Dr. Majken Bieniok - Report Psychologie

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Dr. Majken Bieniok - Report Psychologie
5 Fragen an…
Dr. Majken Bieniok
Dr. Majken Bieniok arbeitet als Studiengangskoordinatorin des Studiengangs Psychologie am
Touro College Berlin, ist Gründungsmitglied der Urban Research Group des Georg Simmel Zentrums für Metropolenforschung und assoziierte Forscherin am Institut für kognitive Psychologie an
der Humboldt-Universität zu Berlin. In ihrer Dissertation beschäftigte sie sich mit dem Thema „Die
ideale Metropole – Ein Konzept in Theorie und Praxis am Beispiel von Berlin“. Heute forscht sie im
Bereich der Metropolenforschung: unter anderem zu lebensraumbezogenen Bedürfnissen – auch
im Zusammenhang mit Metropolenmerkmalen – sowie zur Bestimmung urbaner Lieblingsorte.
Was macht den urbanen Raum als Lebensumwelt besonders?
Urbanisierung ist zum einen assoziiert mit unterschiedlichen Zentralisierungstendenzen und einer
Konzentration der Bevölkerung, zum anderen aber auch mit Vielfalt auf ganz verschiedenen Ebenen: Eine Vielfalt der Wohn- und Lebensorte, der Lebensstile und -konzepte sowie der unterschiedlichsten Kulturen. Hinzu kommen wirtschaftliche Faktoren: In Städten finden wir eine höhere Konzentration von Handel und Dienstleistungen, ein stärkeres wirtschaftliches Wachstum und
bessere Bildungsmöglichkeiten. Die architektonische Struktur, eine dichtere Bebauung erzeugt ein
charakteristisches urbanes Erscheinungsbild und zusätzlich zur Bevölkerungsdichte eine gewisse
Enge.
Die Stadt bietet vielfältige, aber auch sehr zwiespältige Möglichkeitsräume: Einerseits gibt es die
Fantasie, sich scheinbar unbegrenzt selbst entwickeln und verwirklichen zu können, die Hoffnung,
das eigene Lebenskonzept ausleben zu dürfen. Andererseits gibt es aber auch immer die Chance
des Nichtgelingens und Scheiterns. Das passiert natürlich andernorts auch, aber aufgrund der vielen Möglichkeiten auf engem Raum, werden an Städte größere Erwartungen herangetragen.
Welche Bedürfnisse haben Menschen in Bezug auf ihren Lebensraum und inwiefern können
Städte diese erfüllen?
Die Psychologie unterscheidet prinzipiell drei Gruppen von Bedürfnissen: Dies sind zunächst die
eher physisch orientierten Bedürfnisse, des Weiteren die auf das Selbst bezogenen Bedürfnisse –
wie etwa Selbstverwirklichung, Selbstwerterhöhung und Kreativität – und schließlich die sozial
orientierten Bedürfnisse, die im Kontakt zu anderen Menschen befriedigt werden. Je nach Altersgruppe kommt den einzelnen Gruppen eine unterschiedliche Gewichtung zu: Soziale und physische Bedürfnisse folgen einer U-Form, das heißt, sie sind ganz besonders wichtig in sehr jungen
Jahren und im höheren Alter. Bedürfnisse der Selbstverwirklichung hingegen stehen besonders im
frühen und mittleren Erwachsenenalter im Vordergrund.
Städte weisen viele Merkmale auf, die der Befriedigung der beschriebenen Bedürfnisse sehr entgegen kommen. Interessanterweise sind das nicht die klassischen, durch Stadtplanungs- und
Stadtentwicklungsmaßnahmen beeinflussbaren (Metropolen-)Merkmale, wie etwa repräsentative
Bauten und charakteristische Straßen oder eine moderne Infrastruktur, die vorwiegend bedürfnisneutral bewertet werden. Positiv sind hingegen entwicklungs- und diversitätsorientierte soziale
Merkmale, die jedoch nur sehr indirekt beeinflusst und gesteuert werden können: eine gewisse
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Fortschrittlichkeit, freie persönliche Entfaltungsmöglichkeiten, vielfältige Bildungs-, Kultur- und
Freizeitangebote, ein gutes, auch medizinisches Versorgungsnetzwerk sowie diverse
Möglichkeiten, sich zu treffen und soziale Kontakte zu aufgeschlossenen und toleranten
Menschen zu knüpfen. Wieder eher beeinflussbar ist ein gutes Angebot an
Rückzugsmöglichkeiten, die auch gegeben sein sollten: Parks, Grünflächen, Gegenden, in denen
man relaxen kann und wo nicht allzu viele andere Menschen sind.
Ein sehr grundlegendes menschliches Bedürfnis ist es im Übrigen auch, die eigene Umwelt zu verstehen. Dabei geht es unter anderem um das Gefühl der Kontrolle in dem Sinne: Ich verstehe, was
hier passiert und wie ich darauf reagieren kann. Wenn zu viel los ist, wenn es zu einer Reiz- oder
Informationsüberflutung kommt, was im urbanen Raum durchaus passieren kann, dann wird es
schwierig, sich zu steuern. Das resultierende Gefühl der Überforderung kann zu Stress, Unwohlsein und auch psychischen Problemen führen.
Als problematisch und die Bedürfnisbefriedigung störend werden zudem (Metropolen-)Merkmale
wie eine hohe Arbeitslosigkeit oder hohe Preise, kriminelle oder terroristische Handlungen oder
die Überwachung durch staatliche Einsatzkräfte eingeschätzt.
Macht das Leben in der Stadt krank?
Mit Blick auf die europäischen urbanen Ballungsräume lässt sich sagen, dass die Menschen dort
im Durchschnitt gesünder sind als in den ländlichen Konterparts, was wahrscheinlich auf die bessere Versorgungsstruktur sowie das höhere Bildungsniveau und die höhere Beschäftigungsrate zurückzuführen ist. Aber natürlich sind nicht alle Städte gleich und auch innerhalb einer Stadt gibt es
Unterschiede.
Zudem kann das Leben in der Stadt auch negative Gesundheitseffekte haben. Diese entstehen
durch die hohe Populationsdichte, das heißt durch Crowding-Effekte und Überstimulation, durch
Lärm, Licht und Umweltverschmutzung, aber auch durch mangelnde physische Aktivität. Hinzu
kommen mitunter fehlende oder negative soziale Interaktion und Unterstützung. Natürlich bedeutet das Leben in der Stadt nicht zwangsläufig Isolation und Anonymität, denn urbane Räume
bieten eine Fülle von Interaktionsmöglichkeiten. Doch diese Begriffe werden nicht umsonst mit
der Stadt assoziiert: Es gibt sicher immer Menschen, die man vom Sehen her kennt, vielleicht sogar grüßt, weil sie in der Nachbarschaft wohnen, aber besonders in Großstädten ist Anzahl der Individuen und deren Fluktuation so hoch, dass man andere oft nur einmal und nie wieder sieht.
Anhaltende soziale Isolation hat nachweislich einen sehr negativen Einfluss auf die physische und
psychische Gesundheit sowie das Wohlbefinden. Entsprechend sind die Prävalenzen verschiedener chronischer Erkrankungen, wie etwa Typ-2-Diabetes, Bluthochdruck und Stoffwechselerkrankungen, verglichen mit ländlichem Räumen deutlich erhöht. Ebenso verhält es sich mit psychischen Erkrankungen im urbanen Raum: Eine relativ aktuelle Studie aus dem Jahr 2010 wies über
alle psychischen Erkrankungen hinweg eine Erhöhung um 38 Prozent nach – unabhängig von Alter, Geschlecht, sozialem Hintergrund oder Herkunft. Bei den affektiven Störungen waren es 39
Prozent, bei den Angststörungen 21 Prozent.
Vielleicht begeben sich Menschen, die unter einer psychischen Störung leiden aber auch nur in
die Nähe der Versorgungsstrukturen.
An sich ist das möglich, ja. Doch betrachten wir einmal das Beispiel der Schizophrenie. Früher
nahm man genau das an: Dass vor allem die vulnerablen oder genetisch vorbelasteten Personen
in die Stadt ziehen – aufgrund der höheren Anonymität und der Nähe zu den Versorgungssyste© www.report-psychologie.de
men. Allerdings zeigten neuere Studien, dass es sich eher um eine Interaktion von Genen und Umwelt handelt: Die typisch urbanen sozialen Faktoren haben einen nicht zu vernachlässigenden Anteil an der Entwicklung beziehungsweise dem Ausbruch der Schizophrenie bei bestehender genetischer Disposition. Es gibt einen fast linearen Zusammenhang zwischen den Inzidenzen und der
Stadtgröße. Und mit steigender Wohndauer in der Stadt steigt die Gefahr zu erkranken. Das
höchste Risiko besteht in Vierteln mit geringen sozialen Bindungen, wenig sozialer Unterstützung
und erhöhter sozialer und ethnischer Diskriminierung.
Interessant übrigens auch: Bestimmte Stadtteile können dick machen. Ist die Konzentration von
Fastfood-Lokalen in der nahen Umgebung hoch und das Angebot von fettiger und zuckerhaltiger
Nahrung groß und sind öffentliche Areale wie Spielplätze, Geh- und Radwege, auf denen man sich
sicher bewegen kann, Mangelware, dann neigen die Anwohner eher zu Fettleibigkeit.
Wo halten sich die Menschen in der Stadt am liebsten auf? Was sind urbane Lieblingsorte?
Eine sehr interessante Frage, vor allem, wenn man folgenden Aspekt betrachtet: Sind es eher grüne, natürliche Räume oder graue, also architektonisch gestaltete und bebaute Räume, die bevorzugt werden? Die Forschung hatte sich zunächst auf die grünen Orte gestürzt. Denn urbanes Grün
hat nachweislich sehr viele positive Effekte: Es reduziert Ängste, Aggressivität, Gewalt und Kriminalität und fördert positive Emotionen, die Erholung vom Alltagsstress und das Wohlbefinden. Zudem trägt es zur sozialen Interaktion und Kreativität sowie zur wahrgenommenen Sicherheit bei.
Grünere Wohngebiete haben einen lebensverlängernden Effekt und können sogar negative Gesundheitseffekte, die durch eine sozioökonomische Deprivation hervorgerufen werden, ausgleichen. Aus diesen Gründen ging man davon aus, dass vorrangig grüne – und nicht die grauen –
Orte potentielle Bedürfnisbefriediger sind. Allerdings ergab eine Studie in Berlin, dass mehr als die
Hälfte der befragten Personen eben nicht natürliche Räume wie Parks, Gärten, Grünflächen oder
Gewässer, sondern sogenannte graue Räume als Lieblingsorte angab: Meistens waren das Cafés,
Restaurants, Kinos oder Einkaufszentren. Das war unabhängig von Alter, Geschlecht, Familienstatus und Bildungsniveau. Und tatsächlich ist das auch nicht allzu verwunderlich. Je nachdem, ob ein
Ort eher natürlich oder bebaut ist, bietet er andere Möglichkeiten der Nutzung und Bedürfnisbefriedigung: Natürliche Lieblingsplätze dienen eher der Bewegung und Mobilität, der Erholung und
Regeneration. Bezüglich anderer Aspekte können graue Lieblingsplätze jedoch genauso befriedigend sein – wenn es etwa um Kommunikation oder sozialen Anschluss geht. Zudem befriedigen
bebaute Orte die Bedürfnisse nach Sicherheit und Schutz sowie auch nach Konsum, Kreativität
und Kultur.
Urbane Lieblingsplätze sind ein wichtiges Thema, wenn es um Erholung und Stressabbau geht. Dabei gilt: Orte zu Regeneration wirken umso besser, je mehr Abstand sie zum Alltag haben. Sie sollten zudem auf gewisse Art und Weise faszinierend sein und eine ressourcenschonende ungerichtete Aufmerksamkeit erwecken. Und natürlich ist es wichtig, dass sie sicher und kohärent beziehungsweise konzeptionell lesbar sind, denn es ist, wie gesagt, ein grundlegendes menschliches
Bedürfnis, die eigene Umwelt zu verstehen.
Orte, die nicht zuletzt aus diesem Grund eher gemieden werden, sind vor allem gefährliche oder
ungemütliche Orte wie Tiefgaragen, große Parkplätze, einsame und dunkle, nicht überschaubare
Tunnel oder Straßen, Industriegebiete oder auch Nachbarschaften, die als unsicher empfunden
werden. Zudem werden Plätze umgangen, wenn es dort zu Rush-Hour-Effekten kommt: also überfüllte Straßen und Tunnel oder große Einkaufszentren.
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Was können und sollten Stadtplaner beachten?
Ich habe mich mit dieser Frage vor allem im Zusammenhang mit der Stadt Berlin beschäftigt. Aber
das kann man sicher übertragen. Interessant ist, dass die für Berlin relevanten Stadtentwicklungsideen auf der Ebene der Konzepte an sich sehr bedürfnisbefriedigend erscheinen. Das heißt, die
Ideen sind sehr gut. Und wenn man die emotionale Bewertung von Metropolenmerkmalen durch
Experten und Laien betrachtet, stellt man fest, dass sie sich kaum unterscheidet. Das Hauptproblem scheint folglich weniger in der Wahrnehmung und Bewertung als in der Umsetzung zu liegen. Wie es dazu kommt, ist schwer zu sagen. Vielleicht sind es die klammen Kassen oder die starke Zergliederung im Planungsprozess, mangelnde oder diffuse Zuständigkeiten oder – nicht zu
vergessen – Investoreninteressen. Mitunter könnte es auch sein, dass andere subjektive Normen
entgegen wirken, dass vielleicht der künstlerische Gedanke vor die Nutzungsidee tritt.
Was mich beruhigt ist, dass wir, wenn Gebäude oder Plätze nicht günstig gestaltet sind, meist auf
die Kreativität der Nutzer zählen können: Sie werden alles so umgestalten, dass es passt.
Da viele Stadtbewohner meist nicht die Möglichkeit und die Mittel haben, ihre lebensraumbezogenen Bedürfnisse in ihrem privaten Bereich zu befriedigen, tragen öffentliche Plätze und Räume
maßgeblich zu einer hohen Lebensqualität bei. Und die Bewohner machen sie sich zu eigen – mitunter in ganz anderer Form als eigentlich angedacht. Beispiele dafür sind Verkehrsinseln, die im
Sommer als Liegewiese genutzt werden, Frühstückstische auf dem Bürgersteig vor dem Haus, auf
Brücken zu feiern oder zu chillen oder auch Urban und Guerilla Gardening.
Müsste ich der Stadtplanung einen Rat geben, würde ich sagen: Lasst die Bevölkerung entscheiden. Fragt sie, was ihre Bedürfnisse sind, was sie haben wollen in ihrer Stadt. Schafft aneignungsfreundliche Räume, die viele Nutzungsmöglichkeiten offen lassen, die Mitgestaltung fördern und
eigene Interpretationen zulassen. An sich sollten die Bedürfnisse der Bevölkerung der Ausgangspunkt der Stadtplanung sein. Menschen wissen sehr gut was sie benötigen und mögen. Und die
Experten sollten die wichtige Aufgabe haben, beratend zur Seite zu stehen und adäquate Umsetzungsstrategien und Möglichkeiten zu entwickeln sowie die Pläne entsprechend umzusetzen.
Etwas provokanter könnte man es auch so formulieren: Nicht die Bürger, die Experten sollten im
Stadtplanungsprozess partizipieren dürfen.
Das klingt nach einer sehr idealisierten Welt.
Ja, aber wem gehört denn die Stadt?!
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