Ingo Bierschel - Heinz-Kühn

Transcription

Ingo Bierschel - Heinz-Kühn
Mit der Heinz-Kühn-Stiftung Eine Welt erleben.
Junge Journalistinnen und Journalisten sehen eine andere Welt.
Heinz-Kühn-Stiftung 20. Jahrbuch.
Mit der Heinz-Kühn-Stiftung Eine Welt erleben.
Heinz-Kühn-Stiftung 20. Jahrbuch
Mit der Heinz-Kühn-Stiftung Eine Welt erleben.
Junge Journalistinnen und Journalisten sehen eine andere Welt.
Heinz-Kühn-Stiftung 20. Jahrbuch.
Grußwort zum 20. Jahrbuch der Heinz-Kühn-Stiftung
Politik, so weiß man, beginnt mit der Wahrnehmung der Wirklichkeit. Das
gilt auch für die journalistische Berichterstattung. In unserer Wissensgesellschaft haben die Medien einen großen und verantwortungsvollen Auftrag.
Deshalb ist eine fundierte Berichterstattung, nicht nur bei Themen, die uns
in Nordrhein-Westfalen betreffen, so wichtig. Wir wollen und müssen auch
über den Tellerrand hinaussehen und erfahren, wie die Menschen in anderen Kontinenten leben.
Nicht jeder von uns hat die Zeit und die finanziellen Möglichkeiten, in entfernte Länder wie Kambodscha, Bhutan, Äthiopien oder Uganda zu reisen,
um sich ein eigenes Bild von anderen, fremden Lebenswelten zu machen.
Deshalb gibt die Heinz-Kühn-Stiftung seit vielen Jahren jungen Journalistinnen und Journalisten die Möglichkeit, mit einem Stipendium die Eine
Welt, in der wir leben, besser kennen zu lernen, um differenzierter darüber berichten zu können. Unser Ziel ist dabei, junge Journalistinnen und
Journalisten in ihrer Aus- und Weiterbildung zu fördern, indem wir ihnen
die Chance bieten, einmal jenseits der redaktionellen Zwänge sorgfältig und
ohne den sonst üblichen Zeitdruck zu recherchieren.
Das Ergebnis dieser Recherchen kann sich sehen lassen: Ich freue mich,
Ihnen heute das 20. Jahrbuch der Heinz-Kühn-Stiftung vorstellen zu können und bin davon überzeugt, Ihnen eine besondere und außergewöhnliche
Lektüre zu empfehlen. Den Leser erwarten spannende, nachdenkliche, humorvolle und manchmal auch bedrückende Geschichten, die man so schnell
nicht wieder vergisst. „Mit der Heinz-Kühn-Stiftung Eine Welt erleben“, ist
für viele junge Journalistinnen und Journalisten eine Chance und eine Herausforderung zugleich. Und manchmal ist es sogar der Aufbruch zu neuen
Horizonten.
Ebenso lesenswert sind die Erfahrungen und Eindrücke, die junge ausländische Journalistinnen und Journalisten gesammelt haben, die für einige
Monate bei uns zu Gast in Nordrhein-Westfalen waren. Auch sie haben häufig zum ersten Mal eine neue Welt erlebt, von der sie bisher nur undeutliche
oder mit Klischees beladene Vorstellungen hatten. Sie sind zurückgekehrt in
ihre Heimatländer mit einem anderen, differenzierteren Bild von Deutschland und sie werden als Mediatoren von uns und über uns erzählen.
Ich danke den Autorinnen und Autoren für die Mühe, die sie sich mit ihren
lesenswerten und spannenden Geschichten gemacht haben und wünsche allen Lesern anregende Unterhaltung bei dieser Reise um die Welt.
Jürgen Rüttgers
Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen
Vorsitzender des Kuratoriums der Heinz-Kühn-Stiftung
Inhaltsübersicht
Ingo Bierschel aus Deutschland
Kambodscha, vom 15. Oktober bis 26. November 2005
9
Elena Ern aus Deutschland
Panama, vom 28. Februar bis 28. Mai 2006
43
Annika Fischer aus Deutschland
Surinam, vom 18. Oktober bis 30. November 2005
83
Rodrigue Guezodjé aus Benin
Nordrhein-Westfalen, vom 1. September bis 30. Dezember 2005
113
Michaela Lennartz aus Deutschland
Bhutan, vom 5. März bis 31. Mai 2006
125
Marcio Pessôa aus Brasilien
179
Nordrhein-Westfalen, vom 01. Juli bis 31. Dezember 2005
Rouven Rech aus Deutschland
Äthiopien, vom 29. Mai bis 25. August 2006
193
Rodrigo Rodembusch aus Brasilien
Nordrhein-Westfalen, vom 01. Juli bis 30. Dezember 2005
241
Oliver Schilling aus Deutschland
Kambodscha, vom 12. März bis 23. April 2006
263
Christian Schlesiger aus Deutschland
Sambia, vom 11. Oktober bis 21. November 2005
295
Iris Völlnagel aus Deutschland
Uganda, vom 1. Januar bis 10. Februar 2006
333
Jutta Wasserrab aus Deutschland
Brasilien, vom 08. Februar bis 09. Mai 2006
395
7
Ingo Bierschel
aus Deutschland
Stipendien-Aufenthalt in
Kambodscha
vom 15. Oktober bis 26. November 2005
9
Kambodscha
Ingo Bierschel
Der Vietnamkrieg und die Folgen
für die politische Entwicklung Kambodschas
Von Ingo Bierschel
Kambodscha, vom 15. Oktober bis 26. November 2005
11
Kambodscha
Ingo Bierschel
Inhalt
1. Zur Person
14
2. Intro
14
3. Grundlegendes
14
4. Kambodscha im Sog des Krieges
16
5. Der Krieg gegen Bäume: Kambodschas Urkatastrophe
18
6. Von allen guten Geistern verlassen
20
7. Nur herübergeweht: Der Schrecken des gelben Taus
22
8. Ein Schauspieler auf der Bühne des Kalten Krieges
24
9. Ein König, ein General und die CIA
26
10. An die Macht gebombt: Vom Aufstieg der Roten Khmer
28
11. Das Tribunal: Gerechtigkeit für die Opfer?
31
12. Die Erben des Krieges: TNT für den Rausch der Vergessenen
35
13. Stabilitätsfaktor Diktatur: Im Auftrag des Hun Sen
36
14. Die dunkle Seite der Macht
40
13
Ingo Bierschel
Kambodscha
1. Zur Person
Ingo Bierschel wurde 1977 in Krefeld geboren und studierte an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf Neuere Geschichte, Informationswissenschaften und Sport. Die ersten journalistischen Erfahrungen sammelte
er bei der Betreuung der Zeitung des heimischen Fußballvereins. Studien
begleitend schlossen sich ein Praktikum bei der Westdeutschen Zeitung in
Wuppertal und die Tätigkeit als studentischer Mitarbeiter in der Redaktion
von RTL Newmedia an. Derzeit arbeitet er als Freier Mitarbeiter für die Redaktion der Nunet AG.
2. Intro
Durch den ersten Besuch Kambodschas 2002 wurde mein Interesse für
dieses ursprüngliche Land vollends geweckt. Vor mir breitete sich Angkor
Wat, das Heiligtum der Khmer-Kultur aus. Aufgrund der Hitze beschloss
ich, mir vor dem Besuch noch Wasser zu kaufen. Abseits des steinernen, brückenartigen Zugangs fand ich einen Jungen, der die üblichen Plastikflaschen
verkaufte. Wir kamen ins Gespräch und er lud mich ein, mit seinen Freunden
hundert Meter weiter im Schatten etwas zu essen. Nach und nach wurde die
Gruppe immer größer. Ein etwa 25-Jähriger stach heraus. Wir unterhielten
uns über die Zustände im Land und kamen auf die Geschichte zu sprechen.
In sehr gutem Englisch erklärte er mir, dass er vor über zehn Jahren mit einigen Freunden in den Wald gegangen sei, um sich vor übrig gebliebenen Freischärlern der Roten Khmer zu verstecken. Lange hätten sie nur von Früchten und wilden Tieren gelebt. Eines Tages habe einer seiner Gefährten eine
im Baum befestigte Mine ausgelöst. Zwei seiner Freunde seien bei der Explosion gestorben, er habe schwer verletzt überlebt. Wie zum Beweis zog er
sein T-Shirt hoch und präsentierte mir seinen von Narben entstellten Körper.
Fortan wollte ich mehr über dieses mir bis dahin unbekannte Land erfahren.
Das Stipendium der Heinz-Kühn-Stiftung eröffnete mir die Möglichkeit, angelesenes Wissen durch eigene Recherche zu vertiefen.
3. Grundlegendes
Mit archaischer Gewalt breiten sich die Wurzeln der Bäume über die alten Gemäuer des Tempels aus. Nachdem Henri Mouhot die Tempelanlage
von Angkor für die Welt wieder entdeckt hatte, beschlossen Restauratoren
Ta Phrom als einzigen Tempel so zu belassen, wie Mouhot ihn 1868 vorge14
Kambodscha
Ingo Bierschel
funden hatte, vom Dschungel überwuchert. Symbolisch steht er für das ungezähmte, wildromantische Kambodscha.
Worauf der Name des Landes, dessen Fläche etwa die Hälfte Deutschlands einnimmt, zurückgeht, ist nicht eindeutig zu klären. Menschen mit
schwarzem Humor, wie der Motorradtaxi-Fahrer Phat Monyrak, basteln aus
der landestypischen Bezeichnung Kampuchia [kam (=schlechtes karma),
puch (=Ursprung), chia (=gesund sein)] den viel sagenden Satz: Kam muay
puch moen chia (Schlechtes Karma verfolgt das Leben seit dem Ursprung
und es wird nie besser).
Mit 181.000 Quadratkilometern ist das Land, das im Nordwesten an
Thailand, im Norden an Laos und im Osten an Vietnam grenzt, etwa halb
so groß wie die Bundesrepublik. Neben den Khmer, die 85 Prozent der
13,7 Millionen Menschen umfassenden Bevölkerung stellen, entfällt der
größte Anteil unter den Minderheiten auf Vietnamesen und Chinesen. In
den Bergregionen der nordöstlichen Provinzen Rattanakiri und Mondulkiri lebt darüber hinaus eine Reihe kleinerer ethnischer Gruppen, die meist
zusammenfassend Khmer Loeu (Hochland-Khmer) genannt werden. Über
90 Prozent der Bevölkerung sind Anhänger des in Südostasien weit verbreiteten Theravada-Buddhismus, der ursprünglich aus Sri Lanka stammt
und, der wie die Angkor-Kultur, die sich an der hinduistischen Götterwelt
ausrichtet, durch indische Händler seinen Weg in den östlichen Teil Asiens
fand.
Auf dem Papier erfüllt Kambodscha alle Kriterien, die ein klassisches
Entwicklungsland charakterisieren. Mit einem Pro-Kopf-Einkommen von
jährlich 315 Dollar gehört es zu den 19 ärmsten Staaten der Welt, für die
der Internationale Währungsfond im Dezember 2005 einen hundertprozentigen Schuldenerlass beschloss. Das Bevölkerungswachstum von zwei Prozent, bei einer Säuglingssterblichkeit von 7,1 Prozent, gehört zum höchsten
der Region. Neben dem niedrigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen
Entwicklungsstand haben sich die Tragödien der jungen Geschichte auf die
Bevölkerungsstruktur ausgewirkt. 37 Prozent der Einwohner Kambodschas
sind unter 15 Jahre alt.
Gemäß der 1993 mit Hilfe der UN ausgearbeiteten Verfassung ist Kambodscha eine konstitutionelle Monarchie. Nach der Abdankung von Norodom
Sihanouk, dem ‚Vater der Unabhängigkeit‘, der in weiten Teilen des Landes
noch immer wie ein Halbgott verehrt wird, hat dessen Sohn Norodom Sihamoni seit dem 14. Oktober 2004 die Rolle des Staatsoberhaupts inne. Die
eigentliche Macht jedoch übt Hun Sen, seit 1985 Premierminister, aus, der
sich nach den Wahlen von 2003 auf eine Koalition seiner CPP (Cambodian
Peoples Party) und der königlichen FUNCINPEC (Front uni national pour
un Cambodge indépendant, neutre, pacifique et coopératif) stützt.
15
Ingo Bierschel
Kambodscha
Mehr als 1.000 Jahre sind vergangen, seit die Könige von Angkor ein
Reich beherrschten, das sich vom heutigen Myanmar über Thailand bis nach
Vietnam erstreckte. Durch die Cham, eine Volksgruppe, die in der Küstenregion des heutigen Vietnams lebte, fand die Hochkultur der Khmer ein
jähes Ende. Angkors Ruhm, die herausragende Kultur und die architektonischen Meisterwerke verblassten und verschwanden im Dschungel. Krieg
und Fremdherrschaft waren seither das Bindeglied zwischen Kambodscha
und Vietnam. Mit dem Anbruch des Kolonialzeitalters allerdings erhielt diese Verbindung eine neue Dynamik. Für die Franzosen, die das heutige Laos,
Vietnam und Kambodscha unter der Bezeichnung Indochina zusammenfassten und ab 1863 als Kolonialmacht beherrschten, war das Land an Tonle Sap und Mekong trotz des fruchtbaren Bodens nicht mehr als ein Puffer
gegen die Siamesen und Briten im Westen. Das Hauptaugenmerk der Kolonialherren galt dem Süden Vietnams, dem so genannten Cochinchina im
Bereich des Mekong-Deltas. Im 2. Weltkrieg besetzten die Japaner weite
Teile Südostasiens. Nach der Kapitulation 1945 versuchte Frankreich die
Kontrolle über das ehemalige Herrschaftsgebiet zurück zu gewinnen, doch
wie auch in Afrika wurde der Einfluss der Kolonialmacht stetig zurückgedrängt. Nach dem ‚Cannae‘ bei Dien Bien Phu in den Bergen Nordvietnams
1954 war das Ende absehbar. Vehement drängte Kambodschas König Norodom Sihanouk, der als 19-Jähriger 1941 den Thron bestiegen hatte, auf die
Unabhängigkeit seines Landes, die auf der Genfer Indochina-Konferenz 10
Jahre später formell anerkannt wurde. Es folgten die Goldenen Jahre, in denen Kambodscha einerseits vom kolonialen Erbe profitierte, anderseits aber
– teils durch ausländische Hilfe – eine verhältnismäßige wirtschaftliche und
kulturelle Blüte schuf. Doch auch diese fand ein abruptes Ende.
4. Kambodscha im Sog des Krieges
Knietief stehe ich in Altmetall und Plastikabfällen, um mich herum spielen Kinder, die sich Gesicht und Körper mit schwarzem Schlamm eingeschmiert haben. Über dem Schrottplatz im Hinterhof einer Siedlung aus
einfachen Holzhütten steht die Mittagssonne hoch am Himmel. Triumphierend ruft eines der Kinder meinen Übersetzer herbei: Er hat sie gefunden,
die Bombe! Glücklicherweise ist von dem Sprengkörper, den vor etwa 35
Jahren ein B-52-Bomber über der Region abgeworfen hatte, nur noch die
eiserne Hülle übrig. Durch Sen Monoroum, der Hauptstadt der östlichen
Provinz Mondulkiri, führte einstmals der Ho-Tschi-Minh-Pfad, über den
die Kommunisten aus dem Norden Vietnams ihre Mitstreiter im Süden des
Landes mit Nachschub versorgten. Um amerikanischen Angriffen auszuwei16
Kambodscha
Ingo Bierschel
chen, transportierten die Kämpfer, oftmals waren es Frauen, alles Benötigte
auf Fahrrädern und Karren durch Laos und Kambodscha entlang der Grenze
bis in den durch den 17. Breitengrad abgetrennten Süden. Einer Ameisenstraße gleich schlängelte sich der Pfad durch den Dschungel. Bereits 1958
begann der Viet Minh, die vietnamesische Unabhängigkeitsorganisation, im
Kampf gegen das von der Kolonialmacht Frankreich und den USA gestützte
Bao-Dai-Regime mit dem Ausbau der Versorgungslinie. Federführend war
dabei der Mitbegründer der Kommunistischen Partei Indochinas, Le Duc
Tho. Berühmtheit erlangte der spätere Außenminister Nordvietnams durch
die Ablehnung des Friedensnobelpreises, den er für die Unterzeichnung des
Waffenstillstandsabkommens im Rahmen der Pariser Friedenskonferenz zusammen mit dem Nationalen Sicherheitsberater der USA, Henry Kissinger,
bekommen sollte.
Bereits Mitte der 60er-Jahre, zu Beginn der Eskalation des Konflikts,
rückten die Nachschubwege und Rückzugsgebiete der kommunistischen
Verbände auf kambodschanischem Gebiet ins Fadenkreuz der US-Streitkräfte und ihrer südvietnamesischen Alliierten. In kleinen KommandoTrupps, bestehend aus Mitgliedern der eigens geschaffenen Einheit der
‚Green Berets‘ und ARVN-Soldaten, stießen sie nach Kambodscha vor. Anfänglich waren es zumeist Sabotageaktionen, die sich gegen die feindliche
Infrastruktur in der Grenzregion richteten. Entsprechende Operationen wurden unter dem Decknamen ‚Salem House‘ zusammengefasst. Zunächst beschränkten sich die Einsätze auf den nordöstlichen Teil Kambodschas an
der Grenze zum ebenfalls vom Krieg betroffenen Laos. Schon 1966 protestierte Prinz Norindeth, ein Vertreter Sihanouks, gegen das Vorgehen der
US-Streitkräfte und beklagte den Tod hunderter Kambodschaner. Bereits ein
Jahr zuvor hatte Sihanouk die diplomatischen Beziehungen zu den USA mit
ähnlicher Begründung abgebrochen. Auch zwischen kambodschanischen
Truppen und Soldaten des Vietcong kam es immer wieder zu Scharmützeln, insgesamt aber duldeten die Verantwortlichen in Phnom Penh die Aktivitäten entlang des Ho-Tschi-Minh-Pfades. Ein Grund dafür waren sicher
die finanziellen Zuwendungen, die Teile der königlichen Familie erhielten.
Darüber hinaus verpflichteten sich die Vietnamesen, die kommunistischen
Gruppen in Kambodscha, die zu einem wachsenden Problem für die Regierung geworden waren, nicht zu unterstützen. Allem voran aber waren die königlichen Streitkräfte angesichts ihrer Bewaffnung und Ausbildung gar nicht
in der Lage, effektiv gegen die gut geschulten Guerilla-Kämpfer vorzugehen. Zudem hätten Angriffe auf die sich ausbreitenden Rückzugsgebiete die
ohnehin wacklige Neutralität, die sich Kambodscha auf die Fahne geschrieben hatte, aus den Angeln gehoben – ein Umstand, den der clevere Diplomat
Sihanouk klar erkannt hatte.
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Ingo Bierschel
Kambodscha
Ab Oktober 1968 änderte sich der Deckname der geheimen US-Operationen auf kambodschanischem Gebiet in ‚Daniel Boone‘. Symbolisch steht
Amerikas Trapperlegende für den Einsatz von Einzelkämpfern in den weitläufigen Waldregionen. Unter dem neuen Titel nahmen Umfang und Ausmaß der Aktionen rapide zu. Die Soldaten waren befugt, Anti-Personen-Minen einzusetzen. Das Operationsgebiet wurde bis auf 20 Kilometer nach
Kambodscha hinein erweitert.
Als Richard Nixon im Januar 1969 als Nachfolger Lyndon B. Johnsons
ins Weiße Haus einzog, erhielt das Vorgehen der USA in Indochina eine
neue Dynamik. Vor dem Hintergrund seiner Wahlversprechen und der allgemeinen Stimmungslage war Nixon entschlossen den Krieg zu beenden. Voraussetzung allerdings war eine Lösung, die es der Supermacht ermöglichte,
das eigene Gesicht vor der Weltöffentlichkeit zu wahren. Dabei rückte Kambodscha als Ansatzpunkt des Hebels, um einen verkrusteten Konflikt aufzubrechen, in den Vordergrund.
5. Der Krieg gegen Bäume: Kambodschas Urkatastrophe
„Ich glaube, einer der wichtigsten Tagesordnungspunkte nach unserer
Machtübernahme wird es wahrscheinlich sein müssen, die Politik gegenüber
Kambodscha entscheidend zu ändern“, sagte der frisch gewählte US-Präsident Richard Nixon, bevor er am 21. Januar 1969 ins Weiße Haus einzog.
„Ich wünsche einen genauen Bericht, worüber der Feind in Kambodscha
verfügt.“ Nixon, der mit einem „geheimen Plan“ zur Beendigung des unpopulären Feldzugs in Indochina Wahlkampf gemacht hatte, musste Erfolge
vorweisen. Die von ihm propagierte ‚Vietnamisierung‘ des Konflikts basierte auf einer Stärkung der südvietnamesischen Kräfte, die einen schrittweisen
Abzug der eigenen Soldaten ermöglichen sollte. Unabdingbar für den Erfolg
des Vorhabens war allerdings eine entscheidende Schwächung der gut organisierten Einheiten des Gegners, die sich immer wieder auf das Gebiet des
Nachbarlands zurückzogen und von dort aus Angriffe gegen amerikanische
Stellungen lancierten. Bereits 1968 hatte der Generalstab in Saigon Nixons
Vorgänger Lyndon Johnson mit der Bitte um die Erlaubnis, die Rückzugsgebiete der kommunistischen Kämpfer in Kambodscha angreifen zu dürfen,
in den Ohren gelegen. Vor dem Hintergrund der vorausgegangenen Bombardierung Nordvietnams, die ihren militärischen Effekt verfehlte, dafür jedoch wüste Proteste in der Weltöffentlichkeit gegen das amerikanische Vorgehen auslöste, wies Johnson das Anliegen der Militärs zurück. Bei seinem
Nachfolger allerdings rannten die Generäle offene Türen ein. Nixon sah in
der Bombardierung der Rückzugsgebiete die Chance, dem Krieg die nöti18
Kambodscha
Ingo Bierschel
ge Wendung zu geben und ihm seinen persönlichen Stempel aufzudrücken.
General Wheeler, der Oberbefehlshaber der Streitkräfte, nährte diese Hoffnungen, indem er dem Präsidenten von einer „geheimen Kommandozentrale“ berichtete, von der aus die Operationen des Vietcong koordiniert würden. Ein Überläufer hätte von diesem Dschungel-Hauptquartier berichtet.
Es sollte ein Mythos bleiben.
Mit Unterstützung seines Nationalen Sicherheitsberaters entschied sich
Nixon für die Bombardierung Kambodschas, die allerdings unter allen Umständen geheim gehalten werden musste, hatte der Präsident seinem Gegenüber in Phnom Penh doch eine Woche zuvor gerade erst die territoriale
Souveränität seines Landes zugesichert. Zwischen drei und sieben Uhr am
Morgen des 18. März 1969 ließen die Bombenschützen, geleitet von den
Radar-Bodenkontrolleuren im Bunker in Saigon, erstmals ihre Fracht über
kambodschanischem Gebiet fallen. Jede Bombenkette schlug in einem Kasten von 3,2 Kilometern Länge und 800 Metern Breite ein. Bis zum 26. Mai
1970 wurden im Rahmen der ‚Operation Menu‘ 3.875 Angriffe gegen Ziele
im Grenzgebiet geflogen, 108.823 Tonnen Bomben verwandelten die vermeintlich unbewohnten Gebiete in Kraterlandschaften.
„Es gab Vietcong-Kämpfer, doch die lebten im Wald“, erzählt Ngin van
Thoun und bietet den Gästen Tee an. Sie lächelt, doch ihr Gesicht ist von den
Spuren eines harten Lebens gezeichnet. Wir sitzen unter dem traditionell
auf Stelzen gebauten Holzhaus der Familie. Diese Bauweise dient in erster
Linie dazu, das Malariarisiko zu verringern, da sich die Anopheles-Mücke
vorwiegend in Bodennähe aufhält. Darüber hinaus bietet das luftige Erdgeschoss einen Schattenplatz für die umherlaufenden Schweine und Hühner
– und nicht zuletzt für die Menschen. Lumphat sieht heutzutage aus wie jedes andere Dorf in Kambodscha, zum Verhängnis wurde der einstmals größeren Stadt in der abgelegenen Nordostprovinz Rattanakiri die Nähe zum 35
Kilometer entfernten Vietnam. „1970 wurde die ganze Stadt zerstört“, berichtet Ngin van Thoun. „Nur ein Haus blieb stehen.“ Nach den ersten Angriffen sei ein Großteil der Bevölkerung geflüchtet, doch sie sei geblieben.
„Einige Bewohner der Stadt gingen in den Wald, um mit den Roten Khmer
und dem Vietcong gegen die Amerikaner zu kämpfen.“ Diejenigen, die sich
den Kämpfern um Pol Pot, der sich zu diesem Zeitpunkt auf geschätzte
2.000 Anhänger stützte, angeschlossen hatten und im Wald mit den kommunistischen Waffenbrüdern aus Vietnam kämpften, kamen zumeist nicht
bei Kampfhandlungen um. „Viele, die in den Wald gegangen waren, hatten
nichts zu essen, bekamen Malaria und starben daran“, erklärt die 52-Jährige
und schält Gemüse für das Abendessen.
Noch heute sind in Lumphat die Zeugen der Zerstörung zu sehen. Auf
dem Rücksitz des Motorrads, das aufgrund der schmalen und teils schlam19
Ingo Bierschel
Kambodscha
migen Wege das ideale Fortbewegungsmittel darstellt, fahre ich mit meinem
Begleiter zu einem Ort, den man mit Abstrichen als Gedenkstätte bezeichnen könnte. Auf dem Weg passieren wir ein völlig zerstörtes Gebäude, von
dem nur noch die Grundmauern erhalten sind. „Das war die Schule“, ruft
mir mein Fahrer und Dolmetscher zu. Wir erreichen ein notdürftig eingezäuntes Gelände und werden von einem jungen Mann begrüßt, dem wir erklären, dass wir die Bombentrichter sehen möchten. Wenig später bahnen
wir uns unseren Weg durch Büsche und Gräser und erreichen einen kleinen
Teich. Mit seinem Stock deutet der junge Führer aufs Wasser. Erst jetzt fällt
mir die akkurate Form auf, es handelt sich um den bleibenden Fingerabdruck
einer B-52-Bombe. Im Umkreis von 200 Metern befinden sich vier weitere
Bombenkrater, die alle mit Wasser vollgelaufen sind und den Wasserbüffeln als Badewanne dienen. Auf dem Weg zurück deutet mein Dolmetscher
auf ein selbst gemaltes Schild zwischen den Büschen. Mit Mühe kann ich
darauf einen Totenkopf erkennen. Daneben befindet sich ein kleines Loch.
Auf dem Grund lässt sich eine metallische Oberfläche ausmachen. In knapp
einem halben Meter Tiefe liegt ein Blindgänger. Diese Altlasten des Krieges
stellen eine ständige Bedrohung dar. Im Gegensatz zu den westlichen Provinzen, wo die Minengefahr ungleich größer ist, sehe ich hier immer wieder
Menschen, denen Unterarme fehlen. Zumeist stammen die Verletzungen aus
der Kinderzeit, verursacht durch das Spielen mit verrosteten Granaten, AntiPanzerminen oder Munition.
Nur langsam wächst die Population der Stadt wieder an. „Nach den Bombenangriffen“, so erzählt Ngin van Thoun, „sind nur neun Familien geblieben“. Viele der Flüchtlinge kamen nicht mehr zurück. Die Geister der Toten
schrecken die ehemaligen Bewohner ab. Heute sind es zumeist Lao, die aus
dem nahen Grenzgebiet herüberkommen und sich hier ansiedeln. Auf dem
Rückweg frage ich meinen Begleiter, ob er an Geister glaube. „Nein“, antwortet der 32-Jährige Ouch Lina. Auf die Frage, ob er schon einmal einen Geist
gesehen habe, antwortet er: „Ja, ein Mal, in der Nähe meines Elternhauses.“
Das scheinbare Paradoxon in seiner Aussage hat einen ganz pragmatischen
Hintergrund: „Wenn man nicht an sie glaubt, verschwinden sie“, erklärt Ouch
Lina und weicht einem auf dem Weg liegenden Baumstamm aus.
6. Von allen guten Geistern verlassen
Aufregung herrscht in dem kleinen Eingeborenendorf im nordöstlichen
Zipfel Kambodschas. „Eine Frau ist krank“, klärt mich mein Begleiter auf.
Duyuk gehört zur Minderheit der Tampoun und kennt sich in diesem Teil
des Landes, der von verschiedenen Minderheiten bewohnt wird, bestens aus.
20
Kambodscha
Ingo Bierschel
Wir stehen mitten im Dorf der Jarai. Nur zehn Dschungel-Kilometer östlich
beginnt Vietnam. Bis zum Ausbruch des Krieges allerdings waren Grenzen
für die Stämme der Region etwas völlig Unbekanntes. Seit Urzeiten siedeln
die kleinen Volksgruppen in einem Gebiet, das heute teils zu Laos, Vietnam
oder Kambodscha gehört. Etwas verwundert schauen die Bewohner ob des
Westlers drein, doch der Empfang fällt gewohnt freundlich aus.
Beinahe jedes Haus in Indochina hat einen eigenen kleinen Altar, in dem
Figuren stehen, welche die Ahnen der Familie repräsentieren. Um sich deren Gunst zu sichern, werden kleine Opfergaben dargebracht, im Normalfall Obst und Getränke, oft aber auch sehr weltliche Dinge wie Schnaps, Zigaretten oder kopierte Dollarscheine. Fernab der so genannten Zivilisation
vermisse ich diese teils sehr kitschig anmutenden kleinen Kästen. „Wenn
die Menschen hier die Geister besänftigen wollen, oder ein Anliegen haben,
dann fällen sie einen Baum und schnitzen eine Art Totem“, erklärt Duyuk
und deutet auf einige behauene Stämme, die mir bis dahin gar nicht aufgefallen waren. Die Gesichter sind nicht so perfekt herausgearbeitet, wie man
es von den ‚Marterpfählen‘ nordamerikanischer Indianer gewohnt ist, was
damit zusammenhängt, dass die Jarai diese zumeist kurzfristig für besondere Anlässe anfertigen.
Auf den Stufen seiner Hütte sitzt ein älterer Mann und lächelt uns an. Wir
setzen uns zu ihm. Bereitwillig antwortet er auf meine Fragen, dabei entpuppt sich Duyuk, der die verschiedenen Dialekte der Stämme spricht, als
perfekter Dolmetscher. Kambodschas Amtssprache Khmer sprechen die Alten hier nur sehr eingeschränkt oder überhaupt nicht. Als ich auf die amerikanischen Bombardements zu sprechen komme, erklärt mir der Alte, der
auf einem Auge blind ist, dass die Angriffe nur aus einem Grund überhaupt
stattfinden konnten: „Die Arak (die Schutzgeister der Jarai) verschwanden.
Erst dies ermöglichte es den Amerikanern unser Land zu bombardieren.“
Wie Libellen, die Puder abwarfen, hätten die Flugzeuge ausgesehen, berichtet der kleine Mann mit den ergrauten Haaren, der trotz seines Alters einen
sehr agilen Eindruck macht. Als ich ihn nach den Opfern der Bombardierungen frage, antwortet er ausweichend und erklärt, dass bei den Jarai niemand unverheiratet stirbt und Tote nur paarweise begraben werden. Einzig
die Opfer eines Unfalls würden separat bestattet. Auch mit Hubschraubern
seien die Amerikaner gekommen, erinnert er sich. „Sie verbrannten unsere Häuser und sprühten Gift auf unsere Felder, weil sie uns für Helfer der
Nordvietnamesen hielten.“
Noch heute leben die Jarai auf beiden Seiten der Grenze und versuchen,
unter dem Druck der politischen Systeme ihre Traditionen aufrecht zu erhalten, doch auch unter den Eingeborenen der Region hat die Hochtechnik Einzug gehalten. Handys sind auch hier bei den Jüngeren zu einem begehrten
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Ingo Bierschel
Kambodscha
Statussymbol geworden. Stolz präsentiert mir Duyuk ein Musikvideo auf
dem riesigen bunten Display seines Telefons – wenn ich da an meine ‚Gurke‘ zu Hause denke. Plötzlich taucht ein Mann auf dem Weg auf, einige
Dorfbewohner strömen herbei. Im Arm hat er ein kleines Schwein. Wie sich
herausstellt, ist er der Mann der erkrankten Frau und hat das Tier im nah gelegenen Dorf der Pang gekauft. Gemäß der Tradition muss den Göttern von
den Angehörigen ein Opfer dargebracht werden: je schwerer die Krankheit,
desto größer sollte das zu opfernde Tier sein. Duyuk ist skeptisch: „Hoffentlich ist das Schwein auch groß genug.“
7. Nur herübergeweht: Der Schrecken des gelben Taus
Eindrucksvoll wird das Grauen im Kriegsmuseum in Saigon dokumentiert. In Glasgefäßen sind missgebildete Embryonen ausgestellt und lassen
die Besucher erschauern. Es sind die Opfer des Entlaubungsmittels ‚Agent
Orange‘, die in diesem Horrorkabinett zu sehen sind. Um dem Vietcong den
Schutz des Laubdachs der Bäume zu nehmen, wurde das hauptsächlich aus
Dioxin bestehende Giftgemisch in Teilen Südvietnams und speziell im Mekongdelta eingesetzt, zwischen 1961 und 1971 rund 76 Millionen Liter. Als
erster US-Präsident besuchte Bill Clinton Vietnam 1990 und entschuldigte
sich für den Einsatz der Chemikalie, deren Auswirkungen und Folgeschäden große Empörung in der Weltöffentlichkeit hervorgerufen hatten. Dagegen blieb die Besprühung der Gebiete jenseits der Grenze beinahe gänzlich
unbekannt. Nachdem die Bombardierung der Dschungelregionen auf kambodschanischer Seite, in denen Camps und Nachschubwege der kommunistischen Kämpfer vermutet wurden, nicht die erwünschte Wirkung erzielte,
weitete der Generalsstab in Saigon die geheimen Kommandoaktionen aus.
Im Rahmen dieser Aktionen wurde ab 1969 ‚Agent Orange‘ auch über kambodschanischem Hoheitsgebiet versprüht. Insbesondere die Region um die
Stadt Memot in der Provinz Kompong Cham war betroffen.
„Wir mussten unsere Brunnen jeden Tag abdecken, um sie vor dem Pulver zu schützen“, berichtet So Sareth, ein Bewohner des Dorfes Tameng im
Distrikt Memot. Im Schutz der Dunkelheit, erzählt der 60-Jährige, seien die
Flugzeuge gekommen. „Am Morgen waren die Bäume dann von gelbem
Tau bedeckt. Die Flüssigkeit klebte an den Blättern und die Bäume starben.“
Nach Protesten der kambodschanischen Regierung tat das US-Oberkommando in Saigon die Vorfälle zunächst als Missgeschick ab. Eine meteorologische Fehleinschätzung habe zum Herüberwehen des Kampfstoffs geführt.
Als ein unabhängiges Forscherteam aus den USA später die Auswirkungen
in den betroffenen Abschnitten untersuchte, stellten die Wissenschaftler
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Kambodscha
Ingo Bierschel
fest, dass sich die Verseuchung in geraden, symmetrisch verlaufenden Linien vollzog. Eine versehentlich herübergewehte Agent-Orange-Wolke musste somit ausgeschlossen werden. Bis heute allerdings leugnet die US-Regierung jeglichen Einsatz von ‚Agent Orange‘ über Kambodscha. Nach
Ansicht des Forscherteams habe es sich höchstwahrscheinlich um eine vom
CIA beim berüchtigten Ableger ‚Air America‘ in Auftrag gegebene Aktion
gehandelt.
„Die Kokospalmen knickten um“, berichtet So Sareth und winkelt seine Hand im 45-Grad-Winkel ab. „Die Mango- und Jackfruit-Bäume verloren ihre Blätter.“ Trotz der Angriffe führten die Bewohner ihr Leben in
gewohnter Weise fort. Sie wuschen den gelben Film von den Früchten und
vom Gemüse, aßen es oder verkauften es wie immer auf dem Markt. „Die
Menschen litten unter Juckreiz und manchmal infizierte sich die Haut“, sagt
Eng Leap. Mit der Hand deutet die 58-jährige Frau auf einen von Mauern abgetrennten Bereich, in dem sie Mangos, Jackfruit und Durian anbaut.
„Alle Pflanzen starben kurze Zeit nachdem das gelbe Pulver vom Himmel regnete“, erzählt sie. Hinter ihrem Obstgarten beginnt eine große Kautschukplantage. „Hier versteckten sich die Vietnamesen“, sagt So Sareth. Da
aber auch die ‚Gummibäume‘ ihre Blätter verloren, verschwand das grüne
Dach, das die Kämpfer vor der Entdeckung durch amerikanische Aufklärer
schützte. Aus diesem Grund wichen sie immer weiter ins Innere Kambodschas zurück. In diesen Tagen erkrankten viele Menschen, doch Ärzte gab es
kaum. Allein zwischen April und Mai 1969 besprühten die US-Streitkräfte
173.000 Hektar innerhalb der Provinz Kompong Cham.
Noch heute gibt es eine Vielzahl von tot geborenen Kindern oder Neugeborenen, die mit Missbildungen zur Welt kommen. „Manchmal lässt sich
nicht unterscheiden, ob es sich um die Folgen von ‚Agent Orange‘ oder
mangelnder Hygiene handelt“, erklärt mir ein französischer Arzt, den ich
zufällig auf der Rückfahrt nach Phnom Penh treffe. „Ich habe mich mit einigen Müttern unterhalten. Sie glauben nicht an irgendwelche Chemikalien.
Wenn ein Kind mit Missbildungen geboren wird, dann denken sie, es sei Resultat des Karmas.“
In Kambodschas Hauptstadt herrscht in diesen Tagen unglaublicher Trubel. Am Flussufer sind unzählige Buden aufgebaut, an denen sich Menschenmassen vorbeiquetschen: es ist Wasserfest. Auf dem Tonle Sap, der sich in
Blickweite mit dem Mekong vereinigt, finden die alljährlichen Bootsrennen statt. Aus dem ganzen Land sind die Menschen angereist, um sich das
Spektakel anzuschauen, zwei Millionen sollen es nach Zeitungsangaben
sein. Besonders, wenn man sich inmitten der kochenden Menge befindet,
möchte man das gern glauben. Die Stände auf den Straßen bieten alle Arten
exotischer Snacks. Da ich wenige Tage zuvor auf der Reise in den Norden
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Ingo Bierschel
Kambodscha
in Skoon noch die örtliche Spezialität, gebackene Taranteln, probiert habe,
steht mir in diesem Moment der Sinn nicht nach Insekten oder sonstigen
vielbeinigen Geschöpfen.
Ich lasse mich durch die Straßen treiben und gelange zu einem kleinen
Buddha-Tempel, vor dem die Menschen Opfergaben, zumeist Blumen und
Früchte, darbringen. Hier haben sich die Bettler positioniert. Offen stellen sie
ihre teils bizarren Missbildungen zur Schau. Eine junge Frau trägt ein kleines
Kind auf dem Arm, dessen Kopf beinahe so groß ist wie ein Basketball…
8. Ein Schauspieler auf der Bühne des Kalten Krieges
Vor dem Königspalast legt ein Arbeiter letzte Hand an das übergroße Portrait des ehemaligen Königs. In knapp einer Woche hat der wichtigste Mann
Kambodschas der vergangenen 60 Jahre Geburtstag. 83 Jahre wird Norodom Sihanouk alt. Fast auf den Tag genau ein Jahr zuvor hatte der Begründer von Kambodschas Unabhängigkeit seinen Rücktritt zugunsten seines
Sohnes erklärt. Sihanouk blickt auf ein bewegtes Leben zurück. Dies tut
er allerdings bereits seit geraumer Zeit aus seinem selbst gewählten Exil
in Peking. Auch zu den Feierlichkeiten am 9. November, dem Unabhängigkeitstag des Landes, muss das Volk auf die Anwesenheit seines geliebten Monarchen verzichten. Zwei Gründe sind primär dafür verantwortlich,
dass Sihanouk seinem Land den Rücken gekehrt hat. Zum Einen ist er gesundheitlich angeschlagen und lässt sich in Peking als Gast der chinesischen
Machthaber behandeln, zum Anderen hat er die innenpolitische Auseinandersetzung mit Premierminister Hun Sen, die sich nach der künstlichen Wiederbelebung der Monarchie durch die UN 1993 über Jahre hinzog, verloren.
„Sihanouk hat den Kürzeren gezogen“, sagt Wolfgang Meyer, als Vertreter
der Konrad-Adenauer-Stiftung in Kambodscha. „Es ist hier so Brauch, dass
der Verlierer das Land verlässt.“ Als der Vietnamkrieg in der zweiten Hälfte der 60er-Jahre nach Kambodscha herüber schwappte, saß Sihanouk an
den Hebeln der Macht. Der filmverrückte Monarch spielte die Hauptrolle, schaffte es aber nicht, sein Land vom Sog des Krieges fernzuhalten. Mit
Hilfe einer Schaukelpolitik versuchte er sich durch die Gezeiten des Kalten
Krieges zu lavieren und gleichzeitig vom Tidenhub zu profitieren, um dann
selbst vom Strudel erfasst zu werden. Indem er die archaischen Kämpfer der
Roten Khmer später hoffähig machte, öffnete er das dunkelste Kapitel der
Geschichte Kambodschas.
Nachdem Sihanouk im Alter von 19 Jahren 1941 von den Franzosen als
leicht beeinflussbarer Jüngling auf den Thron gehievt worden war, hielt er die
Zügel lange fest in der Hand. 1953 verkündete der Monarch die Unabhängig24
Kambodscha
Ingo Bierschel
keit von der französischen Kolonialmacht, die ein Jahr später auf der Genfer
Indochina-Konferenz anerkannt wurde. Allerdings ging damit die Verpflichtung einher, allgemeine Wahlen abzuhalten. Sihanouk, nicht bereit, seine
Macht durch Politiker beschneiden zu lassen, dankte kurzerhand zugunsten
seines Vaters ab und sah sich fortan selbst als Politiker, der jedoch weiterhin über den Einfluss eines Monarchen verfügte. Um auch weiterhin die Geschicke seines Landes lenken zu können, gründete er 1955 die Sangkum,
eine Partei-übergreifende volkssozialistische Gemeinschaft mit Bindung an
Nation, Buddhismus und Monarchie. Der Prinz nutzte seine Beliebtheit unter
der Bauernschaft eiskalt aus und hinderte die wirtschaftlichen Eliten fortan
daran, das Ruder zu übernehmen. Lediglich die Demokraten und die Pracheachon, eine dem Vietcong nahestehende Gruppe, vermochten sich zu halten. Geschickt hatte Sihanouk seine Gegenspieler ausgeschaltet. Mit seinem
diktatorischen Führungsstil schuf er sich jedoch immer mehr Feinde in den
eigenen Reihen. Besonders schwer aber wog die immer weiter ausufernde
Landnahme der kommunistischen Kämpfer Vietnams. Die Duldung des Erzfeindes innerhalb der eigenen Grenzen wurde der einstmals starken und cleveren Vaterfigur in Teilen der Bevölkerung als Schwäche und Hilflosigkeit
ausgelegt. Hinzu kam das übersteigerte Interesse des Prinzen für die schönen Künste. Vermehrt erweckte der selbst ernannte Regisseur, Jazz-Musiker,
Komponist und Tänzer den Eindruck, Geld und Energie in eigene – teils bizarre – Kunstprojekte, anstatt in die Staatsgeschäfte zu investieren.
Darüber hinaus hielt der Filz im Regierungsbündnis Sangkum zunehmend Einzug. Die Korruption blühte und auch das Herrscherhaus war verstärkt involviert. Ein Geschäft, bei dem neben anderen Mitgliedern der Führungsriege besonders Sihanouk und sein Premierminister, General Lon Nol,
die Finger im Spiel hatten, war gleichermaßen lukrativ wie gefährlich: Nach
dem Prinzip, ein Drittel für Kambodschas Potentaten und zwei Drittel für
den Vietcong schleusten die Verantwortlichen unter Federführung Lon Nols,
der nebenbei ein Speditionsunternehmen besaß, Nachschub von den Häfen
in Sihanoukville und Ream über die, pikanterweise von den USA finanzierte, ‚Straße der Freundschaft‘ nach Phnom Penh und von dort aus in die
Grenzgebiete, wo die Ware von Kämpfern der NLF übernommen und in die
einzelnen Rückzugsgebiete weitergeleitet wurde.
Der US-Regierung war diese Form gebeugter Neutralität seit langem bekannt und bestärkte Nixon und Kissinger in ihrem Misstrauen gegen den
Prinzen. Der US-Geheimdienst CIA ging 1968 davon aus, dass der durch
Kambodscha geschleuste Nachschub im Vergleich zu den über den HoTschi-Minh-Pfad herbeigeschafften Gütern „zu vernachlässigen“ sei – und
lag damit völlig falsch. Tatsächlich stellten diese Kapazitäten rund ein Drittel der benötigten Versorgung der Vietcong-Kämpfer dar.
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Ingo Bierschel
Kambodscha
9. Ein König, ein General und die CIA
Jeglicher Einfluss der USA beim Putsch gegen Chiles Präsidenten Salvador Allende sei ein „Mythos der Kommunisten“, erklärt Henry Kissinger in seinen Memoiren. Doch weder beim Staatsstreich in Chile noch bei
der Absetzung Sihanouks lässt sich ein Engagement von US-Regierung und
Geheimdienst von der Hand weisen. In beiden Fällen standen Gegner der
beiden Staatsoberhäupter auf der Gehaltsliste des CIA. Als Sihanouk am
18. März 1970 in Abwesenheit seines Amtes als Premierminister enthoben
wurde, war dies das Ende einer von langer Hand vorbereiteten Aktion gegen den kleinen Mann mit der schrillen Stimme an der Spitze des strategisch wichtigen Kambodscha. Besonders den Verantwortlichen im Pentagon
und beim CIA war der unstete Sihanouk seit Jahren ein Dorn im Auge. Seit
Beginn der 60er-Jahre wurde das Szenario eines gefügigen Kambodschas
ohne Sihanouk in den zuständigen Abteilungen in Washington und Langley favorisiert. Aus dieser Zeit stammen auch die Kontakte zu General Lon
Nol, der sich, während sich Sihanouk zu Staatsbesuchen in Russland und
China aufhielt, in einem weitestgehend unblutigen Umsturz an die Macht
putschte. Spätestens nach Sihanouks Anwesenheit bei der Beisetzung HoTschi-Minhs und den immer häufiger werdenden Sympathiebekundungen
für den Kampf Hanois gegen die amerikanischen „Aggressoren“, war der
Monarch für die US-Regierung untragbar geworden. „Der Prinz glaubt an
den unausweichlichen Sieg Nordvietnams und die unvermeidbare Dominanz Chinas in Südostasien“, stellte US-Botschafter Lloyd Rives in einem
Schreiben fest. „Aus diesem Grund schmeichelt er diesen Mächten, um sich
deren Freundschaft im Hinblick auf die Zukunft zu sichern.“
Über die Jahre hatte Lon Nol seine Machtposition immer weiter ausgebaut
und war unter Sihanouk vom Verteidigungsminister bis zum Ministerpräsidenten aufgestiegen. Als er Ende 1969 zur medizinischen Behandlung nach
Frankreich aufbrach – er litt an den Folgen eines Autounfalls –, übergab der
General die Geschäfte an seinen Stellvertreter und Vertrauten Sirik Matak.
Beide bildeten die Spitze der konservativen Elite, die sich zum größten Teil
aus Besitzbürgertum und Adligen zusammensetzte. Die Regierenden waren
Anlaufstelle für die ausländische Unterstützung und verfügten somit über
beste Kontakte. Obwohl besonders Lon Nol kräftig von den mehr oder weniger geheimen Waffenlieferungen aus den kambodschanischen Häfen bis
in die Rückzugsgebiete profitierte, war er auf der anderen Seite ein Verfechter des US-Engagements in Indochina und entschiedener Gegner des Kommunismus. Ihrer Ausrichtung gemäß waren Lon Nol und Sirik Matak für
die amerikanische Sache die passende Alternative zum Zick-Zack-Charakter Sihanouk. Nach Ansicht Sihanouks, der 1973 seine subjektiven Schlüsse
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Kambodscha
Ingo Bierschel
in Bezug auf den Staatsstreich und die Folgen niederschrieb, war die CIA
der maßgebliche Drahtzieher des Umsturzes. Lon Nol und dessen Gefolge fiel demnach die Rolle der willigen Handlanger mit Exekutivgewalt zu.
Gemäß den schwer zu überprüfenden Aussagen Sihanouks sei der General nicht allein der schnellen Genesung wegen nach Frankreich gereist. Bei
seinem Aufenthalt im American Hospital in Neuilly-sur-Seine hielt er sich,
abgeschottet von CIA-Angehörigen, in einem eigenen Bereich des Krankenhauses auf. Nach Ansicht Sihanouks, der sich bei seinen Recherchen
oftmals auf die Artikel des Asien-Reporters T.D. Allman stützte – wenn dessen Darstellungen in sein Bild der Ereignisse passten –, liefen im Krankenzimmer des Generals die Fäden zusammen. Spezialisten des US-Geheimdienstes, erfahren im Sturz von Staatsoberhäuptern, instruierten Lon Nol
über die Feinheiten der geplanten Aktion, so dass dieser bei seiner Rückkehr
nach Phnom Penh über genaue Informationen im Hinblick auf Abläufe und
Kontaktpersonen verfügte.
Angaben des australischen Sicherheitsspezialisten Richard Hall zufolge
hatte die CIA bereits 1965 über den Mittelsmann Long Boret versucht, Lon
Nol für einen Umsturz zu gewinnen. Dieser jedoch hätte sich zum angegebenen Zeitpunkt nicht zu einer Entscheidung durchringen können. Trotzdem bat er Boret, den Kontakt mit dem Agenten aufrechtzuhalten. Samuel
Thornton, der als Mitglied des Navy-Informationsdienstes in Saigon nach
eigenen Angaben über genaue Kenntnisse der Abläufe verfügte, offenbarte dem US-Starjournalisten Seymour Hersh in einem Interview, dass Lon
Nol über seinen Mittelsmann 1968 Kontakt aufgenommen habe. „Lon Nol
wollte ein Bekenntnis, das ihm im Falle eines Umsturzes amerikanische
Wirtschafts- und Militärhilfe zusagte.“ Thornton, der die entsprechende
Information angeblich sofort, nachdem der Agent den zuständigen Offizier unterrichtet hatte, erhielt, fügte hinzu, dass es für die Operation ‚Dirty
Tricks‘, später in ‚Sunshine Park‘ umbenannt, seit März 1969 eine Blankovollmacht von höchster Stelle in Washington gab. Alle Mittel zur Beseitigung Sihanouks waren demnach erlaubt. Eine Ermordung des Prinzen, die
Sirik Matak stets befürwortet hatte, lehnte Lon Nol jedoch kategorisch ab.
Über die eingerichteten Kanäle sei ihm versichert worden, dass er mit der
erbetenen Unterstützung rechnen könne. Im Einklang mit Sihanouk und den
eigenen Interessen verdächtigten auch Russland, China und Nordvietnam
die USA der Drahtzieherschaft bei der Machtübernahme Lon Nols. Die USRegierung dementierte immer wieder heftig. So musste US-Präsident Nixon
im Mai 1970 Indonesiens Präsident Suharto auf Anfrage versichern: „Wir
haben beim Regierungswechsel in Kambodscha keine Rolle gespielt“. Gemäß der Aussage von Kissinger-Biograph Walter Isaacson allerdings soll
sich Nixon, als er von der Machtübernahme Lon Nols unterrichtet wurde,
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Ingo Bierschel
Kambodscha
gefragt haben: „Was machen diese Clowns in Langley?“ Als Kissinger den
Prinzen 1979 in Peking traf, versuchte er ihm zu versichern, dass die USA
nichts mit dem Coup zu tun gehabt und darüber hinaus sogar für eine Wiedereinsetzung Sihanouks anstelle von Lon Nol plädiert hätten. „Sie müssen
glauben, dass wir ihre Rückkehr an die Macht immer befürwortet haben und
dass wir Lon Nol nicht mochten. Wir mochten sie.“ Als Sihanouk nicht auf
die Sympathiebekundung einging, setzte Kissinger nach. „Ich will, dass sie
mir glauben.“ Sihanouk entgegnete daraufhin: „Entschuldigung, ich kann
nicht sagen, dass ich ihnen glaube.“
Getrieben von seiner Eitelkeit und dem Wunsch, die Macht zurückzuerlangen, beging Sihanouk den schwerwiegendsten Fehler seines politischen
Lebens. Im Dschungel Rattanakiris, wohin sich Kambodschas Kommunisten
zurückgezogen hatten, um dort, vor Verfolgung sicher, ihre Machtbasis aufzubauen, suchte Sihanouk in einer Nacht-und-Nebel-Aktion den Schulterschluss mit den Roten Khmer, die er jahrelang erbittert bekämpft hatte. Indem er der Führungsclique um Saloth Sar, der sich später Pol Pot nannte,
und Ieng Sary durch Stipendien das Studium in Paris ermöglicht hatte, wobei
diese mit maoistischem Gedankengut in Berührung kamen, hatte er bereits
zuvor unfreiwillig eine verhängnisvolle Saat ausgebracht. Durch das Bündnis mit dem Monarchen erfuhren die Roten Khmer bei der Sihanouk-treuen Landbevölkerung eine ungeheure Aufwertung und erhielten, was sie bisher vergeblich gesucht hatten: Legitimation. Nach seiner Rückkehr in sein
Exil in Peking verkündete Sihanouk selbstbewusst: „Die Amerikaner werden wir gemeinsam mit den Vietnamesen und unseren eigenen Roten Khmer
schlagen.“ Wie verhängnisvoll seine Entscheidung gewesen war, musste Sihanouk später am eigenen Leib erfahren. Unter der Herrschaft der Roten
Khmer, die er teils als Gefangener in seinem Palast, teils als Exilant in Peking, erlebte, wurden auch einige Mitglieder der Königsfamilie ermordet.
10. An die Macht gebombt: Vom Aufstieg der Roten Khmer
‚Chaul steung tam bat, chaul srok tam brates‘, lautet ein Sprichwort der
Khmer. ‚Springst Du in einen Fluss, folge seinem Verlauf, betrittst Du festen
Boden, dann folge den Gesetzen des Landes‘, lautet die sinngemäße Übersetzung des Ausspruchs, der repräsentativ sowohl die traditionell im Theravada-Buddhismus verwurzelte Mentalität als auch die Geschichte Kambodschas symbolisiert. Vor der gläsernen Schädelpagode auf den ‚Killing Fields‘
im Süden Phnom Penhs stehend, fällt es schwer, den Glauben der Einheimischen zu teilen, wonach sich das Schicksal aus den guten und schlechten Taten der vorausgegangenen Leben errechnet. Neben dem ehemaligen
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Kambodscha
Ingo Bierschel
Konzentrationslager Toul Sleng stellt das Monument das eindrucksvollste
Zeugnis der Barbarei unter der Herrschaft der Roten Khmer dar. 3 Jahre, 8
Monate und 20 Tage dauerte das Schreckensregime von Pol Pot und seinen
von maoistischen und nationalistischen Ideen geblendeten Mitstreitern, unter dem geschätzte 1,7 Millionen Menschen den Tod fanden. Als die wilden,
in schwarze Kampfanzüge gehüllten Kämpfer am 17. April 1975 in Phnom
Penh einzogen, wurden sie vom Großteil der Bevölkerung als Befreier begrüßt. Schon lange hatte sich Lon Nol nur noch durch Korruption und amerikanische Unterstützung an der Macht gehalten. Immer kleiner war das von
den Regierungstruppen kontrollierte Gebiet geworden, bis sich schließlich
die Schlinge um die Hauptstadt zuzog.
Auch die amerikanische Luftunterstützung änderte nichts am Sieg der
Kommunisten, im Gegenteil. Durch Angriffe auf Zivilisten wurde das nahende Ende nur noch beschleunigt. „Ich stand gerade unter der Dusche“,
berichtet Von Kam, die in einem Dorf nahe der Stadt Komang Chong lebt,
die südöstlich von Ban Lung, der Hauptstadt der Nordostprovinz Rattanakiri, liegt. Neben den Ausläufern des Ho-Tschi-Minh-Pfads befanden sich in
diesem Gebiet viele Dschungelcamps der Roten Khmer. „Plötzlich hörte ich
ein Flugzeug. Es flog sehr niedrig auf das Dorf zu und begann zu schießen.
Ich begann zu rennen und konnte mich gerade noch in einem Graben verstecken.“ Deutlich habe sie den Piloten des Tieffliegers erkennen können, erzählt die grauhaarige Frau. Es sei ein Weißer gewesen. Darüber hinaus sei
auf der Seite des Flugzeugs die amerikanische Flagge zu sehen gewesen.
„Die Menschen gruben Löcher am Fluss, in die sie bei Luftangriffen flüchteten“, berichtet die 58-Jährige weiter.
Durch die amerikanischen Militäraktionen wurden die Kämpfer der Roten
Khmer und des Vietcong immer tiefer ins Landesinnere gedrückt. Gleichzeitig trieb ihnen der wachsende Hass auf die US-Streitkräfte, die aus der
Luft Jagd auf Unschuldige machten, die Menschen in die Arme. „Vom Fenster aus habe ich gesehen, wie ein Mann von einer Bombe getötet wurde“,
erzählt eine weißhaarige Frau in der Stadt Kratie, die nördlich von Phnom
Penh am Mekong liegt. „Als er das Flugzeug kommen sah, kniete er sich auf
den Boden und faltete die Hände“, berichtet sie und nimmt dabei die entsprechende Gebetshaltung auf dem Fußboden ihrer kleinen Hütte ein. Dann,
so fährt sie fort, hätte ihm die Bombe einen Teil des Schädels weggerissen.
Viele Menschen seien damals im Schlaf von Schrapnellen getötet worden,
welche die dünnen Wände der traditionellen Bambushütten durchschlagen
hätten.
Selbst am Abend ist es noch extrem heiß in Kratie, hinzukommen Feuchtigkeit und Massen von Ungeziefer. Mit einer Zeitung schickt Matt eine Kakerlake in die ewigen Jagdgründe. Er gehört zu einer Einheit amerikanischer
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Ingo Bierschel
Kambodscha
Soldaten, die beinahe das gesamte Hotel in Besitz genommen hat. Unter
dem Banner der militärischen Hilfsorganisation ‚US-AID‘ suchen Matt und
seine Kameraden nach den Überresten vermisster Amerikaner. „Hauptsächlich sind es Piloten, aber auch Journalisten oder einfache Reisende, die wir
suchen“, sagt er und sprüht sich mit Insekten-Abwehrspray ein. Bis 1973
hatten die USA den Kampf gegen die Kommunisten auf ganz Kambodscha
ausgeweitet. Mit aus China angelieferten Flugabwehr-Raketen aber waren
die Roten Khmer plötzlich in der Lage, sich gegen die Tiefflieger-Angriffe
zur Wehr zu setzen. Viele Piloten kehrten nicht mehr auf ihre Basis zurück;
‚Missing in Action‘ lautet der militärische Terminus. „Einmal ist ein Flugzeug hier in eine Brücke gestürzt“, erzählt die alte Frau. „Die Kämpfer der
Roten Khmer haben es abgeschossen.“ Zur Unterstützung der Regierungstruppen im Kampf gegen die Kommunisten flogen die US-Streitkräfte vermehrt Angriffe. Da die Größe der von den Roten Khmer und dem Vietcong
kontrollierten Gebiete stetig zunahm, wurde auch der Einsatzbereich der
Jagdflieger und der B-52-Bomber erweitert und umfasste bis 1973 beinahe
ganz Kambodscha.
Seit dem 9. Mai 1969 waren insbesondere die Angriffe der Langstreckenbomber auf die Rückzugsgebiete des Vietcong jenseits der Grenze nicht mehr
geheim. In einem Artikel in der New York Times berichtete William Beecher
über die Aktionen der US-Luftstreitkräfte in Kambodscha. Nixon und Kissinger tobten und suchten nach dem Leck in der undichten Nachrichtenleitung. Der Nationale Sicherheitsberater installierte daraufhin ein Abhörsystem, mit dem selbst seine engsten Mitarbeiter überwacht wurden – geheim,
versteht sich. Der erwartete Aufschrei im kriegsmüden Amerika aber blieb
aus. Es waren die horrenden Kosten, die Nixons Strategie aufwarf, die Senat
und Kongress schließlich gegen den Präsidenten agieren ließen. Besonders
die Unterstützung für Lon Nol sollte ein Ende finden. Nach der Ratifizierung des so genannten Cooper-Church-Zusatzes im Dezember 1970 waren
lediglich Angriffe auf die Versorgungslinien des Feindes in Kambodscha gestattet. Durch dieses politische Nadelöhr fielen bis zum endgültigen Stopp
der Luftangriffe im August 1973 über 500.000 Tonnen Bomben auf Kambodscha, 100.000 Tonnen allein im letzten Monat.
Sihanouk, der immer vorgab, von den Angriffen auf kambodschanisches
Territorium nichts gewusst zu haben, hatte nie auf die Grenzverletzungen
reagiert. „Die gängige Meinung hier ist, dass Sihanouk, obwohl er von den
Angriffen wusste, nie wirklich protestiert hat“, sagt Wolfgang Meyer von der
Konrad-Adenauer-Stiftung. Auch in seinen späteren, oftmals sehr eindimensionalen Veröffentlichungen, bezieht der Monarch keine Stellung. Ausgelöst
durch die amerikanischen Bombardements entwickelte sich in Kambodscha
ein Flächenbrand, von dem sich das Land bis heute nicht erholt hat.
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Kambodscha
Ingo Bierschel
11. Das Tribunal: Gerechtigkeit für die Opfer?
Mit meinem Begleiter stehe ich vor einem Haus in einem kleinen Dorf, 20
Kilometer entfernt von Ban Lung. Von einem Barbesitzer in der Hauptstadt
der Nordostprovinz Rattanakiri habe ich den Tipp bekommen, dass sich ein
ehemals ranghoher Offizier der Roten Khmer hierher zurückgezogen habe.
Mein Fahrer und Übersetzer ruft ein paar Worte, dann öffnet sich die Tür,
ein grauhaariger Mann von geschätzten 70 Jahren tritt heraus und starrt uns
an. Ob wir uns mit ihm über seine Vergangenheit bei den Roten Khmer unterhalten könnten, fragt mein Begleiter in der Landessprache. Der Alte, dessen Namen wir nicht kennen, winkt ab, dreht sich dann aber auf dem Weg
zurück zur Treppe noch einmal um und sagt: „Ich habe viele Menschen getötet. Andernfalls hätten sie mich getötet.“
Schrecken war die mächtigste Waffe der Roten Khmer. Unter Führung der
‚Oberbrüder‘ Pol Pot, Ieng Sary und Noun Chea wurde diese systematisch
gegen die Bevölkerung eingesetzt. Im Normalfall begnügen sich erfolgreiche Revolutionäre damit, Menschen durch das ‚Wer-nicht-für-uns-ist-istgegen-uns-Sieb‘ fallen zu lassen, doch die Kommunisten Kambodschas hatten sich nach dem triumphalen Sieg über die Regierungstruppen Lon Nols
und dem Einmarsch am 17. April 1975 in Phnom Penh eine gnadenlosere
Form der Ideologie auf die Fahne geschrieben. Den Anhängern der Lehre
Maos schwebte ein Arbeiter- und Bauernstaat reinster Form vor. Im Mittelpunkt stand der Reisanbau nach dem Vorbild der Khmer-Hochkultur von
Angkor. Alle, die eine erkennbare Gefahr auf dem Weg zur steinzeitlich
kommunistischen Glückseligkeit darstellten, ereilte ein grausames Schicksal. Intellektuelle waren das erste Ziel der Sorbonne-studierten Führungsclique. Nur wenigen gelang es, ihr bisheriges Leben zu kaschieren und sich
als reiner, harmloser und wertvoller Bauer auszugeben. Genau diese versuchten die Führer der Roten Khmer durch barbarische Tests herauszufiltern. So mussten die Delinquenten beispielsweise eine Palme bis zur Spitze
hinaufklettern, um ihre ursprüngliche Herkunft nachzuweisen. Diejenigen,
die nicht in der Lage waren, dieses Kunststück zu vollbringen, wurden umgehend erschossen. Sie sollten „Dünger für die Felder“ sein.
Mit einem Tribunal gegen die Verantwortlichen des Genozids in Kambodscha soll endlich ein Schlussstrich unter das blutigste Kapitel kambodschanischer Geschichte gezogen werden. Stellvertretend für alle verblendeten kleinen und mittleren Befehlsempfänger sollen einige der ehemaligen
Oberen zur Rechenschaft gezogen werden. Diese gestehen zwar „Fehler“
ein, bestreiten aber jegliche Kenntnis von systematischen Tötungen. „Das
stimmt nicht, das entspricht nicht der Wahrheit“, sagt Nuon Chea, der ‚Ideologie-Papst‘ und ehemals engster Vertrauter Pol Pots, in einem Zeitungsin31
Ingo Bierschel
Kambodscha
terview. „Toul Sleng ist eine Lüge.“ Das ehemalige Folterzentrum im Süden
Phnom Penhs, heute zu einer eindringlichen Genozid-Gedenkstätte umgebaut, steht symbolisch für die Todesmaschinerie der Roten Khmer. Dieses
könnte den ehemals führenden Funktionären im Nachhinein zum Verhängnis werden. Unter den wenigen erhaltenen Dokumenten befinden sich Einlieferungsbefehle. Diese belegen Kenntnis und Beteiligung der Führer um
Nuon Chea und Khieu Samphan, der innerhalb des Terrorregimes als Staatsoberhaupt fungiert hatte. Samphan, der als Intellektueller gilt, hat bereits
vorgesorgt: Im Fall einer Anklage wird ihn sein alter Studienfreund Jacques
Verges verteidigen. Als Anwalt von Nazi-Kriegsverbrecher Klaus Barbie,
dem Terroristen Carlos und als Berater von Serbiens Ex-Ministerpräsident
Slobodan Milosevic hat sich der Franzose bereits einen Namen gemacht.
Im FCC, dem ‚Foreign Correspondence Club‘ an Phnom Penhs Riverside,
treffe ich Helen Jarvis. „Ich trage ein taubenblaues Kleid“, hatte sie mir am
Telefon gesagt. Als wir uns dann mit etwas Mühe – ich hatte mich aufgrund
der Hitze noch einmal umgezogen und trug anstelle des ausgemachten roten
ein braunes Shirt – ausfindig machten, war ich von ihrer Erscheinung sofort
beeindruckt. Die grauhaarige Australierin strahlt eine unglaubliche Präsenz
aus. Jeder scheint sie zu kennen, darüber hinaus spricht sie fließend khmer.
„Wir leben seit sieben Jahren in einem kleinen Dorf etwas außerhalb von
Phnom Penh.“ Zu ihrer Linken sitzt ihr amerikanischer Mann, der ihr an
Körpergröße und Umfang weit unterlegen ist, dessen genaue Kenntnis der
Verhältnisse gemixt mit beißender Ironie jedoch die etwas angespannte Gesprächsatmosphäre immer wieder auflockert. Helen Jarvis ist das, was man
unter einer ‚taffen Lady‘ versteht. Als Beraterin von Kabinettsminister Sok
An ist sie maßgeblich an der Organisation des Tribunals beteiligt.
In den ländlichen Regionen rechnet niemand wirklich damit, dass das Verfahren jemals stattfindet. Als ich sie mit meinen Erfahrungen konfrontiere,
antwortet sie kühl: „Die Leute auf dem Land wissen nichts. Sie wollen auch
meist nichts über die Vergangenheit wissen. Viele wissen nicht einmal, dass
es so etwas wie ein Gericht überhaupt gibt.“ Gerichte befinden sich zumeist in den Provinzhauptstädten, die viele Dorfbewohner noch nie betreten haben. Jarvis, die seit 1999, bezahlt von der australischen Regierung, in
Kambodscha arbeitet, ist fest davon überzeugt, dass das Tribunal trotz aller
Widrigkeiten demnächst stattfindet. „Den Effekt, den es haben wird, kann
niemand voraussehen“, sagt sie. Das Hauptproblem ist nach wie vor die Finanzierung, knapp 60 Millionen Dollar müssen gesammelt werden. 6,7 Millionen soll Kambodscha selbst beisteuern, immerhin ein Prozent des Gesamtbudgets der Regierung. Da sich unter den heutigen Machthabern immer
noch ehemalige Führer der Roten Khmer befinden, versucht die Regierung
genau hier den Hebel anzusetzen, um das Tribunal doch noch zu verhindern.
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Kambodscha
Ingo Bierschel
Unlängst ließ Premierminister Hun Sen verlauten, Kambodscha sei in der
Lage, maximal 1,5 Millionen Dollar für das Tribunal aufzubringen. Angeblich versickern in Kambodscha jedes Jahr 300 Millionen Dollar Aufbauhilfe
der teils sehr uneffektiv arbeitenden ausländischen Organisationen.
Jarvis, die für ihre Arbeit mit der kambodschanischen Ehrenbürgerwürde ausgezeichnet wurde, aber ist sich sicher: „Egal, was sie auch versuchen,
das Tribunal wird stattfinden, vielleicht schon sehr bald.“ Derzeit fehlten
noch 9,5 Millionen Dollar. Die UN, die als Friedens- und Demokratiestifter Anfang der 90er-Jahre versagt hatte, ist nicht direkt beteiligt. Das Geld
kommt von den ausländischen Regierungen. Größter Geber ist Japan, 20
Millionen Dollar hat das Land der aufgehenden Sonne versprochen beizusteuern. Hierbei spielt der Kampf um die Einflusssphären in Südostasien
eine große Rolle. Über das Tribunal wollen die Japaner den mächtigen Chinesen, die beste Beziehungen zu den Machthabern Phnom Penhs unterhalten, eine diplomatische Ohrfeige verpassen. China war der Protektor der
Roten Khmer und profitiert heute noch von der landesüblichen Korruption.
Auch die USA hätten Hilfe angeboten, die zugesagten drei Millionen Dollar
jedoch wieder zurückgezogen, erklärt Jarvis und schaut dabei ihren Mann
an, der ein T-Shirt trägt, das dessen Meinung zu den derzeitigen Machthabern in Washington deutlich zum Ausdruck bringt.
Zu den Hauptangeklagten sollen der 1999 verhaftete Ta Mok und ‚Bruder
Duch‘, der ehemalige Kommandeur von Toul Sleng, gehören. Probleme bei
der Anklageerhebung bereitet eine 1996 von Sihanouk im Verbund mit Hun
Sen ausgerufene Generalamnestie, die bei mehreren der höchsten Führer
greift. „Aus diesem Grund wird Ieng Sary höchstwahrscheinlich nicht wegen der Beteiligung am Genozid, sondern wegen etwas völlig anderem angeklagt“, sagt Jarvis und lacht, als ich frage: „Steuerhinterziehung?“
Pol Pot, den ‚Big Brother‘, müssen alle Spekulationen um ein Tribunal
nicht mehr stören. Er starb im April 1998 in Anlong Veng. Nach dem angeblichen Selbstmord war die Leiche schnell verbrannt worden. Ein Jahr später
wurde bekannt, dass Pol Pot an einer Medikamenten-Überdosis starb. Zuvor
hatte er den USA angeblich die Auslieferung Ta Moks, der sich als Kommandeur über den Bezirk Südwest den Spitznamen ‚Der Schlächter‘ verdiente,
angeboten. Noch lange nach der Entmachtung des Regimes der Roten Khmer 1979 hatte Chhit Choeun, so der bürgerliche Name Ta Moks, einen Teil
des kambodschanischen Nordens kontrolliert. Nach innerparteilichen Streitigkeiten hatte er seinen ehemaligen Anführer unter Hausarrest gestellt.
Plötzlich wird das Gespräch von einem Telefonanruf unterbrochen. Ein
Redakteur der ‚Cambodia Daily‘ ist dran. Auch er will wissen, was es im
Hinblick auf das Tribunal für Neuigkeiten gibt. Meine Gesprächspartnerin
ist kurz angebunden und äußert sich im Anschluss abfällig über den Wahr33
Ingo Bierschel
Kambodscha
heitsgehalt in den Artikeln der einzigen ernstzunehmenden Tageszeitung
Kambodschas. Hektik kommt auf, das Ehepaar Jarvis springt auf und eilt
zur offenen Fensterfront im 1. Stock. Auf dem Wasser finden die jährlichen
Bootsrennen statt. Das von ihnen gesponserte Boot ist das nächste und muss
sich mit einem der vielen Boote des Premierministers messen – und verliert.
Da man auch in diesen Tagen einen Mord in Phnom Penh für nur 50 Dollar in Auftrag geben kann, frage ich die charismatische ältere Dame, die einige Bücher über den Genozid in Kambodscha veröffentlicht hat, ob sie um
ihre Sicherheit fürchten müsse. „Wenn ich mir darüber Gedanken machen
würde, wäre ich schon längst nicht mehr hier“, entgegnet sie lächelnd und
nimmt einen weiteren Telefonanruf entgegen. Sok An, mit dem sie gemeinsam für das Stattfinden des Tribunals kämpft, berichtet, dass eines seiner
Boote gegen eines von Hun Sens Booten gewonnen habe.
In der Bevölkerung ist die Meinung über das Tribunal durchaus gespalten.
„Warum sollen wir Unsummen für ein Gerichtsverfahren ausgeben, wenn
wir Probleme haben, uns selbst zu ernähren“, sagt der 25-jährige Van Vuthy,
der als Kellner im Restaurant gegenüber der Gedenkstätte Toul Sleng arbeitet. Er spricht die Meinung vieler junger Leute aus, die kaum noch etwas
von der Herrschaft der Roten Khmer mitbekommen haben. Auch ältere Leute, wie der Fahrradrikscha-Fahrer Son San, fragen sich: „Warum brauchen
wir ein Tribunal? Pol Pot ist tot, wie also können wir die Wahrheit herausfinden, was damals passiert ist.“ Man müsse die Vergangenheit ruhen lassen, so
lautet die gängige Meinung. Besonders aber für die Angehörigen der Opfer,
die noch immer unter den traumatischen Ereignissen jener Tage leiden, wäre
das Tribunal von enormer Wichtigkeit. Für die Menschenrechtlerin Jarvis ist
klar, „den Menschen muss Gerechtigkeit widerfahren“. In einem durch und
durch korrupten Land sollen die Leute erstmals so etwas wie Rechtsstaatlichkeit erfahren dürfen.
Mit westlichen Maßstäben lassen sich die Tragödie Kambodschas und die
noch immer währenden Nachwehen kaum erfassen. „Im nächsten Leben
werden sie für ihre Verbrechen bezahlen“, sagt ein buddhistischer Mönch
vor dem Wat Phnom, dem zentralen Heiligtum in der Hauptstadt. Rache
ist gläubigen Buddhisten – und das ist die Mehrheit der älteren Leute hier
– fremd. Allein schon um die Last ihrer Taten nicht bei den anstehenden
Wiedergeburten ausbaden zu müssen, haben sich viele ehemalige Anführer
der Roten Khmer zu einem klaren Schnitt entschieden. Durch die Konvertierung zum Christentum hoffen sie auf die Vergebung ihrer Sünden. Viele
Kirchen amerikanischer Prägung machen sich die Verbindungen und den
Einfluss der frisch Getauften zunutze, um die Christianisierung in zumeist
weit entlegenen Regionen des Landes mit oftmals fragwürdigen Methoden
voranzutreiben. Prominentester Vertreter unter Kambodschas Konvertierten
34
Kambodscha
Ingo Bierschel
ist ein gewisser Kang Kek Leu, besser bekannt als ‚Bruder Duch‘, der ehemalige Kommandant des Todesgefängnis‘ Toul Sleng.
12. Die Erben des Krieges: TNT für den Rausch der Vergessenen
Langsam breitet Nghin Thin die Instrumente auf dem Tisch aus, dazu stellt
er einen Beutel TNT. Er ist betrunken. Kurz vor dem Mittagessen in dem
kleinen Dorf inmitten des kambodschanischen Dschungels steht die Sonne
hoch am Himmel, die Bewohner haben sich in ihre Strohhütten zurückgezogen, die Schweine suchen sich einen Platz im Schatten. Die Siedlung, in
der vornehmlich Angehörige der Phnong-Minderheit leben, liegt im Osten
Kambodschas, unweit der Stadt Sen Monoroum in der Provinz Mondulkiri. Knapp einen Kilometer entfernt rauscht die Hauptattraktion der hügeligen Gegend, die wegen des kühleren Klimas und der erhöhten Lage auch
als ‚kambodschanische Schweiz‘ bezeichnet wird. Wenige westliche, dafür
umso mehr einheimische Touristen kommen jedes Jahr, um den Wasserfall
von Bou Sraa, den schönsten des Landes, zu bestaunen. In früheren Zeiten
war es weniger die Schönheit der dünn besiedelten Region, als viel mehr die
Nähe zum 30 Kilometer entfernten Vietnam, die Menschen in diesen Teil
des Landes zog. Über den Ho-Tschi-Minh-Pfad versorgte Nordvietnam die
kommunistischen Kämpfer im Süden Vietnams mit Nachschub.
Wie so viele in diesem Land hat auch Nghin Thin mit der Vergangenheit
abgeschlossen. Die Phnong, zu denen auch er gehört, führen seit jeher, im
Dschungel verborgen, ein Schattendasein am Rande der Khmer-dominierten
Gesellschaft Kambodschas. Seit Urzeiten leben die Stammesangehörigen
von dem, was ihnen der Wald und das fruchtbare Ackerland bieten. Mit dem
Ende der Kampfhandlungen eröffnete sich den Dorfbewohnern eine weitere Einnahmequelle. Sie verkaufen den Schrott des Krieges, die Abnehmer
kommen aus Vietnam. Ganze Panzer und abgestürzte Kampfjets wechselten
so bereits die Seite. „Das Geld brauchen wir dringend“, sagt Nghin Thin,
dessen braunes T-Shirt einige dicke Löcher aufweist. 500 Riel, knapp 10
Cent, pro Kilogramm bringen die metallenen Zeugen der indochinesischen
Tragödie ein. Oftmals bleiben die Männer mehrere Tage im Wald, jagen,
und suchen nach verwertbaren Überresten. Stolz berichtet Nghin Thin, wie
er einmal eine 250 Kilogramm schwere Panzerkette gefunden habe. Derartige ‚Volltreffer‘ aber werden immer seltener. Wie der Wald, so nimmt auch
der verbliebene Kriegsschrott stetig ab. Lediglich das explosive Erbe tritt
noch regelmäßig zu Tage. Notgedrungen hat sich Nghin Thin spezialisiert.
„Findet jemand aus dem Dorf eine nicht explodierte Bombe oder eine AntiPanzermine, dann ruft er mich“, erklärt der 38-Jährige stolz. Auf das TNT
35
Ingo Bierschel
Kambodscha
hat es Nghin Thin, der wie der Großteil seiner Volksgruppe nie eine Schule
besucht hat, abgesehen. Während anderen Orts explosive Überreste nur von
Spezialisten mit entsprechender Ausbildung und Ausrüstung angefasst werden, knackt er Bomben und Minen mit primitivsten Mitteln: Ein Hammer,
zwei Eisenstangen, eine Säge und eine Infusionsapparatur, mit deren Hilfe
er Wasser zum Kühlen auf die Schnittfläche bringt, reichen dem ‚Düsentrieb
des Dschungels‘ als Handwerkszeug. Fünf Sägeblätter benötigt er für eine
B-52-Bombe, doch die sind Nghin Thin, der sich unablässig auf die Brust
schlägt und seinen außergewöhnlichen Mut beteuert, am liebsten. „Je nach
Typ kann ich 80 oder 160 Kilogramm TNT herausholen.“
Um an den bimssteinartigen Sprengstoff, einer Mixtur aus Tuluol und einer Kombination aus Schwefel- und Salpetersäure, zu gelangen, sägt er den
Körper an beiden Enden auf und bricht den Inhalt mit Hilfe der Eisenstangen
heraus. Zum Beweis präsentiert er einen bis zur Hälfte mit TNT gefüllten
Reissack. „Das ist von der letzten Bombe noch übrig“, berichtet er. Als er
bemerkt, dass sich der Blick der Umstehenden vom Sprengstoff-Sack in der
Hand hinauf zur im Mundwinkel baumelnden Zigarette bewegt, beginnt er
zu lachen. Es brauche schon ein Zündplättchen aus einer Patrone, erklärt der
nach eigener Aussage „mutigste Mann des Dorfes“, um das Trinitrotoluol,
so die vollständige Bezeichnung, zur Explosion zu bringen. Die Gefahr, sagt
er nicht ohne Stolz, spiele für ihn keine Rolle. Durch den – auch in Kambodscha illegalen – Verkauf des als hochgradig krebserregend geltenden Gemischs, das für Minenarbeiten oder einfach in einer Dose zum Fischen verwendet wird, könne er etwas Geld verdienen. Neben Wagemut liegt jetzt
auch zunehmend Trauer in seinem Blick, der nur auf den nächsten Tag gerichtet ist. „Ich bin arm, ich brauche das Geld“, sagt Nghin Thin und zwingt
sich zu einem Lächeln. In einem Land, das von der Korruption regiert wird,
in dem die Reichen und Einflussreichen jede Art von Opposition gewaltsam
klein halten und nur des durch die UNO 1993 ‚gestifteten‘ demokratischen
Scheins wegen dulden, hat er jegliche Hoffnung auf eine bessere Zukunft
aufgegeben. Wie bei so vielen seiner Stammesgenossen ist der Alkohol zum
ständigen Begleiter geworden. Drei Kilogramm TNT, so erklärt er, muss er
für einen Liter Reiswein verkaufen. Bedächtig packt Thin seine wertvollen
Instrumente zusammen. Morgen will er wieder in den Wald gehen.
13. Stabilitätsfaktor Diktatur: Im Auftrag des Hun Sen
Ich hatte Glück: Nicht die üblichen acht, sondern lediglich sechs Insassen lassen die Fahrt verhältnismäßig angenehm erscheinen. Da es im Norden Kambodschas keine Buslinien gibt, wird die Verbindung zwischen den
36
Kambodscha
Ingo Bierschel
Orten durch private Taxis hergestellt. Die Fahrer kaufen sich – meist auf
Pump – einen verrosteten Toyota Camry und rüsten ihn für den Einsatz auf
den teils kaum befahrbaren Pisten aus. Blattfedern sind besonders jetzt nach
der Regenzeit, die tiefe Löcher in den Boden gefressen hat, unabdingbar.
Über den nahenden Bandscheibenvorfall mache ich mir schon längst keine Gedanken mehr, stattdessen genieße ich die abwechslungsreiche Fahrt
und das Gespräch mit dem Fahrer, der überraschend gut englisch spricht.
Plötzlich aber nimmt das Geschehen im Taxi eine drastische Wendung: Der
Wagen hält, mein Fahrer greift in die Plastiktüte der heimischen Zigarettenmarke ‚Alain Delon‘, um kurz darauf eine Pistole hervorzuholen. Mit
einem Grinsen im Gesicht hält er mir das leicht angerostete Mordwerkzeug
entgegen. Instinktiv schiebe ich den Lauf von mir weg. Es ist eine alte 9Millimeter-Knarre chinesischer Bauart. Als er merkt, dass ich seinen kindlich erfreuten Gesichtsausdruck nicht erwidere, beginnt er zu lachen. „Keine Angst, ich will nur mal probieren, ob die noch funktioniert.“ Sagt‘s und
steigt aus. Nachdem er sich vergewissert hat, dass kein anderes Auto naht,
verschwindet er im Wald. Wenig später kracht ein Schuss. Währenddessen
habe ich mich mit den vier weiteren Insassen per Blickkontakt verständigt.
Sie lächeln zwar, fühlen sich aber scheinbar auch nicht wohl in ihrer Haut.
Nachdem ich das Angebot ablehnt habe, auch mal in die Gegend zu ballern, fahren wir weiter. Langsam legt sich die Spannung wieder und ich frage ihn, aus welchem Grund er eine Waffe dabei hat. „Wegen der Räuber“,
sagt er und grinst dabei geheimnisvoll. Nach einigen Nachfragen rückt er
dann mit der ganzen Wahrheit heraus. „Ich arbeite für die Regierung“, erklärt er sichtlich stolz und bezeichnet sich als „Secret Agent Man“. Fortan
ist er kaum noch zu bremsen und mir wird immer klarer, dass der gesprächige ‚Pseudo-Bond‘ zu den Leuten gehört, die im Auftrag der Machthaber
in Phnom Penh die Opposition in den entlegenen Gebieten des Landes in
Schach halten. Gerade in diesen Tagen gebe es viele, die immer wieder Probleme machten, äußert er freimütig. Dabei spielt er auf den auflodernden
Widerstand gegen den von Premierminister Hun Sen am 11. Oktober 2005
unterzeichneten Grenzvertrag mit Vietnam an. Dieses Papier ist zum Mittelpunkt einer Diskussion geworden, die seitens der Opposition geschürt wird,
um Druck auf das Kabinett auszuüben. Viele Möglichkeiten besitzen diejenigen, die außerhalb des Machtgeflechts der Herrschenden stehen, nicht,
um die Regierung in Schwierigkeiten zu bringen. Als freie Presseorgane
gehen die ‚Cambodia Daily‘ und die im Zwei-Wochen-Rhythmus erscheinende ‚Phnom Penh Post‘ aufgrund der geringen Auflage und Fokussierung
auf die Hauptstadt im Rest des Landes unter. Die verschiedenen Fernsehsender gehören entweder dem Premierminister oder werden von Gleichgesinnten kontrolliert.
37
Ingo Bierschel
Kambodscha
Trotzdem ist das Abkommen, in dessen Folge die stetige Landnahme
Vietnams in den Grenzregionen legitimiert wird, ein heikles Thema für die
Kamarilla um Hun Sen, dem das Image des Günstlings und Vasallen Hanois anklebt. Zwischen 4.000 bis 6.000 Quadratkilometer Land- und 10.000
Quadratkilometer Seefläche sind Vietnam rechtlich zugestanden worden.
„Für Hun Sen ist der Grenzstreit zu einem Risiko geworden, weil er, eingesetzt von Vietnams Gnaden, im Verdacht steht, nicht unabhängig regieren zu
können“, sagt Wolfgang Meyer von der Konrad-Adenauer-Stiftung. „In der
Öffentlichkeit ist der Grenzstreit zu einem Tabuthema geworden.“ Unmissverständlich machte der Premier in einer Fernsehansprache am 17. Oktober
2005 klar, was diejenigen erwarte, die versuchten, diese Diskussion für eine
Aktion gegen ihn zu nutzen. Dabei bezog er die Vergangenheit und seinen
langjährigen Widersacher Sihanouk mit ein. „Ich bin nicht Norodom Sihanouk, der anderen die Möglichkeit zu einem Umsturz bietet“, ließ er verlauten. „Hun Sen wird das nicht zulassen. Wer dies versucht, wird sterben.“
Aufgrund seiner Cleverness arbeitete sich Hun Sen schnell an die Spitze.
Auch seine Vergangenheit bei den Roten Khmer stand ihm dabei nicht im
Wege, sondern war sogar eher hilfreich. In der Ostprovinz Kompong Cham
geboren, rückte er innerhalb der Rangordnung der ‚Steinzeit-Kommunisten‘
vom Botenjungen bis zum Kommandeur über einen Landstrich im Osten
auf. Als die Führung der Roten Khmer begann, auch in den eigenen Reihen Säuberungen durchzuführen, floh Hun Sen nach Hanoi. Diese Entscheidung sollte sich für den 52-Jährigen als Schicksalsschritt erweisen. Schnell
erkannten die Partei-Oberen in Vietnam die Zielstrebigkeit Hun Sens und
machten ihn nach dem Einmarsch 1979 innerhalb der durch Hanoi eingesetzten Regierung unter Heng Samrin zum Außenminister.
Allen Widrigkeiten zum Trotz hält sich Hun Sen seit seiner Ernennung
zum Premierminister 1985 an der Macht. Sowohl 1993, bei den durch die
UN beaufsichtigten Wahlen, als auch 2003 erzielte er mit seiner CPP, der
Cambodian Peoples Party, zwar nur das zweitbeste Wahlergebnis, doch entweder mit Gewalt, wie beim Putsch 1997 oder durch Zuwendungen, wie
2004, schaffte er es, seine Position zu verteidigen. Wolfgang Meyer zufolge
habe sich Prinz Ranariddh, der mit seiner FUNCINPEC, die 2003 Mehrheit
der Stimmen erhielt, unter anderem durch die Schenkung eines Privatjets
von seinem Vorhaben abbringen lassen, eine Koalition mit der Sam Rainsy
Party, der drittstärksten politischen Kraft im Land, einzugehen und so auf
demokratischem Wege das Ende der Ära Hun Sen einzuleiten.
Dass der de facto Diktator mit seinen Gegnern alles andere als zimperlich
umzugehen pflegt ist allseits bekannt – konnte allerdings niemals nachgewiesen werden. So gilt als sicher, dass Hun Sen den Mord an Chea Vichea
in Auftrag gegeben hat. Der unbequeme Gewerkschafter wurde im Janu38
Kambodscha
Ingo Bierschel
ar 2004 in Phnom Penh auf offener Straße erschossen. Hinweise auf einen
möglichen Täter wurden nie gefunden. Vichea war gleichzeitig Mitbegründer der Sam Rainsy Party, deren gleichnamiger Führer zu einer realen Bedrohung für die Machtelite geworden war. Bei den vergangenen Wahlen sicherte sich die SRP die Mehrheit in Phnom Penh.
Besonders Sam Rainsy hatte die Diskussion um den Grenzvertrag mit
Vietnam immer wieder angefacht. Schließlich musste er Halsüberkopf das
Land verlassen. „Der US-Botschafter hat ihn selbst zum Flughafen eskortiert“, berichtet Meyer, der gute Beziehungen zur amerikanischen Botschaft
unterhält. Um den politischen Rivalen endgültig kaltzustellen hat Hun Sen
nach Aufhebung der Immunität ein Verfahren wegen Landesverrats gegen
Sam Rainsy ins Rollen gebracht. Damit sitzt dieser in der Zwickmühle.
Sollte er aus Paris, wohin er ausgeflogen worden war, zurückkehren, droht
ihm das Gefängnis. Mit Mam Sonando sitzt dort bereits der Leiter des privaten Radiosenders ‚Beehive‘. Er hatte es gewagt, ein Interview mit der in
Paris ansässigen Gruppe ‚Cambodia‘s Border Comittee‘, die der Grenzpolitik der Regierung kritisch gegenübersteht, auszustrahlen.
Vom Aufschrei aus den Reihen der internationalen Menschenrechts-Organisationen zeigt sich Hun Sen unbeeindruckt. Trotz kontinuierlich aufflackernder Widerstände sitzt er fest im Sattel. Mit seinen Parvenüs kontrolliert
er Polizei und Militär und ist damit – so unsinnig es klingen mag – der Garant für Stabilität in Kambodscha. Zähneknirschend sind die ausländischen
Organisationen gezwungen mit der Regierung zusammenzuarbeiten. „Wir
können zwar protestieren, doch an Hun Sen führt kein Weg vorbei“, sagt
Anisha Schubert vom Deutschen Entwicklungsdienst.
Über das gesamte Land haben die drei großen Parteien ihre Dependancen
verteilt, beinahe in jedem Dorf, das ich durchfahre, finden sich Schilder, die
auf die Vertreter von CPP, FUNCINPEC oder SRP hinweisen. „Vor Wahlen
wird hier dann Reis an die Bewohner verteilt“, erklärt mir ein Motorradtaxi-Fahrer, der sich Mr. Theal nennt. „Wenn die Leute richtig wählen, dürfen sie den Reis behalten, ansonsten wird er wieder abgeholt.“ Im Vorfeld
der vergangenen Wahlen hat sich die CPP hier als besonders phantasievoll
erwiesen: Schuhe wurden an die Bewohner verteilt, allerdings nur die für
den linken Fuß. Den Rechten, so berichtet Mr. Theal lachend, gab es bei erbrachter Wahlschuld.
Beinahe habe ich das Ziel erreicht, in Snoul geht es mit einem Pick-up
weiter. Mein Taxifahrer raucht selbstzufrieden eine Zigarette. Die Waffe
ruht wieder in der ‚Alain-Delon-Tüte‘ neben dem Sitz. Stolz präsentiert er
mir eine Karte, die ihn als Mitglied einer in Phnom Penh stationierten Militäreinheit ausweist und fügt hinzu, dass er in diese Gegend abkommandiert
sei. Ob „Secret Agent Man“ oder nicht, denke ich mir, einer muss schließ39
Ingo Bierschel
Kambodscha
lich die Drecksarbeit machen und den Leuten den Reis wieder wegnehmen
– und die linken Schuhe.
14. Die dunkle Seite der Macht
Frauen, Waffen, Drogen? Sofort nach der Abfahrt am Pochentong Airport
Phnom Penhs stellt der Motorradtaxi-Fahrer die obligatorischen Fragen. Ich
lehne dankend ab. Gerade habe ich den wohl besten Flug meines Lebens
hinter mich gebracht. Mit einer alten Iljuschin, einer russischen Propellermaschine, ging es von dem aus einer Sandpiste und einem Holzterminal bestehenden Flughafen in Ban Lung zurück in die Hauptstadt. Dank des klaren Wetters und der niedrigen Flughöhe war der Flug, den ich mir anstelle
einer strapaziösen Drei-Tages-Tour über teils kaum passierbare Straßen gegönnt hatte, ein absolutes Erlebnis. Schnell wandelte sich die von Dschungel
und Hügeln geprägte Landschaft des dünn besiedelten Nordostens in das für
Kambodscha typische tellerflache Szenario, durchsetzt von sich amöbenartig ausbreitenden Wasserflecken. Und immer wieder der Mekong, der aus der
Höhe mit seinen braunen Wassermassen beinahe noch mächtiger aussieht.
Mein Fahrer macht einen etwas nervösen Eindruck. Ich frage ihn, ob es
ein Problem gäbe. Er müsse etwas auf die Polizei aufpassen, antwortet er
und sucht die Kreuzung nach Uniformierten ab. „Ich habe kein Nummernschild“, erklärt er. Als ich ihn auf einen Polizisten an einer Straßenecke aufmerksam mache, wiegelt er ab: „Keine Sorge, den kenne ich.“ Es scheint einer dieser Tage zu sein, an denen die Staatsdiener versuchen, ihren kargen
Sold durch verstärkte Kontrollen aufzubessern. Da kann ein fehlendes Nummernschild oder ein defekter Blinker – beides eigentlich keine große Sache,
wenn man bedenkt, dass vier Personen auf einem Motorrad ohne Verkleidung durchaus keine Seltenheit sind – schon einmal zum Vorwand für eine
Kontrolle werden. Einmal ins Netz gegangen, führt der Weg zurück in die
Freiheit nur über den eigenen Geldbeutel.
Ich bitte meinen Fahrer, der sich kurz Tam nennt, zu halten. Gerade will
ich ihm die ausgemachte Summe reichen, da zeigt er mit dem Finger auf
eine Szene, die sich 100 Meter weiter an einer Ampel abspielt. „Genau so
etwas passiert dann“, grinst er. Einige Verkehrspolizisten reden auf einen
wenig glücklich aussehenden Motorrad-Fahrer ein. „Was ist passiert?“, frage ich naiv. „Es kann alles Mögliche sein, aber wahrscheinlich hat er, als die
Ampel umsprang, einfach zu viel Gas gegeben, das reicht meistens schon“,
sagt Tam. „Wenn er clever ist, kommt er mit 3.000 Riel davon. Sie wollen
immer 5.000 (etwa einen Dollar), aber man kann handeln.“ Eine Quittung
gibt es selbstverständlich nicht.
40
Kambodscha
Ingo Bierschel
Die Korruption ist im täglichen Leben allgegenwärtig. So berichtet mir
ein Hotelangestellter, der im Hauptberuf Lehrer ist, dass er 100 Dollar dafür
zahlen musste, um die Schule wechseln zu dürfen um so näher am Wohnhaus seiner Familie zu sein. Ist ein Schüler kein Angehöriger der etwa 50 Familien, die in Kambodscha den Lauf der Dinge bestimmen, müssen die Eltern tief in die Tasche greifen, um ihrem qualifizierten Kind die Zulassung
zur Universität zu erkaufen. Die Qualifikation spiele dabei kaum eine Rolle,
erklärt er. „Normalerweise kostet die Unterschrift, die das Universitätsstudium ermöglicht, 1.000 Dollar.“ Trotz der für den Großteil der Bevölkerung
unerschwinglichen Summe wollen viele Eltern ihren begabten Kindern eine
bessere Ausbildung ermöglichen und verschulden sich oft hoffnungslos.
Was sich auf den Straßen Kambodschas im Kleinen abspielt, kann der
Besucher am linken Flussufer des Tonle Sap, gegenüber der Flaniermeile
des Sisowath Quai, im Großen bestaunen. Nachdem an der Spitze der Halbinsel, am Zusammenfluss von Tonle Sap und Mekong, in den vergangenen
Jahren bereits ein streng abgeschottetes Viertel hochgezogen worden war, in
dem vornehmlich Regierungsangehörige ihre Häuser haben, entsteht nebenan das neue Regierungsgebäude. 26 Millionen Dollar sind für den Bau veranschlagt. Das Geld kommt von Freunden aus Peking. China will die guten
Beziehungen aufrechterhalten und sich so seinen Teil bei der Plünderung
des Landes sichern. So sind im Norden Kambodschas weite Dschungelgebiete gerodet worden, um dort Pinien anzupflanzen. Vom Anbau des schnell
wachsenden Gehölzes profitieren die Chinesen exklusiv: Die Pinien werden
im ‚Reich der Mitte‘ zu Papier verarbeitet. Auch beim illegalen Export von
Edelhölzern sind es von Übersee-Chinesen geführte Firmen aus Malaysia,
die den Handel bestimmen. Durch Gefälligkeiten sichert sich China, das neben Kambodscha auch in Laos und Myanmar größten Einfluss auf Handel
und Politik besitzt, sein Stück vom Kuchen. So sind es chinesische Firmen,
die das aus Sandpisten bestehende Straßennetz im Norden Kambodschas im
Regierungsauftrag ausbauen.
Viele Chinesen haben sich bereits im verlassenen Norden angesiedelt
und hoffen durch den bevorstehenden Tourismus-Boom viel Geld zu machen. Beim Abendessen spreche ich mit der Chefin eines kleinen Hotels
in Ban Lung, die sich als Madame Kim vorstellt. „Die Hotels, die es hier
bisher gibt, gehören ausschließlich Chinesen, ich allein habe zwei und will
mir jetzt ein drittes kaufen“, sagt die 45-jährige Dame mit dem breiten Gesicht. Sie stamme ursprünglich aus einer Provinz nahe der nordkoreanischen
Grenze, sei aber wegen des Geschäftes und der guten Luft nach Rattanakiri
gekommen. „Ein Teil meiner Familie lebt schon seit langer Zeit hier.“ Noch
ist die Zahl der Touristen, die sich in diesen abgelegenen Landstrich verirren, sehr überschaubar, doch Madame Kim ist sich sicher: „Wenn die Straße
41
Ingo Bierschel
Kambodscha
erst einmal fertig ist, dann werden mehr kommen.“ Vorbereitet ist die tüchtige Geschäftsfrau: Dschungel-Trekking, Elefantenreiten und Ausflüge in
die Umgebung, inklusive Übernachtung in einem Eingeborenendorf, stehen
auf dem Programm.
Neben den Chinesen kaufen immer mehr Investoren aus Phnom Penh das
Land auf. „Die Preise sind explodiert“, erklärt mir ein Mann auf dem Markt.
Kurz zuvor, so erzählt er, habe er sich noch für 700 Dollar ein Grundstück
am See etwas außerhalb des Ortes gesichert. „Das ist jetzt schon gut 1.000
Dollar wert.“ Leider fehle ihm das Geld für einen ordentlichen Zaun, doch
der sei unerlässlich, da sich ansonsten die neuen Nachbarn immer mehr von
seinem begehrten Land aneignen würden. Die angrenzenden Grundstücke
gehörten ausschließlich reichen Leuten aus Phnom Penh, die über gute Beziehungen zum Premierminister verfügten. Gerüchten zufolge, die auch von
meinem Gesprächspartner mit einem Nicken bestätigt werden, sollen durch
die groß angelegten Landkäufe Gelder aus dem Drogen- und Menschenhandel gewaschen werden. Premierminister Hun Sen hat sich für die kommende
Woche zu einer Stippvisite angekündigt.
Auch vor dem Heiligtum der Khmer-Kultur macht der Ausverkauf nicht
halt. Mit Sokimex hat sich eine Ölfirma die Rechte am Verkauf der Eintrittskarten für die Tempel in Angkor unter den Nagel gerissen. Nicht von ungefähr verfügt der Konzern, der nach dem Einmarsch Vietnams 1979 gegründet worden war, über beste Kontakte zum Premier. Neben seiner Funktion
als Chef von Sokimex ist Sok Kong gleichzeitig Präsident der kambodschanischen Handelskammer. ‚Mian dtoek, mian trey‘, lautet ein kambodschanisches Sprichwort. ‚Wo Wasser ist, sind Fische.‘
42
Elena Ern
aus Deutschland
Stipendien-Aufenthalt in
Panama
vom 28. Februar bis 28. Mai 2006
43
Panama
Elena Ern
Fluch oder Segen?
Panama und sein Kanal
Von Elena Ern
Panama, vom 28. Februar bis 28. Mai 2006
45
Panama
Elena Ern
Inhalt
1.
Zur Person
50
2.
Einleitung
50
3.
Anziehungspunkt Kanal
51
4.
Kurze Kanalkunde
52
5.
Zonenkinder
53
6.
Guter Kanal, böser Kanal
55
7.
Panamas Erste und Dritte Welt
57
7.1 Wohlstand und Fortschritt
57
8.
60
Jenseits des Investments
8.1 Colón – das Elend am Ende des Kanals
62
8.2 Bocas del Toro – das Höllenparadies
63
8.3 Taboga
66
9.
Kuna Yala – rettende Autonomie
68
„Es werden keine Stauseen gebaut“
69
10.
10.1 Der Ausbauvorschlag der Kanalbehörde im Detail
71
11.
71
Die Schlacht beginnt
11.1 „Alles Lüge“
73
12.
Alternativen zum Kanalausbau
75
13.
Der Panama-Kanal bekommt Konkurrenz
75
47
Panama
Elena Ern
14.
Der Kampf um das „Ja“
76
15.
Objektivität gibt es nicht
78
16.
Alles fließt
80
17.
Letzte Meldungen
81
49
Elena Ern
Panama
1. Zur Person
Elena Ern, Jahrgang 1972, studierte in Bochum und Bolivien Romanistik
und Geschichte. Nach mehrjähriger freier Mitarbeit bei der Westdeutschen
Allgemeinen Zeitung, dem Westdeutschen Rundfunk und zahlreichen Praktika absolvierte sie ein Volontariat bei der Deutschen Welle. Jetzt arbeitet
sie als freie TV- und Radiojournalistin für die Deutsche Welle und andere
ARD-Sender.
2. Einleitung
„Panama – nicht gerade der Nabel der Welt“, lautete ein typischer
Kommentar vor meiner Abreise. Aber ein wichtiges Nadelöhr. Schließlich kommt ein großer Teil der globalisierten Weltwirtschaft an Panama
nicht vorbei, versicherte ich und fügte hinzu: „Schon mal was vom Panama-Kanal gehört?“ Ich musste jedoch zugeben, dass auch für mich Panama ein weißer Fleck auf der Landkarte war. Die Schlagzeilen im Jahr
2000 hatte ich noch vor Augen: „Die USA übergeben Panama den Kanal.“ Alle wichtigen deutschen Medien hatten das historische Ereignis
gemeldet. Dann wieder Funkstille. Der Kanal, der fast hundert Jahre lang
unter US-amerikanischer Verwaltung stand, gehört also jetzt den Panamaern. Was ist seit dem Ende der „Besatzung“ geschehen? Welche Bedeutung hat der Kanal für das Land? Und: Was passiert jenseits der 80 Kilometer langen Wasserstraße? Nur einige der Fragen, denen ich auf meiner
Recherchereise nachgehe. Das Praktikum im ersten meines dreimonatigen Aufenthaltes absolviere ich in der Nachrichtenredaktion des TVSenders Canal 11 (heute SER TV), dem Staatssender des Landes. Das
Team hilft mir vom ersten Tag an, einen schnellen Einblick in das Land
zu bekommen. Gleichzeitig geben sie mir die Möglichkeit, mit der Sicht
„von außen“ einen anderen Wind in ihre Berichterstattung zu bringen.
Sie versorgen mich nicht nur mit den Mobilnummern interessanter Gesprächspartner, sondern auch mit Einladungen nach Feierabend und mit
den kulinarischen Köstlichkeiten Panamas. Für diese herzliche Aufnahme
möchte ich mich an dieser Stelle ebenso herzlich bedanken. Außerdem
möchte ich Ulrich Storck und den Mitarbeitern der Friedrich-Ebert-Stiftung für ihre Hilfsbereitschaft Dank sagen. Mein ganz besonderer Dank
geht aber an Ute Maria Kilian und die Heinz-Kühn-Stiftung, die mir diesen wertvollen Aufenthalt ermöglicht haben.
50
Panama
Elena Ern
3. Anziehungspunkt Kanal
Noch wenige Meter, dann erreicht der Koloss die Schleuse. Das Wasser
glitzert entspannt in der Sonne, während die Stimme des Touristenführers
immer schriller wird. Seine Erklärungen trägt er in flüssigem Englisch vor,
allerdings mit dem typisch spanischen Akzent. Später werden ihm seine Zuhörer, eine 20 Mann große Truppe aus Texas, ein ordentliches Trinkgeld geben, vielleicht wird er auf über 100 Dollar kommen – ein Batzen für panamaische Verhältnisse. Sonnenverbrannt sitzen die Frauen und Männer auf
der Tribüne an der Schleuse Miraflores, etwa 20 Fahrminuten von Panama-Stadt entfernt. Alle tragen ein pinkfarbenes Band um den Arm und ein
T-Shirt mit der Aufschrift des Reiseveranstalters. Der Schweiß läuft. Unter
der schwülen Hitze haben auch jene gelitten, die vor knapp hundert Jahren
den Kanal gebaut haben. Epidemien, Erdrutsche und Arbeitsunfälle rafften
die Arbeiter dahin. Aus aller Welt waren sie in die Sümpfe zwischen den
Meeren gekommen, um das achte Weltwunder zu bauen. Etwa 25.000 Menschen sind an den Strapazen gestorben.
Der Touristenführer, “Nelson“ steht auf dem Namensschild an der Brust,
erklärt den Texanern jetzt, dass dies ein Containerschiff der Kategorie Panamax sei, eine Normgröße von genau 33,5 Metern Breite, exakt auf die
Maße des Kanals zugeschnitten. Breitere Schiffe, so genannte Post-Panamax, passten hier nicht durch, sie müssten eine andere Route wählen.
„Wow“, tönt es durch die Gruppe, als er auf den Preis für eine Durchfahrt
zu sprechen kommt: Sie kostet bis zu 250.000 Dollar.
Majestätisch öffnen sich die zwei Meter dicken, gigantischen Schleusentore und das Schiff läuft in die Schleuse ein. Sechs Lokomotiven sorgen dafür, dass der Riese in seiner Fahrrinne die Balance hält. Dann wird er um 26
Meter angehoben, alles in Zeitlupe.
„Sehen Sie mal, wie knapp das hier ist“, sagt der Touristenführer und zeigt
auf die schmale, nur wenige Zentimeter breite Lücke zwischen Schiff und
Schleusenwand. Nelson erklärt, dass die Lokomotiven „Mulas“, Maultiere,
heißen und dass mit jeder Schleusung rund 200 Millionen Liter Süßwasser
ins Meer strömen.
Auch vergisst er nicht zu erwähnen, dass der Kanal bald erweitert werden soll, so dass ihn auch Schiffe der Größe Post-Panamax nutzen können.
„Aber das ist doch noch gar nicht entschieden“, möchte ich protestieren,
schließlich müssen die Panamaer erst noch darüber abstimmen, ob der Kanal tatsächlich ausgebaut wird. Und nach aktuellen Umfragen ist fast die
Hälfte der Bevölkerung gegen den Ausbau. Ich verkneife mir aber meinen
Einwand und nutze die Mikrofonpause: „Warum haben Sie das nicht erwähnt?“, frage ich den Touristenführer. „Das interessiert die Leute nicht.“
51
Elena Ern
Panama
„Warum sollte sie das nicht interessieren?“ „Die Amerikaner wollen den
Kanalausbau“, sagt er mit einem breiten Grinsen und fügt hinzu: „Ich kann
gut mit denen. Bin halt ein Zonian.“ „Ein Zonian?“, frage ich. „Ja, ein Zonian. Ich bin mit Gringos aufgewachsen, hier in der Kanalzone.“ Interessant,
denke ich und schreibe mir seine Telefonnummer auf, wir wollen uns bald
einmal in Panama-Stadt treffen.
4. Kurze Kanalkunde
Panama, das ist die schmale Wespentaille, die Nord- mit Südamerika verbindet. In der Landenge erkannten schon die spanischen Eroberer zu Beginn
des 16. Jahrhunderts eine ideale Verbindungsmöglichkeit zwischen dem Atlantischen und dem Pazifischen Ozean. Doch die Idee eines Kanalbaus verwarfen sie als technisch nicht realisierbar. Erst 1881 nahm der Erbauer des
Suez-Kanal, der Franzose Ferdinand de Lesseps, diesen Gedanken wieder auf,
scheiterte aber mit seinem Kanalprojekt. Nachdem circa ein Sechstel des Kanals fertig gestellt war, ging seine Panamakanal-Gesellschaft Pleite. Zu diesem Zeitpunkt war Panama noch eine Provinz Kolumbiens, plante aber seine
Unabhängigkeit. Die USA, die aus strategischen und ökonomischen Gründen
ein Auge auf die Meerenge geworfen hatten, begannen mit Kolumbien über
den Kanalbau zu verhandeln. Doch diese lehnten das Angebot ab. Also unterstützte die USA die Unabhängigkeitsbewegung Panamas. Die Gründung der
Republik wurde am 3. November 1903 proklamiert. Wenige Monate später
begann der Bau des Kanals unter US-amerikanischer Führung. Für 40 Millionen US-Dollar hatte Präsident Theodore Roosevelt die Konkursmasse der
gescheiterten französischen Kanalgesellschaft aufgekauft.
Mit 30.000 Tonnen Dynamit wurden fast 180 Millionen Kubikmeter
Erde bewegt, dreimal soviel wie beim Durchstich von Suez. Am 15. August
1914 wurde der Kanal eröffnet. Panama hatte dem Geburtshelfer die Hoheit über die Kanalzone gegen Zahlung von 10 Millionen Dollar und jährlichem Pachtzins von 250.000 Dollar auf unbegrenzte Zeit abgetreten. Als
die USA im 2. Weltkrieg Militärbasen in der Kanalzone aufbauten, gewann
Panama an Bedeutung für die Kriegsführung. Zeitweise waren in der Kanalzone 20.000 Soldaten stationiert. Die berüchtigte „School of the Americas“
hatte hier ihren Sitz, eine Ausbildungsstätte der US-Armee für lateinamerikanische Militärs; die grausamsten lateinamerikanischen Diktatoren wurden hier ausgebildet. In den sechziger Jahren wuchs der Widerstand gegen
den halbkolonialen Status des Landes. Als eine Studentendemonstration im
Januar 1964 in die Kanalzone eindrang und versuchte, dort die panamaische
Flagge zu hissen, erschossen US-Truppen 21 Demonstranten.
52
Panama
Elena Ern
Der Militärmachthaber Omar Torrijos erklärte die Souveränität über Kanal und Kanalzone zum obersten Ziel seiner Politik. 1977 setzte er durch,
dass der ursprünglich „auf Ewigkeit“ geschlossene Vertrag aufgelöst wurde und unterzeichnete mit dem damaligen US-Präsidenten Jimmy Carter
die so genannten Torrijos-Carter-Verträge. Darin vereinbarten sie die Übergabe des Kanals an Panama für den 1. Januar 2000. Mit der Kanalübergabe hinterließen die USA die 1.431 Quadratkilometer große Kanalzone mit
7.000 Gebäuden.
5. Zonenkinder
Viele Panamaer lebten als Angestellte der US-Amerikaner in der ehemaligen Kanalzone. Wenige Tage nach meinem Besuch der Miraflores-Schleuse treffe ich Nelson den Touristenführer wieder. Er bietet mir eine Tour durch
die „Zone“ an. Auf dem Weg dorthin müssen wir zunächst an dem Slum Curundú, den seine Bewohner „Hollywood“ nennen, vorbei. Nur zwei Straßen
weiter tauchen wir dann in eine völlig andere Welt: weite Alleen, gestutzte
Hecken, Schilder auf denen es zur „Church“ oder zum „Cementary“ geht.
Für die Panamaer war diese Gegend hier früher tabu, ohne eine spezielle Erlaubnis kamen sie schlichtweg nicht herein, sagt Nelson. „Das war wie bei
euch in Deutschland mit der Mauer.“ Diesen Satz habe ich schon ein paar
Mal gehört, seitdem ich in Panama bin. Genau wie in Deutschland war die
Freude nach dem „Mauerfall“ auch in Panama riesengroß. Der „Staat im
Staat“ verschwand, die als arrogante Besatzer empfundenen Amerikaner zogen ab, der Kanal gehörte Panama. Die Kanalzone war als US-Kolonie inmitten des Staates Panama wahrgenommen worden. In der Zone herrschte
US-Souveränität, mit eigener Gerichtsbarkeit, eigenen Schulen, Schwimmbädern, Sportanlagen, Postämtern und Polizei. Jedes Haus, jedes Kino, jedes
Geschäft – alles gehörte der „Kanalgesellschaft“, das heißt, dem Pentagon.
Nach dem Abzug der Amerikaner hatte die wirtschaftliche Entwicklung der
Kanalzone Priorität. Die US-Amerikaner hatten die 3.200 Hektar große Fläche nur dem Betrieb und der Sicherheit gewidmet und sie wirtschaftlich vernachlässigt. Die Stadt des Wissens, das ehemalige Fort Clayton, ist heute ein
gutes Beispiel für eine effektive Nutzung der Fläche. Neben Forschungszentren haben hier die wichtigsten internationalen Organisationen ihren Sitz.
Die Freude über die Integration der Kanalzone schlug jedoch bei einigen
in Verbitterung um. Denn mit den “Gringos” verschwanden auch 4.000 Arbeitsplätze und 350 Millionen Dollar Wirtschaftskraft. Und: „Für viele Panamaer ist eine unsichtbare Mauer geblieben“, erklärt Nelson und zeigt auf
eine Villa, auf deren Hof drei Luxusautos parken: „Hier wohnen immer noch
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Panama
die Privilegierten.“ Doch je weiter wir fahren, umso schlichter werden die
Häuser. Jetzt sind es nur noch bescheidene Holzhütten mit kleinen Vorgärten, in denen die einfachen Kanalarbeiter untergebracht waren, weit weg von
den weißen Residenzen, den Golfplätzen und Barbecue-Clubs. Nelsons Eltern wohnen in einer Gegend, die damals auch als „Kanalzone für Schwarze“ bezeichnet wurde, bis in die 60er Jahre, als Dunkelhäutige noch streng
von den Weißen getrennt waren. Wir trinken Coca Cola und essen Patacones, grüne frittierte Bananen, dazu Reis und Hühnchen. Nelsons Vater trägt
eine beigefarbene Stoffhose und ein feinkariertes Hemd. Trotz seines Alters
steht er aufrecht mit durchgedrücktem Kreuz und kräftigen Schultern. Die
dunkle Haut seiner Finger trägt tiefe Furchen. Er hat sein Leben lang für den
Kanal gearbeitet. Sein Vater war zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus Trinidad gekommen, ein Nachfahre afrikanischer Sklaven in der englischen Kolonie. Zu dieser Zeit kamen schwarze Arbeiter zu Tausenden von den Antillen. Zunächst für den Bau der Eisenbahn, dann für den Kanal. Sie galten als
tüchtige und billige Arbeitskräfte. Um 1910 stellte die Panama Canal Company mehr als 50.000 Arbeiter ein, drei Viertel von ihnen waren Schwarze
von den Antillen. Viele kamen mit der festen Absicht, zu ihrer karibischen
Heimatinsel zurückzukehren, sobald sie ausreichend Geld gespart hatten.
Doch nur die wenigsten machten dies wahr. Die lokale Bevölkerung Panamas, spanischsprachige Mestizen, stand den englischsprachigen, protestantischen Schwarzen zunächst ablehnend gegenüber. Auch von den weißen
US-Amerikanern wurden sie diskriminiert. 1941 entzog ihnen der nationalistische Präsident Arnulfo Arias die panamaische Staatsbürgerschaft. Im
Alltag der Kanalzone äußerte sich die offenkundige Diskriminierung in den
Farben Gold und Silber: Die mit einem goldenen Etikett versehenen Arbeitsstellen, Kirchen, Schulen und Toiletten waren nur den Weißen vorbehalten.
Alle minderwertigen Dinge wurden mit einem Silberstempel versehen und
blieben für die schwarzen Bewohner der Kanalzone übrig. Erst in den 60er
Jahren verbesserte sich die Situation der Schwarzen in der Kanalzone. Das
Verhältnis zu den Amerikanern sei eine Art Hassliebe, sagt Nelsons Vater
Patrick. Auf der einen Seite habe er durch sie einen Job mit guter Bezahlung
gehabt, auf der anderen Seite habe es dieses Zwei-Klassen System gegeben.
„Aber irgendwie haben wir uns auch mit denen verbunden gefühlt, schließlich waren wir auch Zonians und damit schon etwas Besonderes. Außerdem
haben die Gringos uns den anderen Panamaern vorgezogen, weil wir englisch sprachen. Das war denen da draußen natürlich ein Dorn im Auge.“ Die
jüngeren Generationen, zu denen auch Nelson gehört, integrierten sich in
die hispanische Gesellschaft, sie gingen auf panamaische Schulen und sprachen bald besser Spanisch als Englisch.
Seine letzten zwei Jahre vor der Rente hat Patrick unter panamaischer Ver54
Panama
Elena Ern
waltung gearbeitet. Er ist stolz, dass der Kanal so gut funktioniert. „Viele
haben uns das ja gar nicht zugetraut. Sie waren überzeugt, dass wir den Kanal völlig herunterwirtschaften würden“, erinnert er sich. „Dabei haben wir
ihn in einem schlechten Zustand übernommen. Einige dachten deshalb, das
sei alles ein Trick der Amerikaner, den alten Krempel einfach wegzugeben.
Aber wie man sieht, der Kanal funktioniert einwandfrei.“
6. Guter Kanal, böser Kanal
Mein Telefon klingelt, es ist gerade sechs Uhr morgens. Cynthia, meine
geschätzte Kollegin vom „Canal 11“, ruft mir am anderen Ende der Leitung zu, ich solle mich beeilen, in einer halben Stunde gehe es los, ins Hinterland. „Heute bekommen Bauern in der Provinz Coclé offiziell Besitztitel überreicht. Martín ist da“, fügt sie hinzu. Martín? Ach ja, fast hätte ich
vergessen, dass die Menschen hier ihren Präsidenten gerne beim Vornamen
nennen. „Das ist genau dein Thema “, versichert mir Cynthia noch schnell.
Ich schäle mich also aus dem Bett, rufe ein Taxi, das mich durch die Dunkelheit zum Treffpunkt bringt. Im Auto frage ich nach, was das mit „meinem
Thema“, dem Kanal, zu tun habe. „Alles“, sagt Cynthia, „Es hat alles mit
dem Kanal zu tun.“ Auf der zweieinhalbstündigen Fahrt erfahre ich, dass die
Ländereien in der so genannten „Cuenca del Canal“ liegen, dem hydrographischen Becken des Kanals. In dem 552.761 Hektar großen Gebiet (eine
Fläche von mehr als dem Doppelten des Saarlandes) befinden sich die notwendigen Wasserressourcen, sowohl potenzielle als auch die bereits in Nutzung befindlichen, um die Versorgung des Kanal sicherzustellen. Die panamaische Kanalbehörde ACP (Autoridad del Canal de Panamá) verwaltet die
Cuenca. Doch die ACP ist in dieser Region ausgesprochen unbeliebt. Noch
bis zu diesem Zeitpunkt hat sie die Absicht, einen Großteil des Gebiets für
eine geplante Kanalerweiterung zu überschwemmen, um Stauseen zu schaffen, da das Fassungsvermögen der Seen, die den Kanal bisher mit dem notwendigen Wasser versorgen, auf Grund einer zunehmenden Sedimentation
zurückgeht. Durch die Schaffung von neuen Stauseen soll die Wasserversorgung des Kanals gesichert werden. Die ACP plant, 40.000 Hektar produktives Land zu enteignen und zu überfluten. Die Bauern müssten zwangsumgesiedelt werden – ohne irgendeinen Ausgleich, denn sie haben keine
Besitztitel. Zehntausende wären davon betroffen. Sie sollen ihre Dörfer verlassen und die Felder aufgeben, die sie seit Generationen bestellen. Dass die
Bauern der Region jetzt die Möglichkeit bekommen, das Land, ihr Land, zu
kaufen, sei spektakulär, findet Cynthia. Denn: „Damit ist das Thema, in der
Cuenca Stauseen zu schaffen, anscheinend vom Tisch“.
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Elena Ern
Panama
Wir passieren einfache Stelzenhütten, Pferdekarren und unzählige kleine Kirchen. Dicht am Straßenrand laufen immer wieder Kinder in Schuluniformen. Es ist jetzt ein bisschen bergiger und die Vegetation üppig. Eric,
unser Kameramann, der das Auto fährt, hat Mühe, durch Schlaglöcher und
Schlamm zu kommen. Es ist Ende März, die Regenzeit hat begonnen. In einigen Wochen wird man Schwierigkeiten haben, überhaupt hierhin zu gelangen.
Als unser Geländewagen in San Pedro ankommt, ist der Platz schon voller
Männer und Frauen, die andächtig auf ihren Stühlen warten. An den Ohren einiger Frauen baumeln goldene Ohrringe, viele haben die Haare hochgesteckt.
Sie tragen Sandalen. Die erdigen Füße haben sie, so gut es geht, poliert. Die
Männer tragen geflochtene Hüte und eine Guayabera, das typisch karibische
Hemd, das nur zu besonderen Anlässen hervor geholt wird. Ein feiner weißer Leinenzwirn mit aufwendigen Abnähern. Die Journalisten quatschen in
einer Ecke laut durcheinander, während die Fernsehkameras ihre Objektive
schon auf das Podest gerichtet haben, an dem „Martín“ später sprechen wird.
Plötzlich lautes Gezeter vor dem Eingang. Zwei Männer wollen aufeinander losgehen, andere halten sie zurück. Jetzt erst erkenne ich, dass am Rande
des Marktplatzes eine Gruppe steht, in Sandalen, einfachen Hemden und mit
sonnengegerbter Haut, die gar nicht so zufrieden aussieht wie der Rest. Sie
halten Schilder in der Hand, auf denen das geschrieben steht, was sie jetzt rufen „Verräter. Ihr lasst euch kaufen, von diesen vendepatrias, von diesen Vaterlandsverrätern.“ Sie sehen wütend und hilflos aus und wenn sie ihre Parolen rufen, sieht man die großen Zahnlücken in ihren Mündern. Die Männer
gehören zur Bauernvereinigung gegen Stauseen (Coordinadora Campesina
Contra los Embalses), kurz CCCE, die schon seit Jahren gegen das Vorhaben
der Kanalbehörde kämpft, drei Stauseen auf ihrem Gebiet zu errichten. Ist
dieses Vorhaben jetzt wirklich „vom Tisch“, wie Cynthia vermutet? Die Vergabe von Besitztiteln scheint ein gutes Zeichen dafür zu sein. „Wir glauben
der Kanalbehörde aber nicht, und wir glauben der Regierung nicht“, erklärt
mir einer, der sich mir später als Edwin Castro vorstellt. „Indem ACP und Regierung hier heute Besitztitel verteilen, wollen sie uns bloß ruhig stellen. Alle
sollen glauben, die Gefahr ist gebannt, aber das stimmt nicht“, sagt Castro.
Auch ein Versprechen des Präsidenten, keine Stauseen zu bauen, würde hier
wenig helfen, denn sein Wort gelte doch nur bis zum Ende seiner Amtszeit
2009. „Solange es das Gesetz 44 gibt, kann die ACP hier tun und lassen was
sie will, mit und ohne Besitztitel der Bauern“, befürchtet Castro.
Was ist das Gesetz 44? Das panamaische Parlament verabschiedete im August 1999 ein Gesetz, das die Grenzen des hydrografischen Beckens des Panama-Kanals ausweitet. Die Begrenzung beinhaltet das natürliche Becken
des Río Chagres und einen Bereich der Provinzen Coclé und Colón, welche
aufgrund ihrer Wasserressourcen einbezogen wurden. Die Verwaltung, Nut56
Panama
Elena Ern
zung und Erhaltung der Wasservorräte des Kanalbeckens wurden der ACP
unterstellt. Während ich darüber nachdenke, was es bedeutet, dass die Kanalbehörde praktisch die Hoheit über ein so großes Gebiet hat und ich mir die
Frage stelle, ob die Demonstranten mit ihrer Skepsis gegenüber der Titelvergabe Recht haben, höre ich plötzlich: „Ya viene, ya viene – Da kommt er“.
Der Hubschrauber in dem der Präsident sitzt, hält auf dem nahen Bolzplatz.
Wie immer sehr volksnah, gibt Martín Torrijos den Männern die Hand, drückt
einige Frauen, die auf ihn zukommen und grüsst uns Journalisten freundlich,
aber zurückhaltend. Ein kleiner Mann mit einer weißen Guayabera empfängt
den Präsidenten als Erster. Es ist Natividad Chirú, der sich seit Jahren darum
bemüht hat, die Kommunikation zwischen der Kanalbehörde und den Landbewohnern zu vereinfachen. Jetzt ruft ein Begleiter des Präsidenten jeden namentlich auf. Natividad Chirú nimmt seinen Hut ab, als er den Besitztitel entgegen nimmt. Die Zeremonie dauert nicht lange, ein paar warme Worte und
Torrijos verschwindet wieder in Richtung Panama-Stadt. Die Bauernvereinigung hat sich zurückgezogen und die anderen feiern das Ereignis. Bevor auch
wir in die Stadt zurück fahren, lädt uns Natividad Chirú zu einem Rundgang
ein. Er zeigt uns das Land, auf dem er schon als Junge gearbeitet hat. Sein
Vater übergab es ihm kurz vor seinem Tod und seitdem bewirtschaftet er es
mit seinen sechs Kindern und fünfzehn Enkelkindern, pflanzt Yucca, Mais,
Bohnen und hält Rinder. „Dennoch waren wir bisher nur Besetzer“, sagt er
„jetzt sind wir Besitzer. Der Besitztitel macht mich zufrieden, denn ich kann
meinen Kindern und Enkeln ein Erbe hinterlassen.“ Und er sieht noch einen
weiteren Vorteil: „Jetzt erst habe ich die Möglichkeit, einen Kredit aufzunehmen, um größere Maschinen für die Arbeit zu kaufen. Das war bisher ohne
Besitztitel nicht möglich.“ Wie steht er zu den Bedenken der Bauernvereinigung? „Ich verstehe diese Leute. Leider hat sich die Politik nie wirklich für
uns interessiert, aber ich bin trotzdem optimistisch.“
7. Panamas Erste und Dritte Welt
7.1 Wohlstand und Fortschritt
Cangrejos und El Chorrillo liegen nur einen Steinwurf voneinander entfernt. Doch eine weite Kluft trennt diese Viertel von Panama-Stadt. Hier die
edlen Penthauswohnungen, Luxuslimousinen und adretten Mittelklassewagen, überwiegend Hellhäutige in Anzügen mit Kreditkarten in der Tasche.
Dort: Baracken, Bandenkriege, Hoffnungslosigkeit. Hautfarbe: dunkel.
Vincent Malton hat soeben im Marriot-Hotel im Bankenviertel Cangrejos
eingecheckt. Es ist seine dritte Reise nach Panama, nur zweieinhalb Flug57
Elena Ern
Panama
stunden von Florida entfernt. „Mann, die Stadt ist ja noch mehr gewachsen“, staunt Malton, dessen letzter Besuch etwa ein Jahr zurück liegt. Der
US-Amerikaner will hier in Immobilien investieren. Vor allem sucht er ein
schickes Apartment für seinen Altersruhesitz. Die Konditionen sind günstig.
Er gehört zu der Generation der Baby-Boomer, die als finanzkräftig gilt, ständig auf der Suche, ihre Dollars zu mehren und die Kaufkraft zu nutzen. In Panama genießen sie den Vorteil der Währung, denn der panamaische Balboa
ist direkt an den Dollar gekoppelt, keine Verluste durch Umtausch also und
ein relativ stabiler Kurs. „Immer gutes Wetter, warmherzige Leute und super
Shoppingmöglichkeiten – dieses Land hat doch alles, was man braucht“, sagt
Malton. Außerdem seien die Lebenshaltungskosten ausgesprochen niedrig,
mit 2.000 Dollar im Monat könne man hier leben wie ein König.
Schon am Nachmittag hat Malton den ersten Termin mit einem Makler,
der ihm ein paar Penthauswohnungen in Punta Paitilla zeigen will. In dem
„Manhattan Panamas“, dem modernsten Teil der Stadt direkt an der Pazifikküste, wächst ein Luxushochhaus nach dem anderen. Alle erwarten in den
nächsten Jahren eine überdurchschnittliche Rendite, nicht zuletzt aufgrund
der vorteilhaften panamaischen Steuerpolitik. Wie Malton wollen viele USAmerikaner, reiche Panamaer und Lateinamerikaner sich hier ihre Immobilie sichern. Ein Zweizimmer-Apartment ist schon für 66.000 Dollar zu haben, eine Dreizimmerwohnung mit zwei Bädern im 13. Stock und Seeblick
ab 93.500 Dollar. Malton träumt von einer Wohnung im 20. Stock mit Blick
über den Ozean. Sicher wird der Makler ihm gerne bei der Verwirklichung
seines Traums helfen.
Ich kann diesem Hochhausmeer wenig abgewinnen und empfinde es eher
als Schandfleck, zumal ein Ende des Baubooms nicht in Sicht ist. Immer höher werden die Gebäude und immer weiter dehnen sie sich aus. Einige sollen zur Reinigung kolumbianischer Drogengelder errichtet worden sein. Für
viele Panamaer dagegen, selbst für die, die sich dort niemals eine Immobilie
leisten könnten, ist Punta Paitilla der ganze Stolz. Ein Zeichen, dass es dem
Land gut geht, dass es vorzeigbar ist und sich nicht zu verstecken braucht.
„Haben Sie schon gesehen, wie schön das aussieht?“, fragen oft die Taxifahrer, wenn wir von weitem die Skyline sehen. „Ja, sehr schön“, antworte
ich dann immer höflich.
Doch auch Punta Paitilla hat einen Schönheitsfehler, das Meer. In der
Bucht von Panama-Stadt stinkt es, am meisten genau dort wo die Nobelhochhäuser stehen. Alles ist verseucht von Panamas Exkrementen, die durch
dicke Rohre aus allen Winkeln der Stadt zusammenfließen. Die Flut kaschiert den Makel, aber bei Ebbe bleibt eine schwarze, dickliche Brühe auf
dem Sand zurück, der dann zum beliebten Aufenthaltsort für Geiervögel
wird. Der Amerikaner Vincent Malton blickt vom 13. Stock auf das einsame
58
Panama
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Meer, keine Luftmatratzen, keine Badenden, keine Sonnenanbeter. Doch
der Immobilienmakler kann ihm auch diesen Knackpunkt schmackhaft machen. „Hier wird bald alles so aussehen wie in Rio de Janeiro“, verspricht er
Malton. Die Bucht soll in der Tat gereinigt werden. Ich war mit dem Fernsehteam dabei, als Präsident Martín Torrijos und Tourismusminister Rubén
Blades das Vorhaben ankündigten. In einigen Jahren soll die Küste wieder
sauber sein und man wird wieder ohne Gesundheitsrisiko baden können. Für
die erste Etappe hat die Interamerikanische Entwicklungsbank eine Summe
von 50 Millionen Dollar gewährt. Insgesamt werden die Kosten für die Wiederherstellung der Bucht auf 360 Millionen Dollar veranschlagt. Neben dem
Kanalausbau noch ein weiteres Großprojekt.
Der US-Amerikaner Vincent Malton interessiert sich auch für eine Immobilie in dem Bergdorf Boquete. Das angenehme Klima, die fruchtbare Landschaft, die Ruhe – der Ort, berühmt für seinen Kaffeeanbau, ist ein beliebtes
Ziel für europäische und US-amerikanische Touristen und Ruheständler geworden. Die „Amerikanische Vereinigung der Ruheständler“ (AARP) stufte ihn als den viertbesten Platz der Welt für den Altersruhesitz ein. Die Immobilien – für Ausländer echte Schnäppchen – sind für die Einheimischen
kaum erschwinglich. Mit entsprechend gemischten Gefühlen sehen sie dem
Ausverkauf zu.
Bei meinem Besuch in Boquete höre ich immer wieder von den Einheimischen: „Die Ausländer treiben die Preise in die Höhe, bringen dafür aber
Geld ins Land, also leben wir mit ihnen.“ Viele Bewohner sind selbst Nachfahren europäischer Einwanderer, die Boquete 1911 gründeten.
Außerdem leben hier die indigenen Guaymí. Für die etwa sechsmonatige
Erntezeit der Kaffeebohnen kommen sie von den Bergen herunter in die Täler, um sich dort als Erntearbeiter zu verdingen. Rodrigo, einen jungen Guaymí, habe ich an einer Straßenkreuzung aufgelesen und fahre mit ihm im
Mietwagen durch die Nachmittagssonne die letzten Kilometer bis zu seiner
Schule. Normalerweise macht er die täglichen fünf Kilometer zu Fuß – und
das nach einem neunstündigen Arbeitstag auf der Kaffeeplantage. Gut, dass
seine Schule auch nach Feierabend Unterricht anbietet. Rodrigo sitzt auf
dem Rücksitz des Wagens und stellt Fragen. Ob wir in Deutschland auch
Kaffee tränken, ob mich Fußball interessiere, ob ich gut Englisch spräche.
Der Junge mit den schwarzen glänzenden Haaren, den blitzend weißen Zähnen und dem breiten Gesicht erzählt stolz, dass er auf der Plantage fünf Dollar pro Tag verdiene. Mit dem Geld helfe er seiner Mutter, denn er habe noch
fünf jüngere Geschwister. Zum Abschied schreibt er seine Adresse auf. Am
liebsten würde ich Rodrigo jeden Tag zur Schule bringen.
Wer in der Provinz Chiriquí keine namhafte Kaffeeplantage besitzt, hat
es in der Landwirtschaft, wie in ganz Panama auch, schwer. José Junker ist
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Elena Ern
Panama
zurzeit sogar arg verzweifelt. In einem Schuppen neben seiner Finca liegen
bergeweise Kartoffeln, Zwiebeln und Möhren. Auch auf dem Feld ist noch
Gemüse, das längst hätte geerntet werden müssen, aber er weiß nicht wohin
damit und so fault es vor sich hin. Chiriquí ist die fruchtbarste Gegend Panamas, aber Junker und andere Produzenten finden keinen Absatz für ihre
Ware. Die großen Supermärkte kaufen nicht von lokalen Produzenten, sondern sie beziehen Importprodukte aus den USA und Costa Rica – obwohl
diese teurer sind. Dadurch sind die Preise für das lokale Gemüse in den Keller gegangen. Noch im Januar kostete ein Sack Kartoffeln im Großmarkt 14
Dollar, vier Monate später nur noch acht. In Chiriquí hängen mehr als 600
Landwirte vom Kartoffel-, Zwiebel- und Salatanbau ab. Tonnen einheimischen Gemüses verfaulen wegen des fehlenden Absatzmarktes.
Mir fallen die unterernährten Kinder ein, denen ich vor einigen Tagen im
Osten des Landes begegnet bin. Dort hatte der Staat eine Schule gebaut und
dabei besonderen Wert auf die Kantine gelegt. Und doch haben die Kinder
nicht einmal dort gegessen, weil schlichtweg nichts da war.
Als die Panamaer vor fast sechs Jahren den Kanal übernahmen, hatten
auch die Menschen im Hinterland gehofft, Hunger, fehlendes Trinkwasser
und Ungleichheit würde es in der Zukunft nicht mehr geben. Viele wurden
enttäuscht. Jetzt befürchten die einfachen Landwirte aus Chiriquí, dass sich
ihre Lage weiter verschlimmern könnte, wenn Panama wie geplant bis Ende
2006 einen Freihandelsvertrag mit den USA unterzeichnet. Die Verhandlungen dafür laufen bereits seit 2004, doch Martín Torrijos hat das heikle
Thema bis Mitte Oktober auf Eis gelegt – das Referendum zum Kanalausbau hat Vorrang.
8. Jenseits des Investments
Die Diskrepanz zwischen Arm und Reich, zwischen Luxus und Elend ist
auch im idyllischen Boquete nicht zu übersehen. Es gibt kaum Berührungspunkte zwischen dem Handels- und Dienstleistungssektor, zu dem der Kanal, die reichen Banken- und Wohnviertel von Panama-Stadt und die Freihandelszone von Colón gehören und dem traditionellen Sektor, der von
Subsistenzwirtschaft geprägten ländlichen Regionen. Die kleine wohlhabende Elite und die Mestizen und Indígenas des Hinterlandes leben in Parallelwelten. Gegensätze ziehen sich durch ganz Panama. Das Land nimmt
in Lateinamerika nach Brasilien den zweiten Platz auf der Liste der Länder
mit der ungerechtesten Einkommensverteilung ein. Über 40% der Panamaer sind so arm, dass sie ihre Grundbedürfnisse nicht erfüllen können. Die
ländliche Bevölkerung lebt zu 65% und die indigene Bevölkerung zu 95%
60
Panama
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in Armut. Einem UN-Bericht zufolge hat Panama jedoch viermal so viele
Reserven wie nötig wären, um seine Bevölkerung zu ernähren. Die Armut
in Panama ist also das Resultat der schlechten Verteilung, nicht der Knappheit der Ressourcen.
Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf von etwa 4.900 Dollar ist relativ hoch, weshalb das Land auch offiziell nicht als Entwicklungsland gilt, jedoch tragen allein die drei Wirtschaftssäulen Panamakanal, Freihandelszone
Colón und der Bankensektor zu rund 85% dazu bei. Die übrigen Wirtschaftszweige sind von geringer Bedeutung. Die Landwirtschaft erwirtschaftet beispielsweise nur einen Anteil von sechs Prozent am BIP. Die Kanalbehörde
hat berechnet, dass alle direkten, indirekten und ergänzenden Aktivitäten im
Zusammenhang mit dem Kanal fast 30% des BIP, über 70% der Exporte und
fast die Hälfte der Staatseinnahmen ausmachen.
Aber obwohl der Handels- und Dienstleistungssektor insgesamt den weitaus größten Teil zum Bruttoinlandsprodukt beiträgt, bietet er nicht einmal
der Hälfte der Erwerbsbevölkerung Arbeitsplätze.
Für die Gewerkschaftsführerin Priscilla Vásquez ist diese ungerechte Verteilung ein Hauptargument gegen den Kanalausbau. Es sei ein Skandal, dass
sich die Regierung darüber Gedanken mache, die internationale Wirtschaft
zu befriedigen, anstatt die Misere zuhause anzugehen. Sie fordert, dass die
Gelder, die das Kanalgeschäft abwirft, in nachhaltige soziale Projekte fließen. Dafür müsse es einen speziellen Fond geben. Ich bin mit Priscilla Vásquez in der Kantine eines Krankenhauses verabredet, in dem sie „noch einen
Termin hat.“ Sie verbinde gerne mehrere Dinge miteinander, fügt sie erklärend hinzu, während sie den Automatenkaffee umrührt. Ihre schwarzen Locken wippen dabei unruhig hin und her. Ich habe Vásquez bereits auf Zeitungsfotos gesehen. Da stand sie an der Spitze eines langen Protestmarsches
gegen die Reform der Sozialversicherung. Die monatelangen Proteste richteten sich vor allem gegen die von der Regierung angestrebte Privatisierung
von 50 Prozent der Sozialversicherung CSS und die Einführung eines ZweiSäulen-Systems, das eine Renteneinsparung bei etwa 70 Prozent der Versicherten bewirken sollte. Aufgrund des Volkswiderstandes musste die Regierung den Gesetzentwurf zurückziehen.
„Obwohl wir den Kanal haben, sind die Leute arm. Obwohl der Kanal viel
Geld ins Land bringt, sind sie arm. Es wird ihnen also nicht besser gehen,
wenn der Kanal ausgebaut wird“, fährt Priscilla fort und schlägt dabei mit
der Faust auf den Tisch, der Kaffee schwappt über, sie aber bleibt unbeirrt:
„Ja, vielleicht kommt noch mehr Geld ins Land, aber es wird wieder nicht
die erreichen, die es brauchen und die es verdient haben.“
Wir kommen auf die Slums von Panama-Stadt zu sprechen. Ich bemerke,
dass es auch sein Gutes habe, dass sich die Elendsviertel nicht wie in vie61
Elena Ern
Panama
len anderen Ländern vor den Toren der Stadt befinden, sondern mittendrin.
Denn vor den Stadtvierteln Chorrillo, Curundú und Santa Ana können die
Machthaber nicht die Augen schließen, nicht auf dem Weg zum Präsidentenpalast in der wieder hergestellten Altstadt, nicht auf dem Weg zur Vergnügungsmeile „Causeway“, einem künstlich angelegten Damm, aufgeschüttet
mit dem Aushub des Kanalbaus, mit Jachthäfen, Restaurants und Shoppingmöglichkeiten. Die Tonangeber können den Blick vor der Misere nicht verschließen, vielleicht fallen dann auch mal Entscheidungen zugunsten der
Benachteiligten aus? Doch Vásquez schüttelt energisch den Kopf: „Im Gegenteil, wer ein dickes Auto hat, fährt doch stolz an den Elendsvierteln vorbei, um zu zeigen: Ich hab es geschafft und ihr seid die Verlierer.“
8.1 Colón – das Elend am Ende des Kanals
Uns ist mulmig, als wir mit dem Auto am Straßenrand parken. Wirklich
aussteigen? Jeder Reiseführer warnt vor dem gefährlichen Pflaster Colón.
Am besten man fahre gar nicht erst ins Zentrum hinein, rät sogar der „Lonely Planet“. Raubüberfälle am helllichten Tage auf offener Straße seien üblich. Mein Blick fällt auf das blaue Schild am Rande des Gehweges, auf dem
in ordentlichen Lettern geschrieben steht: „Sei freundlich zu den Touristen
– Sie sind deine Zukunft“. Doch welcher Tourist verirrt sich schon hierher,
wenn ausdrücklich davon abgeraten wird? Ein Teufelskreis, denn gerade diese Stadt bräuchte dringend Einnahmen aus dem Tourismus, Investitionen,
eine bessere Infrastruktur. Von welcher Zukunft ist die Rede? Kann die Kategorie „Zukunft“ hier überhaupt existieren? Colón, das ist im doppelten
Sinn das andere Ende des Panama-Kanals, eine vergessene und völlig heruntergekommene Stadt, deren Straßen nur noch bewohnte Ruinen säumen.
Viele Häuser, spanische und französische Kolonialbauten, scheinen jeden
Moment einzustürzen. Auf einigen Fassaden lassen sich noch Jugendstil-Ornamente entdecken, von Feuchtigkeit zerfressen. An den Türpfosten lehnen
Menschen, abgemagerte Hunde streunen um die Abfallberge am Straßenrand, eine Frau mit verfilzten Haaren durchsucht eine Mülltüte. Kaum zu
glauben, dass Colón einen Großteil von Panamas Staatseinkommen erwirtschaftet – aber wahr. Hier liegt die „Zona Libre“ ein Freihandelshafen, der
nach Hongkong der zweitgrößte der Welt ist. Hier werden – dank des Kanals – täglich große Warensendungen aus Europa, den USA und Asien angeliefert, umgepackt, vorläufig zwischengelagert und in die Abnehmerländer transportiert, ohne dass Zollgebühren für sie anfallen. Vor dem Eingang
der Freihandelszone, die mit hohen Mauern und Stacheldraht umgeben ist,
parken zahlreiche Taxis, Busse mit Touristen und die vornehmen Wagen der
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Panama
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Geschäftsleute. Sie kommen und gehen, ohne in der Stadt selbst auch nur
einen Cent zu lassen. In der Freihandelszone werden täglich Millionen von
Dollar umgesetzt und die Bewohner von Colón profitieren davon in keiner
Weise, fast jeder zweite ist ohne Arbeit, ihr Geld verdienen viele mit Drogenhandel und Raubüberfällen.
Ich stelle mir die Stadt vor über hundert Jahren vor, die kolonialen Bauten
mit ihren Veranden auf denen nachmittags zum Tee geladen wurde. Frauen
in weißen langen Kleidern, die zum Spaziergang ihre gerüschten Schirme
aufklappten, zum Schutz vor der Sonne, während ihre Männer Geschäfte abwickelten oder den Bau der Eisenbahn überwachten. Die Panama Railroad
pendelte zwischen Panama-Stadt und Colón, noch bevor es den Kanal gab.
Heute ist Colón in Vergessenheit geraten, die Stadt und mit ihr die Menschen dem Verfall preisgegeben. Doch eine kleine Gruppe Colonenser hat
beschlossen, sich damit nicht abzufinden. Es ist ihr drittes Treffen in der
Küche von Marie-Lou Stones. Wie die meisten Colonenser stammen ihre
Vorfahren von den Antillen. An diesem Abend geht es natürlich auch um
den Kanalausbau. „Was interessiert mich, ob der Kanal breiter wird oder
nicht, ob mehr Schiffe durchfahren oder nicht. Wir sehen eh nichts von dem
Geld!“, schimpft Alain. Die Gruppe hat eine Liste zusammengestellt, mit
der sie die Aufmerksamkeit wieder auf Colón richten will. Das nächste Projekt: Sie wollen Gelder beim Bauministerium beantragen, um die Häuser an
der Hauptstraße zu restaurieren und wiederaufzubauen. „Wir werden jetzt
ganz regelmäßig Leserbriefe an die großen Tageszeitungen schreiben, damit
die drüben in Panama überhaupt merken, dass es uns noch gibt. Auf unsere
Misere wollen wir aufmerksam machen. „Wir haben dieses Land aufgebaut,
verdammt. Und jetzt sollen wir verrecken? Auf keinen Fall.“
8.2 Bocas del Toro – das Höllenparadies
Blaues Wasser, Korallenriffe, weiße Strände – das ist das Inselparadies
Bocas del Toro im Nordwesten Panamas. Die Panamaer müssen aufpassen,
dass es ihr Inselparadies bleibt. Internationale Investoren kaufen eine Insel nach der anderen. Einmal Robinson Crusoe sein für 75.000 Dollar, kein
Problem. Oder lieber Cocktailbars, Tauchclubs, Jetski? Bocas bietet alles,
was das Touristenherz begehrt. Nur eine halbstündige Bootsfahrt entfernt
sieht die Welt aber ganz anders aus. Denn der Ort Almirante auf dem Festland, das ist kein Paradies, das ist eher die Hölle. Während die Touristen mit
den Mini-Maschinen der Fluggesellschaft Aeroperlas gegen Mittag auf der
Hauptinsel Isla Colón ankommen, sich auf der Insel verteilen und Koffer auf
die gestärkten Bettlaken legen, erreichen wir das Festland mit dem Bus. Ich
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Panama
bin mit der Journalistin Cynthia Morales unterwegs. Wir wollen uns über
die Situation der Bananenarbeiter informieren. Unser Ziel ist Almirante, die
Stadt, die von den Reiseführern dezent ausgelassen wird. Dieser Ort ist offensichtlich so unattraktiv, dass keinerlei Übernachtungsmöglichkeiten aufgelistet sind. Wir hoffen also, überhaupt eine Unterkunft zu finden. Obwohl
wir zur Vorsicht Pullover eingepackt haben, verbringen wir die Fahrt schnatternd vor Kälte. Die Scheiben sind von der Klimaanlage beschlagen und geben keinen Blick nach draußen frei. Es ist 22 Uhr, da ruft der Fahrer plötzlich „Almiranteee Almiranteee“. Wir betreten die Dunkelheit.
Als der Bus weiterfährt, merken wir, dass wir mitten in der Pampa stehen.
Die staubige Landstraße ist kaum beleuchtet, nur eine einsame Funzel hängt
an einem Mast. Von weitem hören wir Stimmen und Hundegebell. Zum
Glück gibt es hilfreiche Geister, überaus freundlich und stets allgegenwärtig.
Eines dieser Schlitzohren kreuzt zufällig unseren Weg in Form eines Jungen,
vielleicht 14 Jahre alt. Um genauer zu sein, er wartet schon in der Nähe der
Bushaltestelle, um im richtigen Moment wortreich seine Dienste anzubieten.
Voller Dankbarkeit sitzen wir kurz darauf im Fond eines Wagens, vorne der
Junge, der Fahrer und ein weiterer Mann. Die Straße ist dunkel und nur die
trüben Scheinwerfer bringen ein wenig Erleuchtung. Vor einer Kneipe lungern Männer in Gummistiefeln, die den Tag mit Bier und Hochprozentigem
beenden. Dazwischen wieder Dunkelheit. Langsam aber unerbittlich beginnt das kleine Männchen in meinem Nacken Alarm zu schreien. Wie viele
Geschichten hatte man schon gehört, von leutseligen Ausländern, die sich
plötzlich verlassen in einer unbekannten Gegend wiederfanden, erleichtert
um alles, was sie wenige Minuten zuvor noch von den Besitzlosen unterschieden hatte. Woher war der Fahrer so plötzlich gekommen? Warfen sich er
und der Junge nicht bedeutungsschwere Blicke zu, machten sie Zeichen untereinander? Ich greife gerade nach meinem Mobiltelefon, um einen Anruf
zu fingieren, da bremst der Wagen und der Junge zeigt auf ein Haus mit den
Worten „el Hotel“. Diesen perfekten Service lässt er sich für panamaische
Verhältnisse fürstlich entlohnen. Wir sind froh am Ziel zu sein.
Wir stolpern über die grobe Stiege, die zum Empfang führt. Eine wortkarge
Frau nimmt uns zunächst im Voraus das Geld für die Übernachtung ab, dann
teilt sie uns ein Zimmer zu. Froh ein Bett zu haben, genießen wir den Anblick von schmierigen grünen Wänden aus einem Material, das mich an die
Rückseite meines Malblockes zu Schulzeiten erinnert. Angestrahlt von einer
nackten Glühbirne entfalten sie ihre Schönheit. Die Toilette kann man mit etwas Zielgeschick durchaus benutzen. Um den Anblick etwas erträglicher zu
gestalten, schalten wir das Licht aus. Während des Einschlafens ertönt plötzlich eine Sirene. Dann gehen auf der Straße und in den Kneipen die letzten
Lichter aus und es herrscht drückende Stille. Die Dieselgeneratoren sind um
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Panama
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22 Uhr abgestellt worden. Dieselbe Sirene weckt uns am nächsten Morgen.
Obwohl es in Strömen regnet, wollen wir nur raus aus dem Verschlag. Zurück auf der Straße vor dem Hotel bekommen wir eine erste Ahnung wo wir
sind. Die Stadt blickt uns trübe und marode entgegen. Bocas del Toro war
einmal das Zentrum der Bananenindustrie mit Südstaatencharme. Die nordamerikanische United Fruit Company (heute besser bekannt als Chiquita)
hatte das Inselreich 1886 in ihr pulsierendes Bananenreich verwandelt. Es
gab fünf Konsulate, eine Radiostation, drei Tageszeitungen und Panamas erste Lotterie. Doch die United Fruit war in ganz Lateinamerika als „el pulpo“, der Krake, verschrien. Das Bananenimperium beutete die Arbeiter unter miesesten Bedingungen aus, das scheint sich bis heute nicht geändert zu
haben, auch wenn „Chiquita“ eifrig am Image feilt und sich in Ländern wie
Costa Rica die Arbeitsbedingungen schon deutlich verbessert haben. Das gilt
nicht für Almirante. Finanziell kaum mehr lukrativ, wird die Produktion nur
noch durch Zugeständnisse der Regierung am Leben erhalten, damit nicht
auch noch die letzten Jobs wegfallen und ganze Landstriche veröden.
Auf dem Weg zum Hafen sehen wir nur wenige Menschen. Dafür überall Schienen mit leeren Waggons und Lokomotiven. In Almirante enden die
Schienen eines Güterzugs, der sich von Costa Rica durch die Bananenfelder
schlängelt und die Arbeiter zu ihren Plantagen bringt. Von einer Veranda
aus ruft uns eine ältere Frau mit Lockenwicklern im Haar etwas zu. Wir
verstehen sie nicht, der Regen prasselt zu laut gegen unsere Gummijacken,
sehen aber, dass sie uns zu sich winkt und folgen der Einladung. „American?“, fragt mich die Dame. Nein, German. Da hellt sich ihr Gesicht auf
und sie beginnt zu erzählen. Ihr Sohn Wilfred habe immer davon geträumt,
mal nach Europa zu kommen. Jetzt sei das sehr unwahrscheinlich geworden. Nach den Unruhen im Oktober 2005 habe er seinen Job verloren. Anwohner hatten gegen die Erhöhung der Stromgebühren durch eine private
Firma protestiert und gegen den Mangel an Trinkwasser in Almirante. Einmal konnte die Feuerwehr einen Brand nicht löschen, weil ihr das Wasser
ausgegangen war. Drei Häuser wurden von den Flammen zerstört. Als die
Demonstranten die Straße blockierten, die zum internationalen Hafen führt,
von dem aus die Bananen verschifft werden, wurde die Polizei gewalttätig
und die Demonstranten antworteten ihrerseits mit Molotow Cocktails. Heute verdient Wilfred sein Geld als Wassertaxifahrer. Mit seinem Boot bringt
er die Touristen zu den verschiedenen Inseln, Korallenriffen und Stränden.
„Aber bei dem Wetter will natürlich keiner raus“, sagt die Frau mit Blick auf
den Regen. „Wollen Sie ihn kennen lernen?“ fragt sie und ruft im gleichen
Moment den Namen ihres Sohnes in die Tiefen des zweistöckigen Holzhauses. Wilfred erscheint mit nacktem Oberkörper. Rücken und Arme sind
mit Flecken übersäht, Spuren der jahrelangen Arbeit auf der Bananenplan65
Elena Ern
Panama
tage. Auch heute noch laufen die Arbeiter mit rostigen Pumpspritzen auf
dem Rücken durch die Plantage und besprühen ungeschützt stundenlang die
Stauden mit Pestiziden. Hauterkrankungen sind üblich, viele werden von
der Arbeit unfruchtbar und erblinden. Pflücker, Giftsprüher, Verpacker und
Verlader – alle müssen schnell arbeiten, denn die Multis bezahlen pro Stück.
Unter der Einfuhrbeschränkung der „Dollar-Banane“ in die EU-Staaten leiden die Bewohner von Bocas del Toro. Mehr als 3.000 Bananeros haben seit
der Maßnahme von 1993 ihren Job verloren. Viele machen es wie Wilfred
und setzen auf den Tourismus. Wir versprechen ihm eine Bootstour, sollte
der Regen in den nächsten Stunden aufhören. Später im Hafen beobachten
wir, wie Arbeiter einen Chiquita-Frachter beladen. In drei Tagen wird das
Schiff ablegen und den Weg nach Europa aufnehmen. Die deutschen Supermärkte wollen Bananen-Nachschub.
8.3 Taboga
Ich hocke an Deck der Calypso Queen, die mich nach Taboga bringt. Hupkonzerte, Smog, Hochhäuser – Panama-Stadt bleibt am anderen Ufer zurück. Auf der Insel – nur eine gute Stunde vom Festland entfernt – will ich
den Juristen Alexander Guerra treffen. Er wurde mir als ausgezeichneter
Kenner der Kanalpolitik empfohlen.
Vor dem Schiffsbug zeichnen sich schon die bergigen Umrisse von Taboga ab. Pelikane ziehen in Fünfer-Formationen an uns vorbei. Durch das
tiefblaue Wasser halte ich Ausschau nach Delphinen oder Haien. Vergebens.
Keine Rückenflosse lässt sich blicken. Da kommt mir die Meldung in den
Sinn, die ich während des Praktikums für Canal 11 erstellen konnte. Es ging
um den „aleteo“, den Haifischflossenfang, der auch in panamaischen Gewässern praktiziert wird.
Vor allem Schiffe aus Taiwan und Hongkong, die unter panamaischer
Flagge fahren, jagen den Hai seiner Flosse wegen. Auf welch grausame Weise das vor sich geht, veranschaulicht ein Video der Umweltorganisation „Albatros Media“, das mir für die Meldung zur Verfügung stand: Fischer ziehen
ihre Beute aus dem Wasser, schneiden dem Tier mit einem Schlachtermesser die Flosse ab und schmeißen es wieder ins Meer, lebend. Dort stirbt der
Hai langsam an Atemnot, wenn er nicht vorher von anderen Tieren gefressen wird. Eine weitere Einstellung zeigt Hunderte zum Trocknen ausgelegte
Haifischflossen zur Herstellung von Haiflossensuppe – in Asien eine Delikatesse. 450 Gramm Haifischflosse kosten etwa 90 Dollar.
Doch die grausame Praxis soll jetzt aufhören, zumindest in panamaischen
Gewässern. Panama hat ein Gesetz zum Verbot des Haifischflossenfangs
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Panama
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erlassen. Aus diesem Anlass war eine blass-blonde Schönheit ins Land gekommen, die sich am Rednerpult für das Raubtier stark machte: Alexandra
Cousteau, die Nichte des legendären Dokumentarfilmers Jacques Cousteau. Als internationale Sprecherin der Stiftung „Mar Viva“ unterschrieb sie
den Gesetzentwurf in einem offiziellen Akt gemeinsam mit dem charismatischen und äußerst medieninteressierten Bürgermeister von Panama, Juan
Carlos Navarro.
Mit ihrem französischen Akzent klagte Alexandra Cousteau die Grausamkeit des Haifischflossenfangs an, und die männlichen Journalistenkollegen
schmolzen natürlich dahin.
Das Horn der Calypso Queen holt mich aus meinen Gedanken. Der Dampfer erreicht den Kai von Taboga. Auf dem Steg wollte mich Guerra in Empfang nehmen. Aber ich warte vergebens, auf seiner Festnetznummer ist er
nicht zu erreichen, eine Mobilnummer habe ich nicht. Mein Gesprächspartner scheint mich im Stich gelassen zu haben (wie ich später erfahre, mit
berechtigtem Grund, aber auch er hatte meine Telefonnummer nicht). Also
erkunde ich den Ort, vorbei an der kolonialen Kirche, den blühenden Vorgärten und pastellfarbenen Häusern. Es duftet nach Meer, Jasmin und Hibiskus. Kein Wunder, dass der Künstler Paul Gauguin auf der „Blumeninsel“
eine lange Ruhepause einlegte.
In der Ferne sehe ich die Ozeanriesen, die darauf warten den Kanal zu
passieren. Sieben sind es an diesem Tag. Verschwitzt und mit deutlich geröteter Haut betrete ich ein schmales, dunkles Geschäft, bestelle eine Limonade und komme mit der Besitzerin Isabel ins Gespräch. Ihr Alter ist schwer zu
schätzen, vielleicht 20, vielleicht 30 Jahre oder älter. Ihre schwarzen Haare
sind zu vielen kleinen Zöpfen geflochten, die Haut ist dunkel, die Augen
sind schmal und grün. Vor mir sitzt eine typische Panamaerin, ein bisschen
Afrika, ein bisschen Westindien, ein bisschen Europa. Panama wird nicht
umsonst „El crisol de razas“ genannt, wörtlich übersetzt „Schmelztiegel der
Rassen.“ Wir reden über den Kanal, den Ausbau, die panamaischen Männer.
Aufgeregt erzählt sie mir, dass Martín Torrijos und seine Frau Vivian zum
hübschesten Paar des Landes ernannt worden sind, von wem und warum, das
kann sie mir nicht sagen. „Unser Präsident sieht wirklich gut aus, aber Politik machen kann er nicht“, findet Isabel. Zum Abschied will sie mir noch
eine „spannende Information“ mit auf den Weg geben. Sie begleitet mich ein
paar Meter die Straße hinunter und zeigt dann auf eine prunkvolle Villa mit
einer kleinen Privatbucht. „Das ist das Wochenendhaus von Alemán Zubieta
von der Kanalbehörde. Ich würde sagen einer der mächtigsten Männer Panamas, wenn nicht gar der ganzen Welt.“
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Panama
9. Kuna Yala – rettende Autonomie
Ein älterer Herr liegt in der Hängematte, die sich quer durch den Raum
spannt. Vor ihm hockt eine junge Frau. Ein weiterer Mann sitzt auf einem
Holzstamm, auf seinem Schoß liegt ein aufgeklapptes Buch. Gelegentlich
erhebt er sich kurz um die Hängematte des Alten wieder in leichte Bewegung zu versetzten. Stille herrscht in dem dunklen Raum, nur das Surren
der Fliegen ist zu hören und zwischendurch die Stimmen der draußen vorbei rennenden Kinder. Langsam gewöhnen sich meine Augen an das trübe
Licht.
Jetzt beginnt die Frau leise etwas zu murmeln. Ich verstehe nicht was sie
sagt, denn es ist die Sprache der Kuna-Indianer. „Sie bittet um Erlaubnis, in
die Hauptstadt reisen zu dürfen“, übersetzt mein Begleiter Robinson. Wir
befinden uns in dem Gemeindehaus der Insel Ikuptupu in Kuna Yala, Heimat der Kuna-Indianer. Ihr Gebiet, das auf Spanisch „San Blas“ genannt
wird, ist ein schmaler, langgezogener Streifen an der Karibikküste mit etwa
360 vorgelagerten Inseln. Der Mann in der Hängematte ist der Saila, das
Oberhaupt von Ikuptupu. Zweimal richtet er kurz sein Wort an die Frau die
vor ihm hockt. Nach zehn Minuten steht sie auf, wendet sich an den Schreiber der etwas in ein Buch einträgt und bezahlt eine Gebühr.
Zurück in der gleißenden Sonne erklärt mir Robinson, dass in diesem
Raum alle die Gemeinschaft betreffenden Beschlüsse gefasst werden. Jeder,
der nach Panama-Stadt reisen will, muss hier um Erlaubnis bitten und eine
Gebühr bezahlen. Als wir ans Wasser kommen, sehen wir, wie zwei Frauen
in ein Boot steigen, voll mit leeren Wasserbehältern. „Eigentlich haben wir
hier eine Wasserleitung vom Festland die Trinkwasser aus den Bergen liefert. Aber eine Segeljacht hat die Leitung beim Ankern in der Bucht beschädigt“, erklärt Robinson. „Seitdem müssen wieder alle das Wasser in Kanistern holen. Viele Stunden gehen jeden Tag dafür drauf, aber es fehlt das Geld
für eine Reparatur.“
Wir erfahren, dass die Provinz Kuna Yala zwar autonom, finanziell aber
doch von der Hauptstadt und von dem Wohlwollen des Parlamentes abhängig ist. Einerseits sind die Kuna ausgesprochen selbstbewusst und pflegen
ihre Tradition, andererseits gibt es in ihrer Region kaum Arbeit, das Meer
ist überfischt und der Tourismus wenig ausgebaut. Der Ausbau ist zwar geplant, scheitert aber immer wieder an der Angst der Kuna, sich und ihre kulturelle Identität preiszugeben. Schon in Panama-Stadt bin ich ihnen häufig
begegnet, sie sind ein Teil der Gesellschaft und ein viel genutztes Aushängeschild für Tourismus-Kampagnen. Auch in dem Büro des Tourismusministers und ehemaligen Salsastars Rubén Blades hängen Werbeplakate mit
Kuna-Motiven. Besonders die Frauen fallen durch ihre Trachten auf, farbi68
Panama
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ger Perlenschmuck, ein rotgelbes Kopftuch und die bunte Bluse. Sie lachen
viel, wenn sie in Panama auf den Straßen ihr Kunsthandwerk anpreisen, die
farbenprächtige Mola – bunte ineinander genähte Stoffstücke. Selten sieht
man die Kuna mit anderen Panamaern, sie scheinen unter sich zu bleiben.
Denn für ihre Selbständigkeit haben sie hart gekämpft. Noch heute erinnern
sich die Ältesten an den Aufstand ihres Volkes gegen die Landesregierung
im Jahr 1925, aus dem die Kuna als Sieger hervorgingen. Sie riefen eine
selbständige Republik aus, später einigten sie sich mit der panamaische Regierung auf die Souveränität in ihrem Territorium unter dem Dach der panamaischen Republik. Den semiautonomen Status haben die Kuna bis heute
bewahrt. Dass die fremden Welten fundamental voneinander getrennt bleiben, dafür sorgt die Verwaltungsspitze der jeweiligen Gemeinde, der Saila.
Er wacht über den traditionellen, nach alten, ungeschriebenen Gesetzen festgelegten Lebensstil der Kuna. Robinson erzählt, dass die soziale Kontrolle
der Gemeinschaft so stark sei, dass sich die in ganz Panama verstreut lebenden Mitglieder gegenseitig überwachen und Verfehlungen anderer wieder in
die Gemeinden melden, von wo aus sie geahndet werden.
Trotz aller Probleme geht es den Kuna besser als den anderen indigenen
Völkern des Landes, für die der Kuna-Stamm Vorbild und Hoffnungsschimmer ist.
Wie viele geheimnisvolle Welten doch in diesem kleinen Panama stecken,
denke ich, als die zweimotorige Turbopropmaschine abhebt, um mich zurück in die Stadt zu bringen.
10. „Es werden keine Stauseen gebaut“
Im April geht der Kampf um einen Ausbau des Panamakanals in die entscheidende Phase. Nachdem die ACP sich sechs Jahre Zeit ließ, um nach
eigenen Angaben mehr als 120 internationale Studien auszuwerten, wird
heute das endgültige Erweiterungsprojekt vorgestellt. Lange haben die Panamaer auf diesen Augenblick gewartet. In dem riesigen Messesaal „Atlapa“ stehen die Menschen bis in den Flur. In der obersten Reihe stillt eine
Mutter ihr Baby, Geschäftsleute haben ihre Aktenkoffer unter die Sitze verstaut, Studenten ihre Handys abgestellt (in Panama eine Besonderheit, selbst
in den Kinos wird mitunter telefoniert). Dazwischen sitzen Botschafter, ExPräsidenten und Landwirte. Alle Medien des Landes sind bei dem Großereignis dabei, es wird live im Fernsehen übertragen. Ein Blitzlichtgewitter
prasselt auf die Bühne als Ricaurte Vásquez, Präsident der Kanalbehörde,
Martín Torrijos den Projektentwurf überreicht. Der Akt ist so feierlich wie
eine Amtsübernahme, wieder und wieder appelliert Präsident Torrijos an
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Panama
das Nationalgefühl der Panamaer. Er lässt keinen Zweifel daran, dass er den
Kanalausbau will.
Martíns Vater Omar Torrijos hatte 1977 mit dem damaligen US-Präsidenten Jimmy Carter die Übergabe des Kanals an Panama ausgehandelt.
Heute knüpft der Sohn sein politisches Schicksal an den Kanal. Es muss
ein komisches Gefühl gewesen sein, das Erbe des Volkshelden Omar anzutreten, der 1981 bei einem ungeklärten Flugzeugabsturz ums Leben kam.
Omar, der für die Panamaer um den Kanal gekämpft hat, der sich dem einfachen Volk verpflichtet fühlte, der Arme in die Altstadt einlud, dort gegen einen symbolischen Mietpreis zu leben. Heute erobern die Reichen die
schöne koloniale Altstadt wieder zurück. Die Armen müssen die Häuser verlassen, die saniert und mit Luxusapartments verkauft werden. Inzwischen
gilt die Altstadt wieder als eine der teuersten Wohngegenden Panamas und
bald können die Reichen wieder ungestört reich sein. Omar Torrijos stand
für soziale Reformen. Doch dieser ist nicht wie jener. Torrijos Junior wird
nachgesagt, mit seinem neoliberalen Kurs die Reichen noch weiter zu begünstigen. In dem Messesaal versucht er jetzt die Bürger für das Projekt
der Kanalerweiterung mit der Aussicht auf Fortschritt und Wohlstand einzunehmen. Denn der Ausbau des Kanals bedarf der Zustimmung des panamaischen Volkes, so steht es in der Verfassung. Laut Artikel 319 muss bei
Kanalumbauten oder Kanalerweiterungen eine Volksabstimmung das Vorhaben legitimieren. Martín Torrijos erinnert die Menschen daran, dass der
Kanal im Jahr 2005 Panama Gewinne in Höhe von umgerechnet 970 Millionen Euro eingebracht hat, wovon knapp ein Drittel in staatliche Budgets
wie beispielsweise Sozialprogramme geflossen seien. Das Land stehe an
einem historischen Scheideweg zwischen dritter und erster Welt, mahnt er
und verkündet dann: „Mit dem Ausbau wird sich Panama in ein Land der ersten Welt verwandeln.“ Gegner und Befürworter des Kanalausbaus werden
diese Worte in den nächsten Monaten immer wieder zitieren. Zum Schluss
verblüfft der Präsident mit einer Neuigkeit: Das Gesetz 44, das die Grenzen des hydrografischen Beckens des Kanals ausdehnt, werde geändert und
das Gebiet verkleinert. Damit, so wird es zumindest am nächsten Tag in den
Zeitungen stehen, verpuffen die Argumente der Bauern, die jahrelang gegen
die Kanalerweiterung gekämpft haben. „Es werden keine Stauseen gebaut“,
verspricht Torrijos. Denn die neuen Schleusen sollen Wasseraustauschbecken bekommen, die das Wasser nach jedem Transit auffangen und für den
nächsten Schleusengang wiederverwerten. Ich erinnere mich an die Bauernbewegung gegen Stauseen, mit der ich zum ersten Mal bei meinem Besuch
in Coclé in Berührung gekommen bin. Werden die Bauern aufatmen? Oder
dem Präsidenten weiter misstrauen?
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Panama
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10.1 Der Ausbauvorschlag der Kanalbehörde im Detail
Die Kanalbehörde gibt in der Messehalle Details zum Projekt bekannt. Es
sieht vor, den Kanal mit einem dritten Schleusenpaar von 55 Meter Breite
und 427 Meter Länge zu versehen, so dass ihn künftig noch mehr und doppelt so große Schiffe wie bisher passieren können. Der Erweiterungsplan
beinhaltet außerdem den Bau neuer Gleise für den Schienenverkehr und die
Ausbaggerung neuer Zufahrtswege und Parkplätze. Schon 2007, so die ACP,
könne mit den Arbeiten begonnen werden, um rechtzeitig zum 100. Geburtstag der Wasserstraße, im Jahr 2014 also, fertig zu sein. Der Ausbau, so ACPVerwalter Alemán Zubieta, sei dringend notwendig, vorteilhaft für das Land
und wirtschaftlich rentabel, denn: „Zur Zeit operiert der Kanal ganz nah an
seiner Kapazitätsgrenze. Zwischen 2009 und 2012 werden wir endgültig das
Maximum erreicht haben.“ Einer der wichtigsten Punkte für die Panamaer
ist die Ankündigung, dass der Bau der Schleuse 40.000 Arbeitsplätze schaffen werde. Die offizielle Arbeitslosenquote liegt in Panama bei 10 Prozent,
die tatsächliche dürfte diese Zahl weit übersteigen.
Ein Punkt, der bisher noch offen war, betrifft die Kosten. Maximal 5,25
Milliarden Dollar soll der Umbau laut ACP kosten. Die Kanalbehörde versichert, dass die Kanalerweiterung durch eine Erhöhung der Nutzergebühren
und nicht über Steuergelder finanziert werde. Die öffentlichen Schulden Panamas würden sich also nicht erhöhen. Zum Abschluss des Abends fordern
Staatspräsident und ACP-Mitglieder das Volk auf, gut über das Megaprojekt
nachzudenken, um dann in dem Referendum nach bestem Wissen und Gewissen zu entscheiden. Ein „stimmen Sie mit ja“ wäre an dieser Stelle das
Falsche gewesen, denn streng genommen dürfen ACP und Regierung das
Projekt nur vorstellen, jede direkte Beeinflussung der Bürger sind ihr von
der Wahlbehörde untersagt. Doch die Haltung des Präsidenten und der ACP
lässt keinen Zweifel aufkommen, dass beide bereit sind, hart zu kämpfen,
um im Herbst das gewünschte Ergebnis, ein „Ja zur Kanalerweiterung“, zu
bekommen. Und wie sehr man sich an die Vorgaben der Wahlbehörde hält,
das werde ich in den nächsten Wochen erfahren.
11. Die Schlacht beginnt
Schon um neun Uhr morgens ist die Tageszeitung „La Prensa“ vergriffen.
„Heute ist doch die Beilage der ACP drin, mit der Erweiterungsgeschichte“,
klärt mich der Zeitungsverkäufer auf. Am Tag nachdem Kanalbehörde und
Regierung den Projektentwurf offiziell vorgestellt haben, herrscht überall
nur ein Gesprächsthema: „La ampliación – die Kanalerweiterung.“
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Panama
Im „Diablo Rojo“ (Roter Teufel, wie hier mit gutem Grund die öffentlichen Busse genannt werden) läuft heute ausnahmsweise mal kein Reggaeton bis zum Ohrensausen, sondern eine Radiodebatte über das Thema. Ansonsten herrscht im Bus Stille.
Nur auf der Avenida Central, wo die einkaufen, die sich die teuren Markenartikel in den Malls nicht leisten können, scheint alles wie immer. Auf
der belebten Straße bieten junge Männer Handyanrufe für 25 Cent an, eine
Gruppe Moslems sitzt mit ihren Gebetsketten um einen achteckigen Brunnen, Kuna-Indianerinnen mit ihrer unverwechselbaren bunten Tracht betrachten kichernd das Bild eines Popstars vor einem Kaufhaus. In dem riesigen Internetcafé stehen Jugendliche Schlange für einen freien Rechner.
Lucila Jiménez sitzt rauchend auf einem kleinen Hocker und wartet in der
Einkaufsstraße auf Kundschaft. Vor ihr liegt eine große Palette mit Fingernagelmodellen. Silberner Hintergrund mit roter Rose, weiß mit rosa Punkten, lila mit pinken Ornamenten – „was möchtest Du?“, fragt sie mich als ich
staunend stehen bleibe. Lucila, die sich als Nagelkünstlerin versteht, nimmt
pro Finger 80 Cent. Heute hat sie erst knapp sechs Dollar in der Kasse, aber
der Tag ist ja noch lang. Für ein Gespräch mit ihr nehme ich lackierte Nägel
in Kauf, „aber bitte nur eine Farbe.“ Lucila sagt gleich, sie verstehe nicht
viel von Politik, solange man sie hier in Ruhe lasse, sei alles in Ordnung.
Das mit der Kanalerweiterung scheint ihr völlig logisch: „Klar, wenn die sagen, die Schiffe werden immer größer und der Kanal ist zu klein, dann muss
das gemacht werden. Wir haben hier doch nur den Kanal. Wenn die Schiffe
nicht mehr kommen, können wir einpacken.“
Wenn die Panamaer im Herbst über die Kanalerweiterung abstimmen, wird
Lucila wohl ihr Kreuz beim „Si“ machen, beim „Ja zur Kanalerweiterung“.
Doch so einfach ist das wohl nicht, wie ich am Nachmittag während eines
Besuch bei Héctor Endara, Leiter der Caritas Panama, erfahre. Endara, seit
24 Jahren bei der Caritas, unterstützt aktiv die Bauernvereinigung gegen
Stauseen und kämpft schon seit Jahren auf der Seite der ländlichen Bevölkerung gegen den Kanalausbau. Immer wieder machte er auch die negativen
ökologischen Folgeschäden eines Ausbaus deutlich. Er ist überzeugt: „Mit
dieser Milchmädchenrechnung will die ACP die einfachen Leute ködern.“
Ich lege vorsichtig nach, dass das Argument der immer größer werdenden
Schiffe wirklich ganz logisch klinge. Nein, protestiert Endara, es scheine nur
logisch. In Wirklichkeit gebe es gar nicht so viele Post-Panamax Schiffe auf
der Welt und die meisten von denen die es gibt, kommen nicht am PanamaKanal vorbei und kämen auch nicht, wenn dieser erweitert wäre. „Die PostPanamax Schiffe, die in erster Linie Öltanker sind, verkehren normalerweise
zwischen den arabischen Ländern und den USA und zwischen Singapur und
den USA. Die für sie preisgünstigste und kürzeste Route führt durch den
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Panama
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Suez-Kanal.“ Endara ist davon überzeugt, dass der Bedarf an Post-Panamax
Schiffen nicht so riesig ist, wie die ACP ihn propagiere. Auch hält er es für
unglaubwürdig, wenn ACP und Regierung jetzt versichern, es werde keine
Stauseen geben. Endara erinnert mich an den genauen Wortlaut von ACPVerwalter Alemán Zubieta: „Es wird keine Stauseen geben, zumindest im
Moment nicht“. Zweimal wiederholt er den letzten Teil des Satzes. Ich erinnere ihn daran, dass der Präsident angekündigt hat, das Gesetz 44 zu ändern,
womit die Kanalbehörde das Verwaltungsrecht über diese Gebiete verliere
und kein Recht mehr habe, sie so mir nichts dir nichts zu überschwemmen.
Diese Maßnahme, glaubt Endara, zeige nur, wie wichtig auch der Regierung
der Kanalausbau ist: „Sie will kurzfristig jegliche Kritik im Keim ersticken,
um das Referendum zu gewinnen–und danach weitersehen.“ Endara lehnt
sich zurück, schaut mir fest in die Augen und verspricht, er werde sich sicher
nicht täuschen lassen. Mit dieser Haltung wird er sich in den nächsten Wochen viele Feinde machen. Als ich wieder in Deutschland bin, erfahre ich,
dass Héctor Endara bei der Caritas entlassen wurde.
11.1 „Alles Lüge“
Auf dem Schreibtisch meines kleinen Zimmers in Panama-Stadt türmen
sich zwei Haufen: Links Hefte, Pamphlete, Flugblätter der Ausbau-Gegner, rechts die Hochglanzbroschüren der Wirtschaftsverbände, das Monatsheft El Faro (der Leuchtturm. Nein, nicht die Zeugen Jehovas!) der
Kanalbehörde und der offizielle Erweiterungsvorschlag. Täglich vergrößert sich meine Sammlung. Auf dem linken Stapel ist heute noch ein Werk
hinzugekommen, das mich gerade laut lachen lässt. Es ist eine Publikation von Frenadeso, der „Nationalen Front für die Verteidigung wirtschaftlicher und sozialer Rechte“. Der Name dieser Organisation enthält das
Verb „frenar“, bremsen. Das Titelblatt zeigt einen sinkenden Ozeandampfer, auf den der Macher der Montage die Köpfe bekannter Persönlichkeiten geklebt hat: ACP-Verwalter Alemán Zubieta, Vizepräsident Samuel
Lewis Navarro und die „First Lady“ Vivian Torrijos, die einen Rettungsring in der Hand hält, stehen auf dem sinkenden Schiff. Am Steuer: Präsident Martín Torrijos. Auf dem Schiff prangt die Aufschrift: „Die Verhandlungen zum Kanalausbau – oder: der Tanz der Millionen.“ darunter groß:
„Opposition“. Jetzt erst erkenne ich, dass der Dampfer sinkt, weil er auf
einen Eisberg gelaufen ist. Und was steht auf dem Eisberg? Natürlich: Frenadeso. Frenadeso, die Spaßbremse, die der Fahrt der Post-Panamax „Titanic“ ein Ende bereitet. Daran will die Organisation in den Monaten bis
Oktober noch kräftig arbeiten. Nach Umfragen im Auftrag der Tageszei73
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tung „La Prensa“ von Anfang Mai sind 57,9 % der Panamaer für den Ausbau, 17,1% dagegen.
Auch Juan Jované, Ökonom an der Universität von Panama und ehemaliger Direktor der Sozialversicherungskasse, sieht negative Folgen für sein
Land, sollte das Ausbauprojekt umgesetzt werden. Panama werde sich nur
noch weiter verschulden, fürchtet er. „Wir sind ein kleines Land mit drei
Millionen Einwohnern und haben ja jetzt schon eine der höchsten Schuldenrate weltweit.“
Es sei schlichtweg eine Lüge von der ACP zu behaupten, der Kanal sei
obsolet. In Wirklichkeit funktioniere er einwandfrei: „Etwa fünf Prozent des
Welthandels durchqueren ihn. Derzeit passieren ihn sogar 68 Prozent aller
Waren, die in US-Häfen be- oder entladen werden, für China sind es 23 und
für Japan 16 Prozent“, so der Ökonom.
„Und das wird auch bis 2025 weiterhin der Fall sein. Das hat die ACP
selbst gesagt“, fügt Jované hinzu. Es sei einfach irrsinnig, den Kanal rein
prophylaktisch auszubauen. Man wisse schließlich nicht, wie die Situation nach 2025 aussehe, vielleicht sei die Nachfrage dann aus verschiedenen
Gründen gar nicht so hoch. Jované schlägt vor, anstelle eines „riskanten Megaprojekts“ andere Wirtschaftszweige zu stärken, wie etwa die schwache
Landwirtschaft.
Viele Panamaer beklagen sich, die Kanalbehörde vertrete nicht die ganze
panamaische Bevölkerung. Sie setze sich zusammen aus Bankleuten, Repräsentanten von Baufirmen und Ingenieuren, die direkt die Interessen der
Klienten, also der Frachter, vertreten, aber nicht die des Landes. Dies glaubt
auch der Soziologe Olmedo Beluche. „Wir, die wir um die Hoheit über den
Kanal gekämpft haben, finden uns darin nicht wieder“, sagt er. Auch vermutet er, dass die ranghohen ACP-Vertreter private Wirtschaftsinteressen beim
Ausbau des Kanals haben. „In der Kanalverwaltung gibt es eine Gruppe von
Bankleuten, zu denen auch Alemán Zubieta gehört. Zubieta ist Vorstandsmitglied der Banco General, Panamas wichtigster Privatbank“, sagt er. Von
Olmedo Beluche erfahre ich, das Alemán Zubieta, Verwalter der Kanalbehörde, Teilhaber an der größten Baufirma des Landes ist. Die Constructora
Urbana s.a. (Cusa) gehört der Familie Zubieta. „Es ist offensichtlich, dass
das Baugewerbe von dem Kanalausbau besonders profitiert. Diese Leute
nehmen also die Verschuldung des Kanals in Kauf, für ein Werk, dessen
größte Nutznießer sie sein werden“, entrüstet sich Olmedo Beluche. Die Panamaer haben kein Vertrauen in die Machthaber, unter jeder Regierung hat
es zahlreiche Korruptionsskandale gegeben – das hat Wunden hinterlassen.
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12. Alternativen zum Kanalausbau
Die prominentesten Gegner des Kanalausbaus sind eine Gruppe um den
Ex-Präsidenten Jorge Illueca und den ehemaligen ACP-Verwaltungsratchef
Fernando Manfredo. Auch sie halten das Vorhaben wegen seiner Abhängigkeit von politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen für zu riskant, unnötig teuer und nur für eine Minderheit von Vorteil.
Die „Clique“ um Jorge Illueca trägt auf einem Forum in der Jura-Fakultät ihre Alternative vor: den Bau eines riesigen Hafens auf der Pazifik-Seite
des Kanals. Dort sollen große Containerschiffe ihre Fracht für den Transport in Richtung Atlantik auf kleinere Schiffe umladen können. „Das würde
nur ein Zehntel der Kosten für den Ausbau des Kanals verschlingen“, versichert Illueca. Der 88-jährige ist der Meinung, dass die Regierung mehr
Geld in einen nationalen Entwicklungsplan investieren sollte, der Arbeitsplätze schaffe und die Wirtschaft des Landes antreibe, anstatt mindestens
5,25 Milliarden Dollar für ein drittes Schleusenpaar auszugeben, ohne zu
wissen, ob Post-Panamax Schiffe es nutzen werden. Für Illueca und Manfredo ist außerdem die Ankündigung der ACP unhaltbar, der Kanalausbau
werde 40.000 Arbeitsplätze schaffen. Die ACP selbst hat sich inzwischen
von dieser Zahl distanziert.
13. Der Panama-Kanal bekommt Konkurrenz
„Wenn Panama zuviel Zeit verliert, wird es bald nicht mehr konkurrenzfähig sein“, warnt Carlos Urriola, Geschäftsführer des Containerhafens Manzanillo International Terminal. Vor allem Honduras und El Salvador warteten nur darauf, dass die Kanalerweiterung von Panama abgelehnt wird,
um dann einen Trockenkanal zu bauen. In Mexiko seien solche Pläne schon
handfest. Dort sollen demnächst Container via Transitstrecke über die Landenge von Tehuantepec zwischen Atlantik und Pazifik transportiert werden.
Alberto Alemán Zubieta, Verwalter der Kanalbehörde, sieht in dem mexikanischen Plan jedoch keine Gefahr für den Panama-Kanal. Seiner Ansicht
nach ist die erforderliche Neuverladung der Container in Tehuantepec nicht
nur zu teuer, sondern auch zu zeitaufwendig.
Die größte Gefahr kommt laut Carlos Urriola jedoch aus Nicaragua. Gerüchten zufolge bereitet das Land intensiv eine Wasserstraße zwischen den
Ozeanen vor. Und davon träumte es schon, als es den Panama-Kanal noch
gar nicht gab. Doch die Abgeordneten im US-amerikanischen Kongress entschieden sich 1901 bekanntlich gegen Nicaragua und für Panama. Eine nicaraguanische Briefmarke, die den rauchenden Vulkan Momotombo zeigte,
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soll den Ausschlag gegeben haben – man hatte Angst vor Erdbeben. Und
weil sich die geographische Situation in Nicaragua bis heute nicht geändert
hat, dürfte Nicaragua ja kein echter Konkurrent für Panama sein, oder?
Außerdem sei noch eine Art „natürlicher Feind“ für den Panama-Kanal
erwähnt, nämlich die Klimaveränderung. Diese These vertritt beispielsweise
der Journalist Walter Franco. „Wenn die Eisberge in den Polarmeeren aufgrund der steigenden Temperaturen schmelzen, dann bekäme die internationale Schifffahrt plötzlich drei neue Routen hinzu, die bisher von Eis bedeckt
waren. Dies ist für ihn ein Grund, im Oktober gegen den Kanalausbau zu
stimmen: „Das Geld für den Ausbau bekämen wir angesichts dieser neuen,
völlig kostenfreien Wege nie wieder raus.“
14. Der Kampf um das „Ja“
Stanley Muschett hat aufgehört, mich zu duzen. Das Lächeln ist aus dem
Gesicht des Managers der Kanalbehörde verschwunden. Wir sitzen in der
„Zentrale der Macht“, dem Hauptgebäude der Kanalbehörde in der Ridge
Road mitten in der ehemaligen US-Kanalzone. Octavio aus der PR-Abteilung hat das Aufnahmegerät angestellt, um mein Interview mit Muschett
aufzuzeichnen. Ich will wissen, mit wie vielen Post-Panamax Schiffen die
ACP in Zukunft rechne und fragt, ob es darüber Aufstellungen gibt. Muschett sagt, es sei ein Missverständnis, es gehe nicht ausschließlich darum,
den Kanal auch für Post-Panamax Schiffe zugänglich zu machen, es gehe
darum, ihn generell für mehr Schiffe zugänglich zu machen. „Die PanamaxSchiffe brauchen über eine Stunde, um durch die Schleusen zu kommen, das
hält den Verkehr auf. Die Wartezeit kostet die Nutzer viel Geld. Mit einer
weiteren Schleuse können wir dieses Problem lösen.“
Ich komme auf die Kosten für das Projekt zu sprechen, einer der umstrittensten Punkte. Denn Experten gehen nicht von 5,25 Milliarden Dollar aus,
wie sie die ACP offiziell veranschlagt hat, sondern von bis zu 15 Milliarden
Dollar. Und sie haben ausgerechnet, dass sich das Projekt nur rechnet, wenn
es nicht mehr als fünf Milliarden Dollar kostet. „Zunächst müssen wir klarstellen, dass wir die komplette Konstruktion über eine Gebührenerhöhung
finanzieren werden, sollte das Projekt in dem Referendum beschlossen werden“, erklärt Muschett und fährt fort: „Es werden also unsere Klienten und
Nutzer sein, die es finanzieren. Zweitens bedeutet das, dass wir keine staatlichen Gelder für den Bau der Schleusen verwenden.“ Es ist inzwischen
bekannt, dass die Kanalbehörde für die Finanzierung noch einen zusätzlichen Kredit aufnehmen will. Muschette erwähnt dies nicht. Kritiker halten
eine Erhöhung der Nutzergebühren für falsch, denn dies könne die Kunden
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möglicherweise sogar vertreiben. Sollten weitere amerikanische Länder tatsächlich rentable Verbindungswege zwischen den Ozeanen schaffen, bleibt
der Kanal nur konkurrenzfähig, wenn er die Gebühren relativ niedrig hält.
Als die Kanalbehörde 2002 und 2003 schon einmal die Gebühren für eine
Durchfahrt anhob, gab es massive Proteste vor allem von den südamerikanischen Ländern, wie Chile und Ecuador.
Ich frage Muschett, was es bedeutet, wenn die ACP sagt, im Moment werde es keine weiteren Stauseen geben. „Sehen Sie, wir können die Entwicklung nicht voraussehen, aber ich kann ihnen versichern, dass wir bis zum
Jahr 2025 ohne weitere Stauseen auskommen werden. Was danach kommt,
kann ich Ihnen nicht sagen“, so der Manager. Aber eines solle ich ihm glauben: „Es wäre preisgünstiger gewesen, Stauseen zu bauen. Wir haben uns
aus humanitären Gründen dagegen entschieden, die Länder der Bauern zu
überschwemmen.“
Stanley Muschett schaut auf die Uhr. Er habe viel zu tun. Ich müsse verstehen, in diesen Tagen sei die Hölle los. Ich verstehe und wundere mich
umso mehr, als mir der Manager dann bei der Verabschiedung spontan einen
Rundgang über das ACP-Gelände anbietet. Wunderbar. Gerne. Die Sekretärin verabschiedet mich freundlich mit englischem Akzent.
Zunächst zeigt mir Muschett das Wandbild in der Kuppel des Erdgeschosses, das den Kanalbau darstellt. Der Maler W.B. Van Ingen hat das Werk
1915 in seinem New Yorker Studio angefertigt und nach Panama verschifft.
Der Manager streicht über die Bronzestatue von Theodore Roosevelt, dem
26. Präsidenten der USA, die sich in der Mitte des Raumes befindet. Unter
seiner Führung begann das Kanalprojekt für die USA mit dem legendären
Ausspruch des Präsidenten „I took the Canal“. Wir verlassen das Hauptportal, vorbei an dem riesigen Steinbrocken, der aus dem Culebra-Bergrücken
stammt und der die Kraft und den Einsatz der Kanalbauarbeiter symbolisieren soll. „Hier ist nichts dem Zufall überlassen worden“, erklärt Muschett
als wir die palmengesäumte Allee hinuntergehen. „Diese Allee hat exakt
die Breite und Länge einer Schleusenkammer“. „Dann wird sie sicher demnächst auch vergrößert“, scherze ich und ernte ein breites Grinsen. Unsere
Tour endet an einem hohen Marmordenkmal: George W. Goethals, KanalChefingenieur und erster Gouverneur der Kanalzone. Sein Denkmal steht
inmitten eines Brunnens mit drei Becken. Sie repräsentieren die Schleusengruppe Miraflores, Pedro Miguel und Gatún. Zum Schluss versichert mir
Muschett, auch er bedauere die Armut in Panama und wünschte, er könnte
etwas tun. Diesmal klingt er sehr ehrlich. Dann wünscht er mir noch viel
Spaß in Panama, einem „wunderbaren Land mit wunderbaren Menschen.“
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Elena Ern
Panama
15. Objektivität gibt es nicht
Fast täglich werde ich zu einem Forum, einer Konferenz, einer Informationsveranstaltung über die Kanalerweiterung eingeladen. Dabei erlebe ich
selten eine ausgewogene Debatte. Die Kanalbehörde bügelt durchaus berechtigte Bedenken platt oder ignoriert sie, während ihre „Gegner“ auf die
ACP eindreschen, sie als Lügner, Korrupte und Diebe bezeichnen. Auch die
ein oder andere Verschwörungstheorie wird mir hinter vorgehaltener Hand
zugeraunt. So sei die Schlange der Schiffe, die darauf warteten, den Kanal
zu passieren in diesen Tagen verdächtig länger als sonst. „Das haben die
doch gezielt eingefädelt, damit wir alle sehen: Wir brauchen dringend eine
dritte Schleuse“, meint der Jura-Student Carlos Sandoval.
Jeden Tag liegen den großen Tageszeitungen Prospekte der Kanalbehörde
bei, in denen sie Details des Ausbaus erklärt. Zweiseitige Anzeigen in Farbe
sind keine Seltenheit. Gezielt werden immer wieder neue Nachrichten auf
die erste Seite der Zeitungen lanciert, die in Wirklichkeit schon ein alter Hut
sind. Einmal zieht die Überschrift „China am Ausbau des Kanals interessiert“
meine Aufmerksamkeit auf sich. Bei genauem Hinsehen stelle ich fest, dass
es sich um ein Interview mit einem chinesischen Geschäftsmann handelt, der
schon lange in Panama lebt und guten Kontakt zur Kanalbehörde hält, kein
offizielles und schon gar kein repräsentatives Statement also. In einer halbstündigen TV-Dokumentation klärt die Kanalbehörde den Zuschauer mit einnehmender, pathetischer Sprache über die Vorteile eines erweiterten Kanals
auf. Der Film erzeugt den Eindruck, dass Panama bald ein Land sein wird, in
dem es wirklich jedem Menschen gut geht, dank Kanalausbau. Dass der staatliche Sender den Film 1:1 sendet, ist fast logisch. Aber auch die privaten Sender übertragen ihn kurz nachdem der Präsident in Atlapa das Projekt vorstellte. In die Fernsehtalkshows werden Kanalgegner gar nicht erst eingeladen.
Nur Kanal 33 RCM hat als einziger Sender den Ex-Präsidenten Jorge Illueca und Fernando Manfredo aufgefordert, ihre Position und Alternativen zum
Bau eines dritten Schleusenpaares zu erläutern. In seiner Rede hatte der Präsident davon gesprochen, jeder werde seine Meinung unter gleichen Bedingungen verbreiten können. Aber dies ist ganz offensichtlich nicht der Fall.
Sie wollen in entlegene Regionen fahren, in kleinste Dörfer und Städte um die Jüngsten aufzuklären über das Kanalprojekt, besser gesagt: die
jüngsten Wähler. Erziehungsminister Miguel Cañizares eröffnet die landesweite Kampagne gemeinsam mit der Kanalbehörde in einer Schule des
Stadtviertels Bella Vista. Etwa 200 Schüler in blau-weißer Uniform hören
den dynamischen Erklärungen aufmerksam zu. Wie groß die ökologischen
Folgen des Megaprojekts seien, will ein Schüler wissen. „Es gibt keine negativen ökologischen Folgen“, antwortet ihm ein Vertreter der ACP. Der Ka78
Panama
Elena Ern
nal führt mitten durch einen riesigen Naturpark. Tigerkatzen, Nasenbären,
Kaimane und Tukane leben in dem tropischen Regenwald. Viele Tierarten
sind vom Aussterben bedroht. Die Kanalbehörde sieht Flora und Fauna jedoch nicht gefährdet, denn: „In den 30er Jahren haben die Amerikaner bereits begonnen, Erde für eine Schleuse auszugraben, die sie nie bauten. An
der Stelle wollen auch wir graben.“
Für die landesweite Kampagne in den Schulen sollen ACP-Mitarbeiter
schon am nächsten Tag ausschwärmen, um in den nächsten Wochen den
Schülern landesweit Rede und Antwort zu stehen. Vor allem sollen sie diejenigen erreichen, die schon das Alter haben, bei dem Referendum im Oktober ihre Stimme abzugeben. Ich treffe Cañizares einen Tag darauf im Büro
des Erziehungsministeriums, das mitten in der ehemaligen Kanalzone liegt.
„Wir können es uns nicht leisten, dass die Schüler nicht die korrekten Informationen haben, um die beste Entscheidung zu treffen“, sagt Cañizares.
Panama habe mit Martín Torrijos zum ersten Mal einen Präsidenten, der
auch an das Volk denke: Von jeder Tonne, die den Kanal passiert, investiere
Martín Torrijos 10 Cent in die Erziehung. Das habe es noch nie gegeben.
Cañizares spricht langsam und leise, dabei beugt er seinen Kopf immer ein
wenig nach unten. „Wenn wir das „Ja“ beim Referendum schaffen, wird es
noch mehr Mittel für Schulen geben, mehr Straßen, eine moderne Ausstattung in den Schulen, besser ausgebildete Lehrer.“ Ich kann mir die Frage
nicht verkneifen, wie objektiv die Kampagne in den Schulen wirklich ist.
„Wir sind nicht parteiisch, wir setzen uns nicht für ein ‚ja’ ein. Wir machen eine öffentliche, staatliche Politik und verteilen Informationen über
die technischen Abläufe“, erklärt Cañizares und ergänzt: „Wir haben einen
Kompromiss mit der Geschichte. Wenn uns Panamaer etwas verbindet, dann
ist es der Kanal. Und die Religion. Das hat schon Omar Torrijos gesagt.“
Am nächsten Tag lese ich einen Kommentar in der Zeitung „Panamá
América“: „ACP-Beamte und Regierung haben eine Werbekampagne initiiert, die es als Tatsache verkauft, dass die Kanalerweiterung durch eine dritte
Schleuse für Panama von Vorteil sein wird. Auf Staatskosten wollen sie die
Bürger davon überzeugen, dass das Projekt nicht andere Länder oder eine
Gruppe Geschäftsleute begünstigt. Also müssen wir noch die Lügen und
Fehlinformation, die man uns gibt, bezahlen, denn es sind schließlich öffentliche Gelder, die da verwendet werden.“
Auch Panamas wichtigster Denker, der Soziologe Raúl Leis, ist nicht gerade begeistert von der aggressiven Marketingkampagne zugunsten des Kanalausbaus. Wir haben uns in einem Café der belebten Via Argentina verabredet. Ich hatte Leis auf einer Unicef-Veranstaltung kennen gelernt und
erkenne ihn jetzt von weitem an der hohen kahlen Stirn. „Mir gefällt nicht,
wie die Diskussion über die Kanalerweiterung geführt wird, nämlich völ79
Elena Ern
Panama
lig undemokratisch“, erklärt er. Es gebe keinen freien Zugang zu Information, keinen Raum für die Beantwortung offener Fragen. „Das ganze ist mehr
eine Art Marketing, als wirklich ein ziviler Dialog. Zwar hätten Regierung
und Kanalbehörde viel Geld ausgegeben, aber nur für eine reine MarketingKampagne zugunsten des Kanalausbaus.“ Nicht alle hätten dieselben Möglichkeiten, ihre Meinung zu verbreiten, dabei sollte es doch das Ziel sein,
dass die Menschen informiert zum Referendum gehen.
Auch Leis glaubt, dass der Kanalausbau ein großes finanzielles Risiko
für Panama bedeutet. Er fragt sich: „Wenn wir eine Hypothek für den Kanal aufnehmen, wie können wir garantieren, dass er öffentliches Eigentum
bleibt und nicht aufgrund der Schulden plötzlich der Bank gehört und seine
Autonomie verliert? Ich bin zwar grundsätzlich der Meinung, dass der Kanal modernisiert werden muss, aber darüber muss ich erst Klarheit kriegen.“
Es sei eine kühne Behauptung des Präsidenten gewesen, dass der Ausbau
des Kanals Panama in die erste Welt hieven würde. „Das Konzept, was ich
von der ersten Welt habe, ist, dass es ein hohes Bruttoinlandsprodukt gibt,
aber auch ein gutes Sozialsystem. Dabei zählt weniger der Reichtum, als die
Lebensqualität der Menschen. Panama mag wirtschaftlich wachsen, aber es
muss die Ungleichheit beheben, die indigene und ländliche Bevölkerung integrieren – und da sind wir von der ersten Welt noch meilenweit entfernt.“
16. Alles fließt
Nun stehe ich wieder hier, wo für mich alles angefangen hat. Ich lehne
mich über die Brüstung der gewaltigen Schleusenanlage und lasse, nun als
„Insider“, den Blick auf das weite Meer und die wartenden Schiffe auf mich
wirken. Ich habe mit sehr vielen Leuten gesprochen, unzählige Meinungen
gehört und bin oft nach meiner eigenen Meinung gefragt worden. Hat mir
gerade jemand logisch darlegen können, warum der Kanal unbedingt erweitert werden muss, höre ich kurze Zeit später einem glühenden Ausbaugegner zu und fühle mich wie ein Fähnchen im Wind. Bei der Übergabe des
Kanals vor sechs Jahren, und als der Kanal nach langem Kampf endlich ihnen gehörte, haben sich die Panamaer kollektiv gefeiert – jetzt spaltet der
Kanal die Nation. Er ist in Panama mehr als ein Wirtschaftszweig, mehr als
ein Handelsplatz – er ist geknüpft an das Nationalgefühl, das kollektive Gedächtnis und die eigene Identität eines jeden Panamaers. So lässt er hier niemanden unbeteiligt. Dennoch ist er für die einen ein lukratives Geschäft, die
anderen sehen sich, zu Recht, in ihrer Existenz bedroht, sollte der Ausbau
tatsächlich fortschreiten und zu Lasten der Ärmsten gehen, die dann alles
verlieren würden – früher oder später.
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Panama
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Die ungerechte Verteilung des Reichtums anzugehen, darin sollte der Ansatz für grundlegende soziale, wirtschaftliche und politische Umwälzungen
liegen. Erst wenn dieses Problem gelöst ist, gehört der Kanal wirklich allen
Panamaern, nicht nur auf dem Papier.
17. Letzte Meldungen
Eigentlich war das Schlusswort dieses Berichts längst geschrieben, doch
dann erreichten mich diese Meldungen:
14.10.2006:
„Nicaragua will eine Wasserstraße vom Pazifik zum Atlantik bauen. Das
kündigte der Präsident des mittelamerikanischen Landes, Enrique Bolaños,
jetzt in Managua an. Der Kanal soll Nicaragua auf einer Länge von 280 Kilometern durchqueren, 18 Milliarden Dollar kosten und in zwölf Jahren fertig gestellt sein. Schiffe mit einem Volumen bis zu 250.000 Tonnen könnten
den Kanal durchfahren. Der Panama-Kanal erlaubt in seiner derzeitigen
Form nur Schiffe bis 80.000 Tonnen.“ (La Prensa)
23.10. 2006:
„78 Prozent der Wähler votierten für den Plan, den Panama-Kanal zu erweitern. Rund 22 Prozent stimmten gegen das Projekt. Die niedrige Wahlbeteiligung von nicht einmal 40 Prozent führen die Behörden auf das im
Fernsehen übertragene Fußballspiel zwischen Barcelona und Real Madrid
zurück.“ (AFP)
81
Annika Fischer
aus Deutschland
Stipendien-Aufenthalt in
Surinam
vom 18. Oktober bis 30. November 2005
83
Surinam
Annika Fischer
Gesichter Surinams
In einem Winkel Südamerikas wohnt die ganze Welt
Von Annika Fischer
Surinam, vom 18. Oktober bis 30. November 2005
85
Surinam
Annika Fischer
Inhalt
1. Zur Person
88
2. Jeder ein Fremder, alle Surinamer – „wan pipel“: ein Volk?
88
3. Billige Arbeiter – reiche Kultur: zur Geschichte
90
4. Unter uns: die Hindustaner
94
5. Keine Angst vorm schwarzen Mann: die Kreolen
95
6. Alles, was die Welt zu bieten hat
98
7. Die „echten“ Surinamer: die Indianer
99
8. Freiheit und Feiertag für alle
101
9. Arm und schön: die Javaner
103
10. Arm und arm ist nicht dasselbe
104
11. Bitte lächeln: die Chinesen
105
12. Die Mischung macht’s – oder nicht?
107
13. Alle fremd, jeder ein Surinamer
110
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Annika Fischer
Surinam
1. Zur Person
Annika Fischer, Jahrgang 1971, studierte Publizistikwissenschaft, Romanistik und Politologie in Münster, volontierte nach dem Examen bei
der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ) in Essen und ist dort seit
Sommer 2001 als Reporterin tätig. Nach verschiedenen Redaktions-Hospitanzen im In- und Ausland wurde bei einem Stipendien-Aufenthalt in den
Niederlanden im Jahr 2004 ihr Interesse für dessen ehemalige Kolonien geweckt und damit die Reiselust nach Surinam – das frühere NiederländischGuyana – entfacht.
2. Jeder ein Fremder, alle Surinamer – „wan pipel“: ein Volk?
Wer auf der Welt kennt schon Surinam? Dabei ist in Surinam die ganze Welt.
Aus allen Ecken der Erde zogen die Menschen im letzten halben Jahrtausend in das fruchtbare Land an der „wilden“ Nordküste Südamerikas, und
womöglich nirgends sonst haben sich die Kulturen so vermischt wie hier.
Ein Wort legt sich da sogleich auf die Zunge, es heißt „Schmelztiegel“; und
von „Eintopf“ spricht ja auch die Bevölkerung selbst. Von „Moksi“ in ihrer
eigenen Mundart, einem Von-Allem-Etwas, das man ebenfalls essen kann.
Nur muss das noch nicht schmecken: Denn in der Sprache der eben erst abgereisten niederländischen Kolonialherren ist so ein Eintopf ein „Stamppot“
– und das sagt viel über Lust und Last dieses Zusammen-Lebens. Über das
Miteinander von Menschen, die zwar alle Surinamer sind. Obwohl es den
Surinamer gar nicht gibt.
Die Stimme der Frau auf dem Podium kippt, sie schreit zu viel und schon
zu lange an diesem Tag: „In Worten sind wir Surinamer“, klingt es hinter
dem blumengeschmückten Mikrophon, „aber in Taten sind wir Neger, Javaner, Hindustaner, Indianer!“1 Die Frau hat eine Botschaft, aber kaum jemand
hört zu: „Wir müssen ein Volk werden, das darf kein Märchen bleiben!“ Und
es folgt aus krächzendem Hals ein Gedicht: „Ik zou jullie willen binden tot
een volk“ – „Ich würde Euch verbinden wollen zu einem Volk.“
1
Die begriffliche Zuordnung der verschiedenen Bevölkerungsgruppen soll im Folgenden aus dem surinamischen Niederländisch übernommen werden. Danach wird unterschieden nach stadcreolen, „Stadtkreolen“, den dunkelhäutigen Bewohnern der Städte mit durch ethnische Durchmischung unterschiedlich dunkler Hauttönung, den Nachfahren freigelassener oder freigekaufter Sklaven, auch stadneger genannt. Der in Europa als politisch unkorrekt geltende Begriff des
„Negers“ wird von den Surinamern selbst zur vorurteilsfreien Bezeichnung der Schwarzen gebraucht. Im Inland leben die
boslandcreolen, auch bosneger oder marrons genannt, Nachkommen der weggelaufenen Sklaven, die bis heute ein Stück
westafrikanischer Kultur im südamerikanischen Urwald bewahrt haben. Unter hindostanen, den „Hindustanern“ versteht
man die Nachfahren der Einwanderer aus den britisch- sowie niederländisch-indischen Kolonien, mit dem Wort javanen,
„Javaner“, werden die Nachkommen der Plantagenarbeiter aus Niederländisch-Indien zusammengefasst. Alle Begriffe
sollen, obwohl im Deutschen nicht gebräuchlich, zur klareren Zuordnung hier ebenfalls gebraucht werden.
88
Surinam
Annika Fischer
Ich würde wollen? Was ist da noch zu wollen: Surinam feiert heute, und es
feiert „in Eintracht und Harmonie“. So steht es auf den Fahnen und Transparenten, die die Hauptstadt schmücken schon lange vor diesem 25. November: Unabhängigkeitstag. So steht es auf den Telefonkarten, die die Kommunikationsgesellschaft eigens druckte, dazu ein Foto mit den Gesichtern
der Kontinente. Auf dem Unabhängigkeitsplatz vor dem Präsidentenpalast
in Paramaribo wiegen tiefschwarze Frauen zur Musik des „Prodowaka“, der
Parade der Kulturen, ihre Hinterteile, in bunte Schnüre gekleidete Indianerinnen den Busen und Libanesinnen in Seide den Bauch. „Lang lebe Surinam!“, schallt es aus Lautsprechern, ein paar weiße Touristen fotografieren,
und der Kinderchor singt ein Lied: „So viele Menschen, so viele Hautfarben – aber nur ein Volk!“
Ein Volk?
Der Entwicklungsprozess, schreibt der ehemalige Surinam-Korrespondent Armand Snijders, stagniert auch durch die immer wieder aufbrechenden ethnischen Gegensätze. Indianer, Hindustaner, Kreolen, Javaner,
Chinesen und Europäer fahren alle soviel wie möglich ihren eigenen Kurs
und halten sich fest an ihrer vertrauten Kultur. Solange die Bevölkerungsgruppen sich nicht wirklich als Surinamer fühlen, werden sie miteinander
nie eine Nation bilden.
In den Niederlanden, bis 1975 „Mutterland“ des damaligen Niederländisch-Guyana, ist seit den Herbstwochen des Jahres 2004 die Diskussion
über die multikulturelle Gesellschaft voll entbrannt. Debattiert wird über
den Umgang mit Immigration und Integration, über die Frage, ob der Traum
von einer Bereicherung durch Einwanderer nicht eher der Alptraum einer
Schwächung ist. Viele der zugewanderten Bürger, um die es in dieser Debatte geht, kommen aus Surinam. Aber gerade dieses Surinam, das wirtschaftlich noch immer an der Hand des früheren Kolonialherren geht, ist scheinbar ein Beispiel für einen friedlichen Vielvölkerstaat. Nach Angaben des
Niederländischen Tropeninstituts verfügt kein Land der Welt über Einwohner so vielfältigen Ursprungs: indianische Ureinwohner, die Nachkommen
schwarzafrikanischer Sklaven, Inder, Indonesier, Brasilianer, Chinesen, Libanesen und Europäer. „Die kleinen Vereinten Nationen“, nennen die Surinamer selbst ihr Land gern und behaupten, in ihrem Winkel der Welt fühle
sich jeder Mensch am wenigsten isoliert.
Ein Vorbild?
Oder in Wirklichkeit nur ein mühsames Nebeneinanderher – statt Zusammenleben?
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Surinam
3. Billige Arbeiter – reiche Kultur: zur Geschichte
Surinam, das als eigener Staat erst seit 1975 besteht, könnte Lösungen anbieten für das Rätsel: Wie funktioniert eigentlich Integration? Und ist diese Integration eine – die! – Stärke dieses kleinen Landes oder gerade seine
Schwäche?
Seit dem ausklingenden Mittelalter wechselten sich Engländer und Niederländer als Kolonialherren an der „Wilden Küste“ ab. Sie ließen sich nieder an
der Nord-Ost-Küste Südamerikas, eingezwängt auf 163.000 Quadratkilometern zwischen Guyana und Französisch-Guyana, dem Atlantischen Ozean und
den Urwäldern des Amazonas, begrenzt im Süden vom großen Nachbarn Brasilien. Nach mehreren Kriegen schlossen sie im März 1667 den Frieden von
Breda: Surinam kam endgültig in die Hände der Niederländer, die im Tausch
dafür Nieuw-Amsterdam hergaben – das heutige New York. Das Ende der Kolonie „Niederländisch-Guyana“ besiegelte Königin Juliana erst Mitte der 70er
Jahre, der Unabhängigkeitstag jährte sich im November 2005 zum 30. Mal.
„Wie wir hier auch zusammen kamen“, so beginnt die surinamische Nationalhymne. Den Reichtum an Kulturen verdankt das Land seinem Reichtum
an Rohstoffen – und der Fruchtbarkeit unter tropischer Sonne. Die Europäer machten sich vor allem letztere zu Nutze: Sie legten Plantagen an entlang der breiten Flüsse, die sich, wie kleinere Brüder des Amazonas, durch
den dichten Regenwald ziehen. Mit Zuckerrohr und Zitrusfrüchten machten
sie das große Geld. Auf alten Karten ist noch zu sehen: Kaum ein Meter an
der Oberläufen der Ströme war nicht kultiviert und bebaut, „Welgelegen“
hießen die Ansiedelungen, „Vredenburg“ oder „Nieuw Amsterdam“; in der
Hochzeit der Zuckerindustrie wurden 450 Farmen gezählt.
Die Arbeitskräfte holten sich die reichen Pflanzer zunächst aus West-Afrika. Auf engen Sklavenschiffen wurden Tausende gegen ihren Willen und
unter menschenunwürdigen Bedingungen in die Karibik verschleppt, viele
überlebten die Überfahrt nicht. Die Bedingungen, unter denen die, die überlebten, weiterlebten, sorgten dafür, dass die Reise nach Surinam als besonderes Unglück galt. Als 1863 endlich auch die Holländer die Sklaverei abschafften und viele der neuen Freien jede weitere Arbeit für ihre alten
Herren verweigerten, brauchte die Landwirtschaft dringend neue, billige
Arbeitskräfte: So wurden zunächst Chinesen ins Land geholt, später folgten
ganze Familien aus den Ländern Britisch-Indiens dem Lockruf der Farmer,
mit dem auslaufenden 19. Jahrhundert Zigtausende Arbeiter aus Java (Niederländisch-Indien). Sie alle folgten vollmundigen Versprechen, sie kamen
in der Erwartung des großen Geldes und einer baldigen Rückpassage in die
Heimat. Doch waren sie nichts als billige Vertragsarbeiter, und die Schiffe,
die sie heimbringen sollten, gab es nicht. So siedelten sie sich dauerhaft an,
90
Surinam
Annika Fischer
in konzentrischen Kreisen um das Zentrum der Hauptstadt Paramaribo, je
später ihre Ankunft, desto weiter außerhalb ihre fast monoethnischen Wohnviertel. Unter ihnen ließen sich in der Folge chinesische und auch libanesische Händler nieder, die hier auf eine gut situierte Zukunft hofften, immerhin waren die Kolonialisten als reiche Lebeleute bekannt.
Doch genau dieses protzige Leben wurde bald zu teuer. Die Kosten für die
Zuckerproduktion stiegen, auf dem Weltmarkt sank die Nachfrage, zu lange lebten viele Plantagen-Eigner auf Pump. Das Wirtschaftssystem wankte,
und spätestens im 20. Jahrhundert erlebte Surinam den endgültigen Verfall
seiner Plantagenkultur. Die Blütezeit des Landes war am Ende, die Zuckerindustrie starb – doch die Menschen aus aller Herren Länder blieben. Und
kämpften fortan um ihre Kultur: die eigene, das Beste der anderen oder die
einzige, die alle zu binden vermochte – die niederländische.
Heute sind sie alle auf der Straße, sie kommen aus ganz Paramaribo, sie
reisten in diesen buntbeklebten schiefen und schnaufenden Kleinbussen aus
Nickerie an der Grenze zu Guyana an, das einmal britisch war, und aus Albina an der Grenze zu Französisch-Guyana, das bis heute französisch ist.
Sie kamen in hölzernen Booten, gebogen aus ausgehöhlten Baumstämmen,
aus den Dörfern entlang der Flüsse; die Schwarzen aus dem tiefen Osten
und Süden, wo es nichts gibt außer dem immer gleichen Regenwald, der
das Land zu 90 Prozent bedeckt; diese Menschen vom Rande der Gesellschaft, die sie Marrons nennen oder „Bosneger“: „Waldneger“. Es reisten
die Indianer an aus der Savanne gleich südlich der Hauptstadt oder von den
Ufern des Tapahony und des Marowijne, tief aus dem Landesinnern oder
von dort, wo das Land hinter dichtem Dschungel an den atlantischen Ozean stößt. Sie mögen alle unterschiedliche Hautfarben tragen, aber darüber
einheitlich die Landesfarben: rot, gelb, grün, weiß. Sie tanzen unterschiedliche Tänze, aber sie tanzen zusammen auf denselben Straßen und Plätzen.
Sie trinken Parbo-Bier, das eigene aus den Literflaschen, und essen indonesisches Bami aus Plastikschalen, garniert mit Satéspießen und ErdnussSoße – die surinamische Bratwurst. Sie strömen in eine Kunstausstellung,
die das Motto „Zusammengehörigkeit“ trägt, sie singen gemeinsame Lieder.
Sie sprechen untereinander ihre eigenen Sprachen, aber miteinander Niederländisch oder einen einheimischen Slang, das „Sranan Tongo (SurinamZunge)“, auch „takitaki“ oder „negerengels, Negerenglisch“ genannt, gewachsen aus der alten, geheimen Kontaktsprache der Sklaven. Das ist sie
wohl, die vielgerühmte „eenheid in verscheidenheid“, die Einheit in der Unterschiedlichkeit. „30 Jahre“ haben sie auf die Stoffe ihrer Kleider gedruckt,
30 Jahre ist Surinam unabhängig, so lange sind die niederländischen Kolonialherren fort (und um das zu feiern, haben sie sie diesmal zum ersten Mal
wieder eingeladen).
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Annika Fischer
Surinam
In jener Zeit entwickelte sich in der Hauptstadt eine bürgerliche Oberschicht aus vor allem hellerhäutigen Nachkommen der Pflanzer, eine kreolische Elite mit einem gewissen Überlegenheitsgefühl gegenüber den Indianern und den dunklerhäutigen Nachfahren weggelaufener Sklaven, die im
Binnenland ein einfaches (Über-)Leben führen. Als 1954 das Mutterland
für Surinam ein Autonomiegesetz erließ, gründeten die Volksgruppen in der
Stadt sofort eigene Parteien. (Noch bei den Wahlen 2000 stellten sich 23 zur
Wahl, jede ethnische Strömung war vertreten – und um des lieben Friedens
willen bekommt noch immer fast jede einen eigenen Sessel im Kabinett,
um ihre Gefolgschaft zu versorgen.) Die Entlassung in die Selbstständigkeit 1975 hinterließ das Land zwar wirtschaftlich zunächst stabil, politisch
aber zerstritten – Tausende verließen Südamerika und entschieden sich, ihren niederländischen Pass zu behalten.
Gut 490.000 Einwohner leben heute noch im Land, davon die Hälfte in
der Hauptstadt Paramaribo. Über 200.000 weitere Surinamer zog es ins Ausland. Viele sehen sich bis heute als Bürger Surinams – aber in der alten Heimat keine Zukunft mehr. Denn von der einst blühenden Plantagen-Industrie
ist nichts geblieben außer ein paar restaurierter Farmhäuser, in denen die
wenigen Touristen absteigen und frisch gepressten Saft bestellen und einer
kleinen Kaffeefarm, die ebenfalls nur von der Neugier der Ausländer lebt.
Der Rest: verfallen. Die letzte Zuckerfabrik in Staatseigentum fiel nach jahrelanger Misswirtschaft kürzlich in durchaus malerische Trümmer; die Natur hat sich das Land zurückgeholt.
Die prallen Goldadern im Landesinnern werden von illegalen Goldsuchern
geplündert; im Schutze der Nacht streifen sie durch den Wald und schaffen
bis zu 80 Prozent des glänzenden Reichtums unbemerkt über die Grenzen. Es
heißt, sie seien nicht dingfest zu machen, ebenso wenig wie die Hunderte, die
im Dickicht des Regenwaldes ganze Drogenfabriken unterhalten und von dort
den Stoff per Lkw und Schiff außer Landes schaffen. Dabei gibt es auch professionelle Firmen, meist aus Brasilien, die an den Flussufern ganz offen und
für jeden sichtbar ihre Goldwäschereien betreiben, und ganze Dörfer, die vom
Drogenhandel leben. Aber niemand greift ein: Staatliche Sicherheitsinstanzen
fehlen oder sind überlastet, überdies gilt es als gegeben, dass ganze PolitikerDynastien an den Geschäften mit Gold und Kokain mitverdienen. Das einst
reiche Vorkommen an Bauxit, das den Industrieländern als Rohstoff für Aluminium dient und die wenigen Straßen von der Hauptstadt ins Landesinnere
rot färbt, ist bald erschöpft und wird bis dahin von einem Unternehmen aus den
Vereinigten Staaten abgebaut. Hier immerhin gibt es noch Arbeitsplätze für die
heimische Bevölkerung. Die Rechte an den unlängst entdeckten Ölfeldern vor
der Küste verkaufte die Regierung an Kanada – und unterschrieb einen Vertrag, der dem Staat eine Ertragsbeteiligung von nicht einmal fünf Prozent zu92
Surinam
Annika Fischer
gesteht. Und der Tourismus? Steckt noch in den Kinderschuhen. Bislang und
trotz finanzieller Unterstützung aus europäischen Fonds zur Entwicklungshilfe besichtigen fast ausschließlich Niederländer ihre ehemalige Kolonie, und
die bleiben allenfalls zehn Tage, bevor sie sich in der Karibik wieder davon
erholen. Für Reisende aus dem Rest der Welt ist das Land mit seinen unendlichen Waldgebieten und dem zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärten historischen Stadtzentrum Paramaribos ein weißer Fleck auf dem Globus.
Das unabhängige Surinam also erlebte einen Fehlstart und ist bis heute
nicht wieder auf die Beine gekommen. Machthunger und Fälle von Wahlbetrug führten zu Volksaufständen, einem Militärputsch und in der Folge
zu den „Dezembermorden“, die das Land in den 80er Jahren in den Bürgerkrieg führten und bis heute schmerzende Wunden hinterließen. Die Niederlande drehten damals finanziell den Hahn zu, die „Verdragsmiddelen“, festgelegte Entwicklungsgelder, wurden jahrelang eingefroren. Zugleich verlor
das Bauxit auf dem Weltmarkt an Wert.
Zwar kam mit den Wahlen von 1991 der Demokratisierungsprozess wieder
in Gang. Doch der Fortschritt ist in Surinam ein schleppender Schritt. Noch
immer haben die alten Machthaber ihre Seilschaften, und der mutmaßliche
Drahtzieher der Dezembermorde, bis heute nicht verurteilt, nicht einmal angeklagt, eroberte bei den letzten Wahlen vor allem unter der Landbevölkerung Stimmen und damit erneut einen Platz im Parlament. Das macht die
Beziehungen zur den Niederlanden nicht leichter; das frühere Mutterland tut
sich mit der Unterstützung der einstigen Kolonie nach wie vor schwer – und
die Staatskasse Surinams ist leer. Jahre ökonomischer Misswirtschaft und
Korruption haben das Land nach Einschätzung des Niederländischen Tropeninstituts inzwischen zu einem der ärmsten Südamerikas gemacht, und
keiner Regierung gelang es bisher, die Strukturprobleme wirklich anzupacken. Lag das durchschnittliche Jahreseinkommen eines Surinamers 1980
noch bei über 3.000 Dollar, wurde es 1999 mit kaum noch 760 Dollar angegeben; 70 Prozent, sagen Schätzungen, leben unter der Armutsgrenze. „Gut
verdienen“ könnten in diesem Land allein die Beamten – aber sie sind viel zu
viele: Um ihre Seilschaften zu versorgen, schufen die führenden politischen
Köpfe über Jahrzehnte einen übergewichtigen Beamtenapparat, dessen Mitglieder nicht einmal mehr Arbeitsplätze haben und die folglich gar nicht erst
zur Arbeit kommen; die keiner mehr zählen und schon gar nicht mehr bezahlen kann. Auch die Selbstversorgung hat das Land verlernt: Trotz seiner
fruchtbaren Böden wird kaum mehr selbst angebaut in Surinam, selbst Reis,
Zucker und Zitrusfrüchte werden im einstigen Königreich des Zuckers inzwischen importiert. Die Armut hat Auswirkungen auf Gesundheitsversorgung und Bildung – aber auch auf die Kriminalität: Der Drogenhandel zwischen Surinam und den Niederlanden blüht.
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Surinam
4. Unter uns: die Hindustaner
In der ersten Etage des Marktes von Paramaribo, wo über der Fleischerhalle beinahe kein Licht mehr ins Gebäude fällt, verkaufen die Hindustaner
Textilien. Fast alle Kleiderläden in der Stadt gehören ihnen, aber hier ist die
Ware am billigsten. Markenshirts vor allem, alles gefälscht, aber günstig,
und man darf noch handeln. Über den Preis für das Fußballtrikot der brasilianischen Nationalmannschaft will der Händler trotzdem nicht mehr reden:
„Die Chinesen unten auf der Straße, ja, die verkaufen dir das Ding für 202,
aber das hier ist brasilianische Ware.“ So böse auf die Chinesen? Während
draußen die Leute ihren Unabhängigkeitstag feiern, sich selbst und dass sie
ein Volk sind? „Und was hat das Land davon? Wir sind reich, eigentlich, wir
haben doch alles. Aber wir merken nichts davon. Zusammenleben, ja...“ Der
Mann zuckt die Schultern. „Aber gegen die Kreolen darfst du dann nichts
sagen. Obwohl – na ja. Umgekehrt geht das natürlich auch nicht.“
Es war der 5. Juni 1873, als das erste Segelschiff mit 400 Immigranten
aus Britisch-Indien an der Küste Surinams anlegte; bis 1916 folgten weitere
63 Boote, mit 30.000 Menschen an Bord, die meisten aus Uttar-Pradesh, aus
der Ganges-Ebene. Ein Denkmal am damaligen Ankerplatz trägt die niederländische Aufschrift: „Waar het mij goed gaat is mijn vaderland – Wo es mir
gut geht, ist mein Vaterland.“ Dieses Land, in dem es den ersten Vertragsarbeitern nicht immer gut ging, zählt heute 135.000 Bürger indischer Abstammung, sie bilden die größte ethnische Einheit, ein knappes Viertel der
Bevölkerung. Ungefähr ein Fünftel ist muslimischen Glaubens, die meisten
anderen sind Hindus. Davon abgeleitet und von „hindustan“, dem HindiWort für Indien, bekamen die Surinamer indischer Abstammung ihren Namen, „Hindustaner“. Die Hindustaner in Paramaribo und Nieuw Nickerie
haben den Ruf, sparsam und fleißig zu sein.
Sie sind die größte Bevölkerungsgruppe und haben sich im letzten halben Jahrhundert wichtige Schlüsselpositionen der politischen Elite erkämpft.
Trotzdem gelten sie als zurückhaltende Mitglieder der Gesellschaft, die lange Zeit die westlichen Lebensformen ablehnten, ihre Kultur und Tradition
als Volk im Volk pflegen und am liebsten unter sich bleiben. Ihre Voodooähnlichen Rituale sind allgemein bekannt und doch tabu. Junge Mädchen
als Bräute zu verkaufen, ist bei den Hindustanern nicht ungebräuchlich.
Statistiken zufolge herrscht unter den jungen Inderinnen Surinams eine der
höchsten Selbstmordraten der Welt; viele stürzen sich aus unerfüllter Liebe
2
Landeswährung ist der Suriname-Dollar (SRD); 10 SRD entsprechen etwa 2,9 Euro (EUR)
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Surinam
Annika Fischer
von den Brücken: Denn seine Tochter einem schwarzen Jungen zu geben,
gilt unter den indischen Familien des Landes als Schande.
Aber was heißt schon „schwarz“ in Surinam?
5. Keine Angst vorm schwarzen Mann: die Kreolen
„In Surinam“, sagt die Schriftstellerin Cynthia McLeod, „ist ein Neger nur
ein Neger, wenn er wirklich zu 100 Prozent Neger ist.“ Schwarz und Weiß
nämlich, das gibt den klassischen Mulatten, sagt Cynthia auf ihrem Boot, mit
dem sie Touristen zu den verfallenen, überwucherten Plantagen bringt, und
bis dahin können ihre Gäste ihr noch folgen. Aber dann ist das Kind eines
Mulatten und einer Schwarzen ein „Karboneger“, und wenn der eine Mulattin heiratet, gibt es den „Sambo“. Nimmt der Mulatte hingegen eine Weiße, werden „Mesties“ geboren, die mit weiteren Weißen wiederum „Casties“
zeugen. Noch mal Weiß gefällig: macht „Poestis“. Das zeige, sagt Cynthia
und lacht ein wenig spöttisch über die entstandene Verwirrung, „dass die
Menschen verschiedener Farben ganz normal miteinander umgehen“.
In ihren Büchern hat sie beschrieben, wie mühsam das oft war. Cynthia
McLeod, Tochter eines ehemaligen surinamischen Staatspräsidenten, hat
eine Reihe von Bestsellern verfasst über das Volk der Völker. Sie vertiefte
sich bis auf den Grund in die Geschichte ihrer Heimat und schrieb in mehreren Romanen alles auf: wie die Völker einwanderten und sesshaft wurden
und sich miteinander mischten, jede Geschichte eine Familiensaga. „Guck
mal an“, lässt sie in ihrem Erstling „Hoe duur was de suiker (Wie teuer war
der Zucker)?“ den Abgesandten einer Amsterdamer Bank sagen: „Ich hätte nicht gedacht, in diesem fernen Surinam so etwas Liberales vorzufinden
wie gemischte Ehen.“ Die Szene datiert aus dem Jahr 1765. Also doch: Alles kann und alles darf? Nun – Cynthia McLeod hebt warnend den Zeigefinger: „Eine Frau heiratet niemals einen dunkleren Mann, das ist ein ungeschriebenes Gesetz.“ Es gibt auch eins, in dem (nicht) steht, Ehen zwischen
Stadt- und Boslandkreolen seien nicht erwünscht.
Das politisch angestrengt korrekte Europa würde aufschreien, aber in
Surinam sind manche Farbige sogar stolz auf den Namen, den sie seit Jahrhunderten tragen: „neger“. Niemand erregt sich über die Unterscheidung
in „stadneger“ und „bosneger“, Stadt- und Waldneger, wohl aber darüber, dass diese Unterscheidung zuweilen vergessen wird. Denn Schwarz
ist nicht gleich Schwarz in Surinam. Die Boslandkreolen oder Marrons,
deren Zahl sich in den letzten drei Jahrzehnten auf 72.000 verdoppelte,
sind Nachkommen der weggelaufenen Sklaven, die im 17. bis 19. Jahrhundert von den Farmen ihrer Eigentümer flohen und aus der Sicherheit
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Surinam
des Dschungels einen zum Teil blutigen Partisanenkampf gegen die weißen Herren führten. Während des Bürgerkriegs in den 80er Jahren flüchteten sie ein zweites Mal, zu Tausenden in die Stadt oder ins angrenzende
Französisch-Guyana, die meisten aber blieben bis heute in der Vertrautheit ihrer traditionellen Dörfer entlang der Flüsse. Sie ernähren sich von
Fischfang, Jagd und dem Ertrag winziger „kostgrondjes“, ein paar Quadratmetern gerodeten Urwalds, nicht einmal so groß wie ein europäischer
Kleingarten, wo einheimische Nutzpflanzen unkultiviert aus dem Boden
sprießen. Sie verehren ihre Vorväter und gehorchen ihrem „granman“ und
seinen Helfern, den „kapiteins“. Die Boslandkreolen machen knapp zehn
Prozent der Gesamtbevölkerung aus, haben ein mühsames und größtenteils
autarkes Auskommen und ihre eigenen Gesetze: So ist es etwa gang und
gäbe für die Männer, mehrere Familien in mehreren Dörfern zu haben –
die „surinamische Ehe“. Durch die Abgeschiedenheit, in der diese zumeist
tiefschwarzen Menschen bis heute leben, hat sich im Herzen Surinams die
westafrikanische Kultur besser erhalten als in Westafrika selbst: Ethnologen haben dieses Phänomen in den letzten Jahren zunehmend für ihre Forschungen entdeckt.
Die Stadtkreolen hingegen stammen von den Sklaven ab, die nach ihrer
Befreiung 1863 in Paramaribo ein neues bürgerliches Leben aufbauten. In
den Jahrhunderten hat sich ihr Blut vermischt mit vor allem dem der weißen
Bevölkerung. „Rote Neger“ nennt man die Mulatten. Die Stadtkreolen bilden mit 87.000 die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe in Surinam; es gibt eine
gehobene Schicht, die Zugang hat zu Arbeit, Gesundheitsversorgung und
den Schalthebeln der Macht, aber auch eine große sozial schwache Schicht
in den heruntergekommenen Stadtvierteln, von der es heißt, sie sei nach
den Epochen der Versklavung nicht mehr bereit zu arbeiten und grundsätzlich benachteiligt. Doch Arm und Reich haben eines gemein: Eine Mehrheit
fühlt sich der Waldbevölkerung überlegen, hält jene für faul und kriminell.
Danach müsste man Isaak mal fragen.
Isaak ist 59, er gehört zum Stamm der Ankaner und fährt schon sein Leben lang auf dem Marowijne Rivier, mit diesen langen schmalen Holzbooten, die sie Corjal nennen und für die sie Baumstämme aushöhlen und dehnen. „Die in der Stadt“, sagt Isaak, „tun nichts für uns. Guck dich doch um:
kein Licht, kein Laden, jeder muss hier für sich selbst sorgen.“ Nur im Wahlkampf, sagt er, kommen sie und versprechen vieles, und dann kommt vielleicht wirklich ein Generator wie neulich nach Drietabbetje, aber dann vergessen sie den Diesel oder haben kein Geld mehr dafür. „Die reden nur, aber
sie machen nichts. Wir fühlen uns vernachlässigt.“ Aber darauf sind sie doch
immer stolz gewesen, auf ihre Selbstständigkeit? Da richtet sich Isaak auf,
der Stolz ist in diesem Moment Isaak persönlich: „Die Stadtkreolen halten
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Surinam
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sich für was Besseres, aber das ist nicht so! Wir sind hier nicht die Kleinsten,
und wir schämen uns nicht!“
Unten am Fluss bauen sie jetzt einen Staudamm, die Arbeiter sind Männer aus dem Dorf am Ufer, aber dreimal in der Woche fliegt aus der Stadt
ein Aufseher ein, sagt Isaak: „Das Geld sollen sie lieber den Menschen
geben.“ Diese Mentalität!, erregt sich der Alte, ohne sich eigentlich noch
wirklich aufzuregen, „nur weil sie mehr sind als wir“. Aber warum gehen
dann so viele in die Stadt und verlassen ihre Siedlungen? Um Geld zu verdienen, nur deshalb. Aber das sei eine Einbahnstraße. Kein Lehrer will doch
in die zurückgebliebenen Ortschaften an den Oberläufen der Flüsse, wo
die Kinder mit Booten zu Schulen gebracht werden, die nach dem Bürgerkrieg den Bildungsrückstand der Boslandkreolen nie mehr aufholen konnten. Und auch die Touristen aus dem eigenen Land bleiben aus: „Alle lieben
das Inland, aber frag mal in Paramaribo – vielleicht fünf von hundert waren
je bei uns.“ Dabei haben sie in der Stadt Probleme, „da gibt es Banditen,
und du kannst nicht gut schlafen. Die Freiheit ist hier, hier fühle ich mich
sicher“. Isaak braucht die Stadtkreolen nicht. „Ich fühl mich gut, weil ich
Bosneger bin.“
Und die Integration? „Die Zeiten ändern sich. Wir leben alle zusammen,
also sind wir wohl ein gemischtes Volk.“
Jemand zu sein in diesem buntgemischten, armen Land, ist nicht abhängig vom Einkommen. Es ist abhängig von der Herkunft. Deshalb sind Zahlen über Bevölkerungszugehörigkeiten selten verlässlich: Surinam ist das
Land der „halfbloedjes en mixmaksen“, der „Halbblütchen und Mischmaschen“, und bei Volkszählungen darf jeder sich dort einordnen, wo er sich
am ehesten zu Hause fühlt. Und deshalb funktioniert in Surinam kein Kennen Lernen ohne diese Frage: Und was haben Sie für Blut? Niemand würde
diese Frage seltsam finden, sie wird erwartet und gehört zum Vorstellungsritual wie anderswo die Nennung des Berufs: „Dies ist meine Kollegin, sie
ist Inderin, aber sie hat auch indianisches Blut.“ Eine Personenbeschreibung
beginnt immer so: „Ich habe einen Freund, der ist Bosneger und verheiratet mit einer Mulattin.“ Selbst Kinder reden auf diese Weise über sich: „Ich
heiße Janine. Ich bin sechs und halb hindustanisch und halb javanisch“, berichtet ein Journalist von seiner Begegnung mit einem kleinen Mädchen.
„Nein“, sagte der Mann, „Du bist Surinamerin.“ Es lag ein wenig Spott in
diesem Satz, aber die Kleine antwortete ganz ernsthaft: „Ich bin ganz Surinamerin, aber halb hindustanisch und halb javanisch.“
Das klingt nun so, als ob sich alles mischt. Die „Moksi“, die Gemischten,
glaubt die Publizistin Jeannette van Bodegraven, die selbst lange in Surinam
lebte, „sind die Surinamer der Zukunft: die alle Kulturen in sich tragen“.
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6. Alles, was die Welt zu bieten hat
Cynthia McLeod steht an der Straßenecke, Telefon in der Hand, Touristen
an ihrer Seite. So ist das immer: Cynthia, Straßenecke, Handy, Touristen.
Surinam wäre womöglich irgendwie leer ohne dieses Bild, denn irgendwie
ist Cynthia Surinam. Viel jüdisches Blut, sagt sie über sich, indianisches
auch und kreolisches. Ihre Urgroßmutter saß auf dem ersten Schiff, das aus
Indien in Paramaribo vor Anker ging. „Nur Chinesisch fehlt mir, aber Chinese ist dafür mein Mann.“ Also haben die Kinder alles, außer Java, aber das
liefern nun die Enkelkinder zu: von der Schwiegertochter. „Een beetje van
alles wat“ – „Ein Bisschen von allem etwas“, sagt Cynthia und zuckt mit
den Schultern. Aber die Menschen wollen es genau wissen, erklärt Cynthia
McLeod, „deshalb fragen sie nach dem Ursprung.“ Aber das sei kein Problem. „Das ist das Schöne an Surinam.“ Je mehr Zweige der Stammbaum
hat, desto spannender, desto schöner.
Aber auch desto verwirrender. Ein „Bisschen von allem“ zu sein, „was die
Welt zu bieten hat“, ist ein großes Kompliment in Surinam. „Gut durchgemixt“ zu sein, bedeutet oft auch: schön zu sein. „Jeder“, schreibt der Journalist Iwan Brawe, „ist eine begehrenswerte Frucht des surinamischen Tuttifrutti.“ Es ist der Betroffenen ganzer Stolz, aber kein Grund, auf Vorlieben
und Vorurteile zu verzichten.
Nehmen wir Stanley Amian, Verkäufer für Autos und auch alles Andere: der
Opa aus Indochina, die Mutter Hindustanerin, die väterliche Familie javanisch,
aufgewachsen unter Kreolen. Stanley sagt, Surinam wäre so reich wie Taiwan,
wenn die Kolonialherren nicht erst Schwarze, sondern gleich Inder ins Land
geholt hätten. Nehmen wir Frank Ramada, Jurist und Reiseveranstalter: Der ist
ein bisschen chinesisch, ein bisschen kreolisch, etwas jüdisch. Er hat zwei weiße Kinder mit einer Belgierin und eine Botschaft für sie: „Behauptet nie, dass
ihr weiß seid, auch wenn ihr so ausseht. Die wichtigste Lektion heißt: Ich bin
schwarz! Vielleicht seid ihr die besseren Schwarzen, aber ihr seid keinesfalls
weiß, das gibt doch nur Ärger.“ Nehmen wir Verré, die Touristen auf Radtouren
begleitet und ihre kreolischen Wurzeln nicht verleugnen kann: „Ich kann jahrelang mit meinen hindustanischen Nachbarn in vollkommener Harmonie leben.
Aber wenn mein Sohn sich in ihre Tochter verliebt, ist alles vorbei.“
Nehmen wir Wibaud, den Fremdenführer, der mit der Frage nach seiner
Herkunft gar nichts anfangen kann: „Ich bin halb Boslandkreole und halb
Stadtkreole. Meistens sprechen mich die Leute sofort in der Landessprache
Sranan Tongo an, die denken wohl, ich komme direkt aus dem Busch. Ich
antworte dann auf Niederländisch. Ist das arrogant? Hey: Ich bin einfach Surinamer! Und am liebsten würde ich eine Ausländerin heiraten. Dann lernen
meine Kinder noch mehr Sprachen und Kulturen.“
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Oder Sirano Zalman: Der Vater von zwei Kindern ist zu einem Viertel Kreole, zu einem anderen Viertel Indianer und zur Hälfte der Nachkomme eines
„boeroe’s“, eines verarmten niederländischen Bauern: weiß. Aber vor allem
ist Sirano Indianer. Ein paar indianische Blutströpfchen sind es nur, doch
sie fließen schwer durch seine Adern. „Mit den anderen Genen ist nichts
falsch“, sagt der Künstler, der in den Niederlanden studierte und nun in der
Heimat seiner Vorväter ein kleines Reisebüro aufbaut. „Aber das Indianische
ist mir von allen am meisten wert.“ Es geht ihm dabei gar nicht um das Indianer-Sein, aber „um die Werte: dass sie so stolz sind und nie klagen“.
7. Die „echten“ Surinamer: die Indianer
Es gibt nicht mehr viele „Indianer“ in Surinam, nicht mehr viele Ureinwohner: „Inheemsen, Einheimische“ genannt. 18.000 ergaben letzte Schätzungen, bei Volkszählungen versteckt sich ihre Zahl unter den 32.000 der
„Übrigen“. Neue, europäische Krankheiten und Kriege reduzierten ihre
Zahl; Mitte des 20. Jahrhunderts drohten sie gar auszusterben. Heute zählt
das Land noch sechs Stämme: die größeren, Arowakken und Karaiben, dazu
noch ein paar kleinere Gruppen: Wajana, Trio, Akurio und Warao. Nicht einmal ein Viertel von ihnen lebt in der Stadt – die meisten sind in ihren Dörfern entlang der Küste und der Savanne geblieben. Ihr Einfluss ist zu vernachlässigen; in Gesellschaft und Politik spielen die „Inheemsen“ fast keine
aktive Rolle. Dennoch kämpfen sie mit wachsender Kraft um die Wahrnehmung ihrer kulturellen Identität.
„Indiaantje“ haben sie Clarita in der Schule genannt, und sie fand das
ganz normal. „Indiaantje“ ist kein Schimpfwort in ihren Ohren, „ich bin
doch Indianerin. Und deshalb sage ich ja auch ,Neger’ zu den Anderen.“
Clarita sagt, die Volksgruppen wüchsen aber immer mehr zusammen, die
Vorurteile gerieten in Vergessenheit. Für sie sind es die Ausländer, die die
Surinamer in Schubladen stecken. Die Indianerin mit dem Blut verschiedener Stämme ist jetzt 25, sie spricht Niederländisch mit ihren Eltern und
hat noch keinen Freund. Mit einem Schwarzen, sagt sie, dürfe sie aber nicht
nach Hause kommen, „noch nicht“. Ihr Nachname erzählt eine andere Geschichte: Oosterwoude ist kreolisch.
Früher haben sich die verschiedenen Stämme der Indianer befehdet, doch
heute halten sie zusammen in dem Versuch, ihre Kultur zu erhalten. Vieles
dabei ähnelt dem autarken Leben der Boslandkreolen: die offenen Holzhütten, die Hängematten, das Geschirr aus den Schalen der Kalebassen,
die „kostgrondjes“, auf denen sie ihr karges Auskommen anbauen. Es ist
das Überleben im selben Dschungel, von derselben Flora und Fauna, auf
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Land, das sie sich genommen haben, das ihnen aber nicht gehört. Oft leben
„Inheemsen“ und „Bosneger“ tatsächlich in direkter Nachbarschaft, doch
ein Austausch findet so gut wie nicht statt. Die Jungen ziehen zunehmend
fort und ihre Dörfer auf diese Weise langsam leer. Zurück bleiben die Alten, singen ihre Lieder und pflücken nach Sonnenuntergang keine Früchte mehr, weil dann die Bäume schlafen. Sie sehen ihre Kinder gehen und
denken daran, was die Schamanen sagen: Im Jahr 2012 wird die ganze Welt
sich verändern. „In 20 Jahren“, sagt einer, der geblieben ist, „gibt es bestimmt gar keine Indianer mehr.“ Sie nennen ihn Terence, aber eigentlich
heißt er „Imejurana“, Treue, und er findet, Multikulti gibt es in der Hauptstadt schon genug.
„Wir sind die echten Surinamer“, sagt der Indianer, der Fritz Rudolph
heißt. „Wir sind die ersten Bewohner dieses schönen Landes, und darauf
sind wir stolz.“ Fritz gehört zum Stamm der Arowakken; er lebt sein Leben
lang in der Savanne und ernährt seine Kinder und Kindeskinder von den
Erträgen seines „kostgrondjes“ und den Früchten der Cashew-Bäume. Er
kennt die Pflanzen des Regenwaldes und ihre heilende Wirkung; er weiß,
wo die Kassavefrucht wächst, aus der die Frauen das Brot backen und die
Männer den scharfen Schnaps trinken. Das ist seine Kultur, und er sagt seinen Kindern das immer wieder: „Eure Kultur ist wertvoll, werft sie nicht
einfach weg, lasst sie nicht verwässern!“ Aber Fritz weiß, dass es nichts nützen wird. „Was die Jungen damit machen... Sie leben längst modern, mit
Schulen, Internet, und immer mehr wollen in die Stadt.“ Sie sind nur noch
ein paar Familien in der Savanne südlich des Flughafens, wo einige wenige von ihnen kleine Töpfereien betreiben, und auch die Nachkommen von
Fritz zieht es nach Paramaribo. Weil er das weiß und nicht verhindern kann,
bringt er ihnen bei, neben der eigenen Kultur auch die der anderen zu achten: „Was uns zusammenhält in diesem Land, ist der Respekt füreinander.“
Der Indianer mit dem deutschen Namen glaubt an den Vater im Himmel und
die Mutter Erde und interessiert sich dafür, was die Anderen glauben: „Ich
muss ja nicht mitmachen, aber ich frage, warum tut ihr das?“ Keiner soll die
Nase rümpfen über eine andere ethnische Gruppe, findet Fritz, denn letztlich seien alle eins: „Du bist Surinamer, oder Du bist es nicht.“ Das sei die
Zukunft: „Die Jugend von heute ist das Volk von morgen.“
Die Entwicklungshilfe der westlichen Welt für die indianische Bevölkerung endet häufig bei der erfolgreichen Missionierung: In den letzten Jahrzehnten wurden die meisten Indianer christianisiert, sind nun offiziell katholisch oder gehören streng-christlichen Gemeinschaften wie den Pfingstlern
an. Das steht im Widerstreit zum Erhalt ihrer Traditionen: Derselbe Indianer, der sonntags unter dem Blätterdach einer Holzhütte zum Christengott
betet, wird im Falle einer Krankheit den „pyai“ anrufen, den Heilkundigen
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des Dorfes, und seine Toten mit traditionellen Riten und dem Segen seiner
heidnischen Götter zu Grabe tragen.
Jacques Majarabai in Christiaandorp hat seinen Sender an diesem Abend
früh geschlossen. In den zwölf Dörfern der Karaiben auf der Halbinsel Galibi zwischen Atlantikküste und Französisch-Guyana bleibt das Radio heute tot, Jacques muss zu einer Trauerfeier. Die Dorfgemeinschaft beweint ein
Baby, das vor einer Woche starb; die Tradition verlangt, dass sich am achten
Tag die Nachbarn zum Gedenken versammeln. Die Großmutter des Kindes
singt ein einsames Klagelied, der Vater reicht Kassiri, ein alkoholisches Getränk aus der Kassave, in Schalen aus der Frucht der Kalebasse. Die Mutter des Babys sitzt unter einem Dach im Dunkeln, sie wiegt den Oberkörper
vor und zurück und blickt schweigend auf die langen Reihen der Dorfbewohner, die vor ihrer Hütte leise reden. Unter ihnen ist auch der Bäcker von
Christiaandorp, das so heißt, seit die Missionare da waren – er ist zugleich
Priester der Pfingstgemeinde und Hüter der kleinen Ortskirche am Strand
unter den Mangrovenbäumen; sie sagen, er sei ein strenger Jünger seines
Herrn. Das Kind, heißt es, sei gestorben, weil die Eltern es nicht ins christliche Krankenhaus bringen wollten. Der Heilkundige des Dorfes aber konnte nicht mehr helfen.
8. Freiheit und Feiertag für alle
Zwei Kulturen in einer Volksgruppe, unzählige im ganzen Land: Surinam
hat den Platz dafür, oder es schafft ihn. Lässt jedem seine Freiheit und auch
seinen Feiertag. Die Kreolen gedenken am 1. Juli, „Keti Koti Dei“, der Abschaffung der Sklaverei; fast 100.000 Hindus feiern das Lichterfest Divali;
66.000 Moslems das Zuckerfest zum Abschluss des Fastenmonats Ramadan; die Chinesen ihren Neujahrstag, und weil die Indianer kein eigenes Fest
hatten, erfanden sie „blank holiday“ – den „Tag der Einheimischen“. Jeder
feiert zudem den vermeintlichen Tag, an dem die ersten Vorväter in Surinam vor Anker gingen; das ganze Land, zur Hälfte christlich, hat frei an den
christlichen Oster- und Weihnachtstagen und feiert, wenn man schon einmal
dabei ist, in schöner Eintracht auch den Tag der Arbeit und Srefidensi, den
Unabhängigkeitstag.
Im Nachbarhaus feiern sie an diesem Tag das Zuckerfest. Alle Verwandten sind eingeladen: Hindustaner, ein paar hübsche Javanerinnen, die all
das köstliche Curry nicht probieren mögen und auch nicht das selbstgemachte Ingwer-Bier ohne Alkohol: die Figur! Auch die Pensionsgäste dürfen kosten kommen: eine Deutsche, die mit einem surinamischen Chinesen verheiratet ist, ein junger Mulatte mit seinem schwarzen Cousin, der
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als Abkömmling einer Sklavenfamilie nach einem alten Gesetz noch heute
Land in Surinam besitzt, nach langen Jahren in den Niederlanden nun aber
in Italien lebt. Hausherrin Lydia, eine herzliche Frau mit indischen Wurzeln, hat tagelang gekocht, nun gibt ihr Mann den perfekten Gastherrn. Wo
er eigentlich herkomme, wird er gefragt. Und es beginnt eine umständliche
Geschichte von Juden, Indianern, Kreolen, Weißen, freigekauften Sklaven... Juden, José? Ach, sagt er, die Muslimin in der Familie, das sei seine
Frau. „Aber fasten tue ich.“
Auch jüdische Feste haben ihren Platz im Kalender Surinams; die ersten
Juden kamen nach der Inquisition 1664 in Portugal über Brasilien nach Surinam, Jahrhunderte später gefolgt von Flüchtlingen aus den nationalsozialistisch besetzten Ländern Belgien und Holland. Doch die Gemeinde ist
klein geworden mit den Jahren: „Jodensavanne“, ein zu Kolonialzeiten blühendes Dorf reicher jüdischer Pflanzer, ist nur noch an überwucherten Ruinen zu erkennen und auch das nur, wenn man es weiß. Kleinere Synagogen
in der kolonial geprägten Altstadt von Paramaribo sind mittlerweile umgenutzt zu Bürgerzentren – in einer residiert ein Internetcafé. Lebendiger Beweis der noch bestehenden jüdischen Bevölkerung des Landes ist die Synagoge an der Zwartehovenbrugstraat – ein prachtvoller weißer Holzbau in
direkter Nachbarschaft zu einer ebenso prächtigen Moschee. Surinamer zeigen dieses Gebäudepärchen gern, das da Seite an Seite steht wie ein Symbol
für die Multikulturalität, Weltoffenheit und Toleranz ihres Landes. Nüchterne Hauptstädter aber verweisen dann gern auf die Fakten: Als der Neubau
einer Synagoge anstand, sei in der engen Innenstadt kein anderer Platz frei
gewesen als der direkt neben dem islamischen Gotteshaus.
Vor ein paar Tagen haben die Hindustaner Divali gefeiert, Lichterfest, sie
stellten Kerzen in ihre Fenster und zogen singend durch die Straßen. Expräsident Lachmon auf seinem steinernen Sockel trägt noch die bunte Blumenkette, und nun knien verschleierte Frauen zu seinen Füßen auf dem Unabhängigkeitsplatz, und die Moslems beten: „Allahu akbar.“ Auch die Javaner
feiern Zuckerfest. Es ist erst acht Uhr morgens, aber die Sonne brennt auf
die feingekleideten Menschen nieder, die sich mit Schirmen schützen, auf
denen „Parbo Bier“ steht oder der Name einer Partei. Quer über die Wiese spannt sich ein Transparent: „Es gibt nur einen Gott, und Mohammed ist
sein Prophet.“ Die Frauen tragen Weiß, und aus den Lautsprechern dringt
knarzend die Stimme des Vorbeters: „Dankt Gott, dass wir in diesem geliebten und schönen Land gemeinsam leben dürfen.“ Er spricht Arabisch und
sagt, das Land sei gesegnet, weil der Islam auf der ganzen Welt mit Aggression in Verbindung gebracht werde, nur hier, in Surinam, sei alles friedlich.
In der Zeitung steht an diesem Tag ein Bericht über das Divali-Fest – eingerahmt von Anzeigen, in denen Unternehmen und Vereine zum Zuckerfest
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Surinam
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gratulieren. „Ein anständiger Betrieb“, sagt Iwan Brawe, Wirtschaftsredakteur der Tageszeitung „De ware Tijd“, „schaltet für alle Anlässe Anzeigen.“
Ein paar Tage später trifft sich die javanische Bevölkerung Surinams erneut: diesmal in ihrem Kulturzentrum im Stadtteil Blauwgrond, sie kommen
zu Hunderten, das Fernsehen ist auch da. Gegeben wird Djarang Kepang:
ein Ritual, das mit schönen Tänzen beginnt und mit bösem Erwachen endet.
Dazwischen essen Männer in Trance, die glauben, Pferde und Affen zu sein,
Gras und brechen Kokosnüsse mit den Zähnen auf – eine archaische Tradition. Das Publikum johlt oder sitzt atemlos im Trommelfeuer der Musikanten.
Und Tom Radji filmt. Tom, der einmal Fischverkäufer war, ist stolz, weil
sein Sender der erste und einzige javanische Sender ist im Land. „Jeder hat
hier seine eigene Radio- und TV-Station; es kann doch nicht sein, dass wir
keine haben!“ Aber trennt das nicht wieder die Völker: jeder sein Fest, jeder
sein Fernsehen? „Ach was“, Tom winkt ab und wird ein bisschen ärgerlich:
„Die Alten, die mit dem Niederländischen so ihre Probleme haben, werden
informiert, und die Jungen lernen durch uns wieder ihre eigene Sprache und
Kultur.“ Die eigene Sprache... Tom meint nicht Niederländisch und auch
nicht das Sranan Tongo.
9. Arm und schön: die Javaner
Am Tag vor dem Unabhängigkeitsfest melden die Zeitungen: Die Javaner haben den Platz der drittstärksten Bevölkerungsgruppe Surinams an die
Marrons knapp verloren, zählen derzeit etwas unter 72.000. Über 30.000 von
ihnen waren um die vorletzte Jahrhundertwende nach Surinam gekommen,
die letzten noch 1940, weil die niederländischen Kolonialherren, die ihre Arbeitskräfte bis dahin vor allem aus Britisch-Indien bezogen, sich unabhängiger machen wollten von den Briten. Zehntausend Javaner aber traten recht
bald die Rückreise in die Heimat an, als sie bemerkten, wie wenig Milch und
Honig floss im angeblichen gelobten Land und wie wenig willkommen sie
den bereits in Surinam Lebenden waren. Unter denen, die blieben und sich
in zweiter Generation zunehmend anpassten, ist die große Mehrheit muslimischen Glaubens – Kopftücher aber sind im Straßenbild selten und meist
den schwarzen Boslandfrauen in ihren Trachten vorbehalten. Die Meisten
sind beschäftigt im Landbau, in technischen Berufen oder in der Verwaltung. Das Viertel „Blauwgrond“ im Osten der Hauptstadt ist ein Stück Indonesien in Südamerika. Hier leben vor allem Nachkommen der javanischen
Immigranten, haben ihre eigenen Märkte, Kulturzentren, Friedhöfe und Moscheen. Etwas außerhalb der Stadt, im Distrikt Commewijne jenseits des Suriname-Riviers, leben ebenfalls vor allem Familien indonesischer Abstam103
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mung, in meist ärmlichen Verhältnissen, Seite an Seite mit ein paar wenigen
„boeroe’s“: Weißen niederländischen Ursprungs, die im 19. Jahrhundert in
Surinam neuen Reichtum suchten und im Auftrag der Regierung auch suchen sollten. Aber die „boeroe’s“ fanden nur mehr unfruchtbar gewordenes
Ackerland, folglich Armut und bis heute keine Akzeptanz. Weiß und Weiß
ist also auch nicht dasselbe. So wie Arm und Arm auch nicht.
10. Arm und arm ist nicht dasselbe
Frank Ramada sitzt in einem der wenigen kreolischen Restaurants am
Flussufer Paramaribos, es gab Reis und Fisch mit fremd schmeckenden Gemüsen, und er empört sich über die Journalisten aus Europa mit ihrem arroganten Blick: „Wir sind nicht arm!“, sagt Frank, er meint, die Leute empfänden das einfach anders. „Sie wohnen in heruntergekommenen Hütten, ja,
aber sie wollen es nicht anders. Der Wald ist ihr Zuhause, und sie sind damit
zufrieden, zufrieden, verstehst du – sie haben einfach keine Ambitionen!“
Gleich wird er auch noch sagen, der Surinamer wolle einfach nicht arbeiten,
der kreolische zumal, und in diesem Moment parkt Alwin neben den Plastikstühlen des Lokals. Alwin ist Hindustaner, er fährt ein nagelneues Auto und
hat nur das Wort „arm“ gehört. „Was?“, lispelt er durch seine Zahnlücken,
„wir sind stinkreich! Guck dir das Auto an, das ich da habe, guck Dir die
abertausend Autos an, es kommt doch darauf an, was du willst!“ Alwin, sagt
Frank später, wohne in einer dieser schiefen Holzhütten, in die die Weißen
vor 150 Jahren ihre freigelassenen Sklaven pferchten.
Das Holz in den Jahrhunderten verwittert und ergraut, die Wände windschief, baufällig, undicht. Tausende wohnen so in Surinam, in Häusern, die
diesen Namen nicht mehr verdienen. Im Stadtteil Frimangron – im 18. Jahrhundert errichtet für Sklaven, die in den Dschungeltruppen auf die Jagd gehen mussten auf ihre eigenen Leute, und später Wohnviertel für die Freigelassenen – leben die Menschen bis heute in denselben Hütten, so pittoresk in
ihrer Armut, dass es für Touristen spezielle Rundwanderungen gibt. Hinter
leeren Fensterhöhlen wehen zerrissene Gardinen, in kargen Vorgärten spielen nackte Kinder. Und doch: steht vor beinah jedem Haus ein Auto. Der
weiße Lack überstrahlt den Zahn der Zeit, der an den Hütten dahinter nagt;
hier parkt der Stolz der Bewohner und ihr ganzer Besitz. Über 100.000 Pkw
kommen in Surinam auf weniger als fünfmal so viele Einwohner, viele von
ihnen teure Geländewagen mit Klimaanlage. Ein Statussymbol. Und doch
hat jemand gesagt, es gebe in Surinam einfach keinen Neid, denn Armut
komme in allen Bevölkerungsgruppen vor.
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Die Abendsonne hängt rosa über der Altstadt von Paramaribo und legt
über die abblätternde Farbe an den kolonialen Holzhäusern gnädige Schatten. Von der Markthalle her riecht es nach Fisch, auf den Motorhauben ihrer Lieferwagen bieten Händler das letzte Gemüse des Tages feil. Und Verré
rennt. Drängt sich durch den dichten Verkehr, ignoriert das Hupen der buntbemalten Busse und die Pfiffe der Hafenarbeiter. Verré trainiert für den Marathon, den sie am Unabhängigkeitstag veranstalten, aber heute läuft sie zu
schnell. Die junge Mutter ärgert sich, sie ist wütend: Da hat doch eben wieder jemand gesagt, die Schwarzen in Surinam würden benachteiligt. Verré ist halbe Chinesin, aber von ihren Vorvätern erbte sie auch kaffeebraune Haut und sagt: „Wenn hier jemand benachteiligt ist, dann durch eigene
Schuld! Wir können den Hindustanern nicht vorwerfen, dass sie es schlauer
angehen. Die arbeiten einfach hart, um Geld zu verdienen, das liegt in ihrer Kultur.“ Verré umkurvt ein Fahrrad und atmet schwer. „Aber ein Kreole, wenn er denn Geld verdient, der muss es ausgeben, ausgeben, ausgeben
und zwar so, dass es jeder sieht.“ Wahrscheinlich, glaubt die 30-Jährige,
habe das noch mit der Sklaverei zu tun: „Die Menschen haben so hart gearbeitet, dass sie bis heute diese Haltung haben – ich geh’s jetzt endlich mal
ruhig an.“
11. Bitte lächeln: die Chinesen
Die ersten Chinesen kamen aus Java (Niederländisch-Indien) und der britischen Kolonie Hongkong nach Surinam. Das war noch vor dem Ende der
Sklaverei und der Beginn eines Stroms, der bis heute andauert. Viele heirateten surinamische schwarze Frauen und blieben – was in der Gegenwart
an der Vielzahl Kreolen mit chinesischen Nachnamen erkennbar bleibt. Bis
heute reisen immer weitere Chinesen aus Südchina, meist Kantonchinesen,
ein, die in Südamerika ein bescheidenes Auskommen suchen – oder es als
Sprungbrett in die Vereinigten Staaten nutzen. Die meisten der heute fast
9.000 surinamischen Bürger aus dem Reich der Mitte haben sich nach Ablauf der Vertragszeit als Landarbeiter auf den Handel verlegt: Sie betreiben,
meist allerdings als Mieter in Häusern reicher Hindustaner und ähnlich geschäftstüchtig wie die libanesischen Textilhändler, die meisten Supermärkte, Restaurants, mittlerweile auch Casinos. Den Stand ihrer Integration zu
beurteilen, fällt schwer: Zwar hatte Paramaribo nie eine in sich geschlossene
Chinatown und mischen sich die Chinesen spätestens in dritter und vierter
Generation mühelos mit der übrigen Bevölkerung – viele der Älteren beherrschen aber nach wie vor kein Niederländisch und das Sranan Tongo nur
gebrochen. Viel wissen auch ihre Mitbürger nicht über die surinamischen
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Surinam
Chinesen: „Sie sind gut auf der Höhe über die bekannten chinesischen Gerichte in den Restaurants“, schreibt der Journalist Benjamin Mitrasingh in
einem Artikel über 152 Jahre chinesischer Integration im Oktober 2005. Außerdem fallen ihm noch kandierte Früchte ein und das beliebte, riesige Feuerwerk zu Silvester: chinesisch.
Um die Ecke sind zwei Fleischer, einer verkauft Schweinefleisch, den
islamischen Halaal gibt’s gleich nebenan, und der Bäcker wirbt für Weihnachtsgebäck. Das ist normal in Surinam. Noch ein Haus weiter sitzt der
chinesische Händler zwischen holländischer Milch und spanischem Kaffee
hinter seiner Kasse und isst Nudelsuppe mit Stäbchen. Das ist noch normaler. An jeder Ecke steht ein chinesischer Supermarkt, jedes Lebensmittelgeschäft ist in der Hand des Fernen Ostens, und in den Straßen dazwischen
haben weitere rund um die Uhr geöffnet, dass man sich fragen muss: Wie
können die nur alle davon leben? Sie können, weil die ganze Familie hier
arbeitet, Frauen, auch schon die Kinder, die Chinesen leben in ihren Läden. Oder sie arbeiten im Straßenbau. Das ist ein Vorurteil, aber eines, das
stimmt, wie auch das von der typischen chinesischen Freundlichkeit. „Guten
Tag“, sagt der Mann hinter der Kasse und lächelt, „guten Tag“, sagt er und
lächelt, wenn der Kunde bezahlt, und noch mal, wenn er wieder geht. Die
Chinesen in Surinam sind nett, und sie haben einen Supermarkt.
Die Chinesen in Surinam, sagt Roy Tjin, verstehen sich nicht. Es gebe
da nämlich die Hongkong-Chinesen und die Mandarin-Chinesen, die hätten
kein Verständnis füreinander und auch in der Fremde reineweg gar nichts
miteinander zu tun. Roys Vater kam als Bauernsohn nach Südamerika, er
habe sich hochgearbeitet, sagt sein Sohn, und Geld verdient. Für Roy, Fotograf und Autor eines beliebten Reiseführers durch sein Heimatland, ist das
der typische Lauf der chinesischen Dinge im Land: Die erste Generation
verdient das erste Geld, die zweite lässt sich ausbilden, in der dritten gibt es
die ersten Akademiker. Deshalb habe Surinam Sorge, dass die Chinesen mittelfristig „alles hier übernehmen“.
Aber Roy sagt, einig seien sich die Chinesen von Surinam nur darin, kein
einig Volk zu sein mit dem Rest der Bevölkerung. Viele haben eine Menge
Geld bezahlt, um hierher kommen zu können, sie haben eine straffe Organisation, sagt er, sie helfen einander, irgendjemand hat einmal etwas von mafiösen Strukturen gesagt. Jedenfalls fällt auf: Es fällt niemand durchs Netz.
Und auf die, die immer noch nachkommen, warten eigene Schulen, eigene
Zeitungen, ein eigenes Radio. Der Chinese arbeitet hart, und hart arbeitende
Menschen hat das Land nötig. Nur ist das wieder zum Schaden der Integration: „Früher“, sagt Roy, „waren die Chinesen besser integriert.“ Jetzt aber
seien sie „zuviel mit sich selbst beschäftigt“ – und deshalb nicht wirklich
Teil der Gesellschaft.
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Surinam
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12. Die Mischung macht’s – oder nicht?
Multikulti mag ein Reichtum sein in diesem Land, aber es bleibt ein Rätsel. „Wir essen hier alle von einem Teller“, hat eine indische Fahrradverleiherin gesagt, aber sie sah nicht glücklich aus dabei. Manchmal, sagte sie,
sei es anstrengend, dieses Sich-Verstehen-Müssen mit allen anderen, sei es
verkrampft, das Einig-Vaterland-Gefühl. Aber was bleibt den Menschen
schon übrig? „Wenn Du im Wasser lebst“, wird der ehemalige Staatspräsident Jaggernath Lachmon zitiert, „solltest du keine Feindschaft haben mit
dem Krokodil.“
Ach, sagt Sirano Zalman, der Künstler, unser Vielvölkerstaat, das ist
doch gemütlich. „De mensen staan er niet bij stil“, sagt er, was ein klarer
Satz ist und vielleicht so zu übersetzen: Die Menschen machen sich gar
keine Gedanken darüber. Multikulti ist kein Thema. „Die Nachbarn fragen nicht danach, die Kinder fragen nicht, die ganze Fragestellung gibt es
nicht.“ Sirano Zalman mit seiner Niederlande-Erfahrung findet, es sei sehr
europäisch, überhaupt solche Fragen zu stellen: Funktioniert bei euch die
Integration? Kulturunterschiede, sagt Sirano, gebe es anderswo doch auch,
in Surinam fielen sie nur mehr auf, schon wegen der Hautfarben. „Wir sind
ethnisch anders, aber wir reden nicht darüber.“ Und eine „tiefere Aversion“
gebe es auch nicht. Keine Rede von Vorurteilen, Vorbehalten, Diskriminierung. Vielleicht aber kann dieser Sirano auch nicht anders, denn er spiegelt
seine Heimat in seiner eigenen Familie: Mit seiner Frau, einer Mulattin, hat
der Reiseveranstalter zwei Kinder – eines tiefschwarz, das andere so blond
und blauäugig, wie man mit niederländischen Großeltern nur sein kann.
Doch irgendwann zwischen Satéspießen und Kaffee kippt das Gespräch,
es ist kaum zu spüren, und Sirano selbst merkt es nicht einmal: Es passiert,
als er von ein paar kulturellen Unterschieden redet und davon, dass die
Leute zu Hause ihre eigene Kultur sehr wohl behalten und pflegen. „Die
Menschen haben nun einmal eine eigene Volksart, ihre eigenen Werte, die
andere wiederum nicht akzeptabel finden.“ Zum Beispiel? Die Hindustaner seien sparsam, legten Wert auf Familie, „diese Werte haben die Kreolen
weniger“. Dafür seien die Bosneger stolzer als die Stadneger. Beide aber
gesellig. Die Gedanken wandern ins eigene Reisebüro, wo der Chef in den
nächsten Tag ein paar Jobs zu vergeben hat. Wie soll er die Bewerber verteilen? Die Muslimin wird fünfmal am Tag beten wollen, bloß wo? Die Javanerin setzt er besser ins Büro, da ist sie effizienter, schon weil die Javaner so schüchtern sind; dafür macht er den Kreolen zum Reiseleiter, „diese
Leute sind einfach offener und freundlicher“.
Sirano Zalman stockt, als er zu spät bemerkt, welche Wendung seine eigene Rede genommen hat: „Sieht das jetzt aus, als ob ich doch ethnisch denke?
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Ich suche doch nur nach Werten, typischen Eigenarten. Wahrscheinlich ist
das doch eine ethnische Brille, und das wäre falsch.“ Sirano schweigt, er
rührt in seinem Kaffee. „Weißt Du, ich bin ein Liebhaber meines Landes.“
Surinam sei ein großer Baum, sagt der Parlamentsvorsitzende Paul Somohardjo zu Srefidensi, dem Unabhängigkeitstag, bei einem Empfang. Die
Äste dieses Baumes symbolisierten die verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Aber: Surinam fehlt noch die Zusammengehörigkeit, stand am Tag zuvor in „De ware Tijd“. Der das sagt, ist Johan Ferrier, er war einst der erste
Präsident des jungen Staates (und ist Vater der Autorin Cynthia McLeod).
Als Einzelner schaffst du es nie. Leg die Unterschiede in den Auffassungen
zur Seite, höre dem anderen zu und finde seine guten Argumente, genauso
wie er versuchen muss, deine guten Argumente zu finden, um das gemeinsame Ziel zu erreichen.(...) Das Ideal ist, die Dinge zusammen zu tun. Nicht
als Einzelner, nicht um deinetwegen, sondern wegen des Anderen, der neben
dir steht und der auch weiterkommen muss. Es ist ein Appell aus sicherer
Entfernung an seine Landsleute, die seine Landsleute nicht mehr sind: Johan Ferrier, inzwischen 95, lebt längst in den Niederlanden.
Am selben Tag schreibt die Redaktion in einem Leitartikel: 30 Jahre nach
der Unabhängigkeit ist Surinam noch immer eine Hand mit fünf Fingern,
die keine Faust machen können. Es gibt kein Mittel, das uns verbindet.
Hätte Tessa Leuwsha dem Gespräch mit ihrem Mann Sirano gelauscht,
sie würde ihren Mann jetzt wieder typisch finden. Typisch surinamisch. Die
Schriftstellerin beobachtet ihr Land lang genug, sieht lang genug zu, wie die
Völker sich mischen. „Es kommt, es kommt“, sagt sie; es klingt beruhigend.
Aber Tessa sieht auch: Es wird noch ein wenig dauern. „Die Leute haben
das Bedürfnis gar nicht, sich auf die anderen einzulassen. Die sind alle bloß
so tolerant, weil sie gar nicht miteinander umgehen müssen.“ Tessa sagt, das
habe etwas mit dem Platz zu tun, dem Raum, den jede Bevölkerungsgruppe
in Surinam habe, um sich selbst auszuleben. Letztlich, sagt sie, kann doch
jeder in seinem Kulturkreis sitzen bleiben und dort wieder neue Menschen
kennen lernen aus demselben Kulturkreis. „Und dann teilen sie wieder ihre
Vorurteile, von denen sie ja wirklich glauben, dass sie stimmen!“
Im Gegensatz etwa zu Guyana oder Trinidad, schreibt James Ramlall am
Unabhängigkeitstag in der Zeitung, hat man es in Surinam nie als Bedrohung empfunden, wenn eine bestimmte ethnische Gruppe sich kulturell manifestieren wollte. Denn alle ethnischen Gruppen, die mit speziellen kulturellen Eigenarten an die Öffentlichkeit traten, haben das immer im Namen
Surinams getan. Ramlall, dessen Beitrag zwischen großflächigen Glückwunschanzeigen von Banken, Fluggesellschaften und Mode-Boutiquen
(„Wan Switi Srefidensi!“) abgedruckt wird, war vor seiner Pensionierung
einer der führenden Köpfe im kulturellen Surinam. Er setzte sich ein für die
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Förderung von Kulturvereinen und sagt heute: Solche Kulturpolitik wurde gerade ein Instrument, um die Einheit und Zusammengehörigkeit der
Surinamer zu akzentuieren und zu unterstreichen. Wer das Kulturgut der
Einzelnen fördert, fördert eine gemeinsame, nationale Kultur. Weg, fordert
Ramlall, weg von jedweder Polarisierung.
Tief im Busch ist Jesus schwarz. Die Kinder der Sonntagsschule auf JawJaw, einem Dorf der schwarzen Samaraccaner, haben ihm im Religionsunterricht das Gesicht angemalt. Sie haben noch andere Plakate an der Wand
hängen: Ein blondes Kind hält ein schwarzes im Arm. Titel: „Jeder ist gleich
wichtig.“ Oder die Werbung der Gesundheitsfürsorge: Da spielen weiße
Kinder und schwarze und solche mit Mandelaugen auf einem einzigen Bild.
Das ist Surinam.
Surinam ist auch, dass am Abend vor einer Touristenkneipe die Band
L’Creme spielt: ein Javaner am Keyboard, an den Mikrofonen eine Inderin
und ein Kreole.
Surinam ist, dass die Schüler der Mittelschulen zum Unabhängigkeitstag
vor dem Präsidentenpalast von Paramaribo in grünen, weißen, roten und gelben Kostümen eine riesige Menschenflagge formen. Und dass der Teenager
Nathalie Mossel hinterher wieder ihren Sari anzieht, sich stolz neben ihre
schwarze Freundin Ydliz stellt und sagt: „Ich bin ein echter Surinamer. Ein
Mix verschiedener Rassen, und das macht Surinam so einzigartig, dass wir
das alles haben in einem Schmelztiegel. Es gehört uns und wir müssen es
pflegen, dann werden wir weiter vorangehen.“
Surinam ist, dass unter den Zuschauern der Schüler-Schau vier Kinder nebeneinander im Gras sitzen: ein schwarzes, ein chinesisches, ein indisches,
ein weißes. Surinam ist, dass bei Puppenspielen im TV die Figuren genauso verschiedenfarbige Gesichter haben. Und auch die Kulisse ist bunt. Am
Vorabend des Unabhängigkeitstages läuft vor einem solchen Meer aus Farben mal wieder eine Satire. Die surinamischen Sender lieben die Satire.
„Die Niederländer“, sagt ein Kabarettist, „haben in Surinam alle Nationalitäten zusammengestopft. Aber zu Hause können sie damit selbst nicht umgehen.“
„Zusammenleben tust du so“ heißt das Projekt einer niederländischen
Stiftung, die im Herbst 2005 eine Gruppe Jugendlicher nach Paramaribo
bringt, um mehr über multikulturelle Verständigung zu lernen. „ Wir haben
gemerkt, dass es in Surinam ziemlich gut geht zwischen den verschiedenen
Kulturen“, sagt später die Schülerin Naomi van Rossum. „Hier bist du Surinamer, kein Javaner oder Hindustaner. In den Niederlanden hat man jetzt soviel Spannungen zwischen Bevölkerungsgruppen. Ich finde“, sagt Naomi,
„dass das in Surinam viel besser geht als zu Hause.“ Mitschüler Rumaine
Pufflijk ergänzt: „In den Niederlanden haben wir vielleicht viel mehr mate109
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rielle Dinge, aber wir haben hier gelernt, mehr Respekt voreinander zu haben und vor der Kultur des anderen.“
13. Alle fremd, jeder ein Surinamer
Iwan Brawe hat einen vollen Terminkalender, der Mann ist Journalist,
eben Vater geworden und macht gerade Karriere, aber nach langem Telefonieren kommt er doch. Und jetzt sitzt er da und benimmt sich surinamisch: Er hat keine Zeit, aber viel Zeit zum Reden. Wo geboren, er hatte eine niederländische Kindheit, eine niederländische Jugend und immer
blonde Freundinnen – und dann kam er nach Surinam, heiratete eine Frau,
die noch schwärzer ist als er und wurde glücklich. „Ich hatte den Glauben
an das multikulturelle Zusammenleben in den Niederlanden verloren.“ Irgendwann war es ihm aufgefallen, dass ihm etwas die Kehle zuschnürte
in Europa, da war dieses Gefühl: „Schwarze gehören nicht dazu.“ Plötzlich fühlte er eine Diskriminierung, die vorher nicht da gewesen war, und
er ertrug sie nicht mehr: „Dieses Wir – Sie.“ Brawe bemerkte, dass keine Unterschiede mehr gemacht wurden unter den „Allochtonen“, wie die
Nieder- ihre Ausländer nennen, jeder Fremde schien ihnen gleich fremd.
„Apartheid“, sagt Iwan, „ist das berühmteste holländische Wort, aber das
gibt ja keiner zu.“ Und eine Diskussion sei nicht mehr möglich gewesen.
Also beschloss der junge Mann, der in den Niederlanden sein Leben lang
nur unter Weißen verkehrt hatte, seine Sachen zu packen und in sein „Geburtsland“ zu ziehen, um ein vollwertiger Bürger zu werden. „Es hat ja keiner geglaubt, dass ich es hier länger aushalte als ein halbes Jahr. Aber wenn
du dich nicht mehr zu Hause fühlst, dann musst du woanders hin, und nun
sind zehn Jahre daraus geworden. Und fast habe ich vergessen, was das ist:
ein Minderwertigkeitskomplex.“
Bei seinen neuen Landsleuten sieht er ihn wohl, er glaubt, dieses Gefühl der Unterlegenheit gegenüber dem Westen sei ein Bindeglied der surinamischen Gesellschaft. Er selbst aber fühlt sich in Surinam nicht mehr
„überspült“, sagt er: „Ich bin Iwan Brawe, und damit habe ich hier ein sehr
gutes Gefühl.“ Niemand sei in diesem Land ein Übermensch, niemand
müsse größer, mächtiger, wissender und damit arroganter sein als der andere. „Ein Vorbild“, sagt der Wirtschaftsredakteur. Ob das Zufall ist, dass
er da so empfindet, diese Euphorie? „Alles ist Zufall, aber es ist unser Zufall.“ Und noch etwas: „Weißt Du, hierher sind alle mit dem Boot gekommen, Sklaven genau so wie ihre -treiber.“ Iwan glaubt, dass sich die Gesellschaft rasant entwickle, immer weiter weg von der Kolonialzeit, allerdings
auch immer weiter weg von den westlichen Einflüssen. „Unser National110
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gefühl wächst in dem Maße, in dem wir uns abgrenzen von Europa.“ Und
von den eigenen Verhaltensmustern im Ausland: „In den Niederlanden suchen sich die schwarzen Jungen weiße Mädchen, um dazuzugehören. Dann
kommen sie nach Surinam, und auf einmal sind sie frei.“ Es ist seine, Iwan
Brawes, Geschichte.
Schwarze Jungen, weiße Mädchen: Auch Kontaktanzeigen in den surinamischen Zeitungen sind ein Indikator für den Stand der Integration und ihre
Grenzen. Da sucht ein alleinstehender 45-Jähriger „am liebsten eine Javanerin oder Indianerin“; ein Kreole sucht eine Kreolin; ein „reicher Hindustaner“ bietet sich selbst; ein anderer hätte gern eine Weiße oder allerhöchstens „Mix“; ein Moslem möchte eine Inderin; eine alleinstehende Mutter
bevorzugt ebenfalls Weiß. Der Suchende beschreibt sich und das Ziel seiner Wünsche nach ethnischen Kriterien. Oder auch nicht: „Alter und Rasse
unwichtig“. Die Tageszeitung „Dagblad Suriname“ legt täglich einen Fotostreifen über den Kopf einer jeder Seite: aneinandergereihte Porträtbilder
von Inheemsen, Hindustanern, Kreolen, Javanern, Chinesen, Weißen, „blanke“ oder „bakra’s“ genannt – Gesichter Surinams.
Übrigens sind auch die Todesanzeigen ein Bilderbogen der Kulturen.
An einem Freitag wird, jeweils mit vielsagenden Fotos schwarzer, brauner,
mandeläugiger Menschen, vermeldet: das Ableben von Soebadra Soekrawatie Soechitram, Gattin des Krisnadath Gadjradj. Der Tod der Mireille Asha
Mankupranata, genannt Mimi. Der tödliche Unfall des Jason Howard Sion.
Der Beerdigungstermin für Antoinette Johanna Paulina Best, für Johan Julius Wijnaldum, für Soebhaschandrebos Rattan und Belliot Iwan Stanley.
Die Marathonläuferin Verré biegt in die Straße ein, wo in den prunkvollen
Stadtvillen der reichen Pflanzer heute Reisebüros und Fluggesellschaften
ihre Ladenlokale haben. Sie ist kaum mehr einzuholen, sie läuft immer
schneller und redet auch so: „Jeder hier in Surinam ist doch immer noch
auf der Suche nach seinen Wurzeln. Die Hindustaner sind noch immer stark
mit Indien verbunden. Die Javaner hängen an Indonesien. Sie suchen ihre
Kultur, ihre Ursprünge bis heute dort. Und auch die Kreolen schauen nach
Afrika. Nach all den Jahrhunderten! Aber da gibt es doch überhaupt keine
Verbindung mehr! Ein surinamischer Kreole würde in Ghana schlicht als
Ausländer betrachtet. Das ist eine andere Kultur!“
Es riecht nach der Hitze des Tages in der Hauptstadt, der Staub der Straße
legt sich schwer auf die Lunge, aber Verré ist nicht aufzuhalten. „Die Menschen müssen aufhören, ihre Ursprünge im Ausland zu suchen, sie müssen
endlich lernen: Wir sind Surinamer! Sie haben doch einen Namen, sie haben ein Land, und das ist Surinam. Sie haben ihr Volk hier!“ Und noch was:
„Sie müssen sich bewusst werden, dass ihre Vorfahren ganz schön hart dafür gearbeitet haben, dass sie es hier gut haben.“ Verré ist jetzt richtig böse,
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Surinam
der Zorn fährt ihr in die Beine, und an der nächsten Ecke sprintet sie davon
und verschwindet. Es ist, als würde es ihr nachhallen: ein Name, ein Land,
ein Volk.
Wahrscheinlich ist das der wesentliche Unterschied zu anderen Einwanderungsländern der Welt – es gibt in Surinam keine Mehrheit, die von sich
behaupten könnte: Wir sind die „echten“ Surinamer; wir waren zuerst da.
Hier sind alle Fremde. Oder eben: alle Surinamer. Das ist ihr Bindemittel.
Den Surinamer, sagt Wilfried Roseval, gebe es überhaupt erst seit der Unabhängigkeit. Aber das wirkliche Zusammenwachsen der ethnischen Gruppen „läuft nur sehr, sehr langsam“. Roseval, von dem seine Familie sagt, er
sei der Schwärzeste aller Schwarzen, hat dazu eine interessante These: Das
Ganze habe mit Macht zu tun. „Die Politik will gar nicht, dass alle einig
werden. Halte sie auseinander, dann kannst du sie besser beherrschen.“ Der
Mann, eigentlich Professor an der Universität von Paramaribo, ist selbst Politiker. Und war nach den Wahlen 2005 kurzzeitig für den Posten des Vizepräsidenten im Gespräch. „Integration“, sagt Roseval, „ist ein schönes Wort.
Sie ist aber abhängig vom tatsächlichen Erleben der Menschen.“ Wissenschaftlich, natürlich, finde Integration in Surinam statt. Die Realität aber
sei: Wenn die Korruption nicht zurückgehe und jeder seine Familie zu Mitarbeitern mache, dann trenne das auch die Menschen wieder. Und wenn da
doch ein Prozess des Zusammenwachsens stattfinde, „dann wird er nicht gesteuert durch die Obrigkeit“. Roseval denkt an die Schulhöfe, auf denen die
Kinder der Einwanderer immer selbstverständlicher miteinander umgehen,
aber vielleicht denkt er auch an sein eigenes Leben: Nach erster Ehe mit einer weißen Niederländerin ist er nun mit einer Javanerin verheiratet. Später
spricht er von der Kraft der Kulturunterschiede, von den Chancen, die Surinam sich damit auf internationalem Parkett verschaffe. Aber: „Das Wir-Gefühl darf nicht nur Fassade sein.“
„In 100 Jahren“, schrieb die Autorin Cynthia McLeod in ihrem Roman
„Vaarwel Merodia“, „weiß niemand mehr, dass Hautfarbe und Rasse jemals
ein Problem gewesen sind. Denn in 100 Jahren besteht die surinamische Bevölkerung aus Menschen, die alle Rassen der Welt in sich vereinen. Alle Rassen der Welt in einem einzigen Volk. Ein prächtiges Volk.“ Die Geschichte,
die so endet, spielt im ausgehenden 19. Jahrhundert.
Der Boslandkreole Isaak sitzt im Sonnenuntergang bei einer Literflasche
Bier. Wir plaudern über die multikulturelle Gesellschaft in Surinam. „Ach
die“, sagt der Alte, „die funktioniert erst wirklich, wenn sie keiner mehr bemerkt.“
Ein Jahrhundert war noch nicht genug.
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Rodrigue Guezodjé
aus Benin
Stipendien-Aufenthalt in
Nordrhein-Westfalen
vom 1. September bis 30. Dezember 2005
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Nordrhein-Westfalen
Rodrigue Guezodjé
Meine Erfahrungen in Deutschland
Von Rodrigue Guezodjé
Nordrhein-Westfalen vom 1. September bis 30. Dezember 2005
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Rodrigue Guezodjé
Inhalt
1. Zur Person
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2. Einleitung
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3. Erster Schritt: Düsseldorf
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4. Zweiter Schritt: Bonn
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5. Weimar
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6. Eindrücke
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7. Danksagung
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8. Schluss
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Rodrigue Guezodjé
Nordrhein-Westfalen
1. Zur Person
Ich heiße Rodrigue Guezodje und komme aus Benin. Natürlich bin ich
wie alle Stipendiaten der Heinz-Kühn-Stiftung von Beruf Journalist. Nach
Beendigung meines Studiums in Cotonou habe ich angefangen als Journalist zu arbeiten. Seit 2000 arbeite ich als Redakteur bei Radio Golfe FM, das
ist eine private Radiostation. Dort bin ich verantwortlich für die täglichen
Nachrichtensendungen, gleichzeitig bin ich Chef der Sportredaktion. Seit
2004 gibt es auch einen Fernsehbereich, der Golfe Télévision heißt; dort arbeite ich gleichzeitig als Redakteur und Chef der Sportredaktion. So konnte ich bisher sowohl journalistische Erfahrungen im Radio, wie auch im
Fernsehen erwerben. Das Stipendium der Heinz-Kühn-Stiftung gab mir die
Möglichkeit, meine professionellen Fähigkeiten zu erweitern.
2. Einleitung
Heute mehr denn je müssen Benin und Afrika im Allgemeinen ihren Rückstand in punkto Entwicklung aufholen. Dafür müssen sich sowohl die Bevölkerungen als auch die Politiker erst dessen bewusst werden. Aber wichtig
ist auch, dass sie sich an anderen Ländern orientieren, die diese Etappe bereits hinter sich haben und sich bereits auf dem richtigen Weg befinden.
Die Heinz-Kühn-Stiftung, mit Sitz in Düsseldorf, arbeitet daran und setzt
sich seit Jahren dafür ein, dass junge Journalisten gefördert werden, indem
sie z.B. jungen Afrikanern die Chance bietet, Erfahrungen in Deutschland
zu sammeln.
In diesem Rahmen hatte auch ich – wie viele andere junge Journalisten
aus aller Welt – die Gelegenheit, ein Praktikum in Deutschland zu absolvieren. Durch dieses viermonatige Praktikum konnte ich nicht nur meine journalistischen Kompetenzen erweitern, sondern auch das Leben und den Alltag in Goethes Heimat kennen lernen.
3. Erster Schritt: Düsseldorf
Am Sonntag, dem 4. September 2005, gegen 23 Uhr verließ ich Cotonou.
Ich flog über Paris und kam (zum aller ersten Mal) in Deutschland am nächsten Tag gegen Mittag an. Am Düsseldorfer Flughafen wurde ich von Frau Ute
Maria Kilian (von der Heinz-Kühn-Stiftung) herzlich empfangen. Dann fuhren wir direkt zum Goethe-Institut, wo ich einen Sprachtest schreiben musste,
da ich bereits am nächsten Tag mit den Deutschkursen anfangen sollte.
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Rodrigue Guezodjé
Nach diesem ersten Test wurde ich als „Niveau 1“ eingestuft. Dann konnte ich die Wohnung besichtigen, in der ich zwei Monate lang wohnen sollte.
Sie befindet sich in der dritten Etage eines Hauses, das Frau Schleicher gehört, und liegt in der Luisenstraße. Frau Schleicher ist eine sehr sympathische, siebzigjährige Vermieterin. Wie eine junge Frau pflegt sie die Wohnung selbst. Im ersten Monat teilte ich die Wohnung mit einem Mexikaner
(Mauricio) und einem Spanier (Joseba), die beide auch Kurse des GoetheInstituts besuchten. Der Mexikaner zog Ende des ersten Monats aus. Eine
Bulgarin (Valeriya) und ein weiterer Spanier (José Galván) zogen ein, die
auch einen Deutschkurs belegten.
Am Montag, dem 5. September begann der erste Sprachunterricht mit
Frau Sabine Rudolphe als Lehrerin. Dank ihrer ausgezeichneten Pädagogik
konnte ich schnell meine Grundkenntnisse in Deutsch erweitern. Dies trifft
genauso zu für die anderen 15 Studenten (aus Japan, Spanien, Chile, Argentinien, Jemen, Israel, Italien, Brasilien, Iran ...), die an ihren Unterrichtsstunden auch teilgenommen haben. Meine Grundkenntnisse wurden also
dank ihrer Lehrkompetenzen rasch erweitert und nach einem Monat konnte
ich schon kommunizieren und mich auf Deutsch mit anderen austauschen.
Nicht nur die Sprachkurse haben zu meiner schnellen Integration beigetragen: Ein sehr interessantes kulturelles Begleitprogramm wurde mit dem
Ziel des interkulturellen Kennenlernens aller Teilnehmer erstellt. Alle Kontinente waren vertreten, aber am Anfang waren die Afrikaner nur zu viert:
Eine Ägypterin, eine Tunesierin, ein Kongolese und ich aus Benin. Wir haben viele Ausfüge gemacht und konnten dadurch einige Städte entdecken:
Bonn, Berlin, Dortmund, Hamburg, Köln, Frankfurt, Leverkusen, München
u.a. Ich habe auch Museen besichtigt, aber auch Kathedralen, Plätze, große
Unternehmen, Zoologische Gärten, Türme, berühmte Supermärkte und viele
touristische Ortschaften. Während dieser vielen Exkursionen stellte ich fest,
wie gut die Infrastrukturen und die verschiedenen Verkehrsmittel sind. Vom
Fahrrad bis hin zur Bahn, über Motorräder, Autos oder Busse: Alles ist sehr
präzise und methodisch organisiert und die Verkehrsbeschilderung ausgezeichnet, was den Verkehr wesentlich flüssiger macht als in Afrika.
Durch das kulturelle und sportliche Angebot des Instituts und der HeinzKühn-Stiftung konnten wir auch die Lebensweise der Deutschen kennen
lernen. Jede Stadt hat ihre eigenen Traditionen, auch wenn manches überall gleich ist. Stammtischtreffs, Schwimmbad- und Fußballspass hatten wir
einmal pro Woche, was uns die Gelegenheit gab, Erlerntes zu üben und somit unsere Deutschkenntnisse zu verbessern. Der zweite (und letzte) Unterrichtsmonat war intensiver und wir lernten viele neue Grammatikpunkte.
Diesmal mit einer anderen Lehrerin, Frau Sigrid, die sich bemühte, uns noch
einiges beizubringen, um den sprachlichen Erwartungen der zwanzig Teil119
Rodrigue Guezodjé
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nehmer – hauptsächlich Erwachsene – gerecht zu werden. So arbeiteten wir
viel mit Texten. Zusätzlich lernen und üben konnten wir in der Bibliothek
des Instituts (Mediathek).
Diese Zeit beim Goethe-Institut war ein wichtiger Schritt für mich auf
dem Weg zu meiner Integration. Diese erste Phase meines DeutschlandAufenthalts war sehr vielfältig mit diesen zwei Monaten, einer Mischung
aus Fleiß und Tourismus.
4. Zweiter Schritt: Bonn
Die erste Etappe des Deutschunterrichtes verhalf mir also zum besseren Kontakt mit der deutschen Sprache. Ich lernte deutsche Städte und ihre
Infrastrukturen kennen. Bonn war der nächste Schritt: der der praktischen
Umsetzung, d.h. der neuen journalistischen Erfahrungen.
Mein Praktikum absolvierte ich bei der Deutschen Welle, dem Internationalen deutschen Radiosender, in der Französischen Afrika-Redaktion.
Dort habe ich neue Arbeitsmethoden erworben und andere Techniken als in
Benin kennen gelernt. Die Redaktion ist jung und dynamisch und besteht
aus festen und freien Journalisten, aber auch Auslandskorrespondenten und
Praktikanten. Mir gefielen die sehr professionellen Arbeitsmethoden sofort,
vor allem in Verbindung mit der guten Stimmung. Am Anfang wurde ich
wie alle anderen Journalisten der Deutschen Welle mit dem Schneide-Computerprogramm (Audio Work Station, kurz AWS) vertraut gemacht. Frau
Yvonne Cartier hat mich geschult. Ich habe mich sehr schnell in den Redaktionsalltag eingelebt. Mit Hilfe der Redaktionsmitglieder sind mir meine ersten Beiträge gelungen, so konnte ich viele weitere Reportagen machen.
Ich habe Interviews und Artikel gemacht während dieses Praktikums. Ich
habe auch gelernt, wie eine Sendung und insbesondere wie die Magazine
konzipiert werden können. Außerdem weiß ich jetzt, wie man eine Montage durch das Internet schaffen kann. Wie man in Bénin sagt: „Man schafft
immer seine Ausbildung, wenn man die Fähigkeiten und die Erfahrungen
der anderen zu benutzen weiß“. Die Deutsche Welle ist kein kleines Radio,
und ich habe viel entdeckt, obwohl ich nicht so lange geblieben bin. Mit den
Leuten, die dort arbeiten, habe ich entdeckt, was ich noch nicht kannte. Marie Ange Pioerron und ihre Gruppe waren besonders nett und großmütig zu
mir.
Meine Zeit in Bonn wird definitiv ein wichtiger Moment für meine Karriere sein.
Ich bin in Bonn am 2. November 2005 angekommen, aber vorher bin ich
kurz in Weimar gewesen, in Ostdeutschland.
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Rodrigue Guezodjé
5. Weimar
Weimar liegt ungefähr 440 Kilometer weit weg von Düsseldorf. Eine
kleine Stadt, aber eine lange Geschichte. Vom 26. Oktober bis 1. November bin ich mit den anderen Stipendiaten der Heinz-Kühn-Stiftung, Rodrigo Rodembusch und Marcio Pessoa und mit Frau Kilian von der Stiftung in
Weimar gewesen. Wir haben die Stadt von Goethe, dem berühmten Dichter, entdeckt.
Am 27. Oktober haben wir angefangen mit der Stadtführung durch die
historische Altstadt. Der Rundgang führte in ca. 2 Stunden vom Marktplatz
mit Rathaus und Lucas-Cranach Haus zum Platz der Demokratie mit Blick
zum Stadtschloss. Dann wanderten wir durch den Park an der Ilm zu Goethes Gartenhaus, weiter zum Liszt-Haus, dem Van-de-Velde-Bau der Bauhaus-Universität, zum Historischen Friedhof mit der Fürstengruft, zu Goethes Wohnhaus am Frauenplan, durch die Schillerstraße zum Schillerhaus
und auf den Theaterplatz mit dem deutschen Nationaltheater und dem Goethe- und Schillerdenkmal.
Nach einer kurzen Pause im Residenz Café, kam die Besichtigung des
Weimarer Hauses. Das ist ein Ensemble von Wachsfiguren, aufwändigen
Kulissen- und Theaterbauten, Special-Effects und Videoprojektionen und
führt durch 5 Jahrtausende Weimarer Geschichte. Die Wachsfiguren, hergestellt von berühmten Künstlern, lassen Goethe, Schiller, Luther, Napoleon und andere Stars der Thüringer Geschichte lebendig werden. Als die
Vorstellung zu Ende war, hätte ich alles gerne noch einmal gesehen, so
schnell ging es vorüber.
Der erste Tag endete mit einer Vorstellung von „Die Fledermaus“, einer
komischen Operette von Johann Strauss. Es sang der Opernchor des Deutschen Nationaltheaters Weimar in kleiner Besetzung, und es spielten Mitglieder der Staatskapelle Weimar. Für mich war es das erste Mal, dass ich
eine Operette gesehen habe, und auch die moderne Inszenierung in einem
ehemaligen Elektrizitätswerk fand ich sehr spannend.
Am 28. Oktober haben wir das Schloss Kochberg besucht, welches eine
Autostunde außerhalb von Weimar liegt. Dort hatte die Familie der Frau
von Stein ihren Sommersitz und auch Goethe hat hier einige Sommermonate verbracht. Unser Stadtführer, Herrn Jürgen Nitzsche, hat uns viele Details dazu erklärt, z.B. dass Goethe den Weg von Weimar nach Kochberg
meist zu Fuß zurückgelegt hat. Hinzu kam, dass wir einen wunderbaren goldenen Herbsttag hatten, den wir natürlich auch zu einer Erkundung des ausgedehnten Schlossparks und für viele Fotos genutzt haben.
Wieder zurück in Weimar besichtigten wir das Schillerhaus. Es ist der älteste auf der Schillerstraße erhaltene spätbarocke Bau aus dem Jahr 1777.
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Schiller erwarb das Haus im Mai 1802 und wohnte hier mit seiner Familie drei Jahre bis zu seinem Tod. Sein Arbeitzimmer war im Mansardengeschoss. Hier entstanden „Die Braut von Messina“ und „Wilhelm Tell“.
1847 erwarb die Stadt Weimar das Gebäude und richtete es als Memorialstätte ein. 1984-88 wurde das Haus restaurierend im Stile der Schillerzeit
unter Verwendung originaler Ausstattungsstücke eingerichtet. Im Mansardengeschoss sind das Arbeits- und Gesellschafts- und das Empfangszimmer Schillers mit teilweise originalem Inventar zu sehen. Im ersten Obergeschoss können die Wohnräume und eine Ausstellung zur Geschichte des
Hauses, sowie zur sozialen Situation Schillers besichtigt werden.
Am Abend waren wir im Deutschen Nationaltheater. Zur Aufführung gelangte „Fidelio“, die berühmte Oper von Ludwig van Beethoven. Es spielte
die Staatskapelle Weimar. Freiheit ist das große Thema in Beethovens einziger Oper, deren 1. Fassung 1805 in Wien uraufgeführt wurde. In dieser ursprünglichen Gestalt, die radikaler und kompromissloser ist als seine späteren Bearbeitungen kommt das Musiktheaterwerk im Schillerjahr 2005 auf
die Bühne des Deutschen Nationaltheaters. Der Kampf um die Freiheit des
Einzelnen und der Gesellschaft korrespondiert mit der persönlichen tragischen Verstrickung des Einzelnen. Gattenliebe und Freiheitsliebe gehen
eine dramatische Verbindung ein. Auch hier war die Inszenierung sehr modern. Vor allem die Bühnentechnik fand ich beeindruckend.
Auch am 29. Oktober hatten wir wieder ein volles Programm. Zuerst besichtigten wir Goethes Wohnhaus am Frauenplan, anschließend Goethes
Hausgarten und schließlich das Goethe Nationalmuseum. Es war also ein
ganzer Tag, der dem Dichter gewidmet war und wir lernten sehr viel Neues.
Als sich Goethe wegen seiner zunehmenden Verpflichtungen genötigt
sah, aus dem Gartenhaus im Park, das er bis zu seinem Tode als „Zufluchtsort“ außerhalb der Stadt beibehielt, in die Stadt zu ziehen, fand er am Frauenplan eine angemessene Bleibe. Das 1709 im barocken Stil erbaute Haus
bewohnte er bis zu seinem Tod 1832 nahezu fünfzig Jahre, zunächst als Mieter, später als Eigentümer. Das Haus war übrigens ein Geschenk seines Landesherrn, der ihn eng an Weimar gebunden wissen wollte.
Nachdem Goethes Enkel Walther das Haus einschließlich des Inventars und der Sammlungsbestände 1885 dem Staat Sachsen-Weimar-Eisenach hinterlassen hatte, wurde es 1886 als Memorialstätte eröffnet. Im ersten
Stockwerk und im Erdgeschoss waltete seine Frau Christiane ihres Amtes.
In der 1817 ausgebauten Mansarde fand der Sohn August von Goethe nach
seiner Verheiratung mit Ottilie von Podwitsch eine Wohnung. In Haus, Hof
und Garten wuchsen die Enkel Walther, Wolfgang und Alma auf.
Goethe führte, von Christiane unterstützt, ein gastliches Haus. Er schätzte
geistreiche Unterhaltung und Tischgespräche. Ausländische Gäste waren be122
Nordrhein-Westfalen
Rodrigue Guezodjé
sonders gern gesehen. In dem geräumigen Haus fand alles Platz, was ihm an
Kunst und Naturschätzen bewahrenswert erschien. Neben den Sammlungen
zur Geologie, Mineralogie und Botanik nahm das Haus all die Kunstschätze
auf, die Goethe in Jahrzehnten zusammentrug.
Der Hausgarten ist seit 1886 für die Öffentlichkeit zugänglich. Er wurde
hauptsächlich von seiner Frau Christiane betreut und diente der Versorgung
des großen Haushaltes mit Obst und Gemüse. Goethe führte zeitweise botanische Versuche im Garten durch und bestellte dafür einige Beete nach pflanzensystematischen Gesichtspunkten. Der Garten wird heute so erhalten wie
er in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts ausgesehen hat. Die früheren Gemüsebeete sind durch Rasenflächen ersetzt worden. Auf den Rabatten wachsen wieder Rosen, Aurikeln, Dahlien und viele andere Blütenpflanzen.
Mit seiner Gründung im Jahre 1885 übernimmt das Goethe-Nationalmuseum den Bestand an Kunstobjekten (ca. 26.000) und naturwissenschaftlichen
Beständen (ca. 22.000) aus Goethes Besitz. Auf ca. 800 m2 Ausstellungsfläche wird in thematischer Gliederung ein Panorama der Literatur, Kunst und
Politik zwischen 1750 und 1850 geboten. Es wird jene Epoche dargestellt,
die der „Grosse Alte vom Frauenplan“ geistig wesentlich mitprägte.
Am 30. Oktober sind wir nach Eisenach gefahren. Die stadtgeschichtliche Entwicklung Eisenachs ist eng mit der Geschichte der Wartburg verbunden. Ende des 13. Jahrhunderts begann man mit dem Ausbau und der
Befestigung der Stadtanlagen. Die Stadt entwickelte sich zur Durchgangsstation für den Handel. 1498-1501 besucht Martin Luther in Eisenach die
Lateinschule. 1685 wurde Johann Sebastian Bach in Eisenach geboren.
Um 1817 begann die Industrielle Entwicklung; Spinnereien, Mühlen, Färbereien, Färbefabriken entstanden. Im Zuge dieser Entwicklung wurden
die Verkehrstraßen ausgebaut, 1847 erhielt Eisenach einen Eisenbahnanschluss und wurde Verkehrsknotenpunkt der Region. Im August 1896 fand
der Gründungparteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei mit August Bebel an der Spitze in Eisenach statt. Heutzutage lebt die Stadt vom
Fremdenverkehr und der Autoindustrie.
Am Ende des Tages haben wir ein Symphoniekonzert in der Weimarer
Kongresshalle gehört.
Wir haben in diesen 6 Tagen viel über die Geschichte von Goethe, Schiller, Luther und vieler anderer berühmter Charaktere dieser Zeit gelernt.
6. Eindrücke
Zuerst möchte ich sagen, dass ich mich besonders gefreut habe, zur Familie der Heinz-Kühn-Stiftung zu gehören. Ich bin einer von diesen jungen
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Rodrigue Guezodjé
Nordrhein-Westfalen
Journalisten, die durch die Stiftung ausgebildet und in ihrer journalistischen
Kompetenz verbessert worden sind. Ich bin besonders froh, weil meine Reise fast ausgefallen wäre wegen einer mehrwöchigen Krankheit. Jetzt habe
ich Fortschritte auf Deutsch gemacht und während dieser 4 Monate viele
neue Eindrücke und Erfahrungen gesammelt. Obwohl es nicht genug war
um das ganze Deutschland kennen zu lernen, hat mir das Stipendium doch
ermöglicht, dieses Land zu entdecken.
Als ich in Deutschland war, sind viele wichtige politische Dinge passiert,
z.B. die Wahl von Angela Merkel zur ersten Bundeskanzlerin und das Jubiläum zur Deutschen Einheit.
Außerdem habe ich am 6. Dezember zum ersten Mal von Nikolaus gehört.
Er bringt Geschenke für kleine und große Leute.
Insgesamt, sowohl in Düsseldorf, als auch in Bonn, und auch an allen anderen Orten, die ich besucht habe, war ich immer sehr zufrieden und glücklich und ich freue mich, dass ich nun die Gelegenheit habe, mich an dieser
Stelle herzlich zu bedanken bei den Leuten, die das ermöglicht haben.
7. Danksagung
Ich möchte mich zuerst bedanken beim Vorsitzenden des Kuratoriums der
Heinz-Kühn-Stiftung, dem Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen
und den weiteren Mitgliedern des Kuratoriums der Stiftung. Dank auch an
Frau Ute Maria Kilian, sie hat meine Reise erfolgreich gemacht. Sie hat sich
um mich gekümmert wie eine Mutter und ich habe viel von ihr gelernt. Ich
vergesse auch nicht Marcio Pessoa und Rodrigo Rodembusch, mit denen ich
eine neue Familie aufgebaut habe. Vor allem werde ich werde die Stimmung
von Bonn und Weimar nie vergessen. Danke an alle, die dazu beigetragen
haben, dass dieses Praktikum so erfolgreich für mich war.
Danke natürlich auch der gesamten Equipe der Französischen Afrika-Redaktion der Deutschen Welle. Ich spreche ihnen meine Bewunderung für
ihre professionelle Arbeit aus und freue mich, dass ich hier sehr viel Neues
lernen konnte.
8. Schluss
Mein Praktikum in Deutschland hat angefangen am 4. September, und endete am 30 Dezember 2005. Während dieser 4 Monate habe ich so viel erfahren und so viel entdeckt. Das hat mir geholfen, die Welt mit anderen Augen zu sehen. Eine einmalige Erfahrung für mein ganzes Leben.
124
Michaela Lennartz
aus Deutschland
Stipendien-Aufenthalt in
Bhutan
vom 5. März bis 31. Mai 2006
125
Bhutan
Michaela Lennartz
Bhutan
zwischen Tradition und Moderne
Von Michaela Lennartz
Bhutan, vom 5. März bis 31. Mai 2006
127
Bhutan
Michaela Lennartz
Inhalt
1. Zur Person
130
2. Wie kommt man nach Bhutan?
130
3. Land des Donnerdrachen
132
4. Der König geht in Rente
134
5. Doma statt Zahnpasta
140
6. In der Stadt
144
7. Der Sonderweg
146
8. Die Wirtschaft
155
9. Buddhismus
163
10. Das gibt es nur in Bhutan
172
11. Die Zukunft
177
12. Danke
177
129
Michaela Lennartz
Bhutan
1. Zur Person
Ich wurde 1974 in Simmerath in der Eifel geboren. Nach dem Abitur habe
ich in Köln Politologie, Germanistik und Geschichte studiert. In der Schulzeit fing ich an für die Aachener Zeitung zu schreiben, später bin ich zur
Kölnischen Rundschau gewechselt. Zudem habe ich während meines Studiums für SAT 1, Phoenix und die Aktuelle Stunde beim WDR als Autorin
gearbeitet. Danach volontierte ich beim NDR und anschließend habe ich ein
halbes Jahr beim ARD Morgenmagazin als Redakteurin gearbeitet. Seitdem
arbeite ich wieder als freie Autorin unter anderem für die WDR Kultursendung west.art und die ARD Kindersendung neuneinhalb.
2. Wie kommt man nach Bhutan?
Indem man sehr viel Geduld hat. In meinem Fall dauert es über ein Jahr,
bis ich das Visum in der Hand habe. Davor schicke ich sieben Mal meinen Lebenslauf und mein Anliegen an dieselbe Adresse, denn immer wieder
kommen die Unterlagen in Bhutan irgendwie abhanden. Deutsche, die sich
mit dem Land auskennen, sagen mir immer wieder: „Da kann man nichts
machen. Man muss einfach Geduld haben.“ Erst als ich in Bhutan bin, weiß
ich es so richtig zu schätzen, dass ich dann schließlich doch ein Visum erhalten habe. Denn immer wieder wird mir von Leuten berichtet, die mit
ähnlichen Projekten kein Visum bekommen haben. Am liebsten nehmen die
Bhutaner Hilfsorganisationen auf, die viel Geld mitbringen oder Touristen,
die ein Rund-um-Paket buchen müssen für mindestens 200 Dollar pro Tag
oder mehr. Touristen bringen sehr viel Geld ins Land, sind immer wohlbehütet von einem Touristenführer und schnell wieder raus, weil Bhutan ein
teures Reiseland ist.
Für die Bhutaner gehören fremde Besucher zum normalen Alltagsbild, zumindest für die Bewohner der größeren Städte. Die Einheimischen sind gegenüber Touristen immer freundlich, aber niemals aufdringlich. In Bhutan
können sogar Prominente ihre Bodyguards zu Hause lassen, denn niemand
würde sie jemals auf der Straße angaffen oder ansprechen. So viel Gleichgültigkeit soll bei Cameron Diaz sogar leichte Depressionen hervorgerufen haben. Das soll aber nicht heißen, dass Bhutaner Hollywood-Stars nicht
erkennen würden. In Bhutan kann man im Fernsehen alle amerikanischen
Filme und Serien sehen. Aber Stars sind für Bhutaner völlig uninteressant.
Als Brad Pitt Bhutan besuchte, hat er in Bumthang, das liegt in der Mitte des
Landes, in einem gewöhnlichen Hotel geschlafen. Als er vom Hotelbesitzer, wie jeder andere Gast auch, bei seiner Ankunft begrüßt wurde, lief das
130
Bhutan
Michaela Lennartz
so ab: „Hi, ich bin Brad Pitt, Sieben Jahre in Tibet.” Darauf der bhutanische
Gastwirt: „Hi, ich bin Karma, zehn Jahre in Bumthang.”
Was ist an Bhutan also so besonders?
Nach einem Jahr finde ich endlich eine Einrichtung, die sich bereit erklärt,
für mein Handeln in Bhutan die Verantwortung zu übernehmen: CBS – das
Center for Bhutan Studies. Ein unabhängiges Forschungsinstitut, wie sein
Leiter betont, vom König selbst ins Leben gerufen. Das Institut veröffentlicht wissenschaftliche Publikationen zu unterschiedlichen Themen und sieht
sich ein bisschen als Heimat der geistigen Elite Bhutans. Für 500 Dollar im
Monat nimmt mich CBS als eine Art Praktikantin auf und kümmert sich um
mein Visum. 500 Dollar im Monat hören sich erst mal nach sehr viel Geld
an – sind im Vergleich zu 200 Dollar pro Tag aber ein echter Glücksgriff. Für
das Geld soll ich eigentlich einen Counterpart, also einen Kollegen, der sich
nur um mich kümmert, einen Arbeitsplatz mit Telefon und Internet bekommen. Solche vertraglichen Vereinbarungen nehmen die Bhutaner allerdings
nicht so genau. CBS ist vorübergehend in ein anderes Gebäude umgezogen,
und mein eigentlicher Arbeitsplatz bleibt bis zu meinem Abflug die Teeküche: Da stand ein halbfunktionsfähiger Computer auf einem kaputten Tisch
und manchmal auch ein Stuhl. Natürlich reagiert man auf so etwas immer
mit einem Lächeln und den Worten ‚kein Problem’.
Je länger ich als Journalistin im Land bin, desto mehr wundere ich mich,
dass ich überhaupt dort bin. Zu verdanken habe ich diesen Umstand, glaube ich, nur einer Person: Phub Dem, einer Sekretärin von CBS. Nachdem
wir einige Emails über die Formalitäten ausgetauscht haben, in denen ich
sie fälschlicherweise als Mister angesprochen habe, schreibt sie mir, sie sei
eine Frau und wäre gerne meine Schwester. Das ist eine der höchsten Auszeichnungen in Bhutan und meint eine Freundschaft, die durch dick und
dünn geht. Ohne Sister Phub wäre ich also wohl nie nach Bhutan gekommen. Denn ab diesem Zeitpunkt hatte ich endlich jemanden, den ich immer
wieder wegen meines Visums nerven konnte.
Jeder Ausländer, der in Bhutan arbeitet, bekommt einen so genannten
Counterpart an seine Seite. Er hilft einem bei allem, was man in Bhutan machen möchte. Mein Counterpart Sonam wird extra für mich mit Zeitvertrag
engagiert, weil ich unbedingt jemanden haben will, der Auto fahren kann.
Sonam hat in Indien Wirtschaft studiert und ist 23 Jahre alt. Zumindest nach
unserer westlichen Zeitrechnung, für die bhutanische ist er schon 24 Jahre
alt, denn die Bhutaner zählen die neun Monate im Mutterleib mit. Am Anfang denke ich, die Nummer mit dem Counterpart ist ja ein bisschen wie in
China, ein bisschen Überwachung getarnt als Hilfe. Aber die bhutanischen
Counterparts sind damit nicht zu vergleichen. Sie sind ausschließlich dafür
da, um das Arbeiten in Bhutan so erfolgreich wie möglich zu machen. Nach
131
Michaela Lennartz
Bhutan
anfänglicher Skepsis bin ich für meinen Counterpart Sonam sehr dankbar,
denn er ist ein begnadeter Geschichtenerzähler. Zudem ist er einer der wenigen, die ihr Land auch aus einer gewissen Distanz betrachten können. Mit
Sonam erforsche ich also drei Monate Bhutans Balance zwischen Tradition
und Moderne.
3. Land des Donnerdrachen
Bis in die 60er Jahre gab es für die Menschen in Bhutan nur Bhutan. Sie
lebten völlig abgeschottet von der Außenwelt. Erst 1960 wurde die erste
Straße gebaut. Davor galt Bhutan als das verbotene Land, weil kaum ein
Ausländer bis dahin jemals in Bhutan war. Erst 1974 durften die ersten Touristen in das Land. Bhutan – eingeklemmt zwischen den beiden Riesen China und Indien, so groß wie die Schweiz, aber nur rund 600.000 Einwohner.
Um sich gegenseitig zu besuchen, mussten die Bewohner sich früher Wochen lang über kleine Pfade durch dichteste Urwälder kämpfen und dabei
einen Berg nach dem anderen bewältigen. Das hat dazu geführt, dass sie gewaltige Stimmbänder ausgebildet haben, denn kommuniziert wurde per Ruf
von Berg zu Berg. So machen das die Menschen auf dem Land heute immer
noch. Viele der Pfade und Pässe sind durch die neue Infrastruktur wieder zugewachsen, einige aber werden noch heute benutzt. 72 Prozent des Landes
sind mit Wald bedeckt und auf 20 Prozent der Berge liegt immer Schnee.
Bhutan liegt im östlichen Himalaya und verfügt über eine der erhabensten
und wildesten Gebirgsketten der Welt. Eine Legende sagt, dass sich Bhutans
Grenzen dort befinden, wo Steine vom Berg gerollt und liegen geblieben
sind. Diese Legende kann jeder sofort verstehen, der einmal im Süden von
der indischen Seite aus Richtung Norden nach Bhutan guckt. Erst von dort
aus kann man einschätzen, wie wuchtig das Bergmassiv Bhutans ist. Der
Himalaya erscheint dann als ein unbezwingbares Ungetüm, das Bhutan wie
eine gewaltige Barriere vor dem Rest der Welt beschützt. Im Norden ragen
die Berge über 7.000 Meter weit auf, der höchste ist 7.541 Meter hoch und
wurde noch nie bestiegen, wie so viele Berge in Bhutan. Sie gelten als heilig, weil dort die Götter wohnen. Der Süden ist flacher. Dort herrscht tropisches Klima und es gibt einen wilden, unpassierbaren Dschungel. Im Norden grenzt Bhutan an Chinas autonomes Gebiet Tibet, im Osten, Süden und
Westen an die Indischen Staaten Arunachal Pradesh, West Bengalen, Assam
und Sikkim.
Schon der Anflug auf Bhutans einzigen Flughafen in Paro im Westen
des Landes ist spektakulär. Während meines Flugs von Kathmandu ist der
Himmel völlig verhangen, so sehe ich leider gar nichts von Himalayagip132
Bhutan
Michaela Lennartz
feln. Beim Landeanflug muss der Flieger erst mal durch eine dicke Wolkenschicht dringen, bis wir plötzlich eine scharfe Rechtskurve fliegen und uns
gefährlich nah über den Bergen des Paro-Tals befinden. Das Flugzeug fliegt
so tief, dass ich sogar das Plumpsklo eines bhutanischen Hauses erkennen
kann. Die einzige Fluggesellschaft mit der man nach Bhutan fliegen kann,
ist Druk Air, Bhutans staatliche Fluggesellschaft. „Der Flugzeugbauer Airbus hat den Flughafen in Bhutan zum anspruchsvollsten der Welt erklärt”,
erzählt Teppee, der Marketing Chef von Druk Air, stolz. Nur bhutanische
Piloten dürfen die Maschinen von Druk Air fliegen, der Fluggesellschaft,
die es bereits seit 23 Jahren gibt. Die Geschäfte bei Druk Air laufen so gut,
dass im letzten Jahr sogar zwei neue Airbus 319 angeschafft wurden. Mit
modernster Technik fliege ich also in ein Land, in dem die Zeit still zu stehen scheint.
Seinen Namen hat Bhutan wahrscheinlich von dem Wort “Bhot-ant”. Das
ist Sanskrit und bedeutet das Ende von Tibet. Eine andere Möglichkeit ist
“Bhu-uttan”, was hohes Land bedeutet. Wie bergig Bhutan ist, merkt man
auch dann, wenn man bei einem Passanstieg mit dem Auto nur ganz selten in den zweiten Gang schalten kann. Zwischen schroffen Abhängen und
steilen Schluchten kriecht man mitten im Nirgendwo. Für 200 Kilometer
braucht man in Bhutans Bergen locker sieben Stunden. Als ich nach vielen
Passüberfahrten im Schneckentempo einmal auf dem halbfertigen Highway
vor der Hauptstadt Thimphu 60 km/h fahre, habe ich das Gefühl, ich würde 200 km/h fahren und gleich abheben. Auf den Pässen in 4.000 Metern
Höhe ist meist dichter Nebel. Manchmal sieht man keine zehn Meter weit.
„A kingdom in the sky“ hört man immer wieder über Bhutan. Jetzt weiß ich,
dass das nicht nur eine Metapher ist. Ich habe wirklich das Gefühl, dass die
Passstraßen direkt in den Himmel führen.
Die Bhutaner selbst nennen ihr Land Druk Yul, was übersetzt‚ Land des
Donnerdrachen’ heißt. Der Begriff stammt aus dem 12. Jahrhundert. Als ein
Heiliger in Tibet ein Kloster eingeweiht hat, hörte er einen Blitz und dachte, das sei die Stimme eines Drachen, der Buddhas Weisheiten verkünde. Er
nannte das Kloster daraufhin Druk, also Drache und die von ihm begründete buddhistische Schule Drukpa. Als diese religiöse Schule Bhutan im 17.
Jahrhundert vereinigte, gab sie dem Land ihren Namen: Druk Yul. Heute ist
Bhutan das letzte Land der Welt, das Buddhismus offiziell als Staatsreligion anerkennt.
Rund 40.000 Mönche leben in Bhutan. Man sieht sie überall, die glatt geschorenen Köpfe mit ihren roten Roben: in der Hauptstadt Thimphu beim
Einkaufen oder auf einer einsamen Wanderung mitten in den Bergen. Selbst
im einsamsten Kloster freuen sie sich, wenn sie fotografiert werden. Und
ich habe in der ganzen Zeit keinen Mönch getroffen, der nicht weiß, dass
133
Michaela Lennartz
Bhutan
man sich bei einer Digitalkamera nach dem Fotoschuss gleich angucken
kann. Darüber freuen sich vor allem die kleinen Mönche. Davon gibt es
jede Menge in Bhutan. Für Familien ist es eine große Ehre, wenn eines ihrer
Kinder ins Kloster aufgenommen wird. Denn so erhalten die Kinder eine
sehr gute Ausbildung und eine gesicherte Zukunft. Jeder Mönch wird vom
Staat finanziell unterstützt, denn der Glaube ist sehr wichtig in Bhutan – er
ist fest verwurzelt im Leben jedes Bhutaners. Wer aus dem Westen kommt,
wird immer wieder überrascht sein, wie oft einem die Religion im Alltag
begegnet.
4. Der König geht in Rente
Bhutan ist eine Erbmonarchie. 2008 geht Bhutans König Jigme Singye
Wangchuk in Rente. Er übergibt seine Macht an ein gewähltes Parlament
und seinen Thron, der künftig überwiegend eine repräsentative Funktion hat,
besteigt sein Sohn. Jigme Singye Wangchuk ist der einzige König, der seine Macht freiwillig an ein Parlament abgibt. Schon in seiner Jugend ist er in
die Geschichte eingegangen. Als sein Vater unerwartet verstarb, wurde der
damals 16-jährige der jüngste König, den es jemals auf der Welt gab. Und
mit 52 Jahren wird er auch der jüngste König sein, der jemals freiwillig in
Rente geht.
Zwei Jahre lang hat Jigme Singye Wangchuk mit Experten deshalb eine
Verfassung ausgearbeitet. Schon in seiner Krönungsrede 1974 erklärt der
König, er werde sein Volk in die Demokratie führen. „Wir glauben, dass der
König nicht als gewöhnlicher König geboren wurde. Mit seinen angeborenen Qualitäten hat er es geschafft, Bhutan aus der Isolation zu führen und in
ein entwickeltes Land zu verwandeln. Ich glaube, ohne diese angeborenen,
übernatürlichen Fähigkeiten unseres Königs, hätte Bhutan sein heutiges Niveau niemals in nur 35 Jahren erreicht”, schwärmt Tsering Wangda, der erste Staatssekretär im Innenministerium.
Eine Erbmonarchie ist Bhutan erst seit einem knappen Jahrhundert. Bis
1907 wurde es von einer religiösen und weltlichen Doppelspitze geleitet,
die zusammen im Dzong, der Distriktverwaltung, saßen. Die Dzongs wurde immer an strategisch wichtigen Orten gebaut und prägen durch ihre herrschaftliche Architektur bis heute die Landschaft Bhutans. Dieses System hat
Shabdrung, der große Führer der Drukpa-Schule, im 17. Jahrhundert eingeführt, um die religiöse und kulturelle Identität zu bewahren. Shabdrung ist
ein Ehrentitel und heißt ‚derjenige, dem man sich zu Füßen wirft’. Eigentlich hieß er Ngawang Namgyel und kam aus einer tibetischen Fürstenfamilie. Er wurde in Tibet verfolgt und musste 1616 nach Bhutan fliehen. Shab134
Bhutan
Michaela Lennartz
drung einigte Bhutan und das von ihm eingeführte System aus weltlicher
und religiöser Macht funktioniert in Bhutan bis heute. In jedem Dzong sitzt
sowohl die staatliche Verwaltung als auch das religiöse Oberhaupt: „Wir
haben eine einflussreiche Mönchs-Institution hier. Der Status des obersten
Mönchs ist genau so hoch wie der des Königs. Allerdings beschränkt sich
seine Macht auf den religiösen Bereich”, so Staatssekretär Wangda. Dies
sei wichtig, denn die Menschen in Bhutan würden den religiösen Führern
blind folgen. Als der König nach dem unerwarteten Tod seines Vaters an die
Macht kam, hat er seine Politik der Balance zwischen Tradition und Moderne fortgesetzt. Bhutan hat eine Nationalversammlung. Sie besteht aus 150
Mitgliedern, die allerdings nicht vom Volk direkt gewählt werden. 105 Mitglieder sind so genannten Chimis, sie repräsentieren die 20 Distrikte und
werden von den Dorfvorstehern gewählt. 35 Mitglieder werden vom König
bestimmt, zehn vom buddhistischen Klerus.
Bis 1998 war der König auch Vorsitzender der Nationalversammlung. Zugunsten des Demokratisierungsprozesses übergab er die exekutive Macht an
eine gewählte Ministerriege, obwohl sein Volk heftig dagegen protestierte.
Die Nationalversammlung tritt einmal im Jahr zusammen und ist wohl das
lockerste Parlament der Welt. Hier dürfen die Abgeordneten sogar essen und
Tee trinken. Bis 1998 wurden die Minister vom König ernannt. Seitdem werden sie von der Nationalversammlung gewählt. Es gibt insgesamt zehn Minister. Die Minister wählen aus ihren eigenen Reihen den Premierminister.
Genau genommen haben sie vor einigen Jahren fünf Kandidaten gewählt,
und jeder von ihnen darf ein Jahr Premierminister sein. Jetzt im Frühjahr
2006 ist gerade der älteste Bruder der Königinnen dran. Die Nationalversammlung kann mit einer zweidrittel Mehrheit dem königlichen Staatsoberhaupt sein Misstrauen aussprechen und ihn zum Rückzug zugunsten des
Thronfolgers zwingen.
Um die Menschen langsam auf die Demokratisierung vorzubereiten, hat
der König vor vier Jahren bestimmt, dass jedes Dorf einen Ortsvorsteher
wählen muss, der verantwortlich ist für die Entwicklung des Dorfes. Zuvor wurde alles zentral von Thimphu aus bestimmt. Seit dem Dezentralisierungsprozess jedoch, kann der Ortsvorsteher entscheiden, welche Straße
oder Brücke gebaut werden muss oder welche Schule mehr Unterstützung
braucht. Er geht mit seinem Anliegen zu dem zuständigen Chimi, also dem
Vertreter in der Nationalversammlung, der den Antrag dort einbringt. Die
Schule in Wangdue, die früher aus einer einzigen Holzhütte bestand, sieht
jetzt aus wie ein amerikanischer Campus. Der Schuldirektor weiß noch zu
gut, wie es früher war: „Als ich hier anfing, mussten die Kinder stundenlange Fußmärsche zur Schule zurücklegen. Sie waren davon so müde, dass
richtiger Unterricht gar nicht möglich war. Durch das neue System der Re135
Michaela Lennartz
Bhutan
gierung haben wir jetzt ganz viele neue Unterkünfte bekommen, wo die
Kinder schlafen können. Außerdem sind gerade 22 Gebäude im Bau, damit wir dem Ansturm gerecht werden können.“ Dort wo sich die Kinder
früher durch kleine Urwaldpfade schlagen mussten, führt jetzt eine breite
befestigte Straße hoch. Die Ortsvorsteher sind die einzigen in Bhutan, die
sich offen dazu bekennen, 2008 eine Partei zu gründen. Wie allerdings das
politische Programm aussehen soll, darüber haben sie sich zu diesem Zeitpunkt noch keine Gedanken gemacht oder wollen es zumindest nicht verraten. Klar ist, dass die Ortsvorsteher sehr mächtig sind in Bhutan und diese Macht auf keinen Fall verlieren wollen. Das zeigt auch das Beispiel von
Kesang. Seine Familie wohnt in Lobesa. Dort haben sie viele Jahre auf ein
nahe gelegenes Kloster aufgepasst. Als Dank haben ihnen die Mönche dafür ein Grundstück geschenkt. Als Kesang vor einigen Jahren dort für seine Familie ein Haus bauen wollte, hat der Ortsvorsteher das verboten. Das
Grundstück liegt direkt an der Straße und ist nicht weit von einer Quelle mit
dem besten Trinkwasser Bhutans entfernt. Der Ortsvorsteher wollte sich das
Grundstück selbst unter den Nagel reißen und hat der Familie stattdessen
ein minderwertigeres Stück Land angeboten. Am Ende ist die Geschichte
für Kesang doch gut ausgegangen, denn er hat sich direkt an den König gewandt, der oberster Richter und höchste Berufungsinstanz in Bhutan ist. Am
Ende hat Kesang Recht bekommen.
Bis 2001 gab es keine Anwälte an den Gerichten. Man konnte sich selbst
verteidigen oder jemanden aus dem Dorf mitbringen, der eloquent war und
die Nationalsprache Dzongkha fließend spricht. Nach 2001 hat die Regierung angefangen, solche Redner professionell auszubilden. Sie heißen Jebmis. Freie Anwaltskanzleien aber gibt es bis heute nicht. Die drei bis fünf
Jura-Studenten am College pro Jahrgang müssen sich um ihre Zukunft keine
Sorgen machen. Sie werden sofort von Firmen angeworben. Ein funktionierendes Justizwesen ist in Bhutan gerade erst im Aufbau.
In die internationale Kritik geriet Bhutan Ende der 80er Jahre, als ein
Gesetz über die Staatsbürgerschaft verabschiedet wurde, das besagt, dass
nur diejenigen Bhutaner sind, die bereits vor 1958 Bhutaner waren oder direkte Nachkommen eines solchen sind. Das bedeutete, dass vor allem die im
Süden wohnende nepalistämmige Bevölkerung das Land verlassen musste.
Nepalis überwiegend hinduistischen Glaubens waren im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert nach Bhutan gekommen, weil die Lebensbedingungen
in Bhutan und die Aussicht auf Arbeit viel besser waren als in ihrem eigenen Land. Zu dieser Zeit waren sie in Bhutan als günstige Arbeitskräfte auch
sehr willkommen. Die Nepalis ließen sich hauptsächlich im Süden Bhutans
nieder. Die Regierung versuchte, sie zu integrieren. Nepali wurde im Süden die zweite offizielle Amtssprache und Schulfach und auch die staatli136
Bhutan
Michaela Lennartz
che Zeitung Kuensel erschien auf Nepali. 1958 schloss die Regierung die
Grenze zu Nepal, um eine weitere Einwanderung zu unterbinden. Die sich
im Land befindenden Nepalis konnten die bhutanische Staatsbürgerschaft
beantragen, und es blieb zunächst ruhig im Land. In den späten 80er Jahren aber hatte die bhutanische Regierung den Eindruck, dass die nepalische
Volksgruppe begann, sich politisch zu organisieren und Demokratie zu fordern. Eine Volkszählung von 1980 hatte zudem ergeben, dass ein Viertel aller Einwohner Bhutans aus Nepal stammt. Die Bhutaner sahen sich in ihrer
nationalen Identität bedroht und entschieden, dass das Tragen der traditionellen Tracht in Schulen und öffentlichen Gebäuden Pflicht wurde. Der
Sprachunterricht in Nepali wurde wieder vom Stundenplan gestrichen. Die
Nepalis sollen sich jedoch geweigert haben, die bhutanische Nationaltracht
zu tragen und die Nationalsprache Dzongkha zu sprechen. Das ist zumindest
die Sichtweise der Bhutaner. Mitte der 90er Jahre kam es zu immer mehr
Unruhen im Süden und viele Nepalis mussten in Flüchtlingscamps im Süden Nepals fliehen, wo bis heute noch Tausende leben, die immer noch hoffen, wieder nach Bhutan zurückkehren zu können. Immer wieder liest man,
dass die Nepalis gewaltsam vertrieben worden seien. Darüber gibt es aber
keine gesicherte Quellenlage. Das Thema ist bis heute nicht richtig aufgearbeitet und gilt als sehr sensibel.
Auch in der neuen Verfassung ist festgelegt, dass beide Elternteile Bhutaner sein müssen, damit auch das Kind die bhutanische Staatsbürgerschaft
erhält. Um einen Bhutaner heiraten zu dürfen, muss man als Ausländer sehr
gut Dzongkha sprechen. Wenn die Ehe scheitert, darf der Nicht-Bhutaner
nicht länger im Land leben, es sei denn, er hat eine Arbeitsstelle. Die bhutanische Regierung hat große Angst davor, dass ihre Bevölkerung von rund
630.000 Menschen ihre Identität verliert.
Wenn man in Bhutan längere Zeit lebt, bekommt man erst ein Gefühl dafür, wie klein das Land ist. Irgendwie kennt jeder jeden. Nichts bleibt verborgen. Das kann große Nachteile haben, wenn man etwa als Journalist arbeitet.
Kinley Dorji, der Chefredakteur von Bhutans ältester Zeitung Kuensel erzählt mir, seine Zeitung habe eine negative Geschichte über eine Familie gebracht. Als der fünfjährige Sohn dieser Familie Geburtstag feierte, sei sein
Sohn nicht eingeladen worden, obwohl die beiden beste Freunde seien. „In
einer großen Gesellschaft schreibst du deine Geschichten und lebst dein Leben. Hier aber triffst du die Leute, über die du schreibst, auf dem Markt, auf
Partys, auf der Straße, überall.“ Einmal hat ein Reporter etwas über Drogenmissbrauch in Thimphu geschrieben. Daraufhin seien die angesprochenen
Leute in das Büro des Chefredakteurs gekommen und hätten gesagt: „Früher hat der selbst Drogen genommen und jetzt schreibt er so etwas über
uns.“ „Wenn man in Bhutan als Journalist arbeiten möchte, muss man sehr
137
Michaela Lennartz
Bhutan
klar in seinen Prioritäten sein. Man kann nicht alle Menschen glücklich machen. Früher oder später werden die Menschen dich so akzeptieren”, resümiert Kinley.
Der König kennt sein Volk ganz genau. Immer wieder bereist er die abgelegensten Ecken, um nicht den Kontakt zu diesen Menschen zu verlieren.
Er verlässt nie offiziell das Land. Besuche im Ausland, wie zum Beispiel
das Thronjubiläum des thailändischen König Bhumibol im Juni, übernimmt
sein Sohn, der Kronprinz. Es gibt wohl keinen, der bei allen so beliebt ist
wie der bhutanische König. Sein Foto hängt in jedem Büro und in jedem
Wohnzimmer. Die Bhutaner tun das freiwillig, weil sie ihn so verehren. „Der
einzige Fehler, den unser König gemacht hat, ist vier Schwestern zu heiraten”, erklärt Kesang Dema, eine Reporterin der Zeitung, mit einem Schmunzeln. Denn die königliche Familie, die in Bhutan viele Privilegien genießt,
werde so immer größer und einflussreicher. Aber wirklich ernst meint kein
Bhutaner diese Kritik am König. Alle gönnen ihm, dass er seit 28 Jahren
mit vier Schwestern gleichzeitig verheiratet ist. Viele Männer werden ihn
heimlich sogar beneiden. Zehn Kinder hat der König mit seinen vier Frauen.
Sein ältester Sohn Jigme Khesar Namgyel Wangchuk ist der Sohn der drittältesten Königin und der künftige König Bhutans. Bis heute soll der König
ein großer Frauenverehrer sein. Er lebt ganz bescheiden neben der ältesten
Königin Ashi Dorji Wangmo Wangchuck in einer kleinen Holzhütte. Mit ihr
verbringt er die meiste Freizeit zusammen. Als die älteste Königin im Mai
ihr neuestes Buch vorgestellt hat, sind alle zehn Königskinder und eine weitere Königin zu der Feier gekommen. Nach dem offiziellen Teil ging es bei
den Kindern ziemlich fröhlich zu, so wie in jeder anderen Familie auch. Ich
bin nur durch Glück auf diese Veranstaltung gekommen, denn es waren nur
die bedeutendsten Leute des Landes geladen. Umso verwunderter bin ich, als
plötzlich der Kronprinz auf mich zukommt und mit mir plaudert. Weil alle
Mitglieder der Familie so volksnah sind, lieben die Bhutaner ihre Royals.
Diese einzigartige adelige Familien-Konstellation, ein König verheiratet
mit vier Schwestern, haben hohe Lamas entschieden. Bhutan ist eine Erbmonarchie. Alle drei vorherigen Könige sind sehr früh gestorben. Die buddhistischen Führer Bhutans haben daher entschieden, dass der vierte König
gesünder und länger leben würde, wenn er gleich vier Frauen auf einmal
heiratet. Da die Worte der großen Lamas bis heute Gebot sind, hat der jetzige König die vier Schwestern einer religiös sehr bedeutenden Familie geheiratet. Sie sind Nachkommen der Shabdrung-Familie, der Familie des großen Vereinigers Bhutans. König und Kronprinz reisen seit Monaten durchs
Land und besuchen alle 20 Dzongkhags, so heißen die Verwaltungsbereiche
in Bhutan, um den Menschen den Verfassungsentwurf zu erklären. Da in
Bhutan nicht alle die offizielle Landessprache Dzongkha sprechen, wurde
138
Bhutan
Michaela Lennartz
die Verfassung in die über 20 Dialekte übersetzt. Je nach dem wie abgelegen
der Distrikt ist, brauchen die Menschen mehrere Tage, um zu der Veranstaltung zu wandern. Als Dank bekommen sie Essen und Trinken umsonst. In
ihre besten Kleider gehüllt, sehen viele König oder Kronprinz zum ersten
Mal. Zunächst wird die Verfassung in dem jeweiligen Dialekt vorgelesen.
Anschließend erläutert der Kronprinz oder sein Vater die Gesetze Absatz für
Absatz. Danach dürfen die Menschen alles fragen, was ihnen auf der Seele brennt – das ist dem König besonders wichtig. Einmal hat ein Mann den
König gefragt, ob der künftige König denn auch wieder so viele Frauen auf
einmal heiraten dürfe. Der König antwortete mit einem Schmunzeln: „Nein,
das wird in der Geschichte von Bhutan nie wieder vorkommen.“ Dann müsse das so auch in die Verfassung geschrieben werden, hat der Mann entgegnet. Der König lächelte und versprach, darüber nachzudenken. Momente
wie dieser zeigen die Größe des Königs. Keiner in Bhutan möchte, dass er
seine Macht an ein gewähltes Parlament abgibt und den Thron seinem Sohn
überlässt.
Man sollte aber trotzdem keine Witze über die Ehe zu Fünft im Beisein
der königlichen Familie machen. Ein japanischer Arzt erzählt mir, dass ihm
eine der Königinnen während der Behandlung mal gesagt habe, er solle
doch eine Bhutanerin heiraten. Worauf er als Witz geantwortet habe: Oder
gleich vier. Die Königin fand die Antwort wohl nicht so lustig und warf ihm
einen bitterbösen Blick zu.
Jede Königin hat ihr eigenes soziales Betätigungsfeld. Die älteste Königin
hat zum Beispiel im Jahr 2003 die Tarayana Stiftung gegründet, nachdem sie
ihr Land zu Fuß durchwandert hatte. Die Stiftung trägt dazu bei, die soziale
Entwicklung im Land voranzutreiben.
Das Einzige, was der Kronprinz bei der Wahl seiner Braut beachten muss,
ist, dass sie Bhutanerin ist. So steht es in der Verfassung. Es wird gemunkelt, dass der Kronprinz schon seit Jahren mit einer sehr schönen Bhutanerin fest liiert sein soll. Alle Königskinder führen ein ganz normales Leben.
Wenn man abends in der Hauptstadt Thimphu in eine Bar oder Disko geht,
kann es gut sein, dass man die älteren Königskinder trifft. Alle Bhutaner legen großen Wert auf die Privatsphäre der königlichen Familie und würden
sie niemals ansprechen oder angaffen. Die bhutanische Presse würde niemals Paparazzifotos schießen oder darüber schreiben, wenn eines der Familienmitglieder mit einem Glas Bier in der Hand gesehen wurde. Um zukünftig politischen Einfluss seiner Familie zu begrenzen, hat der König in
der Verfassung festgelegt, dass kein Mitglied der königlichen Familie einer
Partei angehören darf.
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Michaela Lennartz
Bhutan
5. Doma statt Zahnpasta
Thimphu ist nicht Bhutan, bekomme ich immer wieder zu hören. Also
machen wir uns auf in die Mitte Bhutans nach Wangdue zur Familie meines
Counterparts Sonam. Bevor wir uns in die Berge zum Haus aufmachen,
halten wir erst mal in einer kleinen Stadt an, um in einem Kiosk Geschenke
für die Familie zu kaufen: zwei riesige Kartons mit ungeschälten Betelnüssen und zwei große Tüten voller grüner Blätter, die Betelpfeffer heißen.
„Das ist das beste Geschenk, das du Leuten auf dem Dorf machen kannst.“
Denn an Betelnüsse zu kommen, ist ziemlich aufwendig, wenn man weit
weg von jeder Zivilisation wohnt. In Bhutan isst fast jeder Doma. Die
Volksdroge besteht aus drei Bestandteilen: dem Betelpfefferblatt, einem
Stück Betelnuss und Kalkpaste. Die Kalkpaste verteilt man auf das Blatt,
rollt das Stück Betelnuss zu einem kleinen viereckigen Paket und steckt es
in die Backentasche des Mundes. Dann kaut man auf dem knochenharten
Teil minutenlang herum, bis man nur noch kleine Nussfetzen im Mund hat,
die man einfach irgendwo hinspuckt. Guru Rinpoche, der den Buddhismus
nach Bhutan gebracht hat, soll das Doma-Kauen eingeführt haben, um den
Bhutaner den Kannibalismus auszutreiben. Im 8. Jahrhundert haben die
bhutanischen Stämme viele Kriege gegeneinander geführt und sollen ihre
Feinde nach gewonnener Schlacht aufgegessen haben. Das Blatt, in das die
Nuss eingelegt wird, symbolisiert die Haut des Feindes, die Paste seinen
Geist, die Nuss seinen Körper und die rote Flüssigkeit, die man ausspuckt,
sein Blut.
Beim Kauen steigt eine leichte Wärme im Körper auf und dann plötzlich
ein stechender Schmerz im Magen. Das passiert aber nur, wenn man Doma
zum ersten Mal probiert oder lange nicht gegessen hat. Lippen und Mundwinkel sind rot wie Blut und die Zähne sehen aus, als ob sie noch nie im
Leben geputzt worden seien. Viele der älteren Bhutaner benutzen statt einer
Zahnbürste Doma. Sie glauben, dass nur Doma die Zähne richtig reinigt. In
Wahrheit aber sehen ihre Zähne ziemlich Furcht einflößend aus, wenn sie
entblößt werden. „Schon als Kind habe ich Doma gegessen. Ich konnte die
Betelnuss natürlich noch nicht selber zerkauen, so hat sie meine Mutter für
mich immer vorgekaut”, erzählt Sonam. Die Bhutaner essen Doma nicht
wegen ihrer leicht anregenden Wirkung – der Körper der meisten scheint
inzwischen schon immun. Doma-Kauen ist eine Gewohnheit und gehört zu
Bhutans Tradition. Wenn man in Thimphu über den Bürgersteig geht, muss
man immer aufpassen, dass man nicht von einer Ladung Betelnuss-Spucke
getroffen wird. Noch viel schlimmer ist, dass Doma Magenkrebs verursacht
und Zähne und Zahnfleisch zerstört. In den letzten Jahren ist die Zahl der
registrierten an Magenkrebs erkrankten Menschen stark gestiegen. Im Mo140
Bhutan
Michaela Lennartz
ment ist das vielen Bhutanern noch egal. Für sie ist Doma wie ein Dessert,
ohne das sie kein Essen abschließen. Für Sonam war Doma besonders nach
dem Frühstück wichtig, was für einen Nicht-Doma-Esser im Auto ziemlich
unangenehm werden konnte. Betelnüsse stinken nämlich ganz schön.
So langsam kommt das Haus von Sonams Familie näher. Irgendwo auf
dem Ost-West-Highway parken wir den Wagen in einer Kurve und steigen
bepackt mit Betelnüssen aus. „Hier parken wir immer”, sagt Sonam beruhigend. Dem Wagen passiert schon nichts. Mit unserem vielen Gepäck
rutschen wir eine steile Wand hinunter, hangeln uns entlang einer provisorischen Brücke über einen reißenden Fluss und quälen uns eine Stunde lang
im Eiltempo einen Pfad hoch, der so steil ist, dass auch Reinhold Messner
die Puste ausgehen würde. Dann kommen wir endlich im Heimatdorf von
Sonams Mutter an, das aus genau zwei Häusern besteht: dem von Sonams
Opa und dem der Nachbarin. Die restlichen Dorfbewohner leben irgendwo im Berghang, manche weitere drei Stunden Aufstieg entfernt. Wir sind
schon in 3.400 Metern Höhe, aber noch immer ist alles grün. Die schneebedeckte Zugspitze ist nicht einmal 3.000 Meter hoch. So ein Haus zu besitzen, gilt in Bhutan als Luxus, weil es nur eine Stunde Fußmarsch von
der Straße entfernt ist. Zehn Prozent der Bevölkerung lebt noch heute über
sechs Stunden Fußmarsch entfernt von der nächsten Straße. Vor ein paar
Jahren hat der Opa neben sein altes Haus ein neues großes hingesetzt, ganz
in bhutanischem Stil. Das Haus ist rechteckig, eine Fachwerkkonstruktion.
Die Holzbalken werden ohne Nägel zusammengehalten. Das Fachwerk ist
offen und wird mit einem Bambusgeflecht gefüllt und weiß verputzt. Meistens sind die Holzbalken mit aufwendigen Schnitzereien und Malereien verziert. Traditionell haben die Fenster keine Glasscheiben. Nachts werden die
Fenster mit Schiebläden verschlossen. Früher wohnten die Tiere parterre,
aber das ist aus hygienischen Gründen heute verboten. Jetzt lagern hier Geräte oder Vorräte. Die übrigen Stockwerke erreicht man über einen Baumstamm, in den man kleine Trittstufen geschnitzt hat. Im ersten Stock lagern
die Vorräte für den Winter, im zweiten Stock wohnen die Menschen. Beim
Bau vor einigen Jahren konnte sich die Familie nicht darauf einigen, wo
eine moderne Toilette samt Badezimmer hinkommen soll. So wurde darauf
verzichtet und stattdessen ein alt bewährtes Plumpsklo aus Holz neben den
Kuhstall gebaut. Das wird sowieso kaum benutzt, weil die Bhutaner auf dem
Land sich wohl immer da hin setzen, wo sie gerade arbeiten. Als Klopapier
dienen ihnen Wiesenblätter. Aber Klopapier auf dem Plumpsklo wäre doch
viel praktischer, frage ich Sonam. „Wie sollen sie das wissen, wenn es ihnen
keiner sagt”, entgegnet Sonam. Übrigens ist der Besuch auf dem Plumpsklo
auch nur halb so schlimm wie befürchtet – eine atemberaubende Aussicht
hat man von da. Nur abends ab 19 Uhr wird der Weg dahin beschwerlich,
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Michaela Lennartz
Bhutan
wenn man durch stockfinstere Nacht mit der Taschenlampe das Häuschen
zwischen Fladen und wiederkäuenden Kühen finden muss.
Als Besucher darf ich in dem schönsten Raum des Hauses, dem Altarraum, auf dem Boden schlafen. Es gibt eine Truhe für die Kleidungsstücke
der Familie. Aber das ist auch meistens schon alles an Möbelstücken in
einem bhutanischen Haus. Der ganze Stolz jeder Familie ist der Hausaltar,
den man in jeder Wohnung findet. Aufwendige Schnitzarbeiten, die mit typischen bhutanischen Mustern verziert sind und große Figuren mit buddhistischen Heiligen. Nach dem Aufstehen um 5 Uhr bringt die Familie ihren
Göttern Opfergaben dar: Jeden Morgen füllen sie sieben Schalen mit Wasser. Sie sind Symbol für die sieben Schritte, die Buddha direkt nach seiner
Geburt gemacht haben soll. Es gibt auch noch viele andere Bedeutungen,
sagt Sonam, aber das ist die einfachste. Danach zündet Sonams Cousine
Weihrauch an, der die Sinne betört und eine Butterlampe, die den ganzen
Tag brennt. Butterlampen findet man an jedem religiösen Ort in Bhutan.
Das sind Silberschalen, in denen ein Docht in flüssigem Öl schwimmt.
Mit diesem religiösen Ritual beginnt jede Familie in Bhutan ihren Tag.
„Ich bete jeden Morgen. Zuerst bete ich für unseren König, dann für meine
Familie, für die kleinen Tiere, die ich während meiner Feldarbeit unabsichtlich töte, dass sie ins Nirwana kommen und zuletzt für mich. Ich bete darum,
dass ich nicht krank werde. Wenn ich zum Beispiel Brennholz schneide, ist
die Gefahr groß, dass man sich selbst schwere Schnittwunden zufügt. Um
so etwas zu vermeiden, bete ich”, erzählt Kalu, der Ehemann von Sonams
Cousine. Sonam nennt ihn einfach nur meinen Bruder. In Bhutan wird zwischen den Verwandtschaftsverhältnissen nicht so genau unterschieden. Am
Anfang habe ich immer gedacht, dass Sonam mindestens 20 Brüder und
Schwestern hat. Er hat aber nur einen echten Bruder.
Kalu hat in Thimphu als Fremdenführer gearbeitet, doch dann hat ihn seine Frau gebeten, mit ihr zurück in ihre Heimat zu ziehen. In dem Haus
lebten nur noch alte Menschen, die die Feldarbeit nicht mehr verrichten
können. 79 Prozent der Bevölkerung lebt ausschließlich von der Landwirtschaft. Aber nur acht Prozent des ganzen Landes ist Ackerland. Das Gefälle
macht den Einsatz von großen Maschinen unmöglich. Bhutan ist das Land
mit den meisten Bergen. 20 Prozent des Landes ist sogar über 4.200 Metern
hoch und ständig mit Schnee bedeckt.
Kalu baut Reis und Kartoffeln an. Wenn es nach dem Pflanzen der Kartoffeln nicht regnet, wachsen die Kartoffeln nicht. So wie im letzten Jahr. Mit
Orangen hat er es auch schon versucht, doch im Winter haben Parasiten die
Pflanzen befallen und im Sommer, in der Erntezeit haben die Affen die restlichen Früchte geklaut. Die Affen kommen oft in Gruppen von 200 bis 300
Stück und zerstören in einer halben Stunde die Arbeit eines ganzen Jahres.
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Bhutan
Michaela Lennartz
Manche plündern sogar die Häuser und greifen die Frauen an. Einmal hatten die Dorfbewohner ein ziemlich großes Problem mit Wildschweinen. Sie
haben immer die Ernte zerwühlt. Als die Dorfgemeinschaft die Nase voll
hatte, haben sie einen Plan ausgeheckt: Jede Familie musste ein Mitglied
auswählen, das gemeinsam mit den anderen Jagd auf die Wildschweine machen solle. Normalerweise töten die Bhutaner keine Lebewesen. Doch jede
Regel hat ihre Ausnahmen, so auch hier: Nach drei bis vier Monaten hatten sie viele Wildschweine erlegt und für zwei Monate war Ruhe auf den
Feldern. Aber dann fehlten auf einmal zwei Kühe. Die sind wohl gestorben,
dachten die Dorfbewohner, doch dann verschwanden immer mehr. Die Leute hielten mehrere religiöse Feiern, Pujas, ab, und beteten für Ruhe, doch
vergebens. Schließlich haben Dorfbewohner die zuständige Regierungsstelle um Hilfe gefragt. Die schickte Experten, die dann Fußspuren von Schneeleoparden entdeckten. Schneeleoparden gehören zu einer bedrohten Tierart.
In der freien Wildbahn gibt es sie nur noch in Bhutan. Die Fußspuren der
Schneeleoparden so nahe an Häusern sind aber selbst in Bhutan ungewöhnlich. Es kam heraus, dass sich Schneeleoparden normalerweise von Wildschweinen ernähren. Da aber alle Wildschweine getötet wurden, hatten die
Schneeleoparden nichts mehr zu fressen und mussten aus der Not heraus auf
Kühe umsteigen. So hat die Regierung drei LKW voll mit Wildschweinen in
die Mitte Bhutans gekarrt, und die Schneeleoparden wurden nie wieder am
Haus gesehen. Ab dann gab es ein Gesetz, dass das Töten von Wildschweinen verbietet. Seitdem müssen die Dorfbewohner wieder damit leben, dass
ihre Ernte zerstört wird.
In Bhutan leiden die meisten Menschen keinen Hunger, aber das tägliche
Überleben ist ein ständiger Kampf gegen die Natur. Oft gibt es keine Elektrizität und nur manchmal funktioniert das Licht, das aus der Solarzellenanlage gespeist wird, an diesem Abend aber mal wieder nicht. Solarlicht ist
hier etwas Besonderes. Das können kann sich Sonams Verwandte nur leisten, weil sie in ihrer Familie ein paar Gutverdiener haben. Daher sitzen wir
alle auf dem Küchenboden um den Herd, der mit langen Holzstämmen geheizt wird, die immer weiter in die Glut geschoben werden, und trinken Buttertee. Das ist ein typischer bhutanischer Tee aus Blättern, die aussehen wie
Kuhdung, viel Butter und Salz. Alle gucken Kalus kleinem Sohn beim Rumtollen zu. Plötzlich zieht er seine Hose runter und pinkelt auf den Küchenboden. Alle lachen. „Das ist das Schöne am ländlichen Leben”, sagt Sonam,
„man achtet und freut sich über Kleinigkeiten, die sonst verloren gehen würden.“ Bei einer modernen Familie in der Stadt würden jetzt alle auf den
Fernseher starren und keiner würde sich unterhalten. Die Bhutaner sind ein
lustiges Völkchen. Sie finden immer etwas, über das sie lachen können. Bevor ich mich auf den Boden zum Schlafen lege, werfe ich einen letzten Blick
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Bhutan
in die pechschwarze Nacht mit dem unglaublichen Sternenhimmel und lasse
mich vom reißenden Fluss im Tal in einen tiefen Schlaf entführen.
6. In der Stadt
Wenn es Kalu in der Wildnis nicht mehr aushält, fährt er nach Thimphu
und tobt sich dort richtig aus. In Thimphu riecht die Luft nach Auto-Abgasen. Durch die wenigen Straßen drängen sich kleine Autos, die fast auseinander fallen und bunt angemalte LKW, aber auch teure neue Jeeps. Wichtigste Regel für jeden Autofahrer: Niemals anhalten! Das gilt auch, wenn
man sich auf einer Vorfahrt achtenden Straße befindet. In dem Getümmel
gibt es nur einen, auf den alle Autofahrer hören: den Dancing Policeman. So
nennen die Bhutaner den Verkehrspolizisten, der mitten in Thimphu in seinem geschnitzten Holzhäuschen steht und mit gezielten Armbewegungen
den Verkehr regelt. Heiße Hüftschwünge darf man von dem Polizisten allerdings nicht erwarten – ein bisschen wild mit den Armen wedeln, das ist
für die Bhutaner schon Tanz. Vor Jahren wurden diese Verkehrspolizisten
durch die erste Ampel Bhutans ersetzt, doch keiner hat sich an die Signale
gehalten, der Verkehr ist komplett zusammengebrochen. Danach wurde die
Ampel wieder abgebaut und der Polizeitanz ging weiter. In Thimphu gibt es
kaum Gewalt, keine Kriminalität, Slums oder Bettler. Noch nie soll hier ein
Auto gestohlen worden sein.
In Thimphu kann man alles kaufen. Es gibt zwei Supermärkte, Shops,
Bars, Diskos, Kino, Internetcafés, Geschäfte. Das hat sich alles erst in den
letzten Jahren entwickelt. Und es wird in den nächsten Jahren bestimmt weiter gehen. Die meisten Einwohner sind unter 24. Vor fünf Jahren gab es in
Thimphu gerade mal eine Diskothek, jetzt fünf. Trotzdem lässt sich Thimphu mit keiner anderen Hauptstadt dieser Welt vergleichen. Eine Verordnung sagt, dass die Häuser im traditionellen Stil gebaut werden müssen.
Außerdem ist es verboten, Werbung zu platzieren. Im Mai 2006 wurde sogar vorgeschrieben, wie die Schilder der Läden auszusehen haben, damit
Thimphu nicht seinen Charme verliert. Alle jungen Leute wollen in Thimphu arbeiten. Zwischen 1995 und 2000 ist die Stadtbevölkerung um sechs
Prozent gewachsen. Wenn das so weiter geht, könnte 2020 die Hälfte der
Bevölkerung in der Stadt leben. Zurzeit hat Thimphu 46.000 Einwohner.
Immer wieder prangert Kinley Dorji, der Chefredakteur der staatlichen Zeitung Kuensel, in seinem Kommentar an, dass durch die Konsumgüter aus
dem Westen wie Playstation und Handys die Sitten verfallen würden. Auch
die leicht bekleideten Mädchen abends in der Disco, meist nur mit Trägertop und Minirock, sind für ihn ein Zeichen von schlechtem westlichem Ein144
Bhutan
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fluss. Deki, die erste DJ-Frau Bhutans findet daran nichts Schlimmes. „Wir
wollen doch nur unser Leben genießen. Früher mussten wir nach Kathmandu oder Bangkok fliegen, um modische Klamotten zu kaufen. Heute kriegt
man alles auch in Thimphu.“ Deki hat während ihres Studiums in Indien sogar als Fotomodell gearbeitet.
Schon im Treppenhaus rattern die Maschinengewehre, donnern die Panzer. In Yentens Internetcafé starren die Zwölfjährigen gebannt auf den Bildschirm. In der anderen Ecke hocken zwei vor der Playstation und liefern
sich ein Autorennen. „Die Kinder fangen hier schon zwischen zehn und 15
Jahren an zu daddeln. Das werden später mal richtig gute Spieler,“ erzählt
mir Yenten Juntsho, der Besitzer des Internetcafés. Wir müssen raus auf den
Flur gehen, um uns verstehen zu können. „Ich finde diese Art von Unterhaltung wesentlich besser. Wenn es nicht solche Läden gibt, kommen die Kinder auf ganz andere Gedanken und werden drogenabhängig.“ Er denke dabei an seinen ehemaligen Mitbewohner, der jahrelang drogenabhängig war
und sogar einige Male dafür in den Knast musste. Viele der jungen Leute
rauchen Marihuana. Das wächst fast in jedem Garten, aber natürlich ist es
verboten. Daher fahren viele zum Loverspoint. Der befindet sich direkt neben der Fernsehantenne auf einem Berg mit romantischem Blick auf Thimphu. Begleitet wird die Kifforgie von einem Jaulkonzert, der über 5.000
Hunde der Stadt, die abends so richtig aufdrehen. Härtere Drogen kommen
über die indische Grenze. Meist sind es Medikamente, erzählt mir Yenten.
Eigentlich arbeitet der 26jährige beim staatlichen Internetanbieter Druknet
als Informatiker. Das Internetcafé läuft auf den Namen seiner Mutter. Tagsüber arbeitet er also, bis ein Uhr nachts ist er danach noch in seinem Laden. Mehr als 4 Stunden Schlaf bleiben ihm nicht. Eine Woche kann er sogar ganz auf Schlaf verzichten. „Danach bin ich allerdings ziemlich krank.“
Yenten kommt aus Ostbhutan, das ist die ärmste Gegend im Land. Hier lebt
die Hälfte der Bevölkerung, 30 % davon in Armut. Viele Gebiete sind immer noch unerschlossen und ohne Elektrizität. „Das Leben im Osten ist sehr
hart. Sie schlafen und essen wie Tiere. Die meisten Häuser haben kein ordentliches Dach. Während der Regenzeit bedecken sie ihre Hütten mit Bambus oder Bananenbaumblättern. Die meisten Leute sind so arm, dass sie sich
nur von Dingen aus dem Wald ernähren können. Es gibt keine Elektrizität.
Wir erleuchten unser Haus mit Pinienbäumen, die brennen sehr gut”, berichtet Yenten vom Leben in seiner Heimatregion. Das Land besteht nur aus steilen Bergen und ist nicht fruchtbar. Überall gibt es Wald, in dem viele Affen,
Wildschweine und Tiger leben. Die wilden Tiere sind eine ständige Bedrohung für die Menschen dort. Kaum jemand kann lesen und schreiben. Die
Bhutaner sind überall sehr gastfreundlich, wer sie besucht, bekommt üblicherweise Nadja, das ist Milch-Tee, angeboten. Nadja ist eine Mischung aus
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Wasser und viel Milch oder Milchpulver, kurz aufgekocht mit schwarzem
Tee und viel Zucker. In Ostbhutan aber bekommt man statt Tee immer Ara,
das ist ein selbst gebrauter Schnaps aus destilliertem Reis, der einen nach
zwei Schlucken schon umhaut. Besonders im Osten gibt es viele Alkoholiker. Sogar die kleinen Babys sollen schon Ara eingeflößt bekommen, damit
sie nicht die ganze Zeit vor Hunger weinen. Vor allem die Kinder unter fünf
Jahren leiden an Mangelernährung. Bhutan steht auf der Rangliste der am
wenigsten entwickelten Länder der Welt an siebter Stelle.
Mit acht Jahren musste Yenten schon arbeiten gehen, um sich die Schule
finanzieren zu können. Von März bis Dezember ist er in die Schule gegangen, die folgenden drei Monate hat er auf dem Bau gearbeitet und seine Eltern zwei Jahre lang nicht gesehen. „Ich habe alles alleine geschafft.“ Yenten
ist keine Ausnahme. Noch vor ein paar Jahren mussten viele Kinder arbeiten, um ihre Familie finanziell zu unterstützen. Das ändert sich gerade bei
einigen Familien, die am wirtschaftlichen Aufschwung des Landes teilhaben. Die unmenschliche Belastung mit zwei Jobs nimmt Yenten im Moment
auch nur auf sich, um die Schule und das Studium seiner kleinen Geschwister zu finanzieren. „Ich bin nicht an Reichtum interessiert. In fünf Jahren
möchte ich ein Mönch werden, denn ich bin ein überzeugter Buddhist. Ich
möchte herausfinden, warum ich in eine arme Familie geboren wurde.“
Noch immer ist die Diskrepanz zwischen den Leuten in den abgelegenen
Bergen und denen in der Stadt riesig. Die Hälfte der Landbevölkerung sind
Analphabeten. In Wangdue treffe ich eine alte Frau, die mir erzählt, dass sie
nur barfuß laufen kann, auch wenn es total heiß ist. Einmal habe sie es mit
Schuhen versucht und habe sich prompt das Bein gebrochen. Ein Mann aus
Samtse, der Distrikt liegt im westlichen Süden, hat für seine Familie Pilze
gepflückt, von denen er überzeugt war, dass sie nicht giftig sind. Zuerst wurde seine 35jährige Frau krank. Aber statt sie in eine sieben Kilometer entfernte Health Unit zu bringen, die im ganzen Land errichtet wurden, um den
Menschen schnell helfen zu können, haben sie einen Heiler herbeigerufen,
der die Frau mit religiösen Ritualen zu heilen versuchte. Das ist die traditionelle Weise in Bhutan mit Krankheiten umzugehen. Einen Tag später war
die Frau tot. Pilzvergiftung. Auch der Pilzpflücker und sein jüngerer Bruder
erkrankten und wurden erst ins Krankenhaus eingeliefert als sie schon bewusstlos waren. Auch sie starben.
7. Der Sonderweg
Bhutan wurde nie kolonisiert, hat immer seine Unabhängigkeit bewahrt
und war nie in einen großen Krieg verwickelt. Dem dritten König Bhutans
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Bhutan
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Jigme Dorji Wangchuk aber war klar, dass sich Bhutan öffnen muss, wenn
es weiterhin unabhängig bleiben möchte. Er wollte nicht den gleichen Fehler machen wie Tibet, das sich völlig isoliert hatte und sich so gegen die Invasion von China nicht wehren konnte. Der Vater des jetzigen Königs hatte
in Indien und England studiert und sprach drei Sprachen fließend. Er wollte
sein Volk langsam aus den mittelalterlichen Strukturen herausführen, ohne
ihre Identität preisgeben zu müssen.
Noch vor 50 Jahren war die Ausbildung als Mönch die einzige Bildungsmöglichkeit, es gab in Bhutan keine Schulen, keine Infrastruktur, keine Beamte. Die Elite genoss wenige Privilegien. Der Adel lebt fast genauso bäuerlich wie sein Dienstpersonal. Davon kann ich mich selbst überzeugen, als
wir Sonams Großonkel besuchen, der die Großmutter des jetzigen Königs
Ashi Phuentsho Choden Wangchuk bis zu ihrem Tod gepflegt hat. Ashi heißt
übersetzt Königin. Sie ist die zweite Königin, die Bhutan hatte. Sonams
Großonkel hat bei der Königin mit zwölf Jahren als Küchenjunge angefangen und sich mit den Jahren zu ihrem privaten Haushälter hochgearbeitet.
Er wird auch nach ihrem Tod dafür bezahlt, auf den Palast aufzupassen. Der
Großonkel ist wie ein echtes Mitglied der königlichen Familie und geht in
den Palästen der Königinnen ein und aus. Als er letztes Jahr krank geworden ist, hat ihn die älteste Königin sogar zu Hause besucht. Er spricht und
schreibt perfektes Dzongkha, so dass Sonam manchmal Probleme hat ihn zu
verstehen, weil er wie die meisten jungen Bhutaner besser Englisch spricht.
Der Großonkel hat seit dem Tod der Königsgroßmutter in ihren Gemächern
nichts verändert. Stolz führt er mich durch die Räume. Der Palast besteht
nur aus einem Empfangszimmer für Gäste, einem kleinen Esszimmer und
ihrem Schlafzimmer, wo sich auch der Altar befindet. Die Königin war sehr
religiös und hat sechs Stunden am Tag gebetet. Der Großonkel schläft immer noch an seinem alten Platz: im Flur auf dem Boden. Und er steht immer
noch jeden Morgen um vier auf so wie früher und zündet die Butterlampe
im Zimmer der Königin an. Auch er ist tief religiös. Auf die Frage, ob die
Paläste der vier Königinnen denn auch so ähnlich aussehen würden, lacht
er herzhaft. Im Gegensatz zu diesen Palästen sei dies hier nur eine bescheidene Hütte. Bald soll aus dem Palast ein Museum werden. Er wird dann in
ein Haus ziehen, das er sich vor ein paar Jahren gebaut hat, ganz in der Nähe
des Palastes. Sonams Großonkel hat nie geheiratet und sein ganzes Leben
der königlichen Familie gewidmet.
Alle Veränderungen gingen in Bhutan immer vom König aus, niemals
durch Druck aus dem Volk. 1960 veranlasste der Vater des jetzigen Königs
den Bau der ersten Straße zwischen Phuentsholing, das ist das wichtigste
Handelszentrum Bhutans an der Grenze zu Indien, der Hauptstadt Thimphu
und Paro im Westen. Jede Familie musste ein Mitglied, das über 16 ist, zu
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der Baustelle als Hilfe schicken. Nach einem Monat wurde es durch ein anderes Familienmitglied abgelöst. So kam die Farmarbeit zu Hause nicht zum
Stillstand. Da die Bhutaner vom Straßenbau keine Ahnung hatten, kamen
die Experten aus Indien. 1961 verkündete der König den ersten Fünfjahresplan. In dem Plan legt der König auch heute noch fest, welche Bereiche die
Regierung in den nächsten fünf Jahren besonders fördern wird. Jeder Plan
basiert natürlich auf den Grundwerten des Buddhismus. Dabei steht immer
ein Entwicklungsbereich im Vordergrund, wie zum Beispiel Umweltschutz,
Bildung, Demokratisierung oder Wirtschaft. Mittlerweile gibt es schon den
neunten Fünfjahresplan, in dem die Regierung sich vor allem auf den Tourismussektor konzentriert. Über 185 Millionen Nu, das sind gut 3,3 Millionen
Euro, gehen in eine Ausbildungseinrichtung in Thimphu für Hotelmanagement, sowie neue Attraktionen wie Meditation, Riverrafting, Mountainbiking, Klettern und Skifahren.
Außerdem versprach Indien in den 60er Jahren finanzielle Unterstützung
für das erste Wasserkraftwerk. Seitdem ist Indien der wichtigste politische
und wirtschaftliche Partner Bhutans. Bis heute dürfen alle Inder ohne Visum
nach Bhutan einreisen und umgekehrt. 1962 durften zum ersten Mal technische Fachkräfte aus anderen südostasiatischen Ländern ins Land, um die
Entwicklung zu unterstützen.
1972 starb der König unerwartet und sein 16-jähriger Sohn, der heutige
König, kam an die Macht. Seine Krönung 1974 war ein großer Wendepunkt
in der Geschichte Bhutans: Zum ersten Mal durfte die internationale Presse ins Land. Der König kreierte für seine politischen Ziele einen Begriff,
bei dem heute noch jeder Werbetexter und Redenschreiber neidisch würde:
Gross National Happiness. Er möchte nicht das Bruttosozialprodukt, also
das Gross National Product steigern, sondern die Gross National Happiness, das Bruttosozialglück der Menschen. Damit die Menschen glücklich
sind, muss die Balance zwischen Tradition und Moderne bewahrt werden.
Die Gesellschaft kann sich nur weiterentwickeln, wenn sich Spiritualität und
Materialismus gegenseitig bereichern.
„Als ich zum ersten Mal von Gross National Happiness im Radio gehört
habe, habe ich meine Nachbarn gefragt: He? Von wem wurde gerade geredet. Ich dachte, dies sei ein Name. Als mir dann erklärt wurde, was GHN bedeutet, war mir das ziemlich peinlich.“ Heute kann die 70-jährige Pema darüber lachen. Selbst im letzten Winkel Bhutans hat man mittlerweile schon
mal davon gehört. Das amerikanische Time Magazine hat Bhutans König
im Mai sogar zu den 100 wichtigsten Menschen aus den verschiedenen Bereichen gekürt, die mit ihrer Macht, Talent oder Moral die Welt verändern.
Er gehört zu den 22 mächtigsten Führern und Revolutionären, wie zum Beispiel George Bush, Bill Gates und Papst Benedikt. Das Time Magazine hat
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sich vor allem für Bhutans König entschieden, weil er den Begriff Gross National Happiness schon Jahrzehnte besetzt hatte, bevor der Westen auf das
Konzept aufmerksam wurde.
Das Bruttosozialglück ist nicht nur ein philosophisches Konzept, es beeinflusst auch Bhutans konkrete Politik. Das Gesundheitswesen ist für alle
kostenlos. Bhutans Krankenhäuser sind einmalig auf der Welt. Man kann
sich dort sowohl nach neuester schulmedizinischer Erkenntnis, als auch mit
alternativen Heilmethoden behandeln lassen. Die meisten Ärzte in Thimphus modernem Krankenhaus haben im Westen studiert. Schlimme Fälle
wie Krebs oder Herzprobleme werden auf Kosten des Staates in Indien behandelt. Und es werden immer mehr Patienten, die zur Behandlung nach Indien geschickt werden. In der Zeitung Kuensel war im April zu lesen, dass es
für die Regierung sehr schwierig wird, auch künftig alle Kosten für Behandlungen in Indien zu decken. Der erste Schritt ist getan, bald wird in Thimphu
eine Computer Tomographie möglich.
In Bhutan gibt es keine Haus- oder Zahnärzte. Mit allem muss man ins
Krankenhaus. Einmal hat mein Counterpart Sonam kein Guthaben mehr auf
seiner Handykarte und kann mir so vorher nicht Bescheid geben, dass er
mich besuchen kommt. Deshalb kann ich die bissigen Hunde meiner Familie nicht an die Leine legen. Plötzlich sehe ich draußen Tutu, die kleine weiße Hundedame meiner Vermieterin und ihren schwarzen Freund, in
Sonams Wade festgebissen. Erst der Mann der Haushälterin schafft es, die
beiden vom Bein zu trennen. Als wir im Krankenhaus ankommen, müssen
wir zunächst durch die Notaufnahme für die leichten Fälle. Dort liegen mindestens zehn bis 15 Kranke, auf provisorischen Liegen und krümmen sich
vor Schmerzen. Aber die müssen erst mal warten: Hektisch rennen Krankenschwestern durch den Raum und versuchen, Platz für weitere Betten zu
schaffen, denn von einem Busunglück sind gerade viele Verletzte eingeliefert worden. Sonam wird trotzdem schnell behandelt. Es scheint, als würde sich eine Krankenschwester speziell nur um Hundebisse kümmern. In
Bhutan werden ständig Menschen von Hunden gebissen, viele Hundebisse
bergen die Gefahr sich mit Tollwut zu infizieren.
„In Bhutan stehen die traditionelle und die moderne Heilmethode nicht
in Konkurrenz zu einander. Im Gegenteil, wir arbeiten eng zusammen”,
sagt Ugyen Dorji, der in Mailand sechs Jahre als Kinderarzt gearbeitet hat.
Bhutan ist das einzige Land der Welt, dessen Regierung die tibetische Medizin offiziell unterstützt und fördert. Im Innenhof des traditionellen Krankenhauses steht eine große Gebetsmühle. Kein Bhutaner betritt den Innenhof, ohne diese Gebetsmühle nicht mindestens einmal im Uhrzeigersinn zu
drehen, um so religiöse Verdienste zu erwerben. Körper und Geist sind in
der buddhistischen Medizin eng miteinander verwoben. In dem großen Ge149
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Bhutan
bäude befinden sich viele kleine Behandlungszimmer. Man klopft nicht an,
sondern geht einfach hinein. Schwitzend und halbnackt sitzt Paul vor einer Maschine mit Wasserdampf. Es riecht nach Kräutern. Paul kommt aus
Australien. Vor sechs Monaten hatte er einen Radunfall, bei dem er sich
einen Wirbel gebrochen hat. Noch immer hat er starke Schmerzen an der
Fraktur. Keine Therapie in Australien konnte bisher helfen. Jetzt hofft er auf
die traditionellen Heilmethoden in dem kleinen Königreich. Die Behandlungen sind für jeden, auch für Ausländer, kostenlos. Nach der Behandlung
mit Wasserdampf bekommt er die Goldene Nadel. Das ist eine Form der
Akupunktur, allerdings nicht ganz schmerzfrei, weil die Nadel, die vorher
erhitzt wird, einen beachtlichen Umfang hat. In einem großen Labor werden
die 600 medizinischen Heilpflanzen, die teilweise nur in Bhutan wachsen,
zu Salben, Pulvern und Tabletten verarbeitet. Jedes Medikament wird hier
mit großer Sorgfalt individuell zubereitet. Draußen vor der Tür warten Bauern aus dem Nordwestlichen Gasa, mitten im Himalaja. Tagelang sind sie
angereist, um dem Krankenhaus sehr seltene Heilpflanzen zu bringen, die
sie zuvor in zwei Wochen langer Suche gesammelt haben.
Vor einem Behandlungszimmer warten besonders viele Patienten. Im Inneren praktiziert Takada Tadanori seine Akupunkturkunst. Der japanische
Arzt arbeitet seit drei Jahren in Bhutan. Die Nadeln sind sehr fein und verursachen kaum Schmerzen. Wir platzen mitten in eine Behandlung. Auf der
Liege liegt eine alte Frau auf dem Bauch, in dem nackten Rücken stecken
viele kleine Nadeln. In Bhutan gibt es keine Privatsphäre. Wir sollen uns
hinsetzen, sagt der japanische Doktor. Ich frage Sonam, gegen was die Frau
behandelt wird. Sie erzählt uns von ihren Rückenproblemen und dass sie extra drei Tage angereist sei, um sich von dem Japaner behandeln zu lassen.
Auf dem Land sind es meistens die Frauen, die die schwere Arbeit verrichten und im Alter mit Rückenschmerzen zu kämpfen haben. Es gibt keinen
in Bhutan, der Takada Tadanori nicht kennen würde. Er behandelt sogar den
König. Zunächst fühlt er bei jedem Patienten den Puls. Mit den mittleren
drei Fingern ertastet er den Puls am Handgelenk. Der Zeigefinger drückt
auf die Haut, der Mittelfinger bis zum Fleisch und der Ringfinger bis zum
Knochen. „Wie schnell geht der Puls, schlägt er stark oder schwach, befindet er sich an der Oberfläche oder tief drin, all das kann ich erfühlen. An der
Schnelligkeit kann ich den Zustand einer Krankheit erkennen. Wenn man
zum Beispiel Fieber hat, geht der Puls sehr schnell und schlägt an der Oberfläche. Wenn der Puls sehr weit innen schlägt, ist es ein Problem mit den inneren Organen.“ Bei mir stellt er sofort fest, dass ich in den vergangenen Tagen Fieber hatte, obwohl ich davon kein einziges Wort erwähne. „Außerdem
kann ich durch das Pulsfühlen feststellen, welche Organe erkrankt sind.“
Das erfühlt er mit dem Daumen und dem kleinen Finger. Diese Methode ist
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Bhutan
Michaela Lennartz
über 2.000 Jahre alt und kommt aus Tibet. In der tibetischen Medizin beruht die Diagnose fast ausschließlich auf der Pulstastung. In unklaren Fällen
wird auch noch die Zungen-, Urin- und Augendiagnose zu Hilfe genommen.
Takada Tadanori ist überzeugt, damit sogar Krebs diagnostizieren zu können. Diese Fälle behandelt er nicht selbst, sondern überweist sie ins moderne Krankenhaus. Die meisten Leute, die zu ihm kommen, haben Rheuma,
Gelenkentzündungen oder Rückenschmerzen. „Die meisten Patienten sind
alt. Sie können nicht verstehen, warum ich gar keine Medikamente benutze.
Einige glauben, die Nadeln seien normale Injektionen. Andere aber fragen
immer wieder: warum, warum, warum. Denen erzähle ich dann schließlich,
dass es etwas mit schwarzer Magie zu tun hat. Das glauben sie.“ Noch heute sind in Bhutan Buddhismus und Schamanentum eng miteinander verbunden. Noch vor gut 40 Jahren lag die Lebenserwartung bei 38 Jahren. Jetzt
werden die Menschen im Durchschnitt 63 Jahre alt.
Für einen weiteren wichtigen Schritt zum Bruttosozialglück seines Volkes
hält der König den freien Zugang zur Schulbildung. Bis zur 10. Klasse sind
Schule und Schulbücher kostenlos. Es besteht zwar keine Schulpflicht, aber
durch die kostenlose Schulbildung wird dennoch gewährleistet, dass fast
jedes Kind zur Schule geht. Mit Ausnahme der Landessprache Dzongkha
werden alle Fächer auf Englisch unterrichtet. In der Regierung gab es einmal den Plan, alle zehn Kilometer eine Schule, alle fünf Kilometer eine
Brücke zu bauen. Die Idee kam von einem Bildungsminister, der aus Ha
stammt, das liegt im Westen. In seiner Heimatstadt Ha wurde mit dem Bau
begonnen, was dazu führte, dass es dort heute prozentual überdurchschnittlich viele Schulen gibt. Weiter ließ sich dieser Plan aber aus Kostengründen
nicht realisieren.
Pema, die kleine Tochter von Sonams Cousine aus den Bergen Wandgues
musste daher noch bis vor einem Jahr jeden Morgen länger als vier Stunden zur Schule gehen. Dabei musste sie zwei steile Berge bewältigen, ehe
sie die Schule auf fast 3.700 Metern Höhe irgendwo im Nichts, erreichte.
Inzwischen ist Pema umgezogen und wohnt jetzt zusammen mit ihrer Oma
und zwei weiteren Kindern aus dem Dorf in einer kleinen Hütte direkt an der
Schule. Die Oma kocht für sie und macht mit ihnen Hausaufgaben. So sparen sich die Kinder acht Stunden Fußmarsch jeden Tag. Kostbare Zeit zum
Lernen und Spielen. Pemas Eltern und die anderen müssen nur dafür sorgen,
dass die Oma immer genug Lebensmittel im Haus hat, die kleine Holzhütte stellt der Staat. Die Eltern der kleinen Kesang können sich diesen Luxus
nicht leisten. Ihre Familie wohnt im Tal. Wenn man von ihrem Haus hoch
guckt in die Richtung, wo sich die Schule befindet, türmt sich ein riesiger
hoher Berg vor einem auf, dessen Spitze irgendwann im Nebel verschwindet. Und da muss sich Kesang jeden Morgen raufquälen. „Ich stehe um 4:30
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Uhr auf. Um 5 Uhr muss ich das Haus verlassen, damit ich um 8 Uhr rechtzeitig in der Schule bin. Dann bin ich meistens so müde, dass ich gleich in
der ersten Stunde wieder einschlafe.“ Kesang ist acht Jahre alt, sieht aber
aus wie fünf. Ihr Frühstück, die Reste vom Abendessen am Tag zuvor, füllt
sie in eine alte Chipstüte. „Ich habe auf dem Weg meistens so einen Hunger,
dass mein Frühstück schon aufgegessen ist, bevor ich die Schule erreiche.
Dann gibt es den ganzen Tag über nichts mehr zu essen.“ Das schlimmste
aber für sie ist die Regenzeit im Sommer. Drei Monate versinkt Bhutan in
Wasserfluten. Der Regenschirm ist immer in Kesangs Gepäck: im Sommer
als Schutz gegen den Regen und in der restlichen Zeit als Sonnenschutz. Besonders in den abgelegenen Regionen findet man viele Kinder, die für ihr
Alter viel zu klein sind. Das kommt durch einseitige Ernährung, die fast nur
aus Reis besteht. Früher mussten die Kinder mit ihrer rechten Hand über den
Kopf ans linke Ohr fassen können, sonst wurden sie nicht eingeschult.
Wenn die Kinder nach der zehnten Klasse auf die staatliche, kostenlose
High School wollen, müssen die Noten stimmen. Mittlerweile gibt es private High Schools. Dort gehen die Schüler aber nicht hin, weil die Ausbildung besser ist, sondern nur, weil ihre Noten für die staatliche Schule zu
schlecht sind. „Unsere Studenten können sich meistens nicht so gut verkaufen wie die auf den staatlichen Schulen. Wir bringen ihnen bei, sich
mindestens zwei Stunden am Tag selbstständig mit Lernen zu beschäftigen. Außerdem fördern wir ihre Talente. In zwei Jahren haben sie alles
aufgeholt und schaffen meist die Qualifikation fürs College.“ Tenzin Dorji
ist der Direktor der Nima High School. Sie wurde vor fünf Jahren gegründet und war die zweite private Schule in Bhutan. Mittlerweile gibt es neun
Stück. Im Osten Bhutans gibt es sogar eine Universität. Die Kapazität und
die Möglichkeiten sind dort jedoch sehr begrenzt, so dass die meisten in
Indien studieren.
Ein weitere Verordnung zum Glück: 69 Prozent des Waldes müssen erhalten bleiben, damit die über 750 Vogelarten, die vom Aussterben bedrohten Schneeleoparden, Tiger und andere Arten, die Bhutan so einzigartig machen, nicht gefährdet werden. Außerdem versucht Bhutan so die Fehler zu
vermeiden, die etwa in Nepal gemacht wurden: Dort hat man aus Profitstreben heraus ganze Wälder abgeholzt. Bhutan soll seine ursprüngliche
Landschaft bewahren. Lange Jahre ist daher die Zahl der Touristen begrenzt
worden. Bhutan möchte keine Rucksack-Touristen im Land haben. Die Beschränkung der Besucherzahl ist mittlerweile aufgehoben worden, reguliert
wird die Anzahl der Besucher mittlerweile nur noch über den Tagessatz von
mindestens 200 Dollar pro Tag, den jeder Tourist bezahlen muss. Darin enthalten sind Visa Gebühren, Transport, Fremdenführer, Übernachtung und
Essen. Wer aber wirklich etwas von Bhutan sehen und über die Touri-Orte
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Paro, Thimphu und Punakha hinaus möchte, muss mehr bezahlen. Ich treffe
eine Frau aus Südafrika, die sogar 320 Dollar pro Tag locker macht.
Erst im letzten Jahr wurde das Mobilfunknetz in Bhutan zugelassen. Lange hat der König es geschafft, diese technische Entwicklung von seinem
Land fernzuhalten. Aber dafür wird jetzt umso wilder telefoniert. Auf dem
einsamsten Berg kommt plötzlich hinter einem Baum ein Mönch hervor, der
ein Handy am Bauch baumeln hat. Noch ist das Netz dem ganzen Ansturm
nicht immer gewachsen und man verbringt oft eine Stunde damit, jemanden
zu erreichen. Besonders am Wochenende bricht das mobile Chaos aus. Außerdem ist längst nicht auf jedem Berg, in jedem Tal ein Netz. Aber auch in
Bhutan unterscheiden sich die Jugendlichen nicht von denen in Deutschland. Sofort wollen sie wissen, welche Handymarke man hat und was das
Ding so alles kann. Der telefonische Festanschluss hat sich in Bhutan dagegen nie durchgesetzt. Das erste Internetcafé eröffnete schon 1999. Das
Internet ist tagsüber in der Woche meist ziemlich lahm, weil die meisten
nur im Büro einen Zugang haben, und dann während der Arbeitszeit kräftig
drauf los surfen. Einen Computer zu Hause können sich die wenigstens in
Thimphu leisten.
Um den natürlichen Lebensraum der Bhutaner und damit auch ihr Glück
zu bewahren, hat die Regierung auch eine Menge Verbote ausgesprochen,
wie zum Beispiel das Plastiktütenverbot von 1999. Seit Bhutan den Handel mit anderen Ländern zulässt, kommen immer mehr Plastiktüten, die billig und praktisch sind, ins Land. Das Problem aber ist, dass die Bhutaner
nicht wissen, wie man mit Plastiktüten umgeht und die Tüten achtlos wegwerfen. „Die meisten Leute in Thimphu kommen ursprünglich aus Dörfern.
Dort werden natürlich nur organische Produkte zum Verpacken benutzt wie
zum Beispiel Bananenbaumblätter. So konnte man alles aus dem Fenster
werfen, denn es war ja organisch”, erläutert mir Phub Dorji von der National Environment Commission, eine unabhängige nationale Kommission,
deren Aufgabe es ist, die natürlichen Ressourcen des Landes zu schützen. Es
wurde also Ladenbesitzern verboten, Plastiktüten an die Kunden zu verteilen, ansonsten drohte ihnen eine Strafe von zunächst 500 Nu, das sind neun
Euro, bei Wiederholung 1.000 Nu, also 18 Euro, und beim dritten Mal wurde die Lizenz konfisziert. Nu ist die Abkürzung für die bhutanische Währung Ngultrum, deren Wert identisch ist mit jenem der indischen Rupie. Die
beiden großen Supermärkte in Thimphu halten sich an das Verbot und geben
nur Papiertüten, so genannte Deysho bags heraus. Wer hier aber auch schon
mal schwere Sachen kauft, weiß, dass der Einkauf beim Transport schon
kurze Zeit später unten wieder rauspurzelt, weil der Boden einreißt. Sonst
hält sich so gut wie kein Shop an diese Verordnung. Aber nicht nur Plastiktüten, auch Verpackungen wie Bonbonpapiere sind ein großes Problem. Als
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ich zum ersten Mal zum Phajoding Kloster auf 3.700 Metern Höhe westlich
von Thimphu gewandert bin, hat mir der viele Abfall am Pfad den Weg gewiesen. Das Kloster ist ein beliebter Pilgerort für die Bhutaner. Hier fehlt es
auch an Stellen, um die Papiere los zu werden. An einigen Pfaden habe ich
schon Löcher im Boden gesehen, die als Papierkorb dienen.
Als erstes Land der Welt hat Bhutan vor zwei Jahren das Rauchen komplett verboten, also auch in privaten und nicht bloß in öffentlichen Räumen. Das Handelsministerium lässt daher auch keine Projekte zu, die mit
Tabak zu tun haben. Offiziell kann man keine Zigaretten kaufen, aber auch
da hält sich keiner dran. Unter der Ladentheke finden sie reißenden Absatz – der Schwarzmarkt boomt. Die Zigaretten kommen aus Indien in
Fleischlastwagen, Frucht- und Schuhkartons. Auch wenn das Rauchverbot die Idee des Königs war, hält er sich selbst nicht daran. Jeder in Bhutan
weiß, dass er Kettenraucher ist. Aber als Auserwähltem verzeiht man ihm
natürlich auch das.
Die Bhutaner sind fußballverrückt. 1998 haben die Bhutaner zum ersten
Mal im ihrem Leben Fußball auf einer Leinwand in Thimphu geguckt. Davon waren alle so begeistert, dass der König seinen Untertanen ein Jahr später zu seinem 25. Thronjubiläum das staatliche Fernsehen schenkte. So wurde der staatliche Sender BBS – Bhutan Broadcasting Service gegründet, der
am Tag mehrere Stunden Nachrichten- und Kultursendungen bietet. Das war
den Bhutanern jedoch schnell zu langweilig. Mittlerweile haben viele Leute
südasiatischen Satellitenempfang. MTV, Fashion TV und Wrestling waren
dem König dann aber doch zu viel Globalisierung und schädlicher Einfluss
aus dem Westen und er ließ diese Sender verbieten. Dieses Verbot funktioniert aber nur bedingt. Die reichen Leute kaufen sich einfach andere Satellitenanlagen im Ausland. „Wenn man freitags rausgeht, haben die Mädchen
noch weniger an als die auf MTV. Die Jugendlichen sind halb nackt, Minirock, Tanktops, viel schlimmer als bei MTV. Wenn man solche Kanäle verbietet, werden die Kinder doch noch viel neugieriger. Die Regierung sollte
unterrichten, statt verbieten! Wenn man den Menschen erklärt, dass Bäume
sterben, die Erde nicht mehr fruchtbar ist, das Trinkwasser dreckig ist, dann
verstehen sie, warum sie keine Plastiktüten einfach so wegschmeißen sollen”, erklärt mir ein reicher Geschäftsmann, der eine ganze Heimkino-Anlage zu Hause hat. Tsering Wangda, der erste Staatssekretär im Innenministerium, der gerade den Innenminister vertritt, schwärmt mir vor, wie schön es in
der Schweiz sei, und dass er mindestens fünf Mal im Jahr seine Freunde aus
Studienzeiten dort besuche. Sein Sohn studiere dort sogar Bankwesen. Tsering Wangda merkt man eine Begeisterung für die Offenheit der westlichen
Welt spürbar an. Wenn es aber um Bhutan geht, sind ihm die bereits bestehenden Restriktionen nicht drastisch genug: „Urbanisierung ist das größte
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Problem. Tausende von Autos, Luftverschmutzung, Plastik. Das ist auch ein
Teil von GNH. Daher fordere ich, die Anzahl der Autos zu reduzieren. Auch
andere Konsumgüter wie Waschmaschinen, Trockner, Kühlschränke sollten
reguliert werden, wenn man GNH erreichen möchte.“ Er sagt mir, dass Politiker mit bestem Beispiel voran gehen müssten. Er und seine Kinder würden
ausschließlich mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren.
In Zeitungsartikeln habe ich bei meiner Recherche immer wieder gelesen, dass Bhutan sogar Hilfsprojekte von außen ablehnt, weil sie nicht mit
den Grundsätzen von Gross National Happiness vereinbar seien. Ich treffe
mich mit Mitarbeitern von Bhutans Nationalbank. Hier, wo es eher um das
Bruttosozialprodukt geht, erklären sie mir, dass dies nur ein Teil vom Bruttosozialglück sei, bei dem es um materielle und nichtmaterielle Werte gehe.
Die Zentralbank stehe also auf gar keinen Fall in Konkurrenz zu GNH, im
Gegenteil, sie ist für die Kreditvergabe in den ländlichen Gebieten verantwortlich und das wiederum trägt zum Glück mit bei. So auch Kreditkarten
und Überweisungsmöglichkeiten. Da der Markt in Bhutan sehr klein ist und
der Handlungsspielraum gering, gibt es fast keine Investoren von außerhalb.
Aber alle seien herzlich willkommen.
Das Rechercheinstitut CBS bringt jetzt sogar einen Gross-National-Happiness-Index heraus, der Politikmachern ein Instrument für ihre Entscheidungen sein soll.
8. Die Wirtschaft
An meinem ersten Wochenende wollte ich auf dem Markt fünf kleine Chilischoten kaufen und wurde dafür ausgelacht. In Bhutan kauft man Chilis nur
kiloweise, denn die Menschen essen in jedem Gericht rote oder grüne Chilis.
Wenn das Essen nicht so scharf ist, dass es mir fast den Hals weg brennen
würde, schmeckt es Bhutanern nicht. Kulinarische Inspirationen muss man
aus Bhutan nicht erwarten. Von Freitagnachmittag bis Sonntagabend kann
man auf dem großen Wochenendmarkt in Thimphu alle möglichen frischen
Sachen kaufen. In handgeknüpften, bunten Körben kaufen die Bhutaner hier
ihre Vorräte für eine ganze Woche ein. Denn frisches Gemüse und Obst gibt
es nur auf dem Wochenendmarkt. Dafür reisen die Bhutaner mit ihren Produkten aus dem ganzen Land an. Für die Früchte aus Bhutan ist es allerdings
im Moment noch zu kalt. Die Ware kommt daher aus Indien, ganz luxuriös
per LKW. Wegen des einfachen Transports und der großen Anbaumengen
ist es besonders günstig. Im Vergleich zu den Preisen der exportierten Sachen aus dem Supermarkt ist es hier super günstig. Im Sommer kommt das
Obst und Gemüse aus den Bergen Bhutans, erzählt mir Darma Kuma, die
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jede Woche einen Stand auf dem Wochenmarkt hat. Dann steigen die Preise
wieder, weil Ernte und Transport so aufwendig sind. „Die Leute kennen die
Bedingungen in unserem Land und haben Verständnis dafür”, sagt sie.
In der Nähe vom Golfplatz, am Rand von Thimphu gibt es einen Geheimtipp für alle, die auch in der Woche etwas Frisches haben wollen: Bhutans
erste Pilzzucht. Im Schuppen hinterm Haus hängen von der Decke tausende
von Plastiksäcken aus denen ganze Büsche von Austernpilzen wachsen. Nebenan gucken einem die Kühe beim Aussuchen zu. Tensing Dorji hat früher
Biotechnologie studiert und die Pilzzucht in Japan gelernt. Jahrelang hatte
er einen guten Job im Agrarministerium. Doch die ganze Papierarbeit hat
ihn nicht ausgefüllt. Da für ihn Gross National Happiness nicht nur ein Begriff ist, hat er sich entschieden, sich selbstständig zu machen. Seitdem baut
er also Austernpilze an. Gerade experimentiert er auch noch mit dem Anbau von Shitaki Pilzen, die er zum ersten Mal im Herbst ernten kann. Die
Pilze wachsen in rein biologischer Erde, die aus natürlichen Abfällen wie
Reiskleie besteht. Was hier wächst, ist rein organisch, ohne jede Chemie.
Hauptsächlich beliefert Tensing eine Bäckerei in Thimphu, die daraus Pilzpasten herstellt. Aber es kommen auch immer mehr private Käufer. Irgendwann spricht sich in Bhutan alles rum. Zusammen mit seiner Frau und drei
weiteren Angestellten läuft das Geschäft so gut, dass er die Kosten decken
kann. Tensing hat es gewagt, mit einer guten neuen Idee und viel Fachwissen
in die Privatwirtschaft zu gehen. Für so viel Unternehmergeist gibt es bisher
nicht viele Beispiele in Bhutan. Die Regierung möchte daher vor allem diesen Bereich fördern. Wie schwer es für den Pilzzüchter ist, zeigt auch, dass
er keine jungen Leute in Thimphu gefunden hat, die bei ihm die Ausbildung
beginnen wollten. „Die Arbeit war ihnen wohl zu dreckig, die wollen doch
alle Beamte werden.“ Jetzt hat er zwei Mädchen und einen Jungen aus einer sehr abgelegenen Gegend in Ostbhutan bei sich angestellt. „Die Technik ist nicht so schwer zu lernen. Ich hoffe, dass sie irgendwann so gut sind,
dass sie zurück in ihr Dorf gehen können und dort selbst Pilzzüchter werden. Biologische Abfälle gibt es überall. Dies ist der beste Weg sie sinnvoll
zu nutzen, sich selbst zu finanzieren und der Gesellschaft zu helfen.“ Darüber hinaus sind die Pilze gut geschützt gegen Bhutans Naturgewalten Affen,
Wildschweine und Monsun. 80 Prozent der Menschen leben von der Landwirtschaft. Sogar die Tochter des Justizministers muss jeden Morgen bevor
sie in die Uni fährt, die Kühe melken. Die Land- und Forstwirtschaft trägt
aber nur zu einem Drittel des Bruttosozialprodukts bei. Obwohl das Leben
in Bhutan hart ist, ist die Lage nicht vergleichbar mit jener in den ärmsten
Ländern Afrikas oder anderen asiatischen Ländern. Nur zwei Prozent der
Bevölkerung besitzt kein eigenes Land.
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Das meiste Geld bekommt der Staat durch den Export von aus Wasserkraft
gewonnener Elektrizität, das sind fast 40 Prozent des Staatseinkommens. In
Bhutan ist der Bau von Wasserkraftwerken im Vergleich zu anderen Ländern
sehr umweltfreundlich. „Wir nutzen ausschließlich den natürlichen Verlauf
des Flusses”, erklärt Ugen Wangchuk von der Environment Commission. Es
gibt somit fast keine Dorfgemeinschaften, die umgesiedelt wurden, keine
massiven Umweltschäden durch den Bau von Dämmen. Der meiste Strom
wird nach Indien verkauft. 1949 haben Indien und Bhutan einen Freundschaftsvertrag abgeschlossen. Indien ist der wichtigste Handelspartner und
außenpolitische Partner Bhutans. In der UN-Versammlung stimmen beide
immer gleich ab. Bhutan hat es trotzdem geschafft, politisch unabhängig
zu bleiben. Die meisten großen Fabriken sitzen daher auch in einem Industriegebiet bei Phuentsholing an der Grenze zu Indien: Zement- und Karbidwerke, eine Coca-Cola Abfüllanlage, ein Stahlwerk, eine Aluminiumhütte
und das Werk eines Soja-Öl-Herstellers. Der Großteil der in Phuentsholing
produzierten Güter wird nach Indien exportiert, und von dort kommen auch
die ganzen billigen Arbeitskräfte. Jeden Morgen stehen sie in einer langen
Schlange am Grenzübergang und warten auf ihre Arbeitserlaubnis. In einer
Lebensmittelfabrik wird unter anderem eine extra süße Marmelade hergestellt, nur so mögen es die Inder. Großes Wachstum gibt es auch dank der
Bau- und Tourismusbranche. Auf diese beiden Bereiche will sich die staatliche Wirtschaftsförderung in den nächsten Jahren besonders konzentrieren,
sagt Bap Kinga, der Vizepräsident der Industrie- und Handelskammer. Immer mehr junge Leute werden mit der Schule fertig und suchen Arbeit. Der
Private Sektor kann sie ihnen bieten. Bisher war es allerdings mit sehr viel
Bürokratie verbunden, eine Lizenz zu beantragen. Das sei jetzt alles viel
einfacher zu machen, nur noch ein Formular im Internet ausfüllen, und es
kann losgehen.
Im Allgemeinen ist die Qualität der Hotels in Bhutan gemessen an der hohen Tagespauschale nicht berauschend. Ich spreche aber mit niemandem,
der trotzdem seinen Urlaub im Land nicht als außergewöhnlich empfunden
hätte. Einige wohlhabende und sehr einflussreiche Deutsche, die schon die
ganze Welt bereist haben, sagen mir, Bhutan sei das Schönste, was sie je gesehen haben. Bhutans Konzept geht also auf. Das Land schafft es, das Gefühl der Einzigartigkeit auch auf die Besucher zu übertragen. Bhutan hat es
sogar bei MTV zu den Hotspots unter den angesagtesten Urlaubszielen für
Stars geschafft. Prominente schlafen am liebsten zum Beispiel im Uma Ressort in Paro, wo man für eine Hütte im Wald mit Blick auf grüne Berge mit
einer Sauna und einem Hotstonewater im Garten 1.200 Dollar pro Nacht
zahlt. 1.000 Dollar kostet eine Nacht im ebenso luxuriösen Aman Ressort,
von denen es fünf in Bhutan gibt. In dem Preis sind enthalten die Visa-Ge157
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bühren, ein Jeep mit Fahrer und Guide, drei Mal am Tag ein hochklassiges
Dreigänge-Menü mit Zutaten aus Bhutan und Getränke – alles auf höchstem
Niveau. Die Aman Guides sind wesentlich lockerer als die anderen Touristenführer. Hier darf man auch alleine eine Wanderung unternehmen. „Unsere Hotels spiegeln den Stil des Landes und der Menschen wider. Bei uns
arbeiten nur Bhutaner. Unsere Kunden finden bei uns die Ruhe, in die Eindrücke des Landes einzutauchen”, erklärt Manager Ian Bell. In der Nebensaison dürfen die Bhutaner das Aman Ressort sogar besichtigen. Am schockierensten finden die meisten, dass die große runde Badewanne einfach so
frei im Schlafzimmer steht. Im Aman gibt es kein Telefon und kein Internet.
Die Menschen, die hier her kommen, wollen völlig von der Außenwelt abgeschottet sein. Ein Gast wird von fünf Angestellten betreut. Ihr Grundgehalt
ist sehr niedrig. Sie leben hauptsächlich vom Trinkgeld. Manchmal gibt es
1.000 Dollar, doch das kommt selten vor, erzählt mir ein Kellner. In Phobjikha gibt es keinen Strom, nur das Aman hat eine große Generatoren-Anlage im Garten. Die Aman Ressorts sind auch die einzigen in Bhutan, die ihr
verbrauchtes Wasser filtern, bevor es in die Natur zurückgeht.
Bhutan verfügt auch über Bodenschätze: Gips, Kalkstein, Kohle, Talkum,
Marmor und Schiefer. Ugen Wangchuk von der Environment Commission
erklärt, dass in diesem Bereich kaum investiert würde, da die Gebiete meist
in sehr abgelegenen Regionen liegen, in denen es kaum Infrastruktur gebe.
Zuerst müsste also kräftig in den Straßenbau investiert werden, ehe der Bergbau profitabel werde. „Außerdem liegt uns Bhutanern nicht viel daran, neue
Felder zu erkunden, weil wir keine Risiken auf uns nehmen wollen.“
Risikobereitschaft ist nicht die größte Stärke der Bhutaner, das bekomme
ich auch in der Börse zu hören. Die befindet sich im Keller einer Bank. Es
herrscht gespenstige Ruhe, obwohl heute ein Börsentag ist. Wenn man in
die Börse rein geht, gibt es nur fieses Neonlicht und weiße Wände. Sonst
nichts. Zunächst denke ich, oh, da sind wir wohl falsch. Aber dann, ein paar
Meter weiter erblicke ich auf dem Boden zwischen einem blauen Mülleimer und zwei Kübeln, die aussehen, als seien sie mit Mörtel gefühlt, das
Schild: ROYAL SECURITIES EXCHANGE OF BHUTAN LTD. Es gibt 16
Aktiengesellschaften und 11.000 Aktienbesitzer. Das sind nicht die großen
Zocker, sondern Leute, die es zu bescheidenem Wohlstand gebracht haben.
Links biegt man ab, aufs Parkett, wo sich vier Computer befinden. An jedem
sitzt ein Broker, zwei Frauen, zwei Männer. Pema ist eine davon. Sie ist 25
Jahre alt und hat in Indien Wirtschaft studiert. „Wenn die Leute Aktien gekauft haben, erwarten sie jedes Jahr die Dividende. Bisher konnten wir sie
noch nicht davon überzeugen, mal ein Risiko einzugehen, sich die Dividende nicht auszahlen zu lassen, sondern zusätzliche Aktien zu kaufen, um so
später eine höhere Rendite zu erzielen”, erzählt sie lachend.
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Und trotzdem, Bhutans Wirtschaft boomt. Allein im letzten Jahr ist sie um
8,7 Prozent gewachsen. Dabei stieg die Arbeitslosenquote auf 2,5 Prozent.
„Arbeitslosigkeit ist ein völlig neues Phänomen für uns. Noch vor einigen
Jahren kannten wir noch nicht mal den Namen”, sagt Bap Kinga, Vizepräsident der Industrie- und Handelskammer. „Das Wirtschaftswachstum kommt
vor allem von der Wasserkraftenergie, die aber leider kaum Arbeitsplätze
schafft”, erklärt Tshering Tobgay. Er ist als Direktor im Arbeitsministerium
zuständig für die praktische Ausbildung der Jugendlichen nach der Schule.
Solche Ausbildungsplätze werden in Bhutan nur vom Staat angeboten. „Wir
müssen unsere Jugendlichen, die nicht studieren gehen, mit gezielter Ausbildung auf die neuen Anforderungen in der Privatwirtschaft vorbereiten”, so
Tobgay. Ein weiteres Problem sei, dass die meisten Schulabgänger gar nicht
in der Privatwirtschaft arbeiten wollen. Das Gehalt ist niedrig und die Jobperspektive ungewiss. Bis vor einigen Jahren war der Staat der einzige, der
Schülern mit einer entsprechenden Schulausbildung eine gute Stelle bieten
konnte. Bis heute wollen die meisten daher am liebsten Beamte werden, also
einen ‚White-Collar-Job’, einen Bürojob, bei dem man sich nicht die Hände
dreckig macht. Das gilt auch für Sonam. Nach seinem Wirtschaftsstudium in
Indien hat er das so genannte Staatsexamen gemacht, dass ihm überhaupt erst
das Beamtendasein ermöglicht. Dort werden Dzongkha, also Sprachkenntnisse, Politik und Geschichte abgefragt. Die Note dieses Examens entscheidet, ob man künftig beruflich ausgesorgt hat oder nicht. Die besten 80 aus
dem 700 Mann starken Jahrgang haben ein einjähriges Management-Training bekommen. Danach ist ihnen ein Job in leitender Funktion mit einem
Monatsgehalt von 13.000 Nu im Monat (ca. 240 Euro) sicher. Die nächsten
150 schlagen die Lehrerlaufbahn ein. Dann werden weitere 40 eingezogen
und danach noch mal 40, wovon Sonam Nummer 39 ist. Glück gehabt! Die
Vergabe wurde vor einigen Jahren modernisiert. Davor konnten die Chefs
bestimmen, wer in ihrem Büro arbeiten soll. Da so aber die meisten Stellen
an Bekannte und nicht an die Qualifiziertesten vergeben wurden, hat die Regierung ein neues Vergabesystem eingeführt. Alle 40 künftigen Staatsdiener
werden in das zuständige Department eingeladen, einer kleinen Holzbaracke vor dem Dzong, der Verwaltungszentrale in Thimphu. Und dann wird
es richtig spannend. Der beste, also ‚Number One’, darf sich als Erster einen Job von der Liste auswählen. Dort stehen alle zu vergebenden Jobs mit
Angabe des Ministeriums und des Rangs. Der Rest wartet vor der Tür und
streicht eifrig die Posten weg, die schon vergeben sind. Am begehrtesten sind
die Jobs im Außenministerium, weil man hier mit großer Wahrscheinlichkeit
irgendwann ins Ausland versetzt wird. Das wird dann richtig gut bezahlt.
Number One aber ist ein Idealist. Der 23-jährige Kenzo entscheidet sich für
die Wahlkommission, die in Zukunft große Bedeutung haben wird. „In 2008
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wird sich mit den Wahlen sehr vieles ändern in Bhutan. Ich bin sehr glücklich, dass ich in einer so wichtigen Kommission arbeiten werde.“
Sonam bleibt als Nummer 39 nicht mehr viel Auswahl. Er entscheidet sich
für Revenue and Customs, also Steuereintreiber. Er ist trotzdem glücklich,
weil der Job einen Umzug nach Paro bedeutet. „Das ist die einzige Stadt, in
der keine Verwandten wohnen. Das heißt, dass ich mir mein eigenes Appartement mieten kann.“ Zu viel Arbeit sei sowieso nichts für ihn. Er genieße
lieber das Leben. Außerdem habe er gehört, dass man in seinem neuen Job
häufiger auf Geschäftsreise gehe. Das gibt zusätzliche Spesen.
Mittlerweile ist die Freude doch ein bisschen abgeflacht, der Job sei schon
ganz schön langweilig, schreibt mir Sonam. Na ja, zumindest verdient er
jetzt 10.000 Nu, also rund 180 Euro im Monat. Bei CBS hat er für meine
Betreuung nur gut 140 Euro im Monat bekommen. Dass dieses Vergabesystem, das dem Prüfungsbesten die freie Wahl lässt, nicht der Weisheit letzter
Schluss sein kann, liegt auf der Hand: Vor einiger Zeit soll es einen Blinden
gegeben haben, der gerne Lehrer werden wollte, was für ihn auch der richtige Job gewesen wäre. Am Ende aber war keine Lehrerstelle mehr zu vergeben und er ist im Finanzamt gelandet. „Du musst bedenken, dass es bei uns
keine speziellen Computer für Blinde gibt”, sagt Sonam. „Wie soll er denn
seine Arbeit machen?“. Im nächsten Jahr soll das ganze Beamtenwesen verbessert werden. Offiziell heißt die Reform „Das neue Qualifizierungssystem.“ In Zukunft sollen auf jedem Posten nur noch Leute arbeiten, die die
gestellten Anforderungen erfüllen – so sieht es zumindest das Konzept vor.
Es gibt aber auch eine Branche, in der Bewegung ist: die Filmbranche
zum Beispiel. In Thimphu gibt es über 40 Filmproduktionsfirmen. Alleine
im Frühjahr 2006 haben es schon vier bhutanische Filme in die Kinos geschafft. Meistens ist die Filmcrew ein Familienunternehmen, die ihr letztes
Geld zusammenlegen, in der Hoffnung, dass der Film ein Erfolg wird. Es
gibt fünf Kinos in Bhutan. Läuft der Film gut, geht er noch auf Tournee in
abgelegene Regionen. Dort wird er in Versammlungshallen und Schulen gezeigt. Eine Familie kauft meistens nur zwei Karten und nimmt die restlichen
Familienmitglieder ohne zu bezahlen mit ins Kino. So sitzt man dann übereinander gestapelt, isst billige Chips, unterhält sich und lacht. Die Stühle
sehen aus wie alte Bahnhofstühle. Die Plastiklehne ist so ausgeleiert, dass
man den Film halb im Liegen guckt, gehalten wird man nur von der Großfamilie hinter einem, die sich in die kleinen Reihen quetschen. An den Wänden bröckelt der Putz. Wochenlang ist im Frühjahr das Kino fast übergequollen, als der Kinofilm „The Guest“ lief. Zum ersten Mal hat in einem
bhutanischen Film ein Ausländer mitgespielt. Michael aus New York geht
mit einer Touristengruppe wandern. Er verliert den Anschluss an die Gruppe
und stürzt einen Berg hinunter. Dabei verletzt er sich so stark, dass er nicht
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mehr gehen kann. Eine Yak-Hüterin findet ihn und nimmt ihn bei sich im
Zelt auf. Das einzige Problem: Michael spricht nur Englisch, die Yak-Hüterin nur Dzongkha. Sie pflegt ihn gesund, sie verlieben sich. Dabei kommt
es zu sehr lustigen Missverständnissen, etwa als Michael ihr seine Liebe gesteht, denkt sie, er will einen Rettich haben, denn das Englische ‚ich liebe
dich’ hört sich auf Dzongkha an wie Rettich. An dieser Stelle tobt jedes Mal
der Kinosaal.
Die ganze Filmcrew besteht aus Familienmitgliedern und Freunden. Nur
im ersten Monat gab es einen Kameramann und einen Lichttechniker samt
Ausstattung aus Indien. Die beiden haben nur ein Drittel des Filmes gedreht.
Da die meisten Filmaufnahmen in dem Yak-Hüter-Zelt fünf Stunden von der
nächsten Straße in luftiger Höhe gedreht wurden, war es den Indern zu kalt
zum arbeiten. Außerdem reichte das Geld nur für einen Monat. Danach hat
der Regisseur und Produzent Kinley Dorji selbst die Kamera geführt, Licht
gesetzt, den Ton gemacht und abends am Drehbuch geschrieben. Es gab
nämlich nur ein zehnseitiges Skript, mehr nicht. Die männliche Hauptrolle
hat Michael Harris aus Neuseeland gespielt, der ein Jahr in Bhutan für eine
Hilfsorganisation gearbeitet hat. In Neuseeland baut er Boote, vor seinem
großen Durchbruch als bhutanischer Kinostar stand er also noch nie vor der
Kamera. „Beim Casting war dem Regisseur am allerwichtigsten, dass mir
die Hauptdarstellerin nur bis zur Schulter reicht. Außerdem hatte ich zufällig denselben Vornamen wie der Hauptdarsteller im Skript. Das haben sie
als Bestimmung gesehen.“ Michael Harris musste tanzen und singen lernen,
denn Bollywood-Filme sind auch in Bhutan sehr angesagt. Und er musste
seine schwarzen Haare blond färben, denn für die Bhutaner ist der typische
Ausländer selbstverständlich blond. Die Tänze in bhutanischen Filmen beschränken sich auf einige wenige Tanzschritte und Handbewegungen. Hindifilme sind wesentlich actionreicher. Aber ohne diese Einlagen lassen sich
die Bhutaner nicht ins Kino locken. „The guest“ hat für den Regisseur Kinley Dorji so viel eingespielt, dass alleine seine Kosten bereits nach einigen
Wochen gedeckt waren und seine ganze Familie von den Einnahmen zwei
Jahre leben kann.
Die meisten kreativen Filmschaffenden haben irgendwann einmal bei dem
staatlichen Fernsehsender BBS, Bhutan Broadcasting Service angefangen,
der auf Englisch und Donzgkha sendet.
Ganz anders als die Tätigen der Filmindustrie suchen die Arbeiter eines
anderen Wirtschaftszweiges ganz bestimmt nicht das helle Rampenlicht:
In dem schönsten Tal Bhutans, in Phubjikha, treffe ich Sherab Dorji, einen
Schmuggler aus Ha. Eigentlich ist er in Phubjikha um neue Schmuggelpferde zu kaufen. Dort gibt es anscheinend die widerstandsfähigsten Gäule
Bhutans. Wir sind eingeschneit, innerhalb einer Stunde fallen 30 Zentime161
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ter Schnee. Bei einer bhutanischen Familie finden wir Unterschlupf. Der
Schmuggler hat drei Tage mit öffentlichen Bussen gebraucht, ehe er vom
westlichen Ha in der Mitte des Landes ankommt. Zurück mit den Pferden
im Schlepptau muss er natürlich zu Fuß gehen. Das dauert eine Woche, weil
er über unzählige Berge muss. Sherab Dorji ist 23 Jahre alt, sieht aber mindestens zehn Jahre älter aus. „Bis man in Ha acht Jahre alt wird, hat man
ein sehr schönes Leben, aber dann muss man schmuggeln, damit die Familie überlebt.“ Geschmuggelt wird über die Grenze nach China in den tibetischen Teil. Seit 1959 ist die Grenze geschlossen. Offiziell gibt es keinen
Handel mit China. Der Weg nach Tibet dauert zwei Tage, zumindest für super fitte Bhutaner. Ich würde dafür bestimmt eine Woche brauchen, erklärt
mir Sherab Dorji. 20 bis 25 Mal im Jahr geht er die Strecke. Am schlimmsten sei der Pass. Dort gibt es kein Holz mehr fürs Feuer. Dann werden Pferdeäpfel verheizt. In China ist alles sehr billig. Er kauft aber nur das ein, was
in Bhutan gerade gefordert wird: Teppiche, Haushaltswaren oder Seidenstoffe. Legal ist das nicht, aber meistens drücken die Chinesen beide Augen zu. „Nur wenn man wegläuft bei einer Kontrolle wird man erschossen. Ansonsten konfiszieren sie nur Ware und Pferde”, erzählt Sherab Dorji.
Schmuggeln ist die einzige Einnahmequelle für die Menschen in Ha.
Wenn man durch Bhutan reist, winden sich die kleinen Straßen durch
einen unendlichen Urwald. Zwanzig Meter hohe Baumriesen sehen aus,
als seien sie fähig, mit ihren grünen Schlingpflanzen jedes Wesen in den
Dschungel hinein zu ziehen und auf ewig dort festzuhalten. Kein Wunder,
dass es in Bhutan so viele mystische Märchen um fabelartige Wesen gibt.
Auf einmal lichtet sich der Nebel und man fährt durch feuerrote Rhododendron-Wälder. In Bhutan gibt es über 300 Rhododendrenarten. Oft kurve ich
in meinem kleinen indischen Auto stundenlang einen Berg hoch, ohne nur
einer Menschenseele zu begegnen. Dann ganz plötzlich, wie aus dem Nichts
heraus, trifft man auf eine Gruppe indischer und bengalischer Arbeiter, die
eine Straße vergrößern. Die meisten Männer sind nur ein Strich in der Landschaft. Sie sollen sich eine Woche nur von Tee ernähren können. Jeder Pfennig wird für die Familie zu Hause gespart. Den ganzen Tag kochen sie mit
traurigen Gesichtern auf einer offenen Flamme Teer. Alleine ein Stück Stoff
vor dem Mund soll sie vor den giftigen Dämpfen schützen. Die Maschinen
sehen aus wie bei uns vor 100 Jahren. Ein paar Kilometer weiter stehen in
einer Felsschlucht kleine Regenschirme zwischen den Gesteinsbrocken. Unter ihnen sitzen indische und bengalische Männer und Frauen den ganzen
Tag im Schneidersitz und hacken Steine, im strömenden Regen und eisiger
Kälte auf 3.900 Metern Höhe. Hier arbeiten und leben sie. In kleinen Bambushütten, die nur durch eine provisorisch angebrachte Plastikfolie vor dem
Regen schützt. Die Inder machen alle Jobs, die die Bhutaner nicht machen
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Bhutan
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wollen, und für die einheimische Kräfte zu teuer sind. Die Arbeiter aus Indien kosten pro Tag nur 60-70 Nu, also etwas mehr als ein Euro. Bhutanern
aber muss laut Mindestlohnverordnung mindestens 100 Nu, also 1,80 Euro
bezahlt werden. Die Arbeitserlaubnis für die Fremdarbeiter können Unternehmen mittlerweile ganz bequem im Internet beantragen.
9. Buddhismus
Am Buddhismus führt in Bhutan kein Weg vorbei. Das fängt schon an, sobald man sich auf den Weg vom Flughafen Paro in die Hauptstadt Thimphu
macht. In den anderthalb Stunden fährt man an drei Chorten vorbei. Chorten
(auf Sanskrit heißen sie Stupa) sehen aus wie Tempel. Meistens sind sie unten viereckig mit einem Dach, das nach oben spitz wird. Es gibt sie in verschiedenen Größen. Chorten werden gebaut, um an große Persönlichkeiten
zu erinnern, um Segen für Verstorbene zu erbitten oder um Dämonen abzuhalten. Sie stehen überall: auf den Straßen und Bergen, an bedeutenden Orten
wie Kreuzungen, Brücken oder Pässen. In ihrem Innenraum befinden sich
Opfergaben und Reliquien. Sie zu stehlen, gilt als große Sünde. Trotzdem
kreuzen auf Antiquitätenmärkten im Ausland immer wieder bhutanische
Reliquien auf. Mit dem Auto muss man immer links am Chorten vorbei fahren. Sich das zu merken, ist beim Autofahren nicht so schwierig, da es in
Bhutan Linksverkehr gibt. Aber auch zu Fuß geht man im Uhrzeigersinn
um den Chorten herum und wird so gesegnet. Der Gang im Uhrzeigersinn
bzw. in Sonnenrichtung symbolisiert den Kreislauf des Lebens. Die Bhutaner glauben, dass etwas Schlimmes passiert, wenn man diesen Kreislauf
nicht achtet. Der beeindruckenste Chorten befindet sich auf dem Dolchula
Pass auf dem Weg von Thimphu nach Punakha. 108 dieser kleinen tempelartigen Bauwerke hat die älteste Königin dort vor drei Jahren errichten lassen,
als ein Symbol für ihre Gebete für die sichere Rückkehr ihres Mannes und
Sohnes aus einem Blitzkrieg gegen indische Rebellen. Die hielten sich seit
vielen Jahren im südlichen Dschungel von Bhutan versteckt, um von dort
Anschläge auf Assam zu starten. Mit ein bisschen Glück hat man von dort
eine beeindruckende Sicht auf die hohen Himalajagipfel.
Vor zwölfhundert Jahren hat Guru Rinpoche den Buddhismus nach Bhutan
gebracht. Buddha selbst war nie dort, daher findet man seine Statue in den
Klöstern nur selten. Buddha aber soll die Geburt von Guru Rinpoche als seine Wiedergeburt vorausgesagt haben. Guru Rinpoche soll auf dem Rücken
einer trächtigen Tigerin nach Bhutan geflogen und auf einem Felsen bei Paro
gelandet sein. Dort haben die Bhutaner das berühmte Kloster Taktsang gebaut. Es ist eines der größten Touristenattraktionen und vermutlich auf jeder
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Bhutan
zweiten Postkarte zu sehen. Das Kloster sieht aus wie an den Felsen geklebt,
als trotzte es der Schwerkraft.
Guru Rinpoche ist der Begründer des Mahayana-Buddhismus. „MahaYana“ heißt das „große Fahrzeug“. Guru Rinpoche wollte alle Menschen
von der Lehre des Buddhismus überzeugen. Er ist in Pakistan geboren und
war zuvor in Nepal und Tibet tätig. Er hatte magische Kräfte und konnte
sich in acht Gestalten verwandeln. Guru Rinpoche hat Bhutan vor einem
schrecklichen Dämon gerettet, der als Raubtier verkleidet war. Er zähmte
den Drachen und machte ihn zum Schutzbeauftragten für den Buddhismus
in Bhutan. Der Drache ist daher auch als Symbol auf der Nationalflagge abgebildet. Alle Orte in Bhutan, an denen Guru Rinpoche meditiert hat, sind
heilige Pilgerziele. Im Kloster Tandin Ney über Thimphu zum Beispiel hat
einmal ein Lama meditiert, und ihm ist das Bild von Guru Rinpoche auf
einem Stein erschienen. Dann soll dort plötzlich auch noch eine Quelle aus
dem Stein entsprungen sein. Seitdem gilt das Wasser als heilig.
An meinem ersten Wochenende in Bhutan möchte mir eine neue Bekannte, eine Reporterin von der Zeitung, dieses Kloster unbedingt zeigen. Auf
dem Weg kommen wir an einer Waldlichtung vorbei, auf der ganz viele Gebetsfahnen stehen. Gebetsfahnen gibt es überall im Land. Sie flattern auf
Dachspitzen, Innenhöfen, Bergpässen, Wegkreuzungen. Die Stoffe gibt es in
unterschiedlichen Farben und mit diversen Gebetsaufdrucken. Die Bhutaner
hängen sie zu bestimmten Anliegen auf: um Glück zu erbeten, um von einer
bestimmten Krankheit geheilt zu werden oder um Verstorbenen zu gedenken. Sie glauben, dass der Wind die Gebete über Wälder und Flüsse weht.
Wenn ein Gebet zu einem geflattert kommt, ist man gesegnet. Ich denke mir
nichts bei den Gebetsfahnen und möchte rechts an ihnen vorbei gehen. Sofort werde ich von meiner neuen Bekannten aufgehalten. Niemals darf man
an Gebetsfahnen gegen den Uhrzeigersinn vorbei gehen – das gleiche Spiel
wie bei den Chorten.
Im Kloster Tandin Ney wohnt Mönch Ugyen Pinzo ganz alleine. Er ist der
Neffe des Lamas, der einst die Heiligkeit dieses Orts entdeckte. Seit 15 Jahren verbringt Ugyen Pinzo sein Leben hier oben alleine. „Wenn man sich auf
seinen Tod vorbereiten möchte, ist dies der ideale Ort. Seit ich hier bin, fühle
ich mich nicht mehr alleine. Ich habe alle meine Ängste überwunden und
bin bereit, dem Tod ins Auge zu blicken.“ Ich bin erstaunt, dass ein so junger
Mann schon so über den Tod spricht, denn er scheint kaum älter als 40. In
diesem Monat kommen viele Pilger in die Klosteranlage, da es fünf Glück
verheißende Tage gibt, an denen die Menschen zu Klöstern pilgern. Ansonsten sitzt Ugyen den ganzen Tag in seiner Hütte und betet. Übrigens können
seine Besucher auch noch testen, ob sie voller Sünden sind: Gleich neben
dem Kloster gibt es eine Höhle, deren Eingang sehr schmal ist. Die Bhuta164
Bhutan
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ner glauben, dass auch der dünnste Mensch nicht dadurch passt, wenn er
gesündigt hat, der Dickste aber, der ein streng religiöses Leben führt, passt
ohne Problem durch den Schlitz. Keiner von uns beiden hat sich getraut.
In Bhutan werden auch nicht buddhistische Götter und Geister verehrt,
die ihre Wurzeln im Schamanismus haben. In den Puja-Zeremonien werden
sie besänftigt, um die Menschen so vor Katastrophen zu schützen. Einmal
im Jahr veranstaltet auch der Kuensel eine Puja. Es wird gewitzelt, die Zeitung könne den Beistand der Geister in diesem Jahr besonders gebrauchen,
denn künftig werden ihr zwei neue private Zeitungen Konkurrenz machen.
Zwei Tage vor der Puja rennen Menschen hektisch durch die Redaktionsräume. In einem Nebenzimmer sitzen drei Mönche und basteln Opfergaben für den Altar. Zuerst kneten sie einen Teig aus Soja- oder Kokosnussfett
und Reismehl. Dann wird der Teig in kleinere Klumpen geteilt und eingefärbt, von hell- bis dunkeltürkis, -rosa, -orange und -gelb. Das Grundgerüst
aus braunem Teig hat etwas von einem Kerzenständer. Darauf befestigen
die Mönche bunte runde Scheiben, die aussehen wie aufwendig geschnitzte
Blumen. Die Farben sind genau festgelegt und werden von Generation zu
Generation unter den Mönchen weitergegeben. Zu gerne hätte ich auch mit
dem Teig gespielt und eine Figur geformt, aber das dürfen nur Mönche.
Nach zwei Tagen sind die 20 Skulpturen endlich fertig. Einen Tag lang lassen sie den Altar im Gebetsraum der Zeitung durch ihre Farbenpracht erstrahlen. Die Puja dauert den ganzen Tag. Der Lama sitzt im Schneidersitz
auf einem flachen aber sehr breiten, handgeschnitzten Stuhl vor einem kleinen Holztisch. Um ihn herum auf dem Boden sitzen die restlichen Mönche.
Den ganzen Tag beten sie Mantras, das ist eine festgelegte Reihenfolge von
Gebeten oder einzelnen Gebetssätzen und spielen dazu traditionelle Instrumente: Oboen und teleskopartige Langhörner. Die Musik gibt der Zeremonie den Rhythmus, untermalt das Rezitieren der Gebete und Gesänge. An
gewissen Teilen der Zeremonie nehmen die Mitarbeiter teil, dann verlassen
sie den Raum wieder, so wie sie möchten – alles wirkt deutlich lockerer als
etwa in einer katholischen Messe. Jeder kann kommen und gehen, wann er
will. Der Lama winkt mich sogar herein, damit ich Fotos mache. In Bhutan
freuen sich sogar hohe Lamas, wenn sie fotografiert werden. Mittags gibt es
im Hof ein großes traditionelles Essen mit Schweinespeck und dem Nationalgericht Ema Datse, das aus Chilis als Gemüse und einer Frischkäsesauce besteht. Danach kann man Feuer spucken. Und abends gibt es natürlich
noch selbstgebrauten Ara. Jeder darf Freunde und Familie zur Puja einladen.
Über dem ganzen Tag liegt eine ganz besondere Stimmung, etwas zwischen
besinnlicher Ehrfurcht und ausgelassener Freude. An diesem Tag sollen alle
Zeitungsmitarbeiter den Druck vergessen, der wegen der künftigen privaten
Konkurrenz auf ihnen lastet. Der 30. April, so haben die Lamas ermittelt,
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Bhutan
sei der optimale Tag, um die Bhutan Times auf den Markt zu bringen – natürlich mit einer großen traditionellen Zeremonie. Die Bhutan Times finanziert sich aus Werbeeinnahmen und ist frei von jeder staatlichen Unterstützung. Sie wendet sich an junge Leser, das Layout ist frech und kreativ, die
Artikel boulevardesk. Ihr wichtigstes Ziel ist es, die jungen Leute fürs Lesen zu begeistern. Die meisten bhutanischen Häuser hatten bis vor einigen
Jahren nach Sonnenuntergang nur Kerzenlicht. Lesen fiel da schwer, aber
das Geschichtenerzählen war sehr beliebt. Bis heute hat sich diese Vorliebe
fürs Geschichtenerzählen gehalten. Aber auch Zeitungsmacher, die Bhutans
Medien modernisieren wollen, bauen auf Traditionen, damit die Götter der
Zeitung gut gestimmt sind.
Die Bhutaner halten sich an die buddhistischen Regeln und Riten, damit
sie im nächsten Leben als Mensch wiedergeboren werden. Eine Pilgerreise
in ein Kloster an einem Glück verheißenden Tag, das Opfern von Öl für die
Butterlampen, jede Hilfe, die man anderen bietet, das Drehen von Gebetsmühlen, das Aufstellen von Gebetsfahnen, das Verehren von Reliquien – so
erwirbt der gläubige Buddhist Verdienste für die nächsten Leben. Dieses
Handeln basiert auf der Karma-Lehre, einer der wesentlichen Bestandteile
des Buddhismus. Die Handlungen des vorausgegangenen Lebens haben
Auswirkungen auf die Reinkarnation. Alles menschliche Streben ist auf Erleuchtung ausgerichtet, auf die Erlösung aus dem Zyklus der Wiedergeburt
und das Erreichen des Nirwana, wo alles Leiden ein Ende hat. „Wir sind niemals eifersüchtig, wenn jemand sehr reich ist. Denn wir glauben, dass er in
seinem vergangenen Leben sehr viel Gutes getan haben muss. Wenn jemand
sehr arm ist und leidet, glauben wir, dass er in seinem vergangenen Leben
viele schlechte Dinge angerichtet hat”, erklärt Sonam. Seine Mutter war für
ihn bei einem Lama. Dieser hat ermittelt, dass Sonam in seinem nächsten
Leben als Esel wiedergeboren wird, wenn er sein Leben nicht intensiver auf
die Religion ausrichtet.
Sonams Mutter dagegen hat ihren Alltag seit einem Jahr bereits ganz auf
den Glauben umgestellt, so wie auch die meisten ihrer Freundinnen. Seit
einem Jahr praktiziert sie Nandro, das ist der Name für eine Abfolge von religiösen Ritualen. Einen Monat betet sie Gebetsketten, im nächsten Monat
muss sie täglich 1.000 Kniefälle machen, so genannten Prostrationen. Die
macht man auch, wenn man in einen Tempel geht, um sich vor den Gottheiten zu verneigen. Dazu legt man die Handflächen zusammen, berührt
so die Stirn, den Mund, dann die Brust, kniet sich auf den Boden und führt
die Stirn zum Boden. Als Tempelbesucher macht man das drei Mal. Sonams
Mutter muss jeden Tag 1.000 Prostrationen machen, einen Monat lang. „Das
schlimmste daran sind die Handgelenke. Sie sind voller Blasen und die Gelenke sind entzündet.“ Am Ende des Monats erhält sie von ihrem Lama die
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Bhutan
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nächsten Betaufträge. „Seit ich so religiös bin, denke ich sehr positiv. Früher habe ich immer nur schlecht über andere gedacht. Außerdem fällt es
mir jetzt leicht, Dinge zu verschenken, an denen ich früher sehr gehangen
habe.“ Hass, Begierde, Unwissenheit gilt es zu besiegen. Aus ihrem Altarraum kommt eine monotone Frauenstimme. Sie hat eine Nonne engagiert,
die eine Woche lang 16 Bücher abbetet. In dieser Zeit schläft die Nonne
auch in dem Altarraum. Die meisten Geistlichen verdienen sich so ihren Lebensunterhalt. Diese Nonne wurde Sonams Mutter von ihren Freundinnen
empfohlen, weil sie besonders schnell beten soll – das schont den Geldbeutel. Eigentlich gehört das Beten dieser 16 Bücher auch zum religiösen Programm. Aber dafür fehlt die Zeit – irgendwo kennt die Frömmigkeit auch
in Bhutan Grenzen. Sonams Tante ist reich verheiratet, und sie leistet sich
sogar für die Kniefälle und Gebetsketten eine Nonne. Vor Buddha zählt das
auch. „Es funktioniert bei den Menschen, die daran glauben und es funktioniert nicht für die, die nicht daran glauben. Ich glaube nicht daran. Je mehr
ich bete, desto besser, reicher, cleverer werde ich. Ich glaube, beten alleine
ist nicht genug. Ich bin jetzt 40 Jahre alt. Wenn ich in den nächsten 20 Jahren nur noch zu Klöstern pilgern und beten würde bis ich sterbe, spende
ich keinen Beitrag für die Gesellschaft”, relativiert ein weltlich orientierter
Bhutaner.
Vor allem jenen Bhutanern, die in Indien studiert haben, fällt es schwer,
von der Religion ihrer Eltern überzeugt zu sein. „Natürlich glaube ich an
vieles nicht. Aber in der hintersten Ecke meines Kopfes gibt es ein Gewissen, dass sagt: Wenn du das ohne Puja machst, wird es immer einen negativen Einfluss haben“, sagt Sonam. Er erzählt mir von einem Bambusstrauch
bei dem Haus seiner Großeltern: „Normalerweise trocknet Bambus niemals
aus. Wenn aber ein Bambusstrauch kaputt geht, glauben wir, dass bald jemand aus der Familie sterben wird.“ Auch seine Oma starb kurze Zeit, nachdem der Bambusstrauch am Haus eingegangen war. „Ich habe das mit meinen eigenen Augen gesehen. Eigentlich würde ich das nicht glauben. Aber
das hat mir schon einen Schauer über den Rücken gejagt.“
Besonders wichtig für die Bhutaner sind Tshechu Festivals. Sie erinnern an die Taten und den Geburtstag Guru Rinpoches. Alle Dzongs und
viele Dörfer feiern ihr Tshechu – ein Riesenspektakel, das die Bauern aus
dem ganzen Umland anlockt. Das größte ist das Tshechu Festival in Paro.
Zehntausende, darunter auch viele Touristen kommen extra dafür angereist.
Mönche und Laienmönche führen in prächtigen Kostümen und beeindruckenden Holzmasken rituelle Tänze vor. Mir persönlich gefällt ein kleines
Tshechu in der Nähe von Paro wesentlich besser, weil es authentischer ist
und ohne den großen Touristenrummel auskommt. Am Fuß des Dzongks
gibt es einen großen Platz mit Karussell, Essbuden und Glücksspielen. Auf
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Bhutan
dem Weg zum Innenhof reiht sich dann noch mal ein Ess- und Verkaufsstand an den anderen. Trotzdem, besonders den Leuten aus Paro ist ihr Festival sehr wichtig. Die Kinder haben schulfrei und bekommen extra Taschengeld. Als Höhepunkt wird am letzten Morgen um vier Uhr ein Thangka, ein
Wandteppich, an einer Hauswand ausgerollt. Das Thangkha ist mit 30 mal
20 Metern das größte Thangkha und zeigt das Bild von Guru Rinpoche. Die
Bhutaner stellen sich vor das Thangkha, verbeugen sich und gehen mit dem
Kopf an den Stoff. Das ist ein besonderer Segen für ein langes Leben. Bevor die Sonne den Wandteppich anstrahlt, muss er wieder eingerollt werden. Für Kinley Tshering, einen Freund Sonams, hat das Festival etwas Magisches: „Letztes Jahr konnte ich zum allerersten Mal nicht kommen, weil
ich in Indien studiert habe. Das war schlimm, denn ich fühle, ich muss hier
hin.“ Nemgay Dorji kommt aus Paro. Er ist 23 Jahre alt und arbeitet bei einer Bank in Thimphu: „Ich komme jedes Jahr hier her, weil das Fest so eine
große Bedeutung für mich hat. Es ist eins der religiösesten Ereignisse in
ganz Bhutan. Die Leute kommen von überall her. Nach der Segnung fühlst
du dich besser und leicht.“ Um sieben Uhr wird das Thangka wieder eingerollt und von mindestens 20 Helfern in einer Prozession wieder ins Kloster
gebracht. Noch einmal drängeln und schubsen die Menschen, um die lange
Rolle mit ihrem Kopf zu berühren. Ich bin sehr erstaunt, wie ehrfürchtig Sonams Freunde sind, die ich sonst nur aus dem Nachtleben Thimphus kenne.
Ein Grund für die tief verwurzelte Frömmigkeit könnte sein, dass der
Buddhismus schon in der Grundschule einen hohen Stellenwert hat. Im Geschichtsunterricht lernen die Kinder zum Beispiel, wie die unzähligen Heiligen aussehen, und wer was gemacht hat. Für mich sehen die alle irgendwie
gleich aus und ich bin voller Bewunderung für Sonam, der das alles erkennt
und zuordnen kann. „Kein Wunder, das musste ich von Kleinkind an immer
pauken.“ Auch der Sprachunterricht Dzongkha hat immer einen religiösen
Bezug. „Die Sprache zu lernen, das ist nur ein ganz kleiner Teil. Zu drei
Vierteln besteht der Unterricht aus Religion. „Die Bücher, aus denen wir
hier lernen, sind immer religiöse Bücher mit Gebeten und religiösen Geschichten. Das ist für die Regierung ein guter Weg, den Buddhismus schon
in frühesten Jahren in den Köpfen der Menschen zu verankern“ erläutert
Karma, der im Gesundheits- und Bildungsministerium arbeitet.
Wenn man in Bhutan als Beamter seinen Job antritt, wird dazu geraten,
den Astrologen zu befragen, welcher Tag am meisten Glück für die neue Arbeit verspricht. Wenn die Astrologen ermitteln, dass dieser Tag erst in einem
Monat sein wird, muss halt so lange gewartet werden. Die Aussage der Astrologen wird niemals angezweifelt.
In Bhutan darf aus religiösen Gründen kein Tier getötet werden. Trotzdem
essen die meisten Bhutaner Fleisch. Die Kühe kommen aus Indien. Aber
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auch deren Fleisch schmeckt, als hätte man gewartet, bis die Tiere im hohen
Alter irgendwann umgefallen seien. Dann muss ihr Fleisch wohl auf einen
ungekühlten LKW verladen und schließlich nach Bhutan transportiert worden sein. In Bhutan wird das Fleisch nach traditioneller Art in dünne, lange
Streifen geschnitten und auf der Wäscheleine getrocknet. Da bleibt es dann
eine Woche hängen und gibt für einige hundert Fliegen einen willkommenen
Landeplatz ab. „Früher gab es keine Geschäfte. Wir mussten alles für den
Winter konservieren, indem wir es getrocknet haben. Mittlerweile ist es eine
Essgewohnheit geworden. Wir trocknen das Fleisch, weil es uns schmeckt”,
erklärt Sonam. Kinley, der Chefredakteur der Zeitung erzählt mir, dass er
einmal mit dem Dalai Lama im Flugzeug gesessen habe und sich dieser in
der ersten Klasse sofort ein Steak bestellt habe. Ein anderer Passagier hat
daraufhin gesagt: Sie sind doch der Dalai Lama. Als Buddhist dürfen sie
doch gar kein Fleisch essen. Darauf habe der Dalai Lama geantwortet: „Das
machen nur die guten Buddhisten.“
Wenn ein Lama stirbt, kann er vorhersagen, wann und in welchem Teil
des Landes er wiedergeboren wird, er muss es aber nicht. Das heißt nicht,
dass man nur Lama werden kann, wenn man als solcher geboren wird. Lama
kann man auch durch jahrelanges Studieren der Religion und innere Einkehr werden. Es soll einmal einen Lama gegeben haben, der so schön war,
dass die Frauen und Männer nur kamen, um ihn zu bewundern, aber dabei
nicht auf seine Worte gehört haben. Er hat sich gewünscht, in seinem nächsten Leben als hässlicher Mann wiedergeboren zu werden. Und so soll es
auch geschehen sein – er wurde mit einem Affengesicht wiedergeboren. Im
Buddhismus werden Wiedergeborene meistens schon als kleine Kinder entdeckt. Da viele Lamas sagen, wann und wo sie wiedergeboren werden, wird
dort intensiv geforscht. Wenn ein Kind in Frage kommt, werden ihm verschiedene Aufgaben gestellt. Es muss zum Beispiel aus 20 Gegenständen
das Teil finden, das dem Lama gehört hat. Oder es findet Dinge wieder, die
der Lama in seinem alten Leben versteckt hat. Im Tango-Kloster lebt die Reinkarnation des Klosterbauers Desi Tenzin Rabgye. Neben vielen beeindruckenden Details aus dem Leben des Klostergründers, die der kleine Mönch
wusste, hat er auch denselben Sehschaden und muss daher eine dicke Brille
tragen. Seit seiner Identifizierung als Reinkarnation lebt er in Tango, nördlich von Thimphu, dem Oxford unter den Klöstern, wo die Mönche neun
statt normalerweise fünf Jahre unterrichtet werden. Neben der wunderschönen Klosteranlage sind in den Hang kleine Holzhütten gebaut worden, in
denen die Mönche meditieren. Auch Lopon Karma hat hier drei Jahre meditiert. Er durfte nur mit seinem Mönchstutor und der Person sprechen, die
ihm das Essen brachte und nach seiner Gesundheit sah. „Das schlimmste
war die Einsamkeit. Davor war ich immer zusammen mit meiner Familie
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und meinen Freunden und plötzlich bist du in diesen Raum eingesperrt, wo
du keinen Kontakt mehr haben darfst, drei lange Jahre lang.“ Und dann fügt
er noch lachend hinzu: „Wenn ich jetzt noch weiter über meine Probleme
spreche, die ich in dieser Zeit gehabt habe, dann überstehe ich dieses Leben
nicht.“ Lopon Karma war 22 Jahre alt als er sich zu dieser Form der Meditation entschloss. Es gibt nur wenige Menschen, die mental und emotional in
der Lage sind, diese Isolation für so lange Zeit auszuhalten. „In den ersten
vier, fünf Monaten habe ich gedacht, ich schaffe es nicht. Jeden Tag musste
ich 4.000 Prostrationen machen. Mein ganzer Körper schmerzte, besonders
die Knie. Aber dann habe ich mich gefragt, was ist der Hauptgrund der Meditation und was für eine religiöse Person bin ich überhaupt, wenn ich diese Meditation nicht durchstehe? Nach fünf Monaten war alles viel leichter.“
Neben den Kniefällen hat Karma Bücher rezitiert und Meditationsposen geübt. Nach drei Monaten kam er an einen Punkt, an dem er sich auf eine Sache konzentrieren konnte, zwei Jahre und vier Monate lang. „Einige Menschen schaffen es, in dieser Meditationsposition Monate zu verharren, ohne
zu schlafen und zu essen. Das ging bei mir nicht. Ich habe auch geschlafen,
gegessen und bin auf die Toilette gegangen.“ In der kleinen Hütte gibt es
einen Holzfußboden und eine Decke gegen die Kälte, das ist alles. Die Lebensmittel muss die Familie besorgen, ohne ihre Unterstützung ist eine solche Meditation nicht möglich.
In Bhutan trifft man sogar auf Religion, wo man sie nie erwarten würde.
Wir besuchen Chukha, eines der größten Wasserkraftwerke im Süden. Hier
herrscht die höchste Sicherheitsstufe. Taschen, Jacken, alles muss draußen bleiben, bevor es per Werksjeep in einen langen Tunnel geht. Links und
rechts kleine Lampen, sonst ist alles schwarz. Fast wie bei James Bond. Und
plötzlich erstrahlt eine goldene Buddha-Statue am Ende des Ganges. In der
zehn Meter hohen Generatorenhalle unter den Bergen Bhutans gibt es nicht
nur einen Altar, sondern auch Wandmalereien, die das Leben von Buddha
erzählen. Sie füllen die meterlange Wand. Rechts wandelt modernste Technik Wasserkraft in Strom um, links befindet man sich in einem beeindruckenden buddhistischen Museum. „Wenn wir spirituelle Hilfe brauchen, gehen wir zum Altar. Wenn wir Inspiration für unsere Arbeit benötigen, gehen
wir zu den Malereien und fragen, was hätte Buddha jetzt wohl getan“, erzählt ein Mitarbeiter schmunzelnd.
Das ganze Land ist vom Buddhismus erfüllt. Einen anderen Glauben zu
praktizieren, ist schwierig in Bhutan, obwohl es kein offizielles Gesetz gibt,
das dies verbietet. Der Bruder meiner Vermieterin ist zum Katholizismus
konvertiert und leitet als Jesuitenpriester die größte katholische Schule im
indischen Darjeeling. An Weihnachten hält er eine Messe für die rund zwei
Dutzend Katholiken in Thimphu. Die Regierung weiß davon und duldet
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dies, solange der Priester nicht anfängt, Bibeln und Pamphlete zu verteilen.
Dann bekäme er Probleme. Im Osten soll es sogar 30.000 übersetzte Bibeln
im örtlichen Dialekt geben. Die Regierung weiß davon, aber solange sich
die Menschen dort nicht in Gruppen organisieren, toleriert sie es.
Eine ganz besondere Stellung haben in Bhutan auch die Hunde. Weil die
Bhutaner sie im Vergleich zu allen anderen Tieren als die intelligentesten
ansehen, haben Hunde in den Augen der Bhutaner die größten Chancen, in
ihrem nächsten Leben als Mensch wiedergeboren zu werden. Mit diesem
Gedanken im Hinterkopf bekommt man auch als Nicht-Buddhist ein ganzes neues Verhältnis zu Hunden. Die Sonderstellung der Vierbeiner führt
auch dazu, dass sie von allen verhätschelt und gefüttert werden und sich so
prächtig vermehren. Inzwischen gibt es immer mehr streunende Hunde, die
vor allem in Thimphu zu einem immer größeren Problem werden. Tagsüber schlafen sie, aber nachts erobern sie in Horden die Stadt, führen Rudelkämpfe, buhlen um die Weibchen und suchen nach Futter. Das macht jede
Menge Krach. Das Leben als bhutanischer Straßenhund ist nicht immer einfach und viele sind nachts sehr aggressiv. Schon in der Geschichte Bhutans
hatten die Hunde eine besondere Stellung: Sie waren die engsten Vertrauten
von Drukpa Kinley.
Er lebte im 15. Jahrhundert in Tibet und war ein sehr ungewöhnlicher
Lama. Alle nannten ihn ‚heiliger Narr’, weil er das Predigen von buddhistischen Philosophien und das Praktizieren von körperlicher Liebe stets miteinander verband. Außerdem hat er gerne getrunken und viel gefeiert. Nach
Bhutan kam er, weil er nachsehen wollte, wo sein in Tibet abgeschossener
Pfeil gelandet war. Er fand ihn auf dem Hausdach einer Frau. Sofort begann
er mit ihr eine mehrwöchige Affäre und unterrichtete sie im Buddhismus.
Diese neue Art der Religionsvermittlung kam längst nicht bei allen Bewohnern der Umgebung gut an. Doch mit dem Vollbringen von Wundern konnte
Drukpa Kinley schließlich alle Kritiker von seiner Stellung als Lama überzeugen. Selbst heute hat Drukpa Kinleys spezielle Mischung aus Sex und
Glaube noch eine große Bedeutung für die Bhutaner: Zu dem von ihm gesegneten Kloster Chime pilgern Frauen aus ganz Bhutan, wenn sie keine Kinder
bekommen können. „Drukpa Kinley hat gesagt, wenn ihr glaubt, könnt ihr
alles bekommen”, erzählt mir der Hausverwalter Mönch Khandu. Eine Frau
betet ehrfürchtig vor dem Altar und übergibt dem Mönch Öl für die Butterlampen. Tschamcho kommt aus Ostbhutan: „Ich konnte nach meiner Hochzeit fünf Jahre keine Kinder bekommen. Dann habe ich von diesem Kloster gehört und bin hierher gepilgert. Danach habe ich einen Jungen und ein
Mädchen bekommen.“ Seitdem kommt sie jedes Jahr hierher. Das ist die einzige Bedingung, die mit diesem Fruchtbarkeitskloster verbunden ist. „Sonst
könnten meine Kinder jederzeit schwer krank werden oder sogar sterben.“
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Michaela Lennartz
Bhutan
10. Das gibt es nur in Bhutan
„Wir Buddhisten in Bhutan werden auch Drukpa genannt, weil wir glauben, dass Drukpa Kinley unser Vorvater ist. Jeder Bhutaner ist mit ihm verwandt. Er war sehr sexy, ein Womanizer. Er konnte jede Frau haben, die er
wollte. Daher sprechen wir auch ganz offen über Sex. Das ist keine Schande
für uns wie in anderen asiatischen Ländern. Wir glauben, dass die Männer
hier alle so aktiv sind, weil wir Drukpa Kinleys Söhne sind“, erklärt Sonam
mit einem gewissen Stolz den Ursprung seiner Männlichkeit. Im Westen
Bhutans soll allein der Anblick des ‚besten Stücks’ von Drukpa Kinley böse
Geister vertrieben haben. Auf Wanderungen hatte er immer einen Stock dabei, dessen Kopf sogar in der Form seines Geschlechts geschnitzt war. Der
Penis soll Symbol für seinen unverwüstlichen buddhistischen Glauben sein.
Daher findet man überall in Bhutan überdimensionale Phallussymbole auf
den Wänden neben den Hauseingängen. Besonders amüsant sind anatomiegetreue Haare an den entsprechenden Stellen. Im Heimatkunde-Museum in
Thimphu, einem original erhalten gebliebenen bhutanischen Bauernhaus,
hängt über der Eingangstür ein geschnitztes, überdimensionales Exemplar
in Rot. Darüber befindet sich ein Yakschädel samt Hörnern. Vor einem bedeutenden Kloster in Thimphu trinken die Gläubigen sogar heiliges Wasser aus einem entsprechend geformten Brunnen. Wer jetzt schockiert ist,
sollte bedenken, dass Phallussymbole in Bhutan zur Tradition gehören und
nichts Anrüchiges haben. Wenn ein Bhutaner ein neues Haus baut, werden
vier geschnitzte Penisse in einer aufwendigen Zeremonie in den vier Ecken
des Daches aufgehängt. Dieser Anblick soll für Geister schon von weitem
so Furcht einflößend sein, dass sie sich gar nicht trauen sich zu nähern und
die Menschen in Frieden lassen. Das Anbringen der geschnitzten Meisterwerke ist ein aufwendiges Ritual: Zuerst müssen die Dinger mehrere Tage
im Tempel liegen. Dort werden sie gesegnet. Dann werden sie in einer Prozession zum Neubau gebracht, und dort aufgehängt. Dazu klettern sechs
Männer auf das Dach, sechs Frauen stehen unten. Die beiden Gruppen beginnen ein Streitgespräch. Wenn die Männer punkten, dürfen sie das Teil ein
Stück hochziehen, sind aber die Frauen schlagfertiger, bleibt es unten. Es ist
ein richtiger Kampf, keiner will verlieren. Das kann bis zu einem Tag dauern. Dabei trinken alle viel Alkohol und immer wieder kommt es vor, dass
einer vom Dach fällt.
Bei den religiösen Tsechu-Festivals gibt es einen Clown, Atsara, der mit
der geschnitzten Holzvariante in der Hand seine Späße macht. Das soll die
Atmosphäre auflockern, die von dem magischen Geschehen aufgeladen ist.
Eine weitere Tradition der Söhne Drukpa Kinleys ist das Nighthunting.
Früher haben die Männer ihr Glück direkt am Fenster der Angebeteten ver172
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sucht. Mittlerweile gibt es die moderne Form des Nighthuntings, indem man
zum Beispiel in der Nacht folgende SMS schreibt: Hi Miss, I must be honest. I find you very attractive and beautiful. Can I come tonight? Mister
X...
Der Wagen, den mir netterweise die Tante meiner Vermieterin geliehen
hat, ein kleiner indischer Marutti, heißt in Bhutan nur „mistress car“ – Geliebten-Auto, wohl weil genau dieser Autotyp ein beliebtes Geschenk älterer wohlhabender Herren an ihre jüngeren Geliebten ist. Im Allgemeinen
wird es in Bhutan mit der Treue auf beiden Seiten nicht so ernst genommen.
„Wir sagen immer, solange du nicht aufhörst, deine Frau zu lieben, ist eine
Affäre ok”, erklärt mir Sonam. Trotzdem würde man niemals ein Händchen
haltendes oder küssendes Paar auf der Straße sehen. Alles passiert im Verborgenen.
Die bhutanischen Männer sind beim Kennen lernen meist sehr schüchtern. Manche gucken beim Sprechen sogar auf den Boden und manchmal
murmeln sie in den weiten Ärmel ihres Ghos, der Nationaltracht. Das ist ein
Zeichen von Respekt. (Übrigens, wenn das Volk mit seinem König spricht,
halten sich Bhutaner als Respekthaltung die Hand vor den Mund.) Als Phub
Dem, meine „Schwester“, den Bruder ihrer Freundin vor einem halben Jahr
kennen lernte, hat er kein Wort gesprochen. Trotzdem scheint es zwischen
beiden irgendwie ohne Worte gefunkt zu haben. Nach zwei Monaten war
den beiden klar: Wir wollen heiraten „Wir lieben uns. Das reicht. Da muss
man nicht länger warten. Daher habe ich meinen Vater um Erlaubnis gefragt.
Er hat geprüft, ob Tsewang in Ordnung ist und der Heirat zugestimmt. Da
mein Freund so schüchtern ist, war ich es auch, die seine Familie um Erlaubnis fragen musste.“ Zuerst das Einverständnis der Eltern, dann zusammenziehen und schon ist man verheiratet. So einfach geht das in Bhutan. Keine
Bürokratie, keine stressige Hochzeitsfeier. Ähnlich einfach kann man sich
auch wieder scheiden lassen. 2006 und 2007 gelten als schwarze Jahre, in
denen gläubige Bhutaner nichts Neues beginnen, weil das Unglück bringt.
Wenn man aber genug Geld hat und viel spendet, kann man auch dieses
Unheil von sich abwenden und trotzdem heiraten. Große Hochzeitsfeiern
können sich nur die Reichen leisten, wie zum Beispiel Choden, die einzige
Tochter von Bhutans größtem Reiseunternehmer. Auf der Feier sind etliche
hundert Gäste. Das Hochzeitspaar muss den ganzen Tag auf dem Boden
im Altarraum vor einem kleinen Tisch sitzen. Jeder der gratulieren möchte,
überreicht jedem Partner einen Zeremonienschal, ein wollweißer Polyesterschal, den man bei jeder buddhistischen Feier wichtigen Persönlichkeiten
als Dank übergibt. In der anderen Ecke des Raumes sitzen die Mönche und
rezitieren tranceartig Mantras und Gebete. Dazu spielen sie religiöse Instrumente. Nur zum Essen darf das Brautpaar diesen Raum am Tag ihrer Hoch173
Michaela Lennartz
Bhutan
zeit verlassen. Ansonsten müssen sie den ganzen Tag bereit sein, um Gratulanten zu empfangen, während die Hochzeitsgesellschaft draußen singt und
tanzt. Ich habe in Bhutan viele Frauen getroffen, die schon mehrmals verheiratet waren und Kinder von unterschiedlichen Männern hatten. Auch ein
uneheliches Kind zur Welt zu bringen, ist in der bhutanischen Gesellschaft
kein Schandmahl.
Das wichtigste soziale Netz ist in Bhutan die Familie. Yeshey arbeitet bei
der Nationalbank. Er erzählt mir: „Es ist keine Schande, einen aus der Familie um Geld zu bitten, wenn man selbst keines verdient. Mein Bruder zum
Beispiel studiert noch. Da ist es selbstverständlich, dass ich ihn finanziell
unterstütze. Familie verbindet ein Leben lang.“
In der Gesellschaft dominieren die Frauen. Sie erben meist das Haus und
Land der Eltern. Wenn ein bhutanischer Mann heiratet, ist es immer die Familie der Frau, die wichtig ist. „Wir Männer leben am liebsten in den Tag
hinein. Wir genießen die Gegenwart und wenn es morgen nichts zu essen
gibt, was soll’s. Die Frauen sind diejenigen, die an die Familie denken, sich
Gedanken darüber machen, wer Geld braucht. Die Männer machen sich um
so etwas keine Sorgen.“ Sogar beim König sei das nicht anders, sagt Sonam. Die Geschwister des Königs besetzen keinen bedeutenden Posten im
Land, sie haben kleine Geschäfte. Die Mitglieder der Regierung, die aus der
königlichen Familie kommen, stammen immer aus der Familie der Königinnen. Sonams Mutter möchte daher unbedingt, dass er ein Mädchen aus
demselben Dorf heiratet. So profitiere wenigstens auch seine Familie von
der weiblichen Fürsorge, hofft sie.
In Bhutan kann man niemals an den Namen sehen, welche Familien zusammen gehören. Es gibt in Bhutan keinen Nachnamen. Männer und Frauen
haben oft denselben Vornamen wie zum Beispiel Phub und nur der zweite
Name zeigt, ob es sich um Frau oder Mann handelt: Phub Dem ist immer
eine Frau, Phub Dorji immer ein Mann. Aber auch das gilt nicht für alle
Namen. Nicht die Eltern, sondern Astrologen bestimmen die Namen. Nur
bei meiner Vermieterin Vivi, 36, war das anders: „Meine Eltern sind nicht
gebildet. Sie erinnern sich daher nicht an unseren Geburtstag. Wir folgen
dem religiösen Kalender und haben daher ganz andere Daten als der Westen. Genau zu dem Zeitpunkt, als ich geboren wurde, landete der indische
Präsident im Hubschrauber auf dem großen Feld vor dem Haus meiner Eltern. Sein Name war V.V. Giri. Seitdem wurde ich von allen nur noch Vivi
genannt. Später, als ich zur Schule ging, wollte ich unbedingt wissen, wann
mein Geburtstag ist. So habe ich bei der indischen Botschaft angerufen und
gefragt, wann Mister Giri nach Bhutan gekommen ist. Und so habe ich herausgefunden, wann mein Geburtstag ist.“ Mittlerweile ist es für Bhutaner
einfacher geworden, ihren Geburtstag in Erfahrung zu bringen. Die meisten
174
Bhutan
Michaela Lennartz
Kinder kommen im Krankenhaus zur Welt und erhalten dort eine offizielle
Geburtsurkunde, damit ist der Geburtstag festgehalten. Die reichen Kinder
in Thimphu feiern auch ihren Geburtstag.
In Bhutan fährt man links. Das haben sie von den Indern übernommen,
weil sie von dort ihre Autos bekommen. Mit dem Auto stoppt man nur
ganz selten, auch wenn man eigentlich die Vorfahrt achten müsste. Anders
ist das einzig und allein, wenn einem ein Jeep mit dem Nummernschild
„BHUTAN“ entgegen kommt. Dann handelt es sich nämlich entweder um
den König, die Königinnen, ihre Kinder oder den obersten buddhistischen
Mönch. In Bhutan gibt es keine Nummernschilder für die unterschiedlichen
Bezirke. BT steht für Bhutan Taxi, BG für die Regierung, RBG für die Royal Body Guards, CD für ausländische Organisationen wie zum Beispiel die
UN, BP für die normalen Bürger, RBA für Royal Bhutan Army, RBP für die
Polizei, BHT für die restliche königliche Familie. Zu Beginn meiner Zeit
habe ich die Regel noch nicht ganz verinnerlicht. Ich fahre auf einer relativ
breiten Umgehungsstraße als mir ein Auto mit Lichthupe entgegen kommt.
„Was gibt es da aufzuleuchten? Wir passen doch ohne Probleme aneinander vorbei“, denke ich mir. Als ich das erste Auto passiere, sehe ich auf dem
Nummernschild „BHUTAN“. Ich bremse ab, gucke hoch in den Wagen und
sehe den König. Vor Schreck halte ich mir die Hand vor den Mund. Viele
Bhutaner springen auch noch aus dem Auto und verneigen sich, wenn sie es
rechtzeitig schaffen. Der König hat nur gelacht, mir zugewinkt und ist weiter gefahren – Ausländerbonus. Diese Geschichte habe ich keinem Bhutaner
erzählt, sonst hätte ich großen Ärger bekommen. Der König fährt übrigens
schon seit zig Jahren in einem alten Jeep durch die Gegend und weigert sich
strikt, einen neuen zu kaufen.
Wenn man als Bhutaner Auto fährt und nicht die nationale Tracht trägt,
muss man 150 Nu, also drei Euro, Strafe zahlen. Tagsüber müssen alle
Bhutaner die Nationaltracht in öffentlichen Gebäuden und Plätzen tragen.
Wenn man in einen Dzong oder in ein anderes geflaggtes Regierungsgebäude geht, muss man sich dazu noch einen Schal umhängen. „Unsere Krawatte“ nennt Sonam diesen meterlangen Stoff. Auch die Frauen müssen sich einen Schal über die Schulter hängen, der aber wesentlich handlicher ist. An
der Farbe des Schals erkennt man den Rang seines Trägers. Der König trägt
safrangelb, die Minister orange, die normalen männlichen Bürger weiß.
Die Männer tragen tagsüber den Gho. Er sieht aus wie ein riesiger Bademantel, der aus einem bunt gewebten oder auch aus einem leichten Anzugstoff besteht. Er wird mit einem Gürtel um die Taille gebunden, so dass
am Bauch eine große Tasche für Doma, Handy und Geld entsteht. Unter
dem knielangen Gho tragen die Männer Kniestrümpfe. Die Kniestrümpfe
gehören aber nicht zur ursprünglichen Tradition – der Großvater des aktu175
Michaela Lennartz
Bhutan
ellen Königs hat diese Mode den Schotten abgeguckt. Kniestrümpfe fand
er einfach todschick und so nach und nach kamen auch die meisten seiner
Untertanen auf den Geschmack. Ursprünglich aber haben die Männer Knie
hohe, bunt bestickte Lederschuhe getragen. Die sehe ich aber nur noch an
Ministern zu ganz besonderen Anlässen. In einigen Interviews, wenn mir
die Männer leger gegenüber sitzen, kann ich sogar unter den Gho gucken
– rein zufällig natürlich... Das geht bei den Frauen nicht, die sind bestens
verpackt. Bei der Half-Kira trägt man ein großes Stück gewebten Stoff, den
man in einer komplizierten Technik um die Hüften wickelt und in Taillenhöhe mit einem Gurt fest schnallt. Damit man nicht plötzlich nackt da steht,
wird dieser Gürtel so eng gezogen, dass man kaum noch atmen und ziemlich schlecht essen kann. Kein Wunder, dass die Bhutanerinnen so schlank
sind. Oben drauf kommen zwei übereinander angezogene Blusen, die farblich perfekt zum Muster des Rockes passen müssen. Diese Toego sind bei
besonderen Anlässen immer aus Seide oder Brokat. Diese sehr weiten, jedoch recht kurzen Blusen werden vorne mit einer Brosche oder einer Sicherheitsnadel zusammengehalten. Traditionell tragen die Frauen eine FullKira. Dort reicht der Stoff wie ein Kleid bis zu den Schultern und wird dort
mit traditionellen Broschen, die oft Familienerbstücke sind, befestigt. Egal,
welche Kira die Bhutanerinnen tragen, sie haben immer schicke Highheels
ohne Socken an. Angeblich auch im Winter. Mit dem sehr langen Rock, auf
den hohen Schuhen über die holprigen Straßen und Bürgersteige zu gehen,
ohne zu stolpern, ist eine Kunst. Für Schulkinder ist die traditionelle Tracht
auch Schuluniform.
Das Tragen der Nationaltracht ist ein wichtiger Bestandteil um die Balance zwischen Tradition und Moderne zu bewahren. Der König geht mit bestem Beispiel voran. Er spielt leidenschaftlich gerne Basketball, aber immer
nur im Gho erzählt mir einer seiner Spielpartner. Natürlich wird auch die
beliebteste Sportart Bhutans, Bogenschießen, im nationalen Dress gespielt.
Traditionell bleibt dieser Sport allerdings den Männern vorbehalten. Sie
spielen fast jeden Sonntag von morgens sechs bis abends fünf, je nach dem,
ob es sich um ein Freundschaftsspiel oder ein richtiges Match handelt. Letzt
genanntes kann sich auch schon mal über Tage hinziehen. Aber auch beim
Traditionssport Bogenschießen hat die Moderne nicht halt gemacht. Wer es
sich leisten kann, schießt auf das 150 Meter entfernte Ziel nicht mehr mit
Pfeil und Bogen aus Bambus, sondern mit Hightech-Karbon-Geschossen
aus Amerika. Das einzige, was sich nicht geändert hat, ist die Tradition, dass
die Männer die Nacht vor einem Wettbewerb nicht bei ihren Frauen verbringen dürfen. Meist schläft die ganze Mannschaft zusammen in einem Haus.
Die Bögen werden in den Altarraum gestellt, damit sie vor dem Spiel keine
Frau anfassen kann. Das wäre ein böses Omen.
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Bhutan
Michaela Lennartz
11. Die Zukunft
Noch findet man in Bhutan beides: Unverfälschtes Brauchtum und technische Erneuerungen. In 2008 wird sich vieles ändern: Bhutan erhält eine
konstitutionelle Monarchie mit einer verhältnismäßig modernen Verfassung. Im künftigen Zweiparteiensystem dürfen alle Bhutaner über 18 Jahre
das nationale Parlament wählen. Der König bleibt das Staatsoberhaupt. Die
meisten seiner bisherigen Kompetenzen gibt er ab, er bleibt aber Oberbefehlshaber über die Streitkräfte und behält das Recht, den Justizminister zu
ernennen. Es gibt wichtige neue staatliche Einrichtungen wie die Wahlkommission und die Antikorruptionskommission. Zwei neue private Zeitungen
beleben die bislang monopolistische Presselandschaft.
Die Bevölkerung betrachtet die Veränderungen im Land mit großer Skepsis. „Warum soll man etwas verändern, was gut funktioniert?“ Das höre ich
in der Zeit immer wieder von Menschen aus den unterschiedlichsten Bildungsschichten. Keiner möchte, dass der König seine Macht abgibt und in
Rente geht. Der König dagegen versucht den Menschen zu erklären: „Mit
mir habt ihr Glück, aber keiner kann wissen, welche Könige nach mir kommen. Daher ist Demokratie die einzig stabile Institution für Bhutans Zukunft.“ Das sagt der König. Kritiker dagegen wenden unter vorgehaltener
Hand ein, der König spüre, dass sein Volk irgendwann einschneidende Veränderungen fordern werde und beschneide deshalb freiwillig seine Kompetenzen, um die Kernpunkte der Macht für sich und seine Nachfolger zu sichern.
Die meisten Bhutaner können sich absolut gar nichts unter Demokratie
vorstellen. Bei aller Abwehr gegen die Entscheidung des Königs hilft den
Bhutaner aber vielleicht ihre Mentalität, die Sonam so beschreibt: „Wir
planen nicht, egal was wir machen. Wir denken immer, mal abwarten was
kommt. Wenn es ein Problem gibt, kümmere dich nicht sofort darum. Warte
einfach, dann wird sich schon eine Lösung finden.“
12. Danke
Vielen Dank an die Heinz-Kühn-Stiftung, die mir die unvergesslichen
Monate in Bhutan ermöglicht hat. Das gilt besonders für Ute Maria Kilian,
die mich die ganze Zeit mit viel Enthusiasmus für das Land betreut hat. Und
als letztes möchte ich mich noch bei meinem Süßen zu Hause bedanken, der
ausgeharrt und drei Monate lang kein Nighthunting betrieben hat.
177
Marcio Pessôa
aus Brasilien
Stipendien-Aufenthalt in
Nordrhein-Westfalen
vom 01. Juli bis 31. Dezember 2005
179
Nordrhein-Westfalen
Marcio Pessôa
Ein Feuerwerk von neuen Eindrücken
Erfahrungen eines Brasilianers in Deutschland
Von Marcio Pessôa
Nordrhein-Westfalen, vom 01. Juli bis 31. Dezember 2005
181
Nordrhein-Westfalen
Marcio Pessôa
Inhalt
1. Zur Person
184
2. Themensuche
185
3. Die Trümmerfrauen
185
4. Wenig Information
186
5. Das Goethe-Institut
187
6. Die Reisen nach Weimar
188
7. Deutsche Welle
190
8. Land und Leute
191
9. Danksagung
192
183
Marcio Pessôa
Nordrhein-Westfalen
1. Zur Person
Ich heiße Márcio Pessoa und bin am 25. Februar 1977 in Porto Alegre
geboren, im Süden von Brasilien. Meine Eltern sind Josefina Lima und
Vanderlei Pessoa. Beide sind aus dem Nordosten von Brasilien nach Porto Alegre gekommen. Das ist ein wichtiger Punkt, weil sie aus der ärmsten
Region des Landes gekommen sind. Ich glaube, dass diese Tatsache hilft,
meine Berufung in den Journalismus zu erklären, insbesondere mein großes
Interesse an sozialen Themen. Mit 7 Jahren habe ich in Manaus, der Hauptstadt von Amazonas, begonnen, das Gymnasium zu besuchen. Amazonas
ist das brasilianische Bundesland, welches im Norden des amazonischen
Regenwaldes liegt. Dort ist mein Vater gestorben und das Leben meiner
Familie hat sich verändert. Meine Mutter, meine zwei Brüder und ich sind
nach Porto Alegre zurückgegangen und mussten viele Jahre lang mit wenig
Geld leben.
Meine Mutter hat in der Porzellanproduktion gearbeitet, während meine
Brüder sich an der Militärakademie eingeschrieben haben. Manchmal habe
ich meiner Mutter bei ihrer Arbeit geholfen. Sie hat ihre handgefertigten
Produkte auf dem bekanntesten Flohmarkt „Brick da Redenção” von Porto Alegre verkauft. Fünf Jahre lang ist sie jeden Sonntag dorthin gegangen.
1996 habe ich mich an der „Universidade Federal do Rio Grande do Sul
– UFRGS” eingeschrieben und dort bis zum September 2000 Journalismus
studiert. Unser Leben ist besser geworden.
Von 1997 bis 1999 habe ich als Reporter bei der Gewerkschaft der Elektrotechniker gearbeitet. Im Dezember 1999 habe ich bei Radio Guaíba angefangen. Fünf Jahre lang arbeitete ich dort als Reporter. Die Hauptthemen
meiner Arbeit waren Menschenrechte. Im täglichen Kontakt mit Menschen
habe ich immer neue Schicksale und Lebenswege gehört. Dabei kam es
nicht selten vor, dass die organisierte Kriminalität oder sogar einige Polizisten mich bedroht haben. Mein Name war bekannt und meine Arbeit dadurch immer gefährlich. So habe ich einige Morddrohungen bekommen,
wodurch mein Leben leider nicht mehr normal war. 2001 habe ich einen
zweiten Job bei einer Radiostation bekommen. Durch die Arbeit bei Radio
Fm Cultura hat sich mein Leben auf sehr positive Weise verändert. In zwei
Jahren und sieben Monaten habe ich 13 Journalismuspreise gewonnen, und
bin damit vielleicht der brasilianische Journalist, der in den letzten drei Jahren die meisten Preise gewonnen hat. Drei Jahre lang habe ich bei Radio Fm
Cultura und Radio Guaíba gearbeitet. Bei Fm Cultura habe ich viele Dokumentationen gemacht. Dabei handelt es sich um eine seltene Art der Berichterstattung im aktuellen Journalismus. Ich bin glücklich, aber mein Leben ist
natürlich nicht normal. Der Journalismus ist für mich nicht nur meine Ar184
Nordrhein-Westfalen
Marcio Pessôa
beit. Journalist zu sein heißt heute, viel Mut aufzubringen. Es ist ein Weg,
den Menschen zu helfen, ein tägliches Geben und eine Herausforderung.
2. Themensuche
Für mich war es sehr schwer, mich für ein Thema zu entscheiden. Seit ich
im Juli 2005 nach Deutschland gekommen bin, interessiert mich ein Thema,
über das ich gerne schreiben würde. Amnesty International hat ein wichtiges Programm in Europa über Gewalt gegen Frauen. Mitte August habe
ich das Bonner Amnesty Büro besucht und mich über diese Art von Gewalt
in der Ersten Welt informiert. Im Gespräch mit einer Angestellten habe ich
gesagt, dass die Gewalt gegen Frauen in Deutschland für mich unerwartet
ist. Daraufhin erklärte sie mir, dass es eine Kampagne in ganz Europa gegen
Gewalt gegen Frauen gibt und versprach mir, meine Telefonnummer ihrem
Kollegen, der mir für weitere Informationen zur Seite stehen könnte, zu geben. Jetzt warte ich auf ihren Anruf.
3. Die Trümmerfrauen
Es ist normal in Deutschland, dass die Leute über die wichtige Funktion
der Frauen nach dem Zweiten Weltkrieg Bescheid wissen. Wenn man Deutsche auf das Thema der Trümmerfrauen anspricht, scheinen sie nicht überrascht zu sein. In den Nachkriegsjahren waren die Männer gefallen oder in
Kriegsgefangenschaft. Also mussten die Frauen die Trümmer der zerbombten Städte wegräumen und beim Wiederaufbau der Häuser helfen. Sie leisteten harte Arbeit, Männerarbeit. Und sie lernten, selbstständig zu sein. Als
die Männer aus der Gefangenschaft wiederkamen, wurden die Frauen meist
wieder in die alte Rolle zwischen „Kinder, Küche und Kirche” zurückgedrängt. Schwere körperliche Arbeit war Frauen nach den Arbeitsschutzbestimmungen verboten. Doch 1946 hoben die Alliierten die Bestimmungen
teilweise auf, so dass Frauen zur Produktion von Baumaterial und zur Bauarbeit verpflichtet werden konnten.
Als ich diese Geschichte hörte, habe ich gedacht, dass den Frauen in
Deutschland ein ungewöhnlicher Respekt entgegengebracht werden müsste.
Meiner Meinung nach haben die Frauen in Deutschland eine starke Bedeutung, weil Deutschland ein Erste Welt Land ist, und damit ein gutes Beispiel
für andere Länder, und weil die Frauen hier eine wichtige Funktion beim
Wiederaufbau Deutschlands innehatten. Deshalb hätte ich mir nie vorstellen können, dass sie einen schweren Kampf gegen die Gewalt haben. Dieses
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Marcio Pessôa
Nordrhein-Westfalen
Thema ist in Deutschland so wichtig, dass die nordrhein-westfälische Landesregierung eine Werbekampagne gegen Gewalt gegen Frauen ins Leben
gerufen hat. So sind mir in der Linie 66 Richtung Siegburg einige Plakate
dieser Aktion mit Informationen und Telefonnummern für Gewaltbetroffene
Frauen aufgefallen.
4. Wenig Information
Gewalt ist ein globales Problem und Gewalt gegen Frauen gibt es auch in
den Ländern der so genannten Ersten Welt. Dass Menschen die Rechte anderer Menschen missachten, das passiert überall auf der Welt.
Der Amnesty International Bericht sagt, dass im Februar 2004 die Bundesregierung dem UN-Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung
der Frau ihren 5. periodischen Bericht übermittelte. Darin erteilte sie Auskunft über diverse Maßnahmen zur Umsetzung eines nationalen Aktionsplans zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen, der vom Kabinett im
Dezember 1999 beschlossen worden war. Gewalt in der Familie stellt nach
wie vor ein gravierendes Problem dar. Schätzungen zufolge suchen alljährlich mehr als 40.000 Frauen in Frauenhäusern Schutz vor familiären
Problemen (in Porto Alegre gibt es ein Konzept, das dem von Frauenhäusern ähnelt).
In ihrem Bericht an den UN-Ausschuss wies die Bundesregierung auf
ein im Januar 2002 in Kraft getretenes Gewaltschutzgesetz hin, mit dem
eine Rechtsgrundlage geschaffen wurde, um gegen Männer, die ihren Partnerinnen Gewalt angetan oder angedroht haben, ein Kontaktverbot zu verhängen. Des Weiteren gibt das Gesetz Gewaltopfern einen Anspruch auf die
– zumindest zeitweise – alleinige Überlassung der gemeinsamen Wohnung.
Für Berufsgruppen, deren Tätigkeit sie mit den Opfern familiärer Gewalt
in Kontakt bringt, wurden spezielle Öffentlichkeits- und Sensibilisierungsmaßnahmen auf den Weg gebracht. Dem Gewaltschutzgesetz folgte wenige
Monate später ein Gesetz zur Verbesserung von Kinderrechten, welches vorsieht, dass Personen aus einer von einem Kind bewohnten Wohnung weggewiesen werden können, wenn sie sich gegenüber dem Kind gewalttätig verhalten. Dieses Gesetz dient zwar in erster Linie dem Schutz von Kindern,
trägt aber auch der Tatsache Rechnung, dass Gewalt an Kindern häufig auch
von der Mutter als psychische Gewalt empfunden wird und den Zweck verfolgt, Frauen einzuschüchtern.
186
Nordrhein-Westfalen
Marcio Pessôa
5. Das Goethe-Institut
Als Stipendiat der Heinz-Kühn-Stiftung habe ich vier Monate lang das
Goethe-Institut in Bad Godesberg besucht. Es war eine wunderbare Zeit. Als
ich im Juli 2005 nach Bonn kam, konnte ich nur wenig Deutsch sprechen
oder schreiben. Ich kannte einige grammatikalische Regeln und verfügte nur
über einen begrenzten Wortschatz.
Der Empfang war sehr gut. Die Angestellten informierten die neuen Studenten auf umfassende Art und Weise. Die ersten Monate waren äußerst
schwierig. Ich musste zuerst einen Test machen. Das Ergebnis zeigte, dass
ich in der zweiten Stufe der Grundstufe beginnen konnte. Leider sprach die
Lehrerin sehr schnell, so dass ich so gut wie nichts verstand. Im ersten Monat waren wir 15 Studenten in einem Kurs. Die Lehrerin war immer sehr
geduldig und nett. Einige Studenten konnten schon viel besser Deutsch als
die anderen, und das war etwas ungünstig für den Unterricht. Aber ich habe
mich sehr darum bemüht, den Anschluss nicht zu verlieren. Ich hatte ein
wenig Angst, weil die Lehrerin sehr anspruchsvoll war, aber glücklicherweise haben mir zwei Kollegen aus Brasilien sehr geholfen. Ihr Deutsch war
schon sehr gut und sie haben mir bei meinen Fragen zur Grammatik und
zum Wortschatz geholfen. Rodrigo Rodembusch und Alexandre Schossler
sind zwei Journalisten, die aus derselben Stadt kommen wie ich, und sie waren in den ersten Tagen die wichtigsten Personen. Ich habe 9 Stunden am
Tag Deutsch gelernt.
Im August befand ich mich in einer ähnlichen Situation. Ich hatte das Gefühl, dass mein Deutsch besser geworden war. Diesmal waren auch die Mitstudenten und die Lehrerin besser. Die Gruppe war täglich zusammen und
das war sehr hilfreich, weil wir sehr viel Deutsch gesprochen haben. Ich habe
dadurch auch viele Leute kennen gelernt. Sie kamen aus allen Teilen der
Welt, wie z.B. Spanien, Japan, Portugal, Griechenland, Polen, Italien, Frankreich, Ukraine und Korea, und viele von ihnen sind jetzt meine Freunde. Wir
chatten oft im Internet und sprechen dabei über unseren Alltag.
Im September war der Kurs leider ein wenig langweilig. Wir hatten eine
neue Lehrerin, und wir mussten viel Grammatik machen. Viele meiner Mitstudenten waren unzufrieden, aber ich war ganz zufrieden.
Es war aufregend genug, in Deutschland zu sein und sich jeden Tag mit
etwas Neuem zu beschäftigen. Vielleicht lag es auch daran, dass ich viele
deutsche Freunde hinzugewonnen hatte, und das obwohl mein Deutsch nicht
so gut war. Beim Fußballspielen, in der Kneipe oder auf Partys waren die
Deutschen immer sehr freundlich. Außerdem habe ich beim Fußballspielen
einen anderen Brasilianer kennen gelernt, der in Deutschland lebt. Oliver
ist der Sohn einer Deutschen und eines Brasilianers. Er wohnt seit 1995 in
187
Marcio Pessôa
Nordrhein-Westfalen
Deutschland und studiert an der Universität Bonn. Er stellte mir auch seine
Freunde vor, und auch dadurch hatte ich die Gelegenheit, viel Deutsch zu
sprechen. Das war eine gute Ergänzung zum Unterricht beim Goethe-Institut, der in diesem Monat sehr Grammatik geprägt war und uns gleich zwei
Lehrer in 24 Tagen bescherte.
Der vierte Monat beim Goethe-Institut war allerdings wieder besser. Der
Lehrer war sehr sympathisch und der Unterricht sehr interessant. Er sprach
langsam und klar und konnte sehr gut erklären. So habe ich viele wichtige
Grammatikregeln schneller verstanden und besser gelernt. Dieser Lehrer,
der Joachim Viertel heißt, war der beste Fremdsprachenlehrer, den ich je
hatte. Er war auch schon viel gereist und kannte viele andere Länder und
Kulturen. Er kannte sich auch gut mit Politik und Geographie anderer Kontinente aus.
6. Die Reisen nach Weimar
Ich habe viel über Deutschland gelernt. Ich bin nach Jever, in den Schwarzwald (Brandenberg), nach Trier, Worms, Unkel, Heidelberg, Speyer, Koblenz, Mainz, Bochum, Düsseldorf, Köln, Leverkusen, Dortmund, Leipzig,
Berlin und Weimar gefahren. Die unterschiedlichsten Regionen. Vor allem
Weimar war sehr speziell.
Weimar ist das Herz der deutschen Kultur. Es ist eine wunderschöne Stadt,
mit typisch deutschen Charakterzügen. Frau Ute Maria Kilian, Rodrigo Rodembusch, Rodrigue Guezodje und ich sind am Mittwoch, dem 26.Oktober,
in Weimar angekommen. Wir haben einen kleinen Spaziergang durch die
Stadt gemacht und haben dann eine typisch thüringische Spezialität gegessen: Klöße. Die schmeckten mir sehr gut. Unser Hotel lag etwas außerhalb
der Innenstadt und dort übernachteten wir auch während der gesamten Zeit
unseres restlichen Aufenthaltes.
Donnerstagmorgen haben wir uns in der Innenstadt von Weimar mit Reiseführer Herrn Jürgen Nietsche getroffen. Er war sehr sympathisch und
sprach sehr klares, gut verständliches Deutsch. Wir lernten durch ihn viele
Sehenswürdigkeiten kennen. Herr Nietsche sprach über das Deutsche Nationaltheater und das Goethe- und Schiller-Denkmal. An diesem Tag haben
wir auch die Herderkirche, das Stadthaus, das Hotel Elephant, das Rathaus,
den Platz der Demokratie, die Herzogin Anna Amalia Bibliothek, das Denkmal des Herzogs Carl August, das Haus der Frau von Stein, das Staatsarchiv, Goethes Gartenhaus, das Goethehaus und das Schillerhaus besucht.
Am Abend haben wir in der Oper dann die Aufführung von „Die Fledermaus” gesehen. Das ist eine komische Operette von Johann Strauss, aufge188
Nordrhein-Westfalen
Marcio Pessôa
führt mit dem Opernchor des Deutschen Nationaltheaters Weimar in kleiner
Besetzung. Die Oper ist wunderschön und sehr interessant. Und es war das
erste Mal, dass ich eine Oper sah, die nicht auf Portugiesisch war.
Am Freitag haben wir das Schloss Kochberg besichtigt. Zum Schloss gehört auch ein schönes, fast 400 Jahre altes Haus. Und dieses Haus war wunderschön, weswegen wir sehr viele Bilder davon machten. Außerdem haben
wir im Schloss viel über die Geschichte von Goethe und Frau von Stein erfahren. Um 13 Uhr haben wir im Frauentor-Café eine Pause gemacht. Dort
haben wir einen Kuchen gegessen.
Danach haben wir das Schillerhaus besichtigt. Friedrich Schiller erwarb
das Haus im Mai 1802 und wohnte dort mit seiner Familie drei Jahre bis zu
seinem Tod. Sein Arbeitszimmer war im Mansardengeschoß. Dort entstanden wichtige Werke wie „Die Braut von Messina” und „Wilhelm Tell”. Um
19h30 Uhr besuchten wir dann das Deutsche Nationaltheater, wo wir uns die
Aufführung von „Fidelio” anschauten. Die Oper von Ludwig van Beethoven
wurde zum 200. Jubiläum der Uraufführung mit Ensemble und Opernchor
des Deutschen Nationaltheaters, dem philharmonischen Chor Weimar aufgeführt und es spielte die Staatskapelle Weimar. Zum Schluss waren wir im
Hotel Elephant, wo auch schon Schiller, Goethe, Marlene Dietrich und andere Berühmtheiten zu Gast gewesen sind.
Samstag, der 29. Oktober, war als „Goethe-Tag” markiert. Wir besichtigten das Goethehaus. Dabei musste ich an meine eigene Familie denken. Ihr,
und vor allem meiner Mutter, hätte das Haus bestimmt sehr gut gefallen.
Das hat mir auch gezeigt, wie wichtig es ist zu reisen und neue Dinge zu
sehen. Nicht nur für mich als Journalist, sondern auch für Menschen allgemein. Goethes Haus ist sehr groß und in sehr gutem Zustand. Wir erfuhren
viel über die Biographie des Schriftstellers und machten auch einen Rundgang durch das Gartenhaus und den Garten. Auch am zweiten Tag sah das
Programm so ähnlich aus.
Die ergreifendste Besichtigung war am Sonntag, den 30. Oktober, als wir
die Wartburg besuchten. Der 1080 erstmals erwähnte Burgbau und die bauliche Situation zeigen heute noch, wie groß die Macht der Ludowinger waren. Da in die gleiche Zeit, zwischen 1062 und 1090, die Gründung der Neuerburg bei Freyburg ebenfalls durch Ludwig den Springer fällt, dürfte er mit
beiden Burgen die Eckpunkte seines Herrschaftsgebietes markiert haben.
Der Ausbau der Wartburg im Sinne einer prachtvollen Hofhaltung vollzog
sich seit 1172 unter dem Landgrafen Ludwig III. und erhob den Ort unter
Hermann I. seit 1190 nicht nur zu einem baulichen, sondern vor allem zu
einem ersten geistig-künstlerischen Höhepunkt höfischer Kultur.
Jeder Teil der Wartburg hat eine eigene Geschichte, aber die wichtigsten
Räume sind natürlich dort, wo Martin Luther die Bibel übersetzte. Das Zim189
Marcio Pessôa
Nordrhein-Westfalen
mer strahlt heute noch viel Energie aus. Luthers Übertragung des Neuen
Testamentes in die Sprache der einfachen Menschen in nur drei Monaten ist
eine fast übermenschliche Leistung.
Ein sehr ergreifender Moment dieser Reise war das Symphoniekonzert
der Staatskapelle in Weimar. Wir haben Wolfgang Amadeus Mozart gehört
und zwar sein Konzert für Klavier und Orchester Nr. 21 C-Dur KV 467. Der
Dirigent war der Amerikaner John Axelrod und der Solist Stefan Vladar.
Jedes Detail dieser Reise war so gut durchgeplant. Sie war auf jeden Fall
eine Bereicherung für mich und mein Leben. Meine Erlebnisse waren sehr
interessant und ich habe das Gefühl, dass ich sehr viel gelernt habe. Ich bin
sehr froh, dass ich diese Reise machen konnte.
7. Deutsche Welle
Unser erster Tag in der Deutschen Welle war unvergesslich. Bei Radio
Guaíba habe ich sehr viel mit den Berichten der brasilianischen Redaktion
der Deutschen Welle gearbeitet. Deshalb war es sehr wichtig für mich, in
dem Unternehmen arbeiten zu können. Es war ein Traum. Ich habe in dieser
Zeit viel über die Arbeit als Internationaler Korrespondent gelernt, denn die
Deutsche Welle ist ein sehr wichtiger Ort für internationalen Journalismus.
Die Kollegen der brasilianischen Redaktion waren sehr freundlich, von Anfang an. Mein Kollege, Rodrigo Rodembusch und ich haben uns sehr gut
miteinander verstanden.
Schon nach zwei Wochen hatte ich sehr viel gelernt. Ich habe mit einem
anderen Medium, dem Internet gearbeitet. Zwar hatte ich schon vorher
damit gearbeitet, aber nicht um Texte zu übersetzen. Und hier erforderte
die Nutzung dieses Mediums gute Deutschkenntnisse. In den ersten Tagen
habe ich viele Sportberichte geschrieben und auch einige über Menschenrechte. Aber die außergewöhnlichste Erfahrung war ein Bericht über Antisemitismus.
Dieser Bericht verdient einen eigenen Paragraphen. Als ich in Porto Alegre
gearbeitet habe, gab es eine sehr aktive Gruppe von Neonazis, die jüdische
Mitbürger angegriffen haben. Ich habe viele Berichte über sie geschrieben.
Das ist seltsam, aber so etwas existiert in Brasilien. Im Internet kann man
über diese Bewegung junger rassistischer Brasilianer eine Homepage im Internet finden. Dort schreiben und diskutieren sie über Nationalsozialismus,
über Nazi-Persönlichkeiten, über Hitler und die Rassen. Ich wusste, dass es
dieses Denken hier in Deutschland gibt, aber ich habe es hier nie gesehen.
Wir haben keinen Experten für Antisemitismus in Brasilien. Deshalb habe
ich den brasilianischen Kollegen ein Interview mit einem deutschen Spe190
Nordrhein-Westfalen
Marcio Pessôa
zialisten vorgeschlagen. Ich habe im Internet gesucht und Professor Wolfgang Benz gefunden. Er ist der Leiter des Instituts für Antisemitismus an der
Freien Universität Berlin. Ich habe mit ihm telefoniert und ein gutes Interview gemacht. Aber ich habe auch verstanden, dass ich besser Deutsch lernen muss, bevor ich ein ausführliches Interview auf Deutsch machen kann.
Ich habe viele Dinge gefragt, aber nicht alle Antworten verstanden. Das war
lustig, aber ungefährlich. Gott sei Dank, war der Professor sehr nett und hat
die Situation verstanden. Er war geduldig und hat sich viel Mühe gegeben,
damit ich ihn verstehe. Die Berichterstattung war möglich mit der Hilfe der
brasilianischen Leiterin der Online-Redaktion der Deutschen Welle. Letztendlich war es ein bisschen unangenehm, aber ich bin ein Praktikant. Ich
habe von dieser Situation gelernt.
Das Wichtigste an dieser Erfahrung war, zu lernen, wie man mit dem Internet arbeitet. Die Deutsche Welle hat ihr eigenes System. Natürlich gibt es
andere Systeme in anderen Firmen, aber das System der Deutschen Welle zu
kennen bedeutet vielleicht eines der weltweit modernsten Internet-Systeme
für den Journalismus zu kennen. Und das ist wunderbar für mein Leben und
für meinen Lebenslauf.
8. Land und Leute
Im Allgemeinen sind die Deutschen freundlich. Ich habe keine Probleme,
Leute anzusprechen, obwohl ich die deutsche Sprache nicht gut beherrsche.
Normalerweise versteht man, dass ich Ausländer bin und die meisten Leute
haben Geduld, wenn ich spreche. Oft helfen sie mir. Aber das ist nicht immer der Fall. Es gibt Situationen, wo die Deutschen nicht so viel Geduld haben. Das komische daran ist, dass das oft während der Arbeitszeiten passiert.
Zum Beispiel am Bahnhof. Die Angestellten haben nicht immer die Geduld,
langsam zu erklären und Informationen zu geben. Sie sprechen schnell, sind
unhöflich und gereizt. Dann ist es schwer für Ausländer etwas zu verstehen.
Es war ganz normal, dass Deutsche nur wenig über Brasilien wissen.
Das ist keine Katastrophe, und die Brasilianer brauchen sich deshalb nicht
schlecht zu fühlen, weil auch sie nicht viel über andere Länder wissen. Wenn
wir in ein anderes Land gehen, bemerken die Leute, dass sie wenig über südamerikanische, asiatische und afrikanische Länder wissen. Die Leute wissen, wo einige Staaten der USA liegen, aber Brasilien ist sehr fern.
In Deutschland gibt es viele Klischees über Brasilien: Einige Deutsche
denken, dass wir spanisch sprechen. Viele wissen, dass wir gute Fußballspieler haben. Einmal hat eine Frau gesagt, dass Ausländer nicht in den Straßen von Rio de Janeiro und São Paulo spazieren gehen können, weil es ge191
Marcio Pessôa
Nordrhein-Westfalen
fährlich sei. Schade, denn das zeigt die Unkenntnis und Vorsicht gegenüber
unserem Land. Im Allgemeinen sind die Deutschen in den Kneipen und auf
Festen sehr freundlich. Sie lieben das Feiern und brauchen oft keinen besonderen Anlass um eine Party zu machen. In diesem Punkt sind sich Brasilianer und Deutsche sehr ähnlich.
Als ich in den Schwarzwald gereist bin, sind wir auch zu einem typischen
Dorffest gegangen. Dort hat sich die Gemeinde getroffen und es gab viel
Bier und Würstchen. Es war eine gute Stimmung und lustig und schön.
Es gibt ein Vorurteil über die Deutschen, das ich nach diesem Aufenthalt
in Deutschland nicht mehr habe: Die Brasilianer sagen, dass die Deutschen
sehr zurückhaltend seien. Generell glaube ich, dass die Deutschen warme
und herzliche Leute sind. In der U-Bahn sprechen sind sie manchmal so aufgeschlossen, dass sie lauter sind als die Leute in Brasilien!
Außerdem diskutieren sie ihre privaten Probleme im Fernsehen. Es gibt
einige TV-Sendungen, wo die Leute persönliche Dinge vor vielen Menschen
erzählen. In Brasilien ist das genauso. Ich hatte gedacht, dass sie ihr Privatleben verstecken. Nicht alles wird hier diskret behandelt. In diesem Punkt
ähneln die Deutschen vielleicht auch den „gaúchos“...
Ich finde, Deutschland ist ein wunderbares Land. Ich hätte nie gedacht, dass
hier so viele Ausländer sind. Der Kontakt zu den Deutschen war fast immer erfreulich. Heute ist Deutschland ein Land, das die Leute „umarmt“. Es hat Probleme, viele sogar, aber Probleme gibt es in jedem Land. Zu sehen, dass auch
Deutschland Probleme hat, ist wichtig, um das eigene Land, Brasilien, mehr
schätzen zu können. Man realisiert, dass die gesamte Welt wahnsinnig viel zu
bieten hat und es sich lohnt, so viel wie möglich von ihr zu entdecken.
9. Danksagung
Frau Josefina Pessoa
Frau Ute Maria Kilian
Rodrigo Rodembusch
Alexandre Schossler
Oliver Paul de Melo
Aurélia Bengel
Shirin Kasraeian
Maike Madera
Es waren wunderbare Momente. Nie kann ich sie vergessen.
Vielen Dank
192
Rouven Rech
aus Deutschland
Stipendien-Aufenthalt in
Äthiopien
Vom 29. Mai bis 25. August 2006
193
Äthiopien
Rouven Rech
„Straßenbau in Äthiopien
– pochende Adern der Hoffnung?“
Von Rouven Rech
Äthiopien, vom 29. Mai bis 25. August 2006
195
Äthiopien
Rouven Rech
Inhalt
1.
Zur Person
200
2.
Mein langer Weg nach Addis
200
2.1 Warum Äthiopien?
200
2.2 Erschwerte Bedingungen – Die politische Lage
202
3.
205
In den Straßen von Addis Abeba
3.1 Endlich in Addis – die Uhren ticken hier tatsächlich anders
205
3.2 Exkurs: E.R.A. – Entwicklung während der letzten Jahre
207
3.2 „Taksi, Taksi“ – Die erste Stippvisite
210
3.3 „Mercato“ – der größte Straßenmarkt Afrikas
213
3.4 Verkehrserziehung – „Saving lives, not losing them“
214
4.
218
Im Norden des Landes
4.1 Bahir Dar – ein bisschen wie Holland?
218
4.2 Die Galleys von Ibnat
218
4.3 Der private öffentliche Nahverkehr
221
4.4 Die Bewässerung und andere Hilfen
222
4.5 Exkurs – Das Schreckgespenst HIV/AIDS
224
5.
225
Kurzer Halt in Alem Ketema
5.1 „Menschen für Menschen“ von Karlheinz Böhm
225
5.2 Die Treppen von Alem Ketema
226
197
Äthiopien
Rouven Rech
5.3 Die neuen Straßen
227
5.4 Exkurs: „Mamas Bet“ oder das Finden der Weltformel
229
6.
Südlich von Addis Abeba
230
6.1 Ziway-Dugda und Umgebung
230
6.2 Aus dem Arbeitsalltag eines Entwicklungshelfers
231
6.3 Von Eselskarren, Fahrradläden und anderen Geschäftsideen
233
7.
Die Äpfel von Chencha
235
7.1 Arba Minch am Abaya See
235
7.2 Der mühsame Weg der „Dorze“-Frauen
236
7.3 Der älteste Birnbaum Chenchas
237
8.
Resümee
238
9.
Danksagungen
239
199
Rouven Rech
Äthiopien
1. Zur Person
Rouven Rech, Jahrgang 1973, geboren in Bochum, absolvierte sein Studium der AV-Medienwissenschaften an der Universität Paderborn, sowie an der
Hochschule für Film und Fernsehen Konrad Wolf in Potsdam-Babelsberg.
Zudem übte er zahlreiche Tätigkeiten im Film- und Fernsehbereich (u.a. als
Regieassistent, Produktionsleiter und -assistent) aus und realisierte eine Dokumentation über Filmzensur während der letzten Diktatur in Argentinien.
1998 und 1999 gehörte er zum Organisationsteam der Internationalen Studentenfilmtage „Sehsüchte“ in Potsdam. Von Oktober 1999 bis September
2000 DAAD-Stipendiat an der Universidad del Cine, Buenos Aires. Im Jahr
2001 Abschluss des Studiums als Diplommedienwissenschaftler mit dem
Thema „Die Botschaft zwischen den Zeilen – Staats- und Ideologiekritik in
Genredialektik und Themendiskurs des argentinischen Kinos während des
‚Proceso de Reorganización Nacional‘ (1976-83)“. Anschließend studierte
Rouven Rech von 2001 bis 2004 im Projektstudiengang DokumentarfilmRegie an der Filmakademie Baden-Württemberg, dem im Frühjahr 2004 ein
sechsmonatiger Aufenthalt an der Escuela Internacional de Cine y Televisión auf Kuba folgte. Seitdem arbeitet er als freier Filmemacher für öffentliche und private Fernsehanstalten sowie für Kinoproduktionen.
2. Mein langer Weg nach Addis
2.1 Warum Äthiopien?
„Wohin fliegst du? Nach Äthiopien?! Für drei Monate? Dann nimm aber
genug zu Essen mit.“ Solche scheinbar gut gemeinten, wenngleich einfältigen Ratschläge bekam ich immer wieder zu hören, als ich davon erzählte,
wohin mich meine Recherchereise verschlagen würde.
Das kulturelle und gesellschaftliche Gedächtnis in Deutschland verbindet mit dem Stichwort Äthiopien fast ausschließlich die entsetzlichen Bilder von aufgeblähten Kinderbäuchen und den skeletthaften Gestalten ihrer
Eltern während der Hungersnot vor mehr als 20 Jahren. Ebenfalls in die
mediale Erinnerung eingebrannt hat sich der zu jener Zeit energiegeladene
Karlheinz Böhm, der bei seinem legendären Auftritt bei „Wetten-dass“ eine
Wette gegen das gesamte Fernsehpublikum einging. Niemals, so sein Angebot, würde mehr als ein Drittel der Zuschauer jeweils eine D-Mark oder einen Franken spenden, um dem hungernden Land zu helfen. Dabei darf nicht
vergessen werden, dass die zu jener Zeit von Frank Elstner moderierte Show
durch das Fehlen der privaten Fernsehsender auf eine Einschaltquote von
200
Äthiopien
Rouven Rech
fast 90 Prozent kam. Damals, im Jahr 1981, wird Äthiopien noch von einer sozialistischen Militärdiktatur geführt, der längst vergessene ECU wird
als einheitliche europäische Währung vorgestellt und das Space-Shuttle Columbia startet seine erste Mission ins All.
Mittlerweile sind 25 Jahre vergangen und wir wissen immer noch nicht
mehr über dieses Land, das zu den ärmsten Staaten der Welt zählt. Karlheinz Böhm, der seine Wette verlor, kämpft seit jenen Tagen unverdrossen
mit seiner NGO „Menschen für Menschen“ für die Bevölkerung in den hungernden Teilen des Landes. Dennoch sind die journalistischen Informationen aus Äthiopien bis heute äußerst spärlich.
Manchmal gelingt es zumindest den äthiopischen Läufern, für kurze Zeit
die Schlagzeilen der Sportseiten zu füllen. Etwa, wenn sie bei Olympischen
Spielen oder bei einer Leichtathletik-WM den 10.000 Meter-Lauf gewinnen oder bei einem Stadtmarathon siegen – wie Haile Gebreselassie im Jahr
2006 in Berlin. Doch zumeist sind es die negativen Headlines, die das Land
auf die Titelseiten (oder zumindest überhaupt einmal in die Tagesgazetten)
katapultieren: Der aufflammende Konflikt mit dem Nachbar- und Bruderstaat Eritrea, eine tödliche Flutwelle während der Regenzeit oder der Disput
um den vermeintlichen Erdölfund an der Grenze zum Sudan sind die aktuellen Themen, mit welchen Äthiopien in die Schlagzeilen gerät.
Diese einseitige Berichterstattung verwischt indes die Tatsache, dass Äthiopien zum Einen mit Hilfe der Weltbank und der EU, zum Anderen aus eigenen Stücken versucht, insbesondere die infrastrukturellen Mängel zu beheben, die dem Land große Probleme bereiten. Ziel dieser Investitionen und
baulichen Maßnahmen ist eine nachhaltige Verbesserung der Lebensumstände der gesamten Gesellschaft.
Auf qualmendem Staub von Schotter und Geröll werden somit die Hoffnungen der äthiopischen Bevölkerung für eine bessere Zukunft gebaut. Die
neuen Straßennetze und die Instandsetzung bereits bestehender Verkehrswege, die sowohl die Regierung wie auch etliche Nicht-Regierungs-Organisationen (engl. NGO) seit Mitte der neunziger Jahre im Land realisieren,
sorgen dafür, dass auch weit abgelegene Dörfer erstmals an das Verkehrsnetz angeschlossen werden. Befahrbare Straßen, die auch in der stürmischen
Regenzeit – dem alljährlichen Krempt – einen Zugang zum Dorf garantieren, zwölf Monate im Jahr. Das ist in vielen Teilen Äthiopiens bislang keinesfalls eine Selbstverständlichkeit.
Aber selbst in der Trockenzeit standen und stehen halb- bis ganztägige
Fußmärsche für die Bauern in vielen äthiopischen Provinzen auf der Tagesordnung, wenn es darum geht, Weizensamen oder Dünger zur Bewirtschaftung ihrer Felder zu beschaffen, Kühe oder Hühner zu besorgen oder Haushaltswaren zu kaufen. Doch nicht allein die Arbeit, sondern der gesamte
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Rouven Rech
Äthiopien
Alltag wird durch diese „Abgeschiedenheit“ beeinflusst: Krankenhäuser
oder Schulen sind mancherorts ohne erhebliche Anstrengungen und stundenlange Fußmärsche kaum zu erreichen. Ein Kommunikationsfluss zwischen verschiedenen Dörfern ist auf diese Weise oftmals völlig unmöglich.
Das Aufbrechen dieser Isolation durch die verkehrstechnische Vernetzung
könnte der erste Schritt dazu sein, der zyklischen Wiederholung von Hungerkatastrophen und chronischer Armut zu entkommen.
Zum ersten Mal erwachte mein starkes Interesse für diese Thematik, als
ich einen kurzer Artikel in der New-York-Times-Beilage der Süddeutschen
Zeitung las. Dort wurde von einem armen Bauernpärchen berichtet, das sich
langsam, aber stetig auf einer Straße, die bei uns nicht einmal als Feldweg
bezeichnet würde, voranbewegte. Sie kamen gerade aus dem nächstgelegenen Krankenhaus, denn die alte Frau war ein paar Tage zuvor an Malaria erkrankt. Ohne den schnellen Transport auf der neu konstruierten Straße wäre vermutlich jede Hilfe zu spät gewesen. Der neue und gut instand
gehaltene Weg rettete jedoch der schwer erkrankten Bauersfrau das Leben.
Ein schneller und vor allem einigermaßen sicherer Transport wurde auf diese Weise möglich.
Damit war meine Entscheidung gefällt. Mein Weg sollte mich nach Äthiopien – dem Land mit der längsten christlichen Geschichte in Afrika – führen. Ich wollte ergründen, ob all die Hoffnungen berechtigt sind, die in den
Bau von Straßen gelegt werden und welche kritischen Begleiterscheinungen
die erheblichen Baumaßnahmen eventuell hervorrufen. Zu jenem Zeitpunkt
konnte ich allerdings noch nicht ahnen, dass mein eigener Weg nach Äthiopien ähnlich lang und beschwerlich werden sollte wie ein mehrstündiger
Marsch durch die äthiopischen Felder.
2.2 Erschwerte Bedingungen – Die politische Lage
Es sei vorangestellt, dass es im Vorfeld der Recherchereise mein explizites Anliegen war, im vorliegenden Projekt politische Zusammenhänge nur
am Rande zu schildern. Es sollte vielmehr darum gehen, individuelle Geschichten zu entdecken, sowie persönliche Umstände vor Ort zu ergründen,
um anschließend von authentischen Erlebnissen berichten zu können. Mir
war bewusst, dass eine Aufgabenstellung, die die politische Situation umfasst, wesentlich mehr Recherchezeit in Anspruch nehmen und den Rahmen
einer solchen Stipendienreise sprengen würde. Aus aktuellem Anlass ist an
dieser Stelle jedoch ein kurzer, die wichtigsten Zusammenhänge erfassender
Exkurs notwendig, um meine verzögerte Abreise nach Addis Abeba und die
erschwerten Rahmenbedingungen meiner Vorort-Recherche zu erklären.
202
Äthiopien
Rouven Rech
Als ich Anfang 2005 mein Projekt zur Förderung einreichte und die Zusage durch die Heinz-Kühn-Stiftung erhielt, stand Äthiopien kurz vor seinen
ersten freiheitlichen Wahlen seit dem Fall des sozialistischen Militärregimes
und dem anschließenden Übergang in die föderale Demokratie vor 15 Jahren. Von vor Ort berichtete man mir von einer geradezu euphorischen Stimmung, die die Straßen von Addis erfüllte. Politik war das Thema. Ob beim
täglichen Plausch zwischen den Waschfrauen, bei den Händlern auf den unzähligen Märkten oder bei der Fahrt im öffentlichen Minibus-Taxi. Die gefürchtete Militärregierung der Derg – (Ausdruck aus der semitischen Sprache Ge‘ez für „Rat“ oder „Komitee“) – hatte im Jahre 1991 kapituliert und
seitdem war eine Koalition aus mehreren Rebellengruppen an der Macht,
die einen erbitterten Kampf gegen das brutale Regime geführt hatten. Es
entstand die Bundesrepublik Äthiopien, deren einzelne Regionen nach ethnischen Merkmalen neu gegliedert wurden. Amharisch, die Sprache des letzten äthiopischen Kaisers Haile Selassie, blieb zwar Landesprache, aber die
verschiedenen Regionalsprachen sind seitdem gleichberechtigt und werden
u.a. im Schulunterricht der verschiedenen Provinzen verwendet. Es gibt in
Äthiopien über 80 unterschiedliche Sprachen und die nationalen Nachrichten im Fernsehen werden jeweils zu verschiedener Stunde in den regionalen
Sprachen Amharisch, Tigrinja und Oromo ausgestrahlt. Die nationale Regierung, die sich größtenteils aus Mitgliedern der kleinen im Norden gelegenen
Tigray-Region zusammensetzt und nicht aus der traditionellen Herrscherregion Amhara stammt, herrscht seit 1991 unter dem Premierminister und ehemaligen Revolutionär Meles Zenawi. Schließlich sollte es am 15. Mai 2005
zu den ersten freien Wahlen im Land kommen. Zwar gab es schon in den Jahren zuvor mehrere Wahlakte, doch die wurden entweder von der Opposition
boykottiert oder einzelne Parteien wurden von der Regierung nicht zur Wahl
zugelassen. Große Themen der anstehenden Wahl waren nach etlichen Jahren immer noch die Aufteilung des Landes in die aktuellen Regionen, die Abspaltung Eritreas und viele auf ethnischen Konflikten beruhende Probleme.
Insgesamt waren mehr als 70 Parteien zugelassen worden. Bis einschließlich
zum Wahltag zeichnete sich ein fairer und offener Wahlkampf ab.
Mit dem eigentlichen Urnengang tauchten jedoch die Probleme auf, da
sich im Verlauf des Wahltages eine erhebliche Niederlage der Regierungspartei EPRDF (Ethiopian People’s Revolutionary Democratic Front) und
ihres Ministerpräsidenten Meles Zenawi abzuzeichnen drohte. Als die ersten Resultate aus den Regionen bekannt und auch durch die Medien veröffentlicht wurden, zog die Regierung umgehend alle Journalisten aus den
Provinzen ab. Jegliche Berichterstattung aus den Wahllokalen wurde unterbunden und zwei Tage später erklärte sich die Regierungspartei zum legitimen Gewinner der Parlamentswahlen.
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Rouven Rech
Äthiopien
Durch die anders lautenden Prognosen, die direkt nach den ersten Befragungen eingegangen waren, sowie in der rigorosen und teilweise brutal
umgesetzten Einschränkung der Meinungsfreiheit sah die Opposition einen
klaren Wahlbetrug vorliegen. Sie rief die Bevölkerung zum aktiven Widerstand und gezielten Demonstrationen auf. Bei den folgenden öffentlichen
Kundgebungen kam es zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen
dem Militär und den oppositionellen Gruppen. Insgesamt wurden mehr als
400 Menschen bei Versammlungen im gesamten Land getötet. Außerdem
nahm die Polizei viele führende Mitglieder der unterschiedlichen Oppositionsparteien aus häufig fadenscheinigen Gründen fest und „versäumte“ es,
die stichhaltige Anklage laut Gesetz 45 Tage später vorzulegen. Die Oppositionellen blieben rechtswidrig in Gefangenschaft. Bis heute, zwei Jahre
nach den Wahlen, ist die innenpolitische Lage angespannt. Es kam im Laufe
der letzten Monate in Addis Abeba zweimal zu Bombenanschlägen in Cafés und Minibussen, bei denen einige Menschen zu Schaden und sogar zu
Tode kamen. Auch außerhalb der Hauptstadt ist man auf die nationale Regierung nicht gut zu sprechen, bzw. hat dort die Regierungspartei nicht den
entsprechenden Einfluss und es kommt immer wieder zu regionalen Spannungen zwischen den ethnischen Gruppen (momentan sind die Auseinandersetzungen an der Grenze zu Somalia, an der Grenze zum Sudan, sowie in
der Gambella-Region die größten Konfliktherde). Zudem scheint die Meinungsfreiheit immer mehr eingeschränkt zu werden, da ausschließlich die
Auffassung der Regierung in den öffentlichen Medien verbreitet wird. Es
gibt in Äthiopien nur einen staatlichen Fernsehsender. Andere Informationen erhält die Bevölkerung nur aus Quellen wie Voice of America, dem
Sender Deutsche Welle Fernsehen oder dem Internet. Allerdings ist die oppositionelle und durchaus polemische Internetseite „www.ethiomedia.com“
durch die staatliche Telefonbehörde gesperrt. Die internationale Staatengemeinschaft verurteilt die Situation in Äthiopien, doch davon erfährt in der
nationalen Berichterstattung so gut wie niemand.
Die offizielle Begründung der äthiopischen Regierung lautet, man habe
zu früh mit dem endgültigen Demokratisierungsprozess begonnen und die
Bevölkerung sei noch nicht bereit für offene Wahlen. Die Machthabenden
Politiker sind der Meinung, sie hätten es lediglich versäumt, ihre segensreichen Ziele eindeutiger zu artikulieren, weshalb die Wähler die positive
und erfolgreiche Politik der Revolutionspartei EPRDF nicht verstanden hätten. Dieser Fehler soll bei der kommenden Wahl nicht wiederholt werden.
Diese Behauptung wird dadurch bestätigt, dass die Oppositionsparteien
untereinander uneins und schlecht organisiert sind. Ihre Ziele sind nicht klar
erkennbar und manchmal sinnlos radikal. Eine klare objektive Beurteilung
der Situation kann in meinem Recherchebericht nicht erfolgen, da dies eine
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Äthiopien
Rouven Rech
komplett andere Thematik wäre. Die nächsten Kommunalwahlen stünden
im ersten Halbjahr 2007 an und die Regierung hat das Abhalten dieser Wahlen tatsächlich bereits angekündet.
3. In den Straßen von Addis Abeba
3.1 Endlich in Addis – die Uhren ticken hier tatsächlich anders
Fast genau ein Jahr nach der Zusage meines Stipendiums trete ich endlich
meine Reise nach Äthiopien an. Die politische Lage ist immer noch etwas
angespannt, aber gewalttätige Auseinandersetzungen oder ein Staatsstreich
erscheinen unter den gegebenen Umständen unwahrscheinlich zu sein. Ein
wenig unheimlich erscheint mir jedoch schon, dass bei der Zwischenlandung
in Karthoum fast alle Passagiere den Flieger verlassen. Lediglich zwölf Personen wollen mit mir nach Addis Abeba weiterfliegen. Mir kommen Zweifel
an meinem eigenen Weiterflug!?
Es ist spät in der Nacht, als die Maschine endlich den Landeanflug auf
Addis beginnt. Im dunklen Nichts unter mir kann ich erste Lichtquellen ausmachen, die schwach orangefarben vor sich hinglühen oder in einem neonartigen Weiß blitzartig aufleuchten und wieder ins Schwarz entschwinden.
Etwa fünf Millionen Menschen sollen in Addis leben, doch die Anzahl der
Lichtpunkte lassen eher auf eine mittlere Kleinstadt schließen.
Nach einer ruppigen, aber einigermaßen sicheren Landung strömt mir
durch die geöffneten Bordtüren der erste Geruch des fremden Landes entgegen. Es scheint eine Mischung aus verbranntem Kerosin und unbekannten
Gewürzen zu sein. Vielleicht ist es aber auch meine Müdigkeit nach der 20stündigen Reise und die lang ersehnte Ankunft, die meinen ermatteten Sinnen etwas vorgaukelt. Im Flughafen erkundige ich mich zunächst nach der
Uhrzeit vor Ort und merke sogleich, dass mir mein Englisch-Leistungskurs,
der zudem ca. 15 Jahre hinter mir liegt, in diesen Breitengraden nur bedingt weiterhelfen wird. Der freundliche Flughafenbedienstete spricht vornehmlich Amharisch. Nach etlichen missglückten Kommunikationsversuchen deutet er mir schließlich mit beiden Händen die Uhrzeit: Sechs Uhr!?!
Ich runzle ein wenig die Stirn und schüttle den Kopf: Kann eigentlich nicht
sein! Auf meiner Uhr ist es gerade 00.20 Uhr und ich hatte gelesen, dass die
Differenz zu Deutschland höchstens eine Stunde betragen dürfte. Sprich, es
sollte jetzt eigentlich 01.20 Uhr nachts sein. Mein Gegenüber schaut in mein
verdutztes Gesicht, lacht wissend und lässt mich mit meiner Verwunderung
allein. Die Verwirrung ist komplett. Am Zoll muss ich noch ein Einreiseformular ausfüllen, was mir bereits im zweiten Anlauf gelingt. Beim ersten
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Rouven Rech
Äthiopien
Mal kämpfe ich mit den amharischen Schriftzeichen, bevor ich bemerke,
dass die Rückseite in englischer Sprache bedruckt ist. Dann ist es so weit.
Der Zoll und die Passkontrolle sind gemeistert – ich bin offiziell in Äthiopien angekommen. Von weitem sehe ich schon meinen Rucksack, der seinen
Weg nach Addis ebenfalls gefunden hat und nun einsam seine Runden auf
dem Gepäckband dreht.
Am Ausgang nimmt mich sofort Yaphet in Empfang, der als Fahrer für den
Ethiopian Gemini Trust arbeitet. Dieser Trust wurde schon 1983 gegründet
und betreut zurzeit ca. 1.000 Familien mit Zwillingskindern. Insgesamt profitieren sogar mehr als 12.000 Menschen direkt oder indirekt von der NGO.
Bei dieser lokalen Non-Governmental Organisation werde ich meine ersten
Wochen in Äthiopien verbringen. Innerhalb der NGO-Aktivitäten gibt es
ganz unterschiedliche Projekte und Förderungen wie z.B. auch Schauspiel-,
Musik- und Filmprojekte. Die Filmcrew mit dem Namen Gem-TV, deren
Ausbildung im Alter von ca. 15-16 Jahren begann, hatte zunächst fünf Jahre lang ein theoretisches und praktisches Training erhalten und arbeitet nun
seit weiteren fünf Jahren an Filmproduktionen für andere Nichtregierungsorganisationen im gesamten Land. Bei Gem-TV absolviere ich mein vierwöchiges Praktikum.
Alle Teilnehmer, Arbeiter und Mitglieder von Gemini kommen aus Familien mit Zwillingskindern. Auch Yaphet gehört zu solch einer Familie.
Glücklicherweise testet er nicht gleich meine nicht vorhandenen Amharisch-Kenntnisse. „Salamnäh! How are you? Wie war der Flug?“ Noch bevor ich seine Begrüßung erwidere, frage ich ihn nach der Uhrzeit: „Jemand
vom Flughafenpersonal hat mir gesagt, es sei hier 6 Uhr oder 6.30 Uhr?“
Yaphet lacht mich an: „Das ist richtig. Und außerdem schreiben wir gerade
das Jahr 1998.“ Soll das ein Scherz sein? Ohne weiteren Kommentar greift
sich Yaphet meinen Rucksack und wir machen uns auf den Weg ins Gästehaus von Gemini.
Gleichzeitig bekomme ich auf der Fahrt einen ersten Eindruck von den
Straßen in Addis Abeba. Die „neue Blume“ – so die wörtliche Übersetzung
des Städtenamens – ist zumindest in den frühen Morgenstunden eine verschlafene Stadt, auf deren Gehwegen kaum eine Seele zu finden ist. Beinahe alle Läden sind geschlossen. Nur ab und zu verrät ein kleiner Lichtstrahl,
dass hier und dort auch mitten in der Nacht noch Handel betrieben wird.
Vielleicht ist es aber auch eine Bar, die ihre letzten Kunden noch nicht losgeworden ist. Die Uhren ticken ja eh anders, wie ich schon erfahren habe.
Die Hauptstraßen sind geteert und mit Laternen versehen. In den Seitenwegen brennt jedoch kein einziges Licht und in der Dunkelheit kann ich schemenhaft erkennen, dass der Belag der Nebenstraßen aus matschigem Lehm
und nassen Steinbrocken besteht.
206
Äthiopien
Rouven Rech
„Was hat es denn nun mit der Uhrzeit auf sich?“ frage ich Yaphet. „Ich
dachte, es sei nur eine Stunde Zeitunterschied, und jetzt sind es gleich acht
Jahre.“ Der Fahrer schüttelt den Kopf und grinst mich an: „Das stimmt
schon, nach deiner europäischen Zeit ist es nur eine Stunde Unterschied.
Aber wir berechnen hier zum einen den Tagesbeginn mit Sonnenaufgang.
Das bedeutet, wenn du dich um sieben Uhr morgens mit mir treffen möchtest, dann ist es bei mir gerade ein Uhr. Zum anderen rechnen wir unsere
Jahre nach dem julianischen Kalender. Der fängt ca. acht Jahre später an
und hat auch noch 13 Monate, wobei der letzte Monat nur aus fünf Tagen besteht.“ Na, wunderbar. Dann ist ja alles klar. Ich sehne mich mittlerweile nur
noch nach meinem Bett und viel Schlaf – egal, welche Uhrzeit und welches
Jahr hier gerade geschrieben wird.
3.2 Exkurs: E.R.A. – Entwicklung während der letzten Jahre
„Viele Wege führen nach Rom“ – wohl eines der geläufigsten Sprichworte, wenn es um das Thema Verkehrswege geht. Die Römer verwebten
ihr koloniales Reich mit einem Netz aus etwa 80.000 km Straße und 29 von
Rom ausgehenden „Highways“. Auf diese Weise behielten sie die Kontrolle
über Transportgüter und den politischen Einfluss in ihrem riesigen Gebiet.
Vielleicht bietet dieser kurze Blick in die Geschichte auch eine Erklärung
dafür, warum in Äthiopien dem Straßenbau erst seit ein paar Jahren eine höhere Aufmerksamkeit zuteil wird und dadurch den Verkehrswegen nachhaltige Investitionen zu Gute kommen. Abessinien, so der alte Name, stand als
einziges Land Afrikas niemals unter dem Joch einer Kolonialmacht. Lediglich von 1935 bis 1941 besetzten die Italiener das Land, ohne sich jedoch als
Kolonialmacht etablieren zu können. Ein Grund hierfür liegt sicherlich in
einer geologischen und geographischen Besonderheit: Immense Hochlandplateaus wechseln sich mit weitläufigen Tiefebenen ab. Gewaltige Canyons
zerklüften die Landschaft und bis vor einigen Jahren machten dichtbuschige
Wälder ein schnelles Vorankommen unmöglich. Diese Unwegbarkeit des
Landes ist ein Grund dafür, dass es nicht erobert wurde und den nach Afrika
expandierenden europäischen Mächten zum Opfer gefallen ist. Allerdings
bauten die kolonialen Herrscher in anderen Staaten verschiedene Transportwege – vor allem zur Vereinfachung des Abtransports wertvoller Ressourcen, auf denen dann die in die Unabhängigkeit entlassenen Regierungen
aufbauen konnten. In Äthiopien war dies nicht möglich.
Das Land verfügt auch deshalb wohl über das kürzeste und am schlechtesten
ausgebaute Verkehrsnetz in Afrika. Zumindest galt dies noch bis Anfang der
neunziger Jahre.
207
Rouven Rech
Äthiopien
Zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert gab es nur vereinzelt befestigte
Wege, die die damaligen Königreiche und Provinzen miteinander verbanden. Kaiser Yohannes IV (1872-1889) wollte das Straßensystem erweitern,
doch die ständige Gefahr einer Invasion durch Ägypter, Türken und Derbush vereitelte das überaus ehrgeizige Vorhaben.
Erst zwischen den Jahren 1896 bis 1916 gelang es Kaiser Menelik, Erfolge im Straßenbau zu verbuchen. So entstanden feste Schotterstraßen von
Eritrea nach Addis Abeba, sowie von der Hauptstadt aus nach Addis Alem.
In diesem Ort hatte der Herrscher einen Palast erbauen lassen, nachdem sich
sein eigentlicher Plan, Addis Alem zur neuen Hauptstadt zu machen, nicht
realisieren ließ (Addis Alem bedeutet übersetzt „neue Stadt“). Zu jener Zeit
entstanden auch die ersten Asphaltstraßen.
Als schließlich die Italiener das Land okkupierten, waren diese darauf
bedacht, Straßen zu bauen, die insbesondere einen militärischen Nutzen erfüllten und nicht in erster Linie ökonomischen Ansprüchen genügten. Beinahe 6.000 km Straße verlegten die italienischen Besatzer während dieser
fünf Jahre, wobei vor allem einheimische Arbeitskräfte ausgebeutet und wie
Sklaven eingesetzt wurden.
Als die Italiener schließlich das Land aufgrund der brisanten Kriegslage
verlassen mussten, sprengten sie alle Brücken, Verkehrswege und weitere
wichtige Konstruktionen in die Luft. Daraufhin geschah in den folgenden
zehn Jahren so gut wie nichts in Äthiopiens Bausektor.
Diese Stagnation, ausgelöst durch einen akuten Mangel an finanziellen
Mitteln und ausgebildetem Personal, spiegelte sich natürlich in allen Wirtschaftsbereichen wieder. Die atemberaubende, aber gleichzeitig herausfordernde Landschaft und das Fehlen geeigneter Gerätschaften verhinderten
ein Vorankommen der äthiopischen Staatswirtschaft.
Im Jahr 1951 wurde dann die Imperial Highway Authority gegründet, die
erste staatliche Institution in Äthiopien, die sich mit dem Straßenbau beschäftigte. Es wurden Kredite bei der Internationalen Bank für Entwicklungshilfe aufgenommen und sogar Bildungseinrichtungen für das Ingenieurwesen ins Leben gerufen. Schließlich gab es zum damaligen Zeitpunkt
lediglich einen einzigen (!) äthiopischen Straßenbauingenieur im gesamten
Land.
Trotz dieser eindeutigen Signale schritt der Straßenbau nur recht langsam
voran. Lediglich rund 18.000 km Haupt- und Nebenstraßen entstanden unter der Obhut der Imperial Highway Authority und ihrem Nachfolger, der
E.R.A – The Ethiopian Road Authority. Ob die Monarchie unter dem schillernden Kaiser Haile Selassie oder die autoritäre Herrschaft der Kommunisten mit dem Regenten Mengistu – niemand vermochte es, entscheidende
Impulse zu geben. Nur wenige Kilometer Straße entstanden, die leider nicht
208
Äthiopien
Rouven Rech
nachhaltig angelegt waren und häufig bei den ersten Schauern der Regenzeit weggewischt wurden. Außerdem verhinderten schwelende interne Konflikte, Bürgerkriege mit dem benachbarten Eritrea und Dürrekatastrophen
eine positive Entwicklung in diesem Bereich. Weite Teile des Landes waren
(bzw. sind auch heute noch) während des Krempt monatelang von der Außenwelt abgeschnitten.
Mit dem Regierungswechsel durch die Revolution im Jahr 1991 kam es zu
etlichen Veränderungen im Bereich der Road Authority. Zum einen wurde
den Rural Road Authorities der einzelnen ethnisch gegliederten Provinzen
die Verantwortung für das lokale Straßennetz überantwortet. Zum anderen
setzte sich die Regierung das ehrgeizige Ziel, endlich das gesamte Straßennetz auszubauen und auch instand zu halten.
Im Jahr 1996 stellte die Regierung ein Projekt vor, welches mit Hilfe eines
Zuschusses von mehreren Millionen Euro durch die Weltbank und die Europäische Union unterstützt wurde. Initiator dieses „Projekts zur Restrukturierung der äthiopischen Straßenbehörde (1996 bis April 2006)“ war das
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
(BMZ). Auf Seiten der Entwicklungshilfe war die Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ) unter der Leitung von Bernard van Ampting die ausführende Hand dieses Restrukturierungsprojekts. Innerhalb von
acht Jahren wurden die äthiopischen Straßen komplett erneuert und die erste Bauphase konnte im Jahr 2005 abgeschlossen werden. Die Gesamtlänge
der Straßen wurde um ca. 11.000 km auf 37.018 Kilometer erhöht. Es gibt
4.972 km Asphaltstraße, 13.640 km Schotterpiste und 18.406 km unbefestigte Landstraße. Die Dichte des Straßennetzes erhöhte sich von 0,46 pro
1.000 Personen auf 0,51 pro 1.000 Personen. Zudem wurde der Zustand sowohl der Asphalt- wie auch der Schotterstraßen bedeutend verbessert. In der
zweiten Phase von 2005 bis 2007 sollen weitere Straßen wiederhergestellt
und das Netz vergrößert werden. (Zum Vergleich: Äthiopien besitzt mittlerweile. 38.000 befestigte Straßen, darin sind Schotterpisten miteingeschlossen. In Deutschland sind es dagegen ca. 640.000 Straßenkilometer.)
Außerdem wurde der Ethiopian Road Fund ins Leben gerufen. Diese Einrichtung sorgt für die komplett eigenfinanzierte Instandhaltung der gebauten
Wege. Von den Einnahmen eines jeden Liters Sprit an den Tankstellen fließen einige Cent in diesen Fonds, der ausschließlich zur Ausbesserung und
Wiederherstellung aller Straßen in Äthiopien dient.
Natürlich gilt es, bei all den in Zahlen messbaren Erfolgen nicht außer
Acht zu lassen, inwiefern diese Entwicklung auch positive Konsequenzen
für die einfache Bevölkerung des Landes nach sich zieht. Ingesamt verfügt
Äthiopien über ungefähr fünf asphaltierte Haupttangenten, die für den Handel und den Transport mit dem Ausland wichtig sind. Die meisten Straßen
209
Rouven Rech
Äthiopien
sind jedoch staubige Schotterpisten, die einzig und allein für den lokalen
Transport und die Kommunikation zwischen einzelnen Dörfern ausschlaggebend sind.
Wie werden die Straßen genutzt? Welchen realen gesellschaftlichen Austausch ermöglichen sie? Welche neuen Technologien und welchen Nutzen
bringen sie in ländlichen Gegenden?
3.2 „Taksi, Taksi“ – Die erste Stippvisite
In Addis Abeba gibt es, wie in den meisten afrikanischen Städten, verschiedene Möglichkeiten, sich im alltäglichen Straßengetümmel zu behaupten. Die billigste, gleichzeitig aber auch die unbequemste Art ist die Fortbewegung mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Orange-rot bemalte, altertümlich
anmutende Busse schieben sich ächzend durch das dichte Verkehrsaufkommen und quälen sich über die spitzen Steine der Schotterwege. Meistens ist
allerdings völlig unklar, wann das nächste dieser Ungetüme wohl gewillt ist,
die entsprechende Haltestelle anzusteuern. Busfahrpläne existieren einfach
nicht. Außerdem sind diese Linienbusse hoffnungslos überfüllt, so dass verzweifelte Mitfahrer sich sogar an den Außentüren festkrallen. Die Alternative hierzu sind die so genannten „Taksis“. Hierbei handelt es sich um blauweiß lackierte Toyota-Busse, die bis zu zehn Leute (bei starken Regenfällen
und auch zur späten Abendstunde auch ein paar mehr) transportieren können. Zu hunderten bevölkern sie die Hauptverkehrswege in der äthiopischen
Metropole. Sie stehen an jeder Ecke und haben feste Routen, auf denen sie –
je nach Tageszeit und Bedarf – zu finden sind. Kaum eines dieser Vehikel ist
beulenfrei oder verfügt etwa über intakte Blinklichter. Das würde aber auch
wenig Sinn machen, denn die Verständigung mit den anderen Verkehrsteilnehmern funktioniert vielmehr über komplizierte Handzeichen, sowie unzählige Hupsignale. Kleinere Unfälle mit Diskussionen auf der Kreuzung
oder Reparaturen von Reifenschäden auf den Fahrstreifen gehören ebenfalls
zum Alltag.
Da ich mich in den ersten Tagen noch nicht firm genug fühle, den Verkehrsdschungel zu durchschauen, entscheide ich mich für das Ferenji-Fortbewegungsmittel: ein „Contract Taxi“. Während in den normalen Taksis die
Fahrpreise für die verschiedenen Strecken festgeschrieben sind und sich die
Fahrtkosten im minimalen Cent-Bereich abspielen, werden für eine Fahrt in
einem „Contract“ bis zu 40 Birr verlangt. Ich winke einen ebenfalls blauweiß bemalten Lada wild fuchtelnd und mit hektischen „Taksi, Taksi“-Rufen an den Straßenrand. Der Fahrer begreift in letzter Minute, dass ich seine
Dienste in Anspruch nehmen möchte, bremst mit quietschenden Reifen und
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Äthiopien
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fährt unbekümmert einige Meter rückwärts durch den ihn passierenden Wagenstrom. Bei näherem Hinsehen stelle ich fest, dass die Farbe dazu dient,
die verschiedenen von Rost durchfressenen Teile des Wagens dürftig zusammenzuhalten. Ich blicke durch das Beifahrerfenster: „Zum Mercato – Was
kostet mich das?“ Der Fahrer schaut mir in die Augen, mustert mich kurz
und sagt: „Für dich, nur 60 Birr.“ „Ah, das ist ja wirklich ein Spottpreis“,
antworte ich mit leicht ironischem Unterton. „Wie wär’s mit 20?“ Der Fahrer verzieht das Gesicht: “I am tired to go by this unnecessary prices“. Er
ist wohl nicht einverstanden. Und nach langem Geschacher einigen wir uns
auf 35 Birr. Ich fühle mich bereits wie ein Abesha – ein Einheimischer, der
wesentlich weniger für eine Taxifahrt zahlt. Erst einige Taxifahrten später
merke ich, dass es ein für weiße Ausländer sehr üblicher Preis gewesen ist.
Während ich zu ihm in den Wagen steige, greift er in eine große Tüte mit
langstieligem Grünzeug. Er reißt etliche Blätter von den Stengeln und schiebt
sich einen großen grünen Ballen weit in den aufgerissen Mund. Genüsslich
schmatzend fährt er dann los. Er schluckt die Blätter allem Anschein nach
nicht einfach herunter, denn nach kurzer Zeit läuft ihm eine grünlich schimmernde Brühe aus dem linken Mundwinkel. „What are you chewing?“, frage ich ihn nach einer Weile. „Oh, das ist Chat. Kennst du das nicht?“, sagt er
in einem leicht lehrmeisterhaften Tonfall. „Stammt ursprünglich aus Somaliland und der Afar-Region. Dort hat das eine Jahrhunderte währende Tradition. Wir nehmen es meist mit Freunden am Wochenende zu uns. Es hat
eine aufputschende und wach machende Wirkung. Ist super!“ „Ach, es ist
also eine Droge. Und das nimmst du beim Autofahren?“, versuche ich ihn
aus der Reserve zu locken. „Ach, was. Das ist doch keine Droge. Ganz im
Gegenteil. Man kann sich dann viel besser konzentrieren. Man ist aufmerksamer und reaktionsschneller. Und nicht nur das. Die Sorten sind ganz unterschiedlich und es gibt sogar welche, die stimulierend wirken. Willste auch
mal?“ Er zwinkert mir zu und hält mir die Tüte entgegen. Dankend lehne
ich ab. So ganz sicher bin ich mir mit der Wirkung dieser Pflanze dann doch
nicht. Vor meiner Abreise hatte ich noch gelesen, dass Äthiopien bei der Anzahl von Verkehrsunfällen und deren Opfern die internationalen Rankings
im negativen Sinne anführt. Als ich nun meinen doch zunehmend hibbelig
agierenden Fahrer betrachte, bin ich mir nicht so sicher, welchen Anteil der
Chat-Konsum an diesen fatalen Statistiken hat. Allerdings muss ich anerkennen, dass mein kauender Kondukteur uns mit sicherem Blick durch das
laute Konzert aus Autohupen und Fahrergeschimpfe kurvt.
„Was machst du hier in Addis? Urlaub? Oder arbeitest du etwa auch bei
einer NGO?“ fragt er mich dann mit vollem Mund. Ein berechtigte Frage,
denn es gibt in Äthiopien laut Angabe aus einer nicht offiziellen Quelle ca.
600 internationale NGOs und mehr als 2.000 lokale Organisationen. Es gibt
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Äthiopien
kaum Ausländer, die ihr Geld nicht bei einer Nicht-Regierungs-Organisation verdienen. „Weder noch“, antworte ich ihm, „Ich recherchiere für ein
journalistisches Projekt über den Straßenbau in Äthiopien und seine Auswirkungen auf die Bevölkerung.“ „Mensch, das ist wirklich gut. Straßen,
was. Ich sag dir eins. Wenn wir weiter so viele Straßen bauen, dann hat Äthiopien bald keine guten Leichtathleten mehr.“ Ich schaue ihn zweifelnd an.
„Du glaubst mir wohl nicht. Weißt du, wo die besten Läufer unseres Landes
herkommen? Aus Bekoji. Das ist ein Ort, der ca. 105 Kilometer südöstlich
von Addis liegt. Jeder gute Läufer kommt aus diesem Dorf oder zumindest
aus der Region. Allen voran Haile Gebrselassie. Der ist Olympiasieger und
Weltmeister über 5.000 und 10.000 Meter geworden. Heute ist er Millionär.
Da siehst du“, und zeigt auf ein modernes und komplett verglastes Hochhaus in der Bole-Road, an dem wir gerade vorbeifahren, „das ist das AlemBuilding. Der gesamte Bau gehört Haile und ganz oben hat er sein Büro. Er
gibt wirklich viel von seinem Erfolg an das Land weiter. Investiert in Geschäfte, baut Schulen und hilft den Ärmsten der Armen. Aber bald werden
wir keine guten Läufer mehr haben. Das ist ja auch ganz logisch. Bis vor
kurzem gab es in Bekoji keine vernünftigen Straßen. Die Kinder hatten keinen Schulbus und mussten jeden Tag mindestens acht Kilometer zum Unterricht laufen. Barfuss, bei Wind und Wetter. Da gab es nichts. Genau so hat
es Ato Haile gelernt. Er ist jeden Tag gelaufen, so schnell er konnte. Über
Stock und Stein. Da hatte er noch keine superleichten Turnschuhe an, oder
so. Alle kommen aus diesem Dorf: Kenenisa Bekele, Tirunesh Dibaba und
Derartu Tulu – und die sind noch besser als Haile. Aber vor ein paar Jahren
haben sie dort eine Straße hingebaut. Damit ist es vorbei.“
Ganz so einfach ist die Sache dann doch nicht, denke ich bei mir. Schließlich bedeutet eine Straße nicht gleichzeitig auch, dass auf der Strecke Privatwagen oder gar Busse verkehren. Autos und deren Unterhalt sind für den
durchschnittlichen Äthiopier unerschwinglich. Und öffentliche Busse gibt
es auch nur selten. Die Regierung hat zwar ein Road Transportation and
Traffic Programme (RTTP) ins Leben gerufen, doch das funktioniert bislang nur in wenigen Regionen. Der Betrieb eines fahrbaren Untersatzes ist
teuer. Schließlich wird auf Straßen gefahren, wo die Anzahl an Schlaglöchern häufig größer ist als der Anteil an Schotter und Asphalt. Noch steht
die große Tradition von guten äthiopischen Läufern nicht vor ihrem Ende.
Das wird auch deutlich, als wir ein paar Blocks weiterfahren.
Auf unserem Weg kommen wir nämlich am Mesquel Square vorbei, dem
größten öffentlichen Platz von Addis. Hier finden zu besonderen Anlässen
Paraden, Märsche oder Demonstrationen statt. Auch die Versammlungen
nach den Wahlen im Mai und vor den Unruhen im November 2005 nahmen
hier ihren Anfang. An anderen Tagen üben auf der asphaltierten Präsentier212
Äthiopien
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fläche barfüßige Jugendliche mit ihren Fußballmannschaften den Doppelpass oder absolvieren sogar ein Torwarttraining. Ein Stück weiter oberhalb,
auf den mit kurzem Gras bewachsenen Zuschauerrängen, sprinten und joggen eine Vielzahl ehrgeiziger Leichtathleten – egal welchen Alters. Die wenigsten von ihnen tragen Schuhe und dennoch macht es den Anschein, als
könnten sie noch Stunden so weiterlaufen. Ein kleiner Junge, nicht älter als
12-13 Jahre, läuft mit abgewetzten Schlappen und aufgerissenen Jeans seine Bahnen. Er träumt sicher davon, später einmal als Profi-Läufer seine gesamte Familie ernähren zu können.
3.3 „Mercato“ – der größte Straßenmarkt Afrikas
Eine der interessantesten Ecken in Addis ist sicherlich der Mercato – angeblich der größte Markt in ganz Afrika. Ich habe natürlich keine Ahnung,
ob das wirklich stimmt, denn überall auf der Welt gibt es Orte, von denen
die Einheimischen erzählen, es seien die größten, schönsten, bemerkenswertesten oder ältesten Straßen, Berge, Hütten oder Schluchten. Der Mercato ist jedoch in der Tat ein einzigartiger Ort, soviel ist sicher. Unzählige
Geschäfte und Buden durchziehen dieses enge Stadtviertel, das wohl als
das Zentrum des äthiopischen Warenaustausches bezeichnet werden kann.
Von hier aus starten mit Lebensmitteln, Stoffen und allen anderen erdenklichen Materialen (über-)ladene Kleintransporter ins Umland und versorgen
die Bevölkerung in den Dörfern. Diese mit wenig PS, aber wagemutigen
Fahrern bestückten Gefährte sind wohl aktuell das größte Sicherheitsrisiko auf den Straßen Äthiopiens. Im Innenraum der Transporter finden meist
10-12 Personen Platz, deren frisch erworbene Güter auf das Wagendach geschnallt werden. Häufig führt das dazu, dass sich die Transporterhöhe aufgrund der Warenmenge mehr als verdoppelt. Dass dieses Konstrukt in irgendeiner Form sein Gleichgewicht in den unzähligen scharfen Kurven des
äthiopischen Hochlandes halten kann, muss bezweifelt werden.
Auf dem Mercato selbst dienen die Straßen jedoch weniger als Verkehrswege, sondern zum verbissenen Handel und gemütlichen Plausch. Die ersten Schritte führen noch über die wenigen breit angelegten und geteerten
Hauptstraßen ins Innere des Marktes. Dort wandeln sich die schmalen Straßen schnell zu staubigen Gassen und zentimeterbreiten Pfaden, auf denen
sich Käufer und Händler gemeinsam durch Gewürzsäcke, Butterberge und
Zwiebelhaufen schlängeln. Das in der Regenzeit sowieso schon spärliche
Tageslicht wird von dem aus Plastiksäcken oder Holzlatten improvisierten
Regenschutz fast vollständig geschluckt. Doch diese wackligen Konstrukte
sind von enormer Wichtigkeit. Denn während des Krempt wird das spinnen213
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Äthiopien
artige Verkehrsnetz nahezu täglich innerhalb weniger Minuten von sturmartigen Schauern geflutet. Doch lassen sich die umtriebigen Handlungsreisenden auch dadurch nicht vom Kauf abhalten. Entschlossen stapfen sie durch
die matschigen Rinnsale und sumpfartigen Fußwege, auf der Suche nach
dem besten Deal oder den für ihre Zwecke brauchbarsten Materialen.
Hinter dem Mercato – gegenüber vom Busbahnhof, von dem aus die langen Reisen ins Landesinnere beginnen – hat sich eine andere Zunft angesiedelt, die ebenfalls sehr vom fahrenden Volk profitiert. Die Gassen sind hier
nicht ganz so eng, jedoch sind über die Wege Leinen gespannt, auf denen
Kleidungsstücke in den verschiedenen Farben und Größen zum Trocknen
hängen und so den Durchgang erschweren. In diesem Straßenzug gibt es
keine größeren Gebäude oder Geschäfte. Die Frauen, die zu den tropfenden
Hemden und Hosen gehören, hausen in Bretterhütten, die kaum breiter als
deren Eingangstüren sind. Gerade genug Platz für ein Bett und vielleicht einen kleinen Schrank – die nötigsten Utensilien ihres Gewerbes. Ich werde
mit großen Augen bestaunt. Mein Begleiter und Freund Emishaw, der vor
kurzem eine sozio-ökonomische Arbeit über ein ähnliches Stadtviertel verfasst hat, wird immer wieder ungläubig angesprochen: „Ist das wirklich ein
Ferenji (ein weißer Ausländer), der sich hier in unsere Straße wagt?“ Mittlerweile bin ich mir meines Exotenstatus schon sehr bewusst, doch hier erfahre ich noch eine besondere Aufmerksamkeit. Die Frauen arbeiten allesamt als Prostituierte und verdienen sich mit der Wäsche noch ein paar Cent
zum Leben dazu. Jede einzelne versucht, mich mit einem wissenden Lachen
herauszufordern. In ihren jungen Gesichtern kann ich trotz des Lächelns bereits die Zeichen ihres riskanten Broterwerbs erkennen. Die Statistiken zeigen, dass der Mehrzahl von ihnen nur ein kurzes Leben am Rande dieser
Seitenstraße vergönnt sein wird. Die meisten werden in wenigen Jahren von
HIV/Aids oder anderen Geschlechtskrankheiten dahingerafft.
Es ist offensichtlich, dass die Straßen nicht für jeden den Weg in eine
neue, hoffnungsvolle Zukunft eröffnen. Doch dazu später mehr.
3.4 Verkehrserziehung – „Saving lives, not losing them“
Die Verbreitung des HIV/Aids-Virus ist sicherlich eines der dringlichsten
Probleme, wenn man auf negative Aspekte des Straßenbaus in Äthiopien
zu sprechen kommt. Allerdings ist die Verkehrserziehung – im eigentlichen Sinne des Wortes – ein ebenso problematischer Punkt. Die Zahl der
Unfallopfer in Äthiopien ist dramatisch hoch: Sie liegt bei 144 Toten pro
10.000 Autos, wobei viele Experten von einer weitaus höheren Zahl ausgehen. Nicht alle Autounfälle werden gemeldet und der Tod durch Spätfolgen
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Äthiopien
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eines Unfalls fließt nicht mit in die Statistik ein. In Deutschland liegt diese
statistische Zahl bei lediglich 2 Unfallopfern pro 10.000 Autos. Natürlich
spielen viele Faktoren eine Rolle. Der allgemeine Gesundheitszustand der
Opfer, das späte Eintreffen des Rettungsdienstes und der Mangel an guten
Ärzten, sowie wirksamen Medikamenten sind entscheidende Faktoren, die
zu dieser hohen Zahl von Verkehrstoten beitragen. Dennoch ist es eindeutig,
dass der Umgang mit Regeln im Straßenverkehr noch nicht in das Bewusstsein der äthiopischen Bevölkerung gedrungen ist. Das Auto wird scheinbar
nicht als Bedrohung gesehen, bzw. seine zerstörerische Kraft wird schlichtweg unterschätzt. Bei einem meiner ersten Trips durch Addis fällt mir sofort
auf, wie unbedarft sich die Menschen verhalten. Die Straßenkids, aber auch
ältere Leute rennen oft sehenden Auges in das herankommende Auto – ohne
die Geschwindigkeit des Wagens einschätzen zu können. Oft genug laufen
sie auf die Fahrbahn, ohne auch nur einen Blick auf die Straße zu werfen.
Verblüffend sind meine Erfahrungen an der Ring-Road. Diese vierspurige Umgehungsstraße – wohl die einzige Strecke in Äthiopien, die Ähnlichkeiten mit unseren Autobahnen aufweist – wurde vor einigen Jahren als
Entlastungsstraße geplant. Der erste Abschnitt im südlichen Teil der Stadt
ist seit einiger Zeit fertig. Allerdings wurde aufgrund des Baus eine breite Schneise durch das gesamte Stadtviertel geschlagen. Nachbarn, die sich
sonst über den Zaun hinweg grüßen konnten, müssen nun über eine breite
Bundesstraße miteinander kommunizieren. Selbstverständlich hat die chinesische Baufirma, die den Zuschlag für den Auftrag von der äthiopischen
Regierung erhalten hatte, auch an Fußgängerüberwege gedacht. Doch die
scheinen nicht allzu attraktiv für die Passanten in Addis zu sein. Nur wenige Meter von der Brücke entfernt überspringen sie die Fahrbahnbegrenzung, falls diese nicht schon durch einen Unfall zerstört wurde, und passieren in einer Art Slalomlauf die Fahrstreifen. Alte Damen mit weißen Haaren,
Frauen mit schweren Beuteln auf dem Kopf oder einfach leichtsinnige Jugendliche. Ein Vater schnappt sich sogar seinen kleinen Sohn und sprintet
vor einem heranrasenden Truck über die Fahrbahn. Über die Fußgängerbrücke treiben allenfalls die Hirten ihre Schafe und Esel. Mittlerweile hat die
Regierung ein Gesetz verabschiedet, das gewährleistet, dass Autofahrer von
jeglicher Schuld freigesprochen werden, falls sie einen Fußgänger auf der
Ring-Road anfahren oder gar töten.
Anfang Juni veranstaltet die Road Transport Authority unter dem Motto
„Saving Lifes, Not Losing Them“ den Road Safety Day. Auf dem Mesquel
Square wird ein großes Zelt aufgebaut und statt der rivalisierenden Fußballteams haben nun zerstörte Wagen aus Verkehrsunfällen den Platz erobert.
Im Zelt informiert die Regierung neben der Geschichte der Ethiopian Road
Authority auch über die tragischen Konsequenzen von Verkehrsunfällen. An
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Äthiopien
bunten Pinnwänden hängen Fotos von entstellten Unfallopfern und Bussen,
die sich überschlagen haben. Diese Bilder sollen die Bevölkerung aufrütteln und abschrecken, zumindest den Teil, der den Weg in die Ausstellung
findet. Etwas skurril mutet jedoch die Tatsache an, dass das Verkehrschaos
am Mesquel Square die Kulisse für den „Tag der Verkehrssicherheit“ bildet.
Während auf dem Platz die Verkehrpolizei und Schülerlotsen vor den Verantwortlichen des Verkehrsministeriums aufmarschieren, rasen im Hintergrund
die blau-weißen Taksi-Busse und diverse Geländewagen über die roten Ampeln. Farben haben keine Bedeutung. Rechts-vor-links ist für Feiglinge –
ohne Regeln scheinen die Blechlawinen durch die Straßen zu walzen.
Ich frage mich allmählich, auf welche Weise in Äthiopien der Führerschein gemacht wird. Gibt es überhaupt Fahrschulen? Und tatsächlich: Es
gibt nur einen einzigen Ort in Addis Abeba, an dem offiziell die praktischen
Übungsstunden absolviert werden. Auf dem Weg Richtung Debre Zeyt gibt
es ein Gelände mit dem Namen Kaliti, auf dem man von weitem Kolonnen
kleiner Mini-Wagen erkennen kann. Putzig sieht das aus. Grün, Gelb, Weiß
und Rot strahlen einem die Fiat 500er Modelle aus den 70er Jahren entgegen. Sie dienen als Übungswagen für Rangiermanöver und Einparkaktionen. „Ist ja auch viel einfacher mit den kleinen Autos“, kommentiert Shoawadeg Fantaye, der Leiter des offiziellen Trainingsgeländes, den seltsamen
Anblick. „Außerdem verfügen wir über eine Werkstatt für praktische Lehrstunden. Dort haben wir Modelle der Motoren und verschiedener Fahrzeuge
aufgebaut. So können die Fahrschüler etwas über die Funktionsweise ihres
Gefährts erfahren. Darüber hinaus haben wir neue Computersimulatoren erhalten, an denen die ersten Fahrstunden absolviert werden.“ Ato Shoawadeg führt mich voller Stolz über das staatliche Trainingsgelände. An einer
perfekt asphaltierten Straße bleibt er erneut stehen: „Hier wird das Anfahren am Berg, Serpentinenfahrten, sowie das Anhalten an beschrankten und
unbeschrankten Bahnübergängen geübt.“ Es bleibt anzumerken, dass Äthiopien lediglich über eine einzige Bahnlinie nach Djibouti verfügt, deren Betrieb während der Regenzeit zudem eingestellt wird. Mir fällt sofort auf,
dass auf dem Gelände mehr Verkehrsschilder stehen als auf den Straßen in
der gesamten Hauptstadt. Mag das eventuell ein Grund für das doch unkonventionelle Verkehrsverhalten der Bewohner von Addis sein?
Dabei versucht die Road Transport Authority schon seit geraumer Zeit,
mit gezielten Programmen auf die Gefahren im Verkehr hinzuweisen und organisiert Trainingsprogramme zum Thema „Verhalten im Straßenverkehr“.
Die Resultate sind überschaubar, aber Ato Asrat, Vorsitzender der R.T.A, rät
mir dringend, nach Ambo zu fahren, einer belebten Kleinstadt, die ca. 60 km
westlich von Addis liegt. Hier würden die Programme sehr erfolgreich umgesetzt und jeder Fußgänger halte sich an die Regeln.
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Äthiopien
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Auf dem Weg in diese Stadt, aus dem das regional bekannte „Ambo“Mineralwasser stammt, werde ich zunächst ein weiteres Mal Zeuge der unverantwortlichen Fahrweise der Äthiopier. Am Straßenrand stoße ich auf
mindestens drei schwer zerstörte Fahrzeuge, wobei der Fahrer eines Kleintransporters wohl erst ein paar Minuten zuvor aus der Kabine gezogen wurde. Diese meist bis an die Grenze des Vorstellbaren überladenen Mini-Trucks
werden von den anderen Verkehrsteilnehmern nur noch als „Al Qaida“ bezeichnet – als fahrende Zeitbombe.
Jedoch fällt mir auf, dass auch hier die chinesischen Baufirmen mit viel
Einsatz den Ausbau der Straße vorantreiben. Die Gründe liegen auf der
Hand. Zum einen ist das „Ambo“-Wasser ziemlich gefragt und für dessen
Vertrieb werden ordentliche Transportwege gebraucht. Zum anderen hat
man weiter im Südwesten, an der Grenze zum Sudan, Öl entdeckt. Ein weiteres schlagendes Argument, um den Straßenbau voranzutreiben. In Ambo
angekommen, kann ich meine Enttäuschung zunächst nicht so recht verbergen. Es gibt nur eine einzige große, asphaltierte Hauptstraße. Keine Ampel,
keine wirkliche Kreuzung – was soll man da als Verkehrsteilnehmer schon
falsch machen? Doch als ich die Szenerie genauer betrachte, fallen mir einige Details ins Auge.
Zunächst findet man so gut wie keine schlafenden oder ruhenden Tiere
auf der Straße – eines der größten Probleme bei unserer Anreise nach Ambo.
In den kleineren Dörfern dient die Straße nämlich nicht als Verkehrsweg,
sondern wird als allgemeiner Sammelplatz genutzt. Hier wird gehandelt und
die wichtigsten Neuigkeiten werden ausgetauscht – ähnlich wie auf dem
Mercato. Autos sind da nur lästig und kommen nur selten vorbei. Die Schafe und Kühe lassen sich auch nicht in ihren Ruhephasen stören. Sie liegen
mitten auf der Fahrbahn und genießen die wohlige Wärme des von der Sonne erhitzten Asphalts. Im Grunde ist es unter diesen Umständen eine eigentümliche Fahrkunst, im Slalomkurs weder Mensch noch Tier zu verletzen.
Die Passanten in Ambo gehen jedoch an den Stellen ohne Bürgersteig –
und das sind die meisten – dem Verkehrsstrom entgegen und nicht etwa mit
dem Rücken zugewandt. So können sie der Gefahr immer ins Auge blicken.
Die Huptiraden sind ebenfalls wesentlich dezenter als in Addis und insgesamt ist deutlich zu spüren, dass die Menschen hier ein anderes Verständnis
vom Verhalten im Straßenverkehr haben. Obwohl es lediglich eine einzige
Hauptstraße gibt, scheinen die Verkehrserziehenden Maßnahmen der Regierung tatsächlich Früchte zu tragen.
Während dieser ersten kurzen Reise im Inland wird mir allerdings klar,
dass ich mein Hauptaugenmerk nicht auf die asphaltierten Routen richten
möchte. Zu eindeutig ist die Wichtigkeit dieser Trassen für Handel, Transport und Reise. Viel interessanter erscheint es mir, herauszufinden, wie sich
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Äthiopien
das Leben auf dem Land verändert, wenn Gemeinden nach jahrzehntelanger
Abgeschiedenheit durch den Bau von Feldstraßen nun das ganze Jahr hinweg zugänglich sind.
4. Im Norden des Landes
4.1 Bahir Dar – ein bisschen wie Holland?
Meine Recherchereise durch das ländliche Äthiopien beginnt im Norden
in der Nähe von Bahir Dar, einer Stadt am Südufer des Tana-Sees. Bei meiner Ankunft überrascht mich die Flut der Fahrräder, die durch die Innenstadt rauscht. Ich werde stark an das deutsche Fahrradmekka Münster oder
diverse Orte in Holland erinnert. Die Voraussetzungen für diese Art der pedal-basierten Fortbewegung sind allerdings auch ideal. Die Straßen sind in
einem passablen Zustand und im Gegensatz zu Addis gibt es in Bahir Dar
nur wenig Anhöhen oder gar Berge. Die Anstrengungen halten sich somit in
Grenzen und die wenigen motorisierten Untersätze gehören meistens den im
Ort ansässigen NGOs.
Mein Weg in Bahir Dar führt mich zur Welthungerhilfe (GAA), die in der
Amhara-Region seit mehreren Jahren in vielen Weredas – einer Art kommunaler Bezirke, die regional verwaltet werden – tätig ist. Ein großer Teil der
Feldwege werden durch Hilfsorganisationen gebaut, die diese Zugangsstraßen zur Durchführung ihrer Programme benötigen. Auch hierbei stammen
die finanziellen Mittel häufig von der Weltbank oder der EU. Die Straßen
werden nach Abschluss der Hilfsprogramme dann in die Obhut der regionalen Regierungen bzw. an die Rural Roads Authority übergeben.
Ich erhoffe mir auf diese Weise, den Zugang zu den entlegenen Gebieten
auf dem Land einfacher erschließen zu können. Denn während meiner ersten Wochen musste ich feststellen, dass die Recherche ohne Übersetzer und
ohne die hilfreichen Strukturen einer festen Einrichtung nicht zu bewältigen
sein würde.
4.2 Die Galleys von Ibnat
Der Weg von Bahir Dar nach Ibnat beginnt mit einer breit ausgebauten
Teerstraße, die teilweise einige Lücken in der obersten Asphaltschicht aufweist. „Hier hat die chinesische Baufirma ein wenig geschludert“, erzählt
mir Joachim Schwarz, der hiesige Experte der Welthungerhilfe. „Die Straße
ist erst vor einem Jahr fertig gestellt worden und nun müssen sie sie schon
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Äthiopien
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wieder an ein paar Stellen aufreißen. Aber unsere Fahrzeit ins Projektgebiet
hat sich mehr als halbiert. Wir sparen mindestens eine Stunde. Aber dann
müssen wir abzweigen und auf einer Landstraße weiter.“ Rechts und links
neben der Hauptstraße wird Reis angebaut, was zunächst nicht auffällt. Die
Felder sind überflutet und ich halte es auf den ersten Blick für eine negative Auswirkung der Regenzeit. Doch Getu Haile von der lokalen Nichtregierungsorganisation ORDA weist mich darauf hin, dass zumindest dieses Gebiet sehr von den irrsinnigen Wassermengen profitiert. „Hier haben wir seit
ein paar Jahren den Reisanbau kultiviert. Das lohnt sich in der Tat, denn es
fällt viel Wasser und die Menschen können es sogar dementsprechend nutzen.“ ORDA ist der lokale Partner der Welthungerhilfe in der Amhara-Region, denen deutsche Entwicklungshilfe-Experten zur Seite gestellt werden.
Während unserer Fahrt wird mir noch einmal bewusst, wie lebendig und
fruchtbar die Landschaft in Äthiopien doch erscheinen kann. Die Berge
sind mit einem grünlichen Flaum überzogen und die wenigen noch vorhandenen Bäume tragen eine farbenprächtige Krone. Die Regenzeit verändert
die Vegetation auf dramatische Weise und immer wieder wird mir davon
berichtet, wie staubig und braun sich die Landschaft in der heißen Trockenzeit präsentiert.
Endlich erreichen wir den Abzweig nach Ibnat. Von hier aus führt nur eine
aus Geröll und Matsch bestehende Straße weiter. „Diese größeren Wege sind
von der Regierung gebaut. Sie konnten dafür auch Maschinen und schweres
Gerät einsetzen“, berichtet Joachim. „Wir hingegen mussten uns mit reiner
menschlicher Arbeitskraft begnügen. Die Arbeiter kommen alle aus den umliegenden Gebieten und werden nach dem Prinzip ‚Cash for Work‘ entlohnt.
Das sind so sechs Birr am Tag und es reicht für eine warme Mahlzeit.“ Eigentlich würden sie den Tagelöhnern gern mehr zahlen, erklärt Joachim weiter, aber sie müssen sich an die Vorgaben und Honorare der Regierung halten. Sechs Birr am Tag – weniger als 60 Eurocent. Davon soll ein Vater seine
Familie ernähren können, frage ich mich. Und was passiert, wenn die Straße dann fertig ist? „Cash for Work“ ist das Nachfolgemodell von „Food for
Work“. Es gibt viele Stimmen, die die beiden Programme aufgrund der recht
dürftigen Bezahlung und der daraus resultierenden Abhängigkeit der Bevölkerung angreifen. Kritische Stimmen behaupten sogar, dass die äthiopische
Bevölkerung auf diese Weise niemals eine Unabhängigkeit erreicht und die
Arbeit vieler Hilfsorganisationen zur reinen Geschäftemacherei verkommen
ist. Ich selbst stehe diesem Thema zwiespältig gegenüber, doch meine persönlichen Erfahrungen mit der Welthungerhilfe sind durchweg positiv.
Die Region, in die ich mit Joachim Schwarz fahre, gehört seit einem Jahr
nicht mehr zum Projektgebiet und die Verantwortung für den Erhalt des erreichten Fortschritts liegt allein bei den Farmern. In Ibnat/Belesse sind die
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Äthiopien
Bauern nun für ihre weitere Zukunft selbst verantwortlich und müssen sowohl Straßen wie auch die anderen Entwicklungsmaßnahmen selber instand
halten.
Die Welthungerhilfe kümmert sich in ihrer Arbeit beispielsweise um die
Installation von Bewässerungsanlagen, die Bohrung von Wasserlöchern
oder die Einführung neuer Weizenarten, die den Boden nicht so sehr auslaugen sollen wie das traditionelle Teff. Sicherlich ist strittig, ob dieses
„An-die-Hand-nehmen“ der einheimischen Farmer, sowie die bloße Verteilung von Lebensmitteln zu einem dauerhaften Erfolg der Aktionen führen können.
Ein weiterer Teil der Aufgabe ist das Auffüllen so genannter Galleys. Diese Galleys sind durch Bodenerosion hervorgerufene Gräben, die eine Tiefe
von bis zu zwei Metern haben können. In den letzten dreißig Jahren wurden
die Wälder in Äthiopien fast vollständig abholzt, denn die stetig wachsende Bevölkerung benötigte immer mehr Brennholz für die feuchtkalten Tage
oder zum Zubereiten der Mahlzeiten. Wenn sich also heute die schweren
Regenwolken über den Bergen entladen, stürzen Wassermassen ungebremst
die Hügel hinab und reißen Schlamm, Steine und Pflanzen mit sich. Immer
tiefer graben sich die Galleys in die Äcker und werden so zu einer Gefahr
für Mensch und Tier. Der fruchtbare Boden wird weggespült und macht den
Ackerbau beinahe unmöglich. Außerdem wird die Fortbewegung unglaublich erschwert. Eine Neubepflanzung und das Einsetzen künstlicher Hindernisse sollen dazu führen, dass sich die Gräben schließen und die Ackerflächen wieder zusammen kommen. Wir treffen bei der Inspektion der Gräben
auf den Farmer Getahun, der sehr erfreut über die positive Entwicklung auf
seinem Ackerland ist: „Das Füllen des Galleys hilft uns sehr. Wir können
an den Rändern nun schon wieder Bäume und Gemüse pflanzen. Vor allem
sind wir froh über die befestigte Straße. Früher mussten wir uns nach jedem
Regen einen neuen Weg suchen. Und nachts konnten wir uns schon gar nicht
fortbewegen. Wir wussten ja nicht, wo wir hergehen sollten und wir sind
mehrfach in die Galleys gestürzt. Jetzt können wir bei jedem Wetter zum
Markt, um unsere Erträge zu verkaufen.“ Auch für die Kranken ist die Straße eine Erleichterung, erzählt der Mann, dem das raue Wetter und die etlichen Jahre harter Arbeit tiefe Furchen ins Gesicht geschrieben haben. Wenn
jemand erkrankt, dann wird er auf einer Bahre zum nächst gelegenen Hospital gebracht. Vier Mann tragen den Patienten. Kaum vorstellbar ohne festen
Untergrund. „Selbst meine Kinder kann ich jetzt ohne Sorgen in die Schule
schicken und meine Tochter kann sich bedenkenlos alleine bewegen. Früher
wurden die Mädchen auf offenem Feld geraubt und gegen ihren Willen verheiratet. Das ist so Tradition.“ „Und alle deine Kinder gehen zur Schule?“,
frage ich Getahun. Der blickt etwas verschüchtert und gibt zu, dass ein Sohn
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zu Hause bleiben muss. „Einer hilft mir auf dem Land und er muss auch lernen, wie man Felder bestellt. Aber die anderen sollen mal einen anderen Beruf ergreifen. So Gott will.“
4.3 Der private öffentliche Nahverkehr
Als wir uns von Getahun verabschieden, sehen wir von weitem einen
Bus an unserem geparkten Wagen vorbeifahren. „Da will ich mitfahren“,
ist mein erster Gedanke. Doch so leicht, wie ich dachte, können wir den Bus
dann doch nicht einholen. Der Fahrer kennt die Strecke gut und legt ein ordentliches Tempo vor.
Im nächsten Dorf haben wir dennoch Glück, denn der Bus hat eine Reifenpanne und seine Abfahrt verzögert sich. Solche kleinen Schäden sind
nichts Besonderes. Die Buscrew hat die Sache im Griff und wechselt mit
ein paar fachmännischen Handgriffen das Vorderrad – natürlich lediglich
mit einem Schraubenschlüssel und einem mechanischen Wagenheber als
technische Hilfsmittel. Die Passagiere begutachten schaulustig die Reparaturarbeiten.
Endlich geht es weiter. Durch die Lautsprecher, die nicht nur in den Innenraum, sondern auch nach außen gerichtet sind, schallt orthodoxe Kirchenmusik. Der schillernde Fahrerraum ist mit roten Girlanden, Kruzifixen
und Puppen geschmückt. Hinten zwischen den Sitzreihen läuft Mantegaftot
hin und her. Er kassiert den Fahrpreis von den Passagieren und arbeitet erst
seit ein paar Monaten als Assistent. Doch eigentlich hat er höhere Ziele:
„Ich will auf jeden Fall Busfahrer werden. Das ist ein toller Job. Hier hinten ist es auch nicht schlecht, aber man hat nicht soviel Verantwortung.“ Seit
fast zehn Jahren, so lange, wie es diese Straße gibt, verkehrt auch ein Bus
auf der Strecke. „Der gehört aber nicht der Regierung, sondern ist Privatbesitz“, klärt mich Mantegaftot noch auf. Vorne, fast direkt neben dem Fahrer
sitzt Shiferaw, der sein Leben als Farmer bestreitet. Er nutzt die Busverbindung schon seit etlichen Jahren: „Meine Familie wohnt nicht in Ibnat, aber
ich habe mein Land hier. Früher, als es den Bus nicht gab, musste ich mindestens elf Stunden zu Fuß gehen. Jetzt dauert die ganze Reise nur noch
zwei Stunden. Davon brauche ich 60 Minuten, um zu meinem Farmland zu
laufen. Mittlerweile besuche ich meine Familie fast jedes Wochenende.“ 18
Stunden spart Shiferaw, wenn er zu seiner Familie fährt. Fast einen ganzen
Tag, den er mit ihnen verbringen kann.
Auf halber Strecke steigt dann ein alter Mann mit einem seltsam aussehenden Instrument in den Bus. Er ist Asmhari, eine Art Minnesänger, und
spielt auf dem Masinko – einem traditionellen Zupfinstrument. Er ist mitt221
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lerweile 85 Jahre alt und gedenkt „noch weitere fünf Jahre draufzulegen“.
Mein Begleiter Getu tuschelt mir ins Ohr, dass er ihm nicht mehr als zwei
Jahre gibt. Aber der alte Asmhari ist noch ziemlich agil. Seine Liedtexte sind
improvisiert und beziehen Aktualitäten mit ein. Weil ich ihm den Bustrip bezahle – er spielt mehrere Songs für mich und hat kein Geld dabei – handeln
seine Texte dieses Mal davon, dass mich der liebe Gott segnen und meinen
Weg behüten soll. Ein wenig vergesslich ist er dann allerdings doch. „Wo
müssen Sie aussteigen, fragt ihn der Assistent mit der gegenüber dem Alter
des Asmhari gebührenden Höflichkeit. „Am vierten großen Baum nach der
Steinbrücke. Da muss ich übers Feld laufen“, antwortet ihm der greise Musiker. „Oh Mensch, Alterchen, da sind wir doch schon längst dran vorbei.“
Ein lautes „Wuaratsch alle“ seines Sitznachbarn bringt den Bus schließlich
zum Stoppen.
4.4 Die Bewässerung und andere Hilfen
Mit Hilfe der Straßen war es der Welthungerhilfe möglich, viele Technologien in der Gegend um Ibnat einzuführen, von denen die Bauern vorher
noch nichts wussten. Eine dieser Maßnahmen ist die Gravitations-Bewässerung, bei der keine Pumpen oder Elektrizität vonnöten sind. Große Felder
am Rande von Bächen oder Flüssen können so das komplette Jahr über mit
Wasser versorgt werden, wodurch die Farmer mindestens zwei- bis dreimal
jährlich die Ernte einfahren können. Unser Begleiter Getu bekommt leuchtende Augen, wenn er von einem Farmerpärchen berichtet, die enorm von
der neuen Technik profitieren: „Bevor wir ihnen diese Art der Bewässerung
gezeigt haben, war das Land lediglich mono-kulturisch genutzt worden. Außerdem hatten sie meist nur eine Ernte im Jahr.“ Doch die beiden hätten
es verstanden, den Acker fruchtbar zu machen und pflanzen seit ein paar
Monaten viele verschiedene Gemüsesorten und Fruchtarten an. Den Farmer
treffen wir jedoch nicht zu Hause an, da er für eine Versammlung nach Bahir
Dar gefahren ist. Dafür begrüßt uns seine Frau Adamnesh, die freudig strahlend auf uns zukommt. „Ist das nicht unglaublich“, deutet Getu zu ihr rüber.
„Ich kann mich noch daran erinnern, wie wir vor Jahren angefangen haben.
Sie hat niemandem ins Gesicht geblickt – weder Mann noch Frau. Doch
mittlerweile ist sie sehr selbstbewusst geworden und diese Entwicklung ist
auch ein Teil ihres wirtschaftlichen Erfolgs.“ Adamnesh schaut uns neugierig mit großen Augen an und selbst vor der Kamera, die ich heute dabei
habe, hat sie keine Scheu. Ihre Gesichtszüge sind fein und nicht einmal die
große Brandnarbe an ihrer rechten Wange vermag es, sie zu entstellen. Ihr
Gesicht strahlt eine unbändige Lebensfreude und ein großes Selbstbewusst222
Äthiopien
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sein aus. „Wir hatten letztes Jahr wirklich sehr gute Ernten und haben viele
Früchte, sowie Gemüse auf den Märkten verkauft“, erzählt Adamnesh mit
Stolz in der Stimme. „Wir konnten nicht nur an die lokalen Haushalte verkaufen, sondern haben Autos gemietet, um auf weiter entfernte Märkte zu
gelangen. Dadurch hatten wir 90.000 Birr angespart. Mit dem Geld kauften
wir zwei Häuser, die wir seither vermieten.“ Die junge Frau führt uns festen
Schrittes über die einzelnen Parzellen ihres Grundstücks: Mangofrüchte, Möhren- oder Kartoffelanbau – alles ist da. Teff hingegen bauen sie gar
nicht mehr an. „Obwohl unsere Familie stetig wächst, reicht die Ernte schon
lange für mehr als nur den Eigenbedarf“, fügt sie lächelnd hinzu. Sie glaubt
sogar, dass der traditionelle Injera-Fladen aus den Triticalis-Weizen wesentlich sättigender ist als seine Herstellung aus dem herkömmlichen Teff.
Triticalis ist eine Art Mischweizenform, deren Anbau die Welthungerhilfe anstelle der Teff-Pflanzung im äthiopischen Hochland fördern möchte.
Allerdings aufgrund religiöser Konventionen und konservativer Traditionen
mit wenig durchschlagendem Erfolg. Ich merke, wie Joachim während der
Übersetzung von Getu leicht zusammenzuckt. „Wachsende Familie“, entfährt es ihm, „ich hoffe, sie nehmen als nächsten Schritt am Training für
Familienplanung teil“. Als Getu der Bäuerin Joachims Bedenken auf Amharisch übermittelt, muss sie lachen. Die Familienplanung sei sogar schon
abgeschlossen, entgegnet sie ihm. Sie nimmt seit ein paar Monaten die Pille
und eigentlich wollen sie nach den drei Kindern kein weiteres mehr. Darüber hätten ihr Mann und sie schon lange gesprochen.
Dieser Satz beeindruckt mich am meisten. Diese bemerkenswerte Frau
hat es nicht nur geschafft, mit ihrem Mann erfolgreich das Land zu bewirten. Sie wurde zudem zur gleichberechtigten Partnerin für ihren Ehemann.
Ein Umstand, der gerade auf dem äthiopischen Land eine Seltenheit ist. Hier
müssen die Frauen im Grunde die Hauptaufgaben und wichtigsten Arbeiten im Haus alleine bewältigen, ohne auch nur einen Hauch an Mitbestimmungsrecht zu erhalten. Wasserholen vom Fluss oder aus dem Bohrloch,
Kochen für Mann und Kinder, das Zusammenhalten des gesamten Haushalts, das Tragen von schweren Tonkrügen oder Bastkörben – alles fällt der
Frau zu. Der Mann arbeitet nach traditioneller Überzeugung auf dem Acker,
wobei häufig nur eine Ernte im Jahr eingefahren wird. Oft hängen junge wie
auch ältere Kerle den Rest der Zeit nur herum und vertreiben sich die Zeit
mit Chat-Kauen oder Biergelagen.
Durch das imposante Auftreten von Adamnesh hege ich jedoch wenig
Zweifel daran, dass mir hier eine Frau gegenübersteht, die aus den üblichen
Geschlechterzwängen herausgetreten ist und eine gleichberechtigte Stellung
neben ihrem Mann einnimmt.
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Äthiopien
4.5 Exkurs – Das Schreckgespenst HIV/AIDS
Meine bisherigen Erkenntnisse und Erfahrungen auf den Straßen Äthiopiens haben mir gezeigt, dass der Straßenbau neben dem Fortschritt auch negative Aspekte mit sich bringen kann. Es ist eine Tatsache, dass nach Abschluss
der Baumaßnahmen weiterhin viel Arbeit bleibt, ein funktionierendes Verkehrssystem aufzubauen und auch zu erhalten. Regierungsprogramme wie
z.B. das erwähnte RTTPR, die sich vor allem darauf konzentrieren, den öffentlichen Nahverkehr zu fördern, gehen dabei eindeutig die richtigen Wege.
Ein anderer Punkt ist die Instandhaltung der fertig gestellten Straßen, sowie das Einbringen von Kenntnissen und Technik der verschiedenen NGOs.
Weiterhin muss das Bewusstsein der Bevölkerung für die neuen infrastrukturellen Möglichkeiten geschult werden.
Diese Punkte sind allerdings nur Nebenschauplätze im Hinblick auf die
wirkliche Gefahr, die auf den äthiopischen Straßen lauert. Zum einen ist
es die bereits beschriebene fatale Unfallstatistik, zum anderen ist es das
Schreckgespenst HIV/AIDS, das auf dem gesamten afrikanischen Kontinent
gefürchtet ist. Angesichts eines Anteils von 4,4 Prozent von HIV-Positiven
in der Bevölkerung erscheint die Gefahr im Vergleich mit dem südlichen
Teil des Kontinents zwar nicht so groß. Es ist jedoch davon auszugehen, dass
die Dunkelziffer in Äthiopien wesentlich höher liegt und die Rate der Infizierten rasant zunimmt.
Eine große Verantwortung tragen dabei u.a. die Betreiber der neuen äthiopischen Straßen. Zunächst betrifft es die Bauarbeiter, die monatelang an
einem Ort arbeiten und ihre Familien nur sehr selten sehen. Sie suchen Prostituierte auf und verteilen bei ihrer nomadenhaften Arbeit den Virus im
ganzen Land. Die Ethiopian Road Authority hat auf die Situation reagiert,
denn sie sieht sich damit konfrontiert, dass gute Arbeiter und ausgebildetes
Fachpersonal „wegsterben“. Infizierten Mitarbeitern werden leichtere Aufgaben übertragen und sie kommen in der Nähe ihrer Familien zum Einsatz.
Außerdem nehmen sie an diversen Trainingsmaßnahmen wie z.B. Theaterinszenierungen oder Diskussionsgruppen teil, um so ihre Kollegen aufzuklären und zu warnen.
Eine andere Risikogruppe sind die LKW-Fahrer, die, anders als die Bauarbeiter, sogar innerhalb weniger Tage das Land durchqueren und eine tödliche Spur auf der Strecke hinterlassen, wenn sie HIV-infiziert sind.
Dr. Tadesse Ayingida arbeitet für das VTC (Voluntary Testing Center) der
Transportfirma „Comet“. Dieses Zentrum ist vor nicht einmal einem Monat eröffnet worden. Dr. Tadesse ist der Meinung, dass die Zeit zum Handeln gekommen ist: „Wir schätzen, dass ungefähr ein Drittel unserer Fahrer HIV-infiziert ist. Genaue Zahlen haben wir leider nicht, weil wir keine
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Statistik über die Erkrankten führen, um so Diskriminierungen vorzubeugen. Wobei viele Initiativen, die wir hier durchführen, nur zustande kommen, weil alle Fahrer einen Teil ihres Lohns spenden. Wir haben das gesamte Zentrum und alle Maßnahmen selber aufgebaut und bezahlt. Von der
offiziellen Stelle HAPCOP sind noch keine Gelder geflossen. Die wissen
nicht einmal, dass es uns gibt.“ Neben dem Enthusiasmus für seine Aufgabe schwingt ein hohes Maß an Frustration in seiner Stimme mit. „Wir haben Hörspiele zum Thema aufgenommen, die die Fahrer mit auf ihre Touren nehmen. Außerdem beschallen wir manchmal den Parkplatz mit diesen
dramatisierten Lehrstunden. Auf diese Weise verstehen unsere Fahrer es am
besten. Wir haben selbstverständlich Prospekte, kostenlose Kondome und
verschiedene Schulungsmaßnahmen, die zum Einsatz kommen. Irgendwie
muss diese Pandemie doch zu stoppen sein.“ Ich bewundere Dr. Tadesse für
seinen Einsatz und wünsche ihm viel Erfolg für seine schwierige, beinahe
aussichtslos erscheinende Aufgabe.
5. Kurzer Halt in Alem Ketema
5.1 „Menschen für Menschen“ von Karlheinz Böhm
Meine Recherche in Äthiopien kann natürlich nicht die berühmte und im
Vorfeld erwähnte Organisation „Menschen für Menschen“ von Karlheinz
Böhm außer Acht lassen. Mir ist es nicht vergönnt, den ehemaligen Schauspieler persönlich kennen zu lernen, aber dafür erhalte ich dank „Menschen
für Menschen“ die Möglichkeit, das Dorf Alem Ketema zu besuchen. Das
Städtchen liegt kaum 80 km Luftlinie von Addis Abeba entfernt, aber durch
den schwer passierbaren Weg und das mehrmalige Überwinden von mehreren tausend Höhenmetern benötigen wir über fünf Stunden für die Fahrt.
In Alem Ketema möchte ich mir neben den beiden ca. 12 km langen, neuen Straßenabschnitten auch eine Treppe anschauen, die in einen Berg gehauen wurde.
Alem Ketema selbst ist ein kleines, sehr bedürftiges Dorf im amharischen Hochland. Natürlich bin ich beeindruckt von den Hilfeleistungen,
die „Menschen für Menschen“ hier durchführt, doch ein wenig erschrocken
bin ich darüber, wie viele weiße Schilder mit blauer Schrift am Straßenrand stehen. Egal ob Grundschule, Hospital, Bohrloch oder andere Einrichtungen, alles haben die Bewohner dem fürsorglichen Karlheinz Böhm zu
verdanken. Der Kindergarten ist sogar nach Aida, einem seiner Kinder, benannt. Mein Fahrer nennt den Ort nach einer Weile nur noch „Menschen für
Menschen“-Town. Der unermüdliche Einsatz der Organisation und auch
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die positiven Effekte der Arbeit sind jedoch unbestreitbar und eine Notwendigkeit in der äthiopischen Gegenwart.
5.2 Die Treppen von Alem Ketema
In Alem Ketema treffe ich auf einen Verkehrsweg, der nicht unmittelbar
mit meinem Thema zu tun hat, aber eine andere interessante Art der infrastrukturell gelenkten Kommunikation darstellt. Der Ort liegt vor einer nicht
allzu hohen Hügelkette und aus der Ferne ist eine helle Linie erkennbar, die
sich den Berg hinaufschlängelt. Beim Näherkommen wird ersichtlich, dass
es sich um eine Treppe mit beigefarbenem Eisengeländer handelt, die in den
Fels eingelassen wurde. Einige hundert Meter den Berg hinauf – zum Dorf
Zoma – führen die Stufen und werden insbesondere während der Markttage
von vielen Anwohnern genutzt. Früher haben sie sich den Weg durch das
dornige Gestrüpp und über die steilen Felsvorsprünge gebahnt, da sie nicht
den endlosen Weg um den Berg herum gehen wollten. Häufig kam es dabei
zu Unfällen, bei denen auch Tote zu beklagen waren.
Durch die Treppen wurde diese Gefahr gebannt. Mittlerweile ist es sogar
möglich, Lastesel mit auf den Weg zu nehmen, wodurch es zwischen den
beiden Dörfern Alem Ketema und Zoma zu einem lebendigen Handel gekommen ist. Auf den ersten Stufen treffe ich ein junges Mädchen, das gerade ein paar Besorgungen gemacht hat und auf dem Weg nach Hause zum
Bergplateau ist. Ich frage sie zunächst, ob sie wisse, wer diese Treppen gebaut hat. „Ja, das war Ato Karl“, sagt sie, „und wir sind ihm sehr dankbar
dafür. Er war eines Tages in unserem Dorf und hat gesehen, wie sich die
Menschen die Anhöhe hochquälen. Da hat er sich vor den Berg gestellt und
verkündet, dass hier eine Treppe entstehen müsse. Das war vor etwa acht
Jahren.“ Ato Karl – Karlheinz Böhm – wird an manchen Orten fast schon
wie ein Heiliger verehrt. So viel hat er in den Augen der Äthiopier für das
Land geleistet. Mich interessieren in diesem Zusammenhang vor allem die
tatsächlichen Konsequenzen des Treppenbaus. Die junge Frau berichtet mir
weiter, dass sie durch diesen Weg mehr als eine Stunde spart, um zu ihrem
Zuhause zu gelangen. Was sie denn mit der eingesparten Zeit mache, frage ich nach. Das Mädchen stutzt kurz und es macht den Anschein, als habe
sie darüber bislang noch nicht nachgedacht. „Meistens habe ich mehr Zeit,
um für die Schule zu lernen. Aber momentan ist Regenzeit und deshalb haben wir Ferien. Dann helfe ich meiner Mutter im Haushalt.“ Später möchte
sie einmal Lehrerin werden und in einer Schule in ihrem Dorf arbeiten. Diese Schule existiert bislang noch nicht, aber das Mädchen ist guten Mutes,
dass es eines Tages soweit sein wird. Während unseres Gesprächs gehen wir
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den Berg weiter hinauf und es kommt uns ein alter Mann entgegen, der in
der rechten Hand einen Holzstock hält und in der linken seine abgelaufenen
Sandalen trägt. Barfuss schreitet er die Treppen hinunter. Kurz bevor er uns
passiert, entgegnet er uns einige Sätze auf Amharisch. Der Tonfall klingt
sehr energisch in meinen Ohren und ich schrecke leicht zusammen. „Keine Angst“, errät das Mädchen aus meinem fahlen Gesichtsausdruck, „er hat
uns nur gebeten, das Gestrüpp da vorn vom Weg zu nehmen. Es behindert
den Auf- und Abstieg.“ Natürlich erfüllen wir ihm den Gefallen und der
Mann zieht unter nicht enden wollenden Lobpreisungen von dannen. Noch
in der Ferne vernehmen wir seine Stimme.
Als wir endlich am Gipfel ankommen, bin ich wieder einmal völlig eingenommen von der außerordentlichen Schönheit dieses Landes. Ich lasse den
Blick über die grüne Fläche vor mir schweifen und die Röte der Abendsonne
und das veränderte Licht geben diesem Bild eine ganz besondere Stimmung.
Doch das Mädchen muss weiter. „Es wird bald dunkel und von hier ist es
noch mindestens eine halbe Stunde zu gehen.“ Leider muss ich ebenfalls zurück und unser gemeinsamer Weg ist an dieser Stelle zu Ende.
5.3 Die neuen Straßen
Zwei Straßen von jeweils 12 km Länge sind in der Umgebung von Alem
Ketema im letzten Jahr entstanden und erst vor kurzem fertig gestellt worden. Bei diesen Arbeiten sei auch schweres Gerät zum Einsatz gekommen,
teilt mir Ato Berhanu von „Menschen für Menschen“ mit. Er führt mich zu
einer großen Walzmaschine, die mehrere Tonnen wiegt und in den nächsten
Tagen nach Addis zurückgebracht wird. Ich stehe ungläubig vor diesem gelben Gefährt, denn ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie
dieses Gerät auf einem Truck nach Addis Abeba gebracht wird. Unser Landcruiser mit Vierrad-Antrieb hatte bereits auf dem Hinweg Probleme, die
steile und teils unbefestigte Strecke zu bewältigen. Noch dazu kamen wir an
einem verunglückten LKW am Streckenrand vorbei, der sich nur mit Müh
und Not auf der Fahrbahnkante halten konnte. Berhanu kann meine Zweifel
verstehen, doch das sind nun einmal die Bedingungen in Äthiopien.
Die Strapazen haben sich augenscheinlich gelohnt, denn die beiden Straßen rund um Alem Ketema sind in einem sehr guten Zustand. Der grobe
Schotter wurde mit den Walzmaschinen festgefahren, die Straßen wurden
mit tiefen Wassergräben versehen und die losen Steinhänge mit speziellen
Drahtgestellen abgesichert. Vor ein paar Monaten waren diese Strecken noch
ebenso matschig wie die Ackerflächen am Wegesrand, in denen die Bauern
bei ihrer Feldarbeit knietief einsinken. „Manchmal klatschen und feiern die
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Leute ausgiebig, wenn wir mit dem Bau einer Straße beginnen. Es ist hier
halt etwas Besonderes“, sagt mir Berhanu. Mir fällt bei seinen Worten ein,
dass in Deutschland sogar Bürgerinitiativen gegründet werden, die sich gegen das hohe Verkehrsaufkommen wehren, für nicht wirklich formschöne
Lärmschutzwände plädieren oder – etwa aufgrund des Baus größerer Umgehungsstraßen im Umkreis ihres Hauses – horrende Entschädigungen für
den Wertverlust ihres Eigenheims verlangen.
Zunächst macht die Straße einen verlassenen Eindruck. Keine Fahrräder,
keine Eselskarren und nur wenige Leute sind zu Fuß unterwegs. Ich beobachte eine Weile ein Bauernpärchen, das gemeinsam ein kleines Feld bestellt. Unermüdlich treibt der Farmer seine beiden Rinderbullen Bahn um
Bahn durch den tiefen, Schwarzschimmernden Morast. Das Gespann macht
einen geradezu altertümlichen Eindruck. Es ist komplett aus Holz und muss
aus dem vorigen Jahrhundert stammen. Seine Frau folgt ihm in nahem Abstand und verstreut die Samen. Ich spreche sie an, um zu erfahren, was ihnen
die neue Straße an Vorteilen bringt. „Nun ja“, entgegnet mir der Bauer, „der
Weg ist nicht mehr so schlammig wie vorher. Da konnte man keinen Unterschied ausmachen zwischen Ackerland und Straße. Wir können bequem darauf gehen, aber viel geändert hat sich seitdem trotzdem nichts. Dieser Weg
ist ja sehr neu und wir wissen bislang nicht, ob und welche Veränderungen
er bringen wird. Keine Ahnung, ob es so viel Fortschritt gibt.“ Ich erwidere,
dass doch nun Karren und Busse verkehren können, um Leute und Ladung
zu transportieren. Der Bauer bleibt allerdings skeptisch: „Ich habe kein Geld
für Mulis und deren Verpflegung. Kaum jemand hat das hier in der Gegend.
Und von einem Karren brauchen wir gar nicht erst reden.“ Er fragt mich, ob
das alles sei, was ich wissen möchte, denn er müsse noch das gesamte Feld
bestellen. Er schwingt seine lederne Peitsche und bringt die Bullen wieder
in Bewegung.
Mein Begleiter Ato Berhanu steht nickend neben mir und bestätigt die
Worte des Farmers. „Die Menschen hier haben wirklich kein Geld für solche Anschaffungen. Das ist ein großes Problem. Aber wir von „Menschen
für Menschen“ haben bereits einen Karren gebaut, der auf unserem Hof
steht. Es fehlen nur noch ein paar Details und nach der Regenzeit wird er
in Betrieb genommen. Die Leute müssen sehen, dass es sich lohnt und anschließend werden sie selber einen Wagen haben wollen.“ Dass die neuen
Straßen aber in kürzester Zeit die Inspiration und den Tatendrang der Dorfbevölkerung angeregt haben, zeigt sich ein paar Kilometer weiter. Hinter
einer hohen Hecke, ein wenig im Dickicht versteckt, stoßen wir auf eine
verschlossene Hütte. „Hier hat jemand einen privaten Shop eröffnet“, verkündet mir Berhanu stolz. „Gerade jetzt arbeitet er wohl aber auf dem Feld
hinter seinem Haus.“ Berhanu verschwindet kurz hinter dem Häuschen und
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taucht kurze Zeit später mit dem Betreiber des Geschäftes auf. Dessen Hände und Füße sind mit angetrocknetem Schlamm verschmiert. Er sucht nach
den Schüsseln für die Vorhängeschlösser und öffnet die Tür. Hinter dem
Verschlag verbirgt sich ein kleines Lädchen mit allen erdenklichen Utensilien: Seife, Bonbons, Lebensmittel, Plastikbälle, Waschmittel und Kleidungsstücke sind zu erwerben. „Ich habe den Laden erst vor wenigen Wochen aufgemacht. Die Sachen hole ich vom Markt in Ketema oder anderen
Stellen, um sie hier zu verkaufen“, erzählt mir der junge Mann mit glänzenden Augen. Er hat sichtlich Spaß daran, mir von seiner Geschäftsidee
zu berichten. „Es läuft sehr, sehr gut. Vor ca. sechs Wochen habe ich angefangen. Ich habe gesehen, dass viele Leute die neue Straße nutzen und
hier vorbeikommen. Vorher haben sie sich immer neue Wege gesucht, denn
durch den Regen und die Galleys konnten sie nicht immer denselben Weg
nutzen. Aber jetzt kommen sie immer an meinem Haus vorbei. Sie haben
häufig Hunger und Durst vom langen Marsch oder wollen die schwereren
Sachen nicht von Alem Ketema aus mitschleppen. Dann kaufen sie hier
bei mir ein.“ Bislang trage sich der Laden zwar nicht von alleine. Er müsse zusätzlich auf dem Acker hinter seinem Haus arbeiten. Dazu kommen
noch die 30 Hühner, die er dank Ato Karl besitzt. In diesem Augenblick
kommt ein kleines Mädchen auf den Hof, um zu fragen, ob er auch Mützen
verkaufe. „Klar, grün oder rot? Welche möchtest du?“ antwortet er. Sogar
eine kleine Auswahl kann er bieten. „Welche Arbeit macht dir mehr Spaß“,
möchte ich von ihm wissen. „Gar keine Frage. Natürlich der Shop. Das ist
ein toller Job. Du bist nicht voller Schlamm, hast den ganzen Tag mit Menschen zu tun und verdienst auch noch mehr. Ich hoffe, bald nur noch im Laden zu stehen“, sagt er mir. „Später will ich mir eine Kuh kaufen. So hätte
ich Eier von den Hühnern und Milch von der Kuh. Auf diese Weise kann
ich meine Familie besser ernähren und mein Sortiment erweitern. Ja, das
ist mein Traum.“
5.4 Exkurs: „Mamas Bet“ oder das Finden der Weltformel
Mein junger Freund Emishaw, den ich zu Anfang meiner Reise kennen
gelernt habe und der mich ein wenig in das Leben in Addis Abeba eingeführt
hat, begleitet mich ebenfalls auf diesem Abschnitt der Recherche.
Für ihn ist die Reise mit mir eine neue Erfahrung. Es ist für mich nur
schwer zu glauben, doch er sagt mir, dass er bislang noch nie an einem Ort
gewesen sei, wo die Leute so bedürftig sind wie in diesem Dorf. Die Fahrt
über die unwegsame Strecke ist für ihn kaum fassbar und beim Anblick von
Alem Ketema stockt ihm ein wenig der Atem.
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Dieser äußerst ärmliche Ort hält jedoch ein Kleinod für uns bereit, in dem
wir uns von Beginn an heimisch fühlen. Es ist eine kleine Bar namens „Mamas Bet“ – was übersetzt „Mamas Frühstückshaus“ bedeutet. Hier bekommen wir alles, was wir für unser leibliches Wohl brauchen. „Extra Fool“ –
einen Bohneneintopf mit Rührei – gibt es zum Frühstück und „Shiro Wot“
– einen Brei aus Bohnen mit Unmengen an Injera (ein aus Teff hergestellter Fladen, der zu jeder äthiopischen Mahlzeit gehört) – zum Abendbrot. Es
gibt jedoch eine Sache, die uns diese aus Holzbrettern, Wellblech und viel
Farbe bestehende Kneipe ein wenig unheimlich erscheinen lässt.
Jede Mahlzeit, egal zu welcher Tageszeit und egal wie viel wir gegessen
haben, kostet 42 Birr. Am Anfang machen wir uns keine Gedanken darüber,
bis mir einfällt, dass die Weltformel in dem Kultbuch „Per Anhalter durch
die Galaxis“ mit der Zahl 42 beschrieben wird. Vielleicht strömen uns aber
nur die aberwitzigsten Ideen durch den Kopf, weil wir unsere Gemüter ein
bisschen vom Schwermut befreien müssen, der einen an einem solchen Ort
befallen kann.
Als wir am letzten Tag nicht ganz so viel frühstücken, hat sich der Betrag
glücklicherweise doch verändert. Die Rechnung beträgt 21 Birr. Aber zweimal 21 sind doch auch... Ohne weiter darüber nachzugrübeln, lassen wir
Alem Ketema hinter uns.
6. Südlich von Addis Abeba
6.1 Ziway-Dugda und Umgebung
Meine nächste Station führt mich ein weiteres Mal in ein Projektgebiet der
Welthungerhilfe. Es liegt südlich von Addis in der Nähe des Städtchens Ziway in der Oromo-Region. Anders als in Ibnat läuft dieses Programm noch,
wobei das kommende auch das letzte Jahr sein wird. Nach über zehn Jahren
Projektarbeit werden die Region und ihre Bevölkerung in die Eigenverantwortung entlassen. Der hiesige Experte der Welthungerhilfe, Sven Werner,
glaubt fest daran, dass dieser Übergang reibungslos klappen wird: „Wir haben den Leuten hier viel an die Hand gegeben, um ihre Probleme selbständig zu lösen. In diesem Gebiet, das ca. 40 Quadratkilometer mit 26 Kebeles
(eine Art kommunale Region) umfasst, sind über 30 Samenbanken entstanden. Dort können die Farmer wie nach dem Prinzip einer richtigen Bank ihre
Pflanzensamen einlagern und hoffen, dass sie später mehr Geld wert sind.
Mehr als 10 Wassertanks sind entstanden. Wir haben Bewässerungsanlagen gebaut, die entweder mit natürlicher Gravitation oder sogar mit Pumpen
funktionieren. Es wurden Schulen und Krankenstationen errichtet. Leider
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werden die Stationen erst im neuen Kalenderjahr (Anm. des Autors: der Jahresbeginn in Äthiopien ist nach unserem Kalender im September) von der
Regierung übernommen und mit Medikamenten bestückt. Insgesamt sind
außerdem über 280 km Straße bzw. Wege entstanden.“
Diese Straßen haben das Gebiet weit reichend verändert. Anders als in Ibnat oder gar in Alem Ketema herrscht auf den hiesigen Straßen bereits rege
Betriebsamkeit, wie sie hoffentlich auch in den anderen beiden Orten nicht
lange auf sich warten lassen wird. Unzählige Fahrradfahrer bewegen sich
auf den Wegen und Eselskarren fungieren als lokale Taxis.
6.2 Aus dem Arbeitsalltag eines Entwicklungshelfers
Sven geht mit Leib und Seele in seiner Arbeit als Entwicklungshelfer für
die Welthungerhilfe auf. Sein Büro und sein Zuhause hat er in einem kleinen
Dorf namens Olgocho, wo es nur stundenweise Strom mit Hilfe von benzinbetriebenen Generatoren gibt. Die Aggregate werden spätestens um 18 Uhr
abgestellt. Sven hat erst vor kurzem den Job in diesem Teil des Landes übernommen und nutzt meinen Besuch, die Gegend noch genauer kennen zu lernen. „Das Schönste an meiner Arbeit ist, dass man das Gefühl hat, Leuten
wirklich helfen zu können. Daran glaube ich, sonst würde ich sofort damit
aufhören,“ vertraut er mir auf der Fahrt durch das Projektgebiet an. „Das
Schwierigste ist allerdings, dass immer wieder verschiedene Mentalitäten
aufeinander prallen. Auf der einen Seite muss ich meine Ideen und Gedanken häufig wiederholen, damit sie verstanden werden. Auf der anderen Seite
lerne ich von den Menschen jeden Tag etwas Neues.“ Gemeinsam machen
wir uns auf, das Gebiet zu erkunden.
Bis vor vier Jahren, als die letzten Straßenarbeiten durchgeführt wurden,
gab es noch Dörfer wie z.B. Boka, die mit einem Fahrzeug nicht zu erreichen gewesen wären. Weder NGOs noch die Regierung hatten Zugang zu
diesem Ort. In Boka gibt es 780 Familien, die bis vor ein paar Jahren noch
nie ein Auto gesehen haben. Umso ernüchternder ist die Reaktion der Kinder, denen wir auf unserem Weg durch die äthiopische Natur begegnen. Sobald sie das Motorengeräusch aus der Ferne vernehmen, kommen sie aus den
Lehmhütten gerannt. Halb- oder völlig unbekleidet winken uns die Knirpse
entgegen. Sie sind höchstens zwei bis drei Jahre alt, aber die übliche Begrüßung haben sie schon gelernt. „Ferenji, Ferenji. Give me money!“ fordern sie keck. Sven schüttelt leicht genervt den Kopf: „Egal, wo man hinkommt. Die Kids kennen immer genau diese Worte. Und hier kommen doch
nur Leute von uns hin. Niemand von der Welthungerhilfe würde ihnen Geld
in die Hand drücken. Da fragt man sich schon, wo sie das aufschnappen.“
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Äthiopien ist einfach momentan auf Hilfe von Außen angewiesen, das lässt
sich nicht leugnen. Selbst wenn der offizielle Auftrag lautet, den Menschen
nachhaltig zu helfen und sie auf ihre Eigenständigkeit vorzubereiten – inwiefern dieses hehre Ziel erreichbar und inwieweit der Straßenbau dabei
von Nutzen ist, wird sich erst in den kommenden Jahren herausstellen.
Unser erster Weg führt uns zu verschiedenen Irrigations, den künstlich angelegten Bewässerungsanlagen. Ich bin etwas erstaunt, da ich darauf eingestellt war, direkte Auswirkungen des Straßenbaus zu sehen. Von Landwirtschaft habe ich zugegebenermaßen recht wenig Ahnung. „Aber gerade bei
diesen Anlagen kannst du sehen, welchen Einfluss der Straßenbau hatte“,
klärt mich Sven auf, „ohne diese Straßen hätten wir die Materialien für die
Kanäle und Pumpen niemals in diese Gegend bringen können. Als die Bauern dann gesehen haben, wie gut das auf unseren Feldern funktioniert, haben sie angefangen, die Bewässerungen nachzubauen. Früher konnten die
Bauern gerade mal ihren Eigenbedarf decken, aber jetzt haben sie sogar eine
Überproduktion.“ Die können sie nun auf den Märkten verkaufen, denn anstatt große Umwege von 25 km laufen zu müssen, nutzen sie nun die kleinen
Verbindungsstraßen. Die sind sicher und bequem.
Dass die Möglichkeiten der neuen Mobilität sich jedoch den Bauern nicht
vollkommen von selbst erschließen, stellt Sven bei seinem Besuch der Tree
Nursery fest. Die Welthungerhilfe unterhält eine Baumschule, in der 20
Frauen für die Bepflanzung der Töpfe eingesetzt und dabei von zwei Vorarbeitern angeleitet werden. Bisher kamen die Anweisungen bezüglich der
Pflanzenarten und Fruchtsorten jedoch immer von den Experten der NGO.
Papaya, Avocado, Guave und Mango gehörten zum Sortiment. Sven fragt
die beiden deshalb, was sie denn im nächsten Jahr anbieten werden, wenn
die Welthungerhilfe ihnen nicht mehr zur Seite steht. Leider sind sie sich
darüber nicht ganz im Klaren – dabei wird es jetzt höchste Zeit. Die Regenzeit ist bald vorbei und vorher müssen die Samen gesät sein. „Wir haben
daran gedacht, eventuell Bäume anzupflanzen. Die sind bei den Bauern in
der Umgebung sehr gefragt“, berichtet einer der beiden Vorarbeiter. Doch
Sven gibt ihnen zu bedenken, dass der Erlös der Bäume nicht reichen wird,
um die Nursery weiter zu betreiben. „So ein Baum bringt euch vielleicht
50 Cent pro Stück, bei den Mangos oder anderen Früchten könntet ihr 12
Birr pro Kilo verlangen. Das ist doch ein herber Unterschied“, gibt Sven
zu bedenken. „Aber die Bauern hier wollen keine Früchte“, entgegnet ihm
der erste Vorarbeiter. Dann müsse er halt darüber nachdenken, die Sachen
woanders zu verkaufen, kontert Sven. „Mietet euch einen LKW, schmeißt
die Sachen auf die Ladenfläche und bringt sie auf weiter entfernten Märkten wie Nazreth (ca. 50 km entfernt, Anm. d. A.) an den Mann. Ihr könnt
euch doch jetzt bewegen und die Fahrzeugmiete bekommt ihr locker mit
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dem Erlös wieder rein.“ Stumm nicken die beiden Vorarbeiter zustimmend.
Ob sie allerdings wirklich zugehört haben, wird Sven erst im nächsten Jahr
sehen können.
6.3 Von Eselskarren, Fahrradläden und anderen Geschäftsideen
Am folgenden Tag werde ich von einem fürchterlichen Morgengewitter
geweckt. Allein der Weg über die Teerstraße ist gefährlich, weil alle Rinderund Schafsherden, die normalerweise über den Wegesrand getrieben werden, mitten auf der Straße laufen – oder vielmehr mit ihren Hufen schlittern.
Die Seitenränder sind durch das Regenwasser komplett geflutet.
Ebenfalls vom Regen durchweicht sind die Landstraßen. Große Bäche
formen sich auf der Oberfläche, unterbrochen lediglich von kleinen Sandinseln, die sich vor den großen Vertiefungen bilden. Für den Vierradantrieb
kein Problem, doch für vier Holzräder erscheint die Straße fast unpassierbar.
Die Straßen sind mit bloßer Hand gebaut und befestigt. Lediglich Spaten
und Schaufel kamen zum Einsatz, da das Budget der Welthungerhilfe keine
großen Maschinen zuließ. Aber selbst diese überspülten Wege sind für die
umliegenden Dörfer unentbehrlich. Selbst bei diesem Wetter tummeln sich
die Menschen auf den Wegen, um mit ihren Gespannen und Herden zu den
verschiedenen Märkten zu gelangen.
Über soviel Verkehr freut sich auch Bisey. Er hat vor nicht einmal vier
Monaten eine Fahrradwerkstatt eröffnet. Sie liegt genau an der Grenze zwischen Schotterpiste und Asphaltroute, wo immer reger Verkehr herrscht.
„Die meisten Kunden kommen nicht aus der Stadt, sondern von den Dörfern auf dem Land. Die spitzen Steine und die tiefen Schlaglöcher machen
ihnen zu schaffen“, weiß Bisey, dessen Haare schon ergrauen, obwohl sein
Gesicht eine gewisse Jugendlichkeit verrät. „Sie haben entweder einen platten Reifen oder einen Defekt an den Speichen. Oft muss auch das Tretlager
gewechselt werden.“ Das Geld reicht ihm gerade zum Leben. Doch klagen
möchte er nicht. Ich schaue auf die vielen Fahrradfahrer auf den Wegen und
hoffe das Beste – für Bisey und sein kleines Geschäft.
Für den Ladenbesitzer Tes ist die Hoffnung auf eine bessere Zukunft
schon Wirklichkeit geworden. Ähnlich wie sein Kollege in Alem Ketema
hat er die Zeichen der Zeit erkannt und vor ca. anderthalb Jahren einen
Verkaufsstand mitten auf einer Landstraßenkreuzung gebaut. Er führt mich
um seinen Laden herum und deutet auf einen kleinen Holzverschlag, der
große Ähnlichkeit mit einem Plumpsklo aufweist. „Dort habe ich angefangen. Aber das Geschäft lief wunderbar“, strahlt Tes. „Ich konnte dieses
Haus aus Lehm bauen und jetzt eröffne ich sogar eine Filiale an einer ande233
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ren Feldweg-Kreuzung. Ich habe mit 50 Birr am Tag angefangen. Und nun
musste ich einfach ausbauen.“ Tes und seine Familie haben die Gunst der
Stunde genutzt und profitieren von jedem Einzelnen, der diesen Weg entlang kommt.
„Das sind die guten Geschäftsideen“, sagt Sven und fügt hinzu, „aber es
gibt leider auch negative Aspekte. Durch die Straßen ist halt jeder Transport einfacher geworden. Somit ist es ebenfalls simpel, Bäume abzuhacken
und auf LKW zu verladen. Diese Bäume werden dann zu Holzkohle verarbeitet.“ Ein streng verbotenes, aber profitables Vorgehen, denn die Abholzung ist wohl eine der schlimmsten Ursachen für die derzeitigen Probleme
des Landes. „Schau dich um. Du siehst diese kahlen Hügel, wo kaum noch
zwei Bäume nebeneinander stehen. Vor dreißig Jahren war das alles dichter
Wald. Nicht zu glauben, oder?“ Während der Militärdiktatur der Derg kam
es zu massiven Zwangsumsiedelungen. Die Idee war, die Menschen aus den
Hungergebieten in fruchtbarere Landschaften zu bringen. Allzu oft war es
jedoch der Fall, dass die Leute ihr Land nicht verlassen wollten oder in den
neuen Gebieten vor dem Nichts standen. Die Menschen wurden auf Brachland abgesetzt und mussten sehen, wie sie damit klar kamen. Holz war hier
natürlich die wichtigste Bau- und Brennsubstanz. „Es ist schwer, den Leuten innerhalb kürzester Zeit etwas beizubringen, wofür wir auch in unseren
Breitengraden Jahre oder Jahrhunderte brauchten“, sagt Sven. „Längerfristige Perspektiven, etwa, dass die Bäume für die Photosynthese wichtig sind,
die Wurzeln als Wasserspeicher dienen und die Bodenerosion aufgehalten
wird, zählen hier nicht so sehr. Wichtig sind die nächste warme Mahlzeit
oder eine lodernde Feuerstelle. Die Leute leben im Hier und Jetzt. Sie können häufig nicht an morgen oder gar übermorgen denken.“
Nach einer Weile stoßen wir auf ein blau-weiß gestrichenes Haus – eines
von insgesamt sieben Health Care Centern, die von der Welthungerhilfe
gebaut wurden. Die Krankenstation ist nur provisorisch in Funktion, da es
noch an Medikamenten mangelt. „Die kommen erst im September, wenn
das neue Haushaltsjahr beginnt“, weiß Sven. Magda, die eine Ausbildung
als Hilfskrankenschwester hat, kommt uns grüßend entgegen. Viele Leute
hat sie heute Morgen noch nicht versorgt. Es ist schließlich Markttag. „Wir
behandeln hier meist Malaria-Fälle, denn Ziway-Dudga liegt sehr tief und
ist damit Teil des Malaria-Risiko-Gebiets. Aber andere kleinere Fälle gehören ebenso zu unserem Aufgabengebiet und wir geben die erste lebenswichtige Medizin“, erzählt sie uns. „Wenn es den Leuten richtig schlecht geht,
organisieren wir von hier aus den Transport ins nächste Krankenhaus. Früher mussten sie 10 km laufen.“ „Nun werden sie also von einem Auto abgeholt?“, frage ich sie. „Nein. Autos gibt es immer noch nicht, aber wenigstens können wir sie auf Eselskarren transportieren. Heute war aber auch
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Äthiopien
Rouven Rech
das nicht möglich. Es ist eben Markttag und da stehen die Waren und der
Verkauf im Vordergrund. Einen Donkey-Card-Fahrer für einen Krankentransport bekommt man an solchen Tagen nicht.“
7. Die Äpfel von Chencha
7.1 Arba Minch am Abaya See
Arba Minch wird der letzte Stopp auf meiner Recherchereise durch Äthiopien sein. Diese Stadt, deren Name in der deutschen Übersetzung „Vierzig Quellen“ bedeutet, ist am größten äthiopischen See gelegen. Der Abaya
See hat eine Gesamtfläche von ungefähr 1.160 km2 und bildet gemeinsam
mit dem Chamo See einen natürlichen Zugang zum Nechisar-Nationalpark.
Doch mein journalistisches Interesse konzentriert sich auf einen Ort namens
Chencha. Dieses Dorf liegt nur 37 km von Arba Minch entfernt, ist aber dafür ca. 2.000 Meter höher angesiedelt. Diese Lage verschafft dem Ort einen
großen landwirtschaftlichen Vorteil. Aufgrund der idealen klimatischen Bedingungen im Hochland – vereinfacht beschrieben: die Sommer sind warm,
die Winter relativ kalt – ist die Gegend um Chencha das ideale Anbaugebiet
für Birnen und Äpfel. Seit mittlerweile 50 Jahren werden die saftigen Früchte dort angebaut und haben der Bevölkerung zu einem bescheidenen Reichtum verholfen. Fast jeder Apfel, der in Addis verzehrt wird, stammt aus jener
abgelegenen Region. Für den Transport dieser kostbaren wie auch schmackhaften Ware sind gute Straßen unerlässlich.
Ich treffe in Arba Minch auf Silvia Fickus, die für den CFI (Christliche
Fachkräfte International e.V.) agrartechnische Entwicklungshilfe in Äthiopien leistet. Sie wird mich am folgenden Tag nach Chencha begleiten, das
Teil ihres Projektgebietes ist. „Eigentlich müsste dich Ralph Wiegand vom
EED dorthin begleiten. Er wohnt seit über zehn Jahren in Arba Minch. Deshalb kennt er die Leute und die Geschichte des Apfelanbaus sehr genau,“
sagt mir die gut gelaunte Silvia bei unserem ersten Gespräch, „aber leider
ist er gerade auf Heimaturlaub in Deutschland. So musst du mit mir vorlieb
nehmen.“
Sie berichtet mir, dass einer der ersten angebauten Apfel- und Birnbäume,
immer noch im Dorf stehen soll. Das erzählen zumindest einige Dorfälteste.
Wir beschließen, uns am folgenden Tag auf die Suche nach dieser greisen
Pflanze zu machen.
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Rouven Rech
Äthiopien
7.2 Der mühsame Weg der „Dorze“-Frauen
Zunächst verlassen wir Arba Minch in Richtung Norden, um die Straße zu
erreichen, die uns nach Chencha führen soll. Von der Hauptstraße biegen wir
wieder einmal auf einen Schotterweg ab. Diese Strecke ist im Gegensatz zu
manch anderer Nebenstraße im Hinterland in einem sehr guten Zustand. Lediglich an einem Streckenabschnitt ist eine kleine Baustelle eingerichtet und
ein Laster älteren Modells bringt eine Fuhre Schotter nach der nächsten. Die
Fahrbahn ist an dieser Stelle noch nicht breit genug und ein Felsvorsprung
verhindert den idealen Straßenverlauf. Auf dem drei Meter hohen Steinmassiv, das etwa einen halben Meter in den Weg hineinragt, sitzen zwei schwitzende Arbeiter. Mit schweren Werkzeugen schlagen sie mit einem rhythmisierten Klopfen immer wieder auf den soliden Felsen ein. „Sie brechen die
überstehende Kante aus dem Stein, so dass der Weg frei wird und auch an
dieser Stelle zwei Wagen aneinander vorbeifahren können“, erklärt mir der
Bauleiter. „Wie lange wird das denn wohl dauern?“, entgegne ich mit fragendem Gesichtsausdruck. „Ungefähr zwei Monate. Vielleicht ein bisschen
mehr.“ Warum sie den Stein nicht einfach mit einer Stange Dynamit entfernen, kann er mir hingegen nicht erklären. Silvia Fickus ist der Meinung,
dass die Beschäftigung einer Arbeitskraft über zwei Monate immer noch lukrativer zu sein scheint, als eine Stange Dynamit zu kaufen.
Kurz hinter der Baustelle treffen wir auf eine Gruppe Frauen, die schwer
bepackt den Berg hinaufächzen. Auf ihren Rücken tragen sie mülltonnengroße Körbe aus Bananenblättern, die sie mit einfachen Stricken über ihre
Schultern gebunden haben. Einige der Frauen haben T-Shirts oder Kleidungsfetzen unter die Schnüre gelegt. Bei den anderen scheuern die Riemen direkt über die verhornte Haut und drücken sich tief ins taub gewordene
Fleisch. „Das sind die Dorze-Frauen (Dorze heißt das Gebiet aus dem die
Frauen stammen). Ihre Männer sind die in Äthiopien sehr bekannten DorzeWeber. Fast jedes Kleidungsstück, zum Beispiel Schals oder die typischen
Gewänder, wird von ihnen hergestellt.“, erklärt mir Silvia. „Die Männer
wohnen jedoch meistens in Addis und verdienen in den Fabriken ihr Geld.
Eigentlich gehen die Männer weg, um ihre Familien hier in der Region von
Chencha versorgen zu können. Jedoch schicken sie nur selten das Geld nach
Hause und tauchen vielleicht zweimal im Jahr im Dorf auf.“ Silvia weiß aus
ihrer Arbeit als Entwicklungshelferin, dass die Männer oft schon eine andere Frau in Addis Abeba gefunden und dort eine neue Familie gegründet haben. „Hierher bringen sie häufig nur das HI-Virus oder eine andere Krankheit“, sagt sie nüchtern. Mit dem Hochschleppen der Güter von Ocholope
am Fuße des Berges bis hinauf nach Chencha verdienen die Frauen sich das
Nötigste zum Leben. In den Körben transportieren sie Mus, eine Kochba236
Äthiopien
Rouven Rech
nane, die den Dorfbewohnern als Grundnahrungsmittel dient. Dreimal die
Woche tragen sie den gut 50 Kilogramm schweren Korb sechs Stunden lang
den Berg hinauf. Am Ende des Tages können sie sich über einen Verdienst
von fünf Birr – nicht einmal 50 Eurocent – freuen. Jedoch denken sie nicht,
dass die schnellen „Isuzu“, die Kleintransporter, ihre Arbeit überflüssig machen werden. „Die rasen doch wie die Wilden über die Schotterpiste und
dabei hüpfen die Säcke mit den Bananen hin und her. Das gibt schwarze
Stellen. So etwas mögen die Käufer überhaupt nicht“, klärt mich eine der
Dorze-Frauen auf.
Deswegen würden sie keine Esel nutzen, denn auch bei der Beförderung
auf dem Eselsrücken würden viele Bananen eingedrückt. Außerdem sei die
Versorgung eines solchen Nutztieres viel zu teuer. Silvia Fickus nimmt ihnen
diese Argumentation nicht ab: „Ein Esel würde die Arbeit auf jeden Fall erleichtern und es würde sich auch lohnen. Es ist einzig die Angst vor dem Neid,
die sie davon abhält. Wenn eine Frau einen Esel hat, dann wird sie von den anderen geschnitten. Und deshalb schinden sie sich lieber den Berg rauf.“
7.3 Der älteste Birnbaum Chenchas
Die enorme Bedeutung der Straßen lässt sich in Chencha auf den ersten
Blick erkennen. Viele Häuser des Ortes sind aus einer robusten Mischung
aus Lehm, Stein und Holz gebaut und erstrahlen in einem frischen Glanz.
Am Wegesrand sind unzählige neue Behausungen entstanden, von Menschen, die glauben an dem Aufschwung des Ortes teilhaben zu können. Der
Apfelanbau hat die regionale Wirtschaft stimuliert und die Dorfbewohner
sind sehr stolz auf ihren im gesamten Land verbreiteten guten Ruf.
Dabei wurde den ersten Birn- und Apfelbäumen, die vor über 50 Jahren
mit Missionaren in diesen abgelegenen Landstrich gelangt waren, zunächst
keine sonderliche Beachtung geschenkt. Vielmehr dienten sie zur Abgrenzung von Wegesrändern und Grundbesitz. Der Apfel war lange Zeit in Äthiopien nicht als essbare Frucht bekannt. Erst über etliche Jahre hinweg bemerkte die Bevölkerung, dass an den Bäumen am Wegesrand doch recht
schmackhafte Früchte wachsen und dafür sogar ein Markt vorhanden ist.
Wir treffen hier auf den Farmer Gota Goda. Er ist ein Apfelbauer der ersten Stunde und seit 19 Jahren im Geschäft. Er hat die legendäre – wenngleich laut Silvia nicht besonders mundende Apfelsorte „BR“ mit kultiviert.
„Das waren die Bäume, die ein Mr. Bond vor etlichen Jahren nach Äthiopien gebracht hat.“, erzählt Gota voller Stolz. „Aber man hat sie nicht im
Hochland angebaut und dort unten sind sie dann eingegangen. ‚BR’ steht für
‚Bond Red’.“ Er führt uns durch ein paar Vorgärten und unser Fußweg en237
Rouven Rech
Äthiopien
det an einem Bretterzaun. Hinter der Tür verbirgt sich ein dürrer Baum, dessen Äste ein wenig traurig herunterhängen. „Das ist der erste Birnbaum von
Chencha. Er ist über fünfzig Jahre alt und wurde von den Missionaren mitgebracht. Vor sechs Jahren ist er mal umgefallen, aber ich habe ihn wieder
aufgerichtet. Er lebt immer noch!“, erzählt Gota mit einem leichten Lächeln.
„Hiermit hat alles angefangen.“
Nur ein paar Meter weiter führt Silvia Fickus mich zu einem so genannten
Versuchsfeld, auf dem sich verschiedene Apfelsorten im Anbau befinden:
„Wir wissen noch nicht genau, welche Sorte hier am besten wächst. Deswegen probieren wir einige aus und geben die Setzlinge an die Farmer oder
die Früchte direkt an die Kooperative weiter.“ Die Kooperative in Chencha
kümmert sich um den gesamten Transport und Vertrieb der Äpfel in alle
Teile des Landes. Was zunächst ein reines „Ferenji-Produkt“ gewesen ist,
findet nun auch den Geschmack der heimischen Bevölkerung. „Zunächst
haben wir ihnen die Saat gegeben, damit sie die Äpfel als Selbstversorgung
nutzen können. Mittlerweile essen sie die Äpfel aber nicht mehr selber. Sie
haben herausgefunden, dass ihnen der Verkauf der Setzlinge und Früchte
mehr bringt.“, fügt Silvia hinzu. „Uns ist das natürlich auch recht, wenn
sie sich danach mit dem Geld Lebensmittel, Teff oder andere Dinge kaufen können.“ Allerdings bringe der Vertrieb der Setzlinge den Bauern viel
mehr Profit – die Kultivierung und Veredelung der Früchte leidet etwas,
weiß Gota: „Der gute Ausbau der Straße ist sehr wichtig für uns. Denn wenn
wir die reifen Äpfel transportieren, bekommen sie bei dem kleinsten Hüpfer
schon dunkle Stellen. Das darf natürlich nicht sein.“
Seit fünf Jahren ist die Gegend in der Nähe von Arba Minch in aller
Munde und jeder Äthiopier weiß, was ein Chencha-Apfel ist. Das hat auch
dem Straßenbau enorm geholfen. „Es waren schon einheimische Fernsehteams hier und haben von den Hochlandäpfeln berichtet. Durch diese Popularität ist die Regierung auf Chencha aufmerksam geworden und hat mit der
Erweiterung des Verkehrsnetzes begonnen,“ erzählt Silvia Fickus auf dem
Rückweg. „Nun beginnt man auch in der Gegend um Gurage, in der Amhara-Region und sogar im Nachbarland Eritrea damit, Äpfel anzubauen. In
zehn Jahren wird von dort die stärkste Konkurrenz herkommen.“ Vielleicht
bietet es gleichzeitig die Möglichkeit für einen weiteren nachhaltigen Ausbau des äthiopischen Verkehrsnetzes.
8. Resümee
Während meiner dreimonatigen Recherchereise konnte ich leider nicht
sämtliche Ziele erreichen, die ich mir gesteckt hatte. Zum einen ergab sich
238
Äthiopien
Rouven Rech
dies aus den bereits im Vorfeld beschriebenen politischen Gründen. Ich
hatte mich aufgrund der politischen Umstände dagegen entschieden, nah
mit Regierungseinrichtungen zusammenzuarbeiten. Mein Gedanke dabei
war, dass die Regierung gerade in der „Konsolidierungsphase“ nach den
schrecklichen Vorfällen im Jahr 2005 darauf bedacht sein wird, eine positive Außendarstellung durchzusetzen. Ich wollte mich dafür nicht instrumentalisieren lassen.
Zum anderen schätzte ich die Zeit, die ich gebraucht habe, um mich in
Äthiopien zurechtzufinden, falsch ein. Trotz meiner Erfahrungen aus vorherigen Auslandsaufenthalten stellte ich fest, dass eine dreimonatige Zeitspanne, die ein vierwöchiges Praktikum beinhaltet, für mein umfassendes
Rechercheprojekt nicht ausreichend war. Erst, als die eigentliche Recherchezeit vorüber war, hatte ich das Gefühl, endgültig in der Kultur angekommen zu sein.
Somit habe ich nur einen flüchtigen Einblick in verschiedene Regionen
und Gesellschaften Äthiopiens nehmen können. Die Auswirkungen des
Straßenbaus auf die Bevölkerung sind so mannigfaltig, dass ich nur einzelne Schlaglichter auf bestimmte Themengebiete richten konnte. Ich hoffe
sehr, dass dies nicht mein letzter Besuch in diesem faszinierenden Land gewesen ist, damit ich vielleicht doch der einen oder anderen Geschichte etwas
tiefgründiger nachgehen kann.
9. Danksagungen
Am Ende dieses Berichtes möchte ich mich noch bei unzähligen Menschen
bedanken, die mir bei der Umsetzung meines Vorhabens geholfen haben.
In Äthiopien möchte ich mich zu allererst bei Emishaw, Mantegaftot, Nebiyou, Carmela Abate, dem Ethiopian Gemini Trust und der gesamten Crew
von Gem-TV bedanken, die mir meinen Start in Addis Abeba wirklich erleichtert haben. Ohne ihre Hilfe wäre ich sicherlich viel länger orientierungslos durch die Straßen der Stadt geirrt.
Meine Recherchereise und die daraus resultierenden Ergebnisse wären
nicht ohne die Unterstützung der „Welthungerhilfe“ (insbesondere gilt hier
mein Dank Bernhard Meier zu Biesen, Joachim Schwarz und Sven Werner,
sowie den Mitarbeitern der beiden Partnerorganisationen ORDA und
OSHO), der Organisation „Menschen für Menschen“ (hier ist die PR-Beauftragte Ulrike Haupt zu nennen) und der CFI (allen voran Silvia Fickus)
zu Stande gekommen.
Ebenso möchte ich mich bei Bernhardus van Ampting und Claus Bätke
von der GTZ bedanken.
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Rouven Rech
Äthiopien
Zudem bedanke ich mich bei Samson Wondimo von der Ethiopian Road
Autority und Bekele Neguesse von der Ethiopian Transport Authority.
Ein ausdrücklicher Dank gilt dem Referenten für wirtschaftliche Zusammenarbeit der Deutschen Botschaft Addis Abeba, Hein Winnubst, der mir
einige wertvolle Hinweise für meine Recherchen geben konnte. Ohne diese
Tipps wäre meine journalistische Arbeit unendlich schwieriger gewesen.
Weiterhin möchte ich mich bei Alexander Meckelburg, Rudolf Schoppmann, Marius Flucht, Michael Flucht, Alexander Fierley, Verana Böll, Getie
Gelaye, Berhanu Beyene bedanken.
Natürlich danke ich auch allen meinen Gesprächspartnern für ihre Zeit und
ausführlichen Auskünfte, meinen Begleitern und Fahrern für ihr sicheres Geleit und allen anderen, die mir mit Rat und Tat zur Seite gestanden haben.
Ein ganz besonderer Dank gilt meiner gesamten Familie, die mich in all
meinen Unternehmungen bestärkt und ohne deren Unterstützung ich es mir
nicht hätte vorstellen können, den Berufsweg eines Filmemachers und Journalisten einzuschlagen. Großer Dank gilt auch meiner Lebensgefährtin Daniela Esser, die mich immer wieder für unbestimmte Zeit in fremde Länder
ziehen lässt.
Mein letzter und größter Dank geht an die Heinz-Kühn-Stiftung und insbesondere an Ute Maria Kilian, die trotz diverser problematischer Umstände sehr viel Geduld und Vertrauen in mein Projekt hatte. Nur aufgrund ihres
freundlichen Entgegenkommens und ihrer Geduld war es mir überhaupt
möglich, mein Stipendium anzutreten und diese wichtige Recherchereise
zu unternehmen.
240
Rodrigo Rodembusch
aus Brasilien
Stipendienaufenthalt in
Nordrhein-Westfalen
vom 01. Juli bis 30. Dezember 2005
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Nordrhein-Westfalen
Rodrigo Rodembusch
„Keiner kommt von einer Reise so zurück,
wie er weggefahren ist.“
(Graham Greene, englischer Erzähler)
Von Rodrigo Rodembusch
Nordrhein-Westfalen, vom 01. Juli bis 30. Dezember 2005
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Nordrhein-Westfalen
Rodrigo Rodembusch
Inhalt
1. Zur Person
246
2. Eine kleine Erklärung
247
3. Keine Kompromisse...
247
4. „Hochdeutsch als Fremdsprache“
248
5. Typisch deutsch (für mich) ist...
250
6. Auf den Spuren der Nibelungen
252
7. Drei große Ereignisse in Deutschland
253
8. Deutschland: Ein Paradies für Nüchterne?
255
9. Was gibt’s in Weimar?
257
10. Was gibt’s in Eisenach?
258
11. Die echte Bedeutung von „Abschied nehmen“
259
12. Die Deutsche Welle
260
13. Statistik
261
14. Nie ist es zu spät, um Danke zu sagen
261
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1. Zur Person
„Der Samstag war sehr dunkel, regnerisch und kalt“, erklärte meine Mutter über den Tag, an dem ich geboren bin. Es war der 7. Juni 1975 und ich
war nicht allein. Auch zur Welt kam mein Zwillingsbruder Fabiano. Eine
Überraschung für die ganze Familie. Und so fängt meine Lebensgeschichte an...
Siebzehn Jahre danach, als ich mit der Schule fertig war, bin ich von Camaquã nach Porto Alegre (die Hauptstadt von Rio Grande do Sul, das südlichste Bundesland Brasiliens) umgezogen, um mich weiter auszubilden.
Während des Gymnasiums war es klar für mich, welche Richtung im Studium ich nähme: die Geisteswissenschaften. Etwas, das mit Literatur, Geschichte, Erdkunde, Sprachen und Portugiesisch zu tun hatte. Eigentlich
ein bisschen von allem (typisch für Journalisten, habe ich Jahre später entdeckt...). So wurde mein zukünftiger Beruf ausgewählt.
Nach der Universität hatte ich die Möglichkeit als Redakteur und Drehbuchautor der Sendung Futura Profissão (über Berufe) von Canal Futura
zu arbeiten. Gleichzeitig hatte ich dieselbe Tätigkeit in der Sendung Gestão
Rural (Landwirtschaftsmanagement) von Canal Rural. Im Jahr 2003 habe
ich ein weiteres Medium ausprobiert (und seitdem bin ich darin verliebt):
der Rundfunk. Bei ihm konnte ich wirklich Fortschritte in meinem Beruf
machen, zuerst als Redakteur, danach als Reporter von Radio Guaiba. Diese letzte Stelle hat mir erlaubt, als Korrespondent in Hannover auf der Industriemesse 2004 und 2005 zu arbeiten. Außerdem arbeitete ich als Korrespondent im Vatikan während des Konklaves.
Aber wann ist die deutsche Sprache in mein Leben eingetreten? Obwohl ich einen deutschen Nachnamen habe, hatte ich bisher noch keinen
Kontakt mit etwas Deutschem gehabt, außer typischen Gerichten, Märchen von den Gebrüdern Grimm und Fachwerkhäusern, die es in einigen
Städten in Südbrasilien gibt. Das erste Mal war, als der Bundespräsident
Roman Herzog 1993 in Porto Alegre zu Besuch war. Während seines Aufenthaltes in Rio Grande do Sul arbeitete ich als Dolmetscher Portugiesisch-Englisch und konnte die schwierige und undeutliche Sprache (die
ich heute sehr musikalisch finde) zum ersten Mal richtig hören. Das war
ein Schwerpunkt: ich musste Deutsch können. Und Dank dieser Idee wurde Deutschland immer mehr eine Realität, statt eines Traumes. Je schwieriger, desto besser habe ich damals gedacht. Aber so schwer hatte ich es
nicht erwartet.
Die Lösung für das Problem kam 4 Jahre später, als ich nach Berlin flog.
Das erste Mal im Ausland und in Deutschland. Dort blieb ich ein ganzes
Jahr und konnte endlich die Sprache intensiv lernen. Seitdem gehören das
246
Nordrhein-Westfalen
Rodrigo Rodembusch
Land, das Volk und die Sprache zu einem Teil meines Lebens. Wohin die
Kenntnisse, die ich erworben habe, mich führen werden, weiß ich nicht, aber
bis heute bin ich zufrieden und sehr stolz auf meine Entscheidung.
2. Eine kleine Erklärung
Eine Woche vor meiner Reise nach Deutschland habe ich mich entschieden einen persönlichen Bericht zu schreiben, aber nicht nur mit meinen Erfahrungen im Ausland. Ich wollte etwas anderes machen, wollte einigen
Dingen auf den Grund gehen oder sie mindestens aus einer neuen Perspektive betrachten, Antworten suchen, neue Erkenntnisse finden. Und ich denke,
ich habe es geschafft.
Mein Bericht wird versuchen ein paar Fragen zu beantworten, die ich mir
selbst gestellt habe. Obwohl ich schon in Deutschland gewesen war, blieben
einige Punkte, die nur durch Beobachtung und sogar Forschung besser verstanden werden könnten. Wie ist das deutsche Volk? Wie lebt man in Norddeutschland? Was ist wirklich typisch für ein Land, das ganz unterschiedlich
sein kann? Ist Erziehung das, was man in Deutschland für das Wichtigste
hält? Ist eigentlich Hochdeutsch eine Fremdsprache?
Durch Reisen, Lesen und Erfahrungen als Bürger der ehemaligen Hauptstadt Deutschlands (Bonn) habe ich Elemente gesammelt, um diese Fragen
zu beantworten.
3. Keine Kompromisse...
Lektion Nummer 1: Sommer und Strand bedeuten nicht schönes Wetter
oder warme Luft. Es kann sogar sehr windig und kalt sein.
Lektion Nummer 2: Sonnencreme, Brille, kurze Hose und T-Shirt sind
nicht die wichtigsten Gegenstände, die man zum Strand mitnimmt. Hinzu
kommen Jacke, Hose und Pullover.
So war meine erste Erfahrung in Deutschland als Stipendiat der HeinzKühn-Stiftung: eine Reise im Juli nach Jeverland (in Niedersachsen). Was
ich dort erlebt habe, ist eigentlich mehr als Städte besichtigen und frieren
(ich habe schon erzählt, dass ich, wie ein echter Brasilianer, automatisch
das Wort Sommer mit dem Wort Hitze verbinde). Während des Wochenendes, das ich in dieser Region verbrachte, konnte ich bemerken, dass obwohl Deutschland nur ein Land ist, es große kulturelle Unterschiede gibt
zwischen den Bundesländern. Bestimmte Ausdrücke und Wörter sind auch
eine Besonderheit. Moin! Moin!, Strandkorb, Kluntje, Siel, Watt und Wat247
Rodrigo Rodembusch
Nordrhein-Westfalen
tenmeer sind Beispiele. Und so lernt man eine Sprache: durch Selbsterfahrung. Ohne sie hätte ich nicht die Gelegenheit gehabt zu lernen.
Auch sehr wichtig war der Ausflug, den ich nach Schillig gemacht habe.
Diese kleine Stadt ist eine von vielen Orten, wo man Wanderungen machen
kann. Wohin? Durch einen Teil des Nationalparks Niedersächsisches Wattenmeer. Als ein Besucher der Nordseeküste wurde ich mit einem phantastischen Phänomen konfrontiert: den Gezeiten, die das Watt bilden.
Obwohl die Aussprache unseres „Wattführers“ sehr stark war, konnte ich
ein paar Informationen gut verstehen, wie zum Beispiel, dass das Wattenmeer mehr als 10 km breit und 8.000 km2 groß ist. Das bedeutet, es ist der
größte zusammenhängende Lebensraum seiner Art auf der Welt.
Andere Erklärungen, die für mich lebenswichtig waren, bezogen sich auf
die Meersbewegung. Es war eine Erleichterung für mich zu wissen, dass das
Watt (nur) zwei Mal am Tag überflutet wird und wieder trocken fällt. Und
dass dieses Ereignis zwischen Hoch- und Niedrigwasser 6 Stunden und 12
Minuten beträgt. Genug Zeit für eine Wanderung. Also, keine Gefahr.
Barfuß und die Hosen bis zum Knie hochgezogen konnte die Gruppe losgehen. Erste Erfahrung: Schlamm zwischen den Zehen. Viele Experten und
Forscher behaupten, dass das Watt sehr gesund ist. Mir war im Kopf nur ein
Gedanke: trotz der positiven Wirkung, die man damit hat, ist es eklig!
Nach kurzer Zeit, war ich schon daran gewöhnt. Und dann plötzlich kam
der zweite Gedanke: Es ist nicht nur Schlamm, es muss auch Tiere darin
geben! Und als ob unser „Wattführer“ mich hören und verstehen könnte,
sagte er, dass das Watt reich an Lebewesen sei. Gemäß ihm, leben die meisten Watttiere im Boden verborgen, wie Muscheln, Schnecken und Würmer.
Aber das war noch nicht alles.
Darüber hinaus bietet die Region auch viel Kultur an. Im Schloss zu Jever
habe ich die Ausstellung „Mit Hermelin und Krone“ gesehen, in der Porträts
von Katharina der Großen präsentiert wurden. Laut Nordwest-Zeitung vom
16. und 17. Juli: „zeigt sich die Zarin huldvoll lächelnd“. Insgesamt waren
zehn Ölgemälde und sechs Grafiken von der Herrscherin zu sehen, die das
Jeverland 1793 von ihrem Bruder Friedrich August geerbt hatte.
Nicht zu vergessen: In Jever habe ich zum ersten Mal deutsches Bier getrunken. Und dazu, ein neues Wort gelernt: herb. Sehr herb. Keine Kompromisse.
4. „Hochdeutsch als Fremdsprache“
Welche Rolle spielen Dialekte in Deutschland? Stimmt es, was die Deutschen sagen, dass der Unterschied zwischen Mundarten so groß ist, dass
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Nordrhein-Westfalen
Rodrigo Rodembusch
man eine dritte Sprache benutzen sollte, damit ein Norddeutscher und ein
Süddeutscher sich verstehen könnten? Die Antworten zu diesen Fragen bekam ich, als ich die Gelegenheit hatte, in den Schwarzwald zu fahren und
dort ein Deutschland entdeckte, das ich mir nie hätte vorstellen können.
Der Schwarzwald gehörte in meiner Vorstellungswelt immer zu etwas zauberhaftem, etwas aus einem Märchen. Und das ist genau der Eindruck, den
ich bekam, als ich dort war. Aber nicht nur die Natur war beeindruckend.
Die dort wohnenden Leute und die noch heute gebliebenen Traditionen sind
zwei Aspekte, die insbesondere diese Region unvergleichbar machen.
Darüber hinaus gab es etwas, dass mir wunderbar gefallen ist: der Dialekt.
Obwohl ich nicht genug Hochdeutsch beherrsche, versuchte ich „Alemannisch“ zu verstehen, eine Mundart, die heute von etwa 10 Millionen Menschen in sechs verschiedenen Ländern im Südwesten des deutschsprachigen
Raumes gesprochen wird.
Und was passiert, wenn man einen platten Reifen am Schluchsee (Mitte
des Südschwarzwaldes) hat und nicht Alemannisch spricht? Es wäre genauso schwierig auf normalem Deutsch. Da hatte ich mein erstes großes Lernerlebnis in Baden-Württemberg: Vertrauen. Aber zuerst muss ich die Geschichte von Anfang an erzählen: Bevor das Problem mit dem Auto bemerkt
wurde, habe ich das Vogelhaus in Schluchsee besichtigt. Ein Platz, wo man
altes Schwarzwälder Handwerk sehen kann und Einblicke in die historische
Volkskunst der Region gewinnen kann. Die ganzen Beispiele von Trachtenstickerei, wie die so genannten Finken (warmen Hausschuhe, die an der
Wand hängen, damit die Touristen und Wanderer besser auswählen können).
Im Vogelhaus findet man auch Trachtenhüte, Kappen, Brautkronen und Bienenkörbe. Was man außerdem dort findet, ist Gemütlichkeit, Gastfreundschaft und Vertrauen.
Als klar war, dass unser Auto nicht weiterfahren konnte (wegen des platten Reifens), hat Frau Reichenbach (die Besitzerin des Vogelhauses) ihr
Auto zur Verfügung gestellt. Ohne zu zögern. Sofort habe ich mir überlegt:
Wo könnte ich das in Brasilien machen? Nirgendwo!
In der Werkstatt hatte ich mein zweites großes Lernerlebnis: Hochdeutsch
ist eigentlich eine Fremdsprache! Obwohl die Leute augenblicklich bemerkt
haben, dass ich kein Deutscher war, waren sie sehr hilfsbereit, aber auf Alemannisch. Und wenn sie merkten, dass ich sie überhaupt nicht verstehen
konnte, haben sie eine andere Sprache benutzt, die ich (ihrer Meinung nach)
vielleicht beherrschte und es war Hochdeutsch.
Nachdem das Problem gelöst war, ging der Ausflug weiter nach Schönau,
Bernau, St. Blasien und Todtnau (dort werden Zahnbürsten hergestellt). Am
Abend dachte ich, dass nichts besonders passieren würde. Falsch! Um 19
Uhr hat sich die ganze Gemeinde von Brandenberg auf dem Dorfhock ge249
Rodrigo Rodembusch
Nordrhein-Westfalen
troffen. Und was gab’s? Wurst, Brot, Kartoffelsalat, Bier, Spirituosen, Volkstanz und Blasmusik (von der Trachtenkapelle Brandenberg). Viele Leute
(und sogar Deutsche) würden dieses Ereignis als Kitsch beschreiben. Ich
fand es unvergesslich.
Auch nicht zu vergessen: Auf dem Dorfhock habe ich zum zweiten Mal
deutsches Bier getrunken. Leider keine neuen Wörter gelernt, weil sie alle
auf Alemannisch waren.
5. Typisch deutsch (für mich) ist... *
Wie könnten die Deutschen – als Volk – beschrieben werden? Gibt es Gemeinsamkeiten, die als typisch gelten? Während der 6 Monate habe ich auf
der Straße, in den Supermärkten, in den Einkaufszentren und unterwegs in
Deutschland einfach beobachtet. Ich wollte immer wissen, ob die Vorstellung, die ich hatte, falsch oder unpräzise war. Das Ergebnis zeigte, dass die
Realität nicht so unterschiedlich war von dem, was ich im Kopf hatte.
Dennoch machte ich eine kleine offizielle Forschung, um herauszufinden wie die Deutschen sind. Mit der Hilfe von Mathematik (sie lieben Statistik und Prognosen) wurde ermittelt, dass weniger als die Hälfte aller Ehepaare Kinder bekommen. Und das ist sehr deutlich. Man sieht kaum eine
Schwangere auf der Straße. Außerdem wünschen sich immer weniger Deutsche Nachwuchs. 15% der Frauen und 26% der Männer zwischen 20 und 39
Jahren wollen keine Kinder. Steht Arbeit an erster Stelle und Familie an der
Zweiten? Vielleicht eine Frage der Karriereorientierung.
„Die Deutschen arbeiten sehr fleißig“, habe ich immer gehört. Und das
stimmt. 80% der deutschen Männer und 67% der Frauen zwischen 15 und
64 Jahren sind berufstätig und fast 80% der Arbeiter machen nie blau. Unter
den Europäern sind nur knapp 60% so fleißig. Die Arbeitslosigkeit ist auch
ein wichtiges und häufiges Thema im Fernsehen und in der Zeitung. 81%
der Deutschen halten die Schwierigkeit eine Stelle zu finden für das größte
Problem im Land.
Sind die Deutschen ein kaltes Volk? Ich sage: Nein. Obwohl laut Statistik
der Durchschnittsdeutsche 3,3 Freunde hat und jeder Sechste gar keine, sind
die Leute (nach meiner Meinung) zurückhaltend, weil sie zu viel Wert auf das
Privatleben legen. Und das wird normalerweise als Unempfindlichkeit missverstanden. Fast keiner, der nur eine vage Idee über Deutschland hat, weiß,
dass das „kalte Volk“ auch hilfsbereit, gastfreundlich und nett sein kann.
*
Datenquellen: Statistisches Bundesamt; Bundesministerium des Inneren; Stiftung Warentest; Bundesarbeitsgemeinschaft Trauereier; und Deutsches Institut für Altersvorsorge.
250
Nordrhein-Westfalen
Rodrigo Rodembusch
Nach allen Zahlen bleibt eine Frage: Aber was ist typisch für den Deutschen? Karriere, Ordnung, Fleiß, Sauberkeit, Reisen? Wie sind sie im alltäglichen Leben?
Weil alles wie eine Schweizer Uhr funktioniert, haben die Deutschen ein
bisschen Schwierigkeiten, mit Unpünktlichkeit umzugehen. Einige sind
schon ungeduldig nach 10 Minuten Verspätung (eine Zeitmenge, die in Brasilien für noch pünktlich gehalten würde). Die Genauigkeit gilt auch für die
Küche (beim Kochen): exakte Gramm und Milliliter. So soll das sein. Nach
6 Monaten in Deutschland wurde etwas davon von mir assimiliert. Ob das
in Brasilien klappen wird, ist eine Frage der Zeit.
Aber es gibt etwas Besonderes für mich. Eine Eigenschaft, die eine typische Gewohnheit der Deutschen beschreibt: das Vergnügen, ein Gerät für
(fast) alles zu besitzen. Und sie zeigen gern, dass sie es haben. Zugleich
sind es nicht normale Gegenstände. Zum Beispiel, der Hit für Weicheierfans: der Eierschalensollbruchstellenverursacher. Als Gerät, praktisch. Als
Nomen, ein Alptraum für Deutschlernende. Aber was macht eine senkrechte
Stange aus Stahl mit einer in der Mitte sich bewegenden Kugel? Ganz einfach ist das Prinzip: die Kappe auf das Ei setzen, die Schlagkugel herunterfallen lassen. So erhält die Schale eine ringförmige Bruchstelle, an der sich
der Eierkopf mit einem Messer abheben lässt. Oder doch besser Frühstück
ohne Ei?
Auch Kleinigkeiten können gleichzeitig praktisch und total kompliziert
(wieder wegen des Nomens) sein. Wie wäre das Leben eines Deutschen
ohne die Wachsklebeplättchen? Noch einmal wäre für einen Ausländer –
wie mich – die Frage „Was ist das eigentlich?“ oder „Wozu braucht man
das?“ sehr elementar. Wer zu Hause gern Kerzen anzündet, weiß warum.
Aber es war schwierig zu verstehen, dass es solche Dinge gibt und sie gekauft werden.
Weil ich schon im Bereich der großen Wörter bin, darf ich etwas Lebenswichtiges für die Modernität nicht vergessen: die Wechsellichtsignalanlage oder für die Nicht-Präzisionsfanatiker, die Ampel. Man braucht nicht
viel zu recherchieren, um ein 15-Buchstaben-Wort aus einem Text zu nehmen. „Das ist typisch“, würde jemand sagen, der die Sprache noch nicht
beherrscht, aber eine Idee hat. Zusammen mit Kartoffeln, Bier, Wurst und
Lederhose, gehören auch die zeilenlangen Wörter zu den deutschen Stereotypen.
Letztendlich verstehe ich, dass solche echten typischen Eigenschaften
die Kultur reich machen. Zum Beispiel, auf einer Wiese stehen Vater und
Kinder. Neugierig fragt der Kleine: „Papa, was für ein Tier ist das?“ Stolz
auf die Frage, antwortete er: „Mein Sohn, das ist eine Milch produzierende
Großvieheinheit“. Er meinte eine Kuh, aber das wäre ihm zu einfach...
251
Rodrigo Rodembusch
Nordrhein-Westfalen
6. Auf den Spuren der Nibelungen
Was haben die Städte Xanten, Königswinter und Worms gemeinsam, außer, dass sie in Deutschland liegen? Kurz nachdem ich angefangen habe den
Bericht zu schreiben, habe ich entdeckt, dass ich Städte besuchte, die zu den
Nibelungen oder zum Nibelungenlied einen Bezug haben oder einen Anspruch darauf erheben. Sie sind die so genannten Nibelungenstädte.
Meine erste Erfahrung (in Deutschland) mit dem Epos passierte, als ich
die Stadt Worms besuchte. Das Ziel in der Stadt war eigentlich den Dom St.
Peter und den Heiligen Sand (jüdischer Friedhof) zu besichtigen. Aber was
für eine Überraschung erlebte ich, als ich das Nibelungen Museum sah. Das
Haus des anonymen Dichters liegt, wo früher die Stadtmauer war. Dort kann
man (mit der Hilfe von Kopfhörern) das ganze mittelalterliche Heldenepos
verfolgen und endlich wissen wer Siegfried, Brunhild, Hagen und Kriemhild
waren. Und nicht nur das. Dort habe ich auch gelernt, die Verbindung zwischen Richard Wagner, seiner Oper „Ring der Nibelungen“ und der Legende. Aber eine Frage blieb: War Siegfried der erste deutsche Frauenheld?
Die zweite Erfahrung war nicht so weit von zu Hause (ich wohnte in Bonn),
aber trotzdem ermüdend. Drachenfels in Königswinter, eine Stadt, die ganz
in der Mitte vom Siebengebirge liegt. Fünfundvierzig Minuten einen Berg
hoch. Und wofür? Nur für ein paar Ruinen, würde man fragen. Aber für
mich war es erstaunlich. Nein, nicht die Landschaft. Aber die Feststellung,
dass ich am Ende (ich meine, 321m hoch) keine Puste mehr hatte. Die zweite
Feststellung war auch merkwürdig – und danach logisch – Es gab einen Zug,
der durch die ganze Strecke fährt. Allerdings ist er etwas Besonderes: Er gehört zum ältesten Eisenbahnnetz Deutschlands in einem Gebirge (1883).
Die Ruinen, die sich dort befinden, sind von der Drachenburg, die im
12. Jahrhundert gebaut wurde. Auch wichtig ist die Geschichte des Platzes.
Laut des Nibelungenliedes wohnte dort der Drachen, der von Siegfried getötet wurde. Im Blut des Ungeheuers hat der Held gebadet, um unverwundbar zu werden. Eine Stelle seines Rückens blieb aber verwundbar, weil ein
Lindenblatt (war es Herbst?) diese beim Bad bedeckte. Wie Achilles, hatte
Siegfried eine Schwäche. Und dadurch starb er.
Am Ende meiner Sage habe ich Xanten (absichtlich) besucht. Sie war
nicht in meinen Plänen, aber weil ich eine gute Idee von den Nibelungen bekam, wusste ich, dass Xanten die Residenz von König Siegmund, Siegfrieds
Vater, war. Und noch etwas: die Stadt ist die einzige in Deutschland, deren
Name mit X anfängt. Dort habe ich den Dom St. Viktor besichtigt und den
Marienaltar von Henrik Douvermann.
Eine tolle Geschichte, die man durch die Städte über Ehre, Treue, Gewaltbereitschaft und Reichturm lernen kann.
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Nordrhein-Westfalen
Rodrigo Rodembusch
7. Drei große Ereignisse in Deutschland
Das zweite Semester 2005 in Deutschland war nicht nur für mich, sondern
auch für die Bevölkerung etwas Besonderes. Zwischen dem 11. und 21. August wurden Köln und Bonn von tausenden Katholiken überflutet. Achtundzwanzig Tage später gab es Wahlen und der Oktober war der schönste Monat
des Jahres überhaupt.
Der XX. Weltjugendtag
Ich brauchte nicht in den Vatikan zu fahren, um den (deutschen) Papst zu
sehen. Er war in seinem Heimatland zu Besuch. Und nicht nur das. Benedikt
XVI. war in Köln und in Bonn, wo ich wohnte.
Das Motto des Weltjugendtages stammte aus dem Matthäusevangelium
und hieß: „Wir sind gekommen, um IHN anzubeten“. Und es war eine gewaltige Menge angekommen. Der Papst hat die Jugend der Welt zum diesem
Ereignis nach Deutschland eingeladen und sie haben die Einladung angenommen. Oder mindestens fast alle. Darüber hinaus lügt die Statistik nicht:
410.000 Pilger, die sich registriert haben und 23.000 Freiwillige aus 188
Nationen. Davon gab es 105.000 Deutsche (23,7% Prozent). Bei der Willkommensfeier am 18. August gab es 500.000 Leute in Köln. Obwohl ich in
Bonn lebte, konnte ich sogar das Feuerwerk von meinem Wohnzimmerfenster sehen.
Mit der Zeit kamen mehr und mehr Katholiken und Neugierige. In der Vigilfeier am 20. August waren es dann 800.000 Leute. Und zum Schluss haben 1,1 Millionen auf dem Marienfeld mit dem Papst eine Messe gefeiert.
Den Abend vorher bin ich nach Köln gefahren, um die Atmosphäre zu
fühlen. Was ich gesehen habe waren Soldaten auf der Straße, überfüllte Geschäfte, Plätze, Restaurants und Züge. Schon in Richtung zum Marienfeld
(eine Wiese von 270 Hektar, wo sie übernachtet haben) habe ich gedacht,
dass ich zum Woodstock ginge. Diesmal gab es Katholiken statt Hippies,
Liturgie statt Rock’n’Roll und Gebet statt Protest. Während aller Veranstaltungen wurden 400.000 Kerzen angezündet und 2,8 Millionen Hostien für
Liturgien insgesamt verteilt.
Noch zwei Monate nach dem Weltjugendtag konnte ich Leute auf der Straße sehen, die den typischen blauen Rucksack trugen. Dennoch blieb nicht
nur das. Was auch geblieben ist, war die Enttäuschung für die, die vom Ausland kamen und nichts Konkretes vom Heiligen Vater gehört haben.
Die Wahl
„Es ist ein Mädchen“, berichtete die Tageszeitung am 11.10.2005. Wie
ich beobachtet habe, wurde das Kind lange erwartet. Einige dachten es sei
ein Junge. Enttäuschung. Aber wer ist laut der Zeitung geboren? Der neue
Kanzler (in diesem Fall, die neue Kanzlerin).
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Rodrigo Rodembusch
Nordrhein-Westfalen
Angela Merkel (CDU) ist die erste Kanzlerin in der Geschichte Deutschlands. Als Chefin einer großer Koalition. Der Preis für das Amt: Im Kabinett
Merkel gehen ein Paar Ministerien an die SPD. Ein anderer Artikel der TAZ
(am gleichen Tag) kommentierte, dass es zwei Nachrichten gab – eine gute
und eine schlechte. Die gute zuerst: Das Ergebnis der Wahl zeigt, dass die
Demokratie funktioniert. Aber, (und jetzt kommt die schlechte Nachricht),
wer hat nun die Wahl vom 18. September gewonnen? Und das war eine gute
Frage. Als Outsider habe ich nicht ganz verstanden wie Politik in Deutschland läuft. Meiner Meinung nach haben die beiden – Gerhard Schröder und
Angela Merkel – die Wahl verloren. Trotzdem haben die Kandidaten sich
deutlich geäußert als ob sie gewonnen hätten.
Laut Statistik interessieren sich 77% der Deutschen für Politik. Diese Bemerkung wurde klar auf der Straße. Alle sprachen darüber. Und wegen der
Koalitionsbildung konnten alle über Farben sprechen: Ampelkoalition (SPD
+ FDP + Grüne), Jamaikakoalition (CDU + FDP + Grüne), Rot + Grün
(SPD + Grünen), Schwarz + Gelb (CDU + FDP) und Rot + Rot + Grün
(SPD + neue Linke + Grünen). Alle Muster waren möglich.
Als Geschehen ist die Wahl in Deutschland ein interessanter Prozess. Zuerst, weil wählen zu gehen keine Pflicht für das Volk ist (im Gegensatz zu
Brasilien). Zweitens, weil sich die Koalitionen nach der Wahl zusammenfinden (in der brasilianischen Version müssen die Parteien vorher darüber
diskutieren).
Ein solches Thema, wie die Verpflichtung wählen zu gehen, gehört zu einer Gruppe von Themen in Brasilien, die ein Tabu sind (wie Sterbehilfe, Abtreibung und Nationalmannschaft). Aber in Deutschland fühlt man anders.
Obwohl es freiwillig ist, haben mehr als die Hälfte abgestimmt. Ich fürchte,
dass wenn die Brasilianer die gleiche Bedingung hätten, würden sie nicht
teilnehmen.
Der Herbst
Wichtiges Thema. Ohne schlechtes Wetter wäre das Leben zu langweilig
(die Deutschen hätten gar nichts darüber zu jammern). Und der Herbst 2005
war die größte Ausnahme aller Zeiten.
Diese Jahreszeit hat sich ganz überwiegend von ihrer freundlichen Seite in Deutschland gezeigt. Einige Zeitungen berichteten über den schönsten
Oktober seitdem man das Wetter im Land aufzeichnet. Sonne pur und Temperaturen, die an Juni erinnerten. Für einen Brasilianer, der schon Herbst
kennt, war diese Erfahrung aber unbeschreiblich.
Ich habe auch gelernt, wonach sich der Herbst richtet, was man während
dieser Zeit isst und trinkt. Verschiedene Sinne, die erweckt wurden.
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Nordrhein-Westfalen
Rodrigo Rodembusch
8. Deutschland: Ein Paradies für Nüchterne?
Was soll man denken, wenn Bier in einem Bundesland Deutschlands (in
Bayern) als Lebensmittel bezeichnet wird? Dass dort nur dieses Getränk
hergestellt wird? Oder dass Bier die einzige trinkbare Flüssigkeit ist? Nein,
die logische Antwort ist, dass die Deutschen insgesamt viel Wert auf Bier legen. Eine Frage des Stolzes und der Geschichte.
Als ich in Bonn ankam, war ich unruhig. Ich dachte, dass ich als ein Außerirdischer gesehen würde, weil ich gar kein Bier trinke. Eine andere Sorge: wie beleidigt wäre ein Deutscher, wenn ich einfach Nein sagte für das
Angebot von hausgemachtem Bier? Oder wie groß wäre das Lebensrisiko,
wenn ich in Düsseldorf ein Kölsch bestellte und in Köln ein Alt-Bier? Das
Thema war so komplex, dass ich lieber (und klugerweise) bei Orangensaft
blieb.
Die Rivalität zwischen Kölsch und „einem Getränk, das etwas weiter nördlich produziert wird, aber in Köln so schwer zu bekommen ist“, ist eigentlich
eine heilige Tradition. Das richtige Bier zu bestellen würde zu den ersten
Kapiteln eines Buches gehören, darüber, wie man in Deutschland überlebt.
Noch einmal, lieber mein Orangensaft...
Aber was kann man in Deutschland machen außer Alkohol trinken? Die
Frage sieht logisch aus, aber für manche Leute ist die Verbindung zwischen
Bier und dem Land direkt. So deutlich, dass Deutschland ein Paradies für
Bierliebhaber ist.
Meine persönliche Aufgabe war die folgende: ich wollte für mich persönlich prüfen, ob es auch ein Paradies gibt, aber für Nüchterne. Gäbe es etwas
so traditionelles wie das Bier, allerdings im Bereich des Essens? Die Antwort
ist Ja. Ich habe selber erfahren, dass jede Region etwas anzubieten hat.
Printen
Ich weiß nicht, ob es in der Gegend der Eifel ein bestimmtes Bier gibt,
aber ich weiß, dass es Printen gibt! Diese Art Lebkuchen, die ihren Ursprung
in Aachen haben, gehört zu einem typischen Gebäck Deutschlands und ich
habe es in Monschau probiert.
Das Rezept besteht aus (ungefähr) einer Mischung von Mehl, Eiern,
Milch, Wasser, Zimt, Anis, Nelke, Kardamom und Koriander. Traditionell
ist auch die Form der Printen. In einer Bäckerei habe ich erfahren, dass während der Anfangszeit (der Herstellung) häufig religiöse Motive verwendet
wurden. Im Laufe der Zeit, gab es Soldatenmotive. Heutzutage findet man
verschiedene Formen. In der Naturform als Kräuterprinte, mit Schokoladenüberzug, mit Nüssen oder Mandeln, mit Marzipan oder Zuckerglasur.
Leider passt Bier nicht dazu (nach meinem Geschmack). Aber eine gute
Tasse Kaffee – sogar aus meinem Land, wird dort verkauft.
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Rodrigo Rodembusch
Nordrhein-Westfalen
Schneeball
Eine Kugel aus Schnee? Nein, Schneeballen sind darüber hinaus eine Gebäckspezialität aus der Gegend um Rothenburg ob der Tauber und Dinkelsbühl. Es handelt sich um einen Fladen aus einer Art Teig, der wie ein Ball
aussieht und in heißem Öl ausgebacken wird. Und das habe ich auch probiert.
Die Reise durch das liebliche Taubertal auf der romantischen Straße
zeigte, außer den mittelalterlichen Städten, eine sehr reiche Küche. In Dinkelsbühl, wo ich auch war, gab es auch den Schneeball. Und fast alle Bäcker stapeln diese Bälle wie eine Pyramide auf. Unwiderstehlich. Aber gefährlich. Wenn man einen davon jeden Tag isst, wird man sicherlich selber
einer werden...
Klöße
Die erste Erklärung über Klöße: Es ist ein Wintergericht. Na gut, aber
wenn ich sie im Sommer essen wollte. Gäbe es sie? Wahrscheinlich nicht.
Dieselbe Frage hatte ich über Kohle: Wenn ich im Winter grillen wollte, fände ich irgendwo Kohle? Zuerst würden die Deutschen mich fragen, ob es
mir gut geht oder ob ich geisteskrank bin. Danach würden sie sagen, dass sie
auf keinen Fall Kohle hätten, weil es schon Winter wäre.
Am Anfang fand ich das „viel zu deutsch“. Aber später habe ich genau
verstanden, dass man versucht, alles zu seiner Zeit zu genießen. Und dass
Gans und Glühwein im Sommer oder Grillen im Winter keinen Sinn machen. Es ist immer besser zu warten. Und auf die Klöße habe ich 3 Monate
gewartet. Logischerweise würde ich sie nie im Juli, August oder September
bekommen. Also musste ich warten. Aber es hat sich gelohnt.
Die aus Kartoffeln gemachten Bällchen schmecken sehr gut. An dem
Abend, an dem ich sie zum ersten Mal aß, habe ich dann auch verstanden,
warum die Leute es so machen: Man genießt nicht nur das Essen, sondern
auch die Atmosphäre.
Auf die Probe gestellt
„Wenn du in Rom bist, tue, was die Römer tun“, sagt ein altes Sprichwort
auf Portugiesisch. Auf Deutsch heißt es: „Andere Länder, andere Sitten“.
Und mit diesem Gedanken habe ich 2 Feste besucht. Und entdeckt, dass
obwohl sie beziehungsweise mit Wein und Bier verbunden waren, konnte
ich wirklich die Zeit genießen. Ja, Deutschland kann auch ein Paradies für
Nüchterne sein.
Weinfest in Unkel – Tausende Gäste feierten am 05.09.2005 in der Rotweinstadt. Die Studenten des Goethe-Instituts wurden von der Weinkönigin
Burgundia I. herzlich eingeladen. Das Wetter war herrlich und die Reise bis
Unkel (die normalerweise knapp 1 Stunde dauert) dauerte fast 2 Stunden.
Unser Schiff war sehr langsam.
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Rodrigo Rodembusch
In der Stadt wurden wir vom Bürgermeister begrüßt. Ich denke, dass die
Einwohner nie so viele Leute an einem Tag gesehen haben. Selbst ich hatte
noch nie so viele gesehen. Als die Weinkönigin ankam, begann ein Festzug.
Kinder als Bienen, Kinder als Trauben, Kinder als Vogelscheuchen, Kinder
als alles Mögliche. Arme Kinder dachte ich. Aber die Eltern waren sehr zufrieden und stolz auf ihren Bienchen, Träubchen und Vogelscheuchen.
Burgundia I. bot mir Wein an aus ihrem Becher, aber ich habe höflich abgelehnt. Vielleicht beim nächsten Mal.
Heidelberger Herbst
Der 36. Heidelberger Herbst am 24. September 2005 verwandelte die gesamte Fußgängerzone Heidelbergs in einen riesigen Festplatz. Um 11 Uhr
wurden die Leute von der Oberbürgermeisterin Beate Weber gemeinsam
mit Gästen aus Frankreich, der Weinkönigin Larissa Winter und dem Zwerg
Perkeo begrüßt.
Also, alle Straßen, Wege und Gassen waren voll. Von Touristen und von
Zelten, in denen man Kunsthandwerk, regionale Spezialitäten, Bücher, usw.
kaufen konnten. Nicht zu vergessen: man konnte auch etwas trinken. Und
viel. In jedem dritten Zelt verkaufte man das typische Bier.
9. Was gibt’s in Weimar?
Das ist eine gute Frage. Und darauf habe ich zwischen dem 26. Oktober
und dem 1. November wunderbare Antworten bekommen. Und noch ein Bonus: seit langer Zeit gab es nicht so schönes Wetter in Thüringen.
Obwohl wir (die Stipendiaten) während dieser Reise viel unterwegs waren
und ein komplettes Programm von morgens bis spät abends hatten, wussten wir, dass die Highlights Goethe und Schiller wären. Und mindestens für
mich entsprach das meiner Erwartung.
Gingko-Fan
Johann Wolfgang von Goethe war 1,74 m groß (laut Stiftung Weimarer
Klassik). Er ist als Dichter, Naturwissenschaftler, Kunsttheoretiker und
Staatsmann der bekannteste Vertreter der Weimarer Klassik. Als Verfasser
von Gedichten, Dramen und Prosa-Werken gilt Goethe als der größte deutsche Dichter und ist eine wichtige Persönlichkeit der Weltliteratur.
Eindrücke, die ich hatte, als ich das Goethe-Wohnhaus besichtigte: seine
Frau Christiane hatte ein beschränktes Leben.
Was mich auch beeindruckt hat, war das Schicksal von Goethes Familie.
1816 starb Christiane. Goethe überlebte sie um sechzehn Jahre. Und im Jahr
1885, nach dem Tod des letzten Enkels und Erben Goethes, wurde das Haus
am Frauenplan zum Nationalmuseum erklärt. Salve.
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Rodrigo Rodembusch
Nordrhein-Westfalen
Ode „An die Freude“
Johann Christoph Friedrich Schiller (seit 1802 von Schiller) war 1,80 m
groß (datiert aus der Zeit seines Studiums an der Hohen Karlsschule, wo die
Schüler regelmäßig gewogen und gemessen wurden). Nach dieser Recherche habe ich auch entdeckt, dass es Historiker gibt, die die Größe Schillers
bis 1,90 m beschreiben.
Im Vergleich mit dem berühmten Freund hatte Schiller ein „normales“
Leben. Sein Haus war bescheidener als das Goethes. Sein Bett war sogar
kürzer als seines guten Freundes. Aber was ich besonders finde ist, dass
1785, als er erst 26 Jahre alt war, Schiller eines der bedeutendsten Gedichte
seines Lebens schrieb: Die Ode „An die Freude“ die dem letzten Satz der
9. Symphonie von Ludwig van Beethoven zugrunde liegt. Der bekannteste
Sohn Bonns verwendete die komplette 1. und 3. Strophe, sowie einige Teile
der 2. und 4. Strophe. Durch Lesen (und voll von Neugier) habe ich erfahren, dass obwohl die Absicht der Vertonung von Schillers Hymne fast das
ganze Leben Beethovens begleitete, es nicht immer klar war, ob wirklich ein
Chor das Werk abschließen sollte. Die Entscheidung dafür fiel erst gegen
Ende des Jahres 1823.
Seit 1985 ist die 9. Symphonie die offizielle Hymne der Europäischen
Union. Komposition und Text von 2 guten Freunden. Ein echter deutscher
Stolz.
Bemerkung 1: Obwohl Schiller deutlich größer als Goethe war, baute
Ernst Rietschel auf dem Theaterplatz in Weimar im Jahr 1857 ein Denkmal
mit beiden, in dem Goethe größer als Schiller ist. Auf dem Goethe-Schiller-Denkmal stehen sie Schulter an Schulter. Geänderte Proportionen. Nicht
ganz fair…
Bemerkung 2: Nach der Reise nach Weimar haben Marlene Dietrich und
ich etwas gemeinsam – wir haben in der Bar des Hotel „Elephant“ Cocktail
getrunken...
10. Was gibt’s in Eisenach?
Tausende Touristen, wäre die logische Antwort. Aber warum sind sie da?
Wegen der Wartburg. Meiner Meinung nach wäre die Reise nicht so perfekt,
wenn wir nicht dorthin gefahren wären. Deshalb habe ich mich entschieden
ein kleines Kapitel darüber zu schreiben.
Die Wartburg hat alle Verantwortung für die Probleme, die Ausländer mit
der deutschen Sprache haben. Dort ist irgendwie diese Fremdsprache, die
alle Deutschen benutzen, um untereinander zu kommunizieren, geboren.
Wer ist schuldig? Martin Luther. Und wie? Er hat in nur zehn Wochen das
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Rodrigo Rodembusch
Neue Testament unter Zugrundelegung des griechischen Urtextes ins Deutsche übersetzt. Ein Wunder. Unfassbar. Er war begabt. Ich persönlich brauche zehn Wochen, um eine Übung über Präpositionen fertig zu machen (und
ohne Garantie, dass sie richtig ist).
So erlebte ich eine schöne Woche. Ich habe viel von dem Mann, der die
Sprache verbreitete und von dem Mann, der sie wunderbar benutzte, gelernt. Dazu muss ich gestehen, dass Deutsch eine musikalische Sprache ist
– manchmal verstimmt, wenn man Dativ statt Genitiv benutzt, aber trotzdem noch schön.
11. Die echte Bedeutung von „Abschied nehmen“
Dieses Kapitel beschäftigt sich mit einem wichtigen Thema (mindestens
für einen Brasilianer): Gefühle. Meine erste Idee über ein Stipendium in
Deutschland beinhaltete die folgenden Verben: lernen, verreisen, besichtigen und arbeiten. Aber „fühlen“ war nicht dabei.
Die Gelegenheit in Deutschland als Stipendiat der Heinz-Kühn-Stiftung
zu leben hat mir erlaubt, mich besser kennen zu lernen. Obwohl ich schon
mehr als ein Jahr im Ausland gewohnt hatte, war das zweite Semester 2005
etwas Besonderes. Der Sprachkurs im Goethe-Institut Bonn (eigentlich liegt
es in Bad Godesberg, einem Viertel, das im Jahr 1969 zur Stadt integriert
wurde) zwischen Juli und Oktober hat mir gezeigt, dass man sich von anderen Leuten verabschieden muss und sogar für immer.
Jeden Monat habe ich mich mit neuen Kollegen angefreundet und zu ihnen ein gutes Verhältnis aufgebaut. Nach vier Wochen musste diese Verbindung abgebrochen werden: jeder ist zurück nach Hause geflogen oder
gefahren. Echte Menschen, die mir geholfen haben, das Leben und die verschiedenen Kulturen besser zu verstehen, waren plötzlich nicht mehr da.
Leute, die unsicher und unselbständig sind, würden sich nie in ihrem Leben solche Gefühle erlauben. Sie bringen manchmal Angst und Traurigkeit.
Aber sie machen uns stärker und gleichzeitig zu sensibleren Menschen.
Deswegen bedanke ich mich sehr bei Koji, Rania, Húmu, Yulia und Laura
für die Möglichkeit, die sie mir gegeben haben, mich selbst besser kennen
gelernt zu haben.
Das Goethe-Institut ist, meiner Meinung nach, ein großes Labor, in dem
man verschiedene Arten von Kontakten zwischen Menschen ausprobiert.
Und ich habe es versucht. Montenegro, Ukraine, Georgien, Serbien, Jordanien, Tunesien, Ghana sind Länder, die jetzt eine Bedeutung für mich haben.
Und nur dank meiner Kollegen. Bei ihnen habe ich auch gelernt zu respektieren und respektiert zu werden.
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Rodrigo Rodembusch
Nordrhein-Westfalen
Als ich mich für ein persönliches Kapitel zu schreiben entschieden habe,
wollte ich damit ein bisschen über meine Selbsterfahrungen, die durch die
Stiftung ermöglicht wurden beschreiben.
Während meines Aufenthaltes in Bonn konnte ich deutlich beobachten,
wie tolerant ich zu anderen Meinungen war, wie gut ich meine Zeit verbringen konnte, welche Bedeutung „im Ausland zu wohnen“ hatte und wie geduldig und verständnisvoll ich war.
Alle diese (positiven und negativen) Ergebnisse waren wichtige Elemente
der Bildung meiner Persönlichkeit und meines Selbstbewusstseins.
Schließlich (das Wort passt wunderbar zu diesem Kapitel), habe ich gelernt, dass das Leben weitergehen muss.
12. Die Deutsche Welle
Kopfschmerzen können viele verschiedene Formen und Ursachen haben.
Meistens liegt keine ernsthafte Erkrankung vor. Fast jeder Mensch leidet im
Laufe seines Lebens an Kopfschmerzen. Allein in Deutschland werden nach
der „Stiftung Kopfschmerz“ 85% der Schmerzmittel aufgrund der Pein im
Schädel eingenommen. Die Ärzte sagen, dass sie harmlos sind, wenn sie selten und erträglich sind.
Für die Beschreibung des Schmerzes gibt es viele Wörter, zum Beispiel:
dumpf, drückend, stechend, pulsierend oder bohrend. Manchmal wird er von
Übelkeit oder irgendeiner Störung begleitet. Was die Forscher nicht wussten, war, dass die Kopfschmerzen das Ergebnis vom ersten Tag in der Deutschen Welle sein können.
Alles war für mich neu. Gebäude, Orientierung, Kollegen, Kantine, Computersystem, die Maschine, in die man Geld steckt, um essen zu dürfen, usw.
Aber trotzdem war ich in der Deutschen Welle! „Aus der Mitte Europas“.
Die Aufgaben als Praktikant waren nicht so leicht, wie man denkt. Am
ersten Tag konnte man schon in der Homepage einen Artikel von mir lesen.
Langsam habe ich mich an diesen neuen Alltag gewöhnt.
Obwohl diese Medien (online Redaktion) ganz anders waren als das, was
ich bisher gearbeitet hatte, habe ich schnell gelernt wie es funktioniert. Die
Themen mit denen ich mich beschäftigt habe waren sehr unterschiedlich:
von Vogelgrippe bis deutsche Juden in Südafrika.
Mein Lieblingsthema war eigentlich die Reiseempfehlung, die den Touristen hilft oder eine Idee über eine bestimmte Stadt gibt. Für diesen Bereich habe ich nicht nur Texte geschrieben, sondern auch die Fotos, die ich
gemacht habe, benutzt. Potsdam, Monschau, Speyer, Dinkelsbühl, Kevelaer
und Bonn sind verfügbar zum Lesen.
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Rodrigo Rodembusch
Schließlich, ich gestehe, dass ich mehr gelernt habe, als ich dachte. Das
Praktikum war sehr wichtig für meine allgemeine Ausbildung und auch für
meinen Beruf.
13. Statistik
Nach sechs Monaten in Deutschland kann ich ein paar Zahlen präsentieren. Insgesamt habe ich viele Kirchen, Museen und Schlösser besichtigt. Aber wieviele genau? Als kleines Geschenk und als Erinnerung für die
Deutschen, habe ich eine statistische Projektion gemacht.
59 religiöse Gebäude wurden besichtigt (zu dieser Kategorie gehören Kirchen, Kapellen, Tempel, Synagogen, Dome, Münster, Basiliken und
Kathedralen).
19 Museen wurden besichtigt.
37 Schlösser wurden besichtigt (zu dieser Kategorie gehören auch Burgen
und Ruinen – und es waren viele).
34 Rathäuser wurden besichtigt.
29 Bahnhöfe wurden betreten.
4.189 Bilder wurden gemacht.
14. Nie ist es zu spät, um Danke zu sagen
Während meines Aufenthaltes in Deutschland habe ich bestätigt gefunden, was ich vorher schon dachte: man braucht nicht viel im Leben, um sich
glücklich zu fühlen. Obwohl diese Reise ein großes Ereignis war, kleine Erfahrungen machten mich schon zufrieden und dankbar. Und einige Leute
haben nicht nur das ermöglicht, sondern auch mitgemacht.
Ich bedanke mich sehr bei:
* Heinz Kilian, meinem Alemannischlehrer;
* Susanne Koeffers, Marina Zucca und Udo Steves, meine Deutschlehrer
vom Goethe-Institut Bonn;
* Leonardo Benemann, für die Unterstützung und das Verständnis auf der
anderen Seite des Ozeans;
* Der brasilianischen Online Redaktion der Deutsche Welle;
* Allen Deutschen, die mich nicht kennen oder die keine Ahnung haben
wer ich bin, aber die mir trotzdem geholfen haben, das Volk zu verstehen und zu bewundern;
261
Rodrigo Rodembusch
Nordrhein-Westfalen
* und letztendlich, Ute Maria Kilian, deren Freundschaft die hoch geschätzte Sache ist, die ich in meinen Koffer eingepackt und aus Deutschland mitgenommen habe.
Assim não dá!
262
Oliver Schilling
aus Deutschland
Stipendien-Aufenthalt in
Kambodscha
vom 12. März bis 23. April 2006
263
Kambodscha
Oliver Schilling
Der Kampf um Grund und Boden:
Landkonflikte und Landverteilung in Kambodscha
Von Oliver Schilling
Kambodscha, vom 12. März bis 23. April 2006
265
Kambodscha
Oliver Schilling
Inhalt
1. Zur Person
268
2. Guten Tag, Phnom Penh
268
3. Schaffe-schaffe, Häusle-baue
269
4. Ein weites Feld
270
5. Ein sympathischer Optimist
272
6. „Feudale Strukturen“
273
7. Die Odyssee der „46 families“
274
8. Little China
277
9. Kreative Parteienfinanzierung
278
10. Land for Sale
280
11. Die Grenzen sind fließend: Golfplatz statt Dorfgemeinschaft
282
12. Lichtblick LMAP?
286
13. Titel, Thesen, Temperamente
287
14. Die 800 Hektar der Exzellenz You Ay
289
15. Audienz bei der Frau Staatssekretärin
292
16. Good-bye Kambodscha
294
17. Danksagung
294
267
Oliver Schilling
Kambodscha
1. Zur Person
Jahrgang 1974. Studium der Politik- und Literaturwissenschaft in Bonn,
Oxford und Brüssel. Journalistische Praktika und freie Mitarbeit bei taz, SZ,
Berliner Zeitung, DPA, ZDF und DIE ZEIT. Erste Berufserfahrung bei einer Politik- und PR-Beratungsfirma in Brüssel sowie als wissenschaftlicher
Mitarbeiter im Europäischen Parlament. Anschließend Volontariat bei der
Deutschen Welle. Seitdem Reporter, Moderator und Redakteur für DW-Radio, DW-World, DW-TV und Deutschlandfunk. Journalistische Arbeitserfahrung im außereuropäischen Ausland vor Stipendienantritt u.a. in Tel Aviv
(mit IJP), Tokio und La Paz.
2. Guten Tag, Phnom Penh
Phnom Penh ist heiß. Der März und April gehören zu den wärmsten
Monaten des Jahres. In Deutschland hatte es vor meiner Abreise noch geschneit, minus acht Grad in Berlin. Mit zweifacher Wollpullover-Schicht
sitze ich im Flieger. Die Kleidung leistet gute Dienste im Kampf gegen die
viel zu kühle Luft aus der Klimaanlage an Bord. Nach 14 Stunden Ausstieg in Phnom Penh. Die stickig-feuchte Luft erinnert an die klimatischen
Verhältnisse des Gewächshauses im botanischen Garten in Bonn. In den
kommenden Wochen werde ich kein einziges Mal einen Pullover anziehen.
Tagsüber wird mir der Schweiß auch im Schatten über die Schläfen rinnen.
Nachts werde ich mich über die angenehm kühle Luft aus dem lauten Kühlaggregat freuen.
Ob es Mangobäume in dem Land gäbe, aus dem ich komme, fragt mich
der Chauffeur, der mich vom Flughafen abholt. Diese Frage wird mir später bei einer Recherchereise noch ein zweites Mal gestellt. Der Bestand an
Mangobäumen ist offensichtlich ein gängiger Referenzpunkt im geographischen Verortungssystem der Khmer. „Nein“, sage ich. „Dafür aber Apfelbäume“, was für das kambodschanische Gemüt scheinbar ähnlich exotisch anmutet, wie die Vorstellung von Mangobäumen für das deutsche. Der
Fahrer schweigt bis zur Ankunft im Gästehaus.
In Phnom Penh hat sich viel getan, seitdem ich zuletzt vor einem Jahr hier
war. Neue Cafés und Restaurants an vielen Ecken. Im teuren Lucky’s Supermarkt gibt es jetzt französischen Camembert in der Frischtheke. Sogar die
raubkopierten DVDs, die es mittlerweile nicht nur auf dem ‚Russian Market’
zu kaufen gibt, funktionieren weitgehend fehlerfrei. Entwicklung und Wohlstand werden immer greifbarer, gleichzeitig klafft die Lücke zwischen arm
und reich immer weiter auseinander.
268
Kambodscha
Oliver Schilling
Ich wohne in einem Gästehaus unweit des Independence-Monuments,
mitten in der Stadt, 15 Gehminuten vom Ufer des Tonle Sap entfernt. Der
Verkehr auf dem Norodom Boulevard macht geradezu schwindelig. Ein
Schwarm voller Mopeds in der brütenden schwülen Hitze. Ich meine, mich
zu erinnern, dass in Kambodscha auf der rechten Straßenseite gefahren
wird. Hier am Norodom Boulevard kommen mir Zweifel. Von allen Seiten
und auf allen Fahrbahnen schwirren die zweirädrigen Flitzer vorbei. Einzig
der Gehweg ist sicher. Es dauert ziemlich genau acht Minuten, in denen ich
das Treiben studieren darf, bis eine Lücke im Verkehrsfluss das Überqueren
der Straße gestattet. Am Nachmittag ist der Verkehr noch dichter. Ein Moped-Taxi hilft mir beim Überqueren des wilden Verkehrsflusses hinüber auf
das andere Straßenufer. Mit einem frischen Limonensaft lasse ich den ersten
Tag ausklingen. Um halb sieben ist es bereits stockdunkel – egal zu welcher
Jahreszeit. In Kambodscha lebt man nicht für den Abend, sondern für den
Morgen. Früh aufstehen ist die Devise, bevor gegen 12 bis 13 Uhr mittags
Temperaturen von 35 Grad im Schatten – teilweise auch darüber – den Menschen eine Mittagspause bis ca. 14 oder 15 Uhr verordnen. An diese Verhältnisse gilt es sich, trotz Jetlag, schnell anzupassen. Letztendlich auch, weil
für die Recherchen nichts anderes übrig bleibt: Gerade morgens zwischen
acht und neun Uhr sind Ansprechpartner am besten zu erreichen.
3. Schaffe-schaffe, Häusle-baue
Zu dem Boom in Kambodscha mit seinem jährlichen Wirtschaftswachstum von knapp 8 Prozent Höhe gehört auch, dass überall gehämmert, gezimmert und gemeißelt wird. Man mag fast glauben, die Millionenstadt am
Zusammenfluss von Mekong und Tonle Sap sei eine einzige Baustelle. Dass
es einmal anders war oder sein wird, ist nur schwer vorstellbar. Und vielleicht ist dieser Eindruck umso beständiger, als sich das Leben vieler Khmer
ebenfalls als eine Art Baustelle, als „work in progress“ begreifen lässt. So
hat es jedenfalls einmal ein guter kambodschanischer Freund ausgedrückt.
Daran erinnere ich mich ab und an in Kambodscha und weiß nun ein wenig,
was er damit meinte: Getrieben von der nicht allzu schwierig herleitbaren
Erkenntnis, dass man ohne Eigeninitiative buchstäblich in der Straßengosse landet, schuften die Khmer teilweise Tag und Nacht – dass sie dabei noch
genug Kraft zum ausgiebigen Feiern, etwa an den zahlreichen Feiertagen,
haben, ist meinem Respekt diesem Volk gegenüber durchaus zuträglich. Die
fast schon einfallsloseste Art des Hinzuverdienens ist das Motorradtaxifahren nach Feierabend. Etwas raffinierter ist es dagegen, eine eigene Telefonzelle aufzumachen und sich zur richtigen Zeit an einer günstigen Stelle
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Oliver Schilling
Kambodscha
zu positionieren. Das funktioniert so: Man baut sich einen zur einen Seite
offenen Verschlag aus verkratztem, leicht durchsichtigem dunklen Plastik;
der Form nach entspricht es einer Art Wahlkabine, wie man sie in Deutschland kennt. Unter dem Verschlag befinden sich Rollen. Diese mobile Telefonzelle muss dann möglichst an einem der stark frequentierten Boulevards
aufgestellt werden mit dem gebotenen Abstand zur nächsten „Telefonzelle“
von gefühlten 30 Metern, wie mir ein Telefonzellenbetreiber einmal erklärte. Nun fehlt nur noch das Telefon. Aber das ist die einfachste Sache: Der Telefonzellenbetreiber verwendet sein Handy, das zum Minutenpreis von rund
300 Riel (ca. 8 Cent) für Inlandsgespräche verliehen wird. Gerne wird die
Telefonzelle auch in Kombination mit einer privaten Tankstelle betrieben.
Auch sie ist mobil und auf Rädern und sieht so aus: In einem rollenden Regal stehen Glas- und Plastikflaschen, deren Aufkleber der Marke Pepsi Cola
verraten, dass sie ursprünglich für andere Zwecke vorgesehen waren. Neben dem Flaschenaggregat hängt ein Trichter aus Blech. Die Plastikflaschen
sind mit Benzin gefüllt, die Glasflaschen mit Öl. Beides muss im richtigen
Verhältnis gemischt werden, damit die knatternden Motoren der Mopeds gut
laufen. Und wie bei den großen Tankstellen scheint es auch hier informelle
Preisabsprachen zwischen den Anbietern zu geben, denn überall kostet der
Liter gleich viel (ca. 3.000 Riel). Auch wenn einen diese teilweise recht anarchisch anmutende Form der Betriebsgründung schmunzeln lässt, so verdient sie durchaus Anerkennung.
4. Ein weites Feld
Im Journalismus gibt es schwierige und weniger schwierige Themen. Es
gibt Geschichten, die sich von selbst erzählen und es gibt solche, bei denen
eine spannende Perspektive nur schwer zu finden ist. Die Frage nach Landkonflikten und Landreform in Kambodscha gehört in eine separate Schublade. Es ist ein ganzes Geflecht voller Themenstränge, ein großes Fass voller
Geschichten und Probleme. Früh wird klar, dass die Recherchen zu diesem
Komplex zwangsläufig lückenhaft bleiben werden. Das politische System,
die Justiz, die Rolle der Medien, Korruption, Entwicklungshilfe und Entwicklungszusammenarbeit, die leidvolle Geschichte des Landes und sein
Wirtschaftssystem – das sind nur einige der Versatzstücke des Themas.
Landkonflikte sind keine Seltenheit in Entwicklungsländern. Die Beispiele sind zahlreich. In Kambodscha kommt hinzu, dass unter dem Terror der Roten Khmer, sowie während der anschließenden vietnamesischen
Besatzungszeit der Besitz von Grund und Boden illegitim war. Erst 1989
wurde das Privateigentum an Grund und Boden als Tatbestand gesetzlich
270
Kambodscha
Oliver Schilling
anerkannt und später im Bodenrecht von 1992 verankert. Ein weiteres Spezifikum kommt hinzu: Um der Wahnvorstellung einer kommunistisch organisierten agrarischen Gesellschaft näher zu kommen, zerstörten die Roten
Khmer in der Zeit von 1976 bis 1979 systematisch das Katastersystem des
Landes sowie jegliche Dokumente, die Aufschluss über Besitzverhältnisse
geben könnten. Auch heute noch fehlen daher in vielen Fällen verbindliche Anhaltspunkte, nach denen Eigentumsstreitigkeiten geklärt werden
könnten.
Mit dem Vertragswerk von Paris, das am 23. Oktober 1991 einen Schlussstrich unter eine fünfzehnjährige Leidenszeit zog, und den ersten freien
Wahlen unter Blauhelmaufsicht 1993 schlug nicht nur die Stunde Null der
kambodschanischen Demokratie. Es war auch der Ausgangspunkt für den
Versuch, dem Land ein Rechtssystem zu geben – ein Versuch, der bis heute nicht abschließend geglückt scheint. Auch wenn etwa die Länder Mittelund Osteuropas in den frühen 90er Jahren vor einer ähnlichen Herausforderung standen, so ist der Fall Kambodscha besonders prekär – nicht zuletzt
weil die gesamte Intelligenz des Landes entweder von den Roten Khmer ermordet wurde oder ins Exil ging. Der zweite Problempunkt ist die Frage, an
welche Rechtstradition angeknüpft werden kann. Wer sich in der Geschichte
Kambodschas ein wenig auskennt weiß, dass das Land bis 1993 mehr als ein
Jahrhundert lang entweder unter Fremdherrschaft der Kolonialmacht Frankreich – und für kurze Zeit auch Japan – stand, später von einem wenig auf
die Rechte der Bürger bedachten autokratischen König regiert wurde, bevor
es in den Vietnamkrieg hineingezogen wurde. Chancen zum Aufbau eines
funktionierenden Gesellschafts- und Rechtssystems gab es kaum.
Auch wenn das neue Landrecht aus dem Jahr 2001 bereits in vielen Punkten eine Verbesserung zu dem Bodenrecht von 1992 darstellt, so sind die
Grundfragen in einem Land, in dem Korruption und die persönliche Bereicherung vieler Entscheidungsträger nachhaltig das Gemeinwohl untergraben, gleich geblieben: Wem gehört was? Wie lässt sich Eigentum belegen?
Wie kann Rechtssicherheit hergestellt werden? Genauso wie diese Fragen
berechtigt sind, genauso ist es für das westlich sozialisierte Gemüt schwerlich vorstellbar, dass es auf sie in vielen Fällen keine eindeutige Antwort
gibt.
In den kommenden Wochen befasse ich mich mit dem kambodschanischen
Rechtssystem, spreche mit Anwälten und Experten. Dabei ist auffällig, dass
viele kambodschanische Gesprächspartner mit „dem Recht“ argumentieren,
so als gäbe es einen funktionierenden Rechtsstaat. Die Wirklichkeit enttarnt
solche Annahmen als ledigliche Hoffnung. Das noch junge und lückenhafte
juristische Ausbildungssystem, die Justiz, deren spartanisch bemessene Gehaltsskalen der Korruption Tür und Tor öffnen, sowie die nur bedingt ar271
Oliver Schilling
Kambodscha
beitsfähigen Behörden sind nicht in der Lage, den postulierten Rechtsstaat
mit Leben zu füllen. Denn der daraus resultierende Mangel an Rechtssicherheit ist nur mit Bezug auf Landfragen ein großes Problem: „Es gibt viele
Wirtschaftszweige, in denen es sich durchaus lohnen würde, zu investieren. Gerade im Mittelstand. Aber das politische System und vor allem das
Rechtssystem sind teilweise noch extrem instabil. Das schreckt potentielle
Investoren ab“, sagt Paul Thomas, der Sprecher des Arbeitskreises Deutsche
Wirtschaft in Kambodscha, eine Art inoffizielle Außenhandelskammer im
Kleinstformat. Konkret bedeutet dies, dass das marode Rechtssystem reelle finanzielle Einbußen für Kambodscha mit sich bringt – ganz zu schweigen davon, dass durch Korruption nach konservativen Schätzungen einiger
NGOs in Kambodscha jährlich knapp ein Drittel aller Entwicklungsgelder
versacken.
5. Ein sympathischer Optimist
„Neben der Ausbeutung der archäologischen Schätze in Angkor Wat ist
Land die lukrativste Ressource, die wir haben. Wer schnell an Geld kommen will und die nötigen Verbindungen hat, mischt bei diesem Kampf mit“,
erzählt Sok Poch. Der 33-jährige Ingenieur arbeitet als Netzwerktechniker
bei dem kambodschanischen Mobilfunk-Giganten „Mobitel“. 360 US-Dollar verdient er im Monat. Ein dreizehntes Monatsgehalt gibt es dazu. Nicht
an Weihnachten, sondern am Neujahrsfest, das nach Tradition der Khmer
im Frühjahr begangen wird, dieses Jahr in etwa zeitgleich mit Ostern, also
Mitte April. Nebenher schuftet Sok Poch an Wochenenden in der IT-Beratungsfirma seines Bruders, einer Art IT-Feuerwehr. Immer wenn in einem
Büro oder Hotel die IT-Infrastruktur zusammenbricht – und das kommt in
Phnom Penh oft vor – kann man die Techniker rufen. „In Kambodscha dreht
sich zwar nicht alles, aber doch vieles um Geld, jeder versucht irgendwie
mit seinen Mitteln auf einen grünen Zweig zu kommen“, sagt Sok Poch. 100
US-Dollar kommen durch die Wochenendeinsätze im Monat hinzu. Damit
liegt er weit über dem kambodschanischen Mindestlohn von 48 US-Dollar,
weit über dem durchschnittlichen Jahreseinkommen pro Kopf von 350 USDollar und auch weit über dem Lohndurchschnitt für spezialisiertes Personal innerhalb der Dienstleistungsbranche in Phnom Penh. Gemessen an
seinem Einkommen gehört Sok Poch also zu den Aufsteigern der kambodschanischen Gesellschaft.
Vor zwei Jahren hat Sok Poch ein Haus gebaut, in einem Vorort südwestlich von Phnom Penh. Das Grundstück hat er nicht gekauft, auch einen
Landtitel, einen Eintrag im Grundbuch oder ein sonstiges Dokument, das
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Kambodscha
Oliver Schilling
ihn als Eigentümer ausweist, hat er nicht. „Wir haben dort seit Generationen
gelebt, warum sollte ich mir Sorgen machen?“ Sein Optimismus ist erstaunlich. In der Woche seit meiner Ankunft ist buchstäblich kein Tag vergangen,
an dem nicht in den beiden für mich lesbaren Tageszeitungen „Cambodia
Daily“ und „Cambodge Soir“ über Landstreitigkeiten, Landvertreibung und
die rigiden Methoden der kambodschanischen Polizei und Armee berichtet
wird. Doch vielleicht ist Sok Poch nicht nur Optimist, sondern gehört zu den
wenigen Menschen, die noch Vertrauen in das Rechtssystem des Landes haben. Denn nach dem Landrecht von 2001 darf er tatsächlich Grund und Boden sein Eigen nennen, wenn er dort nachweislich fünf Jahre friedlich gelebt hat. Folglich könnte er spätestens im Jahr 2009 mit Fug und Recht das
Land, auf dem sein Haus steht, für sich beanspruchen und einen Landtitel
beantragen. Aber das interessiert ihn jetzt noch nicht. „Wer weiß, was dann
sein wird. In Kambodscha dreht sich alles sehr schnell. Ich denke an heute
und morgen. Da geht es mir genauso wie dem Bettler auf der Straße – auch
wenn ich gut verdiene“, erzählt er.
6. „Feudale Strukturen“
„Wie funktioniert ‚Land Grabbing’“, frage ich Brian Nahor. Er ist USAmerikaner und arbeitet für eine von USAID finanzierte kambodschanische
NGO, die Rechtsberatung und Rechtshilfe für bedürftige Kambodschaner
anbietet. USAID, die Entwicklungshilfeorganisation der US-amerikanischen
Regierung, und die Mitarbeiter US-amerikanischer Projekte gehören zu
denjenigen, die am offensten die Regierung in Kambodscha kritisieren und
Missstände aufdecken – nicht nur im Bereich von Landkonflikten, auch bei
Themen wie Menschenhandel, Drogen und Waffenschmuggel sowie Korruption. „Land Grabbing funktioniert so, dass Menschen auf zweifelhafte
Weise Landtitel und Landrechte erwerben und anschließend die Bewohner
vertreiben“, erklärt er mir. Seit drei Jahren ist der studierte Jurist in Kambodscha, hat gerade einen Fall, der als ‚best practice’ auf der Internetseite
von USAID geführt wird, gewonnen. Mit gewissem Stolz schildert er den
Fall, über den auch in der ‚Cambodia Daily’ bereits mehrfach berichtet wurde. Dabei ging es um eine kleine Insel im Tonle Sap mitten in Phnom Penh,
gegenüber dem neu errichteten Spielkasino, ein Areal von ca. 50 Hektar.
Ein Großinvestor erklärte eines Tages gegenüber den dort wohnenden Familien, er habe das Land gekauft. Dass er mit dem Gouverneur von Phnom
Penh verwandt ist, scheint seine Autorität zu untermauern. Von wem er es
gekauft habe, wie es denn sein könne, dass die dort wohnenden Menschen
nicht in die Entscheidung einbezogen wurden – all das konnte er nicht er273
Oliver Schilling
Kambodscha
klären. Schlussendlich gab es Ausgleichszahlungen von 12 US-Dollar pro
Quadratmeter an die Betroffenen. Dass 12 US-Dollar pro Quadratmeter lediglich ein Bruchteil dessen ist, was man auf dem Immobilienmarkt derzeit
für Grundstücke im Herzen Phnom Penhs bekommt, weiß auch Brian Nahor.
Dennoch sagt er, dass der Fall gewonnen worden sei, denn ursprünglich hätten die vertriebenen Bewohner nur drei US-Dollar bekommen sollen. Interessant ist dabei ein weiteres Detail: In der notariell beurkundeten Verzichtserklärung der betroffenen Familien ist nur eine Ausgleichszahlung von acht
Dollar pro Quadratmeter genannt. „De facto wurden zwar zwölf Dollar pro
Quadratmeter geleistet. Um die Preise nicht zu verderben, wurde offiziell
allerdings ein niedrigerer Preis festgehalten. Das ist hier vollkommen normal.“ Und dann sagt er zwei Sätze, die mir in Erinnerung bleiben werden:
„Sie dürfen nicht vergessen: Die kambodschanische Gesellschaft unterliegt
immer noch feudalen Strukturen von Großgrundbesitz, Mächtigen und Untergebenen. Daran haben auch die schwarzen Löcher in der Geschichte des
Landes, der Terror der Roten Khmer und die vietnamesische Okkupation,
nichts geändert.“
Immer wieder stellt sich die Frage, wie eine Gesellschaft, wie ein Wirtschaftssystem und ein politisches System funktionieren sollen, wenn es faktisch kein funktionierendes Rechtssystem gibt, wenn Gerichtsurteile erkauft
werden und Beamte hochgradig bestechlich sind. Die Feudalismus-Theorie
ist zumindest als erster Erklärungsansatz brauchbar.
7. Die Odyssee der „46 families“
Am nächsten Tag treffe ich Toy Someth. Der 46-jährige Kambodschaner
spricht fantastisch Englisch und arbeitet mit Brian Nahor zusammen. Auch
er weiß von einem spannenden Fall zu berichten, den „46 families“. Eigentlich sind es 47 Familien, um die es geht, aber trotzdem spricht er fortwährend von den „46 families“. Bis vor drei Jahren lebten diese in einer Seitenstraße des Mao Tse Toung Boulevards, ca. 150 Meter Luftlinie vom Hotel
Intercontinental gelegen, eine der exquisitesten Adressen in der Stadt – wenn
nicht gar die vornehmste überhaupt. Wir sitzen im Java Café. Toy Someth
hat eine Karte dabei und zeigt mir, wo die Familien früher gelebt haben. „Sie
werden sich das kaum vorstellen können, wenn sie sehen, wie es dort heute
aussieht. Heute stehen dort moderne Apartmentanlagen.“ In seiner Mappe
mit der Aufschrift „land conflicts – urgent cases“ hat er auch Fotos, auf denen ein Straßenzug zu sehen ist, der aussieht wie so viele Straßen in Phnom
Penh: zweigeschossige kastenförmige Häuser reihen sich aneinander. Die
Straße ist nicht geteert und von Schlaglöchern übersät. Vor einer Imbissstu274
Kambodscha
Oliver Schilling
be stehen drei Motorradtaxifahrer in der Sonne und warten auf Kundschaft.
Ein rostiger Toyota Camry ist daneben geparkt. Angefangen hatte alles mit
einem Räumungsbescheid der Stadtverwaltung von Phnom Penh, datiert
vom 1. Dezember 2003. Auch den hat Toy Someth in seinem Ordner. Darin
wurden die Familien aufgefordert, innerhalb von drei Monaten ihre Häuser
zu verlassen. Der Eigentümer, sein Name wurde nicht genannt, wolle das
von ihm erworbene Land selbst nutzen. Insgesamt geht es um eine Fläche
von ca. 7.500 Quadratmetern mitten im Stadtgebiet, in etwa die Größe eines
Fußballfeldes. Was bis zum Frühjahr 2004 geschah, lässt sich im Archiv der
„Cambodia Daily“ nachlesen: Immer wieder gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen den Familien und der Polizei, regelrechte Straßenkämpfe
muss es gegeben haben. Toy Someth sagt, der vermeintliche Eigentümer sei
ein Mitglied des Sambath-Clans, dem Beziehungen bis in die höchsten Etagen der Politik nachgesagt werden. Der Familie Sambath gehört im Übrigen
auch das Intercontinental; seit vier Jahren zerfleischen sich die Mitglieder
der Familie in einem juristischen Streit über ein Millionen-Erbe.
Im März 2004 lenkte die Stadtverwaltung von Phnom Penh ein und stellte
ein Grundstück 15 Kilometer nördlich des Stadtkerns kostenfrei zur Verfügung. Die 47 Familien, rund 700 Menschen, lenkten ein und wurden umgesiedelt. Der Haken dabei war nicht nur, dass das Areal vollkommen dezentral
gelegen ist, sondern auch, dass weder Strom, sanitäre Anlagen noch sonstige
Infrastruktur dort vorhanden waren. Erneute Proteste, zahlreiche Schreiben,
Sitzblockaden in der Stadtverwaltung folgten. Dann ein kleiner Lichtblick:
Die Stadtverwaltung kaufte im Mai 2005 auf eigene Kosten Land in der Gemeinde Ta Khman, ca. 16 Kilometer südwestlich von Phnom Penh. Fast ein
Steinwurf ist es von dort bis zur Residenz des Ministerpräsidenten Hun Sen
und seiner dreitausend Mann starken Privatarmee; einer Leibgarde der besonderen Art, die ihm bereits gute Dienste erwiesen hat, etwa Ende der 90er
Jahre im gewaltsamen Schlagabtausch mit politischen Gegnern. Dass das
Land früher zum Eigentum von Hun Sen gehörte, ist wahrscheinlich. Nach
offiziellen Angaben zahlte die Stadt zehntausend Dollar für das Land an die
Canadian Bank, dem Eigentümer dieses Landstriches. Wer ein wenig die
Zeitungen in Kambodscha studiert und sich umhört, weiß allerdings, dass
die Canadian Bank, wie so viele der Banken mit wohl klingenden Namen in
Phnom Penh, ihr Geld in erster Linie mit Geldwäsche und nicht mit Geldanlagen verdient.
Wir verabreden uns für die nächste Woche. Ich organisiere ein Auto und
fahre mit Toy Someth nach Ta Khman. Wir fahren auf der Ausfallstraße, die
zur vietnamesischen Grenze führt, durch Dörfer und einsame Gegenden.
Die letzten drei Kilometer geht es über eine Schotterstraße mit erstaunlich
wenigen Schlaglöchern. Es scheint eine fruchtbare Gegend zu sein. Selbst
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Oliver Schilling
Kambodscha
jetzt kurz vor der Regenzeit in einem der heißesten Monate des Jahres sind
die Felder grün, weiden Kühe auf den Grasflächen. Auch der Boden sei hier
gut, sagt Toy Someth. Das ist wohl auch der Grund, warum die zum zweiten Mal verfrachteten Familien sich darauf eingelassen haben, von der öden
Peripherie im Norden der Stadt hierhin zu ziehen. Das Land bekommen sie
kostenlos. Auch hier: Kein Strom, kein fließendes Wasser, keine sanitären
Anlagen.
Toy Someth hat eine Familie angerufen, die uns von ihrem Schicksal erzählen will. Wir parken den Wagen vor einem Bretterverschlag, der mit
blauer Plastikplane abgedeckt ist. Jede Familie hat eine Fläche von acht
mal 15 Metern, insgesamt also 120 Quadratmeter. Auch heute, mittlerweile ein Jahr nach der Umsiedlung der Familien hierher, gleicht die Szenerie
einem Flüchtlingslager. Soam Phanith erwartet uns, er hat sich für das Gespräch freigenommen, bzw. wird wegen uns erst abends seine Schicht antreten. Drei Kinder hat er. Die versorgt er als Bauarbeiter in Phnom Penh.
Zweieinhalb Dollar erwirtschaftet er am Tag. Seine Frau kommt auf knapp
einen Dollar mit dem Verkauf von Brot, das sie morgens beim Großhändler
erwirbt und später auf dem Markt anbietet. Dass dabei wenig Geld zum Bau
eines Hauses übrig bleibt, ist nachvollziehbar.
„Wir haben zwar das Land, aber immer noch kein Dach über dem Kopf“,
erzählt Soam Phanith. Damit sich das ändert, bräuchte er genau 767 US-Dollar, sagt er. Soviel kostet nach seinen Berechnungen der Bau eines Hauses
auf Betonstelzen. Die sind wichtig, damit das Haus in der Regenzeit nicht
weggeschwemmt wird. In dem gesamten Straßenzug, sofern man hier von
einer Straße überhaupt sprechen kann, steht ein einziges Haus dieser Bauart. Die britische Hilfsorganisation Oxfam hat es einem alten kinderlosen
Ehepaar gebaut. Ob er neidisch auf das Paar sei, frage ich. „Nein, jeder hat
sein eigenes Glück und Pech hier zu meistern; wer weiß, vielleicht schenkt
uns auch morgen jemand ein Haus.“ Für Soam Phanith hat die Odyssee in
Ta Khman ein Ende. Seine Frau Mon sieht das anders. Sie kommt herein
und bietet uns unter der Plastikplane, die eine Art Veranda vor dem eigentlichen Bretterhaus bildet, eine Tasse Tee an. Auch wenn ich in den letzten
Tagen mit Magenproblemen gekämpft habe und selbst dem abgekochten
Wasser nicht traue, kann ich das Angebot nicht ausschlagen. Denn es ist offensichtlich, dass selbst so eine Selbstverständlichkeit wie Teekochen hier
mit größerem Aufwand verbunden ist: Wo kein Strom vorhanden ist, muss
das Wasser über einer Feuerstelle gekocht werden, die notdürftig in einer Art
Küchenanbau hinter dem Bretterhaus untergebracht ist. Brennholz ist teuer,
Wasser ist knapp. Einen Tee auszuschlagen wäre grob und respektlos.
Mon Phanith ist immer noch verärgert über das, was in den letzten Jahren
mit der Familie passiert ist. „Wir haben zwar Land, aber kein Haus. Und was
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Kambodscha
Oliver Schilling
am schlimmsten ist: Die Kinder müssen eine ganze Stunde bis zur Schule
laufen und nachmittags eine Stunde zurück. Ein Krankenhaus, Ärzte, Geschäfte – all das haben wir auch nicht. Wir wohnen hier fern ab von all dem,
was man für ein halbwegs funktionierendes Leben braucht. Das kann man
überhaupt nicht vergleichen mit dem Leben, wie wir es früher in Phnom
Penh geführt haben.
8. Little China
Auf dem Weg zurück in die Stadt zeigt mir Toy Someth die Straße, in der
die „46 families“ früher gelebt haben. Die Straße ist zugebaut mit dreistöckigen Wohnhäusern. Alle im identischem Stil: ein Zaun vor der Eingangstür trennt jeweils eine Fläche von ca. zehn Quadratmetern ab, eine Art zubetonierter Vorgarten, der in der Regel als Parkplatz dient. Die Türen in dem
durchgängigen Zaun finden sich alle vier Meter. So schmal sind die Häuserstreifen, die hier – allerdings auf allen vier Etagen – den Nachfolgern der
„46 families“ als Behausung angeboten werden. Pro Einheit ergibt das eine
Wohnfläche von ca. 140 Quadratmetern. Wir klingeln an einem der Häuser und haben Glück. Ein Mann öffnet, der allerdings kein Khmer versteht.
Ich versuche es mit Englisch. Das klappt schon besser. Er sagt, er käme aus
China und würde bei einem chinesischen Textilkonzern arbeiten. Seit zwei
Jahren sei er in Kambodscha. Im vergangenen Jahr habe er den vier Meter
breiten Streifen in der Häuserzeile gekauft, für 42 Tausend US-Dollar. Das
sei ein günstiger Preis gewesen. Heutzutage würde er mindestens 50 Tausend hinlegen müssen. Aber ohnehin seien bereits alle Wohneinheiten in
dieser Straße verkauft, sagt er. Ich solle mir keine Hoffnungen machen. Außerdem würden hier fast nur Chinesen leben und manche seiner Nachbarn
würden es nicht begrüßen, wenn Menschen anderer Nationalitäten hierhin
zögen. Ich danke für die Information und erkläre ihm, dass ich nur für kurze Zeit in Phnom Penh sei, seine sicherlich wohlwollenden Hinweise aber
zu schätzen wisse.
Nachdem wir Toy Someth in der Nähe des Wat Phnom abgesetzt haben, fahren wir weiter in den Norden der Stadt. In der Nähe der „Japanese
Friendship Bridge“, die einmal quer über den Mekong führt, stand einmal
die Kunsthochschule von Phnom Penh. Genauer gesagt: sie stand dort bis
letztes Jahr. Dann hieß es, die Schule brauche dringend ein neues Gebäude und eine bessere Ausstattung. Dagegen ist zunächst nichts einzuwenden.
Um den Bau zu finanzieren, verkaufte das Bildungsministerium das Grundstück, erwarb ein neues ca. 13 Kilometer nördlich außerhalb der Stadt. Von
dem Umzug wurden weder die Hochschulleitung noch die Studenten un277
Oliver Schilling
Kambodscha
terrichtet, bis eines Tages die Bagger zum Abriss des Gebäudes vor der Tür
standen. Zusammen mit dem Fahrer mache ich mich auf die Suche nach dem
alten Gelände der Kunsthochschule neben dem Sportstadion. Auf meinem
Stadtplan ist sie sogar noch eingezeichnet. Aber wir brauchen nicht lange
zu suchen. Die Baustelle ist nicht zu übersehen. Vollkommen durchgerostete Metallstangen hängen aus dem in Beton gegossenen Fundament und den
Stützpfeilern der neuen Gebäude heraus. Ein großes Plakat hängt am Eingang zur Baustelle. Darauf ist eine schicke Wohnanlage zu sehen, die hier
offensichtlich entstehen soll. Ich schaue mir die Rohbauten an. Mörtel quillt
aus den Wänden. Daneben ein großer Haufen hellbrauner Ziegelsteine. An
einigen Ecken sind sie eingebrochen, wirken alles andere als stabil. Bei näherem Hinsehen ist mit bloßem Auge zu erkennen, dass die Wände leicht
schief sind.
In der Stube der Bauleitung am Eingang der Baustelle erkundige ich mich
nach den Wohnungspreisen. Ich werde gebeten, Platz zu nehmen und einen
Kaffee zu trinken. Ab 80 Tausend Dollar könnte man ins Geschäft kommen, schließlich sei dies eine der besten Lagen in der Stadt. Die Wohneinheiten sind etwa 120 Quadratmeter groß; auch hier: schmale Häuserstreifen
mit dreistöckigem Aufbau. Ich frage, wie viele der Wohnungen schon verkauft seien. Gut ein Drittel sei vergeben. Für knapp die Hälfte aller noch zur
Verfügung stehenden Wohnungen gäbe es ernsthafte Interessenten. Ich solle
mir folglich nicht allzu viel Zeit lassen bei meiner Entscheidung. Allerdings
weist man mich auch hier darauf hin, dass 80 Prozent aller Käufer und Interessenten Chinesen seien, andere Nationalitäten seien hier eher selten.
Wir fahren zum Abschluss des Tages über die Japanese Friendship Bridge.
Auf dem rechten Ufer des Mekongs gelangt man schnell in ländliche Gegenden. Ein Katzensprung ist es von hier in die Stadt, doch die Brücke ist
von hier aus nahezu das einzige Nadelöhr nach Phnom Penh und dementsprechend meistens verstopft. Auch auf der anderen Seite sehe ich eine große
Baustelle und halb fertig gestellte Wohnanlagen. Das Baustellenschild ist
nicht in Khmer oder Englisch verfasst, sondern mit chinesischen Schriftzeichen versehen. Einzig die Telefonnummer der Baufirma ist für mich lesbar.
9. Kreative Parteienfinanzierung
Der Fall der Kunsthochschule ist kein Einzelfall, auch wenn er sehr prominent in den Medien behandelt wurde. Selbst regierungseigene Gebäude
und Grundstücke werden zu hohen Preisen verkauft und am Stadtrand wieder aufgebaut. Zum Beispiel das Ministerium für Landmanagement, Stadtplanung und Bauwesen, aber auch das Innenministerium. Ob der Erlös aus
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Kambodscha
Oliver Schilling
dem Landverkauf tatsächlich in voller Höhe wieder investiert wird, gilt als
unwahrscheinlich. „Solche Verpflanzungsaktionen sind ein probates Mittel,
um das eigene Gehalt aufzubessern und letztlich auch, um die Parteien zu
finanzieren“, erklärt mir ein Mitarbeiter einer deutschen Stiftung, der nicht
namentlich zitiert werden möchte.
Der Hintergrund ist einfach erklärt: Um hohe Staatsämter zu erhalten,
muss Geld an die Partei gezahlt werden, die die entsprechende Person aufstellt. Da es keine öffentliche Parteienfinanzierung – wie etwa in Deutschland – gibt, ist dies die Haupteinnahmequelle der Parteien. Für jeden Posten gibt es angeblich einen mehr oder weniger festen Preis. Der richtet sich
nicht nach dem Prestige der Position, sondern nach den ‚Nebenverdienstmöglichkeiten’. Diesem ungeschriebenen Preiskatalog zufolge müssen etwa
100 Tausend US-Dollar für einen Ministerposten bezahlt werden. Der Chef
des Zollamtes am Flughafen dürfte mindestens zweimal soviel zu zahlen haben. Bei einem monatlichen Gehalt von maximal sechs- bis achthundert USDollar lohnt sich dies für die Betroffenen in der Regel nicht. Daher muss die
‚Investition’ in die eigene berufliche Zukunft auf andere Weise erwirtschaftet werden. Die Gebäude- und Behördenverpflanzung gilt dafür offenbar als
‚wirksame’ Maßnahme.
Im Übrigen taugen aber auch ganz normale Bauvorhaben, die von ausländischen Geldgebern finanziert werden, gut zur Sanierung der Parteikassen und zur eigenen Einkommensaufbesserung. Ein nicht gerade großes
Geheimnis ist, dass etwa das neue Parlamentsgebäude mit prognostizierten
Baukosten von bis zu 30 Millionen US-Dollar mehr als großzügig veranschlagt ist. Finanziert wird der Bau mit freundlicher Unterstützung der chinesischen Staatsführung. Was mit den – mindestens – 15 Millionen, die zuviel gezahlt werden, passiert, weiß niemand genau. Tatsache ist zumindest,
dass der Neubau des Parlaments vom Ministerpräsidenten Kambodschas
persönlich zur Chefsache deklariert wurde, obgleich der Parlamentspräsident ebenso befugt wäre, sich der Sache anzunehmen.
Selbstverständlich ist dabei allerdings auch, dass die Genossen in Peking
bei solch tatfreudigem Engagement gewisse Gegenleistungen einfordern,
teilweise auf politischer, teilweise auf wirtschaftlicher Ebene. Zum politischen Hintergrund muss erklärt werden, dass Kambodscha – das mag auf
den ersten Blick erstaunen – von nicht zu unterschätzender strategischer Bedeutung im südostasiatischen Raum ist. Im Streit um die Vormachtstellung
in Asien, der vor allem zwischen China und Japan schwelt, gilt Kambodscha als eine Art ‚Client State’, den jede Seite für sich gewinnen möchte. Da
die politischen Verhältnisse anderer Länder in der Region zwar nicht unbedingt stabil sind, sie aber doch nur begrenzt für die eigenen Zwecke vereinnehmbar sind, ist das noch junge und dazu hochgradig korrupte politische
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Oliver Schilling
Kambodscha
System Kambodschas eine politische Größe, die es im eigenen Interesse
zu formen gilt. Die Bedeutung, die Kambodscha für China und Japan hat,
ist nicht nur daran erkennbar, dass ihre Botschaften mit zu den größten in
Phnom Penh gehören und in der Regel mindestens alle zwei Jahre Staatsmänner der höchsten Ränge das Land besuchen. Überdies sind China und
Japan die größten individuellen Geberländer Kambodschas, das weit mehr
als die Hälfte seines Staatshaushaltes durch ausländische Hilfen bestreitet.
Allerdings mit einem Unterschied: Die japanische Seite hält sich an die Vorgaben, die gemeinsam mit anderen Gebern festgelegt werden bei den jährlich stattfindenden ‚Consultative Group Meetings’, normalerweise nur bekannt unter der Abkürzung CG. Zuletzt fand dies in diesem Frühjahr statt.
Dabei sitzen die Geber inklusive UN, Weltbank und einiger NGOs mit der
kambodschanischen Regierung an einem Tisch, sprechen über Fortschritte
und neue Ziele, deren Einhaltung als Bedingung für die Vergabe neuer Mittel und Kredite gilt.
Um eigene Akzente in der internationalen Politik – und insbesondere um
die eigenen Interessen des Landes – bemüht, beteiligt sich China nicht an
diesen Absprachen und Verhandlungen; ganz im Gegenteil. Stattdessen fördert die Großmacht China großzügig einzelne Projekte, spendet aber auch
mitunter bis zu dreistellige Millionenbeträge ohne direkte Projektbindung.
Das finanzielle Engagement aus China hat mit rund 600 Millionen US-Dollar pro Jahr mittlerweile einen Umfang, der beinahe so hoch ist, wie die
Zuwendungen aller anderer Geberländer an Kambodscha zusammen. Allerdings fällt die großzügige Bescherung aus Peking meist in auffallende
zeitliche Nähe zur Vergabe neuer Großaufträge an chinesische Baufirmen
oder anderer Entgegenkommen, wie etwa der Gewährung eigentlich illegaler Landkonzessionen an chinesische Firmen.
10. Land for Sale
Hierzu muss man wissen, dass es in Kambodscha verboten ist, Land an
Ausländer zu verkaufen. Ferner dürfen Konzessionen, etwa zur landwirtschaftlichen Nutzung oder zum Bau einer Fabrik, nicht für ein Gebiet erteilt
werden, das größer als zehntausend Hektar ist. Allerdings lassen sich diese
Bestimmungen mit den Blankoschecks aus Peking umgehen. So zum Beispiel in Mondulkiri, der östlichsten Provinz Kambodschas an der Grenze
zu Vietnam. Dort lässt die chinesische Wuzhishan LS Gruppe riesige Kiefernplantagen bewirtschaften. Hier leben noch immer Teile der ethnischen
Minderheit der Phnong. Geht es nach dem Willen der Wuzhishan LS Gruppe, sollen aber auch sie sich bald ein neues Zuhause suchen. Genauso we280
Kambodscha
Oliver Schilling
nig wie die Rechte der indigenen Volksgruppe interessieren die Wuzhishan
LS Gruppe Umweltstandards. Vorgaben, nach denen dem Boden Ruhezeiten
vor einer Neubepflanzung gegeben werden sollen, werden nicht eingehalten. Und auch die Größe der von der Gruppe bewirtschafteten Fläche von ca.
30 Tausend Hektar übersteigt das, was in Kambodscha zulässig ist.
Insgesamt, so schätzen Experten, hat die kambodschanische Regierung
Konzessionen für etwa ein Drittel aller landwirtschaftlich nutzbaren Flächen
des Landes an ausländische Firmen vergeben. Das ist insbesondere deshalb
problematisch, da das Bevölkerungswachstum mit 2,5 Prozent zu den höchsten in Südostasien gehört und sich die Bevölkerung allein in den vergangenen
25 Jahren mehr als verdoppelt hat. Da außerdem die meisten Khmer von der
Landwirtschaft leben und deren Produktivität disproportional jährlich nur
um 0,5 Prozent wächst, wird Land buchstäblich zur Ernährung der eigenen
Bevölkerung benötigt. Andererseits, so vermutet ein Journalistenkollege in
Phnom Penh, könnte es durchaus im Interesse der regierenden Cambodian
People’s Party (CPP) liegen, bewusst Engpässe entstehen zu lassen, um im
Vorfeld der Wahlen mit kostenlosen Reisrationen vor allem in ländlichen Gebieten auf Stimmenfang zu gehen. – Ein Grund mehr, die Freunde in Peking
mit großzügigen Landzuweisungen bei Laune zu halten.
Dass das wirtschaftliche und politische Engagement der chinesischen Regierung nicht ohne Folgen bleibt, konnte ich während meines Aufenthaltes
erleben: In der ersten Aprilwoche kündigte sich der chinesische Premierminister Wen Jiabao in Phnom Penh an. Nicht nur waren am Tag des Staatsbesuches alle Hauptstraßen abgesperrt und mit großen Bannern, auf denen
„China-Cambodia Friendship“ in Englisch und Chinesisch zu lesen war, behangen. Auch konnte man in der Woche darauf in den Zeitungen erfahren,
dass eine nicht genannte chinesische Firma die Konzession für eine Fläche
von 63 Tausend Hektar in der nordöstlichen Provinz Rattanakiri zum Anbau
von Kautschuk erhalten wird.
Wie genau die gesetzlichen Vorgaben zur Landvergabe in der Praxis gelten, ließ sich an einem Beispiel testen. 18 Kilometer nördlich von Phnom
Penh, entlang der N4 Richtung Sihanoukville befindet sich eine in grellem
Pink gestrichene lange Mauer. „Industrial Land for Sale“ steht dort in großen Lettern geschrieben. Nicht in Khmer, sondern in Englisch. Dazu eine
Mobilfunknummer. Das verwundert in Anbetracht der Tatsache, dass –
wie bereits gesagt – nach dem Landrecht von 2001 nur kambodschanische
Staatsbürger Land kaufen dürfen. In Recherchegesprächen wurde mir allerdings öfter berichtet, dass diese Regel nicht immer genau genommen werde. Beliebt sei es, einen Bekannten dazu zu bewegen, selbst Land zu kaufen und gleichzeitig notariell verbrieft alle Rechte daran abzutreten. Auch
sei eine Staatsbürgerschaft ab ca. zehntausend US-Dollar zu erkaufen. Ich
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Kambodscha
rufe die Mobilfunknummer an und bekunde mein Interesse an dem Land.
Es meldet sich Frau Samtang. Ich frage, ob dort Menschen wohnen und wie
man als Käufer sicher sein könne, dass einem nach einem Kauf auch wirklich das Land gehört. Frau Samtang fragt mich, ob ich den Zaun bzw. die
Mauer um das Grundstück gesehen hätte, welche mit ihrem neonfarbenen
Anstrich ja kaum zu übersehen war. Die Mauer umfasse das gesamte Gebiet.
Dadurch sei sichergestellt, dass niemand dort wohne. Ob dort Menschen
gelebt hätten, bevor die Mauer gebaut wurde, will ich wissen. Sie sagt, sie
wisse es nicht. Im Übrigen sei der Preis von vier Millionen US-Dollar nicht
verhandelbar. Auf meine Frage hin, wie es denn möglich sei, eine Fläche
von mehr als zehntausend Hektar zur wirtschaftlichen Nutzung zu erwerben, entgegnet sie, dass die Gesamtfläche in zwei Einzelstücke von jeweils
zehntausend Hektar und einem von achttausend Hektar eingeteilt sei. Daher
gäbe es keine Probleme mit dieser Vorschrift. Allerdings, so führt sie weiter
aus, stünden lediglich die gesamten 28 Hektar Fläche zur Verfügung, also
nur die Summe aller Einzelstücke. Und nein, es sei nicht möglich, dort zu
wohnen oder Wohnungen zu bauen. Man könne die Fläche nur industriell
nutzen. Dann kommen wir zu dem Thema, das mich am meisten interessiert, nämlich die Frage, ob ich als Ausländer überhaupt als Käufer auftreten
kann. Auch hierauf gibt Frau Samtang eine klare Antwort: Man könne keine
Ausnahme machen und mir das Land nicht direkt verkaufen, da ich keinen
kambodschanischen Pass habe. Die Variante mit dem Kauf eines Passes hält
Frau Samtang für kompliziert und langwierig, aber nicht ausgeschlossen.
Einfacher und billiger sei es aber, einen Kambodschaner zur Unterschrift
bzw. zum Fingerabdruck in meinem Namen zu überreden. Sie selbst stünde
hierfür nicht zur Verfügung, könne mir allerdings ggf. helfen, jemanden zu
finden. Frau Samtang scheint sich gut auszukennen mit den Sorgen ausländischer Investoren in Kambodscha.
11. Die Grenzen sind fließend: Golfplatz statt Dorfgemeinschaft
Das kambodschanische Landrecht hat zwar nicht viele Paragraphen, ist
aber nicht unbedingt auf den ersten Blick zu verstehen. Da die Schulung
eines sachverständigen juristischen Personals allerdings auf der Agenda der
internationalen Geldgeber weit oben steht, gibt es mittlerweile ein recht gut
lesbares Buch von der Asian Development Bank, das die Grundprinzipien –
auch mit Hilfe von amüsanten und pädagogisch unbezweifelbar wertvollen
Cartoons – anschaulich erklärt.
Nach dem kambodschanischen Landrecht von 2001 gibt es vier Kategorien von Land: a) staatliches und unveräußerbares Land, b) privatrechtlich
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Kambodscha
Oliver Schilling
veräußerbares Land in staatlichem Besitz, c) privatrechtlich veräußerbares
Land sowie d) Land in gemeinschaftlichem Besitz (z.B. von Klöstern oder
indigenen Volksgruppen). Das Problem hierbei liegt darin, dass nicht immer klar ist, in welche Kategorie ein spezifisches Stück Land fällt und noch
viel unklarer, unter welchen Bedingungen die Kategorien gewechselt werden können. Änderungen der Spezifikation eines Landstücks können gravierende Folgen haben; etwa wenn die Fläche, auf der sich das Haus einer
Person befindet (normalerweise Kategorie c), aus bestimmten Gründen in
staatliches Land umgewandelt wird (dann z.B. Kategorie b). Schwierig ist
es deshalb, weil in Kambodscha üblicherweise Entschädigungen und Ausgleichszahlungen alles andere als selbstverständlich sind. Einen besonders
bizarren Fall dieser Art gibt es derzeit in Siem Reap, der zweiten Metropole des Landes, nur ca. vier bis sechs Kilometer Luftlinie entfernt von den
Tempelanlagen von Angkor Wat. Von einer kambodschanischen Bürgerrechtsbewegung in Siem Reap erhalte ich die Adresse einer kleinen Dorfgemeinschaft in der Gemeinde Slor Kram. Im Mai 1994 wurden die Bewohner aufgefordert, die Häuser zu räumen. Seitdem liefert sich das Dorf
mit den Behörden einen Kleinkrieg. Früher gehörte das Gebiet zu Kategorie c (privatrechtlich veräußerbares Land). 1997 wurde das Terrain dann zu
privatrechtlich veräußerbarem Land in staatlichem Besitz erklärt (also ein
Wechsel von Kategorie c nach Kategorie b). Das bedeutet: Die Landflächen
wurden verstaatlicht und die Behörden haben die Option, die Flächen später
privatwirtschaftlich zu nutzen.
Das mag zunächst verwirrend klingen. Zum Verständnis sollte noch folgendes hinzugefügt werden: Siem Reap ist, wirtschaftlich betrachtet, die
größte Wachstumsregion Kambodschas. Das hat einen einfachen Grund:
Die Tempelanlagen von Angkor Wat verschaffen der kambodschanischen
Tourismusbranche jährliche Wachstumsraten in zweistelliger Höhe. Bereits
in den 90er Jahren war abzusehen, dass in der gesamten Region Hotels wie
Pilze aus dem Boden wachsen würden. Daher beschloss die kambodschanische Regierung 1995, die Entwicklung nach Möglichkeit zu steuern. Dies
sollte dadurch geschehen, dass ein rund 1.000 Hektar großes Areal zur Errichtung von Hotelanlagen direkt am Rand der geschützten archäologischen
Gebiete bereitgestellt würde. Hier sollte die „Angkor Tourist City“ entstehen, in der Hotelanlagen für die Besucher errichtet werden sollten, um die
Stadt Siem Reap infrastrukturell zu entlasten. Mittlerweile sind überall in
der Stadt Hotelanlagen entstanden und weitere werden gebaut. Die Idee der
kontrollierten Entwicklung ist zur Schimäre verkommen. Doch die Kommunalverwaltung hält weiterhin an ihr fest.
Seit mehr als zehn Jahren liegen die Pläne zur Touristenstadt – mit prunkvollen Hotelanlagen, Golfplätzen und Geschäften – in der Schublade. Vor
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Oliver Schilling
Kambodscha
zwei Jahren wurden sie wieder ausgepackt. Was dahinter steht, ist einfach zu
erkennen: Auch über die nächsten zehn Jahre werden Hotelanlagen in Siem
Reap gebaut. Je näher man an das Tempelareal kommt, desto wertvoller ist
Land. Die für die Tourist City reservierte Fläche liegt so nah an den Tempeln
wie kein anderes bebaubares Stück Land, weshalb hier die höchsten Grundstückspreise im ganzen Land zu erzielen sind. Allerdings können dies nun
nicht mehr die einzelnen Bewohner der Landflächen tun. Sie dürfen ihre
Grundstücke lediglich an eine staatliche Instanz verkaufen und nicht von
den hohen Landpreisen auf dem Markt profitieren.
Zurück zu der Dorfgemeinschaft in der Gemeinde Slor Kram: Sie soll der
Tourist City Platz machen und dafür eine Entschädigung von wenigen USDollar pro Quadratmeter Land erhalten – der tatsächliche Marktwert dürfte bei über 500 US-Dollar pro Quadratmeter liegen. In Siem Reap treffe ich
den Generaldirektor der Kommunalverwaltung von Siem Reap, der „Apsara
Authority“. Wegen der enormen wirtschaftlichen Bedeutung der Region gehört er zu den fünf bis zehn mächtigsten Männern des Landes. Dass auch er,
wie die meisten Politiker und höhere Verwaltungsbeamte, mit „Seine Exzellenz“ adressiert wird, ist eine Selbstverständlichkeit. „Exzellenz“ Bun Narith ist – wie sollte es anders sein – sehr beschäftigt. Dreißig Minuten haben
wir Zeit, bevor Exzellenz in eine wichtige Besprechung enthuschen wird.
Der Generaldirektor erklärt zunächst, warum er immer noch an das Konzept
der Tourist City glaubt, und dass seine Behörde nicht mehr als die angebotenen zwei US-Dollar, maximal vielleicht fünf US-Dollar pro Quadratmeter, an die betroffenen Menschen in den Dörfern zahlen könne. „Sie dürfen
nicht die realen Preise zugrundelegen, es handelt sich hier um einen internen Markt“. Ich frage ihn, wer die Hotelanlagen bauen wird und ob die Preise für die Hotelgäste analog zu den Gesetzen des „internen Marktes“ eines
Tages ebenfalls weniger als ein Prozent der sonst üblichen Übernachtungskosten betragen werden. – Kein Kommentar. Bei der Frage nach den künftigen Hotelbetreibern ist er auskunftsfreudiger: Vor allem chinesische Investoren sollen hier bauen und dafür Konzessionen über eine Laufzeit von 70
Jahren erhalten.
Am Nachmittag treffe ich Mei La. Sie ist 70 Jahre alt und wohnt dort, wo
später einmal ein Golfplatz als Teil der „Angkor Tourist City“ gebaut werden soll. Mei La hat nur noch einen Zahn an der vorderen Reihe des Oberkiefers, keine Haare. In ihren Augen steht Wut und Ärger, wenn sie über
die Apsara Authority spricht. Von „Dieben“ und „Kriminellen“ spricht sie.
„Wir haben die Roten Khmer überlebt und werden auch diesem staatlichen
Terror nicht nachgeben“, sagt sie. Zwei- bis dreimal im Monat würden Polizisten im Dorf patrouillieren, ein Trupp von ca. zwölf Männern. Leer stehende Landflächen würden umgehend eingezäunt. Baustellen, auf denen
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Kambodscha
Oliver Schilling
Häuser neu gebaut werden sollen, werden abgerissen. Selbst einfache Renovierungen an der Fassade seien nicht möglich. „Die Apsara Authority hofft,
dass unsere Häuser buchstäblich verrotten und wir dann wegziehen. Hier
ist ja alles aus Holz gebaut. Ohne Ausbesserungen fällt uns eines Tages das
Dach auf den Kopf.“ Das Angebot von zwei US-Dollar hält sie für lächerlich. Auch für mehr Geld würde sie nicht umziehen, denn in der Gemeinde gibt es mittlerweile eine Schule, einen Markt und eine Krankenstation.
Vor gut fünfzehn Jahren war das noch anders. Erst zwischen 1990 und 1993
wurden Mei La, ihre Familie und alle anderen Bewohner in dieser Gegend
hier angesiedelt. Und zwar systematisch von keinem anderen als dem Hohen
Kommissar für Flüchtlinge der Vereinten Nationen (UNHCR). Damals ging
es darum, dass Flüchtlinge, die in den späten siebziger und achtziger Jahren
in Camps hinter der Grenze zu Thailand lebten, wieder in Kambodscha angesiedelt werden sollten. Die Familien bekamen nicht nur ein Stück Land,
sondern sogar – und das war damals in keiner Weise üblich – einen Landtitel. Auch Mei La hat ihn noch. Stolz zeigt sie mir ein hellgrünes und abgegriffenes Blatt Papier. Darauf sind sie und jedes Mitglied ihrer Familie als
Eigentümer und Besitzer einer Fläche von 20 mal 40 Metern eingetragen. In
dem provisorischen UN-Kataster wurde ihnen die Parzelle mit der Nummer
13 zugewiesen. Oben links auf dem Zertifikat steht die Registriernummer
des Landtitels. Es ist die Nummer 80572.
Auch die kambodschanische Regierung wusste von der Landzuteilung
durch die UN. Allerdings ließ sie das offensichtlich unbeeindruckt. Per Dekret wurden 1997 die von der UN verteilten Flächen zum Staatseigentum
erklärt. Entschädigungszahlungen sind in dem Dekret vorgesehen, deren
Höhe aber nicht verbindlich festgelegt. Im Übrigen, so erzählt Mei La, seien
sie und die anderen Dorfmitglieder 1997 bereit gewesen, für fünf US-Dollar
pro Quadratmeter das Land an die Apsara Authority zu verkaufen. Doch die
bot damals lediglich einen Dollar.
Erstaunlich ist, dass die internationalen Geldgeber (vor allem Frankreich,
Japan und Deutschland), die zu fast 90 Prozent die Kosten der Restauration und Instandhaltung der Tempelanlagen tragen, die faktische Enteignung
durch die Apsara Authority wenig zu stören scheint. Auch die UNESCO,
die zwar kaum Geld zahlt, aber stets am Tisch der Mächtigen bei den Geberverhandlungen zum Thema Angkor Wat sitzt, ist über diese Entwicklung
nicht sonderlich besorgt. In Phnom Penh befrage ich dazu Teruo Jinnai, den
Repräsentanten der UNESCO in Kambodscha, der ranghöchste UNESCOBeamte im Land. Teruo Jinnai erklärt, dass das Konzept der Tourist City
auch heute noch sinnvoll sei. Landverteilungsfragen seien zwar prekär, aber
nicht Gegenstand der Arbeit seiner Organisation. „Es mag auf den ersten
Blick seltsam erscheinen, dass Menschen, die zu den ersten Trägern von
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Oliver Schilling
Kambodscha
Landtiteln in diesem Land gehörten, diese Titel faktisch wieder entzogen
bekommen. Denn – wie Sie wissen – ist es ja heute ein erklärtes Ziel, möglichst vielen Menschen Landtitel und Rechtssicherheit in Kambodscha zu
verschaffen. Doch dieser spezielle Fall muss gesondert gewürdigt werden.“
Damit ist das Gespräch zu Ende.
Einmal mehr frage ich mich, welche Rechtsgrundlagen in diesem Staat
vieler Rechtloser und weniger Privilegierter gelten, wie man ein Land aufbauen kann, in dem der Staat mehr als großer Willkürfaktor und permanente
Bedrohung, denn als schützende Kraft den Bürgern erfahrbar wird.
12. Lichtblick LMAP?
Jouni Anttonen ist ein Mann der Tat, schlechte Laune ist für ihn ein Fremdwort. Aus den Boxen in seinem Toyota 4-Wheel Drive Jeep schallt finnischer
Hardrock, als er mich um sieben Uhr morgens abholt auf dem Weg in sein
Büro, das im Ministerium für Landmanagement, Stadtplanung und Bauwesen im Stadtteil Chamcarmon untergebracht ist. Seit sechs Jahren ist der gebürtige Finne in Kambodscha. Er arbeitet für die finnische Firma Finnmap.
Sie soll zusammen mit der Weltbank und der GTZ den kambodschanischen
Augiasstall ausmisten und ein Katastersystem für weite Teile des Landes erstellen. „Land Management and Administration Project“ (LMAP) heißt das
ambitionierte Projekt. Bis 2017 sollen in diesem Rahmen etwa 80 Prozent der
besiedelten Fläche Kambodschas systematisch durchkämmt und Landstücke
registriert werden. Dabei werden die ausländischen Finnmap- und GTZ-Berater von 26 kambodschanischen Teams mit insgesamt rund 700 Mitarbeitern
im ganzen Land unterstützt. „Sie werden es zunächst nicht glauben, aber es
ist letztendlich vielleicht sogar ein Vorteil, dass wir hier in Kambodscha bei
Null angefangen haben. Sie dürfen nicht vergessen, dass wir in einem Land
arbeiten, in dem vernünftiges Kartenmaterial lange Zeit nicht erhältlich war,
in dem jegliche Registratur von Land systematisch zerstört wurde.“ In seinem Büro zeigt mir Jouni Anttonen Luftaufnahmen, von denen die meisten
in den späten neunziger Jahren gemacht wurden. Hierfür wurden eigens Maschinen gechartert, die gesamte Staatsfläche abgeflogen und aus der Luft
aufgenommen im Maßstab 1:4000, in urbanen Gebieten sogar im Maßstab
1:2000. Google Earth gab es zu der Zeit noch nicht, auch wenn die Bilder
ähnlich aussehen. Spendiert wurden die Flüge damals von der Japanese International Cooperation Agency (JICA), dem japanischen Pendant zur GTZ.
Danach hat sich JICA allerdings nicht mehr am LMAP beteiligt.
Knapp eine Million Landtitel hat das LMAP bereits seit dem Beginn des
Projektes im Jahr 2002 produziert. Das ist viel, wenn man bedenkt, dass im
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Kambodscha
Oliver Schilling
Zeitraum von 1989 bis 2001 gerade einmal rund 600 Tausend Titel vergeben
wurden. Andererseits ist es wenig, wenn man bedenkt, dass bis Projektabschluss noch fünf bis sieben Millionen weitere Grundstücke zu vermessen
sind. Anhand dieser Zahlen wird bereits klar, dass der Zeitplan vom LMAP
schon jetzt nicht mehr haltbar ist. NGOs kritisieren neben dem unklaren
Zeitrahmen des Mammutprojektes überdies, dass die Mittel für das LMAP
– geschätzt werden sie auf insgesamt bis zu 100 Millionen US-Dollar – besser in den Ausbau des Gesundheitssystems, die Infrastruktur oder die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivität gesteckt werden sollten. Andererseits ist klar, dass dem Land jährlich viel Geld entgeht, da potentielle
Investoren vom Mangel an Rechtssicherheit im allgemeinen, und der Sicherheit bezüglich des Rechts an Grund und Boden im besonderen, abgeschreckt werden. „Wir schätzen, dass die Direktinvestitionen aus dem Ausland um bis zu 50 Millionen US-Dollar im Jahr höher liegen könnten, wenn
die Rahmenbedingungen stimmen würden“, sagt Paul Thomas vom Arbeitskreis der Deutschen Wirtschaft in Kambodscha. Gemessen daran wären 100
Millionen US-Dollar für das LMAP gut investiert.
Für Jouni Anttonen ist das LMAP allerdings mehr als nur ein technischer
Vorgang. Er spricht von einem „edukativen Aspekt“ und erzählt, dass im
Rahmen vom LMAP nicht nur Land vermessen und registriert wird, sondern außerdem die Verwaltungsstrukturen ausgebaut und gestärkt werden.
„Wenn 26 Teams mit bis zu 30 Mitarbeitern über mehrere Jahre das Land
durchkämmen und vermessen; wenn diese Teams Konflikte mit den beteiligten Instanzen der betroffenen Dörfer lösen; und schließlich: wenn diese
Teams eine katastermäßige Erfassung mit Hilfe modernster Computertechnik einführen, dann ist das für alle Beteiligten vorteilhaft. Letztendlich wird
dadurch das Vertrauen der Bürger in die Bürokratie gestärkt. Und außerdem
dürfen Sie nicht vergessen: Der Wert eines Stück Bodens steigt nach der
Zuteilung eines Landtitels um durchschnittlich mindestens 20 Prozent. Das
bringt jedem Landbesitzer etwas.“
13. Titel, Thesen, Temperamente
Am nächsten Morgen gibt es keinen finnischen Hardrock, dafür Elvis-Songs aus den Fünfzigern in Jouni Anttonens Jeep zu hören. Wir sind
auf dem Weg zum ‚Oulampic’-Viertel in Phnom Penh in der Nähe des
Olympischen Stadiums, das 1964 eröffnet und von Kambodschas renommiertestem Architekten Vann Molyvann gebaut wurde. Gegenüber einer Polizeistation ist eine Häuserlücke kurzerhand in eine Art Freiluft-Auditorium
umfunktioniert worden: 15 Stuhlreihen, in der Mitte ein Gang zum Podest,
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Oliver Schilling
Kambodscha
vorne ein Mikrophon und eine kleine Bühne; darüber eine Plane aus rotem
und blauem Plastik und an dem Stahlgerüst, das die Plane trägt, Girlanden
in blauer, roter, grüner und gelber Farbe. Davor stehen zehn aus Holz gezimmerte Pinnwände.
Für die Gemeinde ist dies ein wichtiger Tag, an dem das „Public Display“
beginnt – der letzte Schritt vor der Zuteilung von Landtiteln. Vorausgegangen sind Vermessungsarbeiten, Recherchen und Diskussionen mit Bewohnern seit Januar dieses Jahres. Das LMAP läuft nach festen Regeln ab. Nach
der Feststellung der Eigentumsverhältnisse, der Vermessung und provisorischen Kartierung müssen nun in einem vorletzten Schritt alle Karten und
Informationen über Eigentumsverhältnisse für 30 bis maximal 45 Tage öffentlich ausgehangen werden. Nur wer hier persönlich innerhalb der Frist
erscheint und sich ausweist, kann später einen Landtitel erhalten. „Wichtig
dabei ist, dass später niemand den Vorwurf erheben kann, er oder sie habe
von nichts gewusst. Auch wenn jemand zum Beispiel nicht damit einverstanden ist, dass eine Person einen Titel für ein bestimmtes Stück Land erhalten soll, kann dies während des Public Displays mitteilten“, sagt Jouni
Anttonen. Es ist 8 Uhr morgens und der Platz vor der Polizeistation füllt
sich langsam. Um halb neun ist das Auditorium schließlich randvoll und
es erklingt aus den leicht übersteuerten Lautsprechern die Nationalhymne.
Anschließend begrüßt der Bürgermeister die Anwesenden und erklärt, worum es beim Public Display geht. Auch diese mündliche Erklärung ist Teil
der LMAP-Prozedur, denn bei der hohen Analphabetenrate in Kambodscha
kann nicht davon ausgegangen werden, dass alle Betroffenen die Informationsblätter tatsächlich verstehen.
An einer der Holztafeln komme ich mit Lay Puoy ins Gespräch. 31 Jahre
ist er alt, hat zwei Kinder und arbeitet für ein Pharmaunternehmen. Nach einer Weile findet er sein Haus auf der Karte wieder. Es hat die laufende Nummer 46. Er gleicht die Daten mit seinen Notizen ab. „57 Quadratmeter. Das
ist richtig. Hier steht, dass meine Frau und ich als Eigentümer des Grundstücks und des Hauses eingetragen sind. Ebenfalls richtig. Leider habe ich
meinen Personalausweis vergessen und muss deshalb nochmals herkommen,
um die Nummer abzugleichen. Ansonsten hoffe ich, dass es bis zum Ende
des Displays keine Probleme gibt und wir den Landtitel bekommen.“ Etwas
abseits der hölzernen Stellwände stehen zwei Tische unter einem schattigen
Baum: die Beschwerdestelle. Etwa ein halbes Dutzend Menschen stehen davor und argumentieren mit zwei LMAP-Mitarbeiterinnen, die in ihren blauen Uniformen gut zu erkennen sind. Eine Frau moniert die falsche Schreibweise ihres Namens. Ein älterer Herr will, dass eine etwa fünf Quadratmeter
große Fläche vor seinem Haus ebenfalls mit in das Register aufgenommen
wird. Auch wenn hier eigentlich schon der Gehweg beginnt, nutze er die Flä288
Kambodscha
Oliver Schilling
che als Auslage für sein Motorradhelmgeschäft und will sie deshalb auch
sein Eigentum nennen dürfen.
Mittlerweile tummeln sich knapp 100 Menschen vor den Holztafeln, jeder sucht seinen Namen, überprüft die Daten, kontrolliert die auf den Karten
eingezeichneten Flächen; eine leicht aufgeregte Stimmung. Plötzlich werde ich von einem jungen Mann angesprochen, der erstaunlich gut Englisch
spricht und mich fragt, was ich hier mache, warum ich ein Mikrophon und
Aufnahmegerät mit mir führe. Konträr zu seiner forschen Art der Fragestellung gibt er sich zögerlich bei der Erkundigung nach seinem Interesse
an dem Public Display. Nach mehrfachem Nachhaken erklärt er, dass er als
eine Art Controller im Auftrag der Weltbank das Verfahren überwacht. Konkret: Er soll herausfinden, ob die Bewohner Bestechungsgelder an die Vermessungsteams gezahlt haben. Die Gebühr, die jeder Eigentümer für seinen
Titel entrichten muss, beträgt offiziell lediglich 100 Riel pro Quadratmeter. Für Lay Puoy wären dies umgerechnet weniger als 1,50 US-Dollar. „Es
gibt darüber hinaus immer wieder ‚Kaffee- und Teezuschläge’, wenn ich
das so nennen darf. Sie müssen sich das so vorstellen, dass Mitglieder vom
Vermessungsteam im Wohnzimmer einer Familie sitzen und sagen, dass sie
zehn oder 20 Quadratmeter weniger ausgemessen haben als die betreffende Familie. Dann wird gesagt, dass man sehr erschöpft sei und es begrüßen
würde, wenn die Familien ein wenig in die Kaffeekasse spendeten. Man
könne ja am nächsten Tag im ausgeruhten Zustand nochmals über die Angelegenheit sprechen.“ Neben ‚Kaffeezuschlägen’ interessieren die Controller vor allem die Einhaltung der Informationsrichtlinien. „Wir sehen immer
wieder Fälle, in denen die Menschen nicht – oder nur sehr kurzfristig – vom
Registrierungsverfahren unterrichtet werden. Viele Menschen können die
Informationsblätter nicht lesen oder wissen nicht, wo sie sich beschweren
können.“ Mittlerweile ist es zehn Uhr. Vor den Holztafeln stehen nur noch
rund 20 Menschen. Zwei Leute argumentieren mit ausladenden Gesten vor
dem Beschwerdetisch unter dem großen Baum. In genau 45 Tagen soll hier
die Vergabe der Titel erfolgen.
14. Die 800 Hektar der Exzellenz You Ay
Schaut man sich die Zahl der Staatssekretäre im kambodschanischen
Frauenministerium an, so könnte man meinen, diese Institution möge der
kambodschanischen Regierung besonders am Herzen liegen. Nicht weniger als zehn Staatssekretärinnen kümmern sich um die Geschäfte. – Das
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in Berlin hat
beispielsweise ‚nur’ zwei Staatssekretäre. Mit der Zahl der Beamten hat es
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Oliver Schilling
Kambodscha
aber folgende Bewandtnis: Nach den letzten Parlamentswahlen 2003 war
das Land ein Jahr lang ohne Regierung, da sich die Koalitionspartner nicht
auf einen Schlüssel zur Besetzung der Ministerien einigen konnten. Deshalb
wurde schlicht die Zahl der Minister, Vize-Premierminister und Staatssekretäre vervielfacht, um den Koalitionspartner gegenseitig mit Posten ruhig zu
stellen. – Eine spezielle Form des Krisenmanagements.
Frau You Ay ist eine der zehn Staatssekretärinnen im Ministerium für
Frauen. Ihr Name dürfte den regelmäßigen Zeitungslesern in Kambodscha
vertraut sein – für manche ist er regelrecht zum Synonym für Enteignung
und die persönliche Bereicherung von Politikern geworden. Denn Frau You
Ay hält – zumindest formell – Eigentum an einer Fläche von 800 Hektar
im Bezirk Phnom Srouch der Provinz Kampong Speu, westlich von Phnom
Penh. Von Phnom Penh sind es bis dorthin 90 Minuten mit dem Auto entlang der N4 in Richtung Sihanoukville. Bei Kilometer 120 geht es rechts in
eine kleinere Schotterstraße, nach 300 Metern beginnt ‚You-Ay-Land’. Ein
kleiner Zaun macht deutlich, dass wir uns auf Privatgelände befinden. Zusammen mit einer Mitarbeiterin der kambodschanischen Menschenrechtsorganisation ADHOC fahren wir weiter auf dem Landweg, der zunehmend
unebener wird. Ob wir jemals mit dem Toyota Corolla, den wir für die Fahrt
geborgt haben, wieder zurück nach Phnom Penh kommen, wage ich zu bezweifeln. – Insbesondere, als wir eine ca. 10 Meter lange Holzbrücke mit
dem Wagen überqueren sollen, deren einzelne Querbalken buchstäblich
lose sind und in Besorgnis erregend weiten Abständen auf dem klapprigen
Brückengerüst verteilt sind. Doch der Toyota bewältigt auch diese Hürde
mit Bravour. Nach 20 Minuten Ruckelfahrt sind wir im Dorf Chamka Chek.
Das Dorf ist dafür bekannt, dass es Frau You Ay wenig Freude an ihrem
Landbesitz bereitet. Die Bewohner gelten als besonders einschüchterungsresistent und haben bereits mehrfach in Kampong Speu sowie Phnom Penh
Demonstrationen gegen Frau You Ay organisiert, über die in den Medien
berichtet wurde. Dabei werfen sie ihr vor, sich unrechtmäßig Landflächen
in großem Stil angeeignet zu haben, ‚Land Grabbing’ in reinster Form zu
praktizieren. In Chamka Chek treffen wir Seng Sarat. Er ist eine Art Sprecher des Dorfes. Bis Ende März war er mehr als vier Monate inhaftiert.
Ihm wurde vorgeworfen, zu gewaltsamem Widerstand aufgerufen zu haben. Etwa einmal im Monat, erklärt Seng Sarat, würden Militärtrupps hierher kommen und mit Gewalt drohen, sofern die Häuser nicht geräumt würden. „Das schreckt uns nicht ab, im Gegenteil, die Solidarität der Menschen
hier wächst jeden Tag.“ Betroffen sind nicht nur die Menschen im Dorf von
Chamka Chek, sondern im Prinzip alle Menschen, die auf dem Eigentum
von Frau You Ay wohnen. Das sind genau 574 Familien, knapp dreitausend
Menschen.
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Kambodscha
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Wenn man sich eine Zeit lang in Phnom Penh aufhält, vergisst man irgendwann, dass man sich in einem der ärmsten Länder der Welt befindet.
Allzu sehr gewöhnt man sich an die Autos, den Lärm, die Lichter der Stadt.
Hier auf dem Land kann man mit eigenen Augen sehen, was in den Statistiken der Weltbank nachzulesen ist: Die Weltbank listet Kambodscha auf
Platz 183 der weltweiten Armutsstatistik. Damit liegt es im unteren Viertel
der Länder dieser Welt. Das durchschnittliche Jahreseinkommen pro Kopf
liegt bei 350 US-Dollar; in den Städten sind es 1.000 US-Dollar, was bedeutet, dass die Menschen hier in Chamka Chek sicherlich um einiges unter der 350 US-Dollar-Marge liegen, schätzungsweise eher bei 200 bis 250
US-Dollar. Das bestätigt mir auch Seng Sarat. Er selbst würde mit gelegentlichem Motorrad-Taxifahren und dem Verkauf von Reis auf etwa 200
US-Dollar im Jahr kommen. Wie er sich überhaupt ein Moped leisten kann,
ist mir allerdings rätselhaft, denn das allein kostet gebraucht mindestens
400 US-Dollar. Ebenso schockierend wie die Armut in diesem Landstrich
ist, dass es für die Menschen hier so wenig vorstellbar ist, eines Tages fließendes Wasser oder Strom zu haben. „Wir laufen jeden Tag ca. eine halbe
Stunde zum nächsten Brunnen.“ Das, was Seng Sarat Brunnen nennt, ist ein
bloßes Erdloch, das nicht sonderlich weit in die Tiefe zu reichen scheint.
Statt Grundwasser schöpfen die Menschen hier Wasser aus einem kleinen
unterirdischen Ausläufer eines nahe gelegenen Flusses ab. Eine braun-graue
Brühe, die nicht gerade gesund aussieht. Die Felder in dieser Gegend sehen
karg aus. Das mag an der Trockenzeit liegen. Allerdings ist auch klar, dass
Bäume nicht innerhalb der fünf Monate Regenzeit wachsen werden. Folglich ist Brennholz zum Abkochen von Wasser oder zum Kochen von Reis
Mangelware.
Nach unserem Gang durch das Dorf sitze ich mit Seng Sarat unter einer
Pagode, unter der sich immer mehr Menschen aus dem Dorf versammeln.
Der malträtierte Toyota muss unbedingt unter dem Dach der Pagode geparkt
werden, darauf bestehen die Gastgeber. Drei Viertel des Platzes ist nun von
dem Wagen eingenommen, uns bleibt noch eine kleine Fläche im vorderen
Teil der Pagode, auf einer Bank vor dem Buddha-Altar. Für die Kinder ist
das Auto die Attraktion schlechthin. Andächtig streicheln zwei kleine Jungen den weißen Lack, einer von ihnen ist sogar ganz mutig und setzt sich
stolz auf die Kühlerhaube. Natürlich wissen die Kinder, was ein Auto ist.
Aber aus der Nähe bekommen sie in der Regel keine Wagen zu sehen. Keinem der Menschen hier wird so recht klar sein, was ein Journalist ist, und
was er ausgerechnet an diesem Ort zu suchen hat. Tatsache ist vielmehr,
dass ein Ausländer mit einem gewaschenen Hemd vor ihnen sitzt, der sich
in einem Auto hierher fahren lässt, der eine andere Sprache spricht und eine
andere Hautfarbe hat. Das bedeutet: Es könnte jemand sein, der wichtig
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Oliver Schilling
Kambodscha
ist, der Geld hat. Eine Frau bringt mir zwei etwas zerfledderte Blätter, die
aus einem DIN A4 Ringbuch entnommen sind. Mit blauem Kugelschreiber
sind die Blätter beidseitig eng beschrieben. Ein Brief an den Ministerpräsidenten. Ich habe doch sicherlich gute Kontakte in Phnom Penh, sagt die
Frau. Deshalb möge ich den Brief – möglichst persönlich – übergeben. Auch
Seng Sarat glaubt, ich könne ein gutes Wort für sein Dorf einlegen. Er bittet
mich, bei NGOs Geld für den Ausbau der Wasserversorgung einzutreiben.
Ich versuche ihm zu erklären, dass ich keine entsprechenden Kontakte habe,
verspreche aber, den Brief beim Büro des Ministerpräsidenten abzugeben.
15. Audienz bei der Frau Staatssekretärin
Die Eindrücke in Chamka Chek geben keine Antwort auf die Frage, was
dieses Stück Land so begehrenswert macht, dass Exzellenz You Ay seit Ende
der neunziger Jahre einen Kampf austrägt, der ihr den Ruf einer Landherrin
eingebracht hat, die durch dubiose Machenschaften zu ihrem Eigentum gekommen ist und mit Gewalt Menschen vertreiben will. Der Bezirk Phnom
Srouch ist beispielsweise zu weit von Phnom Penh oder anderen Städten entfernt, als dass es sich lohnen würde, hier Appartement-Anlagen hochzuziehen. Die Nutzung der Fläche für industrielle Produktion scheint ebenfalls
wenig lukrativ. Zwar befindet sich die N4 als großer Zubringer nach Phnom
Penh in unmittelbarer Nähe, doch es gibt besser gelegene Landstücke in der
Nähe zu den Absatzmärkten in der Stadt.
Nach vielen Telefonaten habe ich die Handynummer von Frau You Ay
ausfindig gemacht und lanciere bei ihr eine Interviewanfrage. Auch das ist
schwierig, selbst ein Gespräch zur Vereinbarung eines Gesprächs ist schwer
zu bekommen. Schließlich klappt es. Frau You Ays Büro ist in einem Neubau am Stadtrand untergebracht, ca. zwei Kilometer nördlich von Wat
Phnom. Sie hat zwei Sekretärinnen, das Büro ist angenehm klimatisiert –
unter einer Pagode braucht sie keinen Schatten zu suchen. Frau You Ay ist
gut aufgelegt. Sie scheint gerne in das Mikrophon zu sprechen, welches sie
dann auch gleich selbst in die Hand nehmen möchte. Sie stellt sich kurz mit
Namen und Amtsbezeichnung vor und diktiert zunächst eine kleine Regierungserklärung in das Aufnahmegerät. Dann darf ich Fragen stellen. Wir
sprechen zunächst über das Rote Khmer Tribunal und die Frage, inwiefern
ihr Ministerium dabei Gender-spezifische Aspekte einbringen wird. Anschließend geht es um das Thema Landregistrierung und Landreform, bis
wir schließlich auf ‚Land Grabbing’ zu sprechen kommen. Frau You Ay gibt
zu, sich in diesem Sujet gut auszukennen. „Sie müssen verstehen, dass es in
diesem Land gute und schlechte Menschen gibt. Von den schlechten wettern
292
Kambodscha
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viele gegen die Regierung, angestachelt von der Opposition.“ – Eine Sicht
auf die Gesellschaft, deren Konturenschärfe wohl kaum bezweifelt werden
kann. Frau You Ay erzählt mir ihre Leidensgeschichte, dass sie das Land von
den Bewohnern eigens gekauft habe, für 100 Tausend US-Dollar. Dann zeigt
sie mir ein Photo. Bei näherem Hinsehen erkenne ich Seng Sarat. Frau You
Ay erklärt, es handele sich um die Unterzeichnung der Kaufurkunde. Ob es
tatsächlich eine Kaufurkunde ist, die die beiden auf dem Bild in den Händen halten, kann ich nicht erkennen. „Mit diesem Mann habe ich im Namen
der Bewohner einen Vertrag geschlossen. Mittlerweile ist er gewalttätig geworden, und an die Abmachungen will sich niemand halten. Ich habe das
Land rechtmäßig erworben und bin Opfer der Willkür dieser Menschen.“
Verkehrte Welt – von einem Kaufpreis oder Kaufvertrag war in Chamka
Chek nicht die Rede. Um die Menschen ruhig zu stellen, habe sie ihnen eine
Fläche von 200 Hektar überlassen. Allerdings ist das weniger als die Hälfte, die von den Bewohnern gefordert wird, nämlich genau 574 Hektar – ein
Hektar pro Familie. Frau You Ay erklärt, sie habe das Land in schlechtem
Zustand erworben. Damals habe es dort noch keine Infrastruktur gegeben.
Mittlerweile habe sie Straßen und auch eine Brücke bauen lassen, weshalb
der Wert der Fläche bereits um das fünf- bis achtfache gestiegen sei. Ich
vermute, sie meint die klapprige Holzbrücke und den mit Kratern übersäten
Schotterweg, die dem tapferen Toyota Corolla erstaunlicherweise nichts zuzusetzen vermochten.
Schließlich frage ich Frau You Ay, welche Pläne sie mit dem Land hat,
warum die Fläche das Ertragen empfindlicher Strapazen wert ist. Mit einem
leichten Funkeln in ihren Augen verrät Frau You Ay, dass sie dort eine Poliklinik bauen möchte und hierfür bereits mit chinesischen Investoren im Gespräch sei. Die rebellischen Bewohner der Dörfer um Chamka Chek – die
„bad people“ – will sie als Arbeiter einstellen. Behandlungen sollen für sie
sogar kostenlos angeboten werden. – Eine schwierige Vorstellung, da gerade die hohen Kosten für Arztbehandlungen ein nicht unerheblicher Faktor
sind, der viele Khmer nicht aus dem Teufelskreislauf der Armut entkommen
lässt. Frau You Ays Pläne sind unter einem anderen Gesichtspunkt allerdings interessant: Direkt hinter ihrem Landstück beginnt der Kirirom Nationalpark, mit zahlreichen Wanderwegen und großen Nadelwaldflächen.
Seine Luft gilt als besonders gut. „Vielleicht können wir auch eine RehaKlinik bauen – vor allem für ausländische Gäste könnte das interessant sein.
Billiger als in Europa oder den USA wäre ein Aufenthalt hier allemal.“ So
einfach das Weltbild von Frau You Ay mit ihren Kategorien von „good people“ und „bad people“ ist – einen gewissen Geschäftssinn mag man ihr
nicht absprechen.
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Kambodscha
16. Good-bye Kambodscha
Nach sechs Wochen packe ich die Koffer mit den vielen Mosaiksteinen,
die ich sammeln durfte. Etwas ermattet und von Eindrücken nahezu überfrachtet geht es zurück nach Europa. Auf der Rückfahrt zum Flughafen erinnert mich der Fahrer daran, dass wir bereits erörtert hatten, ob es in Deutschland Mangobäume gibt. „Wie sieht es denn mit Ananas und Kaki-Früchten
aus?“ „Nein, die haben wir auch nicht, dafür aber Pflaumen und Birnen, die
es hier wiederum nicht gibt“, gebe ich zu verstehen. Kurz vor der Ortsausfahrt von Phnom Penh hält er an, steigt aus und kommt mit einer großen Plastiktüte wieder. „Ich habe verstanden: Alles was hier wächst, gibt es bei ihnen nicht – und wohl auch umgekehrt. Nehmen sie diese Wassermelone mit
und denken sie möglichst lange an unser Land.“
Kambodscha ist ein Land mit vielen Möglichkeiten, eines der ärmsten
Entwicklungsländer Südostasiens, das buchstäblich noch eine enorme und
hoffentlich viel versprechende Entwicklung vor sich hat. Wer weiß, wie es
hier in zehn Jahren aussehen mag – anders auf jeden Fall. Die Kraft zur Veränderung ist nur eine der vielen, allerdings sehr bemerkenswerten Qualitäten der Khmer. Zu wünschen ist dem Land und seinen liebenswürdigen
Menschen Frieden, Wohlstand und vor allem: ein Gesellschaftssystem, das
letztendlich die „feudalen Strukturen“ nicht fortschreibt, sondern zur Geschichte werden lässt. Gerechte und geklärte Eigentumsverhältnisse sind dafür eine grundlegende Voraussetzung.
17. Danksagung
Mein Dank gilt in erster Linie der Heinz-Kühn-Stiftung für ihre großzügige Unterstützung. Insbesondere möchte ich Frau Kilian für Ihre Hilfe, Ihren Rat und Tat herzlich danken. Ebenfalls dankbar bin ich für die
zahlreichen Gespräche und Anregungen, die ich in Kambodscha von Journalistenkollegen, Mitarbeitern nationaler und internationaler Hilfsorganisationen, Freunden und Bekannten erhielt. Von den Recherchen und Erfahrungen in Kambodscha werde ich auf meinem weiteren Werdegang in
vielerlei Hinsicht sicherlich noch lange zehren. Herzlichen Dank.
294
Christian Schlesiger
aus Deutschland
Stipendien-Aufenthalt in
Sambia
vom 11. Oktober bis 21. November 2005
295
Sambia
Christian Schlesiger
Sim’s Pech, Sam’s Glück
– wie Sambia vom Niedergang Simbabwes profitiert
Von Christian Schlesiger
Sambia, vom 11. Oktober bis 21. November 2005
297
Sambia
Christian Schlesiger
Inhalt
1. Zur Person:
300
2. Neue Heimat – Sim-Farmer im Sam-Land:
300
3. Alte Heimat Sim
302
4. Die Investitionsentscheidung:
304
5. Tabakfirmen – die wahren Profiteure
308
6. Der Agrarsektor wächst
311
7. Choma – eine Stadt entwickelt sich
313
8. Neue Spannungen
315
9. Die Kleinbauern – ihre ungewöhnlichen Alltagsprobleme
318
10. Die Wirtschaft
320
11. Die Chance der Zukunft – der Tourismus
322
12. Chieftancies – die vergessenen Multiplikatoren
325
13. HIV – eine Krankheit ergreift das Land
327
14. Korruption – die unsichtbare Bremse
329
15. Fazit – enormes Potenzial, fehlender Wille
331
299
Christian Schlesiger
Sambia
1. Zur Person:
Christian Schlesiger, geboren am 8. Januar 1973 in Düsseldorf. Nach
dem Studium der Volkswirtschaftslehre in Duisburg und Freiburg habe ich
im Januar 2000 ein anderthalb-jähriges Volontariat bei Gruner + Jahr Wirtschaftspresse absolviert – mit Stationen bei Impulse, Börse Online, Financial Times Deutschland und Capital sowie der Kölner Journalistenschule für
Politik und Wirtschaft. Seit August 2001 arbeite ich beim Wirtschaftsmagazin Capital als Redakteur und bin dort zuständig für die Themen Management, Karriere und Lifestyle.
2. Neue Heimat – Sim-Farmer im Sam-Land:
Es hätte sein Tod sein können. Neun Mal infizierte sich Don Maclean mit
Malaria – innerhalb nur eines Jahres. Der Farmer lehnt sich zurück in seinen Sessel: „Ich hatte Fieber, Kopfschmerzen und fühlte mich Tage lang
schwach“, sagt er nachdenklich. An Arbeit war nicht zu denken. „Das war
die wohl härteste Zeit meines Lebens“, sagt der 40-Jährige. „Die ersten
zwölf Monate waren körperlich und psychisch eine Tortur.“ Er trinkt einen
Schluck Wasser und lächelt – so, als gehörten derartige Schwierigkeiten wie
selbstverständlich zu seinem Leben.
Maclean ist Bauer in Sambia. Er trägt eine kurze Kaki-Hose und ein
Hemd in gleicher Farbe. Auf der Brust sind weiße Pigmentstörungen zu sehen. Seit vier Jahren lebt Maclean mit seiner Frau und den beiden Söhnen
in der Nähe von Kabwe, rund 130 Kilometer nördlich der Hauptstadt Lusaka. Von der Great East Road, eine der wenigen geteerten Straßen im Land,
zweigt eine kleine Stichstraße in Richtung Smith Investments ab. Mehr als
vier Kilometer zieht sich die staubige Sandpiste über kleine Flussläufe und
durch Miombo Woodlands, einer Mischung aus Laubwald und Buschland.
Eine Stromleitung begleitet Besucher durch den grünen Wald, bis Tabakfelder tiefe Schneisen und Plateaus in den Wald reißen.
Maclean lebt vom Tabakanbau. Auf seinen rund 150 Hektar Land – so
groß wie 15 Fußballfelder – wachsen die dunkelgrünen Pflanzen heran.
Auf einigen Parzellen sind sie erst 50 Zentimeter hoch, auf anderen messen sie Körpergröße. Gut geordnet stehen sie in geraden Reihen mit einem
Meter Abstand. Sambische Arbeitskräfte bücken sich über noch ungesäte
Felder und stecken Setzlinge in den trockenen Boden. Mit jeder Bewegung
zittert die Sonne auf ihren nackten Oberkörpern. Dicke Gewitterwolken
künden die Regenzeit an – doch die lässt Ende Oktober noch lange auf sich
warten.
300
Sambia
Christian Schlesiger
Im Sommer 2002 kam Maclean hierher, aus Simbabwe, dem südlichen
Nachbarstaat und seiner Heimat. Dort herrscht ein Tyrann namens Robert
Mugabe, der unliebsame Bürger und weiße Großgrundbesitzer aus seinem
Land vertreibt. Einer von ihnen war Maclean. In Sambia fühlt sich der Farmer willkommen. Mehr als 9.000 Kilometer tourte er im Juni 2002 durch
das fruchtbare Land, prüfte die Bodenqualität, bewertete die Infrastruktur
und zog die Regenwahrscheinlichkeit in Betracht. „In dieser Gegend um
Kabwe herum regnet es am häufigsten“, sagt Maclean. Das Argument sei
ausschlaggebend für die Wahl seiner rund 1.000 Hektar. Mit seinem Partner
Graeme Smith pachtete er das Land vom Staat für 99 Jahre.
Innerhalb von wenigen Jahren haben die beiden aus den wilden Miombo Woodlands fruchtbares Ackerland gemacht. Sie ließen Bäume rausreißen und abtransportieren sowie Wurzeln entfernen. Für jeden Hektar investierten sie 3.000 Dollar. 250 Arbeitskräfte sind auf der Farm angestellt. In
Erntezeiten erhöht sich die Zahl auf 420. Die meisten von ihnen wohnen in
den angrenzenden Häusern, die Maclean für sie bauen ließ. Der Bau eines
sieben Kilometer langen Staudamms verschlang zusätzliches Geld. Dafür
haben sie auch in regenarmen Zeiten genügend Wasser. Zusammen belaufen sich ihre Schulden auf rund eine Million Dollar. Immer wieder mussten
sie herbe Rückschläge hinnehmen. „Die Dürre im Jahr 2004 hat uns eine
schwere Saison beschert“, sagt Maclean. „Die Erträge in der jüngsten Vergangenheit waren miserabel.“ Was sie in Simbabwe auf 45 Hektar ernten
konnten, schaffen sie hier auf knapp der dreifachen Fläche. Und dann ist da
die Sache mit dem Strom, die ihnen fast das wirtschaftliche Genick gebrochen hätte. Im Oktober 2004 zapfte er das erste Mal die Stromleitung an, die
er über Jahre hinweg durch die Wildnis gezogen hat. Doch keine drei Monate später ist es vorerst vorbei. Ein Stromausfall brachte über Wochen hinweg jeglichen Fortschritt zum Erliegen. Zwar konnte die Farm weiterlaufen.
„Wir haben pro Tag rund 500 Liter Diesel verbraucht“, sagt Maclean. Damit
könne aber keine Farm effizient geführt werden.
Fünf Hunde streunen durch das Wohnzimmer. Auf dem Holztisch schläft
die grau-schwarze Hauskatze. Alte graue Sessel und eine Couch stehen um
den Röhrenfernseher herum. In den Regalen stehen Bücher. Ein Reetdach
auf mehreren Holzpflöcken schützt das Wohnzimmer vor Regen und Sonne
– Wände gibt es nicht. Maclean übernachtet mit seiner Frau und den beiden
Söhnen in drei separaten Zelten. Das eine dient als Schlafzimmer für die
Jungs, das andere für die beiden Eltern und das dritte ist Ankleideraum. Eine
Hausangestellte kocht in der Küche, die ebenfalls nur mit einem Reetdach
abgedeckt ist, jeden Abend warme Mahlzeiten. Ein Dieselgenerator in rund
50 Metern Entfernung liefert Strom.
301
Christian Schlesiger
Sambia
Die Wohnung war als Provisorium angelegt. Seit drei Jahren lebt die Familie unter den Holzpfählen. Wäre es eine Unterkunft für Backpacker-Touristen, sie hätte es wohl als Empfehlung in den Lonleyplanet-Reiseführer
geschafft. Doch die Realität macht jede Abenteuerromantik zunichte. „Kein
Jahr ist es her, da stand das Regenwasser bis zu den Knien“, sagt Maclean.
Viele Tage habe es gedauert, bis sie den Schlamm beseitigt hatten und sich
wieder ihrer Farm widmen konnten. Nachts, vor allem in der Regenzeit, die
zurzeit ab Oktober beginnt, wimmelt es von Moskitos.
Eigentlich wollten die Macleans vor November in den Neubau einziehen, der rund 15 Meter neben dem Provisorium auf die Fertigstellung wartet. Ein Klinkerbau mit großer Empfangshalle und offener Küche. In der
zweiten Etage befinden sich Schlaf- und Arbeitszimmer. Doch das Reetdach
war undicht und der erste kleine Regenguss Ende Oktober spülte literweise Wasser in das unfertige Haus. Handwerker aus der Umgebung verlegen
dennoch eifrig die letzten Rohre, bringen das Treppengeländer an und verputzen die Wände. Doch die Macleans werden eine weitere Regensaison mit
dem Provisorium vorlieb nehmen müssen, bis die Trockenheit die Reparatur
des Dachs ermöglicht.
Doch von Resignation keine Spur. „Wir haben die größten Probleme hinter uns“, sagt Maclean und lächelt. „Im kommenden Jahr ziehen wir in unser neues Haus ein.“ Außerdem werde er in der kommenden Saison bereits
120 Hektar anpflanzen und bald mit der Diversifizierung beginnen. „Vergangenes Jahr waren es 50 Hektar weniger.“
3. Alte Heimat Sim
Maclean ist einer von mehreren hundert Farmern, die der simbabwische
Diktator Robert Mugabe aus ihrer Heimat vertrieben hat. 300 von ihnen
flohen ins benachbarte Sambia und wagten als Farmer den Neuanfang. In
seinem Heimatland Simbabwe konfiszierte die Regierung Mugabe auch
Macleans Farm. Er verlor alles: Das Haus, seine Traktoren und Bewässerungsanlagen, seine Werkzeuge und Geräte für die Tabakernte. Es war ein
Tag im Frühling 2001. Ein Beamter der simbabwischen Regierung überreichte Maclean einen Brief: Seine Farm falle unter den „Land Acquisition
Act“, müsse sobald wie möglich geräumt werden – Entschädigung ausgeschlossen.
Vier Jahre zuvor hatte er erst überhaupt mit der Landwirtschaft begonnen.
Mehrere hundert Tausend Simbabwe-Dollar hatte er in seine Tabakfarm investiert. Zusammen mit seinem Partner Smith baute er rund 1.000 Hektar
an, war gegen Ende erfolgreicher Tabakbauer. Maclean holt sein blaues Fo302
Sambia
Christian Schlesiger
toalbum aus dem Schrank. Nacheinander klappt er die Klarsichttaschen mit
den Bildern seiner Heimat nach oben: ein großes weißes Haus mit Reetdach, ein Swimmingpool, seine Söhne mit Regencapes vor den grünen umliegenden Hügeln und ein Garten mit Blick über die fruchtbaren Böden im
Mashonaland West, der nördlichen Kornkammer Simbabwes. „Ich habe es
gerade noch geschafft, einen einzigen Traktor zu verkaufen“, sagt Maclean
gelassen. „Das war alles.“ Der Rest sei weg, ohne einen Cent dafür gesehen
zu haben.
Im April des Jahres 2001 musste Maclean zudem für fünf Tage ins Gefängnis. Angeblich, weil er mit elf Freunden einen Coup gegen die Regierung plante. „So ein Quatsch“, sagt er. Trotz der Repressalien sind ihm Wut
und Hass fremd. „Das war ein Kapitel in meinem Leben“, sagt er nüchtern.
„Es war eine schöne Zeit“, so Maclean. „Jetzt starten wir eben wieder von
vorne.“
Derart ruhige Töne sind selten. Die Farmer in Simbabwe haben alles verloren, bis auf das private Vermögen. Das blieb unangetastet solange es keinen Bezug zum landwirtschaftlichen Betrieb hatte.
Jim Watt fällt es schwer, mit der neuen Situation klar zu kommen. Mit
zwei Arbeitern sitzt er vor einem Motorrad indischer Herkunft. Eine defekte Benzinleitung hängt lose vom Motorblock herunter. Sonne und Hitze
von 38 Grad Celsius machen ihm zu schaffen. Schweißperlen laufen über
sein rundes Gesicht, auf das sich nasse Haarstränen gelegt haben. Das weite
blaue Hemd kann sein Übergewicht nicht verbergen. Nervös greift er zu einer Schachtel Peter Stuyvesant, zündet sich eine Zigarette an und zieht kurz
und kräftig daran. Er legt den Arm auf sein Bein ab, hebt ihn wieder an und
führt die Hand hektisch zum Mund – ein weiterer Zug.
„Sie haben alles genommen“, sagt er und schüttelt den Kopf, als könne er
es immer noch nicht fassen. Zwei Höfe besaß er an der Grenze zu Sambia.
Wenige Kilometer hinter der Grenzstadt Chirundu baute er auf weit mehr als
2.000 Hektar Land erfolgreich Tabak, Weizen, Mais und Gemüse an. Er war
einer von rund 240 Farmern in der Gegend. Heute seien es allenfalls sechs
oder acht, die sich mit dem Mugabe-Regime auf eigenartige Art und Weise
arrangieren würden, so Watt.
Regelmäßig fährt Watt heute noch in seine alte Heimat. „Ich hatte einen
Damm, mit dem ich rund 1.000 Hektar Land bewässern konnte“, sagt er.
Heute sei das Land ruiniert. Den vielen Kleinbauern, unter denen sein Farmland aufgeteilt wurde, fehlt das Wissen, wie sie den Acker bestellen. Weil
die Ernte nicht ausreichte, um sich und die Familien zu ernähren, hätten
einige verzweifelte Farmer den Damm gesprengt, um an den zappelnden
Fisch zu kommen, nachdem das Wasser ausgelaufen ist – eine schiere Verzweiflungstat, um zu überleben. „Das Land ist kaputt, absolut unbrauchbar“,
303
Christian Schlesiger
Sambia
schimpft Watt. „Sie haben alles zerstört!“ Watt schaut zum Boden und zieht
an seiner Zigarette. Nach einigen Sekunden sagt er: „Meine Arbeiter von
früher haben mich angefleht, zurückzukommen“, sagt er. „Aber ich werde
niemals zurückkehren.“
Im Jahr 2000 war Simbabwe noch der international zweitgrößte Tabakexporteur mit einem Weltmarktanteil von 20 Prozent. Nur Brasilien lieferte
mehr aus. Insgesamt 8.531 Farmer fuhren eine Rekordernte in Höhe von 237
Tonnen Tabak ein. Dann begannen die Enteignung der Großgrundbesitzer
und die Landverteilung. Im Jahr 2004 schafften 12.700 meist unerfahrene
Kleinbauern gerade einmal 68 Tonnen. Der simbabwische Weltmarktanteil
sank auf vier Prozent. Für das Jahr 2005 erwartet der große Tabakkonzern
Universal eine Ernte von 90 Tonnen. Mugabe glaubt, dass viele Kleinbauern den Wegfall der Tabakproduktion und den Wegzug der weißen Farmer
kompensieren könnten. Doch in Wahrheit schaffen seine Landsleute nicht
einmal annähernd so viel. Zum Vergleich: Ein Kleinbauer, der einen Hektar anpflanzt, kommt im Durchschnitt auf 900 Kilogramm Tabak. Ein Großfarmer hat 3.000 Kilo hergestellt und zudem davon gleich 45 Hektar angepflanzt. Zu diesem Ergebnis kommt Rodney Ambrose, Geschäftsführer von
Zimbabwe Tobacco.
Die Produktion von Getreide, Weizen, Sojabohnen, Schnittblumen und
Paprika ist ebenfalls stark gesunken. „In der kommerziellen Landwirtschaft
hat es in einigen Bereichen wie Soja oder Crop einen Niedergang von bis zu
90 Prozent gegeben“, sagt Kuda Ndoro, Ökonom bei der Commercial Farmer Union in Harare. Agrarprodukte steuern nur noch 14 Prozent zum BIP
bei, im Vergleich zu 18 Prozent vor fünf Jahren.
4. Die Investitionsentscheidung:
Deon Arangies steht auf dem Acker und gibt Anweisungen in einer Mischung aus Englisch und der simbabwischen Sprache Shona. Er ist Partner
von Farmer Watt. Über seiner rechten Schulter hängt eine rote Feldflasche.
Bei jeder Bewegung stoßen Eiswürfel von innen gegen die Plastikwand.
Ray Ban Brille und Cappy schirmen seine Augen gegen beißende Hitze und
grelles Sonnenlicht ab. „Der Dünger war zu nah an der Pflanze dran“, sagt
er. Eine handbreit dürfen die weißen Kugeln vom Setzling entfernt sein.
Doch vergangene Woche war der Abstand falsch gemessen und die jungen
Tabakpflanzen zerstört. „Wir haben viele Arbeitstage verloren.“ Hinter ihm
stechen Arbeiter mit zwei Meter langen Lanzen zehn Zentimeter tiefe Löcher in den trockenen Boden. Dahinter füllen Frauen die Löcher mit den
Setzlingen und schütten die Löcher zu. Weitere zehn Meter dahinter fährt
304
Sambia
Christian Schlesiger
ein Traktor den Wassertank über das Feld. Frauen begießen die Löcher mit
je einem Liter Wasser. Tabakanbau ist Knochenarbeit.
Watt und Arangies sind in ihrer dritten Saison. Von den 1.600 gepachteten
Hektar bauen sie bereits 130 Hektar Tabak und 150 Hektar Mais an. Rund
200 Sambier leben und arbeiten auf der Farm – Tendenz steigend. „In Sambia gibt es genügend Arbeiter“, sagt Arangies. Den meisten fehle jedoch
jegliches Wissen von Landwirtschaft. „Aus diesem Grund beschäftigen wir
noch einige simbabwische Vorarbeiter aus früheren Zeiten“, sagt Arangies.
„Sie leiten die ungelernten sambischen Kräfte an.“ Unterm Strich sei er sehr
zufrieden mit der Arbeitsleistung. Nach wenigen Tagen würden die meisten
die Handgriffe beherrschen.
Für die Sambier aus der Region ist der Zuzug der simbabwischen Farmer
ein Glücksfall. Zum einen finden sie so Arbeit und bekommen einen Tageslohn von 6.500 Kwacha, also umgerechnet 1,60 Dollar, pro Tag. Zum anderen finden sie auf der Farm ein neues Zuhause. Ein Steinhaus neben dem
anderen entsteht unweit der Farm. Sie sind klein, gerade einmal zehn Quadratmeter groß. Doch sie bieten sicheren Schutz gegen Wind, Sonne und Regen. Zudem sorgen die Farmer Watt und Arangies für Strom und Toiletten.
Die reetgedeckten Strohhütten in der Umgebung werden früher oder später
abgerissen, sobald die Arbeiter ihre neuen Unterkünfte bezogen haben.
Die beiden versichern ihre Arbeiter zudem gegen Arbeitsunfälle. Auf niedrigem Niveau bieten sie ihnen Gesundheitsdienstleistungen an. „Wenn jemand Malaria hat, sorge ich für Transportmöglichkeiten oder kaufe Medikamente“, sagt Arangies. Einen ehrgeizigen Plan haben sich die beiden Farmer
zudem für die örtliche Infrastruktur gesetzt. „Wir wollen eine Schule bauen.“
Das hatten sie bereits in Simbabwe erfolgreich getan. Mehr als 700 Studenten
hätten mit ihrer Hilfe und lokaler Sponsoren Zugang zu Bildung bekommen.
Außerdem pflanzen die beiden Farmer Mais an. „Das hat mehrere Gründe“, sagt Arangies. Zum einen rechnet sich Maisanbau betriebswirtschaftlich. „Wir sind nicht ganz so abhängig von der Tabaknachfrage und erreichen selbst bei Preisschwankungen eine gewisse Planungssicherheit.“ Zum
anderen sei Maisanbau politisch gut, „weil wir damit der gesamten Nation
helfen, damit sie sich selbst ernähren kann“, sagt Arangies. „Die Arbeiter
bekommen Mais und bauen zum Teil selbst Mais auf ihren privat nutzbaren
Feldern an“, so Arangies. „Damit stellen wir sicher, dass der Hunger nicht
auf unsere Farm kommt.“
Die Farm wirft noch keinen Gewinn ab. Am Ende eines Tages kommen
die beiden auf Plus-minus-Null. Watt und Arangies haben auch andere Staaten für ihren Neuanfang in Betracht gezogen: Mosambik, Malawi, Südafrika und Namibia. Doch die Chancen in Sambia seien die besten. „Das Land
ist fruchtbar und Wasser gibt es genug“, sagt Arangies. Große Wasserläufe
305
Christian Schlesiger
Sambia
wie der Sambesi, der mit einer Länge von 2.700 Kilometern der längste
Fluss im südlichen Afrika ist, bieten ideale Bedingungen. Hinzu kommen
die guten klimatischen Bedingungen: Sambias tropisch-semihumides Klima wird durch seine Höhenlage abgemildert. Auf dem zentralen Hochplateau liegt der Jahresmittelwert bei 21 Grad Celsius, in den Flussniederungen
bei 25 Grad Celsius. Lange Regenzeiten von Oktober bis April sorgen für
hohen Niederschlag, der die Böden im ganzen Land fruchtbar macht. Mithilfe von Dämmen speichern die Bauern das Wasser oft über mehrere Monate hinweg.
„Es gibt auch kein Landverteilungsproblem wie das in Simbabwe der Fall
ist“, sagt Farmer Arangies. Nur auf rund 15 Prozent der landwirtschaftlich
nutzbaren Fläche wird tatsächlich angebaut. Der Rest ist bedeckt mit Buschland und Wäldern – ein riesiges Potenzial, das sich zum Anbau von Weizen,
Blumen und Tabak eignet. Wer in dem Land als Farmer einsteigen möchte,
muss sich eher mit der Frage auseinander setzen, wo er investieren möchte,
als mit der Frage, ob er es überhaupt tun soll.
Zudem lockt das Land mit einem weiteren großen Vorteil – vielleicht einer
der entscheidendsten: Rassismus gegenüber Weißen kennt das Land nicht.
Weniger als ein Prozent der sambischen Bevölkerung sind Europäer und Inder. Die meisten Europäer sind britischer Herkunft. Ihre Beschäftigung finden sie vorwiegend in der Landwirtschaft und Industrie. Inder dominieren
im Handel und Transportunternehmen. Sie leben fast ausschließlich im Süden und den großen Städten. Die Weißen müssen sich mit den schwarzen
Bevölkerungsteilen arrangieren – und das tun sie in kooperativem Nebenund Miteinander. „Wir hatten auch Länder wie Südafrika und Namibia in
Betracht gezogen“, sagt Arangies. Doch dort würden mittlerweile ebenfalls
die ersten Farmen konfisziert und schwarzen Bürgern übertragen. „Eine Investition dorthin wäre uns zu heikel gewesen.“
Überhaupt ist Sambia eines der friedlichsten Länder in der Region. Im
Dezember des Jahres 1963 spaltete sich das Land von der Föderation mit
Südrhodesien, dem heutigen Simbabwe, ab. Am 24.10.1964, dem heutigen
Nationalfeiertag, wurde die Republik Sambia ausgerufen. Ihr erster Präsident hieß Kenneth Kaunda, der als Sohn eines aus Malawi eingewanderten
protestantischen Missionarslehrers keinem sambischen Volk angehört. Mit
seinem lebenslangen Bemühen, Tribalismus zu bekämpfen, machte Kaunda
den Slogan „One Zambia – one Nation“ berühmt.
Bei den rund 70 verschiedenen Ethnien handelt es sich überwiegend um
Bantu-Völker. Die Bantu lebten ursprünglich in Kamerun. In mehreren Wellen wanderten sie über Gabun und Kongo nach Ostafrika sowie nach Angola und Sambia. Heute leben sie, in unzählige Volksgruppen verzweigt,
über große Teile Afrikas verteilt. Die Bantuvölker unterscheidet man in zwei
306
Sambia
Christian Schlesiger
Hauptgruppen: die erste Gruppe hat eine matrilineare (mutterrechtliche)
Erbfolge, die andere eine patrilineare (vaterrechtliche) Ausrichtung. Kennzeichnend für die erste Gruppe, zu der die Lunda, Ila, Mbunda, Lala, Tonga
und Lomwe gerechnet werden, waren rechteckige Hütten mit jeweils dem
Ahnenplatz davor; ausgiebige Begräbnisfeiern, wenig Rinderzucht, aber dafür vollendete Metallarbeiten. Die zweite Gruppe, die Lozi, Ngoni, Mambwe, Lungu, Ngonde und Sena, dagegen bauten traditionell runde Häuser mit
dem Ahnenplatz dahinter, praktizierten Heirat gegen Bezahlung und hielten
Vieh. Die Tonga und Ila aus der matrilinearen Gruppe bildeten dabei eine
Ausnahme, denn sie betrieben intensive Rinderzucht.
Die stärkste Einwanderung nach Sambia erfolgte offensichtlich aus der
heutigen Republik Kongo. Allein in den letzten 500 Jahren kamen aus dieser
Richtung die Bemba, Bisa und Lala in die Nordprovinz, die Ushi in die heutige Luapulaprovinz und die Lenje nach Zentralsambia. Aus der Grenzregion von Kongo und Angola wanderten die Lunda und Luvale ein. Aus Tansania kamen zeitgleich die Lungu, Mambwe und Tumbuka in den Nordosten
Sambias. Schließlich erreichten im frühen 19. Jahrhundert von südlich des
Sambesi die Ngoni Ostsambia.
Noch heute dominieren im Vielvölkerstaat Sambia drei Machtblöcke, die
auf der traditionellen Gruppenzugehörigkeit basieren: die Bemba-Volksgruppe im Norden und Nordosten, die Tonga, Lozi, Luvale, Lunda und Kaonde
im Westen und Zentrum, und schließlich die Ngoni im Osten Sambias.
Dieser historische Abriss ist wichtig, um die Besonderheit des Landes zu
verstehen. Nach der Unabhängigkeit 1964 kam es zunächst zu Spannungen.
Dem innenpolitischen Druck begegnete Kaunda 1973 mit der Einführung
eines Einparteiensystems und dem Verbot aller anderen oppositionellen
Vereinigungen. Dem Unmut des Volkes begegnete Kaunda nun mit hartem
Kurs, indem er systematisch seine Alleinherrschaft sicherte, Opposition und
Presse gleichschaltete. Mit der Abschaffung des Ministerpräsidentenamtes
1973 verriet er seine bisherige im Grunde eher demokratische Gesinnung.
Man spricht daher seit 1973 von der „Zweiten Republik Sambias“.
Dennoch hatte Kaunda 27 Jahre lang friedlich und mit Bedacht regiert.
Er war stets diskussionsbereit und diplomatisch geblieben und hatte auf diese Weise sein eigenes Land durch manche Krise geführt und eine wichtige ausgleichende Rolle im südlichen Afrika gespielt. Das Land kennt weder Kriege mit anderen Nationen noch Spannungen innerhalb der eigenen
Grenzen. Es ist Kaunda zu verdanken, dass die rund 70 verschiedenen Ethnien harmonisch miteinander leben. Die für Afrika typische Mischung von
Stämmen in einem Land führt oft zu kriegerischen Auseinandersetzungen.
In Sambia blieben sie weitestgehend aus. Da jede Gruppe eine eigene Sprache pflegt, verständigen sich die Völker untereinander in Englisch.
307
Christian Schlesiger
Sambia
Ein Grund dafür: Kaunda folgte von Anfang an seiner gesellschaftspolitischen Philosophie, die verschiedenen Stämme miteinander zu mischen.
„Unter dem Slogan ‚One Zambia, One Nation‘ haben wir viele Erfolge erreicht“, sagt Kaunda in einem Interview mit der unabhängigen Tageszeitung The Post. „Seit Beginn meiner politischen Karriere war ich davon überzeugt, dass der beste Weg, Sambier zu vereinen, eine Politik ist, die darauf
abzielt, Hochzeiten zwischen Mann und Frau aus verschiedenen Stämmen
zu fördern.“ Damit hatte er Erfolg. In Sambia leben die verschiedenen Völker friedlich miteinander. Zwar identifiziert sich jeder Sambier mit seinen
Stammeswurzeln, doch kriegerische Auseinandersetzungen gibt es nicht.
Die friedliche Geschichte des Vielvölkerstaates verpflichtet gegenüber
Fremden. Die heutige Regierung unter Präsident Levy Mwanawasa heißt
auch die neuen Farmer aus dem südlichen Nachbarland willkommen. Sie
bietet günstige Investitionshilfen: Der Steuersatz auf landwirtschaftliches
Einkommen liegt bei 15 Prozent – und damit halb so hoch wie in anderen
Wirtschaftssektoren; die Steuerzahlungen können um fünf Jahre verschoben
werden; die Einfuhr von landwirtschaftlichen Geräten ist zollfrei. Im August
2004 traf sich der Regierungschef mit immigrierten Simbabwe-Farmern in
der nordsambischen Stadt Mkushi, um ihnen mitzuteilen, dass die Regierung die Eigentumsrechte der Neuen respektieren werde und ihren Beitrag
zur Diversifizierung der Wirtschaft durchaus zu schätzen wisse.
Auch außenpolitisch vertritt die Regierung die Belange der Einwanderer. Bis heute weigert sie sich beispielsweise, das Regelwerk der Weltgesundheitsbehörde der Vereinten Nationen (World Health Organisation Framework Convention on Tobacco Control) anzuerkennen. Darin verpflichten
sich die Staaten zu einer stärkeren Kontrolle des Tabakanbaus und einem
langsamen Eindämmen der Produktion. Landwirtschaftsminister Munida
Sikatana hat die Bedeutung des Tabaks für die wirtschaftliche Entwicklung
des Landes hervorgehoben. „Die Zukunft der Landwirtschaft liegt nicht allein in der Förderung des Maisanbaus“, sagt Sikatana. „Wir müssen jeden
Anbau fördern, der Farmern genügend Einkommen beschert, damit sie sich
Nahrungsmittel und andere Güter kaufen können“, so Sikatana. „Es ist unmöglich, von heute auf morgen die Tabakproduktion einzustellen.“ Die Regierung werde die Belange der Farmer weiterhin nach außen verteidigen.
5. Tabakfirmen – die wahren Profiteure
„Wir fühlen uns sehr gut aufgenommen“, sagt Bauer Arangies. Doch die
staatliche Unterstützung allein reicht längst nicht aus, den Neustart in Sambia zu wagen. Große Tabakunternehmen wittern ihre Chance und springen
308
Sambia
Christian Schlesiger
ein. Sie locken die Farmer aus Simbabwe nach Sambia. Kaum einer der
Vertriebenen hat sich als eigenständiger Unternehmer in Sambia niedergelassen. Die überwiegende Mehrheit bindet sich an die hiesigen Tabakkonzerne.
Der finanzielle Einsatz jedes einzelnen Farmers ist enorm. Arangies und
Watt investierten im Jahr 2003 rund 600.000 Dollar. Sie kauften mit dem
Geld das Land, befreiten es von Bäumen und Wurzeln, installierten Bewässerungsanlagen und bauten Hütten sowie Brennöfen. Zusätzlich benötigen
sie jedes Jahr rund 600.000 Dollar, um die Löhne der Arbeiter, den Dünger
und die Saat zu finanzieren.
Das meiste finanzieren die Farmer über Kredite, die von Banken wie Barclays Bank Zambia oder Standard Chartered kommen. Doch in Wahrheit
sind die großen Tabakkonzerne die Strippenzieher dieser Deals. Denn das
Finanzsystem ist unterentwickelt. „Die Banken haben keine Erfahrungen
mit landwirtschaftlichen Betrieben“, sagt Arangies. Ein Cashflow-Plan habe
dort keine Bedeutung. Zinsen für Fremdkapital liegen zudem bei 30 bis 40
Prozent – meist sogar weit drüber.
Die Farmer gehen deshalb einen Vertrag mit den Tabakunternehmen ein.
Arangies und Watt unterzeichneten einen Kontrakt mit Zambia Leaf Tobacco Company Limited (ZLT), der Nummer drei in Sambia. „Das Angebot war
der entscheidende Grund, warum wir den Neuanfang in Sambia gewagt haben“, sagt Arangies. „Ohne Unterstützung von ZLT hätten wir keine Chance gehabt.“
Ihre Unabhängigkeit geben die Farmer dafür auf. Sie sind künftig angestellte Manager des Unternehmens. Von jedem Farmer, der bei ZLT anfängt,
wird ein Eigenbeitrag in Höhe von mindestens 150.000 Dollar erwartet. Die
Kredite zahlen sie in Tabak an die Unternehmen zurück.
Die in Sambia operierenden Tabakfirmen wie ZLT sind die wahren Profiteure des Regimes in Simbabwe. Als Mugabe vor fünf Jahren mit der Vertreibung begann, witterten die Tabakkonzerne Profit. Und sie sind auf dem
besten Weg, ihre Gewinne zu maximieren. Die Zeit arbeitet für sie. Denn die
Verträge binden die Farmer auf lange Frist an die Konzerne – und die entwickeln sich zum Nachteil der Farmer.
Die Einkaufspreise für ein Kilo Tabak sind für die kommenden zehn Jahre festgelegt. So erzielen die Tabakfarmer für ein Kilo Tabak der Premiumqualität 2,70 Dollar. Für eine Qualitätsstufe darunter gibt es 2,40 Dollar.
Die Spanne umfasst Klassen 5 (hochwertig) bis 1 (schlechte Qualität). Das
Problem: „Der Verkaufspreis bleibt konstant, aber die Inputkosten sind in
den vergangenen Jahren gestiegen“, sagt Arangies. Kostete 2003 die Bewirtschaftung eines Hektars Land 2.100 Dollar, müssen die Farmer heute 3.500
Dollar zahlen. Drei Gründe sind dafür ursächlich: Die Farmer setzen mehr
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Christian Schlesiger
Sambia
Arbeiter ein als geplant. Der schlechte Wechselkurs des sambischen Kwacha
gegenüber dem südafrikanischen Rand verteuert die Maschinen, die hauptsächlich aus Südafrika importiert werden. Zudem hat die Benzin- und Dieselknappheit den Preis für einen Liter Treibstoff auf nahezu deutsches Preisniveau gehoben. An den Tankstellen bildeten sich Ende Oktober und Anfang
November lange Autoschlangen.
„Der Vertrag mit der Tabakfirma ist vernünftig“, sagt Arangies. „Schließlich hatten wir vor wenigen Jahren keine andere Wahl.“ Doch wirklich fair
sei er nicht. Steigende Kosten ergeben für uns erhebliche Nachteile. Die Tabakfirmen sind die wahren Gewinner der Situation in Simbabwe. Ausländische Tabakkonzerne wie der weltweit größte Produzent Universal Corp.
oder die Nummer drei Standard Commercial Corp. verdienen gut. Sie kaufen den Tabak preiswert ein und verarbeiten ihn zu Marken wie Camel oder
Marlboro.
Ein Auktionssystem gibt es nicht. In Harare, der Hauptstadt Simbabwes,
haben die Farmer jedes Jahr ihren Tabak entsprechend nach Angebot und
Nachfrage verkaufen können. „Wir haben dort den qualitativ gleichen Tabak
hergestellt, konnten aber zu einem faireren Preis verkaufen“, sagt Arangies.
In der Hauptstadt Lusaka sitzt Dave Bradshaw in seinem Büro. Ein Ventilator bläst die schwül-heiße Luft durch den Raum. In der Ecke des nüchternen Zimmers steht ein Kühlschrank. Das Summen des Gerätes wird allenfalls durch das Zwitschern der Spatzen unterbrochen, die durch die
schmalen Spalten in den Wänden ins Zimmer gelangen. Bradshaw ist Chef
der ZLT. In seinem Computer sucht er nach seinen wertvollsten Mitarbeitern. Ein Mausklick öffnet die Liste der 60 Farmer, die zur ZLT gehören –
allesamt Zimbabwer, allesamt geflohen vor Diktator Mugabe.
Auch Bradshaw ist Simbabwer und Neuankömmling in Sambia. Zuvor
war er Farmer in Malawi, bis er vor drei Jahren die Geschäftsführung der
ZLT übernahm. Sein Vater war vor fünf Jahren einer der ersten Farmer, die
im südlichen Nachbarland die Repressionen des Diktators miterleben mussten. Unter Zubilligung einer Entschädigung gab er die Farm freiwillig zurück. Einen Teil der Abfindung sollte er in bar erhalten, den Rest in Staatsanleihen und als Einzahlung in einen Rentenfonds. Doch auf die zugesagten
Summen wartet er bis heute.
Bradshaw wirkt unscheinbar, aber sympathisch. Er trägt eine eckige,
schwarze Brille, ein kurzärmeliges Hemd und eine beige Stoffhose. Es frustriert ihn, wenn er an alte Zeiten denkt. Seine Stimme ist ruhig. Er erzählt
Geschichten von gelynchten Haustieren in Vorgärten und aufgebrachten Einheimischen, die befreundete Familien entführten und misshandelten. Dann
erzählt er die Geschichte einer Journalistin, die in einer Frauenzeitung einen
Beitrag über Mugabe verfasst hatte und ihn darin zum Helden der Schwar310
Sambia
Christian Schlesiger
zen machte. Das war 2002. Vergangenes Jahr habe er ein Interview mit ihr in
einer Wirtschaftszeitung gelesen – diesmal sei sie gegen das Regime gewesen: „Die Frau hat ihre Meinung um 180 Grad gedreht“, sagt Bradshaw mit
eine gewissen Genugtuung. Es tut ihm weh, wenn Unterstützer von Mugabe
öffentlich zu Wort kommen. Gerade sei er dabei, die beiden Artikel aufzutreiben, um sie an die Bürowand zu hängen. Und jedem Besucher zu zeigen:
Seht her, selbst ehemalige Befürworter des Diktators halten ihn nun für einen schlechten Mann.
Bradshaw ist froh, im Nachbarland Sambia eine neue Heimat gefunden zu
haben. „Die Situation hier ist friedlich“, sagt er. „Die Leute sind entspannter und nicht so militant wie die Simbabwer.“ Vor allem ist Sambia eine gute
Ausgangsbasis für erfolgreiche Landwirtschaft. Als Manager der ZLT hat
er Sambia als neues, interessantes Investitionsland entdeckt. „In den vergangenen drei Jahren haben wir 40 Millionen US-Dollar investiert“, sagt
Bradshaw. Die Tabakernte stieg von 2,8 Tonnen im Jahr 2004 auf 23 Tonnen ein Jahr später. Diese Saison rechnet er mit insgesamt 30 Tonnen – einer
Steigerung von rund einem Drittel.
Auch Universal konnte jedes Jahr eine höhere Tabakernte einfahren. Im
Jahr 2000 kaufte das Unternehmen gerade einmal 4,9 Tonnen Tabak ein. Im
Jahr 2004 lieferten 47 Groß- und 5.515 Kleinbauern dem Unternehmen insgesamt 18 Tonnen.
6. Der Agrarsektor wächst
Natürlich profitiert die sambische Agrarwirtschaft von den Neuen. „Der
Einzug der simbabwischen Farmer nach Sambia ist ein Segen für die Landwirtschaft“, sagt Chance Kabaghe, Präsident der Zambia Seed Co, einer Firma mit Sitz in Lusaka, die Garten- und Saatgut vertreibt. „Sie bringen die
neuesten Technologien und das Wissen mit ins Land.“ Früher war Kabaghe
Landwirtschaftsminister.
„Wir erwarten, dass die kommerziellen Farmer Wissen und Erfahrungen
weitergeben an die Kleinbauern, quasi in Form eines Mentoringsystems“,
sagt Karen Whelan, eine Sprecherin des Tabakunternehmens Universal. Die
Farmer aus Simbabwe wüssten, wie sie die Qualität des Tabaks erreichen,
die auf den internationalen Märkten verlangt wird.
Die Erwartungen an die neuen Farmer sind hoch. Doch gute Gründe sprechen dafür, dass sie sich einstellen. Seit jeher arbeiten weiße Großfarmer
und schwarze Kleinbauern in Sambia kooperativ miteinander. Das ist ein
Verdienst der Zambia National Farmer Union (ZNFU), der Berufsgenossenschaft, die alle Bauern im Land gemeinsam und erfolgreich vertritt. Seit
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Christian Schlesiger
Sambia
1905 vertritt sie als nicht-politische Lobbyvereinigung die Interessen der
Mitglieder. Bis 1964 war die Mitgliedschaft auf die Großbauern beschränkt.
Seitdem steht der Club auch Einzelpersonen offen, um der großen Bedeutung der Kleinfirmen Rechnung zu tragen. In der Region ist das eine Ausnahme. Während in den meisten Nachbarländern getrennte Organisationen
existieren, ist Sambia einen anderen und sehr erfolgreichen Weg gegangen.
„Die ZNFU“, so heißt es in der Satzung, „fördert und sichert die Interessen
ihrer Mitglieder sowohl als Einzelpersonen als auch als Unternehmen“.
Im doppelstöckigen Hauptquartier der ZNFU herrscht Hochbetrieb. Die
Standesvertretung der Kleinbauern und Großfarmer hat ihren Sitz im Industriegebiet von Lusaka. Das Telefon klingelt unentwegt. Mitarbeiter im
Businesslook mit langärmeligen Hemden, Krawatte und Stoffhose laufen
durch das enge Empfangszimmer. Guy Robinson, Präsident der Bauernvereinigung empfängt seine Gäste in seinem Sechs-Quadratmeterbüro: Zwei
Ledersessel, ein alter Holztisch und sein Schreibtisch.
Kommt eine größere Delegation, nutzt er den massiven Holztisch im Nebenzimmer. Zehn Ledersessel stehen drum herum. Ordnerbeladene Regale
reihen sich um den Tisch. Sie sind beschriftet mit VAT für Mehrwertsteuer oder ZNFU für die Mitgliederlisten. Mehr als 40.000 Kleinbauern und
450 Großbauern vertritt Robinson. Das macht ihn zu einem der mächtigsten
Männer im Land. Im Landwirtschaftsministerium geht er ein und aus. Zu
Präsident Levy Mwanawasa pflegt er engen Kontakt.
„Sambia ist die afrikanische Erfolgsgeschichte“, sagt Robinson. „Insbesondere die Landwirtschaft entwickelt sich prächtig und trägt einen immer
größeren Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt bei.“ 1990 steuerten Agrarprodukte nur 12 Prozent zum BIP bei. Heute sind es 17 Prozent. So konnte das
Land 2004 mehr Mais exportieren als importieren: 50.000 Tonnen gingen
nach Angola, 70.000 Tonnen wurden nach Malawi verkauft. Die Tabakfirmen melden astronomische Steigerungsraten. Produzierten sie im Jahr 2000
nur 4.000 Tonnen, waren es 2004 bereits 15.000 Tonnen – eine Vervierfachung und die Tendenz ist steigend. Auch die Produktion von Sojabohnen
konnte gesteigert werden.
„Der Anbau von Tabak beispielsweise benötigt viele Arbeiter“, sagt Robinson. Die neuen Farmer hätten vielen Menschen, die zuvor in ihren Dörfern ohne Beruf waren, einen Job gegeben. Im Schnitt beschäftige jeder der
150 neuen Farmer 100 bis 120 festangestellte Arbeiter. Hinzu kommen Saisonarbeiter, die als Tagelöhner Geld verdienen würden. Im Schnitt bekommen sie 6.500 Kwacha pro Tag, das sind umgerechnet rund 1,65 Euro.
An der Eisenbahnlinie, die sich von Süden nach Norden durch das Land
zieht, haben sich mehrere landwirtschaftliche Zentren entwickelt. An der
Grenze zu Simbabwe beispielsweise, rund um die Touristenstadt Living312
Sambia
Christian Schlesiger
stone, haben sich viele simbabwische Farmer niedergelassen. Nördlich von
Lusaka finden sich kleine Zentren in Kabwe oder Mkushi, nahe der Grenze
zum Kongo. Rund 300 Kilometer südlich von Lusaka haben fast 30 Großbauern um die Kleinstadt Choma herum eine neue Heimat aufgebaut.
7. Choma – eine Stadt entwickelt sich
Der Ort boomt. Es sind nur rund 300 Meter vom Ortseingang bis -ausgang.
Eine BP- und eine Total-Tankstelle markieren die nördliche und südliche
Stadtgrenze. Die Verbindungsstraße von Lusaka nach Livingstone windet
sich als einzige geteerte Straße durch die Ortschaft. Auf ihr und den zahlreichen staubigen Nebenstraßen blühen die Geschäfte: Ein Händler stapelt
alte, abgefahrene Reifen vor seinen Laden. Ein Schneider näht mit einer alten Singer-Maschine den Rock einer Dame zusammen. Eine Sambierin wartet mit ihrem zweijährigen Kind auf Käufer ihrer Holzschnitzereien. Gleich
nebenan reparieren Teenager Autos und entkernen schrottreife Wagen, denen auch kein letzter Hauch Leben mehr zu entlocken ist. Sambierinnen
verkaufen Obst, Gemüse und Nüsse. Entlang der Asphaltstraße stehen rote,
grüne und gelbe Holzhütten, in denen Geschäftsleute Prepaidkarten der örtlichen Telefongesellschaften Zamtel und Telecel oder CD’s, Schlösser oder
Werkzeuge verkaufen. Aus den Boxen des CD-Ladens auf dem Markt ertönen Ohren betäubende Rap-Rhythmen – in mäßiger Klangqualität.
Die Bushaltestelle ist fest im Griff der Jugend. Vor dem nahe liegenden
Star Snacks, einer Imbissbude, sitzen sie auf weißen Plastikstühlen, reden
miteinander und warten auf den nächsten Bus, der Einheimische sowie Touristen auf dem Weg nach Süden oder Norden durch das Städtchen schleust.
Durch die Fensterscheiben verkaufen sie Bananen, Äpfel oder die neueste
Ausgabe der Tageszeitungen Post oder Times of Zambia. Wer zu den Besserverdienern gehört, kauft sich vielleicht irgendwann eins der vielen blauen
Taxen, die in Choma auf der Straße auf Kundschaft warten. Den Wagen fehlt
oft das Nötigste, doch das Geschäft ist lukrativ: Eine kurze Fahrt durch das
Dorf bringt um die zwei Dollar.
Die Marktwirtschaft hat sich ihren Weg in das einst verschlafene Nest
geebnet. „Vor zwei Jahren waren die meisten Shops leer“, weiß Tim Carter,
der als Farmer aus Simbabwe vor sechs Jahren hier ansiedelte. Heute würden vor allem indisch-stämmige Kaufleute gute Geschäfte machen.
Die rund 30 Großbauern haben den Einheimischen Arbeit gegeben. „Vor
drei Jahren musste ich jeden Tag 10 bis 20 Arbeitern einen Laufpass geben“,
sagt Carter. „Sie waren auf der Suche nach Arbeit, aber ich hatte genügend
Kräfte.“ Heute käme kaum einer mehr vorbei, weil die meisten Tagelöhner
313
Christian Schlesiger
Sambia
Arbeit bei den neuen Nachbarn gefunden hätten. Die meisten seiner Arbeiter wohnen in kleinen Strohhütten direkt neben den Feldern. So wie Carter
beherbergen die meisten anderen Farmer rund 80 bis 90 Prozent ihrer Angestellten in eigenen Dörfern in nächster Nähe. Fließend Wasser, Toiletten und
kleine Parzellen für den Eigenanbau stellen sie ihren Arbeitern ebenfalls zur
Verfügung. Für die nötigsten Einkäufe kommen die Hilfskräfte nach Choma.
Durch die Simbabwer haben sich die Lebens- und Arbeitsverhältnisse
auch für die Großbauern geändert, die bereits seit Jahrzehnten in der Gegend wirtschaften. Einer von ihnen ist Anka Nyman-Jorgensen, ein Däne,
der in den 60er Jahren nach Choma kam. Er trägt eine Kakihose und ein
hellblaues Hemd. Sein Bauchansatz und der weiße Rauschebart erinnern an
Almöi, den Großvater von Heidi. Nyman arbeitete acht Jahre lang als Entwicklungshelfer. Heute ist er erfolgreicher Farmer und bewirtschaftet rund
2.000 Hektar. Er produziert Tabak, Chili sowie Mais und hat mehrere Hektar große Eukalyptusplantagen. Außerdem züchtet er Rinderherden und hält
mehrere Esel.
„Die Sim-Farmer ziehen neueste Technologie und Know-how aus Simbabwe an“, sagt der Däne. So sei die Anzahl der Händler, die landwirtschaftliche Maschinen, neueste Anbaumethoden und innovative Düngerprodukte
anbieten, in den vergangenen Jahren stark gestiegen. „Die Stadt wird von
Agrarfirmen nicht mehr links liegen gelassen, denn immerhin sind rund 30
Großbauern aus dem südlichen Nachbarland in die Region um Choma gezogen.“
Nyman kennt und liebt Land und Leute. Seine Frau ist Deutsche. Die gebürtige Rheinländerin kam einige Jahre nach der Unabhängigkeit Sambias
Ende der 60er ins Land. Das Haus mit dem Reetdach verrät ihre europäische
Herkunft. Im Wohnzimmer stehen Holztische und eine moderne Sitzcouch.
In der Küche läuft Filterkaffee aus der Kaffeemaschine.
Stolz ist Nyman auf das gute Verhältnis zu den sambischen Kleinbauern.
„Bei der Landwirtschaft gibt es nicht nur dich und deine Nachbarn“, sagt
Nyman. „Es ist eine Gemeinschaft, die vom gegenseitigen Nehmen und Geben lebt.“ Mal benötigten die Kleinbauern Ratschläge von ihm, mal brauche er ihre Hilfe. Beispiel Tagelöhner: „In bestimmten Phasen brauche ich
zusätzliche Arbeitskräfte“, sagt Nyman. Auf Grund der guten Beziehung zu
den angrenzenden Kleinbauern brauche er nicht umständlich in der Kleinstadt Choma suchen. „Ich frage meine Nachbarn und bekomme schnell und
umkompliziert mehrere Arbeiter zur Seite gestellt.“ Nyman beschäftigt derzeit rund 140 festangestellte Arbeiter. In der Hochsaison verdopple sich die
Anzahl schnell. Die rund 80 Familien, die in Subsistenzwirtschaft leben und
für 500 Menschen Arbeitgeber sind, geben gerne Arbeitskräfte ab oder ken314
Sambia
Christian Schlesiger
nen Tagelöhner, die für ein paar Tausend Kwacha pro Tag arbeiten. Im Gegenzug gibt Nyman technischen Rat.
Im vergangenen Jahr brauchte er auch Hilfe, als eine seiner Kühe das Weite suchte. Nur in Zusammenarbeit mit benachbarten Kleinbauern konnte das
entflohene Tier eingefangen werden. „Ein netter Kleinbauer hat es mir gebracht“, sagt Nyman. „Ohne Vertrauen und gegenseitiger Zusammenarbeit
wäre so etwas nicht möglich.“ Da hätte er das Tier abschreiben können.
8. Neue Spannungen
Das Leben hat sich für Nyman seit dem Zuzug der weißen Farmer aus
Simbabwe geändert – nicht immer zum Positiven. Die Konzentration der
Neuen auf bestimmte Regionen bringt neue Probleme mit sich. So hat sich
beispielsweise der Wettbewerb um Arbeitskräfte verschärft. „Die Situation
ist unstetiger geworden“, sagt Nyman. Die neuen Nachbarn hätten Scouts
losgeschickt, um Arbeiter von ihm abzuwerben. Rund 15 Prozent seiner Arbeitskräfte haben die neuen Angebote angenommen.
Zudem ergeben sich zunehmend Probleme mit den Wasservorkommen.
Die rund 30 neuen Nachbarn bauen zur Bewässerung ihrer Felder sowohl
Dämme, für die sie von der Regierung Wasserrechte erwerben. Gleichzeitig
nutzen sie Bohrlöcher. Problem: Bislang ist die Nutzung von Grundwasser
nicht an Nutzungsrechte gekoppelt. Wer einen Brunnen für die Bewässerung
einsetzt, kann so viel Wasser entnehmen, wie seine Anlage es ermöglicht.
Folge: Das Wasser wird knapp.
In der Tat ist der Grundwasserspiegel in den vergangenen fünf Jahren
stark abgesunken. „Wo früher Bäume blühten, stehen heute tote Äste“, sagt
Nyman. „Wir brauchen ein Gesetz, dass die Nutzung der Wasservorkommen regelt“, sagt der Däne. Zudem fehle ein verlässliches Monitoring. „Wir
wissen nicht einmal, wie sich die Wasservorkommen in jüngster Zeit entwickelt haben.“
Bis es soweit ist, investieren die Sim-Farmer mit Unterstützung der Tabakfirmen weiterhin in den Bau von Bohrlöchern. Einer von ihnen ist sein
Nachbar Carter. Vor kurzem hat er sein zehntes Loch gebohrt. „Tabak ist
eine durstige Pflanze“, sagt Carter. Hundert Meter lange Stahlgerippe, die
wie Kraken über die Felder rollen, bewässern vollautomatisiert die Felder.
Nyman und Carter haben trotz der Dispute um das Wasser ein gutes Verhältnis miteinander. Beide schätzen gute Beziehungen sehr – auch der Kontakt zu den lokalen Kleinbauern ist ihnen wichtig. Carter, der erst vor sechs
Jahren nach Choma kam, hat die hohe Bedeutung von Nachbarschaft in
Sambia zu schätzen gelernt. In Sambia würden sich Weiße und Schwarze
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Christian Schlesiger
Sambia
mehr miteinander vermischen. Ob in Kneipen, Schulen oder Kirche, jeder
spreche mit jedem. „Wenn es um das Thema Landwirtschaft geht, sitzen
alle in einem Boot und die Leute diskutieren miteinander“, sagt Carter. In
Simbabwe seien die Weißen eher unter sich geblieben. Eine Entwicklung,
die auch in Sambia verstärkt zu beobachten ist und verstärkt zu Konflikten
führen könnte.
Es ist Mittwoch in Choma – kein Tag wie jeder andere. Abends im Sportclub treffen sich Farmer aus Simbabwe und trinken Bier. Es bleibt selten bei
einer einzigen Flasche. Die Farmer sind trinkfest und geben an einem Abend
gerne mal 50.000 Kwacha aus – umgerechnet zehn Flaschen der Marken
Mosi oder Castle. Backsteine verzieren die Thekenfassade. Davor stehen
schlichte Hocker mit kaputten Sitzkissen.
Im Nebenraum stehen ein Fernseher, ein Tisch mit Plastiktischdecke und
rund 20 Sessel mit Metallgestell und roten Lederbezügen. Kaltes Neonlicht
durchflutet die Bar, die den Charme einer sozialistischen Funktionärstheke
verströmt. An das Gemeinwohl denken die Farmer, die sich jeden Mittwoch
zum Bier verabreden, kaum. „Sie wollen unter sich bleiben und schotten
sich ab“, sagt Nyman. „Sie graben sich ihr eigenes Grab.“
Nyman ist nicht unbedingt gut auf die Neuen zu sprechen. Der Däne vermisst den Willen zur Integration. „Kooperation in Sambia ist wichtiger als
die Neuankömmlinge glauben“, sagt der Däne. Doch keiner der Sim-Farmer
habe bei ihm angeklopft, um neues Mitglied im lokalen Bauernverband zu
werden. Sie unterschätzten die integrierende Wirkung der Farmer Association. Als Präsident der lokalen Bauernvereinigung genießt Nyman hohes
Ansehen in der Region. Solches müssen sich die Neuankömmlinge aus Simbabwe erst erarbeiten.
Außerdem könnte sich der Ruf der weißen Farmer als gerechte Arbeitgeber ändern. Ein Drittel der Arbeiter, die Nyman an die simbabwischen
Bauern verlor, kehrte reumütig wieder zurück. „Sie haben gemerkt, dass
die Arbeitsbedingungen weitaus schlechter sind als auf meiner Farm“, sagt
Nyman. „Die Sim-Farmer sind strenger und schlagen einen weitaus härteren
Ton an.“ So dürften die Frauen ihre Kinder oft nicht mit zur Arbeit mitnehmen. Außerdem habe er Beschwerden gehört, dass die Simbabwer den Arbeitern keine Freizeit gönnten und kein Essen ausgäben.
Ein Farmer, der seinen Namen für den Artikel nicht preisgeben möchte,
ist einer dieser typischen, wenn auch gemäßigten Simbabwer. Er sitzt auf
einem weißen Plastikstuhl auf einer Empore inmitten einer rund 1.000 Quadratmeter großen Halle. Aus einer Höhe von zwei Metern blickt er über seine Arbeiterinnen hinweg. Im Neonlicht getränkten Raum zupfen rund 50
Frauen die getrockneten Tabakpflanzen auseinander. Nasser Tabakgeruch
und hohe Luftfeuchtigkeit erschweren das Atmen. Kein Lachen, wenige Ge316
Sambia
Christian Schlesiger
spräche. „Ich beobachte die Arbeiterinnen und behalte so die Kontrolle“,
sagt der 43-Jährige. Jeden Tag sitzt er dort oben auf der Anhöhe, behält den
Überblick und zündet sich pro Stunde eine Zigarette an.
Als Mugabe’s Regime ihn aus Simbabwe warf, hat er das Rauchen wieder
angefangen – nach neun Jahren Abstinenz. Das war im Jahr 2002. Wie fast
alle weißen Farmer hat auch er alles verloren. 180 Hektar besaß er in seiner alten Heimat. Kurz vor seiner erzwungenen Abreise kaufte er sich einen
neuen Land Rover. Auch den musste er abgeben.
Lässig lehnt er später an der Motorhaube seines weißen Toyota Pick-Ups
und erzählt von seiner Farm und dem Leben in Simbabwe. Durch die RayBan-Sonnenbrille sind seine Augen nicht zu sehen. Aus der kurzen Sporthose ragt ein Walkie Talkie, das ihn auf dem Laufenden hält.
Solange Mugabe an der Spitze der Regierung in Simbabwe steht, ist das
Land tabu für ihn. „Mit Politik hatte ich nie etwas zu tun“, sagt er. Als Weißer
in Afrika sei das eine heikle Sache. „Politik sollen die Afrikaner machen“,
sagt er. Nur dumm, dass er vor drei Jahren versehentlich in einen Konvoi
oppositioneller Simbabwer gelangte. Er war auf dem Weg zum Jagen. Der
Konvoi wurde von der Polizei angehalten. Seitdem war er gebrandmarkt
– und das Leben eine einzige Flucht. Seinen Haustieren wurden im Vorgarten seines Hauses die Knochen gebrochen – als Warnzeichen der schwarzen
Simbabwer und aus Hass gegen die weißen Großgrundbesitzer.
Einer seiner sambischen Arbeiter kommt auf ihn zu. Er ist jung, trägt einen Blaumann und fährt auf der Farm Traktor. Er will wissen, ob er aufs Feld
fahren soll. Seine Stimme ist kaum hörbar und zittert. Er räuspert sich, setzt
noch einmal an und wiederholt die Frage. Das Zucken in seinen Augen verrät seinen tiefen Respekt vor dem weißen Farmer. Der Bauer gibt eine klare,
laute und knappe Antwort. Der Junge bedankt sich und geht.
Der simbabwische Farmer ist sichtlich stolz auf sein Land. Er genießt den
ihm entgegengebrachten Respekt. Er ist Chef. Am Tor zu seiner Farm steht
ein Wächter mit Gewehr in der Hand. Zäune grenzen seinen Hof von anderen Grundstücken ab. Mit sieben anderen vertriebenen Farmern teilt er sich
das 2.000 Hektar große Arenal, das früher einem Sambier gehörte. „Vor
drei Jahren hatte es einen Wert von rund 60.000 US-Dollar“, sagt er. Heute müssten Investoren 1,75 Millionen US-Dollar hinblättern. In dieser Zeit
haben die Neuankömmlinge aus dem zum Teil brach liegenden Land bestes
Anbaugebiet gemacht.
Die Geschäfte laufen nicht schlecht. „Im ersten Jahr hatten wir eine Rekordernte“, sagt der 43-Jährige, der Frau und zwei Töchter ernähren muss.
Vergangenes Jahr habe die Dürre das Leben schwer gemacht. „Unterm
Strich liegen wir bei Plus minus Null.“ Die Erträge würden zumindest die
laufenden Kosten decken.
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Christian Schlesiger
Sambia
Der Neuankömmling in Sambia kennt die Geschichten von Farmern, die
ihre Arbeiter angeblich schlecht behandelten. Ob etwas an den Gerüchten
dran sei? „Wissen Sie“, sagt er, „Tabak ist eine schwierige Pflanze, die viel
Sorgfalt verlangt.“ Da könne es schon mal passieren, dass der Ton härter sei.
Ein paar seiner Kollegen, mit denen er das 2.000 Hektar große Grundstück
teilt, würden nicht immer gut mit ihren Arbeitern umgehen, gibt er später
zu.
Eine kleine Meldung hat am 17. Oktober 2005 die sambische Gesellschaft
aufgerüttelt. Ist die Nachricht in der einzigen unabhängigen Tageszeitung
The Post Vorbote einer Entwicklung mit Gefahrenpotenzial? Andrew Clarkson, ein simbabwischer Farmmanager aus Chongwe im Norden Sambias
soll Arbeiter misshandelt und eingeschüchtert haben. „Er beleidigt uns und
wirft uns Schimpfwörter an den Kopf “, sagt einer der Arbeiter. Sein Dienstmädchen behauptet, er habe sie ungerechterweise des Diebstahls verdächtigt
und daraufhin die Probezeit von sechs auf neun Monate ausgedehnt, obwohl
das illegal sei. Keine zwei Tage später wird Clarkson vorübergehend von der
Tabakfirma suspendiert.
Auch Gesundheitsministerin Sylvia Masebo schaltet sich ein. Die Arbeiter müssten wie Menschen behandelt werden. Es könne nicht sein, dass sich
Investoren, die in Sambia als Partner in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit begrüßt werden, derartige Fehltritte erlauben. „Rassistische Töne haben
in diesem Land nichts zu suchen“, wird sie in The Post zitiert.
„Die Regierung muss aufpassen, dass in Sambia keine Spannungen zwischen der weißen und der schwarzen Bevölkerung aufkommen“, bestätigt Venkatesh Seshamani, Wirtschaftsprofessor an der Zambia University
in Lusaka. Noch sind es vor allem weiße südafrikanische Geschäftsleute,
die schwarze Arbeitskräfte teilweise ausbeuten würden. Ihre Erfahrungen
aus Zeiten der Apartheid hätten viele internalisiert. „Viele Weiße benutzen
eine schlechte Sprache gegenüber den Sambiern und zahlen einen niedrigen
Lohn.“ Dies könne negative Emotionen auslösen – insbesondere, wenn auch
die Neuen aus Simbabwe Probleme schüren.
9. Die Kleinbauern – ihre ungewöhnlichen Alltagsprobleme
Für die vielen hunderttausende Kleinbauern sind diese drohenden Spannungen zweitrangig. Sie sorgen sich um ihre eigenen Probleme. Rund 1,3
Millionen Familien ernähren sich von der Landwirtschaft. Die Anzahl derer,
die das Business professionell betreiben, liegt bei etwa der Hälfte: 500.000
Bauern beackern eine Fläche von bis zu zehn Hektar Land. Knapp 200.000
Landwirte bauen bis zu 60 Hektar an und rund 2.000 Großbauern zählen
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Sambia
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mehr als 60 Hektar Land zu ihrem Gebiet. Die restlichen rund 600.000 arbeiten als Kleinbauern in Subsistenzwirtschaft. Diese Gruppe profitiert weder vom Know-how der weißen Einwanderer noch können sie auf nennenswerte Unterstützung der Regierung hoffen.
Oft stehen sie ganz ungewöhnlichen Problemen gegenüber. Vor allem in
der Südprovinz zertrampeln regelmäßig Elefanten die fruchtbaren Böden
und zerstören die Ernteerträge. Mr. Nyambe beispielsweise muss sich mit
der Gefahr täglich auseinander setzen. Er ist ein dicklicher, ruhiger Typ.
Sein arg gespanntes Hemd schafft es nicht, den Bauch zu bedecken. Er und
seine Frau haben sieben Kinder. Zigmal haben die Dickhäuter seine Orangenplantagen und Tomatensträucher zerstört. „Die Herden kommen in einer
Größe von rund 40 bis 50 Tieren“, sagt Nyambe. Angelockt durch den Duft
frischer Obst- und Gemüseplantagen und durch die angrenzenden Akazienbäume seien die Herden zwei bis drei Mal pro Woche bei ihm aufgetaucht.
Seit anderthalb Jahren hilft er sich selbst. Mit Unterstützung des Deutschen Entwicklungsdienstes hat er um seine drei Hektar Land einen Zaun
gezogen. Daran baumeln alte Stofffetzen, die in Motorenöl und Chilisamen
getränkt wurden. „Elefanten mögen den Duft von Chili nicht“, sagt Nyambe. Hinzu kommt eine rund zehn Meter breite Schneise ohne Bepflanzung
an den äußeren Grenzen seiner Felder. „Das offene Feld irritiert die Tiere“,
so Nyambe. Jede Nacht zündet er zudem Briketts aus Chili und Kuh- oder
Elefantendung an. „Der Rauch vertreibt die Dickhäuter“ sagt er. Seit anderthalb Jahren habe er keine Probleme mehr mit den Elefanten gehabt.
Elephant Pepper heißt das Projekt, das Kleinbauern ihre Existenzgrundlage sichern soll. Das Hilfsprojekt kommt – wie viele weiße Farmer – aus
dem Nachbarland Simbabwe. Fehlende politische und finanzielle Unterstützung habe die Realisierung dort unmöglich gemacht. Nun profitieren die
sambischen Nachbarn.
Während Nyambe sich erfolgreich gegen Elefanten wehrt, leiden seine
Nachbarn unter der zunehmenden Gefahr. Im Stuhlkreis unter einem Schatten spendenden Baum sitzen fünf von ihnen und wollen von den Erfahrungen
Nyambes profitieren. Die zwei Frauen und drei Männer hören geduldig zu,
als Nyambe vom Aufbau und von der Funktion der Chili-Fallen spricht. Der
älteste von ihnen, ein groß gewachsener Mann mit grauen Haarstränen und
stark abstehenden Ohren, meldet sich zu Wort: „Als meine letzte Maisernte
durch die Elefantenherde zerstört wurde, bin ich zur Bezirksregierung gegangen und habe nach Kompensation für meine Verluste gefragt“, sagt er mit
ruhiger, tiefer Stimme. „Dort antworteten die Beamten, die Elefanten seien
nicht aus Sambia, sondern sie kämen aus Botswana und Simbabwe. Dafür
könne keine Entschädigung gezahlt werden.“ Das Dilemma der Kleinbauern: Auf Unterstützung der Regierung können sie oft nicht bauen.
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Sambia
Das Elephant-Pepper-Projekt will den Farmern unter die Arme greifen.
Doch die gut gemeinte Hilfe stößt nicht immer auf willige Abnehmer. Vom
Sinn der Chili-Fallen ist eigentlich jeder überzeugt. Doch schon allein die
Anzahl der Anwesenden in der Informationsrunde, die offiziell angekündigt
wurde, zeigt das Desinteresse der Dorfbewohner. Obwohl weit mehr als hundert Bauern mit dem Elefantenproblem zu kämpfen haben, erscheinen nur
fünf. Um selbst die Chilifallen aufzustellen, müssten die Anwesenden nun
investieren: rund 20.000 Kwacha – umgerechnet fünf US-Dollar – für fünf
Kilogramm Chilis, um die Fallen bauen zu können. Weitere 10.000 Kwacha
würden für die Chilisamen benötigt. So könnten sie den Bedarf an Chili später aus dem eigenen Anbau decken. Doch von der Investition in die Zukunft
nimmt jeder Abstand.
Es ist vor allem ein Problem der Kleinbauern: Langfristiges Denken ist
vielen fremd. Es gehört ein Stückweit zur Kultur, dass viele Menschen von
einem Tag in den anderen leben. Dass sinnvolle Investitionen das Leben
in der Zukunft vereinfachen, ist vielen Kleinbauern schwer begreifbar zu
machen.
10. Die Wirtschaft
Als Sambia 1964 unabhängig wurde, sagte man dem jungen Staat nach, mit
einem „goldenen Löffel geboren zu sein“. Dies galt als Anspielung auf die
enormen Erzvorkommen im Copperbelt. Doch Sambia profitierte nur so lange, bis es eine Nachfrage an Kupfer auf dem Weltmarkt gab. Das Land hatte
seit jeher auf diese Karte gesetzt und alle anderen Bereiche vernachlässigt.
Die Regierung des unabhängigen Sambia schlug zunächst den Weg in
Richtung Verstaatlichungen ein. So wurden die Mehrheit der Bergbauund Industrieunternehmen sowie Versicherungen und Banken unter staatliche Obhut gestellt. Den privaten Sektor, insbesondere den Handel und das
Transportgewerbe versuchte man durch die Verweigerung von Lizenzen an
Ausländer zu „sambianisieren“. In den 80er Jahren verstärkte sich die Wirtschaftskrise, weil der Internationale Währungsfonds wegen Zahlungsrückständen sämtliche Kredite einfror.
1992 folgte die Wirtschaftsliberalisierung, die zunächst immense Probleme mit sich brachte. Viele der damals privatisierten Unternehmen sind
heute pleite. Die Aufhebung der Subventionen bei der Maisproduktion hat
vielen Kleinbauern das wirtschaftliche Genick gebrochen. Die ansteigenden
Preise für Mais machten den Erwerb des Grundnahrungsmittels für viele unerschwinglich. Aus Mais machen die Sambier beispielsweise Nshima, eine
Art Maisbrei – dem Nationalgericht, der als stopfende Beilage zu Huhn oder
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Fisch gereicht wird. Die Abwertung des Kwacha führte zudem zu einer immensen Verteuerung weiterer wichtiger Produkte. Die Inflation erreichte
dreistellige Wachstumsraten. Das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts
(BIP) lag in den 90er Jahren nur zwischen null und einem Prozent pro Jahr.
Erst langsam erholt sich das Land von seiner innovationshemmenden Vergangenheit. „Sambia ist das am meisten liberalisierte Land in der Region“,
sagt Ökonomie-Professor Seshamani. Seit dem Jahr 2000 zeige die Wirtschaft Zeichen des Fortschritts. Weitere Liberalisierungen haben das Wachstum auf drei bis vier Prozent pro Jahr angehoben. „Doch das reicht noch
nicht aus“, sagt Seshamani. „Um die Armut im Land um ein Prozent zu senken, bedarf es eines jährlichen Wachstumsschubs von fünf Prozent.“ Zudem
sind die Inflationsgefahren nicht eingedämmt. Noch immer steigt das Preisniveau um 15 bis 30 Prozent pro Jahr. „Für die wirtschaftliche Entwicklung
ist dies immer noch zu hoch.“
Der Human Development Index der Vereinten Nationen listet Sambia auf
dem 166. Rang – von insgesamt 177 gewerteten Nationen. Damit gehört
es zu den ärmsten Ländern der Welt. Die Punktezahl ist sogar rückläufig.
Sambia verlor zwei Plätze gegenüber dem Vorjahr. In die Bewertungen fließen Kriterien wie Lebenserwartung, wirtschaftliche Entwicklung und Zugang zu Grund- und Hochschulbildung sowie Gesundheitsdienstleistungen
ein. Die für 2015 gesetzten Ziele der Politik, etwa beim Zugang zur Schulbildung allen Kindern einen Schulplatz anzubieten, scheinen in weiter Ferne. Im Jahr 2003, so der aktuelle VN-Bericht, besuchten nur vier von zehn
Kindern im Schulalter eine Grundschule. Erschütternd ist auch das Ergebnis bei der Analyse der Lebenserwartung. Ein Baby, das im Jahr 2003 zur
Welt kam, wird statistisch gesehen 37 Jahre alt. Vor vier Jahrzehnten lag die
durchschnittliche Lebenserwartung bei mehr als 50 Jahren. Vor allem die
steigende Anzahl von HIV-Infizierten ist für den Rückgang verantwortlich.
Sambia ist ein armes Land und noch immer verhungern Menschen, weil
ihnen das Nötigste fehlt. Im November 2005 findet eine absurde Entwicklung ihren traurigen Höhepunkt: Im strukturschwachen Norden leiden 1,4
Millionen unter Hunger. Die Dürre des vergangenen Jahres hat die Ernten
der Kleinbauern dezimiert. Sie können sich kaum aus eigener Kraft am Leben halten. Monatelang hat die Regierung die Zahl der Hungerleidenden bewusst klein gehalten. Zudem zögert sie, den drohenden Hungertod tausender Bürger als nationale Katastrophe zu definieren. Ohne dieses offizielle
Eingeständnis der Regierung weigern sich fast sämtliche internationale Geberländer wie Deutschland, USA oder Japan mit Geldern und Nahrungsmitteln aus Nothilfefonds den Menschen bei der drohenden Katastrophe beizustehen. Erst auf Druck der internationalen Öffentlichkeit gesteht Präsident
Mwanawasa die Notsituation ein.
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Wie kann es passieren, dass ein Land mit so viel wirtschaftlichem Potenzial nicht in der Lage ist, seinen elf Millionen Bürgern das Überleben zu sichern und welchen Beitrag leisten die neuen Farmer? „Die wirtschaftlichen
Erwartungen an uns waren sehr hoch“, sagt Farmer Arangies. „Allerdings
sind wir ohne Eigenkapital gestartet.“ Die hoch gesteckten Ziele der Regierung und der Experten könnten niemals erreicht werden. In Simbabwe hätten die meisten eine existierende Farm mit guter Infrastruktur von ihren Vätern und Großeltern übernommen und weiter verbessert. „Wir fangen hier
von Null an“, sagt Arangies. „Wir kämpfen selbst um das wirtschaftliche
Überleben.“
„Die Sim-Farmer leisten nur einen kleinen Beitrag für die Nahrungsmittelsicherheit im Land“, sagt Ökonomie-Professor Seshamani. Die meisten
produzierten Exportgüter wie Tabak, Paprika oder Blumen. Die Maisproduktion überlassen sie meist den Kleinbauern. Immerhin, die Einwanderung
der Farmer aus dem Süden hat die Regierung wachgerüttelt. „Landwirtschaft wurde lange Zeit vernachlässigt“, sagt Seshamani. Doch die Regierung um Mwanawasa sei sich der Bedeutung durchaus bewusst, dass sie einen Beitrag zur Diversifizierung der Wirtschaft leisten. Und das ist erklärtes
Ziel der Regierung, die sich 2006 der Wiederwahl stellen muss. Drei große
Chancen hat das Land: 1. Kupfer, das heute bereits mehr als die Hälfte der
Exporte ausmacht. Aufgrund der starken Nachfrage von Kupfer und Kobalt aus China profitiert die Produktion derzeit. 2. Landwirtschaft: Nur 15
Prozent der nutzbaren Fläche werden in Sambia angebaut. Neben dem guten Klima besitzt Sambia fast 45 Prozent der gesamten Wasserressourcen
im südlichen Afrika. 3. Tourismus: Bislang konzentrierte sich das Land auf
den Bau luxuriöser Upper-Class-Lodges. Das große Potenzial der Reisenden mit mittlerem Budget könnte der wirtschaftlichen Entwicklung zusätzlichen Aufschwung geben.
11. Die Chance der Zukunft – der Tourismus
Die Naturschönheiten des Landes werden erst langsam von der Tourismusindustrie erkannt – auch, weil längst überfällige Infrastrukturprojekte nicht
in Gang kommen.
„Lange Zeit wurde der Tourismus als sozialer Sektor betrachtet und nicht
als ökonomisches Potenzial“, sagt Dapson Mwendafilumba, Chef einer Hotelkette mit zehn Lodges. Der etwa 40-Jährige hat in Rotterdam Wirtschaft
studiert und später einen MBA absolviert. Erst seit drei Jahren würde die
Regierung dem Tourismus die richtige Bedeutung beimessen.
Doch was genau ist das Besondere an Sambia? „Sambia ist ein sehr fried322
Sambia
Christian Schlesiger
fertiges Land“, sagt Mwendafilumba. „Das ist unser größtes Asset.“ Touristen suchen Sicherheit und neue Erfahrungen. „Beides bekommen sie in
Sambia“, sagt Mwendafilumba. Sambia sei das wahre Afrika.
In Livingstone, dem Südzipfel von Sambia an der simbabwischen Grenze
ist der Tourismus bereits angekommen. Die Stadt boomt, seitdem Mugabe
im südlichen Nachbarland nicht nur Farmer vertreibt, sondern durch seine
Politik auch Touristen fern hält. Wer die Victoria Falls besucht – jene grandiosen Wasserfälle, die über eine Breite von rund 800 Metern hundert Meter in die Tiefe stürzen – und den Nationalpark auf der simbabwischen Seite
betritt, wird unsanft überrascht. Über den Informationstafeln, die über Flora und Fauna informieren, hängt ein Foto von Mugabe. Es ist ein etwa zehn
Jahre altes Bild. Mugabe trägt einen Hitlerschnurrbart und schaut ernst und
erhaben in die Kamera. Kein Wunder, dass er heute zu den weltweit geächteten Staatschefs gehört und in Europa beispielsweise Einreiseverbot hat.
Im Vergleich zu Sambia ist Simbabwe immer noch weitaus besser ausgebaut. Beispiel Vic Falls, die simbabwische Stadt nahe der Wasserfälle. Die
Läden sind auf die westlichen Touristen eingestellt. Sie verkaufen teuren
Schmuck, bieten schnelle DSL-Verbindungen in Internet Cafes an und Restaurants haben längst europäische Salatvariationen auf der Speisekarte.
Doch viel los ist nicht mehr in der einst boomenden Touristenhochburg. Die
Vier- und Fünf-Sterne Hotels kämpfen mit abnehmenden Buchungs- und
Belegungszahlen, sind nur noch zu einem Drittel belegt. An der Grenze stürmen junge Simbabwer auf die Touristen zu und versuchen, einen gebündelten Packen Simbabwe-Dollars umzutauschen. Die Inflation macht jeden
weiteren Fortschritt zunichte. Simbabwe leidet. Stattdessen kehren die Touristen Vic Falls den Rücken und buchen sich in den Top-Hotels in Livingstone ein.
Die kleine Stadt profitiert vom Niedergang in Simbabwe. Und doch liegen Infrastrukturprojekte brach. Das Stadtmuseum mit seinen zwei Uhren
auf der Turmspitze ist symbolisch: Beide Uhren zeigen unterschiedliche
Zeiten. Und beide haben seit Jahren den Geist aufgegeben. Auch die Straßen sind in erbärmlichem Zustand. Sobald es von der Hauptstraße abgeht,
müssen sich die Autos über Sand- und Steinpisten quälen. In der Regenzeit
werden die Straßen nahezu unbefahrbar.
Mit den angrenzenden Wasserfällen hat Sambia viel zu bieten. Der Eintritt in den Nationalpark kostet zehn Dollar. Zumindest in und kurz nach
der Regenzeit profitiert auch die sambische Seite von den beeindruckenden
Fällen. In der Sommerzeit klaffen trockene Felsen aus den herabstürzenden
Wänden.
Livingstone schafft es mehr und mehr, sich den zunehmenden Touristenströmen anzupassen. Ob Rundumflüge mit den Ultralightflugzeugen, Bun323
Christian Schlesiger
Sambia
geejumping von der 111 Meter hohen Brücke im Grenzgebiet zwischen
Simbabwe und Sambia oder Riverrafting durch die tosenden und sich windenden Schluchten des Sambesi, den Touristen wird Spektakuläres geboten.
„Häufig profitieren davon aber vor allem ausländische Investoren“, sagt
Experte Mwendafilumba. Die Luxus-Hotels sind meist in den Händen von
Südafrikanern, die das Geld natürlich nicht in Sambia anlegen, sondern
es nach Südafrika oder England transferieren. In Sambia bleibt das Geld
kaum.
Im Landesinnern sieht es nicht anders aus. Beispiel South Luangwa Nationalpark. Der Park kann es in Größe, Tierwelt und Faszination locker mit
dem südafrikanischen Pendant Krüger aufnehmen. Der Park besticht sogar
durch mehr Natürlichkeit und Ursprünglichkeit. Geteerte Straßen gibt es
nicht. Wer sich die Tierwelt aus der Nähe anschauen möchte, braucht geländegängige Fahrzeuge, um bei den sandigen Pisten vorwärts zu kommen. Im
Park selbst befinden sich Lodges der Top-Kategorie, ebenfalls meist in der
Hand ausländischer Investoren.
Doch längst ist das nicht das einzige Problem. Die Anreise ist mühselig.
Wer das nötige Kleingeld hat, nimmt sich ein Flugzeug, das die Passagiere
etwa von Livingstone an die Parkgrenze fliegt. Schilder auf den Parkplätzen
des Flughafengeländes mit den Namen der Logdes verraten, dass betuchte
Gäste täglich von dem hoteleigenen Chauffeurservice abgeholt werden.
Bei Mittelklasse-Touristen führt der Weg nur über Chipata. Für die Reise von der Hauptstadt Lusaka gehen gut und gerne zwei Reisetage drauf.
Zunächst führt der Weg mit dem Bus über geteerte Straßen nach Chipata.
Die Reise dauert circa sieben bis acht Stunden. Es ist heiß, eng und manchmal macht man selbst im Bus Begegnungen mit Kakerlaken, die zwischen
den meist zerrissenen Sitzpolstern nach Essensresten suchen. Darüber darf
man sich in Sambia grundsätzlich nicht beklagen. Am nächsten Tag geht es
weitere dreieinhalb Stunden über Schotterpisten bis zum Parkeingang, vorbei an ursprünglichen Dörfern und winkenden Kindern. Der Wagen kommt
oft nur mit Tempo 30 voran, weil tiefe Löcher und Steinschläge die Straße
schwer passierbar machen.
„Die Infrastruktur ist ein großes Problem“, sagt Wirtschaftsprofessor Sashemi. „Solange das nicht deutlich verbessert wird, kommen Touristen nicht
hier hin.“ Im Kafue Nationalpark, dem größten des Landes und mit seiner
Fläche rund halb so groß wie die Niederlande, sei die einzige Straße aus
Richtung Süden ebenfalls eine Katastrophe. „Das verbessert sich nur sehr
langsam.“
Dienstleistungsmentalität, so wie in Europa und anderen Teilen der Erde
selbstverständlich, ist in Sambia wenig ausgeprägt. Es gibt keine staatliche
Hotelfachschule und private Weiterbildungseinrichtungen fassen nur sehr
324
Sambia
Christian Schlesiger
langsam Fuß. In seinem Universitätsbüro in Lusaka berichtet Sashemi von
seinen Erfahrungen. Der gebürtige Inder lebt seit zwei Jahrzehnten in Lusaka. „Der Tourismus hat ein unglaubliches Potenzial“, sagt er. Es gebe so viele
attraktive Sehenswürdigkeiten. „Allerdings werden viele Attraktionen nicht
gepflegt.“ Der Professor berichtet von einer Reise in die Nordprovinz, in der
Wasserfälle die bedeutendsten Sehenswürdigkeiten ausmachen, und in der
er an der Rezeption zum Parkeingang wartete. Er zieht seinen Zeigefinger
von oben nach unten über seinen Schreibtisch, hebt ihn anschließend vors
Gesicht und sagt: „Ein Zentimeter dicker Staub!“ Seine Hände umklammern
die Tischkante und er beugt sich vor: „Unvorstellbar, wie dreckig das ist.“ Es
fehle nicht nur an der Infrastruktur, um zu den Sehenswürdigkeiten hinzukommen, oft fehlten dem Servicepersonal die gewisse Einstellung.
Mwendafilumba bestätigt das. „Wir haben wenig qualifizierte Kräfte in
der Tourismusindustrie“, sagt Mwendafilumba. Insgesamt stehe Sambia absolut am Anfang. Noch werde sein Heimatland vor allem als Transitland genutzt. Touristen, insbesondere Backpackers, besuchen die Hauptstadt Lusaka
vor allem dann, wenn sie aus Südafrika, Botswana oder Namibia kommend
weiter in den Norden nach Mosambik und Tansania reisen – oder eben in
umgekehrter Richtung. Außer Livingstone haben sie dann meist kaum etwas von der Schönheit des Landes gesehen. Die Kosten für Unterkünfte und
Essen sind zudem nicht unerheblich. „Sambia ist ein relativ teures Reiseziel“, sagt Mwendafilumba. Bislang würden vor allem betuchte Besucher
aus Südafrika, Großbritannien, den USA und Australien nach Sambia kommen. Deutsche Touristen folgten auf Platz fünf.
Immerhin: Langsam bewegt sich was. British Airways hat angekündigt,
ab Sommer 2006 den ersten Direktflug von Europa aus anzubieten. Der Flug
von London geht dann nach Livingstone. „Das könnte der Tourismusindustrie einen weiteren Schub geben“, sagt Mwendafilumba.
12. Chieftancies – die vergessenen Multiplikatoren
Das Wohnzimmer ist dunkel. Die Sonne findet nur morgens den Weg in
den Raum, wo vier dunkelbraune dicke Ledersofas sich den Gästen als Sitzgelegenheit bieten. An der Wand hängt ein Bild mit einem Büffel vor einem
Wasserloch. Über dem Kamin hängt ein Gemälde vom gekreuzigten Jesus.
Gegenüber in der anderen Ecke stehen vier Stoffsofas mit blau-beige-gestreiftem Muster. Christine Eva Mambo Chiawa sitzt ruhig darauf und lehnt
sich locker auf die Lehne. Ihr Übergewicht wird durch ein langes Kleid mit
Blumenmuster verdeckt. Von ihrem Hals hängt eine goldene Kette mit einem
Kreuz herab. „Der Tourismus entwickelt sich gut“, sagt sie ruhig.
325
Christian Schlesiger
Sambia
Chiawa ist Chieftainness ihres Stammes. 18.000 Leute aus dem Volk der
Gowa wohnen in ihrem Verantwortungsbereich, der sich rund 60 Kilometer
entlang des Lower Sambezi im Süden des Landes hinzieht. Die Chieftainships genießen in Sambia eine große Bedeutung. Die Chiefs sind weit mehr
als Dorfvorsteher, aber weniger als Könige. Dem Volk gegenüber strahlen
sie mitunter eine größere Macht aus als selbst die Landesregierungen. Es
gibt keine klar definierten Rollen und Funktionen der Chiefs. Von den rund
280 Chiefs in Sambia werden einige gewählt, andere bekommen ihren Titel
vererbt. Ihre zugeteilte Aufgabe: In der Regel sollen sie ein guter Führer sein
und dem Volk den Zugang zu Nahrung, Unterkunft, sauberem Wasser und
Bildungseinrichtungen ermöglichen.
Chieftainness Chiawa ist eine der bekanntesten im Land. Sie gehört dem
House of Chiefs an, jener Interessensgemeinschaft, die auf politischer Ebene mit der Regierung diskutiert. Die Struktur der Chiefdoms hat koloniale
Wurzeln. Die Verwaltungen unter britischer Ägide haben einheimische Autoritäten als Ansprechpartner eingeführt. Mit der Zeit wurde die Macht der
Native Authorities eingeschränkt. Doch seit 1996 erkennt die Verfassung die
Existenz der Chieftaincies an. Zudem verlangt die aktuelle Regierung, dass
Chiefs bei Planung und Durchführung von Entwicklungsprogrammen eingebunden werden müssen. Die Bedeutung der Chiefs für die wirtschaftliche
Entwicklung des Landes dürfte zunehmen. Zumal mehr als 90 Prozent des
Landes im Besitz der Chiefdoms ist.
Das Reservat von Chiawa grenzt als Game Management Area an den Lower
Zambezi Nationalpark. Das Besondere: Eine bestimmte Anzahl von Wildtieren pro Jahr wird zum Abschuss freigegeben. In diesem Jahr sind es vier Büffel, zwei Elefanten, vier Flusspferde und mehrere Impalas. „Auf Auktionen
etwa in Las Vegas werden die Tiere an den Höchstbietenden offiziell vergeben“, sagt Chiawa. Durch derartige Aktionen sind die Tourismusströme in den
vergangenen Jahren angestiegen. Auch auf Grund der ausbleibenden Touristen
im Nachbarland Simbabwe profitiert Chiawa‘s Revier. „Die Belegungszahlen
sind von 30 auf rund 80 Prozent gestiegen“, sagt sie. „Als Folge der steigenden
Gästezahlen sei auch die Beschäftigungsquote in ihrem Chiefdom gestiegen.
Entlang des Flussufers entstehen herrliche Lodges, die weitere Touristen
aufnehmen können. Ein Geldsegen für Chiawa. Von den Einnahmen profitiert sowohl ihr Volk als auch sie selbst. Eine Lodge der Luxusklasse zum
Beispiel muss pro Jahr rund 5.000 US-Dollar entrichten. Die Hälfte davon
geht an die Zambia Wildlife Authority, einer staatlichen Naturschutzbehörde. 45 Prozent bekommt das Volk, fünf Prozent geht an Chiawa.
„Die Chiefs gehen mit der Natur behutsamer um“, sagt Chiawa. Das sei
der Grund, warum die Chiefs für die Entwicklung der Tourismusindustrie so
wichtig sind. Dafür stehe sie im politischen Dialog ein.
326
Sambia
Christian Schlesiger
Noch überlegt der sambische Staat, welchen Grad der Integration die Einbindung der Chiefs in die ländliche Entwicklung einnehmen soll. Eine aktuelle Studie der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit kommt jedenfalls zu einer klaren Empfehlung: „Die Integration der Chiefs kann einen
wichtigen Beitrag leisten, das Land zu dezentralisieren“ und so die wirtschaftliche Entwicklung in Gang zu bringen.
13. HIV – eine Krankheit ergreift das Land
HIV ist das große Problem der Zeit. Unter den 14- bis 49-Jährigen breitet sich das Virus rasch aus. In und um die Hauptstadt Lusaka herum tragen
mehr als 20 Prozent der Sambier das HI-Virus in sich. Eine Verbesserung
der Situation ist nicht in Sicht. „Ökonomisch dezimiert die Krankheit wertvolles Humankapital“, sagt Wirtschaftsexperte Sashemi. Und es seien nicht
nur die Ärmsten der Armen davon betroffen, sondern auch Mitglieder der
Mittelschicht. „Diese Leute sind aber so wichtig für die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes.“
Beauty Nambeye ist ein typisches Beispiel, wie in Sambia mit der Krankheit umgegangen wird. Die 35-jährige Mutter von drei Kindern ist seit 2001
HIV-positiv. Sie lebt in einem kleinen Ort namens Chisamba, mehrere Stunden nördlich von Lusaka. Als sie mehrere Monate krank war und sich nach
einer Tuberkolose-Diagnose einem Bluttest im örtlichen Krankenhaus unterzogen hatte, offenbarte man ihr die bittere Wahrheit. Das Problem: Medikamente hatte die Provinzklinik nicht vor Ort. Einmal im Monat muss sie
deshalb in die Hauptstadt reisen. Für viele Betroffene ist diese Fahrt finanziell gar nicht machbar.
Nambeye hat sich bei ihrem früheren Ehemann angesteckt. Poligamie ist
in Sambia normal. Und so hatte auch ihr Partner mehrere Frauen. „All seine
Kinder, die er mit den anderen Frauen bekommen hatte, sind nach wenigen
Monaten gestorben“, sagt sie. Doch bis heute verweigert er sich Tests, um
seinen Krankheitszustand zu überprüfen. Schuld an HIV seien in den Augen
der Männer meist die Frauen.
Inzwischen lebt Nambeye von ihrem Ehemann getrennt. Und sie geht in
ihrem Dorf offen mit ihrer Krankheit um. „Die Leute um mich herum sollen wissen, dass ich HIV-positiv bin und dass ich damit gut leben kann“,
sagt sie. Oft weigerten sich die Infizierten, ihren Status zuzugeben, um die
teuren und regelmäßigen Fahrten nach Lusaka nicht auf sich nehmen zu
müssen. Ein Todesurteil.
In Bauleni, einem Armenviertel am Rande von Lusaka, hat sich die britische Ordensschwester Elisabeth Dawson den Schicksalen vieler Kinder
327
Christian Schlesiger
Sambia
angenommen. Die meisten sind verwaist. Ihre Eltern sind an HIV erkrankt
und können ihre Kinder nicht mehr aufziehen oder sie sind bereits gestorben. „Bauleni Streets Kids Project“ nennt sich die Schule, die die Jüngsten
der Gesellschaft von der Straße holen soll. 860 Schüler hat die Schule aufgenommen, 120 davon sind behindert und brauchen spezielle Betreuung.
Das Schulgeld wird durch Spenden finanziert. Und durch den Verkauf selbst
produzierter Waren.
In der schuleigenen Bäckerei fertigen Schüler, die neben der Schule auch
eine Ausbildung absolvieren, frische Brötchen und Brot. Einer der Jungen
schiebt die quadratförmigen Kästchen in einen der fünf Öfen. Vor mehreren
Jahren spendete sie ein englischer Unternehmer aus England. Doch mittlerweile ist es der einzig funktionierende. Es fehlt an Ersatzteilen und Knowhow, wie die Geräte in Stand gebracht werden können. Es ist ein Teufelskreis. Bei der Hilfe zur Selbsthilfe scheitert es oft an dem Einfachsten.
Und doch macht Ordensschwester Elisabeth weiter – mit Erfolg. Der
Breakeven ist erreicht, noch dank finanzieller Hilfe durch Spenden. Doch
immer besser verkaufen sich die anderen selbst hergestellten Produkte. Ein
Gewächshaus mit Tomaten, mehrere hunderte von Hühnern und Schweinen
und zwei 50 Quadratmeter große Fischbecken sollen die Zukunft sichern.
Im schuleigenen Verkaufsstand gehen die Waren erfolgreich über die Ladentheke.
Pharaoh Phiri und Itone Mwanza sind zwei der mehr als 800 Schüler. Sie
sind 14 beziehungsweise 15 Jahre alt und sind Musterschüler. Beide leben
sie in dem angrenzenden Compound, wie die Armenviertel hier heißen. Sie
begleiten mich in ihre Heimat. Die Erde ist staubig. Kleine Gassen winden
sich durch die vielen kleinen Steinhäuser ohne Fenster. In kleinen Marktständen verkaufen Frauen Erbsen und Linsen, Eier oder Haushaltsgeräte.
Eine Frau wedelt mit einem Fächer die Fliegen fort, die sich auf die toten
Fische stürzen, die auf dem Holztisch zum Verkauf ausliegen. Die Sonne
scheint, es sind weit mehr als 35 Grad Celsius.
Pharao lebt mit seiner Schwester, ihrem Mann und dem gemeinsamen
Kind in einer 20 Quadratmeter großen Wohnung. Es gibt ein Schlafzimmer
und ein Wohnzimmer, in dem Pharao nachts schläft. Dann funktioniert er
die Sitzbank mit den Polstern zum Bett um. Der Fernseher läuft, das Bild
flimmert auf. Das schwarz-weiße Kriseln lässt nur erahnen, was der Fernsehsender gerade zeigt. Ein Tisch und zwei Plastikstühle stehen in der Ecke.
An der Wand hängen Fotos von Verwandten.
Pharao‘s Schwester und ihr Mann sind arbeitslos. Seine Eltern leben irgendwo in der Nachbarschaft. Sie halten sich mit Gelegenheitsjobs über
Wasser, so wie die meisten hier im Compound. Arbeit ist rar. Pharao selbst
will mal Taxifahrer werden. Er trägt eine blaue Trainingshose und einen
328
Sambia
Christian Schlesiger
Sweater mit vielen Löchern. Dazu kaputte Tennisschuhe, seinem einzigen
Paar Schuhe. Insgesamt hat er noch zwei weitere Hosen und zwei T-Shirts in
seinem Schrank. Das war‘s.
So geht es auch Itone. Der 14-Jährige trägt ein T-Shirt mit Fischmuster,
eine Jeans und Sandalen. Ihn hat das für Sambia so typische Schicksal getroffen. Sein Vater ist tot, vermutlich HIV. Seine Mutter lebt in einem anderen Compound, um Geld zu verdienen. Er selbst wächst bei seiner Großmutter auf. Sein Zimmer: ein dunkles 5-Quadratmeter Loch. Nur der Türspalt
und zwei handgroße Fensteröffnungen bringen ein wenig Licht in sein Reich.
Über dem Bettgestell und einer Matratze hängen seine Klamotten, die an einer Hand abgezählt werden können.
„Wir geben den Kindern eine Chance“ sagt Salomon Zulu, der Direktor
der Schule. HIV ist ein großes Problem. „Fast jeder hier hat einen Elternteil verloren, oft auch beide“, sagt er. Die Schulgebühren könne sich keiner
leisten. Bis zur neunten Klasse können Kinder des Bauleni Compounds und
der umliegenden Dörfer bis zu einem Umkreis von zehn Kilometern das
Angebot der Schule annehmen. Morgens bekommen die Schüler eine kostenlose Mahlzeit, meist Nshima, der traditionelle Maisbrei und Porridge.
Nachmittags werden einige ausgebildet, als Bäcker, Schreiner oder Gemüseanbauer.
Ein bis zwei Schüler pro Jahrgang schaffen sogar die Voraussetzungen,
um die Klassen 10 bis 12 zu besuchen. Dann müssen sie wechseln und auf
eine staatliche Schule gehen. „Die Gebühren sind sehr hoch“, sagt Zulu.
„Soweit möglich, finanzieren wir unseren Besten die Schulausbildung.“
14. Korruption – die unsichtbare Bremse
„Nchekelako“, sagt Alfred Chanda, Präsident der Transpareny International Zambia. „Das Wort kommt aus dem Sprachgebrauch der Bemba und hat
große und traurige Bedeutung.“ Es heißt übersetzt „give me a piece“ und gehört zum Alltagsgebrauch der Sambier. In dem Land sei es normal, ein paar
Kwacha auf den Tisch zu legen, um schneller und effektiver an Leistungen
zu kommen. „Wer sich beim Staat für ein Stück Land bewirbt oder an der
Grenze den Importzoll auf eingeführte Waren zahlen muss, kommt an korrupten Handlungen meist nicht vorbei“, so Chanda. Ansonsten dauere alles
ein wenig länger.
Chanda ist im Hauptberuf Jura-Professor an der Zambia University of
Lusaka. Seit Jahren mahnt er zum Kampf gegen Korruption. Im Jahresbericht 2005 von Transparency International landet Sambia auf Platz 107 – von
insgesamt 159 bewerteten Ländern. In einer Skala von 0 (hochgradig kor329
Christian Schlesiger
Sambia
rupt) bis 10 (keine Korruption) erreicht es mit einem Wert von 2,6 nicht einmal annähernd den Durchschnitt von 4,11 Punkten. Selbst innerhalb Afrikas schneidet Sambia katastrophal ab. Im Schnitt erreichen die Länder der
Region 2,86 Punkte. In die Bewertung fließen die Einschätzungen von Geschäftsleuten und Länderanalysten ein.
„Der Kampf gegen Korruption ist eine der dringendsten Aufgaben in
diesem Land“, sagt Chanda. Doch das Problem: „Es gibt keine Strategie,
wie Korruption bekämpft werden kann.“ Nach der Machtübernahme durch
Mwanawasa Ende der 90er ist zwar einiges passiert. Der Regierungschef
hat eine Task Force eingesetzt, um Korruption zu bekämpfen. Anschließend
verhaftete er den früheren Präsidenten Frederick Chiluba und macht ihm bis
heute den Prozess. „Das sind jedoch alles Einzelmaßnahmen“, sagt Chanda.
Es gebe kein Gesamtkonzept. Es würden allenfalls die Korruptionsdelikte
vergangener Regierungszeiten analysiert. Derzeitige Fehlhandlungen blieben ungeahndet. Und die Mitglieder der Task Force selbst sind gegenüber
Anklagen immun.
Wenn die politischen Eliten aber nicht mit gutem Beispiel voran gehen,
wird sich auf den unteren und mittleren Ebenen ebensowenig ändern. „Wer
als Angestellter für den Staat arbeitet, verdient viel zu wenig“, sagt Chanda.
Schmiergeld erhöhe das Einkommen oft um ein Vielfaches. Und einen Code
of Conduct, also einen Verhaltenskodex, gibt es nicht. „Die Zivilangestellten
müssten beispielsweise nicht einmal nachweisen, woher sie ihren Wohlstand
haben“, sagt Chanda.
Wer durchs Land reist, staunt nicht schlecht über die zahlreichen Polizeikontrollen im Land. Kaum ein Reisetag, der ohne kurzen Zwischenstopp endet. Patrik, der Fahrer unseres Minibusses von Kabwe nach Lusaka, nimmt
die Situation gelassen. Eine Polizistin fordert ihn bei einer Kontrolle auf,
auszusteigen. Nach rund zehn Minuten kommt er zurück, grinst und fährt
weiter. „Ich darf eigentlich nur elf Fahrgäste transportieren“, sagt Patrik.
Doch im Bus sitzen 14. Dafür musste Patrik ein paar Kwache hinlegen. Wie
viele, verrät er nicht. „Wir helfen uns gegenseitig“, sagt Patrik. „Ich darf den
Minibus mit 14 Leuten beladen und die Polizistin kann ihr Gehalt aufbessern.“ Wer mehrere Wochen durchs Land reist, hört den Satz „We are helping each other“ des Öfteren.
„Die negativen Auswirkungen der Korruption auf die wirtschaftliche Entwicklung sind gigantisch“, sagt Chanda. Geberländer der Entwicklungshilfe hätten zig Milliarden an Euro und Dollar in die Wirtschaft gepumpt, und
dennoch scheint das Land in Lethargie zu verharren. „Das Geld fließt oft
in private Taschen“, so Chanda. Die Korruption lähmt nicht nur ehrgeizige
Sambier, sich mit Ideen und Mut selbstständig zu machen. Ausländische Investoren bleiben dem Land ebenso fern. Beispiel Tourismus: Wer ein Ho330
Sambia
Christian Schlesiger
tel bauen möchte, braucht 155 verschiedene Lizenzen, etwa eine Erlaubnis
für den Bau und die Inbetriebnahme einer touristischen Serviceeinrichtung.
„Um die Investition zu beschleunigen, kommen Finanzgeber gar nicht daran
vorbei, die entsprechenden Abteilungen zu bestechen“, so Chanda. Ansonsten zögere sich der Prozess unweigerlich hinaus.
15. Fazit – enormes Potenzial, fehlender Wille
„Zambia – the Real Africa“, damit wirbt die Tourismusbehörde im Ausland. Das Versprechen wird gehalten – im positiven wie im negativen.
Sambia ist ein beeindruckendes Land. Naturschönheiten wie die Victoria Falls, der Sambesi mit seinen angrenzenden Nationalparks wie der Lower Zambezi oder auch der South Luangwa Nationalpark haben mehr Touristen verdient. In Deutschland ist Sambia als Reiseland kaum bekannt. Es
wird sich hoffentlich ändern. Wer die Ursprünglichkeit eines afrikanischen
Landes kennen lernen möchte und wem dabei Sicherheit wichtig ist, der
wird sich in Sambia wohl fühlen.
Und doch wird es noch viele Jahre dauern, bis nicht nur Touristen die unbekannte Perle Afrikas entdecken, sondern auch die Sambier selbst ihr Potenzial erkennen. Bislang verschenken sie das meiste davon. Die Straßen der
Hauptstadt Lusaka sind geprägt durch Autos, die durch Logos der Entwicklungshilfeorganisationen auffallen. Deutsche, Japaner, Holländer, Schweden, Kanadier, US-Amerikaner und viele mehr haben Sambia als geeignetes
Investitionsziel für die Entwicklungshilfegelder definiert. Kein Wunder,
denn seit den 60er Jahren ist Sambia friedlich, es hat quasi-demokratische
Strukturen und ein enormes wirtschaftliches Potenzial.
Aber genau das ist, was mich als Reisenden traurig stimmt. Sambia könnte
nicht nur sich selbst, sondern alle Nachbarländer mit Mais, Weizen und Gemüse beliefern. Stattdessen erlitt das Land Ende 2005 selbst eine Hungersnot. Nur 15 Prozent der de facto anbaufähigen Fläche wird landwirtschaftlich
genutzt. Das Klima mit heißen Sommermonaten und einer langen Regenperiode sowie langen und gewaltigen Flussläufen wie der Sambesi könnten
Sambia zur Kornkammer Afrikas machen. Die Immigration der Farmer aus
Simbabwe verbessert die Situation ein wenig. Doch es sind zu wenige, um
einen wirklichen Aufschwung zu initiieren.
Korruption und Krankheiten wie HIV und Malaria machen den Fortschritt
kaputt. So ist es in vielen afrikanischen Staaten. Eine Regierung, die selbst
kein Interesse daran hat, das es dem Volk gut geht, wird kaum die zukunftsorientierten Rahmenbedingungen setzen. Immerhin, die Regierung unter
Mwanawasa nimmt sich langsam der Probleme an. Sie unterstützt die Far331
Christian Schlesiger
Sambia
mer und erkennt langsam, dass Tourismus ein enormes wirtschaftliches Potenzial in sich trägt.
Wer mit Entwicklungshelfern ins Gespräch kommt, hört immer auch ein
wenig Frustration heraus. Sambier würden zu wenig Eigeninitiative mitbringen, um gelernte Erkenntnisse gleich umzusetzen. Nachbargesellschaften
wie Botswana oder Simbabwe seien impulsiver und dynamischer. Die Mentalität als Bremse für wirtschaftliche Entwicklung zu nennen, ist natürlich
zu einfach. Dennoch scheint mir ein Mangel an Wille und Flexibilität auch
in der Historie zu wurzeln. Sambia war in der Regierungszeit unter Kuanda
ein eher sozialistisch geprägtes Land. Staatliche Fürsorge war dort sehr ausgeprägt, etwa im Zusammenhang mit einem garantierten Preis für die Abnahme von Mais. Seit Anfang der 90er Jahre wurden viele Regeln gelockert
oder aufgehoben. Marktliberale Gedanken prägen mehr und mehr die Politik. Das könnte sich positiv auf die Entwicklung auswirken, bei den Bürgern
muss aber erst ein Umdenken stattfinden.
Ich hoffe, Sambia wird mit der Zeit die Wende hinbekommen. Ich jedenfalls freue mich auf den nächsten Besuch dieses tollen Landes.
332
Iris Völlnagel
aus Deutschland
Stipendien-Aufenthalt in
Uganda
vom 1. Januar bis 10. Februar 2006
333
Uganda
Iris Völlnagel
Gottes vergessene Kinder
– Was macht Uganda mit seinen Kindersoldaten?!
Annäherung an ein nicht ganz einfaches Thema
Von Iris Völlnagel
Uganda, vom 1. Januar bis 10. Februar 2006
335
Uganda
Iris Völlnagel
Inhalt
1.
Zur Person
342
1.1 Warum Kindersoldaten?
342
1.2 Warum Uganda?
342
2.
Vor der Abreise
343
3.
Erste Eindrücke
343
3.1 Erste Begegnungen – Afrika, seine Leute und ihr Denken
344
3.2 „These damned Acholi-People“ – erste Begegnungen
345
4.
Gulu – Annäherungen an eine seltsame Stadt
346
5.
Understanding Acholi Culture
348
5.1 Geschichtsstunde bei Mr. Uma
349
5.2 Jolie – die „erste“ Kindersoldatin
352
5.3 Der Kampf gegen eine andere Macht
– Joseph Kony und das Mysterium der LRA
353
6.
355
Besuch im Reception- und Rehabilitationcenter
– Eingang in eine andere Welt
6.1 Ann – eine kritische Stellungnahme
356
7.
358
Begegnungen mit ehemaligen Kindersoldaten
und ihren Angehörigen
7.1 Josephine
358
7.2 Konys Ex-Frau Evelyn
358
337
Uganda
Iris Völlnagel
7.3 Charly – Vom entführten Kind zum LRA-Kommandeur
360
7.4 Eine besondere Begegnung – Pamela
361
7.5 Angelina – oder wenn Eltern trauern
362
8.
364
Mangobaum, warum stehst du so alleine da?
– eine Fahrt durch Acholiland
8.1 Besuch in Pader
365
9.
367
Ein Besuch im Langi-Land
9.1 Helfen – aber wie?
368
9.2 Der vernachlässigte Norden
369
10.
Verschiedene Seiten eines Konfliktes
371
10.1 Die Nightcommuters
371
10.2 Das Amnestiegesetz – ein Hoffnungsschritt?
372
10.3 Ein Besuch bei Radio FM
372
10.4 Die Landfrage … oder was ist dran an den Gerüchten?
373
11.
374
Zum Streiten gehören mindestens zwei
11.1 Beschützer oder Täter? – Die ugandische Armee
375
11.2 Der große Unbekannte – das Nachbarland Sudan
376
11.3 Vermeintlicher Retter: Der Internationale Strafgerichtshof
378
11.4 Die Rolle des Parlaments und der Regierung
379
11.5 Reagan Okumu
381
12.
381
Lösungsansätze – What needs to be done
339
Uganda
Iris Völlnagel
12.1 Das Hauptproblem: Reconciliation – Versöhnung
381
12.2 Anerkennung
382
12.3 „Sag deinem Nachbarn, dass du ihn brauchst“
– Landesweite Aussöhnung
382
12.4 Get them their cattles back!
383
12.5 Get Kony!
383
12.6 „Die UN muss her!“
383
12.7 „Let’s talk – Dialog“
384
12.8 Let’s pray!
386
13.
387
Was nun – oder warum schweigt der Westen???
13.1 Andrew M. Mwenda – Kritiker ohne Lobby
388
13.2 Hat die internationale Gemeinschaft geschlafen?
388
13.3 Deutsche Entwicklungshilfe
389
14.
390
Abschließend – Persönliche Beobachtungen
341
Iris Völlnagel
Uganda
1. Zur Person
Iris Völlnagel, Jahrgang 1969, Studium der Politikwissenschaft, Anglistik
und Journalismus in Heidelberg und Toronto, Kanada. Danach Presse- und
Rektoratsreferentin der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Von 1999
bis 2001 Volontariat bei der Deutschen Welle in Köln, Berlin und Brüssel,
anschließend als Redakteurin im Zeitfunk. Seit 2002 freie Journalistin für
den Westdeutschen Rundfunk, Deutsche Welle und n-tv, während dessen
zahlreiche Auslandsreisen vor allem in den Nahen Osten sowie nach Südostund Zentralasien. Seit März 2006 Redakteurin beim Fernsehsender PHOENIX in Bonn. Uganda war meine erste Reise nach Afrika und es wird sicherlich nicht die letzte sein!
1.1 Warum Kindersoldaten?
Im September 2000 während meines Volontariats bei der Deutschen Welle wurde ich auf eine Pressekonferenz des UN Kinderhilfswerk UNICEF
zum Thema Kleinwaffen geschickt. Zugegeben, der Grund, warum ich hingeschickt wurde, lag sicherlich weniger an dem Thema als vielmehr an den
beiden Personen, die als UNICEF-Botschafter dabei waren: Sabine Christiansen und Sir Peter Ustinov. Meine Vermutung stimmte. Als ich zurückkam,
war das Interesse der Redaktion, über die Pressekonferenz zu berichten, verflogen. Doch ich hatte für mich ein Thema „entdeckt“, das mich seitdem
nicht mehr losließ: Kindersoldaten.
1.2 Warum Uganda?
Im Frühsommer 2000 hatte ich im Rahmen einer kirchlichen Veranstaltung zum ersten Mal bewusst Kontakt zu Leuten aus Uganda. Ich hörte davon, wie das Land prosperiert und wie Uganda es geschafft hat, als einziges
afrikanisches Land, seine Aidsrate innerhalb weniger Jahre drastisch zu reduzieren. Doch wie konnte es geschehen, dass in einem Land, das einerseits
zum Musterschüler geworden war, zugleich ein Konflikt ausgetragen wird,
der so menschenverachtend und verabscheuungswürdig ist?
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Uganda
Iris Völlnagel
2. Vor der Abreise
Dass von meiner ersten Idee bis zur Bewerbung bei der Heinz-Kühn-Stiftung vier Jahre und bis zur Reise nach Uganda noch ein weiteres Jahr vergehen sollte, hatte ich am Anfang nicht bedacht. In diesen fünf Jahren ist das
Thema „Kindersoldaten“ immer wieder in den deutschen Medien behandelt
worden. So sehr, dass mir eine Kollegin erzählte, sie habe eine Ugandareise abgesagt, denn das Thema „Kindersoldaten“ sei in den deutschen Medien
„durch“. Artikel darüber würde sie nicht mehr verkauft bekommen.
Auch für mich hat sich über die Jahre hinweg die Perspektive verändert.
Am Anfang stand für mich sehr stark das Leid der Kinder und was getan
werden kann, um ihnen zu helfen, im Mittelpunkt meines Interesses. Später
entwickelte sich daraus mehr und mehr die Frage, was getan werden kann,
um diesen Konflikt zu beenden bzw. warum es so schwierig ist, ihn zu beenden. Auch stellte sich mir die Frage, welche langfristigen Folgen dieser
Konflikt für Uganda und seine Gesellschaft hat.
Im November 2005 vor meiner Abreise kam der Dokumentarfilm „Lost
Children“ in die deutschen Kinos. Dadurch wurde die Problematik der Kindersoldaten sehr stark in den Mittelpunkt gerückt. Fast zeitgleich gab es
aber auch schreckliche Meldungen aus dem Norden Ugandas. Ein Mitarbeiter der Caritas wurde erschossen, zwei weitere – Europäer – auch. Meldungen wurden bekannt, wonach die Rebellenarmee Lord’s Resistance
Army, die seit Jahren in Norduganda ihr Unwesen treibt, angeblich angekündigt hatte, künftig auch Mitarbeiter von Hilfsorganisationen angreifen
zu wollen. Sollte ich trotzdem fahren? War es der Mühe wert? Was würde
dabei „rauskommen“? Oder würde ich gar mit einem Trauma zurückkommen, wie mir eine Kollegin prophezeite? Natürlich hatte ich ein Interesse
ins Land zu fahren, doch wollte ich auch in der Lage sein, hinterher darüber zu berichten.
3. Erste Eindrücke
Unter mir eröffnet sich ein grün-braunes Etwas als das Flugzeug der British Airways von London die Wolkendecke durchbricht. In weniger als einer Stunde werden wir landen. Was sich da unter mir auftut, ist also Afrika. Genauer gesagt Uganda, die Perle Afrikas, wie Winston Churchill das
Land am Äquator einst nannte. Es ist früh morgens, die Sonne geht gerade
über dem Victoriasee auf, als wir schließlich in Entebbe landen. Die ersten
begrüßen mich auf dem Rollfeld. Mit mir aus dem Flugzeug steigen viele
Entwicklungshelfer, christliche Missionare, ein paar vereinzelte Touristen
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Iris Völlnagel
Uganda
und auch zwei italienische Journalisten, die – wie ich – in den Norden des
Landes fahren wollen.
Gladys, die Verlobte des Sohnes meines Patenonkels, will mich abholen.
Irgendwie ist es ein komisches Gefühl, plötzlich das einzige Bleichgesicht
unter lauter Afrikanern zu sein. Doch dank Gladys Unterstützung finde ich
mich schnell zurecht. In Kampala bringt sie mich zum Gästehaus des Deutschen Entwicklungsdienstes (DED), wo ich die ersten Tage wohnen werde.
3.1 Erste Begegnungen – Afrika, seine Leute und ihr Denken
„Der Wert eines Menschen ist in Afrika sehr gering. Das sollten Sie bei
Ihren Recherchen immer im Hinterkopf behalten, besonders wenn sie in den
Norden fahren“, rät mir Michael Winklmaier, Direktor des DED in Kampala. Er ist in Uganda geboren, aufgewachsen und kennt das Land besser
als Deutschland. Von ihm bekomme ich eine erste gute Einführung in mein
Thema. Sechs Gründe nennt er mir, warum der Konflikt im Norden nicht
zu Ende gehen kann: Präsident Museveni, das Militär, die sudanesische Regierung in Khartum, die Ländereien im Norden, die Interessen der Rebellen
und das Desinteresse der anderen Stämme am Norden. Später muss ich immer wieder an diesen Satz über den geringen Wert des Menschen in Afrika
denken, vor allem als ich in Norduganda verschiedene IDP-Camps besuche
und sehe, wie zusammengepfercht die Leute dort leben. Und auch als einige ehemalige Kindersoldaten mir erzählen, wie sie nach ihrer Rückkehr von
ihren Familien und den Menschen in ihrer Umgebung mit Verachtung behandelt wurden.
„Welchen Konflikt im Norden meinen Sie denn?“ fragt mich Dr. Annette
Windmeisser, Abgesandte des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung bei meinem Besuch in der deutschen Botschaft. Im Norden gibt es drei Konflikte, erklärt sie mir weiter: Einen im
Westnilgebiet, für den gerade mit Hilfe deutscher Zivilhelfer eine Friedenslösung gefunden wurde; den Konflikt im Acholi-Land, der international viel
Aufmerksamkeit bekommt und dann den Konflikt im Nordosten, an der
Grenze zu Kenia. Dabei geht es hauptsächlich um Kleinwaffen und dies ist
ein Konflikt, für den eine Lösung überhaupt nicht in Sicht ist.
Meine nächste Anlaufstation ist die Friedrich-Ebert-Stiftung. Landesleiter
Jürgen Peters gibt mir hilfreiche Informationen und bietet vor allem praktische Hilfe an: Durch ihn lerne ich einen ugandischen Kollegen kennen, der
mich zum Media Council bringt. Der Media Council ist die Stelle, wo alle
ausländischen Journalisten ihre Presseakkreditierungen bekommen. Dank
der Hilfe und Unterstützung des Kollegen bin ich binnen einer halben Stun344
Uganda
Iris Völlnagel
de in Besitz eines Presseausweises. Zugleich verhandelt er, dass ich nur für
einen Monat statt zweien akkreditiert werde, was mir 100 Dollar spart. Kurz
nachdem ich mich akkreditiert habe wird Uganda die Regularien ändern.
Statt beim Media Council müssen sich die ausländischen Journalisten beim
Media Service, das dem Präsidenten direkt unterstellt ist, akkreditieren. Und
ausländische Journalisten dürfen sich nur im Umkreis von 100 Kilometern
von Kampala aus bewegen. Auch das eine Form der Pressezensur! Mit dem
Presseausweis in der Hand marschiere ich zum Sprecher der ugandischen
Armee, von dem ich auch eine Bescheinigung haben möchte, um in den
Norden fahren zu können. Er ist noch nicht sehr lang auf seinem Posten und
weil er die Situation gerade auch sehr „peacable“ (friedevoll) findet, fällt die
Sicherheitseinweisung recht kurz aus. Mehr interessiert ihn dabei die Frage,
wie sich denn unsere erste Bundeskanzlerin macht.
„Das Problem mit den Kindersoldaten ist kein Thema mehr wirklich“,
fängt Wolfgang Hilberer unser Gespräch an. Wolfgang Hilberer lebt seit
fünf Jahren in Uganda. In Kampala leitet er das Büro der Konrad-AdenauerStiftung. Außerdem ist er mit einer Acholi-Frau, deren Familie ursprünglich
aus dem Konfliktgebiet im Norden stammt, zusammen. Im Dezember 2004
konnte er als internationaler Beobachter (und einziger Deutscher!) die Friedensverhandlungen zwischen der Lord’s Resistance Army (LRA) und der
ugandischen Armee verfolgen. „Die Kindersoldaten waren ein großes Thema, doch die Kämpfer, die die LRA jetzt noch hat, sind größtenteils Freiwillige“, erklärt er mir. „Für die Kinder stellt sich jetzt vielmehr die Frage, wie
sie nach ihren Erfahrungen im Busch, wieder ins normale Leben integriert
werden können. Das ist ein großes Problem.“
3.2 „These damned Acholi-People“ – erste Begegnungen
Es dauert nicht lange, bis ich selbst erleben kann, wie sehr die Menschen
in Uganda ihre Mitmenschen nach deren Stammeszugehörigkeit beurteilen
und wie verachtend über die Acholis in der Hauptstadt gedacht wird. In
den ersten Tagen bin ich vor allem damit beschäftigt, mich an den „African
Way of Life“ zu gewöhnen. Dazu gehört es auch Boda-Boda (Motorrad)
und Matatus fahren zu lernen. Letztere sind Minibusse, die für maximal 14
Personen zugelassen sind und festgelegte Routen fahren. Mit einem kurzen
Handzeichen kann man jederzeit zu- oder aussteigen. Eines Abends fahre
ich vom Speke Resort, einer schön angelegten Hotelanlage am Victoriasee,
in die Innenstadt zurück. Als das Matatu anhält, sitzen schon einige Fahrgäste drin. Ich setze mich dazu und es dauerte nicht lange bis der Wagen voll
ist. Doch statt loszufahren, fangen die Menschen an, heftig zu diskutieren.
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Uganda
Dann sollen wir plötzlich alle aussteigen. Da ich nichts verstehe, frage ich
meine Sitznachbarin, was hier vor sich geht. „Diese Leute wollen das Fahrgeld nicht bezahlen, deshalb sollen wir alle aussteigen“, erklärt sie mir und
fügt auf Englisch hinzu: „These damned Acholi people“. Ich weiß bis heute
nicht, ob die Passagiere, derentwegen wir aussteigen sollten, tatsächlich Angehörige der Acholis sind. Doch das Erlebnis spricht für sich.
4. Gulu – Annäherungen an eine seltsame Stadt
Fünfeinhalb Stunden dauert die Fahrt mit dem Postbus von Kampala nach
Gulu. Mit schätzungsweise 100.000 Einwohnern ist Gulu die größte Stadt in
Norduganda und manche behaupten sogar sie sei inzwischen – nach Kampala – die zweitgrößte im Land. Mit durchschnittlich 100 Stundenkilometer
brettert Busfahrer Paul die Strecke jeden Tag hin und her. Inzwischen kennt
er jeden Baum, jedes Dorf entlang des Weges. Unterwegs hält der Bus mehrere Male, um Postsäcke ein- und auszuladen. Je weiter wir in den Norden
fahren, desto mehr runde Lehmhütten sehen wir. Und auch die Landschaft
verändert sich. Die Böden werden karger, das saftige Grün verschwindet,
stattdessen gibt es am Wegrand Baumwollbüsche zu sehen.
Unter den rund 30 Fahrgästen im Bus sind vier Weiße. Susanne und Gisela, zwei Deutsche, die in Kampala leben und immer wieder nach Gulu kommen, um hier ein Projekt mit Kindersoldaten zu betreuen. Und außerdem ein
Mann, dem ich am nächsten Tag auf dem Mofa wieder begegnen werde und
über den ich von meinem Fahrer erfahren werde, dass er bei USAID arbeitet. Man kennt sich in Gulu.
Kurz vor Gulu tauchen die ersten Camps auf. Zugegeben, ich habe sie mir
anders vorgestellt. Zu sehen sind einige Lehmhütten, in der Mitte eine Hütte für die Soldaten der ugandischen Armee, die so genannte „Internal Defence Forces“, kurz IDF genannt. Auf dem Weg ins Stadtzentrum säumen
Händler die Straßen, in der Stadtmitte herrscht geschäftiges Treiben. Auffällig sind die vielen Geländewagen, die von Mitarbeitern diverser Hilfsorganisationen gefahren werden, größtenteils mit diplomatischen Kennzeichen.
Über 200 nationale und internationale Hilfsorganisationen sind in Gulu stationiert, wie mir der stellvertretende Militärchef später sagt. Krieg ist eben
auch ein Geschäft. Als Neuankömmling bekommt man das in Gulu spätestens bei der Quartiersuche zu spüren. „Es gibt zwei Hotels, in die du gehen kannst, das „Acholi Inn“ und „Pearl of Africa“, “ haben in Deutschland
als auch in Kampala alle erzählt, die schon mal hier gewesen sind. Ersteres
habe ein Schwimmbad und einen schönen Garten. Dafür sei der Besitzer ein
Militäroffizier und das Hotel zugleich Treffpunkt von weißen Mitarbeitern
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Uganda
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diverser Nichtregierungsorganisationen, internationalen Diplomaten, Angehörigen der ugandischen Armee und auch ranghohe Offiziere der LRA gingen hier ein und aus, wenn sie in Gulu sind. „Wo du hingehst, ist auch eine
Gewissensfrage“, hatte mir eine Entwicklungshelferin erzählt. Nun in Gulu
angekommen, muss ich feststellen, es ist auch eine Geldfrage. Bis zu 60.000
Schilling (28 Euro) kostet inzwischen eine Nacht im Acholi Inn. Vor zwei
Jahren, so sagt man mir, seien es noch 40.000 gewesen. Die gute Nachricht:
inzwischen gibt es mehrere Guesthouses, die die Marktlücke für sich entdeckt haben. Ich mache mich mit Gisela und Susanne, den beiden deutschen
Frauen aus dem Bus auf Quartiersuche. Sie wollten Bruder Michael, einen
Deutschen, der dem katholischen Orden der Comboni-Missionare angehört,
treffen. Er lebt seit vielen Jahren in Gulu und kann uns schließlich ein neues,
gerade eröffnetes Guesthouse für 25.000 Schilling empfehlen.
Gulu gilt als sicherer Ort, deshalb haben sich auch alle Hilfsorganisationen hier angesiedelt. Doch häufig kommen Journalisten und Regierungsvertreter, die sich über den Konflikt informieren wollen, nur nach Gulu.
Wenn du wirklich etwas vom Konflikt mitbekommen willst, musst du rausfahren, bekomme ich häufiger zu hören. „Es reicht schon, wenn du zehn
Kilometer aus der Stadt rausfährst, dort findest du ganz andere Lebensbedingungen vor“, sagt Father Carlos und in seiner Stimme schwingt Wut mit.
Der katholische Mönch aus Spanien lebt im selben Orden wie Bruder Michael. Carlos Rodriguez lebt seit 1991 in Norduganda und arbeitet bei der
katholischen „Justice and Peace Commission“ mit. In dieser Funktion hat er
auch an mehreren Friedensgesprächen teilgenommen. Als er zu Beginn der
80er Jahre zum ersten Mal nach Gulu kam, sah es hier noch anders aus, erinnert sich der Spanier. Damals seien die Menschen arm gewesen, aber es
sei eine Armut in Würde gewesen. Heute leben 85 Prozent der Menschen
in Norduganda in Flüchtlingslagern, inzwischen fast 1,7 Millionen Menschen. Doch davon ist in Gulu nicht viel zu sehen: „Wenn du nach Gulu
kommst, findest du eine andere Lebenswirklichkeit vor, und ich denke, die
Regierung bemüht sich sehr, in Gulu und in der umliegenden Gegend Normalität und Sicherheit walten zu lassen. In einer Situation wie der jetzigen
kommen viele, um sich einen Eindruck zu verschaffen. Und dann fahren sie
wieder von hier weg und sagen: „Ach, so schlimm ist das alles gar nicht.“
Es stimmt, in Gulu ist das Leben ganz normal, aber im Rest des Acholilands
sieht die Situation komplett anders aus. Schätzungsweise 95 Prozent der Bevölkerung leben in Camps und die Lebensbedingungen dort sind absolut
grauenvoll. Den Menschen mangelt es an allem, sie dürfen die Camps nicht
verlassen, es gibt jede Menge sexuellen Missbrauch, keine Moral, keine kulturellen Werte, nach denen die Menschen leben. Im vergangenen Jahr starben mindestens 1.000 Menschen wegen Krankheiten in den Camps.“
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5. Understanding Acholi Culture
Norduganda ist so groß wie Belgien. Fast zwei Millionen Menschen leben hier, die meisten sind Acholis. Das Gebiet ist in drei Distrikte aufgeteilt:
Gulu, Kitgum und Pader. Im Osten grenzt das Acholigebiet an das der Karimonongas, die vor allem als Krieger und Viehzüchter bekannt sind. Im Süden wohnen die Langis und in westlicher Richtung, im so genannten Westnil,
die Lubquaras. Vor 20 Jahren begann der Bürgerkrieg, doch seit 17 Jahren ist
er brutal geworden, meint Paul Achama. Paul arbeitet als Sozialarbeiter bei
der Caritas in Gulu. Schon längst hätte er auch in anderen Landesteilen Arbeit finden können, doch er möchte seinem Volk helfen. „Die Acholis sind
fürsorgliche, liebevolle Menschen mit einem großen Herz“, meint Paul und
wenn man ihm in die Augen schaut, ist zu erkennen, was er meint. Aber die
Acholis lieben es auch zu dominieren und das macht es für andere vielleicht
schwierig, fährt Paul fort. „Das Verrückte an dem Bürgerkrieg ist, dass hier
Acholis gegen Acholis kämpfen.“ „Wir Acholis können vergeben, aber niemals vergessen“, fährt Paul fort und weist auf die für die Acholi-Kultur typischen Versöhnungszeremonien „Matufut“ hin. Dabei geht es vor allem darum, dass wenn ein Mitglied eines Stammes, das eines anderen angegriffen
oder getötet hat, die beiden verfeindeten Gruppen sich zusammensetzen,
versuchen einen Kompromiss zu finden und schließlich eine Kompensation aushandeln. Je nach Art und Schwere der Auseinandersetzung, ob es sich
dabei beispielsweise um befreundete oder verfeindete Clanmitglieder handelt, gibt es unterschiedliche Rituale. Je nach Begebenheit kann die Kompensation durch ein Schaf oder eine Ziege, aber auch in Form von jungen
Mädchen bezahlt werden. Letzteres war vor allem früher üblich. Durch ihre
Verheiratung hat man erreicht, dass die verfeindeten Familien sich verbanden. Ziel dieser Versöhnungsrituale ist es, das durch die Tat zerrissene Beziehungsband wieder zusammenzufügen. In der Lösung des Bürgerkriegs in
Norduganda setzen vor allem einheimische Nichtregierungsorganisationen
wie beispielsweise die „Acholi Religious Leaders Peace Initiative“ (ARLPI)
oder auch die „Concerned Parents Association“ (CPA) stark auf die traditionelle Form der Aussöhnung. Wir möchten gern diesen Weg der Versöhnung
gehen, weil wir glauben, dass der traditionelle Weg einen größeren Einfluss
auf die Rebellen hat, so ein Sprecher der ARLPI. Nicht zuletzt basiert auch
das Amnestiegesetz (siehe unten) auf diesem Grundgedanken.
Allerdings muss man bedenken, dass es in früheren Kriegen meist nur
einzelne Tote gegeben hat, meint Thomas Haarlacher. Der deutsche Psychotherapeut hat im Auftrag der Caritas die traditionellen Versöhnungszeremonien untersucht. In den vergangenen Jahren habe es immer wieder Versöhnungszeremonien im größeren Stil gegeben. Sie wurden vor allem dann
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Uganda
Iris Völlnagel
abgehalten, wenn entführte Kinder wieder in ihre Dorfgemeinschaften aufgenommen werden sollten. Die traditionellen Versöhnungsriten enthalten
dabei durchaus Elemente, die man auch in der westlichen Psychotherapie
kennt wie emotionale Unterstützung, Stabilisierung, sowie emotionale und
kognitive Verarbeitung des Vergangenen, meint Thomas Haarlacher. Heutzutage scheitert die Durchführung der traditionellen Versöhnungszeremonien nicht nur daran, dass viele Menschen inzwischen in so armen Verhältnissen leben, dass sie sich die dafür benötigten Mittel, wie ein Schaf oder
eine Ziege, gar nicht leisten können. Hinzu kommen 20 Jahre Bürgerkrieg.
Inzwischen gibt es fast keine Familie, die nicht vom Krieg betroffen ist. Mit
zunehmender Dauer des Krieges wachsen immer weniger Kinder in den traditionellen Strukturen auf. Viele können deshalb mit deren inhaltlicher Bedeutung nicht mehr viel anfangen.
5.1 Geschichtsstunde bei Mr. Uma
Mr. Uma will mich in meinem Hotel treffen. Als ich komme, wartet er
schon. Er ist hochgewachsen, um die 60 Jahre alt. Seine Brille sitzt leicht
schief, trotzdem verleiht sie ihm einen intellektuellen Touch. Mr. Uma stellt
sich als Journalist und Herausgeber vor. In den letzten Jahren hat er intensiv
an der Veröffentlichung eines Buches über die Geschichte der Acholis gearbeitet. Der Konflikt reicht schon in die Kolonialzeit zurück und dann fängt
er an zu erzählen, zu erzählen, zu erzählen. Merke: Wenn Afrikaner dir etwas sagen wollen, dann erzählen sie eine Geschichte!
Die Geschichte der Acholis, so beginnt Paul Vincent Uma, lässt sich bis
ins 15. Jahrhundert zurückverfolgen. Damals wurden sie von einer Gruppe Luo regiert. Vom Irak wanderten die Acholis über Ägypten weiter bis in
das Gebiet des heutigen Sudans. Sie bestanden aus zwei Gruppen. Eine ging
durch Äthiopien, eine andere wanderte nach Khartum im Sudan und von
dort aus trafen sie auf eine andere Gruppe, die sich die Schiduo nannten. Zusammen zogen sie in den Südsudan, die ganze Zeit am Nil entlang. Deshalb
wurden die Acholis vom Weißen Mann auch die „Nilotiks“, die Menschen
des Nils, genannt. Von Südsudan aus zogen sie nach Norduganda, in das
Gebiet, in dem sie heute noch leben. Ihr Führer Rurulum hatte vier Söhne:
Labo, Kipper, Owing und Kamerach. Eines Tages gab es ein Problem:
Eines Morgens ging Labo jagen und ließ seinen Bruder Kipper zu Hause
zurück. Plötzlich schrie Labos Frau: „Schau, da ist ein Elefant, der unser Getreide frisst.“ Kipper lief zu ihr, nahm Labos Speer und kämpfte gegen den
Elefanten. Dieser rannte zurück in den Busch. Als Labo zurückkam, sagte
er zu seinem Bruder: „Du hast meinen Speer genommen und gegen den Ele349
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Uganda
fanten gekämpft. Ich möchte meinen Speer zurück!“ Daraufhin Kipper: „Tut
mir leid, Bruder. Aber der Elefant lief mit dem Speer in seinem Rücken weg.
Ich kann dir deinen Speer nicht zurückgeben, aber du kannst meinen dafür
haben!“ Doch Labo bestand darauf, seinen eigenen Speer wiederzubekommen. Schließlich ging Kipper zu seinem Vater und sagte: „Mein Bruder besteht so sehr darauf, seinen Speer wieder zu bekommen. Ich wollte ihm eine
Kuh und einen Bullen als Ersatz geben, aber er weigerte sich. Also werde
ich losziehen und nach dem Vieh schauen.“ So ging Kipper in den Busch.
Es dauerte Wochen. Seine beiden Hunde begleiteten ihn. Monatelang lief er
überall herum, aber nirgends konnte er auch nur irgendeine Spur vom Elefanten entdecken. Durch das Laufen wurde er sehr hungrig. Plötzlich hörte
er eine Stimme. „Mann, was suchst du in unserem Wald?“ Als er sich umdrehte sah er eine alte Elefantenmutter, die ihn anschaute. „Ich suche meinen Speer“, antwortete Kipper. „Ich habe einen Elefanten aufgespießt und
er ist in diese Richtung mit dem Speer davongelaufen.“ „Was hat der Elefant dir angetan?“, fragte die Elefantendame. „Er hat unsere Ernte vernichtet“, antwortete Kipper. „Das ist nicht schön“, reagierte die Elefantenmutter,
„aber komm doch und schau unsere Speersammlung an und schau, ob dein
Speer dabei ist.“ Dort fand Kipper den Speer. „Hast du irgendwelche Wegnahrung, die du mitnehmen kannst?“ fragte die Elefantenmutter. „Nein“,
antwortete Kipper. „Ich kann dir weiße Bohnen mitgeben und einen Speer
mit zwölf Zacken. Das ist das Zeichen für die Königherrschaft von euch
Luos.“ So ging Kipper nach Hause.
Dort hatte schon fast niemand mehr mit seiner Rückkehr gerechnet. Eines
Mittags kam eine ältere Dame zu seiner Mutter und sagte: „Ich höre das Blasen eines Horns. Ich glaube, Kipper kommt heute nach Hause zurück.“ Darauf die Mutter entrüstet: „Mach mir keine Hoffnungen, mein Sohn ist schon
lange tot.“ Doch kaum war die Dame verschwunden, hörte man in der Ferne
das Blasen eines Horns. Daraufhin ging die alte Dame noch einmal zu Kippers Mutter: „Kannst du das Geräusch hören?“ Es dauerte nicht lange, bis
Kipper auf dem Hof auftauchte, den Speer in der Hand. Er gab ihn seinem
Vater und sagte: „Vater, dieser Speer ist für unsere Königsherrschaft, für die
Herrschaft der Acholis. Ich habe viel gelitten, um ihn wiederzuerlangen.
Bitte behalte du ihn.“
Am nächsten Morgen schaute er nach seinen Feldern. Dabei sah er, dass
Labos Tochter von seinen Bohnen pflückte und diese aß. Kipper missfiel es
und er bestand darauf, seine Bohnen zurückzubekommen. „Dein Vater hat
mich so sehr bedrängt, jetzt möchte ich meine Bohnen zurück“, sagte Kipper zu Labos Tochter. Labo schlug vor, ihm stattdessen eine Kuh zu geben,
doch Kipper bestand auf den Bohnen. Deshalb schlug Labo vor, drei Tage
abzuwarten, um zu sehen, ob die Bohnen nicht wieder zum Vorschein kä350
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men. Sonst wollte er seine Tochter töten und die Bohnen aus ihrem Magen
holen. Nach drei Tagen fing Labo an, ein Grab auszuhöhlen. Das kleine
Mädchen kam und fragte: „Papa, was machst du da?“ „Ich werde dich hier
begraben, weil du Kippers Bohnen geschluckt hast“, antwortete der Vater.
Daraufhin nahm er ein Messer und steckte es ihr in den Bauch. Als er es herauszog, war die Bohne an der Klinge aufgegabelt. Er gab sie seinem Bruder
zurück. Zugleich sagte er zu ihm: „Wegen dieser kleinen Bohnen habe ich
meine Tochter getötet, du bist nicht mehr mein Bruder.“ Am nächsten Tag
verließ Kipper mit einigen Gefolgsleuten das Lager und ging zu einem Platz
namens Kapatsch. Als er am Nil ankam, bat er den Nil, dass er sich teilen
möge, so dass er hindurchgehen könne. Der Fluss öffnete sich und Kipper
zog mit seinen Leuten und seinen Tieren hindurch. In der Mitte des Flussbettes hieb er eine Axt in den Grund als Zeichen für die Trennung von seinem Bruder Labo. Auf der Westseite des Nils angekommen, gründete er einen neuen Stamm mit Namen Aluo. Einige aus diesem Stamm gingen nach
Zaire und Namibia. Einer der Nachfahren wurde Präsident von Namibia.
Labo blieb auf der anderen Seite zurück. Als der Vater älter wurde, wollte er
seinem Sohn die Regentschaft übergeben. Doch einige Menschen weigerten
sich, ihn als ihren Führer zu akzeptieren: „Labo soll unser Führer werden?
Er hat doch die Trennung von Kipper verursacht“, sagten sie. Die Menschen
wollten, dass Karachi die Herrschaft übernimmt. Doch der Vater bestand darauf, dass Labo sein Nachfolger wird. So zog auch Karachi mit seinen Leuten weg über den Nil. Im Gebiet der heutigen Karumi-Fälle gründete er ein
neues Königreich, Buno-Kitara. Eine weitere Gruppe zog weg und siedelte sich im Gebiet des heutigen Kenia an, wo sie die „Jalui aus Kenia“ (Kalenjin) genannt wurden. Der Rest blieb als Viehzüchter und Krieger zurück.
Seitdem trennt der Nil die Stämme.
Das Tragische an dem derzeitigen Konflikt sei, fährt Mr. Uma fort, dass
sich die Geschichte wiederhole. Wieder müssten Menschen leiden, weil die
Waffen das Leben bestimmen. Schon mehrfach gab es in der Geschichte der
Acholis Kriege: Als die Briten ins Land kamen, forderten sie die Menschen
auf, ihre Waffen abzugeben. Doch die Acholis weigerten sich. Es gab einen
ersten Krieg von 1893 bis 1912, der damit endete, dass der Führer der Acholis gefangen genommen und ins Gefängnis geworfen wurde. Anschließend
sorgten die britischen Kolonialherren 60 Jahre lang für Ruhe und Ordnung.
In dieser Zeit rekrutierten sie viele Acholis in die Armee. 1962 wurde Uganda unabhängig, doch die Unabhängigkeit konnten die Menschen nur kurze
Jahre genießen. Zunächst übernahm Milton Obote, der neue Premierminister, die ugandische Armee und ließ die Acholis in ihren Positionen. Als Idi
Amin 1971 die Macht übernahm, tötete er die meisten der Acholi Offiziere,
weil sie Obotes politische Partei, die United People Coalition (UPC), un351
Iris Völlnagel
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terstützten. Einige flohen mit Obote nach Tansania, wo sie mit dem jungen
Yoweri Museveni zusammen waren. 1979 kamen sie zurück und besiegten
Amin. Nach dem Sturz kam es zu Machtkämpfen zwischen dem Westen und
dem Norden. Der Norden siegte und Obote kam von 1980 bis 1985 wieder
an die Macht. Im Juli 1985 marschierten Acholi-dominierte Militäreinheiten
in Kampala ein und vertrieben Obote. Seine Regierung wurde durch einen
Militärrat unter der Führung des Acholi-Generals Tito Okello ersetzt. Zu
dem Zeitpunkt war Museveni schon im Busch. Seine Armee, die „National
Resistance Army“ (NRA) lehnte eine Regierungsbeteiligung unter Okello
ab. Ende 1985 hatte die NRA weite Teile Ugandas unter Kontrolle. Zu Beginn des Jahres 1986 kam es im Luwero-Dreieck, eine Fahrtstunde nördlich
von Kampala gelegen, zu einer entscheidenden Schlacht zwischen den Anhängern Okellos und denen von Museveni. Die NRA gewann. Unzählige
Tote, darunter viele Acholis, blieben auf dem Schlachtfeld zurück. Nun hatte Museveni das gesamte Staatsgebiet unter Kontrolle, lediglich der Norden
und Nordwesten blieben noch Kampfgebiet. Der Militärrat wurde durch den
„National Resistance Council“ (NRC) ersetzt. Dieser wurde zunächst von
Offizieren der NRA und Mitgliedern ihres politischen Flügels, der „National Resistance Movement (NRM)“, besetzt. „Diejenigen, die 1985/86 an die
Macht kamen, waren die ehemaligen Viehhirten der Acholis und sind dann
mit den Viehherden verschwunden“, hatte mir Wolfgang Hilberer bereits
erklärt. „Doch wenn sie einem Acholi, einem viehzüchtenden Stamm, das
Vieh wegnehmen, dann zerstören sie seine Lebensgrundlage. Deshalb haben die Acholis 1985/86 ihre Jungs in den Busch geschickt, mit einem klaren Auftrag: „Bring back our cattles!“ (Bringt unsere Rinder zurück!). Der
Ursprung des Bürgerkriegs in Norduganda wurde bei der Niederlage gegen
Museveni im Luwero-Dreieck gelegt“, glaubt der Afrikakenner.
Mr. Uma verabschiedet sich von mir, nicht ohne mich zu fragen, ob ich
nicht jemand kenne, der ihm helfen könnte, sein Buch zu veröffentlichen.
Denn wer soll über die Geschichte der Acholis etwas erfahren, wenn er keine Mittel findet sein Buch zu drucken?
5.2 Jolie – die „erste“ Kindersoldatin
Jolie Okot ist eine lebenslustige, temperamentvolle, vielbeschäftigte Frau
Mitte 40. Es ist nicht einfach, mit ihr einen Termin zu finden. Ihr Mann und
ihre Kinder leben in Kampala. Vor einigen Jahren kam sie nach Gulu zurück, um hier ihre Organisation aufzubauen. Mit Hilfe von amerikanischen
Spendengeldern vergibt sie Schulstipendien an junge Acholis. Das sei ihr
Beitrag, die Situation zu ändern. Auch Jolie erzählt gern über die Geschichte
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der Acholis. Ihre fängt mit ihrer Kindheit in den 80er an. Als Schulmädchen
liebte sie es, über die Felder zu laufen und draußen herumzurennen. Damals
war Museveni gerade an die Macht gekommen. Eines Tages wurde sie auf
der Straße von einigen Rebellen angehalten, die sich um eine Frau gruppiert
hatten. Die Frau stellte sich als Alice Lakwena vor und dass sie vom Heiligen Geist gesandt sei, um gegen Museveni zu kämpfen. In der Hand hielt sie
eine Bibel. Aus dem Rebellentrupp entwickelte sich die „Holy Spirit Movement Forces“ unter Führung von Alice Lakwena. Auch Jolie schloss sich
dieser Kampftruppe an. Ihrem Vater gefiel das überhaupt nicht, erinnerte sie
sich. Zwar beeindruckte Alice Lakwena durch ihre übernatürlichen Kräfte.
Ihrem Vater, einem durchaus religiösen Mensch, gefiel jedoch nicht, dass
Lawena Schiabataöl verwendete. Ein Öl, das traditionellerweise bei Beerdigungen verwendet wurde. 1986 gehörten Lakwenas Gruppe fast 18.000
Soldaten an. Die Kämpfer waren vor allem motiviert durch das große Misstrauen der Acholis gegenüber Präsident Museveni und seiner „Nationalen
Widerstandbewegung“ (NRM). Im Oktober 1987 führte Lakwena ihre
Kämpfer Richtung Süden, wo sie in Jinja, rund 80 Meilen östlich von Kampala, geschlagen wurden. Lakwena floh nach Kenia, wo sie heute noch in
einem Flüchtlingslager lebt. Kurz nach der Zerschlagung der „Holy Spirit
Movement“ gründete Joseph Kony, angeblich ein Neffe von Alice Lakwena,
eine neue Kampftruppe und nannte sie „Lord’s Resistance Army“ (LRA).
5.3 Der Kampf gegen eine andere Macht
– Joseph Kony und das Mysterium der LRA
Jolie kennt Joseph Kony noch als Schuljungen. Schon früh entwickelte
er spirituelle Kräfte. Die Leute gingen zu ihm wie zu einem „Witchdoctor“,
einem Medizinmann. Eines Tages kam er und erzählte allen, Gott habe ihm
gesagt, dass er gegen Museveni kämpfen sollte, erzählt Jolie. Am Anfang
wollte ihm keiner glauben. Doch nach Alice Lakwenas Niederlage sammelte
Kony neue Soldaten um sich. Da er nicht genügend Freiwillige fand, fingen
seine Männer an, Kinder zu entführen. Das war 1988. Von nun an galt, dass
wer nicht für die Sache war, der war dagegen und wurde umgebracht, erzählt
Jolie. 1990 verschwand Kony für einige Monate von der Bildfläche. Als er
wieder auftauchte, kam es zu heftigen Kämpfen. 1994 fingen er und seine
Männer an, jegliche Lebewesen, die ihnen in den Weg kamen, zu entführen
oder umzubringen. „Das war fürchterlich. Jeder, der konnte, versuchte Norduganda zu verlassen“, erinnert sich Jolie.
Von den eigentlichen Zielen der „Lord’s Resistance Army“, auf deutsch
„Widerstandsarmee des Herrn“, ist nur wenig bekannt. Sie wollen gegen
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Präsident Museveni kämpfen und einen Staat nach den Zehn Geboten aufbauen. Gebote, an die sie sich selber nicht halten. In den vergangenen Jahren
haben verschiedene Friedensaktivisten Gespräche mit der Rebellenorganisation gesucht. Allen voran, Betty Bigombe, ehemalige Ministerin für Norduganda im Kabinett von Präsident Museveni und Mitarbeiterin der Weltbank. „Das Problem mit der Lord’s Resistance Army ist, dass sie keinen
politischen Flügel hat, sondern lediglich eine spirituelle Bewegung ist“, so
ein Vertreter der „Acholi Religious Leaders Peace Initiative“ (ARLPI), eine
1998 gegründete Friedensinitiative aller religiöser Gruppen in Norduganda.
„Sie haben keine klare Agenda, sondern wechseln ihre Methoden und Ansichten, wie sie es brauchen.“
Noch mysteriöser als die Lord’s Resistance Army ist ihr Chef, Joseph
Kony. Auf Bildern erscheint er meist mit langen Haaren und Brille. Ehemalige Kindersoldaten, die viel in seiner Nähe waren wie etwa Evelyn
oder Charly (siehe unten) sprechen auch nach ihrer Zeit im Busch noch begeistert von seiner liebevollen, väterlichen Art. Kaum nachvollziehbar angesichts der Grausamkeiten, die seine Rebellenarmee an den Kindern und
Einheimischen verübt.
Während Alice Lakwena noch die Unterstützung und den Segen der
Stammesältesten hatte, habe Kony die Kampftruppe von Lakwena ohne Zustimmung und Segen der Stammesältesten übernommen, meint Wolfgang
Hilberer. „In afrikanischen Gesellschaften kann so etwas nicht gemacht werden!“, so der Leiter der Konrad-Adenauer-Stiftung. Vor vier Jahren moderierte Wolfgang Hilberer das erste Treffen zwischen der ugandischen Armee und den Stammesältesten. Als Folge dessen haben sich die Ältesten von
den Aktivitäten der Lord’s Resistance Army in der Öffentlichkeit distanziert.
„Seitdem operieren Kony und seine Leute völlig illegal im Rechtssystem der
Republik Uganda und auch illegal im Kontext von Kultur und Tradition“, erklärt der Afrikakenner.
Sowohl Wolfgang Hilberer als auch Father Carlos haben an Friedensgesprächen teilgenommen. Kony persönlich war nicht dabei. 2003 konnte
Father Carlos eine Stunde lang mit ihm telefonieren: „Dieser Mann kann
andere sehr gut manipulieren. In einem Augenblick schafft er eine Atmosphäre, die einen erschrecken lässt, wo man ihm vollkommen ausgeliefert ist. Wir waren da, tief im Busch, umgeben von 30 bewaffneten Männern. Du bist vollkommen in ihrer Hand. Kony begann mit hoher Stimme zu
sprechen, sprach Drohungen aus und fragte, ob wir Agenten der Regierung
seien. 15 Minuten später, als wir schon total eingeschüchtert waren, fing er
plötzlich an zu lachen, machte Witze und sagte, du bist mein bester Freund.
Ich wünschte, ich wäre hier, um dich zu umarmen. Ich würde gern mit dir
einen Kaffee trinken. Und wenn du nicht weißt, was du sagen sollst, fängt er
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Uganda
Iris Völlnagel
einfach zu lachen an. Ich denke, er ist wirklich eine böse Person, die genau
weiß, wie man andere manipuliert. In der Situation wurde mir bewusst: ich
bin ein erwachsener Mann, habe studiert und eigene Lebensüberzeugungen
entwickelt und trotzdem musste ich feststellen, ich bin total in seiner Hand.
Wie muss es da einem zehn Jahre alten Kind gehen, das entführt wurde?
Kein Wunder, dass sie ihm gegenüber absolut loyal sind und alles machen,
was er will. Das kennt man auch von anderen Kultgruppen. Das blinde Vertrauen in einen Messias.“
6. Besuch im Reception- und Rehabilitationcenter – Eingang in eine
andere Welt
Es ist ein komisches Gefühl für mich, als sich das gusseiserne Tor zu
einem der zahlreichen Reception- und Rehabilitationcenter, die in den letzten Jahren in Gulu und Norduganda entstanden sind, zum ersten Mal öffnet.
Dahinter befindet sich ein großes Gelände. Unter einem Baum sitzt eine
Gruppe Kinder, sie werden gerade unterrichtet. In einem Teil des Geländes stehen Zelte von UNICEF. In einer anderen Ecke spielen kleine Kinder.
Die meisten von ihnen sind Kinder, deren Mütter als Kindersoldatinnen an
die Rebellenchefs verheiratet wurden. Von diesen Auffanglagern für ehemalige Kindersoldaten gibt es inzwischen mehrere in Norduganda. Nach
der Zeit im Busch werden die Kinder hier medizinisch und psychologisch
betreut und auf das Leben danach vorbereitet. 1994 gründete die lokale Initiative GUSCO das erste Zentrum. Von den internationalen Organisationen
baute World Vision eines der ersten Zentren. „Davor brachte die Armee die
Kinder auf den Markt, wo ihre Eltern sie abholen konnten. Das war für alle
Beteiligten schrecklich“, erinnert sich Francis Shanty Odorach, Pressesprecher von GUSCO. Heute kommen kaum noch Kinder aus dem Busch zurück. In der vergangenen Woche waren es vier, erzählt Christine Lango, Leiterin von GUSCO. Vor vier, fünf Jahren als die ugandische Armee anfing,
mehr Druck auf die Rebellen auszuüben waren es noch mehr. Doch inzwischen haben auch die Rebellen ihre Strategie geändert. Sie bewegen sich in
kleineren Gruppen, kommt es zu einem Zusammenstoß mit der ugandischen
Armee, gibt es nicht mehr so viele Gefangene. Viele Rehabilitationszentren
müssen sich daher überlegen, neue Schwerpunkte in ihrer Arbeit zu setzen,
beispielsweise die Nachbetreuung der Kinder vor Ort, die das Center bereits
wieder verlassen haben. Doch gab es Zeiten, da kamen täglich Armeelastwagen ins Lager, um neue Kinder zu bringen.
Wenn die Kinder ankommen, werden sie zuerst gewaschen, neu eingekleidet und medizinisch versorgt. Nancy ist ein Typ Krankenschwester, von der
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Uganda
ich mich gern behandeln lassen würde. Ihre Körperfülle strahlt eine Wärme und Herzlichkeit aus und was sie sagt, klingt wohlüberlegt und erfahren.
Seit drei Jahren macht sie diesen Job. Die Kinder, die seitdem hier angekommen sind, kennt sie alle, viele noch mit Namen. Wem sie nicht helfen kann,
den überweist sie ins Krankenhaus. An der Wand hängen Bilder von einigen
Kindern, die Nancy behandelt hat. Von den meisten hat sie zwei Bilder hängen – eines kurz nach der Ankunft im Center und ein anderes, Monate später. Manche sind nicht wieder zu erkennen. Manche Kinder kommen total
verstümmelt, mit abgeschnittenen Ohren, Lippen oder Nasen. Immer wieder, so erzählt sie, kommen Chirurgen aus der ganzen Welt, um diesen Kindern zu helfen.
In einem anderen Zelt treffe ich eine Gruppe Mädchen. Jede von ihnen
sitzt an einer Nähmaschine. Auf dem Rücken tragen die meisten ein kleines
Kind. Kinder, die sie im Busch geboren haben. Für die Mädchen ist es besonders schwer, später eine Zukunft zu haben, denn mit Kind ist es nicht einfach einen neuen Mann zu finden. Zu den Vätern ihrer Kinder wollen viele
nicht. In der ugandischen Gesellschaft werden Kinder als Teil der Familie
des Mannes angesehen. Nicht selten, so erklärt mir die Lagerleiterin passiert
es, dass die Rebellenkommandeure versuchen ihre Kinder wiederzubekommen, selbst wenn die Frauen nichts mehr mit ihnen zu tun haben wollen.
Für die ehemaligen Kindersoldatinnen mit Kind ist das Leben nicht einfach. In der Gesellschaft werden sie nicht selten auch als „leicht zu haben“
eingestuft. Hier im Rehabilitationscenter haben sie die Möglichkeit, ein
Handwerk zu erlernen, das es ihnen später erleichtert, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Drei bis sechs Monate bleiben die Kinder normalerweise
in den Zentren. Dann werden sie zu ihren Eltern oder Verwandten zurückgebracht. Nicht selten kommt es vor, dass die Eltern nicht mehr leben oder die
Kindersoldaten nicht aufnehmen wollen.
6.1 Ann – eine kritische Stellungnahme
Als Mitte der 90er Jahre in Norduganda die ersten Receptioncenter öffneten, war man froh, überhaupt eine Möglichkeit gefunden zu haben, den
Kindern zu helfen. Inzwischen ist die internationale Aufmerksamkeit für
das Schicksal der Kindersoldaten groß. Nicht nur Hilfsorganisationen, sondern auch Wissenschaftler beschäftigen sich mit der Thematik. So auch Ann
Lorscheidter. Nach ihrem Lehramtsstudium in Ostdeutschland ging sie mit
einem Stipendium nach Norduganda, weil sie über die Rehabilitation von
Kindersoldaten ihre Promotion schreiben wollte. Im Sommer 2006 wird sie
damit fertig werden. In den vergangenen vier Jahren hat sie unzählige ehe356
Uganda
Iris Völlnagel
malige Kindersoldaten interviewt und sich die Arbeit der Rehabilitationszentren genau angeschaut. Am meisten hat sie dabei überrascht, dass die
Acholis eine ganz andere Art haben, ihre traumatischen Erfahrungen zu verarbeiten. „Ich war geschockt, wie neutral die Menschen über die Zeit im
Busch gesprochen haben und die meisten Probleme, die geschildert wurden,
waren vor allem materieller Art. Zugleich hatte ich den Eindruck, die Menschen hier sind viel eher bereit, die Dinge hinzunehmen, wie sie sind und es
wird wenig dagegen unternommen. Es gibt aber auch kaum Möglichkeiten,
sich zu wehren, entweder du gehst freiwillig mit oder du stirbst.“
Ihre Ergebnisse, so hofft sie, sollen auch Kindersoldaten in anderen Ländern zugute kommen. In die Rehabilitation der Kindersoldaten wird viel investiert. Ob die Receptioncenter allerdings der geeignete Platz dafür sind,
fragt sie kritisch an. Die Therapie findet am falschen Ort und zum falschen
Zeitpunkt statt: „Meiner Meinung nach ist der Ansatz falsch, die Receptioncenter als Orte der Traumaverarbeitung zu sehen. Denn die Verarbeitung
dessen, was passiert ist, setzt meistens erst sehr viel später ein. Dann, wenn
die Kinder schon wieder Zuhause sind.“ Außerdem herrsche in den Rehabilitationszentren ein Alltag, der mit der Lebenswirklichkeit der meisten Menschen in Norduganda nur wenig zu tun habe. „Hier sind die Kinder noch mit
anderen Kindern zusammen, die das gleiche Schicksal durchlitten haben.
Sie werden gut versorgt. Es gibt drei Mahlzeiten am Tag, es gibt hervorragende medizinische Versorgung, es gibt Kleidung und Schulmaterialien
umsonst. Wenn sie anschließend nach Hause kommen, haben sie nichts dergleichen.“ Stattdessen müssten die Zentren im kleineren Rahmen, beispielsweise als offene Begegnungsstätten auf lokaler Ebene organisiert sein.
Auch an die Art und Weise, wie das Counseling, die Therapie der Kinder, in den Zentren vonstatten ginge, habe sie sich zuerst einmal gewöhnen
müssen: „Die Leute hier können sehr gut erzählen. Trotzdem war mein Eindruck, dass das Counseling hier nicht in dem Sinn stattfindet: „Erzähl mir,
was passiert ist, dann geht es dir besser.“ Das entspricht unserer westlichen
Kultur! Der Acholikultur entspricht viel mehr das: „Vergiss, was passiert
ist!“ In der gegenwärtigen Situation, wo die Leute ums Überleben kämpfen,
macht das auch viel mehr Sinn.“
Bei allem Leid sollte man nicht vergessen, dass die Kinder im Busch auch
Fähigkeiten erlernen, die ihnen später weiterhelfen können, meint Ann Lorscheidter. Die Mädchen, die lange im Busch waren und als Frau eines Kommandanten in der Hierarchie hoch aufgestiegen sind, mussten im Busch
Führungsqualitäten, wie etwa die Organisation des Haushalts oder die Beschaffung von Nahrungsmitteln entwickeln. Das sind zwar Fähigkeiten, die
im Flüchtlingslager nicht unbedingt sofort zum Einsatz kommen, aber trotzdem hilfreich sein können.
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Iris Völlnagel
Uganda
7. Begegnungen mit ehemaligen Kindersoldaten und ihren Angehörigen
Zugegeben, ich hatte schon viel über sie gelesen. Diese Kinder, die gezwungenermaßen ihre Kindheit gegen das Überleben im Busch eintauschen
mussten. Als sie mir dann zum ersten Mal gegenüberstehen, bin ich doch etwas irritiert. Würden sie mir in einer anderen Umgebung und nicht hier im
Receptioncenter begegnen, ich würde es nicht für möglich halten, was diese
Kinder durchgemacht haben.
7.1 Josephine
Josephine treffe ich im Caritas Receptioncenter in Pader. Josephine ist
jetzt 18. Zwei Jahre ist es her, dass sie aus dem Busch zurückkehrte. Regelmäßig trifft sie sich nun mit Gleichaltrigen, um zu tanzen. Vor kurzem tanzte
sie mit ihrer Gruppe beim Friedensgebet für Norduganda, an dem auch Erzbischof Odama teilgenommen hat. Josephine fällt mir sofort auf. Mit einer
Trillerpfeife im Mund feuert sie die anderen an, noch ekstatischer zu tanzen.
Ich bewundere ihre Füße, die sich nur in kleinen Schritten bewegen, doch
so, dass sich ihr ganzer Körper rhythmisch schwingt. Der Tanz der Mädchen
wirkt erotisch.
Als ich sie anschließend treffe, kommt es mir vor, als ob eine andere Person vor mir sitzt. Sie sieht mir kaum in die Augen, ihre Stimme wird leise.
Am Anfang, nachdem sie aus dem Receptioncenter entlassen worden war
und wieder zu ihrer Familie zurückgekehrt sei, ging es ihr gut. Doch in letzter Zeit gab es viele Probleme. Als ehemalige Kindersoldatin bekam auch
sie ein Amnestiepaket. Die Pakete sind eine Maßnahme, um Rebellen den
Schritt aus dem Busch zu erleichtern. Umgerechnet etwa 120 Euro, Kochgeschirr, eine Matratze und etwas Saatgut hat sie bekommen. Seitdem sind
die Menschen in ihrer Umgebung auf sie neidisch. Ihre Brüder, so erzählt
sie leise, haben ihr sofort das Geld abgenommen. Viele Menschen in ihrer
Nachbarschaft können es nicht verstehen, dass die Kindersoldaten unterstützt werden, schließlich haben sie Menschen umgebracht und sich so zu
Mördern gemacht. Josephine hätte gern ihre Schule beendet, doch das ist
nicht möglich. Nun ist sie froh, eine Berufsschule besuchen zu können.
7.2 Konys Ex-Frau Evelyn
Evelyn ist jetzt 23 und hat drei Kinder. Als sie entführt wurde, war sie
zwölf Jahre alt. Zehn Jahre verbrachte sie im Busch, dann gelang ihr die
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Flucht. An den Tag ihrer Entführung kann sie sich noch gut erinnern. Es war
an einem Freitag, dem 4. September 1994. Sie war auf dem Weg von der
Schule nach Hause. Kurz nach ihrer Entführung kam es zu einem Streit zwischen zwei Rebellen. Beide erhoben Anspruch auf sie. Doch weil die beiden
sich nicht einigen konnten, entschieden sie, sie an einen anderen Ort zu bringen, um sie dort zu Tode zu prügeln. Auf dem Weg dorthin, tauchte plötzlich Josef Kony auf, der Anführer der „Lord’s Resistance Army“. Die Männer waren bereits dabei, sie zu verprügeln, als Kony nach dem Grund fragte.
Die Argumente der Männer überzeugten ihn nicht, stattdessen sagte er, das
Mädchen gehöre ab sofort ihm. Noch drei Tage lang hatte Evelyn furchtbare
Angst, dass die beiden Männer doch noch kommen könnten, um sie zu töten. Zunächst wurde sie von einer von Konys Frauen als Babysitter eingesetzt. Drei Jahre gelang es ihr, Kony davon zu überzeugen, sie wie ein Vater
zu behandeln. Doch als sie 15 war bestand der „big man“ – wie sie Kony
nennt – darauf, dass sie seine Frau würde. Sie bekam drei Mädchen, eines
der Mädchen verlor sie bei einer Kampfhandlung. Bis heute weiß sie nicht,
was aus ihrer zweitgeborenen Tochter wurde.
Nachdem sie Mutter geworden war, bekam sie auch innerhalb der Rebellenarmee andere Aufgaben. Früher musste sie den Rebellenführern zuarbeiten und anderen Kindern Anweisungen geben, nun beschränkten sich ihre
Tätigkeiten auf Hausarbeiten. Als Kony sie zur Frau nahm, hatte er bereits
zwölf Frauen. Als sie floh hatte er 27 Frauen, darunter auch vier AbokeMädchen (siehe Kapitel Angelina). Mit Kony lebte sie im Sudan. Manchmal
kam es vor, dass Kony nach Uganda ging, dann war er mehrere Monate weg.
Doch sonst sah sie ihn sehr häufig. „He loved me“, sagt Evelyn. Überhaupt
wagt sie nichts Schlechtes über Kony zu sagen: „Kony is a kind and gentle
person, full of humanity“. Kony sei ein netter und zuvorkommender Mensch,
er habe ein großes Herz, erklärt Evelyn. Immerhin habe er sie vor den Menschen gerettet, die sie töten wollten. Und dass er sie gegen ihren Willen zur
Frau genommen hat? „Ja, aber mit einem Mann unfreiwillig verheiratet zu
werden, ist doch besser als getötet zu werden“, erklärt mir Evelyn.
Ihr zweites Kind verlor Evelyn während einer Kampfhandlung im Sudan.
Bis heute weiß sie nicht, was aus ihm geworden ist, ob es noch lebt oder
nicht. Die Trauer machte sie krank. Schließlich bat sie Kony, nach Uganda
zurückkehren zu dürfen. Zunächst verweigerte er es, doch sie ließ nicht locker und irgendwann erlaubte er es ihr. Kony setzte sich mit seinen Offizieren jenseits der Grenze in Verbindung, um sie zu holen. Zurück in Uganda
ging es ihr wieder besser. Mit den Rebellen hielt sie sich in der Nähe des
Ortes auf, wo sie aufgewachsen war. Ihre Truppe geriet wieder in Kampfhandlungen mit der ugandischen Armee. Damals war Evelyn hochschwanger. Sie betete ständig: „Bitte lieber Gott, wenn ich sterben soll, dann lass
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Uganda
mein Kind nicht alleine zurück. Bitte, lass uns entweder alle sterben oder
gemeinsam überleben.“ Eines Morgens bekam sie Wehen. An dem Tag wurden sie sowohl aus der Luft durch Hubschrauber als auch am Boden durch
Infanterietruppen angegriffen. Jeden Abend trafen sich die Rebellentruppen
an einem vereinbarten Platz, um zu überprüfen, dass keiner geflohen war.
Evelyn merkte, dass ihr Kind bald kommen würde und entschied, nicht zu
dem vereinbarten Treffpunkt zu gehen, sondern unter einem Mangobaum zu
warten. Eine andere von Kony´s Frauen, die mit ihr reiste, wollte auch dort
warten. Gegen 23 Uhr kam ihre Tochter Marci zur Welt. Weit und breit gab
es kein Wasser. Evelyn befürchtete, dass ihre Tochter nicht überleben würde.
Am nächsten Morgen ging sie zum Rest der Truppe und bat den Offizier, sie
zu ihrer Familie gehen zu lassen, damit sie ihr Neugeborenes dort waschen
könne. Doch der Offizier weigerte sich und befahl ihr, stattdessen drei Tage
durchzuhalten. Später wurde ihr klar, dass Kony sie im Sudan zurückhaben
wollte und seinen Truppen schon Befehl gegeben hatte, sie zurückzuführen.
Die Reise hätte drei Tage gedauert. Doch an dem Tag, an dem sie in den Sudan zurück sollte, wurden sie erneut von den Regierungstruppen angegriffen. Das war ihr Glück. Sie konnte fliehen.
7.3 Charly – Vom entführten Kind zum LRA-Kommandeur
Charly war 15 als die Rebellen kamen und ihn mitnahmen. Damals hatte
er Träume und Pläne. Er wollte seine Schule abschließen, Elektriker werden
oder Fotograf, am liebsten mit einem eigenen Studio. Heute ist er 35 Jahre alt, Vater von elf Kindern. 17 Jahre, über die Hälfte seines Lebens, hat er
im Busch verbracht. Wenn ich nicht wüsste, dass Charly einst ein Befehlshaber innerhalb der LRA war, ich würde es nicht glauben. Er hat Charme
und ist ein sehr freundlicher Mensch, der gerne lacht. Im Busch hatte er fünf
Frauen. Seine erste Frau bekam er 1994. Seine älteste Tochter wird bald
zehn Jahre alt. Am liebsten würde er mit ihnen zusammenleben, doch da er
keine Arbeit hat, kann er seine Frauen und die Kinder nicht ernähren. Eine
seiner Frauen kam 1997 frei, damals war sie von ihm schwanger. Nun hat sie
ihn ausfindig gemacht und ihm das gemeinsame Kind vor die Tür gelegt. Sie
möchte nichts mehr mit ihm zu tun haben.
Als die Rebellen kamen und ihn holten, war es Ende November. Er war
eines der ersten Kinder, die Kony entführte. Von Anfang an drohten die Rebellen, sie zu töten, wenn sie flüchteten. Also blieb Charly. Doch auch vor
den Soldaten der ugandischen Armee hatte er Angst. 1992 kam er zum ersten Mal aus dem Busch heraus. Die ugandische Armee verhaftete ihn und
steckte ihn ins Gefängnis. Doch als er nach seiner Haft nach Hause wollte,
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Uganda
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hatte er den Eindruck, dass es in der Gesellschaft keinen Platz für ihn gibt.
Deshalb entschied er sich, wieder in den Busch zurückzugehen.
Innerhalb der LRA machte Charly Karriere. Er stieg auf bis zum „Operation Commander“. 1997 wurde er während einer Kampfhandlung schwer
verwundet. Die Rebellen brachten ihn über die Grenze in ihr Lager nach
Juba im Sudan und von dort aus nach Khartum ins Krankenhaus, wo sein
rechtes Bein amputiert wurde. Drei Monate blieb er in Khartum. Von da
ab wurde es für ihn als Krüppel auch bei den Rebellen schwierig. Denn im
Busch kann nur der überleben, der in der Lage ist, sein eigenes Essen zu beschaffen. Charly meint, sein Glück sei gewesen, dass seine Frauen ihm halfen und ihn unterstützten. Das Leben im Busch ist knallhart, erzählt Charly.
Früher sei er der Stellvertreter eines Kommandanten namens Alexander gewesen. Nach seiner Verwundung war Alexander es, der ihn ins Krankenhaus
brachte. Wieder zurück, gab es ein Missverständnis zwischen Alexander und
den anderen LRA-Kommandeuren, das damit endete, dass Alexander getötet wurde. Er sei froh, meint Charly, dass es ihm nicht genauso ergangen
sei.
Nicht selten passiert es, dass Charly wegen seiner Vergangenheit angesprochen wird. Meist fragen ihn Angehörige, ob er jemanden, den sie vermissen, kennt. Nicht selten muss Charly sich dann Vorwürfe anhören, dass
er als ehemaliger LRA-Kommandeur Mitschuld am Tod eines Angehörigen
habe oder er müsse doch wissen, wo die Kinder geblieben sind. Bei manchen Leuten habe er das Gefühl, dass sie am liebsten Rache üben wollen,
erzählt Charly. Doch müsse man doch auch sehen, dass viele Menschen im
Busch waren, Präsident Museveni zum Beispiel oder auch der Bürgermeister von Gulu.
Ob er sich schuldig fühlt? Ja, meint Charly, mehrmals sei er in Kämpfen
mit den Regierungstruppen beteiligt gewesen. „Kony kam und gab dir einen Befehl. Was ich getan habe, ist, ich bin den Befehlen gefolgt. Wenn der
Kommandeur etwas befiehlt, dann ist es mein Job, dem zu folgen.“
Auch Charly glaubt, dass sich die Geschichte der Acholis wiederholt. Als
die Vorfahren aus dem Sudan auswanderten, hätten sie sich aufgrund von
gegensätzlichen Meinungen entzweit. „Das haben wir heute auch. Missverständnisse gibt es auf beiden Seiten der Acholis.“
7.4 Eine besondere Begegnung – Pamela
„Hallo, ich möchte gern noch mit Ihnen reden“, etwas irritiert schaue ich
mich um. Ein junges Mädchen läuft mir entgegen. Oh nein, hoffentlich nicht
wieder eine, die mich jetzt gleich fragt, ob ich eine Möglichkeit sehe, ihre
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Ausbildung zu finanzieren. Nachdem mich vor einigen Tagen eine Mitarbeiterin einer Hilfsorganisation gefragt hatte, ob ich nicht jemand kenne, der
ihr weiteres Studium finanziert, und mir andere in Uganda lebende Deutsche von ähnlichen Erfahrungen berichtet haben, bin ich vorsichtig geworden. Doch das ist gar nicht Pamelas Absicht. „Ich habe gehört, Sie kommen aus Deutschland“, fährt sie fort. „Ich habe von Leuten aus Belgien ein
Stipendium bekommen, damit ich meine Schule weitermachen kann. Ich
komme jetzt in die ’Senior Four’“, strahlt mich Pamela an. ’Senior Four’ entspricht ungefähr unserem zehnten Schuljahr. „Als ich entführt wurde, war
ich in der ’Primary six’.“ ’Primary six’ ist die Abschlussklasse der Grundschule. Pamela überrascht mich. Das Mädchen macht einen ganz und gar
fröhlichen Eindruck. Dann erzählt sie weiter, dass sie zwei Jahre im Busch
war. Als sie zurückkam, hatte sie ein Kind. Von ihren Eltern hat sie nur noch
erfahren, dass sie tot sind. Nach ihrer Zeit im „World Vision Reception Center“ konnte sie weiter zur Schule gehen. Jetzt hat sie im eineinhalb Autostunden entfernten „Rahele Reception Center“ in Lira ein Stipendium bekommen. Dieses Auffanglager wurde von der belgischen Journalistin Els de
Temmeren gegründet, nachdem sie ein Buch über die Entführung der Mädchen aus der Aboke-Schule geschrieben hatte. „Wie kommt es, dass du mit
deiner Situation so gut umgehen kannst?“ frage ich Pamela, immer noch erstaunt über unsere seltsame Begegnung. „Ich glaube, dass Gott etwas Gutes
in mein Leben hineingelegt hat.“ „Und als du im Busch warst, konntest du
da auch an Gott glauben?“, frage ich erstaunt zurück. „Ja, ich hatte immer
den Eindruck, als ob Gott mich prüfen möchte, ob ich dem Teufel widerstehe und ihm vertraue“, erwidert Pamela. „Und jetzt freue ich mich riesig,
dass ich wieder zur Schule gehen kann. Und ich würde mich freuen, wenn
Sie mir schreiben. Pamela Peace, heiße ich.“ Für mich war diese Begegnung
beeindruckend, weil sie mir zeigte, wie viele Afrikaner einen anderen Zugang zu übernatürlichen Dingen haben – im Guten wie im Bösen.
7.5 Angelina – oder wenn Eltern trauern
Acht Jahre lang hat Angelina darauf gewartet, dass ihre Tochter Charlotte
aus dem Busch zurückkommt. Charlotte war eines jener 139 Mädchen der
Aboke-Internatsschule, die in der Nacht vom 9./10. Oktober 1996 aus dem
Schlafsaal der Schule entführt wurden. Bekannt wurde das Schicksal der
Mädchen nicht zuletzt durch das Buch „Aboke Girl“ der belgischen Journalistin Els de Temmeren. 109 der 139 Mädchen konnten am Tag nach ihrer
Entführung durch das Engagement ihrer Lehrerin, Schwester Rachele, zurückgeholt und befreit werden. Doch die anderen mussten im Busch blei362
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ben, darunter auch Charlotte. Sie war damals 14 Jahre alt. Zahlreiche Diplomaten, sogar Mutter Theresa und Papst Johannes Paul II. setzten sich für die
Freilassung der Mädchen ein – ohne Erfolg. Vier starben, zwei werden noch
immer im Busch vermutet. Mehrfach hat Kony bestätigt, dass diese Mädchen unter seinem „besonderen Schutz“ stehen. Nach der Entführung trafen
sich die Eltern regelmäßig, um ihre Trauer zu teilen. Damals sei ihr bewusst
geworden, dass unzählige Eltern das gleiche Schicksal wie sie erleben, erzählt Angelina. „Doch wir wollten nicht einfach nur dasitzen und trauern.
Wir mussten etwas tun. Wenn wir nicht aufstehen, würde es niemand tun“,
erzählt Angelina weiter. Aus der Gruppe der Trauernden entstand eine Organisation, die sich um Eltern entführter Kinder kümmert, die „Concerned
Parents Association“ (CPA). Heute hat die Organisation drei Ziele: Sie setzt
sich für die Rückkehr entführter Kinder ein, kümmert sich um die Entlassenen und deren Angehörigen und möchte Friedensstifter sein. Als ich – gemeinsam mit einem Caritas-Mitarbeiter – im Büro in Gulu vorspreche und
sage, dass ich gern mit einem Gründungsmitglied sprechen möchte, werde
ich auf Angelina verwiesen. Allerdings mit dem Hinweis, nur, wenn ich keine Journalistin sei. Denn mit diesen würde sie nicht sprechen. Folglich bin
ich gespannt, was mich erwartet. Angelina treffe ich zusammen mit Geoffrey, dem Leiter des CPA-Büros in Lira, einer Kleinstadt, unweit der Schule,
wo die Organisation ihren Anfang nahm.
Vor mir sitzt eine Frau um die 50. Ihre kurzen Haare versteckt sie unter
einem Turbanhut. Während sie redet, gestikuliert sie heftig mit ihren Händen. Doch Angelina redet gern. Dass ich Journalistin bin, stört sie nicht, im
Gegenteil. Reden, so ihre Devise, sei wichtig für den Heilungsprozess. Angelina erzählt mir von den ersten Stunden nach der Entführung ihrer Tochter, dem Hoffen und Bangen, ihrer Wut und Ohnmacht. Eines Tages, so fährt
sie fort, habe sie mal das „Vater unser“ gebetet. „Und vergib uns unsere
Schuld wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“. Da sei ihr klar geworden, dass sie den Rebellen vergeben muss, ganz unabhängig davon, ob
ihre Tochter jemals wieder zurückkommt oder nicht. Wie kann man jemandem vergeben, der einem etwas Schlimmes angetan hat? Seit jenem Erlebnis
stand für Angelina eines fest: Sie will sich für den Frieden einsetzen, egal
um welchen Preis. Eines Tages, so erzählt mir Angelina, sei sie der Mutter eines der Rebellen, die ihre Tochter entführt hatten, begegnet. Die Frau
wollte nicht mit ihr sprechen, weil sie befürchtete, Angelina würde ihr Vorwürfe machen. Angelina ging auf die Frau zu. „Wenn wir nicht in Frieden
miteinander leben, wie wollen wir dann erwarten, dass andere miteinander
auskommen? Ich habe deinem Sohn vergeben, was er meiner Tochter angetan hat.“ Dann umarmte sie die Frau. An diesem Abend wusste Angelina, sie
hatte ein Stück mehr Frieden geschaffen.
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Im vergangenen Jahr kam Charlotte nach acht Jahren Gefangenschaft zurück. Als Angelina die Nachricht von ihrer Freilassung überbracht wurde,
konnte sie es kaum glauben. „Ich habe mich gefreut. Doch war auch eine
große Trauer in meinem Herzen, weil es immer noch Eltern gibt, die auf ihre
Kinder warten und nicht wissen, was mit ihnen ist.“
8. Mangobaum, warum stehst du so alleine da? – eine Fahrt durch
Acholiland
Zwei Stunden dauert die Fahrt von Gulu nach Pader. Der Ort liegt östlich von Gulu, ca. 100 Kilometer entfernt. Heute sind viele Menschen auf
der Straße. Ein gutes Zeichen. Viele von ihnen gehen zu ihren Feldern, um
sie zu bebauen. Norduganda ist ein sehr fruchtbares Land. „Wenn die Straßen leer sind, bedeutet das, dass Rebellen unterwegs sind“, erklärt mir John
Bosco. Er weiß, wovon er spricht. Seit Jahren arbeitet der Sozialarbeiter für
die Caritas. Er ist in Norduganda aufgewachsen. In den letzten Jahren, als
der Bürgerkrieg besonders heftig war, arbeitete er in einem Receptioncenter
in Pajule. Es war das Einzige weit und breit und die Caritas war die einzige
Hilfsorganisation, deren Mitarbeiter bereit waren, in diesem Teil des Krisengebiets zu bleiben.
Auf unserem Weg kommen wir mehrfach vorbei an ausgebrannten Autowracks. Auch John wäre beinahe so ums Leben gekommen. Einmal war er
unterwegs, als die Straße menschenleer war. Vor ihm geriet ein Auto in einen
Hinterhalt. Auch sein Beifahrer und er wurden von den Rebellen angeschossen. Ein Militärhubschrauber bemerkte sie und kam zu Hilfe. So wurden die
Rebellen aus der Luft vertrieben. Das hat John das Leben gerettet.
Doch heute ist es friedlich. Im Moment ist Dürrezeit, von der Straße aus
kann man weit in die umliegenden Felder blicken. Während der Dürrezeit
können sich die Rebellen nicht so gut verstecken. Außerdem sind in vier
Wochen Präsidenten- und Parlamentswahlen und nichts wäre den Rebellen
lieber, als dass die Menschen Präsident Museveni abwählen. Gekämpft wird
wieder nach den Wahlen.
„Siehst du die großen Bäume?“, fragt mich Schwester Hannah. Die Nonne
fährt mit uns nach Pajule. In wenigen Tagen soll dort neben dem Receptioncenter eine Berufsschule eröffnet werden, als deren Schulleiterin sie arbeiten wird. „Das sind Mangobäume. Vor wenigen Jahren standen hier mal Hütten, in denen die Menschen wohnten“, fährt sie fort. Jetzt erst fällt mir auf,
an wie vielen Mangobäumen wir vorbeifahren. Hin und wieder sind noch
die Überreste einer Hütte sichtbar. Die Menschen, die hier einst wohnten,
sind entweder tot oder leben in einem der 180 so genannten IDP-Camps.
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IDP steht für „Internally Displaced People”. Nach Angaben des „Department of Disaster Management and Refugees“, das beim Büro des Premierministers angesiedelt ist, leben inzwischen fast 1,7 Millionen Menschen in
den Camps. Das sind 90 Prozent der Acholis. 80 Prozent davon sind Frauen
und Kinder. Ende der 90er Jahre begann die ugandische Armee systematisch
die Menschen aufzufordern, ihre Dörfer zu verlassen und in die Flüchtlingslager umzusiedeln. Aus Sicherheitsgründen, hieß es, weil die Armee so die
Bevölkerung besser schützen könnte.
8.1 Besuch in Pader
Früher war Pader mal ein kleines Dorf von rund 1.000 Einwohnern. Heute ist die Hauptstraße, an der entlang sich rechts und links Geschäfte, Büros
und Restaurants schlängeln, von einem Meer von Strohhütten umgeben. Um
den Dorfkern hat sich ein großes Flüchtlingslager gebildet. Daneben gibt es
nochmals ein kleines Lager fürs Militär.
22.000 Menschen leben offiziell im IDP-Camp, dicht zusammengepfercht
in ihren Strohhütten. Die meisten Bewohner sind Kinder, viele von ihnen
sind kaum bekleidet, schmutzig und ihre Bäuche sind dick, ein Zeichen dafür, dass sie nicht ausreichend ernährt sind.
Rubango Kene Bosco kam – wie viele – vor fünf Jahren nach Pader. Als
Lagerleiter ist er zuständig für die Belange der Menschen. Es fehlt an allem:
„Unser größtes Problem ist Wasser: wir haben nicht genügend Trinkwasser.
Und während der Trockenzeit, wie jetzt, ist es besonders schlimm, weil der
Wasserspiegel sinkt und man nicht alle Brunnen benutzen kann. Wir haben
nicht so viele Brunnen. Die Leute müssen acht bis zehn Stunden anstehen,
um einen Kanister Wasser zu bekommen. Das ist unser größtes Problem.
Aber auch die medizinische Versorgung ist nicht ausreichend und wir haben
nicht genügend Schulen für die Kinder und so viele Menschen haben Aids.“
Inzwischen gibt es erste Studien über das Leben in den IDP-Camps. Einer
„IDP- Profiling Studie“ zufolge glauben in Norduganda wesentlich weniger
Menschen als im Irak daran, dass sich ihre Lebenssituation verändern wird.
Grund dafür sind die miserablen Lebensbedingungen in den Camps: 40 Prozent der Campbewohner haben nur unzureichenden Zugang zu Wasser. Ähnlich schlecht sieht es mit medizinischen Möglichkeiten aus. Jedes zweite
Kind unter fünf Jahren leidet unter Mangelernährung. Gerade mal 1,3 Prozent der Kinder können die Grundschule besuchen, weil die meisten Eltern
sich das Schulgeld nicht leisten können. Jeden Monat sterben bis zu 1.000
Menschen an den Folgen von Gewalt in den Camps. Der soziale Sprengstoff
ist riesengroß.
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In den letzten Wochen sind im Lager immer wieder Feuer ausgebrochen.
Wie das passieren konnte, kann sich der Lagerleiter auch nicht erklären. In
der vergangenen Nacht wurden auf einen Schlag 3.000 Menschen obdachlos. Die strohbedeckten Hütten stehen so dicht beieinander, dass das Feuer schnell übergreifen kann. Auch Grace Anneks Hütte ist niedergebrannt.
Seit fünf Jahren lebt die Witwe mit ihren vier Kindern im Camp. Ihr Dorf,
in dem sie früher lebte, ist nur zwei Kilometer entfernt. Doch in den fünf
Jahren ist sie nie dort hingegangen. Es sei zu gefährlich:“ Die Regierungstruppen erschießen dich, wenn sie dich finden, weil sie denken, du bist ein
Rebell. Und wenn dich die Rebellen finden, sagen sie: „Warum lebst du im
Camp? Unterstützt du Musevenis Bewegung? Du hättest bleiben sollen, wo
du bist!“ So sitzt man zwischen den Stühlen. Wenn die Rebellen dich finden, hast du ein Problem und wenn die Regierungstruppen dich finden, hast
du auch eines.“
Einmal im Monat kommt ein großer LKW vom UN-Welternährungsprogramm nach Pader, um die Menschen mit Nahrungsmitteln zu versorgen.
Seit 1996 arbeitet das World Food Programm (WFP) in Norduganda. Es
war die erste internationale Organisation hier. Wenn es die monatlichen Lebensmittelrationen nicht gäbe, wären viele Menschen in Norduganda schon
längst verhungert. Offiziellen Angaben zufolge sind 75 Prozent der Menschen auf die Nahrungsmittelhilfslieferungen angewiesen. In Gulu gibt es
ein riesiges Zeltlager, in dem das WFP die Lebensmittel lagert und von dort
aus übers Land verteilt.
Selbst wenn der Konflikt heute enden würde, meint der aus den Philippinen stammende Projektleiter Pedro Molat, wäre ihre Arbeit noch lange nicht
getan. Denn die Menschen sind inzwischen so an die Hilfslieferungen gewohnt, dass vor allem die junge Generation gar nicht weiß, was es heißt für
ihren eigenen Lebensunterhalt zu sorgen. „Unsere größte Herausforderung
ist es, wie wir die Versorgung der Menschen sicherstellen können und wo
wir die Lebensmittel herbekommen. Das bedeutet, wir sind da auf die Großzügigkeit der Geberländer angewiesen. Nun stellt sich die große Frage, in
welchen Abständen – ob monatlich oder jährlich – uns die Geberländer unterstützen. Das bereitet uns große Sorgen, denn wenn wir nicht regelmäßig
unterstützt werden und wenn wir die Versorgung der Leute deshalb aussetzen müssten – wäre das ein großes Problem.“
Auch der Wahlkampf um die Präsidenten- und Parlamentswahlen am 23.
Februar hat in Pader seine Spuren hinterlassen. Überall sind die Häuserfassaden mit den Plakaten der fünf Bewerber um das Präsidentenamt gepflastert. Vor kurzem besuchte zuerst Präsident Museveni und kurze Zeit später
sein Herausforderer Kizza Besigye das Lager. Vor allem Besigye hat in Norduganda viele Anhänger. Ben Kollokot ist einer davon. Wie viele hier glaubt
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Uganda
Iris Völlnagel
der Grundschullehrer, dass der Konflikt ein Ende hätte, wenn Besigye an die
Macht käme: „Als Besiye das letzte Mal hier war, hat er das so gesagt. Natürlich ist das auch viel Wahlkampfrhetorik. Aber der jetzige Präsident, er
hat das schon so häufig gesagt – mindestens vier Mal – und nichts hat sich
zum Positiven verändert. Deshalb verlassen wir uns auf Besigye. Wenn er
gewählt wird, wird es vielleicht wahr.“
9. Ein Besuch im Langi-Land
Vor meiner Abfahrt nach Uganda habe ich in Deutschland verschiedene
Hilfswerke angerufen und nachgefragt, welche Projekte sie unterstützen.
Von der „Kindernothilfe“ in Duisburg bekam ich die Rückmeldung, dass
sie zwei Partnerorganisationen in Norduganda unterstützen, die allerdings
nicht unmittelbar im Kriegsgebiet arbeiten. So war es vielleicht eine Mischung aus Unwissenheit und Neugier, dass ich mich auf das Angebot einließ, für drei Tage ins Langi-Land zu fahren. Die Langis sind – ebenso wie
die Tesos – Nachbarstämme der Acholis. Ihr Gebiet liegt im Osten, zwischen dem der Acholis und dem der Karamojongs. Die Langis, so wird mir
Stephen Okite, Programmkoordinator des „Omoladyang Community Delevopment Project“, später erklären, waren ähnlich wie die Acholis einst
Rinderzüchter. Die Rinder waren ihr Hab und Gut. Musste ein Langi-Vater beispielsweise die Schulgebühren für seine Kinder bezahlen, verkaufte
er eine Kuh. Für den Ertrag von zwei Kühen konnte ein Kind ein Jahr lang
die Grundschule besuchen. Ein Schuljahr in einer weiterführenden Schule
kostete drei Kühe. Doch Anfang der 80er Jahre überfielen die im Nordosten
Ugandas angesiedelten Karamojongs mehrfach die Langis und raubten ihre
Kühe. Dem vorausgegangen waren blutige Jahre: Nach der Unabhängigkeit
Ugandas 1962 wurde Milton Obote, ein Lehrer aus dem Langi-Stamm, Premierminister. 1966 gelang es ihm, die Verfassung außer Kraft zu setzen und
mit Unterstützung des Militärs unter Führung von Colonel Idi Amin, die
Macht an sich zu reißen. 1971 nutzte Amin, der inzwischen zum General
aufgestiegen war, einen Auslandsaufenthalt von Obote, um selber die Macht
im Land zu übernehmen. Die Folge waren heftige Kämpfe, in denen etliche Langis starben. Viele Langis starben auch, weil sie Mitte der 70er Jahre
versuchten, das Amin-Regime zu stürzen. Tatsächlich gelang es Obote 1979
mit Unterstützung tansanischer Truppen, wieder an die Macht zu kommen.
Doch für die Langis ging das Blutvergießen weiter. Zunächst kam es zu Beginn der 80er Jahre zu Überfällen der Karamojongs, dann ab Mitte der 80er
Jahre zu kriegerischen Auseinandersetzungen mit dem Nachbarstamm, den
Acholis. In den vergangenen Jahren gehörte das Gebiet der Langi zu jenem
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Iris Völlnagel
Uganda
Teil Nordugandas, das immer wieder von den Übergriffen der LRA heimgesucht wurde. Unweit der Provinzstadt Lira, die in den vergangenen Jahren vor allem durch Flüchtlinge gewachsen ist, liegt auch Aboke. Jener Ort,
in dem die Mädchen der Aboke-Schule 1996 von den Rebellen überfallen
und verschleppt wurden. Heute gibt es rund um Lira sechs IDP-Camps, in
denen in den vergangenen Jahren mehrere tausend Menschen Unterschlupf
gefunden haben.
9.1 Helfen – aber wie?
Auch Stephen Okites Leben ist vom Krieg geprägt, obgleich ihm das auf
den ersten Blick nicht anzumerken ist. Wie viele Ugander lacht der 41-Jährige gern und viel. Obwohl seine Mutter umgebracht wurde, weil ihr Vater
beim Militär war. Sein Vater starb kurze Zeit später in einer Kampfhandlung. Das war in den 70ern. Stephen wuchs in einem Waisenhaus auf, das
von der „Kindernothilfe“ unterstützt wurde. Das ermöglichte ihm, dass er
eine gute Ausbildung bekam. Heute arbeitet er für eine Partnerorganisation
der Kindernothilfe. Nun will er seinem deutschen Gast sein Entwicklungsprojekt zeigen. Auf dem Weg dorthin, zeigt er mir noch zwei Flüchtlingslager rund um Lira.
Einer von Norahs Söhnen ist gerade dabei, das Dach ihrer Hütte auszubessern, als wir im Camp auf sie stoßen. Auf dem Arm trägt die alte Frau
einen kleinen Jungen: Ihr Enkelkind. Ihre Tochter kam bei einem Rebellenangriff ums Leben, nun muss sie nicht nur für sich und ihre Kinder, sondern
auch für den Kleinen sorgen. Ist es Glück, dass sie überlebt haben? Als wir
mit Norah reden, sprudelt es nur so aus ihr heraus: Wie soll sie ihre Familie
ernähren? Was soll aus dem Kleinen werden? Wo werden sie künftig leben?
Ein Kameramann macht Aufnahmen. Er sei im Sudan in Dafur gewesen,
doch das, was er hier sehe, sei viel schlimmer, sagt er. Denn Dafur, so seine
Schlussfolgerung, stehe in der Aufmerksamkeit der Medien. Folglich seien
auch die internationalen Hilfsorganisationen da. Doch wer kümmert sich um
die Menschen hier? Fünf Hütten weiter treffen wir auf eine Gruppe Amerikaner. Sie sind sichtlich vom Leid im Camp berührt. Eine Bewohnerin zeigt
ihnen ein kleines, zwei Tage altes Mädchen. Sofort werden die Geldbörsen
gezückt und der Kleinen Geldscheine zugesteckt. Innerhalb weniger Sekunden ist das kleine Mädchen sicherlich die reichste Bewohnerin des Lagers
geworden. Ob ihr das weiterhilft?
Stephen zeigt mir ein anderes Lager. Mitten auf dem weitläufigen Lagergelände hat die Hilfsorganisation „World Vision England“ ein großes Schulgebäude mit Wellblechdach aufgestellt. „Ich weiß nicht, was das soll“, regt
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Uganda
Iris Völlnagel
Stephen sich auf. Wenn wir hier anfangen, Schulen zu bauen, ist das ein Signal, dass die Leute hier bleiben. Doch die Camps sind doch nicht das Zuhause der Leute. Auch unter den Camp-Ältesten erweckt das Schulgebäude
Ärgernis, allerdings aus einem anderen Grund: „Wir haben zwar ein Schulgebäude, doch es gibt keine Lehrer, die die Kinder angemessen unterrichten können“, klagt ein Bewohner. Er wohnt seit vier Jahren im IDP-Camp
„Balastockfarm“. Doch die Schule ist nur ein Problem, das der Familienvater mir nennt. Im Moment beschäftigt ihn die Frage, dass er nicht weiß, wo
er am 23. Februar, wenn in Uganda die Parlamentswahlen stattfinden, seine
Stimme abgeben soll. Eigentlich wählt jeder in seinem Wohnort. Doch den
hat er schon lange verlassen, um aus Sicherheitsgründen im Lager zu leben.
Dabei möchte er doch so gern den Oppositionskandidaten Besigye unterstützen. Denn Museveni, so ist er überzeugt, ist für den Krieg verantwortlich
und soll deshalb auf keinen Fall an der Macht bleiben.
9.2 Der vernachlässigte Norden
Die Regierung hat einfach kein Interesse, betont Stephen Okite immer
wieder, als wir im Geländewagen über die Schotterpiste rauschen. Unser
Ziel ist das „Omoladyang Community Development Project“, ca. 45 Fahrminuten von Lira entfernt. Hierhin verirrt sich so schnell kein Fremder. Seit
August 2005 arbeitet Stephen mit drei Mitarbeitern in diesem Projekt. „Wir
haben gemerkt“, erklärt der 41-Jährige, „dass wir immer nur Einzelne erreichen, wenn wir bestimmte Kinder fördern, in dem wir ihnen eine gute
Ausbildung ermöglichen. Ob die ganze Familie davon profitiert, bleibt dem
Goodwill des Einzelnen überlassen. Doch wir wollen die ganze Familie erreichen.“ Auf Community-Ebene haben Stephen und seine Mitarbeiter zahlreiche Selbsthilfegruppen, so genannte „self-help-groups“, initiiert. Es sind
vor allem Frauen, die daran teilnehmen. Regelmäßig treffen sie sich. Jedes
Mitglied hat anfangs 1.000 Schilling (ca. € 0,40) in eine gemeinsame Kasse einbezahlt. Zu jedem Treffen bringen die Frauen 100 Schilling mit. Gemeinsam überlegen sie, was sie mit den Ersparnissen anfangen können und
wie sie das Geld vermehren können. Wer Geld leihen muss, bekommt einen
günstigen Kredit. Nach einem Anfangsgebet besprechen die Frauen ihre Finanzsituation. Dann folgt eine Diskussionsrunde zu einem Thema. Heute
geht es um Hygiene. „Wenn wir unsere Hygiene verbessern wollen, dann
brauchen wir auch eine Toilette“, meldet sich eine Frau. „Ja, aber man sollte
sich auch regelmäßig waschen“, meldet sich eine andere. Am Schluss einigen sich die Frauen, dass sie sich gegenseitig kontrollieren und ermutigen
wollen, ihre Hütten sauber zu halten. „Früher hat jede von uns für sich selbst
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Iris Völlnagel
Uganda
gearbeitet, doch durch die Gruppen haben wir gemerkt, dass wir gemeinsam mehr erreichen können“, freuen sich die Frauen. In der ugandischen
Gesellschaft sind die Frauen die Stützen, meint Stephen. Sie sind diejenigen, die sich um die Familien kümmern und für den Unterhalt sorgen. Die
Frauen sind sehr glücklich, denn sie haben erlebt, dass sie selbst etwas zum
Lebensunterhalt ihrer Familien beitragen können. Das macht sie auch von
ihren Männern, die häufig ihre Zeit mit Trinken verbringen, unabhängiger.
Statistisch gesehen bekommt jede ugandische Frau sieben Kinder. Viele der
Frauen hier haben zehn und mehr Kinder. Die Frage, wie sie die Schulgebühren für ihre Kinder aufbringen sollen, beschäftigt sie sehr.
Stephen ist über den Erfolg der vergangenen sechs Monate sehr glücklich. Eine Dorfgemeinschaft hat angefangen, ein Schulgebäude zu errichten, eine andere, einen Brunnen zu bohren. Als nächstes soll die Hauptstraße repariert werden, so dass die Waren besser zum nächstgelegenen Markt
transportiert werden können. Noch gleicht der Weg einer Buckelpiste. In
den nächsten fünf Jahren hofft Stephen auf Unterstützung aus Deutschland,
damit jede Gemeinschaft ihren eigenen Brunnen bekommt – und ein Gesundheitszentrum.
Über den Tag verteilt zeigt mir Stephen bestimmt 15 Projekte. Überall, wo
wir hinkommen, begrüßen uns die Frauen mit lautem Gesang und Liedern.
Für viele, so sagt mir Stephen, ist es das erste Mal, dass sie von einem Weißen besucht werden. Entsprechend herzlich ist ihre Begrüßung. Ich komme
mir ein bisschen vor wie ein Staatspräsident auf Besuch. Jedes Mal soll ich
eine kleine Ansprache halten. Was sagen? Also erzähle ich ihnen, dass es
auch für mich komisch ist, weil ich noch nie in einer Situation war, in der
ich nur von dunkelhäutigen Menschen umgeben war. Das können sie verstehen und ich habe die Lacher auf meiner Seite. Das Eis ist gebrochen. Als
die Frauen der Reihe nach erzählen, wie viele Kinder sie haben, wollen sie
wissen, wie viele ich habe. Kein Kind – nein, das können sie sich überhaupt
nicht vorstellen. Für eine Sekunde ist die sonst so fröhliche Runde plötzlich
zum Schweigen gekommen. Und auch als ich ihnen erzähle, dass deutsche
Frauen im Schnitt ein bis zwei Kinder haben, bekomme ich nur erstaunte
Gesichter zu sehen. Das Erstaunen reißt auch nicht ab, als mir das Gastgeschenk überreicht wird: zwei Hühner. Ob ich Hühner kochen könne, möchten sie von mir wissen. Ja, aber ich weiß nicht, wie man die Federn entfernt... Wo ich denn meine Hühner kaufe, möchte ein Mitarbeiter wissen.
Im Supermarkt, tiefgekühlt. Doch wie soll man das Menschen erklären, die
in einer Gegend leben, in der es noch nicht einmal Strom gibt? Das sind komische Leute, diese Weißen, diese Muzungu, oder?
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Uganda
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10. Verschiedene Seiten eines Konfliktes
10.1 Die Nightcommuters
Zurück in Gulu statte ich Bruder Michael einen Besuch ab. Seit 13 Jahren wohnt der Schreinermeister und Comboni-Missionar in Gulu. Die Möbel, die er in seiner Schreinerei herstellt, verkauft er im ganzen Land. Es ist
viertel vor fünf Uhr am Abend. Etwas gehetzt schaut Bruder Michael auf
seine Uhr. „Wir müssen uns beeilen, um fünf Uhr hören die Maschinen auf
– und in einer Stunde wirst du diesen Raum nicht wieder erkennen.“ Beim
letzten Satz huscht dem geborenen Franken ein verschmitztes Lächeln über
sein Gesicht. Doch wenn seine Mitarbeiter abends die Schreinerei verlassen,
herrscht noch lange keine Ruhe. 150 Kinder kommen jeden Abend zu Bruder Michael. In Spitzenzeiten waren es bis zu 700. Die Schreinerei liegt am
Stadtrand von Gulu, ganz in der Nähe der katholischen Kathedrale und dem
Sitz des Erzbischofs. „Vor zwei, drei Jahren konnten wir hier jeden Abend
die Gefechte zwischen den Rebellen und der Armee hören“, erzählt Bruder
Michael weiter. Seine Schreinerei ist nur eins von über 200 Schlaflagern, so
genannten Nightshelters, die es inzwischen in der 100.000 Einwohner zählenden Stadt Gulu gibt. Knapp zwei Kilometer Luftlinie von Bruder Michaels Schreinerei entfernt ist Gulus größte Schlafstätte für die Schlafpendler,
auch Nightcommuters genant. Im Innenhof des Lakowe-Hospitals hat die
Schweizer Abteilung von „Ärzte ohne Grenzen“ 15 Zelte aufgebaut. In Spitzenzeiten kamen bis zu 4.000 Schlafpendler hierher, die meisten davon Kinder: Jetzt kommen jeden Abend noch 1.200, erzählt Lucia Gunkel, eine aus
Deutschland stammende Krankenschwester, die die Arbeit koordiniert. Seit
Beginn des Schlaflagers vor eineinhalb Jahren führt Beatrice Lawahe hier
jede Nacht Aufsicht. Eigentlich ist sie Lehrerin, doch die Arbeit hier macht
ihr mehr Spaß als in der Schule zu unterrichten.
Steven ist einer der Jungen, die jeden Abend hierher kommen. Wie es
ist zu Hause zu schlafen? Daran kann sich der Zehnjährige schon gar nicht
mehr erinnern. Zu groß ist seine Angst, entführt zu werden. Sein älterer Bruder ist verschwunden, und seitdem hat die Familie nichts mehr von ihm gehört. So etwas möchte er nicht erleben, sagt er traurig. Unter dem Arm hat
er seine Strohmatte. Manche Kinder haben auch ihre Schulsachen dabei, um
noch Hausaufgaben zu machen oder weil sie am nächsten Morgen direkt in
die Schule gehen. Die Nachtlager bieten den Kindern neben einem Schlafplatz auch medizinische und psychologische Betreuung an. Nicht selten, so
erzählt Lucia, kommt es vor, dass die Kinder hungrig kommen. Gegen sieben Uhr geht in Uganda die Sonne unter, dann ist es dunkel. Doch viele Familien essen erst später ihr Abendessen. So kommen viele Kinder mit hung371
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Uganda
rigem Bauch. Wie Steven geht es vielen Kindern hier. Die Nightshelters
geben ihnen Schutz. Zugleich zerstören sie aber auch ein Stück Familienleben, weil die Kinder nicht mehr wissen, was es bedeutet, am Abend von ihren Eltern „Gute Nacht“ gesagt zu bekommen.
10.2 Das Amnestiegesetz – ein Hoffnungsschritt?
Im November 1999 verabschiedete das ugandische Parlament ein Amnestiegesetz, das so genannte „Amnesty Act“. Jeder Rebell und auch Kindersoldaten, die aus dem Busch kommen, werden amnestiert. Zudem erhalten
sie als Hilfe zur Wiedereingliederung 263.000 ugandische Schilling (umgerechnet zirka € 110), eine Decke, Kochutensilien und einige Lebensmittel. Bis zum Ende des Jahres 2004 nahmen fast 12.000 ehemalige Krieger, darunter auch viele aus anderen Konfliktgebieten, das Amnestieangebot
an. Fast die Hälfte der Amnestiesuchenden sind LRA-Kämpfer gewesen.
Allerdings haben viele Kommunen erst jetzt angefangen, die Amnestiepakete zu verteilen. Als ich Pader besuche, werden dort gerade die Wiedereingliederungspakete verteilt. Diese wurden größtenteils von Geldern der
Europäischen Union finanziert. Im Jahr 2004 forderten Hilfsorganisationen,
das Amnestiegesetz auch auf die führenden LRA-Kommandeure anzuwenden. Rückkehrende Kämpfer berichten, dass Kony das Amnestiegesetz verurteilt und strenge Strafen für diejenigen angedroht hat, die versuchen zu
fliehen. Immer wieder berichten Rückkehrer auch, dass Kony ihnen gesagt
habe, dass sie von der Gesellschaft ohnehin nicht aufgenommen werden.
Wie kann man die Rebellen ermutigen, aus dem Busch zu kommen? Und
vor allem, wie kann man sie erreichen?
10.3 Ein Besuch bei Radio FM
Für David Okidi, dem Manager von Radio Mega FM 102,6 ist sein Sender eine einzige Erfolgsstory. In der letzten Umfrage wurde der Sender unter
den zehn Sendern in Acholi-Land zum beliebtesten Sender gewählt. 51 Prozent der Acholis schalten das Programm regelmäßig ein. Für David Okidi
ist das eine Bestätigung, dass er ein gutes Programm gestaltet. Radio gehört
in Uganda nach wie vor zum wichtigsten Medium. Zeitungen können sich
die meisten Menschen nicht leisten, geschweige denn einen Fernsehapparat.
Zudem gibt es von letztem ohnehin nur wenige Programme, die sich auf die
Hauptstadt konzentrieren. Noch ist es nicht selbstverständlich, ein Radio zu
besitzen, doch wer eines hat, zeigt es voller Stolz. 2002 wurde Radio Mega
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Uganda
Iris Völlnagel
FM 102,6 mit Unterstützung aus Großbritannien gegründet. Zu einer der beliebtesten Sendungen gehört inzwischen das Programm „Come back home“,
das mit Unterstützung der Konrad-Adenauer-Stiftung aufgebaut wurde. Es
richtet sich gezielt an die Rebellen im Busch. „Von einem Acholi können Sie
alles verlangen, aber nicht, dass er sich ergibt. Das ist nicht Bestandteil seiner Kultur. Er steht mit dem Speer in der Hand aufrecht, auch wenn er weiß,
er stirbt im nächsten Moment“, meint Wolfgang Hilberer, Leiter des Büros
der Konrad-Adenauer-Stiftung. „Wenn ein Stamm eine derartige Kultur hat,
dann ist es vollkommen überflüssig, einen Angehörigen eines solchen Stammes zur Übergabe aufzufordern, so wie es Museveni mehrfach getan hat und
damit Friedensprozesse in der Vergangenheit immer wieder zerstört hat.“
So überlegten sich die Programmmacher, welche Botschaft sie übers Radio
verbreiten können und kamen schließlich auf die Idee der Sendung „come
back home“. „Wir fordern keine Aufgabe der Kampfhandlungen, sondern
fragen die Rebellen einfach nur: Was macht dein Zuhause? Warum kommst
du nicht zurück?“, erklärt David Okidi.
Ein anderes, ähnlich erfolgreiches Programm, das ebenfalls mit deutschen
Steuergeldern unterstützt wird, ist „Kabaka“. Kabaka bedeutet so viel wie
ein Ort, an dem Menschen zusammen kommen, um eine Lösung für ein Problem zu finden. Innocent Oloyo ist seit drei Jahren die Produzentin des Programms. Jede Woche fährt sie woanders hin, um vor Ort mit den Menschen
die Fragen, die sie beschäftigen, zu diskutieren. Die Bandbreite ist groß:
„Was erwarten wir von unseren Politikern? Was macht gute Politik aus? Was
muss geschehen, damit der Friede kommt?“ Die Diskussionssendung wird
anschließend im Radio übertragen. Einmal, so erinnert sich die Produzentin,
war sie im Gebiet von Kitgum unterwegs. Die Menschen diskutierten darüber, ob der Konflikt mit Waffengewalt oder mit friedlichen Mitteln zu lösen
sei. Die Diskutierenden kamen zu dem Ergebnis, dass die friedliche Lösung
versagt habe. Nach dieser Sendung habe sie einen Anruf von der LRA mit
einer Morddrohung bekommen, erinnert sich Innocent. Es war nicht das einzige Mal. Trotzdem will sie mit ihrer Arbeit nicht aufhören: „Kabake gibt
den Menschen die Möglichkeit, ihre Meinung zu sagen. 20 Jahre lang haben
die Menschen gelitten, also haben sie ein Recht zu sagen, was sie denken,
was nun das Beste für sie ist. Wo sonst haben sie eine Möglichkeit?“
10.4 Die Landfrage... oder was ist dran an den Gerüchten?
Bereits mein allererster Gesprächspartner in Kampala, Michael Winklmaier vom DED, hatte die Landfrage als einen der Gründe genannt, warum der
Bürgerkrieg so schwer zu beenden sei. Norduganda ist ein sehr fruchtbares
373
Iris Völlnagel
Uganda
Land. Früher wurde das Land von Generation zu Generation weitergegeben,
ohne dass jemand Grenzzäune zog. Das Land gehörte den Clans. Noch vor
20 Jahren waren die Acholis Rinderzüchter. Ihre Viehherden bestimmten –
ähnlich wie bei den Langis – ihren Reichtum. Heute leben über 85 Prozent
der Bevölkerung in Flüchtlingslagern. Selbst wenn der Krieg zu Ende ginge,
könnten viele nicht mehr genau sagen, unter welchem Mangobaum die Hütte ihrer Vorfahren gestanden hat. Und viele ältere Menschen sterben und mit
ihnen das kulturelle Erbe.
Hinzu kommen Gerüchte, wonach die Regierung oder ihr nahe stehende Leute beabsichtigen, im Norden des Landes große Farmen aufzubauen.
Genaue Anhaltspunkte gibt es dafür nicht, dafür jede Menge Gerüchte. Fest
steht, Norduganda ist ein sehr fruchtbares Land, das brach liegt. Im Wahlkampf kündigte Präsident Museveni lediglich an, dass er die Menschen von
größeren Camps in kleinere verlagern möchte. Doch dass sie wieder dahin
zurückkehren können, wo sie einst gelebt haben, davon war bislang keine
Rede. Pater Gerner erzählt mir, dass er schon mehrfach Flugblätter in die
Hand bekommen hat, in denen aufgezeichnet ist, wie die Camps ausgebaut
werden sollen und drum herum große Farmen entstehen sollen. Vor zwei
Jahren, so erzählt der Priester weiter, haben ihm die Menschen in einem
Camp-Gottesdienst erzählt, dass sie Besuch hatten, von einer Gruppe Offizieller mit einem großen Auto. „Ihr könnt uns doch dieses Land geben, ihr
müsst ja eh in den Camps bleiben“, sollen die Fremden gesagt haben. „Wir
müssen euch beschützen, denn wenn ihr rausgeht, werdet ihr erledigt. Wir
haben Traktoren, um dieses Land zu bebauen, ihr könntet dann mitarbeiten
und bekommt etwas zu essen.“
Mehr weiß auch Pater Gerner nicht. Nur, dass Straßen und Brücken gebaut wurden, von denen niemand weiß, wohin sie führen. „Es sind viele Zeichen da, die darauf hindeuten, da ist System dahinter.“
Auch Rubango Kene Bosco, der Leiter des Lagers von Pader, glaubt, dass
den Acholis das Land weggenommen werden soll. Musevenis Familie, so erzählt er, soll in Lao bereits eine Farm mit 5.000 Kühen haben, die von Soldaten bewacht wird. „Wenn etwas deinem Freund passiert, von woher weißt
du, dass es nicht irgendwann auch dich trifft?“ so sein Argument.
11. Zum Streiten gehören mindestens zwei
So habe ich es als Kind gelernt. Leider gilt dieser Satz auch für Uganda.
Über die Entwicklung der Lord’s Resistance Army habe ich viel geschrieben. Über das Leid der Zivilbevölkerung auch. Doch was ist mit der ugandischen Regierung, der Armee und der internationalen Gemeinschaft.
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Uganda
Iris Völlnagel
11.1 Beschützer oder Täter? – Die ugandische Armee
Für die ugandische Regierung war der Konflikt im Norden des Landes
immer wieder ein Argument den Militärhaushalt aufzustocken und die internationalen Geber, allen voran die ehemalige Kolonialmacht Großbritannien, um Geld zu bitten. Seit Beginn des Bürgerkriegs 1986 war es vor
allem eine Auseinandersetzung zwischen den Rebellen der Lord’s Resistance Army und der ugandischen Armee, den United People Defence
Forces, kurz UDPF genannt, die Präsident Museveni unterstellt sind. In
zwei großen Militäroperationen, „Operation Iron Fist I“ (dt. Eiserne Faust)
Mitte 2002, und „Operation Iron Fist II“, im März 2004, versuchte das Militär, die LRA zu besiegen. Erstmals kamen bei diesen Aktionen auch Hubschrauber zum Einsatz, mit dem Ergebnis, dass viele Rebellen getötet und
verwundet wurden. Aber auch zahlreiche Kindersoldaten und Zivilisten
kamen so ums Leben. Doch gerade das flächendeckende Bombardement
und die Art und Weise, wie die UPDF die Bevölkerung in den IDP-Camps
„schützt“, hat bei großen Teilen der Bevölkerung Ressentiments gegen die
Armee wachsen lassen. So erzählten mir unterschiedliche Menschen, dass
die Militärs die ersten waren, die verschwanden, wenn die Rebellen ihre
Lager angegriffen haben. Dabei ist es eigentlich ihre Aufgabe, die Bevölkerung zu schützen.
Unbestätigten Berichten zufolge verdienen die Soldaten, die in Norduganda eingesetzt werden, ein doppeltes Gehalt. Grund genug, den Konflikt gar
nicht beenden zu wollen, meint Pater Josef Gerner, der seit Jahren in Kitgum
lebt. Er kann es nicht verstehen, wie eine 30.000 Mann starke Armee mit
den zahlenmäßig weit unterlegenen Rebellen nicht umgehen kann. „Eine
große Armee, eine Nationalarmee kann nicht mit denen fertig werden? Wir
haben es längst aufgegeben, dass die überhaupt mit ihnen umgehen wollen!
Über Jahre hin musste das System so gehalten werden, das hat viel Geld gebracht, nicht für die Acholis, aber für andere, für die Reichen, für die Topmilitärs und für die Regierung!“
Kritik, die Militärsprecher Chris Magezi nicht stehen lassen möchte. Der
Major wirkt noch sehr jung. Die Funktion des Pressesprechers passt zu ihm.
Als ich sein Büro betrete, lächelt er und dieses Lächeln wird er die ganze
Zeit beibehalten, während er jede Frage nonchalant beantwortet. Aus seiner Sicht ist es einfach zu verstehen, warum der Krieg noch nicht beendet
werden konnte: „Es ist sehr schwierig, die Rebellen zu fangen. Zum einen
sind sie sehr mobil. Außerdem sind die Umstände nicht einfach: wir kämpfen hier im Busch und die Soldaten, die die Rebellen verfolgen, sind nur zu
Fuß unterwegs.“ Zudem gäbe es innerhalb der Bevölkerung viele Kollaborateure, denn immerhin seien die Rebellen ja mit den Menschen in Nordugan375
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Uganda
da verwandt. Hinzu komme, dass die Rebellen anders als noch vor wenigen
Jahren, inzwischen vor allem in kleinen Gruppen von drei bis fünf Mann
auftauchen, die schwer zu fassen sind.
Zwei Divisionen mit jeweils 15.000 Mann sind heute noch in Norduganda stationiert, um gegen die Rebellen zu kämpfen und die Bevölkerung vor
Übergriffen zu schützen. Alles gut ausgebildete Soldaten, wie mir Militärsprecher Chris Magezi versichert. Doch nicht die Rebellen in Uganda,
sondern die Nachbarländer Sudan und Kongo sind derzeit das größte Problem. Joseph Kony hat seit Jahren sein Basislager im Sudan. Sein Stellvertreter Vincent Otti agiert inzwischen vom Kongo aus. „Wenn wir die führenden Köpfe haben, dann ist alles vorbei!“ prophezeit Magezi. Doch das
kann dauern. Im Februar 2002 gab es eine Übereinkunft zwischen der ugandischen und der sudanesischen Regierung. Darin erklärte sich der Sudan bereit, künftig die LRA nicht mehr zu unterstützen, zugleich verpflichtete sich
Uganda, die südsudanesische „Sudan People’s Liberation Movement Army“
(SPLRA) nicht mehr zu unterstützen. Zugleich erlaubte die sudanesische
Regierung der ugandischen Armee auch im Südsudan zu kämpfen. „Damals
haben wir die meisten ihrer Basen im Südsudan zerstört und bis heute können wir dort agieren“, erklärt der Militärsprecher Magezi. Doch nach wie
vor kann Kony vom Sudan aus agieren.
Ausländische Militäreinheiten zu Rate ziehen, wie es sich viele Menschen
in Norduganda wünschen, das kann sich Militärsprecher Chris Magezi gar
nicht vorstellen. „Wir sind selbst gut aufgestellt. Was mit den ausländischen
Truppen passiert, hat man doch an den UN-Friedenstruppen gesehen, die
können doch nicht im Busch kämpfen. Sie können sich gut in Hubschraubern oder gepanzerten Fahrzeugen bewegen, aber doch nicht im Busch wie
die Rebellen.“ Eine Haltung, die auch Präsident Museveni immer wieder
betont: „Verteidigung ist unser souveränes Gebiet. Niemandem steht es zu,
dies zu kommentieren – mit Ausnahme des Präsidenten und des Parlaments,
das vom Volk gewählt ist, und niemand hat sich da einzumischen“, verkündigte er anlässlich des Jubiläums zum 20. Jahrestag seiner Machtübernahme
im Januar 2006.
11.2 Der große Unbekannte – das Nachbarland Sudan
Von Kitgum aus, der nördlichsten Stadt in Acholi-Land, ist es nicht mehr
weit bis zur sudanesischen Grenze. Unweit der Stadt sind die sudanesischen
Berge sichtbar. In Kitgum zeigt das Thermometer bereits einige Grad mehr
an als in Gulu und Pader, und wenn der Wind weht, kann man die Wüste
erahnen.
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Uganda
Iris Völlnagel
Seit Mitte der 90er Jahre entwickelte sich der Südsudan für Joseph Kony
und seine Gefolgsleute zum Rückzugsraum. Von hier aus konnten die
Kämpfer der LRA immer wieder ihre Übergriffe in den ugandischen Norden
starten. Im Sudan waren sie durchaus willkommene Gäste. Dabei galt ein
einfaches Spiel: Die sudanesische Regierung in Khartum unterstützte die
Rebellen der LRA und die ugandische Regierung die der „Sudan People’s
Liberation Movement Army“. Ende der 90er Jahre gab es dann erstmals Gespräche zwischen Museveni und der Regierung in Khartum. 2001 vereinbarten die beiden Regierungen, dass sie damit aufhören wollen, die jeweiligen
Rebellenarmeen zu unterstützen. 2002 gestattete Khartum der ugandischen
Armee, ihre Militäroperationen gegen Kony auch auf ihrem Gebiet auszuüben. Dennoch bleibt die Rolle des nördlichen Nachbarlandes fraglich, meinen Beobachter. Father Francis ist jedenfalls davon überzeugt, dass die LRA
durchaus zu den Interessen der sudanesischen Regierung passt. „Die LRA
ist eine Miliz und die sudanesische Regierung braucht solche Milizgruppen, um gegen die Bevölkerung im Süden zu kämpfen. Und die LRA ist
dabei durchaus eine der effektivsten. Es scheint, als ob die sudanesische
Armee noch ein Interesse daran hat, Kony am Leben zu lassen. Es könnte
ja sein, dass sie ihn irgendwann doch noch brauchen. Denn das Friedensabkommen im Sudan ist immer noch im Umsetzungsprozess und es gibt immer noch eine Übergangsperiode von fünf Jahren, bevor das Referendum
stattfinden wird. Ich könnte mir vorstellen, dass sie noch nicht sicher sind,
ob sie den Friedensvereinbarungen wirklich trauen wollen. Für den Fall der
Fälle behalten sie die Milizen lieber, falls sie sie in Zukunft noch einmal
brauchen.“
Auch Wolfgang Hilberer ist davon überzeugt, dass die LRA nach wie vor
Unterstützer im Sudan hat, darunter könnten auch sudanesische Offiziere
sein: „Sie können ja auch die Frage stellen, wie war es möglich, dass die
LRA von den Ichthon-Bergen die 800 Kilometer bis zur kongolesischen
Grenze marschieren konnte? Wer hat sie mit Booten, die sie selbst nicht
besitzen, über den Nil gebracht? In der Vergangenheit haben sie nie den
Nil in westlicher Richtung überquert, dazu hatten sie gar nicht die Mittel.
Woher die Unterstützung kommt, woher sie Waffen bekommen, ob von der
SPLMA oder ob möglicherweise von einzelnen Offizieren – da kann man
nur spekulieren.“ Doch Spekulationen – so fügt der Acholi-Kenner fort –
gibt es rund um die LRA viele: „Sie dürfen nicht vergessen, es gibt eine
reiche Acholi-Community in Großbritannien, in Kanada, die dieser Regierung auch den Kampf angesagt haben. Man kann auch spekulieren, ob Kony
wirklich Entscheidungsträger ist, oder ob die eigentlichen Entscheidungsträger sich nicht außerhalb, auf anderen Kontinenten, befinden. Da ist die
Stammesbindung eine völlig andere...“
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Uganda
Dass die LRA im Südsudan noch Unterstützer hat, davon geht auch die
ugandische Armee aus. Dabei beobachtet das ugandische Militär die Bewegungen der Lord’s Resistance Army sehr genau. Kurz vor meiner Abreise aus Uganda Mitte Februar 2006 kommt eine Meldung, dass auch Kony
– wie bereits zuvor sein Vize Vincent Otti – in den Kongo gegangen sei. Für
Militärsprecher Chris Magezi bestätigt diese Meldung, was er sich schon
lange wünscht: dass die ugandische Armee auch von Kinshasa die Erlaubnis
bekommt, im Nachbarland agieren zu dürfen.
11.3 Vermeintlicher Retter: Der Internationale Strafgerichtshof
Im Oktober 2005 hat der Internationale Strafgerichtshof (ICC) offiziell
Anklage gegen die fünf führenden Köpfe der Lord’s Resistance Army erhoben. Falls sie gefasst werden, sollen sie vor den Internationalen Gerichtshof
gestellt werden. Die ICC handelte auf Bitte von Ugandas Präsident Museveni. Für die Geschichte des ICC ein bisher einmaliger Vorgang. Auf den
ersten Blick kann Musevenis Anfrage als außenpolitischer Erfolg gewertet
werden. Doch bei vielen Menschen in Norduganda wird die Anrufung des
Internationalen Gerichtshofs skeptisch beobachtet. Und ob dieser Schritt für
die Weiterentwicklung des Friedensprozesses dienlich ist, bezweifeln vor
allem viele Vertreter von Nichtregierungsorganisationen.
„Der ICC schaut nur auf die großen Bosse, aber wir haben noch unzählige andere Rebellen im Busch“, erklärt mir Innocent Oloyo. Als Mitarbeiterin von Radio FM (siehe oben) unterstützt Innocent den Amnestieprozess.
Doch nun kommen kaum mehr Rebellen aus dem Busch zurück. Vermutlich
haben selbst die einfachen Rebellen Angst, dass sie verhaftet werden, wenn
sie zurückkommen. „Das Problem ist, wir wissen nicht mehr, welche Botschaft jetzt im Busch verbreitet wird. Wenn die Rebellen richtig hinhören,
dann wissen sie, dass das Urteil nur den Top fünf gilt.“ Doch in aller Regel
besitzen nur die Kommandeure ein Radio und deshalb weiß Innocent nicht
genau, welche Botschaft bei den Rebellen an der Basis angekommen ist.
Auch Father Carlos ist von der Einschaltung des Internationalen Strafgerichtshofs nicht begeistert. Mehrmals stand er den ICC-Mitarbeitern bei
ihren Recherchen Rede und Antwort. Doch seine Fragen, wie der ICC sich
die Zukunft Nordugandas vorstellt, wurden nicht beachtet. „Ich denke, es
war ein bisschen naiv zu glauben, dass man sich auf die führenden Köpfe
konzentriert und dann zu denken, sobald sie gefangen sind, sei der Konflikt
gelöst. Und: wer soll sie denn verhaften?“ Zudem glauben viele Menschen,
dass der ICC zu einseitig sei, weil auch die ugandische Regierung und das
Militär Kriegsverbrechen, wie beispielsweise die Massendeportationen be378
Uganda
Iris Völlnagel
gangen habe, fährt Father Carlos fort. „Es ist nicht nachvollziehbar, warum
der ICC dem nicht nachgeht. Der ICC hat einen klaren Auftrag, Kriegsverbrechen aufzudecken und die Tatsache, dass hier so viele Menschen durch
die Regierung zwangsumgesiedelt wurden – viele von uns würden glauben,
dass das auch Kriegsverbrechen sind.“
Auch bei vielen einheimischen Nichtregierungsorganisationen hat die
Einschaltung des ICCs nur Kopfschütteln hervorgerufen. Der Zeitpunkt sei
nicht gut gewählt gewesen, sie hätten uns noch mehr Zeit für Verhandlungen
geben sollen, klagt der Sprecher der „Acholi Religious Leaders Peace Initiative“. „Als der ICC sein Kommen ankündigte, war gerade ein Friedensprozess im Gang. Doch dadurch kam er ins Stocken. Als die Haftbefehle erlassen wurden, war das das Ende der Friedensgespräche. Warum sollten die
Rebellen sich mit uns an einen Tisch setzen, wenn sie wissen, dass sie dann
verhaftet werden?“
Lediglich von Walter Ochara, der als Landrat von Gulu arbeitet, lese ich,
dass er den Schritt Musevenis befürwortet. Die LRA habe schließlich genügend Zeit gehabt, wird er in einem Zeitungsartikel zitiert.
Bisher hatte die Einschaltung des ICC vor allem einen Effekt: Kurz nach
Verlautbarung der Anzeigen kursierte eine Meldung, dass die ICC-Mitarbeiter angeblich in NGO-Autos unterwegs gewesen sein sollen und Kony deshalb künftig diese so gekennzeichneten Autos und ausländische Mitarbeiter
von Hilfsorganisationen bei Angriffen nicht mehr verschonen werde. „Wir
wissen nicht genau, ob diese Meldung tatsächlich von Kony kam oder ob es
nur ein Gerücht ist“, sagt Lucia Gunkel. Die gelernte Krankenschwester verantwortet als Feldkoordinatorin die Arbeit der Schweizer Sektion von „Ärzte
ohne Grenzen“ in Gulu. „Allerdings mussten wir sie ernst nehmen, zumal in
dieser Zeit mehrere NGO-Fahrzeuge angegriffen wurden“. Die Folge: Die
„Ärzte ohne Grenzen“- Helfer fuhren nur noch „sichere“ Wege und konnten manche Lager nicht mehr aufsuchen. „Als die Menschen gesehen haben, dass unsere Autos nicht mehr kommen, hatten sie Angst“, erzählt Lucia
Gunkel weiter. Das Militär hatte den „Ärzte ohne Grenzen“- Helfern angeboten, sie in die Lager zu begleiten. Doch ein Prinzip der Organisation ist
es, grundsätzlich ohne militärischen Begleitschutz zu fahren: „Wir sind eine
Hilfsorganisation und wollen unparteiisch arbeiten und hauptsächlich für
die Bevölkerung da sein.“
11.4 Die Rolle des Parlaments und der Regierung
Der Konflikt in Norduganda ist so alt, wie Präsident Yoweri Museveni
an der Macht ist. Alle Versuche – militärische wie nichtmilitärische – den
379
Iris Völlnagel
Uganda
Bürgerkrieg zu beenden, scheiterten. Immer wieder sagten mir Gesprächspartner – einfache Menschen wie internationale Beobachter – dass sie vom
eindeutigen Friedenswillen des Präsidenten nicht überzeugt sind. Warum?
„Museveni braucht immer einen Krieg“, erklärt mir einer meiner Gesprächspartner, der für dieses Zitat nicht genannt werden möchte. Denn solange irgendwo gekämpft wird, ist die Armee beschäftigt.
Museveni hat selbst lange im Busch gekämpft, bevor er an die Macht
kam. Selbst während des letzten Präsidentschaftswahlkampfes gab es immer
wieder Verlautbarungen, sowohl von seiner als auch von der Seite seines Herausforderers Kizza Besigye, dass sie wieder in den Busch gehen würden,
sollte die Wahl nicht ihren Erwartungen gemäß enden. Eine Haltung, die für
das westliche Regierungsverständnis nicht ganz nachvollziehbar ist!
Dabei war es immer wieder Museveni, der die Friedensgespräche von Betty Bigombe (siehe Kapitel Let’s talk – Dialog) zum Platzen brachte. Westliche Diplomaten beobachten auch, dass die ugandische Regierung gegen
Kritik zunehmend verschlossener ist. Vor allem die Menschen in Norduganda glauben, dass Präsident Museveni derjenige ist, der für ihr Schicksal verantwortlich ist.
Als die Briten den Staat Uganda gründeten, machten sie das auf dem
Reißbrett ohne sich darüber Gedanken zu machen, wie die Stämme sich
untereinander verstehen. Bis heute verstehen sich viele Ugander deshalb
nicht als eine Nation, sondern sehen vor allem ihren Stamm. Aufgrund ihrer Geschichte unterstützen die Acholis nicht das von Museveni gegründete
„Movement“-System. Folglich gibt es auch kaum Acholis in der Regierung.
„Von 60 Mandatsträgern kommt gerade mal einer von den Acholis. Dabei
sollten die Acholis 40 bis 50 solcher Leute haben. Seitdem Museveni an die
Macht kam, gab es keinen einzigen Acholi im Kabinett“, klagt Mr. Uma.
Acholis bekämen höchstens einen Staatssekretärsposten. Außerdem seien
die Acholis größtenteils Anhänger der Partei „Forum for Democratic Change“ (FDC) von Kizza Besigye, dem einstigen Leibarzt und Weggefährten
Musevenis. In Norduganda erhält seine Partei immer vergleichsweise viele
Wählerstimmen. Entsprechend groß ist die Hoffnung auf einen Regierungswechsel bei den Wahlen Ende Februar 2006. „Wenn der Rest von Uganda so
denken würde wie wir, hätten wir schon längst einen Regierungswechsel.“
Und auch im Parlament sind die Nordugander kaum vertreten. Von den
über 300 Abgeordneten kommen 15 aus dem Norden, darunter drei Frauen.
Ihr Einfluss ist gering, da sie vorwiegend der Opposition angehören. Hinzu
kommt, dass die Kandidaten für die Parteien nicht gewählt, sondern von den
Ältesten bestimmt werden.
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Uganda
Iris Völlnagel
11.5 Reagan Okumu
Reagan Okumu war 15 als Museveni an die Macht kam und der Bürgerkrieg in seiner nordugandischen Heimat begann. Seit zehn Jahren ist der
heute 36-Jährige Abgeordneter im ugandischen Parlament. Sein Anliegen
ist es, sich für die Menschen in Norduganda einzusetzen. Vor zehn Jahren,
so erinnert er sich heute, sei der Konflikt im Norden Ugandas noch nicht
einmal im Parlament thematisiert worden. Doch das spiegelt auch einen Teil
des Konfliktes wieder: Nach wie vor gibt es in Uganda eine große Kluft zwischen Nord und Süd. Dass der Konflikt in Norduganda inzwischen auch die
Geber und die internationalen Diplomaten interessiert, sieht er als Früchte
seiner Arbeit. Dennoch: Vor allem glaube ich, dass es zu spät ist, denn die
meisten der angesprochenen Länder haben uns ja erst diese Diktatur beschert. Sie haben Präsident Museveni in aller Stille unterstützt. Es gab eine
internationale Übereinkunft, stillzuhalten; und auch das Leid der Menschen
in Norduganda, das in meinen Augen Völkermord ist, haben sie ignoriert.
Das Stillschweigen ging so weit, dass die Amerikaner Präsident Museveni
als einen neuen Typus Staatslenker bezeichneten, als eine Hoffnung für Afrika – und währenddessen hat ganz Norduganda unglaublich gelitten, wurden
die Menschen in Camps isoliert.“ Trotzdem will der zweifache Familienvater weiterkämpfen. Für seine politischen Überzeugungen ist er bereit, einen
hohen Preis zu zahlen. Im vergangenen Jahr wurde er verhaftet, als er auf
dem Weg zu einer Veranstaltung war, bei der er gegen das Referendum protestierte, mit dem Präsident Museveni seine Wiederwahl sicherte. Erst kurz
vor der Wahl ist er freigelassen worden.
12. Lösungsansätze – What needs to be done
„Und was muss aus Ihrer Sicht getan werden, damit der Konflikt ein Ende
findet?” beende ich fast jedes Gespräch, wenn mich jemand fragt, warum
ich mich ausgerechnet für den Konflikt in Norduganda interessiere. Zugegeben, vielleicht ist bei der Frage immer die Hoffnung dabei, eine Antwort auf
ein scheinbar unlösbares Problem zu finden. Hier einige Antworten:
12.1 Das Hauptproblem: Reconciliation – Versöhnung
Eine Stunde lang schon unterhalte ich mich mit einem Sprecher der „Acholi Religious Leaders Peace Initiative“ über den Konflikt und was seine NGO
dazu beitragen kann. Plötzlich hält er inne: „Weißt du, was unser Hauptproblem ist? Versöhnung. Selbst wenn der Krieg und das Schießen aufhören,
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Iris Völlnagel
Uganda
dann fangen die Probleme erst wirklich an.“ Und dann zählt er sie auf: „Wohin sollen die Leute gehen, wenn sie die Camps verlassen? Wem gehört das
Land? Wer soll in welcher Form unterstützt werden?“ Aufgrund ihrer Kultur
seien die Acholis schnell dabei von Versöhnung zu sprechen, meint auch Pater Gerner. Allerdings muss an vielen Stellen zuerst auch mal Gerechtigkeit
geschaffen werden. Denn nicht immer gäben die traditionellen Bräuche eine
ausreichende Antwort. Einmal traf er im Krankenhaus eine Frau. Neben ihr
lag ein Kind, von dem sie wusste, dass es ihren Sohn erschlagen hat. „Wir
als Kirche haben eine enorme Aufgabe, die Dinge ernst zu nehmen und den
Menschen in solchen Situationen zu helfen.“
12.2 Anerkennung
„Wissen Sie, was der Unterschied ist zwischen der Aidsproblematik, die
wir in unserem Land in den vergangenen Jahren erfolgreich bekämpft haben und dem Konflikt im Norden?” Mit großen, fragenden Augen schaut
mich Lam Oryem Cosmas an. „Beim Thema Aids hat die Regierung irgendwann erkannt, dass es ein Problem gibt, das gelöst werden muss. Im Norden
war das bislang nie der Fall.“ Lam weiß, wovon er spricht. Aufgewachsen in
einem kleinen Dorf an der sudanesischen Grenze, kennt er den Konflikt von
Kindesbeinen an. Seine Eltern sind beide ums Leben gekommen. Lam hatte „ungeheuer Glück“, wie er selbst immer wieder betont. Er bekommt ein
Stipendium, studiert in Amerika Friedens- und Konfliktforschung, um nach
seinem Abschluss wieder nach Uganda zurückzukehren. Jetzt arbeitet er für
die „Justice & Peace Commission“, eine katholische NGO unter dem Dach
des Erzbischofs, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Menschenrechtsverletzungen zu ahnden und zugleich die Acholis darin auszubilden, gegen
Menschenrechtsverletzungen anzugehen. Für Lam ist klar, was passieren
sollte: „Die Regierung müsste endlich anerkennen, dass wir Hilfe brauchen.
Und dann sollten sie alles unternehmen, dass wir die Hilfe auch bekommen.
Bislang überlassen sie das vor allem den Hilfsorganisationen und ohne die,
könnten die Acholis derzeit nicht überleben.“
12.3 „Sag deinem Nachbarn, dass du ihn brauchst“ – Landesweite
Aussöhnung
In einem weiteren Schritt, so fügt Lam Oryem Cosmas hinzu, müsste es zu
einer landesweiten Versöhnung kommen. Nach wie vor werde in Uganda viel
zu sehr in Stämmen gedacht. Der Norden gegen den Süden, der Westen ge382
Uganda
Iris Völlnagel
gen die Menschen aus dem Osten. „Auch die Menschen in den anderen Landesteilen müssten begreifen, dass wir zusammengehören und bislang einen
falschen Weg gegangen sind.“ Damit steht der Konfliktforscher nicht alleine
da. Auch der Erzbischof der Anglikanischen Kirche, Livingstone MpalanyiNkoyooyo, rief zu Jahresbeginn zur Versöhnung zwischen den Stämmen auf.
„Sag deinem Nachbarn, dass du ihn brauchst!“, so seine Botschaft.
12.4 Get them their cattles back!
Es müssen nicht unbedingt echte Kühe sein, doch in irgendeiner Form sollte
Museveni den Acholis zurückgeben, was ihnen genommen wurde, meint der
Leiter der Konrad-Adenauer-Stiftung Wolfgang Hilberer. Auch Entwicklungshilfe könnte eine moderne Form von Kühen sein. Vor allem den Menschen in den IDP-Camps fehlt es an allem. Und sie haben nicht das Gefühl,
als ob die Regierung alles unternimmt, um ihre Situation zu verbessern.
12.5 Get Kony!
Father Francis muss nicht lange überlegen. Seine Antwort kommt wie
aus der Pistole geschossen. Der Priester ist überzeugt, wenn Kony überführt wäre, wäre der ganze Spuk zu Ende. Warum? Was macht ihn da so
sicher? „Je mehr ich darüber nachdenke, desto skeptischer werde ich, dass
wir durch Verhandlungen tatsächlich eine dauerhafte Lösung erreichen. Der
Krieg hört auf, wenn Kony entweder gefangen genommen oder getötet wurde. Aber das wird ohne die Zusammenarbeit und Unterstützung durch den
Sudan nicht geschehen. Unglücklicherweise verstehen die Regierenden im
Sudan nur eine Sprache: Druck. Die internationale Gemeinschaft sollte diesen Aspekt viel ernster nehmen und auf den Sudan Druck ausüben und nicht
den Lügen Glauben schenken, dass sie kooperieren.“
12.6 „Die UN muss her!“
Auch Mr. Uma muss nicht lange überlegen „Die UN muss her, die UN
muss endlich verstehen, was hier vor sich geht“. Mit der Geste eines Kindes,
das hofft, wenn es seine Wünsche nur häufig genug artikuliert, werden sie
sich schon erfüllen, wiederholt Mr. Uma seinen Wunsch und unterstreicht
ihn damit, dass er erwähnt, dass der katholische Erzbischof Odama Ende Ja383
Iris Völlnagel
Uganda
nuar zur UN-Vollversammlung nach New York reist, um über die Situation
in Norduganda zu berichten. Ein Hauch von „doch spätestens dann wird die
internationale Gemeinschaft eingreifen“ liegt in seiner Stimme. „Und was,
wenn nicht?“ frage ich nach, wohlwissend, dass ich dadurch große Hoffnungen zerstöre. „Dann müssen wir beten.“ „Wofür?“ „Beten, dass Besigye
Präsident wird.“
Die UN sollte kommen und Norduganda übernehmen. „Wenn wir in den
Händen dieser Leute bleiben, dann gehen wir alle zugrunde“, wiederholt
Mr. Uma sein Argument und fügt hinzu: „Unser Flughafen, der von Obote
gebaut wurde, ist groß genug, um unsere Produkte nach Europa zu exportieren. Wir könnten Reis, Simsim, Baumwolle etc. exportieren. Innerhalb eines
Jahres könnten die Acholis ein eigenes Land „Acholiland“ sein. Vergessen
Sie Kampala! Unser Land ist so fruchtbar. Wenn die UN übernehmen würde, ginge es uns spätestens in zehn Jahren wieder richtig gut!“
Doch Mr. Umas Hoffnungen könnten von geringer Tragweite sein. Zwar
ist die UN seit Jahren in Norduganda durch das Welternährungsprogramm,
das Kinderhilfswerk UNICEF und durch das „UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs“ (UNOCHA) vor Ort, doch dabei geht es vor
allem darum, die humanitäre Not zu lindern. Doch der Einsatz möglicher
Blauhelm-Soldaten wird derzeit von der ugandischen Regierung weder gewünscht noch erwogen. Noch während ich in Uganda bin, diskutiert der
UN-Sicherheitsrat über die Situation in Norduganda, doch ohne bislang eine
Resolution dazu verabschiedet zu haben. Doch selbst wenn es eine gäbe,
so Lars-Erik Skannsar, der als Advisor die Aktivitäten der OCHA in Norduganda koordiniert, müsse man sehen, was die UN-Resolutionen in anderen Ländern gebracht haben: Nichts! Neben der humanitären Hilfe sieht er
die Aufgabe der internationalen Gemeinschaft deshalb vor allem darin, den
Friedensprozess weiter zu überwachen.
Doch längst denken auch bei den Vereinten Nationen nicht alle wie der
Norweger. Bereits im Januar 2005 kritisierte UNICEF, dass die UNO nicht
mehr tue. Zwar habe der UN-Sicherheitsrat den Missbrauch von Kindern
als Soldaten verurteilt, er scheue aber vor konkreten Maßnahmen wie Waffenembargos, Kontensperrungen oder Reisebeschränkungen zurück, so die
Kritik. Eine Forderung, die vor allem bei einigen NGOs wie beispielsweise
der „Concerned Parents Association“ große Unterstützung findet.
12.7 „Let’s talk – Dialog“
Wenn es um das Thema Friedensgespräche geht, fällt immer wieder ein
Name: Betty Bigombe. Bereits Ende 1993 ist die Norduganderin zum ers384
Uganda
Iris Völlnagel
ten Mal in den Busch gegangen, um mit den Rebellen zu reden. Damals
war Betty Bigombe noch für Norduganda zuständige Ministerin im Kabinett von Präsident Museveni. Die Verhandlungen 1993/94 seien die erfolgreichsten gewesen, meint Wolfgang Hilberer. Allerdings sei es dann Präsident Museveni gewesen, der die Sache habe platzen lassen, in dem er den
Rebellen ankündigte: „Ich gebe euch fünf Tage, um euch zu ergeben!“ „Als
Präsident sollte Museveni eigentlich die Kultur und die Tradition der Stämme seines Landes kennen und wissen, dass die Acholis sich auf ein solches
Angebot nicht einlassen werden“, so Hilberer. Seitdem hat Bigombe immer
wieder das Gespräch gesucht. Sie gilt als die wichtigste Gesprächspartnerin und wird auch von den Rebellen der „Lord’s Resistance Army“ als solche akzeptiert.
Auch in den letzten Jahren hat es wieder vermehrt Gespräche gegeben.
Seit 2001 stehen auch Vertreter der „Acholi Religious Leaders Peace Initiative“ in regelmäßigem Telefonkontakt mit den Rebellen. Betty Bigombe
führte ihre letzten Erfolg versprechenden Gespräche im Herbst 2004. Für
fast drei Monate, so erinnert sich Wolfgang Hilberer, sei es zu einem kompletten Waffenstillstand in einem bestimmten Gebiet gekommen. „Es gab
ein hohes Maß an Sicherheit und die Hoffnung, eine vertrauensbildende Basis mit den Rebellen aufbauen zu können.“ Gelegentlich sei es zu einzelnen
Übergriffen gekommen, die dann sofort als LRA-Überfälle verbucht worden
seien, wobei man gar nicht zweifelsfrei sagen könne, dass das so gewesen
sei. Das hätten auch ganz normale kriminelle Akte gewesen sein können.
Wolfgang Hilberer gehörte damals – wie auch Father Carlos zu den internationalen Beobachtern. Ohne internationale Beobachter sei die LRA nicht
zu Gesprächen mit der ugandischen Regierung bereit gewesen. „Wir waren
alle zuversichtlich, dass der Konflikt beendet werden kann.“ Zugleich sei
das Gespräch aber auch von dem tiefen Misstrauen der Rebellen gegenüber
der Regierung geprägt gewesen. Immer wieder kam das Argument, Museveni hat uns schon so oft betrogen, warum sollten wir ihm diesmal glauben?
„Doch dann hatte Museveni wieder eine Übergabe gefordert. Der Verhandlungsführer der LRA, Sam Kolo hat die Fronten gewechselt und ist nach
Hause gekommen. Damit war auch der Dialog abgeschnitten“.
Die Friedensgespräche hätten durchaus kleine Erfolge gehabt, meint auch
Father Carlos. Einige der LRA-Kommandeure hätten schließlich so viel Vertrauen entwickelt und seien aus dem Busch gekommen. Allerdings, so fügt
der Spanier hinzu, muss man auch sehen, dass sie nie mit den Top-Spitzen
gesprochen haben.
Nun gälte es, den Dialog wieder aufzunehmen und fortzuführen, meint
Lars-Erik Skannsar. Solange Gespräche stattfinden, bedeutet es, dass die
Parteien nicht das Interesse aneinander verloren haben und deshalb seien
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Iris Völlnagel
Uganda
Gespräche die beste Grundlage, dass doch irgendwann wieder Friedensverhandlungen aufgenommen werden. Wolfgang Hilberer denkt ähnlich: „Im
Prinzip sollte die Doppelstrategie der Regierung beibehalten werden: Einerseits militärischen Druck ausüben und gleichzeitig die Verhandlungsoption
beibehalten.“
12.8 Let’s pray!
Afrikaner haben eine andere Art zu leben und die Wirklichkeit wahrzunehmen. Dazu zählt auch, dass für viele von ihnen der Glaube an Geister
und Mächte oder die Existenz von ihnen zum Leben dazugehört. So spielt
auch der Glaube an Gott eine große Rolle. Mehrfach sind mir Menschen
begegnet, die zutiefst davon überzeugt sind, dass, wenn es eine böse Macht
mit so großem Einfluß wie die „Lord Resistance Armee“ gibt, dass es dann
auch eine gute Macht geben muss, die helfen kann, die böse Macht zu besiegen. Experito Bulamy ist einer davon. Der Pastor einer charismatischen
Freikirche glaubt genau zu wissen, warum Joseph Kony so viel Einfluss
hat. Kony, davon ist er überzeugt, steht in Verbindung mit dämonischen
Kräften. Wenn die Kinder von den Rebellen entführt werden, müssen sie
Initiationsriten durchlaufen. Dadurch werden sie gefügig gemacht. Am Anfang habe Kony zwar den Segen der religiösen Führer gehabt, doch mit der
christlichen Religion habe sein Verhalten nichts zu tun. Vielmehr stünde
Kony eng in Verbindung mit dämonischen Kräften. Auch er möchte seinen
Beitrag für die Beilegung des Bürgerkriegs leisten. In den 90er Jahren gab
Pastor Experito seinen Job in Kampala auf, um nach Gulu ziehen. „Im Auftrag Gottes“, wie er sagt. Im März 2003 ging er mit einer Gruppe Gleichgesinnter zu einem Platz namens „Eniklark“, der Einheimischen seit Jahrhunderten als „dämonischer Ort“ bekannt ist. Auch Kony soll diesen Ort
schon mehrfach besucht haben. Doch Experito ging hin, um dort zu beten.
„Als wir ankamen, erzählten uns die Soldaten, dass sie Tiere gesehen hätten, die das Wasser des Flusses getrunken hatten und daraufhin tot umgefallen waren“. Nach dem Gebet trank Experito etwas von dem Wasser. Es
schmeckte noch bitter. Also betete er nochmals. Daraufhin sei das Wasser
so gut geworden, dass sie es hätten trinken können. Bis heute ist das Wasser
gut geblieben. „Also waren Dämonen in diesem Wasser“, ist der gläubige
Christ überzeugt.
Experito ist von seiner Methode zur Kriegsbekämpfung überzeugt. „Nach
unserem Gebet ergaben sich viele Kommandeure der Rebellen und von
Kony wird erzählt, dass er seine Kraft verloren habe. Noch ist Kony aktiv,
aber nicht mehr lange“, ist Experito zuversichtlich. Denn die Kirche habe
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Uganda
Iris Völlnagel
angefangen zu beten und Gott würde schließlich Gebete erhören. Selbst
wenn Kony nicht gefasst wird, würde er doch irgendwie von der Bildfläche
verschwinden.
13. Was nun – oder warum schweigt der Westen???
„Warum hat der Westen so lange geschwiegen?“ fragt sich Pater Josef
Gerner, der seit zehn Jahren in Kitgum arbeitet, immer wieder. In dieser Zeit
hat er viel miterlebt: die Verschleppung zahlreicher Kinder, den Kampf gegen die Zwangsumsiedelung in die Camps, unzählige Tote und Verletzte. 13
Mitbrüder der rund 100 Mitglieder zählenden Gemeinschaft sind umgekommen. Gerner selbst ging jeden Morgen in dem Bewusstsein aus dem Haus,
dass es sein letzter Tag sein könnte. „In den zehn Jahren hat Deutschland sich
sehr schweigsam verhalten“, meint der Pater. Andere Länder wie Holland
oder Großbritannien hätten klarer gesagt, dass sie zwar die Menschen im
Norden, aber nicht die Politik von Präsident Museveni unterstützen wollen.
Über die Hälfte des ugandischen Staatshaushalts wird von internationalen
Entwicklungsgeldern finanziert. Die ehemalige Kolonialmacht Großbritannien, die Weltbank, Norwegen, Schweden, Dänemark und auch Deutschland gehören zu den Geldgebern. Im vergangenen Sommer haben Irland und
Norwegen als erste Länder ihre Zuzahlungen für den ugandischen Haushalt
gekürzt. Eine Entscheidung, die sich die Länder gut überlegt haben, meint
die norwegische Botschafterin Bjorg S. Leite: „Wir haben gesehen, dass es
einige sehr negative Entwicklungen im Demokratisierungsprozess gab, was
die Behandlung von Menschenrechten und auch was den Willen zur Korruptionsbekämpfung angeht. Das waren hauptsächlich die Gründe für die
Kürzungen. Wir hatten uns das vorher eine Zeit lang angesehen. Wir haben
eine partnerschaftliche Beziehung mit Uganda, aber dazu müssen beide Seiten etwas beitragen.“ In den meisten Fällen ist das Geld nicht weg, sondern
soll direkt der humanitären Hilfe in Norduganda zugute kommen. Die Haushaltsmittel zu kürzen, sei trotzdem unfair, betont Onapito Ekomoleit, Sprecher von Präsident Museveni, immer wieder. Zumal auch die damit verbundene Kritik nicht nachvollziehbar sei: Ein Problem der Kürzungen ist, dass
sie einfach unnötig und unfair waren, weil die Argumente so nicht stimmten.
Zum Beispiel waren die Geber mit dem politischen Veränderungsprozess
nicht einverstanden. Aber der lief ziemlich transparent: Zuerst sagten sie
uns, wir müssten mehrere Parteien zulassen. Dafür haben sich die Ugander
per Referendum entschieden. Damit hätte die Debatte beendet sein müssen.
Und jetzt haben wir sogar Wahlen. Die Regierung hat also alle ihre Argumente entkräftet.“
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Uganda
13.1 Andrew M. Mwenda – Kritiker ohne Lobby
Doch längst sind in Uganda nicht alle dieser Meinung. Die Kürzungen
gehen nicht weit genug, glaubt Andrew M. Mwenda. Der 35-jährige Journalist und Radiotalkmaster ist international ein gern gesehener Gast, wenn
es um kritische Töne geht. In seinem Heimatland musste er für seine kritischen Töne auch schon ins Gefängnis. Im vergangenen Jahr reiste er auf
Einladung des britischen Premierministers Tony Blair nach England. Seine Botschaft: Ohne Entwicklungshilfe ginge es den afrikanischen Staaten
– auch Uganda – wesentlich besser. Denn die Entwicklungshilfe halte die
Regierungen davon ab, selbst Verantwortung für die Bevölkerung zu übernehmen. „Angenommen, man kürzt Ihren Monatsverdienst von 10.000 Euro
um 1.000 Euro – dann haben Sie immer noch 9.000 Euro. Wird sich dadurch
irgendetwas an ihrem Verhalten ändern? Das Problem ist, die afrikanischen
Staaten müssen sich kaum um eigene Einnahmen bemühen, weil es so nette
Leute in Europa gibt, die sagen: Bitte tut nichts, bleibt zu Hause und wartet, bis wir kommen und euch Geld geben! Wissen Sie, was im Moment passiert? Durch die Kürzungen der Geberländer ist Ugandas Abhängigkeit von
53 auf 40 Prozent zurückgegangen. Ich sage Ihnen, wenn die Geber Museveni mehr unter Druck gesetzt hätten, hätte er die Steuern erhöht.
Inzwischen sind Andrew M. Mwendas Ansichten auch in allen großen
deutschen Tageszeitungen (Der Spiegel, Die Welt und Die Süddeutsche) publiziert worden. Der Journalist konnte sich damit ein gutes Zubrot verdienen, mit dem er die Schulbildung seiner Neffen und Nichten finanziert. Ändern wird sich dadurch vermutlich nichts.
13.2 Hat die internationale Gemeinschaft geschlafen?
Hat die internationale Gemeinschaft geschlafen? Oder vielleicht sogar bewusst weg gesehen? Sigurd Illing, seit 2001 Botschafter bei der Europäischen Union in Kampala, meint: ja! Als Präsident Museveni Mitte 1986 an
die Macht kam und es ihm gelang, das bürgerkriegsgeschüttelte Land wirtschaftlich zu stabilisieren, habe man sich international ausschließlich dafür
interessiert. „Uganda war lange Zeit das Land in Afrika, das man präsentieren konnte, um zu zeigen, dass die Dinge nicht wirklich so schlecht stehen,
und zum zweiten, dass die Hilfe, die wir leisten, auch Auswirkungen hat.
Das Negative daran war, dass man sich so darauf konzentriert hatte zu sehen, was alles gut lief, dass man das Element, das gar nicht gut lief, nämlich
der Konflikt im Norden, einfach nicht beachtet hat.“
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13.3 Deutsche Entwicklungshilfe
Auch in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit zählt Uganda zu den
Schwerpunktpartnerländern. 2004 hat Deutschland Uganda über 45,2 Millionen Euro an Entwicklungshilfe für die nächsten drei Jahre zugesagt. Vier
Millionen davon sind als so genannte Budgethilfe vorgesehen, also Geld das
direkt in den ugandischen Haushalt fließt. Verglichen mit anderen Geberländern wie beispielsweise Großbritannien oder Norwegen ist das anteilsmäßig
sehr wenig. Zugleich hat Deutschland mit Uganda drei Schwerpunkte in der
Entwicklungszusammenarbeit vereinbart: Unterstützung in der städtischen
Wasser- und Abwasserversorgung, Förderung der Berufsbildung und drittens die Entwicklung und Förderung des Finanzsektors.
Erst Mitte Januar entschied Deutschland – nachdem auch die Weltbank
ihre Zusagen für Uganda gekürzt hatte – die Budgethilfe um zehn Prozent
zu kürzen. Allerdings nicht aufgrund von Demokratiedefiziten, betont Dr.
Annette Windmeisser vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Mangelnde Demokratie als Grund anzuführen
halte sie für überzogen und im Vergleich mit anderen afrikanischen Staaten
für nicht angemessen. Stattdessen kritisiert sie den Umgang der Ugander
mit ihren Staatsgeldern: „Die Ugander haben ihren Haushalt um zwölf Prozent überzogen – das heißt, es wurde schlicht zuviel ausgegeben. Das wäre
an für sich gar nicht so das Drama gewesen, das kommt auch in anderen
Ländern vor. Das Problem ist, wofür das Geld ausgegeben wurde. Und das
sind hauptsächlich Interventionen der Staatskanzlei, das heißt unmittelbare
präsidentielle Interventionen in den Haushalt und das häufig natürlich in
Vorbereitungen der Wahlen, um irgendwelche Wahlversprechen im Voraus
zu erfüllen. Und für uns war das der Hauptgrund, warum wir gekürzt haben. Und wir haben nicht so wie die anderen Geber offiziell aus politischen
Gründen gekürzt.“
Noch ist nicht entschieden, was mit dem eingesparten Geld passieren soll,
ob es – wie bei anderen Ländern – den Menschen in Norduganda zugute
kommen soll – oder ob es in den Aufbau der städtischen Wasserversorgung
fließt. Verglichen mit anderen Ländern hat Deutschland bislang nur wenig
Geld unmittelbar in den ugandischen Haushalt einbezahlt. Das meiste Geld
ging direkt in entwicklungspolitische Projekte. Doch, das soll sich ändern:
„Die Frage, Budgethilfe zu geben, ist eine grundsatzpolitische Entscheidung gewesen vom Ministerium, die vor einigen Jahren getroffen wurde.
Uganda ist mit das erste Land, das von Deutschland Budgethilfe bekommen
hat. Und mittlerweile sind es sehr viel mehr Länder geworden. Wir werden
das Instrument auch ausdehnen, und ich glaube, der Nutzen des Instruments
kann teilweise sehr viel höher sein als traditionelle Projekthilfe.“
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Geringere Kosten und größeres Mitspracherecht bei der Aufstellung des
Haushalts – das erhoffen sich die Entwicklungsexperten durch die Umschichtung. Budgethilfe als politisches Instrument, im Fachjargon auch
„Basketfunding“ genannt – Michael Winklmaier, Leiter des Büros des Deutschen Entwicklungsdienstes in Kampala ist skeptisch: „In den letzten Jahren
hat man eher dazu geneigt, das Modell des Basketfunding auszuprobieren.
Quasi die Kurzversion ist, wenn man oben viel Geld reinschüttet, kommt
unten zumindest was dabei raus. Mittlerweile zeigt die Erfahrung, dass das
auch nicht so funktioniert. Und interessanterweise wird momentan quasi
eine Gegenbewegung lanciert, wo man sagt, also, vielleicht doch nicht so
viel Basketfunding und mehr Projektorientierung. Und das Interessante ist,
das kommt von den Ugandern selbst.“
Präsidentensprecher Onapito Ekomoleit findet die Diskussion überflüssig. Letztlich ginge es doch darum, armen Menschen helfen zu wollen und
nicht Regierungen zu bestrafen: „Wenn da tatsächlich irgendwo zuviel Geld
ausgegeben worden sein sollte – ich bin mir sicher, die Regierung hätte das
erklären können. Und die Deutschen sollten auch wissen, dass viel von diesem Geld den einfachen armen Ugandern zugute kommt. Viel Geld aus der
Budgethilfe fließt in die Bereiche Bildung, Gesundheit, Wasser und nach
Norduganda. Und diese Menschen brauchen wirklich Hilfe. Die Deutschen
sollten das anerkennen. Die politischen Ereignisse hier in Kampala sind
nicht so wichtig für die einfachen Leute, denen geholfen werden soll. Ich
sehe keine Gründe, das Geld zu kürzen.“
14. Abschließend – Persönliche Beobachtungen
Zuerst einmal: Ich bin sehr froh über die Erfahrungen, die ich machen durfte: Ursprünglich wollte ich nach Uganda reisen, um mehr über die Situation der
Kindersoldaten zu erfahren. Dass dies nicht mehr das einzige Thema ist, wurde mir vor Ort schnell klar. Das, was die entführten Kinder im Busch erleben
mussten und zum Teil immer noch müssen ist schrecklich. Dank der internationalen Berichterstattung wird das Thema immerhin wahrgenommen. Weit weniger bekannt – vielleicht auch, weil es weniger „sexy“ ist – ist, dass in Norduganda fast 1,8 Millionen Menschen in Lagern leben. Nicht, weil sie auf der Flucht
sind, sondern weil sie aus Sicherheitsgründen aus ihren meist nur wenige Kilometer entfernten Dörfern vertrieben wurde. Die Not dieser Menschen ist nach
wie vor riesengroß und welche Auswirkungen dies für die Zukunft der Acholis
und auch für die Zukunft Ugandas als Land haben wird ist, ist nicht absehbar.
In den sechs Wochen meines Aufenthaltes habe ich versucht, dem Thema
auf den Grund zu gehen.
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Verglichen mit dem Arbeitsalltag in Deutschland war das sehr viel Zeit,
um in ein Thema einzutauchen. Dennoch konnte ich an manchen Stellen nur
einen Ausschnitt wahrnehmen. Insbesondere dann, wenn es um die Wahrnehmung der Mentalität der Acholis und der afrikanischen Kultur geht. Dass
in Afrika viel und gern erzählt wird, war mir bekannt. Doch was es heißt,
in einem Land zu sein, wo Fiktion und Fakten manchmal nicht so leicht zu
trennen sind, ist mir mehrfach ziemlich deutlich geworden. Die Landfrage
ist ein Beispiel dafür.
Manchmal habe ich mich gefragt, warum es in Norduganda nicht mehr
Menschen gibt, die, wie beispielsweise Schwester Rachele von der AbokeSchule, Zivilcourage zeigen und aktiv gegen die Rebellen vorgehen? Vielleicht haben wir in Europa eine andere Art mit Konflikten umzugehen, indem wir gelernt haben, Situationen nicht einfach nur zu akzeptieren, wie sie
sind, sondern uns zu wehren. Doch Europa ist nicht Afrika. Die Mentalität
mag eine andere sein. Zugleich ist zu beobachten, dass in Norduganda inzwischen so viele Menschen zu Opfern geworden sind und keine Kraft mehr
haben, sich selbst zu helfen. Natürlich ist da die Angst vor den Rebellen, vor
den Soldaten der Armee, vor Kony, vor Museveni, etc. Doch zugleich musste ich lernen, dass es einen Punkt gibt, wo Menschen in ihrer Verzweiflung
keine Kraft mehr haben, für sich selbst zu sorgen und bereit sind, sich selbst
aufzugeben. In Norduganda sind inzwischen leider sehr viele Menschen an
diesem Punkt angekommen. Nichts desto trotz gibt es Menschen, die ihre
ganze Lebensenergie verwenden, um die Situation in Norduganda zu verbessern. Die Mitarbeiter diverser Hilfsorganisationen gehören ebenso dazu,
wie einige Diplomaten, die immer wieder auch auf diplomatischer und politischer Ebene auf den Konflikt hinweisen.
Spannend war für mich deshalb auch zu sehen, wie vielschichtig so ein
Konflikt ist und welche Möglichkeiten und Grenzen es gibt, durch Entwicklungszusammenarbeit Einfluss zu nehmen. Zahlreiche Gespräche mit Angehörigen der deutschen Botschaft und mit den diplomatischen Vertretungen
anderer Länder sowie Mitarbeitern ugandischer Behörden und der Weltbank
haben mir Einblick in dieses spannende und nicht immer ganz einfache Gebiet gegeben. Abgerundet wurde dies durch meinen Aufenthalt im DED-Gästehaus, wo mir zahlreiche Mitarbeiter meine zahlreichen Fragen geduldig
beantworteten.
Last but noch least: In mindestens einem Punkt hat mich der Aufenthalt
verändert: Wenn ich früher in Deutschland jemanden aus Afrika sah, dann
hab ich ihn vielleicht wahrgenommen, manchmal auch mit etwas Scheu vor
dem Fremden. Inzwischen geht es mir so, dass ich mich über jedes dunkelhäutige Gesicht auf unseren Strassen freue, weil mich die Menschen daran
erinnern, dass es diesen wundervollen Kontinent gibt.
391
Iris Völlnagel
Uganda
Dieser Bericht stellt den Stand der Dinge im Februar 2006 dar. Kurz nach
meiner Rückkehr wurde Präsident Museveni wiedergewählt. Die Hoffnung
der Menschen, dass der Konflikt durch einen Machtwechsel beendet werden
könnte, ist dadurch für die nächsten Jahre vom Tisch. Der Friedenswunsch
ist geblieben, die menschenverachtende Lebenssituation leider auch. Bis der
Leser das Jahrbuch der Heinz-Kühn-Stiftung in Händen hält, mag sich daran wahrscheinlich nicht viel geändert haben. Mein größter Wunsch wäre,
dass bis dahin der Konflikt Geschichte ist. Doch damit ist – auch wenn Präsident Museveni es anders verspricht – leider kaum zu rechnen. Dennoch
hoffe ich, dass meine Recherchen und vor allem die daraus entstandenen
Berichte helfen, dass weniger Kinder getötet, mehr Menschen im Acholiland eine Lebensperspektive für sich entwickeln können und Uganda letztlich Frieden findet.
Ich möchte diesen Bericht nicht ohne ein Wort des Dankes abschließen.
Mein Dank gilt an erster Stelle der Heinz-Kühn-Stiftung und insbesondere
Frau Ute Maria Kilian. Ich habe mich über die Unterstützung und über das
in mich gesetzte Vertrauen, mich in diesen Teil der Welt zu schicken, sehr
gefreut.
Mein weiterer Dank gilt meinen vielen Gesprächspartnern, Experten,
Expats, Einheimischen, Diplomaten, Entwicklungshelfern, ehemaligen
Kindersoldaten und den Menschen in Norduganda, die meine zahlreichen
Fragen liebevoll beantwortet und mich in meinen Recherchen unterstützt
haben. Besonders zu nennen sind: Michael Winklmaier, Direktor des Deutschen Entwicklungsdienstes für seine Gastfreundschaft; den Mitarbeitern
der Caritas in Gulu, Pader und Kitgum, die mir manche Tür geöffnet haben, insbesondere John Bosco von Caritas Gulu, der sofort bereit war, mich
ins Krisengebiet mitzunehmen; den Mitarbeitern von UNICEF sowie der
„Kindernothilfe“ und ihren ugandischen Partnerorganisationen; den Mitarbeitern der Deutschen Botschaft in Kampala, Frau Dagmar Wiltberger und
Dr. Annette Windmeisser sowie den Vertretern anderer Botschaften, insbesondere der norwegischen Botschafterin Bjorg S. Leite, dem EU-Vertreter
Sigurd Illing sowie dem Experten der Weltbank, Young Chul Kim.
Für liebe Aufnahme und interessante Einsichten in ein spannendes Thema
danke ich Wolfgang Hilberer, dem Leiter der Konrad-Adenauer-Stiftung;
Ann Lorschiedter; Thomas Haarlacher; Pater Josef Gerner; Father Carlos
Rodriquez; Bruder Michael; Leon und seiner Familie; Pastor Experito Bulamy; Paul Achama und seiner Familie; Mr. Uma und Jolie Okolet; den ehemaligen Kindersoldaten in Pajule, Kitgum und Gulu; Pedro Amolat vom
UN-Welternährungsprogramm; Lars Erik Skaansar von UNOCHA; den
Sprechern der ugandischen Armee und der ugandischen Regierung; dem
Abgeordneten Okumu Ronald Reagan und den anderen Mitarbeitern des
392
Uganda
Iris Völlnagel
„Forums for Democratic Change“; den Mitarbeitern verschiedener Hilfsund Nichtregierungsorganisationen darunter Lucia Gunkel, Okello Godfrey
und Angelina Atyam, Lam Oryem Cosmas sowie Bischof Ochola und nicht
zuletzt meinen Kollegen Charuma, Andrew M. Mwenda und Innocent Aloyo
sowie allen nicht namentlich Genannten.
Viele hilfreiche, praktische Tipps und Unterstützung bekam ich von: Jessie Bohr, Entwicklungshelferin des DED; Gladys und Samuel Kuch; den
ehemaligen Entwicklungshelfern Björn Esers und Karin Koppitz; den Expatfrauen Susanne und Gisela, Anne Hecker sowie Rudolph Decker, MdL
a.D. Nicht zuletzt möchte ich meinem Freund Lorenz Bührmann für seine
vielfältige Unterstützung und praktische Hilfe danken. And last but not least
– thank to God, the Almighty, who created Africa! That was a great idea!!!
393
Jutta Wasserrab
aus Deutschland
Stipendien-Aufenthalt in
Brasilien
vom 08. Februar bis 09. Mai 2006
395
Brasilien
Jutta Wasserrab
„Zwischen Gitarre und Mandoline
tut mein Herz schwanken“
– deutsch-brasilianische Migrantengeschichten
Von Jutta Wasserrab
Brasilien, vom 08. Februar bis 09. Mai 2006
397
Brasilien
Jutta Wasserrab
Inhalt
1. Zur Person
402
2. Sieben Seiten Vergangenheit
402
3. In „Pommern“ sterben die Leut
402
4. Im Weg
403
5. Mit Gulasch ins Wirtschaftswunder
404
6. Pannonien liegt in Südbrasilien
405
7. Böhmische Dörfer
406
8. „So denk ich an Dich!“
407
9. Um zehn Grad
409
10. „Ick mut uppasse!“
411
11. Meine Erben sollt ihr sein
413
12. Stück für Stück enterbt
414
13. Mähr vom leeren Land
415
14. „De hatte ja keen Wert mehr“
416
15. Sprachlos
418
16. Mathe, Sachkunde, Hunsrückisch
420
17. Erinnerung auf Tellern und in Krepppapier
421
18. Trotz 8.700 Hektar landlos
423
19. Der Doktor schaut jetzt öfter vorbei
424
399
Brasilien
Jutta Wasserrab
20. Vermischen, der Gesundheit zuliebe
426
21. „Halbschwarze und so etwas“
429
22. Landlos in Österreich
430
23. Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder…
431
24. Mutter stirbt auf Seite drei
433
25. Warten auf die Deutschländer
435
26. Danke
435
401
Jutta Wasserrab
Brasilien
1. Zur Person
Jutta Wasserrab, geboren wahlweise im deutschen Sommer oder brasilianischen Winter 1972, studierte Regionalwissenschaften Lateinamerika. In
Brasilien war sie schon oft. Den Süden hat sie aus Angst vor Deutschtümelei lange gemieden. Jetzt war sie dort und hat sich vom sympathischen
Durcheinander überzeugen lassen. Als Freie arbeitet sie für die Deutsche
Welle und andere Medien. Sie lebt in Köln, liebäugelt mit Berlin und ist ein
Deutschländer. Mit einer Schwäche für Bockwürste oder fürs Vaterland hat
dies allerdings nichts zu tun.
2. Sieben Seiten Vergangenheit
In Diva Hillebrands Puzzle fehlen viele Teile. Genau genommen hat sie
nur sieben Briefe, einen Auszug aus dem Kirchenbuch und eine Meldebescheinigung ihres Ururgroßvaters, außerdem zwei DIN-A6-Seiten mit ein
paar Bleistiftnotizen ihres Urgroßvaters. Zusammengenommen ist das nicht
viel, um eine abhanden gekommene Familie zu finden. Großmutter Maria
Lütke, geborene Jahnel, hätte vielleicht Puzzleteile einfügen können, aber
als sie noch lebte, war für Diva die Zukunft wichtiger als die Vergangenheit. Jetzt ist Diva 59, sie hat geheiratet, die elterliche Wohnung verlassen,
ihren Hugo großgezogen und den kleinen Bauernhof an ihn abgegeben. Sie
hat in die Zukunft gelebt, jetzt will sie die Vergangenheit verstehen, aber
nun scheint es dafür fast zu spät. Großmutter ist tot. Sie liegt auf dem Friedhof rechts hinter dem kleinen Hügel, der das Dorf Linha Imperial im südbrasilianischen Staat Rio Grande do Sul vom Nachbardorf Nove Colônias
abgrenzt. Maria Lütkes Grab liegt keine fünf Minuten von Divas Haus entfernt. Die erdige Straße, die vor der eisernen Gartentür der Enkelin vorbeiläuft, führt über den Hügel direkt zum Friedhof.
3. In „Pommern“ sterben die Leut
„Wenn nach zwei Wochen die Familie zu Besuch kam“, sagt Lindolfo
Runge, „war der Patient oft schon tot und unter die Erde gebracht.“ Regelmäßig sei das vorgekommen, erst seit zwanzig, dreißig Jahren habe sich
daran etwas geändert. Genau genommen änderte sich etwas, nachdem die
evangelische Kirche 1981 die Martin-Luther-Herberge gegründet hatte in
Vitória, der Hauptstadt Espírito Santos. Der 29-jährige Sozialhelfer Lindolfo Runge holt die Patienten am Busbahnhof ab, wenn sie völlig orientie402
Brasilien
Jutta Wasserrab
rungslos in der Stadt mit ihren 300.000 Einwohnern ankommen. Er fährt sie
zum Arzt oder verhandelt mit der Verwaltung der Krebsklinik Santa Rita, sowie es darum geht, schnellstmöglich einen Behandlungstermin zu ergattern.
Und Lindolfo Runge informiert die Verwandten – seitdem sterben die pommerschen Bauern aus dem Hinterland nicht mehr allein.
Helmut Eggert ist seit zwei Nächten in der Herberge. Die 81 Kilometer
zwischen Baixo Guandu im westlichen Espírito Santo und der Landeshauptstadt Vitória hat er alleine mit dem Bus zurückgelegt. Er trägt eine grob gewebte Wollhose, die für die tropischen Temperaturen eigentlich viel zu heiß
ist. In einem der dunklen Herbergszimmer hat er auf eines der Stockbetten
seine blaue Tasche gestellt. Sie ist schon seit Stunden gepackt. Den Reißverschluss hat Helmut noch offen gelassen, oben durch die Taschenöffnung
lugt ein helles Handtuch. Dreizehn Jahre war Helmut Eggert gesund. Ende
letzten Jahres entdeckte er eines Morgens einen kleinen verfärbten Punkt,
dicht am inneren Winkel seines linken Auges. Vor zwei Monaten wuchs der
kleine Fleck zur großen, offenen Wunde aus. Der Krebs hat ihm mittlerweile
den Augapfel zerfressen, das untere Augenlid ist nach außen geklappt. Auf
dem linken Auge ist Helmut blind. Seit zwei Monaten kommt der 66-Jährige kaum noch aus dem Bett. Die Sonne brennt, der Wind treibt ihm den
Staub in die entzündete Wunde. Immer wieder nimmt der hagere Mann sein
Stofftaschentuch, das er zweimal über die Ecke gelegt hat, schiebt mit dem
Zeigefinger-Rücken seine Brille leicht nach oben und tupft mit der anderen Hand am unteren Lidrand vorsichtig Wundwasser und Eiter ab. In einer
Stunde wird er seine Tasche nehmen und ins Krankenhaus gehen – kurz darauf auf dem OP-Tisch liegen. In der Spezialklinik für Krebspatienten werden die Ärzte versuchen, das Beste aus seinem Auge zu machen.
4. Im Weg
Er hat den Schuss nicht gehört, der dumpfe Schlag im Rücken traf ihn
deshalb ohne Vorwarnung. Danach haben sie Domingos Guimarães’ Widerstand fürs Erste gebrochen. Er hat sein Häuschen und seine Felder verlassen,
die zu den Weiden mit dem klingenden Namen „Paiol de Telha“ gehörten. Er
ging weg aus Guarapuava im südbrasilianischen Paraná und zog nach São
Paulo. Seit 31 Jahren steckt das Projektil in seiner Wirbelsäule fest. Am 26.
Oktober 1999 hat Domingos Guimarães es zum ersten Mal nicht nur spüren, sondern auch sehen können. Als der Arzt ihm das Röntgenbild zeigt,
kann er die Kapsel eindeutig erkennen. Seitdem hat er die Gewissheit, dass
sie auf ihn geschossen haben. 24 Jahre erträgt er die Schmerzen in seinem
Rücken und seinen Armen, geht nicht zum Arzt. Welchen Schluss hätte ein
403
Jutta Wasserrab
Brasilien
Arzt auch ziehen sollen, wenn ein Schwarzer mit einer Kugel im Rücken zu
ihm gekommen wäre? „Meine Frau hat mich gerettet“, sagt Domingos Guimarães und dreht verlegen seine weiße Schildkappe zwischen seinen hageren Händen, „wäre ich zum Arzt gegangen, hätte der das sofort dem Polizeikommissar gemeldet, und vor dem hatten wir doch eine Heidenangst.“
Wer hätte ihm, Domingos, Nachkomme befreiter Negersklaven, seine Geschichte abgekauft, wie sie sich damals im Jahr 1975 zugetragen hat? Man
hätte nicht ihm, sondern dem Polizeikommissar geglaubt, der angeblich mit
den eingewanderten Donauschwaben paktiert, die Anfang Juni 1951 nach
Brasilien kamen und sich in Entre Rios niederließen, eine halbe Autostunde
von den Weiden der „Paiol de Telha“ entfernt.
5. Mit Gulasch ins Wirtschaftswunder
„Als die ersten Donauschwaben hierher kamen, gab es kein Wasser. Viele
Kinder sind deshalb gestorben, fast jeder von uns hat ein bis zwei Todesfälle in seiner Familie.“ Lore Schneiders spricht Hochdeutsch, wenn man sie
auffordert, wechselt sie aber ohne Schwierigkeiten ins Donauschwäbische
und sagt dann Dinge wie: “Am Ofang war’s stark schwer, awer sie händ sich
fescht voagnumma, nimma fot s’gea, wenn sie in a Land kumma, wo Frieda is.“ Sie ist die Chefin der Kulturstiftung der Donauschwaben in Entre
Rios, 45 Jahre alt, Kind der ersten Einwanderer-Generation. Die Stiftung
gehört der Landwirtschafts-Kooperative der Donauschwaben, der „Cooperativa Agrária Mista Entre Rios Ltda.“. Ihr gehört so gut wie alles in der Region: der Radiosender, das Immigranten-Museum, die guten Privatschulen,
die industrielle Getreidemühle, die zweitgrößte Mälzerei des Landes, eine
Pflanzenöl- und Futtermittel-Fabrik, eine Blumen- und Samenzucht sowie
viel Land. 2.400 Hektar Wald und 160.000 Hektar Ackerland hat die Kooperative für ihre aktiven Mitglieder zusammengekauft. Der Parkplatz vor dem
Verwaltungsgebäude der Kooperative steht voll mit modernen Geländewagen, schicken Limousinen und wendigen Stadtautos. Keines dieser Autos ist
ernsthaft in die Jahre gekommen. Es ist ein kleines „deutsches“ Wirtschaftswunder, das sich da im nördlichsten Staat Südbrasiliens die letzten 55 Jahre
abgespielt hat.
Vom Juni 1951 bis zum darauf folgenden Februar landeten sieben Schiffe
mit Donauschwaben in der Hafenstadt Santos im Bundesstaat São Paulo an.
In mehreren Fuhren verstauten 2.500 Menschen ihr Gepäck in 42 Zugwaggons, um es jedes Mal im kleinen Nest Góes Artigas in Paraná wieder auszuladen, denn dort endete die Gleisstrecke. 3.643 Kisten sollen es gewesen
sein, 751 Fahrräder, 11 Motorräder und drei Traktoren. Von Góes Artigas
404
Brasilien
Jutta Wasserrab
aus brachten Lastwagen die Habseligkeiten der Donauschwaben zum Ziel
Entre Rios. Und während in den Dörfern rings um Entre Rios Reis und Bohnen auf den Mittagstisch kamen, aßen die Donauschwaben vor allem Kartoffeln, Gulasch und Brot. Kaum eine deutsche Einwanderergruppe war so
erfolgreich wie die 500 donauschwäbischen Familien. Vielleicht lag dies
daran, dass sie ihre Lehrjahre schon hinter sich hatten, denn sie kamen erst
über einen Umweg nach Brasilien. Vor zwei- bis dreihundert Jahren waren
sie schon einmal ausgewandert und hatten schon einmal ganz von vorn begonnen.
6. Pannonien liegt in Südbrasilien
1683 auf dem Kahlenberg: Österreich wehrt die Türken vor Wien ab. In
den anschließenden Befreiungskriegen drängen sie die Türken aus dem Pannonischen Tiefland, dort wo der Unterlauf der Theiß auf den Mittellauf der
Donau trifft. Zum Schutz gegen die Türken siedeln die habsburgischen Kaiser in Pannonien in den nächsten einhundert Jahren 150.000 Menschen an.
Sie kommen aus dem Elsaß, Lothringen, der Pfalz, dem Saarland, dem heutigen Baden-Württemberg und Bayern, aber es sind auch Holländer und
Franzosen unter ihnen. Lore Schneiders’ Vorfahren sind auch dabei. Aus
welcher Ecke Deutschlands ihre Familie gekommen ist, weiß sie nicht.
Den Menschen in Pannonien muss es ähnlich gegangen sein: Sie nennen
alle Siedler der Einfachheit halber „Schwaben“, obwohl nur wenige echte
Schwaben in Ulm oder Kehlheim einschiffen, um von dort über Wien in die
Tiefebene am mittleren Donaustrom zu kommen. Im heutigen Ungarn, ExJugoslawien und Rumänien sollen sie ein neues Reich gründen, nicht mit
dem Schwert, sondern mit Spaten und Pflug. Und wenn man einem englischen Geographen aus dem 19. Jahrhundert glauben darf, dann machten
die Donauschwaben aus ihrer neuen Heimat „die Kornkammer nicht allein
Ungarns, sondern des österreichischen Kaiserreiches“.
Womit wir schon fast wieder in Brasilien wären. Denn Anfang des 19.
Jahrhunderts dürfte sich Dona Leopoldina, die Gemahlin des brasilianischen
Kaisers Dom Pedro, daran erinnert haben, dass die habsburgische Kaiserin Maria Theresia aus Österreich Landstriche entlang der Donau besiedelt
hatte, um die feindlichen Türken zu stoppen. Kaiserin Leopoldina, selbst
aus dem Hause Habsburg, kämpfte in Südbrasilien mit ähnlichen Grenzkonflikten wie ihre mächtige Vorfahrin aus Österreich. Leopoldinas Türken
sind die Bewohner Argentiniens und des heutigen Uruguays. Ständig dringen sie in Gebiete vor, die Brasilien für sich beansprucht. Dom Pedro hat
sich gerade erst von Portugal unabhängig erklärt, als er schließlich die ersten
405
Jutta Wasserrab
Brasilien
Einwanderer aus Deutschland anwirbt. Die Mission ist klar: Sie sollen im
Süden Brasiliens die Grenzen stabilisieren - mit Spaten und Pflug.
Am 17. Juli kommen die ersten 39 Immigranten aus Deutschland in Porto Alegre an, der Hauptstadt des südlichsten Bundesstaates Rio Grande do
Sul. Der Militärdienst in Deutschland dauert drei Jahre, die Steuerlast ist
erdrückend, viele Familien besitzen nicht einmal fünf Hektar Land, immer
wieder kommt es zu Missernten und Hungersnöten. Es gibt genügend Gründe, um ein neues Leben in einem unbekannten Land zu beginnen. Von Porto
Alegre aus schippern die Ankömmlinge mit einem Frachtschiff den Rio Sinos flussaufwärts und fahren dann mit Ochsenkarren weiter zu einer stillgelegten Flachs-Hanffabrik des brasilianischen Kaisers, der „Real Feitoria do
Linho Cânhamo“. Am 25. Juli 1824 kommen sie dort an. Mit diesem Datum
beginnt offiziell die deutsche Einwanderung in Brasilien, knapp 130 Jahre
bevor die Donauschwaben von Ex-Jugoslawien über Österreich nach Brasilien kommen.
Heute ist von der königlichen Flachs-Hanffabrik nichts mehr übrig. Aus
dem ursprünglichen Siedlungskern entwickelte sich eine Stadt mit 200.000
Einwohnern: São Leopoldo. „Trensurb“, eine moderne Vorstadtbahn, verbindet sie mit der Bundeshauptstadt Porto Alegre. 41 Minuten braucht die Bahn
für die Strecke zwischen den beiden Städten. Die Nähe zu Porto Alegre hat
die Stadt schnell wachsen lassen. Es ist kaum mehr zu spüren, dass die deutschen Einwanderer von São Leopoldo aus den Süden Brasiliens besiedelten.
Die Häuser sehen aus wie in jeder anderen brasilianischen Großstadt auch: sie
sind einfach verputzt und hell getüncht. Wie in einer Trabantenstadt steht ein
Hochhaus neben dem nächsten. Mannshohe Eisenzäune schirmen die Eingänge vor unliebsamen Gästen ab. Wie in vielen Städten Brasiliens fühlt sich auch
in São Leopoldo nicht jeder sicher. Es gibt zwar ein Immigranten-Museum
und auf Werbeschildern stehen Namen wie „Zimmermann“ und „Wuensch“,
aber Deutsch spricht auf den Straßen São Leopoldos keiner mehr.
7. Böhmische Dörfer
Nur abseits der großen Städte gibt es sie noch: die deutschen Kolonien,
kleine Siedlungen an Flussläufen oder in versteckten Tälern. Sie heißen
Jammertal, Walachai oder Schleppgrastal. Auch wenn ihre Ortsnamen nicht
danach klingen, Brasilien ist mittlerweile auch in diesen Gegenden angekommen. Trotzdem sehnen sich gerade die Älteren noch nach der ursprünglichen deutschen Heimat. Sie sagen: „Wir sind in Brasilien geboren, wir
sind Brasilianer!“, und halten der deutschen Nationalelf heimlich die Daumen. Sie nennen die Deutschen „die Deutschländer“, weil sie die „Deut406
Brasilien
Jutta Wasserrab
schen“ sind. Portugiesisch ist für sie eine Fremdsprache. Sie können sich damit durchschlagen, aber sie sprechen lieber Deutsch und müssen feststellen,
dass die Menschen aus Deutschland sie trotzdem nicht verstehen.
Diva Hillebrand spricht einen Mischmasch aus Hunsrückisch und Portugiesisch. Eigentlich kommen ihre Vorfahren aus dem ehemaligen Böhmen,
aber wo die Hunsrücker auf Böhmer, Schwaben, Pommern oder Bayern trafen, setzte sich fast immer ihr Dialekt durch. Diva borgt sich Wortstämme aus
dem Portugiesischen und lässt sie auf Deutsch enden. Sie sagt nicht Großmutter, sondern „Wowo“, wenn etwas nicht funktioniert, dann „pariert’s“
nicht und wenn der Regen ausbleibt, macht sie sich keine Sorgen, sondern
„tut sich preokupiere“. Anstatt Kartoffeln und Orangen isst sie „Batate“ und
„Ransche“. Und Mais heißt „Milje“, Mäuse hingegen „Meis“. Ein hübsches
Wortspiel, das bei den Hillebrands seinen Höhepunkt findet, sobald deutsche Gäste und dicke Soße mit Maiskörnern am Mittagstisch aufeinander
treffen. Dann schöpft Sohn Hugo einen kräftigen Schlag von der Soße auf
eine Aluminium-Kelle und fragt: „Du aach noch en bissche Meis-Soos?“,
bevor er sie grinsend über Reis und Schweinefleisch kippt.
In Diva Hillebrands Haus hängt noch Bratengeruch in der Luft. Es ist dieser Geruch von ausgetretenem Schweinefett, der in Deutschland längst dem
von Sonnenblumen- und Palmöl gewichen ist. Normalerweise fährt Diva
frühmorgens mit dem Bus nach Nova Petrópolis zum nachgebauten Emmigrantendorf im Freiluftmuseum und backt für Touristen Hefebrot und Streuselkuchen mit Apfelschnitzen, Ananas oder Bananenscheiben. „Cuca“ sagen
die Brasilianer dazu, „Kuchen“ sagt Diva. Aber heute ist Sonntag und Diva
ist deshalb zuhause geblieben. Sie sitzt auf der kleinen Veranda vor ihrem
Haus und trinkt „Tee“, den heißen, ungezuckerten „chimarrão“, das unbestrittene Nationalgetränk Südbrasiliens. Die deutschen Einwanderer haben
sich das „Schimarron-Trinken“ schnell von den brasilianischen Viehhütern
abgeguckt, die ihre Rinder von der Hochebene über die Kolonien nach unten
in die Städte trieben. Durch ein Metallrohr zieht Diva den grünen Aufguss
aus den Blättern des Matestrauchs in ihren Mund - behutsam, aber ohne
zu unterbrechen, bis ihr ein Gurgelgeräusch signalisiert, dass im Gefäß nur
noch gemahlenes Grünzeug, aber kein Wasser mehr ist. Sie reicht das Gefäß
ihrem Mann, steht plötzlich auf und holt eine schwarze Kunstledermappe.
8. „So denk ich an Dich!“
In Klarsichthüllen stecken sieben vergilbte Briefe, brüchig am Falz, die
schwarzblaue Tinte verblasst, außerdem der Auszug aus dem Kirchenbuch
und die beiden Notizzettel des Urgroßvaters. An vielen Stellen sind die Pa407
Jutta Wasserrab
Brasilien
pierränder abgebröckelt, sie lösen sich auf in Papierbrösel und Staub. Irgendjemand hat bei einem Brief ein ganzes Stück herausgerissen, mit einer
Handbewegung Wörter zerhackt und den Leser um Satzanfang und -ende
betrogen. Es sind Briefe von Divas Ururgroßmutter und Urgroßtante. Ein
paar Briefe hat Diva übereilt plastifizieren lassen, damit das Papier nicht
noch mehr verwittert. Das bereut sie mittlerweile und fürchtet, die Briefe
damit ein für alle Mal zerstört zu haben. Vorsichtig lässt sie die obere Ecke
einer Seite über ihren Daumen gleiten. „Mein Mutta hat uffgeramt und hat
den alde Krom schon nebegedun gehat für auf de Lischu1. Und da sin ich
hinkommen un hab das so beguckt.“ Zwischen achtlos abgestelltem Abfall
entdeckt sie die alten Briefe. „Ich saht: ‚Kann ich mich das mitnehmen?’.“
Sie solle die Briefe ruhig nehmen, antwortet die Mutter. Später hat sie ihr
die Tochter des Pastors von der gotischen in die lateinische Schrift „übersetzt“. „Deitsch, wo ich lese kann“, sagt Diva, „do hot ma denn alles bessa
gewahr wor, wie’s denn alles zugang hat.“ Dann wandern ihre Augen über
eine der Abschriften, Zeile für Zeile. Es ist die des ältesten Briefes, den
sie aus dem Abfall fischen konnte, 1910 von Ururgroßmutter Maria Anna
Jahnel abgeschickt aus Langenau bei Haida, damals Böhmen.
Divas Blick bleibt plötzlich auf einer Stelle des Briefes stehen, sie atmet
tief durch und liest: „Lieber Sohn Heinrich, ich habe den ganzen Schlaf verloren, wo ich geh und steh, so denke ich an dich, und immer sind meine Gedanken, wenn ich nur noch ein einziges mal mit Dir reden könnte. Und wenn
ich genug gedacht habe, so denke ich an den letzten Augenblick, wo ich dich
das letzte Mal den Berg hinuntergehen sah.“
Diva unterbricht, es fällt ihr schwer zu lesen, ihre Stimme zerbricht zwischen den Wörtern. Sie hat den Abschied nie verkraftet, obwohl es nicht ihr
Sohn ist, der am 31. März 1877 seiner Mutter und seinen drei jüngeren Geschwistern ein letztes Mal in den Armen liegt, dann zusammen mit dem Vater den Berg hinuntergeht, in Langenau in den Zug steigt und anschließend
nach Hamburg fährt, von dort mit dem Dampfschiff „Argentina“ nach Rio
de Janeiro übersetzt und knapp drei Monate später in Nova Petrópolis ankommt. Diva sagt: „Die Mutta un die drei Kleine sin drauß geblieb in Deitschland, mir wisset net sicher wie so odder warom, aber mir denke so, dass die
wollte erscht komme, an Platz suche, arumiere2 , und dann hätte die Mutta
un die drei Kleine wolle nochkomme. Aber nochda denn die Armut un alles.
Von hier die hatte keen Kondisois3 mehr für raus un die von drauß aach net
für hierher. Un do hon se sich nie mehr persenlich gesproch.“
1
2
3
von port. lixo: Abfall
von port. arrumar: aufräumen, einrichten
von port. condições: Umstände, hier: Möglichkeit
408
Brasilien
Jutta Wasserrab
Nur Briefe halten die geteilte Familie zusammen - notdürftig: „Lieber
Bruder“, schreibt Marie Werner 1913 an ihren ausgewanderten Bruder Heinrich, „endlich haben wir wieder ein Lebenszeichen von Dir erhalten, worauf
wir so sehr gehofft haben. Lasse uns doch nicht immer so lange warten, wir
hören doch so gerne von Dir und Deiner lieben Familien. Warum schreibst
denn Du gar so wenig, wir möchten doch so gerne recht viel von Dir und
Deiner lieben Familie hören, was sie alle machen und wie es ihnen geht. […]
Schreib uns doch das nächste Mal, was Du alles anbaust. Die Mutter möchte es so gerne hören. Du schreibst ihr viel zu wenig. Du wirst gar nicht denken, wie sie [sich] täglich um dich sorgt, es ist doch zu schmerzlich, wenn
eine Mutter so ein Kinder hergeben muss, so ein Schmerz und so eine Sehnsucht lässt sich niemals überwinden. Ich weiß es am besten, weil ich immer
in ihrer Nähe bin.“
Was sich die Geschwister die ersten dreißig Jahre nach ihrer Trennung
schrieben, wie oft sich Frau und Mann Briefe hin- und herschickten: Diva
weiß es nicht. Niemand ihrer Verwandten weiß das. Im November 2000 hat
Diva über 300 Angehörige auf einem riesigen Familienfest zusammengetrommelt. Alle brasilianischen Jahnels waren da, bis aus dem benachbarten
Bundesstaat Santa Catarina sind sie nach Nova Petrópolis gekommen. Sie
hat ihnen die Geschichte vom Ururgroßvater Eduard Jahnel und seiner Frau
Maria Anna erzählt. Alle waren gerührt, aber Puzzleteile beisteuern konnten
sie nicht. Wenn es solche noch gibt, dann liegen sie bei den Nachkommen
der drei zurückgebliebenen Kinder Marie, Franz und Josef. Diva vermutet
ihre Verwandten irgendwo in Böhmen, „in Deitschland“ wie sie ohne Hintergedanken sagt. Aber die alte Heimat ist weg, Böhmen gibt es nicht mehr.
Nach dem Ersten Weltkrieg liegt Langenau plötzlich in der Tschechoslowakei, später in der Tschechischen Republik. Es ist wie beim Hütchenspieler: Kaum hat Diva Europas Grenzen durchschaut, da haben sie sich wieder
verschoben.
9. Um zehn Grad
Helmut Eggerts Vorfahren verlieren ihre Heimat nach dem Zweiten Weltkrieg. Im August 1945 unterstellen die Alliierten den Polen die Gebiete östlich der Oder. Damit verschwindet die preußische Provinz Pommern von der
Landkarte. Östlich der Oder sprechen die Menschen von nun an Polnisch,
westlich davon Deutsch - nur Pommerisch spricht fast niemand mehr. Helmut hat es auch vergessen. Als er ein Kind war, sprach er nur Plattdeutsch,
obwohl er in Brasilien geboren ist. Aber dann heiratete er und lernte seiner
Frau zuliebe die Landessprache Portugiesisch. Darüber hat er seine Mutter409
Jutta Wasserrab
Brasilien
sprache verlernt - bis er 1993 zum ersten Mal in die Martin-Luther-Herberge nach Vitória kam, dreizehn Jahre bevor er mit seinem verwundeten Auge
ein zweites Mal kommen wird. Damals holte ihn mit 53 Jahren seine Kindheit plötzlich wieder ein. „Leute mit so einer Hautfarbe hast du zu der Zeit
hier nicht gesehen“, sagt Helmut und deutet dabei mit seinem Kopf freundschaftlich nach rechts, wo eine schwarze Frau sitzt und Zeitung liest, „nur
Deutsche und alle haben sich auf Deutsch unterhalten.“ Von einem Tag auf
den anderen spricht Helmut wieder seine erste Muttersprache. „Nach zehn
Tagen hab ich mich auf Deutsch schon wieder wohler gefühlt als auf Portugiesisch.“
Es ist schwierig von Schuld zu sprechen, eher ist es ein historischer Zuoder besser gesagt ein historischer Unglücksfall, dass ausgerechnet die
Nachfahren der Pommern so oft in der Martin-Luther-Herberge stranden.
Vor zwanzig Jahren hatten Ärzte das Phänomen zum ersten Mal bewusst
wahrgenommen: Unter den Nachfahren der Pommern im isolierten Hinterland von Espírito Santo gab es übermäßig viele Menschen mit Hautkrebs.
Der Zufall hatte sie zehn Grad näher an den Äquator gebracht als ursprünglich geplant. Weil Kaiser Dom Pedro II mit der Landverteilung in Südbrasilien nicht hinterher kam, schickte er 1846 kurzerhand 39 Familien nach
Espírito Santo, dorthin, wo heute das kleine Städtchen Domingos Martins
steht, „camphino“, kleines Feld, sagen die Einheimischen dazu. „Für diese
Familien war es unwichtig, ob sie nach Norden, Süden, Osten oder Westen
gingen“, sagt Joel Velten, Historiker aus Leidenschaft und Verwaltungsbeamter von Domingos Martins. Viele Einwanderer haben keine Vorstellung
von Brasilien, manche wähnen sich gar in den Vereinigten Staaten. „Sie
wollten einfach nur ein Ziel“, fügt Joel Velten hinzu. Die Pommern waren
Bauern, die Sonne bestimmte ihren Rhythmus. Sie standen mit den ersten
Sonnenstrahlen auf und gingen mit Sonnenuntergang zu Bett und von Tag zu
Tag wurde ihre Haut dunkler und dunkler, bis sie darüber hinwegtäuschte,
wie sie eigentlich war: durchscheinend wie Pergament.
Vor 13 Jahren fängt Helmut Eggerts Haut zum ersten Mal an zu revoltieren. „Damals arbeiteten die Bauern mit nacktem Oberkörper“, sagt Helmut.
„Wir setzten uns Schildkappen auf und rissen uns die Hemden vom Leib. So
arbeiteten wir den ganzen Tag. Niemand hat sich auch nur ein kleines bisschen geschützt.“ Bis in seinem Nacken plötzlich ein dunkler Fleck auftaucht.
Diagnose: Hautkrebs. Er hat Glück, es ist nicht der schwarze Hautkrebs, der
bösartigste aller Hautkrebsarten, der mit seinen Geschwüren andere Organe
befällt und tötet. In der Krebsklinik in Vitória schneiden sie ihm die Stelle
einfach heraus. Danach hat er für 13 Jahre Ruhe - bis er vor drei Jahren den
anderen Fleck entdeckt, den am Lidwinkel seines linken Auges.
410
Brasilien
Jutta Wasserrab
10. „Ick mut uppasse!“
Vor etwa 13 Jahren fing das mit der Haut auch bei Adolfo Kumm an. Sein
kleiner Bauernhof liegt in Melgaço, einem abgeschiedenen Ort mitten in
den Bergen, der noch zum Landkreis Domingos Martins gehört. Das alte
Fachwerkhaus des Urgroßvaters steht noch, auch wenn es momentan eher
einer Rumpelkammer gleicht. Das Dach krümmt sich wie ein weher Rücken, auf den Ziegeln wachsen ungebremst Moospolster, und an den Fensterscheiben haftet von innen eine dicke Schicht Staub. Sobald wieder genügend Geld da ist, möchte Adolfo Kumm das Haus renovieren. Er war schon
drauf und dran den alten Plunder abzureißen, aber irgendwie hängt er an
ihm. Und neuerdings behaupten die Studierten aus der Stadt, dass sie das
alte Zeug erhalten müssten, weil es Geschichten erzählt, die das kollektive
Gedächtnis sonst vergessen könnte. Adolfo Kumm versteht nicht genau, was
sie damit meinen, aber vielleicht tüncht er das Haus seines Urgroßvaters ja
wieder weiß und rahmt Tür- und Fensterstöcke hellblau ein - sein Haus in
den Farben Pommerns, so wie es früher einmal war.
Es ist Nachmittag gegen drei Uhr, die Sonne sticht vom Himmel und der
Ruheständler sitzt im angebauten Neubau, in seinem einfachen Wohnzimmer auf einem Sofa mit Kunstlederbezug. Vor dem Fenster scharren ein paar
Hühner im warmen Erdboden nach Getreidekörnern. „Ick mut uppasse, dat
ick keen Sünn4 kree“, sagt Adolfo Kumm auf pommerschem Platt, „so wenig als dat jeht in d’Sünn goh.“ Wenn er noch wie früher Kaffee, Mais und
Bananen anbauen würde, wüsste er gar nicht, wie das gehen sollte. Aber der
55-Jährige hat sich schon zur Ruhe gesetzt. „Ick bin so enkostado5“, sagt
Kumm dazu. Um die kleine Landwirtschaft kümmert sich seine Tochter,
morgens und abends hilft Vater Kumm ein wenig aus, untertags bleibt er im
Haus. Aber mit dem ersten Regentropfen ist er sofort vor der Tür. Er sagt:
„En Daach wo’t ganz kold is, so Südwind, dann is gaut for mi, dann hew
ick keine Probleme.“ Früher hatte Adolfo Kumm auch unter der brütenden
Sonne keine Probleme, dachte er wenigstens, und aus welcher Richtung der
Wind kam war ihm schnurzegal.
Aber von einem Tag auf den anderen änderte sich das. „Ick heb Krout
eispritzt en Melje6, so ne houch Kroutweiden hewwen ech. Un donoch hät
dat poor Doche ganz schlimm so’n Blose jefft.“ Über mehrere Tage hinweg wirft seine Haut Wasserblasen – an Füßen, Armen und sogar mitten
im Gesicht. „Dann bin ick angfange nam Doktor goh“, sagt Kumm. Der
4
5
6
Sonne
von port. encostado: wörtl. angelehnt, hier: zur Ruhe gesetzt
von port. milho: Mais
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Brasilien
Arzt in seiner Nähe schiebt seine brodelnde Haut auf eine Vergiftung mit
dem Spritzmittel Round-up. Weil die Behandlung aufgrund der Fehldiagnose nicht anspricht, fährt Kumm ins Zentrum von Domingos Martins und besucht dort einen weiteren Arzt. „Der wör düür7 mit seine Konsult8“, sagt er
in einem Ton, als fehle das Geld noch heute im Portemonnaie. Der Arzt verschreibt ihm Pillen, Adolfo Kumm schmiert sich Pomade auf die geplatzten
Blasen, aber weder das eine noch das andere hilft.
Dann kommt 1995 die Wende: In Vitória trifft er auf Doktor Carlos Cley,
einen Dermatologen und Hautkrebsspezialisten. Der verschreibt ihm Cloroquin, eigentlich ein Wirkstoff gegen Malaria. Das bekannte Malariamittel wirkt, lagert sich aber in der Hornhaut seiner Augen ein. „Mennigmol
dohn se aach pedre9, dat ick müsst dei Esame du Fundo du Oljo10 moche.
Dat se denn denke dätet, de Pille, wo ich nemme dätet, dätet mich schode
on’d Ogen11. Dat het dann een Inflamasau dentro du Oljo12 jefft. Dat is nimme normau wore, ick kann wenig kicken op den Og.“ Trotzdem – das weiße Plastikdöschen mit Schraubverschluss löst gute Erinnerungen bei Adolfo
Kumm aus. Bis heute hat er es aufgehoben, und da es leer ist, macht es auch
nichts, dass das Haltbarkeitsdatum schon seit elfeinhalb Jahren abgelaufen
ist. Nach mehreren Jahren Behandlung sieht sein Gesicht wieder fast aus
wie früher. Nur seine Füße sind geschwollen, und es ist ihnen eine fleischfarbene Haut geblieben, dünn wie Seidenpapier. Verlegen reibt der Rentner
mit dem roten lichten Haar seine nackten Füße aneinander. Und ab und an
müssen sie ihm Warzen und Muttermale herausschneiden. „Dat were etlich
Stück“, sagt Adolfo Kumm, der aufgehört hat, die kleinen Operationen zu
zählen. Trotz der vielen Eingriffe: Hautkrebs hatte er noch nicht. „Awer dat
kütt noch komme“, sagt er. „Wenn et behugas13 geve däh, dann däh et se so
upplaatze, dann däh sogor Plaut14 runderkomme. Dann däh ick imme denke,
dat kö Canser di Pele15 sin.“
Vielleicht müssen sich seine Enkel einmal weniger Sorgen wegen der
Krankheit machen als er. Seine 24-jährige Tochter hat vor ein paar Wochen
geheiratet, einen Brasilianer ohne deutsche Vorfahren. Es war eine typisch
brasilianische Hochzeit mit Hot Dog, „cachorro quente“, und Limonade,
viel Tanz und einer Menge Fototermine. Sie ist gewissermaßen eine Aus-
7
8
9
10
11
12
13
14
15
teuer
von port. consulta: ärztliche Untersuchung
von port. pedir: bitten, auffordern
von port. exame do fundo do olho: Augenuntersuchung
Augen
von port. inflamação dentro do olho: Augenentzündung
von port. verrugas: Warzen
Blut
von port. cancer de pele: Hautkrebs
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Brasilien
Jutta Wasserrab
reißerin, die Erste im ganzen Kumm-Clan, die nicht unter Pommern bleibt.
Und wenn sie Glück hat, dann schlagen ihre Kinder mehr nach dem Vater,
zumindest was den Hauttyp betrifft.
11. Meine Erben sollt ihr sein
Seit geraumer Zeit geht auch Bauer Domingos Guimarães nicht mehr aufs
Feld. Es ist nicht die Haut, die ihn davon abhält, die wäre bestens auf die
tropische Sonne eingestellt: Schwarz ist sie, mit einem Schimmer ins Bläuliche. Seit 31 Jahren ist sein Feld weg oder besser gesagt, er wagt es nicht,
seinen Fuß darauf zu setzen. Es geht um 8.700 Hektar Land, das entspricht
3.600 paranaensischen „alqueires“. Das Land gehörte dem 71-Jährigen nicht
allein. Er hat es sich geteilt, mit anderen Nachfahren von Sklaven, befreiten
Sklaven, die dort auf den Weiden der „Paiol de Telha“ schon seit einhundert
Jahren lebten. Sie hatten das Land geerbt, von ihrer Herrin Balbina Francisca de Siqueira. Mittelgroß soll die Portugiesin gewesen sein, mit hellbrauner
Haut. „Die sie kannten, erzählen, dass sie sehr sympathischen gewesen sei“,
sagt Domingos Guimarães. Seine verstorbene Großmutter trug jedenfalls ihren Namen: Ana Balbina.
In ihrem Testament vom 2. Juli 1860 gibt Balbina Francisca de Siqueira
ihren elf Sklaven zunächst die Freiheit zurück, 28 Jahre bevor die brasilianische Regentin Prinzessin Isabel das Goldene Gesetz unterzeichnet und
mit der „Lei Áurea“ alle Sklaven in Brasilien befreit. Balbina Francisca de
Siqueira steht in der Schuld ihrer Sklaven. Als die Jesuiten noch gut angesehen sind im Land, besitzen sie Gold- und Diamantenminen. 1759 wird
der Missionsorden aber aus Brasilien vertrieben und bevor die Ordensbrüder fliehen, vergraben sie hastig einen Teil ihres Reichtums auf den Weiden
der „Paiol de Telha“. Einige Jahrzehnte später finden die Sklaven der Dona
Balbina Gold und Diamanten und überreichen den Schatz ihrer Herrin. Sie
revanchiert sich. Da sie Witwe ist und keine Kinder hat, vererbt sie ihr Land
an ihre elf Sklaven, die sie in ihrem Testament namentlich aufführt: „Heleodoro und seine Frau Feliciana, Manoel, José Velho, José dos Santos, Izidoro,
Eduardo, Dinha, Joaquim, Libânia und Rita“.
„Ich bin Nachfahre von Heleodoro, der die Sklaven anführte, und Manoel
Ferreira, der auch Sklave war.“ Ein Nachfahre der dritten oder vierten Generation, so genau weiß Domingos Guimarães das nicht. Er sitzt im Büro der
„comissão pastoral da terra“, der katholischen Seelsorge für Landangelegenheiten in Guarapuava, 270 Kilometer von der Bundeshauptstadt Curitiba
und eine Autostunde von seinem verlorenen Stück Land entfernt. Eigentlich
wollte er schon gestern abgereist sein, zurück nach São Paulo, wo er mittler413
Jutta Wasserrab
Brasilien
weile lebt, aber er möchte seine Geschichte erzählen, damit in Deutschland
die Menschen erfahren, dass ihn die Donauschwaben um sein Erbe gebracht
haben – ihn und 600 Familien, allesamt Nachkommen der elf Sklaven.
12. Stück für Stück enterbt
Domingos’ Geschichte ist eine Geschichte über die Machthaber Brasiliens, in deren Augen die europäischen Kolonisten Fortschritt bringen, während die Nachkommen der Schwarzafrikaner das Land aufhalten. Und es ist
zugleich eine Geschichte über Gewalt und Gier.
Die Enteignung der rechtmäßigen Erben beginnt zunächst schleichend.
Pedro Lustoza de Siqueira, Neffe von Dona Balbina, hätte laut Testament
den elf Sklaven 8.700 Hektar übergeben müssen, „stattdessen überlässt er
ihnen nur 3.000 Hektar“, sagt Domingos Guimarães. Die Kinder und Kindeskinder des Neffen sind keinen Deut besser, sie holen, was sie kriegen
können. Als Domingos sechs Jahre alt ist, gehen sein Vater und sein Onkel vor Gericht. Sie wollen, dass ihr Land endlich vermessen und in ein
Grundbuch eingetragen wird. Mittlerweile sind 65 Jahre vergangen, sein Vater ist tot, Domingos’ Haare sind grau geworden, und im Grundbuch stehen als rechtmäßige Besitzer nicht sie, sondern die Donauschwaben. „Die
Anwälte des Lustoza-Clans übten aber derart viel Druck aus, dass der Anwalt der Schwarzen nicht zum Anhörungstermin erschien“, sagt Domingos
Guimarães. „Später verschwanden dann noch alle Dokumente“, Domingos
schüttelt den Kopf, ohne dass sich sein meliertes Kraushaar bewegt, als könne er selbst nicht glauben, was damals passiert war, „und plötzlich hieß es,
wir wären nie vor Gericht gewesen.“
Der Fall wird zu den Akten gelegt, ohne dass ein Richter Stellung bezieht,
und es passiert, was Domingos’ Vater wohl befürchtet hatte. 1967 verlieren
die Erben der befreiten Sklaven noch mehr Land. In jenem Jahr leben noch
56 Familien auf den Weiden der „Paiol de Telha“, angeblich verkauft die
Hälfte ihre Ländereien an einen gewissen João Pinto Ribeiro. Eine windige
Urkunde, datiert auf den 17. August 1967, soll das belegen. Von verkaufen könne aber keine Rede sein, sagt José Vandresen von der Seelsorge für
Landangelegenheiten, der seit fünf Jahren dafür kämpft, dass Domingos und
den anderen endlich Recht geschieht. Er sagt: „Weil die Schwarzen weder
lesen noch schreiben können, gaukelt João Pinto Ribeiro ihnen vor, gegen
einen Daumenabdruck erhielten sie Urkunden, welche sie als Eigentümer
des Landes auswiesen. Tatsächlich aber traten sie mit ihrer Unterschrift von
ihrem Erbe zurück.“ Vielleicht wechselt die Hälfte der übrig gebliebenen
3.000 Hektar auf diese Weise den Besitzer, vielleicht weniger. In der zwei414
Brasilien
Jutta Wasserrab
felhaften Urkunde steht darüber nichts. Unter den Betrogenen erzählt man
sich, dass der Sohn des João Pinto Ribeiro damals Amtsrichter war. Jedes
Mal wenn er seinem Vater eine ergaunerte Urkunde beglaubigt hat, informiert er umgehend „den Doktor Pacheco“, wie Domingos und seine Leute
den verstorbenen Polizeikommissar Oscar Pacheco heute noch pflichtschuldig nennen, und der wiederum kauft die Rechte an den Ländereien auf.
Schließlich erreicht die Intrige ihren Gipfel: Man stellte den Nachfahren der
Sklaven eine Pflichtverteidigerin an die Seite, die sich um ihre Rechte kümmern soll – es ist die Frau von João Pinto Ribeiro.
13. Mähr vom leeren Land
Er hätte Grund genug gehabt, sein Stückchen Land endlich aufzugeben,
aber Domingos Guimarães hat selbst nach 14 Jahren Kampf noch nicht klein
beigegeben, auch nicht, nachdem sie auf ihn schießen ließen. „Ich gehe zurück. Sobald wir das Land wieder bekommen, gehen wir zurück“, sagt er ruhig, in seiner Stimme schwingt nichts mit, kein Groll, kein Hass, nicht einmal Neid auf diejenigen, die mit dicken Maschinen über sein Land fahren
und zweimal im Jahr ihre Kornspeicher füllen – mit Soja, Weizen, Mais und
Gerste. Aber sie sollen ihn nicht vergessen, seit 14 Jahren ist er der Spreißel
in ihrem Fleisch. Sie sollen wissen, dass er sein Recht auf die Weiden der
„Paiol de Telha“ nicht vergessen hat.
Domingos’ Kampf widerlegt die Mähr vom menschenleeren Land, die sich
die deutschen Einwanderer allzu gerne erzählen. „Hier war ja nichts!“, schnell
dahingesagt beginnen so die meisten Einwanderergeschichten. „Sie haben die
Kolonisten einfach im Urwald abgesetzt“, erzählt Hobby-Historiker Renato
Seibt aus Nova Petrópolis in Rio Grande do Sul, „zwanzig Jahre blieben sie
auf sich selbst angewiesen: Deshalb haben sie von Süden nach Norden den
Urwald in Schneisen aufgehauen, so schmal, dass man gerade durchkonnte.“
Sie nannten ihre Städte Baumschneis, Kaffee-, Portugieser- oder Bohnenschneis. „Wenn sie etwas zu verkaufen hatten, musste alles auf Eselsrücken
durch diese Pikaden, die Schneissen, durchgeführt werden.“ Renato Seibts
Vorfahren hatten auf den Caí und Cadeia gebaut, doch zu ihrem Entsetzen
waren die Flüsse an manchen Stellen für die Schifffahrt zu seicht. Zu Wasser
hätten sie ihre Waren schneller auf die Marktplätze der Städte schaffen können, um Geld zu verdienen, das sie so dringend benötigten, denn der brasilianische Staat hatte ihnen das Land nicht geschenkt. Entgegen aller Versprechungen musste fast jeder Einwanderer seine 40 bis 50 Hektar abbezahlen.
Manch einen mögen die großen Araukarien mit Pinienkernen dick wie
Finger, die wilden Bambusgräser, Lianen, die Dornen und das Meer fas415
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Brasilien
ziniert haben, die meisten Einwanderer aber hat die mächtige Natur verängstigt. Geblieben sind Geschichten über Kinderleichen, die verzweifelten
Müttern aus den Händen gerissen und über Bord geworfen wurden, Geschichten über Schlangenbisse, Typhus, Halsbräune und Keuchhusten, über
körperliche Schinderei, qualvolle Hausmedizin und zigfachen Tod. Sie werden von Generation zu Generation weitergereicht und die Erzähler schlagen
ihnen dabei ihre Ecken und Kanten ab. Übrig bleiben polierte Heldentaten.
Nur hin und wieder blitzt in den Geschichten auf, was man insgeheim
ahnt: Die Geschichte der deutschen Einwanderer ist manchmal auch eine
Geschichte über die Vertreibung. Bei den Donauschwaben sind es die Nachfahren der Sklaven, bei den Pommern in Espírito Santo die Botocudos, die
dem europäischen Platzanspruch weichen müssen. „Die Indianer haben die
Ankunft der Emigranten nicht wirklich akzeptiert. Es gab sogar Kämpfe
zwischen den beiden Ethnien“, sagt Joel Velten aus Domingos Martins. Ein
Streit unter Ungleichen, denn schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts erlaubt
Prinz Dom João, das Land der Botocudos zu konfiszieren. Er betrachtet es
als vakantes Land, das von nun an den europäischen Einwanderern gehören
soll. „Die Indianer haben sich dann in den Norden zurückgezogen, in eine
Gegend, die bis dato komplett unbekannt war.“ Und auf genaueres Nachfragen fügt Joel Velten hinzu: „Es kann auch sein, dass sie von der Polizei
gefangen genommen und im Norden ausgesetzt wurden. Zumindest schritt
die Polizei in die Auseinandersetzung ein. Aber die Deutschen hatten auch
Angst vor den Indianern“, sagt er und deutet an, dass er das Thema gerne
beenden möchte, „die Botocudos sollen Kannibalen gewesen sein.“ Das Gerücht vom Menschenfresser – es hält sich hartnäckig, obwohl es jeglicher
geschichtlicher Grundlage entbehrt, und es wirkt wie Schleifpapier, wenn
Erzählungen aus früheren Zeiten plötzlich Kanten bekommen.
14. „De hatte ja keen Wert mehr“
Diva Hillebrand würde auch gerne Teile ihrer Geschichte ausblenden. Sie
wollte es eigentlich nicht erzählen, aber Mutter Lina Weimar hatte sich in
ihrer kindlichen Art, die Dinge beim Namen zu nennen, einfach verplappert. Die drahtige Frau, knapp einssechzig groß, stand gestern im Schürzenkittel plötzlich in Divas Türrahmen und legte los: „Die Diva waa so’n halb
Joar rom. Mei Babba war in de Plandaasch16 gange. Ich han Kopfweh gehaht, dann sinn ich Futta mache gange un de Heinrich hat Kaffee getrunk.“
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Feld
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Brasilien
Jutta Wasserrab
Sie beeilt sich, es geht ihr nicht gut. Das Futter lädt sie in einen Korb und
trägt es auf dem Rücken nach Hause. Dort angekommen, klettert sie über
den Zaun, stellt den schweren Futterkorb ab. „Da dacht ich: ‚Wo trahn ich’s
Futta jetzt erscht hin, mei Kiahre17 oder zu da Mutta seine?’ Guck ich so rieber, dacht ich: ‚Wie steht de Heinrich dort so?’, guck ich so richtig, hat er
sich uffgehong.“
„De hatte ja keen Wert mehr, die Deitsche bei uns“, sagt Divas Vater Hugo.
Er ist sich sicher, dass Heinrich Jahnel die Verachtung der Brasilianer nicht
mehr ertragen wollte und deshalb am 13. Oktober 1947 den Freitod wählte.
Doch es gibt keinen Hinweis darauf, Heinrich Jahnel hinterlässt kein Abschiedsschreiben. Hugo Weimar sitzt neben dem Herd, in dem brennende
Holzscheite eine wohlige Wärme verbreiten. Auf der dicken Herdplatte aus
Eisen steht der Wasserkessel und dampft. Gleich gibt es den Schimarron,
morgens immer mit einem Löffelchen Zucker. Es ist gegen sechs Uhr, gerade verzieht sich die Dunkelheit und mit ihr der Winter, der sich noch auf die
Nacht und die frühen Morgenstunden beschränkt. Es wird nicht mehr lange
dauern, dann werden die Menschen hier auch untertags über eine Wollmütze und dicke Socken froh sein. In den südbrasilianischen Bergen sind im
Winter Temperaturen um die Null Grad keine Seltenheit. Aus dem Transistorradio meldet sich der Moderator von Radio Imperial mit dem Spitznamen „chucrute“, Sauerkraut, kündigt zwischen deutscher Volks- und brasilianischer Country-Musik die Beerdigung von Lucila Rauch Zummer an,
bevor es nahtlos in die Werbung übergeht. Mit der öligen Stimme eines Vertreters annonciert er ein Bestattungsinstitut mit dem Namen Grings und verkündet den Preishammer der Woche: Hackfleisch zum Kilopreis von 2,99
Reais, Hähnchenschenkel für 1,69 und „chimia colonial“, Marmelade nach
Emigrantenart.
Von seinem Küchenfenster aus hat Vater Hugo Weimars das Haus seiner
Tochter Diva genau im Blick. Dort ist noch alles dunkel, obwohl die Hähne der Umgebung schon seit einer geraumen Stunde den Tag herauskrähen.
Mutter Lina wäscht im Vorraum Milchkannen aus, „Blecha“ wie sie dazu
sagt, und holt anschließend aus dem Gefrierfach einige Kübel mit gefrorener Milch. Die ist von gestern, aber weil der Milchmann nur alle zwei Tage
vorbeikommt, muss sie die Milch bis zum nächsten Tag einfrieren, damit
sie sich hält. Gleich wird sie in den Stall gehen und ihre vier Kühe melken.
Vermischt mit der euterwarmen Milch, wird die Eismilch in ein paar Minuten geschmolzen sein. „Durft keiner mehr Deitsch sprecha“, versucht Hugo
Weimar ans angerissene Thema anzuknüpfen, während er aus seiner Hemd-
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Kühe
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Jutta Wasserrab
Brasilien
tasche eine daumendicke Tabakwurst kramt und mit einem Taschenmesser
kleine Klümpchen abschnitzt, die er anschließend auf ein Maisblatt legt.
„Das muss morgens schon mit Damp18 gehn“, beschwert sich seine Frau,
signalisiert mit ihrem Blick aber, dass sie ihm die schlechte Angewohnheit
nachsieht, „fertig Tee getrunk, dann maat er sich en Zigarr, bis denn is es
sechs Uhr, da muss das ordentlich Wolke gen.“ Und weil ihr Mann mit dem
„Fumm“, dem Tabak, beschäftigt ist, bleibt die Wortführung bei Lina Weimar: „Sogar die bei de Musik gang sind, durfte kein Deitsch sprecha.“ Nicht
besser sei es ihnen auf der Stadt oder beim Einkaufen ergangen. „Die, wo
net Brasilianisch kennte“, sagt sie, „die konnte doch gar net wo groß hin.“
Und dann sagt sie weiter: „Wir konnte aach nix.“
15. Sprachlos
Viele konnten kein Brasilianisch. Der brasilianische Staat hatte die Erziehung der deutschen Bauern und Handwerker vernachlässigt. Die Siedler errichteten selbst Schulen, bestimmten ihre Lehrer, manchmal waren es
vorbeiziehende Abenteurer, die man kurzerhand verpflichtete, meist war
es der Klügste im Dorf oder derjenige, der außer zwei linken Händen und
ein wenig Grips nicht viel besaß. Es entstand schnell ein dichtes Netz aus
kirchlichen Gemeindeschulen, denen eines gemeinsam war: sie unterrichteten auf Deutsch. Niemand störte sich daran, bis Brasiliens Diktator Getúlio Vargas im Januar 1942 den Handel und die diplomatischen Beziehungen
mit Deutschland unterbrach und ein halbes Jahr später den Achsenmächten
den Krieg erklärte. „Daraufhin“, sagt Hobbyhistoriker Renato Seibt, „wurden wir alle plötzlich Vaterlandsverräter, die Deutschstämmigen, die Italiener und die Japaner.“ Hitler stieß bei den Deutschbrasilianern auf wenig Kritik. Sie seien stolz gewesen, Renato Seibt sagt dies, als hätte man
nichts anderes erwarten können. „Sie hatten Sympathien fürs Reich und haben sich darüber gefreut.“ Vor allem in der Stadt fand Nazideutschland seine Anhänger. Hitler sollte die Fehler ausgleichen, die man der Weimarer
Republik zuschrieb. Noch heute wird zurechtgerückt, beschönigt und entschuldigt. Warum sollten Hitlers Ideen nur schlecht gewesen sein, wo der
noch immer hochverehrte Getúlio Vargas alles andere war als ein Gegner
faschistischer Ideen? Er wechselte schließlich nur die Fronten, wann immer
es gelegen erschien. Mal paktierte er mit den Kommunisten, mal mit den
„Integralisten“, den brasilianischen Faschisten. Er flirtete mit den Achsen-
18
Dampf, im Sinne von Rauchwolken
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Brasilien
Jutta Wasserrab
mächten und siegte schließlich über Großdeutschland – im Tross der USA.
Und sie habe er zum Sündenbock gemacht, sie habe er verfolgt und eingesperrt, glauben viele Deutschbrasilianer – um vor den Vereinigten Staaten
ein Zeichen zu setzten.
Die rigorose Nationalisierung unter Getúlio Vargas traf alle, ob sie nun
Hitler verehrten, ihn ablehnten oder naiv an das glaubten, was man ihnen
über den neuen Machthaber des Deutschen Reiches erzählte. „Wir hatten
so einen großen Telefunken“, erzählt Renato Seibt ein wenig kurzatmig,
„abends um acht ging es immer los: ‚Hier spricht der deutsche Kurzwellensender mit Richtstrahlung nach Lateinamerika!’.“ Die Großmutter lauschte
verzückt der verrauschten Stimme aus dem Radiogerät, der Großvater nahm
sie mit strammer Haltung entgegen. „’Jetzt hör mal, wie die Leut zufrieden sinn!’“, imitiert Seibt die Nachtigallenstimme seiner Großmutter, „’wie
die so scheen singe!’.“ Nur ganz leise hörten sie den verbotenen Sender
aus Deutschland, niemand sollte ihnen ihr Radiogerät abnehmen. Deutsche
Bücher versteckte der Großvater im Keller unter einem Berg Karfreitagstee. Ganze Bibliotheken hatten die brasilianischen Gesetzeshüter schon verbrannt, die wenigen deutschen Bücher, die er besaß, wollte er vor dem Feuer retten.
Das Schlimmste aber war, dass man sie im eigenen Land mundtot machte:
Von einem Tag auf den anderen durften sie in der Öffentlichkeit kein Deutsch
mehr sprechen, und deutschsprachige Schulen wurden geschlossen, ohne
dass die brasilianische Regierung im Gegenzug für ausreichend Ersatz in
der Landessprache sorgte. „Die Kinder sind dumm geblieben, später wurden die Schulen zwar wieder geöffnet, aber es hat einen kulturellen, ökonomischen und sozialen Rückgang gegeben“, sagt Renato Seibt. Bis heute sei
das ganze Ausmaß dieses Rückgangs gar nicht erforscht.
Ilse Evers erinnert sich noch an den Tag, an dem es auch die Schule ihres
Vaters treffen sollte, die Schule des evangelischen Pastors aus Deutschland.
Sie haben es dem damaligen Bürgermeister der Nachbarstadt zu verdanken,
dass es nie so weit gekommen ist. Eines Tages stand der bei den Evers vor
der Tür und sagte: „Pastor Evers, wir wissen ja wer sie sind und wie sie sind,
aber: Gesetz ist Gesetz. Wir wollen die Schule nicht schließen, aber sie können auch nicht mehr Direktor bleiben.“ Ilse Evers macht eine kleine Kunstpause, um ihre Zuhörer angemessen auf die Pointe vorzubereiten, und es ist
ihr anzusehen, wie sehr sie sich dabei amüsiert. Sie spricht gepflegtes Hochdeutsch und ist sich dessen vollkommen bewusst, selbstredend beherrscht
sie auch Hunsrückisch, aber jetzt Dialekt zu sprechen, fände die 76-Jährige
unangemessen. Sie ist noch immer die Tochter aus gutem Hause, die gelernt
hat, sich gewählt auszudrücken. Dann fährt Ilse Evers fort: „Plötzlich kam
meine ältere Schwester durch die Tür. Sie war gerade 16 Jahre alt, ein kräf419
Jutta Wasserrab
Brasilien
tiges Mädchen, schon sehr weit entwickelt und da guckt der Bürgermeister
sie so an und sagt: ‚Sieht die nicht aus wie 18! Sie ist doch hier geboren,
oder? Kann die nicht die Direktorin werden?’.“ Sie konnte, ging von da an
mit zum Unterricht. Die Schule in Linha Brasil existiert noch heute.
16. Mathe, Sachkunde, Hunsrückisch
Viele Schulen wurden nach ein paar Jahren wieder geöffnet, aber auf
ihren Gängen hört man heute kein Deutsch mehr, sondern Portugiesisch.
Selbst wenn die Kinder zuhause Deutsch sprechen, auf der Straße hören
sie die Landessprache und spätestens seit es Fernsehen gibt, hat sich Portugiesisch auch im letzten Winkel Südbrasiliens herumgesprochen. Und so
müssen die Lehrer feststellen: Portugiesisch lernen ihre deutschstämmigen
Schüler in ein paar lausigen Wochen – aber fast noch schneller verlernen sie
ihr Deutsch. Portugiesisch ist in den Augen der Kinder schicker, lässiger,
Hunsrückisch hinterwäldlerisch. Es ist die Sprache der Großeltern.
Immer mehr Städte in Rio Grande do Sul führen deshalb an ihren Schulen Deutsch als erste Fremdsprache ein, um ihre Kinder wieder an die Sprache der deutschen Einwanderer heranzuführen. Bürgermeister Luiz Schenkel aus Nova Petrópolis hat sich auch dazu entschieden. Hochdeutsch kann
er nicht, aber er spricht ein entzückendes Hunsrückisch. Die älteren Bürger
des Städtchens rechnen ihm das hoch an, in ihren Augen ist er einer von ihnen. „Ich han gelernt Brasilianisch sprecha, wie ich angefangen han, in die
Schull zu gehn“, sagt Luiz Schenkel, „das war schwer in dene Zeide, die andere konnde schon sprecha und konnde schon bische schreiva, und ich konnt
goar nix, wirklich kei Woat. Awer das Brasilianische sprecha, das is leichda,
das dut ma schnell lenna, do derwecha han unser Kinna das Deitschesprecha
vill verlernt.“ Und deswegen sollen sie in der Schule wieder an die deutsche
Sprache herangeführt werden, schon aus pragmatischen Gründen: „Die, wo
von annere Plätza19 komma, die finne das gut, die finne das scheen, wenn
mir hier en anner Sproch hon“, glaubt der Bürgermeister. Nova Petrópolis
lebt vom Tourismus.
Seit 2006 beginnt in den städtischen Schulen Nova Petrópolis’ der
Deutschunterricht in der ersten Klasse und alle sind dabei, auch diejenigen, die überhaupt nicht deutschstämmig sind. Im Kindesalter sei es leichter eine Sprache zu lernen, sagt Bürgermeister Schenkel. „Mir dunn auch
vill mit de Eltra sprecha, dass die dahemm, in sein Haus, aach mit de Kinna
19
Städte
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Brasilien
Jutta Wasserrab
Deitsch sprecha.“ Nicht alle Schüler haben Eltern, die Deutsch sprechen. Sie
müssen bei Null anfangen. Hochdeutsch im Heft, Hunsrückisch auf Zuruf,
die Grammatik eigenwillig und dazwischen Lehnwörter aus dem Portugiesischen – im Deutschunterricht ist fast alles erlaubt. Deutsch soll die Kinder
nicht quälen, Deutsch soll ihnen Spaß machen, damit sie sich aussöhnen mit
einer Sprache, für die sich ihre Eltern und Großeltern noch schämten.
17. Erinnerung auf Tellern und in Krepppapier
Wer weiß, wohin es die Familie des Pastors Evers verschlagen hätte, wäre
die Schule damals geschlossen worden und wer weiß, ob Diva Hillebrand
jemals erfahren hätte, was in den Briefen steht, die ihre Ururgroßmutter und
ihre Urgroßtante vor vielen Jahren aus Böhmen und der Tschechoslowakei
nach Brasilien schickten. Wer im Dorf hätte die Briefe von der gotischen in
die lateinische Schrift übersetzen, wer hätte ihr erklären können, wie das
war mit Böhmen, der Tschechoslowakei, den Grenzen in Europa? Niemand
– es sei denn Ilse Evers. Die Älteren in Divas Dorf sind schließlich wie sie
nur ein paar Jahre zur Schule gegangen, und die Jungen verstehen keine gotische Schrift. Oft kamen Verwandte vorbei und fragten: „Hast die Briefe
schon romgeschrieb? Dann les se mich mol vor!“ Neugierig seien sie gewesen, schmunzelt Diva. Und natürlich hatte Ilse Evers ihr den Gefallen getan
und die Briefe übersetzt. Diva liest die Briefe nicht nur einmal vor, sie liest
sie immer wieder vor und es quält sie jedes Mal aufs Neue. Sie sagt: „Wenn
ich dann do hinkomm sinn, wo die Ururgroßmutta immer so lamentiert hot,
ja dann hom mir manchmal so gsesse und alle mitsamme geweint.“
Urgroßvater Heinrich Jahnel hat so wenig von „draußen“ erzählt. „Zeitung hat er immer geles“, sagt Mutter Lina, deutsche Zeitung. „Ich denk,
er konnt net viel verzähle von dot.“ Genau genommen gibt es nur eine Geschichte, die er seiner Enkelin Lina persönlich erzählt hat: die Geschichte
der 114-tägigen Schifffahrt über den Atlantik. „Weit gefahr war er“, sagt
Lina und zieht mit ihrer Hand einen großen Bogen von sich weg, „un dann
wär so’n Wind komma und hät das Schiff nomol wieviel weit zurückgedockt. Musst er nomol paar Taach mehr fahre.“ Ausführlich ist anders.
Vom Leben jenseits der großen „Pfütze“, wie Ururgroßmutter in einem ihrer Briefe schreibt, ist nicht viel bei Diva angekommen. Sie weiß aus den
Briefen, dass ihre Urgroßtante Marie als einzigen Schmuck die Ohrringe
trägt, die ihr Bruder Heinrich von ein paar ersparten Kreuzern gekauft hat
und dass sie tief beeindruckt gewesen sein muss von den technischen Neuerungen der damaligen Zeit: „Dieses Zeppelin-Luftschiff hat in dem nahen
Haida gelandet“, schreibt Marie ihrem Bruder im Jahr 1911. „Ich war zu421
Jutta Wasserrab
Brasilien
hause bei der Mutter geblieben und wir haben es auch gesehen, es ist gerade an unserem Haus vorbeigeflogen, das war großartig. Das vergessen wir
unser Leben lang nicht. Es war den Tag gerade so dichter Nebel, und da war
auf einmal so ein Getöse und das Koloss kam aus dem Nebel hervor. Mir
war es nur sehr lieb, daß es die Mutter auch gesehen hat. Es ist doch etwas
Großartiges.“ Vielleicht beflügelt das Luftschiff die Hoffnung auf ein Wiedersehen, das nie stattfinden wird. Tatsächlich sind die Familienteile weiter
entfernt voneinander denn je, denn aus den einen werden langsam Deutsche,
aus den anderen Deutschländer: „Bester Bruder“, schreibt Urgroßtante Marie Werner, „du würdest dich wundern, wenn du jetzt einmal nach deiner alten Heimat kämst, du würdest dich nicht mehr gut zurechtfinden.“
Es ist nicht viel, was Diva über ihre böhmischen Wurzeln erfahren konnte, und so geht ihre Verbindung nach „draußen“ vor allem durch den Magen.
An Weihnachten backen Diva und ihre Mutter Plätzchen, aus verquirlten
Eiern, Hirschhornsalz, Zucker und Mehl. An Ostern rösten sie Erdnüsse in
Zuckersud und füllen sie in ausgeblasene Eier oder spitz zulaufende Krepppapier-Tütchen, die aussehen wie Mohrrüben. Ansonsten macht sie herrlichen Kässchmier, „chimia“, gestöckelte Milch, die es im südlichen Brasilien manchmal im Supermarkt zu kaufen gibt. „Tipo quark“ steht dann auf
den 500-Gramm-Bechern im Kühlregal. „Fria die hon Zuckra20 gepresst“,
erzählt Mutter Lina während sie von einer Kanne Milch heimlich etwas
Rahm abschöpft und im Kühlschrank verschwinden lässt. Der Milchmann
sähe das nicht gerne, aber das gute ist: er sieht es auch nicht. „Un denn hon
se die Bria21 in so’n groß Pann drin gekocht“, erzählt Mutter Lina weiter, „un
wenn’s mal ingekocht war, dann han se Batate ringedun – ara22 Ransche ara
Bobra ara Seimelona.“ Orangen- und Kürbismarmelade macht Diva heute
noch, allerdings muss sie dafür kein Zuckerrohr mehr pressen und anstatt
Kartoffeln und Saumelonen verkocht Diva lieber Himbeeren und Erdbeeren, außerdem „tangerinas“ und „uvas“, Mandarinen und Trauben. Manchmal macht sie Obstschmier und verkauft ihn im Freilichtmuseum in Nova
Petrópolis und an Weihnachten und Ostern bietet sie dort Plätzchen und Ostereier an. Dann erklärt sie den Touristen aus São Paulo und Rio, dass die
Rezepte noch von ihren Vorfahren stammen, und spätestens wenn sie Portugiesisch mit deutschem Akzent spricht, finden die Touristen sie, die Brasilianerin, mindestens so exotisch wie Dirndlschürzen oder Fachwerkhäuser.
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22
Zuckerrohr
Brühe, Saft
oder
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Brasilien
Jutta Wasserrab
18. Trotz 8.700 Hektar landlos
Deutsche Trachten und donauschwäbische Häuser meidet João Ribeiro so
gut es geht. Als rechtmäßiger Erbe der Balbina-Ländereien sei man in der
Deutschensiedlung nicht gerne gesehen, sagt er. Fünf Siedlungen haben die
Donauschwaben in Entre Rios errichtet: Jordãozinho, Samambaia, Vitória,
der Verwaltungssitz der Kooperative, Cachoeira und - Socorro. Dorthin fährt
João Ribeiro gerade mit seinem schwarzen Fiat. Der Feldweg ist eine echte
Belastungsprobe für den kleinen Wagen, aber zum Glück hat es die letzte
Zeit nicht geregnet und der Weg ist trocken. Je zwei Schlaglöcher umfährt
er, in jedes dritte steuert João Ribeiro zielsicher hinein. Er ist ein guter Autofahrer, aber João Ribeiro ist aufgebracht und deshalb nicht bei der Sache.
Seinen Fünfzigsten hat er dieses Jahr gefeiert. Er ist ein bulliger Mann, der
aufgrund seiner Körpermasse das Lenkrad mehr umarmt denn führt. Sobald
ein Fahrzeug entgegenkommt, kurbelt er seine Fensterscheibe nach oben,
damit der aufgewirbelte Staub draußen bleibt. Manchmal kurbelt er allerdings erst, wenn der Gegenverkehr bereits vorbei ist. Dann legt sich die eingesperrte Staubwolke wie eine Decke über Fahrer und Armaturenbrett. João
Ribeiro bemerkt nichts von seinem sinnlosen Unterfangen, er zetert, wippt
unruhig auf seinem Sitz und füllt das kleine italienische Auto mit brasilianischer Präsenz.
„All das gehört den Donauschwaben“, sagt João Ribeiro wütend, während sich beim Vorbeifahren riesige Kornfelder aufblättern wie Fächer. Mit
nichts seien die Deutschen hier angekommen. „Damals sind sie mit einem
mickrigen VW-Käfer hier hereingefahren, heute bespritzen sie unsere Felder
mit Flugzeugen. Sie fliegen mit Flugzeugen, während wir uns im hintersten
Winkel mit einer Hacke abmühen.“ Die Weiden der „Paiol de Telha“ waren für João Ribeiro das gelobte Land: „Wir ernteten viel, es gab Unmengen Honig, alles war natürlich. Heute gibt’s nur noch Chemie und Gift. Das
ist absurd.“ Ihre Schweine trieben sie in die Maisfelder und unter die Obstbäume, damit sie sich an Kolben und überreifen Früchten satt fressen konnten. Es gab weder Grenzsteine noch Zäune. João Ribeiro sagt: „Wir respektierten uns gegenseitig, kannten unser Vieh am Ruf. Manchmal hast du dein
Tier vier Tage lang nicht gesehen, dann stand es eben in den Obstwiesen
und später hast du es wieder bekommen.“ Vor 40 Jahren machten die Donauschwaben aus dem gelobten Land produktives Land. Bäume, Hecken,
Sträucher haben sie entfernt, den Felder-Fleckenteppich zu großen Monoflächen zusammengefasst, damit die Landmaschinen ungestört ihre Bahnen
ziehen konnten. Und deswegen, befürchtet João Ribeiro, werde es nie mehr
so sein wie früher, selbst wenn er und die anderen ihr Land wieder bekommen sollten.
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Seit acht Jahren lebt er und 65 Familien in Socorro direkt hinter den Feldern der Donauschwaben in einem „assentamento“, wie Siedlungen ehemals Landloser genannt werden, die der brasilianische Staat anerkennt.
160 Familien hatten 1997 vor den Weiden der „Paiol de Telha“ kampiert,
aus Protest gegen die Landenteignung. 16 Monate hausten sie am Straßenrand unter Plastikplanen, machten die internationale Gemeinschaft auf sich
aufmerksam und setzten so die Landesregierung von Paraná unter Druck.
Über die nationale Behörde für Besiedelung und Agrarreform, Incra, habe
die Landesregierung das Problem auf ihre Weise aus dem Weg geschafft,
sagt José Vandresen von der Seelsorge für Landangelegenheiten. „Die Familien, die damals kampierten und in die Welt hinausschrieen, dass sie ihr
Land zurückhaben wollten, wurden einfach auf den Grund der Agrarreform gesetzt“, bemängelt er, „und das inmitten von lauter Deutschen.“ Man
habe sie behandelt wie Landlose, obwohl sie Erben von 8.700 Hektar Land
seien.
João Ribeiro bremst unvermittelt und hält neben einem Holzpfahl, der in
den Wegrand gerammt wurde. „Hier beginnt das Land, das uns Incra zugeteilt hat“, erklärt er, während er den Motor abstellt. „Die Deutschen haben
das gute Land, eben und fruchtbar. Uns haben sie den buckligen Rest überlassen, den die Deutschen nicht brauchen konnten.“ Und als müsste er beweisen, dass das Land nichts taugt, lässt er den Motor anspringen, fährt über
die staubige Bergkuppe und setzt sein Auto in die erstbeste Kuhle.
19. Der Doktor schaut jetzt öfter vorbei
„Unsere Schweine trieben sich in den Früchten herum und wurden schön
dick. Jetzt sieh sie dir an, hier sind sie furchtbar dünn geworden!“, sagt Anelita dos Santos und deutet lachend auf das schwarze Tier, das sich gerade
grunzend zwischen Hühnern und Hund seinen Weg bahnt. Sie sagt: „Wenn
ich die Deutschen sehe, werde ich wütend. Sie leben wie die Made im Speck
und wir müssen hier im Dreck abwarten.“ Anelitas Holzhaus steht auf Pfählen, darunter suchen Schweine und Katzen etwas Abkühlung in der Mittagshitze. Die Eingangstür steht weit offen, zwei kleine Kinder drücken sich
schüchtern gegen die Bretterwand. „Ich war zwölf, da kamen sie bewaffnet in unser Haus“, sagt die zweifache Mutter und wischt sich mechanisch
über den Arm, weil lästige „Borrachudo-Mücken“ zubeißen, sobald sie ruhig hält. „Jeder von ihnen hatte ein Gewehr.“ Damals lebte sie mit ihrer Familie noch auf den Weiden der „Paiol de Telha“. „Einen Bärtigen bat ich,
meinen Vater nicht zu vertreiben. Er steckte seinen Gewehrlauf in meinen
Mund und herrschte mich an, dass ich zu weinen aufhören sollte, sonst wür424
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de er uns alle töten und unser Haus verbrennen.“ Bevor sie fliehen, binden die Eltern ihren Kindern Betttücher und Töpfe auf den Rücken. „Unser
Haus haben sie verwüstet, alles, was gut war, verbrannt“, sagt Anelita. Ihr
Leben können sie retten.
Es ist nicht mehr João Pinto Ribeiro, der ihnen das Land abgaunert, immer häufiger kommt nun „der Doktor“ persönlich vorbei, um ihnen zu drohen. Manchmal unterstützen ihn Polizeibeamte, manchmal kommt er mit
seinen Scharfschützen, um die Bewohner der Weiden einzuschüchtern.
Am 17. September 1974 taucht plötzlich erneut eine Urkunde auf, die belegen soll, dass Polizeikommissar Oscar Pacheco die Weiden der „Paiol de
Telha“ rechtmäßig erworben hat. Und anders als in dem Dokument aus dem
Jahr 1967 ist die Größe des Landes nun bemerkenswerterweise ausgewiesen: 1.600 „alqueires“. Das entspricht in etwa dem Land, das Dona Balbinas Neffe den befreiten Sklaven Ende des 19. Jahrhunderts überlassen hatte.
Und in der Urkunde steht auch, wem Pacheco das Land mittlerweile verkauft haben will: den Donauschwaben, der mächtigen „Cooperativa Agrária
Mista Entre Rios“. Zum besagten Zeitpunkt habe Oscar Pacheco neunzig
Prozent des Landes erworben und weitergegeben, die fehlenden zehn würden die Donauschwaben noch bis 1975 direkt von den Nachfahren der befreiten Sklaven kaufen – mit deren Einverständnis.
Auf der Landlosensiedlung in Socorro sind mittlerweile die Nachbarkinder zusammengelaufen, ein junger Mann und seine schwangere Frau haben sich Stühle geholt und lauschen gespannt den Geschichten von Anelita
dos Santos und Maria Alves. „Klar hat Vater unterschrieben, mit dem Daumen“, bleibt Maria standhaft, obwohl ihr die drei Männer widersprechen,
die vor ihrem Haus um einen alten Motor knien und ihn zusammenflicken.
„Wir haben gar nichts unterschrieben“, brummt einer der Männer zurück
ohne aufzuschauen. „Wir nicht, aber Vater, der weder lesen noch schreiben
kann, hat die ganzen Papiere mit seinem Daumen abgestempelt“, antwortet Maria in ihre Richtung und stemmt die Hände in ihre Hüften. Sie sagt:
„Pacheco hat überhaupt nicht erklärt, was auf den Papieren steht, er war ja
schließlich auf der Seite der Deutschen. Er nahm es den Schwarzen weg
und gab es den Deutschen. Er sagte nur: ‚Unterschreib, das ist der Pachtvertrag!’.“ Der Vater unterschrieb in dem Glauben, das Land für drei Jahre
verpachtet zu haben. „Aber es war kein Pachtvertrag, sondern eine Überschreibung des Grundstücks“, sagt Maria und heftet ihren Blick auf ihre
Kittelschürze, „sie haben meinen Vater getäuscht und nicht nur ihn, sondern
alle, die nicht lesen konnten.“
Alle Familien hätten ihr Land verlassen, sagt José Vandresen von der Seelsorge für Landangelegenheiten. Sie hätten keine Wahl gehabt, weil sie bedroht
worden seien. „Diejenigen, die versucht haben sich zu wehren, bekamen den
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Dreschflegel zu spüren“, erinnert sich João Ribeiro, „sie wurden damit verprügelt, dann in Handschellen gelegt und abgeführt.“ Sie setzten Kopfgeldjäger auf sie an, verbrannten ihre Häuser und warfen 350.000 Kilo Dünger,
17 Dieseltrommeln und die Sojaernte von knapp 1.000 Hektar Ackerland ins
Feuer. „Außerdem zündeten sie unseren Traktor an, einen Massey Ferguson“,
sagt Domingos Guimarães, der am längsten von allen durchhielt.
Über zwanzig angeheuerte Kopfgeldjäger beobachten ihn von einem
Campingplatz aus. Tag und Nacht, zwei Jahre lang. Und er beobachtet sie.
„Ich ging aus dem Haus, um nachzusehen, was sie genau trieben“, sagt er.
„Der Typ muss mich und das Gelände gut gekannt haben. Offensichtlich hat
er die Basis der Kopfgeldjäger verlassen und ging an einen anderen Ort.“
Dann fällt der Schuss. „Hier in Brasilien nannten sie ihn Paulo“, sagt Domingos, „er war schon Eliteschütze während des Krieges. Das hatte er mir
selbst einmal erzählt. Als ich dort angeschossen wurde, war er plötzlich verschwunden.“ Domingos Guimarães überlebt, es hätte auch anders ausgehen
können. „Zwei von uns haben Pachecos Banditen sogar erschossen“, erzählt
Anelita dos Santos fast beiläufig, „sie haben sie in eine Plastikplane gewickelt und vergraben. Das ist ganz einfach zu beweisen: Sie liegen auf unserem toten Vetter.“ Domingos zieht an den Rand Guarapuavas, wie schon
andere Familien vor ihm und von dort nach São Paulo, als ihm Pachecos
Scharfschützen weiterhin nachstellen. Die Weiden der „Paiol de Telha“ sind
leer.
20. Vermischen, der Gesundheit zuliebe
„Unser größtes Problem im Gesundheitssektor ist der Alkoholismus“, sagt
Danusa Broseghini, Leiterin des staatlichen Gesundheitsamtes in Domingos
Martins, ohne nachzudenken. „Er ist die Ursache für viele Probleme: häusliche Gewalt, Verwahrlosung, Verkehrsunfälle und er ist der Einstieg in andere Drogen.“ Vor fünfzehn Jahren hätte Danusa Broseghini „Hautkrebs“
gesagt, denn damals gab es keine Früherkennung in der Region. „Die Betroffenen bekamen keinerlei Unterstützung“, sagt sie, „unser Krankenhaus
machte und macht keine Hautkrebsbehandlung, also mussten die Leute nach
Vitória oder sonst irgendwo hin. Aber in der Regel war es ohnehin zu spät.“
Als die ersten Bilder der krebskranken Pommern in die Öffentlichkeit kamen, war man entsetzt. Klara Haese war zu diesem Zeitpunkt schon einiges
gewohnt. Sie arbeitete damals wie heute beim „posto de saúde“ in Melgaço
im Landkreis Domingos Martins, eine Art staatliche Erste-Hilfe-Einrichtung, in der sie Patienten untersucht und wenn nötig an Spezialisten weitervermittelt. Wenigstens macht sie das heute so, früher seien die Leute nicht
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behandelt worden, sagt Klara Haese. „Viele haben große Wunden gehabt an
de Beine, an de Arme und auch em Gesicht, bis sie dann gestorben sind.“
Unter der Woche geht sie um sieben in die kleine Behandlungsstation, um
zwölf eine Stunde Mittagspause, danach geht’s weiter bis vier. Und falls sie
gerufen wird, kommt sie auch am Wochenende, obwohl sie 71 ist und ein
wenig Erholung dringend brauchen könnte. Aber sie hat es wenigstens nicht
weit. Von ihrem Haus kann sie den Behandlungsraum beinahe sehen. Sie
wohnt am Fuß eines bewachsenen Hügels, der „posto“ steht am Hang.
Noch immer kommt es vor, dass die Pommern nicht richtig behandelt
werden – wie Helmut Eggert. Über drei Jahre beschwichtigt ihn sein Arzt,
kann nichts Bedrohliches an der kleinen Wunde im Lidwinkel erkennen.
„’Da ist nichts!’, hat er gesagt“, erzählt Helmut, „’denken Sie etwa das ist
Krebs? Nicht doch, machen sie sich keine Sorgen, Helmut, das hier ist nur
eine kleine Entzündung. Die geht wieder vorbei!’.“ Helmut Eggert vertraut
ihm, bis die Wunde so groß ist, dass selbst jeder Laie den Krebs diagnostizieren kann.
„Vor kurzer Zeit ist hier ein Sohn gewesen, der wohnt hier unne“, erzählt
Klara Haese, „er hatte eine Wunde auf’m Fuß. Der Arzt hat etwas herausgeschnitten, aber kein Exame23 daraus gemacht.“ Der Patient kam ein zweites
Mal, wieder wird er operiert, wieder wird das herausgeschnittene Gewebe
nicht untersucht. „Als ich das gesehen habe, hab ich gesagt: ‚Du darfst das
aber nicht so lassen! Du musst nach nem richtigen Arzt gehen!’.“ Der junge Mann hält sich an den Ratschlag. Das Gewebe wird untersucht, die Ärzte
stellen Krebs fest. „Zuerst haben sie ihm die ganze Haut aufgetrennt und
große Teile herausgeschnitten“, erzählt Klara Haese weiter. Aber der Krebs
saß bereits zu tief im Fuß. „Da mussten sie ihm das Bein abmachen.“
Solche Schicksale sind mittlerweile nicht mehr die Regel, sondern die
Ausnahme, denn seit 15 Jahren machen die Leute in Melgaço eine jährliche Krebsvorsorge. Das Programm beschränkt sich nicht nur auf Domingos Martins. In zehn weiteren Provinzstädtchen haben die zuständigen Gesundheitsämter das Programm eingeführt – in Vila Pavão und Vila Valério,
Itarana, Itaguaçu, Afonso Cláudio, Laranja da Terra, Santa Maria de Jetibá, Baixo Guandu und São Roque do Canaã, überall dort, wo viele Pommern leben. Alle vier Wochen setzt sich von Vitória aus ein Helfertross in
Bewegung: drei Dermatologen und 15 Medizinstudenten. Die städtischen
Gesundheitsämter stellen Assistenten, Kombis, Medikamente und Geräte.
Für kleinere Städte manchmal ein Kraftakt, lamentiert Danusa Broseghini
vom Gesundheitsamt in Domingos Martins. 2002 sollte Geld von der Lan-
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von port. exame: hier Gewebeuntersuchung
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desregierung kommen, darauf warten sie noch heute. Sie sagt: „Die Landesregierung weiß, dass wir das spezielle Problem des Hautkrebses haben.
Aber wir sind eine kleine Stadt, wir sind hier mitten in den Bergen und leider haben größere Städte andere Probleme als wir, zum Beispiel Gewalt.
Tja, und leider fließt das Geld eher in die großen Städte wie Vitória oder
Vila Velha.“
Letztes Wochenende hat Dermatologe Roberto Pagung 300 Patienten in
Afonso Cláudio untersucht. Er führt das Lebenswerk fort, das Doktor Carlos Cley vor rund 15 Jahren begonnen hat. Ein Patient in Afonso Cláudio
hatte schwarzen Hautkrebs. „Würden wir darauf warten, dass dieser Patient
nach Vitória kommt, um sich behandeln zu lassen, er würde mit ziemlicher
Sicherheit nicht kommen und innerhalb von sechs Monaten sterben“, sagt
der junge Arzt, der selbst von Pommern abstammt. Die pommerschen Kleinbauern seien heute noch hilflos. „Sie sind sehr verschlossen, schüchtern,
schämen sich für jede Kleinigkeit. Sie trauen sich nicht, fremde Menschen
anzusprechen, geschweige denn, ein Gespräch mit ihnen zu führen. Lieber
verstecken sie sich zu Hause.“
Die Praxis des jungen Dermatologen ist im zehnten Stock eines Hochhauses, in der mondänsten Ecke der Hauptstadt Vitória. Er trägt blonde
Strähnchen im Haar, die oberen Kragenknöpfe seines modisch geschnittenen Hemdes stehen offen und seine Ärmel hat er leger nach oben gekrempelt. An seinem Mittelfinger sitzt ein dicker silberner Ring. Von seinen Fenstern aus blickt Roberto Pagung direkt auf die wichtigste Straße der Stadt, die
„Reta da Penha“. In seinem Sprechzimmer hat alles seinen festen Platz, der
Raum wirkt geordnet, strukturiert, aber nicht allzu zweckmäßig. Wenn er in
die Provinz fährt, sieht seine Praxis anders aus: ein Kirchenschiff, ein Zelt
oder ein Gemeindehaus, Hauptsache ausreichend Platz für drei- bis fünfhundert Leute, die sie an einem Wochenende durch die Untersuchung schleusen. „Es geht ein wenig zu wie in einem Feldlazarett“, sagt Roberto schmunzelnd. Er sitzt hinter seinem Schreibtisch und während er spricht, zeichnet er
mit seinen großen Händen Luftbilder ins Sprechzimmer. „Es gibt einen riesigen Raum mit einem Haufen Trennwände, aber es sind ja auch nur kleine
Eingriffe, die wir vornehmen.“
Bei zehn bis fünfzehn Prozent der Patienten stellt er Hautkrebs fest. „Wir
sind sehr direkt zu unseren Patienten. Wir sagen: ‚Das ist Hautkrebs, den
machen wir weg und damit ist Ihr Problem gelöst!’“ Verhindern könnten
die mobilen Ärzte mit ihrer Untersuchung den Hautkrebs allerdings nicht,
nur frühzeitig erkennen. Letztlich hätten die Pommern nach ihrer Ankunft
in Brasilien falsche Entscheidungen getroffen, sagt Roberto Pagung. „Als
sie aus Deutschland, aus dem Norden, kamen, hatten sie noch die Angewohnheit, geschlossene Kleidung zu tragen. In der Hitze haben sie diese mit
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der Zeit verloren.“ Jetzt müssten sie sich an die alte Kleiderordnung wieder
gewöhnen. Und dann fügt er nachdenklich hinzu: „Die Pommern heiraten
noch immer untereinander. Ich möchte nicht sagen, dass sie noch ihre Angehörigen heiraten, aber sie vermischen sich kaum mit anderen Rassen.“ Die
Haut bleibt hell und anfällig. So hat die selbst gewollte Isolation die Pommern ein Stück weit krank gemacht.
21. „Halbschwarze und so etwas“
„Wir waren in Nova Petrópolis zu 96 Prozent deutschstämmig“, sagt Pastorentochter Ilse Evers und so wie sie das sagt, weiß man nicht, ob sie diesem Zustand nachtrauert oder nicht. Vor einigen Jahren haben die Zeitungen
das Leben in den südbrasilianischen Provinzen entdeckt und darüber berichtet – sie beschreiben ein Paradies, in dem es Arbeit, Schulen und wenig Kriminalität gibt. Die Industriellen hatten ihre Kleidungs- und Schuhfabriken in
der Umgebung hochgezogen, sie brauchten Arbeitskräfte und die wandern
daraufhin aus allen Ecken Brasiliens zu. „Und das sind natürlich Gemischte,
Schwarze und Halbschwarze und so etwas“, sagt Ilse Evers, ohne die Stimme abzusenken, jetzt sehe man hier schon oft deutsch-brasilianische Hochzeiten. „Schon“, sagt sie, obwohl der erste deutsche Einwanderer vor knapp
150 Jahren nach Nova Petrópolis kam. Wenn es nach ihr ginge, sollte für diese Art gesellschaftlicher „Experimente“ noch etwas Zeit vergehen. Sie sagt:
„Die Indianer hatten ihren eigenen Lebensstil, die Neger auch, und die Lusos waren die Herren des Landes. Noch bis vor 50 Jahren trugen die portugiesischen Männer lange Fingernägel, um zu zeigen, dass sie nie die Hand
schmutzig machen. Das brauchte man nicht als Herrscher des Landes.“ Das
pralle auf die deutsche Mentalität, auf ihren Fleiß, ihre Arbeitslust, von der
Ilse Evers felsenfest überzeugt ist, dass sie eine Besonderheit der Deutschbrasilianer ist. „Wie sich das ausgleichen wird, weiß ich nicht“, sagt sie.
„Wir Deutschbrasilianer haben unsere Pflicht erfüllt“, schnaubt Renato Seibt, der Hobbyhistoriker. In Nova Petrópolis nennen sie ihn Renatão,
Big Renato, wobei nicht ganz klar ist, ob der Spitzname eine Ehrerbietung
an sein Geschichtswissen ist oder eher ein Hinweis auf seine Körperfülle.
Nicht genügend integriert, was das überhaupt heißen solle, will er wissen,
ohne eine Antwort abzuwarten. „Als die Deutschen hier ankamen, hat die
brasilianische Intellektualität die Franzosen nachgeäfft“, sagt er. Der Handel
sei in britischer Hand gewesen. „In was integrieren?“, echauffiert er sich.
Wofür hätte man für eine solchen Gesellschaft die eigenen Traditionen aufgeben sollen? „Nur weil ich nicht alles wegwerfen will, was ich geerbt habe,
heißt das nicht, dass ich mich nicht integrieren will!“ An Integrationswillen
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habe es jedenfalls nicht gefehlt, beendet Renato Seibt seine Wortwelle, die
seit Minuten über sein Gegenüber schwappt. Höchstens von einem Identifikationsproblem könne man reden, eröffnet er seinen Monolog erneut, deutet
aber durch Satzpausen an, dass diesmal Interventionsmöglichkeit besteht.
Er sagt: „Die Leute wussten erst nicht, was sie eigentlich sind. Sie werden erst nicht als Brasilianer angesehen, aber Deutsche sind sie auch keine
mehr.“ Er für sich, sehe da klar. Er sei Brasilianer - deutscher Abstammung.
Nun ja, wenn die deutsche Nationalelf auf die brasilianische treffe, dann
müsse man aufpassen. „Wie sagt man“, fügt er noch an, „zwischen die Gitarr und die Mandoline dut mein Herz schwanken.“
22. Landlos in Österreich
Fleißig sind die Deutschen, da stimmt Domingos Guimarães mit Ilse
Evers überein. „Sie sind sehr produktiv. Aber sie respektieren die Rechte
der anderen nicht, die sie selbst für sich beanspruchen. Was sie in die Hände nehmen, gelingt. Aber sie sind Banditen.“ Nur so kann er sich erklären,
warum die Donauschwaben bis heute ihm und den anderen Nachfahren die
paar Hektar Land nicht zurückgeben wollen, die ihnen Balbina einst vermacht hat. Stattdessen hätten ihn die Donauschwaben von seinem Stückchen Land vertreiben lassen.
Vor dem Krieg lebten die Donauschwaben mit den anderen Tür an Tür,
freundschaftlich verbunden. In der neuen Heimat Jugoslawien waren die
500.000 Donauschwaben eine kleine Minderheit der insgesamt 14 Millionen Einwohner. Von über zwölf verschiedenen Völkern im Land waren Kroaten und Serben die größten.
Als am 6. April 1941 die deutsche Wehrmacht Belgrad bombardiert, ändert sich das freundschaftliche Verhältnis. An der Seite der Wehrmacht
kämpfen die Ustaše, Kroatiens Klerikalfaschisten, verfolgen Juden, Muslime und Serben. Am 16. September 1941 befiehlt Hitler, künftig für jeden
gefallenen oder verwundeten deutschen Soldaten fünfzig bis hundert Feinde
zu töten. Ein Freibrief für den Mord an Gefangenen, dem nicht nur jugoslawische Partisanen zum Opfer fallen. Aber es sind vor allem sie, die sich
dafür rächen, an deutschen Soldaten – und den Donauschwaben, die allzu
oft mit Hitlers Wahnvorstellungen sympathisieren. Tausende Donauschwaben fliehen vor den so genannten Tito-Partisanen und als 1944 die Rote Armee immer näher rückt, verlässt, wer kann, die neue Heimat. „Als sie aus
Jugoslawien geflüchtet sind, mussten sie alles liegen lassen. Sie sind nach
Österreich gekommen und haben nichts gehabt“, sagt Lore Schneiders von
der Kulturstiftung in Entre Rios. Nur das allernötigste konnten sie auf Ross430
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wagen packen. Allein 630.000 Hektar Land der Donauschwaben gehen als
„Verfügungsmasse“ in der kommunistischen Landreform auf. Die Flucht
wird zum umgekehrten Schwabenzug. 500.000 gehen zurück nach Deutschland, rund 130.000 finden in Österreich eine neue Heimat, darunter auch
Lore Schneiders’ Eltern. Rund 200.000 bleiben in Jugoslawien, weil sie die
rasch durchziehende Rote Armee überrumpelt, oder sie nicht fliehen können
oder wollen. Sie geraten unter die Herrschaft der Tito-Partisanen, die tausende Männer im wehrfähigen Alter erschießen, zehntausende donauschwäbische Frauen, Kinder und Alte in Lagern vernichten.
Lore Schneiders beschäftigt sich beruflich mit dem Schicksal ihrer Landsleute, aber wenn sie die Geschichte der Donauschwaben erzählt, erzählt sie
gleichzeitig ein Stück Familiengeschichte. Ihre Eltern bleiben sieben Jahre
in Österreich, dann brechen sie erneut auf. „Sie waren ja immer noch Bauern gewesen und wollten auch Bauern bleiben“, sagt Lore Schneiders. In Österreich hatten sie jedoch kein Land. „Viele wohnten bei anderen Bauern, in
Schulen und Auffanglagern.“ In einem Land, in dem der wirtschaftliche Aufschwung langsam zu spüren ist, sind Subsistenzwirte ohnehin Bremsklötze.
Brasilien hingegen ist interessiert an den Weizenbauern, um sich schrittweise
unabhängig zu machen von Getreideimporten aus Europa und Nordamerika.
23. Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder…
„Die Donauschwaben haben viel mehr als nur dieses Stückchen Land. Für
sie ist das ein Nachtisch“, sagt Ana da Cruz. Was sind schon drei- bis viertausend Hektar im Vergleich zu 156.000, die den Donauschwaben niemand
streitig machen möchte. „Ein Aperitif“, korrigiert sie sich, froh, einen besseren Vergleich gefunden zu haben. Vor acht Jahren ist sie nach Guarapuava
zurückgekehrt, ist mittlerweile die Stimme der Nachkommen der befreiten
Sklaven in Socorro. Gerade eben trägt sie hocherhobenen Kopfes eine Neuigkeit durch die Straßen, die sie mehr als amüsiert: „Habt ihr gehört, nicht
mal mit einer Deutschen wollten sie über die Weiden der ‚Paiol de Telha’ reden, nicht mal mit einer Deutschen!“
„Da weiß ich nichts, da kann ich nichts sagen“, hatte Lore Schneiders, die
Leiterin der donauschwäbischen Kulturstiftung, die Frage nach dem Streit
über die Weiden der „Paiol de Telha“ offen gelassen und auf den Pressesprecher Manoel Godoy verwiesen. Das war ein paar Stunden vor Anas Triumphzug durch die Siedlung in Socorro. Dann hatte Lore Schneiders auf die nächste Frage gewartet und war erleichtert, als sie sich wieder den Jahren nach
1975 zuwenden konnte. Manoel Godoy ließ zunächst das Aufzeichnungsgerät abstellen und verwies auf die Direktoren. Die ihrerseits ließen ausrich431
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ten, sie bräuchten ein paar Monate Vorlauf, wenn man wieder nach Brasilien
kommen sollte und weiterhin Interesse an der Geschichte bestünde, könne
man sich gerne wieder melden. Ein Telefoninterview von Deutschland aus?
Nein, sagte Pressesprecher Manoel Godoy noch zum Abschied, das sei leider
nicht möglich, nur ein Interview vor Ort. Man solle das verstehen.
Seit geraumer Zeit äußert sich die Kooperative nicht mehr zum Thema.
Sie sehen sich als die rechtmäßigen Käufer der Weiden „Paiol de Telha“.
Trotzdem haben sie vorgebaut, falls sich die Urkunde aus dem Jahre 74 doch
als wertlos herausstellen sollte. 1981 wendet sich die Kooperative deshalb
an die Justiz in Guarapuava mit der Bitte, sie möge das Land der Kooperative zuerkennen, weil sie es über Jahrzehnte bewirtschaftet hat. Zehn Jahre
später entscheidet das Gericht zugunsten der Kooperative und trägt sie als
rechtmäßigen Eigentümer der Weiden ins Grundbuch ein. „Aber der Prozess
ist eine Farce“, sagt José Vandresen von der Seelsorge für Landangelegenheiten. Der Richter, der hauptsächlich mit dem Fall betraut ist, heißt Amoriti
Trinco Ribeiro und ist der Sohn des João Pinto Ribeiro, der sich 1967 unter zweifelhaften Umständen das Land angeeignet und an Polizeikommissar
Oscar Pacheco weiterverkauft hat. „Kurz vor der Urteilsverkündung nominiert er einen anderen Richter“, sagt José, „damit der Betrug nicht allzu offensichtlich wird.“ Die Unterschrift leistet ein Richter aus dem benachbarten Gerichtsbezirk Pinhão, angeblich ein Freund der Familie Ribeiro.
Mittlerweile war der Streit um die Weiden schon bei der Bundesanwaltschaft in Brasília. Sie untersuchte den Vorgang, bestätigte Unregelmäßigkeiten und verwies den Prozess erneut an den Bundesstaat Paraná. José
Vandresen ist erleichtert: „Der Prozess ging nicht mehr nach Guarapuava
zurück, weil wir glaubhaft machen konnten, dass der hiesigen Justiz nicht
vertraut werden kann. Weder sie noch die Polizei Staatsanwaltschaft aus Guarapuava sind unparteiisch. Sie sind parteiisch.“ Der Prozess liegt in Londrina, weit entfernt von Guarapuava. Der zuständige Staatsanwalt hat sich angekündigt und will nach Socorro kommen. Das habe es noch nie gegeben,
sagt José. Bisher wären die Staatsanwälte nie daran interessiert gewesen,
was die Nachfahren der elf befreiten Sklaven zu sagen hätten. Die Erben
Dona Balbinas haben wieder Mut geschöpft und Wortführerin Ana da Cruz
glaubt fest daran, dass sie die Weiden zurückbekommen werden: „Wir sind
stärker als nie zuvor. Wie sind Brasilianer, wir sind schwarz und wir werden
auf keinen Fall mehr aufgeben, niemals!“
Inmitten ihrer fünf Kolonien haben die Donauschwaben 1967 eine Marienkapelle errichtet. Sie sei die etwas verspätete Einlösung eines Versprechens, sagt Lore Schneiders von der Kulturstiftung der Donauschwaben,
„weil s’is versprocha wora, wenn wir irgendwo widda hinkumma, wo mir
kenna in Frieda leba, wo wir kenna für unsre Kender für de Zukunft sorga,
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dann baue ma a kloane Kapell.“ Über sechzig Jahre sind vergangen, seit ihre
Eltern aus den Kriegswirren Jugoslawiens geflohen sind. Jedes Jahr machen
die Donauschwaben im Oktober eine kleine Wallfahrt zur Kapelle. Sie haben eine neue Heimat gefunden, es geht ihnen wirtschaftlich gut – sie leben
nicht im Krieg, in Frieden leben sie trotzdem nicht.
24. Mutter stirbt auf Seite drei
Während des Ersten Weltkrieges bricht der Kontakt zur Mutter und den drei
Geschwistern in Böhmen ab, „durch diesen entsetzlichen Krieg“, wie Diva Hillebrands Urgroßonkel Josef am 26. Dezember 1919 an seinen Bruder Heinrich
schreibt. Es ist der erste Brief nach fünf Jahren. 42 Jahre sind vergangen, seit
Heinrich mit seinem Vater Eduard Langenau verlassen hat, aus Eduard wurde
Eduardo, aus Heinrich Henrique. „Wie ist es euch ergangen in dieser Zeit?“,
fragt Josef. Dann schreibt er weiter: „Uns ist es sehr schlecht ergangen, schon im
ersten Herbst dieses Krieges haben wir die Lebensmittel abgeteilt bekommen
[...] Von der Behörde war vorgeschrieben wöchentlich 1¼ Kilo Brot, ½ bis 1 Kilo
Mehl“, dann fügt er noch in Klammern hinzu: „das Mehl war aber manchmal
schlechter als zu Friedenszeiten das Schweinmehl, und in das Brot war allerhand Dreck reingebacken, nämlich gemahlene Haferspreu, Kastanien, auch
Sägespäne.“
Vielleicht hatte er vergessen, was sein Bruder von Beruf ist, Josef lässt in
seinem Brief jedenfalls keinen Zweifel daran, was er von den Bauern seines Landes hält. Für ihn sind sie Kriegsschmarotzer, die mit Wucherpreisen im Schleichhandel rücksichtslos Geld machen und die Industriearbeiter
um ihre letzten Ersparnisse bringen. Drei Seiten schreibt er über Zucker-,
Fett- und Butterpreise, über Lebensmittelschmuggel und Schwarzmärkte im
Oberland, dann notiert er am Seitenende: „Unsere Mutter ist heuer im Januar 1919 an Altersschwäche gestorben. Sie war im 88sten Jahr.“ Auf der
nächsten Seite erkundigt er sich nach dem Befinden seines Vaters. „Wenn er
noch lebt“, bittet er seinen Bruder, „sage ihm die besten Grüße.“ Zu diesem
Zeitpunkt ist Eduard Jahnel über drei Jahre tot.
Dreißig Jahre später kommen dicht hintereinander vier Briefe in Brasilien
an. Sie gleichen inhaltlich Josefs Brief. Diesmal ist es Marie Werner, die sie
abschickt, nicht mehr aus dem Sudentenland in der Tschechoslowakei, sondern aus dem Brandenburgischen. Und diesmal richtet sie die Briefe an die
Kinder Heinrichs, es sind ihre Nichten und Neffen, sie nennt sie „Cousine“
und „Cousin“. Ihre neue Adresse verrät nichts darüber, unter welchen Umständen sie von der Tschechoslowakei nach Deutschland kam. Aber nach
dem Zweiten Weltkrieg werden die Sudetendeutschen „vertrieben“, sagen
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die Kritiker Tschechiens, „ausgewiesen“ die Verteidiger. Unbestritten ist:
Zum ersten Mal lebt Marie Werner tatsächlich in Deutschland. Ein Glücksfall für Diva Hillebrand, den sie nicht richtig begreift. Langenau heißt Skalice, Haida mittlerweile Nový Bor, sie hat nichts aus dem damaligen Böhmen,
keinen Straßennamen, keine Hausnummer, nur ein Foto vom damaligen
Haus der Familie. Über das neue Zuhause weiß sie alles: Ort, Straße, Hausnummer. Es wirkt wie eine Aufforderung, was Marie Werner am Ende ihres
allerletzten Briefes niederschreibt: In geschwungen Lettern steht dort noch
einmal ihre komplette Adresse.
Marie Werners Briefe sind Dankesbriefe. „Kamma sich gar net vorstelle,
was die alles mitgemacht hon“, sagt Diva Hillebrand und stützt ihren Kopf
in die Hand. Ihre Großmutter konnte es sich vorstellen und half. Nach dem
zweiten Weltkrieg schicken Heinrichs Kinder ein Paket mit Reis, ein Paket Schmalz, eines mit Leberpastete und ein Paket Linsen. Jedes wiegt fünf
Kilo. Es ist nicht das erste Mal und weitere „Liebesgaben“, wie Urgroßtante Marie Werner sie nennt, werden folgen. Divas Mutter Lina erinnert sich:
„Mei Mamma hat manchmol gsaht: ‚Mechte die das aach kriehn, wer wees,
wer das kriaht?’.“ Trotz Zweifel, die Pakete kommen an. Marie Werner bedankt sich dafür. Sie schreibt, vier Pakete seien „über Schweden in gutem
Zustand angekommen“. Diva rutscht ein paar Zeilen nach unten und liest:
„Die Leberpastete und der Schmalz sind in solcher feiner Qualität, wie ich
dieselben“, an dieser Stelle fehlt ein Stück des Briefes und sie muss sich
durch Satzfetzen hangeln: „Jahren nicht mehr gegessen habe. […] mir mit
diesen Liebesgaben wieder […] geholfen und Euch allen meinen lieben […]
nicht genug dafür danken.“
Es ist Paulo Evers, der die Pakete von Nova Petrópolis in die sowjetische
Besatzungszone schickt, Divas Familie ist damit überfordert, der Pastor ist
ein erfahrener Mann. „Liebesgaben“ verschickt er nicht zum ersten Mal.
Die Nachrichten über das Elend in Europa hatten den deutschen Pastor sofort nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges mobilisiert. Er organisiert eine
Hilfsaktion, zunächst in kleinem Stil. „Die Bauern hier waren ja selbst alle
bettelarm“, sagt Ilse Evers, „aber nach einigem Hin und Her hieß es: ‚Wir
haben etwas, was die drüben brauchen: Fett, Schweinefett!’.“ Jeder hatte
Schweine zuhause, jeweils am Schlachttag zweigen die Bauern ein Blech
Schweinefett für Deutschland ab. Sie sammeln es in großen Tonnen. „Für
uns Kinder war das interessant, wie der Schmied den Deckel oben zulötete“,
erinnert sich Ilse Evers, „und dann wurden die Tonnen auf den SchweineCaminjau24 aufgeladen.“ Über Porto Alegre kommt die Hilfe nach Deutsch-
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von port. caminhão: Lastwagen, Transporter
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Brasilien
Jutta Wasserrab
land. Später wird die Hilfsaktion auf ganz Brasilien ausgeweitet. „Das war
tragisch drüben, die Leute starben vor Hunger und wir hatten das in den
Nachrichten gehört“, sagt Ilse Evers. Vor allem zwischen 1946 und 1948
schicken Brasilianer Mehl, Reis, Wäsche, Kaffee, alles, was sie entbehren
können. Tag und Nacht füllen Frauen in den Kirchengemeinden Pakete. Die
16-jährige Ilse Evers beantwortet Dankesbriefe aus Europa. Und natürlich
bekommt die brasilianische Hilfsaktion einen Namen: SEF, „Socorro à Europa Faminta“, „Hilfe für das hungernde Europa“. „Wenn man denkt“, sagt
Ilse Evers, „wir armen Brasilianer haben dem hungernden Europa Hilfe geschickt! Das weiß kein Mensch mehr.“
25. Warten auf die Deutschländer
Insgesamt wüssten die Deutschländer nicht viel über sie, glaubt Diva Hillebrand. Sie merkt das, wenn Touristen aus Deutschland zu ihr ins Freilichtmuseum kommen und völlig baff sind, dass sie, die kleine Frau mit der hellen Haut und dem etwas verhaltenen deutschen Wesen, eine Brasilianerin
sein soll, dass es Menschen wie sie in Brasilien überhaupt gibt.
Ob ihre Verwandten in Deutschland etwas von ihrer Existenz wissen? Sie
würde gerne etwas über ihre Herkunft, ihre Wurzeln erfahren, obwohl genügend Geschichten durch die Gegend geistern, über Deutschbrasilianer, die ihre
deutschen Verwandten mühevoll ausgegraben haben und dann doch vor verschlossener Tür standen. Viele Deutsche würden den Kontakt mit den brasilianischen Angehörigen meiden, oft aus Angst, die „armen“ Verwandten könnten
Ansprüche stellen. Diva weiß nicht einmal, welche Ansprüche sie stellen
könnte. Sie ist zufrieden, ihre Schwester und ihre Eltern wohnen in ihrer Nähe,
sie hat ihren Hof, ihre Berge, den Regen, der, wenn er einmal kommt, wie dicke Schnüre vom Himmel fällt. Brasilien ist ihr Zuhause. Sie glaubt nicht, dass
sie je nach Deutschland reisen könnte, ihre weiteste Reise ging ins benachbarte Santa Catarina. Aber vielleicht könnten die deutschen Verwandten bei ihr
vorbeisehen, beim nächsten Familienfest beispielsweise, damit sie sie einmal
kennen lernen und mit ihnen sprechen könnte. „Das wär mein Wunsch, ja das
wär mein Wunsch“, sagt sie und fügt dann leise hinzu: „Leicht isses vielleicht
net, aber misset doch grad so die Verwandte sinn wie hier aach.“
26. Danke
Ein herzliches Dankeschön geht an Ana, Gil, Joãozinho, Jozi und Zinha sowie die Familien Hillebrand und Grings, deren Hilfsbereitschaft und
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Brasilien
Gastfreundschaft unbezahlbar war, außerdem an Célia Weber, Gisela Spindler, Blásio Bervian, Glaci Sieben und Joel Velten. Dank auch den Mitarbeitern von RCP - TV Paranaense und den vielen, vielen Gesprächspartnern,
die mir in Brasilien ihre Zeit, meist sehr viel Zeit, geschenkt haben. Ein aufrichtiges Dankeschön geht nicht zuletzt an Ute Maria Kilian und die HeinzKühn-Stiftung – sie haben mir die Reise erst ermöglicht. Muito obrigada,
valeu!
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