Das andere Ufer ist weit

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Das andere Ufer ist weit
Das andere Ufer ist weit
Autobiografischer Roman
Marita Waibel
Inhaltsverzeichnis
Prolog
S.
3
I
S.
4 - 42
II
S.
42 - 68
III
S.
68 – 130
IV
S.
130 – 162
V
S.
162 – 206
VI
S.
206 – 225
VII
S.
225 – 244
Epilog
S.
245
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Prolog
Isabelle lag auf dem Bett. Um den Hals trug sie einen blassgrünen Seidenschal.
Saxophonmusik umspülte ihre Ohren mit sanften Tönen, hinterließ einen feuchten Film auf der nackten Haut. Die Melodie nahm sie mit ans Meer. Der Wind
strich zärtlich um ihre Beine. Ein Hauch von Wehmut lag über dem Ozean. Die
Bucht flimmerte im Sonnenlicht. Granitgraue Felsen lagen schroff im weißen
Sand. Isabelle reiste in die Weite ihrer Phantasie. Sie war kein Kind mehr, immerhin 23 Jahre alt, eine Frau die zu wissen hatte, die wissen musste was sie
wollte. Sie wirkte selbstgefällig jung, lasziv, naiv. Doch wenn sie ihr Spiegelbild betrachtete, brach die Schönheit in ihren Augen. Sie wusste um die Boshaftigkeit und hatte Angst vor dem, was sie erfühlen konnte, was sie in höchst
konzentrierten Augenblicken erfasste. Es trieb sie mit großem Schrecken der
Einblick umher, die dunkle Seite ihres Ichs erforschen zu müssen, den verschlossenen und gesicherten Teil des Geheimnisvollen sichtbar zu machen.
Das, was sie niemandem sagen konnte, durfte nicht unausgesprochen bleiben.
Angst und Feigheit waren die Wegbereiter ihrer Unterwerfung. Wie ein Stahlband schützte sie der Zorn, wüteten Wellen in ihrer Brust und die eingeschlossenen Kriegerinnen schrien nach Freiheit. Es war nur noch eine Frage der Zeit,
wann die Angst besiegt sein würde und dann musste sie gewappnet sein. Umrisse wurden deutlicher, während sich die Vergangenheit in ihre Gegenwart drängte. Es würde eine Zäsur geben, einen Einschnitt, etwas Bedeutsames, eine Veränderung. Isabel hatte genug vom kaltschnäuzigen Leben. Sie wollte etwas, das
poetischer und sensibler war.
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I
„Guten Morgen“, sagte eine dunkle, von irgendwoher bekannte Stimme, hinter
ihrem Rücken. Isabel stand in der Wohngemeinschaftsküche eines Studienkollegen. „Guten Morgen“, sagte die Stimme eindringlich.
Hermann lehnte im abgeschabten blauen Bademantel an der Küchentür und
fragte verschlafen: „Hast du auch einen Kaffee für mich?“
Isabel versuchte ihre Überraschung zu verbergen und errötete.
„Ich wusste nicht, dass du hier eingezogen bist“, stotterte sie.
Ein Lächeln huschte über sein Gesicht.
Am liebsten wäre sie im Erdboden versunken oder einfach unsichtbar geworden.
„Trinkst du keinen Kaffee mit mir?“, fragte er.
„Ich muss zur Arbeitsgruppe Pädagogik zurück. Die anderen warten in Volkers
Zimmer auf mich.“
„Bitte bleibe noch“, bat er.
Isabel schob alte Zeitungen beiseite. Hermann setzte sich neben sie auf die Eckbank. Ihr klopfte das Herz bis zu den Ohren.
Ramona kam herein. Ihre laute Stimme zerriss die Atmosphäre. „Isabel! Wo
bleibt der ...?“, stockte ihr der Atem. Sie sah Hermann an und veränderte ihre
Körperhaltung, unterstrich einzelne Wörter durch ausladende Gesten; ihre Brüste wippten und das Becken schien zu einer unhörbaren Musik zu schwingen.
Isabel musste etwas sagen: „Wenn ich den Prüfungsstress hinter mir habe,
möchte ich am liebsten nach Jamaika reisen, mir eine Holzhütte mit Veranda,
direkt am Meer mieten und einen Roman schreiben“, meinte sie.
„Da würde ich dich gerne besuchen!“, antwortete Hermann.
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„Jamaika? So ein Blödsinn! Kuba, vielleicht Kuba!“, spottete Ramona.
Isabel nahm die Warmhaltekanne und verließ wütend die Küche. Sie fühlte sich
wie eine angeschlagene Boxerin. Es hätte so schön sein können, sie alleine mit
Hermann. Diese blöde Anmache, von wegen „Kuba, vielleicht Kuba“, dachte
sie.
Die Arbeitsgruppe diskutierte immer noch. Isabel knallte die Thermokanne auf
den runden Tisch, zwischen Berge beschriebener Seiten, aufgeschlagener Bücher und ging in die Küche zurück, um Milch und Zucker zu holen.
„Sei spontan, sag ja!“, hörte sie Ramona sagen und drehte sich auf dem Absatz
herum, schaute finster.
Ramona war abgeblitzt und machte ein säuerliches Gesicht, als sie ins Arbeitszimmer trat. Hermann wollte nicht mit ihr nach Kuba reisen und er wollte sich
auch sonst nicht mit ihr verabreden.
„Hoffentlich bis bald, Isabel! Und arbeite noch schön!“, rief er durch die offene
Tür und winkte ihr zu.
Isabel blieb noch eine halbe Stunde und verließ ohne Erklärung die Arbeitsgruppe. Sie schlenderte durch Freiburgs Innenstadt, genoss die Sonnenstrahlen
der kalten Märzluft und träumte davon, Hermann in den verwinkelten Gassen
der Altstadt zu treffen, doch sie begegneten einander nicht.
Sie ging alleine ins Kino und hinterher zum Chinesen, bestellte eine Frühlingsrolle (das Hauptgericht ließ sie aus) und zum Dessert Banane in Honig gebacken. Nachdem sie gezahlt hatte, fuhr sie in ihr Apartment nach Burg-Höfen.
Es war bereits dunkel. Das Mondlicht erhellte die Ausläufer des Schwarzwalds.
An den Berghängen leuchteten vereinzelte Lichtpunkte.
Sie setzte sich an den Schreibtisch, studierte die Aufzeichnungen zur Allgemeinen Pädagogik und notierte das Wesentliche. Die Luft im Zimmer roch stickig.
Ihr Nacken glühte und die Augen schmerzten vom Licht der Schreibtischlampe.
Sie kniff die Lider zusammen und da tauchte es wieder auf, breitete sich in ihr
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aus, war zuerst nur ein kleiner schwarzer Punkt im Farbspiel geschlossener Lider, wurde größer und verdunkelte wie eine Wolkenformation ihren Horizont.
Sie nannte es „das schwarze Loch“.
Es begleitete sie schon so lange, dass sie aufgehört hatte, die Jahre zu zählen.
Isabel hörte auf ihre Intuition, zog den grünen, viel zu groß gestrickten Pullover
ihrer Mutter an, warf den mexikanischen Poncho über, schlüpfte in die Cowboystiefel und floh nach draußen. Sie folgte dem schmalen Pfad, vorbei an Feldern und Berghängen in Richtung Spielplatz, hastete den holprigen Sandweg
entlang und wollte die Gedanken hinter sich lassen. Sie stolperte über die eigenen Füße, über Wurzelgeflecht und Steine, schrie und begriff nicht, was mit ihr
geschah? Sie floh vor dem „schwarzen Loch“, das im eigentlichen Sinne kein
Loch war, sondern ein Schacht, gefüllt mit Bildern und Erinnerungen, in dessen
Tiefe hässliche Fratzen tanzten, teuflische Gestalten ihr Unwesen trieben und
sadistisches Gelächter widerhallte.
Isabel drückte die Nase und die Stirn in die feuchte Erde. Weit und breit war
niemand zu sehen, nur der einsame Baum hoch oben am Berghang, hörte ihr
Weinen und Flehen. Sie bat um Hilfe, Klarheit und innere Stärke.
Der Schmerz ließ nach und sie konnte wieder ruhig atmen. Die schmutzigen
Kleider klebten. Isabel stand auf, rannte zum Apartment zurück, wollte mit eigenen Augen sehen, ob sie verrückt geworden war?
Sie wachte gegen Mittag auf, setzte sich aufs Fensterbrett und beobachtete die
Spaziergänger - Sonnenstrahlenfrühlingssonntag, Vater, Mutter und die Kinder,
alles nur Fassade – dachte sie, zog die Beine näher an die Brust heran, verschränkte die Hände um die Knie und schaute den Kindern beim Spielen zu.
Der Nachbarjunge lief an ihrem Fenster vorbei, die Haare nass geschwitzt, folgte ihm ein älteres Kind, mit vor Vergnügen gerötetem Gesicht. Der Kleine
schlug Haken, doch der Größere war ihm dicht auf den Fersen. Isabel schloss
das Fenster. Sie musste vernünftig sein und durfte sich nicht ablenken lassen.
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Ihre Kräfte schwanden. Sie litt seit Wochen unter Schlafstörungen und Alpträume aus der Kinderzeit holten sie ein. Nacht für Nacht floh sie durch menschenleere Straßen, verfolgt von riesigem Würfel, die sie unter sich begruben.
Es schellte. Agnes stand vor der Tür. Sie sah blass aus und hatte gerötete Augen.
„Hast du geweint?“, fragte Isabel.
„Ich ertrage das nicht mehr. Clarissa ist so gemein. Warum tut sie das, warum
erniedrigt sie mich so? Du kannst dir nicht vorstellen wie das ist, wenn du nebenan im Zimmer liegst und deine Freundin treibt es mit deinem Freund. Ich
glaube sie ist extra so laut, weil sie mir zeigen will, wie toll es mit Philippe und
ihr ist, und dass ich keine Chance habe, ihn zurückzugewinnen. Heute Morgen
hättest du ihr Gesicht sehen sollen. Triumph auf der ganzen Linie. Philippe, dieser Mistkerl, kann mir nicht mehr in die Augen sehen. Er hat mit jeder meiner
Freundinnen geschlafen.“
Agnes funkelte Isabel vorwurfsvoll an. Sie wusste, dass ihre Freundin eine Affäre mit Philippe gehabt hatte.
Isabel schaute aus dem Fenster, auf die Berge direkt vor der Haustür und erinnerte sich an ihre erste Begegnung mit Phil. Sie fühlte sich vom ersten Augenblick erotisch zu ihm hingezogen, machtlos gegenüber seiner gleichzeitigen Zurückhaltung und Aufmerksamkeit. Es ergab sich, dass sie mit anderen, jedoch
ohne Agnes, im Schwarzwald Silvester feierten. Im Morgengrauen nahm Philippe sie mit nach Freiburg und bat sie, die Nacht mit ihm zu verbringen. Isabel
hatte schon mit einigen Männern geschlafen, doch nicht mit einem Liebhaber,
wie Philippe. Er war außergewöhnlich bemüht, zärtlich ohne zu fordern und
ließ ihr Zeit zum Genießen. Er hatte sie zwischen den Schenkeln geküsst und
geschickt ihre Scham überwunden. Er hatte gefühlt was sie wollte, war ruhig
geblieben, als sie nichts mehr halten konnte, wie flüssig, bewegt, eine Welle die
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an Land getragen wurde, ausrollte und im Sand verlief, ein feuchter Abdruck,
den die Sonne trocknete.
Als sie gegen Mittag aufwachte, saß er auf dem Sofa unterm Fenster und spielte
Gitarre. Sie betrachtete ihn, wie er versunken die Saiten zupfte, strich und
klopfte, bis der Blues jeden Zentimeter Raum eroberte. Als er sie bemerkte,
stellte er die Gitarre in die Ecke, holte ihr eine Tasse Kaffee aus der Küche und
setzte sich zu ihr auf den Bettrand.
„Wie fühlst du dich?“, wollte er wissen.
„Wie soll ich mich fühlen“, hatte sie geantwortet? „Schuldig, beschämt und
gleichzeitig entspannt. Es war schön mit dir. Wirklich schön. Du hast mir etwas
gezeigt, was ich bisher nicht gefühlt habe. Du bist der erste Mann, der mir einen
Orgasmus geschenkt hat, und du bist der Freund meiner Freundin.“
„Isabel!“, rief Agnes und stubbste sie an. „Lass das Träumen und sage mir lieber, was ich tun soll?“
Agnes hatte ihr Zeit gelassen, die Anspielung zu schlucken.
„Ich bin am Ende meiner Kräfte. Nachts rast mein Herz und ich zerbeiße mein
Kopfkissen, weil ich Clarissas Stöhnen nicht ertrage.“
„Warum bittest du sie nicht, etwas leiser zu sein?“, zögerte Isabel.
„Das habe ich längst versucht. Clarissa meinte frech, dass sie sich von mir ganz
sicher nicht vorschreiben ließe, wie laut oder leise sie beim Sex zu sein habe.“
„Und Philippe? Kannst du nicht mit ihm reden? Warum gehen die beiden nicht
in seine Wohnung, wenn sie miteinander schlafen wollen? Er wird das sicher
verstehen.“
„Nimm ihn nur in Schutz. Das machen die beiden doch extra. Ich glaube, es
heizt sie an, du weißt schon, die Vorstellung, ich liege nebenan im Zimmer und
bekomme alles mit.“
„Das glaube ich nicht.“
„Oh, doch, so ist es, genauso!“
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„Ich könnte das nicht aushalten. Ich würde sofort ausziehen.“
„Du machst Witze, Isabel. Ich ziehe aus und sie haben ihre Ruhe? Kommt gar
nicht in Frage.“
„Dann weiß ich auch nicht weiter. Möchtest du noch etwas trinken?“
„Nein, lieber nicht, sonst muss ich die ganze Nacht auf die Toilette. Außerdem
wird es Zeit für mich. Ich fahre nicht gerne in der Dunkelheit.“
*
Pünktlich um acht Uhr, saß Isabel in der letzten Reihe des Hörsaals 212 und
beantwortete problemlos die Prüfungsfragen, des Fachbereichs Pädagogik. Gegen Mittag, gab sie elf handgeschriebene Seiten ab und verließ den Hörsaal in
Richtung Cafeteria. Die anderen aus der Gruppe saßen schon am Nischentisch
und redeten. „Hast du dies? Hast du das? Hast du jenes? Wie hast du dies? Wie
hast du das? Wie hast du jenes?“
Isabel nahm am Nachbartisch Platz und antwortete lustlos auf Agnes Frage:
„Wie war’s?“
„Gut“, antwortete sie, wandte sich ab und sah direkt in Hermanns Gesicht.
„Darf ich?“, fragte er und setzte sich ohne die Antwort abzuwarten.
„Ich muss die Prüfung verdauen“, sagte er und streichelte seinen Bart. „Du
siehst auch nicht gerade glücklich aus, Isabel?“
„Keine Spur. Ich bin genervt und würde am liebsten von hier verschwinden“,
stöhnte sie.
Hermann hörte aufmerksam hin, seine Augen funkelten. Isabel fühlte es, dies
war genau der Augenblick, auf den es ankommt! Sie durfte jetzt keinen Fehler
machen. Bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, hörte sie ihre fragende
Stimme: „Hast du Lust, mit mir in den Schwarzwald zum Schaukeln zu kommen?“
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Hermann zögerte keine Sekunde, stellte die Kaffeetasse auf den Plastiktisch,
schulterte den Rucksack und antwortete bereits im Stehen: „Lass uns gehen.“
Ihr Wagen parkte auf dem großen Platz. Der Himmel hing schwer wie ein nasser Sack über den Bergen. Die Luft roch feucht.
Hermann ließ sich auf den Beifahrersitz fallen. „Geschafft“, entspannte er sich,
froh darüber, die PH, die Stadt und die Menschen, für eine Zeit hinter sich lassen zu können.
Isabel nahm die kürzeste Strecke zur Wohnung nach Burg-Höfen und fuhr über
Kappel. Die kürzeste Strecke war eindeutig schöner, doch Hermann interessierte sich nicht für die Landschaft. Seine langen Beine lagen auf der Ablage,
die Fußspitzen berührten die Fensterscheibe. Er blätterte in ihrem Referat über
die Onanie, dass auf der Rückbank gelegen, und dass sie eine Woche zuvor in
Moraltheologie gehalten hatte, las aufmerksam und schwieg.
Sie konnte unmöglich erahnen was er dachte. Sie fuhr langsamer, die Straße
schlängelte über das Bahngleis hinüber, durch den Ort Kirchzarten hindurch
und wieder hinaus. Nach zwei Kilometern parkte sie den Wagen am Jägerzaun,
holte den Hausschlüssel aus der bunten Umhängetasche und lief durch den Regen zur Eingangstür.
„Trinken wir Tee, bevor wir schaukeln gehen?“, fragte Isabel.
Hermann trank keinen Tee, doch das sagte er nicht. So war das also mit den
Frauen aus dem Norden. Er kam aus einer Kleinstadt, an der Grenze zur
Schweiz und dort wurde Kaffee getrunken.
Im Apartment waren die Wände mit Sackleinen bespannt, schwarze Polsternägel hielten die ungewöhnliche Tapete. An der rechten Wand lehnte ein Bücherregal, das aussah, wie eine schiefe Kirche. Vor dem Fenster stand der Schreibtisch, auf der linken Seite lag eine Matratze und das zusammengerollte Bettzeug
diente als Rückenlehne.
Ihm fiel eine Collage an der Trennwand zwischen Küche und Zimmer auf.
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Oben stand in schwarzen Buchstaben „men - women“ geschrieben. Auf der einen Seite klebten Fotografien von Männern, auf der anderen Seite von Frauen.
Er erkannte Isabel, Clarissa und Agnes, sonst kannte er niemanden. Die Collage
war in der Mitte zerrissen.
Hermann setzte sich auf die mit braunem Feinkord bezogenen Schaumgummikissen und suchte eine bequeme Position. Isabel erklärte, dass es draußen noch
so hässlich sei und wie trostlos der März noch wirkte und ließ die Rollläden
herunter. Sie zündete Kerzen an, drehte die Platte herum und verschwand in der
abgetrennten Kochnische, froh, einen Moment alleine sein zu können.
„Fühlst du dich wohl“, fragte sie aus der Küche heraus, die keine richtige Küche
war, sondern viel eher ein dunkler Kasten mit Durchreiche, vor der jetzt die
Collage hing.
„Ja, danke“, hörte sie seine angenehme Stimme.
„Darf ich dich etwas fragen, Isabel? Warum hast du das Bild zerrissen?“
„Aus Erfahrungen mit Männern und Frauen“, erklärte sie und stellte die Teekanne auf den niedrigen Tisch.
„Ich bin auf der Suche nach Menschen.“
„Dein Referat ist ganz schön aufklärerisch. Ich habe noch gelernt, dass man
vom Onanieren Rückenmarksschwund bekommt. Du nennst die Dinge beim
Namen“, wunderte sich Hermann. „Ich gebe zu, das habe ich nicht erwartet.“
Isabel lachte zum ersten Mal. „Es war interessant darüber zu recherchieren, zu
schreiben und zu referieren. Ich bin aufklärerisch und nicht prüde. Der Professor war schockiert und einige Studienkollegen bemühten sich, mich als unmoralisch hinzustellen. Die meisten katholischen Studentinnen onanieren nicht.“
Sie sah ihn an und trank einen Schluck vom heißen Ostfriesentee.
„Und du? Wie war das bei dir?“, fragte Hermann mutig geworden. Sein Interesse war geweckt und seine Neugierde echt.
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„Ich habe viel onaniert als ich ein Kind war“, antwortete Isabel. „Vor dem Einschlafen und nach dem Aufwachen. Frag mich, warum? Es hat mich entspannt
und beruhigt, außerdem konnte ich hinterher schnell und gut einschlafen. Es
gibt allerdings auch eine andere Seite. Mein Vater stürzt früh morgens in mein
Zimmer. Ich liege noch im Gitterbett und bin ungefähr drei Jahre alt. Er ist wütend, bindet seine Krawatte ab und fesselt meine Hände an den Gitterstäben. Er
schlägt das Deckbett zurück, öffnet die Tür zum Balkon und geht ohne ein Wort
zu sagen. Es ist Winter und ich friere. Es dauert lange bis meine Mutter mich
losbindet und zudeckt. Sie ist böse und sagt streng: „Das kommt davon. So etwas tut ein braves Mädchen nicht.“
„Was hast du für einen Vater?“, erschrak Hermann. „Bei mir war es nur die
Angst davor, meine Mutter könnte Spermaflecken auf dem Laken finden.“
„Wir sind ganz schön verklemmt aufgewachsen“, spaßte Isabel und sah durch
die Rollläden. „Es regnet nicht mehr. Ich habe Lust jetzt schaukeln zu gehen.
Die frische Luft wird uns gut tun.“
Der Spielplatz lag versteckt hinter Bäumen und Sträuchern. Eine wackelige
Holzbrücke führte über den Bachlauf zum Gelände.
Isabel lief direkt zur Schaukel und drückte sich mit den Füßen ab, lehnte sich
weit nach hinten zurück, hielt sich an den Ketten fest, streckte die Beine in die
Höhe, zog Knie und Füße an, nahm den Schwung mit und legte sich in ihn hinein. Höher schwingen, die Luft verdrängen, durch sie hindurch sausen, bis die
Schaukel vibriert und dann ausschwingen lassen. Isabel überließ sich der Bewegung und blickte in den verhangenen Himmel. Nieseltropfen kitzelten ihr
Gesicht.
Hermann eilte zur Baumgruppe und fand Schutz unter dichtem Astwerk. Er
blickte auf ein Klettergerüst, eine Wippe und auf den Sandboden, der nach tagelangem Regen, feucht und aufgeweicht war. Die Stille des Augenblicks, tröstete
ihn. Isabel sprang von der Schaukel.
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„Gehen wir noch ein Stück oder schlagen wir Wurzeln?“, fragte sie keck.
Hermann saß wie ein Fakir auf dem umgekippten Baumstamm und lachte ein
befreites Lachen. Die beiden liefen Hand über den matschigen Feldweg, am
Waldrand entlang, bis zum Kegelschein einer Straßenlaterne.
„Wenn ich dich nach Hause bringen soll, musst du es nur sagen“, meinte Isabel
und wollte höflich sein.
„Lass mich bei dir bleiben“, erschrak Hermann beim Gedanken, nicht neben
Isabel einschlafen und aufwachen zu dürfen.“
Es regnete in Strömen. Sie hielten sich an den Händen und beeilten sich, ins
Apartment zurück zu kommen. Isabel holte Handtücher aus dem Bad, reichte
Hermann das rote und schlang sich das blaue um den Kopf, bevor sie Pfefferminztee kochte und den kleinen Tisch neben das Bett stellte.
Sie zogen sich bis auf die Unterhosen aus und kuschelte sich unter die Bettdecke. „Möchtest du ein Gedicht von mir hören?“, fragte sie als er neben ihr saß.
„Ja, gerne!“, staunte Hermann. „Ich wusste nicht, dass du Gedichte schreibst?“
„Tagebuch und Gedichte“, antwortete sie und las ihm eins nach dem anderen
vor. Hermann hörte fasziniert zu und wusste, dass er gleich am nächsten Tag
mit dem Tagebuch und Gedichte schreiben beginnen würde, und dass er jetzt
noch nicht mit Isabel schlafen wollte. Er wünschte ihr eine gute Nacht und
drehte sich auf seine Schlafseite, ohne sie zu berühren.
„Ich fühle mich wie im Kloster“, rutschte Isabel der Satz heraus, wofür sie sich
gleich danach hätte die Zunge abbeißen können.
„Das macht nichts“, antwortete Hermann, bevor er einfach einschlief.
Isabel lag wach, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und versuchte
krampfhaft die Frage zu beantworten, warum Hermann nicht mit ihr „vögeln“
wollte? Sie war wirklich bemüht, die Augen offen zu halten und sich gegen den
Schlaf zu wehren, dabei beruhigten sich ihre Gedanke, sie hatten Zeit und es
gab keinen Grund, etwas zu überstürzen.
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Das Aufwachen war schrill wie der Wecker. Hermann ließ sich nicht stören.
Isabel musste sich beeilen, Katzenwäsche, zu mehr reichte die Zeit nicht. Jeans,
Baumwollunterhemd, Flickenpulli, ein paar schnelle Bürstenstriche durch das
zerzauste Haar, die Tasche, die Schlüssel, ein Blick aufs Bett, fertig.
Hermann schlief ungerührt weiter.
„Hoffentlich“, dachte sie. „Hoffentlich ist er noch da, wenn ich zurückkomme.“
Sie schloss leise die Tür. Draußen war es noch dunkel. Der Renault 5 sprang
sofort an.
Als sie in Alfs Zimmer trat, waren schon alle von der Arbeitsgruppe für die
Deutschprüfung anwesend.
Neben Agnes auf dem Bett, gab es noch einen freien Platz.
„Ist er gut?“, fragte die neugierig.
Isabel wusste nicht gleich was Agnes meinte.
„Ist was mit Hermann gelaufen? Hat er bei dir übernachtet? Habt ihr miteinander geschlafen? Mach es doch nicht so spannend, Isabel“, drängelte sie.
„Lass mich bloß in Ruhe“, wehrte sie ihre Neugierde ab.
„Was ist los? Du hast wohl zu wenig Schlaf bekommen?“, tuschelte Agnes und
zog Isabel am Ärmel näher zu sich heran. „Ist er gut im Bett?“
„Das geht dich nichts an“, zischte Isabel genervt.
„Puh, dich hat es aber erwischt“, lachte Agnes und setzte ihren schönsten
Schmollmund auf.
Alfred schaute die beiden mit strengem Blick an. Er übte schon mal und ließ
den Pädagogen heraushängen, den gestrengen Lehrer.
„Das ist mir heute Morgen einfach zu viel“, stöhnte Isabel. „Das geht gar
nicht.“
„Unser letztes Treffen vor der Deutschklausur ist wichtig“, protestierte Agnes.
Wir wollen noch einmal alles wiederholen“, warnte sie. „Du musst wissen was
du tust?“, empörte sie sich über Isabels Eigensinn.
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Die packte ihre Sachen und verschwand eilig. Sie fluchte und nahm zwei Treppenstufen auf einmal, stemmte sich gegen die schwere Eingangstür und drückte
sie mit dem ganzen Körpergewicht auf, stöhnend. Zwei ältere Frauen sahen sich
nach ihr um und schüttelten missbilligend ihre Köpfe über die jungen Frauen
von heute. Isabel hatte keine Lust sich provozieren zu lassen, kaufte beim Bäcker an der Ecke Brötchen, Butter und Marmelade ein, in der Hoffnung, Hermann möge noch schlafen, und genauso war es auch.
Er lag auf dem Rücken, die linke Hand unter den Kopf geklemmt und das Gesicht zur Wand gedreht. Isabel setzte Wasser auf, holte zwei Teller, Tassen und
Besteck aus den Regalen, die sie aus Obstkästen gebaut hatte und stellte alles
auf den kleinen Tisch.
Hermann regte sich und öffnete die Augen, als er den Duft warmer Brötchen
roch. Er klopfte und knetete die Kopfkissen hinter seinem Rücken zusammen
und schnitt das Laugenbrötchen in zwei Hälften. Er schmierte Butter und Honig
darauf und biss ab.
Isabel hockte sich im Schneidersitz an den Tisch, betrachtete seinen dreifarbigen, rotbraun mit grau gesprenkelten Bart, die kahle Stirn und die, wie Sauerkraut abstehenden, langen Haare. Ihr Blick streifte seine nackten Schultern. Sie
hätte ihn gerne berührt.
„Wann ist deine nächste schriftliche Prüfung?“, fragte Hermann und störte ihre
zärtliche Phantasie.
„In drei Tagen.“
„Sag mir, wenn ich gehen soll“, missverstand er ihre Unlust. „Du wolltest mich
ja gestern Nacht schon loswerden. Wie spät ist es eigentlich? Ich habe um ein
Uhr eine Verabredung mit meinen Sohn in der Kita. Ich koche für zwanzig Kinder und hinterher spielen wir noch was zusammen.“ Seine Stimme klang weich
und zärtlich.
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„Ich liebe meinen Sohn und bin gerne mit ihm zusammen“, sagte er und seine
Sonnenblumenaugen lachten sie an.
Isabel schluckte. „Es ist kurz nach elf.“
„Oh, da muss ich mich beeilen. Ich will Leon nicht warten lassen.“
„Ich fahre dich nach Freiburg, dann kannst du in Ruhe zu Ende frühstücken.“
Hermann freute sich und lehnte sich wieder entspannt ins weiche Kissen zurück, während Nina Simone: „Here comes the sun“, sang.
Eine Stunde später parkte sie den Wagen vor dem Haus in der Zasiusstraße.
Hermann legte freundschaftlich seinen Arm um ihre Schultern, küsste sie auf
die Wangen, stieg aus und winkte zum Abschied, bevor er im Hauseingang verschwand.
Isabel ließ sich Zeit für die Rückfahrt und kurbelte das Seitenfenster herunter.
Sie konnte den Frühling riechen und fühlte sich echt und nicht verloren, wie
meistens nach einer Nacht mit einem fremden Mann. Mit Hermann war es anders. Er war ihr nah, vertraut, machte ihr keine Angst. Sie hatte keine Ahnung,
warum sie sich harmonisch fühlte. Zeit spielte keine Rolle. Sie mussten nichts
überstürzen. Von einem zum anderen Augenblick war nichts mehr wie vorher.
Als sie die Tür zur Wohnung hinter sich schloss, setzte sie sich zielstrebig an
den Schreibtisch und versuchte zu lernen. Die Worte tanzten vor ihren Augen.
Sie konnte sie nicht einfangen, verstand nichts und las trotzdem weiter. Alles
war wichtig, alles war zu viel. Die Kinder des Nachbarn klopften ans Fenster.
Sie winkte freundlich und versuchte sich auf die handgeschriebenen Seiten zu
konzentrieren. Innere Unruhe trieb sie durchs Zimmer. Sie machte die Musik
lauter, cremte sich im Bad das Gesicht ein, las erneut den Aufsatz, sprang wieder auf, machte die Musik leiser, füllte den Wasserkessel und öffnete den Kühlschrank. Der war leer. Sie warf sich aufs Bett und weinte, konnte der Enge in
sich und um sich herum nicht entfliehen.
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Am späten Nachmittag gab sie resigniert auf, packte T-Shirt und Kulturbeutel in
die Tasche, zog den Poncho aus Mexiko über, steckte Portemonnaie und Tabak
in die kleine Schultertasche und folgte ihren Gefühlen. Sie fuhr nach Heidelberg, um Joey zu besuchen. Er war ihr Freund geblieben, selbst nachdem ihre
Liebesbeziehung zerbrochen war. Sie wollte zu ihm, ohne zu wissen warum?
Drei Stunden später stand sie vor seiner Tür. Michael, sein Wohngemeinschaftskollege ließ sie herein, begrüßte sie wie eine alte Bekannte und plauderte
mit ihr. Joey kam kurz nach Mitternacht zurück. Micha ließ sie alleine.
„Du kommst unangemeldet, was ist los?“, fragte er ohne Umschweife.
„Ich habe einen Mann kennengelernt“, antwortete sie und setzte sich auf ein altertümliches Sofa, mit hohen Rückenlehnen und abgewetztem rotem Samtbezug.
Joey ließ sich neben sie fallen. Er roch nach Bier und begrabschte sie unvermittelt. „Hat es Spass gemacht?“, grinste er und verstand ihren entsetzten Blick
völlig falsch. „Aber dir macht es ja keinen Spass, im Gegensatz zu mir. Ich treibe es am liebsten mit Jungfrauen. Frag mich nicht warum, jedenfalls turnt es
mich an“, stotterte er gekonnt über seinen Sprachfehler hinweg.
„Du bist betrunken.“
„Ja und?“ Seine Hand glitt an ihrem Schenkel empor. „Ich habe schon ein paar
Tage nicht mehr. Wir könnten doch wieder mal. Schließlich habe ich dich entjungfert und gewisse Vorrechte. So schlecht war es doch gar nicht mit uns“,
nahm er ihre Hand und legte sie zwischen seine Beine.
„Lass das! Ich will das nicht, deshalb bin ich nicht hergekommen“, zog sie ihre
Hand zurück.
„Weshalb dann? Sei nicht so prüde. Warum denn nicht? Du brauchst auch
nichts zu machen, wenn du nicht willst. Ich hätte Lust. Ich bin besser als früher.
Inzwischen habe ich eine Menge Erfahrungen gemacht. Ich bin ein guter Lieb-
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haber geworden. Nach dir hat sich jedenfalls keine mehr beschwert. Komm
schon, nur kurz.“
Seine Hände glitten wie Krakenarme über ihren Körper. Seine Nähe, sein Atem,
seine Fummelei weckten panische Gefühle. Sie schimpfte sich eine dumme
Gans, eine blöde Zicke, die sich früher auch nicht so zimperlich angestellt hatte,
doch bevor sie weiterdenken konnte, erschütterte ein Knall ihr Innerstes und rot
aufkeimende Wut brach aus ihr heraus, bedrohlich und aggressiv. „Hör auf!
Nimm deine Hände weg! Fass mich nicht an!“
Joey rückte erschrocken zur Seite. „Früher warst du anders. Was ist los mit
dir?“, fragte er, sah sie aus wässrigen Augen an und stand schwankend auf. „Du
kannst im Nebenzimmer schlafen“.
Isabel legte sich angekleidet aufs Bett und hörte gespannt auf jedes Geräusch.
Erst als sie Joeys Schnarchen vernahm, entspannte sie sich und dachte an Hermann. Mit ihm hatte sie das Gefühl, sie selbst zu sein, unverstellt und bereit,
sich zu verändern. Früher hätte sie Joey machen lassen und sich hinterher dreckig gefühlt.
Isabel schlief erschöpft ein und träumte.
Sie saß in einem klapperigen Bus, umgeben von Menschen, Hühnern, einem
quiekenden Ferkel und schreienden Kindern. Die Luft war beißend und stickig.
Im sengenden Sonnenlicht tanzten Staubwolken durch das Businnere. Alles war
grau um sie herum, die Straße, der Gehsteig, die lange Mauer, die Stadt, die
Menschen, der Himmel. Der Bus hielt an. Sie wartete bis alle ausgestiegen waren. Einen Augenaufschlag später, stand sie vor der Drehtür zur Eingangshalle
eines Flughafens. Ihr Rucksack war zu breit und passte nicht hindurch. Menschen rempelten sie an. Sie hörte wie ihr Flug aufgerufen wurde, schnallte den
Rucksack ab, versuchte ihn durch die Drehtür zu schieben und vernahm den
letzten Aufruf. „Passagiere zum Flugsteig sieben, bitte“, ein Windhauch ver-
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schluckte die weitere Ansage. Sie musste sich entscheiden, Rucksack oder Abflug und betrat, nur mit dem was sie auf dem Leib trug, das Flughafengebäude.
Sie wachte mit pochenden Schläfen auf und wusste nicht gleich, wo sie war?
Bücher stapelten sich auf dem Boden und vertrocknete Grünpflanzen ließen die
Blätter von der Fensterbank hängen.
Aus der Küche hörte sie Joeys stotternde und Michas überhebliche Stimmen.
Die Erinnerung schmeckte wie eine durchzechte Nacht, lag pelzig auf der Zunge und dröhnte im Kopf.
„Moin“, grummelte Isabel und setzte sich an den Küchentisch.
„Moin“, meinte Joey ohne aufzublicken.
„Was ist denn mit euch los?“, wollte Micha wissen.
„Vergiss sie“, winkte Joey ab. „Die zickt rum“, meinte er. „Bleibst du, oder
gehst du?“, fragte er kalt. „Ich muss zum Schulamt.“
„Wenn ich darüber nachdenke, bin ich schon weg“, schnappte Isabel ihre Tasche und winkte kühl zum Abschied.
Die Tachonadel zitterte bei 140 Stundenkilometern. Der Renault heulte auf.
Das mit Joey war endgültig vorbei. Es führte kein Weg zu ihm zurück. Sie fühlte sich frei und konnte die Ruhe vor dem Sturm fühlen. Es würde heftig werden.
Beklemmende Stille herrschte den ganzen Tag über, während sich ihr Kopf entweder wie in Watte gepackt oder wie unter Wasser getaucht anfühlte.
Sie schlief mit knurrendem Magen ein, träumte von Männern in grauen langen
Kutten, die wie Richter aussahen und ihr Fragen stellten, die sie nicht beantworten konnte. Jedenfalls brachte sie keinen Ton heraus.
Sie wachte morgens auf, duschte, trank eine Tasse Tee, aß einen Zwieback und
fuhr zur Pädagogischen Hochschule nach Littenweiler.
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Am Eingang zum großen Hörsaal warteten bereits zwei Aufseher. Der
Schlimmste von ihnen, Dr. Giesing, nahm den Studenten die Ausweise ab, überprüfte Fotos und Gesichter, wies ihnen Plätze zu und drohte jedem, der es
wagen sollte, zu betrügen, mit harten Strafen.
Sie nahm am Ende des Hörsaals Platz, legte Traubenzucker und Füller auf das
zerkratzte Holzpult und sah sich um. Zwischen ihr und den Nachbarn blieben
jeweils drei Plätze frei. Clarissa, Agnes, Ramona und die anderen, saßen weit
entfernt in den vordersten Reihen. Namen wurden in alphabetischer Reihenfolge aufgerufen. Studenten gingen herum und verteilten Prüfungsbögen.
Als sie ihren Name hörte, streckte sie den Arm in die Höhe, woraufhin eine Studentin die Treppe zu ihr empor lief und ihr einen weißen Umschlag überreichte,
ein kurzer Text, der Rest bestand aus Fragen.
Sie las die Kurzgeschichte und verstand nichts. Las sie noch einmal, diesmal
langsam, Satz für Satz, doch die Worte ergaben keinen Sinn. Sie schaute sich
die Fragen an ohne Antworten zu wissen, blickte auf die Armbanduhr und erkannte, dass bereits eine Stunde vergangen war. Sie drehte die Kappe ihres Füllfederhalters ab und schrieb ihren Namen oben rechts in die Ecke des Deckblattes.
„Lass dich nicht unterkriegen, du kannst es“, machte sie sich Mut und stachelte
sich an: „Interpretationen sind deine Stärke“, doch in ihrem Kopf bewegte sich
nichts. Manchmal blieben Wörter hängen, wie zum Beispiel „Gleichsetzungsakkusativ“, oder „modale Konjunktionen“, aber sie berührten sie nicht.
„Black out“ dachte sie. „So ist das also, so als hättest du noch nie in deinem
Leben, einen Satz gelesen. Es war sinnlos weiter zu machen.
Sie sah nach draußen. Studienkolleginnen liefen den schmalen Weg zur Straße
entlang, die Taschen unter den Arm geklemmt, in Gespräche vertieft.
Ein Spatz turnte vor dem großen Hörsaalfenster herum, machte allerlei Späße
und brachte sie zum Lachen - Galgenhumor.
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„Es gibt Schlimmeres“, redete sie sich ein.
Ein Student neben ihr flüsterte: „Brauchst du etwas?“
Sie schüttelte den Kopf und antwortete leise: „Danke nein, aber lieb, dass du
gefragt hast.“
Der Studienkollege schrieb erleichtert weiter. Sie durfte nicht aus dem Fenster
sehen, das war beunruhigend.
Isabel tat so als würde sie schreiben, malte Buchstaben und Wörter in die Luft,
setzte Punkte und Kommas. Wie absurd! Wozu das Theater? Warum stand sie
nicht einfach auf? Worauf wartete sie noch? Ein Student aus der ersten Reihe
erhob sich, stolzierte zum Pult, legte seine Prüfungsblätter auf den Tisch und
verließ den Hörsaal. Er triumphierte.
Isabel wartete noch zehn Minuten, dann nahm sie ihre Tasche. Die weißen Seiten wogen schwer in ihren Händen. Sie legte sie aufs Pult und verließ den Hörsaal. In ihrem Kopf hämmerte nur ein Gedanke: „Du kannst dich nicht betrügen,
du kannst dich nicht belügen, das ist vorbei.“
Es war noch niemand in der Cafeteria und sie setzte sich an den Tisch, an dem
sie Hermann gefragt hatte, ob er mit ihr in den Schwarzwald zum Schaukeln
fahren würde. Sie fühlte sich leer und abgeschnitten.
Agnes winkte ihr zu, groß, blond und x-beinig kam sie lachend näher, gut aussehend, intelligent und selbstzufrieden. Clarissa folgte ihr. Es fehlte nur noch
Ramona, um die Frauengruppe zu vervollständigen.
Hermann hatte ebenfalls versprochen, nach der Deutschklausur, in die Cafeteria
zu kommen.
„Hörst du nicht zu? Wie ist es bei dir gelaufen?“, fragte Agnes und funkelte mit
den Augen.
„Ich habe leere Blätter abgegeben“, sagte Isabel stumpf.
„Du doch nicht! Lass das!“, schimpfte Clarissa.
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„Es ist mir egal, was du hören willst, was du glaubst, denkst oder vermutest“,
zischte Isabel.
Hermann winkte ihr aus der Entfernung zu. Ein Bild aus ihrer Erinnerung
tauchte auf: Sie sah einen Mann, er stand in der Tür, in der Disco, auf einer
Wiese, eben überall dort, wo sie auch war. Sie hatte viele Male von ihm geträumt, doch nie sein Gesicht sehen können. Und genau das hatte ihr Sorgen
bereitet und Angst gemacht, die Vorstellung, den Mann ihrer Liebe, nicht erkennen zu können.
Hermann setzte sich neben sie auf die Plastikbank, begrüßte Clarissa und Agnes, die sofort ihr Geplauder beendeten und sich auf ihn konzentrierten. Clarissa
stellte eine Frage nach der anderen, zeigte ihr ganzes Interesse und gab sich informiert und beschwingt von ihrer eigenen Klugheit. Agnes kicherte wie ein
Teenager.
„Hast du Zeit, Hermann?“, fragte Isabel.
„Klar.“
„Was habt ihr vor?“, wollte Clarissa wissen.
Isabel überhörte die Frage und stand auf. Clarissa folgte Hermann, hängte sich
bei ihm ein und bat ihn, sie am Abend zu einem Fest zu begleitet. Agnes lief neben Isabel her. „Wo fahrt ihr hin? Kann ich mitkommen?“, wollte sie wissen.
„Nein, tut mir leid, heute nicht“, antwortete Isabel. Im Rückspiegel sah sie die
beiden Frauen kleiner werden. Sie kannten sich seit Beginn des Studiums, hatten eine Frauengruppe gegründet und trafen sich einmal in der Woche zum Diskutieren. „Wir emanzipieren uns“, dachte Isabel. Sie hatten den gleichen Männergeschmack, das machte es nicht leichter.
Die Sonne brach durch die Wolkendecke hindurch, die Luft roch nach Blumenknospen und Isabel erinnerte sich daran, dass sie leere Seiten abgegeben hatte
und sagte es Hermann.
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„Du schreibst die Arbeit noch einmal, das ist nicht schlimm“, meinte er nach
kurzem Zögern und schaute überrascht.
„Das glaube ich nicht. Es hat Bedeutung, hat Konsequenzen, etwas bewegt sich
in mir. Ich spüre und sehe mich. Ich nehme meine Umgebung wahr, erkenne
Verhaltensweisen, die ich früher nicht erkannt habe, und weiß, dass ich mich
ändern muss. Vorgestern zum Beispiel, bin ich zu meinem Verflossenen nach
Heidelberg gefahren, es war ein spontaner Besuch. Ich wusste nicht warum? Er
hat mich wie ein Stück Fleisch behandelt, er wollte mich fressen. Warum habe
ich das früher nicht bemerkt? Ich habe Angst vor der Wahrheit - und jetzt noch
leere Seiten abgegeben“, erschrak sie über die Wende in ihrem Leben und suchte nervös nach dem Haustürschlüssel. Im Flur roch es nach Kartoffeln und Rotkohl.
„Hermann“, sagte sie, während er die Fenster öffnete. Sie stand mitten im Zimmer, wie bestellt und nicht abgeholt, unfähig auch nur einen klaren Gedanken
zu fassen. Sonnenfluten kräuselten sich bis in die hinterste Ecke.
„Ich kann nicht mehr so weiter leben. Ich muss mich ändern und habe keine
Zeit mehr zu verlieren. Wie soll ich das machen? Ich weiß es nicht. Ich weiß
nicht was ich tun kann? Was ist richtig, was ist wichtig?“
„Mit dir würde ich gerne LSD nehmen“, meinte er völlig unvermittelt.
„Ich habe noch nie LSD genommen“, antwortete sie abweisend. „Als ich Joey
kennen lernte, ich war damals noch keine fünfzehn, er gerade achtzehn geworden, nahm er täglich ein bis zwei Trips. Ein Jahr später war er fertig, litt unter
Verfolgungswahn und lief orientierungslos durch die Straßen der Kleinstadt. Er
suchte sich und konnte sich nicht mehr finden. Nach dem Vorfall brauchte er
professionelle Hilfe und ließ sich für sechs Wochen, in eine psychosomatische
Klinik einweisen. Ich habe ihn jeden Tag besucht. Wir sind sehr viel spazieren
gegangen und haben geredet, über seine Kindheit, seine Ängste, darüber dass er
stottert und gerne malt.“
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„Ich habe erst einmal einen Trip genommen“, erzählte Hermann. „Es war
furchtbar. Wir waren eine Gruppe von acht Frauen und Männern. Am Anfang
war es amüsant, doch irgendwann schlug die Stimmung um und wurde aggressiv. Zum Schluss waren wir noch zu viert. Zwei Pärchen, Szilvia, Claudia, Herbert und ich. Szilvia und Herbert wollten zusammen vögeln. Sie gingen ins Nebenzimmer. Claudia und ich blieben alleine im Wohnzimmer. Wir versuchten
es auch, aber wir waren mit unseren Gedanken bei den beiden im Nebenzimmer. Danach habe ich geschworen, nie mehr einen LSD-Trip zu nehmen, aber
mit dir - mit dir wäre es sicher eine gute Erfahrung. Ich kann dir nicht genau sagen warum. Es ist eher ein Gefühl. Es ist schön hier in deiner Wohnung und
falls es zu eng wird, könnten wir nach draußen gehen. Es stimmt, LSD kann gefährlich werden, aber es kann auch bewusstseinserweiternd wirken. Die Schamanen benutzen die Lysergsäure in Zeremonien, für die Heilung von Kranken
und zum Gebet.“
„Mit dir könnte ich es mir auch vorstellen“, äußerte sie sich, ohne ihren Sinneswandel begründen zu wollen. Sie hatte Vertrauen zu ihm. „Mit dir klingt das
spannend. Ich wüsste gerne, was mein Bewusstsein ist, ob ich es auch erweitern
möchte, weiß ich nicht? Mir würde es schon reichen, zu begreifen, warum ich
bin, wie ich bin?“
„Im Ernst, du willst wirklich?“, fragte Hermann immer noch ungläubig.
„Doch ja, mit dir möchte ich das ausprobieren, Hermann. Was brauchen wir?
Gibt es Bedingungen?“
Er sah sie verwirrt an. „Daran habe ich gar nicht gedacht. Aber den Gedanken
finde ich gut. Ich denke darüber nach, während ich unterwegs bin.“
„Was, heute noch?“, rief sie erschrocken, um gleich hinterher zu sagen: „Pour
quoi pas? Heute oder morgen, was spielt das für eine Rolle. Dieser Tag ist so
sonderbar, es passt.“
„Kann ich deinen Wagen nehmen, dann geht es schneller?“
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„Ja klar.“ Sie kramte die Schlüssel aus der schwarzen Umhängetasche und gab
sie ihm. „Der kleine ist für den Wagen, der große für die Wohnungstür, dann
brauchst du später nicht zu klingeln.“
„Bis nachher“, rief er ihr zu. Die Wohnungstür fiel mit Schwung ins Schloss.
Isabel sah sich im Zimmer um, rollte das Federbett auf, legte eine braune Feincorddecke darüber und zog die Enden glatt. Sie trat ein paar Schritte zurück,
warf herbstfarbene Kissen auf das Bett und räumte den kleinen Tisch ab. Sie
brachte die Teetassen und Brotteller in die Küche, ließ Wasser ins Spülbecken
einlaufen und wusch das Geschirr.
Nachdem sie aufgeräumt hatte, zog sie sich nackt aus, verstaute die getragenen
Kleidungsstücke in einen geflochtenen Rattankorb und betrachtete sich im Badezimmerspiegel.
„Du hast heute Morgen die Deutschklausur vermasselt. Weißt du, was das bedeutet? Es ist soweit. Der Countdown läuft. Sei bereit. Du kennst das doch, die
Ruhe vor dem Sturm, das Black out vor der Erinnerung“, kräuselte Isabel die
Stirn, doch ihr Spiegelbild duldete keine Faxen.
Entschlossen nahm sie die Haarbürste, warf die lange brünette Mähne nach vorne auf die Brust, bürstete mit kräftigen Strichen von der Kopfhaut weg und
zählte bis einhundert. Sie schleuderte das Haar zurück. Es fiel wild auf die
Schultern. „Die Haare stehen dir zu Berge“, grinste ihr Spiegelbild frech. „Du
begreifst nicht, was heute Morgen passiert ist, stehst noch unter Schock und
hast versagt, aber das ist nicht das Schlimmste. Unverzeihlich ist, dass du es
provoziert und herbeigesehnt hast. Pass auf, dass du nicht untergehst. So stark
bist du nicht“, grüne Augen funkelten ihr aus dem Spiegel entgegen.
„Du willst, dass ich ausfällig werde, willst mich mit deiner Gemeinheit beeinflussen“, erwiderte Isabel erregt.
„Das ist typisch! Du schiebst mir die Schuld zu, unterstellst mir Böswilligkeit
und dabei habe ich nur gesagt, was du gedacht hast.“
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„Na und? Habe ich nicht versagt? Mir ist nichts eingefallen, gar nichts, überhaupt nichts. Ich kann froh sein, dass ich meinen Namen nicht vergessen habe.“
„So bist du“, entgegnete ihr Spiegelbild. „Du denkst nur bis zum Tellerrand,
fragst nicht, warum es so gekommen ist, hinterfragst nichts? Wage einen Versuch, nimm einen Trip, erweitere deinen Horizont und dein Bewusstsein, denn
auf mich hörst du ja doch nicht. Ich bin nicht deine Feindin. Ich bin die beste
Freundin, die du hast! Ich sage was ich denke und mache dir nichts vor! Doch
du kannst mir auch nichts vormachen. Versuche es gar nicht erst“, sprach sie zu
sich selbst.
Isabel schob die Tür der Duschkabine beiseite, stellte die richtige Wassertemperatur ein und überließ sich stöhnend dem heißen Wasser. Es floss über Schultern, Rücken und Po in die Fußwanne. Ihr Kreuz streckte sich den Wasserstrahlen entgegen. Die Tropfen lösten die Verspannungen. Sie konnte fühlen, dass
dies ein besonderer Tag war, ein Tag, an den sie sich ein Leben lang würde erinnern können und deshalb wollte sie besonders aufmerksam sein.
Gekonnt wickelte sie ein großes Badetuch über den Brüsten zusammen, schüttelte das feucht gewordene Haar hin und her und öffnete die Badezimmertür,
durch die kühle Luft eindrang. Sie lief in die Küche, stellte den Wasserkessel
auf und holte frische Wäsche aus der Korbtruhe. Die Wohnung war aufgeräumt,
sie war geduscht, der Tee gebrüht, Tassen, Milch und Kandis standen bereit und
das Kölner Klavierkonzert von Keith Jarrett klang leise aus den Lautsprecherboxen. Sie war bereit für ein Abenteuer, als sie den Haustürschlüssel und das
Zuschnappen der Eingangstür hörte.
Hermann hielt eine Tüte in der Hand und packte seine Schätze aus: Pfirsichsaft,
Äpfel, Bananen, Käse, Brot, Weintrauben. Sie brachten alles in die Küche.
„Wo hast du sie?“, fragte Isabel, die ihre Neugierde nicht verbergen konnte. Er
holte eine kleine Schachtel aus seiner Hosentasche und stellte sie auf den Tisch.
Es lagen zwei Pillen darin. Sie sah ihn enttäuscht an. Er lächelte und schien ihre
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Gedanken zu erraten. „Die sehen nur so klein aus. Wir teilen uns einen Trip, das
reicht. Was meinst du?“
„Das beruhigt mich. Du musst wissen, dass ich normalerweise überhaupt keine
Tabletten nehme. Ich habe schlechte Erfahrungen damit gemacht, ich war noch
ein Kind ...- aber lassen wir das, jetzt ist nicht früher.“
Hermann zerteilte die millimetergroße Pille mit einem scharfen Messer. Die eine Hälfte zerbrach in kleine Brösel. Er reichte ihr den unzerbrochenen Teil. Sie
schluckte ihn mit Tee herunter. Hermann leckte die Krümel von seiner Handfläche. Sie warteten. Isabel fühlte in sich hinein, alles blieb ruhig, nur ihr Herz
klopfte leise vor Aufregung. Hermann drehte sich eine Zigarette. Er hatte schöne Hände. Er schaute auf und sah ihr ins Gesicht. „Hast du etwas gesagt?“, fragte er und zündete die Zigarette an.
„Nein. Ich fühle nichts.“
„Etwas Geduld, bitte, so schnell geht das nicht.“
Noch während er das sagte, tanzten Lichterketten um sie herum, wunderschöne
Welt, farbig und bunt, gespiegelte Phantasie, nur das Tempo war zu schnell, wie
auf einem Karussell.
„Isabel“, hörte sie eine Stimme. „Was hast du?“
Sie schaffte es mit Anstrengung, die Augen zu öffnen. „Bleibt das die ganze
Zeit so? Dauert das lange? Es ist so intensiv.“ Sie berührte ihren Unterarm,
meinte die Schwingungen der Härchen sehen zu können. Alles was sie betrachtete wurde lebendig. Sie rutschte durch eine verborgene Falltür in die Tiefe, lief
einen endlosen Gang entlang, alle Türen sahen gleich aus. Neonröhren warfen
unwirtliches Licht. Kälte in blau. Sie blieb vor einer Tür stehen und zog einen
Schlüssel aus der Hosentasche. Er passte nicht. Sie ging weiter, ließ sich treiben, durch enge Flure, vielleicht gab es Zeichen, Hinweise, oder Erinnerungen
an das, was ihr wie das Nichts erschien.
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„Isabel“, hörte sie. „Hab keine Angst. Du bist nicht alleine. Mach die Augen auf
und sieh mich an, bitte! Möchtest du Pfirsichsaft trinken?“, fragte Hermann.
„Ja, gerne“, reagierte sie und öffnete die Augen. „Wie geht es dir?“, wollte sie
wissen.
„Ich fühle mich leicht. Mach dir keine Sorgen um mich. Ich habe keine Probleme.“
„Ich schon. Ich muss da entlang, wo die Angst ist. Lass mich nicht alleine, alleine wäre es mir zu heftig. Es ist gut, dass du da bist. Ich habe das Gefühl, du
passt auf mich auf, du kümmerst dich, du fühlst, wenn ich Hilfe brauche. Es ist
anstrengend. Wie lange wird es dauern?“
„Wir haben nicht sehr viel genommen. Ungefähr acht Stunden, schätze ich.
„Puh“, stöhnte sie, „so lange?“
„Ich lasse dich bestimmt nicht alleine und im Laufe der Zeit wird die Wirkung
schwächer. Es bleibt nicht anstrengend und schwer, bestimmt nicht, nicht die
ganze Zeit.“ Seine Stimme drang aus weiter Ferne in ihr Bewusstsein. Sie stand
in einem großen kühlen Raum. Die Mauern waren weiß getüncht, der Boden
schwankte, die Wände kamen auf sie zu und sie verlor das Gleichgewicht.
„Wenn du nicht ersticken willst, musst du den Ausweg finden“, hämmerte es in
ihr, rief ihr eine vertraute Stimme zu. „Du musst aufstehen!“ Sie stemmte die
Handflächen auf den Boden, breitbeinig, wie auf einem schwankenden Schiff,
die Arme ausgestreckt, balancierte sie Schritt für Schritt zur Tür. In dem Augenblick, als sie die Türklinke in die Hand nahm, hörte das Schwanken auf, die
Wände standen still und nichts bewegte sich mehr. Sie wollte heraus aus der
Enge und erinnerte sich an den Schlüssel in ihrer Tasche. Die Tür sprang auf.
Eiseskälte zog durch den geöffneten Türschlitz. „Geh nicht rein, jetzt ist nicht
der richtige Zeitpunkt“, warnte die innere Stimme.
„Was soll das? Gibt es etwas Schrecklicheres als das Nichts?“
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„Wenn du jetzt durch diese Tür gehst, bist du verloren, dann kann dir niemand
mehr helfen. Ich meine es ernst, Isabel, ich habe dich nie belogen, aber du darfst
jetzt nicht durch diese Tür gehen.“
„Warum nicht? Du liegst mir seit Jahren in den Ohren, sagst mir, dass ich mich
belüge, nicht ehrlich zu mir bin, und dass ich meine Abgründe verdränge. Ich
will es wissen, auf der Stelle! Erkläre mir was los ist und was nicht mit mir
stimmt, sonst gehe ich durch die Tür. Ich bin neugierig.“
„Was denkst du, warum diese Tür seit 15 Jahren verschlossen ist? Was meinst
du, wo du hier bist und was dich erwartet? Neugierde, meine Liebe, ist in dieser
Situation, wirklich kein guter Ratgeber. Glaube mir und nicht deiner Neugierde!“
„Du machst mir Angst! Warum tust du das? Was kann so schlimm sein, dass
ich nicht einmal einen Blick darauf werfen darf?“
„Wenn ich dir sage, dass es bald soweit sein wird, und dass ich wirklich froh
darüber bin, glaubst du mir das? Vertraust du mir? Ich bitte dich, nur noch ein
paar Tage zu warten, weil es das Beste für dich ist? Ich weiß, ich habe gedrängelt, dich immer wieder einen Feigling geschimpft, weil du einfach nicht wissen
wolltest, woher dein Schmerz, deine Verzweiflung und deine Lebensangst
kommen. Wenn du unter LSD, du erinnerst dich, du hast LSD genommen, also
wenn du die Tür jetzt öffnest, wirst du das, was du siehst, nicht ertragen.“
Isabel sah ihr Spiegelbild. Ein Blick genügte. Sie stieß die Tür mit dem Fuß zu
und drehte den Schlüssel zweimal herum. Der Raum veränderte sich. Ein
schwerer Sessel stand mitten im Zimmer, groß wie ein Ballsaal, die Wände waren mit rotem Samt bespannt, ein Kronleuchter hing unter der Decke und beleuchtete ein Labyrinth aus Türen. Sie musste sich entscheiden, wollte nicht in
der Gruft bleiben, im ausgeschmückten Käfig, dem Gefängnis und Vorraum zur
Hölle ihrer Erinnerung. Sie öffnete die nächstliegende Tür und stolperte fast
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über Hermann, der im Schneidersitz auf dem Boden saß und mit gesenktem
Kopf aussah, als würde er nachdenken.
Isabel hatte jedes Zeitgefühl verloren. Draußen war es dunkel geworden, die
Kerzen abgebrannt, die Lampe auf dem Schreibtisch warf einen kreisrunden
Lichtkegel. Sie stand auf und war froh darüber, dass sich nichts mehr bewegte,
was sonst fest war. Die Wände blieben an ihrem Platz und der Boden hatte aufgehört zu schwanken. Sie öffnete das Fenster und ließ die Nachtluft herein,
schaltete das Licht hinter der Kompaktanlage an und drehte die Platte um. Sie
fühlte sich besser und kniete vor Hermann nieder. Er bewegte sich nicht. Sie berührte seine Schulter. Ein elektrischer Schlag traf sie unerwartet und sie fuhr erschrocken zusammen. Hermann hob erstaunt den Kopf und war erleichtert sie
zu sehen.
„Du warst aber weit weg. Hast du auch Hunger?“, fragte sie und schob sich eine
Weintraube in den Mund. „Wie das schmeckt!“ Der Saft spritzte zwischen den
Zähnen hindurch. „Möchtest du?“, fragte sie mit dieser Stimme, die einfach
durch und durch ging, tief, melodisch, warm. Sie schnitt ein Stück vom Emmentaler Käse ab und reichte es Hermann. Was wusste sie von ihm? Er hatte
eine Tochter und einen Sohn, lebte von Frau und Kindern getrennt, war ein zärtlicher Mann, wie ihr eine Freundin von ihm erzählte und störte sich nicht an
Äußerlichkeiten. Er war politisch aktiv, ein Sponti, immer umgeben von Frauen
und Männern, mit denen er Aktionen plante und durchführte, war älter als sie,
hatte einen Namen, Feinde und tanzte gern.
Er wirkte müde, erschöpft und einsam und das passte überhaupt nicht in ihr
Bild von ihm.
„Ich war zwei Jahre bei der Bundeswehr“, erzählte er. „Ich hatte mich verpflichtet, weil ich von zu Hause weg wollte. Mein Vater und ich stritten zu viel,
die Auseinandersetzungen wurden härter, einmal standen wir voreinander und
er schlug mir ins Gesicht. Ich war größer als er, und ich wusste, wenn ich nicht
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weggehe, schlage ich eines Tages zurück. Er wollte, dass ich in die Schweiz
ziehe, damit ich nicht zur Bundeswehr muss. Ich habe mich gegen seinen Willen für zwei Jahre verpflichtet. 1966 kam ich nach Achern, zu einem Transportbataillon. Ich stand noch keine fünf Minuten auf dem Appellplatz, da wusste ich
schon, dass ich einen großen Fehler gemacht hatte.
Keine fünf Minuten“, erinnerte er sich. „Ich stand auf dem Platz und rauchte
eine Zigarette, dabei fühlte ich mich erwachsen. Immerhin, ich hatte alleine entschieden. Da kam der Feldwebel auf mich zu, baute sich vor mir auf und brüllte: „Nehmen sie die Zigarette aus dem Mund! Sie sind hier in der Kaserne!“
Isabel bekam eine Gänsehaut. Hermanns Stimme klang wie auf dem Exerzierplatz. Was für ein Ton? Wie redeten die miteinander?
„Ich warf die Zigarette erschrocken weg“, erzählte Hermann weiter. „Da schrie
er mich gleich wieder an, wie ich es wagen könnte, die Kippe auf den Boden zu
schmeißen, und er würde den Zivilisten und Bürger in mir schon rausprügeln
und aus mir einen richtigen Soldaten machen. Ich habe erfahren, gerade in den
ersten drei Monaten der Grundausbildung, wie grausam es ist, Menschen hassend zu machen. Dazu braucht es Erniedrigung, Gehorsam, Ohnmacht und
selbst erfahrene Ungerechtigkeit. Durch das ständige angeschrien werden, durch
die Missachtung deiner Persönlichkeit, gelangst du unweigerlich an deine Abgründe und der Alkohol fördert die bedingungslose Niederlage, die Kapitulation
vor der Übermacht.“ Er stand auf und lief durch das Zimmer.
Sie betrachtet ihn in voller Größe. Seine graue Kordhose schlabberte weit an
seinem schmalen Körper. Der burgunderrote Nickipullover war eingelaufen und
viel zu kurz an den Armen. Das schulterlange, lockige Haar stand wild von seinem Kopf ab. Er sah aus wie ein Philosoph, nicht wie ein Soldat, stellte sie erleichtert fest. Vogelgezwitscher drang durch die geschlossenen Fenster. Der
LSD-Trip hatte seine Wirkung verloren und Nüchternheit kehrte ein. „Ich bin
müde“, sagte Hermann.
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„Erschöpft“, meinte sie.
„Ich fühle mich, als hätte ich tagelang Steine geschleppt.“
Sie legten sich hin und löschten die Kerzen. Isabel streichelte die Dunkelheit
von seinen Schultern, tröstete den traurigen Krieger und war zärtlich, ohne zu
fordern. Sie lagen eine Weile so da und schliefen Seite an Seite ein. Hermann
blieb übers Wochenende.
Am Nachmittag wanderten sie in die Berge, tranken Kaffee in einem alten Kloster, das zu einem Restaurant umgebaut worden war und aßen Schwarzwälderkirschtorte. Später saßen sie in ihrem Zimmer. Hermann las „Steppenwolf“ von
Hermann Hesse und sie „Tochter aus gutem Hause“ von Simone de Beauvoir.
Nachts fuhren sie auf den Schauinsland und warteten bis die Sonne aufging.
Isabel fühlte sich verändert seitdem Hermann an ihrer Seite war. Stärker, offener, auf eine Weise bereit das Kommende anzunehmen, und er nannte sie Mariposa, bunter Schmetterling.
*
Am Montag erwartete Isabel die Therapeutin im Institut für Psychologie. Das
Dachzimmer war klein und eng, zwei alte Ohrensessel und ein ovaler Tisch aus
Mahagoni hatten gerade Platz. Verena stand am Fensterbrett und drehte sich zu
ihr herum. Sie sah müde aus. Seitdem sie sich von ihrem Mann getrennt hatte,
weil sie ihn liebte, wie sie betonte, weinte sie viel. „Trauerarbeit“, nannte sie
das.
„Guten Tag, Isabel“, sagte sie heiser und reichte ihr die Hand. Setz dich, wir
fangen gleich an.“ Sie wies auf den Sessel in der linken Ecke, der war grün gepolstert und die Sprungfedern quietschten müde und gaben widerstandslos nach.
Isabel hatte das Gefühl tief einzusinken.
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„Schließ die Augen“, forderte Verena sie auf. „Wende deinen Blick nach innen.
Lass dich fallen. Erzähle mir, was du siehst.“
Isabel sah Farben, rot, grün, gelb, dann einen schwarzen Fleck. „Auf meiner
Seele ist ein schwarzer Fleck“, meinte sie traurig.
„Sieh ihn dir genauer an, Isabel“, hörte sie die Therapeutin sagen.
Sie sah ein kleines Mädchen, höchstens drei Jahre alt. Es kreischte. „Papa au,
Papa au“, und stampfte mit den Beinen auf den Küchenfußboden. „Papa au,
Papa au“, schrie das Kind und fuchtelte wild mit den Armen hin und her. Sie
war das Kind. Sie war zu Hause in der Küche ihrer Mutter. Die schälte Kartoffeln.
„Papa au“, flehte Isabel, doch die Mama beachtete sie nicht und kam nicht zu
ihr, um sie zu trösten.
„Papa au, Papa au“, weinte Isabel. Ihr kleiner Körper zitterte. Blitzschnell richtete sich der gebückte Rücken der Mutter auf, das Schälmesser samt Kartoffel
fiel auf die Arbeitsfläche, vier Schritte und die Mama stand bedrohlich vor ihr.
„Papa au, Papa au“, äffte die Mutter sie nach und ihr Blick traf auf Isabels Verzweiflung.
„Heute Abend erzähle ich dem Papa, was für ein unartiges Mädchen du bist.
Dann hast du allen Grund, Papa au, Papa au, zu schreien“, schimpfte die Mutter, packte Isabel am Oberarm und schubste sie zur Küchentür hinaus, in den
Flur. „Warte nur, wenn ich das dem Papa heute Abend erzähle“, drohte sie und
die Tür flog mit einem lauten Knall ins Schloss.
Isabel stand im Flur. Sie schrie nicht und wollte ganz lieb sein, ein braves Mädchen. Die Mutter verstand sie nur nicht und dabei kannte sie schon viele Wörter: Mama, Papa, Sonne, Mond und Sterne, Vogel, Baum, Haus, doch das reichte nicht aus. Bum, bum, bum, machte ihr Kopf. Bums, bums, bums, schlug der
Kopf gegen die Tür. Es war alles ihre Schuld. Sie musste schneller sprechen ler-
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nen. Bum, immer auf die gleiche Stelle, es tat gar nicht weh. Sie stand mit dem
Rücken zur Tür. Bums, bis sie nichts mehr fühlte.
Jan, ihr kleiner Hund, lag zusammengekauert in der Ecke. Seine Hundeaugen
sahen sie entsetzt an, er jaulte. Sie rutsche an der Wand herunter, kauerte sich
zu ihm, ganz nah, streichelte sein weiches Fell. Er tröstete sie und leckte mit
seiner weichen Zunge, Träne für Träne ab.
Die Tür wurde aufgerissen. Jan zog den Kopf ein, zu spät, ein Fußtritt traf ihn
und er jaulte. Die Mutter zerrte Isabel an den Haaren hoch. „Das ist widerlich“,
ekelte sie sich. „Er soll das Vieh erschießen! Du kriegst Würmer, wenn er dich
so ableckt! Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du nicht so nah an den Köter
heran gehen sollst. Ich will, dass der Hund verschwindet“, zog sie Isabel zur
Toilette im Flur und schrubbte ihr Gesicht mit einem Waschlappen. „Genug“,
stöhnte die Mama und beruhigte sich. Sie schubste Isabel vor sich her in die
Küche. Jan zitterte in seiner Ecke. Er lag klein und ängstlich auf seiner Decke.
Isabel liebte ihn und wollte ihn vor den Fußtritten der Mutter beschützen. Es
war ihre Schuld, alles ihre Schuld.
„Setz dich da hin und keinen Mucks mehr. Ich will nichts mehr von dir hören,
sonst sperre ich dich in den Keller“, sagte die Mutter streng.
Isabel setzte sich kerzengerade auf den Stuhl und legte den Zeigefinger auf die
Lippen.
„So ist es gut“, meinte die Mama, holte einen Lappen, wischte die Türklinke
feucht ab und schälte weiter Kartoffeln.
Isabel machte die Augen auf und sah Verena angelehnt im Ohrensessel sitzen,
die Beine übereinander geschlagen, mit ermunterndem Blick.
„Was siehst du noch Isabel? Schau genau hin.“
Sie stand auf einer Straße, die in der Dunkelheit glitzerte und sah große Würfel,
die immer näher kamen. Sie wollte weglaufen, doch ihre Beine waren schwer
wie Blei. Schweiß rann ihr von der Stirn in die Augen. Ein mächtiger Würfel
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begrub sie unter sich, drückte ihr Gesicht platt. Sterne tanzten vor ihren Augen.
Es roch nach Stall und Schweinen. Farbkleckse tauchten auf und nieder, gelb
verschwamm mit rot, grün, blau und violett. Der Tod war bunt, nur das Sterben
machte Angst. „Plop“, machten die Tropfen auf ihrem Gesicht, feuchte Flecken.
Die Farben lösten sich auf, der schwere Würfel verschwand. Die Nacht blieb
grau zurück. Die Mama rief aus dem Elternschlafzimmer: „Papa! Weck das
Kind nicht auf! Sie schläft so schlecht in letzter Zeit. Komm ins Bett. Wo warst
du wieder die ganze Nacht?“
Isabel drehte sich auf die Einschlafseite und rieb die feuchte Wange im weißen
Kissenbezug trocken. Der Traum war vorbei.
„Was siehst du noch? Beschreibe was du erkennst“, forderte Verena sie auf sich
zu erinnern.
Isabel sah ihr Kinderzimmer. Sie lag noch im Gitterbett und konnte nicht wieder einschlafen. Der Papa schnarchte laut. Die Mama wälzte sich hin und her.
Isabel betete zum Herrgott: „Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll niemand drin
wohnen, als Jesus allein. Amen.“ Doch das reichte nicht aus. Der Schlaf wollte
nicht kommen. Sie betete weiter, zählte Schäfchen: „Ein Schäfchen, zwei
Schäfchen, drei Schäfchen“, weiter konnte sie noch nicht zählen. Sie war klein
und dumm und verstand noch nichts. Der große Bruder war schlau, der konnte
schon bis Hundert zählen. Seitdem er nachts nicht mehr mit ihr in einem Zimmer schlief, hatte sie diese schrecklichen Träume. Und jetzt wollte sie nicht einschlafen, weil sie sonst bestimmt wieder ins Bett machte. Sie schämte sich.
„Du bist doch schon ein großes Mädchen“, hatte die Mama gemeint.
Durch die Gitterstäbe sah sie gegenüber das große Bett, aber dafür war sie noch
zu klein, wusste die Mama.
„Zu groß, zu klein“, wiederholte Isabel und setzte sich aufrecht hin. Draußen
war es dunkel. Schatten huschten am Fenster vorbei und der Wind heulte schauerlich um die Häuserwand. Sie wollte Licht machen, aber das durfte sie nicht,
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dann wachte die Mama auf und schimpfte mit ihr. Sie schimpfte viel mit ihr,
weil sie den ganzen Tag putzen und den Dreck der anderen wegmachen musste,
ganz besonders ihren Dreck, erklärte die Mama und schaute böse, weil sie mehr
dreckig machte als der Papa und der Bernhard zusammen.
Regentropfen prasselten gegen die Fensterscheibe. Isabel hielt es im Gitterbett
nicht mehr aus. Sie musste ganz leise sein, mucksmäuschenstill, damit niemand
aufwachte. Der Regen wurde immer wütender. Sie kletterte über das weiße
Bettgestell, die nackten Füße berührten den Teppichboden. Die Hände an den
Gitterstäben, blieb sie stehen, hielt die Luft an und horchte. Der Papa schnarchte weiter. Die Mama atmete leise und gleichmäßig. Ihre Tablette wirkte. Bevor
sie zu Bett ging, öffnete sie immer eine kleine Dose, mit weißen Pillen darin,
nahm eine heraus und legte das Döschen mit dem Goldrand zurück in die
Nachttischschublade, neben den Schmuck und die sauber gewaschenen Taschentücher. Danach wartete sie auf den Schlaf. Wenn Isabel ganz schlimme
Angst hatte und nachts schreiend aufwachte, oder wenn sie gar nicht einschlafen konnte, dann gab ihr die Mama auch eine halbe Tablette.
Isabel umfasste den Messinggriff und zog die Türklinke herunter. Im Flur war
es dunkel. Ihre Augen gewöhnten sich schnell daran. Sie konnte im Dunkeln sehen. Vielleicht hatte sie deshalb soviel Angst. Normalerweise kniff sie die Augen fest zusammen. Dann kamen Farben und keine Bilder. Sie musste still sein
und horchen - nichts. Niemand war wach geworden. Aber der schwierigste Teil
lag noch vor ihr. Die Treppe. Zum Glück wusste sie genau, welche Stufen
knarrten und setzte sich auf den obersten Treppenabsatz, rutschte Stufe für Stufe auf ihren vier Buchstaben nach unten. Der einzige, der sie längst wahrgenommen hatte, war Jan, doch der gab keinen Laut von sich und wedelte mit dem
Schwanz. „Pst, Jan, pst“, flüsterte sie und drückte ihm einen dicken Kuss zwischen die Augen. Geschafft. Jan lief in seine Ecke. Isabel kroch auf allen Vieren
hinter ihm her und rollte sich zu ihm auf die Hundedecke. Seine feuchte
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Schnauze lag an ihrer Wange und sein kleiner Hundekörper schmiegte sich an
ihren Bauch. Sie erzählte ihm noch schnell von dem schrecklichen Traum, doch
Jan gähnte nur - den Traum kannte er schon. Beide schliefen ein.
Das Morgenlicht fiel durch die Bleiverglasung in den Flur. Jan leckte ihr Gesicht. Isabel wollte nicht aufwachen. Sie war noch so müde. „Mh“, machte sie
und kräuselte ihre Nase. Schleck, schleck, machte Jans Zunge und wusch,
wusch, sein weicher Schwanz. „Hatschi“, machte sie und ihre Augenlider öffneten sich einen Spalt. Jans kalte Nase stupste sie an. Er sah so süß aus, sie
drückte ihn fest. Er war der liebste und klügste Hund der Welt, doch jetzt musste sie schnell aufstehen. Die Mama sollte nichts merken. Sie kletterte die Treppe hinauf, hob ein Bein nach dem anderen, immer schön mit den Händen am
Treppengeländer festhalten, so wie die Mama es ihr gezeigt hatte und da stand
sie oben am Treppenabsatz und schaute verwundert.
„Wo kommst du denn her?“, fragte sie erschrocken.
„Isabel Pipi machen“, sagte sie und da kam die Mama zu ihr, nahm sie auf den
Arm, lächelte und war ganz gerührt: „Du bist ein braves Mädchen.“
Sie trug sie ins Bett. Isabel legte die Ärmchen um ihren Hals. Sie duftete so gut.
Die Mama deckte sie zu und streichelte ihr übers Haar. „Schlaf noch, Kind“,
flüsterte sie um den Papa nicht zu wecken. Die Tür knarrte und die Schritte der
Mutter entfernten sich. Sie konnte Bernhard hören. Ihr großer Bruder latschte
ins Badezimmer. Das Waschen ging schnell bei ihm. Sie hörte seinen schlurfenden Gang, die knarrende Treppe und die zufallende Küchentür. Danach war es
wieder still.
„Gut so, Isabel, erzähle weiter, höre auf die Stille.“
Isabel presste die Hände gegen die Ohren und kniff die Augen zusammen. Sie
hörte ihren Vater rufen. „Oh! Au!“ Seine Stimme machte ihr Angst. Was hatte
er nun schon wieder? Sie drückte sich an die Wand. Er stöhnte lauter. „Oh, oh,
au, au, das tut so weh!“
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Sie presste die Hände noch fester gegen die Ohren und kniff die Augen noch
fester zusammen. Sie wollte das nicht hören. Papas Stimme klang bedrohlich.
„Verdammtes Ding, Mistkerl“, fluchte er.
Isabel dachte ganz schnell an etwas anderes, an den Regen, den Wind, die Mama, den Herrgott.
„Isabel, komm schnell, der Papa stirbt. Oh, oh, au, au! Das tut so weh, der Papa
hat ein Bein im Nacken.“
Sie wollte nicht aus dem warmen Bett steigen und dem Papa helfen. Beim letzten Mal musste sie sich hinterher übergeben und der Bauch tat weh. Und dann
musste sie weinen und hatte sich ganz schlecht gefühlt und nicht mehr so froh
und irgendwie anders. Das war gar nicht schön gewesen. Sie wollte lieber im
Bett bleiben und nicht helfen müssen. Der Papa stöhnte und dann wurde er immer ärgerlicher. Wenn sie nicht endlich käme, hätte er sie nicht mehr lieb und
sie würde es bereuen.
Sie klettere schnell aus dem Bett und lief zu ihm. Er griff nach ihrem Arm und
zog sie zu sich aufs Bett, drückte sie ganz fest, küsste ihr Gesicht, den Mund,
die Nase, die Augen, die Stirn. „Du riechst so lecker. Du bist so lieb, meine
kleine Prinzessin“, flüsterte er ihr ins Ohr, hob sie mit beiden Händen in die
Höhe und ließ sie auf seinen Bauch plumpsen. „Küss den Papa mal ein bisschen, ja, genau da. Fester. Wozu hast du zwei Hände, so macht man das.“
Er zeigte ihr, was sie zu tun hatte, damit es ihm wieder besser ging. Sie musste
einfach weinen. Die Tränen flossen ins Meer, der Sand war weiß, die Luft
warm, der Wind weich und der Papa tat ihr nicht weh.
„Fester, fester“, hörte sie ihn stöhnen und grunzen wie ein Schwein. Das Meer
umspülte ihre Burg. Sie hatte eine große Burg gebaut mit einem hohen Wall,
aber das Meer kam näher, spülte mit jeder Welle ihren Schutzwall davon und
bald würde gar nichts mehr übrig sein.
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„So geht das nicht. Mach den Mund auf. Weiter auf, so weit du kannst und jetzt
komm hierher. Ja, so machst du das gut“, ächzte er.
Sie bekam keine Luft mehr. Das Ding in ihrem Mund drückte ihr die Kehle zu.
„Heb deinen Kopf hoch und mach den Mund weiter auf! Gleich bekommst du
vom Papa etwas geschenkt. Aber nicht schlucken, Isabel, es ist giftig.“
Etwas Schleimiges füllte ihren Mund, es schmeckte wie Rotze und sie würgte
und wollte ihren Mund zurückziehen, aber der Vater hielt ihren Kopf fest.
„Nicht runterschlucken“, sagte er und stieß sie von sich.
„Schnell, beeil dich und spuck es aus. Los, mach schon“, befahl er und seine
Stimme klang wie grobes Schmirgelpapier. „Wasch dir den Bauch und das Gesicht“, drehte er sich herum und schlief auf der Stelle ein.
Isabel stand vor dem Bidet, spuckte und würgte und drehte den Kran auf. Das
Wasser war kalt und sie hatte eine Gänsehaut. Die Zähne klapperten aufeinander und sie schob ihre kleine Faust in den Mund, um nicht zu schreien. Sie
verstand nicht, warum sie so verrückt wurde und haute mit dem Kopf gegen die
schwarzen Fliesen und stellte sich vor, wie die Schädeldecke platzte, Gehirn
raus quoll und das Blut spritzte. So etwas gab es wirklich, im Krieg, das hatte
der Papa ihr erzählt. Er hatte es mit eigenen Augen gesehen. Nur mit einem einzigen Schuss.
„Alles Quatsch“, sagte sie zu sich. „Quatsch, Quatsch, Quatsch!“, lachte sie
sich aus. Es war doch nichts passiert. Der Papa hatte nur ein bisschen Blut gespritzt, aber nicht aus der Schädeldecke sondern aus der Trompete, und das Blut
war auch nicht rot sondern weiß, und sie verstand nicht, was das zu bedeuten
hatte. Sie war dumm und der Bauch drückte. Ihr war übel und sie hätte am
liebsten nach der Mama gerufen, doch das durfte sie nicht. Was sie erlebt hatte,
war ein Geheimnis, nur zwischen dem Papa und ihr. Wenn sie es der Mama erzählte, würde die auf der Stelle tot umfallen, hatte der Papa gesagt, und das
wollte sie doch bestimmt nicht.
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Isabel kroch auf allen Vieren durch das Elternschlafzimmer, leise, wie eine Indianerin, schlich sie in ihr Bett zurück, drückte die Puppe und den Teddy an
sich und wusste nicht warum sie weinen musste und gar nicht aufhören konnte.
„Isabel“, hörte sie Verena, wie durch einen Schleicher sagen. „Du bist von deinem Vater sexuell missbraucht worden. Es werden weitere Erinnerungen folgen. Du hast aufgehört, das Erlebte zu verdrängen. Vergiss nicht, du hast einen
roten Faden in dir. Richte dich nach ihm, du wirst ihn brauchen. Sei kein
Angsthase, du bist eine starke Frau. Du hast den sexuellen Missbrauch überlebt,
du wirst auch mit den Folgen fertig werden. Die Therapie ist damit beendet. Du
weißt, was dich gequält hat, und um das herauszufinden, bist du zu mir gekommen. Du findest deinen Weg alleine. Ich bin mir sicher, du schaffst das.“
Isabel hörte und verstand nichts, nur, dass die Therapie beendet war. Das kam
so plötzlich. Verena erhob sich und reichte ihr die Hand. „Ich habe leider keine
Zeit mehr für einen Kaffee im Warsteiner“, sagte sie und verschwand im Treppenhaus. Isabel fühlte, wie ihr der Boden unter den Füßen weggerissen wurde.
Sie wollte schnell nach Hause, bewegte sich jedoch wie in Zeitlupe, vorsichtig
die Treppe des alten Universitätsgebäudes hinunter, froh, dass ihr Wagen nur
eine Querstraße entfernt stand. Ihr war schwindelig und kalter Schweiß rann ihr
von der Stirn - nur nicht ohnmächtig werden, hämmerte es in ihrem Schädel. Ihr
alter Renault schien von alleine zu fahren und brachte sie wohlbehalten Hause.
Hermann saß am Schreibtisch, sah sie an und sein Lächeln erstarb. Er fing sie
auf, als der Boden unter ihren Füßen nachgab. Als sie zu sich kam, strich er ihr
die Haare aus der Stirn und legte einen kalten Lappen darauf. Er schob ihr ein
Kissen unter die Füße, setzte sich neben sie und hielt ihre Hand. Sie hatte
Krämpfe, zuckte und zitterte unkontrolliert.
Hermann hielt ihre Arme fest. Schweißtropfen standen auf seiner Stirn. Er
kämpfte gegen einen Dämon, bis sich Isabel beruhigte. Sie wollte sprechen.
„Ich bin von meinem Vater sexuell missbraucht worden. Ich war ein kleines
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Mädchen, ich konnte es nicht verhindern, habe es verdrängt, ganz tief in mir begraben und dann hat es mich langsam aufgefressen, zerstört, wie Salzsäure gewirkt, jedes Gefühl wurde hässlich, nichts war ehrlich, alles was ich war, was
ich sein wollte, ich, alles gelogen.“ Sie würgte und taumelte mit Hermanns Hilfe ins Badezimmer. Er konnte ihren Magen hören wie er sich wendete, pumpte
und eng wurde. Tränen, die in Strömen flossen, mischten sich mit Kotze. Er
wusch ihr das Erbrochene von Mund und Wangen und brachte sie zu Bett, war
bei ihr und tröstete sie, wenn sie sich wieder übergeben musste. Hermann wich
drei Tage und drei Nächte nicht von ihrer Seite und ließ sie keine Sekunde aus
den Augen. Sie war zu schwach um alleine aufzustehen. Er brachte ihr Tee und
heizte der Wärmflasche ein, wenn die Erinnerungen sie eiskalt umhüllten, las
aus einem vietnamesischen Märchenbuch vor und hörte ihr zu, wenn sie reden
wollte. Isabel brauchte Tage, um ihre Erinnerungen aus der Therapie zu erzählen, die sich mit immer neuen Düsternissen füllten. Nachdem sie alles erzählt
hatte, an was sie sich wieder erinnerte, wollte sie nach Pfingstdorf fahren, um
mit ihrem Vater zu sprechen.
Hermann versuchte sie aufzuhalten, doch schon vier Tage nach ihrem Nervenzusammenbruch, stand sie an der Autobahnauffahrt und vertraute sich den Fahrkünsten eines Truckfahrers an, bereit, den Vater mit den Erinnerungen zu konfrontieren. Wie würde er reagieren? Wie sich verhalten? Was dazu sagen? Sie
wollte es wissen. Das ging nicht nur sie an. Das betraf ihn auch. Sie wollte ihn
konfrontieren.
Isabel schaute aus dem Fahrerhaus, über die vorbeirasenden Wagendächer hinweg. Der Truckfahrer hatte aufgehört zu reden und konzentrierte sich auf die
Autobahn.
Wiesen und Felder zogen an ihr vorbei und sie erkannte die vertraute Landschaft, flach und saftig grün, auf schwarz-klumpigem Erdboden. Erinnerungen
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an die Kindheit wurden wach. Kinder, die über Bäche sprangen, durch Entwässerungsrohre krochen und vor Vergnügen und Abenteuerlust lachten.
Der Truckfahrer fuhr auf den Rastplatz und ließ sie aussteigen. Er wünschte ihr
alles Gute. Sie schenkte ihm ein zugefrorenes Lächeln und verschwand hinter
der automatischen Glaseingangsdrehtür in die Raststätte über der Autobahn.
Isabel wollte leben und nicht nur überleben. Ihr Leben würde kein Spaziergang
werden und sie fühlte, dass sie Grund hatte, sich zu fürchten.
II
Hermann saß am Schreibtisch und lernte für die mündliche Prüfung in Deutsch.
Er sah auf die Straße. Die Bäume trieben grüne Blätter. Mittagszeit. Isabel war
unterwegs. Er vermisste sie bereits jetzt, sehnte sich nach ihrer warmen Stimme
und kämpfte mit seinem schlechten Gewissen, weil er sie nicht nach Pfingstdorf
begleitet hatte. Am Nachmittag hatte er eine Verabredung mit seinen Kindern,
um mit ihnen Hausaufgaben zu machen, hinterher wollten sie gemeinsam
Pfannkuchen essen. Abends würde er Leon und Helen ins Bett bringen und darauf warten, dass ihre Mutter nach Hause kommt. Szilvia jobbte bis Mitternacht
in einer Kneipe. Er arbeitete dreimal in der Woche bei einem Dachdecker, da
das Stipendium der Gewerkschaft nicht ausreichte, um die Familie zu ernähren.
Das Telefon schrillte. Szilvia war am Apparat und schrie ihn an: „Ich muss mit
den Kindern die Wohnung verlassen, weil ich keine Studentin bin! Du bist ein
solcher Idiot! Du unverantwortlicher Mistkerl! Der Teufel soll dich holen!“,
fluchte sie durch die Telefonmuschel. Im Hintergrund hörte er die Tochter fragen: „ Müssen wir jetzt ins Zelt ziehen?“
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Hermann wusste nicht ob er über Helens Komik lachen oder weinen sollte. Er
spürte ihre Trauer und Enttäuschung. Diesmal war die Trennung endgültig. Er
würde nicht zurückkommen, wollte und konnte nichts mehr tun, um die Niederlage abzuwehren. Seine Ehe war gescheitert. Eine Erinnerung tauchte auf. Er
sah sich, wie er am Bordstein stand, schlaksig und jung. Szilvia kam auf ihn
zugelaufen, legte die Arme um seinen Hals und schmiegte sich an ihn. Sie war
braungebrannt, roch nach Spanien, Sonne, Sand und Meer und fühlte sich warm
an. Zwei Wochen hatten sie sich nicht gesehen. Hand in Hand stiegen sie die
Treppen zur Wohnung seiner Eltern hinauf. Szilvia flüsterte ihm Liebeleien ins
Ohr, wie sehr sie ihn vermisst hatte, und dass sie sofort mit ihm schlafen wolle,
doch zuerst tranken sie Kaffee und aßen Kuchen bei ihren Schwiegereltern.
Szilvia erzählte vom Urlaub. Resi und Sepp amüsierten sich und hatten nichts
dagegen, als der Sohn den Wagen mitnehmen wollte. „Du weißt ja, wo der
Schlüssel hängt“, lachte der Vater verschmitzt.
Sie fuhren in die Reben und vögelten miteinander. Nachdem Szilvia den Rock
heruntergezogen und den Pullover zurecht gerückt hatte, sagte sie: „Jetzt hast
du mich gerade geschwängert.“
Hermann spürte das Misstrauen, wie es den Nacken hoch kroch, schob die Erinnerung beiseite und ging in die Küche. Volkmar saß auf der Eckbank, schaute
kurz auf und las weiter. Hermann nahm den Kulturteil der Badischen Zeitung,
schenkte sich eine große Tasse Kaffee ein, goss Milch dazu, nahm drei gehäufte
Teelöffel Zucker und drehte sich eine Zigarette, Pause.
Isabel kam durch die Hintertür ins Haus. Es war niemand in der Küche. Sie
setzte sich ins Esszimmer, unter das Bild mit den Bäuerinnen auf dem Feld. Der
Kühlschrank schnaubte. Auf der Wiese hinterm Haus, saß der Nachbar auf seinem Traktor und zog tiefe Furchen durch die Erde. Die Mutter kam in Gartenkleidung in die Küche. Sie sah Isabel durch die Schiebetür und fragte erschro-
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cken: „Was machst du hier, Kind? Und wie siehst du wieder aus! Kämmst du
deine Haare gar nicht mehr? Ich verstehe dich nicht. Wie kannst du nur so rumlaufen. Das hast du doch gar nicht nötig“, schimpfte die Mutter und reihte Vorwurf an Vorwurf. „Was denken die Nachbarn? Warum kannst du nicht normal
sein? Die Anne von nebenan macht jetzt eine Lehre bei der Bank und ...“, unterbrach sie ihren Redeschwall: „Was willst du hier?“
„Ich will mit Papa sprechen.“
Dein Vater hat schon genug Brassel am Hals“, wehrte die Mutter ab. „Die Geschäfte laufen schlecht. Du regst ihn nur auf. Was willst du von ihm?“
„Unter vier Augen mit ihm sprechen.“
„Du machst nur Ärger. Du bist der egoistischste Mensch, den ich kenne. Es
wäre das Beste, wenn du gar nicht mehr kommst“, meinte die Mutter voller Bitterkeit.
„Gut Mama, wenn du das möchtest, komme ich nicht mehr, aber vorher muss
ich mit Papa reden.“
Antonia lief aufgeregt durch das Esszimmer, verstellte Isabel den Weg zum
Telefon, fuchtelte wild mit den Armen herum und schrie: „Das lässt du schön
bleiben. Du rufst niemanden an, bevor du mir nicht gesagt hast, was der ganze
Zirkus soll!“ Wochenlang hatte sie nichts von ihrer Tochter gehört, hatte sich
Sorgen gemacht und sie herbei gesehnt, doch jetzt wo sie da war …?
„Ich rufe deinen Bruder an, ja, das mache ich“, sagte sie zu sich selbst und
wählte seine Nummer. „Bernhard! Du musst sofort kommen. Isabel ist da. Sie
ist ganz verrückt geworden. Beeil dich!“, bat sie, legte auf und drehte sich herum. Eine neue Kanonade von Vorwürfen prasselte auf Isabel nieder.
„Du meldest dich nicht! Du lässt nichts von dir hören! Wir machen uns die
größten Sorgen! Papa fragt jeden Tag, ob du angerufen hast? Ich kann ihm
nichts sagen. Du warst so ein braves Kind. Du bist undankbar. Ich verstehe dich
nicht? Du machst das nur um uns zu ärgern. Das kommt alles von Joey. Wir
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hätten damals härter durchgreifen müssen, aber wir haben ja alles versucht. Du
bist nicht normal, du bist ja nicht bei Verstand.“
Gebückt stand Antonia da, das graue Haar zerzaust, die Gartenschürze fleckig,
die Wangen gerötet, die Augen lebhaft, die Gefahr schon vorher spürend, eine
Frau die das Gras wachsen hörte.
Bernhard fuhr auf den Hof, seine neue Freundin Michaela folgte ihm.
„Geht in den Hobbykeller“, befahl die Mutter. Sprich du mit deiner Schwester.
Mit mir redet sie ja nicht“, sagte die Mutter vorwurfsvoll.
Im Hobbykeller hatte sich nichts verändert. Der altmodische Nussbaumschrank
stand auf staksigen fünfziger Jahre Füßen, daneben Bernhards Aquarium. Auf
der anderen Seite befanden sich zwei Clubsessel, ein ovaler Tisch und die Stereoanlage des jüngsten Bruders, Bert.
Bernhard sah verunsichert aus, irgendwie hilflos. Er wusste nicht, was er tun
sollte. Es schien eine Sache zwischen der Schwester und dem Vater zu sein,
doch genau das, beunruhigte ihn. Was mochte das sein? Was wollte die Schwester vom Vater? Er streute Fischfutter ins Becken.
„Papa ist ein viel beschäftigter Mann“, sagte er, stellte die Dose ab und betrachtete seine Schwester kritisch. Ich habe ihm gesagt, dass du hier bist und ihn
sprechen willst. Was ist los?“
„Ich würde am liebsten meine Tasche packen, nach Jamaika fliegen, mir eine
Hütte am Meer mieten, mit Holzveranda natürlich und einen Roman schreiben“,
meinte sie frei heraus.
„Du bist ja völlig durchgeknallt. Man muss dich vor dir selbst schützen!“,
brauste Bernhard auf. Er rannte aus dem Zimmer und knallte die Tür hinter sich
zu. Isabel machte die Musik leiser und schrieb in ihr Tagebuch:
Ich will keine Angst haben, will mutig und innerlich klar und fest bleiben, nicht
flüchten sondern standhalten. Ich muss an die Liebfrauenschule denken und
daran, wie schlecht es mir mit Sechzehn ging. Fast jeden Tag verließ ich die
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Unterrichtsstunde, ohne ein Wort der Erklärung, schloss mich unterm Dach in
die Toilette ein, und weinte. Warum? Ich wusste nicht warum? Und auch nicht,
warum ich nicht aufhören konnte zu weinen. Ich hatte meinen ersten Nervenzusammenbruch. Im Stockwerk über dem Klassenzimmer lag das Internat. Ich
wurde ins Ruhezimmer begleitet. Hildburgis, die Internatsleiterin, eine runde,
liebevolle Nonne, brachte mir Tee und zwei Wärmflaschen ans Bett, heizte meiner Kälte ein, ohne Fragen zu stellen und war einfach nur da. Ich fühlte mich
sicher und geborgen. Nach diesem Erlebnis, begleitete ich täglich, zwei Klassenkameradinnen in den Gemeinschaftsraum des Internats und lernte die anderen Mädchen kennen. Einen Monat später zog ich ein. Ich bekam ein kleines
Zimmer (zwei Mal vier Metern, mit einem Schreibtisch, zwei schmalen Betten
und zwei Holzstühlen), nahm von zu Hause nur einige Poster, Bücher und den
Plattenspieler mit und genoss es, dass niemand ohne zu Klopfen eintrat oder
jeden Schritt von mir kommentierte oder mich maßregelte. Ich schlief besser,
und das obwohl die Zimmernachbarin links von mir nachts auf und ab lief, um
sich alle fünf Minuten zwanghaft die Hände zu waschen. Christine, die Zimmernachbarin zur rechten Seite, träumte fast jede Nacht davon, wie sie ihre
Mutter mit einem Stuhl erschlug. Seit dem Tod ihres Vaters, hatten Chris und
ihr zwei Jahre älterer Bruder, unter der Lieblosigkeit der herrschsüchtigen
Mutter gelitten. Am ersten Todestag des Vaters, fand Chris ihren Bruder, tot in
seinem Bett. Er hatte eine Überdosis Schlaftabletten genommen. Nach seiner
Beerdigung verließ sie das Haus und zog ins Internat, wo es von „verlorenen“
Mädchen nur so wimmelte. Seit damals im Kloster, ahnte ich, dass etwas mit
mir nicht stimmt, doch im Gegensatz zu Chris, wusste ich nicht, was mich von
den anderen trennt und einsam macht?
Isabel hörte den schweren Gang ihrer Mutter auf der Treppe und klappte das
Tagebuch zu. „Papa ist da“, sagte Antonia. „Du kommst jetzt auf der Stelle mit
nach oben und hörst auf, so ein Theater zu machen.“
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Isabel folgte ihr. Der Vater stand im Wohnzimmer, jede Faser seines Körpers
war angespannt. „Du willst mich sprechen? Was soll das?“, brüllte er verärgert.
„Warum machst du der Mama Herzschmerzen? Warum ärgerst du sie? Warum
lässt du nichts von dir hören? Du weißt genau, welche Sorgen sich Mama
macht“, stieß er die Worte heraus. „Du bist eine Kupplerin und Hure, sagt deine
ehemalige Nachbarin. Bei dir geben sich die Männer, die Klinke in die Hand.
Ich weiß alles über dich. Ich habe meine Informationen. Du bist doch drogenabhängig. Gib es zu und wir bringen dich zum Arzt.“
„Ich bin nicht gekommen, um mich von dir beleidigen zu lassen“, entgegnete
Isabel und versuchte seine Worte abzuwehren. „Ich muss etwas Ernstes mit dir
besprechen. Unter vier Augen“, sagte sie um Fassung bemüht. „Ich will alleine
mit dir reden. Es ist wichtig, bitte.“
Der Vater schickte alle aus dem Zimmer und schloss die Tür.
„Was soll das Ganze?“, fragte er und beruhigte sich auf der Stelle, nachdem sie
alleine waren. Er war nicht viel größer als sie. Isabel konnte ihm auf gleicher
Höhe in die hellblauen Augen sehen, was sie nur selten tat. Sie nahm ihren Mut
zusammen und stand aufrecht vor ihm.
„Ich weiß, was du mir als Kind angetan hast“, hörte sie sich sagen. „Es ist alles
wieder da. Ich erinnere mich an Einzelheiten, an die ich mich lieber nicht erinnern möchte“, meinte sie, ohne den Blick von ihm abzuwenden.
Seine Augen flackerten nervös, er zog den Kopf ein, spannte die Schultern an
und machte einen Stiernacken.
„Ich weiß, was du mit mir gemacht hast, als ich klein war. Ich erinnere mich an
den sexuellen Missbrauch, Papa. Die Bilder kehren zurück, tauchen auf und
lassen sich nicht mehr verdrängen.“
„Es tut mir leid“, sagte ihr Vater bleich und ließ sie stehen.
Isabel musste sich setzen, ihre Hände zitterten, sie atmete aus und versuchte
sich zu beruhigen. Sie durfte die Nerven nicht verlieren.
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Michaela kam herein, gefolgt von der Mutter, dem Vater und Bernhard, der ihren Lederbeutel wie eine Trophäe in den Händen hielt. „Ich habe gerade in deinem Rucksack eine Pfeife gefunden. Ich weiß genau, was das bedeutet. Du
kannst mir nichts vormachen!“, fuchtelte Bernhard mit der Pfeife vor ihrer Nase
herum. „Du bist drogenabhängig, da besteht kein Zweifel“, zerrte er an ihrem
Pulloverärmel. „Zeig doch mal, du hast bestimmt Einstiche. Du fixt doch, du
bist doch total runtergekommen. Gib zu, du verbrauchst das ganze Geld für
Drogen.“
„Was soll das Bernhard?“, zog sie ihren Arm zurück. „Spiel dich nicht auf? Du
hast selbst Shit geraucht.“
„Das war doch bei mir was ganz anderes“, wandte er sich an seinen Vater.
Das Telefon klingelte. Burkhard beim Stein nahm den Hörer ab. „Ist gut, ja“,
sagte er und legte wieder auf. „Wir können sofort zu Dr. Junginger fahren, Isabel, du musst nur mit ihm sprechen. Tust du das für Mama und mich?“, bat der
er.
„Ich habe nichts zu verbergen“, antwortete Isabel.
Sie saß auf dem Beifahrersitz. Die Landschaft floh an ihnen vorbei, Bäume,
Wiesen und Felder schienen Fiktion zu sein. Isabel mochte den rasanten Fahrstil
ihres Vaters nicht. Er erzählte von einem Angestellten aus dem Verkauf, der
zuviel trank, weil ihm die Frau weggelaufen war. Isabel betrachtete ihren Vater
von der Seite. Sein rotblondes Haar leuchtete nicht mehr wie früher, es wirkte
stumpf und matt. Er war alt geworden und sein faltiges Gesicht blass.
Der Wagen hielt vor einem zweistöckigen Backsteinhaus. Der Empfang war
verwaist und das Wartezimmer leer, der Arzt hatte noch einen Patienten. Isabel
sah sich um. Plakate von den Anonymen Alkoholikern, Bilder von Kindern und
Landschaftsfotografien, hingen an den Wänden. Burkhard beim Stein wippte
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mit den Beinen auf und ab, trommelte mit den Fingerkuppen auf die Stuhllehne.
Warten war nicht seine Stärke.
Ein mittelgroßer Mann stand in der Tür, er trug Kordhose und eine braune
Hornbrille, sah Isabel interessiert an, reichte ihr die Hand und bat sie ins Arztzimmer einzutreten. Burkhard beim Stein sagte er, dass sie sich nachher unterhalten könnten.
Isabel setzte sich auf einen Holzstuhl. Der Raum war klein und vollgestopft mit
Büchern, die aus den Regalen quollen. Der Arzt ohne Kittel erzählte von seiner
Alkoholikerkarriere, davon, wie er zum Saufen gekommen war und warum er
aufgehört hatte. Er fragte Isabel nach ihren Problemen und sie erzählte ohne
Umschweife von der Sitzung bei der Therapeutin, den Bildern aus der Kindheit,
der Scham, dem Ekel und dem Gefühl, den Boden unter den Füßen verloren zu
haben.
„Ich musste herkommen und mit meinem Vater reden. Ich kann so nicht weitermachen und fürchte mich vor den Auswirkungen und Konsequenzen. Mein
Leben kommt mir falsch vor.“
„Und ihre Mutter? Wusste sie davon?“
„Ich habe versucht es ihr zu erzählen, ich war ungefähr sechs, doch sie hat mir
nicht geglaubt. Sie hat mich „eine Lügnerin“ genannt. Ich habe nicht mehr darüber gesprochen, das Geheimnis in mir vergraben, noch tiefer, bis es aus meinem Bewusstsein verschwand und mich nichts mehr daran erinnerte. Es war
alles weg, außer diesem Gefühl, dass etwas Elementares mit mir nicht stimmt.“
„Ich kann nachempfinden, wie schwierig es für sie ist, mit einer solchen Traumatisierung fertig zu werden, falls das überhaupt möglich ist, doch bedenken
sie, Verdrängung ist ein Selbstschutz, und dass sie jetzt fähig sind, sich der Vergangenheit zu stellen zeigt, dass sie stärker geworden sind, dass sie ihren Gefühlen vertrauen können und sich auf ihrem Weg nicht beirren lassen. Sie sind
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bereit, das Trauma zu verarbeiten. Ich wünsche ihnen alles Gute für die Zukunft, Isabel“, sagte er und schüttelte ihre Hand.
„Sagen sie meinem Vater, er soll mich in Ruhe lassen, mir nicht nachstellen und
sich nicht mehr in mein Leben einmischen. Er hat sich auf meine Kosten befriedigt. Es hat ihn nicht gekümmert, was ich dabei empfunden habe. Ich fühle
mich aus meinem Leben gerissen, in die Irre geleitet, hintergangen und benutzt.
Wie soll ich damit umgehen?“, fragte sie, ohne auf die Antwort zu warten.
Isabel lief nach draußen, rauchte eine Zigarette nach der anderen und begriff,
dass nichts mehr so war wie zuvor. Der verdrängte Missbrauch hatte Folgen.
Die Auswirkungen spürte sie bis in die Muskeln. Gedanken und Gefühle boten
keine Ausflüchte mehr. Die aufkeimende Feigheit zertrat sie, wie die Zigarettenkippe, mit der Schuhspitze.
Burkhard beim Stein verließ wortlos die Praxis. Er hatte sich genug angehört
und begriff, dass die Erinnerungen seiner Tochter bedrohlich für ihn waren. Er
hatte keine Angst mehr gehabt, seitdem Krieg und der fünfjährigen Kriegsgefangenschaft, doch was er jetzt fühlte, schnürte ihm die Kehle zu. Er schwieg
während der Rückfahrt. Isabel weinte leise und schaute aus dem Fenster.
Schmerz und Einsamkeit hatten sie fest im Griff.
„Jetzt weinst du Kind“, sagte die Mutter, als sie in die Küche trat. „Du hättest
nicht weggehen sollen, du warst noch zu jung. Der Joey hat dich verdorben, der
ist an allem Schuld."
„Lass Joey aus dem Spiel, der hat damit nichts zu tun“, entgegnete Isabel erschöpft.
Die anderen saßen im Kaminzimmer, der Fernseher lief. Sie konnte unmöglich
in die Glotze sehen und ging in ihr Zimmer. Jeder Zentimeter Körper schmerzte
vor Anspannung. Sie versuchte zu lesen, dachte ans Meer, den Wind, an klare
Luft und traumlosen tiefen Schlaf, doch die Entfremdung hüllte sie ein.
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Sie zog den Bademantel und Socken an und stieg die Treppe hinunter. Es war
still. Im Flur hingen neue Reh- und Hirschgeweihe. Die Zeiger der schmiedeeisernen Uhr zeigten auf halb zwei. Die Hundeecke zwischen Küchentür und
Kommode war schon lange verwaist, Jan längst tot, vom Auto überfahren und
vom Vater mit dem Jagdgewehr „von seinen Qualen erlöst“. Sie schüttelte widerwillig den Kopf, öffnete die Tür zum Wohnzimmer und lief über den roten
Perserteppich durch die „Beste Stube“ in den Neuanbau des Hauses, ins Kaminzimmer. Isabel setzte sich auf den mit Brokatstoff bezogenen Sessel und
schaute in den kalten Kamin.
Sie hörte Schritte näher kommen. Es waren die Schritte ihres Vaters.
„Warum machst du kein Licht und sitzt im Dunkeln? Kannst du auch nicht
schlafen?“, fragte Burkhart beim Stein, blieb hinter ihr stehen und legte seine
Hände auf die Sessellehne. „Ich mache mir große Sorgen um dich, Kind.“
„Sag nicht Kind zu mir und setze dich, es macht mich nervös, wenn du hinter
mir stehst. Ich mag das nicht. Ich möchte nicht, dass du mir zu nahe kommst.“
„Was redest du? Was hast du gegen mich? All die Jahre wolltest du nichts von
mir wissen, hast kaum ein Wort mit mir gesprochen. Du bildest dir das alles nur
ein, Isabel. Und was tust du deiner Mutter an?“
Sie wollte schreien, wie damals, als er ihr den Mund zugehalten hatte, weil sie
zu laut weinte.
„Ich konnte nicht mit dir reden“, antwortete sie traurig. „Es gab nichts zu sagen.
Doch jetzt bin ich bereit, auch wenn es mir schwer fällt. Die Bilder kommen
zurück, wie du mich zu dir gerufen, mich in die Arme genommen und mich
deine kleine Prinzessin und deinen kleinen Liebling genannt hast. Du hast behauptet, dass es gut für mich ist, was du mit mir machst, und dass du mich so
auf das Leben vorbereitest. Du hast mich behandelt wie eine Nutte. Hinterher
wolltest du, dass ich mir Geld aus deinem Portemonnaie nehme. Du hast mir
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„beim Leben meiner Mutter“ verboten, mit irgendjemandem darüber zu reden.
Ich war ein Kind, Papa.“
„Entschuldigung“, antwortete er.
Sie schluckte Tränen. „Wenn du mich zu dir gerufen und dich an mir befriedigt
hast, dann starb etwas in mir, jedes Mal, bis ich nur noch ein Stück Holz war,
ohne Gefühl. Eine Entschuldigung reicht nicht aus, Papa.“
„Und wie soll es weiter gehen?“
„Das weiß ich nicht. Im Augenblick weiß ich gar nichts. Ich brauche Distanz.
Ich habe keine Angst vor dir. Du kannst mir nichts anhaben. Jetzt nicht mehr.“
„Du brauchst keine Angst vor mir zu haben“, sagte Burkhard beim Stein und
schauderte. Er stand auf. „Lass uns morgen weiter reden und komm gegen Mittag in die Firma“, bat er.
„Einverstanden.“
Hermann saß im Reichsadler. Die Studentenkneipe war wie immer gut besucht.
Vor ihm lag sein erstes Tagebuch und er dachte wieder an Isabel. Er lernte von
ihr, selbst wenn sie nicht bei ihm war. Er schrieb: „Ich habe nicht mehr das Gefühl, dass ich laufend Kompromisse eingehen und flüchtige Beziehungen anknüpfen muss, um nicht alleine im Bett zu liegen. Ich muss nicht mit einer Frau
bumsen, nur um für Sekunden das Gefühl zu haben, ein Mann zu sein. Ich brauche meine Männlichkeit nicht zu beweisen. Ich will verstanden werden und
Zärtlichkeiten bekommen und annehmen können. Ich sehne mich nach Inspiration.
Er hob den Kopf, sah Margitta laut lachend auf sich zukommen und legte den
Füller beiseite. Sie sah entspannt aus.
„Tut dir gut, dass wir nicht mehr zusammen sind“, flachste er freundschaftlich
und rutschte auf der Bank zur Seite.
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„Seit wann schreibst du Tagebuch?“, wollte Margitta wissen. „Zeig mal, was du
schreibst“, griff sie nach dem rot eingebundenen Heft und erhaschte das letzte
Wort, Isabel.
„Ist das nicht die …?“, fragte sie mit Empörung in der Stimme. „Hast du etwas
mit der? Aber das ist natürlich Blödsinn. So dumm bist du nicht. Die passt doch
überhaupt nicht zu dir. Die kommt aus einer anderen Welt. Obwohl du dich seit
ein paar Wochen ganz schön rar machst.“ Sie knuffte ihm freundschaftlich in
die Seite. „Du schläfst doch nicht mit ihr?“
Er hörte das Bitten in ihrer Stimme. „Nein, wir vögeln nicht miteinander, aber
selbst wenn, ich glaube nicht, dass es dich etwas angeht.“
„Na hör mal, das klingt gerade so, als wolltest du gerne. Lässt sie dich nicht,
oder was ist es sonst?“
„Ich möchte nicht mit dir darüber reden.“
„Auch gut. Ich dachte, ich könnte heute bei dir übernachten. Was meinst du?“
„Ja, wenn du nicht von mir erwartest, dass ich mit dir Sex habe.“
„Das hat dir doch früher Spass gemacht, oder warum sagst du das jetzt so - gemein? Früher warst du anders, viel charmanter. Das kommt bestimmt von der
arroganten Zicke.“
„Wenn du dir zuhören könntest ...“, brachte Hermann den Satz nicht zu Ende
und meinte etwas freundlicher: „Ich hole mir ein Bier. Möchtest du auch eins?“
Er zwängte sich durch die engen Stuhlreihen, alle Tische waren besetzt und an
jedem freien Platz, standen Menschen; die Luft war zum Schneiden und
schmeckte rauchig. Als er zurückkam nahm Margitta seine Hand.
„Wir sind doch Freunde. Das sind wir doch, oder?“, fragte sie.
„Na klar“, sagte er. „Wenn ich das Bier aufhabe, möchte ich gehen. Kommst du
mit oder bleibst du hier?“
53
*
Isabel stand am Fenster und sah über den Vorplatz des Schlachthofs. Laut
dröhnte der Motor eines Kühlwagens. Männer in blutigen Kitteln schoben Rinder- und Schweinehälften zum Verladen auf die Rampe.
Burkhard beim Stein legte den Hörer auf, erhob sich hinter seinem mächtigen
Schreibtisch und fragte: „Warum kommst du nicht zu mir in die Firma? Du
könntest meine Privatsekretärin werden. Ich würde dich auf Geschäftsreisen
mitnehmen. Du kannst repräsentieren, sprichst Englisch und siehst gut aus. Bei
mir könnest du richtig Geld verdienen. Du bräuchtest nur hier zu sein. Ich zahle
dir siebentausend Mark im Monat? Soviel verdienst du nicht, wenn du die Kinder anderer Leute erziehst.“
„Ich wollte nie Lehrerin werde. Ich wollte nur weg von hier, von dir.“
„Komm nach Hause, Isabel. Ich brauche dich. Wofür habe ich das alles aufgebaut?“, sagte er überzeugt.
Isabel lachte ironisch.
„Warum lachst du?“
„Du hast das alles für dich gemacht. Das hier und die Firma drüben, das hast du
in erster Linie für dich getan. Um nie mehr hungern zu müssen, aus Ehrgeiz,
weil du es ihnen allen zeigen wolltest. Das hier, das ist dein Leben, nicht meines, Papa.“
„Was willst du, Isabel? Sag mir doch, was du dir vorstellst?“
Sie nahm eine Zigarette aus der mit Leder bezogenen Zigarettendose und zündete sie mit einem schweren Tischfeuerzeug an.
„Ich will ...“ Das Telefon schrillte. Burkhard beim Stein lief hinter den Schreibtisch. „Kann man denn hier keine fünf Minuten mit seiner Tochter sprechen“,
telefonierte er im Stehen. Sein freier Arm schwang durch die Luft, seine Stimme wurde immer lauter. Er brüllte in den Hörer: „Seid ihr denn alle bescheu-
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ert!“, und knallte den Hörer auf die Gabel. „Ich will wissen, was du vorhast?“
wandte er sich wieder Isabel zu. „Du willst nicht mit mir zusammenarbeiten?
Was willst du dann?“
„Meinen eigenen Weg gehen. Mein Leben leben.“
Das Telefon schellte wieder, diesmal im richtigen Moment.
Isabel stand auf. Ihr Vater grüßte zum Abschied, hob die Hand, nahm den Hörer
und meldete sich - ganz Geschäftsmann.
Sie lief an den Büroräumen vorbei, hörte Schreibmaschinengeklapper, das Surren der Computer und Tackern der Drucker.
*
Hermann lag im Bademantel auf dem breiten Bett, seine langen Beine ausgestreckt auf der Matratze, den Rücken an die Wand gelehnt, in der einen Hand
den Telefonhörer und in der anderen eine Selbstgedrehte.
„Schade, dass du Morgen nicht kommst. Du fehlst mir, Isabel.“
„Du fehlst mir auch, Hermann.“
„Du klingst so bedrückt? Bist du traurig?“
„Ich habe mit meinem Vater gesprochen. Er macht mich schlecht.“
„Ich hätte dich nicht alleine fahren lassen dürfen.“
„Mach dir keine Sorgen, Hermann. Ich komme übermorgen zu dir und niemand
wird mich davon abhalten. Du gibst mir Kraft, auch wenn du nicht bei mir bist.
Ich kann auf mich aufpassen. Das Gespräch ist gleich vorbei. Es sind nur noch
zwanzig Pfennig im Automaten. Danke, dass es dich gibt. Du hilfst mir. Wenn
ich im Augenblick etwas wirklich brauche, dann einen Freund.“
„Ich hole dich vom Zug ab, Isabel.“ Es knackte in der Leitung.
Draußen war es dunkel und kein Mensch zu sehen. Sie ging die Dorfstraße entlang, am Eckhaus des Krämerladens Behrendinger vorbei und sah durch das
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Wohnzimmerfenster, Licht brennen. Der Fernseher war an. Annie und Helga
saßen nebeneinander auf dem Sofa und schauten die Nachrichten. Als Kind
hatte sie die beiden unverheirateten Schwestern häufig besucht und sich bei
ihnen wohl gefühlt.
Über der Wiese des Nachbarn lag teppichweicher Nebel. Sie lief die Auffahrt
zum Elternhaus hoch, vorbei an den Blautannen, die inzwischen so weit in den
Himmel ragten, dass selbst den Kühen des Nachbarn, die Aussicht verstellt
blieb. Isabel war nicht zum Lachen zumute. Ihr Vater wollte sie nicht abreisen
lassen, bevor sie nicht mit dem Chefarzt des Stadtkrankenhauses gesprochen
hatte. Diesmal sollte Bernhard sie begleiten.
Die Mutter stand am Herd und sah Isabel hilflos an: „Die haben schon wieder
Hunger“, sagte sie und wandte sich dem blank geputzten Topf zu, in dem die
Rindfleischsuppe aufkochte. Isabel ließ die Schuhe unten an der Treppe stehen
und eilte hoch in ihr ehemaliges Teenagerzimmer. Die schwarz gestrichene
Raufasertapete erinnerte noch an alte Zeiten. Der Balkon war zu einem großen
Zimmer ausgebaut worden, an der Fensterfront stand ihr wackeliger, weißer
Mädchenschreibtisch und in der Ecke das nussbraune Klavier. Sie drehte den lederbezogenen Klavierstuhl auf die richtige Höhe, klappte den Deckel auf, rieb
die Hände gegeneinander und machte Fingerübungen. Sie spielte Zweihändig,
anfangs langsam, doch nach und nach flogen die Hände über die Tastatur, von
links nach rechts und überkreuz. Die Arme öffneten sich, Klänge breiteten sich
in ihr aus und sie sang zur Melodie: „What shall we do with a drunken sailor.“
Das schmale graugelbe Heft mit Schumannsonaten lag griffbereit. Die Finger
glitten über die Tastatur, Erinnerungen an Töne halfen ihrem Gedächtnis weiter.
Sie sang „the times they are changing“, von Bon Dylan. Die Musik gab ihr
Kraft, sich der Vergangenheit zu stellen.
Hermann war enttäuscht. Isabel würde nicht kommen. Er musste einen ganzen
Tag länger auf sie warten. Die Spannung wuchs ins Unerträgliche. Er machte
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sich Sorgen. Ihre Stimme hatte so kraftlos und traurig geklungen, so weit entfernt und einsam. Was machten die mit ihr? Das Telefon schrillte. Szilvia war
am Apparat. Sie musste länger arbeiten. Helen und Leon waren alleine zu Hause. Es war bereits nach 19 Uhr und die beiden hatten bestimmt Hunger. Hermann holte sein Fahrrad aus dem Keller und fuhr in die Studentensiedlung. Leon war aufgekratzt, aggressiv und wollte unbedingt mit ihm kämpfen. Helen
hockte in ihrem schmalen Zimmer am Schreibtisch und machte Schulaufgaben.
Sie saß mit eingezogenem Kopf da und würdigte ihn keines Blickes. Ihr Unglück ließ sie zu einem einzigen Vorwurf erstarren. Hermann gab die Nudeln
ins sprudelnde Wasser, während Leon den Tisch deckte und ohne Luft zu holen
von Superman erzählte. Eine viertel Stunde später saßen sie fast fröhlich vor
ihren Tellern. Selbst Helen taute auf, lachte und erzählte komische Geschichten.
Sie vergaßen sogar für einen kurzen Augenblick ihren Kummer und freuten sich
miteinander. Später brachte er sie zu Bett. Leon wollte noch die Geschichte von
dem Mann hören, der die Wörter verdrehte, der zum Tisch Bett sagte und das
Bett Stuhl nannte und den schon bald kein Mensch mehr verstand. Hermann
holte die Erzählungen von Peter Bichsel aus dem Regal und las sie seinem Sohn
vor. Helen hatte das Licht bereits ausgemacht, als er zu ihr kam. Sie hielt die
Augen geschlossen und er fühlte, dass sie ihm böse war. Nachdem sie sich miteinander so wohl gefühlt hatten, war der Abschied umso schmerzhafter. „Du
bleibst nicht?“, fragte sie leise und drehte ihr Gesicht zur Wand.
„Ich kann nicht. Es tut mir Leid, wir sehen uns ja Morgen schon wieder“, versuchte er sie zu trösten. Sie schwieg. Hermann lehnte die Tür leise an und ging
ins Wohnzimmer. Es hatte sich nicht viel verändert, seitdem er vor fünf Monaten ausgezogen war. In den Regalen klafften Bücherlücken, seine Kleider hingen nicht mehr im Schrank und im Bad fehlten die Zahnbürste und der Rasierapparat. Er war nur noch Gast, ihr Lebenszusammenhang war nicht mehr der
seine. Er war diesmal endgültig ausgezogen. Die Tigerkatze sprang auf die Rü-
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ckenlehne der Couch, schnurrte und balancierte auf der schmalen Kante, legte
sich auf die Sofaecke und schloss die Augen. Hermann wartete. Szilvia kam
kurz nach Mitternacht, wie meistens gereizt: „Was haben die Kinder gegessen?
Hat Helen ihre Hausaufgaben gemacht? Sie lässt nach in der Schule. Wenn sie
so weitermacht, muss sie vom Gymnasium. Ich glaube nicht, dass sie es schafft.
Das ist deine Schuld, das ist dir doch klar. Und Leon, weißt du, dass er manchmal einfach so am Fenster steht und nach draußen sieht. Ich weiß nicht was er
da sucht? Es ist schrecklich. Er träumt vor sich hin. Diese Sorgen machen mich
krank. Vielleicht haben wir eine Wohnung, ganz in der Nähe. Ich habe heute
mit meinem Chef gesprochen. Er will mir helfen, mal sehen? Bevor ich den
Vertrag nicht unterschrieben habe, glaube ich an gar nichts. Die Wohnung ist
teuer, und eine Kaution müsste ich auch noch zahlen. Ich werde deine Eltern
um Hilfe bitten, alleine schaffe ich das nicht. Geh jetzt, ich bin müde. Mach
schon, hau ab, verschwinde!“
Hermann verließ die Wohnung. In der Studentenkneipe um die Ecke, einem
dunklen Kellergewölbe, stand Steffen hinter der Theke und bediente die wenigen Gäste. Eva kam zu ihm und meinte: „Hey, Mann, schön dich zu sehen. Du
hast abgenommen. Steht dir. Szilvia hat bereits allen erzählt, dass du sie und die
Kinder im Stich gelassen hast. Hier ist man nicht besonders gut auf dich zu
sprechen. Kopf hoch. Ich verstehe dich. Mach dir keine Vorwürfe, Schuldgefühle helfen nicht weiter. Wichtig sind die Kinder, tu was du kannst und noch
viel mehr.“ Eva nahm die Hand von seiner Schulter. „Du bist in Ordnung, Hermann, lass dir nichts anderes erzählen und lass dich nicht aufhalten. Tue was du
tun musst.“
Hermann lief zur Straßenbahnhaltestelle. Auf dem Schild stand Sundgauallee,
und rechts oben in die Ecke gequetscht, mit rotem Filzschreiber geschrieben,
nobody loves you.
58
*
Im Warteraum des Chefarztes, roch es nach Desinfektionsmitteln, das ständige
Kommen und Gehen der Patienten lenkte Isabel von ihren angespannten Gefühlen ab. Sie mochte den Arzt nicht, fand ihn rüpelhaft und kaltschnäuzig und
konnte ihm nicht verzeihen, dass er ihrer Mutter Schlaf- und Beruhigungstabletten verschrieben hatte, anstatt ihr zuzuhören. Bernhard wich nicht von ihrer
Seite, lief den Flur auf und ab und wäre am liebsten eine Zigarette rauchen gegangen, doch er durfte seine Schwester nicht aus den Augen lassen. Er traute ihr
nicht über den Weg, auch wenn sie nicht wie eine Fixerin und Drogenabhängige
aussah. Einstiche hatte sie auch keine, zumindest soweit er das sehen konnte,
aber diese Süchtigen waren einfallsreich im Vertuschen. Wahrscheinlich fixte
sie sich unter die Zehennägel, oder so! Und wenn sie nicht süchtig war, musste
sie verrückt sein. Er hatte seinen Vater noch nie so erlebt.
„Sie ist bereit alles kaputt zu machen, mein Lebenswerk zu zerstören. Sie ist
nicht normal“, hatte er ihm erzählt.
Isabel wurde ins große Chefzimmer gerufen. Doktor Schiller begrüßte sie mit
Handschlag, über den breiten Schreibtisch hinweg und redete in einem fort. Er
erzählte von seinem Umschwung in der ärztlichen Analyse, von Patienten, die
wegen Magenbeschwerden zu ihm kamen, aber medizinisch gesund waren und
meinte: „Das ist alles psychisch.“
Sie fühlte die Anspannung ihres Körpers, es war weniger das, was er sagte als
wie er es sagte. „Erzählen Sie“, forderte er Isabel auf und beendete seinen Monolog.
„Was wollen sie denn wissen?“
„Ihr Vater macht sich große Sorgen.“
„Dazu besteht kein Grund mehr. Er hätte sich Sorgen sollen, als er mich als
Kind sexuell missbraucht hat. Damals hätte er an die Folgen denken müssen.“
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Dr. Schiller ließ sich in seinen Chefsessel zurückfallen, verschränkte die Arme
hinterm Kopf und fragte provokant: „Sind sie lesbisch?“
„Ich habe einen Freund.“
„Na ja, aber das ist doch alles besorgniserregend. Am besten wäre es, wenn ich
sie hier behalte und körperlich durchchecke. Ich kenne eine gute Klinik, in der
man ihnen helfen wird, auch psychisch wieder auf die Beine zu kommen.“
„Das ist nicht nötig“, unterbrach sie ihn.
„Ihr Vater sieht das aber ganz anders.“
„Dr. Schiller, ich werde bereits psychologisch betreut und glaube nicht, dass
meine Therapeutin einer Einweisung in die Psychiatrie zustimmen würde.“ Er
sah sie irritiert an. Das hatte er nicht erwartet und bevor er noch etwas sagen
konnte, untermauerte sie ihre Aussage und meinte: „Rufen sie meine Psychotherapeutin an und besprechen sie ihr Vorhaben mit ihr.“
Er dachte sie bluffe und zeigte ihr seine weißen Zähne. Sie gab ihm die Telefonnummer, betete, dass Verena zu Hause sein möge und atmete auf, als Dr. Schiller zu sprechen begann. „Manisch depressiv“, hörte sie ihn sagen, bevor er von
Sekunde zu Sekunde kleinlauter wurde und Isabel den Hörer überreichte. Verenas Stimme klang beruhigend: „Lass dich auf nichts ein. Er kann dich nicht
einweisen. Er hat keine Handhabe gegen dich. So einfach ist das nicht. Sag ihm
auf keinen Fall, dass du nicht mehr zu mir in die Therapie kommst. Unterschreibe nichts und sei vorsichtig, Isabel. Wenn du mich brauchst, rufe mich an.
Ich lasse nicht zu, dass dich dieser aufgeblasene Wichtigtuer einsperrt. Hast du
mich verstanden?“
„Ja.“
„Isabel ich muss auflegen. Ich bin mitten in einer Therapiesitzung. Ich möchte,
dass du jetzt zu mir sagst: „Wir sehen uns nächste Woche und dann legst du den
Hörer auf.“
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Sie tat was Verena sagte. Dr. Schiller beobachtete sie scharf. „Ich würde sie
gerne untersuchen, Fräulein beim Stein. Eine Woche brauchen wir schon. Haben sie morgen Zeit?“
„Ich bin mitten in den Prüfungen und fahre bereits morgen nach Freiburg zurück. Sobald alles erledigt ist, könnte ich mich untersuchen lassen“, antwortete
sie scheinbar einverstanden. Sie wollte seine offensichtliche Enttäuschung mildern und hoffte dadurch, schnell aus dieser unangenehmen Situation herauszukommen. Dr. Schiller rief Bernhard ins Zimmer und erklärte ihm die Situation.
Außer sich vor Wut, beschimpfte der zuerst Isabel, dann den Arzt und zum
Schluss die ganze Familie.
Isabel verließ den Raum, ohne sich zu verabschieden. Ihre Knie waren weich
wie Butter. „Das war knapp“, sagte sie zu sich und atmete tief aus.
Draußen roch es würzig und frisch. Die Krankenhausluft blieb hinter der zufallenden Glastür stecken. Isabel war erleichtert. Sie hatte sich richtig verhalten.
Morgen würde sie abreisen und sich vorher auf nichts mehr einlassen. Die Gefahr war fürs erste gebannt. Sie hatte die Herausforderung bestanden und war
nicht eingeknickt. Der Vater konnte ihr nichts mehr anhaben, seine Macht und
sein Einfluss waren begrenzt. Die Angst lag wie ein zerknülltes Papier auf dem
Krankenhausvorplatz. Sie hatte den Schock überstanden und Mut gewonnen.
*
Hermann trampte zu Isabel nach Burg-Höfen. Er hatte sie nach ihrer Rückkehr
nur kurz gesehen, vermisste ihre Nähe, die Art, wie sie spielend neue Begriffe
fand und ihm das Gefühl gab, ein sensibler Mann zu sein. Sie ließ ihn weich
werden und zeigte ihm, was ihm fehlte, streichelte sein Misstrauen, puzzelte mit
seinen Ängsten und überwand seine Hemmungen. Schmetterlinge tanzten in
seinem Bauch, als er vor ihrer Tür stand und mit feuchten Händen den Klingel-
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knopf drückte, ohne zu wissen, was er sagen wollte und ob sie zu Hause war
und ihn überhaupt sehen mochte? Isabel stand vor ihm, mit leuchtend grünen
Augen, ihr Mund öffnete sich zu einem breiten Lachen und die Arme legten
sich sanft um seinen Hals. Ihr Körper gab nach. Sie zog ihn in den Flur, glücklich ihn zu sehen.
Ihre Freude machte ihn schwindelig. „Komm mit zu mir“, war alles was er sagen konnte. „Du kannst auch bei mir arbeiten. Bitte, komm einfach mit.“
„Nichts lieber als das, Hermann. Ich habe dich so vermisst. Ich wollte arbeiten,
aber ich konnte nicht. Ich habe gehofft, dass du meine Sehnsucht fühlen kannst
und du bist wirklich gekommen.“ Sie schloss den Reißverschluss der Reisetasche.
„Möchtest du fahren?“, fragte sie hoffnungsvoll und warf ihm den Schlüsselbund zu. Er war ein guter Fänger und Autofahrer. Isabel sah aus dem Seitenfenster. Die Sonne stand wie ein Ball auf der Bergspitze, als Hermann in die
Zasiusstraße einbog. Er nahm sie zum ersten Mal mit in sein Zimmer.
Die alte Holztür knackte und sprang mit einem Satz auf. Der Raum war dunkel,
nur durch ein großes Fenster fielen Lichtstrahlen von der Straßenbeleuchtung
herein. Der Parkettfußboden ächzte unter ihren Füßen. Hermann schaltete die
Schreibtischlampe an. Das Licht kreuzte sich mit den Strahlen der Straßenlaterne, Schatten tanzten an den Wänden. Der Raum war groß, fast leer. Auf dem
Boden, unter großen Doppelfenstern, lag eine breite Matratze, daneben stand
ein Schreibtisch. Isabel stellte die Tasche auf einen alten verschabten Sessel.
Das Zimmer wirkte großstädtisch und war auf das Wesentliche konzentriert.
„Machs dir bequem“, sagte Hermann. „Ich hoffe, du fühlst dich hier so wohl,
wie ich mich bei dir wohl fühle“, meinte er, setzte sich an den Schreibtisch und
arbeitete weiter am Text.
Isabel zog die Stiefel aus und nahm den Aktenordner mit aufs Bett. Es war doppelt so breit wie ihres. Sie hockte sich im Schneidersitz auf die Matratze mit der
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violetten Decke und sah Hermann beim Arbeiten zu. Er fühlte ihren Blick, sah
sie an, lächelte und las weiter. Sie wollte ihn nicht stören, schlug die Prüfungsunterlagen für katholische Theologie auf und sah sich an, was sie alles lernen
musste. Hermann las konzentriert. Er wirkte ruhig. Sie genoss seinen Anblick
und wäre am liebsten zu ihm gegangen, hätte seine Hände berührt, seine Schultern gestreichelt und sich Haut an Haut mit ihm gefühlt. Sie wollte leben, genießen und keine Angst haben, vor dem Gegenüber, dem Mann. „Keine Zeit für
die Liebe“, schrieb sie in ihr Tagebuch und sagte: „Ich habe Hunger.“
„Wir könnten in die Wolfshöhle gehen und Pizza essen?“, schlug Hermann vor
und fragte hoffnungsvoll: „Kannst du arbeiten? Fühlst du dich wohl? Ich meine,
bleibst du?“
„Ja, ich bleibe“, lachte sie ihn an.
Die Wolfshöhle war wie immer brechend voll. Dicht gedrängt saßen die Studenten auf Holzstühlen, an runden oder eckigen Tischen, in den niedrigen Räumen der Pizzeria. Hierher kamen die Menschen, weil die Pizza groß und billig
war, der badische Wein gut und das Bier 1.50 DM kostete. Im hinteren Raum
war noch ein Tisch frei. Dicke Rauchschwaden lagen über den Köpfen. Es roch
nach Paprika und Pizzateig.
Isabel hätte Hermann am liebsten geküsst, weil er sie unterstützte, ihr zuhörte,
sie ernst nahm und über das staunte, was sie sagte und sich nicht auf ihre Kosten beweisen musste. „Du tust mir gut. Ich bin gerne mit dir zusammen. Ich
weiß nicht wie, aber du hilfst mir, mich klarer zu sehen und du kannst gut zuhören, das trifft man selten bei Männern.“
„Es hat auch bei mir lange gedauert.“ Er blickte ihr in die Augen und überlegte,
bevor er weiter sprach. „Heb mich nicht zu hoch. Ich bin nicht fähig, noch tiefer
zu fallen. Wenn du willst erzähle ich dir eine Geschichte von mir, die erklärt,
was ich meine. Es ist ungefähr drei Jahre her. Ich traf Petra auf einer Fete. Wir
landeten im Bett. Hinterher meinte sie: „Du hast wirklich keine Ahnung vom
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Sex. An dir scheint vorbei gegangen zu sein, dass Frauen eine Klitoris haben“,
und sie hatte Recht. Ich hatte wirklich keine Ahnung.“
Isabel sah ihn staunend an, eher verwundert über seine Offenheit, als schockiert
von soviel Unwissen.
„Das ist beschämend, nicht wahr? Doch Petra war mutig. Sie hat mich aufgeklärt und trocken gemeint, dass die meisten Männer keine Ahnung haben, was
Frauen gefällt. Ich war bereits verheiratet und hatte zwei Kinder. Seit damals
denke ich über Männlichkeit nach.“
„Ich habe mit einigen Männern geschlafen“, erzählte Isabel freimütig. „Die meisten haben nur an sich gedacht. Der erste Mann mit dem ich geschlafen habe,
war Joey. Ich war fünfzehn und wollte entjungfert werden. Wir fuhren zu ihm
nach Hause. Er hatte Sekt gekauft. Wir lagen auf dem Bett, ein bisschen Vorspiel, und dann versuchte er auch schon in mich einzudringen. Verzeih, wenn
ich das so sage, aber mit den meisten Männern war es nicht anders. Wenn ich
das Gefühl hatte, jetzt kommt die Lust auch zu mir, war es schon wieder vorbei.
Für Joey stand fest, dass ich frigide bin. Ich hatte keine Ahnung, was das ist frigid. Joey kam gar nicht auf den Gedanken, es könnte auch an ihm liegen, aber
im Grunde genommen geht es nicht um Schuld. Niemand hat mir mehr angetan
als mein Vater. Wenn es um Schuld geht, dann um seine. Er hat meine Liebe
ausgenutzt. Er behandelte mich wie seine Hure. Er gab mir Geld, wenn ich ihn
befriedigen konnte. Am Anfang war ich seine kleine Prinzessin, sein kleines
Mädchen, seine Liebste, und wenn er mich lange genug umschmeichelt hatte,
dann packte er zu und zeigte mir, wie das Leben ist. Ich hatte keine Chance, ich
war ihm ausgeliefert und er bewies mir meine Ohnmacht, wann immer er es
brauchte. Er behandelte mich wie ein Ding, wie eine Puppe. Es ist vorbei, für
immer. Ich bin ihm nicht mehr ausgeliefert, ich kann mich wehren und bin froh,
dass ich den sexuellen Missbrauch nicht mehr verdrängen muss. Ich trage die
Verantwortung für mein Leben.“
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„Ich liebe dich“, sagte Hermann unvermittelt und versuchte den Käse auf der
Pizza zu bändigen, der lange Fäden zog und sich in seinem Bart verhedderte.
Isabel lachte ein Lachen, das Berge versetzen konnte, Dämme brach und Steine
erweichte. „Ich liebe dich, Hermann.“
Die Morgensonne drang durch die zugezogenen Fensterläden. Der Gesang der
Vögel war intensiver als Motorengeräusch und menschliche Stimmen. Isabel
öffnete die Augen einen Spalt und schloss sie gleich wieder. Sie lag neben Hermann auf seinem breiten Bett unter einer eigenen Bettdecke. Ein Fuß von ihm
flirtete mit ihrer Wade, seine Hand streichelte schüchtern ihren Rücken. Sie
blieb still liegen. Hermann hob die Bettdecke hoch. Sie konnte seinen Blick
fühlen. Die kühle Luft ließ sie frösteln. Er lag hinter ihr, wartete bewegungslos
ab. Sie schmiegte sich in seine Kuhle, Löffelstellung. Endlich Haut an Haut sein
und den nachtschlafenden Geruch des anderen einatmen. Er nahm sie in die
Arme, seine Lippen berührten ihr Haar und seine Küsse fielen wie Regentropfen auf Nacken und Hals. „Ruhig bleiben, nicht hektisch werden, genießen“, atmete sie, während seine Hände spielend fanden was sie suchten. Die kleinen apfelrunden Brüste fühlten sich fest an. Die Brustwarzen richteten sich auf. Sie
stöhnte leise, fühlte sich schmerzlos und angstfrei, keine Erinnerungen aus der
Kindheit mischten sich mit dem Jetzt. Seine Finger glitten tiefer hinab, umkreisten geschickt ihren Nabel und streichelten ruhig und gleichmäßig die
Bauchdecke, starke Hände berühren ihre zarte Haut, während sich Tropfen zwischen ihren Schenkeln verloren. Seine Daumenkuppe verweilte auf ihrem Hügel, während der Zeigefinger wie auf einer Rutschbahn in die Grotte glitt. Zum
Mittelpunkt, zur Quelle. Hermann bewegte sich erst langsam, dann schneller.
Seine Hände umfassten ihre Hüften. „Fallen. Tiefer. Zu dir, zu mir“, flüsterte
sie. Sie küssten sich. Lippen, salzig wie das Meer, eröffneten neue Welten. Er
hielt sie in seinen Armen. Seine Liebe umspannte ihr wundes Ich. Lust pulsierte
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durch ihre Adern und mit seinen Fingern legte er die Quelle frei. „Mariposa,
bunter Schmetterling. Ich habe es mir so gewünscht.“ Er spreizte ihre Schamlippen und drang in sie ein. Sie konnte ihn fühlen, streichelte seinen runden, festen
Po, drückte, schüttelte und liebkoste ihn sanft. Er sagte keinen Ton als er kam,
nur seine Sonnenblumenaugen sahen sie überrascht an.
„Ich mache Frühstück. Nicht weglaufen“, sprang er mit einem Satz aus dem
Bett. Sie blieb liegen, kuschelte sich unter die Decke, schlief noch einmal ein
und träumte: Sie war in einem Haus. Viele Menschen standen und saßen herum.
Es herrschte eine seltsame Atmosphäre. Eine Frauenstimme schrie: „Das Wasser kommt! Das Meer wird uns alle umbringen!“ Die Menschen wollten fliehen,
doch die Fenster und die Wände brachen unter den hereinflutenden Wassermassen zusammen. Für einen kurzen Augenblick, spürte Isabel Panik, Todesangst
und dachte an Flucht. Doch dann ergab sie sich freiwillig der haushohen Welle,
die über ihr zusammenschlug. Sie fand sich inmitten des Meeres wieder, stand
auf einem schwankenden Steg, unter dessen Planken die Wellen einen wütenden Takt schlugen, „pschonkzonktschak“. Isabel drehte sich vorsichtig auf dem
schmalen Holzsteg herum, sah wie das Wasser ruhiger wurde und auf seiner
Oberfläche Bilder schwammen. Aquarelle und Ölgemälde schaukelten vorbei.
Auf einem Stück Pappe stand von Hand geschrieben: Geh zum Haus! Du wirst
erwartet. Das Wasser teilte sich. Ein schmaler Weg führte zu einem kleinen
Anwesen, einem einfachen Haus mit spitzem Giebel, umgeben von einem verwilderten Garten. Sechs Menschen waren anwesend. Sie kannte nur Hermann.
Er winkte ihr zu, schien sie erwartet zu haben, dann erwachte sie.
Hermann stellte das Tablett auf das Bett. Die Brötchen waren noch warm. Der
Kaffee duftete. Marmelade, Wurst, Käse, Frühstückseier, es war alles da. Er
stieg über sie drüber und lachte zufrieden. Das Bett war ihre Insel. „Ich kann
mich nicht erinnern, Hermann, dass ein Mann schon einmal so ein gutes Frühstück für mich gemacht hat.“ Sie biss hungrig vom Brötchen ab.
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„Bei mir gab es höchstens löslichen Kaffee am Morgen danach“, gestand sie
und erzählte ihm vom Traum. Er hörte ihr zu.
„Du bist wirklich ein Geschenk, Hermann“, freute sie sich. „Wir sind seit einem
Monat befreundet und mein Leben hat sich grundlegend verändert. Es wird
nicht leicht werden, aber was ist schon leicht? Eine Feder, vielleicht, eine
Schneeflocke“, lachte sie.
„Es ist schön mit dir.“ Hermann umarmte sie. Lippen überall, Küsse die saugten, leckten, begehrten. „Du hast eine so zarte, weiche Haut, Pfirsichhaut“, flüsterte Hermann, während seine großen Hände ihre Pobacken umschlossen. Seine
Finger überwanden Grenzen. Die Schamhaare wogen im Hauch seines Atems.
„Ich wusste nicht, dass es so schön sein kann.“ Sie rollte sich auf ihn, zeigte
ihm lachend ihre Kraft, hob ihr Becken an und landete auf seinem Geschlecht.
Die Klitoris ritt auf und ab, umkreiste die glatte Klippe und zog sich zurück. Sie
öffnete die Augen, wollte ihn sehen, sein Gesicht, seinen Blick. Er war schön,
unter ihr, in ihr, mit ihr. Sie fühlte, wie es in ihr pulsierte und seine und ihre
Lusttropfen ineinander und zusammen in die Freiheit flossen. „Your not alone“,
flüsterte sie und küsste seine Ohrmuschel.
Sie liebten sich drei Tage und drei Nächte, waren einander Insel, umgeben von
einem aufgewühlten, schäumenden Meer und das Liebesspiel trug sie immer
wieder davon.
*
Am Morgen des vierten Tages wachte Isabel mit dem Gedanken auf - Ich kehre
nicht mehr an die Pädagogische Hochschule zurück. Mein Leben ist eine einzige Lüge, auf Sand gebaut. Ich will nicht nur überleben. Ich bin bis ans andere
Ende der Bundesrepublik geflohen und habe auf Gnade gehofft, auf vergessen
und vergeben, doch die Entfremdung kann man nicht in Kilometern messen. Ich
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muss immer weiter und weiter lernen, nicht um Abschlüsse zu machen, sondern
um zu leben. Ich weiß nicht, was das bedeutet und wohin es mich führt. Bisher
wurde ich gelebt, unkritisch, distanzlos, ein vorbestimmtes, arrangiertes Leben.
Im Spiegel sehe ich ein in tausend Stücke zersprungenes Ich. „Du hast einen
roten Faden in dir, folge ihm“, hatte Verena zu ihr gesagt, doch sie sah nur
Prismen und gebrochenes Flimmern, das in der Dunkelheit aufblitzte.
Hermanns Arme suchten sie.
„Ich lasse mich exmatrikulieren“, sagte sie unvermittelt.
Hermann schrak aus dem Schlaf empor. Ihr Gesichtsausdruck machte ihn
sprachlos und brachte ihm das Fürchten bei. Sie weckte sein Misstrauen und ein
Augenblick verging, in dem sich ein tiefer Graben zwischen ihnen auftat.
„Was willst du hören? Was soll ich dazu sagen?“, fragte er unmutig.
„Nichts. Du brauchst nichts dazu zu sagen, Hermann. Ich bin entschieden und
nicht umzustimmen. Es ist nicht so spontan wie es scheint.“
„Hoffentlich machst du mir nicht eines Tages Vorwürfe, dass ich dich nicht abgehalten habe?“
„Du kennst mich noch nicht gut genug, sonst würdest du das nicht denken“,
lachte sie amüsiert. „Ich weiß, was zu tun ist. Ich will mein Leben überprüfen
und hinterfragen.“
III
„Sage nichts mehr. Lass mich einfach in Ruhe. Isabel lief wütend im Hotelzimmer auf und ab.
„Stell dich nicht so an. Ich hätte dir ja doch nicht helfen können“, gähnte Agnes
gelangweilt. „Es ist doch gar nichts passiert, also was soll das ganze Theater?“
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„Wir sind seit drei Tagen unterwegs und wollen zehn Wochen durch die Vereinigten Staaten von Amerika reisen. Wie kann ich mich auf dich verlassen, wenn
du in einer gefährlichen Situation einfach davonläufst und mich alleine lässt?“,
fragte Isabel und zerrte am Hotelfenster. Die Luft im Zimmer roch stickig.
„Deine Übertreibungen sind ermüdend. Lass mich schlafen“, brummte Agnes
abweisend und drehte sich auf die andere Seite.
Isabel sah aus dem Fenster. Unter ihr dröhnte die Fifth Avenue, Ecke dreiundvierzigste Straße und vibrierte in Ohren und Beinen gleichermaßen, während
Autokarawanen, Stoßstange an Stoßstange, durch Straßenschluchten rollten.
Menschenmassen wälzten sich über breite Trottoirs und eine überdimensionale
Neonwand, blinkte mit großen bunten Leuchtbuchstaben, „Coca Cola“ in den
New Yorker Abendhimmel.
Agnes hatte ihre wahren Absichten erst gezeigt, als sie im Flugzeug saßen.
„Um das gleich zu klären, Isabel“, hatte sie gesagt, „verschone mich mit deinen
Gefühlen und deiner Liebe zu Hermann. Ich will nichts davon hören. Jetzt bin
ich dran. Ich musste lange genug zurückstecken! Damit du es gleich weißt, ich
brauche dich nur deshalb, weil es zu gefährlich ist, alleine kreuz und quer durch
die USA zu trampen. Ich warne dich, reize mich nicht, ich könnte es mir sonst
anders überlegen.“
Isabel spuckte die Sätze ihrer Freundin aus dem Hotelfenster und erinnerte sich
an die Taxifahrt durch die Bronx, vorbei an verlassenen Häuserzeilen. Es sah
aus wie nach einem Krieg, verbrannte rußgeschwärzte Hausgerippe säumten die
Straße, Fenster und Türen waren verbrettert. Der Taxifahrer fluchte laut und
fuhr viel zu schnell. Die Stoßdämpfer ächzten und der Fahrer nahm den Fuß erst
wieder vom Gaspedal, als am Straßenrand Laternen auftauchten. Die fremde
Stadt weckte Isabels Sinne, spielte mit ihrer Phantasie und sie versuchte sich
vorzustellen, wie die Menschen in den Häusern gelebt haben mochten, sah Kinder auf Treppenstufen spielen und vor Eingängen sitzen, sah wie sie sich ver-
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gnügten und den Vorbeieilenden freche Sprüche hinterher riefen. Der Zorn der
Menschen, die hier einmal gelebt hatten, war noch mit den Händen zu greifen.
Auch ihre Wut hatte sich nicht gelegt, hielt sie wach und trieb sie im Hotelzimmer umher. In der rechten Seitentasche des Rucksacks, steckten der einarmige
Gaskocher und ein kleiner Blechtopf, um Wasser zu erhitzen. Sie holte einen
Teebeutel, die Henkeltasse und zwei dicke Kandisstücke aus der Seitentasche
und nahm die Utensilien mit ins Bad. „Abwarten und Teetrinken“, meinte sie
ironisch. „Ich schlafe eine Nacht darüber, bleibe ruhig und lasse mich nicht
provozieren“, schwor sie, sah dem Wasser beim Heißwerden zu und erinnerte
sich an die Ankunft im Hotel. Das Taxi hatte vor dem vierstöckigen Haus
gehalten, das eingequetscht zwischen Wolkenkratzern, klein und geduckt wirkte. Hinter einer schmalen verglasten Pförtnerloge, saß ein schmieriger Mann
mittleren Alters und löste Kreuzworträtsel. Isabel hatte in der Nähe der Treppe
gestanden und die Gäste beobachtet. Eine Frau, stolzierte auf hochhackigen
Schuhen, im Minirock an ihr vorüber. Ein Mann, der den Hut tief ins Gesicht
gezogen hatte, folgte ihr. Der Pförtner nickte, die Frau lachte und eine Tür fiel
ins Schloss. Die Erinnerung knisterte, wie der zerspringende Kandis, als Isabel
heißes Wasser über die ostfriesische Teemischung goss. Ihr blieb nichts anderes
übrig, als das Beste aus der Situation zu machen und sich von jetzt ab an, nur
noch auf sich zu verlassen. Dies war nicht ihre erste Reise und gewiss nicht ihre
erste große Herausforderung. Der vertraute Geruch des Ostfriesentees tröstete
ihre Gedanken und die Fremdheit lud sie ein, auf der Fensterbank Platz zu
nehmen. Agnes schlief. Ihr fehlte die Tiefe und Ernsthaftigkeit, um Gefahren
frühzeitig erkennen zu können. Ihre Oberflächlichkeit und die Art, wie sie sich
Fremden anschloss, ihnen folgte ohne zu hinterfragen, schmollte und das kleine
Mädchen spielte, Männer um den Finger wickelte, den Bogen überspannte und
naiv sein wollte, brachte sie beide in heikle Situationen. Ihr Leichtsinn hatte
Folgen. Zum Beispiel die Geschichte im Flugzeug. Agnes hatte sämtliche Ad-
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ressen von New Yorker Bekannten auf dem Schreibtisch in Freiburg vergessen
und erzählte zwei völlig fremden Männern, die neben ihr im Flieger saßen, von
ihrer Schusseligkeit. Sie flirtete mit ihnen, gluckste und lachte ohne Unterbrechung, bis sich die beiden Männer bereit erklärten, sie mit in ihr Hotel zu nehmen. Agnes genoss das Abenteuer und wollte nach den langen Monaten aufgezwungener Disziplin, leichtsinnig sein und tun, was ihr gefiel. Sie hatte das erste Staatsexamen bestanden und allen Grund, Probleme als lästig zu empfinden
und auf später zu verschieben. Spass haben hatte Vorrang. Leben war angesagt.
Ein letztes Mal alles wagen, rauslassen und auf niemanden Rücksicht nehmen
müssen, bevor es ernst wurde und der Schuldienst auf dem Land, mit Öde und
Langeweile winkte. Agnes träumte unruhig. Die kurzen, blonden Haarsträhnen
fielen ihr in die Stirn und ihr langer schlanker Hals zitterte wild entschlossen.
Isabel dachte an die Typen, die Agnes im Flugzeug angesprochen und die sie
mit in diese Absteige genommen hatten. Die Männer, der eine war Amerikaner,
der andere Kanadier, spielten Stadtführer, zeigten ihnen die touristischen Attraktionen und warteten – worauf? Sie liefen durch Straßen bis die Füße brannten, trieben im Sog der Massen auf die Plattform des Rockefeller Centers und
blickten über den Moloch New York City hinweg, der in der staubigen Luft
flimmerte. Am Hudson River schaukelten Boote in der Mittagshitze und warteten auf Touristen, die zur Freiheitsstatue mitgenommen werden wollten. Isabel
erinnerte sich daran, wie sie mit nackten Füßen über gelbgrüne Rasenflächen,
durch den Central Park gelaufen war, wie sie der Einsamkeit die Schuhe ausgezogen und Menschen beobachtet hatte, die so bunt waren wie das Leben selbst.
Sie waren der dreiundvierzigsten Straße in Richtung Grand Central Terminal
gefolgt, vorbei an Peepshow-Läden, groß wie Supermärkte, wo für einen Dollar,
in schmuddeligen Kabinen, auf fünfzehn Zentimeter Bildschirm, drei Minuten
Pornographie geboten wurde. Sie hatten im erstbesten Plastikrestaurant, Steaks
mit Pommes frites und Salat bestellt. Der Ketchup stand schon auf dem Tisch.
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Während Agnes ununterbrochen auf die Typen eingeredet hatte, sie sollten ihr
New York bei Nacht zeigen, wollten die Bier kaufen und aufs Zimmer gehen.
„Na gut, dann kommen wir eben mit, ehrlich gesagt tun mir die Beine weh“,
hatte sie geschmollt und keinen Widerspruch geduldet.
Was Isabel wollte, interessierte sie nicht, im Gegenteil, es machte sie nur noch
sturer. „Sei kein Spielverderber. Wir setzen uns noch zusammen, unterhalten
uns ein bisschen und besprechen, was wir morgen unternehmen wollen. Du
möchtest doch auch ins Museum of Modern Art und nach Greenwich Village“,
säuselte sie. „Es gibt viel zu sehen, findest du nicht auch? Sei kein Trotzkopf,
nur weil ich die Adressen vergessen habe. Sicher, es wäre ganz anders geworden, wenn wir Privat untergekommen wären, aber sieh es doch mal von meiner
Seite, so ist es spannender.“
Isabel hörte ihre Stimme noch in den Ohren: „Die Jungs sind ganz in Ordnung
und du musst nicht eifersüchtig sein, weil sie dir keine Beachtung schenken.
Bleib locker, stell dich nicht an und lass uns noch mit ihnen aufs Zimmer gehen.“
Isabels Gedächtnis funktionierte wie ein Filmprojektor: Sie sah das Zimmer der
Männer vor sich. Es lag am Ende eines langen schmierigen Flures, wie das ihre,
nur auf der anderen Seite des Hotels. Im Raum standen ein Stuhl, ein Bett und
ein Schrank. Agnes hatte sich gleich aufs Bett gesetzt und amüsierte sich über
die plumpen Späße des Amerikaners. Isabel war zum Fenster gegangen und
hatte ernüchtert auf eine Brandmauer mit tiefen Rissen im bröckeligem Beton
geschaut, hatte sich neben Agnes gesetzt und lauwarme Limonade getrunken,
während die Männer sich zuzwinkerten, in der Reisetasche wühlten und etwas
herausholten. Bevor Isabel verstand was passierte, klickten Handschellen um ihr
Handgelenk. Agnes schrie und sprang mit einem Satz vom Bettrand, rannte
blitzschnell an den Männern vorbei, aus dem Zimmer heraus und knallte die
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Tür hinter sich zu. Isabel sah die Szene genau vor sich. Sie hatte Agnes hinterhergeschaut, doch sie kam nicht zurück.
„It´s a game“, hörte sie den Jüngeren sagen, während der Ältere frech grinste.
Die Handschellen drückten und die scharfen Kanten scheuerten auf der Haut.
Isabel war bemüht, aufrecht zu sitzen und Haltung zu bewahren. Sie erinnerte
sich an jedes Wort, das aus ihr heraussprudelte, deutsch und englisch, mit Händen und Füßen, wild durcheinander. Wie sie entfesselt auf die beiden eingeredet
hatte, ihnen ihre Sicht der Dinge erklärte, und dass sie sich keinesfalls über ihre
Scherze amüsieren konnte. Sie hatte an ihren Stolz appelliert und die beiden zu
anständigen Männern erklärt. Zunächst lachten sie, doch der Jüngere wurde
unsicher. Er verstand nicht was Isabel sagte, doch der Ton ihrer Worte und die
Intensität ihrer Stimme brachten ihn dazu, nach dem Schlüssel zu suchen, während der Ältere sich über sie beugte. Seine Augen blitzten abfällig. Er sah auf
sie hinab: „We´ve lost the key“, sprach er überlegen. Sein Atem roch nach Bier.
Der Jüngere zitterte, als er Isabel von den Handschellen befreite. Sie war aufgestanden und hatte den Raum verlassen, ohne sich umzudrehen. Sie erinnerte
sich an den dreckigen Gang, ihr Herzklopfen und die Erleichterung, als sie die
Zimmertür hinter sich schloss und begriff, dass niemand ihr gefolgt war. Seitdem war über eine Stunde vergangen. Ihr Herz schlug keine Attacken mehr.
Agnes hatte bereits im Bett gelegen, ganz entspannt, frisch gewaschen, die Zähne gründlich geputzt, wartete sie darauf, dass der Schlaf der Unschuldigen über
sie kommen möge. Isabel zerquetschte die Zigarette auf dem Betonvorsprung
und legte sich angezogen auf die Matratze. Die Müdigkeit war eine leichte Decke unter der sie ausruhen konnte.
Als sie um kurz nach acht Uhr aufwachte, wusste sie, was zu tun war, zog sich
an und packte ihren Rucksack.
„Was machst du?“ Agnes blickte sie verschlafen an.
„Ich bleibe nicht länger in New York City.“
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„Warte! Ich komme mit. Wir machen die Reise doch zusammen. Tut mir Leid
wegen gestern. Ich habe gar nicht begriffen, wie gefährlich sich die Lage zugespitzt hat.“
„Dafür warst du aber schnell verschwunden. Erzähle mir nichts! Mach was du
willst, Agnes! Bleib hier, komm mit, das ist deine Sache. Es interessiert mich
nicht. Wie konnte ich mich nur von dir überreden lassen, diese Reise mit dir zu
unternehmen? Ich muss bescheuert gewesen sein.“ Isabel hatte keine Lust weiter zu reden. Am liebsten wäre sie zum Flughafen gefahren und mit dem nächsten Flieger zurück nach Hause geflogen, doch es gab kein zu Hause mehr, kein
Apartment in Burg-Höfen und keine Zuflucht.
Hermann war unterwegs an den Gardon, um Urlaub zu machen und sich von
den Prüfungsstrapazen zu erholen. Isabel kramte in der Brusttasche und fand die
Privatadresse einer Tante, die eigentlich keine Tante, sondern die Tochter eines
Cousins ihrer Großmutter war.
„Wohin fahren wir?“, wollte Agnes wissen. Sie hatte ihre Sachen gepackt und
stellte sich an die Tür. „Wir müssen eine Straße finden, die aus New York hinausführt. Am besten in Richtung Westen.“
„Du glaubst doch nicht im Ernst, dass wir aus der Stadt trampen können. Auf
keinen Fall. Nicht mit mir!“
„Wir haben abgemacht, dass wir trampen!“ Agnes war empört.
Isabel schnallte die Rucksackriemen fest um den Bauch. „Wenn du lebensmüde
bist, trampe. Ich rufe meine Tante in Minneapolis an und frage, ob wir für ein
paar Tage vorbei kommen können? Der Busbahnhof ist ganz in der Nähe.“ Sie
drängte sich an Agnes vorbei, bezahlte an der Rezeption und verließ das Hotel.
Fest entschlossen folgte sie der fünfundvierzigsten Straße in Richtung grand
central terminal. Nachts hatte das Viertel einen verruchten Touch, bei Licht betrachtet wirkte die Gegend rau und trostlos und hatte jeden Charme verloren.
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Was übrig blieb war die schwache Erinnerung an bessere Zeiten und Träume
von längst vergangener Lust.
Isabel telefonierte nach Minneapolis und brauchte eine Ewigkeit, bis sie der
Verwandten erklärt hatte, wer sie war und warum sie anrief. Sie zählte alle Onkel und Tanten auf, bis sich die entfernte Verwandte erinnerte und ihr versprach, sie am Busbahnhof abzuholen. Nachdem Isabel aufgelegt hatte, fühlte
sie sich besser und dachte an Onkel Henry, den hageren, schlaksigen Mann, der
Zimtkaugummis verschenkte und lustige Augen hatte. Die Oma hatte ihr immer
wieder erzählt, wie und warum Henry nach Amerika auswandern musste. Er
war der fünfte Sohn eines Bauern. Der Hof ernährte nicht alle und so zog Heinrich durch die Umgebung und arbeitete als Landarbeiter.
„Viele sind damals nach Amerika ausgewandert, alleine aus der Umgebung sieben Bauernsöhne“, hatte die Großmutter berichtet.
In den ersten zehn Jahren schrieb Henry Briefe, die von Heimweh und Fremde
erzählten, doch ihm fehlte das Geld um zurückzukehren. Er lernte eine Frau aus
dem Mittleren Westen kennen, heiratete und wurde sesshaft. Über zwanzig Jahre später, kehrte er zum ersten Mal nach Pfingstdorf zurück. Inzwischen waren
seine Eltern verstorben. Seine Cousine Maria, Isabels Großmutter, lud ihn zu
sich nach Hause ein. Sie waren einander nicht fremd geworden, sprachen Plattdeutsch miteinander und lachten viel und ausgiebig. Henry kam immer wieder
nach Pfingstdorf und brachte jedes Mal neue Verwandte aus Amerika mit.
So lernte Isabel seine ganze Familie, im Laufe der Jahre, bei ihrer Großmutter
kennen. Doch den stärksten Eindruck von allen, hinterließ Henry. Wenn er von
seinem Leben in der Wildnis, dem weiten Land und der Stille erzählte, wenn er
Bilder von seiner kleinen Farm und den Indianern zeigte, träumte Isabel davon,
das eines Tages mit eigenen Augen sehen zu können.
Der Bus nach Minneapolis stand zur Abfahrt bereit. Die Rucksäcke waren verstaut. Isabel saß am Fenster. Agnes versuchte ihre langen Beine unterzubringen
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und stöhnte bei der Vorstellung, siebenundzwanzig Stunden im engen, miefigen
Greyhound sitzen zu müssen. Sie sprach nicht mit Isabel und strafte sie mit
Missachtung. Isabel sah sich im Bus um, alle Plätze waren besetzt. Hinter Agnes saß ein junger Afroamerikaner. Er lächelte sie freundlich an und sie erwiderte seinen Blick. Im Laufe der Stunden kamen sie ins Gespräch. Don lebte in
Chicago und war auf dem Weg nach Hause. In New York City hatte er Verwandte besucht. Er erzählte von seiner Mutter und den drei Schwestern, der
Zweizimmerwohnung in einem Chicagoer Vorort und von der Arbeit in einer
Autofabrik. Er war stolz, weil er die Familie unterstützen konnte, sprach
schnell, lebendig, mit Chicagoer Slang. Isabel verstand nur die Hälfte von dem
was er sagte, den Rest dachte sie sich. Agnes versuchte kurzzeitig, die Unterhaltung an sich zu reißen, wandte sich aber beleidigt ab, als sie merkte, dass Don
ihr nicht zuhörte. Isabel stellte neugierige Fragen, wollte wissen, wie sich der
Rassismus in den Vereinigten Staaten auswirkte, doch er schien nicht zu begreifen, wovon sie sprach, behauptete, das Wort nicht zu kennen und so schilderte
sie ihm, was sie vom deutschen Rassismus wusste. Don hörte ihr kopfschüttelnd zu und stieß von Zeit zu Zeit die Luft aus seinen Lungen. Er hatte noch nie
von Adolf Hitler und den Nazis gehört. Seine Aufmerksamkeit und die Art, wie
er ihr zuhörte, gefielen Isabel. Sie freute sich und genoss das Gespräch mit dem
zurückhaltenden jungen Mann, beeindruckt von seinem Verantwortungsbewusstsein. Als er sich für seine Unwissenheit entschuldigte und bedauerte, nur
fünf Jahre zur Schule gegangen zu sein, schämte sie sich und sah ihn ernst an:
„I didn’t learned it at school.“
Die Zeit verging schnell und intensiv. Sie tranken Mineralwasser und aßen
Sandwichs von seiner Tante. Gegen drei Uhr nachts erreichten sie den Busbahnhof in Chicago. Außer langen, grauen Plastikterminals und eiligen Menschen,
die ankamen oder abfuhren, sah Isabel nichts von Chicago.
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Sie tauschte den Fensterplatz mit Agnes und suchte nach einer passenden
Schlafstellung. Auf Dons Platz setzte sich eine junge Frau. Agnes sprach sie an
und redete mit ihr. Isabel hörte, wie die Frau von Kalifornien erzählte. „Army“,
war das letzte was sie vernahm, bevor sie einschlief.
Am Busbahnhof in Minneapolis stand Sue neben Jack, ihrem jetzigen Freund
und wartete auf die Frauen aus Deutschland. Sie erinnerte sich verschwommen
an Isabel. Seit damals waren mindestens zehn Jahre vergangen. Ihre Eltern hatten einen Campingbus gemietet und sie waren zu fünft durch Europa gefahren.
Sie reisten innerhalb von einem Monat durch die Schweiz, Frankreich, Spanien,
Italien, die Niederlande und Belgien. „Schöne Zeit“, sagte Sue.
„Was meinst du“, fragte Jack, der von einem Bein aufs andere trat und ungeduldig an der Zigarette zog.
„Ach nichts“, ärgerte sie sich immer noch über ihn und seine Hochnäsigkeit. Er
war Student und behandelte sie wie eine bessere Bedienung. Was wusste er
schon? Sie stand von morgens bis abends im Restaurant, nickte freundlich, organisierte und begleitete die Gäste an die Tische, achtete darauf, dass das Personal sauber angezogen war, gab Kommandos und hatte nur Stress, während
Jack sich ein gutes Leben machte, manchmal studierte und nicht wirklich vorwärts kam. Vielleicht waren die beiden Deutschen ja ganz nett? Sie wollte lieber nicht zu viel erwarten, das tat sie immer und wurde enttäuscht. Damals im
Kinderheim zum Beispiel: Ihr Bruder und sie waren ganz aufgeregt gewesen,
hatten die besten Kleider angezogen und im Aufenthaltsraum auf den neuen
Daddy und die neue Mom gewartet. Die anderen Kinder waren neidisch gewesen, weil sie nicht nach Amerika reisen und bei reichen Eltern aufwachsen durften. Sie hatten sich an den Händen festgehalten, unter dem Druck waren die
Fingerknöchel weiß geworden und die Kiefer schmerzten vom Zusammenbeißen der Zähne. Und dann ging die Tür auf. Sue sah es genau vor sich. Die neuen
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Eltern traten ein. Artig und brav gaben sie zuerst der Tante und dann dem Onkel
die Hand. Sie hatten tagelang geübt, um alles richtig zu machen: Ein Knicks,
ein Diener, die Augen einmal aufrichten, ein ehrlicher Blick, dann den Kopf
senken, so machte man den besten Eindruck, hatten die Schwestern mit den
schwarzen Hauben gesagt. Die neuen Eltern waren gerührt von ihrer Wohlerzogenheit und ihrem Hang zur Demut gewesen, und ein Lächeln und Haare streicheln waren der Dank. Sechs Wochen später, saßen sie mit der neuen Mom und
dem neuen Dad im Flugzeug nach Amerika. Die anderen Heimkinder standen
auf der Treppe und winkten zum Abschied. Was wussten die schon? Nicht alles, was nach Glück aussah, entpuppte sich auch als solches.
„Da! Das müssen sie sein.“ Sue zupfte Jack aufgeregt am Ärmel und zeigte mit
dem Finger in die Richtung, aus der zwei Frauen mit großen Rucksäcken kamen. Jack pfiff durch die Zähne. Dieser Mistkerl, der hatte auch nur das eine im
Kopf. Sue brauchte einige Sekunden, bis sie Isabel erkannte. Sie hatte braunes
Haar, das im Sonnenlicht rötlich glänzte, war ungefähr einen Meter siebzig
groß, schlank und schaute sie mit neugierigen grünen Augen an. Die andere war
blond und bestimmt einen Meter achtzig lang.
„Hallo, I am Isabel from Germany, and that´s Agnes“, sagte Isabel.
Sue küsste die beiden Frauen erleichtert und stellte ihren boyfriend Jack vor, der
das Gepäck im Kofferraum verstaute. Sue steuerte ihr neues Auto auf dem
Highway in Richtung Südminneapolis. Aus den Boxen klang Musik der Gruppe
Amerika, während Sue von ihren Plänen erzählte. Agnes und Isabel saßen
schweigend auf dem Rücksitz und fühlten sich wie in einem amerikanischen
Film. Sie fuhren auf einer breiten, achtspurigen Straße immer geradeaus, große
Schilder priesen Orte an, die, sah man den Pfeilen hinterher, ins Nichts führten.
Sie brauchten eine Stunde, bis der Wagen einem Ausfahrtschild folgte. Einige
Minuten später hielten sie vor einem langgezogenen zweistöckigen Holzbau.
Sue ging voran und blieb vor einer Tür stehen. „You’re welcome“, sagte sie,
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öffnete die verzierte Holztür und führte die Gäste durch einen kleinen Flur in
das Apartment. Die Wohnung war nicht groß, interessant geschnitten und bestand aus zwei Ebenen, die durch Treppenstufen unterbrochen waren. Ein Sofa,
ein Fernsehapparat, eine Stereoanlage und ein ovaler Tisch, standen im unteren
Teil des Wohnraums. Sue kochte Tee und füllte ein bauchiges Tongefäß mit
Wasser, steckte einen bemalten Tontrichter seitlich in das Gefäß, bis das schmale Ende im Wasser stand, legte ein feines Sieb und danach Gras darauf, und umschloss die Öffnung mit den Lippen. Sie zündete das Marihuana an und atmete
ein, bis es blubberte und dampfte, reichte den Bong an Isabel weiter, die es ihr
nachmachte und mit dem ersten Zug leicht wie eine Feder wurde. „Friedenspfeife“, bemerkte sie und tat nichts gegen die Entspannung, die langsam jeden
Zentimeter von ihr in Besitz nahm. Sie tranken Tee und hörten Musik, waren
aufmerksam und selbst Agnes ließ das Sticheln sein. Der Nachmittag verging
mit Nichtstun und Körperpflege. Als es bereits dämmerte, schaute Sue erschrocken auf die Armbanduhr und drängte zur Eile. Ihre Mutter hatte gekocht
und wartete mit dem Essen auf sie.
„Du scheinst nicht besonders glücklich darüber zu sein?“, fragte Isabel.
„Das ist eine andere Welt! Villen mit Gärten. Zutritt nur für Weiße. Ordnung
und Anpassung kosten extra. Ich könnte euch Geschichten erzählen. Ich bin hier
aufgewachsen. Na ja, erst ab dem fünften Lebensjahr, davor war ich im Kinderheim in Aachen. Erinnerst du dich an meinen Bruder, Isabel? Er hat rotes Haar,
jedenfalls sind wir hierher gekommen, nach Minneapolis, in das weiße Haus,
ins weiße Viertel. Unsere Eltern konnten keine eigenen Kinder haben und am
Anfang war es schön. Wir haben uns wohl gefühlt, wurden geliebt und stolz
herumgezeigt. Mein Bruder und ich haben das genossen. Und dann kam unsere
Schwester. Ich war neun, als Marylou geboren wurde. Sie war die leibliche
Tochter und plötzlich wurde alles anders. Mom ließ mich spüren, dass ich nur
angenommen war und erwartete ständige Dankbarkeit von mir. Ich habe sie da-
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für gehasst und meine Schwester auch. Marylou ist eingebildet und sieht auf
mich herab. Stupid. Sie ist so dumm. Nach der Schule spielt sie Tennis und mit
Sechzehn hat sie ihren ersten Wagen geschenkt bekommen! Aber heute ist sie
nicht da. Albert und mein Vater sind auch nicht hier. Daddy ist okay. Er bleibt
monatelang auf der Ranch.“
„Hier in der Nähe?“, fragte Isabel hellhörig.
„Nein, in Kansas.“
„Und Onkel Henry? Lebt der auch in Kansas?“
„Ja, aber weit entfernt von Dad.“ Sue fuhr in eine breite Seitenstraße und parkte
den Wagen unter einem Sonnendach. Die Häuser und die Gärten sahen alle
gleich aus. Weiße flache Bungalowbauten, kurzer grüner Rasen mit Sprenger
darauf, Blumenbeete und gepflasterte Wege, die zu den Hauseingängen führten.
Eine vergitterte Glastür wurde geöffnet und eine kleine, rundliche Frau im knielangen Rock und weißer Bluse stand in der Tür, lächelte höflich, begutachtete
die beiden Frauen, und verbarg nur mühsam ihre Abneigung gegenüber Isabels
Aufmachung. Sie trug die violette, selbstgenähte Baumwollhose mit Hosenträgern, ein schlabberiges Frotteehemd und Turnschuhe. Die Hausherrin gewann
ihre Fassung zurück, umarmte Sue, gratulierte ihr zum Geburtstag und überreichte ihr ein kleines Päckchen.
Agnes und Isabel standen unsicher im Hausflur. Sie hatten kein Geschenk.
Sue winkte ab und meinte freundlich: „Ihr braucht mir nichts zu schenken“, und
packte das Geschenk aus, eine goldene Kette mit Herzanhänger.
Die Hausherrin führte die entfernte Verwandte und den Besuch aus Deutschland
durch ihr Reich. Alles blitzte und blinkte.
„Hier hättet ihr geschlafen“, sagte sie voller Stolz und zeigte auf das geblümte
Gästezimmer.
Agnes und Isabel antworteten in einem Ton „nice“ und lächelten schräg.
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Im Esszimmer war der Tisch gedeckt. Es gab Hähnchen, Sauerkraut und Kartoffeln. Die Tante interessierte sich nicht für Isabel. Sie wollte alles über die Verwandten in Deutschland wissen, über die fünf Brüder und sechs Schwestern des
beim Stein Clans, und sie schreckte auch nicht vor den Cousinen und Cousins
zurück. Isabel erfand Geschichten zu den einzelnen Familien, erzählte von zerbrochenen Ehen, von Eifersucht und Gemeinheiten, von Altersstarrsinn, lüsternen Männern und deprimierten Frauen.
Sue amüsierte sich. Diesmal war nicht sie der Mittelpunkt des Kreuzverhörs,
das meistens in Tränenausbrüchen endete. Ihre Mom war äußerst erregt, kaute
auf der Unterlippe und hütete sich davor, weitere Frage zu stellen. Sie hatte sich
bereits zu viele Ungehörigkeiten anhören müssen.
Gleich nach dem Essen, verabschiedeten sich die drei Frauen. Die Erleichterung
der Gastgeberin, unterschied sich nicht von der Freude der Gäste. Sie winkten
zum Abschied.
Sue und Isabel saßen auf dem Balkon. Agnes hatte sich aufs Sofa gelegt und
verschlief eine amerikanische Nacht in Minneapolis. Sue war das schwarze
Schaf der Familie, grollte ihrer Schwester, die alles bekam, was sie sich
wünschte und in jeder Beziehung bevorzugt wurde. Sie konnte die Mutter nicht
ertragen, die immer an ihr herummäkelte und nichts verstand, die aus lauter
Prestigedenken in einer Scheinwelt lebte und nicht begriff, dass ihr Mann längst
das Haus verlassen hatte. Sie mochte den Vater, weil er weggegangen war. Der
Bruder hatte sich so entwickelt, wie es die Mutter von ihm erwartete. Was sich
für sie geändert hätte, wenn das eigene Kind ihrer Adoptiveltern, ein Sohn und
keine Tochter geworden wäre, das wusste sie auch nicht zu sagen. Vielleicht
hätte sie dann Glück gehabt, so hatte es der Bruder.
„Ich kann mich nicht wehren“, bemerkte Sue und blickte traurig in die Ödnis,
die das Haus umgab. Die Anlagen waren noch nicht fertig gestellt und überall
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lagen Baureste herum. Sue wirkte verletzlich. Sie war klein, schlank, hatte halblanges dunkelbraunes Haar, große mandelförmige Augen, lange Wimpern, ein
oval geschnittenes Gesicht, ausgeprägte Wangenknochen und wohl geschwungene Lippen. Die Melancholie stand ihr wirklich gut, empfand Isabel. „Danke,
dass ich mich bei dir ausruhen kann, Sue. Ich hatte keinen guten Anfang in New
York City“, erzählte sie. „Was ist passiert?“, wollte Sue wissen. „Ich hätte nicht
mit Agnes verreisen dürfen“, meinte sie. „Sie ist kalt wie Eis“, ahnte Sue. „Sie
kann mich nicht ausstehen“, wusste Isabel. „Oh, das ist schlimm, Isabel, tut mir
leid“, sagte Sue und hielt das Zifferblatt der Armbanduhr in den Kerzenschein.
„Ich muss um sechs Uhr aufstehen“, erklärte sie entschuldigend. „Ich bin froh,
dass du hier bist und ich freue mich auf heute Abend, doch jetzt muss ich vernünftig sein und ganz schnell schlafen gehen. Gute Nacht, Isabel.“ Sue eilte in
ihr Zimmer. Isabel rollte den Schlafsack aus und legte sich neben Agnes auf das
ausgezogene Sofa. Sie schnarchte leise. Durch das Fenster und die Balkontür
schien der Mond und der Himmel war bedeckt von Sternen. Zum ersten Mal,
seitdem Isabel unterwegs war, konnte ihr die Fremdheit nichts anhaben. Hermann war Tausende von Meilen entfernt, doch sie hatte seinen Geruch in der
Nase und sein liebes Gesicht vor Augen. Sein Lachen streifte ihre Ohrmuschel
und seine sensiblen Hände streichelten zärtlich ihren Nacken.
*
Hermann saß am Lagerfeuer. Der Gardon schlängelte sich träge durch die bizarre Landschaft. In der Dunkelheit wirkten die Felsformationen mit ihren tiefen Höhlen, in denen einzelne Einsiedler lebten, wie gespenstische Masken. Eine Gruppe Bochumer Schauspielschüler war an den Fluss gekommen und hatte
Musikinstrumente mitgebracht: Rasseln, Schellen, Gitarren- und Kongatöne
stiegen im Rauch des Feuers himmelwärts und erfüllten den Augenblick. Her-
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mann fühlte sich getröstet und mit dem Bumbum der Konga entflohen seine
heißen Sehnsüchte zu Isabel über den Ozean. Sie würden sie erreichen. Die Rotweinflasche wurde herumgereicht, von einer Hand zur nächsten, schaffte brüderliche Gefühle und war Initiationsritual. Sieben Männer saßen in der Wildnis
um ein Feuer, schlugen die Trommeln und sangen, lachten und schwiegen.
Hermann war der Älteste, entwurzelt von seinen Gefühlen und fasziniert von
deren Macht. Ich liebe Isabel, wurde zu, ich kann lieben. Er hing seinen Gedanken hinterher und reichte die Weinflasche seinem Nachbarn. Hartmut war mit
der Schauspielgruppe aus Bochum gekommen und schien angenehm zu sein.
Steffen und Toni, die beiden Männern, mit denen er an den Gardon gefahren
war, hatten sich als langweilige Männer entpuppt. Er konnte nicht mit ihnen
teilen, was er fühlte und nicht erzählen, was er dachte.
Er wollte Verantwortung für seine Kinder tragen, die ihn brauchten und die er
brauchte und unendlich vermisste, und spürte zugleich wie sie sich entfremdeten. Vor einem halben Jahr hatte er Szilvia verlassen. Die Vorstellung, dass
seine Kinder ohne ihn aufwachsen mussten, und dass er nicht mehr jeden Tag
für sie da sein konnte, brannten in seinem Kopf, wie Salz in der Wunde.
Er hatte nicht vorgehabt, ohne Helen und Leon zu leben, schlug die Finger auf
das festgespannte Leder der Konga, „tongedong“, tönte der Klang im Schein
des glühenden Holzes, grollte der Schmerz durch seine Eingeweide, pulsierte
die Angst durch seine Adern. Zwei Arme legten sich um seine Schultern und
zogen ihn langsam zurück. Er legte seinen Kopf in einen männlichen Schoß.
Daumenkuppen gruben sich tiefer und tiefer in seine Schläfen und Tränen überschwemmten die Augäpfel.
„Das tut gut“, hörte er Hartmut hinter sich sagen, während er langsam, wie in
Zeitlupe, den Druck seiner Daumen zurücknahm.
„Hm“, war alles, was Hermann antworten konnte. Sein Kopf fühlte sich an wie
eine geöffnete Kokosnuss. Hartmuts Hände glitten geschickt unter Hermanns
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Schultern und verweilten im Nacken. Seine Finger, Tentakeln gleich, strichen
über den Kopf und besänftigten die Gedanken, die sich hinter dem harten Schädel verbargen. Er sah seine Tochter Helen, sie stand vor ihm, trug ein hellblaues
Hemd und eine kurze, dunkelblaue Sporthose, mit drei weißen Streifen am
Rand und sah ihn enttäuscht an. „Wie kannst du das machen? Wie kannst du
uns verlassen? Wie kannst du zulassen, dass wir ohne Vater aufwachsen? Wir
brauchen dich, aber wenn du so selbstsüchtig bist, dann hau doch ab“, hörte er
sie sagen. Helen wirkte so entwurzelt und trostlos. Er kam nicht mehr an sie
heran. Seine Tochter hatte aufgehört mit ihm zu sprechen. Vor der Trennung
war ihm ihre neugierige und wissensdurstige Art, manchmal zu viel geworden,
doch meistens hatte sie ihn beglückt. Er war voller Liebe für dieses kluge, wache kleine Mädchen, mit den rehbraunen Augen, die soviel wissen wollten, und
die ihm Löcher in den Bauch fragte.
Die Nacht war lang, das „Tongedong“ der Konga verstummte erst bei Sonnenaufgang.
*
Isabel saß nackt auf der Couch und bemalte ihre Fußnägel mit schwarzem Nagellack. Agnes stand auf dem Balkon und überlegte, wie sie Isabel davon überzeugen könnte, so schnell wie möglich weiter zu reisen. Seit der Geschichte in
New York, redeten sie kaum noch miteinander. Agnes breitete das Handtuch
auf dem Boden aus und legte sich bäuchlings darauf. Sie wollte keine Rücksicht
nehmen, schon gar nicht auf Isabel und schmiss die Erinnerung verächtlich beiseite.
„Möchtest du etwas trinken?“, fragte Isabel, die im Türrahmen stand und von
der Sonne geblendet wurde.
„Ja, danke.“ Agnes versuchte freundlich zu sein.
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„Wie wäre es mit Eistee?“
„Klingt gut, aber warte, ich helfe dir. Es ist zu heiß.“ Ihr Lächeln und ihre Zähne blitzten. Sie sprang auf und folgte Isabel in die Küche. „Was meinst du, wie
lange wir noch hier bleiben? Ich fühle mich nicht wohl. Die reden nur vom
Geld verdienen und von Autos. Ich begreife das nicht. Wie können Menschen
nur so gierig und oberflächlich sein? Ich hätte nicht gedacht, dass es so schlimm
ist. Die haben wirklich nur das eine im Kopf. Ihre Herzen sind voller Dollarscheine. Hoffentlich bleibt das nicht die ganze Zeit so unerfreulich, nur arbeiten, Geld verdienen und jedes Jahr ein neues Auto kaufen. Was für ein Leben?“,
stöhnte Agnes.
Isabel holte Eiswürfel aus dem Tiefkühlfach und antwortete: „Ich fühle mich
hier wie zu Hause und da bleibe ich auch nicht länger als drei Tage. Ich bin
nicht in die Vereinigten Staaten von Amerika gekommen, um Vorurteile zu bestätigen. Wenn du einverstanden bist, reisen wir morgen weiter.“
„Ich hätte nicht gedacht, dass wir einer Meinung sind. Ich habe geglaubt, du genießt das alles hier“, stichelte Agnes.
Isabel zuckte mit den Achseln, nahm ihr Glas und ging zurück ins Wohnzimmer. Sie setzte sich auf das pastellfarbene Sofa, holte den Füller aus der schwarzen Umhängetasche und schrieb einen Brief an Hermann.
Minneapolis, 29. Juni 1979
Geliebter Hermann,
wenn ich Dir schreibe, wie sehr Du mir fehlst, dann sind das Worte, deren Intensität Du nur erahnen kannst. Die Wirklichkeit ist subjektiv. Seit einer langen
unendlich erscheinenden Woche bin ich unterwegs und erinnere mich mit naivem Erstaunen daran, das Reisen bildet und die Sinne beeindruckt. Du fehlst
mir in Minneapolis Minnesota. Agnes behandelt mich schlecht. Ihre schönen
blauen Augen sind kalt wie ein Bergsee. Wenn sie mich ansieht, friere ich. Vor
mir liegen neun Wochen, die ich durchstehen muss, eine Herausforderung, die
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ich mir in meinem jetzigen Zustand hätte ersparen sollen. Ich müsste meinen
Rucksack packen und mich alleine auf den Weg machen. Du und ich, wir hatten
zwei Monate miteinander, die mir geholfen haben, mein Innerstes zu durchwandern, die Zeit zu nutzen und offen zu bleiben. Das alles kann ich tun, weil Du
mich liebst und trotz Tausender von Meilen Entfernung, durch meine Einsamkeit dringst. Die Monate, die wir zusammen verbracht haben, klingen wie eine
Melodie, die ihren Weg gefunden hat, das Geheimnis der Liebe zu entdecken.
Du bist weit entfernt und doch nah. Ich kann Dich sehen. Du sitzt am Fluss, auf
einem Felsen, hältst diesen Brief in den Händen und liest meine Zeilen. Lieber,
geliebter Freund, ich tröste mich, spüre Dich und vergessen nicht, dass ich diese Reise wollte. Zu Lieben, ist die größte Herausforderung und meine einzige
Rettung. Du bist verheiratet, hast zwei Kinder die Dich brauchen und eine
Frau, die Dich nicht gehen lassen will. Ich hatte noch nie eine Beziehung zu einem verheirateten Mann. Das mag an der Ehe meiner Eltern liegen. Mein Vater
hatte immer auch andere Frauen. Meine Mutter hat gelitten und wollte, dass
wir Kinder ebenfalls leiden. Ich weiß, was Du jetzt sagen würdest. Ich kenne
Deine Einwände und dennoch bleibt die Frage offen: „Bin ich stark genug mit
Dir zu leben? Und du? Bist du dir wirklich sicher? Oder bin ich nur ein Absprungbrett, eine Affäre im ehelichen Zwischenkrieg. Ich brauche diese Zeit der
Trennung, um mir über meine Gefühle klar zu werden, denn wenn Du bei mir
bist, verlieren sich meine Ängste und ich will Dich nur lieben dürfen und von
Dir geliebt werden. Hier in der Wohnung von Sue und Jane ist es tagsüber still.
Agnes sitzt auf dem Balkon und lässt sich von der Sonne bräunen. Wir hatten
ein kurzes Gespräch und haben gemeinsam entschieden, nicht länger zu bleiben
und uns auf den Weg zu machen, um das Land kennen zu lernen. Oberflächen
bröckeln, die Freundlichkeit ist vorläufig. Sue kommt von der Arbeit zurück und
ich werde ihr beim Tüten auspacken helfen. Wir werden gemeinsam essen und
Abschied feiern. Morgen geht es weiter nach Westen. Von nun an wird ge-
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trampt. Dabei werden wir unterschiedliche Menschen kennenlernen. Ich umarme Dich! In Liebe, Isabel.
Sue stellte die Tüten auf den Küchentisch, holte den Bong aus dem Regal im
Wohnzimmer, füllte ihn mit einem Gemisch aus Wasser und Cognac, stopfte
Marihuana in den Trichter, zog an der Wasserpfeife und seufzte entspannt.
Sie schupste die hochhackigen Schuhe über den Küchenfußboden und erzählte
ohne Unterbrechung von ihrem Tag im Restaurant, von den dummen und genervten Gästen, vom schmierigen Chef, der ständig an ihr herumfummelte und
von den Kolleginnen, die neidisch auf ihren Posten waren.
Isabel hörte ihr geduldig zu und wartete auf den richtigen Augenblick, bis sie
die geplante Abreise erwähnte.
Agnes kam in die Küche, ihr Gesicht war gerötet und kleine Schweißperlen
schimmerten feucht auf ihrer Stirn. „Hi Sue“, meinte sie, nahm ein Glas vom
Regal, schenkte Orangensaft ein und verschwand ins Badezimmer, aus dem
kurze Zeit später das Plätschern der Dusche zu hören war.
Spannung und Aufbruch lagen in der Luft. Isabel trat auf den Balkon hinaus und
sah am Horizont einen schwarzen senkrechten Strich, der wie ein Trichter nach
oben hin breiter wurde und mit rasender Geschwindigkeit näher kam, der sich
wirbelnd um sich selbst drehte und mit geballter Energie, in einigen hundert
Metern Entfernung vorbeisauste. Der Himmel verdunkelte sich und ein heftiger
Wind fegte durch die Blätter. Bäume verneigten ihre Kronen, Gräser duckten
sich flach zu Boden, Sommerwarme Regentropfen prasselten hernieder. Isabel
breitete die Arme aus und folgte einer inneren Regung: Sie tanzte, weinte, lachte und das alles gleichzeitig.
Sue tauchte im Türrahmen auf und hielt ihr ein großes Handtuch hin. „Du bist
ganz nass und erkältest dich noch. Ich finde es schade, dass du abreisen willst.
Meinetwegen könntest du bleiben. Doch ich verstehe es auch. Deshalb habe ich
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mir kurzerhand für Morgen frei genommen und fahre euch Richtung Westen,
wenn ich schon nicht mitkommen kann. Gegen Mittag lasse ich euch am Highway raus und mache mich wieder auf den Heimweg“, erklärte sie und genauso
machten sie es auch.
Der Zubringer, an dem Sue die beiden Frauen aussteigen ließ, lag irgendwo im
Niemandsland. Jedenfalls kam kein Wagen vorbei und sie warteten stundenlang, bis es dunkel wurde. Müde und genervt, bauten sie das Zelt auf, keine 100
Meter entfernt neben der Auffahrt und legten sich schlafen.
Isabel schreckte empor, geblendet vom Scheinwerferlicht. Sie musste eingeschlafen sein und geträumt haben: Sie lag im Kinderbett. Es war Nacht. Der
Mond schien durch das geöffnete Fenster. Ein Schatten näherte sich, blieb stehen und beobachtete sie. Sie lag auf der Seite und hörte die Stimme ihres Vaters, ganz nah am Ohr: „Wach auf Prinzessin. Du bist Papas Liebling.“ Sein
Atem roch nach Schnaps. „Prinzessin“, küsste er ihren Mund und stieß blitzschnell mit seiner Zungenspitze hinein. Er fummelte mit der einen Hand unter
der Decke nach ihrem Po. „Guck mal“, sagte er und holte mit der anderen Hand
etwas Schlaffes aus der gerippten Unterhose, schob es durch die Gitterstäbe und
lallte: „Los, mach den Mund auf. Ich gebe dir meinen Nuckel, dann kannst du
besser schlafen.“
„Ich will keinen Nuckel“, stöhnte Isabel. Der Mond schien wie ein großer
Scheinwerfer. Vergangenheit und Gegenwart flossen ineinander.
„Du bist dumm und provokant!“, höhnte es in ihr. „Kein vernünftiger Mensch
auf der Welt stellt sein Zelt an eine Autobahnauffahrt. Wer so verrückt ist, dem
ist nicht mehr zu helfen! Einer wird anhalten und nachsehen, vielleicht auch
zwei oder drei?“
Isabel saß hellwach im knallgelben Zweimannzelt und spürte ihre Angst, die
ihre Schulter streifte. „Verschwindet, bevor es zu spät ist“, hörte sie die innere
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Stimme und zögerte nicht. Sie zog Hose und Pullover über und versuchte sich
zu beruhigen.
„Wach auf, Agnes! Wir können hier nicht bleiben. Es ist zu gefährlich. Jeder
Autofahrer kann unser Zelt von der Straße aus sehen. Los komm schon, zieh
dich an, wir müssen verschwinden.“
Agnes konnte vom Lärm den Isabel machte nicht weiter schlafen: „Nun hast du
es geschafft! Ich gratuliere, das wolltest du doch. Hier gibt es weit und breit
nichts außer Felder und Autos fahren auch keine“, meinte Agnes genervt. Isabel
schlug die Zeltplane zur Seite und blickte nach draußen. Es war finster unter
dem Sternenhimmel, doch in einiger Entfernung sah sie einen Lichtpunkt. Sie
zeigte mit dem Finger in Richtung Wäldchen. „Lass uns dort hingehen.“
Agnes Stimme klang wie ein Reibeisen: „Du gehst mir auf die Nerven mit deiner Vorsicht und deinen Ängsten. Ich finde es lächerlich wie du dich aufführst.
Glaube nur nicht, dass dein sexueller Missbrauch als Entschuldigung für alles
gilt. Als du mir das vor der Reise erzählt hast, habe ich dich noch bedauert,
doch jetzt denke ich, dass du eine echte Macke hast.“
Isabel hielt den Atem an und zählte bis zehn. Agnes konnte nicht wissen, dass
sie von ihrem Vater geträumt hatte. Bevor sie sich verteidigen konnte, erstrahlte
das Zelt orangegelb im Scheinwerferlicht eines nahenden Autos. Der Fahrer
verlangsamte die Geschwindigkeit, eine Männerstimme rief etwas Unverständliches. Agnes warf sich flach auf den Boden und kramte liegend ihre Sachen zusammen. Der Fahrer fuhr weiter. Sie packten das Zelt in die Hülle und rannten
querfeldein, in Richtung Licht und tatsächlich, da lag ein Haus versteckt hinter
Bäumen, das tagsüber nicht zu sehen war.
Die Holzpforte quietschte. Die Schritte knirschten auf dem Kiesboden. Ein
Hund bellte. Agnes schellte. Eine Frau, Anfang Vierzig, öffnete die Tür und sah
sie überrascht an. Isabel erzählte vom Zelt auf dem Acker, den Scheinwerfern,
ihrer Angst und bat um Hilfe. Die Frau rief ihre Tochter zu sich. Das junge
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Mädchen führte die Gäste durch den Garten zum Geräteschuppen, räumte Hacken, Besen und Schaufeln beiseite und ließ sie allein.
„Good night“, wünschte sie noch und verschwand. Die beiden Frauen krochen
in ihre Schlafsäcke und schliefen erleichtert ein. Am Morgen weckte sie das
Bauernmädchen und lud sie zum Frühstück ein. Isabel und Agnes tranken amerikanischen Kaffee, aßen Eier mit Speck und erzählten von ihren Reiseplänen.
Die Farmerin war in ihrem Leben nur bis zur nächst größeren Ortschaft gekommen, gerade einmal dreißig Meilen entfernt. Sie lachte herzlich über ihre Bodenständigkeit und wünschte sich zum Abschied, eine Ansichtskarte aus San
Francisco. Agnes und Isabel bedankten sich für die Gastfreundschaft und verließen die Farm in Richtung Straße. Der Freeway führte nicht weit entfernt am
Haus vorbei. Diesmal kletterten sie die Böschung hinauf, was schwierig genug
war, weil die schweren Rucksäcke zur Seite wegrutschten. Der Seitenstreifen,
der sechsspurigen Autobahn, war ein schmales Stück Schotter und sie waren
wirklich froh, als bereits fünf Kleinwagen später, ein junger Amerikaner anhielt
und sie zur nächsten Raststätte mitnahm.
Agnes legte ihre Hand auf Isabels Schulter. „Lass uns ehrlich sein und über alles reden. Du musst die Dinge logisch betrachten, rational und sachlich, am besten ohne Gefühl. Schau mich an. Ich brauche keine rosarote Brille um zu sehen,
dass ich Chancen bei amerikanischen Männern habe. Ich bin in Hochform, das
ist mindestens genauso wichtig, wie in der richtigen Stimmung zu sein. Du dagegen, denkst zu viel nach, Isabel. Anstatt im Hier und Jetzt zu leben, stocherst
du in der Vergangenheit herum. Männer mögen keine ernsthaften Frauen.“
„Deine klugen Bemerkungen kannst du für dich behalten und auf deine Ehrlichkeit kann ich verzichten.“
Agnes machte einen Schritt zur Seite. „Du bist doch nur eifersüchtig, weil der
Typ mich eben mehr angesehen hat als dich.“
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Isabel lachte erleichtert: „Männer interessieren mich nicht. Du kannst sie alle
haben. Mir steht der Sinn nicht nach deiner Konkurrenz, erspare mir also alles
Weitere. Lass uns lieber einen Truck suchen, der uns über eine weite Strecke
mitnehmen kann.“
Ein schwarz verchromter, in der Sonne glänzender Koloss, versperrte den Blick.
Ein kleiner Junge hüpfte auf einem Bein die ganze Länge des Trucks entlang.
Ein stämmiger Mann überprüfte den Luftdruck der wuchtigen Reifen.
„Wohin fahren sie?“, fragte Agnes.
„North Dakota“, antwortete er trocken und prüfte weiter.
„Können wir mitfahren?“, bat Isabel.
Er überlegte einen Augenblick und sah seinen Sohn an. Der nickte. „Okay!“,
sagte er. „Eine von euch kann vorne sitzen. Die andere muss mit dem Jungen in
die Kabine.“
Agnes kletterte hinter dem Kleinen ins Fahrerhaus und von dort in die Schlafkabine. Ein schummriges Licht brannte an der Stirnwand, genug um dem Jungen
Geschichten vorzulesen. Isabel versuchte zu schlafen, doch das Krächzen des
CB-Funks, strapazierte ihre Nerven. Irgendjemand war immer in der Leitung,
der Lautsprecher knackte und rauschte, oder schlimmer noch beides zusammen.
Der eine Funker sprach über das Wetter, ein anderer warnte vor Polizeikontrollen und noch ein anderer, erzählte schlüpfrige Witze.
Dumpf stöhnte der Motor durch die Eintönigkeit der Landschaft. Sie fuhren
stundenlang immer gerade aus, bis der Junge hungrig wurde.
Isabel und Agnes tauschten die Plätze. Agnes verwickelte den Fahrer in ein Gespräch. Er erzählte von seinem Bruder, der in Heidelberg stationiert war,
schwärmte vom black forest, lobte deutsches Bier und wollte wissen, welche
Sprache man in Deutschland spricht, und ob es Straßen und Kühlschränke gibt?
Agnes platzte beinahe vor verletztem Stolz und das Gespräch verstummte so
schnell wie es begonnen hatte.
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*
Hermann und Steffen liefen den schmalen Sandweg zum Flussbett hinunter. Es
war Mittagszeit, die Luft flirrte und roch nach Lavendel. Steffen schimpfte über
die Blondine vom Vorabend. Sie hatte ihn seiner Meinung nach angemacht und
später alleine in den Schlafsack kriechen lassen.
„Ich verstehe die Frauen nicht. Ich weiß nicht einmal sicher, ob ich sie mag?“,
brummte er und marschierte schnellen Schrittes über den holperigen Sandweg,
vorbei an ein paar felsigen Vorsprüngen und verdorrten Kiefern. „Hast du nicht
gesehen, wie die mich den ganzen Abend angelächelt hat? Das musst du doch
gesehen haben?“, versprühte er seinen Unmut.
Hermann reagierte nicht, kickte mit der Fußspitze einen Stein vor sich her, wirbelte Staubwolken auf und träumte weiter. Er trug Isabels ersten Brief wie einen
Schatz in seiner Hosentasche. Schmetterlinge tanzten durch seine Gedanken. Er
war glücklich, wollte sich Zeit lassen, einen Tee mit Quellwasser kochen, eine
Selbstgedrehte rauchen, auf dem Felsen am Fluss sitzen, ihm beim Fließen zusehen und in aller Ruhe den Brief lesen. Er ging jeden Schritt in Gedanken noch
einmal durch und erfreute sich an der bloßen Vorstellung.
„Hör zu, wenn ich mit dir rede. Was fällt dir ein?“ Steffen krempelte die Hosenbeine seiner Jeans hoch und blickte Hermann über die Schulter vorwurfsvoll an.
„Hast du nichts anderes im Kopf als diese verwöhnte Tussi? Sie ist arrogant
und eingebildet. Was willst du von der? Die passt nicht zu dir.“
Hermann stemmte die schweren Taschen wie ein Gewichtheber in die Höhe.
Vorsichtig balancierte er von Stein zu Stein, ertastete mit dem Fuß den Untergrund und bemühte sich, die Lebensmittel vor der Nässe zu schützen. Mit Konzentration und Anstrengung erreichte er das andere Ufer, stellte die Stofftaschen
in den Sand und sah sich nach Steffen um. Der hatte zu kämpfen, weil ihm das
schnell fließende Wasser um die Knie schlug und die glitschigen Steine ihm
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keinen Halt boten. Der Rucksack zog ihn nach hinten weg. Er rutschte aus, verlor das Gleichgewicht, fiel rücklings in den Gardon und tauchte nicht wieder
auf. Hermann hechtete ins Wasser und schaufelte mit den Händen die Fluten
beiseite. Er konnte Steffen nirgends entdecken, griff ziellos um sich, sah etwas
Silbriges aufblitzen, packte zu und zog die Schnalle, den Riemen, den Rucksack
und dann den ganzen Steffen an die Oberfläche. Der prustete und spuckte und
nachdem er wieder Halt unter den Füßen hatte, schaffte Steffen es alleine. Er
ließ sich in den Sand fallen und stöhnte: „Ich habe unter Wasser die Orientierung verloren. Jetzt muss ich mich wohl bei dir bedanken? Hast du mir das Leben gerettet, oder was war das?“, fragte er benommen, und spürte noch die Panik, als ihm das Wasser in Mund, Nasenlöcher und Ohren drang.
„Ich sollte dir wohl dankbar sein“, rappelte er sich auf. Die Jeans klebte an seinen Beinen. Sie folgten dem schmalen Pfad, gesäumt von Büschen und Sträuchern.
„Ich verzichte auf deine Dankbarkeit, Steffen“, antwortete Hermann und kletterte das steinige Ufer zur Quelle hinauf, in dessen Nähe sie wild kampierten
und die Zelte aufgestellt hatten. Um diese Zeit saßen die anderen bereits unten
am Fluss oder in der Stadt. Grillen zirpten zwischen den Pinienbäumen im trockenen Gras. Hermann zog die Kleider aus, am Gardon, oberhalb der Quelle,
liefen alle nackt herum, eine Mischung aus zivilisationsmüden Künstlern und
Denkern, erkannte er und ließ sich auf einem flachen Felsen nieder. Die Luft
roch nach süßem Holz und feuchter Erde, nach trockenem Schiefer und dem
Brief aus den USA.
*
Tag und Nacht reihten sich an Minute und Stunde, wie Glasperlen auf einer
Schnur. Agnes und Isabel trampten weiter in Richtung Westen. Auf dem Free-
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way herrschte Monotonie. Die Zeit verschwand im Rückspiegel. Mittags hielt
der Truckfahrer im Reservat der Crow Creek Indianer. Der schmierige Typ
spuckte auf den Boden und schimpfte über die „dreckigen Indianer“. Er musste
tanken, wollte noch etwas essen und wieder von diesem „gottverlassenen Ort“
verschwinden. Agnes folgte ihm ins Schnellrestaurant. Isabel winkte ab.
Sie blieb stehen. Der Wind pfiff über den Platz und wirbelte vertrocknete Sträucher empor, ließ sie tanzen und abstürzen, spielte sein Spiel, heulte um die Hütten aus Teerpappe, die windschief der Einöde preisgegeben waren.
Vier Indianer standen an einem wackeligen Stehtisch, tranken Bier und blickten
teilnahmslos vor sich hin. Über einer Tür hing ein buntbemaltes Holzschild.
Isabel schaute durch ein staubiges Fenster in einen niedrigen Raum. Ihr erster
Blick fiel auf eine alte Indianerin, die hinter dem Ladentisch saß, die dicken
Arme aufstützte und mächtig imposant wirkte. „Hello“, sagte Isabel schüchtern
und trat ein. Sie schaute der Frau mit dem faltigen Gesicht und den ergrauten
Zöpfen in die schwarzen Augen, schlenderte an den Regalen entlang, blieb vor
einem Paar Mokassins stehen und zog sie gleich an. Die Schuhe passten genau.
Das weiche Leder schmiegte sich um ihre Knöchel und kühlte die Füße.
Der verlassene Ort tröstete sie auf unerklärliche Weise und der Wind rief „Lakota“, als sie aus der Tür trat.
Agnes und der Fahrer standen neben dem Truck und warteten bereits. Isabel
wäre am liebsten noch geblieben, doch die beiden drängten zur Weiterfahrt. Der
Trucker mit dem langen Haar und dem Knopf im Ohr, kletterte in die Kabine,
knallte die Tür hinter sich zu und drehte den Zündschlüssel herum. „Scheißkaff“, fluchte er. „Die versoffenen Indianer sind Dreck, bevor du dich versiehst,
hast du ein Messer im Rücken.“
„Eine scheußliche Gegend“, bestätigte Agnes und setzte sich neben ihn.
Isabel drehte sich um und blickte ein letztes Mal über den Platz des verlorenen
Zorns. „Sie haben sich dieses Leben nicht ausgesucht. Sie wurden gezwungen
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und in Reservate gesperrt. Seht euch das vertrocknete Land an! Soweit das Auge reicht nur Sträucher und Steppe“, berührte Isabel die Trostlosigkeit.
Ein kleiner Hund mit krummen Beinen und schwarzweißen Flecken auf dem
Rücken, trottete neben der Straße entlang. Er schnupperte am kahlen Strauchwerk und wirbelte die staubige graue Erde auf. Im Reservat überlebten kein
grüner Halm und keine Blume. Soweit das Auge reichte, war nichts als unfruchtbarer Boden zu sehen und selbst die Disteln mieden diese Gegend. Isabel
kurbelte das Fenster runter und hielt ihr Gesicht in den Fahrtwind.
A'te he'ye lo, du sollst leben!“, rief der Wind und trocknete ihre Tränen mit
Sand.
„Bist du schon wieder eingeschnappt?“, fragte Agnes patzig und übelgelaunt.
„Du interessierst dich nicht für die Kultur der Indianer. Ich fühle mich ihnen
verbunden.“
„Du spinnst doch! Was willst du von diesen besoffenen Taugenichtsen lernen?
Niemand würde mich in dieser Gegend halten. Wir wollen nach San Francisco,
da waren wir uns doch einig.“
„Ich möchte auch nach Kalifornien, aber nicht auf diese Weise“, fluchte Isabel.
„Das Land ist aufregend, vielfältig und viel zu schön, um nur durchzurasen und
sich mit Fast Food mäßig zu ernähren. Ich will Menschen kennenlernen, an Orten verweilen und Eindrücke sammeln.“
„Glaubst du mir macht das Spass?“, fragte Agnes wirklich empört. „Die Trucker fragen alle das gleiche und funken den ganzen Tag, Schwachsinn von einem zum anderen und alle hören mit. Das ist unerträglich! Aber mit dem Bus
fahren, ist auch nicht besser“, stöhnte sie.
Der Fahrer wollte etwas von Agnes, die reagierte nicht sofort und er griff unversehens an ihre Brust. „Come on“, hörte Isabel den Texaner rufen. „Why not?
You’re fucking ladies“, lachte er anzüglich und schnalzte mit der Zunge.
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Agnes „no“ klang schrill und sie rutschte zu Isabel auf die Seite. Der Trucker
griff erneut mit seiner Hand nach ihrer Brust. „Come on! It's a great experience.
You show me, how German girls make an American man happy“, grinste er
breit.
Isabel verstand, dass wenigstens eine von ihnen, es ihm besorgen sollte, aus
Dankbarkeit sozusagen, weil er sie mitnahm.
„You bloody Bastard! Klemm ihn zwischen die Wagentür!“, raunzte sie eiskalt
und unmissverständlich. Die Reifen quietschten irgendwo in Wyoming. Die
beiden Frauen rannten die Böschung hinunter, bevor er es sich anders überlegen
konnte. Sie hörten erleichtert, wie sich die schweren Truckreifen, in Bewegung
setzten.
„Du bist mir vielleicht eine, also ehrlich, Isabel! Ich dachte, der macht uns fertig, der lässt sich das nicht gefallen“, schnappte Agnes nach Luft. „Woher wusstest du, was du sagen musst?“, fragte Agnes, die sich nur langsam von dem
Schreck erholte und wie aufgezogen neben Isabel herlief.
Eine schmale Straße führte durch die hügelige Landschaft. Die Erde schimmerte
feucht braun, die Ähren standen in vollem Korn und am Horizont tauchten
mächtige Bergmassive auf, deren Spitzen im Sonnenlicht glänzten.
„Die Intuition hilft mir“, staunte sie über die Schönheit der Natur.
Der Weg war staubig. Eine landwirtschaftliche Zufahrtsstraße führte durch die
Weizenfelder.
„Und was machen wir jetzt?“, wollte Agnes wissen.
„Gehen“, antwortete Isabel und freute sich über die Mokassins an ihren Füßen.
„Shit“, stöhnte Agnes.
„Wir sitzen seit einer Woche in engen Truckkabinen. Laufen wird uns gut tun,
ganz zu Schweigen von der Stille und Weite die uns umgibt, und dem Gefühl,
dass Zeit keine Rolle spielt.“ Isabel schnupperte die Luft, es roch nach trockener
Hitze und die Rucksäcke drückten auf den Hüften. Aus der Ferne hörten sie
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Motorengeräusche. Ein Jeep hielt neben ihnen. Sie blieben stehen. Zwei Cowboys grinsten breit. Der Jüngere saß hinterm Lenkrad. Der Ältere lümmelte lässig in Jeans und Cowboystiefeln auf dem Beifahrersitz, schob seinen breitkrempigen Hut aus der Stirn und begutachtete Isabel und Agnes.
„Könnten Sie uns bis zur nächsten Stadt mitnehmen?“, bat Agnes höflich. Die
Männer lachten und amüsierten sich. „Hier gibt es keine Stadt, jedenfalls nicht
in der Nähe, nur einen Saloon, ungefähr zwei Meilen entfernt“, meinte der
Cowboy. „Hinten ist Platz, steigt auf oder lasst es“, ließ er den Motor an.
Sie zögerten nicht lange und kletterten auf die Ladefläche. Der Beifahrer erzählte, dass er eine Ranch besitzt, Lamas und Pferde züchtet, und dass sie einfach Wilpert zu ihm sagen könnten. Er stellte seinen Vorarbeiter Dale vor und
lud sie zu einer Coke in seine Stammkneipe ein, keine zwei Meilen entfernt.
Der Rancher ging voran in den Saloon, die Flügeltüren schwangen hin und her,
es war dunkel, schattig und kühl im langgezogenen Raum. Rechts stand die
wuchtige Theke, links ein paar Holztische, in der Ecke ein Billardtisch. Sie
setzten sich auf Barhocker und bestellten Mineralwasser. Der Rancher und sein
Cowboy tranken Bier, tuschelten miteinander und luden sie ein, mit auf die
Ranch zu kommen.
Wilpert hatte noch Geschäfte zu erledigen und würde nachmittags mit dem eigenen Flugzeug zum Termin in die Stadt fliegen. Am nächsten Mittag wollte er
zurück sein. Wenn sie mochten, konnten sie mit Dale ausreiten. Der würde sie
am Abend ins Hotel bringen. Am morgigen Nachmittag könnte er sich ebenfalls
frei nehmen und ihnen den Yellowstone Park zeigen.
Agnes nahm die Einladung spontan an: „Kneif mich mal, ich glaube ich bin im
Kino“, stöhnte sie laut. „Das ist ein Kindertraum von mir, einmal im Leben auf
einer Ranch sein“, freute sie sich.
Isabel freute sich auch. Die Ranch lag einsam, inmitten hoher Bergkämme.
Wilpert und Dale führten sie herum und zeigten ihnen die Lamas und Stallun-
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gen der Pferde. Keine Stunde später, ritten sie davon. Wilpert winkte ihnen
freundlich hinterher: „See you tomorrow!“, rief er, dann verschluckte das Klappern der Pferdehufe seine Stimme. Dale ritt voran. Agnes folgte ihm. Isabel
klopfte den Hals des Pferdes und sprach respektvoll: „Du kennst mich nicht,
doch ich komme in guter Absicht. Auf deinem Rücken zu sitzen ist abenteuerlich und ich hoffe, ich bin dir nicht zu schwer?“
Rick, so hieß das Pferd, schüttelte die Mähne und trabte los. Der Rappe kannte
den Weg und kam ohne zu stolpern den Abhang hinunter. Vor ihnen erstreckte
sich ein weites Tal umgeben von mächtigen schneebedeckten Gipfeln, die bis in
den blauen Himmel ragten und sich im Wildbach spiegelten.
„Das ist traumhaft.“ Agnes blaue Augen strahlten. „Wie auf einer Postkarte.“
Dale kam zu ihnen. „Wir reiten zum Fluss und machen eine Pause. Die Pferde
brauchen Wasser.“
„Yippie!“, rief Isabel ausgelassen. Das Pferd spitzte die Ohren und galoppierte
davon. Isabel fiel nicht herunter. Rick blieb an einem schattigen Platz stehen,
schüttelte den Kopf und wieherte zufrieden.
Dale nahm ihr den Hengst ab und wickelte die Zügel um einen Baumstamm.
Agnes und sie zogen Schuhe und Strümpfe aus und krempelten die Jeans hoch.
Sie kletterten über Steinbrocken hinweg, die im Wasser lagen und an manchen
Stellen herausragten. Sie gelangten zu einem ganz besonders flachen Exemplar,
auf dem sie sitzen konnten und hängten die Beine ins Wasser. Sie saßen einfach
nur da, umgeben vom Wildbach und genossen die Ruhe. Manchmal sahen sie
sich an und lächelten einander zu. Der Fluss nahm ihren Ärger mit und löste
ihre Spannungen. Dale lag irgendwo am Ufer und störte sie nicht. Der Nachmittag stand still, die Zeit verging langsam und sacht wie das Plätschern des
Wassers, und erst als die Sonne unterging, ritten sie zur Ranch zurück. Dale
versorgte die Pferde im Stall und brachte sie danach zum Motel. Er gab ihnen
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eine Stunde Zeit, bevor sie sich unten im Restaurant treffen wollten, um gemeinsam Steaks zu essen.
Isabel duschte. Agnes lag auf dem Bett und stöhnte. Ihr tat jeder Knochen weh,
ganz zu Schweigen vom Hinterteil. „Isabel! Isabel!“, rief sie.
„Was ist? Mir läuft der Schaum ins Gesicht. Wenn du was willst, musst du dich
schon hierher bemühen!“
Agnes erhob sich mühsam vom Bett und setzte sich auf den Toilettendeckel.
„Kannst du mich jetzt besser verstehen? Hör zu! Was hältst du davon, wenn ich
mir einen anderen Namen gebe? Agnes klingt einfach schrecklich in der englischen Sprache. Findest du nicht auch?“
„Finde ich nicht.“
„Du bist gemein! Aber mal im Ernst, hört es sich nicht wirklich schlimm an?“
„Äggi klingt doch gar nicht so schlecht.“ Isabel hielt die Dusche über den Kopf
und stellte sich vor, sie stünde unter einem Wasserfall. „Mh“, stöhnte sie vor
Erleichterung. Das heiße Wasser dampfte und beschlug die Duschkabine. Sie
war dankbar und zufrieden mit dem Tag. „Kannst du mir das Handtuch reichen?“
„Sag bitte“, scherzte Agnes. „Na komm, Isabel. Denk nach. Wie soll ich heißen? Streng dich an. Du musst dir schon etwas mehr Mühe geben. Sei nicht so
träge. Du wirst fett. Ich brauche einen anderen Namen.“
„Du siehst aus wie eine Ägnes. Dein Name ist nicht das Problem.“ Isabel schüttelte ihr nasses Haar. Tropfen flogen durch die Luft und bespritzten Agnes, die
spitz aufschrie: „Sei friedlich.“
„Kein Problem.“ Isabel wickelte ein Handtuch zum Turban um den Kopf und
legte sich aufs Bett am Fenster, streckte alle Viere von sich und schloss die Augen. „Ich lerne das Wesentliche zu schätzen und teile die Augenblicke mit der
Einsamkeit. Das Äußere bei dir ist Schale und manchmal Unschuld, Agnes. Du
bist eine Gefangene deiner selbst. Ein anderer Name ändert da wenig.“
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Agnes schaute um die Ecke. Sie war nackt und das Duschwasser tropfte von ihrem langgliedrigen Körper. „Was hast du gesagt?“, fragte sie.
*
Hermann und Steffi liefen Seite an Seite zum Place de l`Horloge. Avignon zeigte sich von seiner schönsten Seite. Die Straßencafés, die vielen unterschiedlichen Menschen, die Altstadt und das alljährliche Theaterfestival, machten es
ihnen leicht, sich wohl zu fühlen. Steffi war die Freundin von Steffen.
„Wie originell“, hatte Hermann gedacht, als sie aufgetaucht war und direkt aus
Freiburg kam, um Steffen zu sehen, so wie sie es ausgemacht hatten. Steffen
wollte eine Woche unter Männern sein, dann sollte sie nachkommen. Und nun
war sie seit drei Tagen da und er verhielt sich einfach unausstehlich, zeigte ihr,
wie genervt er sich durch ihre Anwesenheit fühlte und behandelte sie wie Luft.
Der einzige, der freundlich zu ihr war, war Hermann. Leichtfüßig und ausgelassen hängte sich Steffi bei ihm ein. Sie wollte nicht an Steffen denken und mit
Hermann an ihrer Seite gelang ihr das leichter. Er tat was er tun wollte und das
gefiel ihr. Als sie ihn gefragt hatte, ob sie mit nach Avignon fahren könnte, zögerte er lange und meinte: „Ich möchte lieber alleine bleiben.“
Ihre Enttäuschung war echt und er änderte seine Meinung. Seitdem fühlte sie
sich besser. Die Sonne brannte auf den Steinplatz und die Cafés füllten sich mit
Menschen, die Schatten unter Sonnenschirmen suchten. Hermann sah einen leeren Tisch, löste sich von Steffis Arm und steuerte zielsicher auf einen schattigen
Platz zu.
„Ich möchte einen Café au lait trinken und mich hinsetzen“, rückte er sich einen
Stuhl zurecht, streckte die Beine aus und lächelte zum ersten Mal an diesem
Tag. Steffi entledigte sich des Baumwollpullovers und schüttelte gekonnt ihr
langes blondes Haar. Das grobmaschige T-Shirt spannte über ihrem Busen und
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ihr provokanter Blick erreichte Hermann, als sie die gebräunten Beine übereinander schlug. „Hier ist es schön“, plapperte sie. „Ich bin froh, dass du mich mitgenommen hast, danke. Ich hoffe ich falle dir nicht zur Last. Ich habe das Gefühl - ich störe dich.“
Hermann reagierte nicht, sah über die Stuhlreihen hinweg einem Pantomimen
beim Spiel zu, der einem dicken Mann folgte, seinen Gang aufs Genaueste kopierte und sich nach wenigen Schritten wie das Original verhielt; Gesichtsausdruck, Mimik und Gestik stimmten überein, und die Zuschauer brachen in
Wohlgefallen und Gelächter aus. Der irritierte Mann blieb stehen und sah den
geschminkten Pantomimen ebenfalls stehen bleiben. Wie er, kratzte er sich die
Glatze, suchte mit der einen Hand nach der nicht vorhandenen Taille und mit
der anderen den Eingang zur Hosentasche. Jede Bewegung stimmte mit der des
Spaziergängers überein. Der Passant erkannte sich wieder. Die gelungene Aufmerksamkeit, die ihm durch das Spiel zuteil wurde, ehrte ihn zutiefst und er
lachte herzlich.
„Die Synthese zwischen Komiker und Spaziergänger“, meinte Hermann anerkennend. Die Akteure verschwanden in der Masse.
„Was meinst du?“, fragte Steffi überrascht darüber, dass Hermann überhaupt
etwas sagte. Sie wagte sich weiter vor. „Was denkst du die ganze Zeit? Das
wüsste ich wirklich gerne.“
„Ich vermisse Isabel und wünschte sie wäre hier.“
„Das verstehe ich. Dennoch könntest du ruhig ein bisschen freundlicher zu mir
sein. Ich habe dir nichts getan. Du solltest nicht von einer träumen, die dich verlassen hat und nicht bei dir ist. Wo ist sie eigentlich?“
„In den USA.“
„Das ist super! Da möchte ich auch mal hin! Kalifornien, San Francisco und
Los Angeles“, schwärmte sie. „Aber hier ist es auch nicht schlecht.“
„Stimmt, Avignon kann sich sehen lassen.“
101
„Wann kommt deine Freundin zurück?“
„In einer Ewigkeit.“
„Na komm schon, Trübsal blasen gilt nicht. Die Zeit vergeht schneller als du
denkst.“
„Ich könnte dir nachher das Palais des Papes zeigen“, erwiderte Hermann etwas
liebenswürdiger.
„Ja, gerne, und danach gehen wir zusammen essen und leben wie Gott in Frankreich. Das haben wir uns verdient, wenn die Liebsten uns verschmähen, müssen
sie sich nicht wundern ...“, flirtete sie.
*
„Das kannst du doch nicht machen, einfach aufstehen und in die Kneipe gehen!
Merkst du nicht, dass du mich wie eine Hure behandelst? Du hast mich genommen, gehst ein Bier trinken und erzählst deinen Cowboyfreunden von der Deutschen, mit der du es gerade getrieben hast, du Mistkerl!“ Agnes kochte vor Wut.
„Was willst du? Eine Frau, die beim ersten Mal mit einem Mann ins Bett steigt,
ist eine Hure, jedenfalls würde ich so eine Frau nicht heiraten, falls du das
meinst.“
„Du sollst mich nicht heiraten, du Idiot. Ich würde einen Kuhhirten wie dich nie
heiraten, aber das heißt doch noch lange nicht, dass du mich so behandeln
kannst.“
Dale zerrte am linken Stiefelschaft und trat fest auf den Boden. Er nahm die
Jeansjacke von der Stuhllehne und verschwand ohne ein weiteres Wort zu sagen. Agnes schlief wütend ein. Als sie aufwachte, lag Dale schnarchend neben
ihr. Sie boxte ihn auf den Oberarm. Das würde er bereuen. Jemanden wie sie
beleidigte, demütigte und benutzte niemand.
102
„Los du Kuhhirte, wach endlich auf. Mach schon. Raus aus dem Bett. Hau ab!“
Dale verstand kein Wort, drehte sich auf die andere Seite und schlief weiter.
Agnes stellte sich unter die Dusche. Sie konnte gar nicht aufhören den fremden
Geruch von der Haut zu waschen und die Scham gleich mit.
Nebenan verriegelte Isabel die Badezimmertür. Wilpert hatte sie in der vergangenen Nacht mehrmals bedrängt und belästigt. Der Cowboy wollte nicht verstehen, dass sie nicht das Bett mit ihm zu teilen gedachte, nur weil sie in einem
Zimmer schliefen. Beim ersten Mal komplimentierte sie ihn in sein eigenes Bett
zurück, beim zweiten Mal stieß sie ihn unsanft beiseite.
Wilpert kommentierte zutiefst beleidigt: „Weiber machen nur Ärger. Ich lade
sie ein, bezahle die Rechnung und zum Dank - nothing.“
Der Morgen war frostig. Sie sprachen nicht mehr miteinander und Wilpert
kommandierte herum. Isabel und Agnes nahmen hinten auf dem Jeep Platz. Die
Cowboys lästerten über Frauen im Allgemeinen und verglichen sie mit Stuten
und Lamas. Dale grinste arrogant und genoss die Überlegenheit vor seinem
Chef, der überhaupt nicht zum Stechen gekommen war. Der Fahrtwind verschluckte seine Beleidigungen.
Isabel wollte bei der nächstbesten Gelegenheit aussteigen. Agnes reagierte sauer: „Das kommt überhaupt nicht in Frage! Die Idioten fahren uns zum Yellowstone Park, hast du das schon vergessen? Du kannst mir glauben, ich rede
kein Wort mehr mit Dale und werde mich auch nicht von ihm verabschieden.
Der soll ruhig merken, wie das ist, wenn man schlecht behandelt wird“, fluchte
Agnes beleidigt.
„Das begreift der doch gar nicht.“ Isabel schüttelte unzufrieden den Kopf. „Was
soll das, Agnes? Was soll dieses Spielchen? Schieß ihn in den Wind, hak’ ihn
ab.“
„Wenn du nicht deinen Willen durchgesetzt hättest, wäre das gestern Nacht gar
nicht passiert“, sträubte sich Agnes. „Du wolltest unbedingt mit Wilpert in ei-
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nem Zimmer schlafen. Dale hat mich quasi vergewaltigt und das ist deine
Schuld!“
Isabel wandte sprachlos ihr Gesicht ab und schaute auf ein Holzschild, das am
Straßenrand auftauchte „Yellowstone National Park“, stand in dunkler Farbe
auf hellem Grund geschrieben. Der Jeep hielt vor einem Restaurant. Dale stieg
aus und bewegte sich breitbeinig zum Eingang. „Beeilt euch!“, rief Wilpert autoritär, drehte ihnen den Rücken zu und verschwand hinter der Tür.
Isabel folgte der Straße in Feilrichtung.
„Was ist los? Was hast du vor?“, rief Agnes hinter ihr her „Wo willst du denn
hin? Die geben uns ein Essen aus“, drängelte sie. „Bleib doch mal stehen!“
„Kein Interesse. Mach was du willst. Ich gehe die zwei Meilen zu Fuß und verzichte auf ein weiteres Essen mit den Cowboys. Ich habe keine Lust falsche Erwartungen zu bedienen und für deinen schlechten Sex mit Dale verantwortlich
gemacht zu werden.“
Agnes folgte ihr. Am Ende des Weges trafen sie auf den Campingplatzbesitzer.
Der wies ihnen einen Platz zu, ganz in der Nähe der Feuerstelle und erzählte ihnen noch von den Bären, die in dieser Gegend zu Hause waren. Sie sollten keine süßen Sachen offen stehen lassen, sonst gab es nichts zu beachten, wünschte
er ihnen einen guten Aufenthalt. Der Boden war weich, von Moos bedeckt und
das Zelt leicht aufzubauen. Die Luft roch nach Tannennadeln und Vogelgezwitscher drang durch die Zweige. Die Stille war friedlich und die Gedanken ruhten.
Isabel saß vor dem Zelt und meditierte. Agnes war noch nicht zurückgekehrt.
Sie hatte am Nachmittag einen Zusammenbruch erlitten und nicht aufhören
können zu weinen, fühlte sich von Dale benutzt und scheiterte kläglich bei dem
Versuch, Isabel für das Desaster verantwortlich zu machen. Isabel war Profi in
Sachen Schuld! Schuld, die für ein ganzes Leben reichen musste. Und so hatte
es kein Halten mehr gegeben, nachdem Agnes ihr böswillig unterstellte, sie wäre verantwortlich für den schlechten Sex mit Dale.
104
Isabel schleuderte Agnes die Wörter nur so um die Ohren: „Du wolltest die
Nacht mit Dale verbringen und unbedingt einen Cowboy auf deiner Liste abhaken. Du hast ihn scharf gemacht und nach allen Regeln verführt. Tue was dir
gefällt, aber komme mir hinterher nicht auf diese Weise. Du bist verantwortlich
für die Männer deiner Wahl, und deshalb wage es ja nicht, mich für deine Naivität verantwortlich zu machen. Dies ist das zweite Mal, das du mir Grund
gibst, auf der Stelle ohne dich weiter zu reisen. Ich habe genug von dir, von
deiner Arroganz und Selbstverliebtheit. Ich kann dich nicht ertragen.“
Daraufhin war Agnes einfach davongelaufen. Inzwischen wurde es bereits dunkel. Isabel legte trockene Holzscheite auf die Feuerstelle. Die Flammen blitzten
gelbrot. Sie fühlte sich erleichtert und wieder bei sich. Es war jedes Mal ein
Kraftakt, sich aus Agnes Projektionen zu befreien. Sie brauchte all ihre Sinne,
um nicht verloren zu gehen. Agnes tauchte zwischen den Bäumen auf. „High“,
sagte sie und kam näher. „Es tut mir Leid wegen vorhin, entschuldige. Ich war
außer mir und ungerecht. Es stimmt, ich wollte den Cowboy von Anfang an haben, ein weiterer Strich in meiner Liste. Pardon! Verzeihst du mir? Ich hoffe, du
hast mich auch ein bisschen vermisst?“, schmollte sie steinerweichend.
„Ich bin gerne alleine“, wehrte sich Isabel
„Wenn du meinst. Ich habe dich jedenfalls vermisst, nur damit du es weißt. Ich
habe dich wirklich vermisst, und ich musste mich dazu zwingen, nicht sofort
wieder zurückzukommen, nachdem du den Nagel auf den Kopf getroffen hast.
Ich war im Restaurant am Bergsee, habe zuviel dünnen Kaffee getrunken und
dabei an dich gedacht. Soll ich dir vorlesen, was ich geschrieben habe?“
„Warum nicht?“, schaute Isabel auf.
Agnes las vor: „Ich verstehe Isabel. Ihr Zorn ist berechtigt. Alles was sie gesagt
hat, stimmt. Ich mache was die Männer mögen und nicht das, was mir Vergnügen bereitet. Ich weiß nicht, worauf ich Lust habe? Was ich fühle? Warum ich
mich so verhalte? Ich habe noch nicht darüber nachgedacht. Wie konnte ich
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nur so dumm und naiv sein? Isabel ist ungewöhnlich, meistens verstehe ich sie
nicht, weiß aber intuitiv, dass es wichtig ist, was sie zu sagen hat. Sie denkt anders, ist beharrlich und intensiv. Von einem zum anderen Augenblick, erschien
sie mir so weiblich, und ich wollte sie umarmen und berühren, ihre nackte Haut
schimmerte bronzen und ich wollte sie spüren, und auch etwas so Zartes in mir
finden, wie es in ihr existiert. Sie ist attraktiv und ihre Stimme ist lasziv. Ihre
Augen sind blau wie das Meer, grün wie die Wiesen im Sommerlicht und grau
wie die Tiefe. Ich habe sie aus der Entfernung beobachtet. Sie saß still vor dem
Zelt und las ein Buch. Ich wollte sie küssen, sie strahlte soviel Wärme aus und
ich fand sie begehrenswert, plötzlich, einfach so. Ich darf die Distanz zu ihr
nicht verlieren. Was ist das? Was soll das? Woher kommt das? Ich verstehe
nichts. Ich muss mit Isabel sprechen.“
Agnes faltete den Brief zusammen und steckte ihn in die Hosentasche.
„Was meinst du? Bin ich lesbisch?“
„Für mich ist es eher ein erster Schritt, du kommst dir näher, das ist Voraussetzung.“
„Wovon redest du? Ich will lieber nicht hören was du sagst. Du bringst mich
durcheinander. Du verstehst keinen Spass und nimmst alles so verbissen ernst.“
„Vergiss es.“
„Du verstehst mich nicht. Ich habe sehr viel nachzuholen und brauche das.“
„Wenn es dir wenigstens Spass machen würde, Agnes, warum nicht?! Aber du
bist unglücklich und permanent schlecht gelaunt. Du schleppst einen nach dem
anderen ab und hast am nächsten Morgen einen Kater. Die Krönung der letzten
Wochen war eindeutig Dale, die Namen der anderen habe ich mir gar nicht erst
gemerkt.“
„Erwarte keine Rücksichtnahme von mir. Ich habe Philippe geliebt.“
„Willst du damit sagen, dass du dich an mir rächst, weil ich eine Affäre mit ihm
hatte?“
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„Blödsinn. Er hat es mit allen Freundinnen von mir getrieben. Bilde dir ja nichts
darauf ein. Du hast ihn nicht gekriegt, Clarissa hat ihn bekommen.“
„Ich wollte ihn nicht kriegen, Agnes. Es tut mir leid, dass ich ihm nicht widerstehen konnte.“
„Ich habe die Schnauze gestrichen voll von dem Casanova und will nicht mehr
an ihn denken. Er war gut im Bett, aber sonst eine Niete, stumm wie ein Fisch
und öde wie die Monotonie. Nur Sex hatte ich keinen so guten mehr, seitdem es
mit ihm vorbei ist. Er weiß, dass er ein guter Liebhaber ist und wird nie treu
sein, keiner Frau. Ich will einen Mann und Kinder. Genug, genug! Sag mir lieber, wann wir endlich nach Kalifornien reisen? Ich langweile mich alleine mit
dir und mag es nicht, wenn du mir gefallen willst, also bleib locker.“
„Du bist unverbesserlich“, lachte Isabel ermüdet von den sinnlosen Auseinandersetzungen.
Hermann hatte alles zusammengepackt und nahm Abschied. Die Zeit in Collias
war schnell vergangen, zu schnell, wie er meinte. Was jetzt kommen würde,
wusste er nicht. Er hatte sein Zimmer in der Männer WG aufgegeben und eigentlich zu Isabel ziehen wollen, doch die musste, auf Drängen des Vaters, ihr
Appartement aufgeben. Gefühle von Schmerz und Wut auf Isabel, wurden immer lauter in ihm. Er hatte sich auf sie eingelassen und sie hatte ihn verlassen.
Hin- und hergerissen von bleiernen Gedanken, beobachtete er ein letztes Mal
den träge fließenden Fluss, sein Herz war eng und einsam.
„Bist du soweit?“, hörte er Steffen rufen.
„Ich komme gleich“, rief er zurück und fragte leise: „Isabel, wo bist du? Denkst
du an mich? Kannst du meine Angst fühlen? Was wird aus uns? Liebst du mich
noch? So viele Abschiede liegen hinter mir, ich kann mir kaum noch vorstellen,
wie es sein wird, anzukommen.“
„Hey, Hermann, was ist los mit dir. Freust du dich gar nicht auf Freiburg?“
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„Was soll ich in Freiburg? Ich habe keine Wohnung und niemand erwartet
mich.“
„Rede doch keinen Unsinn. Was ist mit deinen Kindern? Was mit deinen
Freunden? Du tust ja gerade so, als wärst du alleine auf der Welt“, motzte Steffen ihn an und scheuchte ihn vom Felsen.
„Na komm schon, lass den Kopf nicht hängen“, meinte Steffi. Die Bochumer
packten mit an. Rucksäcke, Tüten und Taschen standen bereit. Einer Expedition
gleich, machte sich die Gruppe auf den Weg, ein letztes Mal am Fluss entlang,
vorbei an der Quelle, über schroffe Felsen hinweg, durch das kleine Wäldchen
hindurch, zum flachen Uferstrand. Hermann hatte beinahe vergessen, wie verlassen er war und tröstete sich mit Steffis Angebot, für einige Zeit bei ihr wohnen zu können. Die Stimmung hellte auf. Sie sangen. Steffi und Steffen sprachen wieder miteinander. Die Fahrt durch die hügelige Landschaft brachte sie
bis ans Mittelmeer, ins Zentrum von St. Tropez. Die Straße führte am Hafen
entlang. Sie suchten einen Parkplatz, aßen Fisch in einem Restaurant unter freiem Himmel und tranken Rotwein. Die Stadt quoll über von Touristen, es gab
nirgendwo einen ruhigen Fleck, und so reisten sie enttäuscht vom Rummel und
den viel zu lauten Menschen weiter, hielten nur noch zum Tanken und Essen an
und erreichten in der Nacht, Freiburg im Breisgau. Die Realität wartete bereits
an der Ecke.
Hermann stand am Spülbecken. Seitdem er zurück in Freiburg war, lief alles
schief. Er hatte die Tage damit vertan, alte Trampelpfade zu beschreiten und mit
schwerem Kopf und pelzigem Geschmack im Mund, am Morgen im fremden
Bett aufzuwachen. Er ließ Wasser einlaufen, gab Spülmittel hinzu und schäumte das ganze gedankenverloren auf, ließ die Teller hineingleiten, nahm eine
Bürste mit langem Holzgriff und schrubbte die angetrockneten Essensreste bis
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sie sich ablösten. Steffi drängte ihn beiseite und erklärte: „So macht man das
nicht.“
Hermann biss die Zähne zusammen und beherrschte sich: „Wenn du lieber abwaschen willst, dann koche ich Kaffee“, meinte er, holte Tassen aus dem Einbauschrank und brachte sie ins Wohnzimmer. Steffi schaute ihm wütend hinterher. Sie lebte wie in einem Möbelkatalog und kommentierte jeden Gegenstand
in ihrer Wohnung: der praktische Wohnzimmerschrank, die teure Stereoanlage,
die beste Photoausrüstung, die bequeme Couch, der wertvolle Teppich, der edle
Kronleuchter, die gemusterte Tapete, das silberne Besteck. Er erkannte die junge Frau, die er in Collias kennengelernt hatte nicht wieder. Wo war ihre Spontaneität und Ungezwungenheit geblieben? Einerseits war Steffi selbstgerecht, andererseits verängstigt und depressiv. Sie war eine Frau, die ihre Gefühle kompensierte und hilflos regredierte, wenn sie von ihrem Vater schwärmte, dem Direktor der Caritas Freiburg. Voller Stolz wies sie darauf hin, dass er nicht ohne
sie zurecht kam und über jeden ihrer Schritte informiert werden wollte.
Steffi setzte sich neben Hermann aufs schwarzgeblümte Sofa und kuschelte sich
schuldbewusst an seine Seite. „Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist. Ich
glaube, ich mache mir mit meinem Ex Rainer etwas vor. Ich wäre lieber mit einem Intellektuellen zusammen, mit dem ich auch über andere Sachen reden
kann, als übers Kinderkriegen und so.“ Sie sah Hermann viel versprechend an.
Er reagierte nicht auf ihre Anspielung, entschied sich aber genau in diesem Augenblick dafür, nicht länger zu warten und bereits am nächsten Morgen nach
Berlin abzureisen.
„Ich liebe Isabel, Steffi, also mach dir bitte keine falschen Hoffnungen. Ich bin
froh darüber, dass ich einige Tage bei dir unterkommen konnte, doch mehr ist
nicht und wird auch nicht sein.“
Danach war Steffi richtig schlecht gelaunt. Abends fuhren sie in den Roten
Punkt. Im unteren Bereich des Clubs spielte eine Jazzband. Beatrix stand vor
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der Bühne, mit einer Bierflasche in der Hand und freute sich Hermann zu sehen.
Sie erzählte ihm die neusten politischen Nachrichten aus der linken Szene. Steffi war sauer, weil er sich nicht um sie kümmerte und spielte das kleine Mädchen, dass nicht alleine auf die Toilette gehen kann. Hermann war so genervt,
dass er bereits nach einer Stunde aufgab und mit Steffi zurückfuhr. Während er
im Wohnzimmer auf dem Sofa versuchte einzuschlafen, kam sie ins Zimmer,
schwarz bestrapst, mit einem durchsichtigen Spitzenhemd und Spaghettiträgern,
tänzelte vor ihm auf und ab, ganz der verführerische Vamp.
Hermann fühlte sich von ihrem Auftritt erregt und gleichzeitig abgestoßen.
„Was soll das? Ich habe Isabel versprochen treu zu sein und das möchte ich
auch bleiben.“
„Stell dich nicht dumm, du willst es doch auch. Ich kann es dir ansehen. Du bist
scharf auf mich. Nimm mich einfach, warum nicht“, stöhnte sie gekünstelt.
„Hör auf, Steffi, ich möchte das nicht. Du weißt, ich liebe Isabel.“
„Isabel! Isabel! Ich kann diesen Namen nicht mehr hören. Jetzt bist du bei mir
und sie ist weit weg. Du bist heiß auf mich und das ist das einzige was zählt.
Wir haben Spass miteinander, du wirst sehen, es gefällt dir auch.“ Sie öffnete
ihre Schenkel und lehnte sich zurück: „Komm schon! Sei kein Spielverderber“,
hauchte sie ihm ins Ohr und fühlte seine Erregung.
*
Die Nacht war sternenklar. Agnes, Debbie, Jason und Isabel saßen im Whirlpool unter freiem Himmel. „Euer Haus ist wirklich schön“, bestätigte Agnes
und konnte ihr Glück kaum fassen. Sie hatte Debbie und Jason auf einem
Mondscheinfest in der Nähe von Mendocino kennengelernt und sich stundenlang mit ihnen unterhalten.
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„Eine gute Idee, den Whirlpool auf die Terrasse zu bauen“, schwärmte Isabel,
während die sprudelnden Wasserblasen auf ihrer Haut zerplatzten und der Himmel in wolkenlosem blau zerfloss.
„Wir haben das Haus selbst entworfen“, sagte Debbie stolz und reichte die Gläser an die Gäste weiter.
„Freut mich, dass es euch gefällt“, lachte Jason vergnügt und wollte anstoßen.
Das Meer war keine einhundert Meter entfernt, es roch nach Salz und Tang.
Nichts verstellte die Aussicht und soweit das Auge reichte gab es keine Nachbarn, außer ein paar Möwen, die es bald wieder fortzog.
„Auf die Nacht im Paradies“, freute sich Agnes.
„Auf uns“, sagte Debbie.
„Auf euch“, wiederholte Jason.
„Auf das Leben“, sagte Isabel.
Das warme Wasser reichte ihnen bis zu den Schultern und aus der Ferne hörten
sie die rauschende Brandung. Jason arbeitete als freier Architekt. Er war klein,
drahtig, hatte schütteres Haar und lebendige Augen. Debbie war Malerin, korpulent mit großen schweren Brüsten, dunklem, halblangem Haar und weichen
Gesichtszügen.
„Ihr seid so lieb“, sprach sie zu Agnes und Isabel.“
„Du bist auch lieb“, meinte Agnes und küsste Debbie auf den Mund.
„Ich auch“, bat Jason.
„Ich auch“, lachte Isabel. Wer auf die Idee kam, dass jeder von ihnen einmal
von den anderen verwöhnt werden sollte, wusste am Ende niemand mehr. Zuerst war Debbie an der Reihe. Hände streichelten sie über und unter Wasser und
das sanfte Gluckern entspannte die Sinne. Da war nichts Gemeines in den Berührungen der anderen und alle genossen die Körperlichkeit. Sie verloren die
Scham ohne schamlos zu werden, berührten Brüste und Bäuche, Münder und
Hälse, tauschten Zärtlichkeiten aus wie andere Leckereien und vergaßen Zeit
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und Moral. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, als sie aus dem Whirlpool
stiegen und in den großen Wohnraum wechselten. Keiner wollte schlafen, und
da ihre Körper nach dem stundenlangen Baden, aufgeweicht und schrumpelig
waren, entschieden sie sich dafür, sich gegenseitig einzucremen. Zuerst kam Jason an die Reihe, dann Debbie und danach Isabel. Sie lag auf dem weichen
Teppichboden und fühlte sechs Hände auf ihrem Körper. Agnes massierte ihren
Kopf und die Schultern, Debbie die Brüste und den Bauch, Jason die Füße und
die Beine. Zuerst fühlte sie sich gut und konnte sich den Berührungen hingeben,
doch als Jason ihre Schenkel öffnen wollte, verkrampfte sich ihr Körper und
wurde steinhart. Jason fühlte sich zurückgestoßen und versuchte es noch einmal. Er wollte ihr ganz bestimmt nicht wehtun, wollte nur die Haut zwischen
ihren Schenkeln berühren, da war doch nichts dabei. Vorhin im Whirlpool, da
hatte er sie auch berührt und sie hatte gelächelt.
Agnes massierte ihre Stirn und wunderte sich nicht über die scharfe Falte zwischen Isabels Augen, bemerkte auch nicht den verkrampften Kiefer, der nicht
mehr locker lassen konnten.
Debbies Hände umkreisten Isabels brettharten Bauch und sie spürte die Verzweiflung, bevor sie begriff, dass Isabel sich wehrte. „Aufhören!“ rief Debbie
und die anderen fuhren erschrocken zusammen. Isabel weinte leise und konnte
nicht sprechen.
„Schon gut“, flüsterte Debbie sanft. „Hab keine Angst. Ich bin bei dir. Niemand
wird dir wehtun“, beruhigte und streichelte sie Isabel die Tränen aus dem Gesicht. „Ich glaube, wir sind alle müde“, sagte sie nun auch zu den anderen.
„Besser wir gehen ins Bett. Das war ein langer Tag.“
„Ich habe ihr gar nichts getan“, rechtfertigte sich Jason. „Wirklich nicht“, wiederholte er und verließ mit hängenden Schultern den Raum.
Debbie half Isabel beim Aufstehen und brachte sie ins Bett.
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„Es tut mir leid“, schluchzte Isabel. „Ich wollte euch die Stimmung nicht verderben.“
„Pst, ganz ruhig“, antwortete Debbie, deckte sie zu, gab ihr einen Kuss auf die
Stirn und verließ das Gästezimmer.
„Was war denn nun schon wieder los?“, fragte Agnes aufgebracht.
„Ich weiß nicht. Ich konnte mich nicht mehr bewegen und wollte nicht, dass Jason mir zwischen die Beine fasst. Es war furchtbar, wie damals als ich klein
war.“
„Warum tust du das? Warum musst du mir ständig die Stimmung verderben.
Vergiss deine alten Geschichten. Du merkst nicht einmal, wie sehr du den Menschen damit auf die Nerven gehst. Wenn ich gewusst hätte, wie kaputt du bist,
hätte ich dich nie mitgenommen und mir eine andere Frau für die Reise gesucht.
Jede wäre besser gewesen als du. Mit dir kann man keinen Spass haben.“
Isabel hörte Agnes fluchen, schimpfen und drohen „Du bist neidisch und eifersüchtig. Du gönnst mir nichts. Ich hatte mich so auf die Massage gefreut, und
wer weiß, was noch alles passiert wäre? Ich rate dir, für die letzten Wochen der
Reise den Mund zu halten, und mich nicht mehr zu ärgern, denn ich habe genug
von deinen Macken.“ Agnes stütze sich auf den Ellbogen.
Isabel zitterte und schwitzte. Gott sei Dank war Agnes müde und schlief über
ihrer Kanonade dumpfer Vorwürfe ein, während Isabel sich ohne Vorwarnung
in der Erinnerung verirrte. Der Schlaf bewahrte sie vor dem Abgrund.
*
Hermann erreichte Berlin spät in der Nacht. Die Nachbarin von Susken, in deren Wohnung er bleiben konnte, bis Isabel aus Amerika zurückkam, war nicht
zu Hause.
113
In seiner Not, rief er Ulrike an, die in einer Wohngemeinschaft in Kreuzberg
lebte. Sie lud ihn ein und erklärte ihm den Weg, wartete auf ihn und war überhaupt sehr freundlich und hilfsbereit.
Hermann saß in einer einhundertsechzig Quadratmeter großen Fabriketage und
genoss die Weitläufigkeit des Raumes. Vier Menschen wohnten gemeinsam in
der dritten Etage eines Hinterhauses am Moritzplatz, drei Frauen und ein Mann.
Nur das Bad und ein großer, gemeinsamer Schlafraum am Ende der Raumfluchten, wurden durch hochgezogene Wände abgeteilt, sonst gab es keine Türen, Abgrenzungen oder Zimmer.
Die Gruppe lebte bereits seit vier Jahren auf diese Weise zusammen, teilten
Kleidung, Geld und Besitz miteinander und fühlte sich verbunden.
Hermann war beeindruckt vom Lebensgefühl und dem Umgang miteinander. Er
fühlte sich angenehm aufgehoben für den Augenblick, wusste jedoch nicht, ob
er auf Dauer ohne die eigenen vier Wände würde leben können, ohne Privatheit.
Kleider und Geld zu teilen, schien ihm weniger schwierig zu sein, als der Verzicht auf ein eigenes Zimmer.
Ulrike erschien lässig im Bademantel, holte sich eine Tasse vom Regal und
setzte sich zu Hermann an den vier Meter langen Esstisch aus massivem Buchenholz. „Hast du gut geschlafen?“, fragte sie munter.
Hermann brauchte morgens mindesten zwei Stunden, bevor er endlich wach
wurde, und bis dahin war es besser, ihn einfach in Ruhe zu lassen.
Er versuchte höflich zu sein. „Ja, danke, und du?“
„Wenn ich nicht zur Uni muss, schlafe ich immer gut“, meinte Ulli. Sie studierte Medizin im achten Semester an der Freien Universität. Sie wollte später
für Menschenrechtsorganisationen als Ärztin im Ausland arbeiten. „Hast du
heute schon etwas vor?“
„Nein, eigentlich nicht. Ich muss nur den Schlüssel für die Wohnung von
Susken besorgen, das ist alles.“
114
„Du brauchst dich nicht zu beeilen, du kannst hier bleiben, ich habe schon mit
den anderen gesprochen. Komm doch mit nach Moabit.“
„Was machst du da?“
„Ich gehe zum Prozess der Gruppe 2. Juni. Wenn ich Zeit habe gehe ich immer
dahin. Ein Schauspiel, wenn man es nicht gesehen hat, glaubt man es kaum.“
„Ja, das interessiert mich“, antwortete Hermann überrascht. Er wusste nicht genau warum? Ulrike wirkte bürgerlich kühl, keineswegs unangenehmen, hatte
lebendige Augen, ein schönes interessantes Gesicht und politisches Interesse. Er
war froh darüber, früher nach Berlin gekommen zu sein, und nicht in der Enge
Freiburgs ausgeharrt zu haben. Gegen acht Uhr fuhren sie mit der U-Bahn nach
Moabit, nahmen den Bus zum Gericht und warteten mit anderen Interessierten
und Neugierigen auf den Einlass. Die Stimmung vor dem Gerichtsgebäude war
seltsam aufgekratzt. Pünktlich um neun Uhr wurde die Seitentür zum Gericht
geöffnet. Hermann trat aufgeregt in den Vorraum, packte den Tascheninhalt aus
und wurde danach selbst von Kopf bis Fuß kontrolliert. Sogar die Schuhe musste er ausziehen. Ulli wartete am Ausgang zum Eingang.
„Das hat lange gedauert.“
„Die haben mich auf den Kopf gestellt“, meinte Hermann ironisch.
„Wenn du das nicht selbst erlebt hast, glaubst du es nicht.“
Die Flure waren dunkel, die Treppen wendelten sich hoch bis in den dritten
Stock. Vor dem Gerichtssaal 700 warteten sie wieder vor geschlossenen Türen,
rauchten, redeten und schwiegen, bis die Menge eingelassen wurde.
Ulli drängelte sich vor. Der Gerichtssaal war groß und hoch. Rechts und links
vom schmalen Mittelgang, standen die Besucherstühle in sechser Reihen. Eine
Holzbalustrade trennte die Zuschauer vom eigentlichen Geschehen.
In ungefähr zehn Metern Entfernung befanden sich jeweils rechts und links
zwei klotzige Glaskästen. Hermann wollte Ullrike gerade fragen, was das soll,
als die Angeklagten eintraten. Er erkannte Max Engel, der winkte, frotzelte und
115
begrüßte die Zuschauer mit Handzeichen. Tilo und Andi folgten und ulkten bis
der Richter sie verwarnte. Im linken Glaskasten setzten sich Rolf, Ronnie und
Gerald hinter die Mikrofone. Sie sprachen miteinander, ohne von den Zuschauern gehört werden zu können. In den schalldichten Abstellkammern aus Panzerglas wurde den Angeklagten das Wort erteilt. „Wie im Zoo“, bemerkte Hermann zu Ulrike. Die nickte und flüsterte: „Als ich zum ersten Mal hier war,
habe ich hinterher stundenlang geheult. Ich fand das so erniedrigend. Die Angeklagten machen Witze darüber, sieh mal der Max! Er macht Faxen und Zeichen.“
Hinter ihnen reagierte eine junge Frau. Hermann tröstete das keineswegs. Er
fühlte die Beklemmung und den Ernst der Situation. Das hier war weder ein
Zoo, noch ein Theaterstück, es war Realität und die Angeklagten hatten mit
mindesten 10 Jahren Gefängnis zu rechnen. Er war so versunken in das Geschehen, dass er nicht bemerkte, wie das „Hohe Gericht“ eintrat.
Ulli zog ihn am Ärmel. Sie war bereits aufgestanden. Einige blieben demonstrativ sitzen. Der Preis dafür war, dass sie bereits nach drei Minuten von Uniformierten aus dem Saal geführt wurden.
Vor den Angeklagten nahmen die Verteidiger und eine Reihe tiefer die Pflichtverteidiger ihre Plätze ein. Links vom Richter und den Beisitzern, saßen die
Bundesstaatsanwälte in ihren roten Roben. Einer der Verteidiger warf dem
Richter Befangenheit vor und unter den Zuschauern entstand Bewegung, lautes
Klatschen und trampelndes Stampfen.
Der Richter klopfte mit seinem Hammer auf die Tischplatte und erwartete Ruhe. Als das nichts half, ließ er die Zuschauertribüne kurzerhand räumen. Hermann war erleichtert, als sie draußen vor der Tür standen. Er wusste, er würde
wiederkommen, aber für das erste Mal hatte er genug gesehen und erlebt. Ulrike
fasste ihn am Oberarm. „Gehen wir noch etwas trinken? Gleich um die Ecke ist
ein alternatives Cafe. Wir können reden. Du siehst mitgenommen aus.“
116
*
Isabel konnte nicht einschlafen. Sie wollte Agnes nicht wecken, stand leise auf
und öffnete die Flügeltür zur Küche. Der Steinfußboden war angenehm kühl.
Direkt unter dem Fenster standen eine Sitzbank mit Lehne, davor ein rechteckiger Holztisch und drei unterschiedliche Stühle. Das viktorianische Haus war bereits in die Jahre gekommen, es hatte Stil und Atmosphäre, gehörte zu einer
Reihe ähnlicher Häuser und lag an einer dieser steilen Straßen in San Francisco.
Vor zwei Wochen hatten Agnes und sie, Don in einem Café am Hafen von Portland kennengelernt, sich lange unterhalten und zum Abschied, hatte er sie nach
San Francisco, zu sich in die WG eingeladen.
Isabel entzündete eine Gasflamme und stellte den Wasserkessel drauf, holte
eine hohe, gelbe Tasse aus einem der Schränke neben der Spüle, setzte sich auf
die Holzbank und blickte aus dem Fenster in den Hinterhof.
Bäume und Pflanzen, die sie nicht bestimmen konnte, wuchsen verwildert auf
der ansonsten leeren Fläche und weckten romantische Gefühle. Der Garten, das
Haus, alles passte zusammen, hatte etwas Verwunschenes, längst Vergangenes
und war gleichzeitig lebendig und eindrucksvoll geblieben.
Sie betrachtete eine üppig rote Blüte, auf einem schmalen Stängel, das Haupt
zum Schlaf gesenkt, die Blätter hingen entspannt wie kleine Flügel am zarten
Körper. „Soviel Anmut und Grazie, vereint in einer Blume“, dachte Isabel und
spürte Dankbarkeit darüber, hier sein und diesen Augenblick zu denen zählen
zu können, die sie nie vergessen würde.
San Francisco war eine besondere Stadt. Die Menschen lebten bewusster, vergnügten sich bei gesunder Ernährung, tranken dunklen kalifornischen Rotwein,
lebten ausgelassen und liebten neue Gedanken. Die Bewohner machten aus der
Stadt eine bunte und offene Gesellschaft. Isabel mochte die architektonisch in-
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teressanten Hochhäuser im Zentrum, daneben Chinatown, die Stimmung auf
den Straßen, die Nähe zum Meer, und diese lebendige Mischung aus Vergangenheit und Gegenwart.
Sie erinnerte sich daran wie Don sie aus dem YMCA abgeholt hatte. In hektischer Eile zeigte er ihnen das Haus, das Gemeinschaftszimmer, die Küche, das
Bad und sein eigens ausgebautes Dachzimmer. Er übergab ihnen den Hausschlüssel und winkte zum Abschied. Don verdiente seinen Lebensunterhalt als
Modell. Der stille Don, den sie in Portland kennengelernt hatten, entpuppte sich
als eitler, gestresster, oberflächlicher Typ, doch das war unerheblich, denn sie
sahen ihn kaum noch.
Nachdem Don sie in dem viktorianischen Haus alleine zurückgelassen hatte,
packten sie die Rucksäcke aus, rollten die Schlafsäcke zum Lüften auf dem
Parkettfußboden im Gemeinschaftszimmer aus, während die Sonne durch ein
staubiges Seitenfenster schien und sie auf den Balkon lockte. Sie ließen sich locken. Agnes sonnte sich im Bikini. Isabel schrieb Tagebuch. Als sie aufblickte,
schaute sie in große offene Augen. Der Mann, der zu den Augen gehörte, hatte
erotisch geschwungene Lippen, die sie auf der Stelle faszinierten.
„I am Robert“, sprach er mit sanfter klangvoller Stimme und kam auf sie zu,
reichte ihr seine Hand, hielt die ihre zu lange, wie sie fand, weil ihre Handfläche feucht wurde und sein Blick sie erröten ließ. Er zog sie an und seine Berührung versprach sinnliche Abenteuer. Agnes reagierte und wurde unruhig. Robert
begrüßte sie höflich und verließ den Balkon.
„Der gefällt dir, aber er gehört mir“, sagte Agnes mit ellbogenspitzen Worten.
„Also halte dich zurück!“, zischte sie.
Isabel reagierte abweisend und tat so, als würde sie weiter Tagebuch schreiben.
Sie wollte nicht über Agnes nachdenken und erst recht nicht über Robert. Sie
wollte nichts weiter als aus dem Küchenfenster schauen, alleine sein, träumen,
den Himmel über San Francisco betrachten und sich wundern.
118
Als sie erwachte brannte ihr Gesicht. Sie hatte vom Flughafen Tegel geträumt:
Sie stand in der Halle. Ihr Name schallte aus den Lautsprecherboxen. Sie wurde
zur Information gebeten. Eine Stewardess, die wie Agnes aussah, überreichte
ihr einen Briefumschlag. Sie riss den Umschlag auf. Ein kleiner abgerissener
Zettel kam zum Vorschein: „Ich bin zu Szilvia und den Kindern zurückgekehrt.
Sie brauchen mich. Ruf mich an, wir müssen reden, es tut mir leid, Hermann.
Isabel kroch traurig aus dem Schlafsack. Sie hatte noch keinen Brief von Hermann erhalten, lief jeden Tag zum Postamt und fragte nach. Warum schrieb er
ihr nicht? Sie wusste keine Antwort und fand sie auch nicht auf dem Weg ins
Badezimmer.
Die Tür ging auf. Robert stand vor ihr.
„Good morning sleepy beauty“, sprach er und ließ sie vorbei. Sie errötete schon
wieder und schloss schnell die Badezimmertür hinter sich. Sie stellte sich vor
den Spiegel und betrachtete sich. „Schlafende Schönheit“, wiederholte sie seine
Worte und lächelte verlegen. So etwas Freundliches hatte schon lange niemand
mehr zu ihr gesagt. Agnes ließ kein gutes Haar an ihr, schwieg oder wehrte jedes Wort ab. Seit der Nacht im Whirlpool, unter dem freien, sternenklaren
Himmel von Mendocino, verwehrte Agnes ihr jeden Respekt.
Isabel sah ihre strähnigen Haare, die dicke Nase und die verschwollenen kleinen
Schweinsaugen und fand sich hässlich. „Sleepy beauty“, wiederholte sie Roberts Worte, stieg in die Badewanne, duschte heiß und kalt, putzte die Zähne
und cremte sich ein. Ihr Spiegelbild sah schon etwas angenehmer aus. Sie zog
das knielange T-Shirt an und lief in die Küche. Robert saß am Tisch und trank
Milchkaffee. „Möchtest du?“, fragte er und schob ihr die runde Porzellantasse
entgegen.
„Gerne.“ Isabel fühlte, wie ihr die Knie weich wurden, als er sie mit diesem
Blick betrachtete, der ihren Kern zum Schmelzen brachte und Zärtlichkeiten
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und Liebkosungen verhieß. Sie saßen einander gegenüber. Im Haus war es ruhig. Don und Agnes schliefen noch. Thea verließ bereits um sechs Uhr das
Haus, sie arbeitete als Kfz-Mechanikerin in einer Frauenwerkstatt, und Paula
war in der Nacht nicht nach Hause gekommen. Sie jobbte während der Semesterferien als Bedienung in einem Restaurant.
„Was machst du eigentlich Robert?“, wollte Isabel wissen. „Ich meine, was arbeitest du?“, fragte sie, nachdem er sie weiterhin nur schweigend ansah.
„Ich bin Schauspieler und Pantomime. Die „Robert Murphy dance company“ ist
meine Truppe.“
„Das passt zu dir. Dein Gesicht ist so vielfältig, gerade eben schaust du wie eine
alte Frau und jetzt wie ein kleiner Junge. Es tut mir leid, dass ich gestern so unfreundlich zu dir war. Ich wollte dich nicht beleidigen.“
„Das hast du nicht. Ich bin nicht so erfahren im Umgang mit Frauen. Ich sah
dich da auf dem Balkon sitzen. Don hat mir erzählt, dass er Besuch von zwei
Frauen erwartet, aber ich konnte ja nicht ahnen, dass eine Frau wie du dabei
sein würde. Du hast mich völlig überrumpelt. Ich finde dich schön und aufregend und habe Sehnsucht nach dir.“
„Du übertreibst. Ich bin durchschnittlich“, antwortete sie und glaubte der Wahrheit zu entsprechen. Robert hielt ihrem Blick stand und sah, dass sie es ernst
meinte. „Was ist passiert, dass du dich nicht erkennen kannst? Du erregst meine
Phantasie und ich möchte in deiner Nähe sein. Ich ziehe schon seit Jahren den
Umgang mit Männern vor“, erklärte er mit viel Humor und gleichzeitig leicht
dahin. In seinem Minenspiel fehlte es an nichts: „Warum lachst du?“
„Wenn du dich sehen könntest, würdest du auch lachen. Du siehst aus wie du
sprichst.“
Er neckte sie: „Ich verstehe kein Wort“, und spielte mit ihr, strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht, hielt ihre Hände fest und küsste jeden Finger einzeln.
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„Ich habe mir gewünscht, dass du mich berührst. Vom ersten Augenblick an,
habe ich mich danach gesehnt“, wunderte sie sich und zeichnete die feinen Linien seines Gesichts mit den Fingern nach. Sie konnte seine Weichheit fühlen.
Nach Wochen ohne körperliche Berührungen, nach Wochen der Ablehnung und
Kälte, genoss Isabel die liebevollen Gesten und wehrte sich nicht. Die Zeit pulsierte zwischen ihnen und steigerte sich zur Erregung, als Robert plötzlich innehielt und fragte: „Was willst du von einer Frau wie der?“ Er zeigte in Richtung Gemeinschaftsraum.
„Sprecht ihr von mir?“, kicherte Agnes, die im kurzen Hemdchen und geblümter Unterhose in die Küche trat. Sie klimperte mit den Wimpern, zeigte ihren
süßen Schmollmund, warf Robert schmachtende Blicke zu und übersah Isabel
der Einfachheit halber.
„Ich muss jetzt gehen, aber wenn du, ich meine ihr, nachmittags nichts vorhabt,
dann hole ich euch um vierzehn Uhr hier ab und zeige euch mein Frisco“, meinte Robert bestimmt und flüchtete aus der Küche.
„Das wäre toll“, rief ihm Agnes begeistert hinterher und strahlte. „Der gefällt
mir endlich mal. Ich glaube, er ist verliebt in mich“, plapperte und quasselte sie
unaufhörlich weiter und malte sich aus, wie sie Robert am besten verführen
könnte.
Isabel hatte genug gehört und stand kurz entschlossen auf: „Wir sehen uns später. Ich suche mir einen Ort an dem ich in Ruhe schreiben kann.“
„Warte! Ich komme mit“, versuchte Agnes sie aufzuhalten.
„No way. Ich möchte alleine sein.“
„Was soll denn das?“, rief Agnes beleidigt.
Isabel hörte gar nicht hin und schloss erleichtert die Tür. Sie lief die Divisadero
Straße hinunter, weil sie nicht weit vom Haus entfernt, ein Café gesehen hatte,
dass ihr gut gefiel. Männer und Frauen lasen oder unterhielten sich, die Atmosphäre war angenehm entspannt, und sie bestellte Jasmintee bei einem höflichen
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jungen Mann. Das Brandenburgische Konzert von Johann Sebastian Bach erfüllte den Raum.
*
Hermann lag auf der Matratze in der Dominikusstraße in Berlin Schöneberg
und schrieb in sein Tagebuch: Sonntagmittag, aber es könnte auch jeder andere
Tag sein. Meine Gedanken fangen an zu kreisen. Die Isolationsgefühle nehmen
zu. Ich bin so alleine wie nie zuvor in meinem Leben. Eine Platte von Frank
Zappa dreht sich auf dem Plattenteller und die Töne, die aus den Boxen schleichen, sind mir mittlerweile vertraut. Mein Blick flieht nach draußen auf den Innenhof, wo die Sonne ihre Linien zieht. Zwischen den beiden Häusern steht
ganz alleine, aber mächtig, ein Baum, eingeschlossen zwischen Mauern. Der
Wind bewegt leicht und leise die Blätter. Dazu schwingen die äußeren Äste in
unregelmäßigem Gleichklang. Ich lebe entweder in der Vergangenheit oder in
der Zukunft. Wo bleibt die Gegenwart? Es ist schwer mein Jetzt zu begreifen.
Seit Monaten bewohne ich die unterschiedlichsten Räume und wünsche mir
nichts weiter, als mich in einem eigenen Zimmer von der Entfremdung zu erholen. Isabel fehlt mir. Ihr Wegsein schmerzt mich tief. Ich möchte mit ihr zusammen leben und alt werden. Die Sekunden gerinnen zur Ewigkeit. Nichts tut sich.
Ich wünschte es wäre Tegelzeit und Isabel an meiner Seite. Am liebsten würde
ich schlafen und am Vierzehnten wieder erwachen. Wie wird es sein, wenn wir
uns gegenüber stehen? Liebt sie mich noch, oder hat sie sich in einen anderen
Mann verliebt? Will sie noch mit mir zusammen sein? Kommt sie überhaupt zurück?
Hermann legte das Tagebuch beiseite und verließ die Wohnung. Er hatte seit
Tagen nichts gegessen und mit keinem Menschen geredet, und so fuhr er mit
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dem Bus zum Bahnhof Zoo, lief die Kantstraße hinauf zum „Schwarzen Café“,
und setzte sich neben einen jungen Mann, der Rilke las. Das Buch half Hermann, ihn anzusprechen, und der Unbekannte erzählte von seinem Berlin, der
Literatur und dem Schwulsein.
Hermann hörte zu und verließ das „Schwarze Café“ in wesentlich besserer Verfassung. Er hatte Lust einen Spaziergang zu machen, schlenderte durch den Naturpark Hasenheide, kaufte zwei Zeitungen und legte sich auf die Wiese unter
einen großen alten Baum. Berlin war richtig für ihn, die Einsamkeit stimmig,
und selbst wenn sie schmerzte, war sie leichter zu ertragen als die Leere, die ihn
in Freiburg umgab.
Am nächsten Tag würde er sich an der Freien Universität nach Perspektiven
und Möglichkeiten erkundigen.
Er brauchte dringend noch mehr Distanz zu seiner Ex-Frau. Mit den Kindern
musste er darüber reden, und er hoffte, dass sie ihn besuchen würden.
Er war am Ende, wenn er sich nicht veränderte. Er würde Helen und Leon in
den Ferien abholen, ihnen Berlin zeigen, sie würden die Großstadt mögen. Sie
liebten ihn. Es würde schwer werden, für alle, doch zwischen Szilvia und ihm
erreichten die Auseinandersetzungen Ausmaße, die für niemanden von ihnen
gut sein konnten. Vielleicht half die Entfernung über die Wut hinweg? Trost
gab es keinen. Ob er in Freiburg blieb oder nach Berlin zog, Szilvia würde auf
jeden Fall weiter intrigieren und ihm die Kinder entfremden. Und Isabel? Und
er? Sie hatten nicht wirklich eine Chance für die Zukunft, wenn sie in Freiburg
blieben, das war ihm nach den letzten Wochen klar geworden.
Berlin war ein Zufluchtsort und manchmal war die Einsamkeit das bessere Ziel.
123
*
Es klopfte an der Tür. Isabel legte das Nähzeug beiseite, erinnerte sich an Gabriels Worte, niemanden in das Haus zu lassen und stand vor einem baumlangen,
breitschultrigen Mann mit einem kleinen Hund an seiner Seite, der heftig mit
dem Schwanz wedelte.
„Hello“, sagte der Riese mit den buschigen Augenbrauen. „Darf ich hereinkommen?“, fragte er und stand bereits mitten im Zimmer. Der struppige Hund hechelte. Draußen war es heiß. Isabel füllte Wasser in einen kleinen Topf und
stellte ihn auf den roten Steinfußboden. Das Tier schlabberte alles bis auf den
letzten Tropfen aus und sie füllte den Topf ein weiteres Mal. Isabel wandte sich
zu dem Mann, schaute dem Hünen in die Augen und sah, dass nichts Gemeines
in seinem Blick lag.
„Ich bin Gast in diesem Haus und soll niemanden hereinlassen“, erklärte sie.
„Doch draußen ist es sehr heiß und vielleicht darf ich ihnen etwas zu trinken anbieten?“
„Das ist sehr freundlich. Sie sind eine gute Frau. Sie haben Mick Wasser gegeben, sie sind tierlieb. Die meisten Menschen fürchten sich vor mir. Sie haben
keine Angst.“ Er setzte sich in einen alten Sessel, stieß mit seinen langen Beinen an die Tischkante und verzog sein Gesicht.
Isabel hantierte hinter der Küchenzeile und beobachtete den Fremden aus den
Augenwinkeln. Agnes und sie waren seit vier Tagen zu Gast bei Gabriel.
Sie hatten trampend am Highway No 1 gestanden, als ein Wagen anhielt und
ein Typ mit bunter Mütze und langen Haaren sie mitnahm und zu sich einlud.
Sein Haus bestand aus zwei Zimmern und einem Bad. Es lag auf einem felsigen
Vorsprung, mit Blick auf den Pazifik, in einer Gegend, die sich Big Sur nannte,
südlich von San Francisco. In dieser Gegend kannten sich die Leute, waren
Künstler oder Schriftsteller wie Henry Miller, der in der Nähe lebte. Harry, so
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hieß der fremde Riese, erzählte von sich. Er wohnte schon seit zwölf Jahren in
Big Sur, kam aber gebürtig aus New York City, wo er sein Geld als Arzt verdient hatte. Zum Vergnügen schluckte er Schwerter und spie Feuer.
Isabel sah ihn befremdet an. Er sprang auf, nahm den schweren Sessel, auf dem
er eben noch gesessen hatte, stemmte ihn empor und stellte eines der Fußbeine
auf seinem Kinn ab. Er ließ die Hände los und balancierte den Sessel durch den
Raum. Sie klatschte und Harry freute sich. „Du machst mich glücklich“, sagte
er, „weil du keine Angst vor mir hast und dich wie ein Kind freuen kannst.
Doch ich sehe, dass dich etwas bedrückt und ich kann dir helfen. Wenn du mir
vertraust? Es steckt in deinem Nacken. Ich müsste dich anfassen.“
Isabel nickte. Seine riesigen Hände legten sich um ihren Hals, tasteten, berührten und bewegten ihn hin und her, und mit einer Drehung nach rechts und einer
nach links, renkte er ihr den Nacken wieder ein.
„That´s it. Fühlt es sich besser an?“
Isabel drehte den Kopf zur Seite. „Viel besser“, freute sie sich.
„Ich bin froh, dass ich dir etwas Gutes tun konnte. Du hast mir sehr geholfen.
Du weißt nicht wie das ist, wenn die Menschen Angst vor dir haben. Ich muss
jetzt gehen, it´s time to go“, und er ging so schnell wie er gekommen war.
Einen Augenblick dachte sie, sie hätte das alles nur geträumt, doch ihr beweglicher Nacken, die zweite Tasse auf dem Tisch und die Schale mit Wasser für den
Hund, zeugten von der Anwesenheit des Fremden.
Als Agnes und Gabriel vom Strand zurückkamen, erzählte sie ihnen von Harry.
Gabriel wurde kalkweiß und schrie sie an, brüllte etwas von Fahrlässigkeit, von
Verbrechern und raste vor Wut. Er verließ das Haus und schlug die Tür hinter
sich zu. Einen Augenblick herrschte Stille, bevor Agnes unvorbereitet sagte:
„Ich möchte, dass du gehst, Isabel. Gabriel und ich haben darüber gesprochen
und beschlossen, dass du störst. Wir sind verliebt ineinander. Ich fliege nicht
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mit dir nach Deutschland zurück. Es ist beschlossene Sache. Ich will, dass du
morgen von hier verschwindest. Das musst du verstehen, du würdest auch nicht
anders handeln, wenn du in meiner Lage wärst. Du stehst meinem Glück im
Weg und das kann ich nicht zulassen. Du kannst zu Robert nach San Francisco
fahren, der würde sich bestimmt freuen, er war doch scharf auf dich“, sagte sie
voller Abwertung in der Stimme. „Ich will jedenfalls nicht, dass du bleibst, begreife das, und egal wo du hingehst, es interessiert mich nicht wirklich. Isabel,
ich glaube, ich liebe Gabriel, und wir haben nur noch vierzehn Tage, bevor ich
nach Deutschland zurück muss. Der Schuldienst beginnt, und wenn ich Gabriel
nicht vergessen kann und er mich auch nicht, kehre ich zu ihm zurück und wir
leben zusammen. Es ist wirklich ernst, ich glaube, es ist Liebe. Das geht nicht
gegen dich.“
Isabel packte ihren Rucksack und verließ das Holzhaus, mit Blick auf den Pazifik. Sie fuhr mit dem Bus nach San Francisco und erreichte am Nachmittag die
WG, doch es war niemand zu Hause. Sie setzte sich auf die Treppenstufen und
wartete. Menschen liefen an ihr vorüber und betrachteten sie befremdet.
Isabel fühlte sich leer und erniedrigt. Eine junge Frau kam zum dritten Mal an
ihr vorbei, überlegte kurz und blieb stehen. „Wartest du auf jemanden?“, fragte
sie freundlich.
„Ja, auf Robert Murphy.“
„Oh, Rob“, lachte die Frau erleichtert. „Warum schreibst du ihm keine Nachricht und kommst mit zu uns. Wir wohnen gleich nebenan.“
„Ich weiß nicht?“, antwortete Isabel geknickt.
Die Frau setzte sich neben sie auf die Stufen und sah ihr ins Gesicht. „Du
kannst gerne mitkommen. Wir trinken etwas zusammen und warten gemeinsam
auf Rob. Du siehst so traurig aus. Bitte, ich fühle mich nicht gut, wenn ich dich
hier alleine sitzen lasse. Wer weiß, wann Robert nach Hause kommt? Vielleicht
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dauert es noch Stunden? Die Leute werden aufmerksam. Vielleicht holen sie die
Polizei? Was sagst du?“, meinte sie beharrlich. „Ich frage dich auch nicht aus,
du musst nichts sagen, ich lasse dich in Ruhe, wenn du möchtest.“
„Einverstanden.“ Isabel schrieb einen Zettel, „Bin nebenan, Isabel“, klemmte
ihn zwischen die Haustür und folgte der Unbekannten.
In der Küche roch es nach frisch gebackenem Apfelkuchen, es war warm und
die Atmosphäre freundlich und offen. Und plötzlich erzählte sie von Agnes,
fluchte auch und konnte gar nicht aufhören sich zu ärgern, am meisten allerdings über sich selbst und ihre Dummheit. Die Fremde hörte ihr geduldig zu,
nur manchmal sagte sie wütend „shit“, und schwieg wieder.
Es schellte an der Tür. Isabel sah zuerst zwei Hände, die Türkante umfassen,
Finger begrüßten sie spielerisch und winkten, bevor Robert Murphy auftauchte
und sie freundschaftlich in die Arme nahm. Er hob ihren Rucksack auf, bedankte sich bei der Nachbarin und nahm sie einfach mit.
„Was ist geschehen?“, fragte er besorgt. „Schon gut, du brauchst nichts zu sagen. Du bist erschöpft. Ruh dich erst einmal aus.“ Er öffnete die Tür zu seinem
Zimmer und schob sie voran. „Ich möchte in deiner Nähe sein, dich halten und
dir Mut machen. You’re not alone.“
Isabel war zu schwach um sein Angebot abzulehnen und zog zu ihm ins Zimmer. Robert verließ morgens das Haus und kam abends zurück. Sie saß stundenlang in ihrem Lieblingscafé, trank literweise Jasmintee und füllte Seite um
Seite ihres Tagebuchs. Nachmittags kauerte sie auf Roberts Bett, hörte Lieder
von Billy Holliday, weinte sich die Augen aus dem Kopf und versuchte zu verstehen was mit ihr geschehen war? Robert tröstete sie, doch sie war unfähig
seine Sehnsucht zu befriedigen.
Zwei Nächte vor ihrer Abreise nach Deutschland, versuchte er mit ihr zu schlafen. Seine Küsse waren nass und seine Hände einnehmend. „Let´s make love“,
bat er und sie wehrte sich nicht. Es war ihr egal. Die Entfremdung war weit fort-
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geschritten, sie konnte sich nicht mehr fühlen. Sie hatte Agnes unterschätzt, die
Gemeinheiten wirkten nachhaltig tief und lösten Gefühle aus, die besser geruht
hätten.
Als Robert sich auf sie rollte, durchdrang eine hämische Stimme ihre Gleichgültigkeit: „Wenn es ihm Spass macht, wenn er will, lass ihn doch, es kommt nicht
darauf an! Mach die Beine breit und lass es über dich ergehen. Benutzt zu werden, hat auch etwas für sich“, raunzte die Stimme, doch Isabel kam einfach
nicht darauf, was das sein sollte?
Robert zog sich zurück. Er war sensibel genug und spürte die Kälte und Erstarrung von Isabel.
Sie konnte nicht mit ihm schlafen. Als er auf ihr lag, wurde aus seinem Gesicht,
das Gesicht ihres Vaters.
„Du kannst nichts dafür Robert. Es hat nichts mit dir zu tun. Bitte verschließe
dich nicht“, bat sie und erzählte von ihrem Vater und davon, wie es angefangen
hatte.
Robert vergaß seinen eigenen Schmerz und den Schock des zurückgestoßen
werden. Isabel war ihm nah. Er verstand sie. Ihr Abgrund war sein Abgrund. Es
war Empathie.
Der letzte Tag brach an. Nebel lag über der Stadt und die Luft fröstelte auf der
Haut. Es schellte an der Tür.
Isabel öffnete verschlafen und zerknirscht. Agnes und Gabriel standen auf der
Treppe. „Überraschung“, rief Agnes und rannte an Isabel vorbei in die Küche.
„Was willst du hier? Warum kommst du?“, fragte Isabel schockiert.
„Na hör mal! Was ist denn das für eine Begrüßung? Ich wollte mich von meiner
Freundin verabschieden. Immerhin fährst du morgen zurück in die Heimat.“
„Das hättest du mir ersparen können. Ich habe dich gerade einigermaßen überwunden und nun stehst du da und tust so, als sei nichts geschehen“, schrie Isabel hysterisch und rannte ins Bad.
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Robert wachte auf und begrüßte die beiden Besucher, machte Kaffee für alle
und sorgte sich.
Isabel saß auf der Klosettbrille und hielt die angezogenen Beine umklammert.
Sie hätte am liebsten alles kurz und klein geschlagen. Der Zorn tobte und wütete in ihrer Brust. Sie konnte sich nicht wehren, deshalb war sie verloren. Wer
sich nicht wehren kann geht unter. Sie brauchte lange, bis sie in die Küche gehen konnte. Agnes schmuste, herzte und küsste Gabriel, war in ausgelassener
Stimmung und erzählte von der Kokainnacht und dem besten Sex, den sie jemals gehabt hatte.
Robert beobachtete Isabel. Sie saß versteinert da, unfähig sich gegen Agnes geballte Fröhlichkeit zur Wehr zu setzen und fühlte sich überhaupt unfähig, zu leben, zu sein, zu lieben.
Robert blieb an ihrer Seite, sagte all seine Termine ab und übernahm die Führung. Sie machten einen langen Spaziergang am Strand und aßen gemeinsam zu
Abend. Isabel schwieg den ganzen Tag.
Agnes unterhielt alle und sprühte vor Lebenslust. Zum Abschied weinte sie gerührt und dankte Isabel für die Reise, die sie ohne sie gar nicht gemacht hätte.
Isabel lag die ganze Nacht wach, starrte unter die Decke und sammelte die
Scherben ihrer Persönlichkeit zusammen.
Robert konnte nichts mehr für sie tun, außer sie zum Flughafen zu bringen und
ihr Kraft und Liebe zu wünschen.
Während Hermann die Wohnung aufräumte, einkaufte und viel zu früh am
Flughafen Tegel wartete, saß Isabel still im Flieger und erinnerte sich.
Hermann beobachtete die Menschen in der Ankunftshalle. Freude und Herzlichkeit, Begrüßungen und Umarmungen aller Art waren zu sehen, und er stellte
sich vor, wie Isabel durch den Zoll kam und ihn erblickte.
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Er hatte sich das Wiedersehen mit ihr immer wieder ausgemalt und nun war es
endlich soweit. Er sah sie zuerst. Sie stand hinter einer Glaswand in einer Reihe
mit anderen. Isabel trug eine schwarze Levis, eine bestickte Jacke mit halblangen Armen und sandfarbene Clocks aus San Francisco.
Niemand hielt Hermann auf, alle waren überrascht, als er über die Absperrung
sprang und zu ihr rannte. Sie standen voreinander und erkannten sich wieder.
IV
Der Himmel hing wie ein nasser Sack über der Stadt. Isabel traf Hermann zufällig vor dem Prüfungsbüro, in Freiburg Littenweiler. Er freute sich über seinen
Erfolg. „Mit den Prüfern Kant und Reichel werde ich es schaffen. In zwei Monaten, habe ich mein Examen in der Tasche“, strahlte er und die Erleichterung
war ihm anzusehen. Isabel stand da, verloren und verunsichert. Ihr gelang gar
nichts, alles lief schief. Sie konnte ihre Prüfungen zwar wiederholen, doch die
Professoren, die sie favorisierte, hatten keine Termine frei. Der einzige, bei dem
Prüfungstermine offen waren, hieß Giesing. „Ausgerechnet Giesing“, sagte sie.
„Willst du jetzt doch das erste Staatsexamen machen?“, fragte Hermann verwundert und vergrub die Hände in die Hosentaschen.
„Mein Vater will es so“, war alles, was Isabel dazu einfiel.
Er betrachtete sie befremdet. „Was ist los mit dir? Ich verstehe dich nicht. Du
möchtest nicht mit mir zusammenleben, okay. In der WG von Manne ist es eng
und er ist ein Angeber, aber ich bin froh, dass ich so schnell ein Zimmer gefunden habe. Ich brauche ein Dach über dem Kopf, sonst schaffe ich die mündliche
Prüfung nicht.“
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„Du schaffst es“, antwortete Isabel mit voller Überzeugung und brach in Tränen
aus: „Aber was wird aus mir? Ich kann mich nicht fühlen! Ich bin mir fremd
und in die Einsamkeit zurückgestoßen, Hermann. Ich habe Angst davor, die
Verantwortung für mein Leben nicht tragen zu können und ein böser Mensch zu
werden?“
„Was redest du, Isabel? Du bist kreativ, hast Ideen und Träume. Seitdem du aus
den Vereinigten Staaten zurückgekehrt bist, regredierst du. Ich meine, du fällst
hinter das zurück, was du schon begriffen und entschieden hattest. Ich dachte,
du würdest nur unsere Liebe so schmählich behandeln, doch jetzt begreife ich,
dass du vor allem dich selbst treffen willst. Dein Verhalten ist verletzend und
ich kann es nicht nachvollziehen. Da sind dein Vater, deine Familie, Agnes und
Robert, und was ist mir dir? Was ist mit uns?“
Isabel schwieg. Die Spannung wuchs mit jedem stummen Augenblick, der verging. Sie befürchtete, dass sie Hermann endgültig verloren haben könnte. Einen
Freund wie ihn ließ man nicht einfach so gehen. Sie wusste nicht mehr was sie
wollte und glaubte nicht an sich. Nichts passte zusammen, selbst in ihren Träumen brach alles auseinander.
„Gestern Nacht habe ich geträumt“, sagte sie. „Ich stand auf dem Bürgersteig,
in einer fremden Straße. Es war Abend. Die Straßenlaternen erhellten die Vorstadthäuser. Ich hatte keine Eile und dachte - wie gemütlich diese Gegend wirkt
und wie friedlich das Leben hier sein muss. Ich malte mir aus, wie Eltern und
Kinder zusammen Abendbrot essen, wie sie lachen und sich unterhalten. Ich
sah, wie die Kinder zu Bett gebracht wurden und wie die Mutter ihnen eine Gute-Nacht-Geschichte erzählte, wie sie die Kleinen zudeckt, ihnen einen Kuss auf
die Stirn gibt und die Tür einen Spalt offen stehen lässt, damit sich die Kinder
nicht ängstigen.“ Isabel beobachtete Hermann, der aufmerksam zuhörte und sie
erzählte weiter. „Die Straße wurde breiter, die Häuser höher und höher. Die
Stadt wirkte leer, wie ausgestorben. Ich blieb stehen und sah mich um. Hinter
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mir brannte es lichterloh, haushohe Flammen fraßen sich durch die Straßenschlucht. Ich begann zu laufen und spürte bereits die Hitze des Feuers in meinem Rücken. Ich rannte um mein Leben. Das Feuer fraß sich die Häuserwände
empor. Rauchwolken schwärzten den Himmel. Die Straße stieg an und meine
Beine wurden schwer. Ich lief weiter und weiter, immer geradeaus, rannte und
rannte ohne mich umzuschauen und gelangte ans Meer. Das Festland hinter mir
brannte und der Ozean tobte. Wellen brachen ganze Landzungen ab und rissen
sie in die Tiefe. Vor mir, also genau da wo ich stand, war das Wasser ruhig. Ich
sah auf die spiegelglatte Oberfläche, streifte die Schuhe von den Füßen und
sprang in die Dunkelheit hinein.“
„Du hast viel durchgemacht und brauchst Zeit, um den sexuellen Missbrauch zu
verarbeiten. Du findest deinen Weg. Du bist klug und sensibel, Isabel. Hör auf
dich! Vertrau dir“, machte ihr Hermann Mut. „Tut mir leid, Isabel, ich habe
keine Zeit mehr. Leon wartet auf mich. Wir wollen zusammen einen Trafo für
seine Eisenbahn kaufen. Doch heute Abend bin ich im Roten Punkt und würde
mich freuen, wenn du auch kommst.“
„Gerne.“
Sie trennten sich an der Straßenbahnhaltestelle. Isabel fuhr zurück in die Reichstraße und hatte schon wieder genug von all dem Leben um sich herum. Im Flur
klingelte das Telefon. Sie stieß mit der Hüfte gegen den Türrahmen und fluchte.
„Hallo! Mist! Wer ist da?“
„Ich bin’s, Agnes!“, flötete sie durchs Telefon. „Isabel, bist du das? Was machst
du in der Reichstraße? Mit allem hätte ich gerechnet, aber nicht damit, dass du
in meiner Wohnung bist.“
„Ich wohne seit vier Tagen in Hansis Zimmer. Hermann und ich können augenblicklich nicht zusammen leben. Hansi kommt in einer Woche zurück. Und du?
Du klingst so nahe. Bist du wieder in der Bundesrepublik?“
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„Ja, seit vorgestern. Ich bleibe bei meinen Eltern, in Stuttgart und fahre von hier
aus weiter nach Rottweil, um mein Referendariat anzutreten. Ich habe schon ein
Dachzimmer in einer kleinen Wohnung gemietet und teile mir die zwei Zimmerwohnung mit einer Lehrerin. Sie ist fünf Jahre älter als ich, ganz nett und
wir werden uns sicher gut verstehen.“
„Und was ist mit Gabriel?“
„Er hat schon dreimal angerufen. Wenn wir in zwei Monaten immer noch zusammen sein wollen, kommt er nach Deutschland, lernt meine Eltern kennen
und wir reisen gemeinsam nach Italien.“ Agnes stoppte ihren Redefluss und
schwieg einen gewichtigen Augenblick. „Danke, dass du so emotionslos reagierst. Ich hatte schon befürchtet, du machst mir eine Szene. Komm mich doch
in Rottweil besuchen. Wir könnten in aller Ruhe reden.“
„Wir hatten zehn Wochen Zeit, um zu reden, Agnes. Ich möchte dich nicht treffen“, antwortete Isabel. „Ich wünsche dir ein schönes Leben“, sagte sie und legte auf. Sie setzte sich auf den Balkon und betrachtete den veilchenblauen Himmel. Die Enge in der Brust verschwand und von einer zur anderen Sekunde gab
es kein Grund mehr, die Gedanken zu zensieren und ihre Gefühle zu verdrängen. Sie wollte sich nicht mehr freiwillig, einfach mal eben so, von irgendjemanden oder schlimmer noch von einer Freundin, für dumm verkaufen lassen.
Sie fühlte sich besser. Der graue Schleier verschwand.
Im Roten Punkt standen die Menschen dicht an dicht gedrängt. Hermann tanzte
wild zu „I can’t get no, satisfaction“, von den Rolling Stones. Seine Füße
stampften auf den silbrig glänzenden Boden. Sein Kopf wackelte im Takt der
dröhnenden Bässe. Seine Hüften bewegten sich zur Musik. Isabel trug ein
durchsichtiges schwarzes Baumwollkleid und dazu schwere Cowboystiefel. Sie
tanzte auf der Stelle, mit geschlossenen Augen und hörte Hermann neben sich
singen: „No, no, no!“ Er war heiß und intensiv. Sie fühlte seine Wärme und Le-
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bendigkeit. Sein Lachen nahm sie bei den Händen. Sie tanzten umeinander herum, spielten miteinander und vereinten sich in den Klängen, die verflogen wie
die Nacht.
„Darf ich dich zu deinem Wagen begleiten?“, bat Hermann, als sie vor der Diskothek standen. Die Septembernacht war sternenklar und die Luft roch nach
Frühherbst.
„Ich bin zu Fuß.“
„Dann bringe ich dich nach Hause, wenn du nichts dagegen hast.“
„Mach dich nicht lustig! Die Wohngemeinschaft von Agnes, Clarissa und Hansi
ist kein zu Hause für mich. Ich habe kein zu Hause mehr.“
„Dann geht es dir wie mir. Wir hatten eine gute Zeit in Burg-Höfen. Ich trauere
ihr nach. Ich weiß nicht, was wir falsch gemacht haben, Isabel, aber ich vermisse dich. Du fehlst mir.“
„Du fehlst mir auch.“
Die Karthäuserstraße folgte dem steinigen Flusslauf der Dreisam. In den letzten
Tagen hatte es heftig geregnet. Ehrwürdige Bäume säumten die Straße. Hermann begleitete Isabel bis vor die Haustür.
„Möchtest du nicht mit hineinkommen?“
„Nein, heute nicht, aber es wäre schön, wenn wir uns morgen früh im Karthäusercafé treffen könnten, dann hätte ich etwas, auf das ich mich freuen kann.“
„Um wie viel Uhr?“
„Um Neun“, schlug Hermann vor. Er wartete noch, bis sie die Tür hinter sich
schloss und ließ sich Zeit für den Rückweg. In seinen Gedanken überlegte er
hin und her, wie er Isabel von seinem einsamen Entschluss erzählen sollte, im
Wintersemester nach Berlin zu ziehen? Sie war schreckhaft und verunsichert.
Er liebte sie, soviel stand fest und wollte sie nicht verlieren.
*
134
Es war bereits Mittagszeit als sie das Café verließen und mit der Seilbahn zum
Schlossberg hinauffuhren. Licht schien durch die Baumgruppen.
„Hier gefällt es mir.“
„Ja, das ist ein schöner Platz.“
„Ich muss dich etwas fragen, Isabel.“
„Du darfst mich alles fragen.“
„Was für Gefühle hast du zu mir?“
„Du bist mein Freund - und ich habe nicht aufgehört dich zu lieben, auch wenn
alles sehr verwirrend für mich ist. Die letzten Monate hinterlassen Spuren und
ich brauche Zeit.“
„Nimm sie dir. Du hast alle Zeit die du brauchst. Du bist noch jung. Du kommst
darüber hinweg.“
„Behandle mich nicht von oben herab. Ich will dein Mitleid nicht. Spar dir das,
vielleicht brauchst du es später noch.“
„So habe ich das nicht gemeint! Ich wollte dich nicht verletzen. Meine Ehe ist
gescheitert und meine Kinder geben mir die Schuld. Politische Zweifel und Zukunftsängste kommen hinzu. Ich bin am Ende. Ich brauche Abstand und habe
mich im Fachbereich Erziehungswissenschaften, an der Freien Universität in
Berlin immatrikuliert. Es wäre schön, wenn du mitkommst?“
Isabel sah ihn überrascht an. Die Sonne verschwand hinter einer kleinen Wolke.
Ein junges Paar setzte sich auf eine Bank, ein Fahrradfahrer sauste den Abhang
hinab.
„Du willst tatsächlich nach Berlin ziehen?“
„Ja, und am liebsten mit dir!“
„Ich muss zuerst das Staatsexamen machen.“
„Du kommst nach. Ich warte auf dich und suche uns eine Wohnung.“
„Das würdest du tun? Du meinst es ernst.“
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„Ich möchte mit dir zusammen sein. Denke darüber nach. Ich muss los, Isabel!
Ich habe in dieser Woche Kitadienst. Wenn du möchtest, reden wir später weiter. Ich komme zu dir in die Reichstraße.“
Das hört sich gut an.“ Sie eilten durch die schmalen Gassen zum Münsterplatz
und verabschiedeten sich voneinander, zwischen Gemüse, Früchten und dem
Geruch von Bratwurst mit Zwiebelringen. Isabel fuhr mit der Straßenbahn in
die WG zurück, kaufte die Badische Zeitung am Kiosk um die Ecke und schlug
die Seiten mit den Wohnungsanzeigen auf. Plötzlich wusste sie genau, was zu
tun ist. Eine Wohnbaugesellschaft bot Apartments zum Erstbezug an, in der
Breisacherstraße 70, fünfunddreißig Quadratmeter für dreihundertachtzig Mark.
Sie telefonierte mit einer freundlichen Sachbearbeiterin, erzählte der Frau von
ihrer Reise durch die Vereinigten Staaten, und dass sie gerade erst zurückgekommen sei, dass sie das erste Staatsexamen zu machen gedenke, und dass sie
zum Lernen unbedingt Ruhe brauche. Die Frau verschaffte ihr noch für den
gleichen Tag einen Besichtigungstermin. Um 17 Uhr 20 stand Isabel frisch geduscht, in blauer Jeans, Cowboystiefeln und einem weißen T-Shirt vor dem
Neubau in der Breisacherstraße. Der langgezogene Bau wirkte wie ein zu groß
geratener Hundezwinger. Ein Makler im grauen Zweiteiler, mit dezenter Krawatte, führte sie durch einen Laubengang zum Apartment in den zweiten Stock.
Er zeigte ihr ein helles Zimmer, ungefähr fünfundzwanzig Quadratmeter, mit
integrierter Küchenzeile und Balkon, daran grenzten ein Flur mit Schrankwand
und ein Duschbad. Sie bedankte sich bei dem Makler und meinte: „Ich werde
eine Nacht darüber schlafen und morgen Frau Degenhardt anrufen.“
Weil sie Hermann nicht verpassen wollte und mit ihrem Vater sprechen musste,
fuhr sie zurück in die Wohngemeinschaft, brühte sich einen Tee auf und drehte
sich eine Zigarette, bevor sie aufgeregt die Geschäftsnummer des Vaters wählte.
Am anderen Ende der Leitung meldete sich eine Frauenstimme: „Firma beim
Stein, guten Tag. Was kann ich für sie tun?“
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„Isabel beim Stein, guten Tag. Ich möchte meinen Vater, Burkhard beim Stein
sprechen.“
„Einen Augenblick bitte“, stotterte die Telefonistin mit piepsiger Stimme. Es
knackte in der Leitung. Isabel atmete erleichtert auf, als sie Anika hörte. Sie war
die neue Chefsekretärin ihres Vaters und bevor sie Pfingstdorf verlassen hatte,
eine gute Freundin von ihr gewesen.
„Isabel wie geht’s, wie steht’s?“, lachte Anika unsicher.
„Geht so, und bei dir?“
„Danke, gut. Dein Vater telefoniert auf der anderen Leitung. Kann er dich zurückrufen?“
„Ja gerne, ich gebe dir die Nummer. Die Vorwahl ist 0761, warte, ich muss
nachsehen, einen Augenblick.“ Isabel spürte die Spannung durch die Leitung
hindurch. Anika und sie waren zusammen in den Kindergarten gegangen, hatten
miteinander Freud und Leid als Teenager geteilt und in der Frauenmannschaft
Fußball gespielt. Seitdem Anika die Lehre in der Firma ihres Vaters begonnen
hatte, verkümmerte der Kontakt zwischen ihnen und sie waren sich fremd geworden. „Schade“, entfuhr es Isabel.
„Was meinst du?“
„Ich dachte an früher, an unsere gemeinsame Zeit.“
„Das ist lange her. Heute arbeite ich für deinen Vater.“ Es klang wie eine Erklärung für den Bruch ihrer Freundschaft.
Isabel überhörte die Anspielung. „Ich gebe dir die Nummer, 72847“, betonte sie
jede einzelne Ziffer und meinte ehrlich: „Ich wünsche dir alles Gute.“
„Ich dir auch.“
Isabel kaute auf den Fingernägeln. Die bloße Vorstellung, mit ihrem Vater telefonieren zu müssen, machte sie nervös. Obwohl sie den Anruf erwartet hatte,
zuckte sie zusammen, als es klingelte.
„Was ist los?“, brüllte der Vater sie gleich an.
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„Du willst, dass ich mein Studium beende. Kannst du mir sagen, wie ich das
machen soll, wenn ich nicht einmal ein eigenes Zimmer habe?“ Isabel versuchte
ruhig zu bleiben und nicht zurück zu schreien.
„Wieso?“ Der Vater horchte auf.
„Du hast verlangt, dass ich mein Zimmer in Burg-Höfen aufgebe.“
„Du wolltest das Studium abbrechen. Ich schmeiße mein Geld nicht zum Fenster raus.“ Sie konnte seine Faust sehen, wie sie auf die Tischplatte schlug. Die
helle Haut mit Sommersprossen, die kurzen, dicken Finger und der Siegelring
mit den Initialen BbS zitterten.
Sie unterdrückte die Furcht in ihrer Stimme. „Du willst, dass ich meine Prüfungen mache. Dazu brauche ich ein eigenes Zimmer. Ich kann nicht in der Wohngemeinschaft bleiben.“
„Wie kommst du in eine Kommune? Das gefällt mir nicht, gefällt mir überhaupt nicht.“
„Du bist also einverstanden, wenn ich mir was zum Wohnen suche?“
„Ich zahle die Miete, aber ich will, dass du nach Hause kommst. Mama macht
sich Sorgen, melde dich bei ihr, heute noch! Versprich mir, dass du sie anrufst.“
Seine Stimme hatte an Schärfe verloren.
„Okay, Papa.“ Sie legte auf und fühlte sich feige! Sie wehrte sich auf kindische
Weise und „würde es ohne ihn nicht weit bringen", hatte er ihr entgegengeschmettert, nachdem sie ihm gesagt hatte, dass sie Schriftstellerin werden will.
Das war kurz nachdem sie aus den USA zurückgekommen war. Ihr Vater hatte
getobt, während sie dem Stier das rote Tuch zeigte, ihm die Stirn bot und nicht
davonlief. Sie hatte keine andere Wahl. Gab es etwas anderes, als müssen? Isabel schrak hoch. Die Kirchturmglocken läuteten. Sie saß immer noch am Telefon und hielt den Hörer in der Hand. Im Flur war es dunkel geworden.
Hermann kam gegen Abend. Sie aßen Spaghetti aglio olio, tranken Rotwein auf
dem Balkon und gingen früh zu Bett. Sie lagen nebeneinander und erspürten die
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Besonderheit des Augenblicks. Der Trost verflüchtigte den Zorn. Die Vergangenheit zog sich zurück. Ruhe kehrte ein, breitete sich aus, glättete die Wogen.
Das Mondlicht warf staubige Schatten an die Wand. Tag und Nacht lächelten
über die Erkenntnis der Vergänglichkeit, die Gegenwart öffnete Türen und Tore. Isabel träumte von einem Karussell mit Pferden. Sie saß auf einem Holzschimmel, trug ihr weißes Kleid und sah aus wie eine Prinzessin. Der Vater
winkte ihr zu. Sie wusste was er wollte. Das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht. Die Kindheit endete abrupt auf der Waschmaschine. Der Vater machte
den Hosenstall zu und gab ihr einen Taler. Sie lief zur Kirmes zurück. Das Karussell stand still. Sie stieg auf, bezahlte mit dem Taler und durfte bis zum
Schluss mitfahren. Runde um Runde erfüllte sie das Leben mit Hohn und Abscheu. Isabel erwachte schweißnass. Das offene Fenster klapperte. Sie fühlte
sich ausgeliefert, ihren Träumen und Erinnerungen hilflos unterworfen. Die
hässlichen Gefühle kamen wann und wo sie wollten. Sie hatte ihre Sicherheit
verloren. Die Liebe zu ihrem Vater war einmal ihr Fundament gewesen, inzwischen klaffte ein tiefer Abgrund. Der Schmerz über den Verlust zerriss ihr Innerstes.
Gleich nachdem Hermann das Haus verlassen hatte, rief sie im Maklerbüro an,
mietete das Apartment und regelte alles Notwendige für die Schlüsselübergabe
am Nachmittag. Sie verabredete sich mit Hermann in der Breisacherstraße/Ecke
Eschholzstraße und überraschte ihn mit einer Flasche Rotwein, Kerzen, Laugenbrötchen, Schweizer Emmentaler, Weintrauben und einem ansonsten leeren
Apartment. Drei Tage später zogen sie ein. Hermann half ihr dabei, die untergestellten Möbel von Burg-Höfen in den Freiburger Stadtteil Stühlinger zu transportieren und sie half ihm, seine wenigen Habseligkeiten in ihr Zimmer zu bringen. Er besaß nur noch Bücher und Platten, eine Jeans, eine graue Cordhose, ein
Hemd, einen grünen Nickipullover, einen alten Parka und zwei Paar Schuhe, die
einen für den Sommer, die anderen für die kalte Jahreszeit.
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Hermann arbeitete an ihrem Schreibtisch und lernte intensiv, während sie auf
dem Bett am Fenster saß, leise Musik hörte und Tagebuch und Gedichte
schrieb. Sie hatte keinen Plan, wie sie ihr Studium beenden sollte und konnte
sich nicht auf den Lernstoff für Deutsch und katholische Theologie konzentrieren. Die Erinnerungen waren beschmutzt und ihr Leben fühlte sich fremd an,
nichts passte zusammen. Ihr graute vor den Bildern und Gefühlen und vor der
Trauer, die sich über alles legte, was sie berührte.
Nachmittags erkundete sie das neue Stadtviertel, auf der Suche nach einem Bäcker, Supermarkt, Schreib- und Tabakwarenladen. Der Stühlinger war bekannt
für seine alternativen Kneipen, Restaurants und den Park inmitten des Stadtviertels. „Ich bin noch zu jung um mich alt zu fühlen“, dachte sie und beobachtete spielende Kinder, Bier trinkende Punks und herumtollende Hunde. Sie setzte sich auf eine Bank und hielt das Gesicht in die Sonne. Mit siebzehn hatte sie
das Elternhaus verlassen und war ins Internat gezogen. Mit achtzehn war sie ins
sechshundertvierzig Kilometer entfernte Freiburg im Breisgau zum Studium
gegangen. Sie wollte sich ein eigenes Leben aufbauen. Sie hatte sich nicht befreit, war nur weggelaufen. Ihr Vater bestimmte nach wie vor ihr Leben, stellte
die Regeln auf, plante ihre Zukunft und beeinflusste ihr Denken, Fühlen und
Handeln. Was sie auch tat, jedes Aufbäumen erstickte in ohnmächtiger Wut. Sie
fühlte sich minderwertig, unfähig und manipulierbar, war ein Nichts und ein
Niemand, eine jämmerliche Figur in einem schlechten Spiel. Würde sie jemals
frei sein, oder Opfer bleiben? „Opfer zu Opfer, Staub zu Staub“, spottete der
Hohn und bekannte sich zu seiner niederträchtigen Stimmung. Die Punks brachen auf, die Hunde wedelten mit dem Schwanz, die Sonne verschwand hinter
der Kirchturmspitze und Isabel kehrte von ihrem Erkundungsgang durch den
Stühlinger zurück ins Apartment. Hermann saß immer noch am Schreibtisch.
Die Lampe warf einen kreisrunden Lichtschein auf das Papier. Der Plattenarm
kreiste eintönig Runde um Runde und die Luft roch schwer nach Schwarzer-
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Krauser-Tabak. Isabel öffnete die Tür zum Balkon und blickte auf die Seitenmauer, die zu einem Wohnblock französischer Unteroffiziere gehörte und sah
auf die Eschholzstraße. Ein Mann ging in die Telefonzelle, ein anderer verschwand zwischen den Kastanienbäumen. Hermann legte den Füller beiseite
und stellte sich hinter Isabel. Sie lehnte ihren Kopf an seine Brust. „Es ist gefährlich, sich auf eine wie mich einzulassen“, sagte sie.
„Was redest du, Posa? Du musst damit aufhören. Du bist weit gekommen! Du
darfst jetzt nicht aufgeben. Du wirst sehen, es lohnt sich. Kämpfe für dich, lass
mich dein Freund sein. Du kannst mir vertrauen und dir selbst. Ich verlasse dich
nicht. Ich warte in Berlin auf dich. Weine doch nicht, oder doch, weine, wenn es
dir hilft. You’re not alone.“
*
Der Aufzug hielt im dritten Stock. Der Flur roch nach frisch gestrichener Farbe.
Hermann schellte bei Weber. Ein schmächtiger Junge, mit blondem Haar und
hellwachem Blick öffnete und plapperte drauflos. Leon erzählte von Supermann, dass der fliegen kann und ließ Isabel nicht aus den Augen. Szilvia kam
aus dem Bad. Sie hatte ein schmales Gesicht, tief liegende Augen, kastanienrotes Haar, war ungefähr einen Meter fünfundsechzig, schlank, trug enge Jeans
und einen selbst gestrickten Pullover mit großem Kragen. Helen streckte den
Kopf zur Tür heraus und sagte: „Hallo“, ohne näher zu kommen und verschwand gleich wieder in ihr Zimmer. Isabel fühlte sich unsicher. Leon zupfte
an ihrem Ärmel. „Kommst du mit? Ich möchte dir etwas zeigen.“
Sie folgte ihm. Im Zimmer stand ein altes Sofa, ein blauer, abgeschabter Sessel,
einer wie Hermann ihn auch besessen hatte und ein rechteckiger Tisch aus Kiefernholz. Ein geweißtes Bücherregal diente als Raumteiler. Ein aus allen Nähten
platzender Kleiderschrank und ein großes Holzbett füllten den Platz rechts und
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links neben der Tür. Leon zog die Gardine zur Seite und zeigte mit dem Finger
auf die Straße. „Da wo wir früher gewohnt haben, war es viel schöner“, meinte
er. „Es gab Sandberge und einen richtigen See. Wenn du aus dem Fenster geschaut hast, konntest du den Wald sehen und Vögel hören. Hier ist es laut. Mutti schimpft, wenn ich am Fenster stehe. Sie kommt und zieht die Gardine zu.
Sie will nicht, dass ich träume. Sie sagt, träumen schadet.“ Leon sah sie mit
großen fragenden Augen an.
„Ich glaube nicht, das träumen schadet“, meinte Isabel spontan.
Er stützte die Ellbogen auf die Fensterbank und legte sein Kinn in die Hände:
„Wollen wir spielen, wer wir gerne sein möchten?“, fragte er.
„Ich bin Superman“, sagte Isabel schnell.
„Nein, das geht nicht! Ich bin doch schon Superman!“
„Okay, dann bin ich Huckleberry Finn.“
Leon sah auf ihre Füße und schüttelte mit dem Kopf. „Der hatte keine Schuhe
an.“
„Dann bin ich Pipi Langstrumpf.“
„Die ist aber frech“, lachte er, sprang auf das Sofa und hüpfte auf und ab. „Soll
ich dir zeigen, wie ich fallen kann?“
„Ich weiß nicht. Ich möchte nicht, dass du dir weh tust.“
Leon zog den Kopf ein, rollte wie ein Ball vom Sofa und stand wieder auf, noch
bevor ihr der Schreck in die Glieder fahren konnte.
„Willst du auch mal?“
„Lieber nicht. Das tut bestimmt weh.“
„Wir können im Stehen „Fallen“ üben. Davor hast du doch bestimmt keine
Angst“, sagte er und machte es vor.
Isabel klatschte beeindruckt.
„Versuch du es“, bat er, so als hänge viel davon ab.
„Also gut, wenn du es mir noch einmal zeigst, aber bitte langsam.“
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Leon versuchte in Zeitlupe zu fallen. Isabel lachte und machte es ihm nach. „Du
hast Recht, es tut nicht weh, man muss es nur richtig machen.“
Sie trieben das Spiel eine Weile, bis sie außer Atem waren.
„Ich gehe jetzt ins Bett“, überraschte Leon Isabel und verschwand.
Hermann und Szilvia saßen in der Küche und sprachen angeregt miteinander.
Isabel wollte nicht stören. Was tat sie hier? Was sollte das? Sie sah sich Fotografien auf einer Pinnwand an. Die meisten Gesichter hatte sie schon einmal gesehen. Szilvia und Hermann kamen herein, brachten Gläser und eine Flasche
Rotwein mit, redeten über Helen und Leon, über gemeinsame Freunde und erinnerten sich an vergangene Zeiten. Sie amüsierten sich. Isabel fühlte sich ausgeschlossen. Sie ging ins Bad und kam an Helens Zimmer vorbei. Sie hörte leises Schluchzen und klopfte an.
„Ja?“, fragte ein zauderndes, helles Stimmchen. Isabel trat in einen fast leeren
Raum. Ihre Augen gewöhnten sich schnell an die Dunkelheit. An der Wand,
hinter der Tür, lag Helen auf einer Matratze, die Bettdecke über den Kopf gezogen und rührte sich nicht.
„Ich werde dir deinen Papa nicht wegnehmen“, hörte Isabel sich in die Trostlosigkeit hinein sagen und hätte sich am liebsten die Zunge abgebissen oder wäre
im Erdboden versunken. Zu spät. Helen sah mit rehbraunen Augen durch sie
hindurch, drehte ihr den Rücken zu und schwieg. Isabel verließ das Zimmer und
heulte auf der Toilette. Sie wollte nach Hause, fühlte sich völlig überfordert und
der Situation nicht gewachsen. Helens Schmerz hatte mit ihr zu tun. Wenn sie
nicht wäre, käme der Vater vielleicht zurück und die Eltern würden sich noch
einmal vertragen, wie schon so oft? Als Isabel ins Wohnzimmer kam, saßen
Hermann und Szilvia vor der zweiten Flasche Spätburgunder Rotwein.
„Ich möchte gehen, Hermann.“
„Kein Wunder“, meinte Szilvia blitzschnell. „Wir reden über alte Zeiten. Das
interessiert dich natürlich nicht“, lächelte sie sicher. „Hermann hat mir erzählt,
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was dein Vater mit dir gemacht hat“, tat sie vertraulich. Isabel wusste nicht wie
ihr geschah. „Am besten, du vergisst das Ganze einfach. Meiner hat mich vergewaltigt. Ich war zwölf oder dreizehn, so genau weiß ich das nicht mehr. Es
war eine schlimme Zeit. Meine Mutter hat nichts dagegen unternommen. Egal.
Ich bin darüber hinweg. Ich denke nicht mehr daran. Das führt zu nichts. Was
ändert das? Heute tut er mir leid. Ich kann ihn nicht ernst nehmen. Er ist ein
Schwächling. Er ist immer noch hinter den Frauen her, aber mich fasst er nicht
mehr an. Er sieht gut aus, aber das ist auch schon alles. Stimmt doch, oder?“,
wollte sie von Hermann wissen.
„Er ist ein Schwein.“
„Männer sind Schwächlinge, Idioten, Dummköpfe. Es bringt nichts, über sie
nachzudenken. Vergiss es. Was passiert ist, ist passiert. Du darfst sie nicht an
dich ranlassen. Du musst immer die Oberhand behalten. Ich spiele mit den
Männern. Die wollen es nicht anders“, stoppte sie ihren Redefluss und holte
zum nächsten Schlag aus. „Mein Vater hatte einen großen Schwanz, seitdem
mag ich Männer mit großen Schwänzen, das ist ein Nachteil.“
„Du müsstest dich sehen wenn du so sprichst“, unterbrach Hermann sie. „Dein
Gesicht wird zu einer Maske, dein Mund ist ein schmaler Schlitz. Der Hass entstellt dich, macht dich hart und auch wenn du so tust, als wäre dir dein Vater
gleichgültig - für das, was er dir angetan hat, zahlen die anderen. Ich weiß wovon ich spreche“, sagte Hermann.
Isabel saß mit angezogenen Beinen auf dem alten Sessel. „Ich habe meine Kraft
verschwendet, nur um mich nicht erinnern zu müssen; habe Bilder, Fragmente,
Puzzleteile symbolisch in eine Truhe, mit schweren Eisenbeschlägen gesperrt,
die Schlösser verriegelt und den Schlüssel in die Nordsee geworfen. Ich sehe
mich noch, wie ich in der Hocke am Meer sitze. Ich bin vielleicht vier oder fünf
Jahre alt, trage eine bunte Bikinihose mit Schleifchen an der Seite, baue einen
Wassergraben der die Sandburg umschließt und lausche den raunenden Wellen.
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Das Geräusch beruhigte mich. Ich erzähle, wie sich mein Leben verändert hat,
seitdem mein Papa „ganz besonders lieb“ zu mir ist. Ich bitte das Meer, mein
Geheimnis zu bewahren, bis ich eines Tages alt genug bin, um es zurückzufordern“, erinnerte sich Isabel. „Du zahlst einen Preis für das Verdrängen, und
wenn du die hässlichen und schmerzvollen Erinnerungen in dir einschließt, zerstören sie langsam und unaufhörlich auch die zarten, sensiblen Gefühle.“
„Du solltest das nicht so an dich heranlassen“, meinte Szilvia.
Isabel wunderte sich über sich selbst. Sie hatte bisher nicht so gesprochen.
Szilvia ging ihren Weg, sie wählte einen anderen und Hermann wollte endlich
aufbrechen.
*
Liebes Tagebuch, ich bin wieder in Pfingstdorf. Meine Herkunft ist ein Ort ohne
Türen und Fenster, mit hochgezogenen Mauern, ohne Ausblick, eine Falle hinter der schmucken Fassade. Die Wahrheit tut weh. Mein Vater hat mir sein Testament vorgelegt. Seitenlang führt er aus, was meine Brüder erben. Mein Name
taucht nicht auf. Bis zu diesem Augenblick, auf dem braunen Ledersofa im Büro
meines Vaters, wollte ich immer vor ihm sterben. Ich will kein Opfer mehr sein.
Isabel überlegte nicht lange, legte das Testament auf den Tisch zurück, stand
auf und verließ wortlos das Büro ihres Vaters. Sie wollte nach Wellenstein. Der
Weg zum alten, vor langer Zeit stillgelegten Steinkohleschacht, holperte unter
den Rädern. Sie schaltete in den zweiten Gang zurück. Der Förderschacht ragte
grau in den herbstlichen Himmel. Wolken zogen über den massigen Schornstein
hinweg. Sie fuhr im Schritttempo über die rostigen Schienengleise, an der kleinen Scheune vorbei, über den Hof des Bauern Fricke. Die graue Bank vor dem
Haus, neben der niedrigen Eingangstür, stand noch an ihrer Stelle, doch der alte
Fricke saß nicht mehr da. Früher hatte er gewunken wenn sie vorbeikamen oder
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furchtbar geschimpft, weil ihr Vater zu schnell fuhr und Staub aufwirbelte, dann
schwang der alte Fricke seine Faust und Burkhard beim Stein schimpfte: „Soll
er seinen Hof doch pflastern, der Geizhals.“ Die Forellenteiche glitzerten durch
Baumreihen schlanker Fichten. Isabel lenkte vorsichtig den Wagen über den
Feldweg, bog rechts ab, den schmalen Zufahrtsweg durch den Wald, den Berg
hinauf. Vor dem Schild, „Privat“, hielt sie an und öffnete das Holzgatter.
Der fußballfeldgroße Rasen war im Laufe der Jahre verwildert und zu einer
bunten Blumenwiese herangewachsen. Die Apfelbäume trugen keine Früchte
mehr. Die Wagenräder rollten knirschend über die lange Kieselsteinzufahrt.
Sie parkte den Renault, vor der in den Berg gehauenen Garage und lief die alte
Steintreppe empor. Das gusseiserne Treppengelände war überwuchert von
Weinranken. Die Laternen mit ihren Glaskugeln verschwanden hinter dichtem
Gestrüpp. Isabel stand regungslos auf dem halbrunden Vorplatz und sah das
kleine Holzhaus mit Veranda vor sich; unverändert, verwunschen, so als wäre
die Zeit stehengeblieben. Die dunkelgrüne Farbe blätterte ab, die schmiedeeisernen Gitterstäbe waren mit Grünspan bedeckt. Sie blickte durch die verstaubte
Scheibe der Eingangstür und sah den Kamin, daneben die Tür zur kleinen Küche, die Sitzecke, den braunen Eichentisch mit geschwungenen Beinen und
zwei Sessel. In diesem Raum hatte sich Doktor Wellenstein das Leben genommen. Er war der Geburtshelfer für Bernhard und sie gewesen, ein morphiumabhängiger Arzt, der sein Geld verspielte und das Haus mit Waldgrundstück, Wiesen und Feldern verkaufen musste. Nachdem er den Kaufvertrag mit ihrem Vater unterschrieben hatte, fuhr er nach Wellenstein zurück, stapelte trockenes
Holz im Kamin, goss Benzin darüber, setzte sich in den Schaukelstuhl und zündete die Scheite an, bevor er sich eine Überdosis Morphium spritzte. Doktor
Wellenstein vergaß die Abzugklappe zu öffnen, und anstatt lodernder Flammen,
füllte schwarzer Ruß den Raum, zog durch Türritzen in die Küche, die Schlafkammer und ins Bad. Die Haushälterin fand den Doktor, am nächsten Morgen
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tot vor dem Kamin. Isabel setzte sich auf einen Stein vor das Haus. Der Weg
zum Apfelbaumgarten war zugewachsen und die steile Treppe zur Kirschwiese
gar nicht mehr zu erkennen. Der Wind fuhr durch die Tannenwipfel. Sie hörte
Bernhard und sich singen: „Denn im Wald da sind die Räuber, halli hallo die
Räuber und die machen unsere Schwiegermutter kalt.“
Wellenstein war voller Abenteuer gewesen, eine Welt für sich. Ihr Bruder
Bernhard und sie hatten das Unterholz durchforsteten, waren stundenlang durch
die Umgebung gewandert, hatten sich hinter Bäumen versteckten und auf Rehe,
Füchse und Kaninchen gewarteten. Wellenstein war ihr Ort kindlicher Imagination und Fantasie gewesen, der längst vergangene Geschichten erzählte.
Ihr Vater wollte diese Geschichten nicht hören, wollte aus Wellenstein einen
Freizeitpark mit Hotelanlage machen. Bekannte und Geschäftsfreunde kamen
an den Wochenenden vorbei und begutachteten die Umgebung. Ihre Mutter bewirtete die Gäste, bis sie sich eines Tages weigerte, für all die arroganten Männer und eitlen Frauen zu kochen. Sie hatte genug von den Wochenenden auf
Wellenstein. Ihr Vater stellte einen Förster ein und baute oberhalb des Berges,
mitten in den Wald, ein geräumiges Holzhaus. Der Förster, seine Frau und die
zwei Kinder, wohnten drei Jahre dort, dann musste das Haus abgerissen werden,
weil ihr Vater keine Baugenehmigung hatte. Der Traum, Geld mit Wellenstein
zu verdienen, zerplatzte.
Nieselregen drang durch Isabels Jacke und Jeans. Es dämmerte bereits. Sie lief
zurück zum Wagen und drehte die Musik von Eric Clapton laut auf. Aus den
Boxen tönte: „Standing at the cross road, trying to read there signs, to tell me
which way I should go to find the answer, and all the time I know, bled your
love an let it grow.“ Sie sang laut mit, wendete den Wagen und schloss das
Gatter hinter sich.
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„Das kannst du nicht machen! Die verscheuert das Geld oder gibt es ihren Terroristenfreunden“, sagte Bernhard erregt.
„Redest du über mich?“, fragte Isabel, als sie ins Kaminzimmer trat. Ihr Vater
und Bernhard saßen am Wohnzimmertisch. Der Fernseher lief. Die indirekte
Beleuchtung flimmerte hinter der Blende über der maßgeschneiderten Schrankwand aus Nussbaum.
„Redet ihr über mich?“
„Ich will nicht, dass du das was ich aufgebaut habe, auseinanderreißt. Dafür
habe ich nicht mein Leben lang hart gearbeitet, keinen Urlaub gemacht und
Geld verdient, damit du kommst und mein Lebenswerk zerstörst“, brüllte Burkhard beim Stein und schaute seine Tochter wütend an.
„Bleib sachlich, Papa“, antwortete Isabel.
„Ich lasse mir von dir nicht sagen, wann ich mich aufzuregen habe! Ich hätte nie
gewagt, meinem Vater Widerworte zu geben. Sieh mich an, wenn ich mit dir
rede!“
„Du machst mir keine Angst!“, entgegnete Isabel kalt.
„Ich verbiete dir, so mit mir zu sprechen!“, fluchte ihr Vater.
„Und ich verbiete dir, mich einzuschüchtern. Du vergisst, dass ich kein Kind
mehr bin und mich wehren kann.“
„Du bekommst keinen Pfennig von mir!“
„Ich habe ein Recht auf meinen Pflichtteil.“
Ihr Vater wurde blass und schnappte nach Luft. „Du Flittchen! Du Hure! Ich
habe nicht geglaubt, was man sich über dich erzählt, aber du bist ja noch viel
schlimmer!“
Isabel sprang auf und verließ das Haus. Sie fuhr einfach los, ohne Ziel, sie bog
hier ab und lenkte dorthin, bis sie begriff, dass sie auf dem Weg zum „Zirkus
Musikus“ war, einem Club, zwanzig Kilometer entfernt, den Freunde von ihr
gepachtet hatten. Sie fuhr auf der Landstraße durch die Pampa, vorbei an Häu-
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sern aus rotem Backstein und Bauernhöfen mit Pferdekopfgiebeln. Sie parkte
den Wagen vor dem Eingang. Renzo stand hinter der massiven Holztheke. Sie
freute sich nicht mehr so wie früher, ihn zu sehen. Ihre Affäre war endgültig beendet. Sie hatten sich nichts mehr zu sagen, obwohl Renzo von jeher kein großer Redner gewesen war, außer beim Sex, da war ihm nichts fremd. Er lebte
seine Lust aus, wann, wie und mit wem er wollte. Doch ihr reichte der flüchtige
Sex nicht mehr. Sie grüßte ihn und ging in die Teestube. Es waren noch keine
Gäste da. Isabel setzte sich ans Fenster. Der Wind spielte mit den Büschen, die
Zweige schlugen gegen die Scheibe, in der sie sich spiegelte. Sie grüßte die, die
sie Einsamkeit nannte. Ihr Blick hatte etwas Ödes und in ihren Augen spiegelte
sich der Abgrund wieder. Sie konnte nichts dagegen tun. Nur aushalten und den
Kopf nicht verlieren. Sie musste sich auf ihre Intuition verlassen, musste der
Einsamkeit Tränen geben, damit sich die Fülle entleeren konnte, musste demütig sein, damit die Beschuldigungen keine Wirkung zeigten, doch ihr Herz wollte nicht stillhalten und flatterte, wie ein in die Enge geratener Vogel. Wie sollte
sie alle Erfordernisse erfüllen und ihre Vorstellungen verwirklichen? Da wo
andere ein System hatten, überwinterte in ihr das Chaos. Alles war möglich. Sicherheit gab es nicht. Misstrauen war vorherrschend. Die Familie verband nur
noch das Verschweigen und Verdrängen.
„Isabel, was sitzt du hier alleine herum?“ Rita hockte sich auf den Stuhl neben
sie. Ihre großen runden Augen lachten sie an.
„Ich habe nachgedacht.“
„Das muss aber etwas Ernstes gewesen sein. Bei deinem Blick wird einem ganz
anders. Ich mache dir einen Kräutertee, der beruhigt und entspannt. Wer auch
immer so auf deinen Nerven herumgetrampelt ist, sollte nach meiner Teemischung in Deckung gehen. Glaub mir, du wirst danach genug Power haben.“
„Vielen Dank, Rita, du bist eine Hexe.“
„Ja, aber eine gute.“
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„Das versteht sich von selbst.“
„Warte einen Augenblick, ich komme gleich wieder.“ Rita verschwand in der
Küche. Sie kam mit einem Tablett zurück, stellte zwei große Henkeltassen und
ein Honigglas auf den Tisch und setzte sich neben Isabel. Ihre blonden Engellocken fielen bis auf die Schultern. „Du musst nicht darüber reden, aber es tut
meistens gut.“
„Ich hatte eine unangenehme Auseinandersetzung mit meinem Vater. Er hat
mich als Hure und Flittchen beschimpft.“
Ritas Augen funkelten gefährlich. „Der hat sie doch nicht alle. Was hast du ihm
gesagt?“
„Ich habe noch gar nichts gesagt. Ich bin aufgestanden und hierher gefahren.“
„Das hast du gut gemacht. Du kannst bei uns bleiben. Wir Frauen aus der WG
würden uns freuen. Und mit den Männern wirst du leicht fertig, ganz besonders
mit Renzo“, konnte sie die Anspielung nicht verhindern.
„Ich werde mit meinem Vater reden. Ich laufe nicht davon, außer zum Nachdenken, aber nicht um aufzugeben. Vielleicht komme ich morgen auf dein Angebot
zurück. Es wäre nur für ein oder zwei Nächte, dann fahre ich wieder nach Freiburg.“ Isabel gab zwei Löffel Honig in den Kräutertee. „Dein Angebot hilft mir
wirklich, Rita. Und was Renzo angeht, mach dir mal keine Gedanken. Ich will
nichts mehr von ihm.“
Rita errötete. „Alles klar, Isabel.“
Im Kaminzimmer brannte Licht. Burkhard beim Stein saß auf dem Sofa und
löffelte den Inhalt des dritten Joghurtbechers in sich hinein. Er sah Nachrichten
in der ARD und blickte nur kurz auf, als Isabel eintrat. „Wo kommst du her?“,
fragte er autoritär.
„Von Freunden.“
„Das ist keine Antwort.“
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„Hör auf, in dem Ton mit mir zu sprechen. Entweder wir unterhalten uns vernünftig, oder ich verlasse augenblicklich das Haus und komme nicht wieder.
Mit mir kannst du das nicht mehr machen. Nenne mich nie wieder Hure oder
Flittchen! Nie mehr! Ich meine es ernst. Ich gehe meinen eigenen Weg. Du
kannst mich nicht aufhalten.“
„Was hast du vor, Isabel? Was redest du da?“
„Ich werde dich nicht anzeigen. Du musst damit fertig werden und ich muss damit leben.“
„Aber ich tue dir doch nichts, Kind. Wie kannst du so etwas sagen?“
„Erwarte nicht von mir, dass ich deinen Wünschen entspreche. Was du mit mir
gemacht hast, und das, was du aus mir machen wolltest, ist unverzeihlich. Du
hast dich nie gefragt, wie ich mich dabei gefühlt habe und bis heute fühle, es
war und ist dir egal, und ich kann dir nur sagen, dass mir das überhaupt nicht
gefällt. Ich fühle mich zerbrochen, überall liegen Splitter und Scherbenteile
herum und ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Erwarte nichts von mir und
bring dein eigenes Leben in Ordnung.“
„Was soll mit meinem Leben nicht in Ordnung sein?“, stöhnte ihr Vater erschrocken auf.
„Das musst du schon selbst herausfinden.“
*
Hermann lief den Flur auf und ab. Die zwei Prüfer und der Herr im grauen Anzug, der vom Kultusministerium aus Stuttgart geschickt worden war, berieten
noch. Was brauchten die so lange? Sie ließen ihn schon eine viertel Stunde warten. Hermann versuchte sich zu beruhigen. Von elf Fragen hatte er bei zwei
Antworten, Unsicherheit gezeigt. Kein Grund, ihn durchfallen zu lassen. Der
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Typ vom Kultusministerium, hatte wissend geschaut, keine Fragen gestellt und
die Beobachterposition eingenommen. Wozu ihn beobachten?
„Hallo, Hermann.“ Isabel legte die Hand auf seine Schulter und spürte die Anspannung.
„Sie beraten noch“, flüsterte er beeindruckt, als die Tür zum Büro endlich geöffnet wurde. Einer der Prüfer winkte Hermann herein. Zwei Minuten später
stand er wieder im Flur, die Erleichterung war ihm anzusehen. Er hatte das Erste Staatsexamen in der Tasche und einen Studienplatz in Erwachsenenbildung
an der Freien Universität Berlin. Glücklich umarmte er Isabel und verließ eng
umschlungen mit ihr das Kollegiengebäude.
„Das war’s“, sagte er zufrieden, während seine Finger mit ihren Haaren spielten.
„Danke für deine Hilfe, Isabel. Du bist wirklich eine Freundin, eine, wie ich sie
mir nur wünschen kann. Gerade deshalb ist die Vorstellung, dass du nicht mit
mir nach Berlin kommst, schwer zu ertragen. Ich will nicht ohne dich leben. Du
tust mir gut, du stehst zu mir, ich kann mich auf dich verlassen, du bist klug und
mutig, und ich liebe dich, dennoch muss ich nach Berlin, auch ohne dich.“
„Ich weiß.“
„Am Donnerstag ist es soweit. Fred holt mich mit seinem Bus ab. Ich kann vorerst in der Fabriketage bleiben und suche uns von dort aus eine Wohnung. Du
kommst doch nach Berlin, Isabel?“
„Ich bleibe keinen Tag länger in Freiburg als nötig.“
*
Die Tage quälten sich mühsam durch die Woche. Isabel lebte in den Tag hinein.
Hermann war nach Berlin gezogen. Tagsüber saß sie am Schreibtisch oder auf
dem Bett, schrieb Gedichte, Tagebuch und tat was die innere Stimme ihr riet.
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Die PH interessierte sie nicht. Sie ging einfach nicht mehr hin. Sie blieb tagelang alleine, traf keinen Menschen, sprach mit niemandem und hörte Musik,
meistens Jazz. Sie las einen Roman nach dem anderen von Simone de Beauvoir
und brauchte sonst nichts zum Leben. Als sie Regina kennenlernte, in der neuen
Diskothek am Werderring, war sie völlig vereinsamt. Die Freundinnen und
Freunde aus der Studienzeit, hatten Freiburg in alle Himmelsrichtungen verlassen. Regina erzählte voller Stolz von ihrem Freund Franz, der gerade auf Entzug in einer Klinik war. Regina war Fixerin, zehn Jahre älter als Isabel, klaute
was nicht niet- und nagelfest war und wohnte eine Querstraße weiter, in einem
winzig kleinen Dachzimmer. Sie hatten sich für den Abend in der Disco verabredet und als Isabel kam, stand Regina mit Heinz an der Theke und amüsierte
sich. Isabel erkannte Heinz sofort wieder, obwohl er sich in den vier Jahre, seit
sie sich nicht gesehen hatten, sehr verändert hatte. Aus dem Biedermann war
ein Lederjackenmann geworden. Er war geschieden und lebte mit einem Freund
zusammen. Isabel erinnerte sich an die erste Begegnung in Neuendorf. Ihr
Freund Joey wurde sechs Wochen stationär in der Psychiatrischen Klinik behandelt. Sie fuhr jeden Tag nach der Schule mit dem Mofa zu ihm. Heinz und
Joey teilten sich ein Zimmer. Joey kämpfte mit den Auswirkungen ungezügelter
LSD Räusche und Heinz, zweiunddreißig, ein äußerlich großer und starker
Mann, urinierte ins Bett wie ein Kleinkind. Er schien das alles vergessen zu haben. Isabel staunte über seine Veränderung. Seine Härte zog sie an. Er verachtete Frauen und sprach von ihnen als fette Säue oder Milchkühe. Sie schloss
sich seinem Frauenhass an und dachte, sie hätte es verdient, schlecht behandelt
zu werden und verliebte sich in seine Aggression, die mehr war, als die Leere,
die sie in sich fühlte. Im Unterschied zu Heinz, war Regina hart und rücksichtslos gegenüber sich selbst. Sie log, betrog und stahl, hatte im Knast gesessen und würde über kurz oder lang, wieder dort landen. Ihr Leben war ein Teufelskreis. Schon nach dem zweiten Mal, warnte sie Isabel vor dem Konsum von
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Heroin. Sie wäre das beste Beispiel für das, was der Stoff aus einem Menschen
macht, klagte sie. Isabels Kontakte mit der Außenwelt, beschränkten sich auf
Heinz und Regina, gebrochene Persönlichkeiten wie sie, die ihr das Gefühl gaben, nicht ganz so kaputt zu sein. Sie fürchtete die Steppenwölfin in sich, die
ruhelos umher trieb und immer unterwegs war, kämpfte mit der Flüchtenden,
zauderte, stagnierte, war am Ende, schrieb sich die Seele aus dem Leib und
kommunizierte mit Hermann über achthundert Kilometer hinweg. Da sie kein
Telefon besaß, musste sie ihn anrufen, um seine Stimme zu hören. In der Fabriketage, wo er vorübergehend untergekommen war, gab es ein Telefon - und
Ulrike. Ulrike war verliebt in Hermann. „Ulli“, wie er sie freundschaftlich
nannte, war attraktiv, groß gewachsen, blond, selbstbewusst, modern und großstädtisch. Es war alles ihre Schuld. Wenn sie so weitermachte, würde sie bald
durchdrehen. Dazu brauchte sie wahrlich kein Heroin. Ihre Erinnerungen waren
pures Gift und zerstörten sie inwendig. Es schellte an der Tür. Isabel saß auf ihrem Bett am Fenster und hörte Gerry Rafferty. „See the dark night has come
down on us, the world is living in its dream. Now we know, that we must wake
up from this dream, and set up on a journey, try to find a ship that takes us on
our way“. Es schellte noch einmal. Es war bereits nach Mitternacht. Isabel sah
durch den Spion. Es war Hermann. Sie riss die Tür auf und fiel ihm in die Arme, küsste sein Gesicht, die Stirn, die Wangen, die Augen, den Mund.
„Ich bin so froh dich zu sehen. Ich dachte, ich werde verrückt. Ich brauche dich,
aber ich will dich nicht gebrauchen“, sagte sie aufgeregt und glücklich. Das
Dunkle verschwand und das Licht schien wärmer zu werden. Sie saßen nebeneinander auf dem Bett, hielten sich in den Armen und Hermann sprach zu ihr,
wie kein anderer mit ihr redete.
„Nach dem letzten Telefongespräch, musste ich kommen. Es hat mir keine Ruhe gelassen. Du klangst so deprimiert. Ich habe Angst um dich, Isabel. Ich begreife nicht, wie du zusammen mit Fixern, deinen Weg finden willst? Du gehst
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nicht mehr zur PH. Du schreibst, dass dich der Abschluss nicht interessiert, dass
du mit dem ersten Staatsexamen nichts anfangen kannst, dass du auf deinem
Weg keine Abschlüsse sammeln musst, dass es für deinen Berufswunsch keine
Hochschulen gibt. Ich frage mich, was du noch in Freiburg suchst? Komm mit
mir. Ich kann zwei Zimmer in einer Wohnung mieten, das wäre zwar illegal und
wir müssten, wenn wir gefragt würden, sagen, wir wären nur zu Besuch, aber
das ist kein Problem. Viele fangen in Berlin so an. Ich bin hier, um dich zu holen, Isabel.“
„Was soll ich in Berlin? Dort habe ich gar nichts. Ich bin fremd und ich kenne
niemanden.“
„Du kennst mich. Wir wären zusammen, ist das nichts? Was hast du hier? Du
schreibst von deiner Einsamkeit und ich kann sie bis Berlin fühlen. Wovor hast
du Angst?“
„Vor dem Leben. Ich kann mich nicht dafür entscheiden.“
„Was ist passiert? Posa, was bedrückt dich?“
„Ich falle tiefer und tiefer und nichts kann mich aufhalten. Was für einen Sinn
hat mein Leben? Weißt du es?“
„Finde es heraus! Ich wäre dabei gerne an deiner Seite.“
Dienstag, 5.12.79
Ich sitze in der Warsteiner Galerie, schreibe Tagebuch, trinke einen Kaffee und
versuche meine Gedanken zu ordnen. Isabel stellt die Entscheidungsfrage: Mit
mir nach Berlin, oder mit Heinz in Freiburg. Dass sie diese Frage überhaupt
zugelassen hat, hat mich verletzt. Mit der Zeit fand ich ihre Ehrlichkeit allerdings überzeugend. Sie weiß, dass ich sie liebe und sagt, dass die Liebe eine
kleine Flamme ist und vor Stürmen geschützt werden muss. Ich habe ihr gesagt:
„Meine Liebe braucht dich, deine Zärtlichkeit, dein Verständnis. Ich hab viel
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von dir gelernt und ich glaube nicht, dass das was zwischen uns möglich ist,
schon ausgeschöpft wurde. Geh nicht an mir vorbei. Vergiss mich nicht.“
Mittwoch, 6.12.79
Wieder im Warsteiner. Heute fühle ich mich wohler. Ich konnte Isabel endlich
erzählen, dass ich mit Szilvia gevögelt habe. Ich musste es ihr sagen. Ich habe
ihr Vorwürfe wegen Heinz gemacht, aber jetzt bin ich froh, dass ich, als es darauf ankam, nicht den Moralapostel gespielt habe. Heinz kam in die Breisacherstraße. Er versuchte mich als Idioten hinzustellen, weil ich Isabel liebe und erklärte mich für schwul, weil ich mich weigerte, mit ihm zu konkurrieren. Dann
verließ er fluchtartig das Zimmer. Isabel folgte ihm, meinte, er bräuchte vielleicht ihre Hilfe. Es ist schwer für einen Man, zuzugeben, dass der Männlichkeitswahn seine Grenzen hat. Die Grenzen werden dort gesetzt, wo selbstbewusste, zärtliche Frauen ihre Existenz nicht mehr in Frage stellen lassen. Ich
weiß, Isabel ist eine selbstbewusste und zärtliche Frau.
Isabel musste Heinz hinterherlaufen. An der nächsten Querstraße holte sie ihn
ein. „Ich gehe zu Regina“, sagte er kalt.
„Ich komme mit.“
„Das ist wenigstens eine Frau die keine Zicken macht. Ganz im Gegensatz zu
dir. Du kotzt mich an. Was bist du nur für eine dumme Fotze.“
„Ich liebe Hermann und bin verliebt in dich. Ist das so schwer zu begreifen? Du
hast einen Freund, den du meinetwegen auch nicht aufgeben würdest.“
„Du Biest.“ Er stieg die Treppe in den fünften Stock zu Reginas Dachwohnung
empor. Isabel folgte ihm. Regina saß auf dem Bett, neben sich eine Tasse Pulverkaffee, während ihr großer schwarzer Mischlingshund, auf dem winzigen
freien Platz am Boden lag. Regina sah zuerst Isabel und dann Heinz an. Er setzte sich zu ihr aufs Bett, legte seinen Arm um ihre Schultern und brummte Besitz
ergreifend: „Ich habe dir doch gesagt, dass Regina keine Zicke ist. Mit ihr kann
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ich ohne Probleme ficken, danach trinken wir einen Kaffee zusammen und gut
ist es.“
„Du bezahlst dafür, Heinz! Das solltest du nicht verschweigen, wenn du so einen Mist erzählst. Für eine Nacht mit mir, musst du blechen!“, grinste Regina
durch ihre verfaulten Zähne. Isabel stand auf, umarmte Regina und bedankte
sich bei ihr. Sie hatte endlich kapiert. Sie lief die Klarastraße entlang und
schimpfte über ihre Dummheit und Naivität, und darüber, dass sie immer auf
die gleichen Männer hereinfiel, außen hart wie eine Betonwand und innen hohl.
Sie hatte genug von kaputten, herzlosen Typen, die hinter ihrer Fassade die
Feigheit versteckten, und wenn es darauf ankam, jämmerlich versagten. Sie war
fertig mit Heinz und Männern wie ihm und spürte den Boden unter ihren Füßen
fester werden. Sie würde sich nicht unterkriegen lassen und war bereit zu kämpfen. Regina war eine Fixerin, die stahl und ihren Körper verkaufte, doch sie war
ebenso sehr eine Schwester, die sie beschützte, wenn es darauf ankam. „Du
musst dafür bezahlen“, hatte sie Heinz entgegen geworfen, einen dicken, fetten,
unverdaulichen Brocken.
„Friss ihn, du Scheißkerle!“, schrie Isabel unter der Zugbrücke, während der
Eurocity donnernd und dröhnend über ihr hinwegraste.
Hermann war nicht im Zimmer als sie kam. Isabel holte zwei Koffer und die
Reisetasche aus dem Wandschrank. Ihr Entschluss stand fest. Sie würde nach
Berlin ziehen und das Abenteuer Großstadt wagen. Es schellte. Franz stand vor
ihr. Er war vor einer Woche aus der Suchtklinik entlassen worden.
„Ich habe eine gute Nachricht“, freute er sich. „Ich habe Arbeit gefunden. Sie ist
solide und das Arbeitsklima ist gut. Der Chef weiß, dass ich aus der Klinik
komme und clean bin. Das einzige, was mir jetzt noch fehlt, sind die eigenen
vier Wände. Ich kann unmöglich bei Regina wohnen. Sie zieht mich runter und
die Dealer geben sich bei ihr die Klinke in die Hand. Sie fixt rund um die Uhr.
Wenn ich nicht von ihr wegkomme, hänge ich in einer Woche wieder an der
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Nadel, aber ich will nicht mehr, diesmal ist endgültig Schluss. Ich darf keine
Rücksicht auf sie nehmen.“
„Du kannst mein Zimmer haben.“
„Willst du ausziehen?“
„Ja, so schnell wie möglich. Für mich wäre es gut, wenn ich einen Nachmieter
hätte.“
„Wie teuer ist das Apartment?“
„Dreihundertachtzig Mark.“
„Ich nehme die Wohnung, sofort.“
„Warte hier, ich rufe die Immobilienfirma an.“ Sie holte den Hausschlüssel, das
Adressbuch, drei Groschen und eilte zur Telefonzelle.
„Leutner Immobilien. Guten Abend“, sagte eine Frauenstimme
„Guten Abend. Mein Name ist Isabel beim Stein. Ich bin seit drei Monaten
Mieterin in der Breisacherstraße dreiundzwanzig. Heute habe ich einen Brief
von der Hochschule der Künste erhalten. Sie nehmen mich als Schauspielschülerin. Das Problem ist nur, das ich zum 15. Dezember bereits in Berlin sein
muss. Ein Freund von mir sucht dringend eine Wohnung, weil er in Freiburg
eine Arbeit gefunden hat. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn wir möglichst
schnell einen Termin vereinbaren könnten. Ich würde den Nachmieter mitbringen und alle Formalitäten klären.“
„Ja, dann kommen sie doch gleich morgen früh um zehn“, meinte die Sachbearbeiterin völlig überrumpelt.
Isabel hüpfte auf und ab. Sie fühlte sich leicht, konnte endlich wieder Entscheidungen treffen und wusste, dass die Zeit der Depression und Stagnation vorbei
war. Als sie zurück ins Apartment kam, saß Hermann neben Franz auf dem
Bett. Er sah blass und erschöpft aus. Isabel strahlte übers ganze Gesicht und
sagte: „Ich habe alles geklärt, Franz. Morgen früh um zehn Uhr haben wir einen
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Termin bei der Immobilienfirma. Bring den Arbeitsvertrag mit, den Rest mache
ich.“
Hermann verstand gar nichts. „Um was geht es?“
„Ich komme mit dir nach Berlin. Das mit Heinz ist vorbei. Vergiss ihn. Er war
nur ein kurzer Abstecher in eine längst vergangene Zeit. Ich bin bereit, zu neuen
Ufern aufzubrechen.“
Franz verabschiedete sich. „Und danke für alles, Isabel, wir sehen uns morgen.“
Hermann lag ausgestreckt auf dem Bett. Isabel packte. Bücher, Platten, die
Kompaktanlage, die Kleider und das, was ihr wichtig war, verstaute sie in Kisten und Koffern.
„Du hast es aber eilig. Es scheint so, als wolltest du morgen schon losfahren.“
„Genau. Wenn alles erledigt ist und Franz die Wohnung übernehmen kann,
möchte ich abreisen. Es hat lange genug gedauert. Es hält mich nichts mehr.“
„Und das Studium? Regina, deine Bekannten, Freiburg, willst du das alles aufgeben?“
„Schon gut.“ Sie setzte sich neben ihn. „Ich weiß es ist nicht leicht, aber vertrau
mir. Manchmal brauche ich mehr Zeit, um zu begreifen, was für mich gut ist,
aber wenn ich verstanden habe, worum es geht, dann kann mich nichts mehr
aufhalten. In den letzten drei Monaten habe ich meine Zeit vertan. Ich war so
durcheinander, so verwirrt und unsicher. Ich weiß nicht, was werden wird, aber
ich will mich nicht mehr verstecken. Es ist seltsam, aber jetzt, wo ich den dunklen Tunnel verlassen habe, sehe ich, dass meine Schritte in die richtige Richtung
führen. Ich kann mich wieder fühlen, selbst wenn es schmerzvoll ist. Möchtest
du wirklich, dass wir zusammen leben, nach allem was ich dir zumute?“
„Isabel, ich liebe dich, mehr denn je.“
„Ich liebe dich auch, Hermann.“
„Was wirst du in Berlin machen?“
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„Ich werde die Großstadt auf mich wirken lassen, möchte kreativ sein, vielleicht
bewerbe ich mich an der Schauspielschule, und falls es nicht klappt, kann ich
immer noch zur Freien Universität gehen und Germanistik und Philosophie studieren.“
„Was bist du nur für eine Frau?“ Hermann küsste sie.
Es schellte an der Tür. Hermann machte auf und kam mit Heinz zurück.
„Was willst du?“, fragte Isabel kalt.
„Ich war bei Regina. Franz hat erzählt, er könnte dein Zimmer mieten.“
„Was geht dich das an?“
„Ich bin nicht deinetwegen gekommen. Ich will mit Hermann sprechen, ein Gespräch unter Männern, also hau ab.“
„Du hast sie doch nicht mehr alle“, empörte sich Isabel.
Heinz überging sie und wandte sich direkt an Hermann. „Ich muss dir ein paar
Geschichten von der erzählen. Ich glaube nicht, dass du weißt, wie gefährlich
dieses Weib ist. Glaub mir, ich könnte dich von ihr heilen. Du solltest auf keinen Fall mit ihr zusammenziehen, sie macht dich unglücklich. Ich kenne einige
Männer, die nachher nicht mehr sie selbst waren. Komm, wir gehen ein Bier
trinken.“
„Du solltest jetzt verschwinden und zwar schnell!“, verlor Isabel die Fassung
und brüllte ihn an. „Du bist ein noch viel größeres Arschloch, als ich gedacht
habe und ein schlechter Verlierer dazu“, schimpfte sie.
„Schon gut, Isabel, reg dich nicht auf. Ich trinke ein Glas Bier mit Heinz.“
„Das glaube ich nicht. Du stellst dich gegen mich? Warum? Wie kannst du mit
ihm gehen, nach alldem was er gesagt hat?“, verzweifelte sie.
„Beruhige dich, Isabel. Ich bleibe nicht lange“, nahm Hermann seinen Parka
und den Hausschlüssel und eilte zur Tür. „Bist du soweit?“, drängte er.
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Heinz grinste schäbig und schlug siegessicher die Tür hinter sich zu. Sie hörte
Treppengeklapper, doch keine drei Minuten später, stürmte Hermann ins Apartment zurück und verschloss die Tür hinter sich.
„Tut mir leid, Isabel, aber ich musste ihn aus der Wohnung locken“, meinte er
außer Atem. „Heinz ist stärker als ich.“
„Als du mit ihm rausgegangen bist, habe ich gedacht - das war ´s! Aus und vorbei!“
„Heinz ist böse und weiß, dass er dich verloren hat. Einer wie er kann nicht verlieren. Hast du seine Augen gesehen? Er musste die Wohnung verlassen, nur so
konnte ich dich schützen.“
„Danke, Hermann. Du bist wirklich ein Freund.“
„Stimmt, Biba.“
Fäuste prasselten gegen die Tür.
„Du verarschst mich nicht!“, brüllte Heinz. „Euch krieg ich noch“, fluchte er,
bevor er verschwand.
*
Ein bitterkalter Morgen erwartete sie. Der Frost glitzerte wie Eiskristall, die
Straßen, die parkenden Autos, die Baumkronen, Dächer und Bürgersteige, alles
war von einer gefrorenen Eisschicht überzogen. Regina und Franz kamen vorbei
und halfen Isabel, die Sachen in den VW Bus zu beladen, was schnell ging,
denn sie nahm nur Bücher, Bilder und Platten mit. Sie schenkte Franz die Matratzen, den Schreibtisch, das schiefe Bücherregal und den Tisch aus einem alten
Wagenrad. Er war gerührt und voller Hoffnung. Regina, die hart gesottene Fixerin, leistete sich zum Abschied Gefühle. „Ich bin froh, dass ich dich kennengelernt habe“, meinte sie. „Alles Gute für Hermann und dich“, wünschte sie Isabel. „Du hast richtig entschieden. Geh weg und fange ein neues Leben an. Ich
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wünschte, Franz und ich hätten auch noch eine Chance, aber für uns ist es zu
spät.“
„Du hast mir in den letzten Monaten sehr geholfen, danke dafür.“ Isabel umarmte sie.
„Bist du bereit?“, fragte Hermann und öffnete Isabel die Wagentür, bevor sie es
sich anders überlegen konnte. Sie stieg in den buntbemalten VW-Bus und winkte zum Abschied.
„Ich bin froh, dass es vorbei ist. Ich dachte schon, ich müsste für immer in der
Trostlosigkeit verweilen.“
„Auf nach Berlin!“, freute sich Hermann und legte den ersten Gang ein.
Isabel saß an seiner Seite. Er hatte um sie gekämpft und einen Sieg errungen.
„Danke, Hermann! Das war knapp. Du bist ein wirklich guter Freund“, meinte
sie und streichelte seinen Nacken.
„Mit Vergnügen“, lachte er und drehte die Musik lauter. Bob Dylan tönte: „Like
a rolling stone”, und beide sangen mit: „She makes love just like a woman and
she breaks just like a little girl“.
V
Kalter Ostwind wehte zugig durch die Straßen der Stadt, stemmte sich gegen
alte Häuserwände und zwängte sich durch bröckelige Fugen und Ritzen. Isabel
bewohnte ein dreißig Quadratmeter großes Zimmer, mit hohen Wänden, stuckverzierter Decke und breiten Doppelfenstern, durch die sie auf den Zickenplatz
schaute. Die Lichter vermochten ihre Stimmung nicht aufzuhellen. Berlin, eingezwängt zwischen Mauern und Stacheldraht, verharrte in der Kälte und wartete
auf den Frühling. Hermann arbeitete seit einem Monat bei einer Personallea-
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singagentur, die ihn an ein Synchronisationsbüro vermittelt hatte. Er saß zwischen zwei streitsüchtigen Sekretärinnen, in einem kleinen stickigen Raum und
bemühte sich, nicht zwischen die Fronten zu geraten.
Die Kälte vertrieb Isabel vom Fenster zurück auf die Matratze, die neben dem
Kachelofen lag, dem einzigen Ort, an dem es warm wurde. Sie platzierte alles
um sich herum: die gesammelten Werke von Euripides, die sie in einem Antiquariat gefunden hatte, Papier, Füller, Kerzen, Stövken mit Teekanne, Milchtopf und Kandis in einer kleinen Schale. Sie hatte sich an der Hochschule der
Künste (HdK) für den Fachbereich Schauspiel angemeldet. Vor ihr lag ein
selbstgeschriebenes Gedicht. Sie wollte es dramaturgisch bearbeiteten, um es
vorspielen zu können. Jeder Satz brauchte einen spielerischen Ausdruck, deshalb schrieb sie Regieanweisungen neben die Zeilen. Die Arbeit machte ihr
Freude und regte ihre Fantasie an. Sie stellte sich vor, wie sie auf einer Theaterbühne stand und aus dem schattigen Hintergrund ins Rampenlicht trat, wie sie
sich an den Bühnenrand setzte, die Prüfer anblickte, und wie sie versuchte, die
eine zu sein, die da fragte: „Wie lange noch?“ Sie wickelte die Bettdecke um
sich, schüttelte die Kälte von den Schultern, rieb die Hände gegeneinander und
zog mit einem gespitzten Bleistift, senkrechte Linien auf ein Blatt Papier. Die
Wohnungstür knarrte, der Parkettfussboden ächzte und Hermann kam ins Zimmer. Er sah müde aus und legte sich zu ihr. Sie nahm ihn in die Arme, massierte
seine Stirn und fuhr mit den Daumenkuppen die Linien seines Gesichts entlang,
schloss die Hände unter seinem Kinn, strich ohne die Finger abzusetzen, die
Wangen, Schläfen und die Kopfhaut bis in die Haarspitzen hinein und zog die
Spannung aus seinem Schädel heraus. In der Ecke, am Kachelofen, fühlte sie
sich behaglich. Im Kerzenschein wirkte das Zimmer wie eine leere Bühne.
„Ich vermisse die Stille und den weiten Blick“, sagte Isabel. „Im Park rauschen
nicht die Blätter an den Bäumen, sondern brummt der Verkehr, dennoch – ich
möchte nicht woanders leben.“
163
„Ich dachte, du bereust es, mit mir zusammen zu sein?“
„Wir haben eine Menge Probleme, Hermann. Jeder für sich und gemeinsam,
doch ich möchte mit niemandem tauschen. Ich lasse mich nicht unterkriegen
und werde alles tun, um meine Zukunft selbst zu bestimmen. Ich laufe nicht davon“, antwortete sie. „Und was ist mir dir? Du hast Sehnsucht nach deinen
Kindern. Warum fährst du nicht zu ihnen? Erzähle ihnen, wie schwer dir die
Trennung fällt.“
„Das würde ich gerne tun, aber ich kann nicht weg.“
„Du solltest mich nicht unterschätzen. Ich halte mehr aus als du denkst. Ich
weiß wie sehr du deine Kinder vermisst. Ich wünschte mir, ich hätte weniger
Schuldgefühle. Ohne mich würdest du vielleicht zurückgehen.“
„Du irrst dich! Ich habe Szilvia nicht deinetwegen verlassen.“
„Das weiß ich. Aber wissen es deine Kinder auch?“
„Helen und Leon werden damit fertig werden.“
„Es bleibt ihnen nichts anderes übrig. Ihr habt sie jedenfalls nicht gefragt.“
„Willst du, dass ich zu ihnen zurückkehre?“
„Manchmal glaube ich, es wäre das Beste.“
„Du kannst mich beleidigen und mich als Egoisten beschimpfen, aber verschone mich mit deiner Rückkehrphilosophie! Ich lasse mir von dir nicht vorwerfen, ich hätte diese Entscheidung leichtfertig getroffen!“
„Ich werfe dir nichts vor, ich stelle fest. Du sehnst dich nach deinen Kindern,
doch du weißt nicht, wie du mit deiner Sehnsucht umgehen sollst. Du verdrängst und rationalisierst, und wenn es ganz schlimm kommt, schweigst du.
Ich will nicht, dass du zurückgehst, was denkst du von mir? Aber wie sollen wir
miteinander leben, wenn du deine Vergangenheit nicht aufarbeitest. Was immer
diese Frau dir angetan hat, oder was du ihr angetan hast, kläre es, streite, rede,
finde einen Weg.“
„Meine Vergangenheit ist dir zu viel?“
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„Wenn du bereit bist mit ihr umzugehen, dich mit ihr auseinanderzusetzen, ist
sie natürlich nicht zu viel für mich, doch wenn du nichts weiter tust, als deine
Gefühle zu unterdrücken, lädst du eindeutig zu viel bei mir ab.“
„Wie meinst du das?“
„Du überlässt das Fühlen mir und stellst deine Probleme bei mir unter.“
„Von welchen Problemen sprichst du?“
„Die Sexualität zum Beispiel. Du funktionierst und wenn es nicht klappt, ist es
meine Schuld. Ich weiß, ich habe keine ungebrochene Sexualität. Ich brauche
Geduld, möchte meine Lust spüren - und das nicht nur im Kopf.“
„Du bist eine kluge Frau.“
„Ich möchte klüger werden.“
Isabel verlor sich augenblicklich unter all den Menschen. Eine Studentin teilte
die dreihundert Bewerber für die Schauspielprüfung in Gruppen ein. Neben ihr
unterhielten sich zwei junge Männer über die Rollen, die sie gelernt hatten, unschuldig und ungebrochen, schienen sie gerade erst von der Schule gekommen
zu sein. Die Gruppe wurde in einen Raum geführt. Sie bildeten einen großen
Kreis, hüpften über den Fußboden, schüttelten alle Glieder von sich und benahmen sich wie Hampelmänner. Die Trainerin leitete sie bei den Übungen zur
Stimmbildung an: Sie gurgelten und stöhnten, atmeten durch die Nase ein und
den Mund wieder aus. Die Trainerin zeigte ihnen auch, wie man mit dem
Bauchnabel wippt und beim Entspannen loslässt. Eine halbe Stunde später wurden sie in den Warteraum zurückgebracht. Frauen und Männer saßen auf Stühlen, auf dem Boden, auf Heizkörpern und lernten ihre Rollen. Ein leises Gebrabbel und Gemurmel war zu hören und die Spannung mit den Händen zu
greifen.
„Wer von euch ist Isabel beim Stein?“, fragte ein junger Mann. Sie stand vom
Boden auf und folgte ihm.
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„Ich heiße Markus und bin im fünften Semester“, sagte er. „Ich bringe dich zum
Bühneneingang und hole dich auch wieder ab. Du brauchst also keine Angst zu
haben. Die sind alle sehr nett. Viel Glück“, wünschte er ihr und verschwand
hinter dem Vorhang. Ein schwarzer Flügel glänzte in der Ecke, die Bühne war
leer. Der Vorsitzende des Prüfungsgremiums begrüßte sie: „Fangen Sie gleich
an, wir sind zeitlich unter Druck.“
Isabel setzte sich an den Bühnenrand, ihr Atem stockte, das Herz schlug schnell
und hart. „Spannung halten“, dachte sie, und fragte verzweifelt: „Wie lange
noch?“ Ihre Augen wanderten über die roten Sessel, erspürten die Theateratmosphäre und Erinnerungen aus der Kindheit wurden lebendig. Sie war ungefähr
sieben Jahre alt gewesen, als sie zum ersten Mal ein Theater betrat, durch den
Bühneneingang. Sie lief die schmalen Flure hinter den Kulissen entlang. Männer eilten vorbei, mit langen schwarzen Beinkleidern und Frauen stolzierten
aufrecht, mit hoch erhobenem Kopf. Im Spiegelsaal standen Mädchen an Stangen und eine Frau spielte Klavier. „Wie lange noch?“, fragte Isabel ein letztes
Mal und verließ den Platz am Bühnenrand. Sie stellte sich in die Mitte, breitete
die Arme aus und versuchte Medea zu sein, die Rachsüchtige, die Klagende, die
um Verzeihung Bittende. „Korinther“, erhob sie theatralisch ihre Stimme, fühlte
sich fremd in der Rolle, verhaspelte sich, fing von vorne an, mit zitternder Stimme und fliehenden Gedanken, hörte sie den Prüfer sagen: „Das reicht schon,
danke. Was möchten Sie uns noch vortragen?“
„Das Wiegenlied der Mutter Courage“, antwortete sie und hockte sich in den
Schatten an eine wackelige Bühnenwand. Sie sang mit monotoner Stimme. „Eia
popeia, was raschelt im Stroh? Nachbars Bälg greinen und meine sind froh.“ Sie
fühlte sich gekünstelt, nichts war echt, die Entfremdung perfekt. Was sollte
das? Was tat sie hier? Rollen anderer zu spielen, war für eine wie sie, viel zu
gefährlich, eine, die sich selbst nicht kannte und verloren gehen könnte. „Nachbars gehn in Lumpen und du gehst in Seid Ausn Rock von einem Engel um-
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gearbeit` Nachbars han kein Brocken Und du kriegst eine Tort Ist sie dir zu trocken Dann sag nur ein Wort Eia popeia Was raschelt im Stroh? Der eine liegt in
Polen Der andre ist werweißwo.“ Im Singsang ihrer Stimme schwangen Trauer
und Resignation mit.
„Ich habe das Gefühl, dass sie aus dem Theaterstück lieber eine andere Rolle
gewählt hätten?“, meinte der Vorsitzende weise.
„Ja, das stimmt. Am liebsten hätte ich die stumme Kathrin gespielt.“
„Dann spielen sie“, forderte sie der Professor auf.
Isabel trat aus dem Schatten ins Licht und stellte sich vor, wie sie auf einem
Turm stand, in die Ferne schaute und die Feinde sah, die auf Pferden angeritten
kamen. Sie wollte schreien, doch kein Laut entwich ihrer Kehle. Sie schlug die
Trommel. Links, rechts, links, rechts, zuerst langsam, dann schneller und
schneller, sausten die Hände auf und ab. Schmerz und Wut mischten sich mit
dem Gefühl, ohnmächtig zu werden. Rechts, links, auf, ab, pombom, tongdong,
bumbom, tönte es in ihren Ohren. Altvertraute Gefühle, die sie nicht spielen
musste, kamen gefährlich nah und wurden immer härter. Der Schmerz existierte, war überall, riss sie auseinander. Die Arme wurden schwer, der Takt
langsamer und in ihr breitete sich Leere aus.
„Kommen Sie näher, bitte“, sagte der Herr im grauen Anzug. „Ich habe Ihnen
etwas zu sagen.“
Sie stieg die schmale fünfstufige Treppe hinunter und hatte weiche Knie.
„Von wem war das erste Stück, das Sie vorgetragen haben?“, fragte der Professor interessiert.
„Von mir“, antwortete sie erschöpft.
„Das habe ich befürchtet“, meinte er ernst, legte seine Stirn in Falten und kratzte sein Kinn. „Sie müssen sich entscheiden junge Frau. Entweder schreiben oder
spielen? Beides geht nicht. Denken Sie darüber nach. Vielen Dank, Sie können
jetzt gehen.“
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Isabel war verwirrt und weinte als sie hinter die Bühne trat. Der hilfsbereite
junge Mann, der sie abholte, versuchte sie zu trösten. „Du warst gut. Vergiss die
Medea. Am Anfang hatte ich eine Gänsehaut. Deine Stimme ist toll, und wie du
die Stumme gespielt hast, alle Achtung. Du wirst bestimmt genommen“, machte
er ihr Mut.
„Das ist nicht mehr wichtig. Ich will Schriftstellerin werden.“ Gedanken fielen
ohne Unterlass, versteckten sich, ließen sich nicht einfangen und wichen aus.
„Ich muss genauer hinsehen und zuhören, um das aufschreiben zu können, was
in einer Geschichte erzählt werden will. Ich darf dem Leben nicht aus dem Weg
gehen, muss Grenzen erfahren und mit Sätzen ringen, brauche einen Wortschatz, der sich über das Offensichtliche hinauswagt, und der nicht vor dem
Abgrund zurückschreckt. Schreiben ist ein einsamer Prozess“, sagte sie und
verließ das Gebäude. Die Tür fiel mit einem lauten Knall hinter ihr ins Schloss.
Hermann stand am Straßenrand und winkte. Sie lief auf ihn zu und rief:
„Schreiben oder spielen, sagt der Professor.“
„Panis et circensis“, antwortete Hermann.
*
Hermann war nach seiner Rückkehr aus Freiburg wie ausgewechselt, warf sich
mit Feuereifer ins Studium, las Adorno und Marcuse, genoss den Unibetrieb
und lebte auf. Er verließ morgens pfeifend die Wohnung, kam abends zufrieden
zurück und setzte sich an seinen Schreibtisch, den er aus Freiburg mitgebracht
hatte. Ruhig und wissbegierig, studierte er.
Isabel schaute hinunter auf den staubigen, ungepflasterten Hinterhof. Die Gasherdflamme brannte bläulich und die Küche wurde langsam warm. Hermann
kam herein. „Ich habe in meinem ganzen Leben noch nicht so gefroren, wie in
dieser verdammten Stadt“, lachte er.
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„Mach bitte die Tür hinter dir zu.“
„Meine Hände sind steif.“
„Zieh Handschuhe an.“
„Ich besitze nur Fäustlinge.“ Er küsste sie. „Ich wollte dir einen Satz von Herbert Marcuse vorlesen.“
„Herbert Marcuse? Vor zwei Jahren war ich bei einem Vortrag von ihm an der
Albert-Ludwig-Universität in Freiburg“, meinte Isabel.
„Da war ich auch.“
„Ich habe nicht viel verstanden, doch ich war tief beeindruckt. Ich hatte das Gefühl, er erreicht mich und zeigt mir eine andere Ebene des Denkens. Was für
eine Persönlichkeit, ein Mann mit Charisma!“
„Ein Philosoph“, meinte Hermann.
Am nächsten Tag fuhr Isabel nach Dahlem und immatrikulierte sich an der
Freien Universität für Germanistik und Philosophie. Auf dem Rückweg kam sie
an einem Buchcafé vorbei und setzte sich an einen runden Bistrotisch. „Ab Oktober komme ich häufiger hierher“, dachte sie und schrieb in ihr Tagebuch:
Schreiben ist mein zu Hause, solange ich schreibe, schöpfe und atme ich. Nicht
zu schreiben ist eine Qual. Schreiben ist mehr als die Erfüllung eines Traumes,
es ist die Bestätigung meiner Existenz. Das Studium der Germanistik und Philosophie wird mich lehren, zu lernen wie man lernt, denkt und hinterfragt. Im
Zeitalter der Ratio, gehören Erotik und Geist zusammen, daher ist Schreiben
für mich Befreiung.
Die Hochspannung in der Großstadt, schien Dahlem zu umfließen, trotz all der
Studenten, die täglich kamen und gingen. Isabel zahlte den Kaffee und sah sich
den Buchladen genauer an. Vor dem Regal mit den philosophischen Werken
blieb sie stehen und zog einen grauen Band heraus. Adorno „Minima Moralia“,
stand darauf. Sie klappte das Buch auf und las: „Die Lehre vom richtigen Leben. Redet man unmittelbar vom Unmittelbaren, so verhält man kaum sich an-
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ders als jene Romanschreiber, die ihre Marionetten wie mit billigem Schmuck
mit den Imitationen der Leidenschaft von ehedem behängen, und Personen, die
nichts mehr sind als Bestandstücke der Maschinerie, handeln lassen, als ob sie
überhaupt noch als Subjekte handeln könnten, und als ob von ihrem Handeln
etwas abhinge. Der Blick aufs Leben ist übergegangen in die Ideologie, die
darüber betrügt, dass es keines mehr gibt“.
Isabel kaufte das Buch und machte sich auf den Rückweg. Die Sonne schien
durch das nackte Astwerk in einen kleinen Park, umgeben von Villen und
schmucken Häusern. Eine feine, bürgerliche Welt umgab das Zentrum der Studierenden, zu denen sie jetzt auch gehörte. Sie setzte sich auf eine Bank und
schloss die Augen. Die Sonnenstrahlen trafen ihr Gesicht und zielten durch sie
hindurch. Farben tanzten vor ihren Augen. Es war gut, sie spürte es. Lernen wie
man lernt, neue Gedanken aufnehmen, philosophieren, sich öffnen und Grenzen
überschreiten. Sie hatte Theologie studiert und sich daran gestört, nicht ohne
Gott denken zu dürfen. Die Philosophie hatte sich aus diesem Zwang gelöst.
Das wollte sie auch. Schuld und Scham bestimmten die Moral, Kirche und
Macht die Gesellschaft. Sie wählte die Freiheit, wollte Schranken überwinden,
fühlen und denken vereinen, sich nicht in der Dualität zwischen gut und böse
aufreiben lassen und sich aus der Entfremdung befreien. Sie war in Bewegung
und hatte die Zeit der Stagnation überwunden.
Hermann drehte sich herum, als Isabel zurückkam. Sie schaute in ein fremdes
Gesicht. Er hatte seinen Vollbart abrasiert. „Du siehst interessant aus“, meinte
Isabel und streichelte über seine glatten Wangen. Seine Lippen waren weich
und schön geschwungen, sein Hals war kräftig und stark.
„Ich bin froh, dass du nicht schreiend davonläufst“, antwortete er erleichtert.
„Es ist einfach passiert. Ich hatte keine Lust mehr auf das Versteckspiel und die
Maskerade.“
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„So gefällst du mir viel besser. Ich könnte mich auf der Stelle in dich verlieben.“
„Willst du mich necken? Komm her, Wildkatze, lass uns spielen. Dafür nehmen
wir uns zu wenig Zeit und dabei mache ich so gerne Liebe mit dir“, freute er
sich.
„In zehn Jahren bist du bestimmt ein wirklich guter Liebhaber“, lachte sie,
„doch bis dahin musst du noch viel lernen.“ Sie befreite sich aus seiner Umarmung. Der Kachelofen bullerte und auf dem Baum, vor dem Fenster, saß ein
kleiner braungrauer Spatz.
„Dein Gesicht eröffnet Perspektiven“, Hermann. „Ich kann in dich hineinsehen.
Du hast deine Persönlichkeit freigelegt.“
„Ich möchte mit dir verreisen, bevor ich mich noch weiter auf dich einlasse“,
spaßte er. „Ich will wissen, ob wir gemeinsam unterwegs sein können.“
„Wie wahr. Reisen ist etwas Besonderes und bedeutet mir sehr viel. Wir werden
gut miteinander unterwegs sein, ich freue mich jedenfalls darauf“, meinte Isabel
und küsste ihn auf den Mund, die Augenlider und den glattrasierten Hals.
„Und wohin fahren wir?“, fragte sie neugierig.
*
Die Luft flimmerte in der brütenden Nachmittagshitze. Hermann zog den
schwarzen Schlapphut tiefer ins Gesicht. Um seinen Mund lag ein entspanntes
Lächeln. Er sah glücklich aus, zufrieden mit sich und der Umgebung. Der Geruch Südfrankreichs weckte Erinnerungen, brach seinen Widerstand und hatte
etwas Sinnliches. Am Straßenrand tauchte ein zerbeultes Schild auf. „Collias“,
stand in schwarzen Buchstaben auf grauem Blech geschrieben, das schief an
zwei Holzpflöcken hing. Isabel schwieg. Sie waren seit neunzehn Stunden unterwegs. Berlin lag fast zweitausend Kilometer hinter ihnen, die Distanz tat
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spürbar gut. Die Woche vor der Abreise war voller Anspannung und Beengung
gewesen und die Abfahrt aus Berlin, kam ihr wie eine Flucht bei Nacht und Nebel vor. Sie stöhnte. Hermann sah zu ihr herüber. „Ist das nicht schön hier? Ich
hoffe, ich habe dir nicht zu viel versprochen. Sieh dir diese Farben an. Das gelb
ist so sanft, ich glaube, es liegt am steinigen Untergrund. Hast du schon einmal
ein blau wie dieses gesehen? Den Himmel haben sie bestimmt mit Wasserfarbe
angemalt.“
Am Straßenrand saßen Menschen unter einer überdachten Holzveranda vor einem Café. Gegenüber gab es einen Supermarkt und das Postamt. Hermann bog
links in die abfallende Straße ein. „Es hat sich nichts verändert. Gleich sind wir
da. Du wirst staunen.“ Der asphaltierte Weg endete abrupt. Die Wagenräder
rollten knirschend über den Kies. Äste schlugen gegen die Scheiben. Felsbrocken tauchten zwischen dem Gestrüpp auf, das wild über den schmalen Zufahrtsweg wucherte und einen Augenblick die Sicht versperrte.
„Das darf doch nicht wahr sein“, staunte Hermann. „Das glaube ich nicht.“
Am Ufer des Gardon parkte ein Wagen neben dem anderen. Hermann lenkte
den Renault vorsichtig über das Steinplateau, bis ans Ende des Platzes.
„Die reisen abends alle wieder ab“, hoffte er. „Da wo wir hinwollen, werden
nur wenige sein?“
Am Flussufer saßen die Menschen auf Handtüchern und Decken, umgeben von
Picknickkörben, Baguettestangen, Käse, Salami, Wein, Oliven und anderen Leckereien. Im Wasser planschten die Kinder.
„Lass uns zur Quelle gehen. Die Sachen können wir später nachholen.“ Hermann krempelte die Hosenbeine hoch und watete durch das Flussbett. „Ich verstehe das nicht. Im letzten Jahr war der Gardon an dieser Stelle doppelt so breit
und wesentlich tiefer?“ Am anderen Ufer kletterten sie einen Sandhügel hinauf
und liefen durch ein Wäldchen. Es war angenehm schattig. Hermann hielt die
Äste zurück, damit sie Isabel nicht ins Gesicht schlugen. Wurzelgeflecht, Ufer-
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sand und trockene Tannennadel bedeckten den Waldboden. Sonnenstrahlen
tanzten zwischen den Zweigen. Ein Windhauch raschelte in den Blättern.
„Wir haben es gleich geschafft“, erklärte Hermann, blieb vor ihr stehen und
reichte ihr die Hand. „Da ist er.“ Der Gardon lag vor ihnen, wälzte sich träge
durch die bizarre Landschaft und maß an seiner breitesten Stelle wohl zwanzig
Meter. Auf der anderen Uferseite ragte ein mächtiges Bergmassiv, aus hellem
Sandstein, in den azurblauen Himmel hinein. Vor ihnen erstreckten sich unterschiedlich hohe Felsen. Menschen lagen dicht gedrängt auf dem Gestein und
sonnten sich. Hermann schaute müde auf die nackten Körper.
„Vor einem Jahr war niemand hier.“ Seine Stimme klang traurig. Die Enttäuschung war ihm anzusehen. Sie kletterten über Steinterrassen am Ufer entlang.
Die Felsbrocken glühten unter ihren Füßen.
„Da wo die Bäume wachsen, entspringt die Quelle“, meinte er und hoffte immer
noch. Der Fluss ruhte bewegungslos in seinem Bett. Es herrschte Stillstand.
Eine unheimliche Atmosphäre lag in der Luft. Isabel konnte sich nicht vorstellen, ins Wasser einzutauchen, obwohl Schweißperlen ihren Körper bedeckten
und sie sich nichts sehnlicher wünschte, als nach der langen Reise ins feuchte,
kühle Nass zu springen. Sie wollte mit langen Zügen durch das Wasser gleiten,
doch der Gardon wirkte keineswegs einladend, im Gegenteil, er schien ein abweisendes, abgründiges, ein gefährliches Geheimnis zu verbergen.
Die Quelle war versteckt zwischen Felsgestein, unter hohen Kiefern, umgeben
von tiefgrünem Moos. Ein feiner Strahl bahnte sich seinen Weg, plätscherte den
Berg hinunter, über den gelblichen Sandstein hinweg, sammelte sich in einem
Becken, floss darüber hinweg, fiel in die Tiefe und vereinte sich mit dem Fluss.
Hermann und Isabel kletterten den Berghang hinauf. Überall waren Zelte aufgebaut, es herrschte ein chaotisches Durcheinander, doch es war niemand zu sehen. Die meisten wilden Camper saßen auf den Vorsprüngen unterhalb des Zeltlagers.
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„Der Geheimtipp hat sich herum gesprochen“, reagierte Hermann sarkastisch
und sah blass aus.
„Es tut mir leid. Man sollte besser nicht an einen Ort zurückkehren. Die Enttäuschung, wenn er nicht mehr den Erinnerungen entspricht, ist einfach zu groß.“
„Ich würde am liebsten gleich wieder abfahren. Es ist schwer auszuhalten“,
stöhnte Hermann. Eine Schulklasse von zwanzig Jungen und Mädchen erstürmte den Platz und stürzten sich auf einen großen Topf mit Chili con carne,
der vor dem Zeltlager stand. Ein Mann, wahrscheinlich der Klassenlehrer, versuchte die Gruppe zu beruhigen. „Es ist für jeden genug da!“, rief er ihnen zu.
An einem abschüssigen Hang, zwischen vertrockneten Büschen, gab es noch einen unverstellten Platz. „Warum bauen wir das Zelt nicht hier auf. Was meinst
du?“ Isabel prüfte mit der Schuhspitze den Boden. Eine dünne Erdschicht lag
über dem Felsen. „Wenn wir die Heringe schräg einführen, könnte es gehen. Sei
mir nicht böse, Hermann, aber ich bin zu müde, um weiterzufahren. Wir müssen ja nicht Wochen bleiben, wie geplant. Ich brauche nur einige Tage Ruhe.
Wenn du willst, reisen wir nach Spanien und kommen auf der Rückfahrt wieder
vorbei. Ende August werden sicher nicht mehr so viele Menschen hier sein“,
versuchte sie ihn zu trösten. Sie brauchten eine Stunde, um die notwendigen
Campinggegenstände aus dem Wagen zu holen. Später saßen sie vor dem Zelt,
tranken Wein, aßen Weißbrot, Käse und Oliven und versuchten sich am prachtvollen Sonnenuntergang zu erfreuen. Die Schülergruppe aus Berlin lief zur
Hochform auf. Bis in die frühen Morgenstunden dröhnte der Ghettoblauster
durch den Wald. Kurz vor Sonnenaufgang erwachte Isabel, zog einen blauen
Baumwollpullover über und verließ das Zelt. Hermann schlief tief und atmete
gleichmäßig. Kein Laut war zu hören. Sie kletterte den Felsen hinab bis zum
Ufer des Flusses, setzte sich auf einen flachen Stein und lauschte in die Stille.
Die Ruhe hatte einen eigenen Klang. Plätze des Schweigens sind besondere
Orte. Das trübe Wasser bewegte sich nicht. Sie empfand Traurigkeit, denn ein
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Fluss, der seine Fließkraft verloren hat, war verloren, dümpelte vor sich hin und
erstickte langsam. Was immer an diesem besonderen Ort geschah, es bedeutete
nichts Gutes. Sie konnte es fühlen, hörte durch die Stille hindurch, den Fluss
klagen. Es klang wie eine Warnung. Der Gardon lag im Sterben. Algen legten
sich Meter um Meter über den müden, ausgelaugten Strom. Es war nur noch
eine Frage der Zeit, bis jedes Leben überwuchert sein würde, erstickt von schlickigen sauerstofffressenden Algen. Der Tod glotzte zynisch aus dem Wasser.
Isabel fröstelte. Die Feuchtigkeit legte sich um ihre nackten Beine. Sie konnte
den Blick nicht abwenden, sah wie gebannt auf das schwarze Wasser, hypnotisiert vom Anblick des Sterbens, dass sich ihren Augen offenbarte. Sie hatte nie
zuvor einen Fluss sterben sehen. Er röchelte nicht wie ein erstickender Mensch.
Totenstill war der Schmerz. Er würde umkippen, bedeckt von einer schleimigen
Schicht, reglos sein. Der Tod trug eine giftgrüne Fratze. Hermann setzte sich
neben Isabel. Er sah ausgeschlafen aus. „Bist du schon lange wach, Posa? Wie
schön du bist.“
Die Sonne änderte ihre Form, war nicht mehr rund wie ein Ball und schien auseinander zu fließen, sich zu öffnen und auszubreiten. „Was möchtest du heute
tun?“
„Ich würde gerne in den Ort gehen, einen Milchkaffee trinken, einfach nur dasitzen, Menschen betrachten und später am Ufer des Flusses entlanglaufen und
einen langen Spaziergang machen.“
Die Straße führte aus der Ortschaft heraus. Hermann und Isabel schlenderten
den Seitenstreifen entlang. Auf dem Straßenschild zeigte ein Pfeil geradeaus.
„Orange“ stand darunter. Die Mittagshitze lag staubig über dem Städtchen. Die
Menschen suchten Schutz in den schattigen Häusern. Vom Hof der Reparaturwerkstatt, klang ein metallenes Scheppern herüber, danach war es wieder still.
Eine Katze saß auf einer Mauer, unter einem vertrockneten Baum und döste.
Der Asphalt schmolz in der prallen Sonne, warf kleine Bläschen und es roch
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nach flüssigem Teer. Hermann überquerte einen sandigen Platz und blieb vor
einem Holzgatter stehen. Isabel konnte nicht sehen, was sich dahinter verbarg.
Bäume und Sträucher versperrten die Sicht. Hermann stieß das Holztor auf und
führte Isabel in einen Innenhof mit Garten, groß wie ein Park. Unter mächtigen
Bäumen standen Holztische und Bänke und luden zum Essen und Trinken ein.
Hinter einer langen Theke stand ein Mann und zapfte Bier.
„Hallo Georg.“ Hermann reichte ihm die Hand. „Hattest du ein gutes Jahr?“,
fragte er, als hätten sie sich gerade erst gestern zum letzten Mal gesehen.
„Schau dir die ganzen abgerissenen Typen doch an, die nach Collias kommen.
Sie betteln, stehlen und pöbeln herum. Die zahlungskräftigen Gäste bleiben aus.
Der Fluss ist eine einzige Dreckpfütze und die Dorfbewohner haben die Nase
gestrichen voll.“
„Na wenn das so ist“, meinte Hermann trocken, „zwei Milchkaffee und zwei
Mineralwasser.“
„Kommt sofort.“
Eine Gruppe einheimischer Männer diskutierte am Tisch neben dem Eingang.
Ein altersschwacher Hund lag auf dem staubigen Platz, hechelte, sabberte und
ließ die Ohren hängen.
„Unterwegs sein und reisen“, dachte Isabel und sah sich um. „Ich mag diese besondere Mischung aus Fremde und Nähe“, sagte sie. „Einblicke gewinnen, Perspektiven verändern, das brauche ich.“ Sie lehnte sich an den dicken Baumstamm und schlürfte den Schaum vom Milchkaffee herunter.
Zwei Kilometer hinter Collias, führte ein römisches Viadukt, mit weit geschwungenen Bögen über das Tal. Hermann und Isabel kletterten in die Tiefe
hinab und gelangten zum ausgetrockneten Flussbett. Sie waren endlich alleine,
alleine in schroffer Landschaft, mit bizarren Strukturen, die in der glühenden
Mittagshitze glänzten. Isabel entkleidete sich nackt, holte eine reife duftende
Honigmelone aus dem Rucksack und schnitt sie in zwei Hälften. Grillen zirpten
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unter dem aquamarinblauen Himmel. Der Melonensaft tropfte auf ihren Bauch.
Hermann legte den Finger auf die Tropfen und zog eine Linie. Der Saft floss in
ihren Bauchnabel. Sie schloss die Augen und konnte seine Zungenspitze fühlen,
wie sie die Flüssigkeit aus der Vertiefung leckte. Ihre Hände glitten unter sein
T-Shirt. „Ich möchte mit dir Liebe machen, unter freiem Himmel, zwischen
Grillen und Sträuchern, auf hartem Stein“, liebkoste sie ihn und öffnete den
Reißverschluss seiner Jeans. „Küss mich leicht, denke nicht nach und vergiss
die anderen“, hauchte sie. „Dieser Augenblick gehört nur dir und mir. Ich will
ihn mit niemandem teilen. Höchstens mit den alten Römern, die vor Tausenden
von Jahren, dieses prachtvolle Bauwerk gestaltet haben, schön wie ein Kunstwerk“, staunte Isabel und kniete vor Hermann nieder. Sie zog ihm die Jeans bis
zu den Knien herunter und küsste seine glatte Männlichkeit. „Es gefällt ihm“,
flüsterte sie. „Wir sollten uns viel häufiger in der Natur lieben. Das ist aufregend und abenteuerlich.“
Sie setzte sich über ihn, umkreiste mit den Schamlippen die Eichel und ließ ihn
vor dem Eingang warten, still, zögernd, verheißungsvoll. Hermann atmete
schneller. Sie küsste sein Ohr. Zwischen ihren Schenkeln spritzten kleine Tropfen. Seine Hände hoben und senkten ihre Pobacken. „Sieh mich an Isabel“,
stöhnte Hermann vor Lust. „Ich will deine Augen sehen. Kannst du mich fühlen?“
„Ja. Tief in mir. Ich bin das Flussbett und du bist das Wasser. Wir gehören zusammen. Das Tal ist unser Zeuge, der Himmel unser Beschützer und die Grillen
zirpen unser Lied.“
Die Sonne bedeckte ihre nackten Körper und umschloss sie wärmend. Sie genossen die Stille und auf ihren geröteten Gesichtern glitzerten Schweißperlen.
Sie bissen in Melonenstücke und tranken stilles Wasser. Sie liebten sich unter
freiem Himmel und trieben das Spiel wieder und noch einmal. Als es dunkel
wurde, machten sie sich auf den Rückweg in die Zivilisation. Hermann zeigte
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ihr den Ortskern von Collias. Schmale Gassen führten an alten Gemäuern und
bröckelndem Putz vorbei. Aus den Häusern drangen Geräusche und Stimmen.
Das Licht in den engen Ladenräumen wurde angeschaltet und die letzte Runde,
frischer heißer Baguettebrote, landete auf den Regalen. Sie kauften eines und
schlenderten weiter zum Supermarkt, bezahlten Käse und Wein und machten
sich auf den Weg, zurück zur Quelle.
Isabel saß auf dem großen, flachen Steinplateau und schrieb Tagebuch. Hermann sammelte Äste und trockenes Blattwerk für das Lagerfeuer. Genussvoll
stapelte er das Holz neben der Feuerstelle, bedeckte den Boden mit Laub und
Holzstecken und stellte die Zweige so auf, dass sie wie ein spitzes Zelt aussahen. Die Flammen fraßen sich an den Ästen empor, es knisterte und Funken
sprühten. Isabel legte das Tagebuch zur Seite und beobachtete Hermann. Er
wirkte im Schein des Feuers wie ein kleiner Junge, der etwas wirklich Wichtiges vollbracht hatte. Seine Augen wollten sich nicht satt sehen am Spiel der
Flammen, die sich gefräßig auf die Rinde stürzten, die unter der Hitze platzte
und ein letztes Mal aufloderte, bevor sie glühend verbrannte. Sie saßen wie Indianer um das Lagerfeuer herum, reichten einander den Wein, aßen Brot, Käse
und Früchte und belauschten die friedliche Stille. Das Licht des Vollmonds
schien auf die gegenüberliegenden Berge. Die Höhleneingänge wirkten wie
glotzende, schwarze Augen und blickten unheimlich über das Tal. Mücken
schwirrten am Flussufer. Schwere Stiefelschritte kamen näher, auf dem Waldboden klangen sie dumpf und beängstigend. Taschenlampen warfen kreisrundes
Licht. Stimmen wurden lauter und eine Gruppe Uniformierter baute sich vor ihnen auf. Hermann verstand soviel, dass sie ihnen bis zum nächsten Morgen Zeit
ließen, danach wollten sie hier niemanden mehr sehen. Mehr sagten sie nicht
und stampften wieder davon. Vertreibung aus dem Paradies.
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*
Das Sicherheitsschloss klackte, die Holztür sprang auf, im Flur war es dunkel.
Isabel holte einen Zettel mit Instruktionen aus der Beuteltasche. „Der Sicherungskasten muss gleich neben dem Eingang sein“, behauptete sie.
„Ich sehe überhaupt nichts.“
Isabel nahm das Feuerzeug. Die kleine Flamme warf Schatten an die Wand.
„Da“, meinte sie erfreut. Hermann öffnete die Klappe und legte die Schalter
um. Die Deckenlampe im Flur zitterte kurz auf bevor sie weißliches Licht verströmte. Hinter der Eingangstür befand sich ein breiter Wandschrank. Kissen,
Laken, Bettwäsche, Handtücher und Badetücher lagen ordentlich, nach Größe
sortiert, auf den Einlegeböden. Sommershorts, Hemden und Kleider hingen auf
Bügeln. Hermann öffnete die erste Tür. Der Raum war verdunkelt. Isabel zog
den Rollladen hoch und öffnete zwei kleine Fenster. Ihr Blick fiel auf das
Nachbarhaus. Ein Hochhaus reihte sich an das nächste, dazwischen gab es kleine Grünflächen und gepflasterte Wege. Auf dem Dach eines der Ungetüme
stand ein großes Schild mit dem Namen des Architekten Hoffmann.
„Natürlich ein Deutscher“, schimpfte Isabel. Dieser Vollidiot ist auch noch
stolz auf seine Taten. Die Costa del Sol wurde von deutschen Architekten verschandelt. Schlimmer kann es nicht sein. Wie konnten die Spanier das zulassen? Hochhäuser in der Großstadt, damit kann ich leben! Das macht Sinn, außerdem gibt es wirklich interessante Gebäude, aber das hier, das ist eine einzige
schreiende Ungerechtigkeit! Die ganze Küste wurde zerstört durch diese einfältigen Bauten, die aussehen wie aufgestellte Schuhkartons.“
„Die Wohnung scheint ganz angenehm zu sein“, warf Hermann ein.
Sie öffneten die nächste Tür und zogen die Gardinen zur Seite. Der zweite
Schlafraum war etwas größer, unterschied sich jedoch nur minimal von dem anderen. Links neben der Tür gab es einen Wandschrank, daneben das französi-
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sche Doppelbett aus dunklem Holz, mit passenden Nachtkonsölchen dazu, und
vor dem Bett stand ein breiter Hocker mit blauem Samt bezogen, ganz unverkennbar die Handschrift ihrer Mutter.
„Von hier aus kannst du das Meer noch besser sehen“, freute sich Hermann.
„Lass uns dieses Zimmer nehmen“, sagte er und lief weiter. „Sieh mal, das Bad.
Es ist alles drin. Badewanne, Waschbecken, Toilette und ein Bidet.“
Isabel folgte ihm. „Wir lassen am besten die Türen auf. Die Wohnung steht seit
einem halben Jahr leer. Im Wohnzimmer roch es nach Holz. Schwere goldgelbe
Samtgardinen hingen vor der Fensterfront. Hermann zog an einer dicken Kordel. Durch die salzbespritzten Fenster sahen sie auf das Meer, keine fünfzig
Meter entfernt. Die Glastüren reichten bis auf den Boden, der langgezogene
Balkon führte um die Ecke. Wellen krachten auf den schmalen Kieselstrand.
„So weit das Auge reicht, Meer, Meer und nochmals Meer“, meinte Hermann
sichtlich beeindruckt. „Auf der anderen Seite ist Afrika.“ Hermann legte den
Arm um Isabel. „Südlicher geht es nicht. Der Blick ist gigantisch. Wann hat
dein Vater die Wohnung gekauft?“
„Im Februar letzten Jahres. Irgendein Bekannter, wahrscheinlich ein Geschäftspartner, hat ihn hergelockt. Mama ist mit ihm gefahren und als sie zurückkamen, waren sie Besitzer dieser Dreizimmerwohnung. Ich glaube, sie haben
Heizkörper einbauen und eine Wand rausreißen lassen.“ Isabel stellte zwei Rattansessel mit blauem Sitzkissen und dem dazu passenden runden Tisch auf den
Balkon. Hermann ließ sich in einen Korbstuhl fallen und streckte die Beine aus.
„Wenn man sich die Hochhäuser wegdenkt, ist es schön.“
Isabel lief um den Esstisch mit vier Stühlen herum, die Sitzflächen waren mit
hellbraunem Leder bezogen und die hohen Rückenlehnen verschnörkelt. An der
Wand neben dem Fenster stand ein dreitüriges Sideboard und gegenüber vom
Esstisch ein kleiner Sekretär. Die Sitzgarnitur, rechts neben der Wohnzimmertür, war überzogen mit hellem Stoff, vor dem Sofa standen ein schwerer Mar-
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mortisch und drei Sessel. Ihre Mutter hatte die Möbel passend zu den Holztüren
gekauft. In der Küche aus mattweißen, spanischen Fliesen, befand sich direkt
unter dem Fenster, mit Blick auf das Mittelmeer, die Spüle. Isabel öffnete das
Doppelfenster. Neben dem Spülbecken standen der Gasherd, der Kühlschrank
und ein Servierwagen. Eine weitere Tür führte in die Abstellkammer. Schrubber, Besen, Eimer, eine volle Gaskartusche, Schwimmflügel, Sonnenschirm und
Luftmatratze, lehnten ordentlich an der Wand. Die Küche war schmal geschnitten. Nachdem Isabel alles inspiziert hatte, setzte sie sich zu Hermann auf
den Balkon.
„Bist du zufrieden?“, fragte er. „Ich bin froh, dass wir angekommen sind. Die
Vertreibung aus Collias und die letzten dreizehn Stunden Autofahrt, haben mich
geschafft. Ich bin noch nie über solche Straßen gefahren, was heißt hier Straßen,
Schotterpisten, bis ans Ende Europas. Andalusien, das Armenhaus Spaniens.
Vierzig Jahre Francodiktatur sind eine lange Zeit.“
„Wie schade, dass sich die Menschen einfallslosen und geldgierigen deutschen
Architekten anvertraut haben, ohne Gefühl für die Natur, die Umgebung und die
Menschen. Wenn du nach links schaust, siehst du die Hochhauswüste und
gleich rechts neben diesem Haus beginnt der spanische Teil. Eine unsichtbare
Mauer trennt das Dorf von der Steinwüste.“
„Der Unterschied könnte nicht krasser sein. Wir werden das Beste aus der Situation machen“, war sich Hermann ganz sicher. „Was hältst du davon, wenn wir
die Sachen aus dem Wagen holen?“
„Einverstanden! Doch danach brauche ich dringend eine Dusche. Ich trage den
Staub Frankreichs und Spaniens auf meiner Haut und fühle mich von einer dicken Kruste umgeben, die das Ausmaß eines Panzers angenommen hat“, lachte
Isabel wieder. Sie fuhren mit dem Aufzug vom vierten Stock ins Erdgeschoss.
Der Eingangsbereich des Hauses Buena Vista, war mit spanischen Kacheln gefliest. An der Wand neben dem Fahrstuhl hing ein schwarzes Brett. Es gab ei-
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nen Präsidenten, der seine Telefonnummer angegeben hatte und bei Fragen um
Anruf bat. Seine Visitenkarte stand im Mittelpunkt weiterer kleinerer Nachrichten. Isabel sah im Briefkasten nach ob Post gekommen war, holte einen Stapel Briefe aus dem Blechkasten heraus und sah ihn durch. Hermann schob einen
Holzklotz zwischen die schwere Glaseingangstür. Der Renault stand direkt vor
dem Haus. Sie ließen das Zelt und die Campingsachen im Wagen, Luftmatratzen und Schlafsäcke brauchten sie nicht mehr. Zwei alte Koffer, einen Rucksack vollgestopft mit Büchern und drei kleinere und größere Taschen, holten sie
aus dem Kofferraum, klappten die Rückbank hoch, verstauten die Campingsachen und hingen die Ablage ein, bevor sie das Auto verschlossen. Die Hitze
stand über dem staubigen Platz. Zwei Männer liefen in Richtung Straße. Ihre
Schritte wirbelten Staubwolken auf. Hermann stellte die Koffer und Taschen
vor dem Aufzug ab. Ein Ehepaar mit Tochter kam die Treppe herunter. Sie trugen Schwimmsachen, Plastikschuhe und hatten Handtücher über die Schultern
geworfen. „Buenas dias“, sagte Isabel.
„Hallo“, sagte das Mädchen. Die Eltern schauten Hermann und Isabel von oben
bis unten an. „Guten Tag“, antworteten sie unfreundlich.
„Darauf habe ich gerade noch gewartet. Auf solche Blicke kann ich verzichten“,
zischte Isabel gereizt. Der Fahrstuhl ruckelte hinauf in den vierten Stock. Aus
der Wohnung nebenan, roch es nach Tomatensoße mit Basilikum. Die Tür wurde aufgerissen, zwei kleine, braungebrannte Jungen stürzten zur Tür heraus.
Eine rundliche Frau packte die beiden am Kragen und hielt sie zurück.
„Buenas dias“, sagte Hermann. Die beiden Jungs sahen ihn mit großen Augen
an.
„Hola!“, lachte die Spanierin und zog die Ausreißer zurück in die Wohnung.
Die Tür fiel ins Schloss. Isabel packte die Koffer aus. Hermann stellte die Bücher auf den Sekretär und legte Schreibutensilien, Landkarten, Wörterbücher
und Malstifte auf das Sideboard. Als er fertig war, ließ er sich nackt in den Rat-
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tansessel fallen: „Pause!“, rief er und stöhnte erleichtert auf: „Das Meer riecht
so gut.“
„Ich kenne nichts, was mich mehr berührt. Ich könnte weinen, wenn ich diesen
Geruch in der Nase habe. Wie schade, dass die Gegend so verbaut ist. Das war
bestimmt ein verschlafenes Nest, dieses Algarrobo Costa.“
„Das heißt übersetzt, Johannisbrotbaum Küste.“
„Johannisbrotbaum, das klingt für mich nach Afrika, Savanne und wilden Tieren.“
„Von Malaga aus, kann man mit dem Schiff übersetzen. Einige Stunden Überfahrt und wir wären in Marokko.“
„Eines Tages möchte ich nach Marrakesch. Ich habe Bilder gesehen. Das muss
eine bunte Stadt sein, es duftet nach Gewürzen und auf den Straßen und Plätzen
herrscht lebendiges Treiben.“
„Ich würde dir im Bazar eine Fußkette kaufen.“
„Mir fällt gerade ein, dass du in einer Woche Geburtstag hast. Was wünschst du
dir?“
„Ich weiß nicht. Geburtstag bedeutet mir nichts.“
„Das wird sich ändern. Für mich ist Geburtstag ein wichtiger Tag. Wir werden
deinen Geburtstag feiern, mit allem was dazu gehört. Danach wirst du nicht
mehr sagen, dass dir dein Geburtstag egal ist. Vertrau mir.“
„Du bist schon braun geworden. Die Sonne ist unbarmherzig.“
„Du musst dir eine Kopfbedeckung kaufen und deine Uhr ablegen. Wir könnten
uns den Ort ansehen und einkaufen. Wir brauchen Trinkwasser.“
„Können wir nicht das Wasser aus der Leitung nehmen?“
„Nein. Wir müssen das Trinkwasser kaufen.“
Heißer Wind aus Afrika trieb das Meer an Land, Schaumkronen bedeckten die
Oberfläche und die Luft prickelte auf der Haut. Isabel spielte mit den Wellen,
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rannte vor, wenn sich das Wasser zurückzog und eilte davon, wenn die Wellen
am steinigen Strand brachen. Sie spielte bis sie außer Atem war. Hermann beobachtete Isabel aus der Entfernung. Er hatte sie selten so ausgelassen erlebt. Sie
kam auf ihn zugerannt, warf sich in seine Arme und küsste ihn mit salzigen
Lippen. Einen Augenblick später hüpfte und sprang sie bereits wieder über die
Wellen hinweg, breitete ihre Arme aus und spielte Segelflugzeug, drehte Kurven, machte weite Bögen und lachte und lachte. Hermann sah gepflasterte Plätze, Liegestühle die ordentlich nebeneinander aufgestellt waren und Touristen,
die sich sonnten und deutsch miteinander sprachen. Die Männer und Frauen
glotzten Isabel an, starrten in ihre Richtung, zeigten sogar mit dem Finger auf
sie und schüttelten unmutig ihre Köpfe. „Ist die verrückt?“, meinte eine verbrannte Mittvierzigerin, im Ruhrpottslang. Ihr Mann schwieg und ließ sich nicht
davon abbringen, Isabel anzusehen. Sie trug eine kurz abgeschnittene Jeans, die
Hautfalte ihres Pos lugte unter dem Stoff hervor. Ihr schulterlanges, braunes
Haar schimmerte rötlich im Sonnenlicht. Die apfelrunden Brüste wippten unter
dem knappen, ärmellosen Hemd. Wie eine kleine Wilde rannte sie den Strand
auf und ab und sang laut dazu. Hermann blieb stehen. „Ich liebe dich, bunter
Schmetterling“, dachte er.
Isabel kam zu ihm gelaufen. „Ich liebe dich, Hermann!“, rief sie ihm zu. „Schau
nicht so ernst. Schämst du dich? So bin ich nun mal. Ich kann nichts dafür. Das
Meer ist meine heimliche Mutter. Wir haben eine ganz besondere Beziehung
zueinander. Irgendwann erzähle ich dir, wie verbunden wir uns sind. Du wirst
es begreifen.“
„Das tue ich bereits.“
„Okay, dann sehen wir uns die Umgebung an. Sie legte ihre Hand in seine. Gemeinsam schlenderten sie den Steinweg zwischen den Liegestühlen entlang, an
Evas Bierstube vorbei. Nebenan bot Heiner extra deutsche Küche an, der englische Pub passte ins Bild und zu guter letzt gab es noch ein Geschäft mit Bikinis,
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Mützen und Touristennepp, gefolgt von einer Cocktailbar. Vor den Restaurants
saßen Bier trinkende Männer in Shorts und nackten Oberkörpern, die ihre Bäuche wie Kugeln vor sich hertrugen und dumme Sprüche machten. Isabel blickte
an den Männern vorbei, bog ab und gelangte auf einen gepflasterten Innenhof,
in dessen Mitte ein Springbrunnen stand. Auf Balkonen waren Wäscheleinen
gespannt, Handtücher, Hemden, BHs, Höschen und Socken trockneten an der
Luft. Aus einem offenen Fenster klang Flamencomusik. „Komm, wir ruhen uns
aus. Hier ist es so angenehm schattig“, bat Isabel und setzten sich auf die Stufen
des gekachelten Brunnens. „Vor einigen Minuten habe ich mich noch über die
bundesrepublikanische Kulturlosigkeit geärgert, doch eine Straßenecke weiter,
ist das alles vergessen. Wir sind in Andalusien, dem Land in dem der Flamenco
zu Hause ist und nicht die Deutschen. Wie beruhigend“, freute sich Isabel.
Gitarrenklänge und das spezielle, dramatisch erotische Klatschen der Flamencotänzer, hallten durch den Innenhof. Die Melodie war Tanz und das Lied erzählte
vom Leben, der Liebe und dem Tod. Isabel lehnte den Kopf an die kühlenden
Kacheln und schloss die Augen. Sie fühlte sich fern zwischen den arabischen
Klängen, den harten Saiten der Gitarre und dem luftpressenden Klatschen der
Tänzer. Sie wollte den Augenblick nicht einfangen, ließ ihn davonziehen und
gab ihm die Freiheit zurück.
„Ich habe Hunger“, sagte Hermann.
„Ich auch.“ Sie standen auf und überquerten den Platz. Zwischen den Hochhauseingängen gab es eine Bank, eine Drogerie und den Supermercado. Sie
kauften zwei Kanister mit jeweils zehn Liter Wasser, Reis, Butter und Marmelade ein und brachten die Sachen in die Wohnung zurück. Danach machten sie
sich auf den Weg in den andalusischen Teil des Ortes. Kleine einstöckige Häuser, mit bunten Plastikvorhängen vor den niedrigen Eingangstüren, standen
dicht gedrängt und ärmlich nebeneinander. Zu Algarrobo Costa gehörten ursprünglich nicht mehr als fünfzehn Häuser auf beiden Seiten der Straße und der
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Ort maß, vom einen bis zum anderen Ende, höchstens fünfzig Meter. Ein kleines Lebensmittelgeschäft lag an der Ecke des staubigen Platzes, der die unausgesprochene Grenze zwischen Touristen und Einheimischen darstellte.
Isabel und Hermann kauften Früchte, Gemüse, Salat, Eier, Milch, Joghurt und
große spanische Brötchen in der tienda ein. Das spanische Ehepaar, die Besitzer
des Lebensmittelgeschäftes, behandelten sie höflich. Hermann bemühte seine
geringen Spanischkenntnisse und fragte den Besitzer nach limónes e queso de
cabra?
„Sie können deutsch sprechen“, antwortete der Mann. Er hatte ein markantes
Gesicht, sah müde aus und waagerechte Falten, zogen lange Linien auf seiner
Stirn. „Darf ich fragen, woher sie kommen?“
„Nosotros venir de Berlin“, antwortete Hermann dem Herrn hinter der Theke.
Der schien ihn verstanden zu haben. „Aus West- oder Ostberlin?“, fragte er.
„Aus Westberlin.“
„Darf ich Ihnen noch etwas anbieten?“
„No, gracias.“
Sie liefen zur Kasse, hinter der die Senora saß und legten die Lebensmittel auf
den Tisch. Die Frau tippte die Preise ein und reichte die Sachen an ihren Mann
weiter. Der packte die Teile in die Tüte. Die Signora schrieb die Zahl 10875 auf
einen Zettel. Die Kassenlade sprang mit heftigem Getöse auf. Hermann zahlte.
Sie verabschiedeten sich und liefen über den Platz zurück zur Wohnung.
„Ich freue mich auf den Abend. Wir werden auf dem Balkon essen und romantisch sein.“
„Wir sollten immer wieder zusammen kochen. Es macht Spass, Isabel.“
„Die Luft betört mich, macht mich weich und ich kann nichts dagegen tun“,
freute sich Isabel, sprang auf und lief ins Badezimmer. Hermann schenkte Wein
nach und legte die Beine auf die Balkonbrüstung. Er sah auf die Plattform, un-
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ten am Strand, direkt am Wasser. Menschen saßen auf langen Holzbänken,
lachten und Murmeln drang empor. Windlichter standen auf den Tischen. Eine
junge Frau, hinter der Theke, schenkte Wein in Karaffen ein und zwei Männer,
eilten zwischen den Tischen hin und her, servierten Salat, Platten mit patata
fritas und Teller mit Sardinen am Spieß, die der Padrone am Strand grillte.
„Hermann, könntest du mir den Rücken eincremen?“ Isabel ging in die Hocke.
„Ich darf mir also etwas zum Geburtstag wünschen“, meinte er. „Gut. Dann
würde ich gerne da unten essen“, zeigte er auf das Restaurant am Strand
„Das sieht nett aus. Oh, bitte, auch die Schultern, die Haut spannt.“
„Du bist schon braun geworden.“ Die Körpermilch schmatzte zwischen seinen
Händen. „Deine Haut ist sanft wie ein Pfirsich“, freute er sich.
Sie küsste ihn und lief ins Schlafzimmer, nahm den burgunderroten Seidenpatchworkrock vom Bügel und zog den Gummizug bis über die Brüste. Aus
dem Rock wurde ein knielanges Kleid. Sie band einen breiten Gürtel um die
Taille, stellte sich vor den Spiegel im Flur und befand, dass die Kreation interessant aussah. Sie holte den roten Lippenstift aus der Tasche und malte sich die
Lippen an. Ihr Gesicht, der Hals und die freien Schultern glänzten bronzefarben.
Sie warf das lange, feuchte Haar mit Schwung in den Nacken.
„Ich bin fertig, Hermann! Nimmst du mich so mit?“, ulkte sie.
„Das fragst du noch?“
Der Sand unter ihren Füßen knirschte. Sie trugen die Schuhe in den Händen.
Isabel sang vor sich hin: „Wenn du denkst, das Leben ist schon zu Ende, dann
fängt es erst richtig an. Und wenn du denkst, das Leben hat viele Wände, dann
stößt du dich schon daran.“ Sie summte leise weiter.
„Bist du traurig?“
„Nein, melancholisch, das Meer trösten mich. Die Weite und der Horizont wirken auf mich wie eine Projektionsfläche, wie ein Bild an der Wand. Du erinnerst dich.“
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„Siehst du die kleinen Lichter auf dem Wasser? Es könnten Fischerboote sein.“
„Sie haben ihre Netze ausgeworfen und warten.“
„Es ist ihre Arbeit.“
„Zu warten?“
„Nein, auf dem Meer zu sein.“
„Ich habe Respekt vor dem Meer.“
„Erzähle.“
„Wie meinst du das? Ach so. Ich wäre beinahe ertrunken. Magst du die Geschichte hören?“
„Sicher.“
„Meine Mutter, Bernhard und ich waren im Urlaub an der Nordsee. Ein paar
Jungs hatten ein Schlauchboot dabei und sprangen vom Rand ins Wasser. Meine Mutter saß im Strandkorb. Mein großer Bruder redete auf mich ein und
nannte mich einen „Schisshasen“, weil ich nicht mit auf das Schlauboot wollte,
und so folgte ich, weil ich natürlich kein Angsthase sein wollte. Die Jungs paddelten mit den Händen, lachten und schaukelten hin und her. Das Boot trieb in
Richtung Dune.“
„Was ist eine Dune?“
„Ein Steinwall der ins Meer führt, um die Wellen zu brechen.“
„Ach so. Und was passierte dann?“
„Sie sprangen mit den Köpfen oder dem Hintern voran ins Wasser. Das Boot
wackelte heftig und ich hielt mich krampfhaft am Gummi fest, alles war glitschig. Ich rutschte über den Rand ins Wasser. Ich sackte in die Tiefe, fand keinen Grund unter meinen Füßen, schluckte Wasser, strampelte und die Wellen
schlugen über meinem Kopf zusammen. Ich riss meine Arme nach oben, zappelte und versuchte mich gegen die Tiefe zu wehren, aber sie wollte mich nicht
ausspucken. Ich verlor die Orientierung. Hände rissen mich in die Höhe. Bernhard hielt mich fest. „Ich habe gedacht du machst Spass. Alles klar, Schwester-
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chen?“, fragte er und trug mich zum Strand. Ich blieb da sitzen, wo er mich hinsetzte und rührte mich nicht vom Fleck. Ich weiß nicht, wie lange ich regungslos dasaß, schockiert von der Ahnung des Ertrinkens? Irgendwann kam Bernhard wieder zu mir und meinte: „Isabel, wenn du nicht wieder ins Wasser gehst,
wirst du für immer Angst davor haben. Komm mit, ich bringe dir das Schwimmen bei, dann kannst du nicht mehr untergehen.“ Ich erinnere mich, ich habe
ihn mit großen Augen angesehen und gewusst, dass das die Lösung ist. Ich
brauchte nur schwimmen zu lernen. Den ganzen Nachmittag hat Bernhard mit
mir Brustschwimmen geübt, solange, bis ich es ohne Hilfestellung konnte.“
„Du hast einen klugen Bruder.“
„Er hatte ein schlechtes Gewissen.“
„Warum so negativ? Ich finde, er hat genau das Richtige getan. Ich würde ihn
gerne kennenlernen. Du sprichst selten von ihm. Warum eigentlich?“
„Da gibt es nicht viel zu berichten. Wir haben seit Jahren kaum noch Kontakt.
Ich weiß nichts von ihm, weiß nicht was er denkt und fühlt und wer seine
Freunde sind. Wenn ich etwas von ihm erfahre, dann von meinen Eltern. Meine
Mutter erzählt immer das gleiche. Sie ist froh, dass er endlich eine anständige
Freundin hat, die aus gutem Haus kommt, nicht wie die Gabi, „das Flittchen,
die nur hinter seinem Geld her war“. Ich mochte Gabi. Sie kam aus einer Arbeiterfamilie, hatte sieben Geschwister und war nicht auf den Mund gefallen.
Das änderte nichts an der Tatsache, dass sie es wirklich schwer hatte. Meine
Eltern haben sie nie akzeptiert und ihr das deutlich gezeigt. Wenn mein Vater
von Bernhard redet, dann meistens abfällig. Er traut ihm nichts zu und meint,
sein Sohn habe keinen Biss, sei unfähig mit Leuten umzugehen und zeige kein
Interesse. Er sei zu schwach und eben kein richtiger Mann.“
„Das kommt mir bekannt vor. Unsere Väter wissen genau, wie ein richtiger
Mann zu sein hat. Sei froh, dass dein Bruder, dem Bild deines Vaters nicht entsprechen will. Das spricht für ihn und nicht gegen ihn.“
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„Da bin ich mir nicht sicher. Bernhard würde den Ansprüchen meines Vaters
nur zu gerne genügen. Er versucht zumindest alles, um ihn gegen mich einzustellen.“
„Das bildest du dir nur ein. Warum sollte er das tun? Er hat nichts davon. Oder
glaubst du wirklich, dass er hinter dem Geld her ist?“
„Ich habe das Gefühl, dass Bernhard gegen mich intrigiert, mich schlecht macht
und die Stimmung ausnutzt.“
„Das unterstellst du ihm. Du weißt nicht, was er denkt und fühlt? Vielleicht ist
dein Vater einfach zu feige und schiebt Bernhard vor. Ihr habt euch gegeneinander ausspielen lassen, anstatt zusammenzuhalten.“
„Jetzt soll ich schon wieder Schuld sein.“ Isabel sah Hermann empört an.
„Mach dir nichts vor. Es hat nichts mit Schuld zu tun. Es geht um Macht. Ich
kenne deinen Vater nicht persönlich, aber das, was du mir von ihm erzählt hast,
zeigt, dass er weiß, was er tut. Die Frage lautet: Wie stark ist sein Einfluss heute
auf dich und deinen Bruder?“
„Wie es mit Bernhard ist, weiß ich nicht. Auf mich hat er jedenfalls keinen Einfluss mehr.“
„Bist du sicher? Ich will dich nicht angreifen, aber ich kann nicht wegsehen, nur
um dich nicht zu beunruhigen. Es kommt mir so vor, als würdest du deine Wut
auf deinen Bruder richten, anstatt auf deinen Vater. Das was er dir angetan hat,
kannst du nicht einfach abschütteln.“
„Ich weiß. Du meinst, weil ich nicht wage meinen Vater zu hassen, verachte ich
meinen Bruder?“
„Das hast du gesagt. Ich glaube nicht, dass du fähig bist zu hassen und zu verachten. Aber deine Wut und deinen Zorn solltest du auf deinen Vater lenken
und nicht auf deinen Bruder.“
„Ich werde darüber nachdenken.“
„Mach das, Posa. Lass uns etwas Trinken gehen.“
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Sie liefen an den Reihen deutscher Bars vorbei und kehrten im El Paradiso ein.
Im vorderen Teil des Restaurants, befanden sich eine lange Theke, einige Barhocker und jede Menge Spielautomaten. Im Raum nebenan, lagen weiße Papiertücher auf den gedeckten Tischen. Die Hälfte der Plätze war besetzt. Der
Gastraum wirkte wie eine Bahnhofshalle. Isabel bestellte einen spanischen Rotwein, Hermann einen cuba libre. Sie lehnten an der Bar und prosteten sich zu.
„Auf uns.“
„Auf unseren ersten gemeinsamen Urlaub. Mögen ihm noch viele weitere folgen. Es ist spannend mit dir unterwegs zu sein.“
Isabel sah durch die aufgeschobene Glasfront, vier Uniformierte hereinkommen. Sie steuerten direkt auf sie zu.
„Die sind von der guardia civil“, hörte sie Hermann flüstern. Zwei Polizisten
blieben vor ihnen stehen, die beiden anderen stellten sich hinter sie und sicherten den Seitenausgang. Die Männer waren bewaffnet und sahen bedrohlich aus.
Sie schienen nervös zu sein. Einer von ihnen sprach, redete schnell und hektisch. Isabel verstand immer nur „legitimacion“.
„Die wollen unsere Ausweise sehen. Ich habe meinen nicht dabei, der liegt im
Apartment“, meinte Isabel.
„No pasaporte“, sagte sie.
Der Uniformträger schaute ärgerlich und befahl. Der Barkeeper übersetzte.
„Sie“, zeigte er mit dem Finger auf Hermann, „holen die Pässe. Ihre Freundin
bleibt hier.“
Hermann zögerte.
„Rapido“, brüllte der Uniformierte.
Die Gäste im Restaurant wurden aufmerksam und blickten zu ihnen herüber.
„Ich komme gleich wieder. Bleib ganz ruhig, Isabel. Sei vorsichtig, nervöse
Bullen sind gefährlich.“ Hermann rannte aus dem Restaurant. Das Apartment
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lag im Hochhaus direkt nebenan. Er wartete nicht auf den Fahrstuhl, nahm zwei
Treppenstufen auf einmal.
Isabel durfte jetzt nichts falsch machen und sich nicht von der Spannung in der
Kneipe anstecken lassen. Der Typ von der Guardia civil zeigte auf ihre große
Umhängetasche. Sein Befehlston klang schroff. Der Barkeeper stotterte nervös:
„Sie sollen die Tasche öffnen und den Inhalt auf die Theke legen.“ Isabel nahm
die Tasche und kippte den Inhalt auf den Tresen. Die Bewaffneten zuckten zusammen und der Barkeeper duckte sich hinterm Tresen, doch nichts geschah,
keine Bombe explodierte und der Chef der Truppe kam näher, um die Gegenstände zu untersuchen. Er nahm das Tränengas in die Hand, drehte es herum,
versuchte zu lesen und hielt es sich schlussendlich unter die Achseln. Isabel
schüttelte mit dem Kopf, nahm ihm die Sprühdose aus der Hand und hielt das
Tränengas in Höhe seiner Augen. Der Polizist sprang einen Schritt zurück.
Sie stellte das Tränengas zurück auf die Theke. Sie durften nicht merken, dass
sie zornig war und innerlich bebte.
„Hier!“, rief Hermann und legte die Pässe auf den Tisch. Der Chef der Truppe
verglich die Bilder sorgfältig, bevor er die Personalausweise zuklappte.
„Donde vivir?“, wollte er wissen.
„En el habitacion numero quatro“, antwortete Hermann und zeigte auf das Haus
gegenüber.
„Exacto?“
„En el apartamento de mi padre“, antwortete Isabel und packte das Tagebuch,
den Füller, Lippenstift, die Cremedose, das Tränengas und das Portemonnaie
zurück in die Tasche. Die Leute starrten sie an. Die vier Männer von der Guardia civil verließen den Raum, stiegen in den Polizeiwagen vor der Tür und fuhren davon. Hermann und Isabel zahlten die Rechnung und verabschiedeten sich
vom Barkeeper. „Auf nimmer Wiedersehen.“
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*
„Komm bitte mit! Du hast seit Tagen die Wohnung nicht verlassen. Warum
verkriechst du dich? Du hast nichts verbrochen.“
„Ich verkrieche mich nicht, ich habe nur überhaupt keine Lust raus zu gehen.
Die können mich alle mal, und zwar kreuzweise. Ich will nichts mit denen zu
tun haben. Die sollen mich in Ruhe lassen. Ich will niemanden sehen. Geh alleine, Hermann. Der Balkon ist genau der richtige Platz für mich. Und nimm
den Schlüssel mit. Bitte schließe die Tür hinter dir ab.“
„Isabel, du beziehst den Vorfall auf dich, aber es hat nichts mit dir zu tun. Die
ETA bombt sich durch die Touristenorte. Sie sind vorsichtig. Jeder, der nicht in
ihr Bild passt, ist verdächtig. Die wollen nichts persönlich von dir.“
„Das habe ich gemerkt. Ich vertraue meinen Gefühlen und die sagen mir, sei
vorsichtig und bleibe in der Wohnung. Ich kann nicht anders. Ich fühle mich
nicht sicher. Es macht keinen Sinn, wenn ich mich in diesem Zustand auf die
Straße wage.“
„Wie soll das weiter gehen? Ich mache mir Sorgen um dich.“
„Ich mir auch. Ich kann nur hoffen, dass die Panik nicht lange anhält und bald
etwas passiert. Frag mich nicht was? Ich habe keine Ahnung, es ist nur ein Gefühl. Geh schon, bitte, ich möchte alleine sein und nachdenken.“
Hermann zuckte mit den Achseln und verließ die Wohnung. Isabel lief durch
die Räume, getrieben von innerer Unruhe. Diese Ohnmacht, dieses grausame
Gefühl, nichts tun zu können, warten zu müssen und nicht zu wissen auf was.
Die Sonne stand hoch am Himmel. Am schmalen Kieselstrand packten die letzten ihre Sachen zusammen und flüchteten vor der Mittagshitze. Weit und breit
war niemand zu sehen. Das Meer lag friedlich vor ihr. Sie klappte den Sonnenschirm auf, stellte ein Glas Wasser neben sich und zündete sich eine Zigarette
an. So konnte das jedenfalls nicht weitergehen. Sie verharrte in Angst und stän-
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diger Unsicherheit, lebte um zu überleben und setzte sich mit der eigenen Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung auseinander. Sie musste sich zusammenreißen, die Zähne aufeinanderbeißen und mutig sein. Sie durfte sich nicht so verunsichern lassen. Die Träume mischten sich mit der Wirklichkeit und fielen auf
sie zurück. Der weite Blick und die Ferne trösteten sie. Es gab kein davonlaufen
mehr. Sie musste sich um ihre verletzte Seele kümmern, von der viele nicht
einmal wussten, wo sie sich befand. Als wäre das wichtig? Das einzige was
zählte war, dass sie eine hatte. Sie war kein schlechter Mensch.
Am späten Nachmittag parkte Hermann den Wagen am Paseo del Parque. Palmen säumten die Straße und Kinder spielten unter den schattigen Bäumen.
Männer und Frauen saßen auf Bänken, genossen den Wind, der vom Hafen herüberwehte und ließen den Tag einen guten Tag sein. Isabel hängte sich bei Hermann ein. „Ich bin froh, dass wir hierher gefahren sind. Ich kann wieder durchatmen und empfinde die Beengung nicht ganz so bedrohlich.“ Sie liefen die
Marquez de Larios entlang. Die gewachsene Struktur des Viertels, die kleinen
Geschäfte, Boutiquen und Straßencafés, passten sich der Umgebung an. Es roch
nach frischem Gebäck. Die Fassaden hatten schon bessere Zeiten gesehen. Die
Malaguener interessierten sich für das Treiben auf der Straße, tratschten und
unterhielten sich in Gruppen, standen einfach herum, betrachteten die einen und
die anderen oder liefen eilig ihrem Ziel entgegen. Isabel und Hermann ließen
sich von den Düften treiben. Am Ende der Calla Marquez stießen sie auf einen
schattigen Platz, setzten sich in ein Straßencafé und beobachteten die Menschen. „Mir gefallen die Häuser, die Farben und die kleinen Balkone vor den
Fenstern. Die Menschen sind nicht bunter als in Berlin, doch es kommt mir so
vor. Malaga ist mit Sicherheit keine einfache Stadt. Es gibt Armut, Kriminalität,
Arbeitslosigkeit. Schau dich um“, sagte Isabel.
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Hermann strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Was willst du dagegen
tun?“
„Vernünftig und klug sein, mich nicht ausliefern und akzeptieren, dass Rückzug
eine Form des Widerstands ist. Ich nutze die Zeit in der ich nicht handeln
kann.“ Isabel schenkte sich Mineralwasser ein und sah eine Ansammlung von
Leuten auf dem Platz. Typen mit roten Baretts, Uniformen und Fahnen strömten
aus den schmalen Seitengassen ins Zentrum. „Fuerza Nueva“ stand in Druckbuchstaben auf einem Plakat.
„Das sind die spanischen Faschisten“, erkannte Hermann die Ansammlung auf
den ersten Blick. Frauen trugen schwarze Röcke, weiße Bluse und Dreieckstücher um den Hals geknotet. Junge und alte Männer schwangen Fahnen durch
die Luft. Die Atmosphäre auf dem Platz veränderte sich sofort, nahm bedrohliche Züge an und beeindruckte nicht nur Isabel und Hermann, sondern auch die
umstehenden Menschen. Die Zeit schien zurückgedreht worden zu sein. Vier
Jahre waren seit der Francodiktatur vergangen. So musste es damals gewesen
sein. Angst herrschte und niemand wagte offen zu sprechen, wie paralysiert
starrten alle auf die inzwischen zu Hunderten angewachsene Gruppe, alter und
neuer Faschisten, die sich militärisch formierten und lauthals ihre Parolen riefen. Die Demonstranten setzten sich in Bewegung und marschierten in Viererreihen über den Platz. „Eins, zwei, eins, zwei“, hallten die Stiefelschritte zwischen den Häusern.
„Das ist gespenstisch“, flüsterte Isabel.
„Vierzig Jahre Diktatur, lassen sich nicht in vier Jahren verarbeiten.“
„Solange sie die Geschichte nicht verdrängen“, meinte Isabel. „Ich wollte nie
eine Deutsche sein und habe mich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt!
Auch davor kann man nicht davonlaufen. Die Geschichte ist ein Teil des Selbst
und ich habe das Gefühl, sie holt mich ein.“
„Du überraschst mich immer wieder. Möchtest du noch etwas trinken?“
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„Nein, danke. Für heute habe ich genug gesehen. Mir schlottern die Knie.“
Isabel wachte mitten in der Nacht auf. Sie hatte geträumt, fühlte Schmerzen in
der Brust und wankte ins Bad. Ihr war schwindelig und sie musste sich übergeben. Sie wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser. Auf dem Balkon, an der
frischen Luft, hielt sie sich am Geländer fest und sah nach unten. Das Meer
donnerte ohrenbetäubend laut und aggressiv. Die Restaurants und Bars hatten
längst geschlossen und kein Mensch war unterwegs. Die Tiefe zog sie an, redete
ihr ein, wie gut es sein würde zu springen und alles hinter sich zu lassen, die
ganzen widerlichen Erinnerungen auf einmal los zu werden, und sie stellte sich
vor, wie sie fallen würde und versuchte die Flugbahn zu ermessen und die letzten Gedanken zu erahnen. Sie sah ihren zerschmetterten Körper auf dem Steinweg liegen und gewann eine Ahnung davon, wie der Schmerz der Erinnerung
enden würde. Isabel wandte sich ab. Sie wollte die Wohnung verlassen und
weckte Hermann. „Ich brauche dich! Du bist doch mein Freund.“
„Was ist? Was erzählst du? Kannst du nicht schlafen?“
„Ich habe Todesangst. Komm mit mir nach draußen. Ich ertrage die Wohnung
nicht. Bitte, hilf mir.“
„Beruhige dich.“ Hermann wollte Isabel in die Arme nehmen, doch sie wehrte
sich und stieß ihn zurück. „Nicht festhalten!“
Er verstand überhaupt nichts, doch Isabels Panik ließ keine langen Erklärungen
zu. Er folgte ihr. Sie rannte zum Wasser und fand einen windgeschützten Platz
gleich hinter dem Strandrestaurant. Sie ließ sich in den feuchten Sand fallen,
weinte und lehnte ihren Kopf an die vom Wind und Salz gebleichte Bretterwand. Sie hörte das Tuckern der Fischerboote in weiter Ferne, sah Lichtpunkte
auf der Wasseroberfläche tanzen und am Himmel glitzernde Sterne stehen. Der
Mond stand wie eine Sichel über dem bergigen Hinterland. Das Meer klang aufreibend laut. „Du kannst so grausam sein, gnadenlos und unersättlich“, schrie
196
Isabel. „Aber du kriegst mich nicht“, weinte sie das Meer an. „Ich falle nicht auf
deine lockenden Rufe herein und kenne deine Hinterhältigkeit. Du tust spielerisch, und dann, im Augenblick des sich Vergessens, greifst du zu, nutzt die
Unaufmerksamkeit und reißt alles in die Tiefe, was dir zu nahe kommt. Du bist
durch und durch verdorben.“ Der Ausläufer einer Welle berührte ihre Fußspitze.
Sie trat danach und noch einmal und noch einmal. „Hau ab! Bleib mir vom
Leib. Ich will nichts mit dir zu tun haben. Lass mich in Frieden.“
„Was hast du? Was ist mit dir? Du machst mir Angst.“ Hermann war hellwach
und starrte Isabel an, als wäre sie verrückt geworden. Ihr Gesicht, vom Schatten
der Bretterwand verdunkelt, sah beängstigend aus. „Mit wem sprichst du?“
Sie hatte Hermann ganz vergessen und sah ihn überrascht an.
„Verstehst du das Meer?“
„Was meinst du?“
„Hörst du nichts?“
„Ja natürlich. Das Meer hat einen eigenen Klang.“
„Klang nennst du das. Sei bloß vorsichtig. Es klingt nicht, es tobt. Es ist gefährlich. Wenn es könnte, würde es dich heute Nacht verschlingen. Es ist gefräßig
wie ein hungriges Tier. Ich würde keinen Fuß hineinsetzen. Du würdest einem
ausgehungerten Tier ja auch nicht die Hand ins Maul stecken. Wenn du willst,
kann ich dir übersetzten was es sagt?“
„Das würde mich schon interessieren.“ Hermann zweifelte an Isabels Gemütszustand. Er sagte aber nichts und tat so, als wäre er nicht in großer Sorge um
sie. Er meinte, eine Mondsüchtige vor sich zu haben, die man nicht wecken
durfte, damit kein Unglück geschieht.
„Sieh mich nicht so mitleidig an“, wehrte sie sich.
„Ich möchte dich verstehen. Du bist eine außergewöhnliche Frau, Isabel.“
Ihr Lachen verschmolz mit dem Getöse der brechenden Wellen.
Hermann traute sich und fragte: „Seit wann sprichst du mit dem Meer?“
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„Seit meiner Kindheit. Ich glaube von Anfang an. Du musst nur genau hinhören, dann verstehst du es auch.“ Sie saßen schweigend nebeneinander. Isabel
fühlte, wie sie ruhiger wurde. Der ohrenbetäubende Lärm tosender Wellen, ging
in ein ruhig schwappendes Wischen über, sanft glitten die Schaumkronen über
den Sand.
„Selbst wenn ich genau hinhöre, Isabel, vernehme ich nur raschong, tschoff,
brosch und vielleicht noch wusch, doch was bedeutet das? Das würde mich
schon interessieren“, misstraute Hermann der Ruhe.
„Also gut, wenn du wirklich willst, übersetze ich dir das, was das Meer mir zu
sagen hat.
„Erkenne deine Wut. Lass sie heraus. Schlage mich, trete mich, beleidige mich,
schreie mich an. Ich erlaube es dir. Fürchte dich nicht vor deinem Zorn, öffne
ihm Türen und Fenster, damit er entweichen kann, ohne Schaden anzurichten.
Fühle ihn und dann lass ihn ziehen. Sperre ihn nicht ein und schenke ihm die
Freiheit. Klammere dich nicht an deine Wut. Begrüße und verabschiede sie.“
Hermann sah Isabel verwundert an. „So etwas sagt das Meer zu dir? Erstaunlich! Erzählt es noch mehr?“, fragte er neugierig.
„Du bist in Gefahr. Wehre dich nicht. Halte still. Ziehe dich zurück. Achte auf
das, was du zu dir nimmst. Ernähre dich aus meinen Tiefen, trinke Wasser, esse
Salat und Früchte. Meide schädliche Gedanken und verschließe dich nicht vor
der Liebe. Der Mann an deiner Seite ist zu meinem Wohlgefallen. Vertraue
ihm. Vertraue dir. Bleibe gelassen in der Not, sie wird schon bald ein Ende haben. Hüte dich vor den Menschen, bis die Gefahr gebannt ist. Vertraue deinem
Instinkt. Fürchte dich nicht, ich bin bei dir und du bist bereit. Wenn du meine
Hilfe brauchst, komme vor Sonnenaufgang, schwimme und laufe bis zur Erschöpfung, danach gehe zurück in die Wohnung und bleibe solange, bis das geschäftige Treiben und Amüsement ein Ende haben.“
„Das ist unglaublich. Und was sagt es jetzt?“
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„Geht und liebt euch.“
Hermann saß nackt auf dem Balkon. Die Meeresbrise streifte über seine Haut
und er konnte sein Glück kaum fassen. Isabel war stürmisch, wild und leidenschaftlich gewesen und hatte sich ihm zum ersten Mal geschenkt, zumindest
hatte er es so empfunden. Sein Geist konnte sie spüren, wie sie sich ihm öffnete
und preisgab und ohne Mauern und Widerstand in die Freiheit floss. Ihr Orgasmus zog ihn in blaue Tiefen und stieß ihn in luftige Höhen, um ihn schlussendlich auf sanften Hügeln, in weichem Gras landen zu lassen.
Sie hatte vor Erleichterung geweint und ihre Augen glitzerten. Er war bei ihr
geblieben, hatte ihr seidenweiches Haar gestreichelt und gewartet bis sie einschlief. Sie war schön und begehrenswert, eine aufregende Frau, seine Geliebte
und Freundin. Er fühlte sich mit ihr verbunden und reich beschenkt. Eine Gruppe junger Fischer kam aus dem Dorf und breitete ein großes Netz am Strand
aus. Mit erhobenen Armen, liefen sie ins Wasser und ließen das Netz fallen,
warteten bis es den Grund berührte und zogen es wieder heraus. Sie wiederholten den Vorgang immer wieder. Ein alter Mann legte ein Handtuch auf
die Steine, tauchte Hände und Arme in die Wellen und schwamm hinaus. Er
war ein guter Schwimmer und bald war von ihm nur noch sein Kopf zu sehen.
Hermann schrieb mit großen roten Buchstaben auf die weißgetünchte Wohnzimmerwand: „Nur die Liebe lebt“, und betrachtete zufrieden sein Werk.
Als Isabel aufwachte zitterten ihre Hände. Sie hatte schon wieder im Traum
geweint. Aus der Schattenwelt drängte sich ein Bild in ihr Bewusstsein, dann
folgte die Erinnerung. Es war ein heißer Sommertag. Isabels Eltern hatten Tina
in den Ferien zu sich eingeladen. „Das Kind soll einmal erleben, wie es in einer
richtigen Familie ist“, hatte ihre Mutter gemeint und Tina aus dem Heim abgeholt. Sie war ungefähr vierzehn, ein wildes Mädchen, das sich in Pfingstdorf
langweilte und ständig verrückte Ideen hatte. Tina trug kurze dunkle Haare,
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hatte einen kräftigen, muskulösen Körper und ein loses Mundwerk. Isabel hatte
seit damals nicht mehr an sie gedacht. Wozu sich erinnern? Warum sich das
antun? Sie sah ihren Vater im Daimler sitzen. Er wollte Tina seinen Besitz zeigen. Sie fuhren zuerst zu den Schweineställen, danach zum Hof und noch später
zum neuen Gefrierhaus. Danach kehrte Burkhard beim Stein in einen Gasthof
ein und ließ sie zwei Stunden im heißen Wagen warten, ohne Essen und Trinken. Tina war stinksauer und schimpfte über ihren Vater. Isabel saß schweigend
auf dem Fahrersitz, beide Hände am Lenkrad. Wie konnte sie es wagen und
schlecht über ihren Papa reden. Zornig riss sie das Lenkrad herum und hörte
wie es einklackte. Sie spürte die Angst, etwas kaputt gemacht zu haben. Der
Vater kam schwankend aus der Dorfkneipe, roch nach Bier und Schnaps und
redete seltsam. Er machte Tina gegenüber anzügliche Bemerkungen und bot ihr
Geld an. Tina wollte zuerst nicht, doch als er mit einem blauen Schein wedelte,
zögerte sie nicht mehr. Ihr Vater bog in einen Waldweg ein, stellte den Motor
ab und wechselte auf die Rückbank. Tina wollte zuerst den „Hunni“. Isabel sollte zusehen, um noch etwas zu lernen. Ihr Vater nannte Tina seine süße kleine
Hure, die genau wusste, was einem Mann gefiel. Isabel schaute Tina direkt in
die Augen. Sie waren eiskalt. Sie sah durch sie hindurch. Die Windschutzscheibe öffnete ihren Blick auf eine Baumreihe, einen schmalen Sandweg, mit Schlaglöchern, sie fixierte einen Aussichtsturm für Jäger, doch sie
hörte den Vater stöhnen und Tina gelangweilt fragen: „Sind Sie fertig?“ Burkhard beim Stein erhob sich, zog den Reisverschluss der Hose hoch und setzte
sich wortlos auf den Fahrersitz, so als wäre nichts geschehen. Isabel sah sein gerötetes Gesicht. Er wollte, dass Tina vorne sitzt und lenkte den Daimler mit
dem rechten Knie, legte seine Arm um sie und forderte sie auf, sich einen erfolgreichen Geschäftsmann genau anzusehen, damit sie sich daran erinnert, wie
einer ausschaut, der es im Leben zu etwas gebracht hat. Sie träumte weiter und
sah durch den Türspalt, wie Tina ihre Sachen packte. „Komm ruhig herein,
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Kleine. Tut mir leid, dass du das mit ansehen musstest. Ich haue ab. Bei euch ist
es ja schlimmer als im Heim. Fasst er dich auch an? Sicher tut er das. Du musst
nichts sagen.“ Tina schmiss die neuen Kleider in die Tasche und zog den Reißverschluss zu. „Dein Vater soll mich ins Heim zurückbringen! Ich bleibe keine
Minute länger hier“, sagte sie und warf Isabel einen letzten Blick zu. „Du tust
mir leid.“ Kurze Zeit später hörte Isabel den Mercedes ihres Vaters vom Hof
fahren. Die Mutter kam die Treppe hochgelaufen und fragte außer sich vor Empörung, ob etwas vorgefallen sei? Isabel schwieg und Antonia fragte nicht weiter. Sie schimpfte vor sich hin: „Tina ist schmutzig und frech. Was habe ich ihr
für schöne Kleider gekauft. Ich habe sie ganz neu ausgestattet. Du weißt ja, wie
zerlumpt sie hier ankam. Und dann hat sie nicht einmal ein Dankeschön zum
Abschied. Wir wollen nicht mehr darüber reden. Jedenfalls werden wir kein
Kind mehr aus dem Heim in den Ferien zu uns nehmen. Wir haben es doch nur
gut gemeint, aber Undank ist der Welten Lohn.“ Die Empörung der Mutter war
echt, erinnerte sich Isabel und war froh, aus dem schmutzigen Traum aufgewacht zu sein. Sie musste sich festhalten, wollte sie nicht auseinanderfließen
und verlorengehen. Sie zog den Bikini an, nahm ein Handtuch vom Haken und
verließ die Wohnung. Im Hausflur begegnete ihr niemand. Isabel lief zum
Strand. Ein alter Hund suchte im Abfall nach Nahrung. Sie grüßte ihn und legte
das Badetuch auf die Steine. Mit den Zehen ertastete sie die Wassertemperatur.
Es war angenehm frisch. Sie befeuchtete die Oberarme, die Schenkel, den
Bauch und ließ sich in die Wellen fallen. Der Himmel war blau. Es würde ein
schöner Tag werden. Sie wollte mit Hermann seinen 35. Geburtstag feiern.
Nach dem Schwimmen kaufte sie Brötchen beim Spanier ein und deckte den
Tisch. Gemeinsam Frühstücken war ein Anfang. Was sollte sie anderes tun, als
mutig und tapfer sein? Die Erinnerungen kamen, ob sie wollte oder nicht. Sie
konnte den Prozess des Erinnerns nicht aufhalten. Es war an der Zeit abzureisen. In der Wohnung ihres Vaters konnte sie nicht bleiben, seine Sachen hingen
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im Wandschrank, sein Name stand auf dem Türschild, und auch wenn er nur
vierzehn Tage im Jahr hier verbrachte, seine Nähe war überall zu spüren. Sie
hatte nicht geahnt, dass es so schmerzhaft sein würde, sich zu erinnern, Bilder
die an der Oberfläche auftauchen. „Du brauchst Zeit“, flüsterte ihre innere Stimme, die wie das Meer klang. „Nimm sie dir. Sei gut zu dir. Suche Menschen,
die deiner Trauer, Freude entgegenhalten, deinem Schmerz und deiner Hoffnungslosigkeit mutig entgegentreten, und gib nicht auf.“ Isabel rubbelte sich
trocken und schlang das feuchte Tuch um die Brust. Die Angst, die aus dem
Unterbewusstsein drängelte, erklärte sich nicht.
Isabel ließ den Sektkorken knallen. Hermann lag auf der Seite, die Hand unter
den Kopf gelegt. Er sah aus, als würde er denken. Isabel küsste seine Augen, die
Nasenspitze, die Wangen, die Lippen. „Aufwachen mein Seefahrer. Herzlichen
Glückwunsch zum Geburtstag. Das Frühstück steht auf dem Tisch und der Kaffee ist gleich fertig.“ Sie wollte wieder aufstehen, doch Hermann hielt sie zurück. „Wenn ich Geburtstag habe, darf ich mir doch sicher etwas wünschen?“
„Heute ist dein Tag. Alles was du möchtest, wird getan. Du darfst bestimmen.“
„Was für ein Glücksfall. Wenigstens einmal im Jahr.“
„Macho, sei ja vorsichtig. Reize mich nicht, sonst fessele ich dich ans Bett und
treibe dir die Frechheiten aus.“
„He, ich wusste gar nicht, dass dir so was Spass macht.“ Sie sprang auf ihn
drauf und versuchte seine Hände festzuhalten. Hermann lachte. Sie kniete sich
auf seine Oberarme und drückte seine Handgelenke fest in die weichen Kissen.
Sie kämpften, balgten und tobten bis zur Erschöpfung. „Wenn man dich anschaut, würde man niemals denken, dass du so stark bist, Wildkatze.“
„Nicht stark genug.“
„Was ist? Hast du geweint?“
„Es geht schon wieder. Mach dir keine Sorgen.“
„Wenn du reden möchtest, ich höre dir zu.“
202
„Lass uns an dich denken, alles andere kann warten.“
„Hermann lachte jungenhaft, sprang aus dem Bett und nahm sie bei der Hand.
„Du siehst müde aus. Wenn wir gefrühstückt haben, legst du dich wieder hin,
damit du heute Abend fit bist. Ich lade dich zum Essen ein.“
Hermann deckte Isabel zu und lehnte die Tür an. Er stellte die Sachen vom
Tisch herunter, wusch das Geschirr ab und verließ die Wohnung. Er lief an den
Hochhausblöcken vorbei, löste bei der Bank einen Scheck ein und kaufte im
Zeitungsladen die Zeitung von gestern. Zum Geburtstag gönnte er sich einen
Kaffee und einen Cognac und schrieb in sein Tagebuch: Treue und Freiheit bedeuten für mich, dass ich mit keinem anderen Menschen außer Isabel sexuelle,
erotische oder sonstige Zärtlichkeiten austausche. Ich will nicht belogen und
betrogen werden. Ich habe eine Ehe auf dieser Grundlage geführt. Wenn ich
etwas weiß, dann das, ich will das nicht mehr erleben müssen. Ist Isabel ehrlich, sagt sie mir die Wahrheit, oder hat das mit ihr gar nichts zu tun und ich
spiegle meine Ängste auf sie? Die Eifersucht schafft mich. Ich habe nicht gelernt, damit umzugehen. Ich will mein Misstrauen nicht auf Isabel projizieren.
Sie hat genug mit sich zu tun. In der Zwischenzeit erkenne ich, wenn sie von
Erinnerungen an den sexuellen Missbrauch überschüttet wird. Sie wirkt zerbrechlich und jung. Es muss schrecklich für sie sein, die Erinnerungen überrollen sie unvorbereitet und bremsen ihren Lebensfluss mit aller Gewalt. Ich
hätte nicht gedacht, dass es so hart ist und muss aufpassen, dass mein Mitgefühl genug Platz für Zukünftiges lässt. Unsere Gegenwart ist überschattet von
Isabels Erinnerungen, ich stehe ihren Verhaltensmustern hilflos gegenüber und
kann mit niemandem darüber reden. Die wenigen Freunde, die ich noch habe,
raten mir, „die Beine in die Hand zu nehmen und mich aus dem Staub zu machen.“ Keiner von ihnen würde sich auf so eine „kaputte“ Frau einlassen. Inzwischen hüte ich mich davor, mit anderen über Isabel zu reden. Das beinhaltet
203
auch, dass ich nicht über meine Probleme sprechen kann. Wie soll ich mit ihr
umgehen? Wie kann ich ihr helfen? Was braucht sie? Was ist wichtig für eine
sexuell missbrauchte Frau? Aufarbeiten, verarbeiten, nicht verdrängen, ihr dabei helfen, dass die Erinnerungen sie nicht zerschmettern. Vertrauen, Liebe,
Trost, ihr Hoffnung machen, aber wo bleibe ich? Ich brauche Distanz, um ihr
beistehen zu können und muss mich um meine eigenen Verletzungen kümmern.
Wenn ich stagniere kann ich ihr nicht helfen. Ich habe das Gefühl, zu kurz zu
kommen, ständig nachgeben und meine Interessen zurückstellen zu müssen, und
frage mich, wer nimmt Rücksicht auf mich? Ich vermisse Leon und Helen. Die
gescheiterte Ehe hat tiefe Verletzungen hinterlassen. Szilvia und ich waren
noch kein Jahr verheiratet, Helen war noch ein Baby, da gehörte Untreue
schon zu unserem Leben dazu. Szilvia hat immer behauptet, sie hätte nur auf
mein Fremdgehen reagiert, aber ich bin mir nicht sicher. Meinen Gefühlen
nach zu urteilen, haben wir uns beide nichts geschenkt. Ihre Liebhaber waren
entweder meine Freunde, Genossen, oder Studienkollegen. Am liebsten würde
ich diese zehn Jahre vergessen, doch Helen und Leon lassen das nicht zu. Wenn
ich die gescheiterte Ehe verdränge, kann ich nicht daraus lernen. Ich will den
Schmerz nicht fühlen, mich nicht darauf einlassen und mache deshalb einen
großen Bogen um meine Vergangenheit. Ich liebe Isabel, weil sie mich herausfordert und mir zeigt, wie sie untergeht und gestärkt wieder auftaucht. Ihre
Schwäche ist zugleich ihre Stärke. Sie kämpft. Nur ihr Selbsthass hindert sie
daran, sich zu erkennen, und dennoch ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie sich
aus dem Sumpf herausgearbeitet hat.
Hermann füllte zwei Gläser mit Sekt und eine Schale mit Pfirsichen. Isabel
schlief friedlich, ihre bronzefarbene Haut, das rotbraune Haar, die schlanke Figur, die apfelrunden Brüste, die wohl geschwungenen Beine, die Ballettfüße, alles passte zusammen. Er küsste sie.
„Ich habe in Farbe geträumt“, antwortete Isabel.
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„Und ich habe Sekt und Pfirsiche mitgebracht.“
Sie stießen an, ein feiner, heller Klang tönte. „Happy birthday to you, Hermann.
Ich trinke auf dich, darauf, dass du dich um mich bemühst, mich eroberst und
verführst, und je älter du wirst, mehr und mehr genießt; und wir trinken darauf,
dass du dir Zeit nimmst und dich im Vertrauen übst. Ich bin dankbar, dass du
mich nicht im geringsten an meinen Vater erinnerst, und wirklich anders bist.“
„Wie kommst du darauf?“
„Du liebst mich.“ Sie setzte sich aufrecht hin. „Glaubst du, dass ich jemals eine
normale Sexualität haben werde?“
„Was ist schon normal? Wichtig ist, dass es dir Spass macht, dass du dich fühlen kannst und mich nicht als Bedrohung empfindest.“
„Du bedrohst mich nicht. Ich kann nein sagen, ohne dass du mich bedrängst. Ich
habe keine Angst vor dir. Ich habe Angst davor, dass du mich verlässt. Es ist
schwer mit mir.“
„Ich will keine andere und ich bin dir treu, Posa, du mutige, tapfere Frau.“
Vom Tennisplatz war das „Plop, plop“ der Bälle zu hören und auf dem Meer
begrüßten sich zwei Fischerboote. Ein ratterndes Motorrad fuhr die Küstenstraße entlang. Die Gardine wurde vom Wind erfasst, flatterte, zerrte an der
Halterung und wehte in den Raum hinein. In der Wohnung nebenan zog jemand
an der Toilettenspülung. Die Menschen kamen vom Strand zurück Der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung. Isabel lehnte ihren Kopf an Hermanns Schulter.
„Es tut gut, einfach nur da zu sein. Ich bin gerne mit dir zusammen. Du hilfst
mir und ich kann deine Hilfe annehmen. Wenn ich das Gefühl habe, ich werde
nicht fertig mit meinen Erinnerungen, wenn ich aufgeben will und nicht mehr
weiter weiß, bist du da, hörst mir zu, nimmst mich ernst und gibst mir das Gefühl, eine tolle Frau zu sein. Du bist mein Freund und ich liebe dich.“
205
VI
Im Flur war es dunkel. Isabel schaltete das Deckenlicht ein, zog die Schuhe aus
und hängte die Jacke an den Kleiderhaken. In der Küche stand das Frühstücksgeschirr noch auf dem Tisch. Hermann lag in seinem Zimmer auf dem Bett.
„Warum liegst du im Dunkeln?“, fragte Isabel, als sie ihn sah.
„Du entfernst dich von mir. Ich kann es fühlen und nichts dagegen tun.“
„Ich bin bei dir.“
„Nur aus Mitleid.“
„Rede nicht so.“
„Ich bin dir gefolgt, es war so erniedrigend.“
„Was erzählst du? Wovon sprichst du, Hermann?“
„Ich habe gesehen, wie du heute Morgen in ein fremdes Haus gegangen bist. Du
verschweigst mir etwas. Du liebst mich nicht. Hast du einen anderen Mann?
Sag mir die Wahrheit, alles ist besser als diese Ungewissheit. Ich ertrage es
nicht belogen und betrogen zu werden. Bitte sprich mit mir. Wir finden einen
Weg, aber lass mich nicht im Regen stehen. Diese Heimlichkeiten sind unerträglich für mich.“
Isabel setzte sich zu ihm. Sie war blass geworden und fühlte sich furchtbar. „Ich
war bei einem Psychotherapeuten“, antwortete sie. „Es tut mir leid, dass ich
nicht mit dir darüber gesprochen habe. Du musst wirklich verzweifelt sein. Ich
habe deine Eifersucht nicht ernst genommen, weil ich selbst jeden Tag befürchte, dass du mich verlassen könntest und zurück zu deiner Familie gehst.
Ich bin mir deiner nicht sicher und möchte nicht, dass du dir meiner sicher bist.
Das ist ein dummes Spiel. Unser Leben kommt mir schwer vor, häufig unmöglich und immer sind da Gründe, weshalb wir nicht glücklich sein können. Ich
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lebe mit ständigen Schuldgefühlen und frage mich, ob ich unsere Liebe tragen
kann. Deine Kinder brauchen dich und Szilvia hat mehr Einfluss, als du denkst.
Du kommst nicht gegen sie an. Wie soll ich damit leben, dass eine andere Frau
im Hintergrund agiert und die Fäden zieht?“
„Ich bin keine Marionette.“
„Nein, natürlich nicht.“
Hermann richtete sich auf. „Ich wusste nicht, dass du einen Psychotherapeuten
suchst?“
„Wie kann ich lieben und verzeihen, wenn die Vergangenheit mich einholt und
die Erinnerungen mich quälen? Ich schaffe es nicht alleine und brauche Hilfe.“
„Du bist klug, Isabel. Du hast Humor, bist zärtlich, sensibel und ohne Arglist.
Deine Spontaneität ist interessant und verführerisch, und dass du dir Hilfe
suchst, finde ich in Wahrheit erleichternd.“
„Ich möchte das Leben wagen, mit dir zusammen alt werden und verrückte
Dinge tun. Alleine komme ich aus dem Wust missbrauchter Gefühle nicht heraus. Nachdem wir aus Spanien zurückgekehrt sind, weiß ich, wie groß meine
Verantwortung ist. Ich will kein verlogenes, gemeines, hinterhältiges Miststück
werden, das den sexuellen Missbrauch verdrängt, selbst missbraucht und am
Ende, am Lebensekel zu Grunde geht.“ Isabel fühlte den Kloß im Hals. „Ich
will nicht in der Vergangenheit verharren und nur damit beschäftigt sein, die
hässlichen und widerlichen Gedanken einzusperren und die monströsen Gefühle
zu verbergen. Ich möchte den Teufelskreis durchbrechen“, sagte sie. „Bewusstsein ist ein Ausweg für eine wie mich, Hermann, und wahre Gefühle! Ich fürchte mich vor dem Abstieg in den Hades. Der Therapeut, bei dem ich heute war,
ist der Richtige. Vor zwei Wochen habe ich mich an eine Psychotherapeutin
gewandt. Sie war so altbacken und es roch muffig in ihrer Praxis. Danach bin
ich zu einem Psychologen gegangen. Er zweifelte an meiner Aussage, dass ich
sexuell missbraucht worden bin und versuchte mir einzureden, dass ich mir das
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nur einbilde, und dass es letztendlich nicht darauf ankommt, ob es in meiner
Fantasie oder in der Wirklichkeit geschehen ist. Doch ich lasse mir nichts einreden. Die Suche hat sich gelohnt“, sagte sie und strahlte. „Du hättest das Behandlungszimmer sehen sollen“, schwärmte Isabel. „Überall stehen Musikinstrumente herum, große Gongs, Monokorde, Tonschalen, es riecht angenehm
und der Raum ist hell und freundlich. Dort werde ich Schutz finden vor den
Gespenstern der Vergangenheit. Ich komme nicht daran vorbei, mich um das
Kind in mir zu kümmern. Der sexuelle Missbrauch begann, als ich noch keine
eigene Sprache hatte. Töne erreichen Tiefen in mir, die sich der Sprache entzogen haben. Ich habe den Gong geschlagen und gespürt, wie mich der Klang umarmt, durch mich hindurchfließt und Ebenen meines Unterbewusstseins erreicht, die mich erschaudern lassen. Nächste Woche beginnt die Therapie.“
Hermann setzte sich auf und sah sie ernst an. „Du beeindruckst mich, dennoch
ist es schwer auszuhalten, Isabel, dass ich dir nicht helfen kann.“
„Das stimmt nicht“, fiel sie ihm ins Wort.
„Lass mich ausreden. Es ist schmerzvoll zu erleben, dass meine Liebe nicht ausreicht, um deine Wunden zu heilen.“
„Ich will unsere Liebe nicht noch mehr belasten. Ich möchte Brücken bauen und
Grenzen überwinden. Ich brauche professionelle Hilfe, das verstehst du doch?“
Hermann nickte und antwortete nachdenklich: „Ich verstehe dich und ich sage
dir noch etwas: Ich suche mir einen Psychoanalytiker und lege mich auf die
Couch, denn mir ist klar, dass wenn du dich weiterentwickelst, ich nicht stehen
bleiben darf.“
*
Die Wellen schnappten nach dem Schiff und fraßen sich an den Planken empor.
Isabel schloss den Kragen der Jacke. Möwen folgten dem Passagierschiff. Die
208
Luft roch nach Salzwasser und der Wind blies ihnen ins Gesicht. Hermann hatte
den Arm um Isabels Schultern gelegt und schaute auf das Wasser. Die Sonne
glitzerte über den brechenden Wellen und das stampfende Stöhnen des schweren Dieselmotors war zu hören.
„Das ostfriesische Temperament scheint dir gut zu bekommen“, lachte Isabel
glücklich.
„Das Klima ist rau.“
„Aber herzlich. Ich mag die Ostfriesen. Sie trinken den ganzen Tag über Tee
und sagen 'moin', egal zu welcher Uhrzeit.“ Isabel hielt das Gesicht in den Wind
und füllte die Lungen.
„Ich sehe Helgoland!“ Hermann zeigte mit dem Finger in Richtung Felsen.“
„Ich wäre gerne eine Insel“, sagte Isabel. „Und du, was wärst du gerne?“
„Ein Fluss.“
„Oh ja! Das gefällt mir. Ich bin die Insel und du bist der Fluss und fließt durch
mich hindurch.“
„Ist das eine erotische Anspielung?“
„Wenn du möchtest, gerne.“
Sie stiegen in ein kleines Boot um, das brachte sie zum Hafen. Die Küste von
Helgoland, ragte schroff und felsig ins Meer. Es war viel zu gefährlich, mit dem
Schiff anzulegen. An Land hörten sie eine weibliche Stimme: „Die letzte Fähre
zum Festland läuft in zwei Stunden aus.“
„Es bleibt nicht viel Zeit. Was machen wir?“, fragte Hermann.
„Lass uns einfach die Straße hinaufgehen und in die Ferne schauen.“
Der Wind zog heulend durch die schmalen Gassen. Ein paar vereinzelte Touristen standen vor Schaufenstern und betrachteten die Auslagen. Die Nachsaison
war vorbei. Die meisten Geschäfte hatten bereits geschlossen und die Fenster
und Türen waren für den Herbst mit Holzkonstruktionen verbrettert. Isabel und
Hermann schlenderten die steile Straße hinauf und gelangten an einen kleinen
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Platz mit windschiefen Bäumen. Sie setzten sich auf eine Bank und blickten
aufs Meer, brechende Wellen klatschten meterhoch an die Felswände. Möwen
ließen sich vom Wind tragen und landeten zielsicher auf den Klippenvorsprüngen. „Ich bin gerne mit dir zusammen“, hängte sich Isabel ein und lehnte ihren
Kopf an seine Schulter. „Heraus aus dem Stress, den Missverständnissen und
dem zermürbenden Alltag. Ich brauche das. Weit entfernt von Einmischung, Ignoranz und Feindseligkeit“, sagte sie glücklich, im Angesicht des Augenblicks.
„Dein Lieblingsmeer gefällt mir. Du bist weich, zärtlich und auf eine besondere
Weise offen. Ich fühle, wie du dich entspannst und das hilft mir, mit dir über
ein Problemen zu sprechen, das mich belasten.“
„Was ist passiert, Hermann? Ich will dich nicht drängen, wenn du reden möchtest - ich bin eine gute Zuhörerin.“
„Das weiß ich, Isabel. Ich kann nicht mehr tun, als um meine Kinder zu kämpfen. Szilvia hetzt gegen mich. Sie erzählt Lügen und lädt ihren Hass auf mich,
bei den Kindern ab, besonders Helen ist davon betroffen. Ich komme nicht an
sie heran. Sie ist voller Abwehr. Ich hätte nicht gedacht, dass Szilvia so weit gehen würde. Sie weiß, was mich verletzt. Da ihr nur die Kinder bleiben, benutzt
sie Helen und Leon. Das meine Freunde sich von mir zurückgezogen haben, hat
weniger mit dir zu tun, als ich gedacht habe, Isabel. Szilvia erzählt Unwahrheiten über mich und ich muss mich ständig verteidigen, doch es ist sinnlos. Sie
sitzt am längeren Hebel und vergiftet alles mit ihren Verleumdungen. Es bleibt
immer etwas zurück.“
„Eines Tages wird all das, was sie dir und deinen Kindern antut, auf sie zurückfallen und dann Gnade ihr Gott.“
„Ich glaube nicht an Gott, aber es ist lieb von dir, dass du mich trösten möchtest. Ich fürchte nur, dass es bereits zu spät ist für meine Tochter und mich. Ich
erzähle dir ein Beispiel. Beim letzten Treffen mit Helen fiel mir auf, dass sie
ihre Hände und Füße versteckt. Sie hat mir erklärt, dass die Mutti ihre Hände
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und Füße abscheulich findet, weil sie die gleichen Hände und Füße hat wie ich.
Helen zieht ihre Schuhe nicht aus und ballt ihre Hände zu Fäusten. Sie ist zehn
Jahre alt und kommt nicht an gegen die Gehässigkeit ihrer Mutter und ich kann
sie nicht beschützen. Ich liebe meine Tochter, Isabel. Ich weiß, dass sie mich
auch geliebt hat. Helen sieht in mir ein Ungeheuer und möchte mich am liebsten
nicht mehr sehen. Für sie ist es eine Qual mich zu treffen.“
„Deine Frau ist dumm.“
„Ich bin zu weit weg. Ich habe meinen Einfluss bereits verloren. Bei Leon ist
das anders. Ich weiß nicht, warum der Mopper, emotional unerschütterlich
bleibt. Szilvia schafft es nicht, ihn gegen mich aufzubringen.“
„Ich hoffe, deine Kinder kommen bald nach Berlin. Sie könnten mit eigenen
Augen sehen, wie du lebst.“
„Stört es dich nicht?“
Sie knuffte ihm in die Seite, sagte aber nichts.
„Was ist?“
„Warum rufst du Helen und Leon nicht gleich an und fragst sie, ob sie dich in
Berlin besuchen möchten? Du holst sie ab und bringst sie auch wieder zurück.“
Das Telefongespräch dauerte nicht lange. Leon war aufgekratzt, Helen freute
sich, Szilvia erklärte ihr Einverständnis und Hermann tanzte vor Freude auf der
schmalen Inselstraße. „Ich liebe dich“, sang er und küsste sie. „Für deine Sensibilität, dein Gespür und deine Unterstützung“, sagte er und weinte, weil er seine
Kinder vermisste und weil er sie bald sehen würde.
„Wir müssen uns beeilen, sonst verpassen wir das Schiff!“ Sie rannten die
Straße zum Hafen hinunter und erreichten die Fähre im letzten Augenblick. Sie
gingen aufs Oberdeck, weil das Schiff schaukelte und Isabel schlecht wurde. Sie
kotzte mit dem Wind und lachte erst wieder, als sie festen Boden unter den Füßen spürte „Was hältst du davon, wenn wir an den See fahren?“, fragte sie.
211
„Das Apartment meines Vaters ist fertig eingerichtet. Ich habe den Schlüssel
und wir könnten in drei Stunden dort sein.“
„Wenn deine Eltern nichts dagegen haben, würde ich gerne an den See fahren.
Ich mag die Stille und die Gegend aus der du kommst.“
*
Isabel war auf der Stelle hellwach, als Burkhard beim Stein vor der Schlafcouch
stand.
„Ich wusste nicht, dass du da bist“, entschuldigte er sich. Ich komme jeden
Morgen vorbei. Hier habe ich wenigstens meine Ruhe“, sagte ihr Vater.
„Seit wann brauchst du Ruhe?“, erwiderte Isabel seinen Blick.
Er sah sie empört an. „Ich quäle mich Tag für Tag zur Firma. Wozu die ganze
Plackerei? Ich bin achtundsechzig Jahre alt, habe mir im Leben nichts gegönnt,
nie Urlaub gemacht und nur Stress gehabt.“
„Du hast es nicht anders gewollt.“
„Glaubst du mich hat einer gefragt? Du verstehst nichts.“
„Klär mich auf. Vielleicht hilft es?“, antwortete Isabel, stand auf und machte
Kaffee. Hermann war ins Badezimmer verschwunden und Burkhard beim Stein
zögerte. Die Erinnerungen holten ihn immer öfter ein. Er sah die gefallenen
Kameraden vor sich und träumte vom zweiten Weltkrieg, der ihn hart gemacht
hatte. Seine Feinde nannten ihn „den Fuchs“, doch in der letzten Zeit, fühlte er
sich nur noch alt und schwach, alles wuchs ihm über den Kopf. Isabel öffnete
die Balkontür. Die Sonne schien auf Wiesen und Felder, der Neubau aus weißen
Klinkersteinen lag an einer kleinen Straße, gesäumt von Bäumen, die zum See
führte.
„Erzähle mir von deiner Angst.“
„Ich habe keine Angst.“
212
„Du zweifelst an deinem Leben.“
„Ein beschissenes Leben ist das. Nichts als Ärger und Druck.“
„Was beunruhigt dich, Papa?“
„Sieh unter dem Fernseher nach, da liegen Bildbände über Russland, von den
Kriegsschauplätzen, an denen ich als Soldat war! Du weißt nichts. Ich schaue
mir täglich die Bilder an. Mama meint, ich werde alt und senil, doch darauf
braucht sie nicht zu warten! Ich sterbe nicht im Bett.“
Hermann trat hinter Isabel und streichelte ihren Rücken. Burkhard beim Stein
beobachtete mit Argusaugen die zärtliche Geste.
„Mein Vater zweifelt an seinem Leben.“
„Interessant“, staunte Hermann nicht schlecht.
„Ich muss in die Firma. Wenn Sie Interesse haben, zeige ich Ihnen heute Nachmittag, was ich aufgebaut habe“, sagte Burkhard beim Stein und eilte davon.
*
Hermann und Isabel schlug der Geruch kalter Asche und Bierdunst entgegen. In
der Gaststätte am Bahnhof, der längst stillgelegt worden war, saßen nur wenige
Menschen. Hinter der Theke stand Pia, die langjährige Geliebte ihres Vaters,
zapfte Bier und wischte sich die Hände am Spültuch ab. Isabel wusste nicht viel
von ihr, nicht woher sie kam und wie sie ihren Vater kennengelernt hatte, doch
sie erinnerte sich genau an ihre erste Begegnung. Sie musste ungefähr neun Jahre alt gewesen sein und war mit der Mutter zum Karneval in die nahegelegene
Kleinstadt gefahren. Am späten Nachmittag, der Kinderumzug war vorüber,
stellte die Mama fest, dass sie den Hausschlüssel vergessen hatte. Sie fuhr zur
Bahnhofsgaststätte nach Feldstein und schickte Isabel in die Wirtschaft, um den
Hausschlüssel zu holen. Isabel fragte die Frau hinter der Theke nach ihrem Vater, die führte sie zu einer Tür hinter der Gaststätte, klopfte an und ließ sie ein-
213
fach stehen. Isabel hörte die Stimme des Vaters, trat ein und sah ihn mit einer
fremden Frau auf dem Sofa liegen. Pia musste damals Anfang zwanzig gewesen
sein, eine schlanke junge Frau mit großen lustigen Augen. Isabel faszinierte ihre
Ungezwungenheit. Sie schien sich überhaupt nicht zu schämen, im Gegensatz
zu ihrem Vater, dem die Situation äußerst peinlich war. Er holte den Hausschlüssel aus dem Jackett, das über der Stuhllehne hing. „Du sagst der Mama
nichts, verstanden!“, brummte er kurz, schob sie aus dem Zimmer und stieß die
Tür hinter ihr zu. Als sie zur Mutter in den Wagen stieg, fragte die ohne Umschweife, ob der Papa alleine gewesen sei. Isabel log. Zu Hause angekommen,
holte Antonia ihren Hausschlüssel aus der Tasche, tat verwundert und spielte
die Schusselige. Isabel wusste nicht, auf wen sie wütender sein sollte, auf die
Mutter, die sie für dumm verkaufen wollte, oder den Vater, der sie in seine Geheimnisse verstrickte. Im Gasthaus hatte sich seit damals nichts verändert - die
lange Theke mit den Barhockern, die Holztische und Stühle, die Gardinen vor
den Fenstern – nur die Zeit schien grau geworden zu sein und die Menschen mit
ihr alt. Isabel stellte Hermann vor. Pia lächelte freundlich. „Ich sage deinem
Vater Bescheid, dass ihr da seid und bringe euch inzwischen einen Kaffee.“
Ihr Onkel Heinz rief sie zu sich an den Tisch. Wie alle Männer des beim Stein
Clans, hörte er sich gerne reden. Die Geschwister munkelten, dass er seinen
Verstand verloren hatte, als er während des Krieges verschüttet worden war und
man ihn für tot erklärte.
„Dein Vater kommt gleich“, sagte Pia und stellte die Tassen ab.
Die Männer an den Nachbartischen, zumeist Viehhändler aus der Umgebung,
unterbrachen ihr Gespräch und sahen zu ihnen herüber.
„Donnerschlittchen! Das hätte ich dem alten Fuchs gar nicht zugetraut“, hörte
sie einen Mann schwatzen, der einen weißen Kittel trug und Tierarzt im
Schlachthof war. Ihr Vater kam herein, grüßte alle, trat zu ihnen an den Tisch
und wollte gleich gehen. Isabel und Hermann folgten ihm. Sie fuhren nur einen
214
Kilometer weiter aus der Ortschaft heraus und hielten an der nächsten Gaststätte. „Ich habe mit nichts angefangen und es weit gebracht“, meinte Burkhard
beim Stein unvermittelt und sah Hermann dabei direkt in die Augen. Im Wirtshaus kannte ihn jeder. Er begrüßte die Gäste auf seine spezielle Weise, indem er
die Hand hob (nicht wie Adolf Hitler) und bestellte Kaffee und Cognac. Dann
wandte er sich wieder an Hermann und erzählte ihm von korrupten Beamten,
die immer dreister wurden, Geld in die eigene Tasche steckten, Verfahren verzögerten und den Hals nicht voll bekommen konnten. Hermann war ein ungewöhnlicher Zuhörer, ein Meisterspieler, der seinen Part verstand und sein Gegenüber motivierte, mehr von sich preiszugeben. Der Cognac lockerte die Zungen und das Gespräch wurde persönlich. „Alles ist käuflich“, behauptete Burkhard beim Stein, freute sich über seinen Schachzug und wähnte sich bereits in
Sicherheit.
„Die Liebe nicht“, widersprach Hermann.
„Sie geben den Frauen Geld, schenken ihnen Schmuck und bekommen was sie
wollen.“
„Verwechseln Sie nicht Sex mit Liebe?“
„Mein Vater weiß nicht, was das ist, lieben“, mischte sich Isabel zum ersten
Mal in das Gespräch ein. Bisher hatte sie geschwiegen und beobachtet.
„Halt dich da raus, das ist ein Männergespräch“, fuhr ihr Vater sie von der Seite
an.
„Das hättest du wohl gerne? Dazu bräuchtest du eine andere Tochter!“
„Ich habe wohl die Tochter, die ich verdiene“, antwortete er resigniert.
Antonia stand in der Küche, löste das Hühnerfleisch von den Knochen, schnitt
es in kleine Würfel und gab den einen Teil in die Suppe, den anderen legte sie
beiseite. Sie rollte die Zwiebackklöße zu kleinen Würsten, drückte sie an den
Enden, zwischen Daumen und Zeigefinger zusammen und schob die klebrige
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Masse vorsichtig vom Brett in die köchelnde Brühe. Danach rührte sie eine helle Grundsoße an, schmeckte sie mit Sahne, Pfeffer, Salz und Weißwein ab, legte Hühnerfleisch und Spargelspitzen hinein und stellte die Herdplatte auf eine
niedrigere Stufe. Sie stöhnte leise weil sie an die Tochter denken musste. Bei
Isabel wusste sie nie was als nächstes geschah. Antonia presste die Hand gegen
die Brust und spürte ihr Herz wie es herausspringen wollte. Diesmal hatte Isabel
ihren Freund mitgebracht. Wie konnte die Tochter ihr das nur antun? Wie konnte sie sich nur mit so einem abgeben? Einem verheirateten Mann, mit zwei Kindern? Hatte die Tochter denn gar keine Moral? Wenn die Nachbarn davon erfuhren, konnte sie sich nicht mehr im Dorf blicken lassen. Diese Schande. Antonia wickelte den geputzten Salat in ein feuchtes Küchentuch, holte einen frischen Becher Sahne aus dem Kühlschrank, schüttete den Inhalt in eine Schüssel, gab Zitronensaft und Zucker dazu, rührte die Salatsoße mit einem Schneebesen um, stellte sie zur Seite und band die Küchenschürze ab. Jetzt wollte sie
sich einmal hinsetzen und ausruhen. Was hatte sie nur verbrochen? Was war
das für ein Leben? Sie wurde von innerer Unruhe getrieben und lief in den Flur,
stellte die Schuhe neben die Treppe und stieg die teppichbodenweichen Stufen
hinauf. Die Rückenschmerzen waren unerträglich. Im Bad zog sie Rock und
Bluse aus, legte die Sachen gefaltet auf einen plüschrotbezogenen Hocker und
betrachtete ihr Gesicht im Spiegel. Mit dem Stielkamm toupierte sie zuerst die
Haare auf dem Hinterkopf, ihre Augen sahen grau und müde aus. Sie tuschte die
Wimpern und zog die Augenbrauen mit einem feinen schwarzen Kajalstift
nach, schimpfte vor sich hin, rieb die Beine und Arme mit Niveamilch ein und
meinte: „Ich bin doch bescheuert.“ Immer, wenn sie einen Zornausbruch hatte,
wollte sie alles hinschmeißen, den Koffer packen und einfach abhauen, irgendwohin, wo es schön war und wo man sie schätzte, dann sehnte sie sich nach
Menschen, die sie ernst nahmen und sich für sie interessierten. Antonia hatte
das Lachen geliebt, doch es war ihr nur selten begegnet und noch seltener in ihr
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gewachsen. Alles war anders gekommen, als sie es sich erträumt hatte. Natürlich war es nicht Isabels Schuld, aber mit der Geburt ihrer Tochter, hatte
schließlich das Unglück begonnen.
Im Kamin knisterte trockenes Holz. Isabel und Hermann halfen Antonia beim
Tisch abdecken und setzten sich zu den anderen ins Wohnzimmer.
Burkhard beim Stein zeigte sich von seiner besten Seite, unterhielt alle mit seinen Anekdoten, war in Hochform und sprühte vor Leben. Er fühlte sich noch
einmal stark wie damals, als er jung und entschlossen gewesen war und jede
Gelegenheit genutzt hatte. Hermann lachte. Michaela, die Freundin von Bernhard vergaß ihr Heimweh und lehnte sich getrost in den Schoß der neuen Familie zurück. Bert, der jüngste Sohn und Nachzügler, warf seinem Vater bewundernde Blicke zu, und selbst Antonia vergaß für Sekunden ihre Sorgen und ließ
den Kummer, Kummer sein.
„Ich möchte dir verzeihen, Papa und mache eine Therapie“, platzte Isabel in die
allgemeine Entspannung. Die Mutter erblasste, Michaela sah pikiert auf ihre
runden Knie, Bert stockte der Atem, Bernhards Kopf lief rot an und er brüllte:
„Was glaubst du eigentlich wer du bist? Du kommst hierher und willst Papa
verzeihen! Du hast sie doch nicht alle!“
„Ich möchte nicht, dass du so mit Isabel sprichst“, mischte sich Hermann ein.
Sie hat Respekt verdient“, sagte er ruhig aber bestimmt.
Bernhard blieb die Spucke weg, der Vater staunte nicht schlecht, Antonia
schwieg beklommen und Bert und Michaela schlossen sich ihr an.
*
Isabel hörte in die Stille der Nacht. Der tosende Großstadtlärm hatte abgenommen. Sie war froh wieder in Berlin zu sein. Die Spatzen vor dem Fenster stritten
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in heillosem Durcheinander. Hermann und die Kinder schienen eingeschlafen
zu sein. Der Gedanke beruhigte sie. Die Fahrt von Freiburg nach Berlin war anstrengend gewesen. Helen und Leon schienen präpariert worden zu sein. Helen
schwieg die ersten Stunden der Fahrt und antwortete nur mürrisch auf die Fragen ihres Vaters. Warum war sie überhaupt mitgekommen? Sie schien den Auftrag zu haben, auf ihren kleinen Bruder aufzupassen. Wenn Leon lachte, stieß
sie ihm in die Seite und warf ihm böse Blicke zu. Beim geringsten Anflug von
Freude, fuhr sie mit jungmädchenhaftem Zorn dazwischen. „Das darfst du
nicht. Das sollst du nicht. Mutti will das nicht.“
Isabel stöhnte bei der Erinnerung. Die Atmosphäre hatte vor Anspannung geknistert, ihr war das Atmen schwer gefallen und sie wäre am liebsten aus dem
Wagen ausgestiegen und hätte Hermann und die Kinder alleine weiterfahren
lassen. Sie wischte die Erinnerung beiseite und sah durch ein kreisrundes Sichtloch zwei Betrunkene über die Koloniestraße torkeln. Hermann hustete aus dem
Nebenzimmer. Während der Autofahrt hatte er alles versucht, um seine Kinder
aufzuheitern. Es hatte Stunden gedauert, bis sie auftauten. Leon war ein aufgeweckter Junge, der gerne träumte und spielte und zu seiner Schwester hielt. Die
Trennung der Eltern schweißte sie zusammen. Helen war eher schüchtern, ein
zurückhaltendes Mädchen, mit rehbraunen Augen und dichtem, hellbraunem
Haar. Sie trug ein T-Shirt und eine dünne Sommerhose, die viel zu kalt für die
Jahreszeit war. Hermann legte Helens Kassette von ABBA ein und ihr mürrisches Gesicht hellte auf. Als sie die Koloniestraße erreichten, dämmerte es bereits. Sie brachten die Taschen in die Wohnung, gingen Pizza essen und Leon
erzählte Geschichten, die er sich ausdachte und über die alle gemeinsam lachen
konnten. Isabel hoffte, dass sie doch noch eine angenehme Woche miteinander
verbringen könnten und ließ die drei in der ersten Nacht alleine.
In den letzten Wochen hatte es häufig Streit mit Hermann gegeben. Seine
Selbstgefälligkeit war ihr auf die Nerven gegangen und seine Erwartungen nicht
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erfüllbar. Sie sollte sich von einer zur anderen Sekunde auf ihn einstellen, doch
das kam überhaupt nicht in Frage. Sie wehrte sich gegen seine Ansprüche und
es gefiel ihr, die Krallen zu zeigen und zu fauchen. Sie stritten auf der Grundlage ihrer Gefühle und die wuchsen mit jedem gemeinsamen Tag. Isabel
verstand, dass Hermann nicht glücklich in Berlin war und sich ohne Helen und
Leon nur halb lebendig fühlte. Und dann war es endlich soweit. Hermann packte die Kracher, Feuerwerkskörper und Raketen in eine Plastiktüte. Leon zappelte vor Aufregung und lief wie ein Gummimännchen durch den Flur. Der
letzte Tag des Jahres erreichte seinen Höhepunkt und sie hatten beschlossen,
das neue Jahr auf dem Teufelsberg zu begrüßen. Isabel rollte Decken zusammen
und füllte Pfefferminztee in die Warmhaltekanne. Helen saß lesend am Küchentisch und ließ sich nicht stören. Sie waren seit einer Woche zu Besuch in
Berlin. Isabel war nett und bemühte sich, trotzdem war sie traurig, wenn sie mit
ansehen musste, wie guter Hermann, sie nannte ihren Vater nicht Papi, sich mit
seiner neuen Freundin verstand. Seitdem sie in Berlin war, wusste sie, dass er
nicht mehr zu ihnen zurückkommen würde. Sie hatte immer noch Hoffnung gehabt. Ihr Vater war nicht zum ersten Mal weggegangen. Das hatte die Mutti
auch gesagt. „Der kommt wieder. Der kann nicht ohne mich leben. Der ist abhängig von mir.“ Aber Helen glaubte der Mutti nicht. Sie konnte überhaupt
niemandem mehr glauben. Die Erwachsenen waren allesamt Lügner. Sie nahmen keine Rücksicht. Sie blickte vom Buch auf. Isabel stand am Spülbecken
und wischte die Warmhaltekanne ab.
„Seid ihr fertig?“, kam Hermann fragend in die Küche und küsste Isabels Nacken. Helen schaute schnell zur Seite. Sie klappte das Buch von Agatha Christie
zu und zog die hohen Turnschuhe an. Ihr Bruder stand vor der Tür, hielt die
Plastiktüte mit den Böllern und Krachern in der Hand und quengelte: „Du trödelst. Das machst du extra.“
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„Lass mich in Ruhe, du nervst“, fauchte sie und steckte die Hände in die Jackentaschen.
„Habt ihr Schal und Handschuhe dabei? Es ist kalt draußen.“ Hermann wollte
Helen den Schal umbinden, doch sie sträubte sich.
„Das kann ich alleine! Ich bin kein Baby mehr.“
„Und du Mopper? Kannst du auch schon alles alleine?“
„Isabel soll mir den Schal umbinden.“
„Was habe ich nur für zwei kluge Kinder“, lachte er und schloss die Tür hinter
sich. Die Nacht war kalt, der Himmel von Sternen bedeckt und viele Menschen
versammelten sich auf dem Teufelsberg, um das neue Jahr zu begrüßen.
Hermann und Leon füllten Sand in Flaschen und steckten Raketen hinein. Isabel
hockte in eine Decke gewickelt auf dem Boden. Helen hielt ihre Armbanduhr in
der Hand und zählte die Sekunden. Um Null Uhr erklangen die Kirchturmglocken der Stadt. Kracher zischten um sie herum, Raketen stiegen in den Himmel
empor und vereinten für Minuten die geteilte Stadt. Vom Teufelsberg aus konnten sie weit in den Osten sehen, über Mauern und Stacheldraht hinweg, funkelte
und blitzte der Himmel. Menschen küssten und umarmten sich, Sektkorken
knallten. Der Geruch von Schwarzpulver erfüllte die Luft. Leons Gesicht glühte
vor Erregung. Helen ließ sich vom Bruder anstecken. Isabel und Hermann standen nebeneinander und sahen den beiden zu.
„Könntest du dir vorstellen, mit mir und den Kindern zusammenzuleben?“
„Ich bin ein phantasiebegabtes Wesen“, lachte sie überzeugt.
*
Isabel wartete im Foyer des „Schweizer Hof“ auf das Eintreffen ihres Vaters
und jüngsten Bruders Bert. Die „Grüne Woche“ hatte begonnen. Die Eingangstür drehte sich schwungvoll und Burkhard beim Stein, gefolgt von seinem
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Jüngsten, stürmte herein. Für den Vater war Berlin die Hölle, denn er befürchtete, dass ausgerechnet dann, wenn er in der Stadt war, die Russen kommen
könnten.
„Wie war die Fahrt?“, fragte Isabel.
„Erinnere mich nicht daran. Ich dachte, die halten mich fest und sperren mich
ein. Ich habe meinen Ausweis vergessen. Hier, das kannst du behalten“, reichte
er ihr ein schwarzweißes Passfoto von sich. „Ich darf drei Tage mit dem Behelfslappen in der Stadt bleiben. Diese Idioten“, schimpfte er. „Ich würde am
liebsten, auf der Stelle wieder abreisen. Wie kann ein Mensch freiwillig hier leben? Komm zurück, Isabel. Ich habe keine ruhige Minute, solange du unter den
Kommunisten lebst.“
Sie wandte sich achselzuckend an ihren kleinen Bruder, drückte ihn und stellte
fest, dass er gewachsen und inzwischen größer geworden war als sie. Sein
schulterlanges Haar glänzte dunkelbraun, fast schwarz. Er sah gut aus in der
Jeans, den Turnschuhen und dem grünen Winterpulli aus Nickistoff. Er hatte
die schmale Nase, die tief liegenden Augen, und die hohen Wangenknochen
seiner Mutter. Mit seinen siebzehn Jahren wirkte er wie ein junger Wilder, unverdorben, sensibel und aufrichtig. Er war der Nachzügler der Familie. Bert
folgte seinem Vater. Sie wollten die Koffer aufs Zimmer bringen. Isabel setzte
sich in die Sitzgarnitur ins Foyer und wartete. Ihr Vater war am Nachmittag zu
einer Veranstaltung eingeladen, Redner war der Präsidenten des Bauernverbandes. Am Abend ging er zum Bankett, danach wollte er sich mit ihr und Hermann in der Hotelbar treffen. Bert entschied sich dafür, den Tag mit seiner
Schwester zu verbringen. Sie fuhren zuerst in die Koloniestraße und holten
Hermann ab. Es war ein kalter und sonniger Februartag. Bert kannte Berlin
nicht und sie fuhren zum Checkpoint Charly. Auf der Aussichtsplattform sahen
sie über die Mauer hinweg, den Todesstreifen, die Schussanlagen und den ganzen Wahnsinn der geteilten Stadt. Isabel konnte sich einfach nicht an die Mauer
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gewöhnen, auch wenn sie zum Alltag gehörte. Sie war Ausflugsziel für Sonntagsspaziergänger, oder diente den Hunden als Ort, um ihr Geschäft zu verrichten, Touristen fotografierten die Attraktion. Die Vopos auf der anderen Seite,
beobachteten sie durch ihre Ferngläser. Isabel wollte einfach nur weg und am
liebsten nicht daran erinnert werden, dass sie in einer geteilten Stadt lebte. Für
die einen war Berlin eine Insel, doch für sie war die Großstadt weiter nichts als
ein buntes Gefängnis, in dem alle eingesperrt waren, sowohl die auf der einen,
als auch die auf der anderen Seite. Sie fuhren weiter zur Gedächtniskirche und
tranken Kaffee im Café Möhring am Tauentzien. Ein livrierter Türsteher ließ sie
herein. Am Piano saß ein älterer Mann und spielte melancholische Lieder. Sie
aßen dicke Stücke Kuchen und Hermann unterhielt sich mit Bert über die Berufsschule. „Was willst du tun, wenn du fertig bist?“
„Papa meint, ich soll eine Banklehre machen.“
„Und was meinst du?“
„Ich mache das, was Papa sagt. Er weiß, was richtig für mich ist. Er bereitet
mich vor und plant meine Zukunft.“
„Hast du dir nie Gedanken darüber gemacht, was du willst?“
„Ich will das, was Papa will. Ich mache den Jagdschein. Er ist mein Vorbild. Ich
will so werden wie er und kann viel von ihm lernen“, schwärmte Bert.
Die Lichter der Großstadt flimmerten prächtig. Sie liefen über den Kurfürstendamm, folgten den Seitenstraßen und aßen Pizza am Savigny Platz. Sie kamen
spät am Abend zum Hotel Schweizer Hof. Burkhard beim Stein und sein Geschäftspartner Egon, warteten bereits in der Bar auf sie, saßen müde in den
Clubsesseln und nörgelten über die Stadt, die Menschen und über das Überhaupt. Burkhard wollte zum wievielten Male sofort wieder abreisen und Egon
weigerte sich weiterhin beharrlich ihm zu folgen. Isabel und Hermann bestellten
Wein, Bert wollte eine Cola trinken, Burkhard und Egon blieben beim Cognac.
222
„Warum seid ihr so schlecht gelaunt?“, fragte Isabel. „Ist etwas vorgefallen?“,
ließ sich nicht täuschen. Der Geschäftspartner ihres Vaters plauderte los, erzählte, dass sie gleich nach dem Abendessen die Veranstaltung verlassen, ein
Taxi genommen und den Fahrer gefragt hätten, wo sie etwas erleben könnten.
Der Taxifahrer mit der Schirmmütze, hatte sie zum Salambo (dem besten Stripteaselokal der Stadt) gebracht, den fünfzig Markschein entgegen genommen
und war dankend davongefahren, ohne das Wechselgeld zurückzugeben. Burkhard versuchte Egon am Weiterreden zu hindern, doch der war in Fahrt und sein
Redefluss nicht mehr zu bremsen. An der Bar im Salambo wurden sie von schönen Frauen umringt, gaben freizügig Getränke aus und fühlten sich geschmeichelt. Nach einer Stunde hatten sie kein Geld mehr in der Tasche. „Ich
musste tausend Mark bezahlen. Das ist Raub und Egon hatte natürlich wieder
keinen Pfennig dabei!“, beschwerte sich Burkhard beim Stein. „Aber das sage
ich dir, die fünfhundert Märker zahlst du mir zurück“, schimpfte er.
Isabel kicherte. „Die Frauen wollen auch leben“, meinte sie süffisant. „Und ihr
könnt euren Geschäftsfreunden erzählen, was ihr für Helden seid, damit die
auch was zu lachen haben.“
„Deine Tochter findet, dass wir uns wie zwei Dorftrottel verhalten haben. Wenn
man bedenkt, dass wir große Geschäftsleute sind. Lass mal, deine Tochter ist
schon richtig“, zwinkerte ihr Egon zu und bestellte eine neue Runde.
Burkhard beim Stein wunderte sich über Isabel. Sie war selbstbewusst. Sie
würde nicht zu ihm zurückkehren. In ihren Augen erkannte er eine unüberwindbare Distanz, Zweifel, Misstrauen und er ahnte, dass sie ihm nicht verzeihen
konnte, selbst wenn sie wollte. Ihr bedingungslose kindliche Liebe, hatten ihn
die schlimmsten Alpträume überstehen lassen, obwohl der Krieg längst vorbei
war und er auch noch fünf Jahre Kriegsgefangenschaft überlebt hatte. Burkhard
beim Stein fühlte sich elend. Der Preis war zu hoch. Es gab keine Hoffnung. Er
wollte seine Tochter nur ansehen, wie damals. Sie war das Licht und die Freude
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gewesen. Ein Kind das ihn glücklich machte und Trost spendete, wo vorher nur
Krieg und Kampf gewesen waren. Damals hatte er keinen Funken Anstand
mehr in sich gehabt, alles war ihm egal gewesen, er hatte gehasst, sich, den
Krieg und sein Weib, das immer mehr wollte und nicht genug bekam. Er liebte
seine Tochter und hatte sie geopfert, um die Familie zu retten. So war das gewesen. Er bestellte noch eine Runde Cognac, um seine Erinnerungen zu ertränken. Isabel saß schweigend neben Hermann im Wagen und schluckte die Tränen herunter. Was war das, was sie in sich fühlte? Chaos, Schmerz, Abschied.
Wenn sie sich ihrem Vater näherte und versuchte, den Abgrund zu überbrücken,
fiel sie ohne Halt und Hoffnung auf Besserung. Wenn sie distanziert war, fühlte
sie sich ebenfalls verloren. Was sie auch versuchte, die Einsamkeit blieb. Gerade nach einem Abend wie diesem, an dem sie sich stark und frei gefühlt hatte,
war der Absturz umso schmerzhafter. Sie konnte sich nie sicher sein. Die Extreme erschienen unüberwindlich und die Widersprüche unlösbar. Durch den
sexuellen Missbrauch, war etwas Elementares in ihr zerstört worden. Sie konnte
ihrem Vater ansehen, dass er sein Verhalten bereute und sich dafür schämte, er
hatte sich sogar entschuldigt, doch was half das? Vielleicht jetzt noch nicht“,
dachte sie „doch wer weiß, vielleicht später?“
„Ich will nicht mehr leiden. Schluss, Aus, Ende, Basta!“
VII
Die kahlen Bäume standen wie Skelette am Straßenrand. Im Kachelofen brannten die Briketts nieder. Die Wärme reichte nicht aus, um dem großen Zimmer
einzuheizen. Isabel fror und fühlte, dass das Leben um sie herum, ihr Innerstes
nicht wirklich berührte. Sie warf die Bettdecke beiseite und öffnete vorsichtig
224
die Flügeltür. Hermann lag lesend im Bett und freute sich, als sie sich neben ihn
legte. Sein warmer Körper roch vertraut und seine Nähe wirkte beruhigend.
„Heute möchte ich dich beschützen“, meinte sie und schob ihren Arm unter seinen Kopf. „Heute möchte ich stark sein für dich und auf deine wortlosen Fragen
antworten. Ich gehe überall mit dir hin“, sagte sie einfach so, intuitiv, ohne
nachzudenken und spürte, wie Hermann nachgab.
„Ich will zurück nach Freiburg, Isabel“, schluckte er die Niedergeschlagenheit
herunter. „Ich weiß, dass du dort unglücklich warst, doch meine Kinder brauchen mich. Sie alleine bei Szilvia zu lassen, in ihrer Obhut, das kann ich nicht
verantworten. Berlin ist zu weit entfernt. Ich wollte mit dir ein neues Leben
beginnen, doch ich vermisse die beiden. Sie müssen die Härte und Demütigung
von Szilvia alleine tragen. Ich habe Angst um sie und um uns.“
„Um uns brauchst du dir keine Sorgen zu machen, du verlierst mich nicht. Rede
mit mir, mauer dich nicht ein, verschließ dich nicht. Ich kann sehr viel aushalten, doch mit dir einsam zu sein, das ist die Hölle. Ich brauche deine Nähe und
das Gefühl, von dir geliebt zu werden. Sei mein Freund, zeige mir, dass du mir
vertraust“, meinte Isabel.
„Ich habe die Verachtung von Szilvia in den Augen meiner Kinder gesehen. Sie
geben mir die Schuld und ich kann nichts dagegen tun. Ich fühle mich zerrissen,
egoistisch und verantwortungslos. Ich möchte nicht ohne Helen und Leon leben.
Alle verlangen von mir, dass ich zu Szilvia zurückkehre, meine Eltern, Leon
und Helen, selbst meine Freunde setzen mich unter Druck. Sie geben mir das
Gefühl, ein schlechter Mensch zu sein. Ich wehre mich gegen ihre Stigmatisierungen, doch ich verliere mehr und mehr den Boden unter den Füßen. Ich will
dich nicht mit in den Abgrund reißen und sehe, dass ich dich unglücklich mache.“
„Du bist ein sensibler Mann, Hermann. Wenn es dir hilft, ziehen wir wieder
nach Freiburg. Ich liebe dich dafür, dass du dich um deine Kinder sorgst und die
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Verantwortung nicht einfach abgibst. Dennoch dürfen sie dir keine Schuldgefühle einflößen, weil du versuchst dein Leben zu retten. Erinnere dich. Du warst
am Ende und wolltest dich aufhängen.“
„Und du wolltest nie mehr nach Freiburg zurückkehren.“
„Vergiss es.“
„Bist du sicher?“
„Es gibt keine Sicherheit. Ich gehe überall mit dir hin und wenn es sein muss auch zurück.“
*
Isabel drehte sich auf die Seite und zog die Bettdecke über den Kopf. Sie mochte nicht aufstehen und suchte nach Gnade vor den unwillkürlich folgenden Gedanken. Sie hatte von einem alten Indianer geträumt, der zu ihr sagte: „Verliere
dich nicht.“
Hermann brachte ihr eine Tasse Tee ans Bett. Er setzte sich in den Sessel neben
den Kachelofen und schwieg. Schweigen, filigran wie die Flügel einer Libelle
und zärtlich wie der Augenaufschlag eines Freundes. Hermann saß da, in seinem abgeschabten blauen Bademantel und streckte die langen Beine aus. „Bist
du sicher, dass du wieder zu deiner Familie fahren willst, Isabel?“, fragte er.
„Jedes Mal wenn du zurückkommst, müssen wir deine Scherben aufsammeln.“
„Ich kann und will nicht davonlaufen.“
„Versprich mir, dass du auf dich Acht gibst, dich nicht erniedrigen und verletzen lässt und sofort abreist, wenn es dir zuviel wird. Ich will nicht, dass du tagelang weinst. Es ist unerträglich dich verzweifelt zu sehen. Ich liebe dich, Mariposa.“
226
Isabel umarmte Hermann zum Abschied, atmete seinen Geruch ein, küsste ihn
und eilte davon. Der Renault 5 stand direkt vor der Haustür. Sie warf den
schwarzen Lederbeutel auf den Rücksitz, legte den Poncho auf die Ablage und
setzte sich hinters Lenkrad. Sie schob den Fahrersitz in Position, zog den Choker heraus, drückte das Gaspedal ein-, zwei-, dreimal ganz durch und startete
den Motor. Der Wagen sprang sofort an. Sie stellte den Rückspiegel ein,
schnallte sich an und fuhr aus der Parklücke auf die Werftstraße, bog links in
die Turmstraße ein, am Moabiter Knast vorbei, sah hinauf zu den kleinen vergitterten Fenstern und dachte an die Wiederholung des Abschiednehmens. Sie
schob die Musikkassette in den Rekorder. „Ich habe keine Angst vor dem Tod.
Es ist als ob du von einem Wagen in den nächsten steigst“, übersetzte ein Sprecher John Lennon, in seinem letzten Interview. Isabel fuhr auf den Stadtring
und konzentrierte sich auf den Verkehr. Der Blinker klickte nervös. Das ICC
lag wie ein gestrandetes Schiff im Dunst des Morgens. Vielleicht hatte sie
Glück und gehörte zu den ersten Reisenden an der Grenze zur DDR. Hinter den
Bäumen tauchten die Wachtürme auf, Dreilinden. Die Straße verengte sich,
Sperren aus spitzen Eisenzacken, die im Boden versenkt waren, dienten als
Blockaden, Stacheldraht umspannte das Gelände. Lichtanlagen überfluteten die
entfremdete Grenzwelt. Isabel machte die Musik leiser und näherte sich der
Kontrollstelle. Ein mürrischer Uniformierter nahm ihren Personalausweis entgegen, starrte sie mit bewegungsloser Mine an, sagte jedoch keinen Ton und
forderte sie per Handbewegung, zum Weiterfahren auf. Isabel rollte im Schritttempo am glasüberdachten Fließband vorbei, auf dem ihr Pass zur nächsten
Kontrollstelle befördert wurde und stoppte vor dem zweiten Grenzposten. Ausnahmsweise lief alles reibungslos. Zwanzig Minuten später fuhr sie auf der Autobahn durch die Deutsche Demokratische Republik. Sie fühlte sich jedes Mal
beobachtet und wollte einfach nur schnell durchkommen, hielt sich nicht an die
Geschwindigkeitsbegrenzungen und verließ sich auf die entgegenkommenden
227
West-Fahrzeuge, die vor jeder Radarfalle durch heftiges Lichthupen warnten.
Auf den Autobahnen der DDR funktionierte die bundesrepublikanische Solidarität noch.
*
Burkhard beim Stein saß am Esstisch und sah aus dem Fenster. Er hätte längst
im Büro sein müssen, doch er konnte nicht aufstehen. Sein Prokurist wartete bereits auf ihn. Seiner Sekretärin hatte er vor Stunden telefonisch mitgeteilt, dass
er spätestens gegen Mittag in der Firma sein würde, doch er rührte sich nicht
von der Stelle. Sein Schwung, sein Lebensmut, selbst sein Zorn hatten sich zurückgezogen. Er fühlte sich leer und einsam. Beim Blick über die steifgefrorenen Felder, die bis zum Horizont reichten, sah er den Raben zu, die sich in
Scharen auf dem Boden niedergelassen hatten. Er konnte an nichts anderes denken als an den Tod. Er hatte ihn gleich wiedererkannt, wie er am Wegesrand
stand, den Hut lässig aufgesetzt posierte und mit der skelettierten Hand winkte.
Burkhard beim Stein hörte Isabel nicht. Sie hatte einen eigenen Schlüssel für
das Apartment. „Was ist mit dir Papa?“, fragte sie. „Du siehst aus, als hättest du
ein Gespenst gesehen“, erschrak sie über sein schlechtes Aussehen. „Du bist
da“, antwortete er. „Das ist das Wichtigste“. Seine Schultern sackten zusammen, die breiten Hände lagen schlaff auf der Tischplatte. Der Kühlschrank hörte
auf zu brummen. Die Kaffeemaschine beendete den Brühvorgang. Ein Auto
rumpelte über das Kopfsteinpflaster, danach war es still. Isabel setzte sich
schweigend an den Tisch, faltete die Hände und ließ ihren Vater nicht aus den
Augen. Als kleines Mädchen hatte sie versucht, seine Gedanken und sein Verhalten zu durchschauen, und sie hatte gehofft, dass wenn sie wie ihr Vater dächte, sie sich vor seinen Abgründen würde schützen können.
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„Ich verstehe dich nicht, hast du denn gar keinen Stolz?“, raffte sich Burkhard
beim Stein auf. „Ich habe etwas erreicht, habe Macht über dreihundert Menschen, habe alles unter Kontrolle, doch du bist mir vollkommen entglitten.“
„Ich bin dir nicht entglitten, Papa, ich gehe meinen eigenen Weg und selbst du
kannst mich nicht aufhalten. Das ist der Preis.“
„Der Preis wofür? Manchmal denke ich wirklich, du bist nicht ganz bei Trost.
Wenn du dir doch nur von mir helfen lassen würdest?“, beschwor er sie.
„Du kannst mir nicht helfen, Papa. Du kannst es nicht rückgängig machen. Der
sexuelle Missbrauch hat mein Vertrauen gebrochen. Ich habe mir Hilfe gesucht
und gehe jetzt einmal in der Woche zu einem Psychotherapeuten.“
„Ich halte nichts davon“, meinte Burkhard beim Stein.
„Für dich wäre das auch gut. Der Krieg und 3 Jahre Kriegsgefangenschaft haben dich traumatisiert, sonst hättest du das nicht getan.“
„Mir kann niemand helfen. Es ist zu spät, Kind.“
„Nenne mich nicht Kind. Ich möchte nicht dein Kind sein, das war eine zu
schmerzvolle Erfahrung. Ich leide unter Ekel und Selbsthass. Ich weiß nicht, wo
ich zuerst anfangen soll? Deshalb beginne ich ganz von vorne.“
„Kannst du es nicht vergessen, so wie früher?“, fragte der Vater. „Willst du alles kaputt machen? Was hast du vor? Schweige, wenigstens schweigen wirst du
doch können?“
„Ich muss meine Psyche retten, ob all des Untergründigen in mir. Ich will kein
böser Mensch werden. Ich will leben, lieben und verzeihen. Ich will nicht hassen und müssen, will nicht zugrunde gehen am Schweigen, Verheimlichen und
Unterdrücken. Ich will frei sein.“
„Das wünsche ich dir - und mir, Isabel“, sagte Burkhard beim Stein und erhob
sich schwerfällig. „Ich weiß“, antwortete sie. Er sah müde aus. Isabel brachte
ihn zur Tür. „Mach’s gut“, sagte sie und küsste ihn zum Abschied. „Mach’s
besser“, antwortete er und stieg die Treppe hinab. Einer inneren Regung fol-
229
gend, lief sie auf den Balkon und wartete bis ihr Vater aus dem Haus trat und
tatsächlich drehte er sich noch einmal um, schaute zu ihr hoch und winkte.
*
Isabel wachte schweißgebadet auf. Laken, Bettzeug und Kissen fühlten sich
klamm an. Auf dem Zifferblatt des Weckers leuchteten die phosphoreszierenden Zeiger, fünf Uhr zehn. Durch das geöffnete Fenster hörte sie quietschende
Rollläden. Auf der anderen Straßenseite verabschiedete sich der Kneipenwirt
von seinem letzten Gast. Sie hatte geträumt und erinnerte sich - Sie war hinter
dem Haus ihrer Familie entlanggelaufen, am Wäldchen vorbei, zwischen Volksbank und Neuanbau. Der Magnolienbaum ragte in den winterkalten Himmel.
Der gefrorene Boden knackte unter ihren gefütterten Stiefeln. Ein großer
schwarzer Hund überquerte das Grundstück und verschwand hinter der Hecke.
Sie schaute in die Richtung, aus der das Tier gekommen war und sah ihren Vater an der Hauswand zusammensacken. Sie eilte zu ihm und kniete nieder.
Burkhard beim Stein bewegte seine Lippen ohne Sprechen zu können. Seine
Augen flehten um Beistand. Sie setzte sich zu ihm und legte seinen Kopf in ihren Schoß. Im Traum wanderten sie durch eine felsige Schlucht und folgten
dem Gebirgsbach, der sich durch das Tal schlängelte. Am Ufer wuchsen wilde
Pflanzen, die süßlich dufteten. Das rote Haar des Vaters glänzte im Sonnenlicht.
Er war ihr weit voraus geeilt. Sie hörte sein Echo durch die Schlucht hallen:
„Befrei dich!“ und war zurück auf der Terrasse. Ihr Vater lag ausgestreckt auf
den Steinplatten. Er sah sie an. Seine Augen waren weit aufgerissen und schienen Großes zu erfassen, doch das konnte sie nicht sehen, so sehr sie sich auch
bemühte, sie vermochte seinem Blick nicht zu folgen. Er glitt in Tiefen hinab,
zu denen sie keinen Zutritt hatte. Sie hörte seine Stimme „geh und lass dich
nicht aufhalten“, flüsterte er, dann war es still.
230
*
Die Tür zur Intensivstation wurde aufgeschoben. Eine Ordensschwester führte
Isabel und Hermann durch einen kahlen Raum, zog einen der Vorhänge beiseite
und sagte: „Fünf Minuten.“ Burkhard beim Stein lag mit nacktem Oberkörper
auf einer Liege. Aus seiner Nase, dem Mund und den Armen ragten Schläuche
in allen Größen. Auf einem weißen Regalbrett standen blinkende piepsende Geräte. Die Herz-Lungen-Maschine presste einen erbarmungslosen Takt, das
„Dschong-Tschi-Dschong“ der Mechanik übertönte die letzten Hoffnungsschimmer, während draußen eine kalte Sonne schien. Isabel legte ihre Hand auf
den mit Sommersprossen bedeckten Handrücken ihres Vaters. Die Hand war
noch warm. Ihr Vater war nicht nur schlecht gewesen. Er hatte sie zum Lachen
gebracht, sie getröstet, mit ihr über das Leben und seine Sicht der Dinge philosophiert und sie hatte ihm zugehört, stundenlang. Seine Geschichten waren
spannend und lustig gewesen, seine Herzlichkeit und lebendige Art hatten sie
angezogen, er hatte sie mitgenommen und ihr seine Welt gezeigt. Die ersten
drei Jahre waren sehr gute Jahre gewesen. Es heißt, sie seien die Wichtigsten.
Das was folgte waren Abgründe, die sie überwinden wollte. Isabel zweifelte
nicht daran, dass sie ihren Vater geliebt hatte. Sie fühlte, dass sie im Angesicht
des Todes, sein Verhalten rationalisierte: Der 2. Weltkrieg und die Gefangenschaft hatten aus Männern rücksichtslose Soldaten gemacht, die mordeten,
brandschatzten und vergewaltigten. Die „Stunde Null“ hatte es nicht gegeben.
Die traumatisierten Männer brachten ihre Angst mit nach Hause, in ihre Familien und verdrängten, um funktionieren zu können. Sie redeten nicht über das
Erlebte und vererbten den Tabubruch an ihre Söhne und Töchter weiter, so als
wäre nichts geschehen. Das Tabu war nicht der sexuelle Missbrauch sondern
darüber zu sprechen.
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Hermann fuhr vom Krankenhaus zum Steinschen Anwesen. Antonia saß alleine
am Esstisch. „Wir müssen jetzt alle sehr tapfer sein“, meinte sie. „Papa ist am
Schreibtisch zusammengebrochen. Er hat Zeitung gelesen“, zögerte die Mutter,
sah zuerst Hermann und dann Isabel an. Schweren Herzens sagte sie: „Papa war
bei Pia, du weißt ja, hinten in seinem Büro. Sie hat ihn auch gefunden. Doktor
Schilfmann war gerade in der Gaststätte und konnte sofort helfen. Wenn er
nicht da gewesen wäre, hätte Papa es nicht mehr lebend ins Krankenhaus geschafft. Warst du schon bei ihm?“, schaute sie ihre Tochter mutlos an. „Ja, wir
kommen gerade von dort.“ Bert stand in der Esszimmertür. Als er Isabel sah,
schrie er seine Angst heraus und brach weinend zusammen. Hermann brachte
ihn ins Wohnzimmer und blieb bei ihm. Isabel hörte den kleinen Bruder
schluchzen und Hermanns ruhige sanfte Stimme ihn trösten.
„Soll ich euch Frühstück machen?“, fragte die Mutter. „Ihr seid sicher hungrig?“
„Nein danke, Mama, ich habe keinen Hunger. Papa ist so alleine, können wir
nicht zu ihm fahren und Wache halten?“
„Nein. Das geht nicht, Kind. Papa ist auf der Intensivstation, da kann man nicht
einfach herumsitzen und stören.“
Bert, Isabel und Hermann warteten im Esszimmer. Die Mutter und der große
Bruder waren zum Krankenhaus gefahren, um mit dem Chefarzt zu sprechen.
Bert saß auf seinem Stuhl. Er war über Nacht ergraut und rauchte eine Zigarette
nach der anderen. Isabel starrte auf die Schiebetür, als die Mutter eintrat.
„Diesmal hat der Papa kein Glück gehabt“, sagte Antonia, setzte sich auf den
blaubezogenen Armlehnstuhl und schüttelte den Kopf. „Doktor Schopf hat das
Todesurteil für Papa ausgesprochen. Eine Ader ist über dem linken Ohr geplatzt“, stöhnte sie.
„Da ist nichts mehr zu machen“, sagte Bernhard.
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„Rede nicht so als ob Papa schon tot wäre!“, schrie Bert hysterisch. „Er darf
nicht sterben. Ich lerne ihn doch gerade erst kennen. Jetzt wo ich meinen Jagdschein gemacht habe! Wer bringt mir alles bei, wenn Papa nicht mehr da ist?
Papa ist zäh, er kommt bestimmt wieder auf die Beine. Ihr werdet sehen. In ein
paar Wochen gehen wir wieder gemeinsam jagen.“ Antonia weinte bei den
Worten ihres Jüngsten. Stunde um Stunde schlich durch das Haus. Die Ewigkeit
hatte begonnen und die Welt sich auf unbestimmte Zeit verabschiedet. Sie warteten und warteten, saßen stumm und bewegungslos am Esstisch, gefesselt von
der nahenden, unausweichlichen Wahrheit, als am 23. Dezember, um kurz nach
dreiundzwanzig Uhr, das Telefon klingelte. Der Platz ihres Vaters würde leer
bleiben. Niemand konnte ihn ersetzen. Er riss eine Lücke, breit wie eine Bresche durch die Familie und ein ebensolch großes Loch in ihre Herzen. Und dennoch erlöste sie die Todesnachricht aus der Erstarrung und alle gingen vollkommen erschöpft ins Bett.
Isabel träumte von einem plüschigen Ballsaal. Kronleuchter hingen von der Decke. Rote samtbezogene Wände umgaben die Feiernden. Die Menschen tanzten
im Walzertakt. Auf den ersten Blick schien alles ganz normal zu sein. Sie sah
ihren Vater auf der anderen Seite der Tanzfläche. Er schaute sie aus leeren Augen an. Sie wollte zu ihm laufen, doch die Tanzenden bildeten eine undurchlässige Mauer und ihr Lachen klang boshaft und gemein. Isabel erwachte mit
Kopfschmerzen und einem pelzigen Geschmack auf der Zunge. Die Erinnerung
schlug wie ein Blitz ein. Sie hörte Stimmengewirr aus dem Flur. Die Nachbarn
waren gekommen, um Trauerkarten zu schreiben. Sie holte die Anziehsachen
aus der Reisetasche: Stiefel, Strumpfhose, Rock, Pullover und Strickjacke, alles
schwarz, die Gedanken und Gefühle, die Sinne und der Tod, schwarz bis in den
letzten Winkel und kein entweichen.
233
„Du bist schon wach?“, fragte die Mutter, die durch den Flur eilte. „Komm, ich
mache dir Tee und etwas zu essen.“ Antonia betrachtete Isabel von oben bis
unten, mit strengem Blick. „Das kannst du gut zur Beerdigung anziehen“, stellte
sie zufrieden fest. „Heute Nachmittag wird der Sarg aufgebahrt. Ich habe mit
dem Leichenbestatter ausgemacht, dass der Sargdeckel heute Abend geschlossen wird. Ich will nicht, dass alle Leute Papa begaffen. Ich weiß nicht, ob ich
das durchhalte? Ich habe acht Geschwister unter die Erde gebracht, meine Mutter, die viel zu früh gestorben ist und meinen Vater, aber ich weiß nicht, ob ich
das jetzt durchstehe?“
Am Nachmittag machten sich die drei Geschwister auf den Weg zum Friedhof.
Michaela und Hermann folgten ihnen. Antonia blieb bei ihrem Enkelkind. Die
Leichenhalle war aus rotem Backstein gebaut. Ein schmaler Lichtstreifen fiel in
den fensterlosen Raum. Der Tod roch nach Lilien und Chrysanthemen. Im
schweren Sarg, umgeben von Kränzen und Sträußen, lag Burkhard beim Stein
aufgebart, unter einer weißen Satindecke, in seinem besten schwarzen Anzug,
mit weißem Hemd und schwarzer Krawatte, die Hände auf der Brust gefaltet.
Sein Haar war gekämmt, das Gesicht rasiert und sein Mund zeigte ein entspanntes Lächeln. Der Tod hatte ihn nicht gequält, ihn nicht leiden lassen und
mitten aus dem Leben gerissen, gerade so wie er es sich gewünscht hatte. Isabel
berührte seine Hand. Sie war kalt, glatt und stumpf wie Wachs. „Ich komme
später noch einmal wieder, Papa“, flüsterte sie und wandte sich weinend ab.
„Weißt du, wo dein Vater beerdigt wird?“, fragte Hermann und trat neben sie,
als sie draußen standen. „Ja, im Familiengrab“, schnäuzte sie sich. „Mein Großvater, meine Oma und mein Onkel liegen bereits dort. Komm, ich zeige es dir.“
Ein geplätteter Sandweg führte zur Grabstelle des beim Stein Clans. „Das
nächste Grab muss es sein“, suchte Isabel und blieb vor einer großen, doppelseitigen Grabstätte stehen. „Das hier ist es. Es ist Teil des Kreuzwegs. Während
der Karwoche wird an jeder Station gebetet, der Pfarrer schwenkt das Weih-
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wasser und die Pfarrgemeinde bittet für die Sünder, jetzt und in alle Ewigkeit,
Amen“, versuchte sie ironisch zu sein. „Der Baum ist alt“, meinte Hermann beeindruckt. „Ich habe noch nie einen Baum auf einem Grab wachsen sehen.“
„Mein Vater wird darunter beerdigt werden. Manchmal stelle ich mir vor, dass
alle da sind, wenn man tot ist, dass man sich wieder sieht und ein großes Fest
zusammen feiert, im Jenseits. Doch wahrscheinlich hat sich mein Vater gleich
in den warmen Süden aufgemacht und lacht über uns. Wer weiß? Vielleicht
kommt er zur Beerdigung und sieht sich an, was wir so treiben, wie viele kommen und ob wir auch weinen? Wenn man tot ist, gibt es keine Grenzen, keine
Zeit und keinen Raum, man kann überall sein.“
„Woher weißt du das?“
„Ich weiß es nicht, ich denke es mir, ich stelle mir das so vor. Als ich ein Kind
war, habe ich mir gewünscht, dass einer zurückkommt und mir sagt, wie das ist,
tot zu sein?“
„Ich glaube nicht an ein Leben nach dem Tod.“
„Ich auch nicht“, zuckte Isabel mit den Schultern. „Ich glaube, dass der Tod ein
Teil des Lebens ist und nicht sein Ende, so wie eine Transformation. Nichts
geht verloren. Es entsteht etwas Neues.“
*
Antonia redete hysterisch auf Bernhard ein: „Ich will nicht, dass sie kommt.“
„Wie soll ich das machen, Mama?“
„Das ist mir egal. Sage ihr, dass es einen Skandal gibt, wenn sie zur Beerdigung
erscheint.“
„Es werden so viele Menschen anwesend sein, sie wird gar nicht auffallen.“
„Dir ist das wohl völlig egal. Du hast ja kein Herz. Diese Frau hat meine Ehe
zerstört. Papa ist bei ihr gestorben und jetzt will sie auch noch zur Beerdigung
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kommen! Nur über meine Leiche“, meinte Antonia außer sich vor Empörung.
Ihre Stimme klang scharf wie ein Rasiermesser. „Wenn du dieses Weib nicht
davon überzeugst, der Beerdigung fern zu bleiben, garantiere ich für nichts.
Und noch etwas, Bernhard! Kein Wort, zu niemandem! Es ist eine Schande,
dass er bei ihr gestorben ist. Wie konnte er mir das antun? Versprich mir, dass
die Hure nicht kommt.“
„Ich versuche es und fahre am Besten gleich zu ihr“, antwortete er.
„Am Nachmittag kommen die Verwandten“, meinte Antonia ungeduldig.
Isabel traf Bernhard in der Küche. „Hast du Angst?“, fragte sie direkt.
„Ich wüsste nicht wovor?“
„Du leitest jetzt die Firmen und die Verantwortung liegt bei dir.“
„Denke nicht, dass es mit Papa leicht war.“
„Ich verstehe. Ich habe dein Gespräch mit Mama gehört. Richte Pia bitte von
mir aus, dass es mir Leid tut, und dass ich nichts dagegen gehabt hätte, wenn sie
zur Beerdigung kommt. Sie war fast zwanzig Jahre mit unserem Vater zusammen. Es muss schwer sein für sie. Weißt du, wie es ihr geht?“
„Das interessiert mich nicht. Ich muss los. Wir sehen uns später.“
„Sag mal, Kind, der Hermann, der muss doch sicher auch bald nach Hause?
Seine Kinder warten bestimmt schon auf ihn“, erkannte Isabel den lauernden
Unterton in der Stimme ihrer Mutter. „Papa hat das gar nicht gepasst, das mit
Hermann und dir. Der nutzt dich doch nur aus. Sei vernünftig! Der Mann ist
nichts für dich. Tue es Papa zuliebe und schicke ihn weg. Isabel war sprachlos.
Sie hatte nicht mit dem Hieb gerechnet. Die Misstöne klangen nach und verfehlten ihre Wirkung nicht. Sie suchte einen ruhigen Ort, setzte sich an den Gartentisch in den Partykeller und schrieb einen Brief an ihren Vater.
Während in anderen Kulturen, Gold und Brillanten zu Ehren der Toten ins
Grab gelegt werden, gebe ich Dir etwas Geschriebenes mit auf deine lange
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Reise. Das ist meine Art Dir Lebewohl zu sagen. Dein Tod schmerzt. Ich weiß
nicht ob es mich tröstet, frei zu sein. Was zählt ist die Liebe. Du warst ein
Kämpfer. Deine Beharrlichkeit war sprichwörtlich. Deine Härte hat Steine
zermürbt und dein Drang nach Erfolg, hat dich reich gemacht. Ich kann die
Widersprüche nicht lösen. Materieller Erfolg bedeutet mir nichts. Was die
anderen sagen, hat mich nicht zu kümmern. Ich gehe meinen Weg so konsequent wie du den deinen gegangen bist, und wünsche mir, dass eines Tages
die Abgründe zwischen uns überbrückbar sein werden. Wichtig ist, dass zwischen uns nichts Unausgesprochenes geblieben ist und nichts Wesentliches
verschwiegen wurde. Auf eine seltsame Weise scheint alles geklärt. Es fällt
mir nicht schwer, Dich gehen zu lassen, auch wenn die Endgültigkeit unvorstellbar ist. Ich bin stark, Deine Tochter, Isabel beim Stein.
Sie begriff was Totenstille bedeutet und näherte sich langsam dem Sarg. Sie
schlug die weiße Steppdecke beiseite und berührte die Brust ihres Vaters, schob
den Brief in die Innentasche seines Jacketts und zog die Decke wieder glatt.
Dann beugte sie sich über ihn und küsste die kalte Stirn. Sie strich über die
fuchsroten Haare des Vaters und sagte: „Ich tue was ich kann, um dir zu verzeihen und gebe das Vertrauen nicht auf. Ich breche das Tabu des Schweigens und
vergesse dich nicht“, sagte sie. Zwei Männer traten in die Leichenhalle. „Wir
sollen den Sarg schließen“, sagte der kleine Dicke. „Ich weiß“, antwortete Isabel und ging hinaus in die «vaterlose Gesellschaft».
„Ein Riese steht auf seinen Füßen und die Erde zittert. Ich schüttele das Laub
von meinen Schultern in dem ich lag und schlief! Doch jetzt bin ich aufgewacht
und durchbreche Mauern.“
Hermann schrieb diese Zeilen in sein Tagebuch, während um ihn herum die
Atmosphäre vor Anspannung und Gereiztheit zu explodieren drohte. Antonia
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hatte in den letzten Tagen unaufhörlich gestichelt und versucht ihn zu verletzen,
damit er endlich weggeht. Sie telefonierte mit Bernhard und schrie ihn an: „Der
Nerzmantel ist braun! Damit gehe ich nicht zur Beerdigung! Was sollen die
Leute denken?“ Was immer der älteste Sohn antwortete, es machte Antonia nur
noch wütender. „So redest du nicht mit mir! Wenn ich sage, ich brauche einen
schwarzen Pelzmantel, dann ist das so! Es kommen große Leute, die sollen
nicht denken, dass ich nach Papas Tod nicht genug Geld habe, um mir einen
passenden Mantel für die Beerdigung zu kaufen.“ Isabel kam ins Esszimmer.
„Guten Morgen. Was ist denn hier los?“, fragte sie. „Deine Mutter sorgt sich
um ihr Aus- und Ansehen“, ironisierte Hermann die bloßliegenden Nerven. Je
näher die Beerdigung rückte, desto gehässiger wurde die Atmosphäre. Antonia
legte den Hörer auf. „Was für einen Mantel ziehst du zur Beerdigung über?“,
wollte die Mutter von Isabel wissen. „Mama, bitte nicht. Ich halte so ein Gespräch jetzt nicht aus. Sei nicht so unsensibel und rede über Klamotten mit mir.
Ich habe alles zum Anziehen, was ich brauche.“
„Du willst doch nicht mit dem schwarzen Ungetüm auf die Beerdigung gehen?“, schrie Antonia empört. „Das kommt überhaupt nicht in Frage. Das lasse
ich nicht zu!“
„Mama, bitte, hör auf!“, bat Isabel.
„Und Sie, Hermann?! Wollen Sie nicht endlich zu ihrer Familie fahren? Sie
passen nicht zu uns. Mein Mann mochte Sie nicht. Und ich mag Sie auch nicht.
Warum lassen Sie uns nicht in Ruhe trauern? Sie stören“, baute sich Antonia
vor ihm auf und zischte bedrohlich: „Verschwinden Sie endlich!“ schrie sie.
„Merken sie denn gar nicht, dass Sie nicht dazugehören? Ich habe die ganzen
Tage nichts gesagt, weil meine Tochter wollte, dass Sie hier bleiben. Aber denken Sie nicht, dass mir das passt“, sagte sie eiskalt. Hermann sprang auf und sie
standen sich gegenüber. Antonia erhob die Hand. Isabel stellte sich zwischen
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ihre Mutter und Hermann. „Es tut mir leid, Hermann. Meine Mutter steht unter
Schock.“
Bert eilte aus der Küche herbei und schrie Hermann an: „Raus! Verschwinde
aus meinem Haus. Auf der Stelle! Hast du nicht verstanden? Wir wollen dich
bei der Beerdigung nicht dabei haben. Du bist hier nicht willkommen! Wie
kannst du es wagen, meiner Mutter zu drohen? Du bist doch kein Mensch!“
„Es tut mir Leid, Isabel“, schob Hermann sie beiseite. „Ich muss jetzt gehen.“
„Ich weiß, Liebster! Ich schäme mich für meine Familie.“
„Schon gut, Posa. Es ist nicht deine Schuld. Fährst du mich bitte zum Bahnhof?“
„Ich würde am liebsten mitkommen“, erklärte sie.
„Du willst zur Beerdigung deines Vaters! Seinetwegen, und um eurer Geschichte Willen, um sie zu Ende zu bringen, musst du hierbleiben und stark
sein. Ich kenne dich gut genug, um zu wissen, dass du dir das nicht verzeihen
könntest.“
„Denkst du nicht, dass ich nicht zu dir halte, wenn ich dich jetzt alleine fahren
lasse?“
„Ich weiß warum du bleibst und ich finde es richtig. Deine Familie kann sich
nicht zwischen uns stellen, selbst wenn sie es versuchen. Wir lieben uns. Dagegen können sie nichts ausrichten. Du verrätst mich nicht, wenn du zur Beerdigung deines Vaters gehst. Werfe eine Handvoll Sand für mich in sein Grab.“
„Das werde ich tun. Ich weiß nicht, wie ich das ohne dich durchstehen soll?“
„Du schaffst das. Sie werden dich nicht unterkriegen. Das haben sie schon so
oft versucht und sich an dir die Zähne ausgebissen.“
Hermann hob die Tasche vom Stuhl. „Ich bin soweit und möchte so schnell wie
möglich von hier verschwinden.“
„Kannst du den Wagen nehmen? Ich fahre lieber mit dem Zug.“
„Einverstanden. Weißt du schon, wann du nach Hause kommst?“
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„Ja, sicher! Am Tag nach der Beerdigung.“
Hermanns Gesicht hellte auf. „Du bist stark und mutig, Isabel.“
„Ich rufe dich heute Abend an. Danke, dass du mir geholfen hast, dass du bei
mir warst und mein Freund bist.“
Sie winkten sich zu, als er vom Hof fuhr.
„Ist er weg?“, grinste Bert.
„Mach mich nicht von der Seite an. Ich reise am Tag nach der Beerdigung ab.“
„Das kannst du doch nicht machen, Isabel?“, erwiderte Antonia mit bebender
Stimme. „Du hast keine Vorstellung davon, was ich alles kann. So etwas macht
ihr mit mir nur einmal. Ich habe verstanden. Meine Bedürfnisse werden in diesem Haus mit Füßen getreten.“
„Dein Freund wollte mich schlagen!“
„Ich war dabei, Mama. Erzähle keine Lügen. Du hast die Hand gegen ihn erhoben.“ Die Seitentür wurde aufgestoßen und Tante Mia kam herein. „Bist du fertig, Antonia?“, fragte sie. Die Mutter brach in Tränen aus und schluchzte theatralisch. „Ich habe zwei Menschen verloren, meinen Mann und meine Tochter.“
Mia hakte Antonia unter und verließ mit ihr die Küche. Bert rannte davon: „Es
ist deine Schuld, wenn Mama einen Herzinfarkt bekommt.“
„Der Tod ist ein Meister des Dramas und spielt mit den wahren Gesichtern. Er
lässt dich in Abgründe blicken, kennt kein Pardon und zeigt dir den Hass, von
dem die Tünche abgeblättert ist.“ Isabel klappte das Tagebuch zu, legte eine
Platte von Andre Heller auf, tanzte Walzer und sang: „Nur manchmal wenn ich
lach, dann wein ich Euch nach“.
Die Totenglocken läuteten. Die Familie versammelte sich ein letztes Mal um
den Esszimmertisch. Antonia teilte Beruhigungstabletten aus. „Das machen alle
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so“, meinte sie. „Das ist mir egal“, weigerte sich Isabel. „Ich werde meine Gefühle nicht dämpfen.“
„Du musst immer im Mittelpunkt stehen“, reagierte Bernhard genervt. „Kannst
du nicht tun, was alle machen? Wir müssen es nachher ausbaden, wenn du zusammenbrichst oder sonst irgendetwas tust?“
„Ich denke nicht daran, mich meiner Trauer zu schämen“, antwortete Isabel.
„Wenn ihr meint, ihr müsstet an einem solchen Tag besonders kühl und beherrscht sein, dann ist das eure Sache. Ich lasse mir nicht vorschreiben, wie ich
mich zu verhalten habe. Jeder trauert auf seine Weise.“
„Wie konnte ich das nur vergessen? Meine Schwester ist natürlich etwas ganz
Besonderes!“
„Deinen Sarkasmus kannst du dir sonst wohin stecken.“
„Hört auf zu streiten, Kinder! Nimm eine Beruhigungstablette, Isabel. Wenn
nicht uns zuliebe, dann um Papas Willen, damit er sich deinetwegen nicht zu
schämen braucht.“
„Am Besten, du bleibst hier“, meinte Bernhard. „Wenn einer fragt, sagen wir
einfach, dass es dir nicht gut geht.“
„Versuch es gar nicht erst“, kochte Isabel vor Empörung. Bernhard grinste. Er
hatte sie provoziert und damit erreicht, was er wollte. Es schellte. Die Verwandtschaft stand im Hauseingang. Isabel erkannte auf den ersten Blick, dass
ihre Mutter Tante Mia alles vom Eklat im Haus beim Stein erzählt hatte. Die
vorwurfsvollen Blicke der Onkel und Tanten sprachen für sich und die Küsse
links und rechts auf die Wangen, fühlten sich wie Judasküsse an. Der Trauermarsch setzte sich in Bewegung. Antonia lief zwischen ihren beiden Söhnen die
Kirchstraße hinunter. Isabel, ihre Schwägerin Michaela und die Verwandtschaft
folgten. Die Menschen verstummten. Die Trauerglocken tönten. Am Straßenrand standen Schaulustige und bildeten ein Spalier. In der Leichenhalle beteten
drei Frauen den Rosenkranz, monoton begannen sie immer wieder von vorne:
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„Gegrüßet seist du Maria, voller Gnaden, der Herr ist mit dir. Du bist gebenedeit unter den Frauen und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes Jesu. Heilige
Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes, Amen.“ Die Familie stellte sich neben die Eingangstür zur Leichenhalle.
Die geladenen Trauergäste kondolierten: Herzliche Teilnahme, reihte sich an
Herzliche Teilnahme, Hände wurden geschüttelt. Isabel fühlte sich den Blicken
ausgeliefert, einsam, nackt, bloßgestellt. Sie sah auf den Sarg, der auf einem
rädernden Untersatz stand, bereitgestellt für die letzte Fahrt. Warum wurde er
nicht getragen? Immer mehr Trauergäste trafen ein. Der Pfarrer bahnte sich einen Weg durch die Menschenmenge, gefolgt von zwei jungen Messdienern, der
eine trug das Gebetbuch, der andere schwenkte den Weihrauch. Antonia beim
Stein stand aufrecht zwischen ihren Söhnen, der schwarze Nerz glänzte in der
Dezembersonne. Der Trauerzug blieb hinter ihnen stehen. Der Sarg wurde an
Seilen ins Grab gelassen. „Asche zu Asche, Staub zu Staub“, sprach der Geistliche. Die Jagdfreunde bliesen zum Letzten Halali. Antonia bekreuzigte sich vor
dem offenen Grab und ging weiter. Die Brüder und die Schwägerin machten es
ihr nach. Isabel bückte sich, griff nach einer Handvoll Erde und ließ sie in die
Tiefe fallen. Die Trauergemeinde verließ den Friedhof in Richtung Kirche, vorbei an den Schaulustigen am Wegesrand. Isabel erkannte in der Menge ihren
Ex-Freund Joey. Die Orgel ertönte, als sie das Kirchenschiff betraten und der
Chor stimmte ein. Die Familie setzte sich in die ersten Bankreihen. Verwandte,
Nachbarn, Bekannte und Geschäftskollegen füllten das Kirchenschiff bis auf
den letzten Platz. Der Pfarrer trat vor den Altar. Die Orgel ertönte in Moll, der
Chor sang: „So nimm denn meine Hände“ und die Trauergemeinde stimmte ein.
Sie beteten und sangen zusammen, sprachen Fürbitten aus und folgten den Ritualen der Zeremonie. Die einen fühlten sich getröstet, die anderen verließen
vorzeitig die Kirche, schnackten draußen vor der Tür und rauchten eine Zigarette. Im Vereinssaal war für dreihundertfünfzig Gäste gedeckt. Isabel saß zwi-
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schen ihrem jüngsten Bruder Bert und Michaela am Haupttisch. Ihr Kopf wollte
zerspringen vom Geraune und Stimmengewirr. Eine ihrer vielen Cousinen verdrückte bereits die vierte Brötchenhälfte und machte sich gerade über den Butterkuchen her, dabei lachte sie breit und grinste. Isabel hätte ihr am liebsten ins
Gesicht geschlagen. All die gutgelaunten Kaffeetrinker, die sich aufwärmten
und froh waren, die Beerdigung überstanden zu haben, für sie ging das Leben
weiter, als wäre nichts geschehen. Wie konnten sie fröhlich sein, über Gott und
die Welt plaudern, während die Endgültigkeit nicht zu überbieten war. Isabel
sah sich im großen Saal um. Auf der Bühne hatten sie als Kinder Theater gespielt. Die langen Tischreihen, die vielen Gesichter, die neugierigen Blicke, der
Boden unter ihren Füßen war dünn wie Eis. Noch ein unverschämtes Grinsen
und blödes Glotzen – und sie garantierte für nichts mehr. „Isabel, komm, ich
bringe dich nach draußen, an die frische Luft“, flüsterte ihre Lieblingscousine
Maria ihr zu, griff ihr unter die Arme und führte sie aus dem Saal. „Geht's?“,
fragte sie und brachte sie an die frische Luft.
„Danke. Ich hätte beinahe in den Saal gekotzt. Schreckliche Vorstellung.“
„Du hast mich richtig erschreckt.“
„Ich habe seit einer Woche kaum geschlafen und gegessen. Mein Körper rebelliert. „Lass uns auf die Toilette gehen“, bat Isabel. Sie spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und betrachtete ihr Spiegelbild. Die Augen brannten. Die Haut
war fleckig gerötet und aufgequollen. Als sie in den Saal zurückkamen, saßen
nur noch wenige an den langen Tischen. Die Männer standen an der Theke und
tranken Bier und Schnaps. Mit ihren lauten Stimmen übertönten sie ihre Gefühle. Antonia saß zwischen ihren Schwestern. „Mama, gibst du mir den
Schlüssel? Ich möchte mich hinlegen“, bat Isabel.
„Ja, tu das, Kind. Ich komme auch gleich.“
An der Saaltür standen die sechs Brüder des beim Steine Clans. Sie hatten sich
Mut angetrunken und stellten sich ihr in den Weg. „Wo willst du hin?“, fragte
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Tons streng. „Deine Mutter hat erzählt, dass du morgen Früh wieder abreisen
willst“, schüttelte Heinz den Kopf. „Das kannst du nicht machen“, sagten alle
zusammen wie im Chor, drängten sich näher an sie heran und bildeten eine
Mauer. „Ihr glaubt doch nicht im Ernst, dass ihr mich aufhalten könnt?“, staunte
Isabel über soviel Dreistigkeit, drehte ihnen den Rücken zu und ließ sie einfach
stehen. Sie spürte ihre Blicke, wie Pfeile an sich abprallen.
*
Isabel schaute den Schienen hinterher. Ihre Gedanken glichen einem Kreisel.
Die Erinnerungen formierten und platzierten sich um den Mittelpunkt. Antonia
stand verlassen am Bahnsteig. Sie hatte keine Tränen mehr. Isabel lehnte am
offenen Fenster und schaute ernst. Das Rattern der Räder, das sanfte Schaukeln
des Waggons und das Alleinsein im Zugabteil, berührten sie mit Dankbarkeit.
Sie schloss die Augenlider und sah gegenüber ein Kind auf dem Sitz spielen.
Das Mädchen gluckste vor Vergnügen und lachte rotwangig. Isabel brauchte einen Moment, bevor sie das Kind in sich erkannte. Das verängstigte, zurückhaltende Wesen strotzte vor Lebenslust. Während die erwachsene Isabel um den
toten Vater trauerte, fühlte sich die Kleine in ihr befreit. Die Landschaft lag unter einer Puderzuckerdecke, vereinzelte Wildspuren im Schnee. Die Vergangenheit konnte sie nicht ändern, die Gegenwart lebte sie mit widersprüchlichen
Gefühlen und die Zukunft würde sich zeigen.
Hermann und Leon warteten am Bahnhof Zoo. Hermann hielt eine weiße langstielige Rose in seiner Hand. Isabel entdeckte die beiden am Bahnsteig. Ihr Lachen mischte sich mit Tränen. Das Leben fordert den Tod heraus. Die Liebe ist
die Meisterin des Glücks. Ihr zu dienen ist Anfang und Ende.
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Epilog
Isabelle legte schützend die Hände über die Seiten. Sie hatte sich in Wolle gehüllt, den nougatbraunen Poncho um die Schultern gelegt, darunter trug sie ein
langes schwarzbraunes Strickkleid. Aus dem Wohnzimmer hörte sie Billy Holliday „I love my man“ singen und summte mit. Sie wies den Zweifel ab und
schickte ihn ungehört nach draußen in die tauende Kälte zurück, aus der er gekommen war. Als die Schuld anklopfte und auf ihr Recht pochte, schlug Isabel
ihr die Tür vor der Nase zu. Am Abend folgten Angst und Sorgen und verließen
unverrichteter Dinge das Haus. Während draußen das Leben brummte, saß Isabel vor ihrem vergangenen Leben und schaute in die Zukunft, indem sie sich
nach innen wandte.
© Marita Waibel
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