auf spätromantische Vorbilder (Böcklin) wird weitgehend ad absurdum
geführt. Es ist bezeichnend, dass auch noch in späteren Kriegsjahren dieser Bildtypus
verherrlicht wird, denken wir etwa an die Allegorien Josef Thoraks (1889 – 1952), z.B.
Das Licht, 1942 – 45.
Abb.54: Johann Schult,
Im Lebensfrühling, 1942
Abb.55: Francis Picabia,
Les baigneuses, Öl auf Karton,
ca. 1942
Wie weit die Verfremdung des Nympha-Bildes an dieser Stelle getrieben wurde,
zeigt ein interessanter Vergleich mit den Akt-Arbeiten Francis Picabias (1879 – 1953),
die dieser in den Kriegsjahren – sozusagen zeitgleich – erstellte. Zahlreiche Motive
dieser Periode hat Picabia ganz offensichtlich einschlägigen Magazinen entnommen und
158
Vgl. Poley, Stefanie: Rollenbilder im Nationalsozialismus – Umgang mit dem Erbe, Bock, Bad
Honnef 1991, S. 45.
106
die dortigen Fotografien in der Art von Werbeplakaten mit Pinsel und Öl auf Karton
und Leinwand übertragen. Für manchen Beobachter spiegelte sich hierin allein
affirmative Zustimmung; allerdings darf man nicht in der schroff-herben Linienführung
zur Körpergestaltung, in den kräftigen, rostigen Farben der nackten Haut und in der
abstrahierenden Art der Hintergrunddarstellung eine künstlerische Umbildung der
fotografischen Vorlage hin zu Gelassenheit und Lockerheit übersehen – für manchen
auch mit ironisch provokativen Nuancen durchsetzt (vgl. Abb.55: Les baigneuses).
Picabia prägt hier ein Nymphenbild, dessen Körperlichkeit auf die ursprüngliche
Nymphe zurück verweist: Roberto Ohrt kommentiert dies, mit seinem Vergleich zur
NS-Malerei: „Picabia entwickelt den Körper mit einer Selbstverständlichkeit, die sich
gegen eine kultische Vereinnahmung sperrt und gleichzeitig jene verklemmte
Zurechtweisung sprengt, die die Militarisierung der Körper im häuslichen Rahmen als
ein anständiges Idyll der Harmlosigkeit begleiten sollte“.159
Abb.56: Oscar Dominguez, Mannequin,
s/w-Fotografie von Denise Bellon, 1938
Abb.57: Marcel Duchamp,
Schaufenster-Installation für
Bretons Arcane 17, Detail, 1945,
s/w-Fotografie von Maya Deren (?)
Nympha fehlt es andererseits nicht an Verführungskünsten, wenn sie im Dienst des
direkten Verkaufs als Schaufensterpuppe auftritt. Dies beschreibt 1938 eine Gruppe
Pariser Surrealisten, die die zwielichtige Funktion von Schaufensterpuppen zwischen
Verkäuferinnen und Straßenmädchen während ihrer Ausstellung in der Galerie Georges
Wildenstein beleuchten. Wir stellen hier das Beispiel Mannequin von Oskar Dominguez
(1906 – 1957), fotografiert 1938 von Denise Bellon (Abb.56), neben Marcel Duchamps
159
Ohrt, Roberto: Avantgardistische Falten und realistisches Kunstlicht. In: Felix, Zdenek (Hg): Francis
Picabia, Das Spätwerk 1933 – 1953 mit Texten von Sara Cochran, Roberto Ohrt, Arnault Pierre, Hatje,
Ostfildern-Ruit 1997, S. 16.
107
kopflose Schaufensterpuppe aus seiner Schaufenster-Installation für Bretons Arcane 17
des Gotham Book Mart aus dem Jahr 1945 (Abb.57).
Dominguez personifiziert die Verführung im Charakter der Pop Art – geradezu
voyeuristisch platt. Die verführerische Schaufenster-Verkäuferin, ein Plagiat des geltenden Schönheitsideals, das im Inneren der Straßenpassanten verankert ist, signalisiert im
großen Schaufenster der Metropolen mit posenhafter, erotischer Weiblichkeit
Verfügbarkeit der Ware und damit auch Übertragbarkeit ins individuell Private.160 Die
Puppe war u.a. Teil eines von 16 künstlerischen Mannequins besetzten Korridors Les
plus belles rues de Paris, hinter denen jeweils ein Straßenschild angebracht war, hier in
unserem Fall: „Rue de la transfusion de sang“. Die verführerische Zwielichtigkeit der
Puppe wurde durch diesen erotischen Hallengang transfundiert und verdoppelt. Nympha
als Straßenmädchen im Sinne der surrealistischen Revolte gegen die normative
Psychologie, gegen sowohl Gebrauchs- wie auch Tauschwert!
Bei Duchamp wird die nymphanische Verführung insbesondere durch den metallenen Wasserhahn am rechten Oberschenkel der Puppe verwirrend inszeniert (Nymphas
wallendes Gewand ist erheblich ,reduziert’). Dieser Wasserhahn ist geradewegs
gerichtet auf den in der Spiegelung der Scheibe erscheinenden Kopf des Künstlers. Es
ist verschiedentlich darauf hingewiesen worden, dass diese und weitere SchaufensterDekorationen Duchamps dessen konsequente darstellerische Entwicklung zwischen
dem Großen Glas (s. Kap. IV) und seinem Spätwerk Gegeben sei:1. Der Wasserfall/2.
Das Leuchtgas (1945 – 1966) darstellen. Sie betonen einmal die grundsätzliche
Allgegenwärtigkeit des Erotischen in Duchamps Werk, zum anderen seine Enthüllungsund Verstellungs-Methodik bezüglich dieses Themas: Wir werden in Kap. IV in
Zusammenhang mit dem Großen Glas die geschlechtliche Alter-Ego-Situation – herauf
beschworen u.a. durch die drei trennenden horizontalen Glasplatten – erörtern; in
diesem Schaufenster kann der Wasserhahn durchaus einen maskulinen Wasserstrahl
symbolisieren, der das dargestellte Geschlecht verändert, ein Wasserstrahl, der später in
160
Katharina Sykora weist darauf hin, dass „mit der Fotografie [und den heutigen Zustellkatalogen] die
scheinbar lebensechte, ideale Verkäuferin, die moderne Schaufensterpuppe in die Häuser“ Einzug hält.
Sykora, Katharina: Ware Verführerin – Die surrealen Verlockungen der Schaufensterpuppe. In:
Grunenberg, Christoph; Hollein, Max (Hg): Shopping, 100 Jahre Kunst und Konsum, Hatje Cantz,
Ostfildern-Ruit 2002, S. 132. – Es konnte im Rahmen dieser Arbeit nicht geklärt werden, ob die
Fotografie definitiv von Denise Bellon ist oder – wie im „AK Surrealismus 1919 – 1944“ angegeben –
von Raoul Ubac auf der Exposition Internationale du Surrealisme, Jan./Fev. 1938, für die Duchamp als
Générateur-Arbitre für die Galerie Beaux Arts, Paris, agierte, gemacht wurde. Vgl.: Spies, Werner;
K20 Kunstsammlung NRW, Düsseldorf (Hg): Surrealismus 1919 – 1944, Hatje Cantz, Ostfildern-Ruit
2002, S. 85.
108
Etant donnés als Wasserfall den Hintergrund zu einer spreizbeinig positionierten
Nackten bildet – erkennbar durch ein verengendes Schlüsselloch.161
Wiederum gleichzeitig zu den oben angeführten NS-Beispielen arbeitet der Surrealist
Max Ernst (1891 – 1976) – 1940 auf der Flucht in Südfrankreich – an seiner Nympha
Marlene (Frau und Kind), Abb.58. Neben Europa nach dem Regen I und II ist dies
eines seiner letzten Werke, bevor er mit Peggy Guggenheims Hilfe 1941 Europa
verlassen kann.
Das Bild zeigt den uns inzwischen geläufigen Frauentyp mit langem Haar, halbnackt,
diesmal in wehendem steinzeitlichen Umgehänge – in einer seiner neuen Techniken, der
Dekalkomanie, – hergestellt.162 Ernsts Verführerin kann man durchaus als Marlene
Dietrich erkennen, die bereits vier Jahre früher in die Vereinigten Staaten emigriert ist.
Die von ihr an die Hand genommenen Vögel sind höchstwahrscheinlich Gleichgesinnte,
inklusive des Künstlers selbst, die ihr auf dem Weg in die amerikanische Zukunft
folgen. Der Vamp erhält als Folge seiner realistischen Lebensumstände eine additionelle
Funktion im Sinne eines handlungsweisenden Vorbilds. Ernsts neues Herstellungsverfahren verleiht der Szene etwas unterschwellig Bedrohliches, was der politischen
Entwicklung jener Jahre entspricht. Die Sinnlichkeit der Nympha-Marlene und ihr
unsicher-aktives Einbringen in eine Schutz- bzw. Hilfssituation relativieren die
Bedrohung im Sinne eines Hoffnungsschimmers.
Abb.58: Max Ernst, Marlene (Frau und Kind),
Öl auf Leinwand, 1940/1
161
Vgl. Adcock, Craig: Duchamps Eroticism: A Mathematical Analysis. In: Küenzli, Rudolf; Naumann,
Francis M. (Hg): Marcel Duchamp, Artist of the Century, MIT Press 1989, S. 149 – 167. Bzw.: Girst,
Thomas: Diese Objekte obskurer Begierden – Marcel Duchamp und seine Schaufenster. In: Grunenberg, Christoph; Hollein, Max (Hg): Shopping, Hatje Cantz, Ostfildern-Ruit 2002, S. 142 – 147.
162
Bei diesem Verfahren wird die Ölfarbe mittels einer (meist Glas-)Fläche auf den Malgrund gepresst;
beim Lösen der Glasplatte entsteht schlierenartig das Pelzig-Mooshafte der Darstellung.
109
Wir werden an anderer Stelle die mythologischen Bezüge von Joseph Beuys näher
betrachten (s. Kap. IV b 2.2.3), in diesem Zusammenhang aber muss erwähnt werden,
dass er sich als einer der bedeutendsten Künstler der zweiten Hälfte des letzten
Jahrhunderts auch unserer antiken Nymphengestalt zuwendet. Seine Aktrice (Abb.59),
eine nach rechts auf einer Welle heranwehende Frauengestalt mit langen, offenen
Haaren, bezeichnet er als „göttliche[n] Botschafter und mythische[n] Mittler zwischen
Himmel und Erde“163. Nach Gottlieb Leinz164 möchte Joseph Beuys diesen und anderen
vergleichbaren Figuren ein bestimmendes, heroisches Auftreten mitgeben: „Als
Naturgöttin … tituliert Beuys diesen Typus der Sturmgöttin auch als Diana.“
Abb.59: Joseph Beuys, Aktrice,
Öl auf Papier, 1961
Abb.60: Pipilotti Rist, Ever is Over All,
Video-Still, 1997
Die Mänade als Nympha-Gestalt meldet sich auch in einem SlowmotionVideoauftritt bei Pipilotti Rist (geb. 1962) sehr aktuell in Zürich zu Wort: Ever is Over
All (Abb.60). Das antike Attribut des Stabes mit Pinienzapfen dient hier einem
dunkelhaarigen, lächelnden Mädchen in roten Schuhen und schwingendem blass-blauen
Kleid zum Zertrümmern von Scheiben mehrerer am Straßenrand geparkter Autos –
nicht aus Versehen, sondern selbstverständlich, wie in Trance, völlig entspannt in der
Musik, beschwingt in nahezu tanzender Bewegung vor dem im Hintergrund
ablaufenden zweiten Tape, das Blicke in eine sommerliche, unberührte Natur öffnet.
Die Aktion befreit sie, gleichzeitig wird ihr die freundliche Zustimmung eines
Polizisten zuteil, der sich später als Polizistin herausstellt und ebenso befreit lächelt.
Das Mädchen bleibt unbedroht, als Frau völlig emanzipiert. Rist bemüht das verborgene, latent in unserem Gedächtnis ruhende Nympha-Mänaden-Bild mit seiner getriebenen Leidenschaftlichkeit zur Darstellung des einzufordernden Selbstverständnisses
163
164
Glyptothek München: a.a.O., S. 28.
Ebd., S. 28.
110
einer Frau, die nicht im Mainstream der Medien „verarbeitet“ ist, die im Gegenteil
etwas für sich – ihre Freiheit – zurück gewonnen hat. Für Rist „besteht ein Defizit an
Bildern wilder und selbstbewusster Frauen“.165
Abb.61:Witaly Komar & Aleksandr Melamid,
Der Ursprung des Sozialistischen
Realismus, Öl auf Leinwand, 1982/3
Abb.62: Alberto Abate,
Salome (Verso),
Öl auf Leinwand, 1992
Die Postmoderne ist reich an dem Nympha-Bildmotiv, wie einmal Witaly Komar
(geb. 1943) & Aleksandr Melamid (geb. 1946) mit Der Ursprung des Sozialistischen
Realismus (Abb.61) oder zum anderen Alberto Abate (geb. 1946) mit Salome (Abb.62)
bestätigen. Fast wie bei Jean-Auguste-Dominique Ingres kost die Muse den Diktator,
um dabei jetzt den offiziellen Stalin-Kult als Kitsch zu demaskieren und der Ironie des
Künstlers auf dem Wege in die Perestroika freien Lauf zu lassen.166 – Als eine der
ersten vollziehen die italienischen Transavantgardisten den Schritt in die Postmoderne.
Dazu zählen u.a. Carlo Maria Mariani (geb. 1932) und Abate, die im Rückgriff auf
antike Mythenbilder, christlich-mythologische Akteure und Aktionen, kulturgeschichtliche Ereignisse verschiedener Epochen oder durch ,Aneignung’ bereits bekannter
bildlicher Vorläufer mit überlieferter Sinnstruktur ihre eigene subjektive Formulierung
suchen. In diesem Zusammenhang nutzt Abate im Stile des geheimnisträchtigen Symbolismus für seine tanzende Salome das Nympha-Motiv. Erotisch dominierend und in
ihrer – derart figürlich stilistisch anachronistischen – Vollkommenheit wie eine Trotzaktion auf die zeitgenössische Kunst daher schwebend, wird sie trotz der eingebauten
Provokation bei manchen Beobachtern in die Nähe neoklassischen Kitsches geraten.167
165
Rist, Pipilotti im Gespräch mit Christoph Doswald. In: Kunstforum International, Bd. 135 (Okt. 1996
– Jan. 1997), Ruppichteroth, 1997, S. 206 – 212, hier: S. 211.
166
Die Szene erinnert stark an das Gemälde von Jean-Auguste-Dominique Ingres Zeus und Thetis: Zeus
in der Pose der Unerschütterlichkeit der herrschenden Klasse, Thetis als Nymphen-Schlange, deren
Verführungsmacht sich allerdings an der Obrigkeit brechen soll. Nympha zeigt bei Ingres und bei
Komar & Melamid ihre verführerisch-gefährliche Seite, bei letzteren demonstrativ mit Ironie gespickt.
167
Die hier als neoklassizistisch bezeichnete Variante der postmodernen Bewegung in Italien wird wegen
ihrer emblemhaften Chiffrierung als Arte Cifra, manchmal auch als Arte Colta bezeichnet.
111
Die Nymphen-Geschichte wird nicht enden: Nympha schwebte schon mänadengleich
als Friedrich Drakes Siegesengel über Berlin (Abb.63) und als Rolls Royce-Kühlerfigur
„Emily“ (Abb.64) durch unsere Straßen. Es fällt schließlich nicht schwer, sie in vielen
der aktuellen Werbebilder als Produkt-Mythen unterstützende junge erotische Frau mit
wehendem Haar und Gewand wieder zu erkennen – wie ehemals für Dionysos oder
Diana, nunmehr als Lastenträgerin für Underberg (Abb.65) oder Chanel (Abb.66).
Abb.63: Siegessäule, Berlin, 1873
Abb.65: Underberg, 2002
Abb.64: Emily, Rolls Royce, seit 1911
Abb.66: Chanel, 2004
Wenn wir nach dieser immer noch bescheidenen Auswahl der Beispiele aus einer
nahezu unendlichen Nympha-Geschichte ein Resümee ziehen, so fällt als erstes die
große Spannbreite der Verwandlungsmöglichkeiten dieser Erscheinung durch alle
geschichtlichen Phasen hindurch ins Auge. Die Vielzahl der Möglichkeiten zur
Interpretation eines solchen Phänomens ruft die Frage auf den Plan, ob es sich
tatsächlich um ein und dasselbe gehandelt hat, oder anders formuliert, ob es sich bei all
diesen Ausdrucksformen um Abbildungen von etwas Authentischem, einem unverwechselbaren Mythen-Kern oder nur um die künstliche Versammlung voneinander
unabhängiger Typologien gedreht hat. Allerdings möchten wir uns hier an Aby
Warburgs Vermächtnis halten, um sehr wohl einen solchen originären, singulären
112
Mythen-Kern einer Nympha – doppelt verstanden als Schöne und als schöne Siegende –
zu lokalisieren und nach allen zitierten Beispielen in ihr eine der griechischen
Vorstellungswelt entnommene schöne junge Frau, natur- und sinnesbezogen,
Geschlechter in Spannung haltend und selbstbewusst auftretend, zu erkennen. In
Erinnerung an Roland Barthes’ Mythenschema verbinden sich das Weibliche
(Bedeutendes/Signifikant) mit jugendlicher, freizügiger, sinnesbetonter Schönheit
(Bedeutetes/Signifikat) zu dem „Zeichen“ der herausfordernd schönen, sinnesfreudigen,
jungen Frau, die den antiken Nymphen in nichts nachsteht, die Dionysos oder Diana
umgeben haben. Auf diese Weise ist der Mythos-Ursprungsstoff, das Nymphische
definiert, dessen Substanz in der überlieferten Geschichte begründet ist.168 Diesem
„Zeichen“ werden nunmehr im Transformationsprozess neue Signifikate (Bedeutete)
hinzugefügt – und die jeweils aktuelle Nympha entsteht. Dieses gegenwärtige, aktuelle
Signifikat enthält alternativ alle Gradierungen des Erotischen und der Verführung, der
Sinnesfreude, der teilnehmenden Natur, des göttlichen Status von Überlegenheit und
Sieg, des ideologischen Voyeurismus, der Satire und erklärt sich damit als bedeuteter
Schlüssel für die Transformation auf die zweite Ebene.169 Dabei ist es nur zu
verständlich, wenn eine tatsächlich vorhandene aktuelle Wunsch-Werte-Konstellation
bestätigt (oder insgeheim in Frage gestellt) wird.
Nymphen und Mänaden schaffen dem Mythos lebensnahe Spannung – selbst wenn
das in der NS-Periode propagandistisch im erstarrten Klischee endet. Sie waren zwar
nie die Hauptsache eines antiken Mythos selbst, sie waren und sind aber stets
mythenstützende, schmachtende, quirlige, lebensbejahende, erotische, siegfördernde,
voyeuristische Zusatzelemente; sie waren und sind der „added value“ des Mythoskerns
à la Dionysos oder Diana: als Begehrende oder Begehrte. Selbst mythologische Zeichen
darstellend, helfen die Nymphen in der Werbung das Produkt zum Warenfetisch zu
transformieren.
Bevor wir jedoch unsere Schlussfolgerungen aus diesem Umwandlungsgeschehen
vervollständigen, sollten wir die zweite Transformationsfolge beleuchten.
168
Vgl. hierzu: Lévi-Strauss, Claude G. (1967): a.a.O., S. 231: „Die Substanz des Mythos liegt weder im
Stil noch in der Erzählweise oder in der Syntax, sondern in der Geschichte, die darin erzählt wird. Der
Mythos ist … eine Sprache, die auf einem sehr hohen Niveau arbeitet, wo der Sinn … sich vom
Sprachuntergrund ablöst, auf dem er anfänglich lag.“
169
Nach strenger Barthes-Auslegung wäre diese zweite Formationsebene bereits die dritte Schicht; denn
der Ursprungsmythos (Nympha) besteht an sich bereits aus 2 „Sprachen“: Frau + Schönheit = schöne
Frau (1) + sinnesfreudige Dionysos-Begleiterin = Nympha (2), zu der im Transformationsprozess das
weitere Signifikat (zum Beispiel Victoria oder ideologisch definierte Weiblichkeit) addiert wird.
113
1.2. Die Medusa
Kommen wir also zu der anderen Beispielkette, die uns die Transformationsvorgänge
der Mythen durch die Epochen abermals erhellt, gleichzeitig aber ein Auftauchen in den
aktuellen (Werbe-)Medien bisher – z.B. in einer Art „Benetton-Effekt“ – weitgehend
verweigert: Wir werfen einen Blick auf Medusa und ihr Haupt. Diese Mythengestalt, die
bekannteste aus der Geschwistergruppe der Gorgonen, erlangte ihre Berühmtheit durch
ihren schlechten – der Werbebranche nicht so begehrlichen – Ruf; denn das geläufige
Mythosbild besagt, dass nicht nur ihre ,Frisur’ ein abweisendes Identitätsprojekt
beschreibt, sondern dass darüber hinaus ihr (An-)Blick die Versteinerung ihres
Gegenübers zur Folge habe. Wir werden jedoch sehen, dass diese einfache Formel nicht
ausreicht, ihren Auftritt durch die abendländischen Kunst-Jahrhunderte zu beschreiben.
Ihre schillernde Wandelbarkeit spiegelt sich bereits im Rätselraten über ihr Aussehen
170
wider.
Homer erwähnt allein ihren Status als schreckliches Ungeheuer, später –
insbesondere bei Ovid – gewinnt große Popularität ihr Werdegang von einer ausgefallenen Schönheit zu einer Schreckensfigur, der auf ihr Schäferstündchen mit Poseidon
im Tempel der Athene zurück geht, was diese nicht auf sich beruhen lassen kann und ihr
zur Strafe den gruselig hässlichen Kopf mit Schlangenhaaren zuweist. Dies allein aber
genügte der strengen Athene noch nicht, sodass sie später die Gelegenheit ergreift,
Perseus bei seinem Vorhaben Hilfestellung zu leisten, das Ungeheuer zu enthaupten als
Preis für den Verzicht des Königs Polydektes, seine Mutter Danae zu freien.
Die Verschachtelung des Perseus- mit dem Medusa-Mythos schafft Raum für
zahlreiche, einschlägige mythische Vorstellungsbilder und –welten; denn der Held
schafft es ja tatsächlich, die Schreckliche trotz ihres todbringenden Blickes zu köpfen,
indem er sein Ziel im Spiegel ortet und Medusa sozusagen als Opfer ihres eigenen
bannenden Blickes vernichtet. Er kann sich mit Hilfe seiner Flügelschuhe und seines
unsichtbar machenden Helms vor den rachsüchtigen Schwestern der Gorgo in Sicherheit bringen und dabei das Haupt der Medusa, das Gorgoneion, im Sack (Kibisis)
versteckt mitnehmen. Dieses Gorgoneion wird er künftig als seine Waffe einsetzen –
zum Beispiel bei der Befreiung von Adromeda –, bevor er es seiner Förderin Athene
übergibt, die es schließlich an ihr Ziegenfell-Schild (Aigis) heftet und als Apotropäum
benutzt.
170
Renate Schlesier verfolgt das Erscheinungsbild durch die antiken Quellen von Homer bis zu den
großen Tragödien-Dichtern. Vgl. Schlesier, Renate: Medusa oder: La belle différence. In: Kamper,
Dietmar; Wulf, Christoph (Hg.): Der Schein des Schönen, Steidl, Göttingen 1989, S. 128 – 153.
114
Zahlreiche interpretierende Beiträge haben dieses breite Spektrum mythischen
Materials
und
seine
jeweils
aktuell
bedingten
künstlerischen
Darstellungen
ausgeleuchtet171, sodass wir uns hier auf einige markante Positionen beschränken
wollen. Klaus Heinrich hebt als erste Etappe der Medusendarstellung den geografischkultischen Zusammenhang hervor172. Abgeleitet aus den Muttergottheit-Verehrungen,
die in Nordafrika beheimatet sind, erscheinen maskenhafte Kultdarstellungen; eine der
bekanntesten ist die Selinunter Metope Perseus köpft die Medusa (Abb.67), auf der der
Held die Gorgo köpft, die bereits ihre beiden Kinder Pegasus und Chrysaor schützend in
den Armen hält, obwohl diese doch erst nach der Enthauptung ihrem Hals entspringen
sollen: Eine Verdrehung von Abfolgen, die die Kopfdarstellung als Maske entlarvt. Der
offensichtliche Kultcharakter wird noch zusätzlich durch die Frontalansichten der drei
dargestellten Personen – Medusa, Perseus und Athene – unterstrichen. Durch die VejiMedusa (Abb.68) aus etwa dem gleichen Zeitabschnitt wird die maskenhafte
Kulterscheinung im Sinne von Abwehrzauberkräften nochmals besonders deutlich.
Abb.67: Perseus köpft die Medusa,
Selinunter Metope, Mitte 6. Jahrh. v.Chr.
Abb.68: Gorgoneion, Tempel Antefix,
Veji, Mitte 6. Jahrh. v.Chr.
Ebenfalls in dieser Periode offenbart sich eine andere Qualität der künstlerischen
Formgebung: Auf dem Dinos des Gorgonenmalers (Abb.69) tritt das Narrative des
Mythos hervor, wenn wir erleben, wie nach der Enthauptung der Medusa die
Schreckensschwestern den flüchtenden Perseus zu packen suchen. Der Kultcharakter
der Darstellung ist hier einer Szenenbeschreibung gewichen.
171
Vgl. in diesem Zusammenhang besonders die Hinweise in: Lücke, Hans-K. und Susanne, a.a.O.,
S. 539 – 552. Oder Schesier, Renate: Medusa oder: La belle différence, a.a.O., S. 128 – 153.
172
Heinrich, Klaus: Das Floß der Medusa. In: Schlesier, Renate (Hg.): Faszination des Mythos,
Frankfurt/M. 1985, S. 335 – 398, hier S. 345.
115
Abb.69: Gorgonenmaler. Dinos E 874
Perseus flieht vor den Gorgonen, Anf. 6. Jahrh. v.Chr.
Abb.70: Medusa Rondanini,
ca. 440 v.Chr.
Neben maskenhaftem und narrativem Schrecken entdecken wir ferner auch die
sagenhafte ursprüngliche Schönheit der Medusa. Sie wird uns zum Beispiel durch die
Rondanini-Medusa (Abb.70) vermittelt, der Kopie eines Medusenhauptes, das auf ein
Parthenon-Original zurückgeht. Eine in sich gekehrte, schöne, melancholisch blickende
Mänade mit wolligem Kopfschmuck und angesetzten Flügelchen taucht neben dem
Schrecken erregenden Schlangenkopf jetzt in der klassischen Periode der Hellenen auf.
Abb.71: Duris, Athena, Jason und der Drache,
Schale/Innenbild, Detail, 480 v.Chr.
Abb.72: Pheidias, Athena Lemnia,
Marmorreplik einer
Bronzestatue,
Detail, ca. 450 v.Chr.
Dieser Wandel im Erscheinungsbild – zurück zur originären Schönheitsvorstellung
der Mythengestalt – vollzieht sich auf dem Wege von der Frühen zur Hohen Klassik,
wie ein kleiner Vergleich des jeweiligen Schutzkleidungsstücks der Athena bei dem
Schalenmaler Duris und der Athena Lemnia bei Pheidias zeigt (Abb.71 und Abb.72);
jedoch bleibt der unwiderstehliche, Überlegenheit verschaffende (An-)Blick als
Kernmerkmal des Gorgoneions – abstrahiert von allen schlangenartigen Schrecklichkeiten – auf Athenas Aigis erhalten.
116
Selbstverständlich lässt die Renaissance die Vielschichtigkeit der Medusa/PerseusMythen nicht außer Acht. Ein viel bemühtes, treffendes Beispiel aus dieser Periode des
erwachenden Auslebens weltlicher Fürstenmacht gegenüber Kirche und Bürgern, ist
Benvenuto Cellinis (1500 – 1571) Perseus, den dieser im Auftrag des Medici-Herzogs
Cosimo I. erstellt (Abb.73).
Abb.73: Benvenuto Cellini, Perseus,
Bronzegruppe, Detail, 1545 - 1554
Der Held wird jetzt von der Obrigkeit zur bestimmenden Figur der Plastik gewählt,
weil er wegen seiner unnachahmlichen Erfolge über Medusa, über den die Adromeda
bedrohenden Meeresdrachen und über die Verschwörung des Phineus mit Hilfe des
Gorgoneions als Symbol für zu feiernde Siege und Triumphe bestens geeignet ist. Auf
Cellinis Sockel in der florentinischen Loggia dei Lanzi aber steht kein Schlachten
erprobter, zum Kampf entschlossener Herrscher, vielmehr erkennen wir einen nahezu in
sich gekehrten, melancholischen Athleten mit einem ebenso schönen wie gleichfalls
melancholischen Medusen-Haupt an erhobener Hand, zu dem die stolze Beinhaltung auf
dem gewundenen Medusen-Körper so gar nicht passt. Klaus Heinrich weist in diesem
Zusammenhang darauf hin173, dass Cellini durch diese duale Substanz der Darstellung
seine (fast) ohnmächtige Auflehnung gegen den Auftrag zur Siegespose zum Ausdruck
bringt. Es ist seine artistische Art des Aufbegehrens gegen die aktuelle politische
Vereinnahmung des Perseus. – Es ist wohl nicht unberechtigt, dass man einen
besonderen Akzent der Interpretation zu Cellinis Perseus auf den eindringlich
schwermütigen Ausdruck beider – Perseus’ und Medusas – legt. Wenn auch auf Anhieb
Cellini kraft seines exponierten Lebenswandels zwischen höchster Anerkennung und
Gewalttätigkeit den Betrachter nicht auf die Fährte setzt, mit diesem Standbild die
173
Heinrich, Klaus: Das Floß der Medusa. In: Schlesier, Renate (Hg): a.a.O., S. 335 – 398, hier: S. 355 ff.
117
Melancholie als solche beschreiben oder gar verklären zu wollen, so bietet doch der
Perseus in dieser Form – wenigstens heutzutage – einen derartigen Anlass. Kann doch
Melancholie auch die Tore zur Nachdenklichkeit öffnen, was auch Siegern à la Medici
manchmal gut zu Gesicht stehen würde!
Erneut sind die Beispiele der Medusen-Reflektion sehr zahlreich im Barock. Peter
Paul Rubens (1577 – 1640) in Flandern oder Caravaggio (1571 – 1610) in Italien
gestalten ihren „Medusa-Barock“, indem sie den idealistischen Schönheitsbegriff der
Renaissance im Antlitz der Medusa aufnehmen, aber gleichzeitig ihren Kopf mit Grauen
umzingeln – in einer Radikalisierung des Naturalismus (Abb.74 und 75). Hier erstarrt
Medusa gleichsam in erster Linie vor sich selbst, der Furcht erregende Effekt auf das
Gegenüber bleibt unsichtbar, ist aber sicherlich durch die dynamischen Übersteigerungen bei beiden Künstlern gewünscht und erreicht. Es wird trotz allem dargestellten, hässlichen Grauen kein mythischer Abwehrzauber, vergleichbar den
archaischen Gruselmasken, erzeugt, die Schlangen könnten vielmehr den Kopf, der
doch seinerzeit abschreckenden Schutz gewähren sollte, in Kürze beseitigen. Der
Schrecken an sich wird personifiziert, er wird in einer allegorischen Darstellung
vorgeführt. Das Mythosbild der Medusa wird für das Subjektiv-Erlebbare
zurechtgerückt, das unser Innerstes berühren soll – bei Caravaggio unterlegt mit einem
Aufschrei aus weit geöffnetem Mund, tief liegenden Augen mit starrem Blick und aus
dem Halse strömendem Blut.
Abb.74: Peter Paul Rubens, Das Haupt der Medusa,
Öl auf Leinwand, um 1618
Abb.75: Caravaggio, Medusen-Haupt,
Öl auf einem eigens dafür
gefertigten, mit Leder
bezogenem (Parade-)Schild,
1595 - 1600
Im Falle Caravaggios ist der Gedanke interessant, dass es sich bei der Abbildung –
ein Auftrag des Kardinals Del Monte für den Großherzog Fernando de’ Medici – um
eine Selbstdarstellung des Künstlers handeln könnte. Für die Selbstdarstellung sprechen
118
verschiedene Gründe: Caravaggio steht damit durchaus in der Tradition Michelangelos
(im Jüngsten Gericht hält Bartholomäus die abgezogene Haut mit dem Antlitz des
Künstlers) oder Albrecht Dürers mit dessen leidenden Selbstbildnissen; nach
allgemeiner Einschätzung handelt es sich bei der Medusa ferner um ein Knabengesicht;
schließlich entstehen Selbstbildnisse in der Zeit ohne fotografische Möglichkeiten vor
einem Spiegel, in dem allein – also indirekt, wie wir gesehen haben – Medusas Anblick
zu ertragen ist; und Eberhard König fügt hinzu: „Das eigene Sein als das eigentlich
Entsetzliche zu erkennen, liegt durchaus in der Reichweite eines Künstlers, dessen
Lebensweg wie bei Caravaggio durch Ausbrüche von Gewalt und Anmaßung
gekennzeichnet ist“.174
Abb.76: Filippo und Francesco Negroli,
Paradeschild Karls V., 1541
Abb.77: François Girardon, Ludwig XIV. zu
Pferde, Bronze, um 1690
Auch die Mächtigsten der Mächtigen bedienen sich des Medusa-Bildes: In Abb.76
sehen wir die Gorgo erneut in der Tradition der Abwehrschutz Gewährenden auf einem
Paradeschild Kaiser Karls V. Etwa 150 Jahre später, im klassischen Barock Frankreichs,
wird die Schreckliche dagegen als Besiegte festgehalten: François Girardon (1628 –
1715) erstellt sein Bronze-Standbild Ludwig XIV. zu Pferde (Abb.77). Der strahlende
Sonnenkönig hat nicht nur inneren Widerstand in Frankreich gebrochen und große Teile
Europas besiegt, sondern im Stile eines römischen Kaisers triumphiert er auch über
Medusa: Der linke Hinterhuf seines Pferdes tritt gerade majestätisch das bereits am
Boden liegende, Schlangen gerahmte Gorgoneion nieder (leider gibt das Foto nur einen
flüchtigen Eindruck des Medusa-Kopfes wieder). Girardon allegorisiert in diesem Bild
den absoluten Machtanspruch seines Herrn unter Inanspruchnahme des Schatzes des
antiken Vorbildes. Ludwigs Machtentfaltung wird rational durch die Verdrehung des
ursprünglichen Mythenbildes abgesichert, Medusa gewährt weder Schutz noch hat sie
versteinernde Energien, sie ist selber das unterlegene Opfer.
174
König, Eberhard: Michelangelo Merisi da Caravaggio 1571 – 1610, Könemann, Köln 1977, S. 8.
119
Abb.78: Théodore Géricault, Floß der Medusa, Öl auf Leinwand, 1819
Beim Sprung in die Romantik begegnen wir Théodore Géricault (1791 – 1824) –
ebenfalls in Frankreich – und seinem viel besprochenen Floß der Medusa, benannt nach
der tatsächlich im Juli 1816 untergegangenen französischen Fregatte „Medusa“
(Abb.78)175. Das Medusische erhält jetzt erneut eine abgewandelte Qualität: 150
Matrosen und Offiziere können sich nach der Strandung der Fregatte auf ein Floß retten,
von denen nach schrecklichen kannibalischen Überlebenskämpfen nur 15 gerettet
werden. Einer davon sitzt auf dem Floß dort, wo man den Steuermann am Ruder
vermuten würde, in gebeugter Haltung, den Kopf in eine Hand gestützt und mit der
anderen einen Toten festhaltend, auf jener Seite des Floßes, welche Tod und
Hoffnungslosigkeit wiedergibt. Der Kopf lässt sich als Paraphrase des Medusen-Haupts
mit seinem schlangenartigen Haargewirr unter dem Tuch und dem melancholisch in
sich gekehrten Gesichtsausdruck identifizieren. Der Mann starrt ohne Hoffnung und in
Ausweglosigkeit auf das ihn umgebende Schreckensszenario. Das Erscheinungsbild
dieses Schiffbrüchigen ist zwar der Medusa nachempfunden, dennoch erschreckt nicht
er in erster Linie jemanden, sondern er ist der zu Tode Erschrockene. Man kann sich
fragen, ob Medusas Bann diesmal auf ein Schiffswrack und ein desolates Floß mit
diesem Namen getroffen ist, obwohl realistisch gesehen es sich nicht um Medusas
Verantwortlichkeit handeln kann. Der Schiffbruch, die Hoffnungslosigkeit auf Rettung,
schließlich der Kannibalismus auf dem Floß – all dies spiegelt sich im erstarrten,
medusengleichen Antlitz wider, was auch und vor allem die noch Überlebenden –
womöglich sogar wir, die achtlos Gleichgültigen, nicht unmittelbar Betroffenen – mit zu
verantworten haben.
175
Man darf vermuten, dass das Schiff vordergründig durchaus nach den Medusenquallen mit ihren
langen Fangarmen benannt sein könnte, die allerdings ihrerseits ihren Namen von der antiken Medusa
ableiten können. Vgl. auch Klaus Heinrich: Das Floß der Medusa, a.a.O., S. 339.
120
Schließlich wird hier auch noch der Mythos der großen Revolution – getragen von
Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – entmythifiziert, da nur noch ein Bruchteil der
auf dem Floß Rettung Suchenden nach einem Schiff Ausschau halten, das sie dann
später tatsächlich nach schrecklichen Leiden und mit unvorstellbaren körperlichen und
seelischen Verwundungen noch aufnimmt; denn die Ereignisse kulminierten zusätzlich
noch dadurch, dass sich die Privilegierten an Bord der Fregatte, nur um ihre eigene
Sicherheit bemüht, rechtzeitig auf Rettungsboote abgesetzt hatten und schließlich dann
die auf dem Floß Alleingelassenen zu Kannibalen wurden; Géricaults Gemälde wird zu
dem politischen Bild nach der Französischen Revolution!176 Wenn wir uns vergegenwärtigen, dass zwischen Kuba und Florida oder zwischen Afrika und Italien FloßSchicksale immer noch soziale und politische Katastrophen wiederspiegeln, dann wird
das Medusa-Floß zu einem „zeitlosen Symbol“177, zu einer Symbiose aus (politischem)
Fortschritt und Schrecken. 125 Jahre nach dem Medusa-Untergang sprechen
Horkheimer/Adorno vom Rückfall der Aufklärung in den Mythos.
Abb.79: Michelangelo, Das jüngste Gericht,
Fresko, Detail, 1536 - 41
176
Dieter Bachmann beschreibt ausführlich das Schicksal der Medusa, die am 17.6.1816 die Isle d’Aix
nach Saint-Louis im Senegal verließ und am 2.7.1816 vor der mauretanischen Küste auf Grund lief.
Das Schiff zerbrach und die 390 Passagiere nach Art der Arche Noah zusammengesetzt – Gouverneur,
Soldaten, Ehepaare, Besatzungsmitglieder, die eine neue Kolonie ,besetzen’ sollten – mussten es
verlassen. Nachdem Gouverneur, Offiziere und Begleitungen in Rettungsbooten Sicherheit gefunden
hatten, suchte der größte Teil – 150 Personen – auf einem schnell zusammengezimmerten Floß
(20 x 7 m) Rettung, das von den Booten abgeschleppt werden sollte. Die Verbindungen zwischen dem
völlig überladenen Floß und den Booten wurden sehr bald gekappt und das Floß driftete mit der Ebbe
ins offene Meer. Nach 14 Tagen wurden 15 geschundene Übriggebliebene nach entsetzlichem
Überlebenskampf, der über Meuterei und Mord bis zum Kannibalismus führte, durch die Brigg Argus
gesichtet und übernommen, vier davon starben noch nach der Rettung. Der Gouverneur, der die Idee
des Floßes gehabt hatte, beglückwünschte die Überlebenden zu ihrer Rettung in Saint-Louis. Ein Jahr
später wird der Kapitän statt zum Tode zu drei Jahren Gefängnis verurteilt, die Regierung verweigert
den Floßinsassen Schadensersatz. Vgl. Bachmann, Dieter: The Results of Sinking. In: Memento
Metropolis: Kippenberger/Géricault, Andersens Maskinfabrik, Kopenhagen 1996, S. 107 – 127.
177
Ebd., S. 107.
121
Michelangelo (1475 – 1564) gab mit dem Verdammten (Abb.79) und dem sündigen
Mitfahrer auf Charons Kahn im Jüngsten Gericht (1536 – 41) fast 300 Jahre früher
seinem päpstlichen Auftraggeber bereits eine Antwort auf die Frage nach dem Ursprung
solcher Schreckensszenarien: Wie der noch Überlebende auf der Totenseite des Floßes
von Géricault stützt hier der Verdammte seinen Kopf mit der Hand, das Antlitz des
Höllenqualen Leidenden ist zu Tode erstarrt, diesmal ohne (Schlangen-)Haargekräusel.
Angesichts des Höllensturzes verzehren ihn innere Qualen und Verzweiflung. Sein
Antlitz tritt schon jetzt bei Michelangelo an die Stelle des Medusenhauptes – erstarrt vor
dem selbst verpfuschten Leben, das der Hölle entgegen sieht. –
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts treffen wir einen völlig anderen Medusenbezug in
England an. Edward Burne-Jones (1833 – 1898) erhält 1875 von Arthur J. Balfour, dem
späteren englischen Premierminister (1902 – 1905) den Auftrag, den Empfangsraum
dessen Londoner Hauses – No. 4 Carlton Gardens – auszugestalten. Aus diesem Anlass
entwickelt der Künstler über mehr als 20 Jahre seinen Perseus-Zyklus (inkl. einer
umfangreichen Bearbeitung des Medusa-Stoffes), mit dem er sich bereits vorher
auseinandergesetzt hatte. Er greift dabei direkt auf ,Erzählweisen’ zurück, wie wir sie
bereits in der griechischen Vasenmalerei (vgl. Abb. 69) kennengelernt haben: In dem
von uns hier wiedergegebenen Kompositions-Entwurf zum Tod der Medusa II (Perseus
von den Gorgonen verfolgt, Abb.80) hat Perseus die Medusa bereits enthauptet, ihre
Schwestern beginnen mit ihren schwingenden Flügeln die unkontrollierte Verfolgung,
ohne den behelmten, unsichtbaren Helden genau ausmachen zu können; dieser birgt den
Medusen-Kopf in seinem Beutel und macht sich auf, mit Hilfe seiner Flügelschuhe
übers Meer zu fliehen. Die mythische Szene bestätigt dabei die Erinnerungen an den
christlichen Ritterhelden St. Georg, der ebenfalls den Drachenkampf besteht und die
Prinzessin befreit; bei Burne-Jones vermischen sich antik-mythische und christlichreligiöse Vorstellungen und bieten dem Hause Balfour entsprechende Repräsentation.178
Der Künstler strebt nach eigenen Worten mit dem Bild keine Nachahmung der Natur
an. Er äußert dazu: „Transcripts from nature …? I prefer her own signature... I mean by
a picture a beautiful romantic dream of something that never was, never will be“.179
Kurt Löcher erkennt in dem Perseus-Zyklus als Ganzem den Erlösungsgedanken:
Adromeda und eine bedrohte Stadt werden befreit, ebenso ferner der „unrastige Held
178
Der Heilige Georg, verfolgt durch Diokletian, galt über das Mittelalter hinweg als Sieg bringender
Glaubensheld und Märtyrer; in ihm als dem Schutzpatron Englands fand der Perseus-Mythos seine
Entsprechung.
179
Burne-Jones, Edward; zitiert nach Löcher, Kurt: Der Perseus-Zyklus von Edward Burne-Jones, mit
einem Résumé in englischer Sprache, Staatsgalerie Stuttgart, Cantz, Stuttgart 1973, Anm. 33, S. 34/5.
122
selbst“ und sogar „die an ihrer Tod bringenden Gestalt verzweifelnde Medusa“180. In
Das Schreckenshaupt (1887) entfremdet Burne-Jones später in der Tat das
Medusenhaupt völlig: Die Liebenden Perseus und Adromeda spiegeln sich in einem
Brunnen, der einem Taufbecken ähnelt, wobei sie im Wasserspiegel einem in sich
ruhenden, ausgeglichenen, erlösten Medusenantlitz begegnen, das statt Schrecken
nunmehr Befreiung von allen Qualen und Bedrängnissen ausstrahlt. Dieser Erlösungsaspekt kündigt sich für manchen Beobachter bereits in der (zeichnerisch) ornamentalen
Bestimmung unserer Abbildung mit ihren schlanken, jugendlichen, botticellihaften
Gorgonen-,Schönheiten’ an, die mit den originalen Schreckensgestalten so gar nichts
mehr gemein haben (einer der Gorgonenflügel verdeckt selbst den kopflosen Hals der
Medusa) – ganz im Sinne der Dominanz des Narrativ-Repräsentativen.
Abb.80: Edward Burne-Jones, Perseus, von den
Gorgonen verfolgt, Entwurf, Deckfarbe,
Gold und Federzeichnung auf bräunlichem
Papier, 1875/6
Abb.81: Max Beckmann, Perseus,
Triptychon, Öl auf Leinwand, 1940/41
Schließlich möchten wir noch einige Fälle aus dem 20. Jahrhundert anführen:
In seinem grotesk anmutenden, aber scharf pointierten Realismus stellt Max
Beckmann (1884 – 1950) im Amsterdamer Exil seinen Perseus auf dem gleichnamigen
Triptychon dar (Abb.81). Zwischen holländisch-freizügiger Lebensweise (links) und
deutschem Leben hinter Gittern (rechts) scheint in der Mitte der heldenhafte Perseus
Adromeda traditionsgemäß von dem Drachen zu befreien, nachdem Medusa bereits
besiegt ist. Tatsächlich aber sind beide (Adromeda und der Schlangen-Drache) in
höchster Gefahr vor einem Wüterich. Max Beckmann verformt das traditionelle
Perseus-Bild: Perseus selbst wird in dieser politischen Metapher mit den
Meduseneigenschaften zur tödlichen Versteinerung ausgestattet. Der Künstler politisiert
die Mythos-Figur aus aktuellem Anlass zum wahnwitzigen Mythos der blonden
Schreckenshelden des Dritten Reiches.
180
Ebd., S. 14.
123
Auch Max Ernst ist von der Medusa inspiriert: Er malt 1953 Coloradeau de Méduse
(Abb.82), wobei er für diesen Titel Dada-gemäß ,Colorado’ mit ,radeau’ (Floß)
kombiniert. Es ist aus diesem Bild in gar keiner Weise ersichtlich, welcher Bezug zu der
schrecklichen Gorgo hier bestehen könnte. Es treffen sich in einem samtroten
Wellenberg – von einer vernebelten Sonne beschienen – ein Fisch und eine zur Sphinx
verwandelte Meerjungfrau in geradezu friedvoller Absicht in einer Umgebung
geheimnisvoller Unsicherheiten, und die Sphinx scheint den Fisch küssen zu wollen.
Hier ist einer der vielseitigsten und experimentierfreudigsten Surrealisten am Werk;
vielleicht hat ihn der Wellengang von Géricaults Floß inspiriert, zusätzlich bezieht sich
der Titel wohl auch auf eine von ihm 1948 im Grand Canyon des Colorado Rivers
unternommene Floßreise; die Farbgestaltung der Wellenbewegungen mag an die
rostroten Felswände des gewaltigen Flussbettes erinnern. Noch nicht einmal die Medusa
selbst, sondern nur ihr Name im Titel des Bildes wird benutzt als Erinnerung und
Aufwertung einer spannenden und gefährlichen (touristischen) Flussreise, und doch
kann man vermuten, dass Ernst wie Géricault auf traumatisierende Erfahrungen unserer
Zivilisationsgeschichte verweisen möchte.
Abb.82: Max Ernst, Coloradeau de Méduse,
Öl auf Leinwand, 1953
Abb.83: Frank Stella, Raft of the Medusa,
PartI, Skulptur, Aluminium und
Stahl, 1990
Auch unser nächstes Beispiel erinnert erneut an den französischen Meister, jedoch ist
da wieder ein gewaltiger Unterschied, nämlich diesmal zwischen französischer
Romantik und amerikanischer Minimal/Konzept-Kunst. 1990 erstellt Frank Stella (geb.
1936) sein Raft of the Medusa, Part I (Abb.83). Wenn Stella nicht selbst gesagt hätte, es
ginge ihm allein um das „Ding an sich“181, also um die Form als Form als subjektivem
Ausdruck des Unbewussten – im Gegensatz zu den gewöhnlichen Bildervorstellungen
181
Lucie-Smith, Edward: a.a.O., S. 78.
124
der vorausgegangenen Pop Art –, dann käme man ohne diesen Titel zunächst wohl
kaum auf die Idee, an ein besiegtes, erstarrtes, ehemals hochsensibles Funktionsganzes
einer Fregatte zu denken. Jetzt aber steht Medusa Pate bei dieser (de-)konstruktivistischen Abstraktion. Wir erleben die künstlerisch subjektivistische Darstellung eines
Apparates im Sinne einer Entkörperlichung des Gegenstandes, ein zunächst antimythisch, abstrakt anmutender Vorgang, der letztlich in eine nihilistische Weltanschauung
münden würde, wenn da nicht der Titel der Plastik wäre: Dieser bezeichnet das
chaotische Sujet der Darstellung als ,Floß der Medusa’ und verleiht seinem formalen
Nichts Charakter und Inhalt über eine mythische Medusa-Substanz, die sowohl erstarren
lassen kann, aber auch – wie wir schon gesehen haben – selbst zum Opfer (unserem
Opfer?) geworden ist. Sowohl Ernst wie auch Stella, beide greifen nicht direkt auf den
Medusen-Stoff zurück, sondern verschieben anspielungsreich den Signifikanten und
legen so einen, gleichwohl historisch provozierenden, Link zum Signifikat.
Dass die Medusa-Metapher auch in höchst aktuellen künstlerischen Äußerungen
präsent bleibt, beweisen unsere letzten beiden Beispiele:
Abb.84 a+b: Martin Kippenberger, Selbstbildnisse, Hotelzeichungen zu MedusaSchiffbrüchigen, 1996
Aus der großen Schaffensfülle Martin Kippenbergers, dem zahlreiche Kritiker
allerdings Neigung zu Profanierung oder zu „strategischem Dilettantismus“182
bescheinigen, fallen in unserem Zusammenhang vor allem seine Selbstdarstellungen
auf, die er u.a. während seiner zahlreichen Reisen auf Hotelpapier anfertigt. Geradezu
willkürlich nimmt er bei jeder Gelegenheit Anregungen auf, wie z.B. 1996 kurz vor
seinem Tode die Idee dänischer Kuratoren, in den Kopenhagener Aufbau seiner
durchrationalisierten, entmythifizierenden Büro-Landschaft The Happy End of Franz
182
Schappert, Roland: Martin Kippenberger, Die Organisationen des Scheiterns, König, Köln 1998, S. 60.
125
Kafka’s ,Amerika’ ein Abbild von Géricaults Floß der Medusa zu integrieren.
Kippenberger nahm diesen Gedanken direkt auf, ließ sich von seiner Frau Elfie
Semotan in den Stellungen von Géricaults Floß-Protagonisten fotografieren, um davon
Zeichnungen und Gemälde anzufertigen. Auf Abb.84 a+b können wir zwei dieser
Gestalten (den Mann mit dem Medusen-Haupt, den Toten an der Floßkante) von der
linken todgeweihten Seite des Géricault-Floßes erkennen.
Für Rudolf Schmitz „figuriert [Kippenberger hier] als der Gesamtschiffbrüchige
schlechthin“183 und nimmt damit über die Position der Selbstdarstellung hinaus jene
allgemeine, neue medusische Qualität tragischen Leidens ein. Dennoch sollten wir bei
Kippenberger die nötige Vorsicht walten lassen, denn die rigoros eindringlichen
Linienführungen und die Körperhaltungen auf dem Hotelpapier – hingesunken und tot,
energielos und ohne Hoffnung – lassen auch Zweifel zu, ob nicht, seiner Vita des DraufLos-Machens entsprechend, das Medusische, obwohl vorhanden, durch Übergehen und
Verdrängen des Leidens ausgegrenzt werden könnte oder sich zumindest wie bei Franz
Kafkas Held, dem 16-jährigen Karl Rossmann, doch noch die Chance auf einen
Neubeginn in der Neuen Welt (Oklahoma) bietet.184 Mit dem eigenen Untergang vor
Augen – Kippenberger stirbt kurz nach den medusischen Selbstdarstellungen im März
1997 – verliert sein Ausdruck immer noch nicht diesen persiflierenden Akzent.
Abb.85: William Kentridge, Medusa,
Anamorphotische Lithografie, 2001
Schließlich möchten wir den Südafrikaner William Kentridge (geb. 1955) erwähnen,
der Medusa mit der Tragödie der südafrikanischen Geschichte verbindet. In seiner
Medusa-Edition für Parkett (Abb.85) zeichnet er auf sechs verschiedene Seiten aus einer
183
Schmitz, Rudolf: Das unvollendete Happy End. In: Felix, Zdenek, Deichtorhallen Hamburg (Hg):
Martin Kippenberger, The Happy End of Franz Kafka’s ,Amerika’, Oktagon, Hamburg 1999, S. 22.
184
Memento Metropolis: a.a.O., S. 101/2.
126
Larousse-Enzyklopädie – einander gegenüber liegend – ein (anamorphotisch) verzerrtes
Medusenhaupt mit langem, wirrem Haar und einen Wasserträger unter schwerer Last in
gebeugter Haltung. Ein zentral darauf gestellter Spiegelglanz-Zylinder entzerrt die
Kohlezeichnung, sodass auf der einen Seite des Zylinders Medusa und auf der anderen
der Wasserträger – nunmehr ein zweites Mal – in aller Schärfe und Klarheit sichtbar
werden. Erst auf dem Umweg über den Spiegel, d.h. letztlich über den Weg eines
beschwerlichen Erkennungsprozesses wird die unterschwellige Realität sichtbar:185
Trotz des enorm großen, detaillierten und verbreiteten Wissens der Menschen – wie
durch den Enzyklopädie-Auszug vergegenwärtigt – ist die durch den Menschen selbst
verursachte medusische Schreckenstragödie existent, wenn nicht unvermeidbar. Über
die Kabelverdrahtungen mit dem Schreckenssymbol verbunden ist der gebeutelte
Wasserträger, zugleich Helfershelfer und zurück gebliebener Leidtragender – ein
melancholischer Verweis auf die jahrtausendlange, vergeblich schreckensfreie Menschwerdung. Die Dramatik von Apartheid, Aids und Tod – zunächst indirekt in der
Zeichnung angedeutet und damit auch auf unsere Verdrängungspraktiken vor der
täglichen Überhäufung mit Schreckensnachrichten anspielend – wird brennpunktartig
durch den vorgehaltenen Spiegel gegenwärtig gemacht. Medusa wird gewissermaßen
über Südafrika hinaus zur Anklägerin der durch die Gesellschaft verursachten
Verbrechen. Welch ein Rollentausch der Medusa!
Fassen wir zusammen: Auf der Suche nach dem bestimmenden Mythenkern bzw.
dem größtmöglichen Nenner für diese Vielzahl der mythisch bestimmten Positionen
identifizieren wir letztlich den originären Medusa-Blick: Ob aus einer hässlichen,
Schlangen umwobenen Fratze, ob aus einem erregenden melancholischen Antlitz heraus, immer ist da ein fesselnder, bestechender Bann, der erstarren lässt. Im Einzelnen:
- Medusa ist begehrlich schön, bevor Athene sie bestraft (Mythostradition I –
Rondanini).
- Medusa ist grausam hässlich, sie starrt uns mit dem todbringenden
versteinernden Blick an (Mythostradition II: Gorgoneion, z. B. Veji),
Daraus entwickeln sich (a) kultorientierte Maskendarstellungen und deren
Abwehrzauber sowie (b) ,nacherzählende’ Abbildungen.
185
Die optische Verzerrung als Spiegel-Anamorphose tritt vor allem seit Anfang des 17. Jahrhunderts in
Erscheinung. „Il ne s’agit plus de la vision directe mais d’une image réfléchie“, gleichsam ein
Bilderrrätsel, das von der Mischung wissenschaftlicher Komponenten (Mechanik) sowie poetischen
oder sozialen Anliegen lebt. Vgl. Baltrušaitis, Jurgis: Anamorphoses, les perspectives dépravées,
Flammarion, Paris 1984, S. 5.
127
- Das Gorgoneion selbst wird zur Personifizierung des Schreckens an sich
(Rubens) und erlangt im Zuge von künstlerischer Selbstdarstellung eine humane
Daseinsform (Caravaggio).
- U.a. über die Verschachtelung mit einem weiteren Mythos, dem des Perseus,
erfolgt Medusas Politisierung (Cellini/Beckmann). Dabei kann sie sowohl (a)
das Besiegte darstellen sowie (b) auch durch Perseus politischen Schrecken
verbreiten. – Das Melancholische kann Ziel der Betrachtung sein.
- Der Medusenkopf in seiner Erstarrung wird selbst Kriterium der Opfersituation;
der Ursprung des Grauens ist eine andere Medusa: wir? (Géricault).
- Der medusische Schrecken entwickelt sich zu einer allgemein medusischen
Qualität (Ernst, Stella, Kentridge). Den modernen Künstlern reicht es nicht
mehr, dass sie selbst wie Caravaggio den Schrecken tragen, bei ihnen wird der
medusische Schrecken auf uns alle, die Gesellschaft, übertragen. Versuche,
auch nach dem Holocaust nicht in Schweigen zu erstarren.
Damit können erneut – wie bei Nympha – der Verwandlungscharakter über alle
Epochen hinweg und die zu Grunde liegende Doppelkodierung des Mythos mit der
ausdrücklichen (gewollten) ,Bedeutsamkeit’ der zweiten Sinnebene im Kunstgebrauch
als nachgewiesen gelten. Allerdings haben wir bei Nympha mittels ihrer
Transformationsgeschichte eine jeweilige Aktualität festgestellt, die Hand in Hand mit
einem hohen Grad an Verallgemeinerung, beliebiger Einsatzfähigkeit, ja mit einer
gewissen Unbestimmtheitsrelation einhergeht. Die Gesamtheit des Nympha-Mythos ist
von derart großer Breite und Allgemeinheit, dass sie mit allen aktuellen Situationen
fertig wird, das heißt quasi alles legitimiert, was mit „sinnlicher junger Frau“ und
Geschlechterspannung in Beziehung gesetzt werden kann. Das ist eine Sinnverbreiterung, Sinnentleerung oder Sinnentfremdung, die nun bei Nympha leichter
vonstatten zu gehen scheint als bei Medusa, obwohl bei dieser oft genug Perseus als
Transformationsstimulator zusätzlich eingesetzt wird. Dieser unser Eindruck dürfte sich
bei der Frage nach dem ,Warum’ einer solchen Differenz bestätigen: Mit Franz
Schupp186 teilen wir die Ansicht, dass Art und Umfang der Mythen-Transformation und
der diese tragenden, kollektiv rezeptierfähigen ,Bedeutsamkeit’ eine Funktion der korrelierenden Gesellschaftsbedingungen sind. Bei den formbezogenen Mythos-Funktionen
hatten wir bereits auf diese kreative Wechselbeziehung von Mythos und Gesellschaft
sowie die entsprechenden mythischen Transformationseigenschaften verwiesen: Gerade
186
Schupp, Franz: Mythos und Religion, Der Spielraum der Ordnung. In: Poser, Hans: Philosophie und
Mythos. Ein Kolloquim, de Gruyter, Berlin, New York 1979, S. 69.
128
Nympha hat es da heute einfacher – ähnlich wie in antiker Natur – als strahlende
weibliche Jugendlichkeit, zum Siegen und Hingeben gleichermaßen bereit, die aktuelle
Erlebnisgesellschaft zu repräsentieren. Sie hat es einfacher als Medusa, die zum Symbol
der Apokalypse geworden ist, also jenes totalen Schreckenmoments, das in seiner
Radikalität des Furchtbaren und den fundamentalen Gefahren unserer Zeit kaum noch
Hoffnung auf einen Neuanfang übrig lässt (Géricault). Medusa zeigt uns im Vergleich
zu Nympha auch Grenzlinien der Transformation eines Mythos – selbst wenn wir uns
nochmals die Erhöhung bzw. Verdoppelung mythischer Substanz im Zusammenfügen
der allseits bekannten Mythen-Eigentümer Medusa und Perseus vor Augen führen oder
an die fundamentale Verlagerung des Schreckens denken. Die Nympha ist –
instrumentalisiert – weitgehend in die (Werbe-)Affirmation abgewandert. Die GorgoMedusa behauptet über subtile Verschiebungen hinweg ephemer ihren Platz in der
aufklärenden Kunstkritik.187
Im nächsten Abschnitt, in dem wir Mythen in vertiefender Betrachtung mit einzelnen
Künstlern aufschlüsseln wollen, werden wir uns mit der Frage auseinandersetzen, ob
nicht – zuweilen unentdeckt und allein gelassen oder in der dialogischen KunstwerkProduktion zwischen Künstler und Rezipient kaum erkannt – weitere (Medusa-)
Qualitäten unseres Zusammenlebens (abstrakt oder figurativ) neben den Erscheinungen
der Spaßgesellschaft im Kunstauftritt zu orten sind.
2. Der Mythos und einzelne Künstler
Ein weiterer Weg, dem Mythos in der Kunst auf die Spur zu kommen, scheint uns
darin zu liegen, jene Fährten intensiver zu verfolgen, die der einzelne Künstler selbst
hinterlassen hat. Aus der schier endlosen Auswahl, die uns die Kunstgeschichte
offeriert, haben wir einige Marksteine aus dem letzten Jahrhundert selektiert, die nicht
nur aus dieser vertiefenden Sicht Vielfalt der Verwendung und Breite der Schaffung
mythischer Substanz in charakteristischer (bestimmender) Weise weiter offen legen,
sondern auch ihre Aktualität – parallel zu den Werbemythen – nachweisen. Wir wagen
es in diesem Zusammenhang, paarweise Künstler miteinander zu konfrontieren, um
dabei die unterschiedlichen Konzepte und Annäherungen in vergleichender Form
voneinander abgrenzen und erhellen zu können.
187
Sollte es in diesem Zusammenhang ein Zufall sein, dass Medusa ihren hintergründigen Platz in der
doppelbödigen Strategie der Entzauberung des Werbemythos eines Oliviero Toscani findet, wenn
dessen Schocks, die scheinbar zynisch-lasziv Werbung und kulturellen Schrecken derart
zusammenbinden, dass die Betrachter – moralisch abwehrend –in einem ohnmächtigen Abwehrzauber
erstarren, weil der aufklärerische Stachel doch sitzt (vgl. Kap. V a 2.)?
129
2.1. Picasso und Duchamp
Zwei der markantesten Künstlerpersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts – Pablo
Picasso (1881 – 1973) und Marcel Duchamp (1887 – 1968) – haben nahezu zeitgleich
gelebt und gewirkt. Ihr jeweils erster nachhaltiger Auftritt auf der Bühne der
Kunstöffentlichkeit erfolgt dann auch – sozusagen naturgemäß – in den letzten zehn
Jahren vor dem 1. Weltkrieg, in jenen Jahren der Tabubrüche (s.o.: Freud). Während die
großen Nationen und ihre Gesellschaften in Europa den furchtbarsten aller Kriege und
dem Holocaust entgegendämmerten, waren die Künstler auf der Suche nach
Erneuerungen und Umgestaltungen. Überall in Europa gelangten neue Gesetzlichkeiten
in der Kunst zum Durchbruch, woran die großen Ausstellungen in Köln (1912) und
New York (1913)188 erheblichen Anteil hatten – ihrerseits mediale Wegbereiter eines
neuen Öffentlichkeitsbewusstseins für Kunst. Lautstarke erste Paukenschläge der
Auftritte dieser beiden Künstler sind die Demoiselles d’Avignon (1907) und der Nu
descendant un escalier / Akt, eine Treppe hinabsteigend (1912); ihnen sollten viele
folgen.
Beide Künstler werden als Antipoden charakterisiert. Dies liegt nicht allein an ihren
unterschiedlichen Arbeitsmethoden: Picasso in unermüdlicher, grenzenloser schöpferischer Tätigkeit als Maler, Bildhauer, Zeichner – stets im Blickpunkt; Duchamp als
Maler und intellektueller Nicht-Maler (Nicht-Künstler), z.T. abgetaucht mitsamt seinen
Schachfiguren. Auch ihre gegenseitige „Wertschätzung“ lässt aufhorchen, ohne dass
hierzu eine weitläufige Quellenforschung nötig wäre: Da war durchaus bei Duchamp
Anerkennung für Picasso, dieser wollte andererseits „nichts mehr von ihm [Duchamp]
hören. Er hat die ganze Zeit darauf verwandt, sich grenzenlos über mich lustig zu
machen“.189 – Was sagt eine Mythosbetrachtung über das Verhältnis beider aus?
2.1.1. Pablo Picasso
Es würde schon verwundern, wenn wir in Picassos gewaltigem Schaffensspektrum
nicht auch fündig würden, wenn es um den Mythos geht, und dies ist in doppelter
Hinsicht der Fall: Einmal wird seine Bildwelt in hohem Maße durch mythische Bezüge
188
Köln (1912): Internationale Kunstausstellung des Sonderbundes westdeutscher Kunstfreunde und
Künstler. New York (1913): International Exibition of Modern Art (‚Armory Show’, benannt nach
dem Zeughaus-Ausstellungsgebäude, Lexington Avenue).
189
Picasso, Pablo (1960); zitiert nach Zaunschirm, Thomas: Robert Musil und Marcel Duchamp, Ritter,
Klagenfurt 1982, S. 8. – Andererseits schrieb Marcel Duchamp 1943: „Einer der wichtigsten
Unterschiede zwischen Picasso und den meisten seiner Zeitgenossen liegt darin, dass er bis heute in
einem ununterbrochenen Strom von Meisterwerken nie irgendein Zeichen der Schwäche oder
Wiederholung gezeigt hat“ (ebd.).
130
geprägt, zum anderen wird – wie Steingrim Laursen190 es formuliert – eine „geistige
Gemeinschaft“ zwischen Künstler und mythischer Substanz erkennbar, die sich
unverwechselbar subjektiv-individuell durch sein Werk hindurch zieht.
Die Inspirationsfelder für diese beiden (Mythos-)Ansätze sind nachhaltig: Die alten
Meister der Antike und Hochkultur in Prado und Louvre oder Die großen Badenden
(1900/1906 – heute: National Gallery London) des Wegbereiters der Moderne, Paul
Cézanne (1839 – 1906), gehören ebenso dazu wie Postkartenabbildungen ihrer Werke
oder Fotografien und sonstiges (z.T. billiges oder verschlissenes) Anschauungsmaterial,
vielfach auf Flohmärkten erworben, von Stierkämpfen und besonders von Gebrauchsund Kunstgegenständen der kolonialisierten ‚Naturvölker’; ferner verfolgt ihn das
mediterrane Leben – und immer wieder Frauen.
Spätestens mit Abschluss der Blauen Periode mit ihren Motiven aus dem menschlichen Alltag, aus Cafés, Circus, Landleben und ihren Porträts wird der künstlerische
Widerspruch „gegen alles“, den Picasso für sich in Anspruch nimmt, ab 1905/06 offenbar, als er sich intensiv der mediterranen, iberischen Skulptur und vor allem dem afrikanisch/ozeanischen ,primitiven’ Bildmaterial zuwendet. Die Faszination, die nunmehr in
seinen Arbeiten zum Ausdruck kommt, wurzelt zunächst einmal in den mythischen
Gestalten dieser exotischen Länder und deren Urwüchsigkeit, Urgewalt, Unbegreiflichkeit. Ein typisches Element ist für ihn dabei die Maske, die Picassos Widerspruchshaltung formal als Deformation – später als kubistische Dekonstruktion – bildhaft
werden lässt und die bei ihm – wie im ursprünglichen rituellen Kontext – nicht nur
einfach ein Symbol darstellt, sondern eine vervielfältigte, wenn nicht jenseitige Kraft
anwesend sein lässt. Neben zahlreichen Studien zu den Demoiselles d’Avignon ist u.a.
der Kopf eines Mannes (Abb.86) von 1907 ein gutes Beispiel.
Die Nutzung mythischer Bildwelten und die darauf bezogene persönliche Identifikation werden an einem weiteren Schaffensausschnitt deutlich, seiner Zuwendung zur
dionysischen Welt der griechisch-römischen Faune, Satyren, Zentauren, Nymphen und
Sirenen. Hier bestimmen Fruchtbarkeit, Lüsternheit, Ausgelassenheit, auch Trunkenheit
die Szene, die von Tanz und Spiel bis zu (Liebes-) Kampf und Gewalt alles hergibt.
Wenn man den Faun mit der gestreiften Badehose (Abb.87) balzen sieht, offenbart sich
die Gegenwartskultur am alten mythischen Sujet.
190
Laursen, Steingrim: Zur Austellungsidee. In: Spielmann, Heinz (Hg): AK Picasso und die Mythen,
Eine Ausstellung des Bucerius Kunst Forums Hamburg, Hauschild, Bremen 2003, S. 9.
131
Abb.86: Pablo Picasso, Kopf eines Mannes,
Gouache und Aquarell, 1907
Abb.87: Pablo Picasso, Zwei Faune und eine Najade,
Öl auf Leinwand, 1938
Eine besondere Ausprägung der Mythenorientierung stellt schließlich ein dritter
Ausschnitt aus Picassos Gesamtwerk dar: die Minotaurus-Gestalt. Sie erscheint –
verwoben mit all jenen Szenen des Bildhauers mit seinem Modell im Atelier – als ein
Höhepunkt der Suite Vollard der 30er Jahre.191
Abb.88: Pablo Picasso, Minotaurus über eine Frau gebeugt,
Radierung, 1933
Minotaurus, der seine Mensch-Stier-Wesenhaftigkeit dem von Poseidon eingefädelten Liebesakt von Pasiphaë mit seinem von Minos nicht geopferten Opferstier
verdankt, wird von Minos in das Knossos-Labyrinth verbannt und dort dann später von
191
Diesen Arbeiten, die mehr umfassen als das Minotaurus-Thema allein, gingen Aufarbeitungen zu
Ovids Metamorphosen voraus, die mit ihrem mythologischen Kern der Umgestaltung und
Transformation angesprochen wurden.
132
Theseus getötet, dem Ariadne den Weg ins Labyrinth verraten hatte. Diese (Un-)Gestalt
erhält Aktualität durch archäologische Ausgrabungen auf Kreta und nimmt für die
Surrealisten leitbildhafte Bedeutung an im Sinne der spannungsgeladenen Vielschichtigkeit des Wirklichen.192
Picasso ist von der urwüchsigen Fremdheit dieser Gestalt fasziniert, holt sie aus der
antiken Vergangenheit heraus und macht sie sich durch Hinzufügen neuer Bedeutungsebenen für seine Zwecke zunutze; in der Sprache von Roland Barthes schafft er durch
das Einbringen neuer Signifikate einen, seinen persönlichen Picasso-Mythos. Dabei
handelt es sich um ein Bündel schlüssig aneinander gefügter Signifikate, die den
Stiermenschen neu bestimmen:
- Das Aktiv-Erotische des Minotaurus bestimmt jetzt sein Wesen, nicht
mehr der Stiermensch als Resultat der Leidenschaft wie im Urmythos auf
Kreta,
- der Minotaurus ist Teil des rituellen Geschehens der Picassoschen
Gegenwart im Atelier oder während der Corrida, nicht mehr in Knossos,
- ein junges Mädchen führt den bei Picasso erblindeten Minotaurus durch
die Nacht, es wird nicht mehr von ihm verschlungen,
- der Bildhauer ist fast immer dabei: als Voyeur außerhalb des Bildes, als
distanzierter Philosoph mit Sophokles-Attributen oder in aktiver Umarmung,
manchmal mit dem Stier-Menschen in eins verwoben (Abb.88), sich mit
diesem identifizierend.
Über die Formbeschwörung hinaus entsteht ein neuer Mythos, nicht als Normgeber,
sondern als individuelles Zeichen eines Gleichzeitigseins von Aggression, archaischer
Leidenschaft, Hedonismus einerseits, aber auch distanziertem Gleichmut andererseits
(s. Bildhauer). – Picassos späte Frauendarstellungen tragen ebenfalls diese Kennzeichen
archaischer Massivität und mythischer Erotik und sind im Grunde singuläre
Darstellungen der früheren hier angesprochenen Ausdrucksformen des Mythos.
Werner Spies bezeichnet die „zahllosen Revivals, die sich in seinem Werk aufspüren
lassen … [als] Ausdruck eines unerhörten kommentierenden Geistes. Eine derartige
Fähigkeit, universelle Kenntnis von Geschichte mit der eigenen existenziellen Situation
192
Picasso gestaltet 1933 die Titelseite der ersten Ausgabe des surrealistischen „Minotaure“ – mit dem
Minotaurus. Vgl. unten Abb.90.
133
zu verquicken, bleibt auf Picasso beschränkt“.193 Sein berühmtes Guernica zum
Beispiel ist 1937 nicht nur eine Anklage gegen die aktuelle Gewaltherrschaft: Unter den
zertrümmerten Formen, die den dämonischen kriegerischen Schrecken spiegeln,
entdecken wir wieder einmal den Stier – als Opfer oder als Dämon?
Aber: Hat sich Picasso nun wirklich, wie er selber ankündigte, „gegen alles“ gerichtet oder ist seine künstlerische Auseinandersetzung mit seinem Jahrhundert im
Wesentlichen doch mehr die Schockwirkung mit den herkömmlichen Mitteln der
Malerei? Bei dieser Frage kann uns die Diskussion um Marcel Duchamp weiterhelfen.
2.1.2. Marcel Duchamp
Wenn wir Picassos Aufbruch in das letzte Kunstjahrhundert mit der Haltung, sich
„gegen alles“ zu stellen, beschreiben, dann fehlen uns bei Duchamp zunächst die Worte,
um seinen Auftritt zu charakterisieren. Duchamp beginnt als Zeichner und Maler mit
Familienszenen, mit einigen Landschaften, es gibt sogar Hinweise, die eine stilistische
Nähe zu Picasso registrieren.194 Um 1911 (Dulzinea, Sonate) beginnt er die Auseinandersetzung mit dem Kubismus, sicherlich auch eine Reaktion auf die stürmische
Entwicklung der Fotografie, wie bei Picasso oder Braque, die bei Duchamp aber auch
zusätzlich Merkmale für ein naturwissenschaftliches Interesse offenlegt, wenn er im Nu
descendant un escalier (1912) vor allem den Bewegungsvorgang chronofotografisch
mittels roboterhafter Wiederholungen auseinander nimmt.195 Mit diesem Bild entfacht
er einen handfesten Skandal (der ihm allerdings alsbald die Tür zur Neuen Welt öffnen
sollte), weil er das komplette Regelwerk der bis dato anerkannten Kunstsprache
missachtet. Aber dies ist nur der Anfang seines Widerstandes. Wir müssen hier kurz auf
die Readymades und das Große Glas eingehen.
193
Spies, Werner: Picasso, Pastelle, Zeichnungen, Aquarelle, Hatje, Stuttgart 1986, S. 48. Diese Vielzahl
der „Revivals“, die Themenwechsel und neuen Beziehungsgeflechte haben allerdings zuweilen auch
Picasso-Freunde in Verlegenheit gebracht; so D.-H. Kahnweiler: „Was beunruhigt uns alte PicassoAnhänger? Seine irrlichternde Zielungewissheit.“ Zitiert nach Schneede, U., M.: Die Geschichte der
Kunst im 20. Jahrhundert, Beck, München 2001, S. 108.
194
Lebel, Robert: Duchamp. Von der Entscheidung zur Konzeption, DuMont Schauberg, Köln 1972, S. 13.
195
Es ist bekannt, dass Duchamp durch die chronofotografischen Experimente des französischen
Physiologen Etienne-Jules Marey (1830 – 1904) beeinflusst war. Gleichzeitig darf man jedoch diesem
Werk auch ideelle Wurzeln im Symbolismus von Edward Burne-Jones nicht absprechen, der mit
seinen The Golden Stairs (1872 – 80) eine endlos scheinende Prozession von 18 jungen Frauen, alle
von nahezu gleicher Erscheinung, darstellt, die wie in einem aneinander gefügten Kontinuum eine
Wendeltreppe herabsteigen; „The scene ist hypnotic and mysterious“, vgl. Ades, Dawn; Cox, Neil;
Hopkins, David: Marcel Duchamp, Thames and Hudson, London 1999, S. 48.
134
Aus der Masse handelsüblicher, industrieller Gebrauchsgegenstände wählt Duchamp
einzelne Objekte aus, fügt ihnen z.T. gewisse, geringfügig erscheinende Veränderungen
zu und stellt sie dann unter der Bezeichnung Readymades in einen neuen Kontext:
entweder öffentlich oder häufiger noch einfach nur in sein Atelier. So montiert er z. B.
bei seinem Roue de bicyclette (1913/1964) das Rad eines Fahrrades mit umgekehrter
Gabelhalterung auf einen Holzschemel, stellt ein Urinal aus einem New Yorker
Klempnerladen als Fountain (1917) mit der Signatur R. Mutt auf den Kopf oder lässt
einen Flaschentrockner Porte bouteille (1914/1964) sein, um ihn dann mitsamt seinem –
manipulierten – Schatten fotografieren zu lassen. Bei diesen Vorgängen verleiht
Duchamp dem Gebrauchsobjekt einer Massenproduktion jeweils eine Aura der
Einzigartigkeit196 durch ironische Verfremdung, durch intellektuelle Paradoxie und
letztlich durch eine ,primitive’ Art der Musealisierung. Dem Gebrauchsgegenstand wird
nicht nur sein ursprünglicher Nutzen entzogen, auch sein eventueller Zusatznutzen, den
eine „Markierung“ (Marke) beglaubigt haben könnte, wird demontiert. Durch diese
Verfremdung und Vereinzelung entsteht nach Roland Barthes ein Mythos, eine neue
eindringliche Metasprache bzw. eine neue sekundäre Zeichenwirklichkeit, allerdings
mit einem weit offenen Bedeutungsspektrum:
Der künstlerische Akt ist nicht eigentlich das Machen, sondern ein intellektueller
Verweis, der einem Konzept-Ansatz, einer Idee Folge leistet. Nun hat Duchamp einmal
selbst erklärt, dass der Rezipient mit seiner Aufnahmebereitschaft und seinem
interpretierenden Einbezogensein selbst Teil des kreativen Prozesses bei der Entstehung
eines Kunstwerkes ist197, demnach also Mitverantwortung für Art und Umfang dieser
Metasprache trägt. Diese mitverantwortliche Kreativität, letztlich also das individuelle
Interpretieren, spiegelt sich zunächst in einer breiten Kommentierung zu Duchamps
Verweigerung der Wertvorstellungen des sogenannten „guten Geschmacks“ bzw. in der
Erkenntnis, dass es sich um intellektuelle Spielerei mit dem Ziel provozierender AntiKunst handele. Da aber Duchamps Zeichensprache jenen rezipientenabhängigen
Bedeutungspluralismus beinhaltet, verwundert daneben nicht die Auffassung, dass dem
Künstler mit seinen Readymades die Erweiterung des Kunstbegriffs durch die
Ästhetisierung des Banalen gelingt. So werden im Fountain Buddha-Figuren,
196
Der Charakter der Einzigartigkeit geht nicht dadurch verloren, dass Duchamp selbst nach Verlust oder
Vernichtung (z. B. Rad) ein neues vergleichbares Gebilde schafft oder andere Künstler Imitationen
anfertigen. Duchamp hat durchaus an ephemere Darstellungen gedacht, die für ihn multiplizierbar sind.
Entscheidend ist die Einzigartigkeit der Erst-Idee oder des Erst-Konzeptes; übrigens wie bei
Fälschungen in der Malerei oder bei „nachempfundenen“ Patenten im Wirtschaftsleben.
197
Duchamp, Marcel: Le processus créatif, L’Échoppe, Paris 1987, o. S..
135
Madonnen oder auch nur einfach weibliche Konturen (passend zu männlicher Brunnenaktivität) erkannt198; an anderer Stelle beweist der Flaschentrockner seine „bizarre
Schönheit“199 auch durch seine aufrechte Männlichkeit – bei mangelndem weiblichen
Gegenüber; das Fahrrad-Rad wird als Skulptur erkannt, die das futuristische Element
durch imaginäre Bewegungen zur vierten Dimension steigert. Gerade den letzten
Gedanken vertieft Herbert Molderings, wenn er festhält: „Die Rotation einer Linie
erzeugt eine Fläche, die einer zweidimensionalen Fläche einen dreidimensionalen
Körper. Die Rotation eines dreidimensionalen Körpers … muss somit ein vierdimensionales Kontinuum … erzeugen“.200
Kommen wir nunmehr zu unserem zweiten Betrachtungsansatz bei Duchamp, einem
seiner Schlüsselwerke: La Mariée mise à nu par ses Célibataires, même / Die Braut von
ihren Junggesellen entblößt, sogar (1915 – 1923), das Große Glas (Abb.89).
Abb.89: Marcel Duchamp, La Mariée mise à nu par ses Célibataires, même,
Glasbild-Komposition, 1915 - 1923
198
Camfield, William, A.: Marcel Duchamp’s Fountain: Its History and Aesthetics in the Context of
1917. In: Kuenzli, Rudolf; Naumann, Francis, U.: Marcel Duchamp, Artist of the Century, MIT Press,
Cambridge Ma., London 1989, S. 74 – 78.
199
Staatliches Museum Schwerin; Berswordt-Wallrabe von, Kornelia (Hg): Marcel Duchamp Respirateur,
Hatje Cantz, Ostfildern-Ruit 1999, S. 137.
200
Molderings, Herbert: Marcel Duchamp, Campus, Frankfurt/M. 1983, S. 133. Hier sitzt Molderings
doch wohl Duchamp auf, dessen Nähe zu den Naturwissenschaften eher seine Skepsis förderte und der
gewusst haben wird, dass man einem 3-dimensionalen Korpus keine Rotationsachse anlegen kann, um
eine 4. Dimension zu erreichen.
136
Zunächst erscheint das Werk als Rückschritt, da nach dem elementaren Einsatz von
Gebrauchsgegenständen für die Readymades Duchamp grundsätzlich nun wieder selbst
„anfertigt“. Er arbeitet fast zehn Jahre daran, ohne es nach eigener Aussage vollendet zu
haben: In Material (Glas), Arbeitsweise (mit Bleidraht) und Formgebung (völlig neue
Figürlichkeiten und deren Abhängigkeiten voneinander) verweigert er alle bislang ein
Kunstwerk maßgeblich bestimmenden Elemente und erfindet neue Junggesellen und
eine bisher unbekannte Neuvermählte. Die Verrätselung erreicht hiermit einen
besonderen Höhepunkt, und man kommt ihr ohne Duchamps Hinweise aus seiner
Sammel-Box für Notizen, Zeichnungen und Fotos, der von ihm erst 1934 veröffentlichten Grünen Schachtel, nicht näher. Zugleich tragen diese Notizen zu weiterer
Verwirrung bei, so dass letztlich das Kunstwerk auch erst wieder mit Hilfe des
Betrachters zustande kommt. Hierbei sind nun allerdings naturgemäß zahlreiche Anund Ausdeutungen möglich. Herbert Molderings erwähnt einige dieser Annäherungsversuche, wobei u.a. die „Sublimation heimlicher Inzestgelüste, die Lösung der
Welträtsel nach dem System der Kabbala, die Expedition in den n-dimensionalen
Raum“ angeboten werden201; Robert Lebel hält die mögliche Gleichsetzung der
„optischen Anstrengungen des Voyeurs mit den einzelnen Etappen eines Initiationsritus“ auf dem Wege vom Dies- ins Jenseits fest.202
Unbestrittener Ausgangspunkt ist der von Duchamp in der Grünen Schachtel
vorgegebene Ansatz, dass hier eine Liebesapparatur arbeitet: Im unteren Basisteil des
2,72 m hohen Aufbaus ist die mehrstufige Junggesellenmaschinerie tätig, in der oberen
Hälfte – getrennt durch drei Linien, den Horizont oder die Kleidung der Neuvermählten
– agiert die Braut selbst. Ohne auf alle Etappen dieser Sex-Zeremonie einzugehen,
möchten wir – im Sinne Duchamps? – festhalten, dass die Szene einmal masturbierende
Beteiligte, zum anderen aber auch die Geschlechter in der Vereinigung zeigen könnte.
Im ersten Fall verpuffen die Anstrengungen der neun Junggesellen und die
Neuvermählte gelangt auf ihre Weise ans Ziel. Im zweiten Fall ist es denkbar, dass – im
Sinne des Alter Ego Rrose Sélavy – die Neuvermählte mit ‚dem’ Junggesellen zur
Vereinigung kommt; man kann sich durchaus vorstellen, dass es sich bei der Bildgestalt
201
202
Ebd.: S. 76.
Lebel, Robert: a. a. O., S. 162. Lebel erwähnt diese Interpretation in Zusammenhang mit Arbeiten von
u.a. U. Linde und N. Celas, die Duchamps Kontext zum Hermetismus analysiert haben.
137
um ein Scharnierwerk203 handelt, dessen Horizont sich in einem imaginären Moment
öffnet – ein „Mysterium conjunctionis“, das den inneren Zugang zu einem weiblichen
Alter Ego schafft – eine Interpretation, die sich mit dem Verweis auf eine späte
Radierung Après l’amour, einer ikonografischen Einmaligkeit in der europäischen
Kunstgeschichte, stützen ließe.
All dies fordert unsere Phantasie heraus und stemmt sich gegen die jeweils aktuelle
Gesellschafts- bzw. Kunstnorm. Gleichzeitig ist damit die Außerwertsetzung des
Funktionalen verbunden, zumal Duchamp sich einen technisch-naturwissenschaftlichen
Deckmantel überzieht. Er will die Naturwissenschaft in Zweifel ziehen, wenn nicht gar
völlig unterlaufen, sein futuristischer Ansatz ist negativ. Er war der Meinung, dass die
Wissenschaft auf bloßem Schein beruhe, und Herbert Molderings folgert, dass er „dem
Leben eine mythische Dimension“ zurückgeben wolle204. Da der Künstler selber 1960
bei einem Symposium über die Aufgabe des Künstlers in der Gesellschaft dessen Rolle
in der Nutzung seines „merkwürdigen Reservoir[s] an para-spirituellen Werten in
absoluter Opposition zum alltäglichen Funktionalismus“205 beschreibt, geht er auf
Distanz zur rationalistischen Version der Aufklärung. Wenn er sich naturwissenschaftlichen Konstrukten widmet, so tut er dies mit Verrätselung und mit dem
konzeptionellen Verweis auf etwas Dahinterliegendes, auf eine neue, unbekannte
Ebene: „Stets spielt Magie hinein …, die Verfremdung des Gegenstandes erzeugt
immer einen rätselhaften Zauber“.206 Man möchte ergänzen: den Zauber der Indifferenz
– oder wie vielleicht ein anderer Rezipient sagen würde: die Kälte des Nichts, die auch
das Mythische hat erfrieren lassen.
Wir meinen, Duchamp lässt sich nicht festlegen zwischen seinen ironischen und
technisch mechanischen Ansätzen, seinen Gedanken und Wortspielen, die nahezu
durchgängig sexuell-erotische Bezüge erkennen lassen, weder als Aufklärer noch als
deren Opponent. Er anerkennt diese Welt, weil es keine bessere gibt; er ist in erster
Linie „Pseudo in allem“207. Dafür stehen seine Parodien, sein Zynismus, seine
ironischen Gesten, seine Indifferenz, die wirklich „gegen alles“ sich richtet. Er teilt uns
203
Vgl. Panhans-Bühler, Ursula: In: Museum für Moderne Kunst (Hg): Rosemarie Trockel, Wilk,
Friedrichsdorf 1997, S. 19. Für diesen Verweis spricht u.a. die Tür in Duchamps Wohnung, die sowohl
Bad wie Atelier schließt/öffnet. Vgl. bei Lebel, Robert: a. a. O.: Abb. 105.
204
Molderings, Herbert: a. a. O., S. 88.
205
Ebd.: S. 90.
206
Ebd.: S. 91.
207
Ebd.: 103. Molderings zitiert Calvin Tomkins: Ahead of the Game, Middlesex 1968, mit Anm. 196
(S. 122).
138
mit, dass zwischen Mythos und Aufklärung eine neutrale Zone besteht: Humor, Ironie,
Satire.
Duchamp kommt uns als skeptischer Asket entgegen, Picasso als das „volle Leben“.
Kann ein Unterschied größer sein als auf den beiden Titelbildern des Minotaure
dargelegt (Abb.90 und 91)?
Abb.90: Pablo Picasso, Umschlag
für Minotaure Nr.1, 1933
Abb.91: Marcel Duchamp, Umschlag für
Minotaure Nr. 6, 1936
Duchamp baut mit seiner Doppeldeutigkeit der Readymades, des Großen Glases und
anderer Verweise, wie etwa in seinen Wortspielen, eine mythische Substanz auf und
zerbricht sie im nächsten Augenblick, Picasso benutzt den Mythos und lebt ihn. Auch
Picasso hat aus zwei Fahrradteilen (Lenker und Sattel) ein Readymade erstellt, den
berühmten Tête de taureau / Stierschädel (1942 – Abb.92), der dann in Bronze
gegossen wurde, anders als das Duchamp-Rad (Abb.93), das öfter verschwand,
weggeworfen wurde oder neu zusammenmontiert im Atelier herumstand. Picasso
erstellt aus Teilen eines technologischen Fortbewegungsmittels – zurück verwandelt –
ein animalisch assoziatives Gebilde, überraschenderweise den Schädel eines Stieres, der
Ausdruck seiner persönlichen (Minotaurus-)Mythologie ist. Duchamp andererseits
belässt Fahrrad-Technik wie sie ist und stellt sie auf ein Podest. Picasso ruiniert auf
seine Weise durchaus das klassische Schönheitsbild, da niemand sich bisher einen
Stierkopf auf Fahrradteile bezogen vorstellen konnte. Duchamps Ansatz aber ist noch
radikaler, da mit seinem Fahrrad-Rad jegliche Ästhetik beseitigt wird, in der das
Kunstschöne zur Maske des Begehrens wird.
139
Abb.92: Pablo Picasso, Tête de taureau,
Bronze, 1942
Abb.93: Marcel Duchamp, Roue
de bicyclette,
Fahrradgabel mit Rad,
auf Hocker befestigt,
1913/1964
Welch unterschiedliche Fahrrad-Mythen: für die menschliche Ewigkeit bei Picasso,
ephemer und doch wiederauferstanden bei Duchamp und als Kunstwerk vereinnahmt
durch den Kunstbetrieb, durch uns.
2.2. Magritte und Warhol
Mit René Magritte (1898 – 1967) und Andy Warhol (1930 – 1987) haben wir in
diesem Abschnitt zwei Künstler ausgewählt, die zunächst in ihrer jeweiligen
Standortbestimmung so weit auseinander liegen wie die beiden Kontinente, auf denen
sie lebten und die sie im Grunde nie verlassen haben. Jeder von ihnen hat nun aber ein
besonderes Verhältnis zur Werbung, das wir im Kontext zu ihrem künstlerischen
Ausdruck erörtern sollten: Der eine agiert in diesem Zusammenhang schwerpunktmäßig
vor, der andere – naturgegeben – nach dem allgemeinen Durchbruch der abstrakten
Kunst. Beide benutzen eine figürliche, auffallende, z.T. vereinfachende Formgestalt, die
auch der Werbung nicht fremd ist.
2.2.1. René Magritte
Der Belgier Magritte ist Zeitgenosse von Picasso und Duchamp, sein Leben aber
konzentriert sich trotz kürzerer Perioden im surrealistischen Paris von André Breton auf
Brüssel. Die erste Phase seines Lebens ist stark geprägt durch bescheidenen Broterwerb
in Werbung und Design (Tapeten, Plakate, Verpackungen, Schallplatten-Cover, Handelsanzeigen) mit allen direkten und vereinfachenden Bezügen zum Produktangebot,
wie es der durchschnittliche Auftraggeber und dessen Konzept verlangen. Es
140
verwundert nicht, dass er sich in diesem Zusammenhang ausgesprochen verächtlich
über Werbung geäußert hat; dennoch ist er aber gleichzeitig zu einer Referenz für
Werbung geworden, „denn sein Werk, das auf dem Bizarren, dem Anreiz, dem visuellen
Spiel, dem Wechsel der Bedeutung aufbaut, hat die Werbeschöpfer verführt“.208
Parallel zu seiner professionellen Werbetätigkeit verläuft seine künstlerische
Entwicklung u.a. ebenfalls über die Auseinandersetzung mit dem Kubismus. Die Abb.
94 bis 97 geben einen Eindruck von seiner werblichen Figurgebung bei gleichzeitiger
Formfindung seines künstlerischen Ausdrucks:
Abb.94: René Magritte,
Alfa Romeo, Snutsel aîné, Norine;
Gruppenanzeige, 1924
Abb.96: René Magritte,
L’ Homme celèbre,
Öl auf Leinwand, 1926
208
Abb.95: René Magritte,
Un Joailler-orfèvre Max Kerrels;
Anzeige, 1926
Abb.97: René Magritte,
Les affinités électives,
Öl auf Leinwand, 1933
Foe, Carine: Die Werbung, wie Magritte sie sah. In: Leen, Frederik; Ollinger-Zinque, Gisèle; Musées
Royaux des Beaux-Arts de Belgique (Hg): AK Magritte 1898 – 1998, Brüssel 1998, S. 308 ff.
141
Nachdem sich zunächst Markennamen vor einem vorsichtig kubistischen bzw. am
Bauhaus orientierten Hintergrund versammeln (Abb.94), wird in der Orfèvre-Anzeige
eine eigenwillige Formgestaltung sichtbar (Abb.95: eine Perlenkette über zwei
gedrechselte Hälse gespannt), die wir im L’ Homme celèbre (Abb.96) und später dann
in den für Magritte so typischen Balustern, etwa der Affinités électives, wiederfinden
(Abb.97). Wie in diesen Abbildungen nachvollziehbar, hat Magritte etwa ab 1925/26 zu
seinen
spezifischen
künstlerischen
Ausdrucksmitteln
gefunden,
wobei
seine
Begeisterung für Giorgio de Chiricos Das Lied der Liebe (1914) mit dessen
geheimnisvoller Kombinatorik im Grunde nicht zueinander gehöriger Objekte erheblich
beigetragen hat.
Im Gegensatz zu den vorherrschenden surrealistischen Bezügen bei Salvador Dali
oder Luis Buňuel, die das ins Unbewusste verstoßene Bekannt-Erfahrene durch
traumatisch-visionäre, psychologisch orientierte Bildwelten wieder gewinnen wollen,
findet Magritte seinen speziellen surrealistischen Weg über den umgekehrten Ansatz: Er
sucht mit Hilfe von Denkbildern die gegenständlich reale, sichtbare Welt zu
durchdringen und ein rätselhaft Fremdes im Bekannt-Realistischen darzustellen. In
einem Vortragstext von 1938209 erläutert er, dass er die „vertrautesten Gegenstände
aufheulen“ lassen möchte und sie daher „neu angeordnet werden und eine neue
erschütternde Bedeutung erhalten“ müssten (Hervorhebung durch Verf.). So gelangt er
nach eigenen Worten zu einem „poetischen Mysterium“. Dies können wir wie folgt
nachvollziehen: Trotz seines flächig eindeutigen, realistisch kontrollierten Bildausdrucks ist der eigentliche Inhalt seiner Bilder geprägt durch die Verfremdung des
Realen. Dazu benutzt er die Deplatzierung von Gegenständen, die Erschaffung neuer
Gegenstände, die Vertauschung von Stoff und Form bei bestimmten Gegenständen, den
Gebrauch von Wörtern in Verbindung mit Bildern, die falsche Bezeichnung eines
Gegenstandes und verwirrende Titel, „die zur Unterhaltung anregen und nicht der
Erklärung dienen“. Die sich derart überlagernden Dingformungen forcieren
verblüffende Doppelbezüglichkeiten, die alle kausalen Funktionalitäten außer Kraft
setzen, wie auch Abb.98 verdeutlicht.210 Er vertieft den auf diese Weise konstruierten
Mysterium-Begriff z.T. noch weiter dadurch, dass er durch eine besondere „Affinität
von zwei Gegenständen, nämlich [Vogel-]Käfig und Ei“ (vgl. Abb.97), eine
209
210
Magritte, René: „La Ligne de vie“. In: Leen, Frederik et al. (Hg): a.a.O., S. 44 – 48.
In diesem Zusammenhang ist ferner interessant, dass Der Himmelsvogel als Auftragsarbeit der
belgischen Fluggesellschaft SABENA entstand, die es als Emblem der Company unter ausdrücklicher
Berufung auf Magritte Image fördernd vielfach einsetzte.
142
verwirrende Sinnestäuschung ins Licht setzt, die letztlich doch nicht völlig ohne eine
gewisse Logik ist und dadurch dem Mysterium mit Poesie und Verblüffung zugleich die
Sichtbarwerdung erleichtern helfen soll.
Das erörterte Denk- und Darstellungsmuster praktiziert Magritte schließlich auch in
seinen zahlreichen Wort-Bild-Arbeiten, z. B. mit Ceci n’est pas … - auf der Basis seines
theoretischen Blattes Les Mots et les Images (1927).
Abb.98: René Magritte,
L’ Oiseau de ciel,
Öl auf Leinwand, 1966
Abb.99: René Magritte,
La trahison des Images,
Öl auf Leinwand, 1928/9
Mit seiner Erklärung zu der abgebildeten Pfeife (Abb.99), dass dies keine Pfeife,
sondern nur deren Abbild sei, wird seine Skepsis gegenüber Abbildungen und entsprechender Sprache als Mittel der Darstellung der wahren Wirklichkeit deutlich.
Ollinger-Zinque weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass dieser Denkansatz
prinzipiell dem der Bilderstürmer entspricht, die in Abbildungen die „Profanisierung
Gottes“ verwirklicht sahen, und dass Magritte gleichfalls in einer quasi-fotografischen
Bildgestaltung die konventionelle Darstellung des Realen sah, die zu einer
„Banalisierung des Mysteriums“ führt211 bzw. die Sicht auf das Mysterium versperrt.
Magrittes Bildwelten sind wie wissenschaftliche Abhandlungen oder Kriminalgeschichten in feste Rahmen gefügt; im Innern bleibt das mysteriöse Rätsel allerdings
ungelöst, im Gegensatz zu jenen der Naturwissenschaft und Kriminalgeschichte. Seine
malerischen Beziehungsgeflechte realistischer Gegenstände, Personen und Tiere verweisen auf ein ungeklärtes Bindeglied zwischen den offenen, realistischen Strukturen,
ein Bindeglied, das die Welt steuern und gestalten kann. Der Schlüssel zu seinem
Mysterium liegt an dieser Grenzstelle, an der die zwei Dingebenen zu einer Metaebene
führen, die mittels eines Denkprozesses die vorherrschenden (Identitäts-)Kategorien
211
Leen, Frederik et al. (Hg): a.a.O., S. 34.
143
abstreifen und eine neue Ordnung erschließen soll.212 Magritte tritt auf mit der Geste
des Aufklärers, und doch bewegt er sich ständig an den von ihm ausgemachten Grenzen
eben dieser Aufklärung, hinter denen sein Mysterium liegt. In seinen zahlreichen
Texten, die seine lebenslange Suche in diesem Grenzbereich beschreiben, findet sich
plötzlich ein religiöser Bezug: „Ja, ich glaube an Gott … Statt Gott sage ich
Mysterium“.213 Für Michel Foucault deutet sich darin an, dass es sich eher um ein
nihilistisches Mysterium handeln würde.214
Dieser weite Bogen von ‚Gott bis Nichts’ in Verbindung mit Magrittes
(konzeptuellen) Vorlieben für eine vereinfachende Darstellung zweier Ebenen, für das
Triviale215, für ein begrenztes ikonografisches Vokabular216 (Pfeifen, Baluster, Himmel,
nackte Frauen, Männer mit Melonen, ‚Schultafeln’ mit Wort-Bild-Korrelationen) hat zu
einer Autonomie der Zeichensprache beigetragen, die die Werbung leichtfüßig und
erfolgreich für ihre Zwecke, Aufmerksamkeit zu erregen, aufgegriffen hat – wie im
Übrigen der Werbemann Magritte selbst auch.217
Magritte ist für uns in diesem Zusammenhang nicht nur ein Kunst-Repräsentant in
der Nähe zur Werbung, sondern auch einer der Vertreter des Surrealismus, jener
Haltung, die zwischen Traum und Wirklichkeit gegen Rationalisierung und Konvention
– zeitweise dem Kommunismus eng verbunden – revoltiert. Wir erwähnen an dieser
Stelle beispielhaft neben Magritte nur noch einmal die surrealistische Freilegung
mythischer Erfahrung bei Max Ernst, um die breit gefächerte Bedeutung dieser
künstlerischen Strömung für das mythische Empfinden zu betonen. So fügt sich z.B. in
Ernsts experimentelle Bildtechniken aus gegebenem Anlass, wie bereits bei seiner
Marlene angedeutet, ein politischer Inhalt, der die mythische Qualität der Mensch- und
Weltbedrohung offenlegt: Es entstehen vorausahnend (1933) und den aktuellen Bezug
212
R. Magritte bemüht in umständlicher Form als Schrittmacher für das Sichtbarmachen dieser
Metaebene den Begriff der „Ähnlichkeit“, der für das kreative Denken zum Zusammenschluss neuer
Konstellationen stehen soll. Vgl. Lüdeking, Karlheinz: Die Wörter und die Bilder und die Dinge. In:
Kunstsammlung NRW (Hg): AK René Magritte, Die Kunst der Konversation, Prestel, München, New
York 1996, S. 60.
213
Magritte, René, zitiert nach Lüdeking, Karlheinz: Ebd., S. 69 in Verb. mit Anm. 76.
214
S. die umfangreiche Auseinandersetzung Magritte/Foucault, ebd. S. 72 – 78.
215
Reck, Ulrich: Werbung als Anspruchsmodell. In: Schirner, Michael: a.a.O., S. 5.
216
Zwirner, Dorothea: Marcel Broodthaers. Kunstwiss. Bibliothek Bd. 3, König, Köln 1997, S. 67.
217
Ein gutes Beispiel für Magrittes intensive Werbearbeit ist die Zusammenarbeit mit seinem Bruder Paul
in ihrem Werbestudio ‚Dongo’ (1931 – 1936). Dabei boten ihm die Auftraggeber die Chance, neue
Techniken und Materialien zu studieren und sich Kenntnisse darüber anzueignen, was Bilder
frappierend macht. Durch sie, die Auftraggeber, lernte er auch verstehen, dass „auf ethischer Ebene nur
ein schmaler Steg das sogenannte Kunstgewerbe von der großen Kunst … trennt“. Zitiert nach Meuris,
Jacques: René Magritte 1898 – 1967, Taschen, Köln 1997, S. 34.
144
kommentierend (1940 – 42) die apokalyptischen, düster-chaotischen Gemälde Europa
nach dem Regen I und II über die Vernichtungskräfte der durch Remythologisierung
untermauerten, ideologisch faschistischen Herrschaftspolitik der Nationalsozialisten und
deren Verwüstungen.
2.2.2. Andy Warhol
Sowohl Picasso als auch Duchamp und Magritte werden Warhols Kür zum Popstar,
die mit dem Erscheinen der Campbell-Suppendosen à la Warhol 1962 einherging,
bewusst miterlebt haben. Im Gegensatz jedoch zu Magritte und einigen amerikanischen
Pop-Art-Künstlern (z.B. Robert Rauschenberg) hatte Warhol keinerlei gestörtes
Verhältnis zu seiner Tätigkeit als Werbegrafiker oder Gestalter, die sein Leben zunächst
bestimmte. Im Gegenteil: Er betritt in voller Absicht, um ins Rampenlicht eines
sicheren Erfolges zu gelangen, die Bühne, auf der sich die Stars der Unterhaltung und
der Produktmarken tummeln – die Alltagsmythen seiner Zeit – und auf der sich
schockierende und medienträchtige Ereignisse (Flugzeugunglücke, Gewalt- und
Todesszenen) abspielen. Nachdem er zunächst wie Roy Lichtenstein Details aus Comic
strips vergrößernd darstellte, verlegt er sich ab 1962 konsequent vor allem auf die
serienmäßige Darstellung seiner Motive, wobei das Element der Vergrößerung erhalten
bleibt. Entscheidend ist der Einsatz des Siebdruckverfahrens, das schließlich seine
künstlerische Arbeit zu einem Betrieb („factory“) mit zahlreichen Hilfskräften und
einem standardisierten Arbeitsprozess analog der aktuellen industriellen Produktionsmaschinerie werden lässt.
Wie vor ihm Picasso beeindruckt war von den ,primitiven’, exotischen
Ausdrucksformen und wie dieser von der antiken Mythensubstanz angeregt war und mit
ihr sich eins fühlte, so ist später Warhol fasziniert von den durch die Massenmedien
proklamierten Alltagsmythen, die ihm täglich überall begegnen. Als gelernter
Werbemann scheut er nicht die massive Wiederholung seiner Sujets, die er mit einem
Übermaßstab und einer verfremdeten Körperlichkeit, sozusagen einer Realität aus
zweiter Hand, versieht. Beim Voyeur, den die Abstraktion nur verwirrte, entsteht
zustimmender Einklang, wenn nicht sogar Begehrlichkeit.
Neben seinem Fabrikatelier benutzt er u.a. auch Schaufenster und Supermärkte für
seine Auftritte. Die Abb.100 und 101 zeigen einen American Supermarket, in dem er
145
unter einem Diptychon zwei Stapel Campbell-Suppendosen platziert, wovon die
Exemplare des einen – von ihm signiert – zu einem höheren Preis als die des anderen
Stapels angeboten werden.218 Im Gegensatz zu Duchamp war ihm das eigene Signieren
etwas wert: Es hob die Campbell-Dose aus ihrem ursprünglichen Lebensmittel-Kontext
heraus und stempelte sie zum Kunstwerk, sodass der Verzehr des Doseninhalts das
Kunstwerk zerstört hätte.
Abb100: Andy Warhol,
The American Supermarket,
Installation, 1964
Abb.101: Andy Warhol,
Campbell’s Soup,
Acryl auf Leinwand, 1962
Allerdings entsteht nun die Frage, was letztendlich mit dieser rezeptiven
Verdoppelung der Campbell-, Brillo- und Cola-Logos sowie jener der Persönlichkeitsmythen à la Presley und Monroe – grandios der Alltagskultur entlehnt – im künstlerischen Kontext geschieht. Man könnte argumentieren, der innerhalb des sekundären
semiotischen Systems geschaffene Marken- bzw. Persönlichkeitsmythos fällt mittels
eines weiteren Signifikats in seiner Neuverwendung als künstlerisches Utensil
(Verbrauch der Marke als Schlüsselreiz) zurück in ein ursprünglich mythenfreies Leben,
zurück in eine markenlose, gleichgemachte Gesellschaft.219 Was immer die Absicht sei:
Der kommerzielle Mitschnitt am profit-orientierten Auftritt der Marken-, Persönlichkeits- und Katastrophenmythen oder die Provokation der Konsumgesellschaft mit deren
Bedingungen und ihrem Realitätsverlust - was es auch sei: ein enormer Auftrieb, der da
von Nordamerika ausgeht! Warhol erfüllt eine Chronistenrolle für seine Zeit, und er
kann mit gutem Recht das „unbewusste Bewusstsein der sechziger Jahre“220 genannt
werden.
218
Grunenberg, Christoph; Hollein, Max: a.a.O., S. 150.
A. Warhol äußerte sich 1963 in einem Interview mit G. R. Swenson: „Alle sehen gleich aus und tun
das gleiche, und dahin entwickeln wir uns immer mehr … Ich meine, jeder sollte jeden mögen.“ In:
Harrison, Charles; Wood, Paul (Hg): a.a.O., S. 897.
220
Diese Charakterisierung des Kritikers Helmut Geldzahler zitiert Schneede, Uwe, M.: a.a.O., S. 199.
219
146
Ganz anders stellt sich die Berichterstatterrolle eines Landsmanns von Warhol zur
gesellschaftlichen Entwicklung und zu dessen entsprechender Kritik dar: Der Beitrag
von Bruce Nauman (geb. 1941) äußert sich im Vergleich zu Warhol wesentlich
streitbarer und sperriger im Sinne einer Verweigerungsstrategie. Er kommentiert, dass
sein Werk aus der Enttäuschung über die conditio humana und den grausamen Umgang
der Menschen miteinander erwächst.221 Warhol jedenfalls hat – wohl weniger aus
Enttäuschung – weltweit seinen persönlichen Mythos geschaffen durch seinen
populären Beitrag zum Kunstgeschehen des letzten Jahrhunderts, der Alltag und Kunst
miteinander verschmolz: „Lock up a department store today, open the door after one
hundred years and you will have a Museum of Modern Art“222, dessen sozialverantwortlichen Hintergrund Barbara Krüger beschreibt mit I shop therefore I am
(1987 und auch 1997).
Der Gebrauchsgegenstand in neuer Verfassung ist nunmehr in der zweiten Hälfte des
letzten Jahrhunderts ein vielfach eingesetztes Ausdrucksmittel der Künstler geworden;
aber über Gegenstände hinaus sind es auch unterschiedliche soziale Rollen, die die
Künstler für ihre Werkgestaltung übernehmen – als Prediger, Prophet, Lehrer,
Revolutionär, Verführer, Dekorateur oder Unterhalter.223 Letztlich ist dies stets eine
Referenz an Marcel Duchamp und dessen formales Prinzip der Mythenbildung, die
diese Verfassung bestimmt hat und noch heute bestimmt. Als ein Beispiel im Sinne
Warhols fügen wir hier nur Christian Boltanski (geb. 1944) an, der in seinen Inventaren
der Jahre 1972 – 74 Gebrauchsobjekte des Alltags aller Art von ihm ausgewählter
Individuen (junger Mann aus Oxford, Frau aus Ludwigshafen) schaukastenmäßig oder
vitrinenartig anordnet und auf diese Art und Weise bereits zehn Jahre nach Warhols
Bemerkung (mit Hilfe von Museums-Kuratoren) ein Gebrauchswaren-Museum des
kleinen Mannes eröffnet.224 – Dem Museum und den darin versammelten Mythen
nimmt sich jetzt einer der Vertreter unseres folgenden Abschnittes an, der andere stellt
mit seinen Aktionen u.a. einen Verweis auf die angesprochenen Rollenübernahmen
durch die Künstler dar.
221
Nauman, Bruce; zitiert nach: Schneede, Uwe M.: Bruce Nauman. Eine kleine Einführung. In:
Hamburger Kunsthalle (Hg): Bruce Nauman. Versuchsanordnungen. Werke 1965 bis 1994, Christians,
Hamburg 1998, S. 9 – 17, hier: S. 11.
222
Warhol, Andy (1985). In: Grunenberg, Christoph; Hollein, Max: a.a.O., S. 91.
223
Groys, Boris: Der Künstler als Konsument. In: Grunenberg, Christoph; Hollein, Max (ed): a.a.O., S.
54 – 61, hier S. 57.
224
Vgl. Zweite, Armin; Krystof, Doris; Spieler, Reinhard (Hg): Ich ist etwas Anderes, Kunst am Ende des
20. Jahrhunderts, DuMont, Köln 2000, S. 118/9.
147
2.3. Beuys und Broodthaers
Joseph Beuys (1921 – 1986) und Marcel Broodthaers (1924 – 1976) verbindet nicht
nur ihre parallel verlaufenden Lebensgeschichten und besondere künstlerische
Höhepunkte um die documenta, sondern neben ihrer Suche nach einem neuen,
erweiterten Kunstverständnis außerhalb des Bilderrahmens besonders ihre Kritik an den
Kunsteinrichtungen und die Frage nach dem Selbstverständnis des Künstlers in Kultur
und Gesellschaft. Aber obwohl zusätzlich noch in der nachbarschaftlichen Nähe von
Deutschland / Belgien tätig, hat sich bei beiden – u.a. wohl auch gerade wegen ihrer
jeweiligen Herkunft und Fundierung – ein völlig unterschiedlicher Bezug zum
Mythischen und dessen Funktion entwickelt.
2.3.1. Joseph Beuys
Das Œuvre von Joseph Beuys baut auf seinem zeichnerischen Werk der 50er Jahre
auf, um dann als Schwerpunkte die von Fluxus inspirierten Aktionen, die Rauminstallationen und das Sendungsverlangen als Redner erkennbar werden zu lassen. Als
entscheidend für das Finden seiner Künstlersprache werden die Erlebnisse in der
südrussischen Steppe nach seinem Stuka-Absturz 1943 angeführt, die aufgrund seiner
eigenen Schilderungen als Tartarenlegende bezeichnet werden. Danach wurde er nach
dem Absturz, bei dem sein Pilot Hans Laurinck ums Leben kam, von Krim-Tartaren
durch den Einsatz von Fett und Filz am Leben erhalten. Dem Künstler Jörg Herold
zufolge sind jedoch diese Beuysschen Schilderungen ebenso wenig wahr wie die
Berichte, er wäre in einer Wiener Klinik nach dem Unglück behandelt worden. Nach
Herolds Recherchen auf der Krim ist Beuys vielmehr dort in einem deutschen
Feldlazarett aufgenommen und registriert worden.225 Trotz dieser Zweifel an dem
Wahrheitsgehalt der Beuysschen Geschichte hat sich der Mythos von seinem
Initiationserlebnis des Entrinnens vor dem Tod erhalten: Danach wird er sich nämlich
der lebenserhaltenden Kräfte bewusst, die durch das Erzeugen von (Wärme-)Energie
mittels elementarer Materialien wie Fett und Filz entstehen, und gleichzeitig erlebt er
wohl in diesem Zusammenhang auf seine Weise die Nähe zu archaischen Lebensformen
mit ihren Bezügen zu atavistischen Merkmalen von Natur und Mythen (nordisch,
griechisch) sowie deren Katastrophenbildern. Ebenso ist christliche Symbolik – z. B.
225
Wendland, Johannes: „Wie in einem wunderbaren Film“, Zweifel an der ,Tartarenlegende’ von Joseph
Beuys. In: Weser-Kurier, 1./2. Mai 2001. Jörg Herold im Interview mit Johannes Wendland. – Jörg
Herold führt aus, dass ihn als Künstler die Mythenbildung schon immer interessiert habe und er mit
seiner Reise auf die Krim diesem etablierten Beuys-Bild als mythischer Verbrämung auf die Spur
kommen wollte.
148
das Kreuz, auch halbiert als Teilungsverweis – Bestandteil der Verschmelzung dieser
unterschiedlichen traditionellen Bezugspunkte.
Sein Mythos-Verhältnis ist dabei freilich nicht allein erkennbar an dem direkten
Einbau konkreter mythischer Elemente in seine Ausdrucksformen; wir haben an anderer
Stelle bereits auf die nymphengleiche Aktrice oder Die drei Schilde der Gorgo
aufmerksam gemacht. Vielmehr ist es darüber hinaus auch eine allgemeine, originär
mythische Substanz, die in dem geradezu beschwörenden Einsatz der schon genannten
ursprünglichen Materialien Fett, Filz und Honig sowie in den rituellen Abläufen seiner
Performances zum Ausdruck kommt, womit letztlich ein Beitrag zur Überwindung des
materiell-orientierten Zivilisationsgeschehens und der Befreiung des Menschen geleistet
werden sollen. Diese mythische stoffliche Verschmelzung in seiner Künstlersprache soll
die Menschen in deren ureigener Kreativität („jeder ist ein Künstler“) erfassen und
prägen. Gegenüber Hans van der Grinten äußert Beuys 1970, dass der mythische Strom
leben sollte „als Teil des selbstbewussten, freien Menschen … In das moderne,
selbstbewusste Denken des freien Individuums müsste das Mythische gewandelt
integriert werden, in das, was heute gesagt, getan, geschaffen wird…“.226 Verfolgen wir
unter diesem Aspekt zwei Beispiele etwas genauer:
Abb.102: Joseph Beuys, Wirtschaftswerte, Installation, 1980
Eine besonders kennzeichnende Arbeit ist ein Werk aus dem Jahr 1980:
Wirtschaftswerte (Abb.102). Im Anschluss an Andy Warhol erwähnen wir gerade diese
Installation, die erstmals in Gent zu sehen war, weil sie auf dem Einsatz von verpackten
Lebensmitteln beruht – diesmal allerdings aus dem „Marken“-Reservoir der DDR – und
226
J. Beuys am 7.12.1970 im Gespräch mit Hans van der Grinten. Zitiert nach Harlan, Volker: Was ist
Kunst? Werkstattgespräch mit Beuys [1986], Urachhaus, 5. Aufl., Stuttgart 1996, S. 87.
149
damit wie bei Warhol den Alltag mit vergleichbar trivialen Elementen in den
Kunstkontext überführt. Beuys baut vor einem Hintergrund mit Gemälden aus dem 19.
Jahrhundert sechs Eisenregale auf und platziert darauf die verpackten Produkte. Davor
stellt er einen Gipsblock, am Fußende mit Fett bestrichen; ein Kabel verbindet Block
und Regale. Es ergibt sich das Bild, dass die Kultur (Gips) ohne die Natur (Fett) nicht
existieren kann und dass aus diesem Spannungsfeld die Energie hervorgeht, die die
Basis für die Bereitstellung unserer lebensnotwendigen Güter ist. Es werden einerseits
die Notwendigkeit der Verbindung von Natur und Zivilisation und andererseits das
Erfordernis angesprochen, den Naturverbrauch zu steuern (das Kabel). Die Integration
der Bilder mit Themen aus der Zeit von Karl Marx, die bei jedem Aufbau der
Installation wechselnd aus Leihgaben der Gastmuseen nicht fehlen durften, mag die
Dauerhaftigkeit dieser Verbindungen anmahnen. Es wird hier eine durchaus belehrende
Haltung, frei von Ironie und bissigem Spott, sichtbar, die für die Freiheit des Menschen
eine Brücke zwischen Natur und Zivilisation schlagen möchte, wozu Beuys der
Rückverweis auf das Ursprüngliche, Unverzichtbare – auf das ‚gewandelt Mythische’ –
dient. Während der Warhol-Mythos durch bewusstes, plakatives Eintauchen in die Welt
der Alltagsmythen gewachsen war, entsteht hier ein persönlicher Mythos Beuys, der
diesen als Missionar für gesellschaftspolitische Erneuerung mit Berufung auf eine
ursprüngliche mythische Substanz charakterisiert. Das Kunstwerk wird dabei als Mittel
zum Zweck benutzt. Diese Analyse können wir an einem zweiten Beispiel vertiefen:
Abb.103: Joseph Beuys, Wie man dem toten
Hasen die Bilder erklärt, Performance, 1965
150
Bereits 1965 führt Beuys in Düsseldorf die Aktion durch Wie man dem toten Hasen
die Bilder erklärt. Abb.103 zeigt ihn sitzend in einem abgeschlossenen Raum (die
Zuschauer werden über Video erreicht) mit einem toten Hasen im Arm, dem er dann bei
Rundgängen durch diesen Raum die dort gehängten Bilder erläutert, indem er zusätzlich
mit des Hasen Pfote diese Zeichnungen berührt. Sein Kopf – diesmal ohne Filzhut – ist
mit Honig eingerieben und mit Blattgold maskiert, seine Füße sind mit Stahlplatten
verbunden bzw. stehen auf einer Zwischenschicht Filz. Diese Inszenierung geht auf
Mysterien-Riten zurück, wobei der maskierte Beuys die Rolle des Priesters im Diesseits
inne hat und der Hase als „Symbol für die Inkarnation“227 aufgefasst werden soll – das
tote Tier dient ihm als Menschenstellvertreter. Die Kommunikation zwischen beiden
symbolisiert für Beuys die Koinzidenz von Leben und Tod, letztlich die Erlösung, wie
im Mysterium versprochen. Beuys selbst will diesen schamanenhaften Auftritt als
Verweis, vielleicht auch als Schock verstehen, um das durch die aktuellen
Materialschlachten unterdrückte „geistige Wesen“ des Menschen und dessen Kreativität
erfahrbar zu machen. Die Loslösung vom „vergreisten und auf der Todeslinie weiter
wurstelnden Gesellschaftssystem“ werde dem Menschen Freiheit bringen und seine
verdeckte Rolle als Künstler offen legen, wodurch sich ein „sozialer Organismus als
Kunstwerk“ bilden könne: die Beuyssche „soziale Skulptur“ bzw. „soziale Plastik“, sein
Gesamtkunstwerk228. Durch sein direktes, aktives Auftreten und Reformieren, das
natürlich auch vor seinen Lehramtstätigkeiten nicht Halt macht, bietet sich Beuys selbst
als Mittler für seine sozial-therapeutischen Aussagen an und schafft sich dadurch den
persönlichen Mythos als heilsbringender Schamane; Erkennungszeichen: Filzhut, Jeans
und Anglerweste.
2.3.2. Marcel Broodthaers
Broodthaers beginnt sein Lebenswerk als Poet und Autor, eine Tätigkeit, deren
sprachliche und dichterische Voraussetzungen ihn sein Leben lang begleiten, auch wenn
er 1964 dieser Beschäftigung mit dem Bekenntnis ein eindeutiges Ende setzt: „Moi
aussi, je me suis demandé si je ne pouvais pas vendre quelque chose et réussir dans la
227
Beuys, Joseph, zitiert nach Leinz, Gottlieb: Annäherungen an die Antike. In: Glyptothek München:
a.a.O., S. 37.
228
Beuys, Joseph: „Ich durchsuche Feldcharakter“, in: AK Kunst im politischen Kampf, Kunstverein
Hannover, 30.3. – 13.5. 1972. Zitiert nach Harrison, Charles; Wood, Paul (Hg): a.a.O., S. 1119/20. –
Bei Uwe Schneede (a.a.O., S. 243) wird er wiedergegeben: „Mein Begriff von Plastik bezog sich
immer auf das Leben, auf das Gesamtkunstwerk, man kann auch sagen auf die menschliche
Gesellschaft als Skulptur.“
151
vie …“.229 In diesem Zusammenhang entsteht die Skulptur Pense-Bête (1963/4), für die
er 50 seiner restlichen, nicht abgesetzten Gedichtbände hälftig eingipst und dadurch
unlesbar macht (Abb.104); allerdings fragte auch keiner der Ausstellungsbesucher nach
dem Inhalt. „Niemand war von dem Verbotenen ergriffen“230.
Dennoch ist ein kurzer Blick auf ein kleines Stück Poesie dieses Inhalts für das
Verständnis von Broodthaers besonders aufschlussreich:
La Moule231
Cette roublarde a évité le moule de la société.
Elle s’est coulée dans le sien propre.
D’autres, ressemblantes, partagent avec elle l’anti-mer.
Elle est parfait.
Die Muschel
Dieses schlaue Luder hat es vermieden, Abguss der Gesellschaft zu sein.
Sie ist in sich selbst geschlüpft.
Andere, Ähnliche teilen mit ihr das Anti-Meer [das Festland].
Sie ist perfekt.
Abb.104: Marcel Broodthaers, Pense-Bête,
[,Eselsbrücke’], Mixed Media, 1963/4
Abb.105: Marcel Broodthaers,
Moules sauce blanche,
Mixed Media, 1967
Die Muschel, die später vielfältig in Broodthaers’ Werk auftaucht, könnte sein
‚Markenzeichen’ (von ihm selbst humoristisch als solches bezeichnet) sein, weil sie sich
selbst von der überwältigenden umgebenden Meeresmacht abzugrenzen versucht,
229
Anlässlich seiner ersten Ausstellung in der Brüsseler Galerie Saint-Laurent im April 1964 ergeht
dieser Einladungstext: „Auch ich habe mich gefragt, ob ich nicht etwas verkaufen und im Leben
erfolgreich sein könnte. Schon seit einer ganzen Weile bin ich zu nichts gut. Ich bin [jetzt] 40 Jahre.
Schließlich durchdrang mich die Idee, etwas Unaufrichtiges zu tun, und ich machte mich sogleich an
die Arbeit …“ (eigene Übers.). Siehe Abb. in ,documenta’ (Hg): Politics – Poetics, das Buch zur
documenta X, Cantz, Ostfildern 1997, S. 132/3.
230
M. Broodthaers im Interview mit Lebeer, Irmeline: In: Dickhoff, Wilfried (Hg): Kunst Heute
Nr. 12, Marcel Broodthaers, Interviews & Dialoge, 1946 – 1976, Kiepenheuer & Witsch, Köln 1994,
S. 125.
231
Vgl. Buchloh, Benjamin H.D. (ed): Broodthaers, Writings, Interviews, Photographs, MIT Press, Mass.
1988, S. 26. Eigene Übersetzung. Marcel Broodthaers spielt mit der Doppeldeutigkeit von „moule“ im
Französischen: la m. = Miesmuschel, le m. = Form, Abguss.
152
ebenso wie er – Broodthaers – sich dem Druck der Gesellschaft bzw. der Kulturindustrie entziehen oder widersetzen möchte. Das Abkapselnkönnen der Muschel signalisiert
eine gewisse Sicherheit oder zumindest zeitweilige Regeneration von den
gesellschaftlichen Zwängen. Später scheint er diesen zuversichtlichen Gedanken in
Frage zu stellen. Ab Mitte der 60er Jahre türmen sich auf unnatürliche Weise in seinen
Darstellungen riesige Mengen entleerter Muscheln auf Tischen oder in Töpfen
(Abb.105); dies geschieht auch mit Eierschalen, die er zu banalen Objekten des
Haushalts (Tischen, Eierbechern, Vasen) in Beziehung setzt. Muscheln und Eier werden
verzehrt und ihre ‚Verpackungen’ zu Elementen eines Kunstobjekts.232 Die Muschel hat
letztlich keine Chance im sogenannten wirklichen Leben, als leeres Objekt wird sie
sinnlos aufgehäuft, als Kunstelement durch den Kunstbetrieb vereinnahmt. Es ist die
multiple Zerbrechlichkeit und Leere dieser gewählten Objekte, die das Individuelle für
Broodthaers im gesellschaftlichen Kontext charakterisiert. Broodthaers benutzt eine
poetische, leicht ironische Handschrift im Dienste seiner Aufklärung gegenüber dem
(herbeigeredeten) Mythos einer intakten Gesellschaft.
Die zitierten Bilderrätsel erinnern formal stark an Magritte, sie illustrieren für
Broodthaers eine „Rhetorik, die sich im neuen Wörterbuch von überlieferten Ideen
nährt“, eine Zusammendichtung, die er „soziologische Realität“ nennt und damit
durchaus einer Interpretation Hilfestellung leistet, die neben dem Poetischen das
Ironisch-Gesellschaftskritische hervorhebt. „Das ist es, was Magritte mir nicht versäumt
hat vorzuwerfen. Er fand mich viel soziologischer als künstlerisch“.233
1968/72 verfestigt sich Broodthaers’ Handschrift durch die Gründung und Eröffnung
des Musée d’Art Moderne, Département des Aigles in seiner Brüsseler Wohnung an der
Rue de la Pépinière; die Eröffnung betraf die Section XIXème Siecle, in der
Abbildungen von vorwiegend französischen Werken aus diesem Jahrhundert in Form
von Postkarten und Reproduktionen an den Wänden hingen, davor standen
Verpackungskisten einer Kunstspedition mit den üblichen Aufschriften wie ‚With Care’
oder ‚Haut-Bas’, die während der Eröffnungszeremonie – Broodthaers selbst in der
Rolle des Direktors und Kurators – den geladenen Gästen als Sitzgelegenheiten dienten.
Ein Jahr später wird das Institut, die Section XIXième siècle, geschlossen, jedoch die
Museumsidee als fiktiver Rahmen für Broodthaers’ Wirklichkeitsanalyse bleibt und
232
Mit „Das ist ja Kunst“ zitiert Freddy De Vree 1990 den Galeriebesitzer Eduard Toussaint, dem M.
Broodthaers seine ersten Objekte zeigt. Vgl. Isy Brachot (ed.): AK Marcel Broodthaers 1924 – 1976,
Paris 1982, S. 40.
233
M. Broodthaers im Interview mit Irmeline Lebeer. In: Dickhoff, Wilfried (Hg): a.a.O., S. 121.
153
feiert einen besonderen Höhepunkt 1972 in Düsseldorf mit dem Musée d’Art Moderne,
Département des Aigles, Section des Figures (Der Adler vom Oligozän bis Heute), einer
umfangreichen Ansammlung von Adler-Darstellungen aus Politik, Kunst und Werbung.
Diese letzte Formung seines Museums – danach nur noch auf der documenta als Section
Publicité wieder zu finden – thematisiert zwar das Adler-Symbol als einen Mythos des
Erhabenen und Unbezwingbaren, jedoch ist seine eigentliche Aussage in der Methodik
zu
suchen:
Er
stellt
die
Motive
des
Adlers
nicht
nach
systematischen,
museumskonformen Gesichtspunkten zusammen – etwa herrschaftliche Emblematik,
bürgerlicher Kitsch, mythologische oder religiöse Darstellungen –, sondern nach der
alphabetischen Folge der Namen der Leihgeber und vermischt dann später noch diese
Orientierung zusätzlich mit werblichen Ausdrucksformen des Adlers. Hierdurch alleine
schon, aber deutlicher noch durch die weitere Erklärung zu jedem Ausstellungsstück
„Dies ist kein Kunstwerk“ vollzieht sich endgültig die beabsichtigte Entmythologisierung der Mythen der Hochkunst, des Alltags und des Museums als Wächter des
Kunstbetriebes.
Mit seinem Verweis „Ceci n’est pas …“ knüpft Broodthaers wiederum an die
Identitätsdiskussion von Magritte an. Aber nicht nur dies: Er stellt sich – umgekehrt –
konzeptuell auch in die Tradition Duchamps, der (im ersten Schritt) aus dem
Gebrauchsgegenstand ein Kunstwerk kreiert, während Broodthaers das Kunstwerk und
die Strukturen des Kunstgeschehens humoristisch demontiert.
Wenn wir uns nunmehr dem letzten Abschnitt seines Lebenswerkes zuwenden,
werden wir erneut das Stichwort „Sozialkritik“ bzw. Broodthaers’ Aufklärungsdialektik
antreffen. Diese Phase seines Lebens (1972 – 74) wird bestimmt durch die
Ausstellungsfolge „Décor“ in sechs Städten: Brüssel, Basel, Berlin, Oxford, London,
Paris; eine ausführliche Erörterung im chronologischen Ablauf hat kürzlich Dorothea
Zwirner vorgelegt234. An dieser Stelle möchten wir uns beschränken auf ein ständig in
dieser Serie wiederkehrendes Motiv und sein Beiwerk, um dabei der Broodthaersschen
Eigenart des Entmythologisierens weiter auf die Spur zu kommen.
Das zentrale, visualisierte Thema des Décor ist der Jardin d’hiver / Wintergarten
(Abb.106). Wenn wir uns mit Hans-Georg Gadamer235 vergegenwärtigen, dass „für die
ganze Spanne der Dekoration“ die Rolle einer dualen Vermittlung derart gegeben ist,
dass sie diese nämlich einmal in der Steuerung der Aufmerksamkeit und ferner in dem
234
235
Zwirner, Dorothea: a.a.O., S. 148 – 162.
Gadamer, Hans-Georg: Ges. Werke Bd. 1, Wahrheit und Methode [1960], 6. Aufl., Mohr, Tübingen
1990, S. 163. S. auch Zwirner, Dorothea: a.a.O., S. 160.
154
Rückverweis auf das eigentlich Wesentliche des größeren Ganzen liegt, dann wird
dieser Wintergarten seiner Aufgabe vollauf gerecht: Broodthaers wählt bewusst das
abgestandene Wintergarten-Motiv aus dem 19. Jahrhundert mit Palmen, Gartenstühlen
und Exoten der Kolonialländer (Papageien, Schlangen), das in seiner Gefälligkeit und
Leichtigkeit als das Schöne an sich (decorum) betrachtet wurde und wird. Dieses Bild
bürgerlicher Wirklichkeit verweist aber gleichzeitig zurück auf die dahinter liegende
Realität, die leichtfertige Angepasstheit menschlichen Verhaltens: ‚Wir tragen Kunst als
Dekor vor uns her’ signalisiert uns Broodthaers’ Décor als Kunstwerk. – Dass wir uns
mit diesem Dekorgehabe selbst überlisten, ist ein Hinweis, den wir auch dem häufig von
ihm verwendeten Spiegelbild verdanken: der Spiegel – nur zu oft als Dekoration benutzt
– steht für Vanitas (Leere, Eitelkeit, ja Lügenhaftigkeit), und wird bei Broodthaers als
Narrenspiegel eingesetzt.
Abb.106: Marcel Broodthaers, Un Jardin d’hiver, Installation, 1974
Vor dem Wintergarten-Ensemble könnte wieder einmal das Schild hängen ‚Dies ist
kein Kunstwerk’. Aber trotz der damit anklingenden Absolutheit ist diese Art des
Entblätterns des Mythos des Kunst-, Wirtschafts- und Staatsbetriebes nicht drastisch
revolutionär. Wohl gibt es individuelle Verweise auf politische Konnotationen,
Verweise auf die Ökonomie, Zitate zu Werken anderer, häufig aus der Distanz
(Mallarmé, Poe), jedoch schlägt seine – oft verspielt clownereske – Mischung aus
Sprache und Bildern nicht direkt den Knoten der angeregten Bedeutung durch, sondern
verdickt zunächst das Durcheinander eher. Seine allusive, indirekte Art signalisiert
politisches Denken, er bleibt aber Poet, der relativiert. Wozu anders dient das Bild
lebendiger Tautologie – der Papagei – wenn nicht dessen dekoratives Geplapper mehr
klagend als verändernd ist? Aber bei dem Papagei vergessen wir nicht, auch zu
155
schmunzeln, so wie Broodthaers es getan hätte, wenn er über die Umstände des
aktuellen Ankaufs seines Moi, je dis Je; moi, je dis Je, le roi des Moules durch das
MMK Paris erfahren hätte: Das Stadtparlament rügte den hohen Ankaufspreis für ein
vergängliches Broodthaers-Kunstwerk, das außer einem lebenden Papagei lediglich
noch aus dessen Käfig, zwei Palmen und einem Tonbandgerät bestand. Der
verantwortliche Kulturreferent aber kämpfte nicht nur erfolgreich gegen die politische
Einmischung („… damit öffnen Sie dem Faschismus Tür und Tor“), er setzte sich auch
noch gegen die Tierschützerin Brigitte Bardot durch, deren Argumentation bzgl. der
lebenslangen Gefangenschaft des Vogels durch die Anordnung regelmäßigen Freigangs
und vierteljährlicher Auswechselung des Tieres außer Kraft gesetzt wurde236.
An der relativierenden Ironie der Kritik an Kulturindustrie und Gesellschaft wird nun
aber auch ein antagonistisches Verhältnis von Broodthaers zu Beuys deutlich.
Sichtbarer Höhepunkt der unterschiedlichen Haltungen beider Künstler ist ein offener
Brief von Broodthaers an Beuys, der am 3.10.1972 in der Düsseldorfer Rheinischen
Post erscheint. Hintergrund für diesen Brief ist 1972 Broodthaers’ Zurücknahme seiner
Exponate von einer Ausstellung des Guggenheim Museums mit europäischen
Künstlern, weil dieses Museum im Jahr zuvor eine Hans Haacke-Beteiligung wegen
dessen politischer Inhalte abgesagt hatte. Da dieser Vorgang Beuys völlig unberührt
lässt und er trotzdem im Guggenheim ausstellt, schreibt Broodthaers jenen offenen
Brief, den das Feuilleton der Zeitung wie folgt einleitet: „Broodthaers, der in
französischem Denken geschulte Flame, lässt Jacques Offenbach, den aus Köln
stammenden Komponisten luziden französischen Esprits, an Wagner schreiben, den
germanischen Magier des Gesamtkunstwerks oder auch an Beuys, den Magier des
Kunst-ist-Leben-ist-Politik-Romantizismus“.237
Broodthaers markierte durch seinen Umgang mit der Institution ,Museum’, dass sich
hinter der Argumentationsfassade einer sich selbst als neutral und politisch zweckfrei
bezeichnenden Institution nur die zwanghafte Absicht verbarg, den bestehenden
Kunstbetrieb reibungslos zu kontinuieren. In der für ihn typischen Art im Grenzbereich
zwischen Surrealismus und Konzeptkunst, Metaphern und Metonymien zu verwenden,
bemüht Broodthaers in diesem Zusammenhang eine briefliche Metapher an den
Wagner-Beuys und macht diesem zum Vorwurf, in der Verschränkung von Politik und
236
237
S. Weser-Kurier vom 4.12.2002. Der strittige Ankaufspreis betrug 210.000 Euro.
Zwirner, Dorothea: Correspondances. – Die Rezeption von Marcel Broodthaers. In: Galerie Hauser &
Wirth, Zürich; Galerie David Zwirner, New York: Marcel Broodthaers, Correspondances, Oktagon,
Stuttgart 1995, S. 17. S. vollständiger reproduzierter Text bei Pelzer, Birgit: Recourse to the Letter. In:
Buchloh, Benjamin, H. D. (ed): a.a.O., S. 174 – 176.
156
Kunst dieser institutionellen Absicht Vorschub zu leisten und letztlich dem Mythos
Kulturindustrie (als identitäts-vermittelnder Zivilisationsmaschinerie) den Boden zu
bereiten.
„Anstatt den Markt mit sogenannter ,politischer Kunst’ zu beliefern, wodurch der
illusorische Glaube an die Macht der Kunst bewahrt würde, untergrub Broodthaers
dieses Vertrauen in die Macht der Kunst durch Strategien der ironischen
Affirmation“.238 In seinem Brief an Beuys tritt Broodthaers in die Rolle von Offenbach,
der nach 1848 – anders als Wagner und dessen Bezug zu mythischer Vergangenheit –
das Mittel versteckter Ironie für seine Gesellschaftskritik bemühte. OffenbachBroodthaers trägt den grauen Anzug des angeblich Vereinnahmten, der Mythos des
Wagner-Beuys bildet sich um das angeblich Reformerische in Hut, Jeans und Weste.
2.4. Barney und Cattelan
Mit diesem Abschnitt werfen wir einen Blick auf die aktuelle Szene am Wechsel des
Jahrhunderts. Alle Kunstgattungen des 20. Jahrhunderts werden vielfach und in
besonders radikaler Weise weiter ausgelotet, wobei die praktizierte Skepsis gegenüber
der Kunst bestehen bleibt. Uwe Schneede bezeichnet die teilweise verflochtene oder
auch parallele Verwendung aller technischen und ästhetischen Möglichkeiten als
„modusübergreifende Offenheit“. Die für den einzelnen Künstler typischen Anregungen
kommen von allen Seiten – aus Politik, Kommerz, Sport, Medizin, Körperlichkeit,
Alltag – und rütteln an der Autonomie der Kunst.239 Bietet die Erkennung des
Mythischen bzw. des Gegenteils eine verlässliche Orientierung in diesem komplexen
Geschehen? – Aus der großen Zahl der zeitgenössischen Künstler haben wir zunächst
zwei ausgewählt, die bereits in jungen Jahren ein durchaus kontrovers diskutiertes
internationales Renommee erlangt haben und die uns an dieser Stelle einen Rückblick
auf bereits erörterte ‚Kunst-Patriarchen’ möglich machen: Matthew Barney (geb. 1967)
und Maurizio Cattelan (geb. 1960).
238
Germer, Stefan: Haacke, Broodthaers, Beuys. In: Bernard, Julia (Hg): Germeriana. Unveröffentlichte
oder übersetze Schriften von Stefan Germer zur zeitgenössischen und modernen Kunst. Jahresring 46,
Oktagon, Köln 1999, S. 36.
239
Vgl. Schneede, Uwe, M.: a.a.O., S. 301 ff.
157
2.4.1. Matthew Barney
Der Amerikaner Matthew Barney bedient sich von Anfang an in spektakulärer Weise
jener erwähnten modusübergreifenden Ausdrucksweise. Bereits um 1990 schuf er sich
Installationen für seine Performances, die er in Videos aufzeichnete: Drawing Restraint
oder Mile High Threshold: Flight with the Anal Sadistic Warrior. Diese Szenen
entstehen vor dem Hintergrund seines ersten Lebensabschnitts als Dressman und
sportlich aktivem Medizinstudent. Bezeichnenderweise setzt er dabei u.a. Sportgeräte
(z.B. Trampolin, Hantel) und medizinische Apparatur (z.B. chirurgische Plastikschläuche) ein, um innerhalb dieser Installationen seine eigenen Darstellungs- und
Bewegungsmöglichkeiten positionieren, steigern und diese gleichzeitig erschweren zu
können.
Von 1994 bis 2002 entsteht sein bisher bestimmendes Werk, der Cremaster-Zyklus,
ein insgesamt achtstündiges, fünfteiliges Filmwerk (Nr. 4, 1, 5, 2, 3), das alle seine
künstlerischen Gestaltungsmodi einschließt. Es entwickelt sich eine individualmythologische Szene einer Vielzahl aneinander gereihter Geschichten, bizarrer
Fantasien, die erheblich über unsere bisherigen künstlerischen Erfahrungswelten
hinausgehen. Anspielungen auf Revue-Shows, Kitsch, Science-Fiction, Sport, Medizin
und Körperlichkeit mischen sich zu einem Bild, das Fantasie und Fantasma einander
näher bringt. In Zusammenhang mit den Geschehnissen in Cremaster 1 beschreibt
Barney selbst die Zielsetzung jenes Starlets ,Goodyear’, das in diesem Film zwei
Zeppeline über einem Sportfeld in einer bestimmten Position hält, als Verzögerung
eines geschlechtlichen ,Landungsprozesses’ und damit als ein „Aufrechterhalten von
Indifferenz“240. Könnte diese Formel die Grundstruktur seiner Arbeit erklären?
Es beginnt mit dem Namen für die Filmserie: Cremaster, der medizinischen
Bezeichnung für die Muskelfasern, die den Samenstrang umgeben und die Hoden je
nach Außenreizen heben oder senken bzw. sie bei Kälte und Ängsten zum Inneren des
Körpers ziehen. In Cremaster 4 (erster Film: 1994) steht der Titel für eine Szenerie auf
der Isle of Man und deren jährliches Motorrad-Spektakel, im folgenden Cremaster 1
(1995) erleben wir ein Geschehen in dem erwähnten Football-Stadion mit darüber
schwebenden Goodyear-Zeppelinen, Cremaster 5 (1997) spielt im Budapest früherer
durch griechisch-römische, slawische und barocke Einflüsse geprägter Jahrhunderte,
Cremaster 2 (1999) greift vor dem Hintergrund der kanadischen Rocky Mountains und
240
Barney, Matthew: Der Körper als Instrument, ein Gespräch von Christoph Doswald. In: Kunstforum
International, Bd. 135, a.a.O., S. 312 – 321, hier: S. 318.
158
der Salzebenen Utahs die Geschichte eines Raubmörders auf, schließlich entsteht 2002
das längste Opus in und um das New Yorker Chrysler-Building mit der
Auseinandersetzung eines (von Richard Serra gespielten) Architekten und seinem neuen
Lehrling (Barney).
Die Filme haben mit der Struktur eines üblichen Spielfilms nicht viel zu tun, weil
ihnen logisch geschlossene Handlungsabläufe weitgehend fehlen. Vielmehr handelt es
sich um einen schier endlosen Aufmarsch aneinander gefügter fantastischer Bilder und
Szenen, durch aufwühlende Musik begleitet, die durch Exotisches und Makabres,
Überraschendes und Episches beeindrucken wollen. Geht man von dem Filmtitel aus, so
steht der Muskel „als Symbol für den Willen … ein Auf und Ab zu steuern“ 241, letztlich
doch wohl im Sinne der Charakterisierung eines indifferenten Schwebezustandes, der
noch nicht zur Ruhe gekommen ist bzw. – in bewusster Anlehnung an Barneys
medizinische Wurzeln – seine Geburtswehen noch nicht in neue endgültige Formen
gebracht hat.
Abb.107: Matthew Barney,
Cremaster 5, Her Giant,
Still, 1997
Abb.108: Pan, Bronzeverzierung
eines Möbelstücks,
römisch, 1./2. Jahrh.
In seinen Filmen treten zahlreiche Fantasie-Erscheinungen auf: Her Giant (Abb.107)
aus Cremaster 5 ist eine davon, eine Mischung aus Mensch und Tier (Barney selbst ist
der ,Gigant’). Barney greift hierbei auf den Pan-Mythos zurück, in dem die
Eigenschaften des bocksbeinigen Ziegengottes überliefert werden: der unentwegte
Drang nach Nymphen und das Verbreiten panischen, (biblisch-)teuflischen Schreckens
durch sein Schreien (vgl. Abb.108). Weitere Kunstfiguren wie Untote, Satyren, Zwitter
oder überzogene Typen wie der Footballer Jim Otto, der Entfesselungskünstler Harvey
241
M. Barney lt. http://kunsthallewien.t0.or.at/german/barney.html
159
Houdini oder der weibliche Transvestit Jim Blind betreten die Bühne, verwickelt in
Zerstörungs- und Schöpfungsprozesse, wobei das Sexuell-Erotische nicht fehlen darf.
Dabei sind die Reizanhäufungen und Machobilder derart dominant, dass hier weniger
eine
Kritik
sozialer
Umstände
aufscheint,
als
vielmehr
eine
künstlerische
Selbstdarstellung durchdringt, die sich immer wieder ekstatisch in überwuchernden,
barocken Fantasiewelten bewegt. Nach Tom Holert ist Barneys Ansatz der „einer
forcierten Autonomie“, die Barney selbst „auto-erotisch“ nennt, die also einen
Lustgewinn ohne Partner, das heißt ohne Sozialbezug, erreicht. Holert zitiert in diesem
Zusammenhang Barney weiter: „Mein System ist in sich geschlossen. Die
verschiedenen Figuren, die da auftauchen, sind letztlich eine einzige Person“.242
Ein kurzer Blick in Cremaster 3 bestätigt den losen Handlungszusammenhang,
seinen Rückgriff auf kultische Rituale, auf Bezüge zu Katastrophen- und Schöpfungsprozesse antiker Mythen und deren treibende sexuelle Kräfte und Obsessionen: Das
Geschehen läuft ab in dem im Bau befindlichen New Yorker Chrysler-Building und
berichtet von der Auseinandersetzung zwischen dem Architekten, seinem Lehrling und
dem selbst als handelnde Person auftretenden Gebäude. Dabei steht sowohl die
Freimaurer-Legende um König Salomo und dessen Tempelbau Pate als auch die
Initiationsriten der Freimaurer, nach denen der Lehrling zur Erlangung höherer Grade
mehrere Bewährungsstufen durchlaufen muss, um den Meistergrad zu erwerben. Dieser
Ansatz wird besonders deutlich gegen Ende des Opus, wo die ‚Handlung’ vom
Chrysler-Wolkenkratzer zum Guggenheim-Museum schwenkt und der Lehrling dort zur
Erlangung der Weihe auf jeder Etage der inneren Gebäude-Rotunde Hindernisse
bewältigt. Danach werden wir wieder zum Chrysler-Building geführt, auf dessen Spitze
der Lehrling den Architekten umbringt, um danach selbst vom lebendigen Turm
ermordet zu werden.243 Wenn wir Barneys eigenen Bemerkungen zu Cremaster 1 aus
dem Gespräch mit C. Doswald über die sexuellen Bezüge seiner Handlung folgen, dann
lassen sich durchaus in den Protagonisten des Films (Architekt, Lehrling, Turm etc.)
psycho-sexuell Gesteuerte (Vater, Sohn, Mutter) lesen, die Barneys zwanghafte
Vorstellungen von Vatermord (Sohn = Lehrling, Vater = Architekt) und Tötung des
Sohns durch die phallische Mutter (= Chrysler-Turm) wiedergeben. Barney bewegt sich
in den Klischees sexueller Konfliktkulminationen und verbleibt damit kritiklos auf dem
242
243
S.: http://www.stadtrevue.de/index_archiv.php3?tid=207&bid=2
Eine ausführliche Beschreibung aller Filme des Zyklus s. bei: Spector, Nancy: Matthew Barney, The
Cremaster Cycle, Museum Ludwig Köln, Cantz, Ostfildern-Ruit 2002, S. 2 – 91.
160
Terrain kollektiv erfahrbarer Trivialität und deren gesamter faszinierender Breitenwirkung.
Bemerkenswert ist ein anderes Detail aus diesem und anderen seiner Filme, die
Verwendung körperanaloger Materialien: Vaseline, Petroleum-Gel, die nicht nur in den
Haushalt der homosexuellen Praxis als deren Basismaterialien gehören, sondern darüber
hinaus an die mythischen Symbole von Fett und Filz erinnern. Die Überfülle an
fremdartigen körperbezogenen Reizen (Folter, Gangstermethoden, absurde Erotik)
kreieren einen persönlichen Mythos Barney, der allerdings in seiner Egomanie weit über
den von Beuys hinaus reicht. Hier ist nicht mehr der schamanenhafte Messias am Werk,
hier tritt ein Ego auf, das in seinem Selbstbezug unerschütterlich ist. Mark Van
Proyen244 stellt sich die Frage, ob nicht analog der Cremaster-Funktion „the psychic
temperature of postmodern identity has gone too low for the survival of anything except
a highly perverse and over-objectified maleness?“ Barneys Mythos spiegelt für ihn die
Dekoration der Selbstdekoration, die zutiefst narzisstische Position eines Dandys.
Anspielungen auf antike Mythen und Mysterien tragen zur Entstehung dieses Bildes
bei, entscheidend aber ist das überbordende Eintauchen in das Meer aktueller
Medienbilder und dessen Anreicherung mit Reizen eines neuartigen Manierismus, der
diesen ausgeprägten Persönlichkeitsmythos entstehen lässt.
Manchmal tritt der Dandy auch als clowniger Narr auf, der hinter seinem grotesken
Gehabe eine andere Schicht andeutet. Keith Seward245 gibt Barney diese Chance, indem
er das Heldentum seiner Figuren mit der Nazi-Kunst und deren Rückgriff auf
mythologische Gegebenheiten ritueller Abläufe und Körperkultur vergleicht. Barneys
Helden sind in diesem Zusammenhang buchstäblich Anti-Helden, Nullen, wie etwa Jim
Otto (Doppel-Null im Trikot), die in Kräftefeldern operieren, die ihnen nur Zustände
permanenter Verwandlung und ständigen Schwebens zugestehen.
Wir müssen wohl Barneys weiteres Wirken abwarten und analysieren, ob er uns in
diesem Schwebezustand, der allerdings jene eingangs erwähnte Unbestimmtheit und
Indifferenz signalisiert, bewusst belässt, oder ob er eventuell doch Entmythologisierung
und Demaskierung mit Hilfe des mythischen Übertriebenen möglich macht.
244
245
S.: http://www.eserver.org/bs/38/vanproyen.html
S. Parkett Nr. 45/1995: Matthew Barney. Zürich, New York, Frankfurt/M., S. 64.
161
2.4.2. Maurizio Cattelan
Cattelan ist ein Autodidakt, für den die Jugend in seinem proletarischen italienischen
Elternhaus die Stimulanz ist, eine bessere materielle Zukunft anzustreben. Erst mit Ende
Zwanzig wählt er nach einigem Jobben und einer Ausbildung als Krankenpfleger die
Kunst zu seiner Bestimmung, weil diese ihm „ein geregeltes Einkommen und attraktive
Frauen versprach“ 246. Anders als manch anderer Künstler hat er die Doppelbegabung,
die Trends und Stimmungen seiner Zeit – Spektakel und Probleme der Erlebnisgesellschaft – zu erkennen und diese auf nahezu werbliche Art und Weise dramatisierend in
bildhafte und aktionierte Situationen zu transferieren, wobei er dem Rezipienten
ausreichend Raum zur Interpretation überlässt.
Um an sein Ziel zu gelangen, setzt er für seine Skulpturen, Installationen und
Aktionen aus einer metaphorischen Tierwelt, aus Politik, Gesellschaft und Kunstbetrieb
eine bildhafte Ideenmischung von Überraschungseffekten, Schocks und ulkigen
Verrücktheiten ein. Auf der Suche nach dem (Anti-)Mythischen haben wir versucht,
unabhängig von einer chronologischen Bestandsaufnahme seines Schaffens zwei
unterschiedliche, sich aber ergänzende Gruppierungen seines Auftritts herauszufiltern:
Zunächst einmal ist ein starker Fokus auf die Konditionierungen der Riten des
Kunstbetriebes sichtbar. Seine Kritik an den beteiligten Institutionen sichert ihm
gleichzeitig deren Wohlwollen, weil er nicht nur ein geteiltes, polarisiertes Publikum
erkannt hat, sondern weil er für die ihm prinzipiell zugeneigte Hälfte dieser
Öffentlichkeit die treffende künstlerische PR-Dramaturgie des zu akzeptierenden,
humorgetriebenen ,Helden gegen das Normale’ beherrscht. Es fängt an mit dem
Presseaufruf einer fiktiven Cattelan-Organisation, nicht zur Wahl zu gehen, weil dabei
das Wertvollste, was man besitzt, abgegeben würde. Seine erste Publizität erweitert sich
1989 durch seine erste Einzelausstellung, an deren Eingang das Schild Torno subito /
Komme gleich wieder angebracht war, um die von ihm selbst ausgeräumte Ausstellung
seiner unzureichenden Exponate anzukündigen. Fast nichts nannte er einen
Ausstellungsraum, den er, statt etwas zu präsentieren, über zusammengeknotete Laken
angeblich durchs Fenster verlassen hatte.247 Er verschafft sich Geldmittel und Erfolg
durch eine fiktive Oblomov-Ausschreibung in der Karibik, benannt nach dem
russischen Helden der Entspannung, deren Teilnehmer sich verpflichten mussten, ein
Jahr lang an keiner Ausstellung teilzunehmen; das Preisgeld der Sponsoren, das er
246
M. Cattelan, zitiert nach art Das Kunstmagazin: Nr. 3/2002, S. 27. Diese Bemerkung erinnert an
M. Broodthaers’ Bekenntnis auf der Einladungskarte zu seiner ersten Ausstellung (s. Anm. 229).
247
Ebd., S. 26.
162
beschafft hatte, steckte er selbst ein, weil er der einzige Bewerber war. Schließlich ist er
keineswegs zurückhaltend, wenn es darum geht, Künstlerkollegen die Idee und Schau
zu stehlen, um selbst etwas darstellen zu können: 1997 präsentierte er in der Pariser
Galerie Emmanuel Perrotin Werke, die mit denen seines Freundes Carsten Höller
absolut identisch waren. Höller stellte in der benachbarten Galerie Air de Paris aus. Der
Plagiator war Cattelan.
Aber Cattelans Rolle greift über Kunstdiebstahl hinaus weiter, als allein die
Kunstszene zu provozieren, von der er gleich wieder vereinnahmt wird. In dieses
Schema der Kunstkritik eingebaut, richtet er in einem weiteren Teil seiner Arbeiten
seinen Biss gegen Ikonen bzw. fest gefügte Vorstellungen und Realitäten unseres
Gesellschaftsspektrums: Er erlangt endgültige Berühmt-/Berüchtigtheit durch seine
lebensechte Wachs-Installation La Nona Oro / Die neunte Stunde (1999), worin der
Papst Johannes Paul II. durch einen Meteoriten getroffen zusammenbricht (Abb.109),
getroffen von einem gänzlich unheiligen außerirdischen Himmelsstein, einem Kometen,
zur neunten Stunde, der Tageszeit, zu der Christus am Kreuz starb. Das Werk rief 2000
den Zorn polnischer Politiker hervor; zwei Mitglieder der katholischen Partei Polens
wollten während der Präsentation der Installation in der Warschauer Nationalgalerie,
nachdem das Werk bereits in Basel und London gezeigt worden war, die Würde des
Papstes wieder herstellen, indem sie den Meteoriten zu entfernen und den Papst auf die
Beine zu stellen versuchten.248 – An anderer Stelle erscheint Hitler als verharmloster
Betender im grauen Tweed-Anzug (2001). Dieser Hitler ist – in der Nachfolge eines
Chaplin – von Cattelan buchstäblich in die Knie gezwungen, indem er als zwölfjähriger,
bibbernder Chorknabe auf die Dimension des Lächerlichen gebracht wird. Cattelans
makabre und absurde Figurendarstellungen vermitteln Skepsis, Unduldsamkeit und
Widerwillen gegenüber Macht und deren Systemen. Verführerische Effekte mischen
sich mit Polemik zu Diskursen unserer Tage.
Häufig wiederkehrende Gestaltungselemente sind Tiere in Form von Skeletten oder
Präparaten. Hier hat es ihm besonders der Esel, so geduldig wie störrisch dümmlich,
angetan: Statt Christus das Kreuz trägt dieser einmal als Symbol für die Religion
unserer Tage einen Fernseher auf dem Rücken, ein anderes Mal balanciert sein EselSkelett die darüber pyramidenartig aufgebauten Gebeine der anderen Mitwirkenden der
Grimmschen Bremer Stadtmusikanten (Abb.110).
248
Gioni, Massimiliano: Maurizio Cattelan – Rebel with a Pose [2000], Phaidon Press, 2nd ed., London,
New York 2003, p. 158 – 192, here p. 179.
163
Abb.109: Maurizio Cattelan, La Nona Ora / Die neunte Stunde,
Installationr, 1999
Abb.110: Maurizio Cattelan,
Love lasts forever,
Skulptur, 1997
Die Verbindung dieses letzteren quasi-mythischen Märchenbezugs mit dem Titel der
Skelettskulptur Love lasts forever (es gibt daneben eine andere mit ausgestopften
Musikanten) lässt uns mit der Frage allein, ob der im Märchendrama errungene Sieg der
ursprünglich geschundenen Koalition nicht doch auch ein vergänglicher ist. Ein anderes
Mal tritt bei Cattelan der Esel – wie bei Broodthaers in Brüssel das Kamel – lebend in
der New Yorker D. Newburg Gallery lebend auf249 und verwandelt den Ausstellungsraum in ein Zoogehege; man könnte der Szene auch den Titel geben: ‚Achtung, hier
wird auch nur mit Wasser gekocht!’ Natürlich kann ein derartig musealisierter Esel auch
nur schlichtweg Teil der Spaßgesellschaft unserer Tage sein. Mehr noch ist dies
allerdings Cattelans Picasso-Figur für Arme, die er 1998 vor dem MoMA in New York
einen Berufsschauspieler, in entsprechendem Outfit maskiert, mimen lässt, um für die
Ausstellung zu werben. Die Kunst zählt für ihn ohne Frage zur heutigen Erlebnisgesellschaft. Hierzu passt auch die Szene, worin er 1995 einen Pariser Galeriebesitzer in
dessen Räumen einen Monat lang in einem pinkigen Hasenkostüm auftreten lässt, das
einem überdimensionalen Penis nachempfunden ist.
Schließlich möchten wir nicht unerwähnt lassen, dass sich seine Aktionen auch
gegen Gewalt, Ausnutzung, Rassismus und Apartheid wenden. Mit Lullaby (1994) stellt
er in Plastiksäcken Trümmerschutt aus, der bei tödlichen Mafiaanschlägen in Florenz
und Mailand entstanden war. Oder: Statt der Namen von gefallenen GI’s werden auf
einer monumentalen Granitplatte 1999 in London die verlorenen Spiele der englischen
Fußball-Nationalmannschaft eingraviert. Oder: Er stellt an einem überlangen Fußballspieltisch zwei Elfer-Mannschaften gegenüber, elf Italiener und elf senegalesische
Einwanderer, die sich in Italien rassistischen Ressentiments gegenübersehen.
249
Der Titel der Installation war: Warning! Enter at your own risk. Do not touch, do not feed, no smoking,
no photographs, no dogs, thank you“ (1994).
164
Alles in allem vollzieht Cattelan einen gewagten Künstler-Spagat zwischen
ironischer, spaßiger Effekthascherei und Problematisierung ernsthafter Sachverhalte. Er
benutzt geschickt das Kunstsystem für seinen subversiven Ansatz, das ihn dafür
reichlich belohnt.250 Geschmeidig bewegt er sich vollständig im System, das seine
Provokationen zur Entmythologisierung lächelnd entgegennimmt. Seine Arbeit
erscheint wie eine Werbekampagne für seinen persönlichen Markenmythos, eine
Kampagne, die den Riten des aktuellen Kunstbetriebs folgt, ohne dabei allerdings wie
Beuys oder Barney die mythische Repetition zu strapazieren. Wenn er betont und dabei
bleibt, dass er das System benutze, dann sind seine zugespitzten Formulierungen
letztlich auch als stark affirmative Reflektionen zur Rolle des Künstlers in diesem
System zu verstehen. Es ist jedoch eine Interpretation vorstellbar, wonach seine
Überzogenheiten mit ihrem „Übers-Ziel-hinausschießen“ das System der Kunstwelt und
der Mythen des Realen für einen kurzen Augenblick in einem Catellan-Zerrspiegel
brechen. Dafür kann man ihn durchaus lieben, wie zum Beispiel Kasper König, Direktor
des Kölner Museums Ludwig, der den computergesteuerten Trommler auf dem Dach
des Museums (Abb.37) als Beispiel für „Tiefsinn, der als Zote getarnt ist“ beschreibt.251
Das Mythische in seiner jeweiligen künstlerischen Wiederaufbereitung, seiner
ausdrucksstarken Neuerschaffung oder auf der Anklagebank der um Aufklärung und
Erkenntnis bemühten Künstler hat viele aktuelle Gesichter, die Harald Szeemann schon
1963 ,individuelle Mythen’ genannt hat, um die einzelnen Bemühungen zu beschreiben,
die in der großen Unordnung der Welt eine besondere individuelle Ordnung
ermöglichen oder andeuten sollen.252
250
La Nona Ora wurde 2001 für 886.000 Dollar bei Christies versteigert. Love lasts forever erzielte nur
deshalb 442.500 Dollar, weil es sich um ein Remake handelte, da der Hund der Verkäuferin das
Original angeknabbert hatte. Vgl. art Das Kunstmagazin Nr. 3/2002, S. 27.
251
Czöppan, Gabi: Genialer Kindskopf. In: Focus Nr. 21., 19. Mai 2003, S. 70. Alison Gingeras ergänzt:
„Cattelan disavows the role of the artist as guardian of the Enlightenment ideals of moral rationality,
historical consciousness, and truth. Instead, his sociology-sans-truth sets into motion a more disruptive
scenario.” In: Gioni, Massimiliano: a.a.O., S. 172.
252
Vgl. u.a. Falckenberg, Harald (2002): a.a.O., S. 103.
165
2.5. … und mehr
Bei dieser Radikalität des Ausdrucks von Barney und Cattelan ist es nicht geblieben.
In Kurzübersichten möchten wir diesen extremen Formen, weil bezeichnend für die
aktuelle Szene bis hinein in die Postmoderne, ein weiteres Paar aus der großen Zahl der
Möglichkeiten hinzufügen, um dann abschließend noch zwei Gegenüberstellungen zu
besprechen, die in etwas subtilerer Form ihr Anliegen vortragen.
2.5.1. Kiefer und Meese
Zunächst einige Hinweise zu Anselm Kiefer (geb. 1945) und Jonathan Meese (geb.
1970), die sich beide zwar einer jeweils durchgängigen individuellen Formsprache
bedienen, die jedoch weiter voneinander divergiert, als Jahrgang und Altersunterschied
der Künstler es jemals beschreiben könnten. Dabei ist zunächst ihre Themenauswahl
nicht derart abweichend, dass der Unterschied sich hieraus ergeben könnte: Beide setzen
sich im weiteren Sinn mit politisch-gesellschaftlichen Fragen des Zeitgeschehens
auseinander, für die sie unser Bewusstsein schärfen wollen. Die aktuelle MythenDebatte wird gerade an der Gegensätzlichkeit dieser beiden Künstler deutlich.
Kiefers ganze Aufmerksamkeit gilt speziell der deutschen Geschichte und deren
dramatischem faschistischen Höhepunkt im letzten Jahrhundert. Dabei greift er für seine
Vermittlung auf für ihn essentielle Grundelemente deutscher Vergangenheit zurück, wie
sie sich in germanischen Sagen und archaischen Mythen spiegeln, die für ihn
ideologisch funktionieren und die Faszination des Nationalsozialismus begründen
helfen. Sein Frühwerk beginnt mit seinen ,Besetzungen’ (1969), Aktionen, in denen er
sich in den bevorzugten südlichen Reiseländern der Bundesdeutschen mit dem NaziGruß salutierend darstellt. Unmittelbar anschließend – Anfang der 70er Jahre – beginnt
seine malerische Arbeit, u.a. mit den ,Dachbodenbildern’, etwa wie unten angedeutet
mit Parsifal (1973 – Abb.111). Jetzt türmt sich ein gewaltiger Holzboden kathedralenartig auf, eine Art heroische Aufwertung eines Abstellortes, in dem Vergessenes lagert.
Wie viele seiner großformatigen Bilder: beklemmend, düster in Schwarz, Grau und
Braun, ohne Lichteffekte, für Helden aus mittelalterlicher oder archaischer Zeit
gemacht. Diesen Darstellungen schließen sich Bilder mit Themen wie Varus (1976),
Märkischer Sand (1982 – die Landschaft wird zum geschichtlichen Raum), Die
Meistersinger (1981/2) oder Steinhallen im Charakter nationalsozialistischer Protzarchitektur (z.B. Dem unbekannten Maler, 1983) an, ebenfalls komponiert in massiver
Bilddichte, z.T. unter Verwendung von Sand, Asche, Stroh oder Haaren, wie zur
166
Beschwörung bzw. Kenntlichmachung ursprünglicher Mächte, die der Faschismus zu
seiner Faszination erneut mobilisiert hat. Kiefer identifiziert sich mit dem
Geschichtsbild, um herauszufinden, „wie ich mich damals verhalten hätte“253. Er nähert
sich dabei der faschistischen Vergangenheit, soweit es ihm möglich ist, und stellt sich
politisch „existenzialistisch“ und „idealistisch“ auf. Die Bildgestalten wirken durchaus
unpersönlich, unterkühlen den Betrachter und fördern durch eine Art Übermotivation
Berührungsängste; Barrieren werden eher auf- als Grenzen abgebaut.
Es liegt geradezu auf der Hand, dass dieses Werk keine einheitliche Kritik gefunden
hat. Man kann einerseits die Absicht Kiefers diskutieren, sich möglichst weit als
Nichtzeitgenosse des faschistischen Höhepunkts in unserem Land auf diesen
einzulassen, um dann aus seinen Bildern eine prinzipielle, durch das Mythenbild
provozierte Bewältigung verdrängter Vergangenheit abzuleiten. Allerdings stört hierbei
das Pathos des Kieferschen Vortrages, das die ideologische Remythologisierung nicht
für jedermann anprangert, vielleicht noch nicht einmal neutralisiert. Stefan Germer
nennt dies den Verlust der reflexiven Distanz zum dargestellten Gegenstand, sodass die
glaubwürdige Form der Darstellung des Historischen daher durchaus bezweifelt werden
kann. Für Germer trägt Kiefer klischeehaft „den ganzen Fundus bereits veröffentlichter
Vorstellungen“254 vor und durchdringt das bedrohlich ideologisch Mythische nicht. Und
Kiefer unterstützt diese Art der Rezeption allerdings dadurch, dass sich sein Bildtypus
bedrückend eindringlich auf die zu problematisierenden Täter konzentriert und sich
betont einseitig auf das Eintauchen in die verirrte Faszination des Dritten Reiches
einlässt. Dabei verweigert er bewusst die sichere Distanz und lässt das Erdrückende des
Fatalen und Verblendeten voll auf die nachfolgenden Generationen einwirken.
Abb.111: Anselm Kiefer, Parsifal,
Öl auf Tapete und Nesseltuch, 1973
253
Abb.112: Jonathan Meese, Staatsatanismus,
Installation, Detail, 2002/3
Kiefer, Anselm, zitiert nach Bussmann, Georg: Ich kann beim besten Willen kein Hakenkreuz
entdecken. In: Bund deutscher Kunsterzieher: Kunst und Politik, Buckdruckwerkstätten Hannover,
1989, S. 3 – 8, hier: S. 4.
254
Germer, Stefan: Die Wiederkehr des Verdrängten. In: Bernard, Julia (Hg): a.a.O., S. 39 – 63, hier:
S. 49 und 52.
167
Ganz anders dagegen die Art der Auseinandersetzung des Jonathan Meese mit dem,
was wir eingangs dieses Abschnitts als politisch-gesellschaftliche Zusammenhänge
bezeichnet haben. Indem er es strikt ablehnt, andere zu irgendetwas veranlassen zu
wollen, feuert er auf die Ordnungsweisen unserer Gegenwart geradezu wüst und zum
Lachen chaotisch, wenn man bei ihm nur wüsste, worüber man eigentlich lachen soll.
Seine Provokation versetzt Kiefers Auftritt bei dieser direkten Gegenüberstellung erst
recht in ein geradezu melancholisches Licht.
Eine Kurzbetrachtung seiner Installation KéPi, BLANC, Die Ordensburg
,Mishimoend’ (Toecutter’s Mütze) (Abb.112) macht uns dieses Chaos etwas deutlicher.
Es handelt sich bei unserem Beispiel um einen Teil (Raum) der für die Harburger
Falckenberg-Sammlung erstellten Raum-Installation, einen Waschraum, wie man ihn in
Kasernen vermutet. Wie die übrigen Räume der Groß-Installation auch ist dieser
vollgestopft mit einem übermächtigen Sammelsurium von Gegenständen, die Meese in
der Familie, auf der Straße oder in der Zeitung gesehen und nicht liegen gelassen hat,
überwiegend Abfall und Ramsch (,trash’) unserer Konsumgesellschaft. Vor einer Reihe
von Waschbecken erscheint in diesem Gruppenwaschraum eine ,soldatische’
Spindwand, deren einzelne Türen mit den Namen von Nero, Caligula, Hitler, Meese,
Nietzsche, Rasputin, Jesus oder Mussolini versehen sind, Türen, hinter denen sich
lediglich Bilderabfall aller Art auftut. Auch in den übrigen Räumen versammelt sich ein
Dickicht aus aufgelesenen Ungereimtheiten. Zwischen ,Staatssatanismus’ und ,Saaltum’
kann man trotz Gruseln und hoffnungsloser Verwirrtheit eventuell auch noch ein wenig
lächeln. Ein gespensterhafter, mythenbeladener Klamauk, der das sogenannte
Bedeutungsvolle, Zeitgeist-Mythische in Frage stellt, wenn man sich darauf einlässt.
Meese sammelt diesen ,trash’ sozusagen von Kiefers Dachboden auf und versucht, es
wild und unbedenklich zu erneuern: aus dem ,Zurück’ ein ,Vorwärts’ zu machen. Dabei
spielen Zufall und Überraschung mit, sodass wir uns zwischen Erkenntnissuche und
Selbstzweck hin und her bewegen. Für Meese hat die Moderne, wenn diese dann nach
dem Einen, dem Klar-Sinnvollen sucht, restlos ausgedient. Meese möchte noch einmal
anfangen: „Ich bin zur Zeit wieder in einer extrem pubertären Phase – oder sogar in
einer vorpubertären“.255 Wir müssen abwarten, ob diese Haltung sich beweist – Meeses
Chance scheint zu sein, dass das Pathos, das erhobene Erhabene bei ihm nicht zu
erwarten und ein Scheitern einkalkuliert ist.
255
Vgl. art Das Kunstmagazin Nr 3/2004, S. 22.
168
2.5.2. Armando und Long
Vielleicht sind diese beiden Künstler weniger lautstark bzw. in ihren Äußerungen
weniger drastisch, deswegen aber nicht minder eindringlich: Armando (geb. 1929) und
Richard Long (geb. 1945).
Der in Berlin lebende Niederländer Armando thematisiert sein Kindheitstrauma, das
auf Erlebnisse und Eindrücke zurückgeht, die mit der Errichtung des Amersfoorter
Konzentrationslagers zusammenhängen. Er reflektiert Ausgrenzung, Unterdrückung,
Vernichtung und Todesschrecken abstrakt – sozusagen antifilmisch im Gegensatz zu
aktuellen TV-Szenen – in symbolisch tragenden, meist schwarz dominierten
malerischen Großaufnahmen. Oft geschieht dies unter Zuhilfenahme von Abbildungen
von Leitern (aufwärts für die Wächter des Lagers, abwärts für die todgeweihten
Gefangenen) oder Fahnen, die nicht nur Fähnlein am Strand, sondern eben Standarten
am Schützengraben symbolisieren. Wir beziehen uns hier auf ein mythisches Medusasynchrones Beispiel einer Kopfdarstellung, das ausweglosen, erstarrten Schrecken vor
dem unabwendbaren Gegenüber symbolisiert (Abb.113). Der Künstler beschäftigt sich
direkt mit dem unbeschreiblichen Grauen, das eigentlich nach Auschwitz nicht mehr
wahrheitsgemäß und glaubwürdig darstellbar ist. Hier kommt eine mythische Symbolik
zum Ausdruck, fern von allem Narrativen, die an anderer Stelle selbst so weit getrieben
wird, unschuldige Landschaften und Natur, die angesichts jener Grausamkeiten
trotzdem unbeirrt ,weitergewachsen’ sind, in ihrem Schuldlos-bleiben-wollen
anzuklagen.256 An den Rand des wuchernden Geschehens unserer Erlebnisgesellschaft
gedrängt, starrt (1990) dieses Antlitz auf uns, die Protagonisten der heutigen
Kulturszene, mit der bitteren Erfahrung des erduldeten Leidens und dem Wissen um
neue Grausamkeiten. Die Eindringlichkeit und Düsterkeit des bitteren, anklagenden
Blicks wird durch den maskenhaft entstellten Kopf, der wie bei der Medusa fast von
Hals und Rumpf getrennt erscheint, und die schroffe Schwärze der Farbgebung
unterstrichen; den ,Lebensraum’ der abgebildeten Gestalt spiegelt ein zerrissener,
flammenartig wild bewegter, drohender Hintergrund wider. Die Aufdringlichkeit und
Dramatik des Medusischen machen diesen Mythos jedoch schwer konsumierbar; um
ihre ,Schönheit’ zu erfahren, muss man nachfragen – den Mythos analysieren, und sich
dabei auch von Armandos Biografie helfen lassen.
256
Armando: Die Wärme der Abneigung, Frankfurt/M. 1987. In: Neuer Berliner Kunstverein, Haus am
Waldsee Berlin, Neues Museum Weserburg Bremen (Hg): AK Armando, Bilder, Skulpturen,
Zeichnungen, Reiter-Verlag, Berlin 1994, S. 27.
169
Abb.113: Armando, Kopf 10-7-90,
Öl auf Leinwand, 1990
Abb.114: Richard Long, Mountain Circle,
Kalkstein-Installation, 1991
Auch ein anderer, der Engländer Richard Long, hat es schwer, mit seinen nahezu
einsamen Rückblicken in tiefste archaische Vergangenheit unser Gehör zu finden,
obwohl er doch auch das angeblich so Kommunikative des Mytisch-Kultischen bemüht.
Er erstellt, aufbauend auf persönlichen Reiseerfahrungen, an archaischen Kultstätten in
Übersee und Europa u.a. kreisförmige Steinskulpturen (Abb.114). Long sucht auf der
Ebene der Land-Art in anderen Kulturen nach Zeichensetzungen, die auch wir in
unserem
Aufgeklärtsein
identifizieren
und
akzeptieren
könnten,
um
unsere
Selbstfindung jenseits des Alltag zu erleichtern. Er selbst hat diese Zeichen auf seinen
einsamen Reisen an verlassenen Stätten gefunden und außerdem selbst, meist als
ephemere Kunstwerke in Sand oder Stein, hinterlassen. Seine Kreise bestimmen einen
mythischen Ort und vermitteln in einer Art Neuauflage rituellen Bewusstseins
(Dynamik des Mythos!) die Chance für Nachdenklichkeit, Besinnung oder
Korrespondenz mit Natur und Vergangenheit, gegebenenfalls für neue innovative
Erfahrungen. Man kann nachempfinden, dass gerade das Ephemere mit seinem
gleichzeitigen Bezug zu dem Geschehen in der Natur und seinen natur-authentischen
universellen Materialien (Stein, Holz) Long stark macht und Distanz etwa zum
Nymphischen als einem Symbol unserer aktuellen Kulturszene herstellt. Hier tritt uns
etwas Archetypisch-Authentisches entgegen, auf eine konstruktivistische Sachlichkeit
zurück gebracht, anspruchslos – wohl aber doch leise fordernd nach mehr Vernunft im
Verweis auf mythische Tradition, eine wohl dosierte Remythisierung, die sich von
radikalen oder gar ideologisch-radikalen Entwürfen ihrer Art wohltuend abhebt.
170
2.5.3 Neshat und Lahoda
Unsere letzte Gegenüberstellung bestreiten Shirin Neshat (geb. 1957) und Thomas
Lahoda (geb. 1954).
Neshat, als Iranerin in New York lebend, sucht ihren Weg zwischen den
Geschlechtern, zwischen Orient und Okzident, zwischen Tradition und Moderne. Dabei
benutzt sie poetische und mythische „Metaphern für die gegenseitige Bedingtheit
kultureller Identitäten“257, ohne dass ihre Beschreibungen zu eindeutigen Entscheidungen führen – etwa zwischen einerseits iranischer Tradition und deren mythischreligiösen Bezügen und andererseits westlich kapitalistischem Pragmatismus. Ein Beispiel ist ihre Videoarbeit Tooba (documenta XI, 2002), in der in einem kleinen, hoch
umzäunten Garten eine alte Frau langsam mit einem einzeln darin stehenden Baum
verschmilzt, während gleichzeitig sich von außen über eine hügelige Landschaft von
allen Seiten Männer diesem Garten nähern, um schließlich den Mauerzaun zu
erklimmen und festzustellen, dass die Frau verschwunden ist. Meditative Musik
unterstützt die eindringliche, aber auch beklemmende Getragenheit der Szene, die
unwirklich an den Garten Eden erinnert – jedoch der paradiesische Mythos versagt den
männlichen Protagonisten irgendeine Erfüllung (Abb.115). Neshats Darstellung macht
deutlich, dass die Metamorphose auch jenes Charakteristikum des Mythos enthält, das
subversiv, d.h. gegen eine etablierte Zugänglichkeit gerichtet ist. Betrachtet man den
Mythos grundsätzlich als etwas Normatives, dann wirkt eine derartige mythische
Verwandlung dieser Ordnung gleichzeitig entgegen.
Abb.115: Shirin Neshat, Tooba, Videostill, 2002
Abb.116: Thomas Lahoda, Messe, Installation
Detail, 2000
Die Zugriffe auf Vergangenes sind bei dem Tschechen Thomas Lahoda von völlig
anderer Art. Seine Arbeit ist eindeutig analytisch entmythologisierend, indem sie –
257
Documenta und Museum Fridericianum Veranstaltungs GmbH (Hg): documenta 11, Plattform 5,
Kurzführer, Hatje Cantz, Ostfildern-Ruit 2002, S. 170.
171
aufbauend auf seinen ursprünglichen Tätigkeiten als Restaurator – bestehende Kunst
und ihre Stile neu interpretiert und deren bisherigen Status und bisherige Einschätzung
reflektierend in Frage stellt, wenn nicht gar unterläuft. In einer Welt überbordender
Informationen mahnt er eine Auseinandersetzung aus kritischem Abstand an: Dies ist
Lahodas Ziel mit seiner Messe-Ausstellung (2001)258, in der er à la Broodthaers Kunst
und Design aller Art, von ihm ‚restauriert’, nebeneinander präsentiert. Ein Teil daraus
ist die Deer-Bildserie, in der das zum Kitsch degradierte Sofabild als neoromantische
Figur nahezu spielerisch neu aufersteht (Abb.116). Der aktuell-mythische Bedarf und
dessen Erfüllungsgehilfen in Kunst und Werbung werden parodistisch suspendiert. In
der Dekonstruktion des Bestehenden entsteht eine analytische Verfremdung bzw.
Verunsicherung mit der Frage nach dem eigentlich Authentischen.259 Die ironisch
dekonstruktivistische Haltung, die in seinen Arbeiten im Verhältnis zum traditionellen
Design aufscheint, weist auf das enge Nebeneinander – zu gegenseitigem Nutzen oder
parasitär – u.a. von Kunst und Werbung hin. Diesen Punkt möchten wir im nächsten
Abschnitt (Kap. V) weiter ausleuchten, denn dieses Nebeneinander fordert uns, die
Rezipienten von Lahoda, heraus, kritisch den jeweiligen Mythos-Standpunkt in einer
Welt allergrößter Kommunikationsfülle zu analysieren. Für Lahoda jedenfalls ist dieses
Eindenken in ein Kunstwerk wichtiger als die Frage der Authentizität, weil sie
Verklärtes von Realem trennen hilft.
c. Wesentliche Mythoselemente in der Kunst im Überblick
Bevor wir im nächsten Kapitel zu einer allgemeinen Mythos-Reflexion – besonders
auch im Zusammenhang mit Werbung – übergehen, soll hier eine kurze Zusammenfassung der Mythen-Bilder in der Kunst gegeben werden, mit dem Ziel, allgemein
verbindliche Strukturelemente festzuhalten. Aus der Vielzahl und der Komplexität der
in den vorausgegangenen Abschnitten dargestellten mythischen Substanzen in der
Kunst ergibt sich unmittelbar die Frage einer abschließenden, geordneten Darstellung.
Wir wollen diese Frage nicht nach Stilepochen strukturieren, zumal uns nach dem
Überblick über die mythischen Transformationen bereits ein umfangreicher, wenn auch
nicht restlos erschöpfender Einblick zur Verfügung steht, vielmehr möchten wir diese
258
259
National Gallery Prague: AK Tomás Lahoda, „Messe“, Divus, Egmont, Prag 2001, S. 1 ff.
In The Last Monet (2000) dekonstruiert T. Lahoda Monets impressionistische Wasserlilien, die von
ihrem Farbenspiel leben, durch Schwarz-Weiß-Darstellungen. Dabei wird jedweder ursprünglich
bildlicher Inhalt abgebaut, offenbart wird verblichener Ruhm eines Klischees. Ebd., S. 25.
172
Zusammenschau unter zwei gesonderten Aspekten durchführen. Erstens mit der Frage:
Welche Rolle spielt der Mythos in der abstrakten Kunst? Denn in einem Schwarzen
Quadrat dürfte auf Anhieb wohl nicht mit einer mythischen Substanz gerechnet werden
können, oder gerade doch? Darüber hinaus möchten wir zweitens ein Modell von
Zuordnungen der verschiedenen Mythos-Topoi zu ihren rezeptiven und produktiven
Sinnstrukturen unter Berücksichtigung der Mythenfunktionen anbieten (Tabl.12). Zu
diesem letzteren Aspekt ist bereits jetzt festzustellen, dass dieses Modell naturgemäß
keine ausschließlichen Zuordnungen beanspruchen wird, da ein Künstler ohnehin, aber
auch
sein
einzelnes
Kunstwerk
auf
verschiedene
Weise
dem
mythischen
Beziehungsgeflecht verbunden sein können. Unser Modell kann daher nur ein Leitfaden
für die Betrachtung im konkreten Fall darstellen.
1. Mythos ,abstrakt’
Mit der ersten Fragestellung könnte man unterstellen, dass seit der Antike und in der
Moderne seit der Renaissance bis zur Geburt und Entwicklung der modernen
Abstraktion – und dies sind in besonderer Weise die nahezu zeitgleichen Auftritte von
Wassily Kandinsky (1866 – 1944), Piet Mondrian (1872 – 1944) und Kasimir Malewitsch (1878 – 1935) – der Mythos in Malerei und Skulptur fast durchweg anwesend
war. Wir haben in der Tat in unseren bisherigen Überlegungen keinen Gegenbeweis für
das Fehlen des Mythischen in den verschiedenen Stilepochen entdecken können. Jedoch
kann dies an unserer Suchaktion selbst gelegen haben; denn es gibt natürlich diskutable
Ausnahmen, von denen wir ausdrücklich neben der ,Abstraktion’ zwei weitere hier
ansprechen möchten.
Die erste dieser Ausnahmen bezieht sich auf die Genremalerei des holländischen
,Gouden Eeuw’ (ca. 1610 – 1670). Anders als in der Historienmalerei – wir erwähnen
hierzu allein beispielhaft und ohne Kommentar Raphael (1483 – 1520, Die Schule von
Athen, Abb.119) und Jacques Louis David (1748 – 1825, Der Schwur der Horatier,
Abb.120), die ihr Kunstschaffen in großem Stil auf den Vorgaben besonderer geschichtlicher Ereignisse und Persönlichkeiten, auf Mythen oder auf der Religion aufbauten, –
treten an dieser Stelle stark subjektive Einstellungen zu Tage: unterhaltsam und lebensnah in den Abbildungen gesellschaftlicher Zusammenkünfte und Gelage, beim Unterhalten, Trinken, Spielen und Streiten – zu Hause, im Wirtshaus oder im Bordell, wie es
z.B. im Werk von Jan Steen (1626 – 1679) nachvollziehbar ist (Abb.121). Gleichzeitig
aber sind diese Bilder doppelbödig: Das Holland jener Tage hatte sich in Randlage des
173
großen Krieges zum reichsten Land Europas entwickelt und das gesteigerte Selbstwertgefühl der neuen und alten Wohlhabenden suchte seine Identität, die ihrerseits eine
moralisierende, warnende und polemisierende Künstlerhandschrift provozierte. Bei aller
Sympathie mit seinem Sujet und dessen Akteuren, die wir Jan Steen nicht absprechen
dürfen260, tritt durch die Überbetonung der vorgezeigten Charaktere und deren Leidenschaften – Wollust, Trink-, Rauch-, Fress- und Selbstsucht – etwas Tadelndes im Sinne
einer sozialen Rüge zu Tage. Diese Offenlegung von Maßlosigkeit und Müßiggang darf
als – allerdings humorvoll gebrochener – moralisierender Rückgriff auf religiöse und
mythologische Themen des vorhergehenden Jahrhunderts verstanden werden, als z.B.
Hieronymus Bosch (ca. 1450 – 1516) mit seiner Tischplatte (im Prado) die sieben Todsünden anprangerte. In dem von uns gewählten Beispiel aktualisiert Steen
allegorisierend z.B. Boschs ira (Zorn) durch seinen den Säbel ziehenden Verlierer beim
Kartenspiel.
Willem Buytewech als Pionier und später Jan Steen, Frans Hals oder Jan Vermeer
haben zu ihrer Zeit bei ihren Darstellungen in erster Linie keine auf Mythen bezogene
Wahrnehmung verfolgt, vielmehr waren alle religiösen Themen oder an traditionellen
Mythen orientierte Sujets beinahe restlos aus ihrem vordergründigen bildnerischen
Repertoire verschwunden. Die Heroen der Antike oder die Gestalten der Bibel, die
Barock oder Klassizismus bevölkern, werden hier ersetzt durch erkennbare Figuren und
Typen der Gegenwart, um das Sichtbare ,sichtbarer’ zu machen. Interessant ist in
diesem Zusammenhang der Werdegang von Jan (Taufname: Johannis) Vermeer (1632 –
1675). In seinem Frühwerk verwendet auch er noch mythologische und christlichreligiöse Themen, wie z.B. in Diana mit ihren Gefährtinnen (Abb.117). Es handelt sich
um eine düster-ehrfürchtige, distanzierte Szene, in der die Fußwaschung an einer Diana
ohne deren Attribute von Pfeil und Bogen von einer ehrerbietigen, würdevollen
Nymphe vollzogen wird und die neben der Reinigung vor dem Bade wohl auch Demut
(nahender Tod?) ,signalisiert’. Nach dem Tode des Prinzen von Oranien um 1650
verliert jedoch generell die mythisch-christliche, historische Malerei an Bedeutung, und
Vermeer findet, wahrscheinlich auch angeregt durch die Begegnung mit Steen in Delft
ab 1655, zu seinen modernen Genre-Themen.
260
Diese Bildauffassung hatte eine erhebliche Konjunktur als Ornament einer wohlgefälligen
Bürgerlichkeit – vergleichbar der Designerkultur unserer Tage.
174
Abb.117: Jan Vermeer Diana mit ihren Gefährtinnen,
Öl auf Leinwand, um 1655 – 56
Abb.118: Jan Vermeer, Die Malkunst,
Öl auf Leinwand, um 1666/7
Um 1669 malt Vermeer seine Spitzenklöpplerin (Louvre) ohne jeden historischen
oder allegorischen Anflug, einfach das Bild von Versunkenheit in Harmonie bei der
Arbeit. So irdisch die damit angesprochene (spätere) Bildwelt Vermeers auch ist, so
gelingt ihr doch eine neue Verzauberung seines Stoffes, die sie durchaus über den
Alltag erhebt, und man kann vermuten, dass die spezifische Optik einer zu Hilfe
genommenen Camera obscura dies befördert hat. Letztendlich lässt auch den Meister
des (Nur-)Sichtbarmachens das traditionelle Themengerüst nicht völlig los: Um 1666/7
entsteht Die Malkunst (Abb.118), in der sich die Muse Clio mit ihrer Posaune (Ansehen,
Geschichte) dem Maler stellt – als Allegorie auf den hohen Status des Malens selbst –
im Stile eines Historienbildes, jedoch in seiner Art stark reduziert oder ,desillusioniert’.
Aber kommen wir noch einmal kurz auf Steen zurück. In der zitierten Doppelbödigkeit seines Werkes ist ein Stück Aufruhr gegen das allgemein Gültige jener Tage,
ein deutlicher satirischer Tadel gegen das Aufgeklärtsein der Epoche erkennbar, der
eine subjektive Einstellung sichtbar macht, die auf der Suche nach einer andersartigen
Aufklärung ist, vielleicht also auch nach einem Sinn des Lebens, der sich der aktuellen
Ratio nicht anschließt. Wenn wir heute von einem Makromythos ,Kulturindustrie’ oder
,Werbung’ als einem Zeitgeist-Mythos sprechen, so könnte man rückwirkend auch hier
einen solchen Zeitgeist-Mythos des ,Goldenen Jahrhunderts’ bestimmen, den der
zeitgenössische Künstler – wenigstens ansatzweise – als Dekadenzerscheinung hinter
der evidenten Realität begriff.
Die nächste hier zu erörternde Ausnahme bezüglich eines mythenfreien Kunstansatzes könnten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Impressionisten mit
einer neuen Darstellung von Wirklichkeit unter dem Eindruck des massiv sich
entwickelnden objektiven, technologisch-naturwissenschaftlichen Fortschritts liefern
175
(inklusive der Entwicklung der Fotografie). Man kann mit Kurt Hübner der Auffassung
sein, dass der Künstler sich – durch diesen Fortschritt bedrängt – in die Offenlegung
seiner subjektiven Wirklichkeitserfahrung begibt, sich also „unter dem Druck der
Wissenschaft … auf die Tatsachen subjektiven Schauens“ zurückzieht261. Nach Hübner
ist dabei kein mythischer, metaphysischer oder wissenschaftlicher Hintergedanke im
Spiel. Mag aber ein transzendentes, numinoses oder traditionell mythisches Denken
offenbar fehlen, so sollten wir Hübners eindeutiger Negation mythischer Substanz doch
widersprechen, da allein schon in der Subjektivität des impressionistischen Ausdrucks
bereits eine emotionale, vielleicht eher vage definierte anti-aufklärerische Sichtweise zu
Natur und Wirklichkeit sich ausdrückt. Denn: Völlig losgelöst vom historischauthentischen Mythosbild deutet sich behutsam – fern von allem Getragenen oder
Transzendenten und trotz aller Überlegungen zu Licht- und Farbzusammenhängen –
etwas an, was sich vom Aufklärerischen absetzt und eine andere Wirklichkeit hinter der
Realität bemerkt. Die neuen malerischen Techniken gestatten diesen Malern einen
innovativen künstlerischen Ausdruck, mit dem sie als „Eindruckskünstler“ etwas
thematisieren, was wir als Erfahrung der Großstadt oder der Landschaft bzw. als
harmonisches, problemfreies, eventuell sogar paradiesisches (Freizeit-)Erlebnis
nachempfinden können. Derartige Vorstellungen oder ideelle Themen können wir
durchaus als mythische Tragflächen eines Zeitgeist-Mythos identifizieren, dessen
Verständnis von vor hundert Jahren ein anderes gewesen sein kann als heute – je nach
der subjektiven Werteanordnung. Diese war bei den Impressionisten, fern aller
Gesellschaftskritik, wohl eher von Harmonie und farbigem, poetischem Optimismus
begleitet als von entzauberter, zerstückelter Weltbetrachtung (trotz Pointillismus). Die
Nympha à la Claude Monet (1840 – 1926) Frau mit Sonnenschirm (Abb.122) mag zu
dieser Betrachtungsweise anregen. Wenn wir uns allerdings vorstellen, dass ein Maler
sich der landschaftlichen Weitsicht hinter der Dame annimmt oder sich gar allein auf
einen Blumenstrauß aus dem Feld (Stilleben) konzentriert, in dem diese wandelt, dann
nimmt das mythische Element doch rasend schnell ab.262
Retrospektiv scheint in diesem Zusammenhang die Annahme nicht unberechtigt,
dass die Gesellschaftsutopie der Impressionisten darin mündete, dass sie unbewusst
einer Idealisierung des 19. Jahrhunderts Vorschub leistete, indem sie den Mythos des
261
262
Hübner, Kurt: a.a.O., S. 296.
Sieht man jedoch ,fantasiegeladen’ wie der Kunsthistoriker Meyer Schapiro in Cézannes Stilleben mit
Zwiebeln (1896/8) eine Aufwertung zu erotischem Erleben, dann sind wir selbst hier auf der zweiten
Barthesschen Ebene des Mythos angelangt. Vgl. bei Nemeczek, Alfred: Im Banne des Meisters aus
Aix. In: art Das Kunstmagazin, Nr. 9/2004.
176
Fortschritts und dessen gesellschaftliche Auswirkungen durch ihre Ausdrucksweise
relativierten und von der technologischen Entwicklung und deren Produktionsverfahren
ablenkten bzw. diese sogar (nachträglich) unfreiwillig durch ihre Begleitung legitimierten. Es ist viel beschrieben worden, wie sich ausgehend von diesem impressionistischen Kunstverstehen das künstlerische Weltbild weiter entwickelt. Wir haben bereits
mehrfach die Umbruchsituation vor und nach dem ersten Weltkrieg angesprochen, in
der der Flächenbrand des „Gegen-alles“ (etwa bei Picasso und Duchamp) Feuer fängt:
Für die abstrakte Malerei treten aber nunmehr die drei genannten Künstler
Kandinsky, Mondrian und Malewitsch als Pioniere auf, sie entfernen den Gegenstand
aus der Kunst – jenseits aller Erzählungen. In dieser Hinsicht stehen sie sich in nichts
nach, wobei interessanterweise Wassily Kandinsky mit Monets impressionistischer
Malerei ein Schlüsselerlebnis hatte, das für ihn die Auflösung des Gegenständlichen
markierte.263 Kandinsky gelangt in einem mehrjährigen Prozess zu seinem abstrakten
Ausdruck. Ähnlich den Positionen von Franz Marc (1880 – 1916) und Paul Klee (1879
– 1940) hat dieser Stil lyrisch-malerischen Charakter. Dies darf jedoch nicht darüber
hinwegtäuschen, dass Form und Farbe in seinen Kompositionen nach (theoretischen)
Überlegungen und zahlreichen Vorstudien geplant entstehen und daher auch
konstruktivistische Züge enthalten (Abb.123). Piet Mondrian und Kasimir Malewitsch
besetzen vergleichsweise stärker geometrisch-abstraktes Terrain.
Haben wir an dieser Stelle nunmehr das vollständig mythenfreie Kunstschaffen
entdeckt? Es entsteht jedoch eine diskursive Spannung, wenn wir bei Kandinsky bleiben
und von ihm hören, dass eine ,innere Notwendigkeit’ – getragen von originärer
Spontaneität und Ursprünglichkeit seelischer Empfindungen – bei der Erstellung eines
Kunstwerkes Pate stehen müsse, und er dann ferner wenige Jahre später 1913/4 im
Gegensatz dazu deklariert: „Ich will keinen Seelenzustand malen“.264
Ausdrucksmittel für die Offenlegung der inneren Notwendigkeit sind für Kandinsky
Farben und Linien; für ihn ist „klar, dass die Farbharmonie nur auf dem Prinzip der
zweckmäßigen Berührung der menschlichen Seele ruhen muss. Diese Basis soll als
263
W. Kandinsky schreibt: „Dass das ein Heuhaufen [von Monet] war, belehrte mich der Katalog.
Erkennen konnte ich ihn nicht … und merkte mit Erstaunen und Verwirrung, dass das Bild nicht nur
packt, sondern sich unverwischbar in das Gedächtnis einprägt.“ Zitiert nach: Hofmann, Werner (2003):
a.a.O., S. 185. Kandinsky bezieht sich hier auf ein Heuhaufen-Motiv Monets, das dieser im Herbst
1891 mehrfach zu verschiedenen Tageszeiten malte – sozusagen ein Vorläufer der künstlerischen
Serienproduktionen.
264
Kandinsky, Wassily: Mein Werdegang (1913/4). In: Harrison, Charles; Wood, Paul (Hg): a.a.O.,
S. 118 – 122, hier: S. 122.
177
Mythische Substanz …
… im „Historischen“?
Abb.119: Raffael, Die Schule von Athen,
Fresko, 1510/11
Abb.120: Jacques Louis David, Der Schwur
der Horatier, Öl auf L., 1784/5
… im „Genre“?
Abb.121: Jan Steen, Der Streit beim Spiel,
Öl auf Leinwand, 1664/5
Abb.122: Claude Monet, Frau mit
Sonnenschirm, Ö.a.L., 1886
… im „Abstrakten“?
Abb.123: Wassily Kandinsky, Komposition VIII,
Öl auf Leinwand, 1923
Abb.124: Jackson Pollock, Number 1A, 1948,
Öl auf Leinwand, 1948
178
Prinzip der inneren Notwendigkeit bezeichnet werden.“265 Mit „Das Ziel bleibt im
Unbewussten“266 hebt er schließlich auf Bedeutungspluralismen bzw. auf inhaltliche
Vielsinnigkeit ab, die Geheimnisvolles und Unerklärbares beschwört. Und Werner
Haftmann findet: In den Bildern „entfesselt sich“ als neuem „selbständigem Kosmos
des Bildes ein dionysisches Furioso“ und „nur mit äußerster Mühe hält das Bildgerüst
diese einströmende Flut aus Musikalischem, Dionysischem und Mystischem aus“267. In
unserem Beispiel der Komposition XIII dominiert auf der hellen Grundfläche des
Gemäldes eben dieser Kreis neben anderen geometrischen Formen wie Halbkreisen,
Dreiecken, schachbrettartig angeordneten Quadraten, Geraden und Schlangenlinien; es
entsteht dabei ein seltsamer Notenspiegel, der ein Kandinskysches Musikstück verbergen könnte.
Gleichzeitig aber kann man mit Werner Hofmann erwägen, ob Kandinsky nun
wirklich aus innerem Drang für inneren Klang spontan oder doch eher aus
künstlerischem Kalkül zu seiner Abstraktion (zu seiner neuen Realität) gelangt ist.
Dafür spricht u.a. sein langer Weg in die Gegenstandslosigkeit, bei der man nie so
genau weiß, ob nicht doch ein wenig Gegenständliches vorhanden ist. Für Kandinsky
aber ist die Abkürzung des Ausdrucksvollen „durch Ausdruckslosigkeit“ gekoppelt an
das Wissen, dass er die „absolute Malerei erzwingen werde“268 gegen alle existierenden
Stile, wie z.B. Expressionismus oder Jugendstil. Werner Hofmann vermutet daher,
durch Kandinskys Doppelbegabung ,Maler/Theoretiker’ hindurch, dass dieser sich
gegen die Kritik, ein Scharlatan zu sein, „der Rückendeckung durch das kosmische
Geschehen versichert“269.
In diesem Zusammenhang ist interessant, dass in Kandinskys frühen Werken des
künstlerischen Aufbruchs zahlreiche Reitermotive aus romantischer und russischer
Ikonen-Vergangenheit symbolartig auftauchen – als tugendhafter Ritter, als
geheimnisvoller Bote oder als Heiliger Georg. In der Bauhaus-Periode tritt an die Stelle
des Reiters der Kreis mit dessen für ihn mythischen Qualität als ,Synthese der größten
Gegensätze’ (vgl. Abb.123) und Ausdruck für starkes inneres Empfinden. Hierin, d.h. in
265
Kandinsky, Wassily: Über das Geistige in der Kunst. In: Harrison Charles; Wood, Paul (Hg): a.a.O., S.
111 – 118, hier: S. 118.
266
Kandinsky, Wassily: Zitiert nach Hofmann, Werner (2003): a.a.O., S. 309.
267
Haftmann, Werner: Malerei im 20. Jahrhundert, Eine Entwicklungsgeschichte [1954], Prestel, 6. Aufl.,
München 1979, S. 181. Die assoziative Gleichschaltung von Musik und Malerei führt bei Kandinsky
zu seinem Begriff des ,inneren Klanges’ als dem unfassbaren, nachzustrebenden, höheren Sinnzustand.
268
Kandinsky, Wassily: Mein Werdegang. In: Harrison, Charles; Wood, Paul (Hg): a.a.O., S. 118 – 122,
hier: S. 120/1.
269
Hofmann, Werner (2003): a.a.O., S. 316.
179
seiner Abstraktion mit Hilfe von Kreis, Linie und Farbe, offenbart Kandinsky den Versuch einer Verschleierung oder Codierung, dessen Auflösung dem Betrachter zufällt.
Es mag offen bleiben, ob es sich bei diesen Aussagen Kandinskys um draufgesetzte
Argumentation zur Rechtfertigung künstlerischen Handlungsfreiraums handelt oder ob
der ganze Künstler dahinter steht. Man wird aber wohl kaum abstreiten können, dass
Kandinsky für sich selbst in der restlosen Abschaffung alles Gegenständlichen,
sozusagen im Wegschmelzen aller Stile, zu seinem „inneren Klang“, einem Gleichklang
mit dem Weltgeschehen gelangt sein kann, d.h., dass er für sich eine subjektivistischbefriedigende Annäherung an ein naturwissenschaftlich nicht Fassbares, an etwas
Mythisches vollzogen hat. Andererseits wird dem Rezipienten eine völlige Verhüllung
des (normalerweise) Gegenständlichen zur individuellen Interpretation eines Übersinns
angeboten, wobei der Vollzug einer restlosen Entleerung jedweder mythischen Substanz
ebenso wie der „innere Klang“ erfahren werden können.
Noch eindringlicher sind die Bemerkungen Malewitsch’ zu seiner geometrischen
Abstraktion, wenn er uns mit seiner Bildauffassung eine humanere gegenstandslose
Welt aufzeigen möchte. „In ihm, dem Quadrat, sehe ich das, was die Menschen
einstmals im Angesicht Gottes sahen“270. Der ,deus revelatus’ hat sich verborgen und
wird nunmehr in einem nicht mehr anthropomorph Darstellbarem gesucht. Dies trifft in
ähnlicher Weise auf Mondrian zu, für den gegenstandslose Kunst „Ausdruck wahrer
Wirklichkeit und wahren Lebens … undefinierbar, aber realisierbar“ durch
künstlerisches Schaffen ist271. Aus beiden Zitaten können wir wie bei Kandinsky
folgern, dass die Künstler mit ihrem abstrakten Werk auf der Suche nach dem
Übersinnlichen, einem neuen Sinngebenden sind. In dieser Weise verstanden, ist ihr
Werk ein chiffrierter Verweis auf den Lebensinhalt jenseits des Gegenständlichen, Gott
ähnlich, jedoch unbestimmbar, mythisch, ein nicht mehr religiös artikuliertes Ineffabile.
Die Abstraktion erlebt ein neues Hoch nach dem 2. Weltkrieg, vor allem durch den
amerikanischen Expressionismus, von dem wir hier zunächst beispielhaft Jackson
Pollock (1912 – 1956) und sein Action Painting erwähnen möchten (Abb.124). Bei
Pollock erweitert sich u.a. die Malfläche derart, dass sie z.T. nur durch Betreten
derselben bzw. von allen Seiten am Boden liegend bearbeitet werden kann. Das Malen
270
Malewitsch, Kasimir, zitiert nach Nemeczek, Alfred: ,Es begann mit einem Quadrat’. In: art das
Kunstmagazin Nr. 1/2003, S. 15.
271
Mondrian, Piet: Bildende Kunst und reine bildende Kunst [Circle 1937], in: Harrison, Charles; Wood,
Paul (Hg): a.a.O., S. 462 – 468, hier S. 467. Mondrian bezieht sich im Verlauf dieses Textes auch auf
den Surrealismus und meint, dass dieser nur „individuelle Emotionen weckt“, d.h. in einer reduziert
abstrakten Form auf halbem Wege zur „universellen Wirklichkeit“ stecken bleibt.
180
wird zur Performance, das Bild zu einem großen wilden Raster von ineinander und
übereinander verlaufenden schlierenden Linien. Als Hintergrund für diese seine Malerei
erkennen wir im Wesentlichen zwei Bausteine: Einmal ist es Pollocks Ambition, mit der
Darstellung des Unbewussten die künstlerische Vormachtstellung Picassos zu
übertreffen.272 Als gegen den ,Sensualismus der Surrealisten’ gerichtet und mit der
Unterstützung Peggy Guggenheims, erhält Pollock auf der Biennale 1950 in Venedig
das nötige Aufsehen, das ihn nach seiner Auffassung sein Ziel erreichen lässt, weil sein
dargestelltes Chaos in neuer Art und Weise derart „rudimentär“ sei, dass es Picasso als
Konformisten erscheinen ließe. Zum Zweiten liefert Robert Motherwell (1915 - 1991)
den philosophischen Hintergrund für diesen Abstrakten Expressionismus in Amerika,
wenn er ausführt: „Abstrakte Kunst ist eine Bemühung, die Leere zu schließen, die der
moderne Mensch fühlt, … eine Form des Mystizismus“273, ein geistiges Verfahren, mit
der Welt eins zu werden. Pollock selbst bemerkt: „Besonders beeindruckt hat mich ihre
Auffassung [moderner europäischer Maler] vom Unbewussten als Quelle der Kunst“274
und lehnt damit eine Zugänglichkeit rationaler Art zu seinen Werken ab. Pollocks
Bilder entstehen, anders als bei Kandinsky, ungeplant und bieten keinerlei optischen
Widerstand oder irgendeine zentrale Hauptgewichtung, wie auch das von uns gewählte
Beispiel verdeutlicht. Die spontane Dynamik des Malens hat – technisch gesehen –
etwas vom Automatismus – der ècriture automatique – der Surrealisten.
Pollocks Landsmann Barnett Newman (1905 – 1970) schließt an die Rigorosität von
Malewitsch’ Formbeschreibungen an. Im Geleit farbanalytischer Modelle der Malerei
repräsentiert er z.B. mit seinem kolossal-großen Vir Heroicus Sublimis 1950 eine hartkantige Ausdrucksweise mittels fünf klarer, vertikal durch Farblinien („zips“) abgegrenzter Farbflächen auf einer monochromen Riesenleinwand und sucht nach unzweideutiger, objektiver Komposition von Farbe und Raum (Abb.125). Er ist bereits Mitte
40, als er dies Werk als sein erstes großformatiges erstellt, und es hagelte Kritik. Sein
künstlerischer Durchbruch erfolgte letztendlich erst 1966 mit Hilfe des Guggenheim
Museums, als dieses die 14-teilige Bilderserie The Stations of the Cross – Lema
Sabachthani ausstellte.
272
S. Huber, Gabriele: Enrico Baj und die künstlerischen Avantgarden 1945 bis 1964, Mann, Berlin 2003,
S. 36.
273
Motherwell, Robert, zitiert nach Haftmann, Werner: a.a.O., S. 482.
274
Vgl. Harrison, Charles; Wood, Paul (Hg): a.a.O., Bd. II, S. 687.
181
Abb.125: Barnett Newman, Vir Heroicus Sublimis,
Öl auf Leinwand, 1950
Für Vir gewährt uns Newman interpretativen Beistand mit dem Titel, der – wie bei
anderen Künstlerkollegen der Abstraktion – auf eine mythologische Erhöhung oder
mythische Bedeutung über das reine Zusammenwirken von Farb- und Raumelementen
hinausweisen könnte: auf einen mythisch-erhabenen Helden, der in Ketten liegt?275
Oder erfährt man wie ein Kritiker jener Zeit den „Verlust des Selbst an etwas
Größeres“276? Für Letzteres spricht wohl etwas im Sinne Newmans, der – sich
absetzend von europäischem Kunst-„Ballast“ – in seinem Text The Sublime Is Now
erklärt, dass er Werke schaffen will, die „ohne Stützen und Krücken oder Assoziationen
mit veralteten Bildern, erhabenen oder schönen, auskommen“.277 Wenn er betont, es
gebe das Erhabene „jetzt“, bietet er uns eine Art aktuellen, subjektivistischen,
meditativen, transzendenten Schwebezustand – abseits aller Gegenständlichkeit oder
Langzeiterfahrung –, auf den wir uns einlassen könnten, ohne dabei allerdings
Vertrautes abrufen zu können.
Die Frage nach dem Mythos endet auch hier trotz des Titels im individuellen
Entweder-Oder: Man kann natürlich wiederum keinen authentischen Mythos erkennen,
dessen Newman sich ohnehin entledigen will, auch der Zeitgeist ist unentschlossen;
jedoch kann man die Unbestimmtheit, das Unklare, Ungewisse, für manchen das
Unheimliche und Tragische als nicht Fassbares, als Mythisches, das sich dem
Aufklärerischen gegenüber sieht, zur Diskussion stellen. Der amerikanische
Kunstkritiker Robert Rosenblum vertritt die Auffassung, dass Newman wie auch andere
Künstler des amerikanischen Expressionismus in einer Vielzahl religiöser Quellen nach
275
Franz Meyer hält fest, dass B. Newman, als er im April 1951 von der Entlassung General MacArthurs
(drohte Krieg auf China auszuweiten) durch Truman erfuhr, den Präsidenten als „,exemplum’ für den
sublimen Helden empfunden hat, der sich durch eine moralisch politische Tat über die etablierte
Gesellschaft erhebt“. Vgl. Meyer, Franz: Barnett Newman, The Stations of the Cross, Lema
Sabachthani, Richter, Düsseldorf 2003, Anm. 166, S. 170.
276
Vgl.: art Das Kunstmagazin Nr. 11/2002, S. 38.
277
Newman, Barnett: The Sublime is Now, In: ‘Tiger’s Eye’ (Dec. 1948, S. 51 – 53). Die Zeitschrift hatte
ein Symposium über das Sublime abgehalten. Zitat nach: S. Harrison, Charles; Wood, Paul (Hg):
a.a.O., S. 699 – 701.
182
mythischer Inspiration suchte, „wobei er alle konfessionellen Grenzen hinter sich ließ,
hätte doch jede Einzelreligion seine universellen Zielsetzungen beschränken
müssen“.278 Schon 1961 wies er darauf hin, dass emotionale und geistige Erfahrungen,
die früher – etwa in der Romantik – gegenständlich wiedergegeben wurden, nunmehr in
abstrakter Form erschienen. Die Künstler schufen somit „einen privaten Mythos zur
Verkörperung der erhabenen Macht des Übernatürlichen“.279
Der Erfolgskurs der Abstraktion im letzten Jahrhundert ist unbestritten, vor allem
wenn wir bedenken, dass sie häufig in reduzierter Form, d.h. nicht in völliger
Abschaffung des Gegenständlichen, sondern oft in dessen Verfremdung oder teilweiser
Verhüllung auftritt (Surrealismus, Konzeptkunst u.a.). Ihren heftigsten Widersacher
fand die Abstraktion in der Pop Art, deren wichtigsten Vertreter wir bereits diskutiert
haben. Dennoch werden ihre deutlichen Spuren auch im Pluralismus der sogenannten
Postmoderne zu finden sein, die Abstraktes mit Figurativem und Greifbarem für ihre
Gedanken- und Konzeptwelten mischt (vgl. Kap. V).
Im Sinne der Künstler könnten wir an dieser Stelle unsere Frage nach dem Mythos in
der Abstraktion derart beantworten, dass für einige von ihnen die Befreiung vom
Gegenstand wirklich zur übergeordneten Harmonie, einer nur mythisch (weil das
Gegenstandslose keine klare Erkenntnis liefert) erfassbaren Wirklichkeit führt.
Andererseits bleiben dem Betrachter auch Zweifel am Erfolgsversprechen des inneren
Klangs im Leben; aber wem will man diesen Weg zu innerem Erleben verwehren, wenn
er ihm selber geholfen hat? Oder sind die Erklärungen der Künstler zum Unerklärbaren
nur vorgeschobene Argumente zur Schaffung ihrer individuellen Mythen? Ihre
Vorbildgebung zur Bewältigung der Probleme der Aufklärung bleibt für viele
Beobachter ein theoretischer Versuch – trotz aller Bereicherung der Formen, aber
andererseits doch auch ein Versuch, dem Ineffabile einen neuen Ort und eine Würde des
Menschen in seiner Distanzhaltung jenseits religiöser Tröstungen zuzuweisen. In
diesem Sinne werden die künstlerischen Unternehmungen des Abstract sublime zu einer
Begegnung, wenn nicht Bannung des Numinosen, einer ,mythischen Aufklärung’, die
deren rationalistische Kürzungen nicht nur zu unterlaufen versuchte, sondern die – im
Kontext der Geschichte des Zweiten Weltkrieges – auch um jenen Bereich menschlicher
278
Rosenblum, Robert: Die moderne Malerei und die Tradition der Romantik [1975], Schirmer-Mosel,
München 1981, S. 223. In diesem Zusammenhang weist Rosenblum auf die jüdische Abstammung
Newmans hin und meint, dass die bilderfeindliche Einstellung seiner Religion „die Darstellung
transzendenter Erfahrungen durch immaterielle Bilder“ gefördert habe. Ebd., S. 224.
279
Rosenblum, Robert: The Abstract Sublime, In: Art News 59, Nr. 10 (Febr. 1961), S. 39 – 40, 56 – 57,
hier S. 57. Zitiert nach: Bashkoff, Tracy: Einleitung zum AK ,Über das Erhabene: Mark Rothko, Yves
Klein, James Turrell.’ AK Deutsche Guggenheim Berlin 7.7. – 7.10. 2001, Berlin 2001, S. 33.
183
Sehnsucht künstlerisch warb, den der Nazismus hinter sich gelassen hatte, indem er
zerstörerisch das Numinose an sich riss und sich einseitig zu dessen mythischen
Agenten machte. Hierbei hatte der einsame abstrakte Künstler keinen transzendenten
Referenten an seiner Seite, dem in einem authentisch-mythischen oder religiösen
Prozess die Last der Weltenordnung hätte aufgebürdet werden können.
2. Mythos ,im Modell’
Wir haben bisher versucht, Mythostypen und -funktionen zu beschreiben. Je nach
ihrer Funktion im künstlerischen Abbild erkennen wir eine mythische Substanz als
authentisch, reflektiert, zeitbezogen oder als Mischform dieser drei Grundtypen, wobei
die Verknüpfungen durch unterschiedliche Gewichtungen ihrer Basiselemente charakterisiert werden können (vgl. horizontale Achse des Tabl. 12). Wir registrieren z.B. für
Tizian oder Kandinsky bezüglich ihres Bezugs zum Religiös/Transzendenten ein höheres Maß an Mythen-Reflexion als bei Warhol oder Broodthaers, die sich jeweils
stärker mit einem Zeitgeist-Mythos in clowneresker Mimikry entmythologisierend
auseinandersetzen, ganz zu schweigen von der Unterschiedlichkeit des jeweiligen
Einsatzes des authentischen Mythos. Das Beuyssche Mythenbild erscheint noch
vielfältiger, wenn wir seine Energie geladene Nympha als authentischen Mythenkern
bestimmen, der von Beuys selbst als mythischer Mittler zum Überweltlichen
herangezogen wird, und wir uns dann noch gleichzeitig die mythische Rolle des
Künstlers als selbst ernannten Heilsbringer vor Augen führen.
Die Vorstellung von Beuys als persönlichem Repräsentanten eines (individuellen)
Mythos mit Sendungsbewusstsein macht uns auf die vertikale Achse unseres ModellTableaus aufmerksam. Über alle Mythentypen hinweg können wir nämlich die
mythische Substanz auch einmal rezeptiv als sinngebendes Verhältnis zur Welt bzw. zu
unserem ,Sein’ begreifen und zum anderen produktiv als subjektive Selbsterfahrung
verstehen, die in der Tat auch zur weiteren Vermittlung angeboten wird, wie im Falle
Beuys festzustellen war. Während die Sinnstrukturen zur Welt in Bildern des PrimitivArchaischen, des Numinosen, des Transzendenten oder im Ideologischen zu suchen
sind, kann sich die Selbsterfahrung z.B. in Souveränität, Bedrängnis und Verzweiflung,
Hedonismus, Provokation gepaart mit Indifferenz, Ironie und Satire, Skepsis oder
Chronistischem ausdrücken. Dieser künstlerische Ausdruck erfüllt dabei die
184
Erstfunktion einer Identitätssuche, deren Ergebnis der Künstler dann offen legen bzw.
übermitteln möchte.
Unser Modell schließt sich, wenn wir nunmehr im Sinne einer Matrixbetrachtung die
rezeptiven bzw. produktiven mythischen Substanzen den Mythostypen zuordnen. Ein
Blick auf unser Modell in Tabl. 12 macht nochmals unmittelbar deutlich, dass es keine
zwangsläufigen Zuordnungen zur Bestimmung eines besonderen Mythos gibt; vielmehr
ist der Normalfall einer Mythen-Bestimmung derjenige einer Erkennung von
Verflechtungen unter den einzelnen aufgeführten Kriterien. Wir möchten nun – diesem
Modell folgend – einige der wichtigsten künstlerischen Positionen beispielhaft
aufzeigen:
Wir erkennen den reinen authentischen bzw. historischen Mythos als Schutzmechanismus zur Angstbewältigung gegen die Katastrophen und Unberechenbarkeiten des Daseins ausgehend vom primitiv-archaischen Weltbild in der
Medusa-Maske (Veji) oder innerhalb der hellenistischen Klassik auf Athenas
Schutzkleidung.
Wenn die mythische Substanz im Bereich des Transzendenten oder Numinosen
der Sinngebung dient – etwa in der Funktion der Chaosbewältigung – hat
durchaus der authentische Mythos form- und bildgebend seinen Platz, aber das
dahinter liegende Mythen-Verständnis ist jetzt in der Komplexität der neuen
Gesellschaften ein reflektiertes geworden: Tizians Verschachtelung des
historischen Mythos mit christlich-religiösen Motiven reflektiert verborgenen
Drang zu größerer Freizügigkeit und offener Leidenschaft, Poussins antike Motive
bilden den Rahmen für das Erhabene tiefer, religiöser, jenseitiger Gedanklichkeit,
Böcklins Kalypso reflektiert die schmachtende Hingebung an eine romantische,
selbst auferlegte Askese, um jeweils einen wahren Sinn des Daseins
wiederzugeben. – Vor dem Hintergrund des Zeitgeist-Mythos einer allumfassenden, aufklärerischen Technologie-Gläubigkeit versuchen Kandinsky und
andere Vorreiter abstrakter Malerei, nach eigenen Erklärungen mit dem gegenstandslosen Werk eine zweite Mitteilungsebene, den übersinnlichen „Klang“ bzw.
das Unerklärbare, Unheimliche, Universelle, das Mythische darzustellen.
Je mehr sich die Gesellschaft technologisch-informativ weiterentwickelt, desto
stärker setzt sie sich von den Orientierungen religiös-numinoser Art sowie auch
von den allgemein-transzendenten Grundbestimmungen ab und sucht sich neue
Wertestrukturen, ergänzend oder ersatzweise. Aufklärerisches Denken, von uns
185
Mythos-Typ
Mythosfunktion
Mythische Substanz als …
(mythologisierend/
entmythologisierend)
Authentischer
Mythos
Reflektierter Mythos
Zeitgeist-Mythos
(Bildung/Brechung)
1. …sinngebendes Verhältnis zur Welt/
zum ,Sein’ (rezeptiv)
… des Primitiv-Archaischen
Angstbewältigung
xxx
… des Numinosen/Transzendenten
Chaosbewältigung,
Schaffung Weltbild
xx
xxx
x
… der besonderen Wertestrukturen
Legitimations- und
Identitätsverleihung
x
xx
xxx
… des Ideologischen/Politischen
Identitätsverleihung
xx
xx
xx
… des Souveränen
)
x
xx
xxx
… des Bedrängten
)
x
xx
xxx
… des „Glücksritters“
) Æ Identitätssuche
x
x
xxx
… des Provokateurs/Indifferenten
)
x
xx
xxx
… des Skeptikers (z.B. satirisch)
)
x
xx
xxx
… des Chronisten
)
xx
xxx
2. … subjektive Selbsterfahrung zur
Vermittlung (produktiv)
(-verleihung)
x bis xxx: Angenommenes Gewicht der mythischen Substanz
Tabl. 12: Modell zur Mythenerfassung in der Kunst
186
im reflektierten Mythos erkannt, und vor allem Bildung von Zeitgeist-Mythen und
deren Brechung spielen in diesem Zusammenhang die Hauptrolle. Warhol bietet
ein gutes Beispiel – wenn nicht in erster Linie für Schaffung – so doch für Bestätigung des Zeitgeist-Mythos ,Amerika’, des Landes, das aus dem Niemandsland
zwischen den Ozeanen zu einem finanziell und politisch führenden, offenen
Goldgräber-Kontinent herangewachsen ist: Mythos des neuen Erfolges, der neuen
Freiheit. Die Entmythologisierung, die Brechung dieses Mythos ist vielleicht nur
das Ergebnis spontaner Gesten, jedenfalls ist ein Effekt von Warhols Praxis, dass
die mythische Dimension der Werbung und anderer Zeiterscheinungen banalisiert
wird. Warhol hat durchaus das Kulturgesamte, aber besonders dessen
Mikroorganismen, wie etwa Coca Cola oder Elvis Presley fördernd und
gleichzeitig produktiv trivialisierend ins Visier genommen. Später ist es auch
Prince, der mit seinen fotografischen Ready-mades dieses Amerika entmythologisiert. Weitere Beispiele dieser mythischen Substanz von Wertestrukturen und
deren Kommentierung liefern u.a. auch die Nympha-Analyse mit Dürer
(moralisierend), Duchamp (ironisierend) oder Rist (weibliches Selbstverständnis)
sowie der Medusa-Katalog mit Géricault (menschliches Verantwortungsbewusstsein) oder Kentridge (Versagen des Wissens).
Eng verwandt mit letzterer Variante – sozusagen in einer weiteren speziellen
Steigerung von ,Bedeutsamkeit’ – ist das ideologisch-politische Mythos-Bild.
Häufig findet auf dem Rücken des historischen Mythos eine Verschiebung statt,
die zu dieser besonderen Form des Zeitgeist-Mythos und dessen künstlerischen
Brechungen führt: der Mythos vom auserwählten Volk und dessen Vertretern
(NS-Kunst), der Mythos vom unbesiegbaren, unfehlbaren Herrscher (Girardin),
der Mythos vom ideologischen Wahnsinns-Herrscher(Beckmann). – Wir hatten
erläutert, dass dem reflektierten Mythos das Element des Abbaus der Bedeutung
mythischer Substanz innewohnt. Mit dieser Überlegung vor Augen registrieren
wir in diesem Matrix-Segment (mythische Substanz, politisiert auf dem Rücken
eines authentischen Mythos) Cellinis Perseus – mit der besonderen Note, dass der
authentische Medusa/Perseus-Mythos zum reflektierten mutiert ist (Medici =
Perseus = neuer – melancholischer – Perseus).
Wir betreten einen besonderen Bereich mythischer Substanz, wenn wir diese
als subjektive Selbsterfahrung im produktiven Bereich des Künstlers festmachen.
Ohne das vermittelnde Element der entsprechenden Darstellungen zu verkennen,
187
tritt in besonderer Weise die subjektive Identitätssuche des Künstlers selbst
hervor, die die Basis für den gewünschten Übermittlungsprozess bildet. Es
entstehen „individuelle Mythologien“ – wie wir gesehen haben – etwa bei Picasso
oder es entwickeln sich Positionen der Kritik an eben diesen Mythologien
(Broodthaers). Häufig wird ein vorhandener Zeitgeist-Mythos bei dieser Identitätssuche dramatisiert und gleichzeitig ironisch oder provokativ wieder gebrochen
(Duchamp).
Ein weiteres, ausführlich erläuterndes Beispiel kann uns mit seiner Vielschichtigkeit
nochmals den Weg durch unser Hilfsmodell illustrieren. Wir denken an Die Kindheit
des Zeus (Abb.126) von Lovis Corinth (1858 – 1925), ein Gemälde, das sich mehrerer
Felder aus unserer Matrix bedient. Dieses Bild entsteht noch vor Corinths erstem
Schlaganfall (1911), also in einer Zeit, da dem Maler seine eigentlichen Erschütterungen noch bevorstehen: Erschütterungen als Folge der gesellschaftlichen Umwälzungen und seiner damit verbundenen persönlichen Auseinandersetzungen und
Irritationen (Corinth wird eine für einen Künstler jener Zeit durchaus atypische
national-politische Einstellung nachgesagt).
Abb.126: Lovis Corinth, Die Kindheit des Zeus,
Öl auf Leinwand, 1905/06
Wenn, wie Georg Bussmann es beschreibt, in seinem Spätwerk der „Mythos des
alten Corinth, der des Malers als der Stigmatisierte, als der vom Tode Angerührte, als
der wahrhafte Märtyrer seiner Kunst“280 entstanden ist, dann haben wir es hier bei
280
Bussmann, Georg: Lovis Corinth, Carmencita, Fischer, Frankfurt a. M. 1985, S. 35.
188
diesem Bild mit einem anderen Ende der Corinthschen Mythenbildung zu tun, die
allerdings Ausdruck gibt von dem ungeheuren Spannungsfeld, in dem dieser
Sinnenmensch sich ständig bewegt hat: Sinnlichkeit und Vitalität beherrschen auf
diesem Gemälde die Szene wie auch in seinen der Antike nachgestellten Bacchanalien:
Der kleine Zeus, in den Armen seiner Pflegemutter, der Nympha Amaltheia, schreit aus
Leibeskräften, Kureten und Nymphen tanzen und lärmen umher, um mit ihrem Krach
den wütenden Vater des Zeus, Kronos, der ihn nun endlich verschlingen will, zu
täuschen und fernzuhalten. Dennoch aber fügen sich relativierende, stillere Elemente in
das Geschehen. Die gleichsam ehrerbietige Neigung des Kureten mit der Darbietung der
Weintrauben, die erhobene Gruß-Hand der Ersatzmutter, drei muffelnde Kaninchen im
Vordergrund; es entsteht ein zweiter christlicher Bildtypus vor dem antiken Mythos, in
dem Amaltheia zu Maria, Zeus zu Jesus (!) und der Weintrauben darbietende Kuret zum
Heiligen König werden. Und schließlich erinnern wir uns, dass Corinth das Bild aus
Anlass der Geburt (1904) seines Sohnes Thomas gemalt hat, wodurch die Gestalten
plötzlich auch noch die Namen Charlotte (seine Frau), Thomas und Lovis erhalten.
Kann uns die Mythos-Analyse mit Hilfe unseres Orientierungstableaus durch diese
Corinthsche
Mehrschichtigkeit
der
Bezugsmöglichkeiten
hindurch
ein
wenig
zusätzliche Klarheit verschaffen? Zunächst erkennen wir eindeutig den authentischen
antiken Mythos als Gestaltungsmotiv, hier mit den entsprechenden Hinweisen auf die
Götter-Genealogie, die sich nochmals wiederholt in der Vorstellung von ,Maria und das
Kind’. Ferner können wir in der Dynamik der Szene einen Zeitgeist-Mythos der
Jahrhundertwende ausmachen: neues (männliches) Leben in einer Phase gesellschaftlicher Neuorientierung und Aufbruchstimmung, Tatendurst und vitalistischer
Drang zu neuen Ufern. – Folgen wir unserem Tableau weiter: Die mythische Substanz
auf der Ebene der subjektiven Selbsterfahrung und Selbstdarstellung ist die des
bedrängten Chronisten, der sein Leben mit den Argumenten der Aufklärung allein nicht
meistern kann. Als Rezipienten begegnen wir darüber hinaus dem noch nicht
Aufgeklärten keineswegs als etwas Ideologischem (auch nicht in Corinths späteren
Werken, die ja „entartet“ wurden) oder numinos Transzendentem. Vielmehr keimt doch
das Verständnis nach einer besonderen Werteorientierung à la Corinth, die wir mit
Bussmann als Position einer durchaus faszinierenden, suchenden, oftmals irritierenden
Offenheit der Anschauung dem Wahrnehmbaren gegenüber erfahren können, einer
Offenheit, etwas Neues hinter dem Offenkundigen (dem Bild, dem Erleben ganz
189
allgemein) zu entdecken.281 Wenn wir bereit sind, diese Position in der von Corinth so
nicht explizit ausgesprochenen Auseinandersetzung mit dem Mythos, bei ihm als offene
Handschrift, befreit „vom engen dogmatischen Formbegriff der Klassizisten“282 und
Historiker zu erkennen, dann sehen wir in diesem Einzelgänger gleichzeitig einen
Vorbereiter des postmodernen Pluralismus (s. Kap. V b 1).
Generell können wir abschließend anmerken, dass gerade das 20. Jahrhundert mit
seinen kunstmodernen Projekten sich des Mythos in Zusammenhang mit völlig neuen
Formgestalten bedient. Darüber hinaus aber ist von Bedeutung, dass die inhaltlichen
Verweise weniger normativ als früher sind, d.h. Ordnungs- oder Handlungsmuster in
geringerem Umfang anbieten, vielmehr sind sie in großer Zahl gerichtet auf persönliche,
individuelle Daseinswelten. Wir bewegen uns weitaus stärker in der zweiten Hälfte
unseres Tableaus Nr. 12: „Die Mythen galten [jetzt] nicht mehr als philosophisch
umgedeutete Glaubenstatsachen oder als Spiegel weltferner Ideale, sondern vielmehr als
anschauliches Exempel menschlichen Selbstverständnisses von zeitloser, deshalb
jeweils aktuell neu zu verstehender Bedeutung“.283 Aber vergessen wir nicht:
Ausnahmen bestätigen diese grobe Regel, vor allem vor 1945.
281
Ebd., S. 71/2.
Hofmann, Werner (2003): a.a.O., S. 161.
283
Spielmann, Heinz: Mythos und Moderne. In: Spielmann, Heinz (Hg): a.a.O., S. 10 – 23, hier: S. 12.
282
190
V. Mythosanalyse als Orientierungshilfe zur Standortbestimmung von Kunst und Werbung
Wir wollen in diesem Kapitel zunächst die Wechselbeziehungen zwischen Kunst und
Werbung sowie den Part des Mythos, wie er in diesem Zusammenhang eine Rolle
spielt, darlegen, um auf dieser Basis auf die Programme von Ent- und Remythologisierung einzugehen.
a. Das verflixte Beziehungsgeflecht zwischen Kunst und Werbung
und die Rolle des Mythos
Dieses Thema – auch häufig zwischen den Begriffen ,High’ und ,Low’ angesiedelt –
hat in den letzten 50 Jahren viele Kommentatoren auf den Plan gerufen, die wir nicht im
Einzelnen wiederholen möchten. Beispielhaft nennen wir hier allein wegen ihrer jeweils
exponierten Haltung drei von ihnen: Ulrich Eicke erklärt die Markenartikel-Werbung
zum Fremdkörper der sozialen Marktwirtschaft und macht am Kultursponsoring, dem
Ende des uneigennützigen [?] Mäzenatentums klar, dass für ihn – wenn überhaupt – nur
eine geringfügige Interessengemeinschaft zwischen Werbung und Kunst/Kultur
besteht.284 Dagegen erklärt Michael Schirner selbstbewusst „Werbung ist Kunst“.
Vielerorts werden allerdings starke gegenseitige Wechselbeziehungen hervorgehoben,
wie z.B. bei Umberto Eco285. Da wir davon ausgehen, im Ansatz dieser letzteren
offenen Betrachtung eine lebensnahe Antwort finden zu können, wollen wir in Kürze
gemeinsame und differenzierende Kriterien zusammenfassen, wobei uns gegebenenfalls
die Identifikation mythischer Elemente behilflich sein kann.
1. Gemeinsames und Differenzierendes
Die Stileinheit von Kunst und Werbung als verlängerter Teil des hergestellten
Produktes bestand so lange, wie es den Unterschied zwischen Kunst und Handwerk
nicht gab und letzteres noch nicht durch die industrielle Produktion verdrängt worden
war. Das hat sich in der Moderne geändert. Dennoch gab es im 20. Jahrhundert zielgerichtete Bemühungen, aus den künstlerischen Formen Anleitungen für die Gebrauchsgütergestaltung abzuleiten und umgekehrt: Werkbund, Bauhaus oder Ulmer Hochschule
für Gestaltung. Die Suche nach einer „einheitlichen Bildsprache für alle Bereiche
284
Eicke, Ulrich: Die Werbelawine. Angriff auf unser Bewusstsein, Knesebeck & Schuler, München
1991, S. 196 ff.
285
Eco, Umberto: a.a.O., insb. S. 39 – 51.
191
visueller Umweltgestaltung … also die Kluft zwischen Kunst und Alltag zu schließen“,
und damit die optische Alltagswelt mit dem Kunstwollen zu verbinden, war das Ziel.286
Betrachten wir die Gegenwart: Werbung wie auch Kunst haben nach wie vor
Konjunktur. Das Bild der Werbung kann sich zeitbezogen verändern von Marlboro- zu
Lidl-Anzeigen oder von Waschpulver- zu eBay-Werbung, von klassischen zu
promotionellen Ansätzen, vielleicht bleibt auch ab und zu der Werbemittel-Zuwachs aus
bei gleichzeitigem Anstieg der Arbeitslosenquote; dennoch: Ihr Erscheinungsbild im
öffentlichen Erleben ist ungebrochen. Gleichfalls fehlt es der Kunstbetriebsamkeit nicht
an Impulsen. Nicht allein, dass immer wieder Höchstauktionspreise für alte und neue
Meister gemeldet werden, es besteht auch keinerlei Manko an zeitbezogenem
Ausstellungsgeschehen trotz des Drucks auf manchen Museumsetat; zahlreiche
bemerkenswerte Privatinitiativen – oftmals als Kleinkunst verschmäht – machen
Galerien und Kunstmessen Konkurrenz. Vor diesem Hintergrund sind beide Phänomene
Teil eines sich stets intensivierenden Wechselspiels in unseren soziokulturellen
Prozessen; getragen von grundsätzlichen Erwägungen oder Zeitgeist und Moden
stimulieren sie sich bewusst oder unbewusst gegenseitig. Immer wieder ist darauf
hingewiesen worden, dass äußere Erscheinungsmerkmale und Produktionstechniken
identisch bzw. miteinander verwoben sind, insbesondere beim Film. Die Omnipräsenz
medialer Bilder und ihre z.T. vordergründigen Verwobenheiten mit historischen Darstellungen darf aber unseren Blick für die zu Grunde liegenden Strategien und
Intentionen nicht verstellen, etwa den Blick auf die Strategie der Werbung vor dem
Hintergrund künstlerischer Vorprägungen.
Abb.127: Adolf v. Hildebrand,
Bismarck, Bremer
Standbild, 1910
286
Abb.128: Marlboro-Cowboy,
Plakat, 2001
Holz, Hans Heinz: Kritische Theorie des ästhetischen Zeichens. In: documenta 5: Befragung der
Realität, Bildwelten heute, Bertelsmann/Dierichs, Kassel 1972, Abschnitt 1.15.
192
Ein Beispiel, das diesen Zusammenhang anspricht, ist ein Vergleich der Abbildungen
127 und 128: Der Mythos ,Bismarck’ und der Mythos ,Cowboy’ stehen fast nebeneinander in unserem Straßenbild. Einerseits der Eiserne Kanzler, 1910 von Adolf von
Hildebrand (1847 – 1921) entworfen im Streben nach formaler Klarheit und inhaltlicher
Bündigkeit – das staatsmännische Vorbild; andererseits der reitende Cowboy aus dem
Marlboro-Land – bereit für Richard Prince’ Verweise auf die klischeehaften Banalitäten
von heute. Zu Pferde, von fast gleicher Größe, herausgehoben auf ein Podest bzw. durch
eine Litfasssäule, beide vorwärts gerichtet, die Pferde beherrschend und antreibend,
Erfolge versprechend und voller Energie. Und doch der Staatsmann und Lenker
Bismarck als der Held aus innerer Kraft in gemessener, gesammelter Gespanntheit
idealisiert, die Papyrosrolle voller Gesetze in der Hand, als Vorbild in Bronze verewigt;
der Cowboy dagegen als der Held von äußerer (körperlicher) Energie und Dynamik, die
absichernde Zigarette in der Satteltasche, mit Cowboy-Hut und -Umhang statt Helm
und Panzer, ephemer auf einer Plakatrolle. Abstrahieren wir von dem Erhabenen
staatsmännischer Steuerungskunst einerseits sowie vom Wilden Westen und individuellem Freiheitsdrang andererseits, dann gibt es in diesen Bildern einen ähnelnden Kern
von Anziehungskraft und Ausstrahlung heldenhaften Lenkens in Verbindung mit
Vorbild gebender Erfolgsbetontheit, der sich dem Wettbewerb innerhalb einer aktuellen
Vorbild-Hierarchie gegenübersieht, in der die Selbstverwirklichung – wie Bertolt
Brecht sarkastisch formuliert: „Keiner will mehr Pferd sein, jeder Reiter“287 – ein
dominierendes Element ist.
Selbstverständlich ist diese Situation erfolgsorientierten, überlegenen Leitens gerade
auch von der Kunst attackiert worden. Im Besonderen ist der Cowboy dabei ein
beliebtes Objekt, das vor allem in Richard Prince’ Repertoire in Zusammenhang mit
seiner kritischen Stellungnahme zu den Bildmedien der Warenwelt auftaucht, deren
„Mythen und Konditionierungen … wie eine gemeinsam durchlaufene Bildung als
umfassend verbindlicher Pool in uns wirksam [sind]“.288 Der Mythos der Cowboy-Ikone
erfährt durch die subtile Reflexion des Künstlers an Orten, die er, der Künstler, mittels
der Präsenz seiner Fotos vorschreibt, und in seiner fotografischen Aneignung selbst eine
entmythologisierende Entleerung des ursprünglichen, auf die Marke gerichteten
287
Brecht, Bertolt: Lied von der belebenden Wirkung des Geldes; aus: Die Rundköpfe und die
Spitzköpfe. In: Ders.: Gedichte und Lieder aus Stücken, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1974, S. 71/2.
288
Randow, Gero von: Unsichtbares – sichtbar gemacht: Der kollektiv-neurotische Blick – die jederzeit
ungefragt abrufbaren Gemeinsamkeiten. In: Kunsthaus Zürich, Hamburger Kunsthalle: Hypermental,
Wahnhafte Wirklichkeit 1950 – 2000 von Salvador Dali bis Jeff Koons, Hatje Cantz, Ostfildern-Ruit
2000, S. 43 – 157, hier: S. 124.
193
inhaltlichen Kerns. – Aber auch die klassische Formgebung, die der Triumph- und
Staatssymbolik diente, bleibt nicht verschont, wenn wir uns z.B. an Marino Marinis
(1901 – 1980) Reiterdarstellungen erinnern. Das Mächtige und Erhabene geriet bei
Marini und seinen geängstigten Gestalten zu Pferde immer mehr zu einer tragikomischen Figuration, in der das Pferd (bzw. die Lebenssituation) nicht mehr beherrscht
werden konnte.289
Beide Erscheinungsformen – Kunst wie Werbung – basieren auf schöpferischen
Handlungen der Akteure, auch wenn große Unterschiede im Entstehungsprozess bestehen können. Manchmal sind in diesem Zusammenhang allerdings auch Werber und
Künstler ein und dieselbe Person, denken wir an Warhol oder Magritte. Dabei ist es
zunächst gleichgültig, ob Spontaneität oder gründliche Planung, ob ein Einzelner oder
eine Werkstatt daran beteiligt sind. Beide Phänomene sind unabhängig von ihren
Motiven auf der Suche nach neuem, bezeichnendem Ausdruck, mit mäßigem oder
großem – manchmal zeitversetztem – Erfolg. Und sie treffen auch noch beide mit ihrer
Aussage auf den Empfänger, der sich in seiner Ganzheitlichkeit – situationsbedingt und
seinen gegebenen Voraussetzungen entsprechend – für Aufnahmebereitschaft und Beurteilung auch erst noch teilen bzw. in zwei verschiedene Richtungen orientieren muss.
Auf die Bedeutung dieser Voraussetzungen für die Beurteilung macht uns Régis
Debray aufmerksam, wenn er hervorhebt, dass, was heute als Kunst gilt, längst nicht
immer als solche gegolten hat. „Von ,griechischer Kunst’ zu sprechen, ist eine naive
Extrapolation, es ist die retroaktive Projektion einer modernen Kategorie … auf eine
Zivilisation, in der sie noch gar nicht denkbar war“.290 Die Ausdrucksweisen, die wir
heute als künstlerische beurteilen, weil wir sie von ihren ursprünglichen Funktionen
trennen, waren Auftragsdienstleistungen für Staat (Monumente), Kirche (Altäre),
Privathaushalte (Keramiken, Porträts), also Dienstleistungen, wie es heute die Werbung
ist. Vielleicht sind die Bilder, die wir heute als Wirtschaftsgüter bezeichnen, in 100
Jahren Dokumente mit künstlerischem Charakter, da ihr heutiger Sinngehalt sich völlig
verflüchtigt hat, und Warhol erhält Recht mit seiner Metapher vom Warenhaus.
So manches Wirtschaftsgut hat bereits heute Einzug in die Kunstwelt gehalten, wenn
der Künstler bewusst nach Idiomen der Werbung zur wirklichkeitsnahen Darstellung
289
Steingräber, Erich: Einführung. In: Kunsthaus Wien, Museum für Bildende Künste Leipzig: Marino
Marini, Hirmer, München 1995, S. 8 – 15, hier: S. 10. Vgl. dort auch: Pferd mit Reiter, Tusche und
Tempera, 1974. Oder Piccolo Cavaliere, Bronze, 1950, Staatliches Museum Berlin, Nationalgalerie.
In: Ullrich, Ferdinand; Schwalm, Hans-Jürgen; Pfeiffer, Andreas; Brunner, Dieter (Hg): Marino
Marini, Skulptur, Malerei, Zeichnung, Kunsthalle Recklinghausen, Städtische Museen Heilbronn 2003,
Abb. S. 135.
290
Debray, Régis: Einführung in die Mediologie [2000], Haupt, Bern, Stuttgart, Wien 2003, S. 80.
194
unserer Konsumgesellschaft greift (z.B. Georges Braque: Gitarre und Programm, 1913;
Kurt Schwitters: Eva stee, 1937/8 oder Wolf Vostell: Coca-Cola, 1961 – Abb.129). Vor
allem die Pop Art benutzt zeitgenössische und Alltagsmythen, um sie entweder erneut
im Alltag zu überhöhen oder um sie durch den Kunstgriff à la Duchamp zu demaskieren
bzw. abzubauen. Dabei bedient sich Kunst nicht nur der Techniken, die sich im Bereich
der Werbung/Unterhaltung entwickelt und durchgesetzt haben, sondern benutzt auch
betont expressive und überhöhte Ausdrucksmittel der Werbung, um sich überhaupt
Gehör zu verschaffen, und stellt sich trotzig aller zu erwartenden Kritik, die dies als
verkappten Ausfluss der Konsum-/Erlebnisgesellschaft betrachtet (vgl. Matthew
Barney, Jonathan Meese). Schließlich wurden manche Künstler durch das Treiben um
Werbung, Unterhaltung und Mode ebenso wie um die Pop Art zu Minimal- und
Konzeptkunst herausgefordert.
Abb.129: Wolf Vostell, Coca-Cola,
Décollage, 1961
Abb.130: elbeo, Anzeige, 1993
Offensichtlich gibt es nicht nur den Weg von der Werbung zur Kunst. Letztere
beeinflusst ihrerseits das Werbegeschehen, indem die Werbung identifizierbare
Stilelemente der Kunstepochen aufgreift und sich diese aneignet. Elbeo setzt auf die
,verlängerte’ Attraktivität der Algerierin (1917) von Amedeo Modigliani (Abb.130),
elena miro (s. oben Abb.10) baut auf den Charme von Paul Gauguins Arearea (1892),
um sich auf diese Art und Weise mit der Aura der Kunst zu umgeben, auf der Suche
nach Individualisierung und besonderer Aufmerksamkeit.
Der Einfluss der Kunst auf die Werbung ist nun allerdings von grundsätzlicher Art,
wenn wir feststellen, dass die Werbung ganz offensichtlich das Prinzip der
Mythenverwendung, das bei der Kunst – wie wir ausführlich gesehen haben – auf eine
195
lange, erfolgreiche Traditionsgeschichte zurückblicken kann, übernimmt und als
Bedeutungsverstärker einsetzt. Nachdem die Kunst es Jahrhunderte lang vorgelebt hat,
greift die Werbung dabei auch auf die gleichen traditionellen Mythenbilder
(Herkules/Superman; Engel/Versicherungsschutzengel) oder auf identische ZeitgeistMythen zurück, etwa denjenigen der Jugendlichkeit oder, wie hier illustriert, auf den
des Prestige betonten Persönlichkeitskults (Abb.131291 und 132):
Abb.131: Andy Warhol, Selbstporträt,
Polymer- u. Siebdruckfarbe
auf Leinwand, 1986
Abb.132: Barneys (John Irving),
Anzeige, 1993
Betrachten wir den letzten Punkt vor dem Hintergrund unserer vorausgegangenen
Überlegungen noch etwas genauer, um den Grenzbereich zwischen Kunst und Werbung
weiter auszuloten. Wir hatten uns der strukturalen Annäherung bedient, um darauf
basierend interpretative Kontingenzen zu erschließen. Der in der Werbung festgestellte
(strukturale) Dualismus im Sinne einer Zweistufigkeit ist neben der Mythenverwendung
auch bei der Mythenbildung ein von der Kunst lange vorbereitetes Modell, das wir in
unseren Betrachtungen zur Kunst ebenfalls stetig nachweisen konnten. Wenn wir für
unsere Grenzziehung an dieser Stelle noch einmal auf Duchamp zurückkommen, dann
erinnern wir uns, dass er auf dem Wege der Vereinzelung und Verfremdung seinem
Gebrauchsgegenstand den Mythos-Status verlieh. Genau diese Strategie der
Aussonderung aus der Klasse übriger, gleichartiger, austauschbarer Gebrauchsobjekte
wird bei der werblichen Markenmythen-Bildung angewandt. Das Readymade erhält die
291
Eine ausführliche Darstellung der Rollenspiele Warhols, vermittelt durch seine Selbstporträts, steuert
Ludger Derenthal bei. Er analysiert, dass sich hinter den Posen – nennen wir sie die zweite Ebene des
Warhol-Ich – nach Warhols eigenen Worten „nothing behind it“ befindet. S. Zweite, Armin et al. (Hg):
a.a.O., S. 196 – 203, hier: S. 199. – Auf das Prinzip der eigenen Körperdarstellung in verschiedenen
Rollen (Verwandlung) greifen, wiederum Marcel Duchamp folgend, zahlreiche Künstler auch am Ende
des 20. Jahrhunderts zurück. Besonders profiliert hat sich in diesem Zusammenhang Cindy Sherman
(*1954) in verschiedenen Phasen ihres Künstlerlebens; s. z.B. bei Schneede, Uwe, M.: a.a.O., S. 295.
196
Aura des Einmaligen über den ironischen Akt der Musealisierung bei Duchamp, der
Markenartikel den Status des verbindlich Einzigartigen durch den Akt der werblichen
Mythifizierung. Die Markenprodukte – ausgestattet mit dem jeweils besonderen
Zusatznutzen – kommen als Readymades auf uns zu. Während diese sich als
Aussonderungen aus der Masse anonymer Produkte gebärden, hat das Readymade bei
Duchamp sich ebenfalls über den Gebrauchsnutzen erhoben und wird zum
Markenartikel seiner Gebrauchsgattung. Aber auch dieser ,künstlerische Markenartikel’
ist vor erneuter Verfremdung – diesmal in umgekehrter Richtung – keineswegs sicher:
Elaine Sturtevant (geb. 1930) kopiert die geläufigsten, für sie als unverzichtbar
geltenden Künstler-Ikonen des 20. Jahrhunderts mit ihren Mythen und möchte dadurch
– mittels ihrer Wiederholung – deren Nimbus entzaubern. Dies geschieht u.a. durch die
gern bewilligte Zuhilfenahme originaler Produktionsmittel ihrer ,Vorbilder’ (Warhol:
Seidensieb für Flower-Serie). Anlässlich ihrer aktuellen Einzelausstellung The Brutal
Truth (09/2004 – 01/2005) im Frankfurter Museum für Moderne Kunst beschreibt
Bernard Blistène diesen Vorgang der Entmythifizierung als Misstrauensbekundung
gegenüber den künstlerischen Fetischen unserer Zeit: Man soll erkennen, „dass das, was
wir vor uns haben, nicht das ist, für was wir es zunächst halten“. Es ginge um die Dinge
selbst, nicht um die Vergewisserung, wer was gemacht hat. In der Tradition Duchamps
möchte Sturtevant danach die Etikettierung des Kunstwerks destabilisieren, stellt sich
gegen Götzenanbetung und möchte uns vor Illusionen bewahren.292
Die Aussonderung bzw. Umbenutzung des Ursprünglichen bei Duchamp und in der
Werbung führte jeweils zu einer Überhöhung: Im Falle der markentechnischen
Auseinandersetzung wird ein (Alltags-)Mythos aufgebaut. Im Falle von Duchamps
Readymades findet eine Verwandlung eines gewöhnlichen Gebrauchsgegenstandes zu
einem verbesonderten Diskussionsobjekt statt, letzteres mit der Chance, bei
entsprechender rezeptiver Interpretationsbereitschaft zum Symbol, Zeichen oder
Mythos-Begriff für etwas neues Provokatives, Sublimes oder eher Irritierendes zu
avancieren. Beide konzeptuellen Denkansätze zielen dabei auf eine intensive
Auseinandersetzung, die bei dem jeweiligen Adressaten stattfinden soll. Duchamps
Readymades bedeuten nichts ohne bewusste Reflexion des Betrachters, die moderne
292
Vgl. bei Blistène, Bernard: Label Elaine. In: Museum für Moderne Kunst; Kittelmann, Udo; Kramer,
Mario (Hg): AK Sturtevant, The Brutal Truth, Hatje Cantz, Ostfildern-Ruit 2004, S. 25 – 34, insb. S.
30. Für manchen Rezipienten bleibt durchaus die Frage offen, wodurch Sturtevant sich letztlich von
anderen ,Kopierern’ in ihrem bildnerischen Werk, jenseits verbaler Konzepte, maßgeblich absetzt.
Entscheidend aber könnte die Offenheit ihrer Haltung und ihre Beharrlichkeit sein, im aktuellen
Kunstbetrieb dessen Fetischen gegenüber misstrauisch zu bleiben und zum Nachdenken zu stimulieren.
197
Werbung mit ihrer mythischen Struktur zielt ebenfalls auf mehr als nur auf eine
oberflächliche Reaktion, es geht auch ihr um die innere Auseinandersetzung, um ein
gewisses geistiges Hinzutun, das Haltung und Verhalten beeinflussen soll – wir nannten
es Sympraxis.
Der strukturalistische Gleichklang der Metamorphosen und der denkkonzeptuelle
Ansatz beider Phänomene – bei Duchamp und in der Werbung – darf nun aber keineswegs die Unterschiede außer acht lassen: Beim Markenartikel wird ein klarer, eindeutiger, keine Zweifel lassender, (auch heute) immer noch relativ eng definierter Mythos
um die Marke errichtet, während das Readymade Duchamps ein breites Spektrum von
Bedeutungen beansprucht, das – ausgehend vom Nullpunkt einer allein provokativen
Anti-Kunst-Demonstration – letztlich breit gefächert allen „wechselnden Erfüllungsdefiziten des Menschen“293 gerecht werden kann. Der affirmativen Verbesonderung im
Falle des Markenartikels steht eine dekonstruktivistische im Falle Duchamps gegenüber, der vor dem eventuellen Aufbau eines neuen Ganzen den Abbau alter Strukturen
einfordert. Hier nun werden Grenzlinien zur Standortbestimmung unserer beiden zur
Debatte gestellten soziokulturellen Phänomene deutlich, allerdings nähern sie sich
dieser Grenze jeweils von der gegenüberliegenden Seite: Werbung bedient sich zunehmend des Denkens und des Anschauungsmaterials des Mythen spendenden Zusatznutzens bei gleichzeitiger Verwendung künstlerischer Darstellungsformen; Duchamp andererseits verweist auf den Status der Kunstlosigkeit, die dekonstruktivistische MythenBefreiung und damit gleichzeitig auf den Pluralismus von Bedeutungen unserer Tage.
„Verfremdung bis an die Grenze der Unverständlichkeit ist das Gesetz, in dem sich die
bildende Kraft der Kunst in einem Zeitalter wie dem unsrigen allein erfüllen kann“.294
Die Feststellung der Übernahme künstlerischer Elemente durch die Werbung gerät –
historisch betrachtet – durch Magritte ins Straucheln. In seiner persönlichen Entwicklung
– und dabei ist er nicht allein295 – könnten auch umgekehrt zunächst werblich verstan-
293
Iser, Wolfgang: Interpretationsperspektiven moderner Kunsttheorie. In: Henrich, Dieter; Iser,
Wolfgang (Hg): Theorien der Kunst, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1992, S. 33 – 58, hier: S. 48. Iser
beschreibt an dieser Stelle die „anthropologisch fundierte Kunst-Soziologie“ (als Aufhebung der
Trennung von Kunst und Leben) als mögliche Kunsttheorie, die – wie wir meinen – bei Duchamp in
eine semiotische mündet, wenn wir in dessen Readymades ästhetische Botschaften mit nahezu
unendlichen Interpretationsmöglichkeiten sehen. Die soziologische Kunsttheorie selbst geht den
Fragen nach, welches Kunstschaffen unter welchen gesellschaftlichen Voraussetzungen möglich ist
und welchen Beitrag Kunst zur Gestaltung der gesellschaftlichen Abläufe leisten kann.
294
Gadamer, Hans-Georg: Ende der Kunst? In: Bayerische Akademie der Schönen Künste (Hg): a.a.O.,
S. 32.
295
S. Friedl, Friedrich; Ott, Nicolaus; Stein, Bernard (Hg): Typo, wann, wer, wie, Könemann, Köln 1998.
Diese lexikalische Geschichte des Grafik-Designs gibt umfassend Einblick in die gestalterische
Vergangenheit zahlreicher bekannter Künstler (z.B. El Lissitzky, John Hartfield, Barbara Krüger).
198
dene Ausdrucksformen sein künstlerisches Œuvre bestimmt haben. Hier hat ein gegenseitiger Grenzverkehr, jedenfalls zeitweilig, stattgefunden. Magrittes erste reale Bildebene wird ergänzt durch eine zweite: ein geheimnisvolles Mysterium steht bildhaft neben
den wundersamen, gleichwohl ökonomisch umzusetzenden Traumwelten der Werbung.
Überhaupt dürfen wir dem Surrealismus und seinem Bildtypus zum Traumhaften,
Überraschenden, Herbeigeholten, Überhöhten und Exzentrischen die beeinflussende
Nähe zur Werbung nicht absprechen, die ja mit derartigen Merkmalen zur Gestaltung
wesentlich die zweite Ebene für ihre Mythenkreation bildet. Zunächst ist diese Nähe
nachvollziehbar, wenn wir eine Anzeige unter dem Gesichtspunkt bestimmter
eingesetzter Stilmittel betrachten: Nino – ein ehemaliger Anbieter von wetterfesten
(Trenchcoat-)Stoffen mit der Marke Nino-Flex – warb 1955 mit einer jungen Dame im
seinerzeit flotten Mantel auf einer Kugel (Abb.133).
Abb.133: Nino-Flex, Anzeige, 1955
Das ,Standbild’ auf der Kugel ist an sich schon ein alogisches Bild, das in seiner Irrealität nunmehr noch durch chiffreartige Zeichen und Linien einer künstlich-magischen
Bildwirklichkeit umgeben wird: Der Blick in die Tiefe wird durch diese zusammenlaufenden Geraden296 zum Horizont mit Schiff und Eisenbahn geführt, auf diesen Linien
tanzt ein Schatten werfendes Bäumchen. Diese irreale Kombinatorik mit Elementen von
Wirklichkeit und Schein ist deutlich den surrealistischen Künstlern nachempfunden.
Aber über die Verwendung surrealistischer Stilmittel hinaus zeigt unsere beispielhafte Gegenüberstellung Harley Davidson-Anzeige / Geisterkarren-Dali (Abb.134 und
135), dass die Werbung und surrealistische Künstler auch thematisch vergleichbare
296
Derartige Linienführungen sind gerade bei den Surrealisten beliebte Chiffren; z.B. bei Francis Picabia,
Judith, 1929/30; Yves Tanguy, Maman, papa est blessé!, 1927; Giorgio de Chirico, Le duo (les
Mannequins de la tour rose), 1915; Marcel Duchamp, Installation in der Ausstellung First Papers of
Surrealism, New York 1942.
199
Konzepte aufgreifen: Der Grafikdesigner und Dali, beide gehen von dem genannten
Kriterien-Spektrum des traumhaft Überraschenden für die Bildgestaltung aus, auch
wenn sie unterschiedliche Ziele verfolgen. In beiden Fällen konstatieren wir eine
außerordentliche Weite des Bildraumes, eine Fernsicht auf jeweils eine Stadt über eine
große Wasser- bzw. Wüstenfläche hinweg. Die Städte sind jeweils Zielobjekte für
Freiheit oder Neuanfang und trotz des verfremdenden traumhaften Realismus durchaus
erreichbar, jedoch nur nach Überwindung von Wasser und Nebel (mit Hilfe von ,Cool
Spirit’) bzw. Entschlüsselung des Geistergeschehens in der Wüste (steuert uns ein
Roboter den Wagen der Stadt entgegen?). Dali erstellt eine konkrete Imagination für
seine Ziel-Projektion, die Anzeige dagegen strebt umgekehrt nach dem imaginativ
Konkreten, nach dem Status der Freiheit mit Hilfe des neuen Eau de Toilette.
Abb.134: Harley Davidson,
Anzeige, 2001
Abb.135: Salvador Dali, Der Geisterkarren,
Detail, Öl auf Holz, 1933
Durch den Einsatz der im allgemeinen Kulturbewusstsein gespeicherten, durch die
Kunst Jahrhunderte hindurch zu ihren jeweiligen Zwecken lebendig erhaltenen Mythen
antiken, sakralen und zeitgeistlichen Ursprungs erhofft sich die Werbung einen Beitrag
zur griffigen Ideenübertragung und der Bildung von Markenmythen. Dabei sind ihr das
strukturale Prinzip ebenso wie die inhaltliche Substanz durchaus Vorbild gebend, sodass
Michael Schirner folgern kann ,Werbung ist Kunst’. Allerdings ist er durch diese
Haltung und Argumentation mit einer persönlichen Werbe-Mythenbildung beschäftigt,
indem er der direkten Werbeebene eine zweite, die Metaebene mit Weihestatus hinzufügen möchte. Von der Werbeseite kommend, nähert er sich der Reihe der individuellen
Künstlermythen, die sich auf der anderen Seite der Grenze Kunst / Werbung befinden:
Picasso, Beuys, Barney, Meese, die durch ihre jeweilige besondere Schaffensart, ihre
Lebensumstände und/oder ihre Aussage diesen besonderen Status erreicht haben oder
erreichen wollen. Dabei dürfen wir bei aller Mythen bildenden Energie nicht das entmy-
200
thologisierende Vorgehen vernachlässigen, das – gerade gegenüber der Werbung – eine
besondere Eigenschaft der Kunst ist. Neben Duchamp erinnern wir uns an Broodthaers
oder Lahoda. Bevor wir uns diesem Komplex im nächsten Abschnitt dieses Kapitels
widmen, nötigt uns die Aussage Schirners doch noch zu einigen Bemerkungen über
grundsätzliche Unterschiede zwischen Kunst und Werbung.
Wir können uns vorstellen, dass Schirner gar nicht so glücklich wäre, wenn
unbestreitbar Werbung tatsächlich Kunst wäre, ein Unterschied der Phänomene also
nicht bestünde. Es gibt dann zwar – wie er sagt – immer noch gute und schlechte
Werbung bzw. Kunst, jedoch sein Nimbus, sein Werbemythos ,Kunst’, wäre abhanden
gekommen. Hier aber können wir uns eindeutig zu dem grundlegenden Nebeneinander
von Kunst und Werbung bekennen:
Werbung erhebt den Anspruch zu informieren und liefert uns gleichzeitig einen kommunikativen Überbau der Versprechen eines erreichbaren Erfolges bzw. Glücks. Es ist
die Kunst des Versprechens unter Rückgriff auf die Künste der Unterhaltung, der Wissenschaft (Forschung), der Ästhetik oder – der Mythen. Die in der Kunst durchaus
geläufigen Elemente der Provokation und Irritation der Aussage dienen der Werbung –
wenn eingesetzt – allein zur Erlangung besonderer Aufmerksamkeit. Dabei ist und
bleibt das kommunikative Ziel kurz- und langfristig ein kommerzielles: nämlich der
Verkauf eines Serienproduktes aus dem Fundus der Massenproduktion für eine große
Anzahl Nachfrager.
Zweifellos hat auch Kunst einen Bedarf an kommerzieller Anerkennung. Es gibt nun
aber weniger Streit darum, dass Kunst darüber hinaus noch zusätzlich etwas darstellen
oder bieten könnte, als vielmehr darum, um was es sich dabei handeln könnte. Wir
würden unser Projekt sprengen, wenn wir uns auf eine Debatte der Kunsttheorien mit
ihren Konsequenzen einließen, denn der entsprechende Weg von der Antike bis zur
(Post-)Moderne durch die Handwerks-, Autonomie- und Authentizitätsbestimmtheiten
wäre ein langer Exkurs. Dennoch sollten wir für den Moment dieses ,Extra’ der Kunst
hinnehmen als ein bewusst zur Reflexion geschaffenes und zur Reflexion geeignetes
Kreieren von Werterhaltung bzw. -erneuerung, das auch ohne Markenzeichen in unserer
Kulturwelt funktioniert und zur Durchleuchtung (statt allein Beleuchtung) unserer
Lebenszusammenhänge beiträgt. Damit ist der Kunst der reine Unterhaltungscharakter
abgesprochen und der Denkansatz auferlegt, der zu Überschreitungen der inneren
,Grenzlinien’, d.h. zu neuen Erkenntnissen oder Erfüllungen führen kann, die über uns
201
selbst hinauszuweisen vermögen. Arthur C. Dantos (geb. 1924) Stellungnahme297, dass
nichts „äußerlich einen Unterschied zwischen Andy Warhols Brillobox und den Kartons
im Supermarkt zu markieren“ braucht, um dennoch Kunst zu sein, also eine Grenze
zwischen Trivialem und Kunstwerk zu ziehen, erfordert genau diese über das reine
Anschauen hinausgehende Interpretationsmöglichkeit. Und er meint erklärend in
Sachen Brillobox an anderer Stelle: „… Er [der Karton] veräußerlicht eine Weise, die
Welt zu sehen, er drückt das Innere einer kulturellen Epoche aus und bietet sich als ein
Spiegel an, um unsere Könige beim Gewissen zu packen“.298 Es ist demnach eine
Herausforderung an den Rezipienten, zwei absolut sich gleichende Objekte einer
sinnvollen Ordnung zuzuführen, wobei eine Bedeutung oder Aussagefähigkeit des
Kunstwerks für den Betrachter erreichbar sein muss, damit beide voneinander getrennt
werden können. Für dieses Ziel verweist uns Danto u.a. einmal auf die Art und Weise,
wie die erforderlichen, nicht sichtbaren (Bedeutungs-)Inhalte präsentiert werden (etwa
künstlerische Evokation „dadurch, dass es [das Kunstwerk] eine draufgängerische
Metapher vorschlägt: der Brillo-Karton-als-Kunstwerk“) oder zum anderen auf deren
spezifische Position im kunst- und kulturgeschichtlichen Umfeld.299 (Vgl. auch unsere
Anmerkungen zu Duchamp u.a.). Sobald man diesem Gedankengang Dantos folgt und
dabei seinen Wunsch nach Bedeutung unterstützt, bleibt es bei aller gedanklichen
Anstrengung und größtmöglicher Hinzuziehung umher flottierender Daten letztlich vor
allem immer dabei, eine pluralistische Bedeutungsoffenheit zu identifizieren, in der sich
vieles aufhalten kann – auch Mythen der Antike, des Sakralen, des Zeitgeistes oder des
Alltags, um sich dann darin zurecht zu finden.
Nun haben zahlreiche zeitgenössische Künstler das Credo, „dass Kunst subjektiver
Ausdruck und nicht objektiv nachvollziehbar sei“, und wehren sich geradezu gegen
Interpretationen, weil diese manipulieren oder Träume enden lassen.300 Bevor nun doch
noch aus Kunst Werbung wird oder umgekehrt, halten wir uns lieber an Falckenberg,
der sich die Hochachtung vor künstlerischer Autonomie bewahren möchte, aber letztlich
doch „die argumentative, rational nachvollziehbare Auseinandersetzung über Kunst bis
hinunter zu der Frage, ob etwas überhaupt noch Kunst ist“ einfordert. Dabei geht es
297
Danto, Arthur C.: Das Fortleben der Kunst, Zink, München 2000, S. 35. Obwohl Dantos Argument
dadurch unverändert bleibt, weisen wir darauf hin, dass seine Brillo-Boxes (1964) geschlossene HolzBoxen sind: Siebdruck auf Holz Brillo, je 44 x 43 x 35,5 cm, neben einigen Campbell’s Boxen, Sammlung Ludwig. Vgl. Museum Ludwig Köln: Kunst des 20. Jahrhunderts, Taschen, Köln 1996,S. 746.
298
Ders.: Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst [1981], Suhrkamp, Frankfurt/M.
1984, S. 315.
299
Ebd., u.a. S. 224 f und 314.
300
Vgl. Falckenberg, Harald (2002): a.a.O., S. 38. Falckenberg zitiert u.a. Susan Sontag (1962), die
meint, dass Interpretation „ein Reduktionsverfahren sei, das die Kunst manipulierbar macht“.
202
auch um die in der pluralistischen Umgebung stark vertretene mythische Substanz und
die klärende Diskussion darüber, um welche Mythen es sich handelt, damit Zustimmung
oder Widerstand möglich sind, ob etwas trivial-kommerziell oder in anderer Form
Werte bestimmend ist. Wir sprechen bewusst von der ökonomisch-trivialen Werteorientierung als einer Erscheinung, der sich eine anthropologische und soziologische KunstTheorie annehmen müsste, damit Handlungsakzente im Wirrwarr der Möglichkeiten
und Sinnanbietungen gesetzt werden können, um in einem kommunikativen Diskurs die
Bewährung zu bestehen.
Spätestens an dieser Stelle sind wir bei unserer Ausgangsthese (4), der
Notwendigkeit einer Mythos-Analyse angelangt, ohne die eine Standortbestimmung
zwischen Werbung und zeitgenössischer Kunst kaum denkbar ist. Dies ist umso
gravierender,
als
wir
aus
den
Wechselbeziehungen
beider
Phänomene
die
Möglichkeiten der gegenseitigen Einvernahme nachgewiesen haben. Eine Standortbestimmung unter dem Gesichtspunkt von Gemeinsamkeiten und Differenzen wäre aber
nicht vollständig, wenn wir nicht einen speziellen, wenn auch nur kurzen Blick auf das
grundsätzliche Für und Wider zur Werbung geworfen haben. Die Auseinandersetzung
mit dieser Argumentationskette ist vor allem auch deshalb in unserem Zusammenhang
aufschlussreich, weil Werbekritik bzw. das Sich-Darauf-Beziehen so verbreitet wie
jeweils einseitig ist – sozusagen mythisch-absolut vorbelastet.
2. Die Liebe zur Werbekritik
Man muss wohl die Frage stellen, ob diejenigen, die Werbekritik äußern, nicht doch
eigentlich Kulturkritik meinen. Diese Vermutung kann man hegen, wenn man sieht, wie
nahe beieinander beide von uns betrachteten Phänomene agieren, ohne dass man schon
am Ende bei Schirner angekommen sein muss. In jedem Falle bietet eine Kurzanalyse
dieses Komplexes die Möglichkeit, unsere Fragestellung zur Standortbestimmung
weiter zu vertiefen und unsere These (5) zur Mythenhierarchie aufzuarbeiten.
In seiner ,kritischen Kritik’ der Massenkultur unterscheidet Umberto Eco (geb. 1932)
in anschaulicher Weise Apokalyptiker und Integrierte, also zwischen denen, für die die
Kultur ihrer Tage zum Untergang bestimmt ist (nur der Apokalyptiker hat die Chance
zu wirklicher Erneuerung), und denen, die in der Integration die wünschenswerte
Realität erkennen. Wenn wir nun Massenkultur wahrnehmen als Verbundsystem aller
203
medialen Erscheinungen und Äußerungen, das sich historisch konstituiert und in dem
jedes unserer Phänomene einer Ortung bedarf, dann können wir für die Werbung
folgenden apokalyptisch-integrativen Dialog führen. Zunächst zur werblichen
Apokalypse:
Da die Werbung dem ökonomischen Prinzip von Angebot und Nachfrage dient,
kommuniziert sie allein über das, was gewünscht wird und forciert den vorherrschenden
Alltagsästhetizismus zu Lasten – relativ – der Hochkultur. Die Ausdrucksmittel der
Werbung fördern manipulativ und verführerisch Emotionen, statt diese zu symbolisieren oder zu neutralisieren; hierdurch werden – stark unterstützt durch die massive
Aufsummung des Werbegeschehens – die unkritische Wahrnehmung der Werbung
selbst sowie darüber hinaus eine allgemeine Passivität gegenüber dem Kulturgeschehen
und dessen historischen Wurzeln begünstigt. Mikromythen des Alltags und Makromythos der Werbung als Ganzes entlasten die Urteilskraft und kreieren dadurch
„Vorurteile im Bereich der Gewohnheiten, der kulturellen Werte, der gesellschaftlichen
und religiösen Grundsätze“. Damit ist Werbung nur dem Scheine nach demokratisch,
strebt nach „Gleichförmigkeit und Zwangsplanung des Bewusstseins aller“ – völlig im
Sinne religiöser Ideologien, an deren Stelle sie tritt.301
Ganz in der Terminologie der marxistischen Analyse attackiert ferner Wolfgang Fritz
Haug (geb. 1936) Werbung als kapitalistisches Ausdrucksmittel, die defizitäre Berücksichtigung der Gebrauchswerte der Waren mit übermäßiger Errichtung von falschem,
schönem Schein systemnotwendig zu kompensieren, d.h. – wie wir sagen würden –
Markenmythen zu bilden, die einer Kapitalverwertung Vorschub leisten, der alle Verbraucherbedürfnisse allein zur Ausbeutung dienen. Neben den Begriffen des Gebrauchsund Tauschwert-Standpunktes lanciert Haug dabei den des Verwertungs-Standpunktes
des Kapitalismus. Auf gerade diesen und dessen Auswüchse richtet sich als Gesellschaftskritik seine Speerspitze in erster Linie. Bezüglich der Werbung erklärt er immerhin, dass auch für ihn die „inszenierte Erscheinung nicht wegzudenken aus der Geschichte der Kulte“ ist, und er fährt fort: „Ihren realen Kern hat sie [die Warenpropaganda] in den Gebrauchswerten der Waren und deren allgemeiner Zugänglichkeit“.302
301
302
Eco, Umberto: a.a.O., S. 43/4.
Haug, Wolfgang, Fritz: Die Kritik der Warenästhetik, [1971], Suhrkamp, Frankfurt/M., 8. Aufl. 1983,
S. 16/17 und 56/57. Haug versteht unter Warenästhetik „Erscheinungen, die, der ökonomischen Sphäre
entstammend, für die Gesamtheit der gesellschaftlichen Verhältnisse in dieser Kultur konstitutiv sind,
und zwar im Sinne einer das Verhalten der Menschen insgesamt formierenden Modellierung von
Sinnlichkeit und Bewusstsein.“ Siehe Metscher, Thomas: Tendenzen der materialistischen Ästhetik in
der BRD. In: Haug, Wolfgang, Fritz (Hg): Warenästhetik, Beiträge zur Diskussion, Weiterentwicklung
und Vermittlung ihrer Kritik, Suhrkamp, Frankfurt/M., 1975, S. 22 – 47, hier: S. 39.
204
Die Gesellschaft und ihre Fundamente als Ganze zu kritisieren, erscheint uns ein stärker
Richtung weisender, ehrlicherer Standpunkt zu sein, als die Werbung einseitig als
kapitalistisches Mittel zur Etablierung und Aufrechterhaltung des Systems sowie für
falsche Sinnerfüllungen zu kritisieren und isoliert in die Pflicht zu nehmen. Bereits
während unserer Betrachtung der Markenmythen und ihrer Ziele hatten wir auf
unterschiedliche Bedürfnisstrukturen hingewiesen; an diese Überlegungen schließt der
Gedanke von Rainer Paris in Zusammenhang mit seiner Reflexion zur ,Kritik der
Warenästhetik’ an, wenn er die Tatsache der „Notwendigkeit einer Differenzierung des
Bedürfnis-Konzepts“ hervorhebt, d.h. dass doch wohl Bedürfnisse, noch dazu
unterschiedlicher Art, vorhanden sein müssen, bevor die Werbung sie aufgreift oder
verstärkt.303
Damit sind wir bereits mitten in der Gegenrede des von Eco in Szene gesetzten Integrierten. Diese Rede hat erkennbar (soziologisch-kulturell bedingte) historische Bezüge:
Zunächst bleibt festzuhalten, dass die Werbung noch immer trotz des Einsatzes
gelungener oder misslungener Schlüsselreize einiges zum Gebrauch der von ihr vertretenen Produkte aussagt, z.B. über sauber/fröhliche Kinder und Mütter dank Pampers
oder über Stress abbauende Zigaretten rauchende Väter. Oskar Cöster geht sogar so weit
zu behaupten, dass „der ästhetische Schein der Zigarettenwerbung der Gebrauchswert
der Zigarette ist“304. Dass es mehrere unterschiedlich beworbene Zigarettenmarken gibt,
ist Bedingung und Resultat einer freiheitlichen Ordnung zugleich; allerdings kann man
sich bei Zigaretten, wie bei anderen Artikeln auch (Pampers, Haarspray oder Fertiggerichten), darüber streiten, ob diese Produkte überhaupt nötig sind, da es sie früher ja
auch nicht gab. Lehnt man diese Produkte ab, möchte man doch wohl ein Stück des
Westens und der angehenden Entwicklung des Südens und Ostens in Abrede stellen
bzw. zurückdrehen; ein vergebliches Unterfangen in einer Zeit, da deutlich wurde, dass
sozialistische Planungen es auch nicht geschafft haben und andere Modelle noch nicht
zur Verfügung stehen. Für viele ist es dann ggf. doch akzeptabler, um mit Cöster305 zu
sprechen, wenn die ,Tiefenheinis’ der Verhaltenspsychologie herausfinden, dass man
303
Paris, Rainer: Kommentare zur Warenästhetik, Nachbemerkung. In: Haug, Wolfgang Fritz (Hg, 1975):
a.a.O., S. 84 – 108, hier: S. 108.
304
Cöster, Oscar: AD’Age, Der Himmel auf Erden, Doc’s, Hamburg 1990, S. 117.
305
Ebd., S. 107/8. Dies ist für Walter Grasskamp allerdings die „Keule der Besinnungslosigkeit, auf den
wehrlosen Passanten“ niedersausend. (Grasskamp, Walter, 2000: a.a.O., S. 129); denn, da Werbung
„spielerisch daher kommt und dennoch bierernste Marketinginteressen vertritt, leidet sie an einer
strukturellen Unglaubwürdigkeit“ (S. 124). Wir können nur hoffen, wenn dieses so umfassend ernst
gemeint ist, dass manches – Gott sei Dank – spielerisch daher kommende Kunstwerk, obwohl es
bierernste Interessen vertritt, einer solchen Unglaubwürdigkeit von vornherein nicht anheim fällt.
205
Sicherheitsgefühl
mit Waschmittel und Pharmazeutika,
Liebesobjekte
mit TV-Stars,
Kraftgefühl
mit Autos und Benzin,
Freiheit/Abenteuer
mit Zigaretten etc.
verkaufen kann.
Die Mitarbeit an neuen Strukturen gesellschaftlichen Zusammenlebens aber bleibt
eine grundsätzliche Herausforderung (sie könnte z.B. dem Kapitalismus durchaus auch
dessen Grenzen aufzeigen), woraus sich die Fragestellung in gewisser Weise durchaus
erneuert, ob gerade Markenmythen und deren Werbung, wenn es sie schon mal gibt
(und dies insbesondere ausgeprägt und unvermeidbar in freiheitlichen Gesellschaftssystemen), nicht auch mit der möglichst besseren Hälfte ihrer Aufwendungen
auskommen können, um diese Gesellschaft weniger zu belasten. Erstens aber weiß
niemand so genau, welches die bessere Hälfte ist und letztlich möchte niemand
halbzufrieden sitzen gelassen werden: Seit jeher gab und gibt es besondere
Medienauftritte und Erscheinungsformen der Unterhaltung (Circenses, OscarVerleihungen) und anderer kultureller und religiöser Institutionen, die man als Zeichen
des Sittenverfalls werten kann, und der Streit um die Grenzziehung bezüglich ihrer
Sinngebung und ihres Umfanges ist so berechtigt wie schwierig, vor allem, wenn man
die betriebswirtschaftlichen Aspekte weitgehend ausklammert. Das sogenannte
werbliche Überangebot in seiner Mischung aus informativer Kommunikation und
mythenbildender Zusatz-Substanz kann die kritische Aufnahmebereitschaft belasten; die
einseitige (z.T. massive) Kommunikation anderer historischer Systeme (Rom,
christliches Mittelalter, moderne totalitäre Staaten) haben in diesem Zusammenhang
nicht weniger, sondern eher mehr geleistet, wie Walter Benjamin u.a. mit seiner
Analyse der Ästhetisierung von Politik durch den Nationalsozialismus gezeigt hat; und
es gibt unserer Meinung nach kein Interesse der Werbung, der Hochkultur ihren Platz
streitig zu machen, eher besteht in unserem heutigen System die Chance für bessere
Informiertheit sowie Mythen-Identifizierung und -Isolierung des Profanen, z.B. vor
allem im Zusammenhang mit Erscheinungen der Verherrlichung von Gewalt und
Sexualität sowie rassistischer Diskriminierung.
Diesen letzten Gedanken einer Chance zur Mythenidentifizierung unterstreicht auch
die kontroverse Debatte um die eingangs zitierte Benetton-Werbung (Abb.2a+b).
Toscani besetzt das werbliche Marktsegment (den werblichen Schlüsselreiz) für
Pullover-Textilien mit dem Hässlichen, Bedrohlichen und Grausamen: „Benetton dreht
206
die Werbung auf den Kopf, indem uns das redundante Werbe-Echo in umgekehrter
Richtung vor Augen geführt wird“.306 Jetzt wird auf einmal nicht das Harmoniöse, das
Glücklichmachende des Publikumsgeschmacks zur Mythenbildung verwendet, sondern
die bitteren Realitäten von Umweltzerstörung, von gesellschaftlichen und menschlichen
Tragödien aller Art, und nun wendet sich die Werbung selbst (Werberat) dagegen, weil
Würde und gute Sitten verletzt würden. Die mangelnde Korrelation zwischen Produkt
und Schlüsselreiz, d.h. eine Mythenbildung, die doch eigentlich (schlüssig) gar nicht
stattgefunden hat, gibt für Werbekritiker, die Werbung ohnehin grundsätzlich für
zynisch gehalten haben, nunmehr ausreichend Grund, in dieser unglaubwürdigen
Zusammenstellung einen Doppel-Zynismus zu erkennen. In einer solchen Haltung aber
schwingt auch ein unglaubwürdiges Wunschdenken mit; denn, wenn beides in der
Werbung – Harmoniöses und Schönes sowie Hässliches und Bedrohliches – nicht
akzeptabel ist, könnte man ebenso gut die unrealistische, weil dem Menschenlichen
zuwiderlaufende, totale Abschaffung der Werbung im kapitalistischen System fordern
oder ein klares Schrumpfkonzept vorlegen, das unserer Gesellschaft gemäß ist.
Toscani in seiner Zwitterrolle (Künstler und Werber) könnte als Künstler die Werbung als Kommunikationsmittel benutzt haben wollen, um auf eine Spaltung von
Werbeversprechen und sozialen Problemen (Umwelt, Krankheit, Tod, Gewalt) aufmerksam zu machen. Dafür nahm er sich dann das Recht zu Tabuverletzungen heraus, wie es
bei Künstlern durchaus Tradition ist.307 Wie schwer sich allerdings die Öffentlichkeit
mit dieser Zwitterrolle im Rahmen einer offenen, vorurteilsfreien Debatte tut,
dokumentiert in subtiler Form das Frankfurter Museum für Moderne Kunst, das die
Benetton-Plakate zwar ausstellte, aber nicht im Museum selbst, sondern in seinem
Sacco & Vanzetti-Leseraum, sozusagen im Foyer.308
Die Bedeutung einer genauen Betrachtung eines solchen Sachverhaltes ergibt sich
schließlich auch aus einer relativierenden, gestellten Situation, in der statt des Markenlogos United Colors of Benetton auf denselben Plakaten Sponsored by United Colors of
Benetton gestanden hätte. Die Ökonomisierung des Bildes würde in diesem Zusammenhang erträglicher wirken, weil Marke und Abbildung jetzt wieder in anerkannter, den
306
Ammann, Jean-Christophe: Annäherung, Die Notwendigkeit von Kunst, Lindinger + Schmid,
Regensburg 1996, S. 140.
307
Hierauf hat insbesondere Peter Greenaway in ,Zeit-Magazin’ Nr. 66/1993 verwiesen. Zitiert nach:
Ammann, Jean-Christophe: a.a.O., S. 137.
308
Ebd., S. 137. Über die Zulässigkeit dieser Werbung läuft noch immer eine juristische Auseinandersetzung. Mit dem Urteil vom 11.3.2003 hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass die
H.I.V.-Anzeige nicht gegen die Menschenwürde verstößt, sodass nunmehr der Bundesgerichtshof
erneut (zum dritten Mal) sich äußern muss. Vgl. http://www.123recht.net/printarticle.asp?a=5028.
207
heutigen Normen entsprechender Unabhängigkeit zueinander stehen. Die Weiterentwicklung dieser Normen erfordert die Bereitschaft zu neuem Seh- und Interpretationsverhalten, das auch im Kunstkontext ständig aufs Neue herausgefordert wird.
Werbung in ihrer ausgeprägten Form ist Teil des avancierten kapitalistischen,
arbeitsteilig demokratischen Systems. Sie tritt in Aktion, wenn der Hersteller in der
Lage ist, für einen offenkundigen Bedarf ausreichende Stückmengen des gefragten
Produktes zu akzeptablen Preisen zu produzieren; sie wird verändert oder verstummt,
wenn der Bedarf gedeckt ist oder sich als Fehleinschätzung erweist; sie verdummt
ebenso wie sie herausfordert, zum Kauf zwischen Realität und Traum – wie im übrigen
Leben auch. Der von Eco eingesetzte Integrierte wird argumentieren, dass für ihn, den
Bürger, kein grundsätzlicher Unterschied besteht zwischen der von ihm geforderten
Notwendigkeit, Parteien zu wählen, und der Möglichkeit, (manipulativ) beworbene
Markenmythen zu erstehen oder diese zu missachten. Vielleicht hat Werbung in ihrer
Grundgesamtheit dennoch im Verbund mit Unterhaltung und Mode als ,massage’ mehr
Unheil angerichtet als ihr als Einzelprojekt jemals anzurichten möglich war. Aber man
darf der Frage nicht ausweichen, ob es nicht doch noch andere Verursacher oder
Verantwortliche als nur einzelne Produzenten, Werbeleute, Künstler, Käufer, Politiker
gibt – nämlich uns, die wir den funktionierenden ,runden Tisch’ suchen, an dem ,Sein’
mindestens so viel bedeuten sollte wie ,Haben’. Diesen ,runden Tisch’ einzurichten,
versuchen wir schon seit ein paar tausend Jahren.
Eine bittere Erfahrung aus der aktuellen Arbeitslosigkeit ist, dass je mehr und bessere
Computer aufgestellt, desto mehr Arbeitsplätze abgebaut werden, wodurch gesellschaftliche Polarisierung und der allgemeine Druck zum Kaufverzicht bzw. Billigkauf wachsen. Dadurch entstehen zwar andere, neue Handels-Markenmythen, aber die Arbeitslosigkeit bleibt. Wir scheitern nicht an Werbung und Markenmythos an sich, sondern an
der schwierigen Frage, das Fehlen von computergerechter Innovation (mit Wachstumschancen auf dem Arbeitsmarkt) zu kompensieren, um zu einem Ausgleich darüber
zurückzufinden, dass wir in Folge stets wachsender Rationalisierung mehr und mehr
Arbeitsplätze abbauen (und das auch noch belohnen!) und gleichzeitig mehr Arbeit
nötig haben, um die Nicht-Tätigen sozial aufzufangen und den gesellschaftlichen
Frieden zu bewahren. Langfristig unternehmerische Produktentwicklungsstrategien und
(ästhetische) Bildung sind letztlich notwendiger als kurzfristiges Kostenmanagement.
Die Existenz der Werbung dafür verantwortlich machen zu wollen, dass sie als
bestehender Kostenfaktor zu Rationalisierungen etwa im Personalbereich zwinge, heißt
208
i.d.R., das Pferd von hinten aufzuzäumen. Die ihr vom System auferlegte Zielsetzung,
zukünftig anderes und/oder mehr verkaufen zu wollen als heute, darf allerdings nicht
dazu führen, ,Sein’ durch ,Haben’ abzulösen.
Wir sind mitten in Gesellschaftskritik und Politik und kehren zurück zum Mythos.
Letztlich finden wir, dass Werbekritik, wie sie hier nur kurz angesprochen wurde, am
meisten Sinn macht als erneute Aufforderung zu einer Mythenkritik, zu einer Analyse
des Alltagsmythos, dessen Wesen sich zwischen Verwerflichkeit und (Ersatz-)
Göttlichkeit in einer Mythenhierarchie einzuordnen hätte, die einen sinnvollen
Wertespiegel für unser gesellschaftliches Zusammenleben darstellt (Thesen 4 und 5).
b. Entmythologisierung oder Remythologisierung
Wir haben gesehen, dass die Arbeit am und mit dem Mythos ein ständiger Prozess
von Ent- bzw. Remythologisierung ist. An unserem Medusa-Beispiel konnten wir
erfahren, dass bereits in der Antike aus mythisch-kultischer Vergegenwärtigung eine
ornamentale werden konnte; umgekehrt kam der Mythos den hellenistischen Herrschern
gerade recht als Mittel zur Absicherung ihres Machtanspruchs. Dieser Prozess ist eine
Funktion der gesellschaftlichen Entwicklungen oder auch der Bemühungen Einzelner,
z.B. im Widerstand gegen diese Tendenzen, ein Prozess, der seine Aktualität in der
Postmoderne erreicht.
1. Die mythische Postmoderne
Der Begriff Postmoderne macht in der Tat eine Zugänglichkeit nicht leicht. Ähnlich
der Schwierigkeit der Begriffsbestimmung zum Mythos ist das Spektrum der kennzeichnenden Merkmale groß und überlagert je nach Akzentbetonung (SignifikatGewichtung) wie die mythischen Anteile einer Metasprache unsere Kultur und deren
Teilbereiche. Allein schon deswegen können wir von einer mythischen Postmoderne
sprechen.
Es ist vielfach darauf verwiesen worden, dass Verwirrung auch auftritt, wenn man
Postmoderne allein in epochenzeitlicher Abgrenzung zur Moderne verstehen sollte und
dabei die substantiellen Inhalte, die inzwischen mit dem Begriff einhergehen,
vernachlässigt. In der aktuellen philosophisch geführten Diskussion zur Postmoderne
erklärt Jean-François Lyotard (1924 – 1998), dass Metaerzählungen, die der aufgeklärten Moderne Denkweise und Ethik zugeführt haben (Hegel, Marx), ihre vereinheit-
209
lichende Legitimität und Glaubwürdigkeit einbüßten.309 Nach den bitteren Erfahrungen
des letzten Jahrhunderts sind die Zweifel an den ausschließlich positiven Segnungen der
Wissenschaft gewachsen, und die normativ ganzheitlichen Programme werden
,postmodern’ unterlaufen durch Heterogenität, Selbstorientierung, Suche nach dem
Anderen, dem Anti-Elitären oder weiterer bewusster Popularisation von Kunst. Dabei
handelt es sich um Vorgänge, die in der Moderne kein absolutes Novum waren, da diese
„konstitutiv und andauernd mit der Postmoderne schwanger“ ging310. Die Pluralisierung
des Normativen, des Theoretischen und der Lebensformen wird zum Standard und stellt
dabei die Grundidee der Moderne, die auf der Basis von Aufklärung und deren
Fortschrittsdenken nach größerer Freiheit und größerem Wohlstand durch neues Wissen
und neue Technologien sucht, in Frage.311 Für Wolfgang Welsch (geb. 1946), einem der
herausragenden Anhänger der Postmoderne, ist diese Pluralität in ihrer Radikalität das
besondere Kennzeichen des Fortschritts und insofern die konsequente Entwicklung aus
der Moderne; er konstatiert Pluralität nicht nur, er verlangt nach ihr.
Welsch macht gerade an der Kunst diese Pluralität der von ihm erkannten und
sogenannten postmodernen gesellschaftlichen Erscheinung fest. Unabhängig davon, ob
man diese Sozial-Figuration nur konstatiert oder sie einfordert: sie existiert. In unserer
kunst- und werbebezogenen Betrachtung war eines der entscheidenden Kennzeichen der
Moderne und ihrer Entwicklung aus dem 19. Jahrhundert heraus das Spiel um die
Grenze zwischen Kunst- und Gebrauchsobjekt. Gerade in diesem Zusammenhang
keimten – maßgeblich ausgehend von dem, was wir bei Duchamp bereits vor 100
Jahren als dessen Mythenkritik, die in Mythenbildung übergegangen ist, erkannt haben
– die ,Doppelcodierung’ der Postmoderne, ihre ironischen Vieldeutigkeiten und ihre
Provokationen. Der mehrschichtige, herausfordernde und oft arrogant überhöhte
Impetus der Kunstwerke ist durchaus Absicht und verweist vielleicht auf Hilflosigkeit
oder nostalgisches Verlangen nach unerreichbaren Sicherheiten, aber eher noch auf die
Anerkennung einer Realität des Undarstellbaren oder des Unbestimmten, das
mindestens gleichwertig auf mythisches und aufklärerisches Bewusstsein zurückgeht.
Wenn wir die Moderne begreifen als ein Gegenwartsverständnis, das sich über die
Aufklärung gegen das Restaurativ-Traditionelle entwickelt und konstituiert hat, dann
führt der Weg zum postmodernen Denken und Handeln in der Kunst über stilüber309
Vgl. Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen [1979], Einleitung. Hier in: Harrison, Charles;
Wood, Paul (Hg): a.a.O., Bd. II, S. 1232 – 34.
310
Ders.: Die Moderne redigieren. In: Welsch, Wolfgang (Hg): Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte
der Postmoderne-Diskussion, 2. Aufl., Akademie, Berlin 1994, S. 204 – 214, hier: S. 205.
311
Vgl. Liessmann, Konrad, Paul: Philosophie der modernen Kunst, WUV, Wien 1999, S. 176.
210
greifende avantgardistische, zukunftsorientierte Ansätze. Bei der Betrachtung des
Mythos im Kunstkontext haben wir das Hin- und Hergerissensein als kulturphilosophische Elemente zwischen Tradition und deren Verneinung bzw. Relativierung
registriert. Die Avantgarden – als die künstlerischen Spitzen für die Wege aus der
Moderne – haben sich mit ihren Angriffen bzw. Verweigerungsstrategien nicht nur
gegen die vorhandenen Kunstgestalten gewandt, sondern gleichzeitig auch gegen die
künstlerische Autonomie im Sinne ihrer Loslösung von der Lebensführung (s. auch
Anm. 130). Wir haben zahlreiche Formen der Entmythologisierung entdeckt, die sich
vor dem Hintergrund der Sorge der Vereinnahmung der Kunst durch den Mainstream,
vor der Sorge, dass andernfalls Erneuerung und Bewusstmachung nivelliert werden,
entwickelt haben. Insbesondere aufgenommen durch eine neue Spähergruppe
(Neoavantgardisten) der 60er-Jahre markieren Destrukturierungen, Schocks, Provokationen, Trivialisierungen, Eklats und ironische Distanzierungen312 diesen Weg, ohne
dass dauerhafte Konstruktionen sichtbar werden – es sei denn, der Pluralismus an sich.
Andererseits erkannten wir auch Remythologisierungs-Vorgänge als Rückgriff auf
Traditionen, auf Gefestigtes aus der Vergangenheit, und es werden allerorts Mythen
gebildet vor dem Hintergrund des aktuell Normativ-Schwächelnden – Zeitgeist-Mythen,
Künstler-Mythen, Alltags-Mythen.
Es wimmelt nur so von Mythen in der Postmoderne.
Falckenberg verweist darauf, dass es unberechtigt ist, hierin eine diskreditierende
Retro-Bewegung zu sehen, da in diesem Fall übersehen werden würde, dass „die
Postmoderne den Übergang der bildungsorientierten bürgerlichen Gesellschaft auf eine
pluralistische Gesellschaft der Massenkultur reflektiert“.313 Einerseits kann man die
Postmoderne als kritischen Beobachter des Geschehens in der aufgeklärten Moderne
einordnen, zumal ihre Kunstwerke in nie dagewesener Weise gerade das Verhältnis des
Beobachters zur Kunst thematisieren und herausfordern.314 Zum anderen birgt sie
Erneuerungen nicht nur z.B. mit reduzierter Gegenstandslosigkeit, etwa bei Gerhard
Richter (geb. 1932) oder Sigmar Polke (geb. 1942), sondern vor allem auf dem Gebiet
der medialen Tragflächen, wie die heutige Massenkultur sie bereithält.
312
Oehlen, Albert: „Wir lesen morgens die Zeitung und malen mittags. Für das Ergebnis ist der Staat
verantwortlich.“ Zitiert nach Falckenberg, Harald: a.a.O., S. 52. Die Wechselbeziehungen zwischen
Oehlen und der Sprache der Unterhaltungsindustrie in Talk- und anderen Shows ist unverkennbar.
313
Falckenberg, Harald: Tod oder Leutnant. Avantgarde zwischen Heroismus und Realsatire.
Unveröffentlichte Texte 2004, S. 3.
314
Weibel, Peter: Probleme der Moderne – Für eine Zweite Moderne. In: Klotz, Heinrich (Hg): Die Zweite Moderne – eine Diagnose der Kunst der Gegenwart, Beck, München 1996, S. 23 – 41, hier S. 39.
211
Dabei müssen wir erneut unter Berücksichtigung unserer Analysen anmerken, dass
mythen-inspirierte Pluralisierung kein Zeichen eines ausschließlich epocheorientierten
Denkens ist, sondern dass postmodernes Bewusstsein im Sinne neuerlichen Rückgriffs
auf Mythisches auch schon vor Lyotard, also vor 1980 die ganze Phase der modernen
Kunsterfahrung begleitet hat. Ein weitgehend uneingeschränkter Regressus auf Mythenerscheinungen aller Art und deren Emotionsgehalte zum Zwecke beider, der Ent- und
der Remythologisierung, sind allerdings hervorstechende Kennzeichen der postmodernen Heterogenität in der Kultur im Allgemeinen, aber im Besonderen auch in der
Kunst und darüber hinaus in der Werbung. Wir haben gesehen, dass gerade Werbung
auf Mythen bildende Zeichen vertraut, die das pluralistische Wertedurcheinander
benutzen und erweitern (These 3). Hier auf dem Sektor der Werbung und der
Unterhaltung entfaltet sich die affirmative Seite des postmodernen Erscheinungsbildes,
der Massenkultur, der sich Kunst nicht entziehen kann und will. Falckenberg stellt fest,
dass es abwegig wäre, „anvantgardistische Künstler nur als Opfer zu sehen“, da auch sie
über Handeln und Denken zum Gesamtergebnis der Kulturerscheinung inklusive Kitsch
und Dekor aktiv beitragen,315 und es bleibt zum Teil durchaus offen, ob der einzelne
Künstler dem Kunstmarkt für leichte oder für schwere Kost zuarbeitet. Wie bei der
Werbung ist dabei der Zwang zu Innovation nicht gering, sodass Freizügigkeit und
Offenheit des Pluralismus voll in Anspruch genommen werden – trotz oder gerade
wegen zahlreicher misslungener Versuche, eine Zuhörerschaft erreicht zu haben.
Die Massenmedien mit ihrer Vielzahl und Vielfalt an Technik und Frequenz – Werbung und Kunst bedienen sich ihrer gleichermaßen – helfen diese Innovationsprozesse
zu vermengen, sodass künstlerisches Auftreten zwischen Konzept und Chaos, zwischen
Aufklärung und Mythos (Tradition), werblicher Anspruch zwischen Information und
Mythenbildung sich zusätzlich vor der Wahrnehmung des Individuums mengen mit der
Medienebene, die in sich immer unüberchaubarer wird. Schon John Baldessari (geb.
1931) weist mit seinen Blasted Allegories (1978) darauf hin, dass Verwirrung zwischen
Wirklichkeit und fotografischer/filmischer Einflussnahme entsteht und dass dies zur
Anerkennung virtueller Realitäten führt316, und wir vermuten den Zustand, dass dies –
selbst wenn man die zweite konstruierte, mythische Ebene durchschaut – immer noch
mit einem ironischen Lächeln „das kenne ich schon“ hingenommen wird.
Die Entwicklung der Medien hat dazu geführt, dass sich eine virtuelle Welt neben
der praktischen Alltagswelt zu etablieren beginnt. Die Suche nach persönlicher Identität
315
316
Falckenberg, Harald (2004): a.a.O., S. 6.
http://www.geocities.com/Athens/Rhodes/4924/DieAesthetikdesNichtbeweises.htm, S. 3.
212
muss sich durch das entstehende Gewirr von „Anonymen, Heteronymen und
Pseudonymen“ durcharbeiten317. Seit der Entwicklung dieser Virtualität und ihrer
Verbreitung – mit der Gefahr bzw. Chance, als neue Realität erfahren zu werden –
wächst allerdings die Notwendigkeit, das eigene Ich aus einem pluralistischen Umfeld
heraus zu definieren, nicht im Sinne von Beliebigkeit, sondern bewusst in Würdigung
und Anerkennung auch anderer Lebensweisen und Orientierungen.
2. Mythosanalyse und praktische Philosophie
Manche sagen, es sei gut, sich in der Postmoderne einzurichten, nachdem die
Moderne mit ihren aufklärerischen, naturwissenschaftlichen Strömungen zweifelhafte
Erfolge erzielt habe. Wir fügen nach unseren Überlegungen an, dass es dann aber um so
notwendiger ist, ein schärferes Bewusstsein zur Mythenanalyse (These 4) zu
entwickeln, um zu einer Entscheidung für einen geordneten Lebensentwurf zu gelangen,
der für den Einzelnen und letztlich für die Gesellschaft ein notwendiges, strukturiertes,
vorurteilsfreies Nebeneinander verschiedener Normen ermöglicht; denn was der
Moderne mit ihren Avantgarden als Hauptheer gefolgt ist, hat eben auch noch stark den
Charakter von Spähergruppen und Einzelkämpfern. Falls aus wachsender Individualisierung und Selbstverwirklichung, die wir als dominierende Merkmale zeitgenössischer Lebensweise gesichtet haben, Selbstformung oder Selbstbildung werden sollen,
bedarf es des bewussten, einfühlsamen Analysierens dieses für die Postmoderne so
relevanten Mythen-Phänomens, das in einer reflektierten Hierarchie der Werte münden
sollte, einer Hierarchie, die Verantwortung für das gesellschaftlich Gesamte spiegelt
(These 5), damit Freiheit sich nicht selbst beseitigt.
Wenn wir für den Moment Philosophie verstehen als „Einheit von Selbstreflexion
und Kommunikation“318, dann kann eine Hierarchie aufbauende Mythenanalyse in eine
praktische (Mythos-)Philosophie319 münden, die weniger nach historischen Realitäten
forscht, sondern vielmehr als eine Philosophie gesellschaftlichen Handelns die Suche
317
Zweite, Armin: Ich ist etwas Anderes. In: Zweite, Armin (Hg): Ders. S. 27 – 50, hier: S. 48.
Lorenz, Kuno: Warum Philosophie? In: Meyerslexikonredaktion (Hg): Meyer Kleines Lexikon
Philosophie, Meyers Lexikonverlag, Mannheim et al. 1987, S. 476 – 483, hier: S. 482.
319
Wir verwenden hier den auf Aristoteles zurückgehenden Begriff praktischer Philosophie, die sich nicht
primär in den Gegensatz Theorie/Praxis stellt, sondern vor allem die innere vernunftbezogene
Eindeutigkeit für Wahlentscheidungen und deren Orientierung an ,tunlichen’ Normen der
Lebensgestaltung zu eben deren Verbesserung im historischen und sozialen Zusammenhang betont.
Die gesellschaftspolitische Dimension dieser Lehre ist evident: „Da der Mensch ein politisches Wesen
ist, gehörte [bei den Griechen im Dienste der Polis] zur praktischen Philosophie als ihre oberste
[Philosophie] die politische Wissenschaft.“ Vgl. Gadamer, Hans-Georg: Vernunft im Zeitalter der
Wissenschaft, Aufsätze (hier: Hermeneutik als praktische Philosophie) [1976], Suhrkamp,
Frankfurt/M. 1991, S. 79.
318
213
nach lebenspraktischen Strukturen unter Einschluss subjektiver Erfahrungspotenziale
darstellt. Das anerkennende Einblenden mythenanalytischer Ergebnisse in den Prozess
aufklärender Entmythologisierung entspräche durchaus dem Entwicklungsprozess, wie
ihn Cassirer sich vorstellte, ohne einerseits im Mischmasch der Orientierungen zu
versinken und ohne andererseits einer ungewollten rationalen Radikalisierung zu
unterliegen, die für viele uneinsichtig bliebe. Lothar Knatz, der vehement auf Basis
seiner Schelling-Studien eine umfassende philosophische Mythos-Theorie unter
Berücksichtigung individueller innerer Reflexivitäten einfordert, ist sich bewusst, dass
diese „nicht dichotomisch, sondern komplementär zu rationalen wissenschaftlichen
Erkenntnisweisen … durch ein [ergänzendes] Bewusstsein über die Felder des NichtRationalen“ eingebracht werden sollte.320 Danach basiert diese philosophische Suche
auf der Doppelsäule der Erfahrungen, die das Denken ermöglicht, und der
Bewusstseinsform des von uns als reflektiert bezeichneten Mythos, der den
Denkapparat auch noch bemüht hatte. Gerade die Realität des postmodernen
Pluralismus verlangt nach der transparenten Darstellung unterschiedlichster individuell
subjektiver Möglichkeiten der Sinnerfüllung unter Einschluss existentieller Herausforderungen und humaner Erlebnisfelder wie z.B. Liebe, Hass, Tod, Überleben, Freiheit,
Solidarität, Toleranz etc. Und auch die ,Bedeutsamkeiten’ trivialer Vorstellungen, wie
sie sich in den Alltagsmythen spiegeln, fordern eine Zuordnung, wahrscheinlich eben
nicht nach radikaler Ausmerzung (wie sollte das auch gehen?) oder geheuchelter
Verneinung, sondern nach Identifizierung und Einordnung in ein solches System.
Sozusagen per definitionem verabscheut die Werbung i.d.R. Bildung und Darstellung
von Mythen, die jenseits der Grenze des Erfolgversprechens beheimatet sind, Mythen
also, die Zweifel und Verzweiflung beschwören. Aber sie arbeitet an aktuellen Mythen,
die – wenn man sie einmal losgelöst von der Marke betrachtet und damit losgelöst vom
Kernziel der Werbeaussage – einen hohen realen Status im Sinne unserer Lebensbedingungen innehaben (Freiheit, Offenheit, Versorgtsein, Glück); andere derartige
aktuelle Mythen bleiben im Alltag stecken, zeigen einfach Harmonie oder
Erfolgserlebnisse, die zwar als erlebbare Realität nicht von unserer Skala der Werte
verschwinden sollten, die aber einer Relativierung ihres Anspruchs bedürfen. Was ist
gegen einen Mythos des ,Ewig-Jung-Seins’, wie ihn zahlreiche Marken versprechen,
einzuwenden, wenn daraus – als Beispiel für eine Relativierung – nicht abgeleitet
320
Vgl. Knatz, Lothar: a.a.O., S. 12, 39 und S. 44.
214
werden kann, dass das Alter der Aufgabe entbunden ist, sich um andere Formen von
Jugendlichkeit zu bemühen?
Es bleibt natürlich die Frage nach dem Konsens für eine derartige Werteordnung, die
das Mythische am Ende gebührend berücksichtigt – als Null-Normativ oder als deren
positive Teilelemente innerhalb des Systems. In der Tat erscheint ein derartiges System
eine Dauer-Utopie zu sein, die, wenn man sich nicht sofort ergeben oder in
selbstgefälligen Zynismus flüchten will, im Wesentlichen nur über den von Lorenz
angesprochenen Kommunikationspfeiler der Philosophie zu dechiffrieren sein könnte,
d.h. über einen Diskurs der Argumente von Eigenschaften und Folgen von sowohl
Mythen als auch Rationalisierungen.
Was aber kann Kommunikation leisten? Roland Burkart unterscheidet in dieser
Hinsicht drei Grundfunktionen der Kommunikation321: Zunächst geht es dabei in
direkter Hinsicht um die Verständigungsfunktion als allgemeines Ziel kommunikativen
Handelns auf der Basis störungsfreier Übertragung und gegenseitiger Anerkennung der
beteiligten Parteien (Sender und Empfänger) sowie ferner um den Ansatz der Interessenrealisierung als spezielles Kommunikationsziel, z.B. im Sinne von Beeinflussung
mittels überredungsstrategischer Aufbereitung. In mittelbarer Funktion leistet Kommunikation auf dieser Basis darüber hinaus schließlich Beiträge zur ,sozialen Persönlichkeitsgenese’ und zur ,gesellschaftlichen Evolution’ durch entsprechende Ausformungen
der Massenkommunikationsprozesse.
Jürgen Habermas (geb. 1929) ist zurzeit der wohl profilierteste Vertreter einer
Theorie kommunikativen Handelns, der jenen (sprachlich-pragmatisch kommunikativen) Diskurs einfordert, um zu einem Verständigungsprozess zu gelangen, der letztlich
eine tragfähige gesamtheitliche Lebensform weitgehend ohne Sinn- und Freiheitsdefizite ermöglichen soll. Er geht dabei aus – wie z.B. auch Jamme betont – von
Rationalität als dem bisherigen „Höhepunkt menschlicher Entwicklung, der mit der
Moderne möglich geworden sei, und versteht unter Rationalisierung eine entwicklungslogische Ausdifferenzierung der in der Sprache angelegten Vernunft“.322 Dabei werden
als Geltung verschaffende Diskurs-Bedingungen Verständlichkeit, Wahrheit (Vorhandensein realer Inhalte), Wahrhaftigkeit (Absicht wahrhaftiger Selbstdarstellung) und
Richtigkeit (im Einklang normativer Vorbedingungen) eingefordert.323 Gelingt dieser
Prozess, dann erfüllen sich durchaus Burkarts Zielfunktionen der Kommunikation bis
321
Burkart, Roland: a.a.O., S. 528.
Jamme, Christoph (1999): a.a.O., S 245.
323
Habermas, Jürgen: a.a.O., S. 149.
322
215
hin zu einer – hoffentlich positiven – Veränderung der gesamtgesellschaftlichen
Verhältnisse.
Im Lichte unserer Deutungsansätze zum Mythos regt diese Haltung Habermas’ nun
jedoch an, einen kommunikativen Diskurs nicht immer nur ausschließlich von
sprachorientierter Rationalität als Handlungssystem und Ergebnisorientierung bestimmen zu lassen. Seine Haltung steht nach unserer Meinung durchaus auf einem
Fundament handlungs-praktischer Vernunft, die auch – wie oben im Sinne von Knatz
angedeutet – „für eine philosophische Mythos-Theorie verbindliche Geltung hat“, worin
die Rationalität nicht mehr exklusiv den Weltbezug des Subjekts vermittelt, sondern die
Handlungsaspekte praktischer Philosophie Berücksichtigung gefunden haben.324 Neue
(natur-)wissenschaftliche Resultate oder Wahrheiten sollten nicht absolut für sich
stehenbleiben, sondern sich den weitergehenden Fragen bezüglich ihrer Konsequenzen
und des Umgangs mit ihnen stellen (z.B. Nutzung von Atomkernenergie). Ein
voreiliges, nicht-argumentatives Ausblenden von Formen mythologischen Bewusstseins, dessen Durchdringung vor allem durch Cassirer im Sinne seiner ,logischen
Genese’ eingebracht wurde, würde dabei dem Diskurs seinen sinnvollen Evolutionscharakter nehmen. Gerade vor dem Hintergrund der mythischen Besetzung der Postmoderne ist eine positive Auseinandersetzung mit den zahlreichen ,Besatzungstruppen’,
die der Avantgarde gefolgt sind, erforderlich, um nicht Stufen der Entmythologisierung
zu überschlagen, ein Vorgang, der – wie die Geschichte mehrfach gezeigt hat – zu
verheerenden ideologischen Remythologisierungsprozessen führen kann. Dabei haben
die oft als albern abgetanen Alltags- und Zeitgeistmythen mit ihrem kurzfristig
emotional-kommunikativen Charakter ebenso eine Berechtigung, analysiert und
zugeordnet zu werden, wie ein reflektierter Mythos oder streng rationale Äußerungen zu
unseren Lebensbedingungen. Da diese Zuordnung aber wohl immer schwierig bleiben
wird, möchten wir im Sinne unserer 6. und letzten These abschließend nochmals für den
Habermasschen Diskurs die Notwendigkeit einer der Diskurs-Voraussetzungen
herausstreichen: Die Richtigkeit kommunikativen Handelns im Einklang normativer
Vorbedingungen – allerdings unter Einbezug von aktiver Toleranz, d.h. einer
Bereitschaft, die über Demut hinaus gewaltfrei für Problemlösungen eintritt und deren
Zielhorizonte tatkräftig einfordert.
324
Knatz, Lothar: a.a.O., S. 71 und 77.
216
VI. Schlussbemerkungen
Mit Hilfe von einigen definitorischen Abgrenzungen haben wir dieser Arbeit einen
erweiterten Mythosbegriff zugrundegelegt, zumal disziplinübergreifend vom Journalisten bis zum Philosophen, vom Soziologen bis zum Politiker, vom Werber bis zum
Künstler dessen Verwendung bzw. Bezugnahme weit verbreitet ist und dabei oft in der
Art einer gezielten Beweisführung eingesetzt wird. Allerdings haben wir diese Erweiterung des Begriffs (These 1, 2 und 3) durch die Forderung nach einer Mythenhierarchie
(These 5) relativiert, gestützt auf Verstehen und Analysieren (Thesen 4 und 6). Selbst
wenn man diese Begriffserweiterung ablehnt, darf man nicht die hier als mythisch
beschriebene Mehrschichtigkeit der Mitteilungsformen ignorieren, falls man das aktuelle Kommunikationsgeflecht entwirren möchte. In der (sprachlichen) Lebenswelt von
heute finden wir diesen Mythos-Begriff über das streng kunstgeschichtliche Verständnis
hinaus in Zusammenhang mit besonderer, individuell und vor allem im Kollektiv
erfahrbarer ,Bedeutsamkeit’ (Magritte: „Erschütternde Bedeutung“; Danto: „Draufgängerische Metapher“) überall in kommunikativem Einsatz. In diesem Sinne stellt er
ein Grundmuster zur (bildhaften) Übermittlung von entsprechenden Informationen,
Gedanken, Konzepten und Ideologien dar, sodass eine Auseinandersetzung in einer
zusammenführenden Form durch all dies Mythische hindurch der Richtungsfindung im
Leben dienen kann: Die umfassende Gegenwärtigkeit des Mythisch-Kommunikativen
erfordert – vor allem im Gegenlicht der Aufklärung (s. Tabl.2) – eine durchleuchtende
Bestimmung und Zuordnung aller Mythen-Phänomene im Sinne von ,schwerer oder
leichter Kost’ in unserem Lebensprozess, zumal diese Kost ja auch noch dem
zeitgeschichtlichen Wandel unterliegt (s. Transformationsprozesse).
Wie durch unsere Darstellung an Hand der Thesen nachvollzogen, können wir also
feststellen, dass man gerade in Zusammenhang mit Kunst und Werbung an dieser
breiten Mythenbetrachtung nicht vorbeikommt. Zwar sprach Max Weber (1864 – 1920)
bereits 1919 von einer Art Mythen-Entleerung, der ,Entzauberung’ der westlichen Welt
aufgrund von Rationalisierungsprozessen und Verwissenschaftlichung (Zweckrationalität verdrängt Vernunft), die transzendente Erkenntniswege verbaut.325 Dass
Mythische aber überlebte und ,wucherte’ in neuer Form: In den letzten Jahrzehnten
bemühte sich die Kunst, dieses Sinnproblem durch den Rahmen des pluralen
Deutungsansatzes zum Weltgeschehen aufzuarbeiten und zu erklären. Die Werbung
325
Max Weber geht selbst weiter und stellt fest, dass sogar im religiösen Bereich die „gänzliche
Entzauberung“ konsequent durchgeführt wird (asketischer Protestantismus). Vgl. Sukale, Michael
(Hg): Max Weber, Schriften zur Soziologie, Reclam, Stuttgart 1995, S. 357.
217
sprang ihrerseits in die entzauberte Lücke im Sinne von Wiederverzauberung und
bildete Ersatzgötter in Form ihrer Mythen.
In diesem Zusammenhang hat die ökonomische Kontrolle unserer gesellschaftlichen
Prozesse (Beispiel: Kunstbetrieb) zu einer Verschiebung der inhaltlichen Substanz des
Mythenpakets zulasten des historischen Mythos und dessen bildungsrelevanten Aufriss
und damit gleichzeitig zugunsten von Alltags- und Zeitgeistmythen (Markenmythen,
Künstlermythen) und deren vielfältigen, zum Teil strittigen und beklemmenden
Verweisen beigetragen. Die Ökonomisierung mit ihren sogenannten Rationalitäten ist
dabei kein Vertilger, sondern ein Förderer von Mythenprozessen und der folgerichtigen
Auseinandersetzung mit ihnen. Der Unternehmer zum Beispiel, der zweckbestimmt
rationalisierend produziert, dreht sich nach getaner Arbeit um und bildet den
Markenmythos, um seine Produkte optimal zu vermarkten. Augenscheinlich mehr zur
Erhöhung als zur Verschiebung des gesellschaftlichen Mythenpotenzials hat darüber
hinaus die Medienentwicklung unserer Informationsgesellschaft beigetragen, deren
massenhafte Vervielfältigungsprozesse bei gleichzeitigem Aufbau virtueller Welten den
Rezipienten vor neue Herausforderungen – nennen wir diese in unserem Zusammenhang Mythenanalysen – stellt.
Es sind gerade auch immer wieder Künstler, die sich der Einseitigkeit sowohl des
Mythischen als auch des Aufklärerischen entziehen wollen und dabei gleichzeitig einen
– oftmals auch schillernden – Diskursbeitrag zu den ökonomisierenden Vereinnahmungstendenzen liefern. Hier zeigt sich die Stärke der Kunst als Autorität für vielfältige
Transformationen und kreative Produktionen mythischer Substanz.
Daniel Spoerri (geb. 1930) steckt eine offene Schere in die Augen der Totenmaske
Voltaires (Abb.136) und beschwört in seiner streitbaren, aggressiv-brutalen Weise die
Position, dass Aufklärung ihre Grenzen hat, dass der Blinde mehr sehen kann, als der
Seher Voltaire – wie schon der blinde Tiresias aus Theben. Dabei ist es in diesem Zusammenhang gleichgültig – um Danto und seinem Interpretations-Konzept zu folgen –,
ob Spoerri an anderer Stelle in seinen Readymades zu wenig über etwas spricht, weil
Duchamp ihm schon voraus war. An dieser Stelle jedenfalls werden die Aufklärung und
ihre stringente Ordnung ausdrucksstark künstlerisch von ihrem Podest geholt –
entmythologisiert. – Rirkrit Tiravanija aus Argentinien ist etwas vorsichtiger in seiner
Art des ,Schauens’ und meint versöhnlicher mit der durch die Gravuren irritierenden
Metallbrille (Abb.137), dass wir nicht erst alle erblinden müssen, um das
Durcheinander, das sich in unserem Blickfeld auftut, zu durchschauen, wenn wir nur die
218
ständige Herausforderung zur Entmythologisierung der mythischen Szene annehmen,
ohne dabei zu vergessen, dass der Mythos noch lange ein fester Bestandteil
menschlichen Bewusstseins bleiben wird.
Abb.136: Daniel Spoerri, Ça crève les
yeux que c’est Rrose Sèlavy,
Mixed Media unter Glas, 1965
Abb.137: Rirkrit Tiravanija, Ohne Titel, Metallbrille,
1995
Wir blicken auf ein Jahrhundert zurück, das uns in unserem Projektzusammenhang
abschließend noch zwei Stichworte liefert: Es ist das Jahrhundert der Verklärung des
Gewöhnlichen, und es ist die Periode der massiven Rückkopplungen zwischen
Profanem und Sublimem. Beide Aspekte haben mit dem Mythos zu tun.
Muriel Spark verschafft Arthur C. Danto mit The Transfiguration of the
Commonplace den Titel für sein Buch Die Verklärung des Gewöhnlichen zu einem
Zeitpunkt, als dieser sich mit der Frage auseinandersetzte, ob und wie Banalitäten sich
in Kunst verwandeln können. Er legt in seinem Text als Bedingung für die Verehrung
eines Trivialgegenstandes als Kunstobjekt fest, dass dieser Gegenstand eine Aboutness
spiegeln müsse, eine Bedeutung, die in der Regel auch ein bestimmtes Wissen
voraussetzt. Er erhält dadurch eine weit gefasste Kunstdefinition, deren Erfüllung
allerdings davon abhängt, dass die Symbolik des Kunstwerks mittels eines
funktionierenden Kommunikationssystems und eines aktiv darin involvierten Publikums
erfahrbar wird. Andy Warhol hat ihm dabei den Weg gewiesen durch seine Geste der
Mythenbildung bzw. Verklärung, die letztlich am verlängerten Arm Duchamps erfolgte.
Was Duchamp mehr als 50 Jahre vorher mit Flaschenständer und Urinal vollzog, feierte
219
mit Warhols Zeitgeistmythen auf dem Nährboden der Konsumgesellschaften eine
Renaissance, die dank der entwickelten Medienkultur und ihrer vereinnahmenden und
populären Sogwirkungen erst so richtig große Erfolge erzielte. – Bedeutende
Bestandteile unserer Kultur sind natürlich auch Unterhaltung, Mode, Design und
Werbung mit ihren Mythenbildungen, die ebenfalls als Verklärung eines Gewöhnlichen
treffend beschrieben werden können. Auch hier findet unter den kommunikativen
Bedingungen eine Heraushebung von Objekten statt, die sich für bestimmte
Publikumsgruppen ,bedeutsam’ zur Idolatrie entwickelt.
Die Grenzziehung zwischen Kunst und Werbung bzw. Nicht-Kunst im Allgemeinen
wird zwar durch diese Prozesse erschwert, aber die Grenze als solche wirkungsvoll
bestätigt, wenn auch unter einem erweiterten Kunstbegriff, den Robert Gernhardt (geb.
1937) mit einem Sprung vom „Rijksmuseum ins Reizmuseum“ beschrieben hat326.
Damit ist ein hervorstechendes Charakteristikum der künstlerischen Moderne benannt:
Das provozierende, Widerspruch leistende und irritierende Pendeln um die Grenze
zwischen dem trivialen Gegenstand und seinem Ausdruck als Kunstobjekt unter den
Prinzipien der Mythenbildung und -destruktion. Die oben erwähnte Erweiterung des
Mythenbegriffs geht dabei Hand in Hand mit dieser Erweiterung des Kunstbegriffs.
Der zweite Gesichtspunkt, den unsere Untersuchung erneut nach vorne gerückt hat,
ist der Rückkopplungseffekt zwischen einerseits künstlerischen und andererseits
werblich vorgeprägten Produkten, d.h. die Benennung der wechselseitigen Beeinflussung der Kulturphänomene über die Verklärung des Gewöhnlichen als einer Entwicklungsrichtung hinaus. Werbung und Unterhaltung bemächtigen sich künstlerischen
Terrains, indem sie künstlerische Elemente für ihre Ausdrucksformen benutzen oder
sich anbieten, den Künstler zu ,vermarkten’. Der Rückkopplungseffekt verstärkt die
Frage für die Künstler, wie man sich ungewünschten Vereinnahmungen entziehen kann,
da selbst provokanteste Projekte in kürzester Zeit ,beschlagnahmt’ werden und im
Museum in die Reihe traditioneller Kunst systemgerecht eingeordnet bzw. auf dem
Markt als Ware gehandelt werden (sicher nicht immer zum Nachteil des Künstlers). Der
Grenzverkehr ohne Mauer ist beträchtlich und verlangt vom Publikum volle
Aufmerksamkeit. Schließlich ist auch noch die Medienvielfalt und deren Inszenierungspotenzial zu beachten, derer sich Kunst und Werbung gleichermaßen bedienen und
dadurch die entsprechenden cross-over-Effekte noch forcieren. Wir erinnern hier nur an
die virtuellen Bilder, die mit ihrer besonderen Gegenstandslosigkeit an die
326
Gernhardt, Robert, zitiert nach: Reißer, Ulrich; Wolf, Norbert: Kunstepochen, Bd. 12, 20. Jahrhundert,
Reclam, Stuttgart 2003, S. 28. Gernhardt muss wohl an die Jungen Wilden gedacht haben!
220
Unbestimmtheiten des Suprematismus anzuknüpfen scheinen und die Irritationen des
postmodernen Pluralismus verstärken.
Gefördert durch diese Entwicklung der Medien entsteht eine plurale Bildoberflächenlandschaft von Codierungen und Farbzeichen aller Schattierungen, die potenziell
zum beliebigen Zugriff auf jedes dieser Zeichen und dem hinter ihnen liegenden
Mythenangebot einlädt: die Uniformität und Ubiquität von ästhetischer Faszination
nach Jean Baudrillard! Der Sinnsucher hat die Wahl aus dem umfassenden MythenGeflecht der Postmoderne, deren Medienstruktur dafür sorgt, dass diese Mythen wie die
anderen die Lebensform bestimmenden Areale wie Rationalität oder Naturwissenschaft
ständigen „reflexiven Kommunikationsprozessen ausgesetzt“ sind und daher die
Postmoderne „als progressiven Kontingenzierungsprozess“ definieren327. Das Bewusstwerden um diesen Prozess und seine Möglichkeiten für sinngebende Entscheidungen
sind maßgebliche Voraussetzungen zur Bewältigung der Vereinnahmungsdynamik der
Massenkultur. Es bleibt abzuwarten, ob aus diesem pluralistischen Angebot – manche
sagen Angebot der Beliebigkeit – eine wirkliche Befreiung oder eine neue Bedrängnis
erwächst.
Marion Gräfin von Dönhoff befürchtet eher eine Bedrängnis der Individuen und
bemerkt, dass für unsere Gesellschaft ein Freiheitsbegriff typisch ist, der keine Grenzen
in seinem Fortschrittsstreben kennt328, und verlangt daher nach verantwortungsbewussten Grenzziehungen im Gelände des Kapitalismus. Sie prangert die „ausschließliche Diesseitigkeit“ der Menschen in einem derartigen – ungesteuerten – System an,
die den Einzelnen „von seinen metaphysischen Quellen abschneidet“.329 Die von uns
immer wieder eingeforderte Mythos-Analyse und die daraus abzuleitenden hierarchischen, stets neu zu bedenkenden (Werte-)Zielstrukturen können im Sinne eines
Beitrages zu einer praktischen Philosophie für derartige erfolgreiche Grenzlegungen
hilfreich sein und sich dabei dem ungezügelten Aufklärerischen bzw. dessen Rückfall in
die Tiefen des Mythischen entgegenstellen. Im Übrigen kommen wir an einem solchen
Mythen-Verständnis angesichts des uns umgebenden Mythen-Nebels gar nicht vorbei,
zumal unser Streben nach Besser- oder mindestens Anders-Sein-Wollen für einen
Großteil der Mythenbildung in Kunst und Werbung verantwortlich ist, ein Streben, das
327
Schmidt, Siegfried J.: Ko-Evolution von Moderne und Medientechniken. Postmoderne. In: Helmes,
Günter; Köster, Werner (Hg): Texte zur Medientheorie, Reclam, Stuttgart 2002, S. 320 – 326, hier:
S. 325/6.
328
Dönhoff, Marion Gräfin von: Zivilisiert den Kapitalismus, Grenzen der Freiheit, Knaur, München
1999, S. 14.
329
Ebd., S. 220.
221
paradoxerweise auf eine Fortschrittsgläubigkeit zurückgeht, die die Aufklärung erst
inthronisiert hat. Sollten allerdings die Verunsicherungen zum Weltgeschehen allzu
bedrückend werden und sollte das Thema Entmythologisierung bei der Mythenanalyse
verloren gehen, könnte immer noch der Götterrat befragt werden, den Peter Paul
Rubens schon 1602 zusammengerufen hat (Abb.138), auch wenn dessen Protagonisten
inzwischen möglicherweise nicht mehr so leicht zur Toleranz aufgerufen werden
können, wie es auf dem Rubens-Bild den optimistischen Anschein hat:
Abb.138: Peter-Paul Rubens, Götterrat, Öl auf Leinwand, 1602
222
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1a:
Richard Prince: Boat, full yard, next to GNH Lumber Yard in Norton Hill, Fotografie,
1996/99.
In: Noever, Peter; MAK Wien: a.a.O., S. 54.
Abb. 1b: Richard Prince: Untitled (Party), Fotografie, 1996/99.
In: Noever, Peter; MAK Wien: a.a.O., S. 18.
Abb. 2a:
Oliviero Toscani: Benetton-Werbung Ente, 1992/93.
In: Dia-Leihgabe, Museum für Moderne Kunst, Frankfurt/M.
Abb. 2b: Oliviero Toscani: Benetton-Werbung HIV, 1992/93.
In: Dia-Leihgabe, Museum für Moderne Kunst, Frankfurt/M.
Abb. 3:
Mythos-Spiegel, eigene Collage.
Abb. 4:
Marshall McLuhan; Quentin Fiore: The Medium is the Massage, Titelseite Penguin
Book, 1967.
Abb. 5:
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: Anzeige, Aids-Aufklärung, Bonn, 1990.
In: VDZ, Verband Deutscher Zeitschriftenverleger e.V. (Hg): a.a.O., S. 219.
Abb. 6:
Deutsche Telekom Mobilfunk, Anzeige, D1, Bonn, 1995.
In: VDZ, Verband Deutscher Zeitschriftenverleger e.V. (Hg): a.a.O., S. 325.
Abb. 7:
ESSO, Tankstelle in Bremen, Eigenfoto, 2003.
Abb. 8:
Langnese-Iglo, Anzeige, Ich und mein Magnum, 2000.
In: Markenartikel Nr. 2/2000.
Abb. 9:
Cartier, Anzeige (Rückseite), Le Baiser du Dragon, 2004.
In: art Das Kunstmagazin Nr. 1/2004.
Abb. 10:
elena miro, Anzeige (Rückseite), Forever beautiful, 2004.
In: Brigitte woman: a.a.O.
Abb. 11:
Langnese, Markenzeichen, 2004.
In: Internet, Homepage www.langnese.de.
Abb. 12:
Wiedererstelltes Kreuz der Frauenkirche, Dresden, 2004.
In: Internet, www.glaubeaktuell.net.
Abb. 13:
Deutsche Bank, Firmenlogo (aus Anzeige), 2004.
In: Focus Nr. 30/2004.
Abb. 14:
e-on, Ruhrgas, Anzeige, Partner des Museum Folkwang Essen, 2004/05.
In: Focus Nr. 30/2004.
Abb. 15:
L’Horloge Champs Elysée, Les Girard, Lithografie von Jules Chéret, 57, 4 x 43,1 cm, 1879.
In: Varnedoe, Kirk; Gopnik, Adam: a.a.O., S. 174.
Abb. 16:
Nivea, Anzeige, Ein Gefühl wie ein sanfter Sommerregen, 2003.
In: Maxi, September 2003, S. 82.
Abb. 17:
ALDI, Tageszeitungs-Anzeige, Qualität ganz oben – Preis ganz unten, 2004.
In: Weser-Kurier, 21. Juli 2004.
Abb. 18:
Quelle, Katalog, Herbst/Winter 2003, Titelseite.
223
Abb. 19:
Vodafone, Anzeige, Ich achte immer auf mein Äußeres. Man weiß ja nie, wer anruft, 2004.
In: Focus Nr. 30/2004.
Abb. 20:
Apothekenumschau, Titelseite, 15. Juli 2004.
Abb. 21:
West, Anzeige, Test the West!, 1989.
In: VDZ Verband Deutscher Zeitschriftenverleger e.V. (Hg): a.a.O., S. 189.
Abb. 22:
Sparkassen, Anzeige, Wenn Sie Karriere machen, sollte es auch Ihr Geld tun, 2004.
In: Stern Nr. 27/2004, S. 131.
Abb. 23:
HypoVereinsbank, doppelseitige Anzeige, Mit uns laut nachdenken, 2003.
In: Max Nr. 4/2003, S. 20/21.
Abb. 24:
Sunlicht Seife, Anzeige, Es gibt wieder Sunlicht-Seife, 1949 (Constanze Nr. 10).
In: Kriegeskorte, Michael: a.a.O., S. 15.
Abb. 25:
Kaufhof Köln, Anzeige, 1949 (Stadt Köln, Hg: 1900 Jahre Köln).
In: Kriegeskorte, Michael: a.a.O., S. 11.
Abb. 26:
Coca Cola, Anzeige, Mach mal Pause, ca. 1955.
In: W & V Extra: a.a.O., S. 116.
Abb. 27:
Loewe Opta, Anzeige, Unser Loewe Opta, ca. 1955.
In: W & V Extra: a.a.O., S. 117.
Abb. 28:
Stuyvesant, Anzeige, Der Duft der großen, weiten Welt, ca. 1965.
In: W & V Extra: a.a.O., S. 119.
Abb. 29:
VW-Käfer, Anzeige, Es gibt Formen, die man nicht verbessern kann. 1962.
In: Der Spiegel, Sonderausgabe 1947 - 1997, S. 229.
Abb. 30:
Marlboro, Anzeige, Der Geschmack von Freiheit und Abenteuer, ca. 1975.
In: W & V Extra: a.a.O., S. 68.
Abb. 31:
Pfanni, Plakat, Das jüngste Gericht, 1975.
In: Schirner, Michael: a.a.O., S. 28/9.
Abb. 32:
Kupferberg Gold, Anzeige, Eine der schönsten Launen der Welt, 1981.
In: VDZ Verband Deutscher Zeitschriftenverleger e.V. (Hg): a.a.O., S. 17.
Abb. 33:
Du darfst, Anzeige, Ich will so bleiben wie ich bin, 1984.
In: VDZ Verband Deutscher Zeitschriftenverleger e.V. (Hg): a.a.O., S. 97.
Abb. 34:
Porsche, Anzeige, Kein Dach über dem Kopf, aber Porsche fahren, ca. 1995.
In: W & V Extra: a.a.O., S. 124.
Abb. 35:
TUI, Anzeige, Die TUI fliegt selbst das Paradies direkt an, 1993.
In: VDZ Verband Deutscher Zeitschriftenverleger e.V. (Hg): a.a.O., S. 285.
Abb. 36: Piero Manzoni: Merde d’Artiste, 1961, Konservendose, Künstlerexkremente (eigentlich
braune Olivenpaste).
In: Künstler, Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst: a.a.O., S. 13.
Abb. 37: Maurizio Cattelan: Trommelwirbel, 2003, Wachs-Installation, 150 cm, auf dem Dach des
Museums Ludwig Köln, gibt Computer gesteuert lautstarke Töne von sich.
In: Focus Nr. 21/2003, S. 70.
Abb. 38:
Werner Büttner: O.T. (Grübeln ist das Geilste), 2000, C-Print, 138 x 110 cm.
In: Grosenick, Uta (ED.): a.a.O., S. 20.
224
Abb. 39: Domenico Ghirlandaio: Geburt Johannes des Täufers, 1486, Fresko, S. Maria Novella,
Cappella Tournabuoni, Florenz.
In: Micheletti, Emma: a.a.O., S. 55.
Abb. 40: Brygos-Maler: Schale 2645, Innenbild, Tanzende Mänade, Durchmesser der Schale 28,5 cm,
um 490 v.Chr., München, Staatliche Antikensammlungen.
In: Boardman, John; Dörig, José; Fuchs, Werner; Hirmer, Max: a.a.O., Abb. XXV.
Abb. 41: Apulischer Kelchkrater 2241, Mänaden und Satyr, Höhe 53,0 cm, Mitte 4. Jahrhundert v.Chr.,
Lipari, Museo Eoliano.
In: Boardman, John; Dörig, José; Fuchs, Werner; Hirmer, Max: a.a.O., Abb. XLII.
Abb. 42: Pergamon-Altar: Aus dem Nordteil des Großen Frieses, Nyx, um 180/160 v.Chr.
In: Boardman, John; Dörig, José; Fuchs, Werner; Hirmer, Max: a.a.O., Abb. 279.
Abb. 43: Sandro Botticelli: Geburt der Venus, um 1485, 175 x 279 cm, Tempera auf Leinwand,
Uffizien, Florenz.
In: Thiébaut, Dominique: Botticelli, a.a.O., S. 97.
Abb. 44: Sandro Botticelli: Minerva und Zentaur, um 1482, Uffizien, Florenz.
In: Thiébaut, Dominique: Botticelli, a.a.O., S. 93.
Abb. 45: Tizian: Die Hl. Magdalena, um 1530 – 1535, Öl auf Holz, 84 x 69 cm, Galeria Palatina,
Palazzo Pitti, Florenz.
In: Kaminski, Marion: a.a.O., S. 65.
Abb. 46: Tizian: Pietà, 1576, erst später vollendet durch Palma Giovane, Öl auf Leinwand,
378 x 347 cm, Gallerie dell’Accademia, Venedig.
In: Kaminski, Marion: a.a.O., S. 135.
Abb. 47: Albrecht Dürer: Venus und Amor als Honigdieb, 1514, Aquarell, Kunsthistorisches Museum,
Wien.
In: Schade, Werner: a.a.O, S. 122.
Abb. 48: Nicolas Poussin: Sakrament der Letzten Ölung, 1638 – 40 (?), Öl auf Leinwand, 96 x 122,
Belvoir Castle (UK), Sammlung des Earl of Rutland, [47a: Totale, 47b: Detail].
In: Châtelet, Albert; Thuillier, Jacques: Französische Malerei von Fouquet bis Poussin, Skira,
Genève 1963, S. 216.
Abb. 49: Jan Boekhorst: Merkur erblickt Herse, um 1650, Öl auf Leinwand 118 x 178,5 cm,
Kunsthistorisches Museum Wien.
In : Walther, Angelo: a.a.O., S. 142.
Abb. 50: Jan Brueghel d. Ä., Hendrik van Balen: Allegorie des Herbstes, 1616, Holz, Bayreuth, Neues
Schloss.
In: Ertz, Klaus: a.a.O., S. 386.
Abb. 51: Arnold Böcklin: Odysseus und Kalypso, 1882, Tempera auf Holz, 104 x 150, Öffentliche
Kunstsammlung Basel.
In: Öffentliche Kunstsammlung Basel / Kunstmuseum: a.a.O., Abb. 67.
Abb. 52: Honoré Daumier: Äneas und Dido, 1842, Lithografie.
In: Cabanne, Pierre: a.a.O., S. 46.
Abb. 53:
Gustav Klimt: Judith II, 1909, Öl auf Leinwand, 178 x 46 cm, Venedig, Galeria Internazionale
d’Arte Moderna – Ca’Pesaro.
In: Natter, Tobias G.; Frodl, Gerbert (Hg): a.a.O., S. 225.
Abb. 54: Johann Schult: Im Lebensfrühling, 1942 oder früher. Besitz der Bundesrepublik Deutschland.
In: Poley, Stefanie (Hg): a.a.O., S. 402.
225
Abb. 55: Francis Picabia: Les baigneuses/Die Badenden, ca. 1942, Öl auf Karton, 105 x 76 cm,
Privatsammlung.
In: Felix, Zdenek (Hg): a.a.O., S. 93.
Abb. 56: Oscar Dominguez: Mannequin, 1938, Schwarzweiß-Fotografie von Denise Bellon, Modern
Print, 30 x 24 cm, Fonds photographique Denise Bellon.
In: Grunenberg, Christoph; Hollein, Max (Hg): a.a.O., S. 137.
Abb. 57:
Marcel Duchamp: Schaufenster-Installation für Bretons Arcane 17, Detail, New York 1946,
Fotografie von Maya Deren (?), 23,9 x 17,8 cm, Philadelphia Museum of Arts.
In: Grunenberg, Christoph; Hollein, Max (Hg): a.a.O., S. 146.
Abb. 58: Max Ernst: Marlene (Frau und Kind), 1940/1, Öl auf Leinwand, 23,8 x 19,5 cm,
Houston, Menil Foundation Inc.
In: Bischoff, Ulrich: a.a.O., S. 67.
Abb. 59: Joseph Beuys: Aktrice, 1961, Öl auf Papier, [Braunkreuz = spezielles Braun, das B. auch zur
Darstellung seines Kreuzzeichens benutzte], 61,1 x 43 cm, Sammlung Heiner und Céline
Bastian, Berlin.
In: Glyptothek München: a.a.O., S. 28.
Abb. 60: Pipilotti Rist: Ever is Over All, 1997, Videostill, Biennale, Venedig.
In: Kunsthalle Zürich (Hg): o. S.
Abb. 61: Witaly Komar & Aleksandr Melamid: Der Ursprung des Sozialistischen Realismus, 1982/83,
Öl auf Leinwand, 183 x 122 cm.
In: Lucie-Smith, Edward: a.a.O., S. 392.
Abb. 62: Alberto Abate: Salomé (Verso), 1992, Öl auf Leinwand, 180 x 100 cm.
In: Lucie-Smith, Edward: a.a.O., S. 242.
Abb. 63: Friedrich Drake: Siegesssäule, Berlin, 1873.
In: Internet, www.deutsche-heimat.com/berlin/sieges.html.
Abb. 64: Charles Sykes: Flying Lady (Emily), erstmals für den Rolls Royce des Lord John Montagues
of Beaulieu, Material Gold, Bronze, 1911.
In: Internet, www.ebay.de.
Abb. 65: Underberg, Anzeige, Wirkt nach jedem Essen, 2002.
In: Der Markenartikel, Nr. 3/2000.
Abb. 66: Chanel, Anzeige, Take it!, 2004.
In: Cosmopolitan, Nr. 3, 2004.
Abb. 67: Perseus köpft die Medusa, Selinunter Metope, Tempel C, Palermo, Archäologisches Museum,
Mitte 6. Jahrhundert v.Chr.
In: Schlesier, Renate: a.a.O., S. 376.
Abb. 68: Gorgoneion, Antefix des Tempels von Portonaccio, Veji (87 x 48 cm),
Mitte 6. Jahrhundert v.Chr., Rom, Villa Giulia.
In: Schlesier, Renate: a.a.O., S. 374.
Abb. 69: Dinos E 874, Gorgonenmaler, H. 93 cm, 1. Jahrzehnt 6. Jahrhundert v.Chr., Paris, Louvre.
In: Boardman, John; Dörig, José; Fuchs, Werner; Hirmer, Max: a.a.O., Abb. 90.
Abb. 70: Medusa Rondanini, H. 78 cm, römische Kopie des Medusenhauptes auf dem Schild der
Athena Parthenos des Phidias, ca. 440 v.Chr., München, Glyptothek.
In: Schlesier, Renate: a.a.O., S. 381.
Abb. 71: Duris (Schalenmaler), Schale, Innenbild, Athena, Jason und der Drache, Schalendurchmesser
30 cm, um 480/470 v.Chr., Vatikan.
In: Boardman, John; Dörig, José; Fuchs, Werner; Hirmer, Max: a.a.O., Abb. 134.
226
Abb. 72: Pheidias, Athena Lemnia, Marmorreplik einer Bronzestatue, vor 450 v.Chr., H. 2 m, Staatliche
Kunstsammlungen, Dresden.
In: Boardman, John; Dörig, José; Fuchs, Werner; Hirmer, Max: a.a.O., Abb. 184.
Abb. 73: Benvenuto Cellini: Perseus mit Marmorsockel, 1545 – 1554, H. der Bronzegruppe 320 cm,
Loggia dei Lanzi, Florenz.
In: Dommermuth-Gudrich, Gerold: a.a.O., S. 174.
Abb. 74: Peter Paul Rubens: Haupt der Medusa, um 1617 - 18, Öl auf Leinwand, 68,5 x 118 cm,
Kunsthistorisches Museum, Wien, Gemäldegalerie, Inv.-Nr. 3834.
In: Herzog Anton Ulrich-Museum Braunschweig (Hg): a.a.O., S. 223.
Abb. 75: Caravaggio, Medusenhaupt, 1595 – 1600, Öl auf einem eigens dafür gefertigten mit Leder
überzogenem (Parade-)Schild, 60 x 55 cm, Galleria Degli Uffizi, Florenz.
In: König, Eberhard: a.a.O., S. 11.
Abb. 76: Filippo und Francesco Negroli, Paradeschild Karls V., Mailand 1541, Stahl, Gold und Silber,
Durchmesser 59,2 cm, Madrid, Real Armería, Inv.Nr. D 64.
In: Herzog Anton Ulrich-Museum, Braunschweig (Hg), a.a.O., S. 70.
Abb. 77: François Girardon: Ludwig XIV. zu Pferde, um 1690, Bronze (Seitenansicht), H 108 cm.
In: Kunsthalle Bremen: Inv.-Nr. 444-68/4. Fotografie: Studio für Fotografie, Lars Lorisch,
Bremen.
Abb. 78: Théodore Géricault: Floß der Medusa, 1819, 491 x 716 cm, Paris, Louvre, Inv. 4884.
In: Bazin, Germain: a.a.O., S. 250-1.
Abb. 79: Michelangelo: Das Jüngste Gericht, ein Verdammter, 1536 – 41, Fresko, Detail, Sixtinische
Kapelle, Vatikan.
In: Néret, Gilles: a.a.O., S. 77.
Abb. 80: Edward Burne-Jones: Perseus von den Gorgonen verfolgt, aus Zyklus von Entwürfen zur
Perseus-Geschichte, 1875/6, ca. 29 x 39 cm (Gesamtdesignblatt 36,8 x 128,4 cm), Tate
Gallery London, Nr. 3457 (Geschenk des Trustees of the Chantrey Bequest).
In: Wilton, Andrew; Upstown, Robert: a.a.O., S. 227.
Abb. 81: Max Beckmann: Perseus, 1940/1, Triptychon, Mittelbild 150,5 x 110,5 cm, l. Flügel 150,5 x
56 cm, r. Flügel 150,5 x 55 cm, Göpel 570, Museum Folkwang, Essen.
In: Spieler, Reinhard: a.a.O., S. 118/9.
Abb. 82: Max Ernst: Coloradeau de Méduse, 1953, Öl auf Leinwand, 73 x 92 cm,
Sammlung Lefèbre-Foînet, Paris.
In: Bischoff, Ulrich: a.a.O., S. 86.
Abb. 83: Frank Stella: Raft of the Medusa, Part I, 1990, Aluminium und Stahl, 425 x 413,5 x 403 cm,
Leo Castelli Gallery, New York.
In: Lucie-Smith, Edward: a.a.O., S. 79.
Abb. 84: Martin Kippenberger, Selbstbildnisse (a+b), Hotelzeichnungen zu Medusa-Schiffbrüchigen,
1996.
In: Memento Metropolis, a.a.O., S. 84 und 89.
Abb. 85: William Kentridge, Medusa, 2001, Anamorphotische Lithografie auf Chine collé, auf jeweils
sechs verschiedenen Seiten der Larousse-Enzyklopädie von 1906, Bilddurchmesser 63 cm,
Papierformat 78 x 78 cm, gedruckt bei The Artists’ Press, Johannesburg. SpiegelglanzStahlzylinder; Durchmesser 9 cm, Höhe 12,7 cm, Gewicht 750 g. Auflage: 60, signiert und
nummeriert. Edition für Parkett.
In: Parkett Nr. 63/2001, S. 112/3.
Abb. 86: Pablo Picasso: Kopf eines Mannes, 1907, Gouache und Aquarell, 60,5 x 47,0 cm,
The Museum of Modern Art, New York, A. Conger Goodyear Fund, Z. VI, 977; D.R. 44.
In: Spies, Werner (1986): a.a.O., Abb. 47.
227
Abb. 87: Pablo Picasso: Deux Faunes et une Naïade / Zwei Faune und eine Najade, 1938,
Öl auf Leinwand, 50 x 61 cm, Bezeichnet unten rechts: 7.1.38, Privatsammlung.
In: Spielmann, Heinz (Hg): a.a.O., S. 185.
Abb. 88: Pablo Picasso: Minotaure caressant une femme / Minotaurus über eine Frau gebeugt, 1933,
Blatt 84 der Suite Vollard, Radierung, 29,8 x 36,8 cm, Werner-Coninx-Stiftung, Zürich.
In: Spielmann, Heinz (Hg): a.a.O., S. 153.
Abb. 89: Marcel Duchamp: La Mariée mise à nu par ses Célibataires, même /
Die Braut von ihren Junggesellen nackt entblößt, sogar; 1915 – 1923, Glasbildkomposition:
Öl, Lack, Blei, Staubmaterie auf zwei Glasplatten, 109,25 x 69,25 inch,
in der Ausstellung der Société Anonyme, Brooklyn Museum, New York, 1926/27;
im Hintergrund Werke von Domela, Léger und Mondrian.
The Beinecke Rare Book and Manuscript Library, New Haven, CT.
In: Schneede, Uwe, M.: a.a.O., S. 85.
Abb. 90: Pablo Picasso: Titelgestaltung für die Zeitschrift Minotaure Nr. 1, 1933.
In: Spielmann, Heinz: a.a.O., S. 242.
Abb. 91: Marcel Duchamp: Umschlag für Minotaurus, Nr. 6, 1935.
In: Staatliches Museum Schwerin: a.a.O., S. 172.
Abb. 92: Pablo Picasso: Tête de taureau / Stierschädel, 1942, Bronze in zwei Teilen (Nach einem
Original aus Sattel und Lenkstange eines Fahrrades), 42 x 41 x 15 cm, Privatsammlung.
In: Spielmann, Heinz (Hg): a.a.O., S. 151.
Abb. 93: Marcel Duchamp: Roue de bicyclette / Fahrrad-Rad, Fahrrad-Gabel mit Rad auf Hocker
befestigt, 1913/1964, H. 126,5 cm, Ø 64 cm, Exemplar 7 aus einer Edition von 8,
Stiftung der Gesellschaft für Moderne Kunst am Museum Ludwig e.V., Köln, 1986.
In: Museum Ludwig Köln (Hg): a.a.O., Seite 181.
Abb. 94: René Magritte: Alfa Romeo – V. Snutsel aîné – Norine, 1924, Gruppenanzeige 20 x 28 cm,
Signiert und datiert unten rechts: Magritte 24.
In: „Englebert Magazine“, Lüttich, Nr. 59-60, Januar-Februar 1925,
Bibliothèque Royale Albert Ier, Brüssel, Inv. B101.
Hier in: Ollinger-Zinque, Gisèle: a.a.O., S. 319.
Abb. 95: René Magritte: Un Joailler-orfèvre Max Kerrels, 1926,
Anzeige in der Zeitschrift „Le Centaure“, Brüssel, Oktober 1926, Nr. 1,
Bibliothèque des Musées Royaux des Beaux Arts de Belgique,
Brüssel, Inv. RPII339, 1926 (1).
Hier in: Ollinger-Zinque, Gisèle: a.a.O., S. 319.
Abb. 96: René Magritte: Der berühmte Mann / L’homme celèbre, 1926, Öl auf Leinwand, 65 x 81 cm,
signiert unten rechts: Magritte, Signatur auf der Rückseite.
Sammlung ZAN, Sao Paulo.
In: Ollinger-Zinque, Gisèle: a.a.O., S. 60.
Abb. 97: René Magritte: Les affinités électives / Die Wahlverwandtschaften, 1933,
Öl auf Leinwand, 41 x 33 cm, Paris, Sammlung Etienne Périer.
In: Meuris, Jacques: a.a.O., S. 113.
Abb. 98: René Magritte: Der Himmelsvogel / L’Oiseau de ciel, 1966, Öl auf Leinwand, 68,5 x 48 cm,
Signiert oben rechts: Magritte, Andere Titel auf der Rückseite, Sammlung Sabena.
In: Ollinger-Zinque, Gisèle: a.a.O., S. 224.
Abb. 99: René Magritte: La trahison des images / Der Verrat der Bilder, 1928/29,
Öl auf Leinwand, 62,2 x 81 cm, Los Angeles, County Museum.
In: Meures, Jacques: a.a.O., S. 120.
228
Abb. 100: Andy Warhol: American Supermarket, 1964, Installation, Bianchini Gallery, New York,
Foto und © Henry Dauman/Dauman Pictures, NYC, 2002.
In: Grunenberg, Christoph; Hollein, Max (Hg): a.a.O., S. 175.
Abb. 101: Andy Warhol: Campbell’s Soup Cans (Chicken with Rice, Bean with Bacon), 1962,
Acryl auf Leinwand, 2-teilig. Je 51 x 40,5 cm, Städtisches Museum Abteiberg,
Mönchengladbach.
In: Grunenberg, Christoph; Hollein, Max (Hg): a.a.O., S. 177.
Abb. 102: Joseph Beuys: Wirtschaftswerte, 1980, 6 Eisenregale, Verpackungen von DDR-Waren, mit
Bleistift beschrifteter Gipsblock mit Fett, 290 x 400 x 265 cm, (Zur Installation gehören sechs
Werke aus dem ausstellenden Museum aus der Zeit von Karl Marx), S.M.A.K. Gent.
In: Grunenberg, Christoph; Hollein, Max (Hg): a.a.O., S. 201.
Abb. 103: Joseph Beuys: Foto aus ,Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt’, 1965, Performance,
26.11.1965 in der Galerie Schmela, Düsseldorf, Foto Ute Klophaus.
In: Schirmer, Lothar: a.a.O., Abb. 87.
Abb. 104: Marcel Broodthaers: Pense Bête, 1963/4, Bücher, Papier, Gips, Plastik und Holz,
98 x 84 x 43 cm, Foto: Maria Gilissen, Gilissen Estate, Brüssel.
In: Lucie-Smith, Edward: a.a.O., S. 138.
Abb. 105: Marcel Broodthaers: Moules sauce blanche, 1967, Mixed Media, 48,5 x 37 cm.
In: Isy Brachot (ed): a.a.O., S. 135.
Abb. 106: Marcel Broodthaers: Un Jardin d’Hiver, 1974, Installationsfoto der Gruppenausstellung
Carl André, Marcel Broodthaers, Daniel Buren, Victor Burgin, Gilbert & George, On Kawara,
Richard Long, Gerhard Richter, Palais des Beaux-Arts, Brüssel 1974 (Maria Gilissen).
In: Zwirner, Dorothea: a.a.O., S. 150.
Abb. 107: Matthew Barney: Cremaster 5, Her Giant, 1997, Videostill, Courtesy Barbara Gladstone,
New York.
In: Schneede, Uwe, M.: a.a.O., S. 303.
Abb. 108: Pan, Bronzeverzierung eines Möbelstücks, römisch, 1./2. Jahrhundert;
gefunden im heutigen Rumänien.
In: Dommermuth-Gudrich, Gerold: a.a.O., S. 208.
Abb. 109: Maurizio Cattelan: La Nona Ora / Die neunte Stunde, 1999, Installation, Mixed Media,
lebensgroß, ,Apocalypse’ Beauty and Horror in Contemporary Art, Royal Academy London.
In: Focus Nr. 21, 19.5. 2003, S. 70.
Abb. 110: Maurizio Cattelan: Love lasts forever, 1997, Skeletons, 210 x 120 x 60 cm, Installation view,
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In: Riemschneider, Burkhard; Grosenick, Uta (ed): a.a.O., S. 95.
Abb. 111: Anselm Kiefer: Parsifal, 1973, Öl auf Raufasertapete und Nesseltuch, 300 x 533 cm, Kunsthaus Zürich.
In: Joachimides, Christos M. et al. (Hg): a.a.O., Abb. 292, o.S.
Abb 112: Jonathan Meese: Staatssatanismus oder Die Ordensburg ‚Mishimoend’ (Toecutter’s Mütze),
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In: art Das Kunstmagazin Nr. 3/2004, S. 20/1.
Abb. 113: Armando: Kopf 10-7-90, 1990, Öl auf Leinwand, 198 x 250 cm, Besitz des Künstlers.
In: Neuer Berliner Kunstverein, Neues Museum Weserburg Bremen: a.a.O., S. 94.
Abb. 114: Richard Long: Mountain Circle, 1991, Ø 4 m, Kalkstein (Normandie).
In: Neues Museum Weserburg Bremen: a.a.O., S. 22.
Abb. 115: Shirin Neshat: Tooba, 2002, Videostill.
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229
Abb. 116: Thomas Lahoda: Messe, 2000, Installation, Detail.
In: National Gallery in Prague: a.a.O., S. 48.
Abb. 117: Jan Vermeer: Diana und ihre Gefährtinnen, um 1655 – 56, Öl auf Leinwand, 97,8 x 104,6 cm,
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In: National Gallery of Art, Washington; Königliche Gemäldegalerie Mauritshuis; Wheelock,
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Kunsthistorisches Museum.
In: National Gallery of Art, Washington; Königliche Gemäldegalerie Mauritshuis; Wheelock,
Arthur, K. Jr. (Hg): a.a.O., S. 68.
Abb. 119: Raffael: Die Schule von Athen, 1910/11, Fresko, Breite 7,72 m. Stanza di Raffaello, Vatikan,
Rom.
In: Krauße, Anna-Carola: a.a.O., S. 18.
Abb. 120: Jacques Louis David: Der Schwur der Horatier, 1784/5, Öl auf Leinwand, 330 x 425 cm,
Louvre, Paris.
In: Krauße, Anna-Carola: a.a.O., S. 52.
Abb. 121: Jan Steen: Der Streit beim Spiel, 1664/5, Öl auf Leinwand, 90 x 119 cm, Staatliche Museen
Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Gemäldegalerie.
In: Gemäldegalerie Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz Berlin; Sutton, Peter C. (Hg):
a.a.O., 309.
Abb. 122: Claude Monet: Frau mit Sonnenschirm, 1886, Öl auf Leinwand, 131 x 88 cm, Musée d’Orsay,
Paris.
In: Krauße, Anna-Carola: a.a.O., S. 75.
Abb. 123: Wassily Kandinsky: Komposition VIII, 1923, Öl auf Leinwand, 140 x 201 cm, Solomon R.
Guggenheim Museum, New York.
In: Johannsen, Rolf H.: a.a.O., S. 234.
Abb. 124: Jackson Pollock: Number 1A, 1948, 1948, Öl auf Leinwand, 172,7 x 264,2 cm, The Museum
of Modern Art, New York.
In: Lucie-Smith, Edward: a.a.O., S. 9.
Abb. 125: Barnett Newman: Vir Heroicus Sublimis, 1950, Öl auf Leinwand, 242 x 541 cm,
Privatsammlung New York.
In: Thomas, Karin: a.a.O., Farbtafel 44.
Abb. 126: Lovis Corinth: Die Kindheit des Zeus, 1905/06, Öl auf Leinwand, 120 x 150 cm,
Die Kunsthalle Bremen.
In: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH (Hg): a.a.O., S. 84.
Abb. 127: Adolf von Hildebrand (Entwurf): Otto von Bismarck, 1910, Standbild, Bremen, Domshof,
gegossen von Gladenbeck, Berlin. Eigenfoto 2003.
Abb. 128: Cowboy, Marlboro, Litfasssäulen-Plakatierung in Bremen, Eigenfoto, 2001.
Abb. 129: Wolf Vostell: Coca-Cola, 1961, Décollage, 210 x 310 cm, Museum Ludwig, Köln.
In: Bäumler, Susanne; Münchner Stadtmuseum (Hg): a.a.O., S. 268.
Abb. 130: elbeo, Anzeige, Bildschönes für die Beine, 1993.
In: Graphis Press Corp.: a.a.O., S. 54.
Abb. 131: Andy Warhol: Self-Portrait, 1986, Synthetic polymer paint and silkscreen ink on canvas,
40 x 40 inches, Collection of Emily Fisher Landau, New York.
In: California Center for the Arts Museum (ed): a.a.O., S. 7.
230
Abb. 132: Barneys New York, doppelseitige Anzeige des Modekaufhauses Barneys (re. Hälfte), 1993.
In: Graphis Press Corp.: a.a.O., S. 45.
Abb. 133: Nino-Flex, Anzeige, 1955, freigestellte SW-Fotografie, Zeichnung und Satz zum Teil
ineinander kopiert, einfarbig (braun) gedruckt, 33 x 17,5 cm, aus Constanze Nr. 12/1955.
In: Bäumler, Susanne: a.a.O., S. 261.
Abb 134: Legendary Harley-Davidson, Anzeige, Cool Spirit, Eau de Toilette, Der Duft der Freiheit,
2001.
In: Playboy 9/2001, S. 19.
Abb. 135: Salvador Dali: Der Geisterkarren / La Charette fantôme, 1933, Öl auf Holz, 19 x 24,1 cm,
Privatsammlung.
In: Spies, Werner (Hg): a.a.O., S. 215.
Abb. 136: Daniel Spoerri: Ça crève les yeux que c’est Rrose Sèlavy, 1965, Mixed Media,
60 x 45 x 32 cm, im Glaskasten hängend, Neues Museum Weserburg Bremen.
In: Eigenfoto mit Erlaubnis des Museums, 2004.
Abb. 137: Rirkrit Tiravanija: Ohne Titel (Metallbrille), 1995, Brille Ray Ban mit Gravur; auf den
Gläsern: LONG RIVER A SINGLE LINE; ORANGE SAFFRON AT TWILIGHT; 4,5 x
13,5 cm, Ed. 80/XXV, nummeriert mit Zertifikat und Siegel des Künstlers.
In: Noever, Peter (Hg für MAK, Wien, in Zusammenarbeit mit Parkett, Nr. 44/1995): a.a.O.,
S. 180.
Abb. 138: Peter Paul Rubens: Götterrat, 1602, Öl auf Leinwand, 204,5 x 379 cm, Kunstsammlungen der
Prager Burg, Inv.-Nr. HS 111.
In: Herzog Anton Ulrich-Museum Braunschweig (Hg): a.a.O., S. 305.
231
Verzeichnis der Tabellen und Schaubilder
Seite
Tabl. 1:
Mythen im Vergleich: R. Prince und O. Toscani (Tabl. vom Verf.)
5
Tabl. 2:
Individuelle und gesellschaftliche (Kommunikations-/Vermittlungs-)
Bezüge um Kunst/Werbung und Mythos/Aufklärung (Tabl. vom Verf.)
7
Tabl. 3:
Sekundäres semiologisches System nach Roland Barthes
In: Barthes, Roland: a.a.O., S. 92/3.
18
Tabl. 4:
Das Phänomen ,Mythos’: Orientierungskriterien/Definitionsersatz (Tabl. vom Verf.)
19
Tabl. 5:
Stufen gesellschaftlicher Evolution nach Roland Burkart
In: Burkart, Roland: a.a.O., S. 180.
46
Tabl. 6:
Bedürfnisskala nach Abraham Maslow
Nach: Maslow, Abraham: Motivation and Personality, Harper & Row, New York, 1954.
Vgl.: Karmasin, Helene: a.a.O., S. 61.
48
Tabl. 7:
Bestandteile eines ,markierten’ und beworbenen Produktes/Markenartikel
(Tabl. vom Verf.)
58
Tabl. 8:
Werbeanalyse im semiologischen System nach R. Barthes, Beispiele (Tabl. vom Verf.)
65
Tabl. 9:
Der Weg zum Markenmythos (Tabl. vom Verf.)
67
Tabl. 10: Analyse Print-Anzeige HypoVereinsbank (Tabl. vom Verf.)
75
Tabl. 11: Kunstbetrieb heute – Strukturen des ökonomisch dominierten Kulturmodells
(Tabl. vom Verf.)
85
Tabl. 12: Modell zur Mythenerfassung in der Kunst (Tabl. vom Verf.)
185
232
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