RUND UM DEN HENNINGER TURM

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RUND UM DEN HENNINGER TURM
RUND UM DEN HENNINGER TURM
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TOUR 6 | 2008
Massenandrang unterm Turm: Von den Profis
(ganz links) bis zu Schülern sind in Frankfurt alle
am Start. Und lecker Bier gibt’s auch
ǺǫǾǺ Tim Farin ǬǵǺǵǹ David Klammer
So wie es derzeit aussieht, haben sich die Profis am
1. Mai zum letzten Mal unter dem Henninger Turm in
Frankfurt versammelt, um das bekannteste deutsche
Eintagesrennen auszutragen. Die Zukunft des 46 Jahre
alten Radklassikers ist immer noch ungewiss
6 | 2008 TOUR
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MAURITIUS
D
as unförmige Silo mit dem Drehrestaurant auf seinem Rumpf steht
noch da. Doch gleich nebenan sind
schon einige Bauten verschwunden – der
Boden hinter den Absperrungen liegt
planiert bereit für eine neue Zukunft.
Nicht nur städtebaulich befindet sich derzeit alles rund um den Henninger Turm
in Frankfurt-Sachsenhausen im Wandel.
Als am 1. Mai, einem milden Sonnentag
mit vereinzelten Regengüssen, die neunköpfige Spitzengruppe des Radrennens
über die Darmstädter Landstraße hetzt,
bimmelt die Glocke zur Schlussrunde –
und viele am Streckenrand fürchten, dass
sie auch das Ende einer 46 Jahre gereiften
Tradition einläutet.
Das Radrennen „Rund um den Henninger Turm“ steht vor dem Aus, zumindest aber vor einem gewaltigen Umbruch.
Seit der Hauptsponsor und Namensgeber
2007 seinen in diesem Jahr auslaufenden
Vertrag nicht mehr verlängerte, sucht
Veranstalter Bernd Moos-Achenbach
nach einem neuen Geldgeber. Bislang
vergeblich. „Ich brauche die Politik, um
weiterzukommen“, sagt der Hotel- und
Gastronomie-Fachmann am Abend vor
dem Rennen im Ballsaal des Holiday-InnHotels gleich gegenüber der Brauerei, und
die Branche lauscht betroffen. Er hat mit
potenziellen Geldgebern geredet, mit der
Stadtsportdezernentin, er wird sich mit
Frankfurts Bürgermeisterin Petra Roth
treffen und auch mit Ministerpräsident
Roland Koch. „Es wird einfacher, wenn
sie mich bei möglichen Sponsoren empfehlen“, hofft Moos-Achenbach. Ohne
diese Beziehungen jedenfalls scheint das
Frankfurter Radsport-Ereignis nicht mehr
zu retten zu sein.
An das, was im vergangenen Jahr passierte, erinnert sich Moos-Achenbach mit
RUND UM DEN HENNINGER TURM
Das Rennen in Frankfurt ist in den 46 Jahren seines Bestehens zum riesigen Radsport-Fest geworden – Kennzeichen: Rennen für alle Altersklassen, Stars zum Anfassen,
starken Emotionen: Die Menschenmenge
jubelte am 1. Mai 2007 dem Sieger Patrik
Sinkewitz zu. Doch wahrscheinlich hätten
die Organisatoren liebend gern auf den
neunten Sieg eines Deutschen verzichtet,
wenn sie gewusst hätten, was in den folgenden Monaten in den Zeitungen stehen
würde: Sinkewitz der Manipulation überführt, der deutsche Radsport als DopingDorado, der Exodus der Sponsoren. Ein
ungünstiger Trend, der die gesamte Szene
erfasste. „Die Rennen in Deutschland erleben derzeit einen starken Wandel“, sagt
Uwe Schulz, Geschäftsführer beim Verband Deutscher Financiers. „Deswegen
werden einige Veranstalter zumindest auf
absehbare Zeit besser daran tun, ihre
Rennen eher eine Hausnummer kleiner
zu fahren“, sagt Schulz.
Radrennen als Volksfest
Es ist fraglich, was die Erfinder des Rennens um den Henninger Turm zu den
Zeichen der heutigen Zeit gesagt hätten:
Erwin und Hermann Moos, Gründer der
„Gesellschaft zur Förderung des Frankfurter Radsports“, schufen Anfang der
60er-Jahre ein Ereignis, das aus dem nationalen Sportkalender bald nicht mehr wegzudenken war. Die Henninger Brauerei
hatte 1961 ihren Turm errichtet und wollte
ihn in der Bevölkerung populärer machen.
Man beschloss, dafür ein Radrennen mit
Volksfest-Charakter zu organisieren. Die
Gebrüder Moos bekamen den Auftrag.
1962 fiel der erste Startschuss zu einem
stark besetzten Rennen. Der belgische
Weltmeister Rik Van Looy bestimmte mit
seiner Equipe das Debüt, sein Kollege
Armand Desmet gewann, und die
Brauerei-Manager zeigten sich freudetrunken: Ihr Markenname stand international in positiven Schlagzeilen.
Das Rennen und die Brauerei verwuchsen miteinander. Am Renntag zieht
es Tausende Zuschauer auf den Innenhof
des Henninger-Fabrikgeländes, da tanzen
Squaredance-Gruppen, Kinder fahren
über einen Geschicklichkeits-Parcours,
und die Eltern stellen sich am Getränkestand an, wo das „Kaiser-Pils“ faire 1,50
Euro kostet. Falls der Frankfurter Renntag
am 1. Mai tatsächlich erhalten bleiben
sollte, ist es andererseits schwer vorstellbar, dass dieses bierselige Szenario überlebt. Der neue Sponsor würde wohl kaum
Image-Werbung für einen anderen Konzern machen wollen.
Hans „Hennes“ Junkermann, 74 Jahre
alter Radsport-Veteran, fände es schon
„sehr schwierig, wenn das Frankfurter
Rennen plötzlich einen anderen Namen
hätte“. Von einem Ende der Veranstaltung
mag er gar nicht sprechen, zu schmerzhaft
wäre die Vorstellung. 1963, bei der zweiten
Austragung, feierte der Rheinländer in
Hessen einen großen Triumph. „Das war
ein ganz großer Sieg für mich“, erinnert
sich der Rentner aus Krefeld, der immerhin auch Platz vier und fünf bei der Tour
de France belegt und die Tour des Suisse
1962 gewonnen hatte.
Starke Tradition
Junkermann erlebte mit, wie aus dem
Frankfurter Rennen ein internationales
Ereignis wurde. „Die Gebrüder Moos
waren radsportbesessen. Sie haben etwas
geschaffen, was niemand erwartet hätte“,
sagt Junkermann. Ende der 60er-Jahre
etablierte sich der Henninger Turm in der
heute längst verdrängten „PernodSuperprestige“-Serie. Den Status eines
Weltcup-Rennens genoss man allerdings
nur 1995; zuvor hatte traditionsgemäß
parallel in Spanien die Vuelta stattgefunden, die UCI erlaubte aber keine zwei
Weltcups zur selben Zeit. Und danach
verlangte sie, das Rennen, wenn es denn
Weltcup sein wollte, an einem Wochenende zu organisieren. In Frankfurt aber
hatte man den 1. Mai seit 1968 als festen
Tag für das Rennen etabliert – die Tradition setzte sich gegen mögliche Reformen
durch, und auch so firmierte das Rennen
seit 2005 wieder in der elitären Klasse der
Rennen „Hors Catégorie“. Tatsächlich
verzeichnet die Liste der Sieger seit 1962
illustre Namen: Stablinski steht da, Eddy
Ambiente mit rustikalem Industriecharme
Merckx, Johan Bruyneel, Gregor Braun,
Davide Rebellin und natürlich Erik Zabel,
der dreimal am Henninger Turm gewann.
Doch der Rekordsieger steht eben auch
für den Sumpf, der aus dem Boom-Sport
eine Problemzone hat werden lassen:
Zabel hat Doping gestanden, die Verunsicherung ist unter den Zuschauern ebenso groß wie unter möglichen Sponsoren –
und Veranstalter Bernd Moos-Achenbach
sieht sich daher gezwungen, Problembewusstsein demonstrativ nach außen zu
kehren. Als die drei Erstplatzierten im
bürgerlichen Brauereisaal zur Pressekonferenz Platz nehmen, läuft hinter ihnen auf der Leinwand eine Präsentation.
In dicken Lettern steht da: „Doping, Nein
danke.“ Das Nein sticht rot hervor. „Ich
möchte zeigen, dass mir das am Herzen
liegt“, sagt Bernd Moos-Achenbach zu seinem lokalen Kampf für ein sauberes
Image, er hat das Liquigas-Team wegen
der Affäre Basso kurzfristig ausgeladen
und 26 Dopingkontrollen bestellt. Auch
das schafft Schlagzeilen.
Treffpunkt der Jugend
Auch Herr und Frau Jedermann, deren
sportliche Ambitionen seit 2002 ebenfalls
im Ablauf des Frankfurter Renntags Platz
haben, bieten heute ein bisschen Abwechslung von den vermeintlichen Gaunereien
der Leistungselite. „Die Jedermann-
16:09
unschlagbar ?
Rund um den Bierturm:
TOUR-Autor Tim Farin
(unten) reihte sich am
1. Mai selbst ein in den
Tross der Jedermänner
RUND UM DEN HENNINGER TURM
Veranstalter Bernd Moos-Achenbach (links oben,
Bildmitte) blickt in eine ungewisse Zukunft des
Rennens am Henninger Turm – vor allem für viele
Nachwuchsrennfahrer wäre das Ende der Tradition
ein herber Verlust
1.
dzǧǯ
Rund um den Henninger Turm (ǭǫǸ), 179 km
Die Nationalhymne für den Sieger kam über die ersten
paar Töne nicht hinweg, die CD hing fest – und so
musste CSC-Fahrer Karsten Kroon auf der Bühne am
Ziel in der Darmstädter Landstraße das niederländische
Nationallied persönlich über das Mikro anstimmen.
Beschwingt von ein paar tiefen Schlucken aus dem
Bierkrug des Sponsors, präsentierte sich der 32 Jahre
alte Fahrer in bester Laune, kein Wunder, denn zuvor
war alles nach seinem Geschmack verlaufen. Zwar hatte
sein Team nur fünf Fahrer aufbieten können, von denen
zudem nur Kroon und Andy Schleck bei vollen Kräften
waren. Dafür aber nutzten die CSC-Fahrer ihr Potenzial
voll. Sie hatten sich in der Führungsgruppe etabliert,
die die entscheidende Rennphase prägte und von der
erneut starken Arbeit der Gerolsteiner-Equipe profitierte. 400 Meter vor dem Ziel zog Schleck dann für
Kroon an, bergauf und mit leichtem Gegenwind wähnte
der Holländer die besten Siegchancen der neunköpfigen
Spitzengruppe bei sich. „Das war super für mich geeignet“, sagte Kroon. Davide Rebellin (Gerolsteiner)
versuchte es zwar noch, aber er wurde letztlich Zweiter.
Für die Kollegen von Gerolsteiner hatte Kroon sogar
Mitgefühl: „Ich weiß aus Erfahrung, wie schwierig es
ist, im eigenen Land zu fahren.“ Mit Rabobank startete
er dreimal beim Amstel Gold Race – „da achten alle
im Feld auf dein Team.“ Bei Gerolsteiner zeigte man
sich auch ohne Sieg zufrieden, ebenso wie beim Rennveranstalter geht es ja ums wirtschaftliche Überleben.
Die starken Frühjahrsleistungen, zu denen auch der
Frankfurter Auftritt gehörte, dürfte die Position gegenüber möglichen Neu-Sponsoren verbessert haben.
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TOUR 6 | 2008
Sieger am Turm 2008: Rebellin, Kroon, Ardila
Ergebnis: 1. Karsten Kroon (ǴǫǪ, CSC) 179
km in 4:25:36 Std.; 2. Davide Rebellin (ǯǺǧ,
Gerolsteiner); 3. Mauricio Ardila Cano (ǩǵDz,
Rabobank); 4. Fabian Wegmann (ǭǫǸ, Gerolsteiner); 5. Christian Knees (ǭǫǸ, Milram);
6. Nicolas Roche (ǬǸǧ, Crédit Agricole);
7. Steffen Wesemann (ǭǫǸ, Cycle-Colls), alle
gl. Zeit; 8. Björn Glasner (ǭǫǸ, Team Kuota),
3 Sek. zur; 9. Andy Schleck (DzǻǾ, CSC),
4 Sek.; 10. Bert De Waele (ǨǫDz, Landbouwkrediet) 1:10 Min.; 11. Paul Martens (ǭǫǸ,
Rabobank); 12. Gerald Ciolek (ǭǫǸ, HighRoad); 13. David Kopp (ǭǫǸ, Cycle-Colls);
14. Sven Renders (ǨǫDz, Topsport-VL); 15. Igor
Abakoumov (ǨǫDz, Mitsubishi) alle gl. Zeit
Rennen machen zwar die meiste Arbeit
und fürs Budget nutzen sie auch kaum,
aber sie bringen noch mehr Leben an die
Rennstrecke. Das ist eine fantastische Entwicklung“, findet Veranstalter MoosAchenbach. Überhaupt stand das Henninger-Rennen schon immer unter dem
Motto, dass jeder Bub und jedes Mädchen
einmal teilgenommen haben sollte. Heute
zeugen neun Jugendrennen noch immer
von diesem Charakter der Breitensportveranstaltung. Die jüngsten Teilnehmer
sind gerade mal sechs Jahre alt.
Doch ein Klassiker ist dieser Renntag
eben nur wegen der Stars, die auch die
Kosten in die Höhe treiben. „Die Profis
sind das Salz in der Suppe“, sagt Sportdezernentin Daniela Birkenfeld. Und damit die renommierten Berufsfahrer auch
im nächsten Jahr wieder 1,5 Millionen
Menschen an die Strecken locken, muss in
den kommenden Monaten eine Lösung
gefunden werden. Moos-Achenbach jedenfalls hat trotz aller Familientradition
bereits eingesehen, dass Flexibität geboten
ist: „Ich sehe es überhaupt nicht als problematisch an, wenn das Rennen einen
anderen Namen bekommt oder das Ziel
woanders liegt“, signalisiert er möglichen
Sponsoren. Und gibt ihnen noch einen
Investment-Tipp. Denn mit so einem
Radrennen sei es wie an der Börse: „Es
lohnt sich einzusteigen, wenn die Kurse
ganz unten sind.“ In der Bankenmetropole
am Main mangelt es aber wohl kaum an
Experten, die auch die Risiken eines Enga■
gements bewerten können.