Risikoadaptierte Antikoagulation in Gynäkologie und Geburtshilfe

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Risikoadaptierte Antikoagulation in Gynäkologie und Geburtshilfe
For tbildung
Thrombophile Gerinnungsstörungen
Risikoadaptierte Antikoagulation in
Gynäkologie und Geburtshilfe
K a i S e ver in
Leitlinienempfehlungen hinsichtlich der Therapie thrombophiler Gerinnungsstörungen können bei
Individualentscheidungen im klinischen Alltag hilfreich sein. Eine gute Anamnese und eine sinnvolle
Diagnostik sind jedoch in vielen Fällen unabdingbar.
L
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Gynäkologische Operationen
Bei Patientinnen, die große gynäkologische operative Eingriffe hinter sich haben, beträgt die Prävalenz der tiefen Venenthrombose zwischen 15 und 40%.
Dieser Effekt wird altersabhängig verstärkt, da das Thromboserisiko bei Patientinnen über 60 Jahre dramatisch ansteigt.
Bei Anwendung medikamentöser und
physikalischer Prophylaxemaßnahmen
kann dieses Risiko effektiv auf etwa
1–1,5% gesenkt werden [7].
Für gynäkologische operative Eingriffe
gelten im Grundsatz die gleichen Empfehlungen wie für viszeralchirurgische
und urologische operative Eingriffe im
Bauch- und Beckenbereich. Patientinnen
sollten daher unabhängig von der Art der
Operation – neben Basismaßnahmen
(Frühmobilisation, Eigenaktivierung der
Wadenmuskulatur) und physikalischen
Maßnahmen (Klasse II Thromboseprophylaxestrümpfe) – eine medikamentösantikoagulatorische Prophylaxe erhalten
[1, 4]. Es stehen primär Heparine, Fondaparinux, im Einzelfall auch andere Antikoagulanzien zur Verfügung. Der entscheidende Schritt in der Thromboseprophylaxe besteht in der prophylaktischen Heparinisierung. Es ist bislang
nicht bewiesen, dass das zusätzliche
Tragen von Thrombosestrümpfen das
Thromboserisiko weiter reduziert. Dies
gilt insbesondere im Rahmen der stationären Behandlung, bei der Thrombosestrümpfe häufig suboptimal angepasst
werden und durch Strangulationsfurchen
oft auch kontraproduktiv sind.
Laborparameter
können über das
Risiko einer Patientin für ein thrombophiles Ereignis Auskunft geben, deren
Interpretation
bedarf jedoch viel
Erfahrung.
© Leah-Anne Thompson / fotolia.com
aut aktuellen Leitlinien soll bei der
venösen Thromboembolie anhand
einer risikoadaptierten Strategie die
Indikation und die Wahl der Prophylaxe
so individuell wie möglich geklärt werden.
Unterschieden werden dabei Patienten mit
niedrigem, mittlerem und hohem Thromboembolierisiko, wobei sich das individuelle Thromboserisiko aus eingriffsbedingten (expositionellen) und patienteneigenen (dispositionellen) Risikofaktoren
zusammensetzt (Tab. 1 u. 2). Die Kombination von Risikofaktoren beider Kategorien bestimmt das Gesamtrisiko thrombembolischer Komplikationen [1, 5].
Besonders wichtig ist die Anamnese
bezüglich früher aufgetretener venöser
Thromboembolien, da bei auffälliger Eigen- oder Familienanamnese von einem
erhöhten dispositionellen Risiko auszugehen ist. Hier ist eine laboranalytische
Abklärung einer Hämostasestörung
(Thrombophiliescreening) zu erwägen.
Aufgrund der Metaanalysen von Bottaro et al. und Rasmussen et al. haben sich
die Empfehlungen zur Thromboseprophylaxe für Patienten mit operativen Eingriffen
oder akuten Erkrankungen vor allem hinsichtlich der Dauer verändert. Abhängig
vom individuellen Risiko kann eine Fortführung der Prophylaxe weit in das ambulante Setting hinein sinnvoll sein [2, 3].
Die aktuelle Leitlinie der Deutschen
Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) wurde der deutschen
S3-Leilinie entnommen und orientiert sich
im Wesentlichen an den Konsensusempfehlungen des American College of Chest
Physicians (ACCP) [4, 5, 6, 1].
gynäkologie + geburtshilfe
2011; 16 (10)
Medikamentöse Prophylaxe
Aufgrund der kurzen Halbwertszeit ist für
unfraktioniertes Heparin (UFH) eine
zweimal (Prophylaxedosis) oder dreimal
tägliche (therapeutische Dosis) subkutane
Gabe notwendig.
Die niedermolekularen Heparine
(NMH) sind keine einheitliche Substanzgruppe, haben einen präparatespezifisch unterschiedlichen Zulassungsstatus
und unterschiedliche pharmakologische
und pharmakinetische Eigenschaften. Sie
hemmen primär den Faktor Xa. Aufgrund
ihrer längeren Halbwertszeiten (und damit
in der Prophylaxe nur einmal täglichen
Gabe) sowie aufgrund des niedrigen Risikos für eine heparininduzierte Thrombozytopenie (HIT) bieten NMH deutliche
Vorteile gegenüber UFH. Eine Kontrolle
der Thrombozytenzahl ab dem 5. Tag wie
bei UFH ist jedoch sinnvoll. Entsprechend
des individuellen Risikoprofils der Patientin und der Indikation ergeben sich substanzabhängig verschiedene Dosierungsformen (Tab. 3). Das synthetisch hergestellte, langwirksame Pentasaccharid
Fondaparinux hemmt antithrombinvermittelt spezifisch Faktor Xa und wird in
einer prophylaktischen Dosierung von
2,5 mg 1 x tgl. s. c., therapeutisch in einer
gewichtsadaptierten Dosierung von 5 bzw.
7,5 oder 10 mg eingesetzt. Da eine HIT
praktisch nie auftritt, ist eine Thrombozytenkontrolle nicht erforderlich. Patientinnen mit einer HIT in der Vorgeschichte
können mit Fondaparinux antikoaguliert
werden, wobei jedoch keine Zulassung für
diese Indikation besteht. Im Gegensatz zu
den Studienergebnissen in der Orthopädie
ist Fondaparinux in der Abdominalchirurgie bezüglich thromboembolischer
Komplikationen einer Prophylaxe mit
NMH nicht überlegen [8]. Vitamin-KAntagonisten (Kumarine) sind aufgrund
der schlechten Steuerbarkeit perioperativ
nicht sinnvoll. Acetylsalicylsäure ist in der
venösen Thromboembolie-Prophylaxe
nur schwach wirksam und sollte daher
nicht eingesetzt werden.
Für alle Eingriffe gilt, dass die medikamentöse Prophylaxe mit NMH bei
Patientinnen mit elektiven Eingriffen am
Vorabend der Operation begonnen werden kann. Eine Überlegenheit einer präoperativen Prophylaxe ist jedoch, auch
wegen des erhöhten Blutungsrisikos,
nicht belegt. Die Dauer der postoperagynäkologie + geburtshilfe
2011; 16 (10)
tiven Thromboembolie-Prophylaxe beträgt in der Regel sieben bis zehn Tage.
Behandlung weiterführen –
auch nach der Klinik
In der Gynäkologie, vor allem in Zeiten
der modernen „Fast-Track“-Chirurgie,
werden Patientinnen auch mit fortbestehenden thrombophilen Risikofaktoren oft
früh aus der stationären Behandlung entlassen, das Risiko für thrombembolische
Komplikationen besteht jedoch in vielen
Fällen auch noch nach der Krankenhausentlassung. Klinische Studien zu Malignomoperationen der Viszeralchirurgie
haben den Nutzen einer vier- bis fünfwöchigen medikamentösen Thromboembolie-Prophylaxe gezeigt, sodass bei
Hochrisikopatientinnen eine stationär
begonnene Prophylaxe auch ambulant
weitergeführt werden muss [2, 3]. In diesem Fall ist der weiterbehandelnde Arzt
unbedingt über die Notwendigkeit der
Fortführung der Prophylaxe zu informieren. Die Gesamtdauer der medikamentösen Thromboembolieprophylaxe muss
individuell festgelegt werden und ist abhängig von zusätzlichen Risikofaktoren,
dem operativen Trauma, der Operationsdauer und dem Grad der Immobilisation
(Tab. 2) [1, 4, 5]. Besonders Patientinnen
mit onkologischen Eingriffen müssen
aufgrund ihres deutlich erhöhten Risikos
eine prolongierte Prophylaxe (Orientierungswert 2–4 Wochen) erhalten. MetaAnalysen zeigten, dass so sowohl die
Gesamtembolierate (14% vs. 6%) als auch
die proximale TVT-Rate (5% vs. 1%) signifikant reduziert werden konnte [2, 3].
Expositionelles und
dispositionelles Risiko
Leitliniengemäß wird Patientinnen mit
laparoskopischen Eingriffen eine ähnliche
Prophylaxe empfohlen wie Patientinnen
mit einer Laparotomie [1, 4]. Die Indikation ergibt sich aber aus der Einschätzung
des expositionellen Risikos (lange Operationsdauer, bezüglich venösem Blutstrom ungünstige Lagerung) und des
dispositionellen Risikos. Patientinnen mit
dispositionellen Risikofaktoren sollten
Risikogruppen und Häufigkeiten von Thromboembolie [4]
Tabelle 1
Distale Beinvenenthrombose
Proximale Beinvenenthrombose
Tödliche Lungenembolie
Niedriges Risiko
< 10%
< 1%
< 0,1%
Mittleres Risiko
10–40%
1–10%
0,1–1%
Hohes Risiko
40–80%
10–30%
> 1%
Risikostratifizierung nach expositionellen und dispositionellen
Risikofaktoren in der Gynäkologie [4]
Tabelle 2
Operative Medizin
Nicht operative Medizin
Niedriges Risiko
— kleine operative Eingriffe
— kein oder nur geringes zusätzliches
dispositionelles Risiko
— Infektion ohne Bettlägerigkeit
— ZVK/Port
— kein oder nur geringes zusätzliches
dispositionelles Risiko
Mittleres Risiko
— länger dauernde Operation
(> 30 Minuten)
— kein oder nur geringes zusätzliches
dispositionelles Risiko
— Infektion mit Bettlägerigkeit
— Akute COPD/Herzinsuffizienz NYHA
III/IV
— kein oder nur geringes zusätzliches
dispositionelles Risiko
Hohes Risiko
— größere Eingriffe in der Bauch-Beckenregion v. a. bei Tumoren oder
entzündlichen Erkrankungen
— zusätzliches dispositionelles Risiko
— Apoplex mit Beinparese
— septisches Krankheitsbild
— zusätzliches dispositionelles Risiko
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For tbildung
daher bei laparoskopischen Eingriffen auf
jeden Fall eine medikamentöse Thromboembolie-Prophylaxe erhalten. Auch
hier sind Frauen mit onkologischen Eingriffen im Bauch-Beckenbereich und Retroperitoneum grundsätzlich Hochrisikopatientinnen [9].
Der Stellenwert der medikamentösen
Thromboseprophylaxe bei Brustoperationen ist nicht klar. Theoretisch haben
Patienten mit einer Operationsdauer über
einer Stunde, die eine malignombedingte
Hyperkoagulabilität haben, ein erhöhtes
Thromboserisiko. Die Inzidenz klinisch
manifester Thromboembolien bei Mammakarzinomoperationen liegt jedoch
insgesamt unter 1%. Die Entscheidung
über eine medikamentöse Thromboseprophylaxe sollte daher gemäß des individuellen Risikoprofils erfolgen [1, 4, 5].
Tumorpatientinnen im
nicht operativen Setting
Thromboembolische Ereignisse sind eine
häufige Todesursache bei Patienten mit
einer malignen Tumorerkrankung. Autoptische Untersuchungen zeigen bei bis
Thrombophile Gerinnungsstörungen
zu 50% der im Krankenhaus verstorbenen
Tumorpatienten eine Thrombose und/
oder Lungenembolie. Auch nicht operativ
versorgte Patienten mit malignen Tumoren sind daher hinsichtlich venöser
Thromboembolien grundsätzlich der
Hochrisikogruppe zuzuordnen. Da drei
große multizentrische Studien eine signifikante Reduktion der Rate venöser
Thromboembolien durch Hochrisikoprophylaxedosierungen niedermolekularer Heparine bzw. Fondaparinux zeigen
konnten, wird für stationäre Patientinnen
mit Tumorerkrankungen aufgrund der im
stationären Setting fast automatischen
Immobilisation für den gesamten Krankenhausaufenthalt eine Prophylaxe mit
diesen Substanzen empfohlen [10]. Eine
orale Antikoagulation mit Phenprocumon
(Marcumar®) oder Warfarin (Coumadin®) ist den Heparinen in diesem Kollektiv unterlegen. Zum einen ist die Steuerung von Cumarinen bei Tumorpatienten häufig schwierig (z. B. begleitende
Chemotherapie), zum anderen sind Antitumoreffekte der Heparine nachgewiesen.
In der FAMOUS-Studie, in der 385 Pati-
enten mit fortgeschrittenem Tumorleiden
Heparin oder Placebo erhielten, zeigte
sich ein signifikanter Überlebensvorteil
nach 17 Monaten für die Heparingruppe,
der nicht durch eine Reduktion thrombembolischer Ereignisse erklärbar war [11].
Da klare Daten zur generellen dauerhaften
medikamentösen Thromboembolie-Prophylaxe bei Tumorpatientinnen im ambulanten Setting fehlen, ist eine Einzelfallentscheidung gemeinsam mit der Patientin im Hinblick auf das individuelle Risikoprofil erforderlich.
Schwangerschaft und
Kinderwunsch
In der Schwangerschaft liegt aufgrund
des veränderten hormonellen Status und
dem zunehmenden Kompressionseffekt
des Uterus mit Stase des venösen Rückstroms ein erhöhtes Basisrisiko für
thromboembolische Ereignisse vor. Die
Inzidenz venöser Thromboembolien
steigt vor und nach einer Geburt um
etwa das 4- bzw. 20-fache im Vergleich
zur Allgemeinbevölkerung. Für die individuelle Einschätzung des Thrombo-
Tabelle 3
Gängige subkutane Antikoagulanzien für Propylaxe und Therapie
Substanz
Niedrigrisiko Prophylaxe
Hochrisiko Prophylaxe
halbtherapeutische Dosierung
Therapeutische Dosierung
2 x 5.000–7.500 IE
2–3 x 7.500 IE
–
3 x 7.500 IE
Certoparin (Mono-Embolex®)
1 x 3.000 IE
1 x 3.000 IE
1 x 8.000 IE
2 x 8.000 IE
Dalteparin (Fragmin®)
1 x 2.500 IE
1 x 5.000 IE
1 x 100 IE/kg
2 x 100 IE/kg
1 x 200 IE/kg
Enoxaparin (Clexane®, Lovenox®)
1 x 20 mg (2.000 IE)
1 x 40 mg (4.000 IE)
1 x 1 mg/kg (1 x 100 IE/kg)
2 x 1 mg/kg (2 x 100 IE/kg)
Nadroparin (Fraxiparin®)
1 x 2.850 IE (0,3 ml)
1 x 5.700 IE (0,6 ml)
gewichtsadaptiert
1 x 0,1 ml/10 kg
gewichtsadaptiert
1 x 0,1 ml/10 kg
1 x 3.500 IE
1 x 4.200 IE oder
gewichtsadaptiert
1 x 50 IE/kg
gewichtsadaptiert
1 x 50 IE/kg
gewichtsadaptiert
1 x 175 IE/kg
1 x 2,5 mg
–
gewichtsadaptiert
1 x 5,0/7,5/10 mg
2–3 x 750 IE
2–3 x 750 IE
–
–
2 x 15 mg
2 x 15 mg
–
–
Unfraktioniertes Heparin
Calciparin®
Heparin®
Liquemin®
Niedermolekulare Heparine
Tinzaparin (Innohep®)
Pentasaccharid und sonstige Heparinoide
Fondaparinux (Arixtra®)*
Danaparoid (Orgaran®)*
HIrudin (Refludan®)*
*Indikation heparininduzierte Thrombozytopenie
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gynäkologie + geburtshilfe
2011; 16 (10)
embolierisikos einer Schwangeren und
der daraus folgenden Prophylaxeempfehlung sind vor allem die dispositionellen Risikofaktoren entscheidend.
Zusätzlich müssen weitere vor der
Schwangerschaft bestehende sowie auch
erst während der Schwangerschaft entstehende thrombophile Faktoren (z. B.
Antiphospholipidantikörper, Adipositas,
Immobilität, Infektion) bedacht werden,
die das individuelle Risiko für Schwangerschaft und Wochenbett erhöhen. Dies
ist umso wichtiger, wenn Patientinnen
bereits Aborte hatten.
In Mitteleuropa hat heute etwa jedes
sechste Paar Schwierigkeiten, ihren Kinderwunsch zu erfüllen. Insgesamt steigt
somit die Inanspruchnahme von assistierter Schwangerschaft mit IVF und
ICSI in spezialisierten Kinderwunschzentren rasant an. Neben primär gynäkologischen Ursachen sind es gerade bei
Patientinnen über 35 Jahre embryonalgenetische Defekte (autosomale Aneuploidien), die Nidationsschwierigkeiten
und Spontanaborte – meist in der sechsten bis zwölften Schwangerschaftswoche
– induzieren. Nicht selten jedoch sind bei
Patientinnen mit habituellem Abort auch
Gerinnungsstörungen mitverantwortlich.
Neben vermindertem Antithrombin, Protein C und S sowie Schwangerschafts-assoziierten Antiphospholipidantikörpern sind
APC-Resistenz (Mutationen des Leidenallels) sowie Prothrombinmutationen mit
einer erhöhten Abortrate assoziiert [12].
Eine Mikrothrombosierung des plazentären Kreislaufs kann hier zu einer Plazentainsuffizienz und damit zu einer Reifungsretardierung des Embryos oder zum Abort
führen [13]. In der aktuellen DGGG-Leitlinie wird daher bei wiederholtem Spontanabort ein Screening thrombophiler Risikofaktoren empfohlen [14]. Eine prophylaktische, niedrig dosierte Antikoagulation mit
einem niedermolekularen Heparin (bessere
Datenlage als ASS) führt zu erhöhten
Schwangerschafts- und Geburtenraten in
diesem Kollektiv, unabhängig davon, dass
Mütter mit thrombophilen Risikofaktoren
durch die prophylaktische Heparinisierung
in Schwangerschaftsverlauf und Postpartalphase auch selbst geschützt sind [15].
Antepartale Thrombosepropylaxe
Die aktuellen Therapieempfehlungen ordnen Schwangere, auch wenn sie eine
gynäkologie + geburtshilfe
2011; 16 (10)
einmalige Thrombose außerhalb der
Schwangerschaft im Zusammenhang mit
einem transienten Risikofaktor erlitten
haben (z. B. Operationen, Trauma, Immobilisation), der niedrig Thromboembolierisikogruppe zu (Tab. 4 und 5). Hier ist
eine gute Anamnese wichtig, da eine medikamentöse Prophylaxe nicht in jedem
Fall zwingend erforderlich sein muss und
Basismaßnahmen (Mobilisation, Hydrierung) und physikalische Maßnahmen ausreichend sein können. Dies ist der Fall
wenn beispielsweise keine Thrombophilie,
positive Familienanamnese, eine atypische
Thrombose (z. B. V. subclavia oder Mesenterialgefäße) oder sonstige zusätzliche Risikofaktoren vorliegen. Für Schwangere mit
mittlerem Risiko soll schon in der Frühschwangerschaft, zusätzlich zu physikalischen Maßnahmen, mit einer medikamentösen Thromboembolie-Prophylaxe
(NMH) begonnen werden. Bei Schwangeren mit einem hohen Thromboembolierisiko muss zum frühestmöglichen Zeitpunkt der Schwangerschaft mit einer medikamentösen Prophylaxe in HochrisikoDosierung und physikalischen Maßnahmen begonnen werden. Dies muss so
Risikogruppen in der Schwangerschaft [4,6]
Tabelle 4
Risikokonstellation in der Schwangerschaft
Niedriges Risiko
— Schwangere mit familiärer Thromboseanamnese
— Schwangere mit thrombophilen Faktoren ohne eigene oder familiäre
Thromboseanamnese
Mittleres Risiko
— Schwangere mit Thrombose in der Eigenanamnese ohne hereditäres
thrombophiles Risiko
— Schwangere mit wiederholten Spontanaborten oder schwerer
Präeklampsie/HELLP-Syndrom und Thrombophilie (angeboren, erworben)
ohne Thrombose in der Eigenanamnese
— Schwangere mit homozygoter Faktor-V-Leiden-Mutation in der
Eigenanamnese
Schwangere
mit niedrigem Risiko und zusätzlichen Risikofaktoren
—
(Adipositas, Präeklampsie, Infektion, Bettlägerigkeit)
Hohes Risiko
— Schwangere mit wiederholter Thrombose in der Eigenanamnese
— Schwangere mit homozygoter Faktor-V-Leiden-Mutation oder kombinierten
thrombophilen Faktoren und einer Thrombose in der Eigenanamnese
Zusätzliche Risikofaktoren für Thromboembolie in
Schwangerschaft und Wochenbett [4, 6]
Tabelle 5
Präexistente Risikofaktoren
Neu auftretende oder transiente Risikofaktoren
— Alter > 35 Jahre
— Multiparität (> 4 Geburten)
— Übergewicht (BMI > 30 kg/m2)
— chronisch-entzündliche Erkrankungen
— starke Varikosis
— angeborene maternale Herzfehler
— Z.n. Herzklappenersatz
— Myeloproliferative Erkrankungen
— Sichelzellanämie
— Paraplegie
— Hyperemesis und Dehydratation
— Ovarielles Überstimulations-Syndrom
— Immobilität (> 4 Tage) vor/nach der Geburt
— akute Infektionen
— Myometritis
— Präeklampsie
— großer Blutverlust
— protrahierte Geburtsverläufe
— vaginal-operative Entbindungen
— operative Maßnahmen in der Schwangerschaft oder
Wochenbett
— Kaiserschnittentbindung/Notsectio
— Trauma
— Systemischer Lupus erythematodes
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For tbildung
Thrombophile Gerinnungsstörungen
lange fortgeführt werden wie diese Risikofaktoren fortbestehen [1, 4, 5].
In der Geburtshilfe ist die Peridualanästhesie (PDA) ein Standardverfahren. Das
Risiko für das Auftreten epiduraler Hämatome in der Geburtshilfe ist mit 1:100.000
bis 1:150.000 gering, erhöht sich jedoch bei
gleichzeitiger Gabe von Antikoagulanzien
oder Thrombozytenaggregationshemmern, sodass spzifische Zeitintervalle in
Abhängigkeit der Halbwertszeit der Substanzen eingehalten werden müssen [16].
Postpartale Thrombosepropylaxe
Obwohl die meisten thrombembolischen
Ereignisse während der Schwangerschaft
auftreten ist das Risiko von Thrombosen
und Lungenembolien in der deutlich
kürzeren postpartalen Phase am höchsten. Es wird daher besonders bei der
Kombination von mehr als zwei Niedrigrisikofaktoren (Tab. 2, 4, 5) eine Kurzzeitprophylaxe mit NMH während des
stationären Aufenthaltes empfohlen. Nach
der Geburt kann vier bis sechs Stunden
nach vaginaler Entbindung und sechs bis
zwölf Stunden nach operativer Entbindung mit einer prophylaktischen Antikoagulation begonnen beziehungsweise
fortgefahren werden, sofern keine Blutungszeichen vorliegen. Klasse II Kompressionsstrümpfe können das Risiko
zusätzlich reduzieren, sodass sich hieraus
für Niedrigrisikoschwangere mit leichtem
Zusatzrisiko eine Alternative zur medikamentösen Therapie ergeben kann. Für
Patientinnen mit Hochrisikofaktoren ist
unabhängig vom Geburtsmodus in Abhängigkeit ihres Risikoprofils eine postpartale medikamentöse (Hochrisikoprophylaxe, ggf. auch in halbtherapeutischer
Dosis) sowie eine physikalische Prophylaxe für sechs Wochen postpartal empfohlen [1, 4, 5]. Da eine schematische
Einteilung der Patientinnen gemäß den
Leitlinien der Fachgesellschaft in der täglichen Praxis nicht in jedem Fall sinnvoll
ist, sind hier durch erfahrene Hämostaseo-
logen erstellte datailliertere Modifikationen der ACCP-Guidelines sehr hilfreich,
wenn über eine NMH-Gabe individuell
entschieden werden muss [17].
Screening thrombophiler
Gerinnungsstörungen
Störungen der Hämostase können hereditär (dispositionell) oder erworben und
damit evtl. nur transient sein. Insgesamt
zeigen die verschiedenen thrombophilen
Hämostasedefekte sehr unterschiedliche
Gewichtungen bezüglich ihrer Risikoerhöhung. So erhöht ein Mangel an Antithrombin und Protein-C oder -S das Risiko für thrombembolische Komplikationen
jeweils etwa um das 8- bis 15-fache. Die in
der Bevölkerung viel häufigere heterozygote
Faktor-V-Leiden-Mutation (Gesamtprävalenz ca. 5–8 %) geht jedoch, wie der seltenere Prothrombinpolymorphismus (Prävalenz ca. 2%), mit einem deutlich niedrigeren Risiko einher. Homozygote Merkmalsträgerinnen dieser Mutationen sind
Tabelle 6
Empfohlene Thrombophilieparameter (Thrombophiliescreening)
Gesicherter thrombophiler
Risikofaktor
Laborparameter
angeboren
— APC Resistenz falls
auffällig:
Faktor V Leiden Mutation
— APCRe sistenz
Faktor V Mutation
— Prothrombin (Faktor II)
Mutation
— ProthrombinM utation
— Protein C Mangel
— Protein C
— Protein S Mangel
— Protein S und freies Protein S
(Differenzialdiagnose Typ I-III)
— Antithrombin
— Antithrombin
erworben
— Lupusantikoagulans
Such- und Bestätigungstest
— aPTT
— Lupus-sensitive aPTT
— dRVVT (dilute Russel´s Viper venom time)
(KCT = „Kaolin Clotting Time“)
— Antiphospholipidantikörper (APA, IgM und IgG)
— Anti-CardiolipinA ntikörper
— ß2-Glykoprotein Antikörper
Parameter mit fraglicher Bedeutung
(routinemäßig nicht sinnvoll)
Zusätzliche relevante
Parameter
— Dysfibrinogenämie
— Plasminogenmangel
— Faktor-XII-Mangel
— Hohe Faktor-IX-Spiegel
— Hohe Faktor-XI-Spiegel
— PAI-IP lasminogenaktivatorInhibitor-I-Polimorphismus
— Lipoprotein (a)
— Thrombin-aktivierbarer
Fibrinolyseinhibitor (TAFI)
— FaktorXI II-Val34LeuPolymorphismus
— Homocysteinerhöhung
(eine MTHFR-Mutation ist klinisch
nicht relevant)
— CRP
— Fibrinogen(I nfekt? → Fibrinogenerhöhung)
— D-Dimere
— Thromboplastinzeit (Quick)
— Leber- und Nierenwerte
spezifische APA
— Antiphosphatedylserin Antikörper
— Anti-Prothrombin-Antikörper
— Faktor-VIII-Erhöhung
(< 200%)
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Faktor VIII
gynäkologie + geburtshilfe
2011; 16 (10)
selten, haben im Gegensatz dazu aber ein
hohes Risiko im Laufe ihres Lebens ein
thrombembolisches Ereignis zu erleiden.
Liegen mehrere relevante Risikofaktoren
kombiniert vor, so sind diese nicht additiv,
sondern multiplikativ.
Unabhängig von einer großen Zahl an
Störgrößen in Analytik und Präanalytik,
erfordert die Interpretation pathologischer Ergebnisse in der Gerinnungsdiagnostik besondere Erfahrung. Nicht
jeder von der Norm abweichende Laborwert hat eine klinische Bedeutung. Standardisierte Textbausteine eines reinen
Einsendelabors ohne klinisch erfahrenen
Gerinnungsspezialisten sowie eine unübersichtliche Zahl klinisch oft nicht relevanter Laborwerte und Polymorphismen sind nicht sinnvoll, um eine individuelle Strategie mit einer Patientin zu
erarbeiten. Tabelle 6 zeigt etablierte Laborparameter zur Determination dispositioneller Risikofaktoren, die eine Risikobeurteilung und Beratung in der Zusammenschau mit der Anamnese und der
aktuellen Situation der Patientin ermöglichen. Eine enge Kooperation des Gynäkologen mit einem klinisch erfahrenen
Hämostaseologen ist hierbei wichtig.
Fazit
Eine rationale und risikoadaptierte Antikoagulationsstrategie kann postoperative
thrombembolische Komplikationen nebenwirkungsarm und sicher deutlich reduzieren. Es ist oft wichtig, diese auch nach
der Entlassung ambulant fortzuführen und
den weiterbehandelnden Arzt hierüber zu
informieren. Screeninguntersuchungen auf
thrombophile Gerinnungsstörungen kön-
nen für die Risikostratifikation nützlich
sein. Eine enge Kooperation des Gynäkologen mit einem klinisch erfahrenen Gerinnungsspezialisten kann helfen, optimale Resultate im perioperativen Management, in der Schwangerschaft mit auffälliger Eigen- oder Familienanamnese und
in zunehmendem Maße auch in der Kinderwunschbehandlung zu ermöglichen.
Der Beitrag ist mit Literatur unter www.
spinger-medizin.de/gyn-und-geburtshilfe
abrufbar.
Dr. med. Kai Severin
Gerinnungszentrum RegioKöln
Gemeinschaftspraxis für Hämatologie,
Onkologie und Hämostaseologie
Sachsenring 69
50677 Köln
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gynäkologie + geburtshilfe
2011; 16 (10)
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