„Ich benutze das Kino wie ein Geschichtenerzähler, der eine

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„Ich benutze das Kino wie ein Geschichtenerzähler, der eine
„Ich benutze das Kino wie ein Geschichtenerzähler, der
eine Geschichte gelesen und nicht nur gesehen hat.“
Literatur im Bild am Beispiel
von Pedro Almodóvars La mala educación
VON ARNO RUSSEGGER
Pedro Almodóvars hohe Wertschätzung für die Literatur, die er seit frühester Jugend – lange vor seiner Arbeit als international anerkannter Regisseur – bekennt,1
ist unter Filmemachern nichts Selbstverständliches. Der bis heute schwelende Konflikt zwischen ihnen und den Literaten geht bis in die Anfangsphase des Kinos am
Ende des 19. Jahrhunderts zurück und ist nach wie vor etwa im Bereich der Filmwissenschaft erkennbar, wo so genannte Literaturverfilmungen nur sehr selten zu
den Arbeitsschwerpunkten von Forscherinnen und Forschern gehören. Auf der
anderen Seite haben immer noch viele Literaturwissenschaftler Berührungsängste
gegenüber audiovisuellen Medien, oder es fehlt ihnen einfach die Kompetenz, sich
diesbezüglich fachkundig zu äußern. Unter diesen Voraussetzungen ist es etwas Besonderes, wenn ein Film wie La mala educación/Schlechte Erziehung (2004)2 nicht nur,
wie meistens bei Almodóvar, von verstrickten Obsessionen handelt, die diesmal
sogar bis in die Kindheit einiger seiner Figuren zurück reichen; denn präsentiert
wird in Schlechte Erziehung vor allem auch die Geschichte der Verfilmung einer Erzählung, die einer der Protagonisten verfasst hat, um auf diese Weise seinen Erlebnissen und der persönlichen Entwicklung im Verhältnis zu anderen Beteiligten
Gestalt zu verleihen. Da Almodóvars Inszenierung dieser Zusammenhänge über
das Biographisch-psychologisch-Gesellschaftskritische hinaus geht und Prozesse
rund um die kinematographische Adaptation literarischer Stoffe explizit thematisiert werden, ist der Film geeignet, einige grundsätzliche Aspekte dieses intermedialen Sujets zu erörtern.
Vgl. Pedro Almodóvar: Filmen am Rande des Nervenzusammenbruchs. Gespräche mit Frédéric
Strauss. Aus dem Französischen von Frieda Grafe und Enno Patalas. Frankfurt am Main: Verlag
der Autoren 1998; das Titelzitat steht auf S. 66f. – Vgl. ebd., S. 20f.: „Ich muß neun gewesen sein,
als ich mein erstes Buch kaufte. […] Von da an hatte ich zur Literatur eine leidenschaftliche Beziehung, vor allem dank der französischen Autoren. Als ich 1968 nach Madrid kam […], las ich
geradezu zwanghaft, weil ich auf einmal soviel leichter an so viele Sachen herankam.“ – Vgl. ebd.,
S. 32: „Für mich hängt ein Film immer von seinem Drehbuch ab.“ – Vgl. auch Carlos Polimeni:
Pedro Almodóvar und der Kitsch español. Aus dem Spanischen von Andreas Löhrer. Berlin:
Parthas 2005, S 37ff.
2 La mala educación, Spanien 2004; Regie und Buch: Pedro Almodóvar; Kamera: José Luis Alcaine:
Schnitt: José Salcedo; Musik: Alberto Iglesias; Kostüme: Paco Delgado und Jean-Paul Gaultier;
Darsteller: Gael García Bernal, Fele Martínez, Daniel Giménez-Cacho, Javier Cámara, Lluis Homar, Petra Martínez, Francisco Boira, Alberto Ferreiro u.a.; Dauer: 106 min.
1
1
In einem Interview mit Frédéric Strauss ging Pedro Almodóvar auf seine Methoden als Autor ein:
Luckily, as I’m constantly writing, I have a lot written which can be incorporated into what I’m writing today. […] anything I read, anything
I’m told, any aspect of the world around me can be of interest and help
give meaning to the fictional material I have already. […] All film-makers
have fictional reserves. […] I even buy objects which I then put away in
boxes thinking that one day they’ll find a story, a film. The danger is that
these objects end up being of no use, mere lifeless objects. That can happen. Not everything I write will necessarily become a film. […] The only
method I have is to stay close to the stories that accompany me over the
years, in order to one day make them into a film.3
Außerdem wies er auf gewisse Ähnlichkeiten zwischen Hable con ella/Sprich mit ihr
(2002)4 und Schlechte Erziehung hin und hob jeweils ebenfalls seine langfristigen
schriftstellerischen Vorarbeiten hervor: „Each of them contains elements that come from the past, things I wrote a long time ago. [...]; in Bad Education it’s a 10-page
treatment that was the original idea for what became La Visita, the story written by
the character Ignacio“5 (zum Inhaltlichen: siehe unten). Ein wesentlicher Unterschied zwischen den zwei Filmen aber besteht darin, dass in ersterem die Potenziale
mündlichen Erzählens6 und Möglichkeiten verhandelt werden, diese für dramaturgische Zwecke im Film auszuloten, während es in Schlechte Erziehung um ästhetische
Transpositionen zwischen geschriebenen Texten und Bildern geht, die im modernen Medienverbund eine vielschichtige Symbiose eingegangen sind. Das geht bereits aus dem Vorspann des Films hervor, der aufgrund seiner musikalischen und
graphischen Aufmachung wie eine raffinierte Hommage an Vertigo (1958), Psycho
(1960) oder Marnie (1964) von Alfred Hitchcock wirkt. Marguerite Seidel hat den
Vorspann einmal in folgender Weise charakterisiert und gedeutet:
Frédéric Strauss (Hg.): Almodóvar on Almodóvar. Transl. by Yves Baignères. Additional material transl. by Sam Richard. London: Faber and Faber, revised edition 2006, S. 221.
4 Hable con ella, Spanien 2002; Regie und Buch: Pedro Almodóvar; Kamera: Javier Aguirresarobe;
Schnitt: José Salcedo; Musik: Alberto Iglesias; Kostüme: Sonia Grande; Darsteller: Javier Cámara,
Leonor Watling, Darío Grandinetti, Rosario Flores, Geraldine Chaplin, Fele Martínez, Paz Vega
u.a.; Dauer: 112 min.
5 Strauss: Almodóvar on Almodóvar, S. 211.
6 Vgl. Polimeni: Kitsch, S. 21f.: „Oft kamen seine [i. e. Almodóvar als Kind, Anm. d. Verf.] frei
erzählten Versionen der Filme innerhalb der Almodóvar-Familie besser an als die ursprünglichen
Geschichten; sie waren ein Kitsch-Produkt seiner Fantasie: Die entstellte Wiederholung, eine
‚vermischte’ Version wurde wichtiger als die ‚echte’ Fassung. […] Vielleicht imitierte er auch nur
das Verhalten seiner Mutter, die ihren analphabetischen Nachbarn Briefe von Verwandten vorlas
und dabei ab und an Abschnitte wegließ oder erfand, um schlechte Nachrichten zu verheimlichen, aber manchmal auch, um ihre Nachbarn zum Lachen zu bringen. Ebendiese kleinen Notlügen und Schummeleien, die Menschen oft helfen, Überdruss, Einsamkeit oder die Langeweile
des Alltags auszuhalten.“
3
2
Wie eine Boulevardzeitung präsentiert sich zunächst auch Almodóvars
Film selbst. Große Lettern in schwarzer und roter Farbe, Fotos voller
Rasterpunkte und symbolträchtige Bilder kündigen im Vorspann ein
Verhältnis zwischen Sex und Kirche an. Aber statt zu übersichtlichen
Seiten, sind die Schrift- und Bildfetzen zu Collagen zusammengefügt, die
nach und nach zerrissen werden, um einen Ausschnitt des darunter liegenden Materials sichtbar werden zu lassen. Neben obszönen Schulklokritzeleien tauchen religiöse Symbole, Photos der Darsteller und Filmstreifen auf. Die verschiedenen Schichten nehmen mehr und mehr den
Charakter einer Stoffsammlung an [...].7
[Montage: José Salcedo]
Während in Sprich mit ihr ein Krankenpfleger um eine im Koma liegende Patientin
eine Art von Parallelwelt aufbaut, indem er für sie alles, was er sieht und ihm widerfährt, in Berichte (nicht zuletzt auch über Kino- und Theaterbesuche) verwandelt,
die er ihr in langen Monologen am Krankenbett vorträgt, lernen wir in Schlechte Erziehung den jungen erfolgreichen Regisseur Enrique Goded (Fele Martinéz) kennen,
der ständig auf der Suche nach geeigneten Geschichten für seine Filme ist: „He’s a
film-maker and is at the writing stage, the pre-writing stage even.“8 Plötzlich wird er
mit einer Story konfrontiert, die mitten in seinem eigenen Leben angesiedelt ist und
ihn verwandeln wird – so wie man in übertragenem Sinn in einem Buch ‚ein Blatt
wendet’9 und sich damit neue Lebensmöglichkeiten, Doppelungen der eigenen in
einer anderen Existenzform, erschließt.
Es ist, wie wir durch ein Insert erfahren, irgendwann im Jahre 1980, als Enrique eines Tages in seinem Büro gerade einen Stapel Zeitungen auf sensationelle Berichte hin sichtet. Dieses Vorgehen entspricht durchaus Almodóvars eigenen Erfahrungen beim Erdichten von Filmen:
Siehe: http://www.morgenwelt.de/503.html (14.5.2007)
Strauss: Almodóvar on Almodóvar, S. 217.
9 Vgl. Almodóvar: Filmen am Rande des Nervenzusammenbruchs, S. 200f.
7
8
3
Ich entdecke das Thema, indem ich die Geschichte schreibe, ich beginne
eigentlich nie in Kenntnis des Themas zu schreiben. Auch deshalb bedeutet das Schreiben für mich ein großes Abenteuer. Ich stelle mir vor,
das Thema steckt in mir und die Arbeit muß mehrere Etappen durchlaufen, damit es mir zum Bewußtsein kommt. Oft ist das Motiv der Erzählung, das mich beim Schreiben treibt, nur ein Vorwand, und sehr oft verschwindet unterwegs auch das, was ich für den Kern der Geschichte
hielt.10
Da taucht bei ihm völlig unerwartet ein junger Mann (Gael García Bernal) auf, der
behauptet, Ignacio, sein liebster Freund aus der gemeinsamen Schulzeit in einem
katholischen Internat, zu sein; in Wirklichkeit aber ist Ignacio zu diesem Zeitpunkt
bereits tot (was Enrique und wir Zuschauer erst später erfahren) und der Besucher
sein Bruder Juan, der Schauspieler geworden ist, den Künstlernamen Ángel Andrade angenommen hat und nun hofft, ein Engagement zu ergattern. Im Gegensatz zu
dem von ihm erhobenen Anspruch, mit Enrique von früher her sehr vertraut zu
sein, kann dieser das Auftreten und Gehabe seines seltsamen, einen homophoben
Eindruck erweckenden Gasts nicht ohne weiteres mit der Erinnerung an den einst
innig geliebten Ignacio in Übereinstimmung bringen. Dennoch ist er bereit, am
gleichen Abend noch die Novelle mit dem Titel La Visita/Der Besuch zu lesen, die
ihm der vermeintliche Klassenkamerad in Form eines bislang unpublizierten, offenbar eigenhändig verfassten Typoskripts mitgebracht hat. Ohne Zweifel ist der
‚Ignacio’-Juan-Ángel-Charakter auf Grund der mehrfachen Identitätswechsel, die er
im Laufe der Handlung vollzieht, die komplexeste Figur des gesamten Films und
verkörpert geradezu allegorisch die verschiedenen, vexierbildartig einander spiegelnden Fiktionsebenen, die Almodóvar in jahrelanger Arbeit am Drehbuch entworfen hat (er spricht selbst von einem „process of distillation“),11 um sie nun mit
filmischen Mitteln übereinander zu legen und vom Kinopublikum enträtseln zu lassen. Interessant ist im Zusammenhang der Projektentwicklung eines Films beim
Schreiben übrigens auch, dass Almodóvar vieles im Team-Writing gemeinsam mit
seinem Bruder Agustín erarbeitet.12 Aus dieser Kooperation entstehen meist nicht
nur mehrere Fassungen der jeweiligen Drehbücher, die kontinuierlich verbessert
werden; für die einzelnen Figuren der Filme werden oft ganze Romane geschrieben
(„und jeder war ein Film für sich“),13 die sich mitunter gar zu verselbständigen beginnen.
Nicht von ungefähr bezog sich Almodóvar in Schlechte Erziehung auf die reiche
Tradition des amerikanischen Film noir, der bereits seit den frühen 1940er Jahren
als Hollywoods Experimentierfeld für formale Innovationen und verschachtelte
narrative Strukturen diente; dem entsprechend bezeichnete er seinen aus Mexiko
Ebd., S. 79.
Strauss: Almodóvar on Almodóvar, S. 220.
12 Vgl. Almodóvar: Filmen am Rande des Nervenzusammenbruchs, S. 88.
13 Ebd., S. 154; vgl. auch S. 176.
10
11
4
stammenden Hauptdarsteller Bernal auch als Variante einer genretypischen femme
fatale im Geiste von Barbara Stanwyck oder Veronica Lake.14 Ebenso im Kontext
des Film noir ist die Figur eines/einer (mutmaßlich) Toten zu sehen, der/die (anscheinend) wieder lebendig wird und zum überraschenden Plotpoint avanciert;15
solche Motive lassen an einschlägige Klassiker wie Laura (1944, Regie: Otto Preminger), Niagara (1953, Regie: Henry Hathaway) oder, wie oben bereits erwähnt,
Vertigo (1958, Regie: Alfred Hitchcock) denken. Pedro Almodóvar erweist sich
einmal mehr als deren würdiger Erbe und wahrer Meister nicht-chronologischer
Erzählkonstruktionen. Mit der größten Selbstverständlichkeit vermag er sich ihrer
zu bedienen, um einen roten Faden durch die verzweigten Netzwerke aus schicksalhaften Begebenheiten zu flechten.
Was Enrique in der mitunter grotesk anmutenden Außenwelt nicht gefunden
hat (wie etwa in der Pressenachricht über einen Motorradfahrer, der bei einem Unfall sein Leben verliert, trotzdem aber noch kilometerweit von Polizisten verfolgt
werden muss, bis seine Fahrt erst zu stoppen ist), entdeckt er plötzlich in sich, und
dieser Umstand erweist sich als der entscheidende Moment zum Vorteil der Literatur. Sie repräsentiert hier tendenziell nämlich das Innenleben des Menschen, nimmt
Bezug auf die tiefer liegenden Schichten seines Bewusstseins- und Wahrnehmungsapparates, wohingegen sich Filme nach wie vor an sichtbaren Ereignissen abzuarbeiten haben, die aber nur den Rahmen für die eigentlichen Sinn- und Bedeutungskonstellationen bieten. Daher kommt das Enrique übergebene Schriftstück groß ins
Bild und erhält die Funktion, die gerade statthabende Situation, die im Film als ‚erste’ Realität vorgeführt wird, als solche auszustellen und zu reflektieren, im Grunde
allerdings nichts als den Übergang vom einen zu einem anderen filmischen Fiktionalitätsbereich hin zu markieren. Dadurch wird einerseits der unmarkierten fiktiven
Realität, wie sie bis zur Einführung von ‚Ignacio’-Juan-Ángels Buch fraglos vorgeherrscht hat, eine zusätzliche Beglaubigung zuteil, die wir normalerweise im Kino
gar nicht einfordern, so sehr akzeptieren wir nach über hundertzehn Jahren Mediensozialisation das illusionistische Spiel der Formen, Schatten und Farben auf der
Leinwand – noch dazu im komplementären Arrangement mit Tönen und Geräuschen – als gültige Stellvertretung der Wirklichkeit. Andererseits wird die Lektüre
Enriques mehrmals als eine surrealistisch anmutende Überblendung versinnbildlicht, als würde die Kamera quasi mitten durch die Textblätter hindurch gleiten oder als würde die Filmprojektion auf das beschriebene Blatt wie auf eine Leinwand
erfolgen, wobei sich das ganze Konvolut im Zuge dieser Bewegung allmählich aufzulösen scheint. Die verblassenden Buchstaben gehen über in die immer stärker
hervortretenden Konturen jener Szenerien (wie das alte Kino), an die sich der IchErzähler von Der Besuch erinnert, dessen Stimme wir aus dem Off hören.
14
15
Vgl. http://www.filmzentrale.com/rezis/lamalaeducationfg.htm (23.1.2007).
Vgl. Almodóvar: Filmen am Rande des Nervenzusammenbruchs, S. 192.
5
[Enriques Lektüre und der Film-im-Film]
Was ab dann zu sehen ist, symbolisiert jedoch nicht nur das Leseerlebnis Enriques,
wie aus der Exposition der Sequenz zu schlussfolgern ist, sondern ist zugleich –
obwohl für die Zuschauer erst später ersichtlich – eine Montage des Films, den Enrique (im chronologischen Ablauf betrachtet) erst als Teil der weiteren Handlung
von Schlechte Erziehung realisieren wird. Die Einführung des literarischen Werks bewirkt demnach eine Relativierung des Zeitgefüges, was mit filmischen Mitteln allein
nicht so leichthin zu machen gewesen wäre: Die vorgeführten Geschehnisse des
Film-im-Film spielen sich sowohl in der Vergangenheit und der Gegenwart, als
auch in der Zukunft ab;16 die Kamerabewegung zieht den Zuschauer in den Film
hinein, weist nach vorne in die bald kommende Zeit und nach rückwärts in die frühen 1960er Jahre, als Spanien noch im Bann des Franco-Faschismus stand.
Der explizite Einbau von Literatur, in der alles gesagt wird, erlaubt außerdem
eine sehr elliptische Struktur des Films, der nicht mehr alles zeigen muss. Daher
verwendet Almodóvar an besonders gekennzeichneten Stellen Schwarzblenden:
„They’re like black holes which, literally, add a depth to the film, a sombre depth.
For the first time, I detailed these fade to blacks in the script since they occur at
such precise moments.“17 Die symbolische Schriftzeichen zur Anwendung bringende Literatur repräsentiert eben die äußere Realität weniger als das mit seinen ikonographischen Bildzeichen der Oberfläche der verschiedensten Phänomene verhaftete Medium Film. Dafür vermag die Literatur den emotionalen, mehr oder weniger verdrängten, libidinös und subjektiv geprägten Tiefenschichten einer Geschichte ein ästhetisches Gefüge zu geben:
[…] in einem Roman kann man in zwei Sätzen unendlich viel suggerieren, die Vorstellungskraft des Lesers animieren, die dann den Rest besorgt. Das ist kein Trick, das ist die Macht der Worte. Die Suggestionskraft der Literatur besitzt der Film nicht, auch wenn man gern das Gegenteil glaubt. […] Im Film muß man Gegenstände zeigen, deren Logik.
16
17
Vgl. Polimeni: Kitsch, S. 96.
Strauss: Almodóvar on Almodóvar, S. 214.
6
[…] Was das Kino übersetzen und übermitteln kann, sind Halluzinationen und, mehr noch als Halluzinationen, psychedelische Empfindungen
wie die von Drogen hervorgerufenen. Die Literatur besitzt sehr viel
mehr Suggestionskraft als das Kino, das über hypnotische Kräfte verfügt,
was nicht dasselbe ist.18
Deshalb setzt Almodóvar die Literatur genau an den Schnittstellen der oft aberwitzigsten Wendungen und Schichtenwechsel der im Film (und insbesondere im Filmim-Film) melodramatisch übersteigerten Vorkommnisse ein. Vergleichbar etwa der
grammatikalischen Form des epischen Präteritums, das einen Wirklichkeitsbericht
durchbricht und zum Merkmal einer illusionistischen Gegenwärtigkeit wird, benützt er literarische Texte – ganz abgesehen von damit zusammenhängenden inhaltlichen Erwägungen – zur Kennzeichnung und Unterscheidung von Plotkonstruktionen jenseits der üblichen Chronologie, die über mehrere Fiktionalitätsebenen verteilt sind:
That’s what interested me – these transitions from one character to another, from one story to another, to constantly be inventing. […] I like
these ramifications, this live development of a story. Writers, of course,
play a great deal with narrative, at different levels; from that point of
view, I completely see why certain of them may have appreciated my latest films. That said, literary narrative is far ahead of film narrative.19
Zur erleichterten Rezeption solch komplexer Relationen gebraucht Almodóvar, wie
erwähnt, in den Sequenzen, die Enriques Lektüre bzw. seiner Verfilmung von Der
Besuch entsprechen, einen kleineren Bildkader, das heißt eine Art rechteckige
Schwarzblende mit Rändern nicht nur am oberen und unteren Rand der Leinwand,
sondern auch auf der linken und rechten Seite. Wenn Juan-Ángel im weiteren Verlauf der Handlung einige Aufnahmen mit einer alten Super-8-Kamera macht, wird
der Bildausschnitt zur besonderen Kennzeichnung dieser Sequenzen noch enger
zusammen gezogen, nehmen dessen schwarze Ränder auf allen Seiten an Breite
noch zu.
Insofern es in Schlechte Erziehung also darum geht, dass lange verheimlichte
Vorkommnisse ans Licht der Öffentlichkeit gebracht werden sollen, meint ‚Transparenz’ im Zusammenhang mit den von Almodóvar zu diesem Zweck angewandten filmästhetischen Mitteln eine bestimmte Qualität von Scharfblick, und
zwar in einem durchaus wörtlichen Sinn, weil er uns vermittelt, wie durch / hinter
/ unter die Oberfläche von Gegebenheiten zu schauen ist. Das Schwellenmedium
dafür bzw. das Motiv, diese Art von Transparenz ins Bild zu setzen, besteht bezeichnender Weise aus einem Buch (allgemein gesprochen), dem in unserem Beispiel zusätzlich noch etwas von der Aura eines bislang unpublizierten (und wie sich
herausstellt: nachgelassenen) handschriftlichen Werks anhaftet. Ob und unter wel18
19
Almodóvar: Filmen am Rande des Nervenzusammenbruchs, S. 207.
Strauss: Almodóvar on Almodóvar, S. 215.
7
chen Umständen es zu einer Veröffentlichung kommt, ist im Laufe der Handlung
von zentraler Bedeutung, wobei es der Filmregisseur von Seiten Juan-Ángels durchaus freigestellt bekommt, für den Film Passagen des Texts nach Gutdünken umzuschreiben, wovon Enrique schließlich auch Gebrauch machen wird. Er agiert diesbezüglich wie Almodóvar selbst, dessen Ästhetik von Anfang an geprägt war von
einem „Prozess der Unverschämtheiten, Neuerfindungen und Vermischungen“, im
Zuge dessen er „einen Raum [erschafft], der weitaus größer ist als der des Kinos,
während seine Grenzverletzungen zunehmend einer fundierten Form universellen
Geschichtenerzählens weichen.“20 Der von Ignacio noch vor seinem Tod und später von Juan-Ángel in Erwägung gezogene Lektor eines Verlags hingegen, der seinerseits einen entscheidenden Part in Der Besuch innehat, darf freilich nicht das Geringste ändern.
Denn bei dem Mann handelt es sich um einen gewissen Senor Berenguer (Lluís Homar), der einst Priester war und in der Erzählung bzw. in deren Verfilmung
als Padre Manolo (Daniel Gimenéz Cacho) firmiert, seines Zeichens Direktor der
Schule, die Ignacio und Enrique besuchten. Dadurch, dass er die Buben auch in Literatur unterrichtete, wird ein weiterer Kreis geschlossen: Denn Pater Manolo war
in dieser Funktion einerseits für die Förderung der literarischen Interessen seiner
Zöglinge verantwortlich; weil dann – seinem Ratschlag und in dieser Hinsicht positiven Einfluss gemäß – Ignacio sich schriftstellerisch zu betätigen begann, führte
das andererseits zu Pater Manolos Ende als Priester und Pädagoge. So hat er sich
selbst zu Fall gebracht, er wird letztlich mit seinen eigenen Waffen geschlagen. Als
nämlich der pädophil veranlagte Salesianer herausfand, dass die beiden Buben nicht
nur die Liebe zum Kino miteinander teilten, sondern auch zu einander, beschloss er
in seiner heftigen Eifersucht auf Ignacio, den Nebenbuhler Enrique aus dem Kloster hinauszuwerfen und besiegelte damit Ignacios Schicksal, der fortan den sexuellen Übergriffen Pater Manolos völlig schutzlos ausgeliefert war. Außerdem, so wird
es in Der Besuch erzählt, trieben Ignacio diese Erfahrungen sowie die Sehnsucht
nach der unerfüllt gebliebenen Liebe zu Enrique nach dem Schulabschluss in eine
Laufbahn als Star zweitklassiger Transvestitenshows. Dort konnte er unter dem
Künstlernamen „Zahara“ sein Gesangstalent, das er schon als Solist im Knabenchor21 oder an Festtagen vor den versammelten geistlichen Würdenträgern des
Klosters oft bewiesen hatte, weiter entfalten.
Polimeni: Kitsch, S. 27.
Zum biographischen Hintergrund dieser Szenen siehe: Almodóvar: Filmen am Rande des Nervenzusammenbruchs, S. 56: „Ich war bei den Salesianern in der Schule. […] Ich sang gern, ich
brachte Stunden damit zu, ich war Solist, und zwei Chöre begleiteten mich. Wenn der Augenblick
für mein Solo gekommen war, das wirklich ein Schauspiel für mich war, widmete ich den Gesang
demjenigen von meinen Kameraden, der mit der liebste war. Das war ein sehr überlegter, kalkulierter Akt, ich machte dem Kameraden, der mit gefiel, ein Zeichen, er signalisierte mir, daß er
verstanden hatte, und ich begann, für ihn zu singen.“ – Vgl. ebd., S. 93: „Lieder spielen in den
Drehbüchern zu meinen Filmen eine aktive Rolle, sie sind eine Art Dialog, und sie sagen viel
über die Figuren, sie sind nicht zur Verschönerung da.“
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8
Mitte der 1970er Jahre trifft er anlässlich eines Auftritts in der Provinz auf Enrique (Alberto Ferreiro, der im Film-im-Film mit Nachnamen Serrano heißt), doch
die beiden erkennen einander zunächst nicht. Trotzdem verbringt Enrique, der als
biederer Ehemann mit kleiner Tochter geschildert wird, in betrunkenem Zustand
eine Nacht mit Zahara im Bett, die ihn anfänglich ausrauben möchte, im Verlauf
der Begegnung aber ihr Gegenüber erkennt, woraufhin es endlich zum Beischlaf
kommt, an den sich Enrique am nächsten Morgen aber nicht mehr erinnern kann.
In einem Brief, den er auf dem Kopfpolster neben dem Schlafenden deponiert, gibt
sich Zahara zu erkennen und verlässt den Schauplatz. Wieder ist es ein Schreiben,
das dem Zwitterwesen Ignacio zugeordnet wird, das falsche und wahre Identitäten
löst oder (neu) definiert. Seine Texte entwickeln eine eigentümliche Zauberkraft,
eine Poesie der Intimität und tiefen Geheimnisse des Lebens und des Sterbens, die
erst auf dieser Grundlage in spezifische Bilder voller Melancholie umgewandelt
werden können, die ihren ‚unterirdischen’ Gehalt zugleich enthüllen und verhüllen
– wie das übrigens auch in einer katholischen Beichte geschieht:
I realise now that in order to talk about the film I have to refer back to
all the drafts of the script, or to at least the last ten of the twenty I wrote.
[...] It’s as though I had written the equivalent of the Andes, an entire
mountain range, from the valleys right up to the summits. But in Bad
Education only the outline of the summits remains. However, given that
the base is very solid – because it’s been set down in writing – I think it
comes through in the film all the time.22
Die nächste Episode zeigt Zahara, als sie von Pater Manolo unter der Androhung,
Der Besuch (im Film-im-Film lautet der Titel eigentlich Der Besucher, ein Wortspiel
mit dem spanischen La Visita, das auch im Deutschen funktioniert) herauszugeben,
das nötige Geld für eine Geschlechtsumwandlung erpressen möchte. Bei dieser Gelegenheit gibt sich Zahara als Ignacios Schwester aus und erwähnt erstmals, dass
Ignacio nicht selbst kommen könne, weil er verstorben sei. Im Film auf erster Ebene hat sich indessen Juan-Ángel in Enriques gemieteter Villa samt Swimmingpool
einquartiert; sie sind sich allerdings uneins, welche Rolle er in der Verfilmung von
Der Besuch übernehmen soll. Enrique wäre es am liebsten, Ángel würde ihn, den
Regisseur, verkörpern, während Ángel unbedingt Zahara spielen will, dafür sogar
Privatunterricht bei einer berühmten Transvestitensängerin nimmt und sich auf Diät setzt, um abzunehmen. Nach einem Streit verlässt Ángel die Villa. Enrique will
sich endlich Klarheit über ihn verschaffen und fährt nach Galicien, Ignacios Heimat, wo er von dessen Mutter erfährt, dass er zuletzt in Valencia gelebt und von einer operativen Geschlechtsumwandlung geträumt habe. Aufgrund seiner Drogensucht sei er an dieser Absicht jedoch stets gescheitert. Enrique hört auch, dass
Ángel in Wahrheit Ignacios Bruder Juan ist, der mit ihm zusammen eine Wohnung
in Valencia teilte und Schauspieler wurde. Juan sei es auch gewesen, der den toten
22
Strauss: Almodóvar on Almodóvar, S. 214.
9
Ignacio gefunden habe und dessen Tod nicht verkraften könne. Die Mutter hat einen Brief Ignacios an Enrique aufbehalten, der lange nicht zugestellt werden konnte und nun endlich seinen Adressaten findet. Als er den Brief liest, hört man Ignacios Stimme aus dem Off, der seine aktuellen Lebensumstände skizziert und eine
Erzählung ankündigt, die er ausschließlich für Enrique schreiben will. Der Überbringer dieser Botschaft war (bzw. wird) schließlich zu Beginn des Films auf erster
Ebene Juan (sein), der wie ein Engel auftritt und Rache übt, an sich selbst und einer
verderbten Welt. Neuerlich bewirken die in einander verschlungenen Zeitschleifen
aus a-chronologisch positionierten Vor- und Folgegeschichten, die motivisch verkettet sind (wie zum Beispiel durch eine Reihe von Besuchen, die meist auch zum
Anlass für die Übergabe von Schriftstücken werden; so im Falle von: Juan bei Enrique, Enrique bei Ignacios Mutter, Zahara bei Pater Manolo), eine Aufhebung herkömmlicher narrativer Abläufe. Ebenso geraten auf diese Weise anscheinend feste
Rollenbilder durcheinander, zwischen Tätern und Opfern vor allem, zwischen
Männern und Frauen, aber auch zwischen Lebenden und Toten.
Als Juan-Ángel reumütig zu Enrique zurückkehrt und sich entschuldigt, weiß
dieser zum ersten Mal genau über seine wahre Identität Bescheid. Dennoch
schweigt er und will feststellen, wie weit Juan geht, um sein berufliches Ziel zu erreichen. Deshalb verwickelt Enrique ihn in eine sexuelle Affäre, in der er seinerseits
seine „ökonomische Machtposition gegenüber Juan ausnutzt“23 und sich körperlich
abreagiert. Ohne Befriedigung zu finden, macht Juan mit und erhält nach einigem
Hin und Her tatsächlich die ersehnte Rolle der Zahara (wodurch man eben als Zuschauer retrospektiv erkennen kann, dass es sich bei allen bisherigen Szenen mit
Juan als Zahara um vorgezogene Ausschnitte aus dem Film-im-Film handelt). Zugleich wächst in Enrique der Drang, auch das letzte Geheimnis seines mysteriös
bleibenden Geliebten zu lösen:
Enrique is a character who wants to know. He has the intuition that behind what is happening to him lies a secret, one that goes far beyond
what I show. That’s the reason why he decides to give the role of Zahara
to Angel. He wants to make a film of La Visita because it’s the last thing
Ignacio asked him to do in his letter. It’s as though he’s been sent a message from beyond the grave.24
Um also im Film Geheimnisse einzubeziehen, die er nicht zeigen kann, braucht
Almodóvar die Literatur. Solche Dinge stehen auch in Ignacios handschriftlichem
Buch, das aber für filmische Zwecke geändert werden muss, wenn man seine Geheimnisse letztlich gelüftet hat. In der Zwischenzeit liest Juan-Ángel im Drehbuch
und bemerkt, dass Enrique den Schluss der Geschichte abgewandelt hat: „[…] Enrique changes one essential part of La Visita, a part which Ignacio couldn’t change:
the end.“ Es findet darin kein Happy-End mehr statt, indem Zahara einfach das
23
24
Polimeni: Kitsch, S. 96.
Strauss: Almodóvar on Almodóvar, S. 217.
10
Büro von Pater Manolo verlassen dürfte, um zu ihrem Rendezvous mit Enrique
Serrano in der alten Konditorei zu gehen, wo sie als Jungen gerne eingekehrt sind;
stattdessen verfolgen Manolo und sein Kollege Pater José ein Mordkomplott, dessen Umsetzung wir nun nicht länger im verkleinerten Filmkader des früheren Filmim-Film verfolgen, sondern in gleicher Besetzung und gleichem Dekor aus der Perspektive bei den Dreharbeiten als Handlungselement des Films auf erster Ebene.
Pater José macht kurzen Prozess und bricht Zahara eigenhändig das Genick, während ihr Pater Manolo, wie von Zahara gewünscht, noch schnell die Absolution erteilt. Enrique verteidigt seine Eingriffe in den originalen Text aus ähnlichen Überzeugungen heraus, die Almodóvar zum Ausdruck bringt, wenn er Folgendes feststellt:
Meine Drehbücher sind reine Erfindung, aber je erfundener und unwirklicher sie sind, desto mehr bemühe ich mich bei ihrer Umsetzung um
Verismus und Naturalismus. […] Das gehört zu den wunderbarsten
Dingen, die das Kino erlaubt: aus etwas Unwahrscheinlichem etwas
Wahrscheinliches zu machen.25
Wenn ich von Realität spreche, meine ich etwas, das es schon gibt, das
man benutzen kann, zeigen, aber auch verformen. Es geht um Darstellung. Realität interessiert mich als darstellbares Objekt und als Element
zur Konstruktion einer Fiktion. […] für mich wird ein Film immer eine
Darstellung sein, und Darstellung bedeutet immer Künstlichkeit. Von
Realität sprechen heißt auch von Manipulation sprechen.26
Nach Abschluss der Szene bricht Juan-Ángel, noch in voller Maske und mitten im
Studio, vor Erschöpfung und innerer Erregung in Tränen aus. Denn er weiß, dass
die Wahrheit, der Enrique bei der Adaptation der Erzählung mit Hilfe seiner Vorstellung von Ignacios Tod näher kommen wollte,27 als es in Der Besuch formuliert
ist, damit noch immer nicht gefunden ist. Außerdem begreift er, dass ihm Enrique
im Sinne der vorgenommenen Modifikationen klarzumachen versucht, dass ihre eigene Liebesgeschichte miteinander kein glückliches Ende haben wird.
Da betritt einer der letzten überraschenden Besucher des Films den Set, Senor
Berenguer, der sich gegenüber Enrique „als der Böse in Ihrem Film“ identifiziert.
Er war früher Pater Manolo und ist, nachdem er den Orden verlassen hat, Lektor
in einem Verlag für Nachwuchsschriftsteller geworden. Seine Version von Ignacios
Geschichte – es ist (nach Juan und dessen Mutter) die insgesamt dritte, die Enrique
Almodóvar: Filmen am Rande des Nervenzusammenbruchs, S. 43.
Ebd., S. 189.
27 Vgl. ebd., S. 30: „Das ist genau das, was mich am Kino interessiert: was von der Realität
spricht, was wahr ist, was aber zu einer Darstellung der Realität werden muß, um erkennbar zu
sein.“
25
26
11
auf seiner detektivhaften28 Suche nach der Wahrheit von jemandem vorgesetzt bekommt – läuft als die einzige echte Rückblende in Schlechte Erziehung ab und wird
dem entsprechend ohne verkleinerten Bildkader gezeigt. Berenguer erinnert sich,
wie er im Verlag von Ignacio belästigt wurde, der seine Erzählung zur Drucklegung
anbot. Nach der Ablehnung und vergeblichen Versuchen Berenguers, Ignacio abzuwimmeln, kommt es, wie in den anderen Fassungen, zur Erpressung, da Ignacio
Geld für eine Geschlechtsumwandlung braucht. Berenguer hält ihn jedoch mit bloß
kleinen Beträgen hin, weil er Ignacio möglichst oft zuhause besuchen will, um dort
auch Juan zu treffen, in den er sich verliebt hat. Die Leidenschaft zwischen diesen
beiden Männern geht schließlich so weit, dass sie den Plan fassen, Ignacio mit einer
Überdosis zu beseitigen, die Juan dem arglosen Bruder besorgen soll. Almodóvar
inszeniert die Verabredung zum Mord in deutlicher Analogie zu entsprechenden
Sequenzen in Billy Wilders klassischem Film noir Double Indemnity/Frau ohne Gewissen (1944) und intensiviert auf diese Weise den Genrebezug. Indem Juan den Plan
ausführt, lädt er jene Schuld auf sich, die ihn fortan nicht mehr zur Ruhe kommen
lässt, so sehr er sich auch darum bemüht, Sühne zu leisten und als Ángel ein anderer zu werden. Was Ignacio betrifft, spitzt sich die Situation noch insofern zu, als er
zum Zeitpunkt des Anschlags überzeugt davon ist, es endlich „geschafft“ zu haben,
das heißt innerlich bereit für eine Entziehungskur zu sein, um danach die Operation auf sich nehmen zu können. Dieses Glücksgefühl bringt er in einem allerletzten
Brief an Enrique zum Ausdruck und gibt sich dabei die zu starke Dosis Heroin. Im
nächsten Augenblick kollabiert er, sein Kopf kippt auf die Tastatur der Schreibmaschine und betätigt unwillkürlich viele Typen zur gleichen Zeit. Was bleibt, sind die
an einer Stelle auf dem Papier in mehreren Schichten übereinander geklopften
Buchstaben – ein völlig unkonventionelles, palimpsestartiges Schriftzeichen für das
Unsagbare, Undarstellbare, Unentzifferbare des Todes.29
Vgl. Strauss: Almodóvar on Almodóvar, S. 217: „[…] a film-maker works – or at least I do – in
the same way as a private detective, doing research into people and events. In order to move
from one character to another, from one scene to the next, you highlight relationships of cause
and effect that could exist, as in the deductive reasoning of a private detective.“
29 Vgl. ebd., S. 218.
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[Typen und Chiffre des Todes]
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Schlechte Erziehung endet auf ähnliche Weise, wie er begonnen hat, obwohl das äußere Erscheinungsbild der Schlusssequenz ganz verschieden ist. Welchen weiteren
Verlauf die verschiedenen Schicksale nämlich nehmen, wird uns mit literarischen
Mitteln mitgeteilt, und zwar auf Schrifttafeln während des Abspanns, die in rechteckige Elemente des Eingangstors zu Enriques Villa eingeblendet werden, das ihn
und Juan-Ángel von nun an für immer trennt. So lesen wir von neuen Untaten (wie
dem Mord an Senor Berenguer, den Juan begeht, aber wie einen Autounfall mit
Fahrerflucht aussehen lässt), Andeutungen, Geheimnissen. Beruflich hat Juan nicht
erreicht, was er sich vorgenommen hatte, blieb ihm doch trotz des großen Erfolgs
von Der Besuch eine Laufbahn als Filmstar versagt, weshalb er sich mit kleinen Rollen in Fernsehserien durchschlagen muss. Nur für Enrique Goded stellte die Verfilmung ein Sprungbrett zu einer internationalen Karriere dar; er macht weiter Filme „voller Leidenschaft“, wie zu lesen ist. Der Weg in die Zukunft führt also auch
am Ende über die geschriebene Sprache und eröffnet eine Reihe von narrativen
Möglichkeiten, von denen jede für sich zum Kern eines neuen Films ausgebaut
werden könnte.
[Was wurde aus Senor Berenguer…]
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