Grammatikreader

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Grammatikreader
Abteilung für Ältere deutsche Literatur
102.0 Basismodul I ÄDL:
Einführung in die Lektüre mhd. Texte
Reader:
Erläuterungen zur Einführung in die
mittelhochdeutsche Grammatik
Inhaltsverzeichnis
I.
1)
2)
3)
4)
5)
Einführung: »Mittel-hoch-deutsch«
Der Begriff »Mittel-hoch-deutsch«
Gab es eine mhd. Literatursprache?
Aussprache und Graphematik des Mhd.
Vokalsystem
Konsonantensystem
2
2
3
3
4
4
II. Das Verhältnis von Mhd. – Nhd
1)
Qualitative Veränderungen
a) Senkung der »steigenden« Diphthonge
b) Monophthongierung der »fallenden« Diphthonge
c) Diphthongierung der alten Langvokale
d) Senkung der Kurzmonophthonge
e) Rundung
f) Entrundung
2)
Quantitative Veränderungen
a) Dehnung des Stammvokals vor einfachem Konsonant
b
Kürzung des Stammvokals vor Doppelkonsonanz
c) Nebensilbenabschwächung
5
5
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5
5
III.
1)
2)
3)
4)
5)
Charakteristische mhd. Schreib- und Lautformen
Mhd. Auslautverhärtung
Kontraktionen
Ausfall von -h- zwischen Vokalen
Proklise und Enklise
Assimilationserscheinungen (Lenisierung)
6
6
6
6
6
6
IV. Zur Morphologie der mhd. Verben
1) Allgemeines
2) Schwache Verben
Paradigma der schwachen Verben: Beispiel mhd. meinen
Umlaut und sog. Rückumlaut
Umlaut/Rückumlaut bei den alten jan-Verben
Primärberührungseffekt/Nasalschwund/Ersatzdehnung
3) Starke Verben
Paradigma der starken Verben: Beispiel mhd. geben
Ablautreihen
Der Grammatische Wechsel
4) Unregelmässige Verben
a) Präterito-Präsentien
b) Mischverben
c) Mhd. wellen
d) Wurzelverben
e) Verbum substantivum sîn
f) Kontrahierte Verben
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1
V.
1)
2)
Tempus und Modus
Besonderheiten im Gebrauch des mhd. Tempus
Besonderheiten im Gebrauch der mhd. Modi
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VI.
1)
2)
3)
4)
5)
6)
Negationen
Die mhd. Verneinungspartikel
Häufung von Negationen im Mhd
Negation nach prohibitiven Verben im Hauptsatz
Negation in konjunktivischen Nebensätzen
Doppeldeutigkeit von mhd. iht, ieman, ie, iender
Doppeldeutigkeit von mhd. dehein, dekein, kein, nehein, enhein
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15
15
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VII. Zur Morphologie der mhd. Substantive
1) Grundsätzliches
2) Schwache Deklination
3) Starke Deklination
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16
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VIII. Adjektive
1) Morphologie
a) Schwache Deklination
b) Starke Deklination
c) Unflektierte Form
2) Syntax
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17
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IX.
1)
2)
3)
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18
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Adverbien
Einige leicht zu verwechselnde Adverbien und ihre Funktionen
Häufige Adverbien mit speziellen Bedeutungen
Besonderheiten im Gebrauch mhd. Adverbien
X.
1)
Pronomen
Personalpronomen
a) Personalpronomen der 1. und 2. sowie der 3. Person
b) Reflexivpronomen der 3. Person
2) Possessivpronomen
3) Demonstrativpronomen
4) Interrogativpronomen
5) Zu den Indefinitpronomen
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XI.
Zum Gebrauch des Genitivs
1) Der Genitiv als Objektkasus
2) Der Genitiv in Beziehung auf Substantive, Adjektive, Pronomina und Numeralia
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21
21
XII.
22
Bemerkung zum semantischen Wandel
XIII. Tabellarische Findehilfe
23
XIV. Ausgewählte Hilfsmittel
Gängige Abkürzungen
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27
Linie bezeichnet. Die Trennung zwischen Niederdeutsch und Hochdeutsch wurde durch die sog.
zweite (hochdeutsche) Lautverschiebung bewirkt.
I. EINFÜHRUNG: »MITTEL-HOCH-DEUTSCH«
1.) Der Begriff »Mittel-hoch-deutsch«
Das Kompositum enthält drei Komponenten:
mittel
chronologische Einordnung
hoch
geographische Einordnung
deutsch
Benennungsmotiv
Mittel-hoch-DEUTSCH – das Benennungsmotiv der deutschen Sprache:
In älteren Quellen (9. Jh.) kommen häufig Sprachbezeichnungen vor, die von Stammesnamen
(Franken, Sachsen, Baiern usw.) abgeleitet sind, z. B. ahd. in frenkisgon zungun – in fränkischer
Sprache; lat. francisce - fränkisch, saxonice – sächsisch, quod Baiuwarii dicunt – was die
Bajuwaren sagen...
Bereits in ahd. Zeit (frühester Beleg 786) und zunehmend ab der zweiten Hälfte des 9. Jh.s
verbreitet sich der Begriff lat. teotisce, tiutiscae; ahd. in diutiscûn, diutisg u. ä. Das ahd. Adjektiv
thiutisc stammt von germanisch *theudô, ahd. thiot, mhd. diet ‘Volk, Stamm’, bedeutet also ‘zum
(eigenen) Volk gehörend’. Deutsch meint somit von Anfang an das Idiom der germanischen
Stämme Zentraleuropas in Abgrenzung von den »fremdsprachigen« Völkern.
MITTEL-hoch-deutsch – zeitliche Eingrenzung zwischen dem Alt- und dem Neuhochdeutschen:
Der Beginn der Periode kann relativ eindeutig auf die Mitte des 11. Jh.s datiert werden. 1022
stirbt NOTKER DER DEUTSCHE; nachher klafft eine Überlieferungslücke. Die nächsten erhaltenen,
um 1060 entstandenen Texte sind sprachlich schon deutlich anders gestaltet. Die Hauptkriterien
der Abgrenzung alt-/mittelhochdeutsch sind:
– restlose Durchführung und graphematische Bezeichnung des Umlauts vor ursprünglichem i
in der Folgesilbe (sog. Sekundärumlaut, z. B. ahd. mari > mhd. maere – Geschichte,
Nachricht)
– Zusammenfall der meisten Nebensilbenvokale in ein schwachtoniges e; dadurch Abbau der
Flexionsmorpheme und deren funktionaler Ersatz durch Pronomina oder Artikel (z. B. fona
heilegemo geiste > von dem heiligen geiste).
Das Ende der mhd. Epoche ist dagegen »ausgefranst«, da die sprachlichen Neuerungen regional
»gestaffelt« vorankommen. Beispielsweise beginnt die nhd. Monophthongierung (vgl. S. 5) im
Mitteldeutschen schon ab dem 11. Jh., während das Alemannische sie bis heute nicht
durchgeführt hat. Die nhd. Diphthongierung (vgl. ebd.) nimmt ihren Ausgang im Bairischen des
12. Jh.s und stagniert im 16. Jh. an der Grenze zum Niederdeutschen. Es hat sich in der
Forschung eingebürgert, die Periode von etwa 1350 bis 1650 als ‘Frühneuhochdeutsch’ zu
bezeichnen.
Mittel-HOCH-deutsch – sprachgeographische Eingrenzung:
Die Gruppe der schwäbischen, alemannischen, bairisch-österreichischen und ostfränkischen
Dialekte bezeichnet man als ‘Ober-’ oder ‘Hochdeutsch’ im Gegensatz zum ‘Mittel-’ und
‘Niederdeutschen’.
Die Grenzlinie zwischen dem (südlichen) hochdeutschen und dem (nördlichen) niederdeutschen
Sprachraum wird im Allgemeinen nach dem am Rhein gelegenen Ort Benrath als Benrather
2
Einerseits kann einer Vielfalt von Graphemen, z. B. u, v, iv, ú, F, é, iu, ein einziges
zugrundeliegendes Phonem entsprechen, in diesem Falle [y:]. Andererseits kann ein einzelnes
Graphem, z. B. e, mehrdeutig sein und verschiedene Phoneme – [e], [e:], [ə], [ε], [æ] – abdecken.
Es ist das Verdienst Karl LACHMANNs (1793–1851), für seine Ausgaben mhd. Texte eine
Idealorthographie erarbeitet zu haben, die in dieser Form zwar keiner mittelalterlichen Realität
entspricht, dafür aber den Vorzug einer praktisch zu handhabenden, allgemein verfügbaren
Bezugsbasis bietet. In gewisser Weise werden erst dadurch die Texteditionen, Grammatiken und
Wörterbücher miteinander »kompatibel«, was den Einstieg in die Materie erleichtert. (Dass es sich
bei diesem normierten Mhd. um ein wissenschaftliches Konstrukt handelt, sollte man sich aber umso
mehr bewusst halten, als die editorischen Eingriffe bei LACHMANN und seinen Nachfolgern weit über
rein formale Vereinheitlichungen hinausgehen und tendenziell immer auch die eigentliche
»Textsubstanz« tangieren.)
2.) Gab es eine mhd. Literatursprache?
Während nichtpoetische Gebrauchstexte (z. B. Urkunden, Übersetzungsliteratur) deutlich
dialektal gefärbt sind und manche Autoren ein ausgeprägtes Bewusstsein ihrer dialektalen
Eigenart erkennen lassen, zeigen die Hauptwerke der höfischen – d. h. vom Adel getragenen –
Literaturblüte um 1180/1230 Tendenzen zu einer überregionalen Kunstsprache. Dies dürfte sich
einerseits aus der genealogischen, gesellschaftlichen und politischen Überregionalität des Adels
(Hoffeste, verstreute Besitztümer, Wanderkönigtum) erklären; andererseits arbeiten aber auch
viele Dichter »überregional«. So verkehren der Limburger Heinrich von Veldeke, der Franke
Wolfram von Eschenbach und der Baier/Österreicher Walther von der Vogelweide alle am Hof
des Landgrafen und bedeutenden Literaturmäzens Hermann von Thüringen.
Zudem entsprechen die (sprachliche) formale Reinheit, die Einheitlichkeit des Stils und die
Zurückdrängung allzu individueller Züge dem ästhetischen Ideal der Stauferzeit.
Die wichtigsten Anzeichen dieser höfisch-dichterischen Gemeinsprache (die aber keinesfalls mit
der heutigen normierten Standardsprache vergleichbar ist) sind:
– Die Autoren umgehen offenbar bewusst solche Reime, die nur in ihrem Dialekt
»funktionieren« würden. So vermeidet z. B. Heinrich von Veldeke den sonst im
Limburgischen beliebten Reim tît : wît, weil dieser sich nicht ins Oberdeutsche übertragen
lässt (> zît : wîz – Zeit, weiss).
– Auch bestimmte Wörter die nur regional gebräuchlich sind, werden gemieden. Bairische
Autoren verzichten etwa auf die in ihrem Dialekt bis heute gebräuchlichen Dualformen des
Pronomens (ös, enk – keine nhd. Entsprechung, übersetzbar mit euch/Ihnen), Heinrich von
Veldeke auf so zentrale Termini der limburgisch-niederländischen Dichtung wie blîde – froh.
– Einige Autoren entschuldigen sich explizit für mundartliche Mängel ihrer Werke (z.B. etwa
in Albrechts von Halberstadt Prolog zu seiner Übersetzung der Ovidschen 'Metamorphosen').
– Umgekehrt werden mundartliche Sprachbrocken als Stilmittel in parodistischen und
satirischen Texten eingesetzt (Neidharts Dörperlieder; Heinrich Wittenwilers komischer
Roman ‘Der Ring’).
Eigentlich perfektioniert wurde die »mhd. Literatursprache« (mit einheitlich normierter
Orthographie und Grammatik) allerdings erst von den Philologen des 19. Jh.s, namentlich von
Karl LACHMANN und den Bearbeitern der mhd. Wörterbücher und Grammatiken.
Im Übrigen erlebte diese dichterische Ausgleichssprache nur eine kurze Blüte. An ihre Stelle
traten am Ende der Stauferzeit regionale Schreibdialekte und Kanzleisprachen, von denen das
Meissnische zunehmend an Bedeutung gewann und sich im 16. Jh. (nicht zuletzt dank den
Schriften Martin Luthers) als dominante überregionale Ausgleichssprache durchsetzen konnte.
Auf dieser – also nicht auf dem Mhd. – basiert unser heutiger hochdeutscher Standard; organisch
gewachsene Abkömmlinge des Mhd. sind hingegen die rezenten süddeutsch-österreichischschweizerischen Dialekte.
Aussprache:
Allgemein gilt: Die »normalmhd.« Orthographie hält sich wesentlich enger an die phonetischen
Gegebenheiten (z.B. s.u. die Auslautverhärtung) als die nhd., die stattdessen grösseren Wert auf ein
einheitliches Schriftbild von Wortstämmen und von etymologisch zusammengehörenden
Wortfamilien legt.
Die wichtigsten Ausspracheregeln auf einen Blick
I)
Vokale
die Monophtonge a, e/ë, i, o, u, ä, ö, ü
â, ê, î, ô, û, ae, oe, iu
der Umlaut
iu
die Diphthonge
ei, ou, öi/öu
ie, uo, üe
II) Konsonanten
k, c, ck
ph, pf
f, v
h
z
s
3.) Aussprache und Graphematik des Mhd.
Die Handschriften, in denen mhd. Texte überliefert sind, bieten ein orthographisch nur sehr
bedingt einheitliches Bild.
3
werden kurz gesprochen
werden lang gesprochen
ist wie [y:] auszusprechen
werden als [ei], [ou], [oi] gesprochen
werden als [íə], [úo], [ýə] gesprochen
werden als [k] ausgesprochen
als Affrikat [pf] ausgesprochen
sind als stimmloser Frikativ [f] auszusprechen
wird im Silbenanlaut als Hauchlaut [h] ausgespochen
w i r d im Silbena u s l a u t a l s Reibelaut [X] ausgesprochen
wird in den Verbindungen -ht, -hs als Reibelaut [X] ausgesprochen
wird als Affrikata [ts] ausgesprochen
wird nach Langvokal/im Auslaut als stimmlose Spirans [s]
ausgesprochen
behält in den Verbindungen -st, -sp, -sl, -sm, -sn, -sw seinen Lautwert
(z.B. s-tein,)
die Verbindungen sk, sc, sh, sch werden als [ʃ] ausgesprochen, also
wie der Anfangslaut im heutigen »Schule«
4.) Vokalsystem
a) Kurz- und Langvokale
Ebenso wie das Nhd. kennt schon das Mhd. fünf Vokale, die in je zwei quantitativen Varianten
auftreten:
Kurzvokale: a, e, ë, i, o, u
–
Vokaldreiecke:
Langvokale: â, ê, î, ô, û
Zur Bezeichnung der Länge dient also der Zirkumflex (^). In den Grammatiken und
Wörterbüchern ist dies durchwegs, in den kritischen Editionen von Texten der »klassischen«
Zeit (ca. 1180–1250) in aller Regel der Fall; in Ausgaben »nachklassischer« Texte wird auf das
Zeichen jedoch meistens verzichtet. Zudem beachte man, dass in letzter Zeit viele Editoren
orthographische Vereinheitlichungen nur noch in ganz engem Rahmen durchführen.
Die Kürze eines Vokals wird nur in Ausnahmefällen speziell bezeichnet, ist aber phonetisch zu
realisieren und interpretatorisch stets zu berücksichtigen: der man (Mann) ist nun wirklich
etwas völlig anderes als der mân (Mond)!
5.) Konsonantensystem
a) Graphie
Das Mhd. verfügt im Prinzip über den gleichen konsonantischen Lautbestand wie das Nhd. Die im
folgenden aufgezählten wichtigsten Abweichungen betreffen eigentlich nur die unterschiedliche
S c h r e i b u n g gewisser Laute:
b) Umlaute
Länge und Kürze werden im Mhd. auch bei den Umlauten unterschieden:
kurze Umlaute: ä, ö, ü
lange Umlaute: æ, œ, iu.
1. Zwei Grapheme für denselben Laut
k–c
Beide Zeichen stehen für den Verschlusslaut [k]! k pflegt im Silbenanlaut, c dagegen im
Silbenauslaut gebraucht zu werden: vgl. kunst - Kunst, Können; dan-kes - (des) Dankes; sen-ken senken gegen danc - Dank, danc-te - dankte; demgemäss erscheint bei der Verdoppelung ck: vgl.
sac-kes - (des) Sackes.
Bei Fremdwörtern erscheint c auch im Anlaut: vgl. etwa commûne - Gemeinde.
Achtung: LEXER führt auch diese Fremdwörter unter dem Anfangsbuchstaben k!
iu bezeichnet im Mhd. also keinen Diphthong, sondern ist wie [y:] auszusprechen!
c) Diphthonge
Hingegen kennt das Mhd. folgende sechs Diphthonge, die zwei Untergruppen zugehören:
»steigende« Diphthonge: ei, ou, öi/öu
Bei der Artikulation der »steigenden« Diphthonge führt die Zunge eine Aufwärtsbewegung
aus. Sie sind etwa wie im heutigen Berndeutsch auszusprechen, d. h. genau so, wie sie
geschrieben sind: mhd. ei entspricht [ei] und nicht [ai]!
ph – pf
Beide sind als Affrikat [pf] auszusprechen, z. B. phert - Pferd; apfel - Apfel.
»fallende« Diphthonge: ie, uo, üe
f–v
Beide sind immer als stimmloser Frikativ [f] auszusprechen: vgl. frouwe - Dame; frô - Herr/froh;
vreude - Freude; vrî - frei.
Achtung: LEXER führt auch die Wörter mit f unter dem Anfangsbuchstaben v!
Auch hier kann man sich an die schweizerdeutsche Lautung halten. Hier senkt sich die Zunge
bei der Artikulation. Man beachte, dass Diphthonge stets »erstbetont« sind; mhd. ie ist also
nicht wie nhd. ‘je’ auszusprechen, sondern wie in schweizerdeutsch ‘lieb’ mit der Betonung
auf dem i!
2. Dasselbe Graphem für zwei Laute
h
Mhd. h bezeichnet:
a) den Hauchlaut [h] im Silbena n l a u t : vgl. hals - Hals; se-hen - sehen
b) den Reibelaut [X] im Silbena u s l a u t : vgl. doh - doch; sah - (er) sah; mih - mich, hôh-zît - Fest
c) ebenfalls den Reibelaut in den Verbindungen -ht, -hs: vgl. vuhs - Fuchs; naht - nicht = Naht,
sondern Nacht
N. B. – Im Mhd. existiert k e i n stummes Dehnungs-h!
4
Das Alemannische und Bairische unterscheiden phonetisch nicht zwischen ach- und ich-Laut.
Auch in Wörtern wie ich - ich; vrech - kühn oder verch - Leib und Leben ist der raue »Chuchichäschtli«-Laut anzusetzen!
e) Rundung
–
von e zu ö (in Umgebung von l, sch, Labialen, Affrikaten): vgl. z.B. helle > Hölle; leschen >
löschen; lewe > Löwe; schepfen > schöpfen; ergetzen > ergötzen
–
von â zu [o:] (in Umgebung von Nasalen, Dentalen, Labialen, h): vgl. z.B. âne > ohne; wâc
> Woge; quât > Kot
–
von i zu [y]: vgl. z. B. finf > fünf; wirde > würde; flistern > flüstern
z
Mhd. z bezeichnet:
a) das Affrikat [ts] im Silbena n l a u t : vgl. zal, zorn, her-ze.
Intervokalisch und bei vorangehendem Kurzvokal pflegt man für die Affrikata tz zu schreiben:
z. B. setzen - setzen, hingegen er sazte - er setzte.
b) den stimmlosen Frikativ [s] nach Langvokal sowie im Auslaut: vgl. süeze - Milde/Süsse
(Diphthonge sind prinzipiell den Langvokalen gleichgestellt), grôz - gross, daz -dass .
Intervokalisch und bei vorangehendem Kurzvokal erscheint die Geminate zz: z. B. wazzer Wasser.
N. B. Im Allgemeinen kann man sich an die Aussprache eines Wortes im Nhd. halten.
f) Entrundung
–
von ü zu i: vgl. z. B. küssen > Kissen
–
von öu zu ei : vgl. z. B. zöugen > zeigen
–
von iu über eu zu ei: vgl. z. B. spriuzen > spreizen
2.) Quantitative vokalische Veränderungen Mhd. > Nhd.
a) Dehnung des Stammvokals vor einfachem Konsonant (= in offener Tonsilbe)
Als »offen« gelten solche Silben, die auf einen Vokal enden; durch die Einschränkung »Ton«silbe (= betonte Silbe) werden die auch im Nhd. noch immer kurzen Vorsilben wie be-greifen, gekommen usw. aus der Definition ausgeschieden.
II. DAS VERHÄLTNIS VON MHD. - NHD.
1.) Qualitative vokalische Veränderungen Mhd. > Nhd.
Sämtliche der oben erwähnten Diphthonge, sowohl die »steigenden« als auch die »fallenden«
sind in der Entwicklung zum Nhd. verschwunden, allerdings auf unterschiedlichem Weg:
loben >
leben >
(Dehnung auch bei geschlossener Tonsilbe vor
r+Dental)
vart >
Fahrt
swert >
Schwert
Das typisch nhd. Analogieprinzip führt schliesslich dazu, dass die Vokaldehnung auch auf
geschlossene Silben übertragen wird (z. B. T[a:]g, wie T[a:]-ges etc.).
a) Senkung der »steigenden« Diphthonge ei, ou, öi > ai/ei, au, eu
meie >
Mai
boum >
Baum
vröide >
Freude
lo-ben
le-ben
Sonderfall:
b) Kürzung des Stammvokals vor Doppelkonsonanz (= in geschlossener Tonsilbe)
dâhte >
dachte
Sonderfall:
(Kürzung auch bei offener Tonsilbe vor -m, -t u. a.
lieht >
Licht
möglich)
jâmer >
Jammer
muoter >
Mutter
b) Monophthongierung der »fallenden« Diphthonge ie, uo, üe > [i:], [u:], [y:]
liep >
lieb
guot >
gut
blüete >
Blüte
Im Nhd, kann um die Länge des neu entstandenen Monophthongs zu markieren ein Dehnungse eingefügt werden. Daher die Ähnlichkeit von mhd. liep und nhd. lieb. Das nhd. Dehnungs-e
wird nicht augesprochen. Merksatz: mhd. lieber müeder bruoder
c) Nebensilbenabschwächung
Schon im Übergang von Ahd. zum Mhd. wurden unbetonte Vokale in Nebensilben abgeschwächt.
Lange Vokale wurden kurz, kurze Vokale zum Schwalaut [ə] reduziert. Der Nebensilbenvokal
kann im Mhd. auch wegfallen:
Apokope: Ausfall des auslautenden Vokals.
umbe > umb – um
ich lebe > ich leb – ich lebe
Synkope: Ausfall eines Vokals zwischen zwei Konsonanten. Im Mhd. insbesondere nach
Liquiden (l, r) zu beobachten, wenn der vorhergehende Vokal kurz ist:
helen > heln – verbergen
ausserdem zwischen zwei gleichen oder eng miteinander verwandten Konsonanten:
bœseste > bœste – böseste
c) Diphthongierung der alten Langvokale î, û, iu > ei, au, eu
lîp
>
Leib
hûs
>
Haus
liute >
Leute
Merksatz: mhd. mîn niuwes hûs
d) Senkung der Kurzmonophthonge u, ü > o, ö
sumer >
Sommer
Gesenkt werden die Kurzmonophthonge besonders vor Nasal.
künec >
König
5
verschmilzt, die als solche lexikalisch nicht erfasst ist (vergleichbar den nhd. Verschmelzungen von
zu dem = zum, zu der = zur usw.). Im Mhd. sind die Wortverschmelzungen zahlreich und häufig
metrisch bedingt; Beispiele hierfür sind etwa:
III. CHARAKTERISTISCHE MHD. SCHREIB- UND LAUTFORMEN
1) Auslautverhärtung
Die nhd. Orthographie achtet vornehmlich auf ein einheitliches Schriftbild zusammengehöriger
Wörter: z. B. die Liebe, lieb, Geliebter etc., und dies obschon p h o n e t i s c h der stimmhafte
Verschlusslaut [b] am Silbenende effektiv auch heute noch durch die stimmlose Variante [p]
ersetzt wird. Dieses Phänomen der »Auslautverhärtung« wird dagegen im Mhd. auch in der
Schreibung zum Ausdruck gebracht: vgl. diu lie-be – die Liebe, lie-bes – liebes, aber liep – lieb.
Der gleiche Wechsel zwischen stimmhafter und stimmloser Variante ist auch bei den anderen
Verschlusslauten (d und t; g und k/c) zu beobachten: vgl. leit/lei-des – Leid(es); wec/we-ges –
Weg(es); zei-gen/zeic-te – zeigen/zeigte.
anz
inz
überz
ûfz
umbez
ûfen
umben
übern
zer
zen
zeme/zem
anme/amme/am
inme/imme/im
ûfme/ûfem
underm
grouztern
zôher
ichz
d’ougen
ine, dune
ezn, sin, irn
zOuwe
sküneges
dêr
2) Kontraktionen
Neben mhd. Wortformen wie etwa er liget – er liegt, er leget – er legt, er saget – er sagt u.a.
erscheinen häufig auch kontrahierte Formen, bei denen nachfolgende Lautgruppen
zusammengezogen sind:
ige, ibe und ide
ege
age
abe
zu
zu
zu
zu
î
ei
ei / ai
â
(er liget > er lît / er gibet > er gît / er quidet > er quît)
(er leget > er leit)
(er saget > er seit / maget > meit / er klaget > er kleit)
(er habet > er hât / haben > hân)
Neben kontrahierten bleiben freilich immer auch unkontrahierte Formen im Mhd. erhalten.
3) Ausfall von -h- zwischen Vokalen
Ein -h-, das zur Bezeichnung eines Hauchlautes zwischen zwei Vokalen steht, kann im Mhd.
ausfallen, wobei die beiden angrenzenden Vokale zu einem Laut zusammengezogen werden.
Diese Kontraktionserscheinung wird in den mhd. Handschriften und dementsprechend auch in
den normalisierten Textausgaben graphisch berücksichtigt. Der Ausfall von -h- zwischen
Vokalen ist umgangssprachlich bzw. dialektal bedingt zuweilen auch im Nhd. üblich.
mhd. hâhen
mhd. vlêhen
mhd. sehen
>
>
>
=
=
=
=
=
=
=
=
=
=
=
=
=
=
=
=
=
=
=
=
=
=
=
=
an daz – ans/an das
in daz – ins/in das
über daz – übers/über das
ûf daz – aufs/auf das
umbe daz – ums/um das
ûf den – auf den
umbe den – um den
über den – über den
ze der – zur/zu der
ze den – zu den
ze deme – zum /zu dem
an deme – am/an dem
in deme – im/in dem
ûf deme – auf dem
under deme – unterm/unter dem
gruozte er in – grüsste er ihn
zôh er – zog er
ich ez – ich es
die ougen – die Augen
ich ne, du ne – ich nicht, du nicht (ne ist Verneinungspartikel)
ez ne, si ne, ir ne – es nicht usw. (ne ist Verneinungs-partikel)
ze Ouwe
des küneges
daz er
In einigen Fällen entstehen aus Artikel oder Pronomen + ist oder ich Verschmelzungsformen:
deist/est
=
ez ist – das/es ist
erst
=
er ist – er ist
deiz
=
daz ez – dass es
deich
=
daz ich – dass ich
hân – hängen
vlên – flehen
sên – sehen
4) Proklise und Enklise
Im Mhd. lehnen sich oftmals unbetonte oder wenig betonte Wörter innerhalb einer
zusammengehörigen Satzgliedgruppe an das nächststehende betonte Wort an. Je nach Stellung
des unbetonten Wortes spricht man von einer Proklise (→ griech. proklínein – vorwärts neigen),
wenn es sich an ein folgendes Wort anlehnt (z.B.: ich ne → ine - ich nicht, daz ich → deich –
dass ich), von einer Enklise, wenn es sich an das vorangehende Wort anlehnt (z.B.: bist du →
bistu – bist du, mohte er → mohter – konnte er). Proklitisch sind insbesondere Präpositionen und
Artikel, enklitisch vor allem Pronomina, die sich an Verbformen anschliessen. Charakteristisch
für das Mhd. ist die Abschwächung unbetonter Wörter (best. Artikel oder Pronomen) zu einem
einzigen Laut, der dann mit dem vorangehenden oder folgenden Wort zu einer Einheit
5) Assimilationserscheinungen
Laute, die in ihrer Bildungsweise einander verwandt sind, haben im Mhd. die Tendenz zu
vollständiger oder teilweiser Angleichung (z.B. -mb- ↔ -mm-/ -nm- ↔ -mm-/ -nt- ↔ -nd- u.ä.). Da
es sich bei diesen Assimilationserscheinungen nur um eine Tendenz, nicht aber um eine konsequente
Regelung handelt, können assimilierte und unassimilierte Formen durchaus nebeneinander
vorkommen:
umbe
unmære
6
=
=
assimiliert zu umme – um
assimiliert zu. ummære – unlieb, als gering erachtet
verne
=
assimiliert zu. verre – weit
sterne
=
assimiliert zu. sterre – Stern
Die partielle Assimilation von -nt- → -nd- und -mt- → -md- begegnet oftmals bei schwachen
Präteritalformen (hierzu s.u.). Diese Assimilation vom stimmlosen t zum stimmhaften d nach den
Nasalen n und m, zuweilen auch nach den Liquiden l und r wird als Lenisierung bezeichnet:
er dienete/diende
er rûmte/rûmde
er solte/solde
5. Das Mhd. kennt schliesslich nur ein (synthetisches) Genus verbi: das Aktiv, das Passiv wird
durch werden oder sîn + Partizip. Prät. gebildet (Präs.: ich wirde gesehen; Prät.: ich wart
gesehen). Das Vollzugspassiv (mit werden) und das Zustandspassiv (mit sîn) werden allerdings
nicht konsequent unterschieden.
2.) Schwache Verben
Paradigma der schwachen Verben: Beispiel mhd. meinen
(Infinitiv: dienen – dienen)
(Infinitiv: rûmen – räumen)
(Infinitiv: soln/suln – sollen/müssen)
Präsens
Indikativ
Sg 1
meine
2
meinest
3
meinet
Pl 1
meinen
2
meinet
3
meinent
Konjunktiv
meine
meinest
meine
meinen
meinet
meinen
Präteritum
Indikativ
Sg 1
meinte
2
meintest
3
meinte
Pl 1
meinten
2
meintet
3
meinten
Konjunktiv
meinte
meintest
meinte
meinten
meintet
meinten
Partizip
Präsens
meinende
Präteritum
gemein(e)t
Imperativ
Sg 2
Pl 2
Gerundium
Genitiv
meinennes, meinendes
IV. ZUR MORPHOLOGIE DER MHD. VERBEN
1.) Allgemeines:
Seit Jacob GRIMM unterteilt man mit Blick auf das Mhd. ebenso wie auf das Nhd. drei Gruppen
von Verben, die sich vor allem durch ihre Präteritalbildung unterscheiden lassen: Starke Verben
bilden die Tempusformen mithilfe des sogenannten Ablauts, d.h. mit Hilfe eines systematischen
Vokalwechsels (z.B. geben – er gap), schwache Verben bilden ihre Präteritalform mit dem
sogenannten »Dentalsuffix« -(e)te (z.B. suochen – er suoch-te). Die unregelmässigen oder
besonderen Verben schliesslich entziehen sich aufgrund weiterer Eigenheiten der Zuordnung zur
Gruppe der starken oder schwachen Verben.
Ein flektiertes Verb besteht gemeinhin aus drei Elementen:
1. aus einer Wurzel, d.h. aus einem Bedeutungskern, der dem Wort oder etymologisch
verwandten Wörtern gemeinsam ist,
2. aus einem stammbildenden Suffix oder Themavokal, durch das ein Wort einer bestimmten
Stammklasse zugeordnet wird bzw. mit dessen Hilfe aus einer vorhandenen Wurzel neue
Wörter durch Ableitung gebildet werden können (den Komplex von Wurzel und
stammbildendem Suffix nennt man Wortstamm),
3. aus einer Flexionsendung, die die Bestimmung syntaktischer Beziehungen ermöglicht.
Beispiel: mhd. suoch-e-nt (3. Pers. Pl. Präs. Ind.)
 suoch (Wurzel) – e (stammbildendes Suffix/Themavokal) – nt (Flexionsendung)
bzw.
 suoche (Stamm = Wurzel + Themavokal) – nt (Flexionsendung)
Will man eine Formenbestimmung bei einem Verb unternehmen, gilt es darüber hinaus, fünf
Bestimmungselemente zu berücksichtigen:
1. Person: ich, dû, er/ siu/ ez, wir, ir, sie
2. Numerus: Singular und Plural
3. Tempus: Präsens und Präteritum. Nur diese beiden Tempora sind synthetisch, das heisst durch
morphologische Markierungen am Wortstamm gebildet. Daneben gibt es die periphrastisch
gebildeten, also zusammengesetzten Tempora Perf. (haben oder sîn + Part. Prät.) und Futur
(verschiedene Formen möglich: suln/ soln, aber auch wellen oder müezen + Infinitiv, werden
+ Part. Präs. oder Infinitiv).
4. Modus: Indikativ, Konjunktiv (auch Optativ genannt), Imperativ (nur im Präsens).
meine!
meinet!
Dativ
meinenne, meinende
Ihrer Präsensbildung nach gliedern sich die schwachen Verben noch im Ahd. in drei Klassen: ên Verben, ôn-Verben und jan-Verben (die aufgrund einer i-Synkope bereits im Ahd. auf –en enden).
Im Mhd. ist diese Differenzierungsmöglichkeit anhand der Infinitivendungen nicht mehr möglich,
weil alle schwachen Verben aufgrund von Nebensilbenabschwächung die Infinitivendung -(e)n
aufweisen.
Beispiele:
ahd.
lebên (ên-Verb)
mhd.
leben
7
salbôn (ôn-Verb)
salben
suochen (jan-Verb aus got. sōkjan)
suochen
Charakteristisch für die mhd. schwachen Verben sind die Morpheme -ete, -et, oder -te, -t, die als
Bildungselement für die Vergangenheitsform (Präteritum und Partizip Präteritum) benutzt
werden. Assimiliert nach den Sonanten -m- und -n- erscheint es auch als -de, -d (Lenisierung,
z.B.: er diende). Man nennt dieses Morphem aufgrund des charakteristischen t oder d ein
Dentalsuffix (bzw. nach der Funktion der Vergangenheitsbezeichnung Präteritalsuffix).
mhd. u
ü
mhd. â
æ
mhd. ô
œ
Umlaut und sog. Rückumlaut
Im Gegensatz zum Ablaut (s.u.) handelt es sich beim Umlaut um ein ursprünglich rein
phonetisches Phänomen. Unter Umlaut versteht man einen kombinatorischen Lautwandel, bei
dem umlautfähige Vokale in betonter Silbe mit i oder j in der schwachbetonten Folgesilbe
teilweise angeglichen werden (partielle Assimilation). Der Umlaut setzte dort ein, wo der extreme
(palatale) Hochzungenvokal i, î, j, auf einen dumpfen (velaren) Vokal (a, o, u) der
vorangegangenen Silbe folgte. Dieser wurde durch Annäherung des dumpfen Vokals in Richtung
i (Palatalisierung) beseitigt. Man unterscheidet sprachhistorisch zwischen Primär-, Sekundär- und
Restumlaut.
mhd. û
iu
mhd. ou
mhd. uo
öu
üe
Primärumlaut
germ. a > ahd. e
Sekundärumlaut
ahd. a > mhd. ä,e
Restumlaut
ahd. u > mhd. ü
Stamm
ahd. â > mhd. æ
Ereignis
ahd. ô > mhd. œ
ahd. û > mhd. iu
ahd. ou > mhd. öu
ahd. uo > mhd. üe
ahd. gast, gesti
ahd. faran, du feris
mhd. gast, geste
mhd. varn, du verst
nhd. Gast, Gäste
nhd. fahren, du fährst
ahd. mahtîg
ahd. faterlîh
mhd. mähtec/mehtec
mhd. väterlîch
nhd. mächtig
nhd. väterlich
ahd. kunni
mhd. künne
nhd. Geschlecht,
ahd. mâri
mhd. mære
nhd. Geschichte,
ahd. skôni
ahd. sûri
ahd. loufit
ahd. guotî
mhd. schœne
mhd. siure
mhd. löufet
mhd. güete
nhd. schön
nhd. Bitterkeit, Säure
nhd. (er) läuft
nhd. Güte
Das Nebeneinander von mhd. grüezen, gruozte oder hœren, hôrte verweist auf eine weitere
Erscheinung innerhalb des mhd. Sprachgebrauchs, die als Rückumlaut bezeichnet wird und die vor
allem bei der Flexion einer bestimmten Klasse schwacher Verben (den ehemaligen jan-Verben)
auftreten kann. Die (durchaus missverständliche) Bezeichnung »Rückumlaut« stammt wiederum von
Jacob GRIMM, der irrtümlicherweise annahm, dass bei diesen Verben der ursprüngliche Umlaut
rückgängig gemacht worden sei:
Umlaut/Rückumlaut bei den alten jan-Verben
Die schwachen Verbklassen sind im Mhd. aufgrund der einheitlichen Infinitivendung -en kaum
unterscheidbar. Lediglich die alten jan-Verben sind teilweise noch an Umlaut und
Konsonantengemination in der Wurzelsilbe des Präsens zu erkennen. Bei den umlautfähigen
Stämmen haben die alten jan-Verben im Infinitiv und Präsens einen Umlaut bewirkt:
z.B.:
germ. *satjana(n) >
mhd. setzen
got. lagjan
>>
mhd. legen
got. hangjan
>
mhd. hengen
Es gibt aber auch eine Reihe von schwachen Verben, deren Präteritalformen im Gegensatz zu den
Präsensformen keinen Umlaut besitzen. Diese Erscheinung des nicht umgelauteten Wurzelvokals im
Präteritum wird meist als Rückumlaut1 bezeichnet. Vornehmlich handelt es sich hierbei um
sogenannte langwurzlige jan-Verben, die im Präsens einen langen Vokal oder Diphthong bzw. einen
kurzen Vokal vor zwei Konsonanten haben.
Erst sekundär wurde der Umlaut schliesslich auch als bedeutungsdifferenzierendes Merkmal
eingesetzt, im Nhd. insbesondere für Konjunktiv- und Pluralformen: z. B. der Laden – die Läden.
Die nachfolgende Liste stellt häufig auftretende schwache Verben mit Rückumlaut zusammen:
Umlaut im Infinitiv/Präs.
mhd. kennen (kennen, wissen)
mhd. setzen (sich setzen)
mhd. zeln < zellen (erzählen, aufzählen)
mhd. decken (decken, schützen)
Häufiger als im Nhd., wo vielfach ein Ausgleich durch Analogie stattgefunden hat, wechseln im
Mhd. in den verschiedenen Formen ein und desselben Wortes und zwischen verwandten Wörtern
umgelautete Vokale mit ihren nicht umgelauteten Entsprechungen:
mhd. a
mhd. o
Umlaut
e, ä
ö
wurf, würfel
zucte, zücken
genâde, genædec
wân, wænen
hôch, hœher
hôrte, hœren
hûs, hiuser
brût, briutegome
loufen, löufet
guot, güete
gruozte, grüezen
vater, väterlîch
gast, geste
1
hof, hövesch
got, götinne
2
8
ohne Umlaut (Rückumlaut) im Prät.
kante/kande gekant
sazte
gesazt/gesezt
zalte
gezalt/gezelt
dacte/dahte2 gedact/gedaht
[e – a]
[e – a]
[e – a]
[e – a]
In einigen jüngeren Nachschlagewerken zur Grammatik ist anstelle der Bezeichnung des Phänomens als
„Rückumlaut“ von „umlautlosen Präterita“ die Rede.
Die sw. Verba mit /ck/ im Präs. (etwa mhd. decken, drücken, zücken) bilden ihre Präteritalformen durch
Primärberührungseffekt auch mit (-ht-) neben (-ct-), s.u.
mhd. küssen (küssen)
mhd. knüpfen (festknoten)
mhd. drücken (drücken, pressen)
mhd. zücken (an sich ziehen, zücken)
mhd. wænen (glauben, meinen)
mhd. bewæren (beweisen, bezeugen)
mhd. vælen (verfehlen, fehlgehen)
kuste
knupfte
dructe/druhte
zucte/zuhte
wânde
bewârte
vâlte
gekust
geknupft
gedruct/gedruht
gezuct/gezuht
gewânt/gewænt
bewârtbewæret
gevâlt/gevælet
[ü – u]
[ü – u]
[ü – u]
[ü – u]
[æ –â]
[æ –â]
[æ –â]
mhd. hœren (hören, vernehmen)
mhd. hœnen (verhöhnen, spotten)
hôrte
hônte
gehôrt
gehônt/gehœnet
[œ – ô]
[œ – ô]
mhd. briunen (erklären)
mhd. briuten (sich vermählen)
brûnte
brûte
gebrûnt/gebriunet
gebrûtet/gebriutet
[iu – û]
[iu – û]
mhd. vüeren (führen, leiten)
mhd. grüezen (grüssen)
vuorte
gruozte
gevuort
gegruozt
[üe – uo]
[üe – uo]
3.) Starke Verben
Paradigma der starken Verben: Beispiel mhd. geben
Präsens
Indikativ
Konjunktiv
Sg 1
gibe
gëbe
2
gibes(t)
gëbes(t)
3
gibet
gëbe
Pl 1
gëben
gëben
2
gëbet
gëbet
3
gëbent
gëben
Primärberührungseffekt/Nasalschwund/Ersatzdehnung bei Verben mit Rückumlaut
Neben den bisher charakterisierten schwachen Verben gibt es noch eine kleine Gruppe von
schwachen Verben, deren Präteritalformen nicht nur durch das Dentalsuffix und den Rückumlaut,
sondern auch durch eine unterschiedliche Konsonantengruppe von den Präsensformen abgehoben
sind. Der Primärberührungseffekt betrifft wiederum bei den langwurzligen alten jan-Verben
solche mit den gutturalen Verschlusslauten g, k/ck oder h/ch im Infinitiv und Präsens. Folgt dem
Guttural ein t, wie es in den Präteritalformen durch das Dentalsuffix gegeben ist, so wandelt sich
der Guttural zum Reibelaut h [X]. Beispiele:
3
4
1. Sg. Ind. Prät
ich dâhte
ich dûhte
Indikativ
Sg 1
gap5
2
gæbe
3
gap
Pl 1
gâben2
2
gâbet
3
gâben
Konjunktiv
gæbe
gæbes(t)
gæbe
gæben
gæbet
gæben
Partizip
Präsens
gëbende
Sg 2
gip!
Pl 2
gëbet!
Genitiv
gëbennes, gëbendes
Präteritum
gegëben
Imperativ
Gerundium
Infinitiv
1. Sg. Ind. Prät
Part. Prät.
mhd. (be)decken
ich (be)dahte/dacte
bedaht
mhd. merken
ich marhte/marcte
gemarht/gemarct
mhd. würken/wirken
ich worhte
geworht3
mhd. vürhten
ich vorhte
gevorht4
Steht vor einem dieser Gutturale zudem der Nasal -n-, so fällt dieser in den Präteritalformen aus
(Nasalschwund) und hinterlässt eine sog. Ersatzdehnung, d.h. der Nasal schwindet vor h und
bewirkt die Dehnung des vorhergehenden Kurzvokals; Beispiele:
Infinitiv
mhd. denken
mhd. dünken
Präteritum
Dativ
gëbenne, gëbende
Wie oben bereits erwähnt, bilden starke Verben die Tempusformen mithilfe des sogenannten
Ablauts. Mit dem Terminus »Ablaut« bezeichnete Jacob GRIMM den systematischen,
bedeutungsdifferenzierenden Wechsel bestimmter Vokalqualitäten (z. B. e ↔ o) und/oder
Vokalquantitäten (z. B. a ↔ â) bei etymologisch verwandten Wörtern und Paradigmen.
In den germanischen Sprachen dient der Ablaut zur Tempusbildung der starken Verben; Beispiele:
Infinitiv
1. Pers. Sing. Prät.
Partizip Prät.
got.
niman
nam
numans
aisl.
nema
nam
numinn
ahd.
neman
nam
ginoman
mhd.
nemen
nam
genomen
nhd.
nehmen
nahm
genommen
Part. Prät.
gedâht
gedûht
Der Vokalwechsel von ü – o ist in beiden Beispielen mhd. würken und vürhten zunächst verursacht durch
„Rückumlautung“ ü > u und durch die anschließende o/u-Alternanz. Der Wandel von u > o (vgl.
Vokalsenkung/-brechung) hat seinen Grund in dem /ô/ des germ. Dentalsuffix *-tô.
Es tritt allerdings auch die regelmässige Form gevürhtet auf.
5
9
Bei starken Verben zu beachten ist der im Nhd. verschwundene Ablaut zwischen Singular- und Pluralformen
des Präteritums (hier qualitativer Ablaut: a – â)!
In der Auseinandersetzung mit den starken Verben sind die Stammformen eine unabdingbare
Orientierungshilfe. In Kombination mit weiteren Regeln können durch die Stammformen alle
Konjugationsformen eines Verbs gebildet werden:
VI
Stammformen der starken Verben
VII
Stammform 1 Stammform 2
Stammform 3 Stammform 4 Stammform 5 Stammform 6
1.Sg.Ind.Präs. Infinitiv
1.Sg.Ind.Prät. 2.Sg.Ind.Prät. 1.Pl.Ind.Prät. Part.Prät.
Bsp. nime
nemen
nam
næme
nâmen
genomen
gleicher Vokal gleicher Vokal gleicher Vokal gleicher Vokal gleicher
wie:
wie:
wie:
wie:
Vokal wie:
2./3. Pers. Sg. Pluralformen 3. Pers. Sg. Konj. Prät.
Ind. Präs.
des Ind. Präs. Ind. Prät.
(du
nimest; und
(er/si/ez nam)
er/si/ez nimet) alle Formen des
Konjunktiv
Präs.
Hilfsverb +
Part. Prät.
dienen auch
2./3. Pers. Pl. der
Ind. Prät.
Umschrei(ir nâmet, si bung von
nâmen)
Perf.,
Plusq.perf.
und Passiv
Der Grammatische Wechsel bei starken Verben
Das Phänomen des Grammatischen Wechsels basiert auf dem sog. Vernerschen Gesetz. Bestimmte
stimmhafte bzw. stimmlose Konsonanten alternieren innerhalb einer Wortfamilie und insbesondere
auch innerhalb einer Flexionsreihe (ursprünglich, d. h. im Germanischen, aufgrund von
Betonungsbedingungen).
Ablautreihen der starken Verben
Folgende Tabelle der Ablautreihen stimmt überein mit derjenigen in LEXERs Taschenwörterbuch
bezüglich Anordnung der Spalten und Nummerierung der Klassen.
1.Sg.Ind.Präs. 1.Pl.Ind.Präs.= 1.Sg.Ind.Prät. 2.Sg.Ind.Prät. 1.Pl.Ind.Prät. Part. Prät.
Es gibt folgende Alternanzen:
/f/ ↔ /b/:
/d/ ↔ /t/:
/h/ ↔ /g/:
/s/ ↔ /r/ (Rhotazismus):
Stammform 1 Inf.! Stammf. 2 Stammform 3 Stammform 4 Stammform 5 Stammform 6
Merkmal der Reihe I: langes î im Infinitiv
Besonderheit der Reihe I.2: dem Stammvokal folgt r, w oder h.
I.1
snîde
snîden
sneit
snide/snite
sniten
gesniten
I.2
lîhe
lîhen
lêh
lihe
lihen
gelihen
Merkmal der Reihe II: ie im Infinitiv
Besonderheit der Reihe II.2: dem Stammvokal folgt ein Dental (d, t, z, s) oder h.
II.1 liuge
liegen
louc
lüge
lugen
gelogen
II.2 ziuhe
ziehen
zôh
züge
zugen
gezogen
Merkmal der Reihe III.1: dem Stammvokal i im Inf. folgt Nasal (n, m) + irgendein
Konsonant.
Merkmal der Reihe III.2: dem Stammvokal e im Inf. folgt Liquid (r, l) + irgendein
Konsonant.
III.1 binde
binden
bant
bünde
bunden
gebunden
III.2 wirfe
werfen
warf
würfe
wurfen
geworfen
IV
Merkmal der Reihe IV: meist einfacher Nasal oder Liquid vor oder nach dem Stammvokal
Der Stammvokal ist e, wichtige Ausnahme ist das Verbum mhd. komen.
nime
nemen
nam
næme
nâmen
genomen
riche
rechen
rach
ræche
râchen
gerochen
V
Merkmal der Reihe V: dem Stammvokal folgt ein Konsonant (ausser Nasal oder Liquid).
Der Stammvokal des Infinitivs lautet e; wichtige Ausnahmen: biten, sitzen, ligen.
gibe
geben
gap
gæbe
gâben
gegeben
Merkmal der Reihe VI: der Stammvokal ist ein kurzes a.
Der Stammvokal des Infinitivs lautet a; wichtige Ausnahmen: heben, swern, schepfen
slahe
slahen
sluoc
slüege
sluogen
geslagen
Sogenannte »ehemals reduplizierende Verben«, verschiedene Stammvokale im Infinitiv;
Merkmal: im Präteritum in der Regel ie.
scheide
scheiden
schiet
schiede
schieden
gescheiden
loufe
loufen
lief
liefe
liefen
geloufen
houwe
houwen
hiu
hiuwe
hiuwen
gehouwen
stôze
stôzen
stiez
stieze
stiezen
gestôzen
enblande
enblanden
enblient
enbliende
enblienden
enblanden
hâhe
hâhen
hienc
hienge
hiengen
gehangen
halte
halten
hielt
hielte
hielten
gehalten
ruofe
ruofen
rief
riefe
riefen
geruofen
slâfe
slâfen
slief
sliefe
sliefen
geslâfen
ahd. heffen – huobum
mhd. snîden – gesniten
mhd. slahen – sluogen
mhd. kiesen – gekorn (‚wählen’, vgl. ‚küren’)
Verben mit Grammatischem Wechsel zeigen im Infinitiv und im gesamten Präsens (inklusive
Konjunktiv) die ursprünglichen Konsonanten (h, d, f, s). Im Plural des Präteritums (Indikativ), im
Partizip Präteritum und im Konjunktiv Präteritum stehen meist die »verschobenen« Konsonanten (g,
t, b, r). Unregelmässig erscheint der Grammatische Wechsel auch im Singular Prät. (Bsp.
verlôs/verlôr). Achtung: hier oft Auslautverhärtung!!! (Bsp.: lîden > leit)
Häufig vorkommende Verben mit Grammatischem Wechsel:
1. Pers. Sg.
Ind. Präs.
lîde
snîde
zîhe
kiuse
verliuse
10
Infinitiv
lîden
snîden
zîhen
kiesen
verliesen
1. Pers. Sg.
Ind. Prät.
leit
sneit
zêh
kôs/(kôr)
verlôs/(verlôr)
2. Pers. Sg.
Ind. Prät.
lite
snite/(snide)
zige
küre
verlüre
1. Pers. Pl.
Ind. Prät.
liten
sniten
zigen
kur(e)n
verlur(e)n
Part. Prät.
ABR
geliten
gesniten
gezigen
gekorn
verlorn
I,1
I,1
I,2
II,2
II,2
ziuhe
genise
wise
slahe
ziehen
genesen
wesen
slahen
zôch
genas
was/(war)
sluoc
züge
genaere
waere
slüege
zugen
genâren
wâren
sluogen
gezogen
genesen
gewesen
geslagen
b.) Mischverben
Die beiden mhd. Verben bringen und beginnen weisen eine Mischung von starker und
schwacher Konjugation auf. Beide Verben können als stark flektierte Verben in
Erscheinung treten, häufiger finden sich im Mhd. aber anders lautende Formen, bei denen
Ablaut und Dentalsuffix zugleich auftreten:
II,2
V
V
VI
4.) Unregelmässige Verben
a.) Präterito-Präsentien
Eine Sondergruppe unter den Verben bildet die Gruppe der sogenannten Präterito-Präsentien
(Sg.: Präterito-Präsens!). Die Bezeichnung erklärt sich aus dem formalen Aufbau der PräteritoPräsentien: Formen, die dem Präteritum der starken Verben entsprechen, besitzen präsentische
Bedeutung, und ein mit dem Dentalsuffix der schwachen Verben gebildetes Präteritum
komplettiert den Formenbestand. Der Wurzelvokal der Präterito-Präsentien entspricht folglich im
Sg. Präs. Ind. demjenigen der starken Verben in der 1./3. Sg. Prät. Ind. Ebenso entspricht der Pl.
Präs. der Präterito-Präsentien dem Pl. Prät. der starken Verben.
normales starkes Verb der Klasse I, Prät.
rîten – ich reit – wir riten
Präsens
(Sg. Ind.)
Präsens
(1./3. Sg. Konj.)
Präteritum
1./3. Sg. Ind.
Präteritum
Part.
1./3. Sg. Konj. Prät.
I.
wizzen
(nhd. wissen)
weiz
du weist
wizze
wisse/wiste/
wesse/weste
wisse/wiste
wesse/weste
II.
tugen/tügen
(nhd. taugen, nützen)
touc
tuge/tüge
2. Sg. nicht belegt
tohte
töhte
gan
du ganst
gunne/günne
gunde/gonde
günde/gunde
kunnen/künnen
(nhd. können, vermögen)
kan
du kanst
kunne/künne
kunde/konde
künde/kunde
durfen/dürfen
(nhd. brauchen)
darf
du darft
durfe/dürfe
dorfte
dörfte
turren/türren
(nhd. wagen)
ich tar
du tarst
turre/türre
torste
törste
IV. suln/süln
(nhd. sollen, müssen)
sol/sal
du solt
sul/sül
solde/solte
sölde/sollte
--
V.
mac
du maht
muge/müge
mahte/mohte
mähte/möhte
--
muoz
du muost
müeze
muose/muoste
müese/müeste
--
III. gunnen/günnen
(nhd. gönnen, erlauben)
mugen/mügen
magen/megen
(nhd. können, vermögen)
VI. müezen/muozen
(nhd. müssen, sollen)
1. Sg. Präs. 1. Pers. Sg. Prät. 1. Pers. Pl. Prät. Part. Prät.
stark flektiert (ABR III,1)
stark/schwach flektiert
beginnen
ich beginne
began
begunde
begunnen
begunden
begunnen
stark flektiert (ABR III,1)
stark/schwach flektiert
bringen
ich bringe
branc
brâhte
brungen (selten)
brâhten
brungen
brâht (ohne ge-)
c.) Mhd. wellen
Die Unregelmässigkeiten in der Formenbildung von mhd. wellen (nhd. wollen) resultieren aus einer
Verschiebung des Modus, d.h. die im Präsens gebrauchten Formen sind ihrer Entstehung nach
Formen des Konjunktivs, die aber zur indikativischen Aussage verwendet wurden. Bereits im
Germanischen gingen die ursprünglichen Indikativformen vollständig verloren. In Ermangelung des
eigentlichen Konjunktivs (der eine indikativische Funktion angenommen hatte) wurde ein neuer
Konjunktiv analog zu der Formenbildung der jan-Verben gebildet. Entsprechend lautete auch der
germ. Infinitiv *waljan. Die Präsens Konjunktiv-Formen sind deshalb im Mhd. regelmässig ich
welle, du wellest usw. (mit Doppelkonsonanz und Primärumlaut). Im Sg. Ind. Präs. sind die alten,
ehemals konjunktivischen Singularformen noch erhalten (ich wil, du wilt), während der Infinitiv und
die indikativischen Pluralformen hingegen wiederum auf germ. *waljan zurückgehen (wir wellen, ir
wellet usw.). Das Präteritum besitzt das Dentalsuffix der schwachen Verben und den von a zu o
verdumpften Vokal.
Infinitiv: wellen (wollen)
Präsens Indikativ
Präteritum Indikativ
1. Pers. Sg.
wil(e)
wolte/wolde
2. Pers. Sg.
wil(e)/wilt
woltest/woldest
3. Pers. Sg.
wil(e)
wolte/wolde
1. Pers. Pl.
wellen/weln(wollen)
wolten/wolden
2. Pers. Pl.
wellet/welt(wollet/wolt)
woltet/woldet
3. Pers. Pl.
wellen(t)/welnt(wollen(t))
wolten/wolden
Präterito-Präsens der Klasse I, Präs.
(*wîzen) – ich weiz – wir wizzen
Infinitiv
= 1./3. Pl. Ind.
Infinitiv
gewist/
gewest
--
gegunnen/
gegunnet
--
(bedorft)
--
Präsens Konjunktiv
Präteritum Konjunktiv
1. Pers. Sg.
welle (wolle)
wolte/wolde (wölte/wölde)
2. Pers. Sg.
wellest (wollest)
woltest/woldest (wöltest/wöldest)
3. Pers. Sg.
welle (wolle)
wolte/wolde (wölte/wölde)
1. Pers. Pl.
wellen (wollen)
wolten/wolden (wölten/wölden)
2. Pers. Pl.
wellet (wollet)
woltet/woldet (wöltet/wöldet)
3. Pers. Pl.
wellen (wollen)
wolten/wolden (wölten/wölden)
Imperative für mhd. wellen (wollen) gelten als nicht belegt!
Partizip Präsens: wellende
Partizip Präteritum: gewolt (gewellet / gewellt / gewöllet / gewölt)
11
d) Wurzelverben
Bei den mhd. Verben tuon (tun), gân/gên (gehen) und stân/stên (stehen) schliessen im Präsens die
Flexionsendungen ohne Themavokal direkt an die Wurzel an; d.h. die jeweilige Personalendung
tritt unmittelbar an die Wurzel. Diese sog. Wurzelverben (oder athematische Verben) haben
deshalb einsilbige Präsensformen und enden in der 1. Pers. Sg. Präs. Ind. auf den Konsonanten
/-n/, so dass diese dem Infinitiv und der 1. Pers. Pl. Präs. Ind. gleicht (mhd. ich tuon, ich gân/gên,
ich stân/stên).
Infinitiv:
tuon
gân/gên
stân/stên
1. Pers. Sg.
2. Pers. Sg.
3. Pers. Sg.
1. Pers. Pl.
2. Pers. Pl.
3. Pers. Pl.
tuo(n)
tuost
tuot
tuon
tuot
tuont
Präs. Indikativ
gâ(n)/gê(n) stâ(n)/stê(n)
gâst/gêst stâst/stêst
gât/gêt
stât/stêt
gân/gên
stân/stên
gât/gêt
stât/stêt
gânt/gênt stânt/stênt
Prät. Indikativ
tet(e) gienc/gie stuont
tæte gienge
stüende
tet(e) gienc/gie stuont
tâten giengen
stuonden
tâtet gienget
stuondet
tâten giengen
stuonden
1. Pers. Sg.
2. Pers. Sg.
3. Pers. Sg.
1. Pers. Pl.
2. Pers. Pl.
3. Pers. Pl.
tuo
tuost
tuo
tuon
tuot
tuon
Präs. Konjunktiv
gâ/gê
stâ/stê
gâst/gêst stâst/stêst
gâ/gê
stâ/stê
gân/gên
stân/stên
gât/gêt
stât/stêt
gân/gên
stân/stên
Prät. Konjunktiv
tæte gienge
stüende
tætest giengest
stüendest
tæte gienge
stüende
tæten giengen
stüenden
tætet gienget
stüendet
tæten giengen
stüenden
Imperativ Sg. tuo
Imperativ Pl. tuot
Partizip Präs.
Partizip Prät.
nach der VII. Ablautreihe gebildet (dazu die Kurzform mhd. gie). Das Präteritum von mhd. stân/stên
(> ahd. stantan) wird entsprechend regelmässig nach der VI. Ablautreihe gebildet.
e.) Das Verbum substantivum sîn
Bei dem Verbum substantivum mhd. sîn, das formal gesehen ebenfalls ein Wurzelverb ist, treten
weitere Unregelmässigkeiten auf, die dadurch bedingt sind, dass in den Tempusformen verschiedene
Bildungselemente vorhanden sind. Das Verbum substantivum ist aus drei verschiedenen Wurzeln
gebildet: Die auf /i/ und /s/ anlautenden Wurzelsilben gehen auf idg. *es- zurück (vgl. lat. esse), die
mit /b/ anlautenden Wurzelsilben gehen auf idg. *bhû- zurück, das wiederum mit der Wurzel *eseine Verbindung einging, die restlichen Formen sind mittels des starken Verbs mhd. wesen gebildet.
Die meisten Eigenarten von mhd. sîn sind noch im Nhd. erhalten.
Die Formen des Präsens können im Mhd. sowohl von sîn als auch von wesen gebildet sein: Im
Indikativ erscheinen häufiger die sîn-Formen (in der Übersicht unterstrichen), im Konjunktiv stehen
beide Formen gleichwertig nebeneinander. Da das Verb sîn per se eine präsentische Bedeutung hat,
wird das Präteritum ausschliesslich vom starken Verb mhd. wesen gebildet (V. Ablautreihe: wesen –
– was – wâren – gewesen).
Infinitiv: sîn/wesen
Präs. Ind.
Präs. Konj.
Prät. Ind.
Prät. Konj.
1. Pers. Sg.
bin/wise
sî/wese
was
wære
2. Pers. Sg.
bist/wisest
sîst/wesest
wære
wærest
3. Pers. Sg.
ist/is/wiset
sî/wese
was
wære
1. Pers. Pl.
sîn/birn/wesen
sîn/wesen
wâr(e)n
wæren
2. Pers. Pl.
sît/birt/weset
sît/weset
wâret
wæret
3. Pers. Pl.
sint/wesent
sîn/wesen
wâr(e)n
wæren
ganc/gâ/genc/gê stâ/stê
gât/gêt
stât/stêt
tuonde
getân
gânde/gênde
gegangen/gegân
Imperativ Sg: wîs/bis!
Imperativ Pl.: sît/weset!
Partizip Präsens: sînde/wesende
Partizip Präteritum: gewesen, gewest zuweilen auch gesîn
stânde/stênde
gestanden/gestân
Das Wurzelverb tuon weist in den Präsens Konjunktiv-Formen regelmässige Formen auf. In den
Präteritalformen ist indes die Besonderheit dieses Verbs besonders deutlich: Das Verbum tuon ist
das einzige Verb im Mhd., das die Präteritalbildung mittels einer Reduplikationssilbe bewahrt
hat. Die 1./3. Pers. Sing. Prät. Ind. lautet daher mhd. tete. Alle weiteren Formen des Prät. von
tuon sind denen der fünften Ablautreihe angeglichen worden. In der 2. Pers. Sg. Ind. Prät. und im
Konj. Prät. sind die Formen entsprechend regelmässig umgelautet.
Die nebeneinander stehenden Formen von gân/gên und stân/stên mit jeweils unterschiedlichem
Wurzelvokal sind dialektale Varianten. Die Flexionsformen von gân/gên und stân/stên stetzen
sich aus zwei verschiedenen Stämmen zusammen. Sie werden im Fall gân/gên vom Stamm des
ahd. Verbs gangan (- gieng - giengen - gigangan) und dem des Wurzelpräsens gân/gên bzw. im
Fall von stân/stên vom Stamm des ahd. stantan (- stuont – stuontum - gistantan) und von dem
Wurzelpräsens stân gebildet. Das Präteritum von mhd. gân/gên (> ahd. gangan) wird regelmässig
f.) Kontrahierte Verben
Die kontrahierten Formen der mhd. Verben haben > hân und lâzen > lân (meist als Hilfsverb)
ähneln in ihrer Lautgestalt den Wurzelverben (s.o.), sind in ihrer historisch-genetischen Entwicklung
jedoch von diesen zu unterscheiden. Die kontrahierten Verben weisen insbesondere in den
Präsensformen gekürzte Formen auf: Inf. lân, Ind. Präs. ich lân, wir lân - Inf. hân, Ind. Präs. ich hân,
wir hân.
Insbesondere bei mhd. haben/hân existieren neben den kontrahierten Formen auch die
unkontrahierten: mhd. haben, ich habe, du habest, er habet, wir haben, ir habet, sie habent usw. Im
Gebrauch der jeweiligen Formen zeigt sich eine semantische Differenzierung: Die kontrahierten
Formen werden insbesondere als Hilfsverb, die unkontrahierten Formen hingegen meistens als
Vollverben in der Bedeutung von nhd. ‘halten, besitzen’ verwendet.
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Infinitiv: haben/hân
Präsens Indikativ
1. Pers. Sg.
hân
2. Pers. Sg.
hâst
3. Pers. Sg.
hât
1. Pers. Pl.
hân
2. Pers. Pl.
hât
3. Pers. Pl.
hânt
1. Pers. Sg.
2. Pers. Sg.
3. Pers. Sg.
1. Pers. Pl.
2. Pers. Pl.
3. Pers. Pl.
Präsens Konjunktiv
habe / hâ
habest / hâst
habe / hâ
haben / hân
habet / hât
haben / hân
V. TEMPUS UND MODUS
Präteritum Indikativ
hâte / haete / hête / hete / hatte / hiete
hâtest / haetest / hêtest / hetest / hattest / hietest
hâte / haete / hête / hete / hatte / hiete
hâten / haeten / hêten / heten / hatten / hieten
hâtet / haetet / hêtet / hetet / hattet / hietet
hâten / haeten / hêten / heten / hatten / hieten
1. Besonderheiten im Gebrauch des mhd. Tempus
Verbformen können im Mhd. in bestimmten Kontexten abweichende Tempusbedeutungen
annehmen.
a.) Präsensformen drücken im Regelfall die zeitliche Gegenwart („jetzt“) aus.
Mögliche abweichende Bedeutungen der Präsensform:
1) atemporales Präsens: es wird keine bestimmte Zeitstufe bezeichnet, das Präsens drückt einen
immergültigen Sachverhalt aus, z.B. in Sprichwörtern:
mhd. ezn spriht niemannes munt wan als in sîn herze lêret
(niemand sagt etwas anderes als ihm sein Herz eingibt)
2) ‘Praesens historicum’: die Präsensform bezeichnet in seltenen Fällen in der Vergangenheit
Geschehenes, meist im Wechsel mit regulärem Imperfekt:
mhd. also swuor der kneht sinem herren ...und machet sich ûf. und nimt zuo im zehen
kemeliu...
(so schwur der Knecht seinem Herrn ... und machte sich auf und nahm zehn Kamele mit
sich)
3) futurisches Präsens: bei Weitem am Häufigsten ist die Verwendung von Präsensformen mit
futurischer Bedeutung. Diese kann durch Adverbien verdeutlicht werden. Formen mit der
Partikel ge- werden in diesem Fall oft gebraucht:
mhd. so saget mir der manne muot so lêre ich iuch der wîbe site
(erläutert mir die Gesinnung der Männer, dann werde ich euch die Gewohnheit der
Frauen lehren)
mhd. also tuon ich iu morgen (das werde ich morgen (für Euch) tun)
mhd. swenne iuwer sun gewachset, der troestet iu den muot
(wenn Euer Sohn erwachsen ist, wird er Euer Gemüt trösten)
Präteritum Konjunktiv
haete / hete / hette / hiete
haetest / hetest / hettest / hietest
haete / hete / hette / hiete
haeten / heten / hetten / hieten
haetet / hetet / hettet / hietet
haeten / heten / hetten / hieten
Partizip Präteritum: (selten auftretend) gehabet / gehapt / gehât
Infinitiv: lâzen / lân (Ablautreihe VII)
Präsens Indikativ
1. Pers. Sg.
lân
2. Pers. Sg.
lâst
3. Pers. Sg.
lât
1. Pers. Pl.
lân
2. Pers. Pl.
lât
3. Pers. Pl.
lânt
Präteritum Indikativ
liez / lie
liezest
liez / lie
liezen
liezet
liezen
Im abhängigen Satz (z.B. in daz-Sätzen) kann der Konjunktiv Präsens ebenfalls eine futurische
Bedeutung haben:
mhd. hât er aber gelobt... daz er niemer mê gesinge liet
(er hat geschworen, dass er nie mehr Lieder singen wird)
Präsens Konjunktiv
Präteritum Konjunktiv
1. Pers. Sg.
lâze / lâ
lieze
2. Pers. Sg.
lâzest / lâst
liezest
3. Pers. Sg.
lâze / lâ
lieze
1. Pers. Pl.
lâzen / lân
liezen
2. Pers. Pl.
lâzet / lât
liezet
3. Pers. Pl.
lâzen / lân
liezen
Imperativ Sg.: lâ!
Imperativ Pl.: lât!
Partizip Präteritum: (zum Teil ohne ge- Präfix!) lâzen / gelâzen / (ge)lân
b.) Imperfektformen drücken in der Regel die einfache, unpersönliche Vergangenheit (ohne Bezug
auf ein Geschehen der Gegenwart etc.) aus →„episches Präteritum“.
Mögliche abweichende Bedeutungen der Imperfektform:
1) Annäherung an die perfektivische Bedeutung: die Imperfektform wird zu einem Geschehen in
der Gegenwart in Beziehung gesetzt oder subjektiv betrachtet:
mhd. ichn kam nie her durch iuwer leit
(ich bin nicht wegen Eures Leids hergekommen)
mhd. ich liez ein lant dâ ich krône truoc
(ich habe ein Land verlassen, in dem ich die Krone trug )
2) Annäherung an die Bedeutung des Plusquamperfekts: Durch die Imperfektform wird eine
Vorvergangenheit denotiert. Formen mit ge- sind wiederum häufig:
mhd. unz in daz lant vuor der künec Artûs alser swuor
(bis in dieses Land reiste der König Artus wie er geschworen hatte)
mhd. als der künec Gunthre die rede vol gesprach
Zu beachten sind in diesem Zusammenhang auch weitere kontrahierte Verben wie etwa mhd.
slâhen/slân, vâhen/vân u.a., siehe hierzu auch S. 6.
13
3)
4)
als König Gunther diese Rede beendet hatte
gnomisches Präteritum: Ähnlich wie das atemporale Präsens können im Mhd. allgemeine
Wahrheiten in sentenzhaften Sätzen durch Imperfektformen ausgedrückt werden, ohne dass
eine bestimmte Zeitstufe bezeichnet wäre:
mhd. wol im, der ie nach staeten fröiden ranc
(wohl dem, der immer nach anhaltender Freude strebt)
präteritales Futur: im abhängigen Satz kann der Konjunktiv Imperfekt futurische
Bedeutung annehmen, wenn er zum übergeordneten Satz in einem Verhältnis der
Nachzeitigkeit steht:
mhd. er weste wol daz Keiî in niemer gelieze vrî vor spotte
(er wusste wohl dass Keie ihn niemals ohne Spott lassen würde)
(Gunther (...) fragte sein Gefolge, wie ihnen die Rede gefiel/gefiele)
- Konzessivsatz :
mhd. ob mir alle krône waern bereit, ich hân nach ir min hoehste leit
(auch wenn mir alle Kronen (dieser Welt) angetragen würden, ich sehne mich nur
nach ihr)
- Temporalsatz mit futurischer Nuance:
mhd. wir enmugen niht gerouwen ê iz beginne tagen
(wir können nicht ruhen bevor es zu Tagen beginnt)
- daz-Satz:
mhd. ez ist unnôt daz iemen mîner verte vrâge
(es gibt keine Veranlassung dafür, dass sich jemand nach meiner Reise erkundigt)
c.) Die Verwendung von Perfekt und Plusquamperfekt im Mhd. entspricht in der Regel dem
Nhd.
Der Modus des Nebensatzes kann auch vom übergeordneten Satz abhängen:
- Wenn der übergeordnete Satz negiert oder dem Sinn nach negativ ist, wird die Irrealität und
Potentialität des von ihm abhängige Satzes mit Hilfe des Konjunktivs verdeutlicht:
mhd. unse lant stêt unbewart. waz ob manz brinnit unde heret, sô nist da nieman, der iz
were
(unser Land ist unbeschützt. Wenn man es brandschatzt und verheert, gibt es niemanden,
der dies verhindert)
mhd. in sach vil lützel iemen der im waere gehaz
(ihn erblickte niemand, der ihm feindlich gesinnt war)
- Wünsche und Befehle (Imperative) im übergeordneten Satz ziehen ebenfalls untergeordnete Sätze
im Konjunktiv nach sich:
mhd. nu lât den knappen wider komn, von dem diu botschaft sî vernomn
(nun lasst den Knappen wieder kommen, von dem wir die Botschaft hören wollen)
mhd. ir müezet alle rîten unz es werde tac (ihr müsst alle reiten bis es Tag wird)
- Indirekte Rede (nach Verba dicendi) steht – wie im Nhd. – ebenfalls mit dem Konjunktiv:
mhd. mit grôzem vlîze er in des bat, daz er des war naeme...
(sehr eingehend bat er ihn, dass er es in Erwägung zöge)
N.B.: Im Mhd. kann ge- (neben dem Part. Prät.) vor alle Verbformen treten und sie (geringfügig)
semantisch verändern. Meist hat es eine „perfektivierende Funktion“, d.h. es markiert den
Abschluss eines Vorgangs. Es muss also nicht immer eine Vorvergangenheit (Plusquamperfekt)
anzeigen, sondern kann auch je nach Kontext als Präteritum oder Perfekt übersetzt werden.
Bsp.: swîgen (schweigen) – geswîgen (verstummen)
die vogelîn sint gesweiget (die Vögel sind verstummt)
d.) Futurformen werden im Mhd. eher selten mit dem im Nhd. gebräuchlichen Hilfsverb werden
gebildet. Meist werden die Hilfsverben suln, müezen, wellen verwendet. In diesen Fällen bleiben
die zusätzlichen Bedeutungen der Modalverben teilweise erhalten.
mhd. swaz der küneginne liebes geschiht, des sol ich ir wol gunnen
(was auch immer der Königin Gutes geschieht, soll/muss (werde) ich ihr gönnen)
mhd. des muoz ich zer werlde immer schande hân
(deshalb muss (werde) ich vor der Welt immer mit Schande behaftet sein)
2. Besonderheiten im Gebrauch der mhd. Modi
Das Mhd. kennt – wie das Nhd. auch – drei Modi: Indikativ (die neutrale „Wirklichkeitsform“),
Konjunktiv („Möglichkeitsform“) und Imperativ („Befehlsform“).
Im Vergleich zum Nhd. wird im Mhd. der Konjunktiv viel häufiger gebraucht, besonders in
abhängigen Sätzen (Nebensätzen). Letztere müssen im Nhd. aber meist im Indikativ
wiedergegeben werden..
In Nebensätzen aller Art (Relativsätze, Fragesätze, finale, kausale, konditionale, konzessive,
modale, temporale Sätze, daz-Sätze) kann der Konjunktiv stehen um die Potentialität, Irrealität
oder den voluntativen oder futurischen Charakter des Gesagten auszudrücken.
Im Folgenden sollen lediglich für die gängigsten Fälle Beispiele geliefert werden:
- Relativsatz mit voluntativem/potentialem Charakter:
mhd. du erkiusest dir in dem walte einen boum der dir gevalle
(du erwählst dir im Wald einen Baum, der dir gut gefällt)
- Fragesatz:
mhd. Gunther (...) vragte sîne man, wie in diu rede geviele
VI. NEGATIONEN
1. Die mhd. Verneinungspartikel
Die mhd. Verneinungspartikel ne (mit den Variationen en, in, -n, n-) steht im Normalfall unmittelbar
vor der flektierten Verbform. Sie kann sich bei geringer Betonung mit dem Verb verbinden bzw. an
ein vorangehendes Wort anlehnen. Getrennt- und Zusammenschreibungen wechseln in den
mittelhochdeutschen Handschriften und Textausgaben.
Zu der einfachen Verneinung tritt häufig eine adverbiale Verstärkung – in den meisten Fällen mhd.
niht (nhd. nicht, in keiner Weise) – hinzu, die allmählich die alten Negationspartikeln verdrängt und
seit spätmittelhochdeutscher Zeit allein die Negation bewirkt.
In den Hauptsätzen ist im Mhd. die Verneinung mit ne ... niht die Regel:
mhd. er enkumt niht
(er kommt nicht)
mhd. erne kumt niht
(er kommt nicht)
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mhd. ich enbat niht
mhd. jâ enwirde ich niemer vrô
sein)
(ich bat nicht)
(wahrhaftig, ich werde niemals mehr fröhlich
b) ergänzend
Wenn der übergeordnete Satz verneint ist, steht im abhängigen, konjunktionslosen, konjunktivischen
Nebensatz eine Verneinungspartikel, obwohl der abhängige Satz eine positive Aussage enthält. Der
abhängige Satz wird bei einer Übersetzung ins Nhd. mit »dass« eingeleitet oder in eine
Infinitivkonstruktion übertragen (→ Übersetzung mit: »dass«, Infinitiv + »zu«):
mhd. diu maget lie niht umbe daz si enwolde rîten vürbaz
(die Jungfrau liess nicht davon ab, weiter reiten zu wollen/dass sie weiter reiten wollte)
In Nebensätzen mit Endstellung des Verbs wird oftmals lediglich niht verwendet:
mhd. diu vrouwe hôrte, daz er niht kæme (die Herrin hörte, dass er nicht käme)
mhd. Parzivâl des niht vergaz, ern holte sînes bruoder swert
(Parzival vergass nicht, seines Bruders Schwert zu holen/dass er das Schwert seines
Bruders holte)
c) exzipierend (einschränkend)
Diese negierten Nebensätze artikulieren eine Bedingung, unter der eine Ausnahme von dem eintreten
könnte, was im Hauptsatz ausgesagt ist (→ Übersetzung mit: »es sei denn dass«, »wenn nicht«,
»sofern nicht«):
mhd. ir gesehet mich nimmer mêre, ich engereche mich an disem man
(niemals werdet ihr mich wieder sehen, es sei denn, dass ich mich an diesem Mann räche)
mhd. mîn houbet ich verliuse, ir enwerdet mîn wîp
(ich verliere meinen Kopf, wenn ihr nicht meine Frau werdet)
mhd. des enmac nu niht gesîn, ez enwelle diu liebe vrowe mîn.
(das kann nun nicht sein, es sei denn dass/sofern nicht/wenn nicht meine liebe Herrin es
wünscht)
In wenigen Fällen kann die Negationspartikel im konjunktivischen Nebensatz fehlen, insbesondere,
aber nicht zwingend, wenn bereits der Hauptsatz negiert ist:
mhd. niemen kann erwenden daz, ez tuo ein edeliu frouwe
(niemand kann das abwenden, wenn es nicht eine edle Dame tut)
Die Verneinungspartikel ne wird allein gebraucht in Verbindung mit den Modalverben mugen,
wellen, dürfen, künnen, suln, türren sowie in Verbindung mit lâzen, tuon, wizzen, wænen
(glauben, meinen) oder ruochen (bedacht sein auf, wollen, sich kümmern um):
mhd. herre, in mac
(Herr, ich kann nicht)
mhd. ern mohte noch ensolde
(er konnte nicht, noch durfte er)
mhd. dône torst ich vrâgen vürbaz
(da wagte ich nicht weiter zu fragen)
mhd. ichne weiz, obe ich schœne bin
(ich weiss nicht, ob ich schön bin)
mhd. sô enruoche ich, wes ein bœser giht (dann kümmere ich mich nicht darum, was ein
Böser sagt)
2. Häufung von Negationen im Mhd.
Häufungen von Negationen bewirken im Mhd. meist eine Verstärkung; sie heben sich also nicht
wie im Nhd. gegenseitig auf. Bei der Übersetzung entsprechender Sätze darf im Nhd. nur ein
negierender Ausdruck verwendet werden:
mhd. ichn gehôrte bî mînen tagen nie selhes niht gesagen
(ich habe zu meinen Lebzeiten niemals Derartiges sagen hören)
mhd. daz umbe ir reise und umbe ir vart nie nieman nihtes inne wart
(dass von ihrer Reise niemals jemand/niemand jemals etwas merkte)
5. Doppeldeutigkeit von iht, ieman, ie, iender
In einer Reihe von Sätzen, die mit mhd. daz eingeleitet werden (Final-, Objektsätze oder
konjunktionslose Sätze nach wænen), können mhd. iht (etwas, irgendetwas), ieman (jemand,
irgendeiner), ie (stets, immer), iender (irgend, irgendwo) eine verneinende Bedeutung haben:
mhd. daz mîne vîande hie bî mir bestên, des wil ich haben pürgen, daz si miniu lant iht
rûmen âne hulde.
(dass meine Feinde hier bei mir bleiben, dafür will ich Bürgen haben, damit sie meine
Länder nicht ohne Erlaubnis verlassen.)
mhd. maneger frâget, waz ich klage unde giht des einen, daz es iht von herze gê
(viele fragen, warum ich klage, und sagen nur, dass es nicht von Herzen kommt)
mhd. ich wæne man dâ ieman âne weinen vant
(ich glaube, man fand dort niemanden, der nicht weinte)
Neben nieman (niemand) und nie steht oft auch die Verneinungspartikel ne, sie kann aber auch
fehlen:
mhd. nieman ensiht in daz hûs
(niemand sieht in das Haus hinein)
mhd. daz lant, daz da nieman ist erkant
(das Land, das dort niemand kennt)
3. Negation nach prohibitiven Verben im Hauptsatz
Nach Verben, die ein Verbot ausdrücken oder eine negative Vorstellung enthalten (z.B. mhd.
verlâzen – unterlassen), steht in den nachfolgenden abhängigen daz-Sätzen oft eine Negation, die
der nhd. Textlogik widerspricht. Bei der Übersetzung ins Nhd. wird diese Verneinung im
abhängigen Satz nicht realisiert:
mhd. ja verbôt ich iu an den lîp, daz ir nicht ensoldet sprechen
(wahrhaftig, ich verbot euch bei eurem Leben zu sprechen/dass ihr sprecht)
mhd. ouwî wie kûme er daz verlie, dô er sî vür sich gên sah, daz er niht wider sî sprach
(oh, wie schwer unterliess er es, als er sie vor sich hergehen sah, zu ihr zu sprechen)
6. Doppeldeutigkeit von dehein, dekein, kein, nehein, enhein (vgl. Kap. X.5 zu den
Indefinitpronomina)
Die mhd. Indefinitpronomina dehein, dekein, kein, nehein, enhein (nicht ein, kein) können positive
und negative Bedeutung haben (so kann etwa dehein sowohl »irgendein« als auch »kein« bedeuten).
Die negative Bedeutung überwiegt; positiv übersetzt werden muss
a) in Konditionalsätzen:
mhd. wære er mir keine wîle bî, er lieze sîne untugend durch mich
4. Negation in konjunktivischen Nebensätzen
Bei der Negation in konjunktivischen Nebensätzen unterscheidet man drei verschiedene Fälle:
a) erläuternd (→ Übersetzung mit: »dass nicht«, »ohne dass«, »ohne zu«):
mhd. ich waene nieman in der werlde lebe, ern habe ein leit
(ich meine, niemand lebt auf Erden ohne zu leiden)
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(wenn er eine Weile bei mir wäre, würde er seine Zuchtlosigkeit meinetwegen
aufgeben)
b) in Nebensätzen, die von einem verneinten Hauptsatz abhängen:
mhd. daz ne saget uns nehein buoch, daz deheiner sô rîche wære sô Alexander
(kein Buch berichtet uns, dass irgendjemand so mächtig war wie Alexander)
c) in Fragesätzen:
mhd. gesaher dînen liehten schîn bî friunden ie zu keiner stunt?
(hat er deinen leuchtenden Glanz bei Freunden jemals gesehen?)
3. Starke Deklination
Die starke Deklination kennt unterschiedliche Paradigmen, die sich nach den verschiedenen
Themavokalen der germanischen Substantiv-Stämme richten und damit historisch begründet sind.
Am häufigsten sind a-, ja- und i- Stämme (seltener kommt die wa-Deklination vor, die hier nicht
aufgeführt ist)
VII. ZUR MORPHOLOGIE DER MHD. SUBSTANTIVE
1. Grundsätzliches
Wie im Nhd. gibt es auch im Mhd.:
vier Kasus (Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ)
drei Genera (Maskulinum, Femininum, Neutrum)
zwei Numeri (Singular, Plural)
Es gibt im Mhd. nur zwei Flexionsklassen: stark und schwach. Die »gemischte«
erscheint erst im Nhd. (Bsp. Schmerz)
Viele Substantive können im Mhd. sowohl stark als auch schwach dekliniert
werden.
Manche Substantive wechseln die Flexionsklasse von Mhd. zu Nhd.
Nom.
Akk.
Dat.
Gen.
Nom.
Akk.
Dat.
Gen.
Die neue Paul-Grammatik (2007) arbeitet mit einer anderen Klassifizierung, die nicht mehr
zwischen der starken und schwachen Deklination unterscheidet. Das neue, detailliertere System
ist für unsere Zwecke aber nicht geeignet.
Nom.
Akk.
Dat.
Gen.
2. Schwache Deklination
Alle Formen ausser Nom. Sg. Mask./Fem./Neutr. und Akk. Sg. Neutr. enden auf -en.
Die Grundlage bilden die alten abgeleiteten n-Stämme (vgl. lat. nomen - nominis oder ahd. boto boten).
Achtung bei den Feminina: z.B. die frouwen kann sowohl Akk. Sg. als auch Nom. oder Akk.
Pl. sein!
Besonderheit: schwach flektierende Neutra gibt es nur vier: herze, ore, ouge, wange sowie das
Pluraletantum diu hîwen (Ehegatten). Zuweilen werden diese im Nom. und Akk. Pl. stark (ohne
n) flektiert.
Nom
Akk.
Dat.
Gen.
Maskulinum
Sg.
Pl.
der hane
die hanen
den hanen
die hanen
deme hanen den hanen
des hanen
der hanen
Neutrum
Sg.
Pl.
daz herze
diu herzen
daz herze
diu herzen
deme herzen den herzen
des herzen
der herzen
Maskulinum
a-Stamm (germ. *dag-a-z)
Sg.
Pl.
der tac
die tage
den tac
die tage
deme tage
den tagen
des tages
der tage
ja-Stamm (germ. *herd-j-a)
der hirte
die hirte
den hirte
die hirte
deme hirte
den hirten
des hirtes
der hirte
i-Stamm (germ. *gast-i-z)
der gast
die geste
den gast
die geste
deme gaste den gesten
des gastes
der geste
Neutrum
a- Stamm (germ. *worda-)
Sg.
Pl.
daz wort
diu wort
daz wort
diu wort
deme worte den worten
des wortes
der worte
ja-Stamm (germ. *kun-j-a)
daz künne
diu künne
daz künne
diu künne
deme künne den künnen
des künnes der künne
Femininum
o-Stamm (germ. *gibō-)
Sg.
Pl.
diu gebe
die gebe
die gebe
die gebe
der gebe
den geben
der gebe
der geben
i-Stamm (germ. *krafti-)
diu kraft
die krefte
die kraft
die krefte
kraft/krefte den kreften
kraft/krefte der krefte
Anmerkungen zur starken Flexion:
- Das Genus kann in einigen Fällen vom Nhd. abweichen (Bsp.: der list, das tranc).
- Bei den Neutra stimmen Nom./Akk. im Sg. und Pl. überein; im Pl. gilt dies auch für die
Feminina
- Die meisten mhd. Maskulina werden wie tac dekliniert. Die ehemaligen ja-Stämme weichen von
den a-Stämmen ggf. durch Umlaut, Gemination und durch den Ausgang auf -e im Nom. und
Akk. Sg. ab. Die i-Stämme vom Typ gast unterscheiden sich von den a-Stämmen allenfalls durch
den Umlaut im Plural.
- Bei den Neutra sind a-Stämme am häufigsten (es kommen aber auch ja-Stämme sowie einige
weitere vor)
- Bei den Feminina unterscheidet man insbesondere ô- und i-Stämme (es kommen auch jô- und
wô-Stämme vor)
Femininum
Sg.
Pl.
diu zunge
die zungen
die zungen
die zungen
der zungen
den zungen
der zungen
der zungen
Besonderheiten:
- Das Wurzelnomen man erscheint häufig unflektiert
16
-
Fünf Substantive auf -er (ausschliesslich die Verwandtschaftsbezeichnungen muoter, vater,
bruoder, tohter, swester) sowie substantivierte Partizipia Präsentis auf -nt (z.B. vriunt)
erscheinen häufig unflektiert, teilweise lehnen sie sich der a-Deklination an.
Bsp. der vater
Singular
Nom.
der vater
Akk.
den vater
Dat.
dem(e) vater(e)
Gen.
des vater / vater(e)s
Nom.
Akk.
Dat.
Gen.
Plural
die vater(e) / veter(e)
die vater(e) / veter(e)
den vater(e)n / veter(e)n
der vater(e) / veter(e)
sg.
blinder
(blint)
blinden
blindem(e)
blindes
Faustregel:
1. Morphologie:
Im Mhd. können Adjektive in drei Formen auftreten: schwach flektiert, stark flektiert und
unflektiert. Adjektive werden allerdings nicht wie Substantive in unterschiedliche
Flexionsklassen aufgeteilt. Grundsätzlich kann jedes Adjektiv nach jeder der drei Arten (stark,
schwach, unverändert) flektiert werden. Die konkrete Verwendung hängt von der logischsyntaktischen Verwendung im Satzkontext ab.
Neutr.
Sg.
blinde
blinde
blinden
blinden
Pl.
blinden
blinden
blinden
blinden
Fem.
Sg.
blinde
blinden
blinden
blinden
Pl.
blinden
blinden
blinden
blinden
Neutr.
blindez (blint)
blindem(e)
blindes
blindiu
blinden
blinder(e)
pl.
blinde
blinde
blinden
blinder(e)
Die starken Formen werden meist verwendet, wenn dem Adjektiv kein Artikel
oder Pronomen mit einer charakteristischen Kasusendung vorausgeht. Auch dies
entspricht dem Nhd.
mhd. ein blinder man
ein blinder Mann
mhd. blinder man!
Blinder Mann! (Anrede)
2. Syntax
Alle Adjektive können sowohl attributiv (zur näheren Bestimmung eines Substantivs) als auch
prädikativ (als Teil eines Prädikats) verwendet werden.
Im Mhd. gelten dabei etwa dieselben Regeln wie im Nhd. Diese werden aber – wie so oft – weniger
streng angewandt:
Beispiel
ein guter Wein
Fem.
der/dieser gute Wein
6
blinden
blinden
blinder(e)
sg.
blindiu
(blint)
blinde
blinder(e)
blinder(e)
Die unflektierte Form entspricht der endungslosen Variante des Nom. Sg. der starken Deklination.
Sie ist für Femininum, Maskulinum und Neutrum sowie für Sg. und Pl. gleich.
Es gibt allerdings eine Reihe von Adjektiven (häufig mit Umlaut), deren unflektierte Form auf -e
ausgeht. Dieser Endungsvokal ist im Nhd. – sofern das Wort noch existiert – verschwunden, z.B.:
schoene – schön; laere – leer; seltsaene – seltsam; biderbe – bieder; spaehe – weise; smaehe – klein;
gering etc.
Faustregel:
Die unflektierten Formen werden in prädikativer Stellung nach dem Verb sîn
verwendet. Dies entspricht wieder dem nhd. Gebrauch.
mhd. der man ist blint
der Mann ist blind
mhd. der man ist schoene
der Mann ist schön
Die schwachen Formen werden meist verwendet, wenn das Adjektiv nach
einem Artikel oder Pronomen mit einer charakteristischen Kasusendung steht.
Dies entspricht dem nhd. Gebrauch.
der blinde man
der blinde Mann
dirre/jener blinde man
dieser/jener blinde Mann
b) Starke Deklination
Mask.
pl.
blindiu
c) Unflektierte Form
Mask./Neutr./Fem.
Sg.
Pl.
ufl.
blint
schoene
Die schwache Deklination des Adjektivs stimmt mit den Formen der schwachen Deklination des
Substantivs überein und unterscheidet sich vom Nhd. nur dadurch, dass auch der Akk. Sg. Fem.
auf -en ausgeht (Akk. Sg. die blinden vrouwen –. die blinde Dame oder Pl.: die blinden Damen;
man beachte die Doppeldeutigkeit!).
Faustregel6:
sg.
blindez (blint)
Die starke Deklination des Adjektivs entspricht der Deklination des best. Artikels bzw. des
Demonstrativpronomens. Im Unterschied zur pronominalen Deklination können im Nom. Sg. und im
Akk. Sg. Neutr. endungslose Formen auftreten. (Akk. Sg. Neutr. ein blint kint – ein blindes Kind)
VIII. ADJEKTIVE
a) Schwache Deklination
Mask.
Sg.
Pl.
Nom.
blinde
blinden
Akk.
blinden
blinden
Dat.
blinden
blinden
Gen.
blinden
blinden
pl.
blinde
Die grammatischen Regeln des Mhd. sind nicht so unumstösslich wie die des Nhd. Von einer gewissen
Variabilität ist also immer auszugehen.
der Wein ist gut
17
Gebrauchsweise
attributiv nach unbestimmtem
Artikel
attributiv nach bestimmtem
Artikel
prädikativ
Flexionsform
stark flektiert
schwach flektiert
unflektierte Form
Achtung: Verwechslungsgefahr von Positiven mit Komparativformen:
Bsp.: der alte wirt junger: hier kommt es auf den Kontext an, denn junger kann sowohl ein stark
deklinierter Positiv sein (im Nom. Sg. Mask. – der Alte wird jung) als auch Komparativ (als
Nebenform zu dem umgelauteten jünger – der Alte wird jünger).
In solchen Fällen gibt der Kontext Auskunft über die tatsächliche Bedeutung.
Einige Besonderheiten der attributiven Stellung:
–
Im Mhd. ist es noch durchaus möglich, dass das attributive Adjektiv dem zugehörigen
Substantiv n a c h g e s t e l l t ist; in dieser Position kommen die starken wie die unflektierten
Formen in allen Kasus vor:
der winter kalt - der kalte Winter; ein wolken sô trüebez – eine so/sehr düstere Wolke; der
helt guoter – der tüchtige Held
–
Fehlt in der Nominalphrase ein Artikel, wird für das attributive Adjektiv die unflektierte
Form gebraucht
er was reht rihtære – er war ein gerechter Richter; guot und weltlich
êre – (materielles) Gut und weltliche Ehre
–
In der Konstruktion ‘bestimmter Artikel + Adjektiv + Substantiv’ erwarten wir die
schwache Form. Diese ist auch im Mhd. der Normalfall (des ganzen apfels – des ganzen
Apfels), doch erscheinen häufig auch starke Formen:
des ganzes apfels – des ganzen Apfels; dem liehtem mânen – dem hellen Mond; der
guoter wîn – der gute Wein
–
In der Konstruktion ‘unbestimmter Artikel + Adjektiv + Substantiv’ steht mhd. meist die
starke Form: ein langez mære – eine lange Geschichte; in einer kurzer stunt – in einer
kurzen Weile. Oft begegnen aber auch unflektierte Formen: ein edel herze – ein edles
Herz.
–
Ebenso ist in der Konstruktion ‘Possessivum + Adjektiv + Substantiv’ alles möglich:
stark: dîn süeziu güete – deine milde Güte; unflektiert: iuwer grôz unschulde – Eure
grosse Unschuld; schwach: sîner lieben swester – seiner lieben Schwester.
IX. ADVERBIEN
1. Einige leicht zu verwechselnde Adverbien und ihre jeweiligen Funktionen
(zusätzlich die entsprechenden Fragewörter)
Einige Besonderheiten der prädikativen Stellung
–
Im prädikativen Gebrauch steht das Adjektiv wie im Nhd. meist unflektiert, dies auch im
Nom. Pl.: ich bin/wir sint gemeit – ich bin/wir sind vergnügt; die tage sint lanc – die Tage
sind lang. Daneben kommen aber auch starke Formen vor: nîdes was er voller – er war
voll des Neides.
–
Auch mit anderen Verben als ‘sein’ und ‘werden’ kann das Adjektiv im Mhd. quasi
prädikativ gebraucht werden; es wird dann stark oder unflektiert verwendet:
si lâgen wunt – sie lagen verwundet; si kom müediu ze im – sie kam verdrossen zu ihm; er
leit in tôten ûfez gras – er legte ihn tot auf das Gras.
lokale Adverbien
danne
wannen
(dan, denne)
kausale Adverbien
danne
(dan,
denne)
relative Adverbien
danne
(dan,
denne)
temporale Adverbien
denne
wanne
(danne)
(wenne)
von da weg
woher?
daher
mehr als
(Komparation)
sodann,
damals
dâ
(dô, dâr)
wâ
(wô,
wâ)
wan
(wande)
wan
(wande,
wanne)
wan
dô
(duo)
da, dort
wo?
denn,
weil, da
warum
(nicht)?
als
(nach verneintem
Komparativ)
da,
damals
dar(e)
war
dahin
wohin?
wann
dâ
(dar)
(dahin)
wo,
dorthin
Diese Tabelle erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Sowohl weitere Adverbien als auch
weitere Bedeutungen der hier genannten Adverbien finden sich im LEXER.
Komparation
Die Komparation im Mhd. funktioniert im Wesentlichen gleich wie im Nhd. (-er im Komparativ,
-est im Superlativ, z.B. kreftic, kreftiger, kreftigest).
Während Steigerungsformen im Nhd. regelmässig umgelautet werden, gibt es im Mhd. auch
nicht-umgelautete Steigerungsformen: alt – elter neben alter; arm – ermer neben armer; junc –
jünger neben junger etc.
2. Häufige Adverbien mit speziellen Bedeutungen (die gängigste Bedeutung ist unterstrichen)
dicke wörtlich: dicht, dick; im übertragenen Sinn: häufig, oft
harte wörtlich: hart, schwer, streng; im übertragenen Sinn als Steigerungsadverb: kaum, höchst,
sehr
vaste wörtlich: fest, sich eng anschließend, nahe an, bis an; im übertragenen Sinn: stark,
gewaltig, schnell, sehr, recht
Unregelmässige Komparation
guot – bezzer – beste/bezzest – gut
übel – wirser – wirsest – schlecht
lützel – minner/minre – minnest – wenig
michel – mêre – meiste – viel
3. Besonderheiten im Gebrauch mhd. Adverbien
Eine im Mhd. sehr häufig begegnende Konstruktion ist die rhetorische Figur der Litotes (gr.
»Schlichtheit«; etwas wird verneinend - meist durch die Verneinung des Gegenteils - beschrieben),
18
so wie man etwa sagt »dieser Wein ist nicht übel« und in Wirklichkeit meint »er ist ganz
vorzüglich«.
Auf ähnliche Weise können Adverbien kontextabhängig eine andere als ihre ursprüngliche
Bedeutung erhalten (s. a. LEXER).
genuoc
kleine
kûme
lîhte
lützel
selten
spâte
wênec
Pl. Nom.
Akk.
Dat.
Gen.
gesegent er sî genuoc – er sei hochgepriesen
dâ doch mîn dienest vil kleine vervât – wo mir mein Dienst rein gar nichts
einbringt
ez ist vil kûme ein kleinez trœstelîn – es ist noch nicht einmal ein Funke von
Hoffnung
ez wirt iu lîhte noch kunt – ihr werdet es auf alle Fälle noch erfahren
daz dich lützel iemen baz geloben kan – dass dich gewiss kein Mensch besser zu
rühmen versteht
des wirde ich selten wol gemuot – darüber werde ich zeitlebens nicht froh
swer folget guotem râte, dem misselinget spâte – der wird niemals Misserfolg
erleiden
wir wellen den heiden wênec zarten – wir werden die Heiden in keiner Weise
schonen
Sg. Nom.
Akk.
Dat.
Gen.
Pl. Nom.
Akk.
Dat.
Gen.
1. Personalpronomen
Die Personalpronomen sind in drei Klassen unterteilt: a) ungeschlechtige Personalpronomina der
1. und 2. Person (ich, dû, wir, ir), b) geschlechtige Personalpronomina der 3. Person (er,
siu/si/sie, ez) und c) Reflexivpronomina (ime, sîn, sich, ir, in). Wie die Nomina werden
Personalpronomen (= Stellvertreter des Nomens zur Bezeichnung der Person/Sache) nach Kasus,
Numerus und Genus bestimmt. Die mhd. Personalpronomina werden allerdings oftmals auch
durch lîp zum Ausdruck gebracht, d.h. mîn lîp = ich, dîn lîp = du u.s.w.
ich
mich
mir
mîn
du/dû
dich
dir
dîn
siu/sî/si
sie/sî/si
in
ir(e)
siu/sie/si/sî
siu/sie/si/sî
in
ir(e)
Mask./Neutr.
sich
im(e)
sîn
sich
in
ir(e)
Fem.
sich
ir(e)
ir
sich
in
ir(e)
Als Abweichung vom Nhd. ist hier der Dat. Sg. mhd. im/ir und der Dat. Pl. mhd. in = nhd. sich
hervorzuheben (unterstrichenen Formen). Für den reflexiven Dativ Singular und Plural erscheint
sich erst ab dem 16. Jahrhundert.
Beispiele:
mhd. er twuoc im die hende
(er wusch sich die Hände)
mhd. si suochten in nemen des guotes ein grôz teil
(sie versuchten, sich von dem Besitz eine
Menge anzueignen)
mhd. wie her Uolrîch im ein ander vrouwen nam
(wie Herr Ulrich sich eine andere Herrin
wählte)
Dagegen im Akk.:
mhd. siu sah sich an
(sie sah sich an)
a) Personalpronomen der ersten und zweiten sowie der dritten Person
Die Personalpronomen der 1. und 2. Person werden nicht nach Genera unterschieden, ihre
starken Unregelmässigkeiten haben ihre Ursache in den verschiedenen idg. Wurzeln.
Sg. Nom.
Akk.
Dat.
Gen.
sie/si/sî
sie/si/sî
in
ir(e)
b) Reflexivpronomen der 3. Person
Die Formen des Reflexivpronomens der 1. und 2. Person sind mit denen des Personalpronomens
identisch (s.o.). Das Reflexivpronomen ist im Singular geschlechtig, im Plural ungeschlechtig.
Aufgrund seiner Rückbezüglichkeit fehlen dem Reflexivpronomen die Nominativformen.
X. PRONOMEN
2. Person
ir
iuch
iu
iuwer
Als Abweichung vom Nhd. ist besonders der Gen. Sg. Mask. und Neutr. es/sîn sowie die
Varianten zu mehreren Formen und der Dativ Pl. (in = ihnen) zu vermerken; hier besteht
Verwechslungsgefahr mit dem Akk. Sg. Mask.
usw.
1. Person
wir
uns
uns
unser
geschlechtiges Pronomen der 3. Person
Mask.
Fem.
Neutr.
er
siu/sie/sî
ez
in
sie/si/sî
ez
im(e)
ir(e)
im(e)
sîn/es
ir(e)
es/sîn
2. Possessivpronomen
Die Possessivpronomen mhd. mîn, dîn, sîn, unser, iuwer, ir zeigen ein bestimmtes
Zugehörigkeitsverhältnis an. Für die 3. Pers. Sg. Fem. und für die 3. Pers. Pl. in allen drei Genera
werden die Genitivformen des Personalpronomens (ir) benutzt. Die 3. Pers. Sg. Mask. und Neutr.
sind mit dem Genitiv des Reflexivpronomens (sîn) gebildet:
1. Sg. mîn
1. Pl. unser
2. Sg. dîn
2. Pl. iuwer
3. Sg. sîn/ir
3. Pl. ir
19
Die Form mhd. ir ist im klassischen Mhd. unflektiert, während alle anderen Possessivpronomina
normalerweise wie starke Adjektive flektiert werden (s.o.). Abweichend vom Nhd. werden die
mhd. besitzanzeigenden Pronomina häufig mit dem bestimmten Artikel verbunden. Sie können
sowohl in starker als auch in schwacher Flexionsform erscheinen; häufig stehen sie flexionslos
nach dem Substantiv, das mit dem Artikel verbunden ist.
Beispiele:
mhd. daz dîn vil götelîch gebot
(dein ganz göttliches Gebot)
mhd. der mîner minne
(meiner Liebe)
mhd. diu sîniu keiserlichen bein
(seine kaiserlichen Beine/Glieder)
mhd. des sînen willen
(seines Willens)
mhd. der herre mîn
(mein Herr)
Die Demonstrativpronomina jener, ander und selp
Das Demonstrativpronomen jener ist ein Pronominaladjektiv, das – anders als die einfachen und die
zusammengesetzten Demonstrativpronomen – auf etwas Entfernteres hinweist. Die Formen
jener/jeniu/jenez flektieren wie die Adjektive (s.o.), haben allerdings keine endungslosen oder
schwachen Formen.
Auch bei dem Demonstrativpronomen mhd. ander (der/die/das andere, nächste, neue, weitere)
handelt es sich um ein Pronominaladjektiv. Es kann stark und schwach flektiert werden. Ander kann
auch als Ordinalzahl (im Sinne von »zweiter, zweimal«) verwendet werden.
Das Demonstrativpronomen mhd. selp (der/die/das selbe, gleiche, eigene) ist ein sog.
Identitätspronomen. Es flektiert sowohl stark (etwa nach dem Genitiv des Personalpronomens: mîn
selbes lîp) als auch schwach. Die schwachen, insbesondere im Nominativ auftretenden Formen von
selp können sich mit dem bestimmten Artikel verbinden (z.B. der selbe, diu selbe, daz selbe). Anders
als mhd. jener weist selp nicht auf etwas Entfernteres hin, sondern auf das Gemeinte zurück.
Seltener gibt es im Mhd. auch die Verbindung mit dem unbestimmten Artikel:
mhd. ein mîn wange
(meine eine Wange)
4. Interrogativpronomen
Die Flexionsformen des Interrogativpronomens sind mit denen des bestimmten Artikels der, diu, daz
weitgehend identisch. Das Interrogativpronomen wird nur substantivisch verwendet: Die maskuline
und feminine Form wer für die Frage nach Personen, die neutrale Form waz für die Frage nach
Sachen. Im Singular sind die Formen des Maskulinums mit denen des Femininums identisch, das
Neutrum hat im Nominativ und Akkusativ abweichende Formen. Pluralformen fehlen.
3. Demonstrativpronomen
Als Relativ- und Demonstrativpronomen fungiert auch der bestimmte Artikel (einfaches
Demonstrativpronomen). Bei den zusammengesetzten Demonstrativpronomen wird eine
Verstärkungspartikel -e angehängt. Aus diesem Grund gibt es im Mhd. bei den
zusammengesetzten Demonstrativpronomen z.T. eine Binnenflexion (bei den Kasusformen mit r- trat bereits im Ahd. die Assimilation des vorhergehenden -s- ein; z.B. mit Synkope im Gen. Pl.
mhd. dirre < ahd. derera < desera), vorherrschend ist freilich die Flexion am Wortende:
Mask.
Fem.
Neutr.
Sg. Nom.
der
diu
daz
Akk.
den
die
daz
Dat.
dem(e)
der(e)
dem(e)
Gen.
des
der(e)
des
Pl. Nom.
die
die
diu
Akk.
die
die
diu
Dat.
den
den
den
Gen.
der(e)
der(e)
der(e)
Nom.
Akk.
Dat.
Gen.
Instr.
Mask.
dirre, diser
disen
disem(e)
dises, disse
dise
dise
disen
dirre, diser(e)
Fem.
disiu
dise
dirre, diser(e)
dirre, diser(e)
dise
dise
disen
dirre, diser(e)
Neutrum
waz
waz
wem(e)
wes
wiu (weshalb, warum)
Verallgemeinernde Relativa (aus ursprüngl. Verbindung mit sô + hwer etc.):
swer
wer (auch immer)
swaz
was (auch immer)
sweder
wer/welcher (auch immer) von beiden
swelch
welcher (auch immer), alles was
zwiu (ze wiu)
weshalb, warum
swenne (Konj.)
immer wenn
swâ (Konj.)
wo (auch immer)
swar
wohin (auch immer)
swannen
wann (auch immer)
Zusammengesetztes (»verstärktes«) Demonstrativpronomen
Sg. Nom.
Akk.
Dat.
Gen.
Pl. Nom.
Akk.
Dat.
Gen.
Maskulinum/Femininum
wer
wen
wem(e)
wes
–
Neutr.
ditze, diz
ditze, diz
disem(e)
dises, disse
disiu
disiu
disen
dirre, diser(e)
5. Zu den Indefinitpronomen (siehe hierzu bereits Kap. VI.5 u. 6)
1) Dehein und iht können mhd. in positiver wie auch negativer Bedeutung auftreten!
– p o s i t i v : ‘irgendein’ bzw. ‘irgendetwas’
swâ nû deheiniu sî, diu sich ir wîpheit schame: »irgendeine (Frau)«
sage mir, ob dir iht werre: »ob dich irgendetwas quält, bekümmert«
– n e g a t i v : ‘kein’ bzw. ‘nichts’
des ist zwîvel dehein: »daran besteht kein Zweifel«
20
daz dû mir iht beswærest mînen muot: »dass du mir nicht...«
2) Iht und niht werden im Mhd. sowohl substantivisch wie auch adverbial gebraucht!
– s u b s t a n t i v i s c h : ‘etwas’ bzw. ‘nichts’
tuont si dir iht?: »tun sie dir etwas an?«
diu trügevreude ist ein niht: »ein Nichts«
Auch die Verbindung mit einem Genitivus partitivus ist möglich: iht liebes: »etwas des
Lieben, etwas Liebes«; niht sô guotes: »nichts ebenso Gutes«
– a d v e r b i a l : ‘etwa/irgend’ bzw. ‘nicht’
wirt mîn lôn iht guot?: »wird mein Lohn in irgendeiner Weise gut sein?«
daz hulfe niht ein blat: »das hülfe nicht die Spur«
mhd. (si) vreuten sich ir jungent
mhd. der rede si lachten
(sie freuten sich an ihrer Jugend)
(über diese Rede/Nachricht/Sache lachten sie)
Der Objektsgenitiv ist demnach im Nhd. meist durch einen Akk. oder durch eine präpositionale
Verbindung zu ersetzen.
Verben mit Genitiv werden darüber hinaus im LEXER angegeben.
2. Genitiv der Relation
Der auf ein Verb bezogene Genitiv kann deutlich machen, in welcher Hinsicht oder innerhalb
welches Bereichs die verbale Aussage gilt; er lässt sich wiedergeben mit nhd. »in Bezug auf«, z. B.:
mhd. (si) wurden des ze râte
XI. ZUM GEBRAUCH DES GENITIVS
mhd. ...daz im prîses niemen gelîchen mac
Hinsichtlich der syntaktischen Funktion wie auch der Bedeutung der einzelnen Kasus gibt es eine
Reihe von Unterschieden zwischen dem. Ahd./Mhd. auf der einen und dem Nhd. auf der anderen
Seite. Dies gilt insbesondere für den Genitiv, der im Mhd. wesentlich häufiger und in
vielfältigerer Funktion verwendet wird als im Nhd. Der Genitiv liegt im Mhd. allein als absoluter
Kasus sehr selten vor. Er tritt in der Funktion eines Objekts, Adverbials oder Attributs auf in
Verbindung mit Verben, Substantiven, substantivischen Pronomina und Numeralia, Adjektiven
und Interjektionen.
(sie kamen in Bezug darauf überein, sie
stimmten darin überein)
(...dass ihm in Bezug auf Ruhm niemand
gleichkommen kann)
(oft in Verbindung mit dem Verbum substantivum)
mhd. er was der jâre ein kint der witze ein man
(er war an Jahren ein Junge, in Bezug auf seine Klugheit ein Mann)
3. Der Genitiv in Beziehung auf Substantive, Adjektive, Pronomina und Numeralia
a) genitivus subiectivus
(bezieht sich auf das Subjekt einer Handlung)
mhd. der küneginne haz
(den Zorn, das Schelten der Königin)
mhd. mîner frowen minne
(die Liebe meiner Herrin)
mhd. sînes neven sterben
(das Sterben seines Neffen)
1. Der Genitiv als Objektkasus in Verbindung mit Verben
a). Der Genitiv steht als Objektkasus in der Nachbarschaft von Verben, die
1) ein Begehren oder eine Hinwendung auf ein Ziel (oder auch das Gegenteil davon)
ausdrücken, z. B.:
mhd. eines dinges gern/begern
(etwas begehren, verlangen)
mhd. sich eines dinges vlîzen
(Eifer auf etwas verwenden, sich um etwas
bemühen)
mhd. eines dinges (ge)ruochen
(etwas begehren)
mhd. eines dinges enbern
(etwas entbehren)
mhd. sich eines dinges bewegen
(auf etwas verzichten, von etwas abkommen)
mhd. mir (ge-)bristet eines dinges
(mir fehlt etwas, mangelt es an etwas)
b) genitivus obiectivus
(bezieht sich auf das Objekt einer Handlung)
mhd. durch die vorhte des man
(aus Furcht vor dem Ehemann)
Vergleiche lat. amor filii als genitivus subiectivus (die Liebe des Sohnes)
vs.
als genitivus obiectivus (die Liebe zum Sohn)
c) genitivus possessivus
(es wird eine Zugehörigkeit ausgedrückt)
mhd. des orses satel
In Verbindung mit dem Verbum substantivum oder mit werden:
mhd. du bist mîn, ich bin dîn
2) ein Geniessen bzw. Geniessenlassen (oder auch das Gegenteil davon) bezeichnen,
z. B.:
mhd. eines dinges (ge-)niezen
(aus etwas Vorteil, Nutzen ziehen)
mhd. eines dinges engelten
(für etwas bezahlen, büssen müssen)
mhd. mich verdriuzet eines dinges
(ich werde einer Sache überdrüssig)
d) genitivus partitivus
Dieser bezeichnet die Gesamtheit, von der ein Teil genannt wird. Er bezieht sich auf eine Menge
oder einen Teil.
- der partitive Objektsgenitiv bei transitiven Verben drückt aus, dass der Substantivbegriff nicht
in seinem vollen Umfang gemeint ist, z.B.
mhd. er az daz brôt und tranc dâ zuo eines wazzers daz er vant
(er ass das Brot und trank dazu Wasser [wörtl. etwas von dem Wasser], das er fand)
3) das Reden oder Schweigen bezeichnen, z. B.:
mhd. eines dinges jehen
(etwas behaupten, bekennen)
mhd. eines dinges gedagen
(etwas verschweigen)
4) eine Gemütsbewegung zum Ausdrucken bringen, z.B.:
21
[neutral: Frau, verheiratete Frau] → nhd. Weib [negativ konnotiert]). Ursprünglich transparente
Wortbestandteile können zu Affixen erstarren (-haft [ahd. haft = gehalten, gebunden, behaftet] →
vgl. nhd. schemenhaft, habhaft).
Semantischer Wandel betrifft häufig nicht nur einzelne Wörter, sondern ganze Wortfelder. Er ist in
kulturelle Kontexte eingebunden und daher kaum systematisierbar. Lexikonartikel spiegeln den
Nuancenreichtum von Bedeutungen entsprechend oft nur unzureichend wieder, meist muss beim
Übersetzen fallweise entschieden werden, welche Variante angemessen ist. Eine zusätzliche
Schwierigkeit ergibt sich aus der teilweise sehr engen Belegslage: die Bedeutung von Wörtern, die
nur ein Mal überliefert sind, lassen sich kaum festlegen. Wörterbücher, die sich auf diese eine
Belegstelle beziehen, sind in diesem Fall wenig hilfreich.
Eine genauere Darstellung semantischer Wandelphänomene kann in diesem Rahmen nicht geleistet
werden. Für exemplarische Fallstudien siehe die Arbeit von Otfrid Ehrismann: 'Ehre und Mut,
Aventiure und Minne' und das entsprechende Kapitel in Hilkert Weddiges 'MittelhochdeutschEinführung'.
- bei Interrogativa, z.B.
mhd. waz boten er mohte sîn
(was für ein Bote er sein könnte)
- bezogen auf substantivische Numeralia, z.B.
mhd. iane dörften mich dîn zwelve mit strîte nimmer bestân
(ja, es dürften zwölf deinesgleichen nicht ausreichen um mich jemals zu besiegen)
- bei substantivierten Quantitätsadjektiven, z.B.
mhd. vil, lützel, genuoc, minner
e) genitivus qualitatis
Dieser bietet eine Angabe zur Beschaffenheit des Bezugswortes.
mhd. maneger slahte wunder
(vielerei Wunder)
Bei der Übersetzung mhd. Texte trifft man immer wieder auf "Falsche Freunde" - Wörter, die sehr
vertraut aussehen, aber eine andere als die vom nhd. Blickpunkt erwartete Bedeutung haben.
Eine kurze und unvollständige Liste häufiger "Falscher Freunde":
f) genitivus hebraicus oder adnominaler Genitiv der Steigerung
Zu einem Substantiv kann sein eigener Genitiv im Plural oder Singular hinzutreten, um den
höchsten Grad oder Rang desjenigen auszudrücken, was durch das Substantiv bezeichnet wird.
mhd. maget aller megede
(Jungfrauen aller Jungfrauen)
arbeit
arm
g) Adverbialer Genitiv
1. mit temporaler Bedeutung
mhd. des nahtes, nahtes
(nachts, in der Nacht)
mhd. der wîle
(längst)
2. mit lokaler Bedeutung
In der Nachbarschaft von Ortsadverbien und zugleich von Verben der Bewegung
mhd. ich vuor des endes
(ich ritt dahin)
aventiure
bescheiden
h) Das Personalpronomen steht in der Verbindung von niemen mit der exzipierenden Partikel
wan oder mit danne häufig im Genitiv
mhd. er hât hie niemen denne mîn (er hat niemanden ausser mir)
boese
ellende
hôchzît
klein
i) Die neutralen Genitive des (deshalb) und wes (weshalb) sind weitgehend unabhängig von
kausaler Bedeutung (siehe ebenfalls Findehilfe).
kneht
XII. BEMERKUNG ZUM SEMANTISCHEN WANDEL
kranc
lîp
Neben Veränderungen auf der ‚Oberfläche’ der Grammatik (Phonologie, Morphologie und
Syntax) findet auch auf Ebene der Bedeutung Wandel statt: semantischer Wandel. Der
semantische Wandel ist vielfältig und in seinen Ursachen sowie seinen Auswirkungen sehr
komplex; er vollzieht sich auch innerhalb einzelner Sprachstufen.
Bedeutungen von Wörtern können sich verschieben (mhd. rât [Vorrat, vorhandene Mittel] →
mhd. rât [Rat, Abhilfe, Ausweg, Hilfe]), sie können breiter oder enger werden (mhd. kneht
[Knabe, Jüngling, Bursche Ritter und Krieger, die jeweils in einem Dienstverhältnis stehen] →
nhd. Knecht [Diener]) und es können positive oder negative Konnotationen hinzutreten (mhd. wîp
muot
22
Mühe, Mühsal, Not, Strafe, Bedrängnis
neben Nhd. arm, besitzlos auch: von geringem Stand, leibeigen und schmal,
dünn, öde, einsam
davon leitet sich das nhd. Abenteuer ab; das Bedeutungsspektrum des mhd.
Begriffs umfasst die Geschichte (oder Teile davon), die (wunderbare)
Begebenheit, die Quelle höfischer Dichter, ein Wagnis, den Zufall, das
Schicksal...
als Verb bedeutet es trennen, unterscheiden, entscheiden und erklären, als
Adjektiv ist es der Form nach ein Partizip und kann übersetzt werden mit fähig
zu unterscheiden, verständig. Es bezeichnet vor allem die Fähigkeit, zwischen
Gutem und Bösem unterscheiden zu können.
schlecht, gering, wertlos, daneben auch schlimm, übel, gemein, von niederem
Stand
fremd, verbannt, von etwas getrennt, unglücklich, jammervoll, herrenlos
jedes hohe kirchliche oder weltliche Fest
niedlich, zierlich, klein, fein, scharfsinnig, aber auch allgemein als Abstufung
verwendet: klein, unansehnlich, gering, schwach
Knabe, Jüngling, Bursche, Ritter und Krieger, die jeweils in einem
Dienstverhältnis stehen
kraftlos, schwach, wertlos, gering, nichtig, schlecht, boshaft, krank
bezeichnet nicht nur den Leib (Körper), sondern auch das Leben und eine
Person in ihrer Gesamtheit
Kraft des Denkens/Empfindens/Wollens, Sinn, Seele, Geist, Gemüt,
Gemütszustand, Stimmung, Gesinnung, Begehren, Verlangen, Lust, Gedanke
einer Tat, Entschluss, Absicht, Entschlossenheit, Mut, trotziger Eigenwille,
Selbstsucht, Erwartung, Hoffnung; hoher muot: freudige Stimmung,
Hochherzigkeit
sleht
urloup
vrouwe
wîp
wirt
witzec/witzic
gerade (vgl. Geschlecht), geradeaus, einfach, kunstlos, schlicht, aufrichtig,
unordentlich, schlecht
Erlaubnis (bes. zu gehen), Verabschiedung, Abschied
adelige Dame; als Anrede: Dame, Herrin, Gebieterin, Geliebte
Frau allgemein, im Ggs. zu Mann, auch verheiratete Frau, Gemahlin
Ehemann, Haus-/Burgherr, Landesherr, Gastgeber allgemein
kundig, klug, weise, die mhd. Hauptbedeutung steht in Verbindung mit
Verstand, Weisheit (mhd. witze, st.F.) und wird oftmals in Beziehung zu lat.
prudentia gesetzt.
beide
daz
XIII. TABELLARISCHE FINDEHILFE
Die nachfolgende Liste notorischer »Stolpersteine« versteht sich als rein praktisch orientierte
Übersetzungshilfe im Sinne von trouble shooting statt Systematik: Links steht jeweils der als
Ausgangspunkt am ehesten in Betracht kommende auffällige sprachliche Befund, die
formallogische Partikel. Die Ausführungen zu den einzelnen Lemmata sind nicht abschliessend,
d.h. es muss jeweils zusätzlich der LEXER konsultiert werden!
aber
als, alse, alsam,
alsus, sam sus
âne
nun antwurte im nieman dâ. nû rief er iterativ
aber und aber sâ
(da antwortete im niemand. Da rief er
auf die gleiche Weise wieder und
wieder)
als diu sunne schînet..., sus...
vergleichend
(so wie die Sonne scheint, so ....)
doch tete si, sam diu wîp tuont
(dennoch verhielt sie sich, wie sich
Frauen verhalten)
alsus tuot ein betrogen man
(so handelt ein betrogener Mann)
ich bin leider sêre wunt âne wâfen
einschränkend
(ich bin zu meinem Unglück ohne
Waffeneinsatz schwer verletzt
worden)
daz was sîn swærstiu arbeit, âne
ander nôt die er leit
(das war seine grösste Mühsal
abgesehen von anderen Mühen, die er
erlitt)
‚abermals; erneut;
wieder‘
‚(so) wie; als
wenn‘
‚ohne;
ausgenommen;
abgesehen von‘
ê, ê daz
23
nacket beider der sinne und der
kleider
(sowohl des Verstandes als auch der
Kleider bloss)
mit zorne siu dô von ime schiet und
mit riuwe beide
(sowohl zornig als auch bekümmert
trennte sie sich von ihm)
dar umbe hât er sich genant, daz er
sîner arbeit ... iht âne lôn belîbe (er
hat sich deshalb genannt, damit er für
seine Mühsal nicht ohne Lohn bleibe).
si striten alsô sêre daz al diu burc
erscal (sie kämpften so heftig, dass
die ganze Burg davon widerhallte).
der wirt liez sî ûz den banden sâ und
behabete den gast bî im dâ ... daz man
ir dô vil schône pflac (der Burgherr
liess sie [die Gefangenen] frei und
und nahm den Gast bei sich auf –
derart, dass man sich ihrer da in
vortrefflicher Weise annahm.
dô lebt ir noch dar inne sehs hundert
küener man, daz nie künec deheiner
bezzer degene gewan (aber darin
lebten von ihnen noch sechshundert
tapfere Männer, wie sie besser nie ein
König fand).
korrelierend
‚sowohl – als
auch‘
final
‚damit‘
daz was in einen zîten dô vrou Helche
erstarp unt daz der künic Etzel umb
ein ander vrouwen warp (Das war zu
der Zeit als Frau Helche gestorben
war und (als) König Etzel nach einer
zweiten Frau Ausschau hielt.
dô twelte er vierzehen naht, ê daz er
schiede von dan
(dort verbrachte er zwei Wochen,
bevor er aufbrach)
den crebz wolte ich ê ezzen rô
(den Krebs möchte ich lieber roh
essen)
modal-konsekutiv ‚so dass‘
modal
‚derart/in der
Weise dass‘
explikativ zur
Bestimmung
eines Satzgliedes
oder des ganzen
übergeordneten
Satzes
verschiedene
Übersetzungsmöglichkeiten
rein syntaktische
Funktion: daz
steht an der Stelle
einer zu
wiederholenden
Konjunktion
(hier: dô)
temporal
verschiedene
Übersetzungsmöglichkeiten
‚bevor; ehe‘
daneben auch
‚lieber als‘
des (vgl. das Kap.
zum Genitiv, S.
21f.)
(von) diu
doch
durch
et, ot
nû
ein rabe vant...daz im liep was. des
wart er vrô unde geil
(ein Rabe fand etwas, das ihm
angenehm war. Darüber wurde er sehr
froh)
...daz ich mich des erhol, daz mir von
iu geschehen ist
(dass ich mich von dem erhole, was
mir von euch widerfahren ist)
uns gebristet der knehte, von diu tuot
si ez mit rehte
(uns fehlen die Krieger, deshalb
handelt sie zu Recht so)
den truchsæzen hete er zeinem
lügenære, doch er im die rehten
wârheit hæte geseit
(er hielt den Truchsessen für einen
Lügner, obwohl er ihm die ganze
Wahrheit gesagt hatte)
doch ez dir, herre, wære leit, er seite
dir die wârheit
(obwohl es dir, Herr, zuwider ist,
sagte er dir die Wahrheit)
si truogen den künic durch die gotes
helfe vür den grâl
(sie trugen den König vor den Gral,
damit ihm Gott helfe)
vor einem stadele, dân man drasch,
da gienc ein hane durch genasch.
(vor einer Scheune, wo man drosch,
ging ein Hahn, um zu naschen)
ez was durch versuochen getân, ob si
im wære ein rehtez wîp
(es geschah, um zu testen, ob sie ihm
eine gute Frau sei)
wîp sint et iemer wîp
(Frauen sind nun einmal Frauen)
nû daz disiu kint sus verweiset sint,
der juncherre sich underwant sîner
swester
(da nun diese Kinder so verwaist sind,
fing der junge Adlige an, sich um
seine Schwester zu kümmern)
Platzhalter für ein
vom Verb
verlangtes, aus
dem Satz
ausgelagertes
Genitiv-Objekt
‚deshalb; darüber;
davon etc.‘ (je
nach den im Nhd.
verlangten
Kasus/Präposition
en)
kausal
‚deshalb‘
konzessiv
‚obgleich;
wiewohl‘
ob, obe
sît, sît daz
sô, (al-)sô
(sô – sô)
sô
final
(nur
ausnahmsweise
auch kausal,
instrumental,
modal!)
‚um einer Sache
willen; wegen...;
um ... zu...;
damit‘
sô ie +
Komparativ
sunder
modal
temporal/kausal
swer, swaz,
swelch, sweder,
swâ, swanne, swar
u.ä.
‚eben; nun
einmal‘ o.ä.
‚da nun; als nun;
wie nun; nachdem
nun‘
24
ob si lache, daz sî mir ein gruoz
(wenn sie lacht, sei mir das ein Gruss)
dû wirst ein schœne wîp, ob dir got
noch gevüeget eins rehte guoten rîters
lîp
(du wirst eine herrliche Frau, wenn dir
Gott einmal einen passenden Ritter
beschert)
sît ich her wart verkouft, sô hân ich
smælîch arbeit gedolt
(seit ich hierher verkauft worden bin,
habe ich erniedrigende Mühe gelitten)
ich gip dir strît, sît du des gers
(ich kämpfe mit dir, da du es willst)
sô si wider ûf gesach, sô sprach si...
wiest gewunnen mîn herre in sîme
harnas, sô wol gewâpent sô er was?
als sie wieder aufblickte, sagte sie …
wie konnte mein Herr in seiner
Rüstung besiegt werden, obwohl er
doch gut gerüstet war?)
der besten vrühte ist er vol, sô ie ûf
erde vunden wart
(er ist voll der besten Früchte, die je
auf Erden gefunden wurden)
der boum hât ouch die art: sô er ie
hœher wirt, sô er sich ie vester breitet
(der Baum ist auch so geschaffen: je
höher er wird, desto mehr breitet er
sich aus)
sunder twâl (‚sofort‘); sunder wanc
(‚ununterbrochen) u.ä.
konditional
‚wenn‘
(nur in
Ausnahmefällen
mit ‚ob‘ zu
übersetzen)
temporal /
sehr oft kausal
‚seit(dem)‘
‚da; weil‘
[vgl. engl. since]
temporal / modal
oft mit
konditionaler
Nuance
‚als‘
‚so – wie‘
‚obwohl‘
(‚obwohl doch‘)
relativ
wie das
entsprechende
Relativpronomen
korrelierend
‚je – desto‘
einschränkend
‚ohne‘
swer daz viur mac betwingen, daz ez
der hitze werde vrî, der mac natûre
widerstân
(wer das Feuer dazu zwingen kann,
dass es der Hitze verlustig gehe, der
kann sich der Natur widersetzen)
verallgemeinernd ‚wer auch immer‘
e Relativpartikeln etc.
[vgl. lat.
quicumque]
swie
umbe, umbe daz
und, unde
swie sanfte man in trüege, er möhte
lieber gân
(wie bequem man ihn auch immer
trägt, er möchte lieber gehen)
swie ez ein geloube wære, sô wirt er
doch ungelîch von den zwein
verstanden
(wenngleich es ein einziger Glaube
ist, so wird er doch von den beiden
unterschiedlich verstanden)
dô wolde er vrâgen umbe den walt
(da wollte er nach dem Wald fragen)
daz prîset in, und sleht er mich
(das ehrt ihn, wenn er mich besiegt)
komparativ /
‚wie auch immer‘
sehr oft konzessiv ‚wenn auch;
wenngleich‘ o.ä.
relational
‚in Bezug auf;
hinsichtlich‘ o.ä.
pleonastisch in
nicht speziell zu
Konditionalsätzen übersetzen;
ggf. ‚wenn‘
pleonastisch
nicht speziell zu
übersetzen;
ggf. ‚während‘
relativ
wie das
entsprechende
Relativpronomen
(die wîle) unde
die wîle unde ich daz leben hân
(solange ich lebe)
und, unde
daz was allez gar ein niht dâ wider,
und nû hie geschiht
(das alles war gar nichts gegen das,
was jetzt hier geschieht)
nû sît mir willekomen ze dem, und ich
nû haben mac
(jetzt seid mir willkommen zu dem,
was ich jetzt haben kann)
dem pfade volgte ich eine wîle, unz
temporal
(daz) ich eine burc ersach
(ich folge dem Weg geraume Zeit, bis
ich eine Stadt sah)
sî hât des herzen mich beroubet gar
komparativ
vür alliu wîp
(sie hat mir mein Herz ganz geraubt
vor allen anderen Frauen)
diu burc was diu beste vür stürme unt kontradiktorisch
vür mangen
(die Burg war die gesichertste gegen
Angriffe und Kriegsmaschinen)
unz, unz daz
vür
vür
wan daz
wan, niht wan
wan, niuwan
‚bis (dass)‘
wan, wande
‚mehr als‘
Übertreffen /
Bevorzugung:
‚vor‘
‚gegen‘
wan, wande,
wanne
25
etewie ernert ich den lîp, wan daz ich
sorge um mîn wîp
(mich selbst könnte ich schon
irgendwie retten, nur sorge ich mich
um meine Frau)
bî vrowen triuwe ich niht vervân, wan
daz ich müede vor in stân
(bei adeligen Frauen traue ich mir
nicht zu, etwas zu erreichen, ausser
elend vor ihnen zu stehen)
nû enweste Erec niht umb dise
geschiht, wan daz er im nâch reit
(nun hätte Erec nichts darüber
erfahren, wenn er ihm nicht
nachgeritten wäre)
diu vrouwe sprach niht wan ‚ôwê,
rîter...
(die Adlige sagte nichts ausser ‚Owe
Ritter‘)
diu vrouwe gebôt ir, daz si in
allenthalben niht bestriche dâ mite
[sc. mit einer Salbe], wan dâ er die
nôt lite
(die Dame befahl ihr, ihn nicht überall
damit zu bestreichen, sondern nur
dort, wo er Schmerzen hatte)
Erec wolde vürbaz, wan daz getwerc
im ez niht vertruoc
(Erec wollte weiter, doch der Zwerg
gestattete es ihm nicht)
der rîter hete im benomen den lîp,
wan Erec was blôz als ein wîp
(der Ritter hätte ihn getötet, denn Erec
war unbewaffnet wie eine Frau)
ôwê, wan lânt si mir mîn liep
(oje, warum lassen sie mir meinen
Geliebten nicht?)
einschränkend
‚ausser dass; nur;
wenn nicht...‘
einschränkend
‚nichts ausser;
nur‘
einschränkend /
adversativ
‚nur‘ /
‚sondern; jedoch‘
kausal
‚denn; weil; da‘
negiertes kausales ‚warum nicht?‘
Fragepronomen
III. Mittelhochdeutsche Sprachgeschichte
- Besch, Werner/Wolf, Norbert Richard: Geschichte der deutschen Sprache. Längsschnitte
Zeitstufen – Linguistische Studien. Berlin 2009.
- Eggers, Hans: Deutsche Sprachgeschichte. Band 1. Das Althochdeutsche und das
Mittelhochdeutsche. Berlin 1996.
- Nübbling, Damaris: Historische Sprachwissenschaft des Deutschen. Eine Einführung in die
Prinzipien des Sprachwandels. 2. Aufl. Tübingen 2007.
- Schmidt, Wilhelm: Geschichte der deutschen Sprache. Ein Lehrbuch für das germanistische
Studium. 10. Aufl. Stuttgart 2007.
- Schweikle, Günther: Germanisch-Deutsche Sprachgeschichte im Überblick. 4. Aufl. Stuttgart 2001.
- Wolff, Gerhard: Deutsche Sprachgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart. Ein
Studienbuch. 6. erweiterte Aufl. Stuttgart 2009.
XIV. AUSGEWÄHLTE HILFSMITTEL
I. Einführungen in die mittelhochdeutsche Grammatik
- Boor, Helmut de/Wiesnieski, Roswitha: Mittelhochdeutsche Grammatik. 10., durchgesehene
Aufl./ in Zusammenarbeit mit Helmut Beifuss. Berlin/New York 1998 (= Sammlung
Göschen 2209).
- Hennings, Thordis: Einführung in das Mittelhochdeutsche. 2. Aufl. Berlin u.a. 2003 (= de
Gruyter Studienbuch).
- Mettke, Heinz: Mittelhochdeutsche Grammatik. 8. Aufl. Tübingen 1993.
- Paul, Hermann/Wiehl, Peter/Grosse, Siegfried: Mittelhochdeutsche Grammatik. 26. Aufl.
Tübingen 2007.
- Paul, Hermann: Mittelhochdeutsche Grammatik. 25., neubearbeitete Aufl. Tübingen 2006.
- Weddige, Hilkert: Mittelhochdeutsch. Eine Einführung. 7. Aufl. München 2007.
IV. Nützliche Links
- www.medieavum.de
Hinweise und Funktionen zu: Altgermanistischer Forschung, bibliographische Recherche,
Datenbanken und Hilfsmittel, Literatur im Internet, Literaturauswahl für das altgermanistische
Grundstudium etc.
- www.bdsl-online.de
Germanistische Literatur- und Aufsatzrecherche im Internet
- http://www.ubka.uni-karlsruhe.de/kvk.html
Karlsruher Virtueller Katalog zur allgemeinen und interdisziplinären Literatur- und
Aufsatzrecherche
II. Wörterbücher – Wortkunde
- Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Das deutsche Wörterbuch. 33 Bände, München 1999.
- Das Grimmsche Wörterbuch. Untersuchungen zur lexikographischen Methodologie. Hrsg. von
Joachim Dückert, mit Beiträgen von Wilhelm Braun. Stuttgart 1986.
- Ehrisman, Otfrid: Aventiure und Mut, Ehre und Minne. Höfische Wortgeschichten aus dem
Mittelalter. München 1995.
- Friedrich, Jesko: Phraseologisches Wörterbuch des Mittelhochdeutschen. Tübingen 2006.
- Gärtner, Kurt/Gerhardt, Christoph u. a.: Findebuch zum mittelhochdeutschen Wortschatz.
Stuttgart 1992.
- Hennig, Beate: Kleines Mittelhochdeutsches Wörterbuch. 5. Aufl. Tübingen 2007.
- Kluge, Friedrich/Seebold, Elmar: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 24. Aufl.
Berlin u.a. 1992.
- Lexer. Matthias: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. 3 Bd. Stuttgart 1992.
= Der grosse Lexer;
auch online zu finden unter:
http://germazope.uni-trier.de/Projects/WBB/woerterbuecher/lexer/wbgui?lemid=LA00001
- Lexer, Matthias: Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch. Stuttgart 1999.
= Der kleine Lexer.
- Müller, Wilhelm/Zarncke, Friedrich: Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Mit Benützung des
Nachlasses von Georg Friedrich Benecke. 3 Bde. Stuttgart 1990.
= Benecke/Müller/Zarncke oder kurz BMZ;
auch online zu finden unter:
http://germazope.uni-trier.de/Projects/WBB/woerterbuecher/bmz/wbgui?lemid=BA00001
26
Gängige Abkürzungen
ahd.
aisl.
Akk.
as.
Dat.
fem.
frühNhd.
Gen.
germ.
got.
hd.
idg.
Ind.
Inf.
Konj.
mask.
mhd.
nd.
neutr.
nhd.
Nom.
obd.
Part.
Pl.
Präs.
Prät.
Sg.
st.
sw.
= althochdeutsch
= altisländisch (altnordisch)
= Akkusativ
= altsächsisch
= Dativ
= femininum
= frühneuhochdeutsch
= Genitiv
= germanisch
= gotisch
= hochdeutsch
= indogermanisch
= Indikativ
= Infinitiv
= Konjunktiv (Optativ)
= maskulinum
= mittelhochdeutsch
= niederdeutsch
= neutrum
= neuhochdeutsch
= Nominativ
= oberdeutsch
= Partizip
= Plural
= Präsens
= Präteritum
= Singular
= stark
= schwach
27