Das Buch - Helga Friederike Karoline

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Das Buch - Helga Friederike Karoline
Lore de Chambure
Helga Friederike Karoline
Romanbiographie
(c) 2013 Lore de Chambure
13, rue de Tournon
75006 PARIS
Tel.: +33 1 43 29 50 25
E-Mail: [email protected]
ISBN: 978-3-933431-80-6
1. Kapitel: Weihnachten 1915
„Ich will aber eine richtige Puppe!”, brüllte Luise und trat
mit dem Fuß gegen die Wiege. Das Wickelkind kräuselte die
Stirn unter dem weißen Baumwollhäubchen, ballte die Fäuste
und öffnete den winzigen Mund, schrie dann aber doch nicht,
sondern schlief weiter.
„Wer wird denn da”, sagte Fräulein Dahm und blickte Luise
streng an, „so darfst du doch nicht reden. Soll ich das deinem
Vater schreiben, was meinst du?”
Luise stampfte auf.
„Aber Karlchen hat doch auch das gekriegt, was er sich gewünscht hat!”, schrie sie, und die Spange eines ihrer langen
Zöpfe traf Fräulein Dahms rechte Hand.
Der neunjährige Karl stand im Matrosenanzug dicht neben
dem Weihnachtsbaum und drehte unbehaglich einen Schraubenschlüssel zwischen den Fingern. Er hatte gerade den Metallbaukasten von Märklin aus dem Packpapier mit den goldenen Sternen gewickelt, während Luise in der Wiege das
Wickelkind entdeckte.Vor lauter Aufregung hatte er gar nicht
richtig zugehört, als Fräulein Dahm die Tür des Bescherungszimmers leise geöffnet und dabei etwas geflüstert hatte. Jetzt
war er allerdings aufgesprungen, weil ihm die Wutausbrüche
seiner großen Schwester jedes Mal aufs Neue Angst einjagten.
„Ich wollte eine Puppe, so eine von der Käthe, eine weiche
mit richtigen Haaren, die man kämmen und bürsten kann.”
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Luises Stimme klang immer noch schrill.
Fräulein Dahm rieb sich die Hand und wusste ausnahmsweise nicht, was sie tun sollte.
Dabei war bisher alles so glatt gelaufen.
Als die Hebamme sich mit ihrem riesigen Korb durch die
Haustür geschoben hatte, freundlich lächelnd, behäbig und dabei überraschend gewandt, waren die beiden Kinder und sie
selber in ihre Mäntel geschlüpft und hatten sich auf den Weg
zur Kirche gemacht. Der Kindergottesdienst begann um halb
vier, und es war schon dunkel. Unterwegs hatten sie zwei von
Luises Klassenkameradinnen getroffen, und die Mädchen waren in ihrer Vorfreude über den glatten Bürgersteig gerutscht,
bevor sie sich dann in der Nähe der Kirche untergehakt hatten.
Fräulein Dahm hatte sich auch im zweiten Kriegsjahr noch
nicht daran gewöhnt, die Weihnachtslieder nur von Frauenund Kinderstimmen gesungen zu hören. Normalerweise fiel ja
wenigstens der Pastor mit seinem Bass aus dem Rahmen, aber
diesmal war er so erkältet gewesen, dass man die kurze Predigt
kaum verstanden hatte. Was die Orgelbegleitung anging, so ließ
sie eigentlich zu wünschen übrig, dachte Fräulein Dahm noch
und zog ihre schwarze Wollmütze etwas tiefer über die Ohren.
So gut wie Herr Breckenfels spielte Fräulein Bröker nicht; aber
sie war ja auch Klavierlehrerin, und außerdem: Man musste
überall ohne die Männer zurechtkommen. Sie hatte einmal mit
ihren behandschuhten Händen über die Augen gewischt und
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dann ihre Aufmerksamkeit auf das Krippenspiel vorn am Altar
gelenkt.
Karl hatte den viel zu großen Hut seines Vaters nach hinten
geschoben; bei den Proben war er ihm nämlich immer wieder
über die Ohren gerutscht, und das tat der Wichtigkeit seiner
Rolle doch Abbruch. Unter dem Kittel, aus einem aufgetrennten Sack zusammengeheftet und in der Mitte von einem Strick
gehalten, ragten die Pulloverärmel heraus, die Karl so weit
wie möglich über die Hände gezogen hatte. Es war kalt in der
Kirche, so kalt, dass die drei Engelchen in ihren hellen Nachthemden sichtbar zitterten, obwohl auch sie lange Strümpfe und
gewiss dicke Unterwäsche trugen. Wahrscheinlich hatte Frau
Pastor dafür gesorgt, dass sie wenigstens nicht direkt auf dem
Steinfußboden knieten: Die Krippe mit dem Jesuskind aus Celluloid darin stand auf einem braunen Teppich, unter dem ganz
rechts übereinander geschichtetes Zeitungspapier herausschaute. Else Landwehr, die Nachbarstochter, spielte die Maria. Sie
war wirklich hübsch anzusehen mit dem blauen Tuch, das Haar
und Schultern bedeckte, dem roten Wollkleid von Luise, viel
zu lang für sie und gerade deshalb ein Gottesgeschenk an diesem Heiligen Abend, dachte jedenfalls Fräulein Dahm, weil es
bis auf die Füße fiel und mit Sicherheit schön warm hielt.
Anfangs war Luise ziemlich eifersüchtig auf Else gewesen,
aber nachdem Frau Pastor ihr taktvoll zu verstehen gegeben
hatte, zwei Kindern aus einer Familie könnte sie doch nun
wirklich nicht die beiden Hauptrollen übertragen, hatte sie sich
damit getröstet, dass Else immerhin ihre beste Freundin war.
Frau Landwehr hatte Fräulein Dahm gegenüber mit einem kleinen Lachen in der Stimme geäußert, Luises straßenbekannte
Heftigkeit entspreche ja nun auch nicht gerade dem Bild, das
man sich von der demütigen Jungfrau Maria mache. Ja, ja, ansonsten sei sie schon recht, halt nur ein wenig unbotmäßig.
Und da konnte Fräulein Dahm nur zustimmen.
Die Gemeinde hatte dann Kommet, ihr Hirten gesungen,
dick eingemummelte kleine Jungen mit Stöcken in den Händen waren durch den Mittelgang nach vorn gelaufen, hatten
Josef einen Krug Milch und ein Schafsfell überreicht und sich
auch hingekniet, während Fräulein Bröker das Lied von Peter Cornelius auf der Orgel spielte, Drei Kön’ge wandern aus
Morgenland, und Luise, jetzt aber doch Luise, dazu sang, ganz
allein und nur zu Beginn kurz unsicher - erstaunlich, wie weit
ihre Stimme trug, und dabei war sie doch erst zehn Jahre alt.
Drei von den Katechumenen traten aus der Sakristei heraus und bewegten sich vorsichtig auf die Krippe zu, zwei hoch
aufgeschossen und einer erstaunlich pummelig. Ihren samtenen Umhängen war anzusehen, dass sie in nächster Zukunft
wieder die Fenster ihrer Eigentümer gegen Zugluft abdichten
würden. Aber so prosaische Gedanken stellte Fräulein Dahm
doch hintenan, weil Luises klare Stimme abschließend forderte
Schenk’ ihm dein Herz und die drei Könige ihre Gaben, zwei
blank geputzte Kupferbehälter und einen in Glanzpapier einge-
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wickelten Würfel, vor der Krippe abgesetzt hatten und auch auf
die Knie gesunken waren.
Fräulein Dahm nestelte noch einmal an ihren Handschuhen
herum und dachte, der arme Herr Pastor hätte sich ja eine wirklich böse Erkältung zugezogen, so, wie er da vorn krächzte und
hustete. Obwohl sie sich kaum als fromm bezeichnen würde,
schätzte sie doch die Gespräche mit Pastor Ackermann, der als
einer der wenigen Männer aus dem normalen Straßenbild herausfiel. Oft hatte sie ihn mit leicht gesenktem Kopf vorbeistürmen sehen und auch fast immer gewusst, wem er einen Besuch
abstatten würde. In Eckesey kannte man sich ja, und es sprach
sich schnell herum, wenn ein Bruder oder ein Ehemann auf
dem Feld der Ehre gefallen war. Das mit dem Feld der Ehre
hatte Fräulein Dahm nicht einmal ganz zu Anfang, im Sommer
1914, über die Lippen bringen können, und im November – sie
schluckte einmal kräftig, räusperte sich und richtete sich auf,
so gerade sie konnte. Ob sie die Nachricht je verwinden würde?
Pastor Ackermann jedenfalls hatte ihr bedeutet, als sie Karl
von einer der Proben abholte, eigentlich sei er nicht damit einverstanden, die drei Weisen aus dem Morgenland als Könige
auftreten zu lassen; das stehe so nicht im Neuen Testament, von
Kaspar, Melchior und Balthasar ganz zu schweigen – kurzum,
der Katholizismus färbe ab. Aber andererseits, er hatte geseufzt,
handle es sich um einen Kindergottesdienst, und ohnehin seien
dies keine Zeiten für Kinder. ,Ich meine’, hatte er hinzugefügt,
,da sagen die Leute immer: Gelobt sei, was hart macht. Aber
diese kleinen Burschen und Dirnchen wachsen ohne Väter auf,
und kommt einer auf Urlaub, dann erkennen sie ihn oft nicht
einmal. Jetzt werden Sie einwenden, dafür stünden aber die
Mütter ihren Mann. Recht haben Sie da schon, aber ist das der
Sinn der Sache? Sie sorgen dafür, dass alles weiter läuft, das
Geschäft, der Laden. Doch das sind Notlösungen, die althergebrachte Rollenverteilung hat schon ihre Berechtigung. Die Idealisten’, – er hatte Fräulein Dahm kurz in die Augen gesehen
und sich dann wieder leicht abgewandt –, ,die Idealisten haben
ja geglaubt, Weihnachten sei alles vorbei, Weihnachten 1914
wohlgemerkt. Und jetzt?’ Er hatte sich unterbrochen und war
dann fortgefahren: ,Jetzt wollen wir dafür sorgen, dass unsere
Kinder nicht zu hart werden, drei Weise hin, drei Könige her.’
Frau Pastor schaltete die ohnehin spärliche Deckenbeleuchtung aus, nur noch die hohen Kerzen auf dem Altar spendeten
ein wenig Licht. Man konnte nicht einmal erkennen, wer die
kleineren am Weihnachtsbaum anzündete. Aber dann musste
Fräulein Bröker alle Register gezogen haben, denn die Kinder
brüllten geradezu Oh du fröhliche, als wollten sie die Orgel
übertönen. Ob wohl viele wieder sangen Oh du seliche, wie
Luise ziemlich empört bemerkt hatte?
Pastor Ackermann hatte jedem einzeln beim Herausgehen
die Hand geschüttelt, das heißt, die Kinder waren natürlich
längst auf die Straße gelaufen und strebten nach Hause, wo,
wie sie wussten, nach evangelischer Sitte bald die Bescherung
stattfinden würde. Karl rieb sich die blau gefrorenen Hände,
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und Fräulein Dahm fragte ihn, ob er etwa seine Fäustlinge verloren hätte.
Aber dann hatten auch sie sich rasch auf den Heimweg gemacht.
Ida, das Dienstmädchen, kam ihnen entgegen. Ihr junges
Gesicht war auffallend gerötet, und obwohl sie eine frische
Schürze vorgebunden hatte und keine Strähne aus ihrer blonden Haarkrone heraushing, sah Fräulein Dahm doch sofort,
dass Ida sich in einem Zustand großer Verwirrung befand.
Wahrscheinlich hatte sie, obwohl sie doch auf dem Lande aufgewachsen war, noch nie eine Geburt miterlebt. Jetzt jedenfalls
legte sie den Zeigefinger über die Lippen und flüsterte immerzu Pst!, wobei sie angestrengt die Stirn runzelte.
Karl und vor allem Luise beeindruckte das nicht. Sie zogen
ihre Mäntel aus, schlüpften wieder in die dicken Wolljacken,
die ihre Mutter ihnen gestrickt hatte, wenn sie schon längst
schliefen, und blickten sich dann erwartungsvoll um.
Fräulein Dahm tauschte einen raschen Blick mit Ida; als
das Dienstmädchen nickte, schob sie die beiden Kinder in die
Küche und sagte, dort sei es mit Sicherheit am wärmsten. Sie
wolle einmal nachschauen, was sich in ihrer Abwesenheit getan habe.
Luise versetzte Karl einen Stoß mit dem Ellbogen, aber ihr
Bruder machte nur einen Schritt auf den breiten Herd zu, nä-
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herte sich dem Topf und traute sich doch nicht, den Deckel zu
lüften.
„Nun sag schon”, meinte Luise und blieb vor Ida stehen,
„was ist es, ein Junge oder ein Mädchen?”
„Wie meinst du das?”
Ida war wirklich verwirrt und drehte sich zum Herd um,
setzte noch einen weiteren Ring ein.
„Die Würstchen platzen sonst”, erklärte sie.
„Ja, warst du denn nicht dabei?”
Luise wusste nicht, was genau sich im Schlafzimmer der
Eltern abgespielt hatte, einmal abgesehen davon, dass Frau
Amecke, die Hebamme, in der letzten Zeit mehrfach ins Haus
gekommen war und mit ihrer Mutter hinter verschlossenen Türen längere Gespräche geführt hatte. Luise hatte auch einmal
gehorcht, aber durchs Schlüsselloch war nur dieses Gemurmel
gedrungen, und jedesmal, wenn sich Frau Amecke verabschiedet hatte, klang ihre Stimme fröhlich.
„Das wird schon werden”, pflegte sie zu sagen, „beim vierten geht alles wie von selbst, noch dazu, wenn’s ein Christkind
wird.”
Luise stutzte kurz, erinnerte sich jedoch ganz schwach daran, wie ihre Mutter schon einmal guter Hoffnung gewesen
war; so nannten die Erwachsenen das, wenn der Bauch einer
Frau immer dicker wurde und irgendwann, viel viel später, ein
kleiner Bruder oder eine kleine Schwester in der Wiege lag.
Damals war auch Frau Amecke gekommen, dann aber noch Dr.
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Rosenthal, und obwohl ihre Mutter am nächsten Tag ziemlich
dünn und blass im Bett gelegen hatte, war die Wiege leer gewesen. Manchmal hatten ihre Eltern von einem Ilseken gesprochen und immer ein trauriges Gesicht gemacht.
Plötzlich stand Fräulein Dahm in der Küchentür.
„Ich glaube, ich glaube, ich habe das Christkind gesehen.
Hat jemand von euch das Glöckchen vernommen? Niemand?
Aber wir wollen doch einmal nachschauen, ja?”
Die beiden Kinder drängten sich hinter ihr her ins Wohnzimmer, wo es längst nicht so warm war wie in der Küche. In
der Ecke hinter dem Esstisch stand der Weihnachtsbaum aus
dem Stadtwald, viel kleiner als der vom letzten Jahr, aber wie
immer geschmückt mit den bemalten Holzfigürchen aus dem
Erzgebirge und den furchtbar zerbrechlichen silbernen Vögeln.
Diesmal berührte der Stern oben auf der Spitze nicht die Decke, doch Luise stellte mit einem weiteren Blick befriedigt fest,
immerhin seien die Kerzen so aufgesteckt, dass kein Zweig
Feuer fangen konnte.
Aus früheren Jahren wussten die Geschwister, dass man
sich nicht so einfach auf seine Geschenke stürzen durfte, und
so ratterte Karl, der sonst so geduldige und folgsame Karl, sein
Gedicht herunter:
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Da die Hirten ihre Herde
Ließen und des Engels Worte
Trugen durch die niedre Pforte
Zu der Mutter und dem Kind,
Fuhr das himmlische Gesind
Fort im Sternenraum zu singen,
Fuhr der Himmel fort zu klingen:
„Friede, Friede auf der Erde!”
Das hatten sie in der Schule gelernt, und ihr Lehrer, mindestens so alt wie der Opa in Halden, hatte jedesmal die letzte
Zeile laut mitgesprochen und hinzugefügt: ,Merkt euch das! Ja,
der Conrad Ferdinand Meyer war ein Schweizer, und die haben
immer schon gewusst, dass Friede das Wichtigste ist.’
Luise hatte längst das Klavier aufgeklappt, ihre Hände lagen
schon auf den Tasten, und kaum war das letzte Wort verklungen, als sie auch schon Vom Himmel hoch, da komm ich her
spielte, viel schneller, als Fräu Bröker es mit ihr eingeübt hatte.
Doch dafür hatte Fräulein Dahm durchaus Verständnis.
Sie klatschte in die Hände.
„Jetzt müsst ihr rasch Ida holen. Für einen Augenblick kann
sie das Abendessen wohl allein lassen.”
Luise und Karl liefen in die Küche, Fräulein Dahm verließ
auch kurz das Wohnzimmer, und dann klingelte das Glöckchen
wirklich. Karl hockte sich vor dem Paket mit seinem Namen
auf den Boden, und Ida faltete eins der rot gewürfelten Tro11
ckentücher auseinander, das sie eben aus der Schachtel mit
ihrem Namen darauf gezogen hatte, während Fräulein Dahm
Luise zur Wiege führte.
Dann brüllte Luise los.
Vorsichtig bewegte sich die Prozession die Treppe hinauf.
Voran ging Fräulein Dahm. Sie trug das Wickelkind mit leicht
angewinkelten Armen vor sich her, eigentlich fast genauso wie
Ida, die sich bemühte, das Tablett waagerecht zu halten. Verschütten konnte sie eigentlich nichts, denn sie hatte den Deckel
über die Terrine gestülpt, damit die doppelte Kraftbrühe mit
Eierstich für Frau Schulte nicht kalt wurde. Den Abschluss bildeten Karl und Luise, wobei Luise eindeutig die Füße hinter
sich her zog, während Karl die Tür zum Elternschlafzimmer
ganz öffnete und zunächst einmal im Rahmen stehen blieb.
Die Mutter blickte Luise fragend an, dann überzog ein verschmitztes Lächeln ihr Gesicht.
„Na, was sagst du zu deinem Weihnachtsgeschenk? Eine lebendige Puppe hat gewiss keine deiner Freundinnen geschenkt
bekommen. Diese kann trinken, weinen, sich bewegen und
sonst noch vieles mehr.”
Luise warf einen verstohlenen Blick auf die Mutter. Da,
wo der dicke Bauch gewesen war, lag die Bettdecke flach auf,
von Blässe konnte diesmal nicht die Rede sein, und ihre Augen
blitzten erstaunlich vergnügt.
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Nachdem sie ein wenig vor sich hin gedruckst hatte, hob
Luise den Kopf und sagte, eigentlich habe sie sich eine richtige
Puppe gewünscht, also eine, mit der sie machen könne, was sie
wolle.
„Weißt du, Mutter”, – obwohl Luise sich zusammennahm,
wurde ihre Stimme lauter –, „ein Wickelkind ist doch kein
Spielzeug, und Karl hat auch seinen Metallbaukasten bekommen.”
„Wie wäre es denn mit einem Tausch?”, meinte ihre Mutter
und zupfte ein wenig an der Bettdecke.
Sogar Ida, die inzwischen die Kissen in Frau Schultes Rücken aufgeschüttelt hatte, sodass sie sich zum Essen aufrichten
konnte, lächelte jetzt etwas unsicher und blickte zwischen ihrer Dienstherrin und deren Tochter hin und her. Fräulein Dahm
lachte laut, und Karl, der immer noch in der Türöffnung stand,
zog verblüfft die Stirn kraus.
Endlich hatte auch Luise begriffen.
Sie stürzte auf das Bett zu, blieb dicht davor stehen und
streckte beide Hände aus. Neben ihrer Mutter lag die schönste aller Puppen, mit hellbraunem Haar, einem sanften Gesicht,
richtigen Schühchen und einem Kleid, sogar einer Wolljacke
darüber in genau derselben Farbe wie die von Luise und Karl.
„Wie soll sie denn heißen?”, erkundigte sich die Mutter,
während Luise die Puppe in die Arme schloss.
„Ilse Emma Henriette”, antwortete Luise und strebte zur
Tür.
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Die beiden Kinder waren die Treppe hinuntergesprungen
und hatten versprochen, auf den Weihnachtsbaum aufzupassen. Ida war in der Küche verschwunden, nachdem sie sich mit
einem Knicks für das Dutzend Trockentücher bedankt hatte.
„Das ist aber ein komisches Geschenk.”
Luise blieb neben dem Herd stehen, während Ida die Würstchen auf einer vorgewärmten Schale anrichtete, den Kartoffelsalat von der Fensterbank hereinholte und ihn noch einmal abschmeckte.
„Was machst du denn damit?”
Ida hielt mitten in der Bewegung inne.
„Die sind für meine Aussteuer.”
„Was ist das denn?”, fragte Luise. Sie kannte niemanden,
der wie Ida gerade fünfzehn geworden war und zu Ostern die
Schule verlassen hatte.
„Wenn man heiratet, also, dann bringt man das mit in die
Ehe, Bettlaken zum Beispiel, Kopfkissenbezüge, Handtücher
und halt auch welche für die Küche. Diese sind zudem sehr
schön, aus Halbleinen; so etwas ist schwer zu kriegen, und außerdem kostet es viel Geld.”
„Wirst du denn bald heiraten? Hast du schon einen Liebsten?”
Luise wippte vor Ida auf und ab.
„Was du aber auch alles wissen willst”, murmelte Ida vor
sich hin. „Und wenn’s so wäre, würd ich’s dir nicht sagen.”
Luise wollte gerade nachbohren, doch dann schnitt sie nur
ein Gesicht, weil Fräulein Dahms Schritte auf der Treppe zu
hören waren.
„Ich denke, wir sollten jetzt auch zu Abend essen, Ida. Du
kannst das Tablett von Frau Schulte herunterholen, und wenn
du die Küche aufgeräumt hast, darfst du dich gern noch ein
bisschen zu mir unter den Weihnachtsbaum setzen. Es war ja
wohl so ausgemacht, dass du morgen frei hast, nicht wahr?
Frau Schulte wird sich noch ausruhen, und außerdem kommt
ihre Mutter, um das neue Enkelkind in Augenschein zu nehmen. Wirst du abgeholt?”
Ida nickte.
„Ja, mein Opa spannt ganz früh an. Er will nicht, dass ich in
der Dunkelheit bis zum Hof laufe, und bis es hell wird, möchte
ich nicht warten.”
Fräulein Dahm nickte und ging Ida ins Bescherungszimmer voraus, wo der Tisch gedeckt war. Sie hielt es für sehr
vernünftig, das Abendessen erst aufzutragen, wenn die Kinder
ihre Geschenke ausgepackt hatten. So würden sie wenigstens
die Speisen nicht herunterschlingen, wo es doch mit der Versorgung schwieriger geworden war. Nur gut, dass Idas Vater
neben der Arbeit in Plates Federnfabrik immer schon eine kleine Landwirtschaft betrieben hatte, um die sich jetzt allerdings
vorwiegend Frau Effenkamp kümmerte.
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Fräulein Dahm zuckte kurz zusammen, doch die Mutter
meinte nur, das sei aber ein schöner Name.
2. Kapitel: Spätsommer 1916
„Habt ihr eigentlich Nachricht von deinem Vater und von
deinen Brüdern?”, erkundigte sie sich, während Ida abdeckte
und eine Schale mit Haselnüssen und blank polierten Äpfeln
mitten auf den Tisch stellte.
Ida versteckte die Hände unter der langen weißen Schürze
und senkte den Kopf.
„Der letzte Feldpostbrief kam aus Flandern, also irgendwo
aus der Gegend, wo sie letztes Jahr die Felder unter Wasser
gesetzt haben, Vimy, glaube ich, und dahin haben wir auch
sein Weihnachtspaket geschickt. Aber heute”, – sie schluckte
–, „ich meine, am Heiligen Abend werden sie doch wohl nicht
schießen, oder?”
„Herr Schulte liegt mit seinem Regiment irgendwo bei Ypres. So weit ist das alles nicht voneinander entfernt, aber in
Kriegszeiten, da können wir schon froh sein, dass doch immer
Lebenszeichen kommen. Er hatte ja um Heimaturlaub gebeten,
wegen der bevorstehenden Entbindung, aber daraus ist nichts
geworden. Nun hoffe ich wenigstens, dass ihn die Nachricht
schnell erreicht. Auf den Namen hatten sich Schultes schon
vorher geeinigt. Wenn es ein Junge würde, sollte er Rudolf heißen. Nun ist es ein Mädchen.”
Fräulein Dahm unterbrach sich und richtete sich auf.
„Ich glaube, Luise, dir ist deine Puppe wichtiger als deine
neue Schwester. Weißt du überhaupt, wie sie heißt?”
Bevor Luise auch nur den Mund aufmachen konnte, rief
Karl: „Aber ich weiß es: Helga Friederike Karoline mit K.”
„An Kundschaft fehlt es ja nicht, und die Lieferung klappt
auch noch ganz ordentlich”, sagte Frau Schulte und verschränkte die Arme vor der Brust.
Sie trug, wie Fräulein Dahm, die ihr gegenüber hinter dem
schweren Schreibtisch Platz genommen hatte, ein Sommerkleid, das bis auf den Boden reichte, keilförmig ausgeschnitten
und über der Brust leicht gerafft. Aber während das von Frau
Schulte aus grünem Kattun mit Blumenaufdruck geschneidert
war, hatte Fräulein Dahm wie immer ein in sich gemustertes
Grau gewählt.
„Die Zuteilung an Zucker reicht gerade noch für die Gläserware”, fuhr Frau Schulte fort. „An Essenzen hingegen kommt
man leichter als an alles andere, und was wir an Lebensmittelfarben brauchen, ist vorhanden. Himbeeren könnten wir also
weiterhin herstellen und ein paar andere von den ungewickelten Fruchtbonbons.”
Sie machte einen Schritt zum Fenster und sah kurz hinaus.
„Die Sache hat allerdings einen Haken, Helene: Unsere
Mädchen und Frauen sind keine ausgebildeten Süßwarenkocher, und Mauritz ist wirklich zu alt. Nur eine oder zwei, Frieda
zum Beispiel, verfügen über die nötige Kraft. Hast du einmal
zugesehen, wie sie die heiße Bonbonmasse über dem Haken
auszieht? Seitdem Mauritz auf die Idee gekommen ist, einfach
eine geringere Menge Zucker mit den übrigen Zutaten in die
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Kessel zu geben, läuft es wie am Schnürchen. Aber natürlich
produzieren wir nicht so viel.”
Fräulein Dahm glättete mit der Hand die aufgeschlagene
Seite des Kontobuchs und erwähnte dabei einen Artikel in der
Hagener Zeitung, den sie allerdings leider nicht aufbewahrt
hatte. Darin sei es um Lebensmittelkarten und Bezugsscheine
gegangen, und mit Sicherheit werde sich die Lage vorerst nicht
bessern. Nur um Säuglinge, fügte sie mit dem Ansatz eines Lächelns hinzu, brauche man sich keine Sorgen zu machen.
Nach einer kurzen Pause meinte sie noch: „Gut, dass wir
wenigstens Mauritz haben!”
Frau Schulte blieb vor dem Glasschrank mit den Mustern
stehen und nickte, ging dann aber wieder auf und ab.
„Vorhin hat er mich durchs Lager geführt. Lakritz und Salmiakgeist sind seltsamerweise noch reichlich vorhanden, sogar
viele Rollen Wickelpapier, aber unsere Hustenbonbons können
wir trotzdem nicht herstellen, von Toffees ganz zu schweigen.
Frischmilch, Sahne und vor allem Butter, davon dürfen wir
höchstens träumen. An Milchpulver wäre heranzukommen, an
Vanillin auch, natürlich keine echte Vanille wie vor dem Krieg.
Aber das hilft uns nicht weiter. Unsere Toffees, Hartkaramellen ohne gute Butter, und außerdem: mit welchem Zucker? Mit
dem künstlichen von Fahlberg und List lässt sich das nicht machen.”
„Ja, Saccharin hat leider nicht die richtige Konsistenz, und
wenn ich mich nicht irre, ist der Gebrauch doch verboten. Was
meint Herr Mauritz denn dazu?”, fragte Fräulein Dahm.
Frau Schulte antwortete nicht, sondern zog die Stirn in Falten. Es war nicht zu überhören, dass Luise die Außentreppe
zum Eingang herauftrampelte, die Haustür aufriss und nach ihrer Mutter rief. Ida schien sie abgefangen zu haben, denn mit
einem Mal wurde es still.
„Es muss uns einfach etwas einfallen”, sagte Frau Schulte und schloss das Fenster. „Wir können doch die Frauen und
Mädchen nicht entlassen, und im Übrigen wollen die Leute
auch etwas anderes essen als Kartoffeln und Gemüse, Gemüse
und Kartoffeln. Auf Kriegsproduktion umstellen können wir
den Betrieb ja nun wirklich nicht; da sind Blankensteins und
Plates schon besser dran. Die bei Remy im Tiegelstahlwerk
haben jetzt übrigens einen Ersatz für Wolfram gefunden; seit
der Blockade fehlte ihnen das ja. Einem von den Ingenieuren,
er hat um die Jahrhundertwende bei Schneider Creusot gearbeitet”, – Frau Schulte sprach das Schnädre Kröso aus – , „ist
wieder eingefallen, dass sie da ein Element zur Stahlhärtung
benutzten, das in unseren Kupferbergwerken mit abgebaut
werden kann. Den Namen habe ich mir allerdings nicht merken
können, aber der spielt ja auch keine Rolle; Tatsache ist, dass
sie weiterarbeiten können.”
Fräulein Dahm schloss mit einer langsamen Bewegung das
Kontobuch und erhob sich.
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„Entschuldige, Helene”, sagte Frau Schulte betroffen, legte
den Arm um Fräulein Dahms Schulter und zog sie durch die
Bürotür auf den Flur, „ich hab wieder einmal nicht daran gedacht.”
In der Diele redete Ida leise auf Luise ein.
„Pass doch auf. Du weckst das Helleken noch, und die Hildegard auch.”
„Warum schlafen sie bloß um diese Zeit?”, brummte Luise.
„Es ist doch vier Uhr, und ich muss der Mutter un-be-dingt was
erzählen.”
„Sie ist im Kontor mit Fräulein Dahm; niemand darf sie stören”, erwiderte Ida und versperrte mit ausgebreiteten Armen
den Gang.
Aber Luise hatte gehört, wie sich die Bürotür schloss, und
außerdem traten ihre Mutter und Fräulein Dahm gerade aus
dem Halbdunkel des Flurs in die Diele mit der oben verglasten
Tür.
„Mutter! Mutter, Elses Vater kommt wieder!”, rief Luise,
und unmittelbar hinterher drang aus der oberen Etage Geschrei.
Ida murmelte vor sich hin, sie habe es ja gewusst, und stieg
die Treppe hinauf, während Frau Schulte und Fräulein Dahm
Luise entgegen sahen. Die Mutter freute sich wohl, denn ihr
Mund verzog sich zu einem breiten Lachen, und ihre Augen
strahlten. Fräulein Dahm schien eher ein bisschen traurig zu
sein.
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„Nun rück mal mit der Sprache raus”, meinte Frau Schulte,
„das heißt, am besten gehen wir jetzt alle in den Garten. Es ist
nicht mehr so schrecklich warm. Ich hatte vor, Erbsen zu döppen, und Ida bringt sicher gleich die beiden Kleinen. Da kannst
du mir alles in Ruhe erzählen.”
„Wenn es dir recht ist, Anna”, meinte Fräulein Dahm, „spreche ich noch einmal mit Herrn Mauritz, und die Marga Dennersmann von der Musterabteilung holen wir uns dazu. Viele
Köche” – sie schlug schon den Weg zu den Betriebsräumen ein
– „verderben ja nicht immer den Brei.”
„Das sollte wohl lustig klingen”, sagte Luise.
Ihre Mutter warf ihr einen strafenden Blick zu, schwieg jedoch.
Zehn Minuten später saß Frau Schulte mit ihrem Hocker
auf der Wiese, von der wenig mehr als ein bettlakengroßes
Stück übrig geblieben war, einen Korb Erbsenschoten zu ihrer
Rechten, eine noch leere Schüssel auf dem Schoß, und öffnete
die Schoten mit geübten Fingern. Ihr nackter Fuß wippte unter
dem langen Rock hervor; eines der beiden Krabbelkinder hatte
gerade die Schnürsenkel ihrer Schuhe entdeckt.
„Aber Helleken”, – Luise ahmte Fräulein Dahms Tonfall
perfekt nach –, „nicht in den Mund stecken!”
Sie zögerte noch, ob sie der kleinen Schwester die Schuhe wegnehmen oder Helga hochheben und einfach ein bisschen weiter vom Hocker wieder absetzen sollte, als ihre Mutter
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meinte, so schlimm sei das nicht, Dreck habe auch ihr offensichtlich nicht geschadet, und sie wolle nun endlich einmal hören, was es mit Elses Vater auf sich habe.
„Die Nachricht muss aber erst gestern Abend spät oder
heute in aller Herrgottsfrühe eingetroffen sein”, fügte sie hinzu, „sonst hätte Frau Landwehr doch bestimmt selber reingeschaut.”
Luise bettete ihre Puppe sorgsam auf den mit einer Plane
abgedeckten Haufen Ziegelsteine und griff versuchsweise nach
einer Erbsenschote.
„Sie ist heute Morgen in der Schule vorbeigekommen”, sagte sie eifrig. „Stell dir vor, da klopfte es mitten in der Deutschstunde an der Tür, der Herr Direktor stand da und neben ihm
Frau Landwehr in ihrer Schaffnerinnenuniform; beide hatten
ganz fröhliche Gesichter, und sie haben Else rausgeholt. Als sie
wieder reinkam, wollten natürlich alle wissen, was los war, und
die Isenbrink, schon gut: Frau Isenbrink, hat auch gefragt. Wir
hätten ja sonst sowieso nicht aufgepasst.”
Luise holte einmal tief Luft.
„Also: Herr Landwehr hat doch bei so einer Schlacht mitgekämpft, wo sie Giftgas verwendet haben; das wussten sie ja
schon aus seinen Briefen.”
„Ja, im April, irgendwo an der Yser, bei ...”
„Ich dachte, die Isar sei ein deutscher Fluss”, unterbrach
Luise ihre Mutter.
„Yser”, wiederholte Frau Schulte, erhob sich kurz und holte
Helga zurück von den Bohnenstangen, an denen sie sich aufzurichten versuchte.
„Bei Steenstrate”, fuhr sie dann fort. „Das könnte übrigens
genauso gut Plattdeutsch sein, Steinstraße, doch es liegt in Belgien. Danach hat er eine Zeitlang in verschiedenen Lazaretten
gelegen; besser ist es aber eigentlich nicht geworden. Wie genau das passiert ist, konnte er sich übrigens nicht zusammenreimen. Du weißt ja, dass unsere Truppen das Chlorgas zuerst
eingesetzt haben und nicht der Feind. Aber bei dem vielen Hin
und Her ... und vielleicht hat der Wind auch das Gas in die eigenen Linien zurückgetrieben.”
Nachdenklich strich Frau Schulte eine Haarsträhne aus der
Stirn.
Luise hörte zwar zu, aber es war ihr anzusehen, dass sie
lieber erzählen wollte.
„Elses Vater konnte gar nicht mehr selbst schreiben, er
musste seine Briefe immer einem Kameraden diktieren, weil er
fast blind war. Außerdem hat er ganz furchtbar gehustet, nicht
so wie Pastor Ackermann mit seiner Tuker… seiner Tuberkulose, sondern eben von diesem Gas. Und deshalb entlassen sie
ihn jetzt. Rate mal, wo er hinkommt.”
Frau Schulte brauchte nicht lange nachzudenken, aber sie
tat doch so, als fiele ihre keine Antwort ein.
„Ich helf dir ein bisschen. Da, wo Pastor Ackermann behandelt wird.”
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„Nach Ambrock?”
„Ja, ist das nicht schön? Da können sie ihn immer besuchen,
du natürlich auch. Vielleicht weiß er ja was von Vater.”
Frau Schulte schüttelte den Kopf.
„Das sollte mich wundern, mein Kind. Flandern ist groß.”
In diesem Augenblick begann das zweite Krabbelkind jämmerlich zu schreien.
„Na, was ist denn, Hildegardchen”, fragte Frau Schulte,
„hat dich was gestochen?”
Sie stellte die Schüssel mit den Erbsen ab, beugte sich über
das leicht angeschmutzte Kleiderbündel und richtete sich sofort wieder auf.
„Luise”, meinte sie lächelnd, „trag doch das Hildegardchen
mal zu Ida und bitte sie, es frisch zu wickeln. Und bring mir
die Blumenschere mit. Das Beet ist ja arg geschrumpft, aber für
einen Strauß wird’s noch reichen.”
Luise sah zu, wie Ida die kleine Hildegard auf die Wickelkommode legte, nacheinander alle Sicherheitsnadeln öffnete
und mit der schmutzigen Windel sorgfältig den Po abwischte, bevor sie ihn mit einem möglichst klein bemessenen Stück
Watte und ein wenig Penatencreme reinigte. Dabei kitzelte
sie Hildegard unter den Füßchen, sodass sie vor Vergnügen
quietschte.
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„Hast du das zu Hause gelernt?”, fragte Luise und warf
einen Blick auf die schmutzige Stoffwindel, die dicht zusammengerollt auf dem Kachelboden lag.
Ida schüttelte den Kopf.
„Ich bin doch die Jüngste ! Hannes und seine Frau haben
noch keine Kinder, und Erich ist nicht einmal verheiratet. Da
kommen auch so schnell keine, wo meine Brüder doch beide
an der Front sind. Nein, das hat mir die gnädige …, also deine
Mutter beigebracht, die kennt sich da aus. Von ihr weiß ich
auch, dass man das Gröbste sofort rauskratzen muss, und dann
werden die Windeln erst einmal eingeweicht, bevor wir sie auskochen. Die waschen wir übrigens immer extra, selbst wo wir
jetzt mit dem Persil so sparen.”
Während Ida Hildegard das Kittelchen wieder überstreifte,
gab Luise sich einen Ruck.
„Sag mal, Ida, warum zieht Tante Dahm eigentlich nie etwas anderes an als diese grauen oder schwarzen Sachen? Hat
sie denn sonst nichts?”
Ida griff nach der weichen Kinderbürste und fuhr damit
über Hildegards dunkle Locken.
„Am besten fragst du sie selbst, sonst erzähl ich dir was
Falsches. Letztes Jahr, kurz bevor das Helleken geboren wurde, hat sie jedenfalls noch Volltrauer getragen. Ihr Verlobter ist
gefallen, gleich zu Kriegsbeginn, irgendwo in Flandern, da, wo
mein Vater mit seinem Regiment liegt und deiner auch.”
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„Tante Dahm? Wer verguckt sich denn in die? Sie ist ja
schon fast dreißig, noch dazu, wie sie aussieht mit ihrer dicken
Brille und ihrem fetten ...”
Ida war zwar nur rund vier Jahre älter als Luise, aber jetzt
blitzten ihre Augen so, dass Luise ihren Satz nicht zu Ende
führte.
„Hier, nimm mal das Hildegardchen und bring’s raus in den
Garten, jetzt riecht es wieder gut”, meinte Ida bestimmt, und
Luise wusste, dass sie von ihr nichts mehr erfahren würde.
Frau Schulte hatte gerade den Korb mit den Erbsenschoten
wieder vom Rasen aufgenommen und dachte, dass sie es genau
richtig gemacht hätten, als sie im Frühjahr den größten Teil der
Wiese und des Blumengartens im Schweiße ihres Angesichts
umgegraben und mit Gemüse bepflanzt hatten. Da wuchsen
jetzt mehrere Bohnensorten, Möhren, Erbsen natürlich und alle
Arten von Kohl, roter, weißer für Sauerkraut und der grüne, der
nach dem ersten Frost am besten schmeckte, außerdem Rosenkohl und selbstverständlich Kartoffeln.
In diesem Augenblick liefen von der Schillerstraße her zwei
Jungen durch das Hoftor zu ihr herüber.
„Fritz kommt, um seine Schwester abzuholen”, sagte Karl
etwas außer Atem. „Und damit du es gleich weißt: Die Schulaufgaben haben wir schon bei ihm zu Hause erledigt.”
„Ist deine Mutter denn zurück?”
Fritz, so groß wie Karl, aber dunkelhaarig und braunäugig,
nickte.
„Sie hat sehr lange Schlange stehen müssen auf dem Lebensmittelamt, doch darauf war sie vorbereitet. Auf jeden Fall
dankt Sie Ihnen schon einmal ganz herzlich.”
„Eure Hildegard und unser Helleken sind ja fast auf den Tag
genau gleich alt”, sagte Frau Schulte und lachte, „sie leisten
sich Gesellschaft und schreien um die Wette. Jetzt wird dein
Schwesterchen gerade frisch gewickelt, aber dann kannst du
losziehen. Steck auch noch eine Handvoll Toffees ein; vielleicht sind’s die letzten.”
Frau Schulte wurde wieder ernst.
„Habt ihr übrigens Nachrichten von deinem Vater?”
Fritz nickte.
„Sein Regiment liegt immer noch im Argonnerwald. Er
glaubt jedoch, das stand jedenfalls auf der letzten Feldpostkarte, wo eine Menge durchgestrichen war, dass sie bald nach
Verdun marschieren werden. So genau weiß ich das auch nicht.
Aber ich wünschte mir”, fügte er mit gesenktem Kopf hinzu,
„er käme bald mal zu Besuch. Manchmal vergesse ich, wie er
aussieht, und er ist doch mein Vater.”
„Übrigens”, sagte Karl in die Stille hinein, „haben wir Fräulein Bröker getroffen; sie möchte mir dir sprechen wegen Luises Klavierstunde oder so.”
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Luise trug Hildegard vorsichtig die Außentreppe hinab,
überreichte sie Fritz mit einem halb spöttisch, halb verlegenen
Lächeln und holte sofort ihre Puppe von dem Ziegelsteinhau-
fen herunter. Während Fritz sich mit einem Diener verabschiedete und seine kleine Schwester eigentlich mehr unter den Arm
klemmte als auf Händen heim in die Eckeseyer Straße brachte,
baute sie sich mit dem Henriettchen im Arm vor ihrer Mutter
auf.
Ihre neue Puppe hieß nämlich nicht mehr Ilse, seitdem ihr
Vater sie bei seinem letzten Heimaturlaub gebeten hatte, den
Namen zu ändern, weil er ihm und der Mutter doch sehr in den
Ohren schmerze; sie müssten jedesmal an das Kindchen denken, das gleich nach der Geburt gestorben war.
Während dieses kurzen Besuchs im Februar war die neue
kleine Schwester in der evangelischen Kirche getauft worden
und hatte nicht einmal geschrien, als Pastor Ackermann dreimal Wasser über ihren Kopf gegossen hatte, obwohl draußen
Schnee lag und das Gebäude noch schlechter geheizt war als
am Heiligen Abend. Und gleich am nächsten Tag hatten Luise
und Else dann die Puppe umgetauft, allerdings ohne Wasser;
man konnte ja nie wissen, ob die Haare nicht doch angeleimt
waren.
eigentlich nicht, dir einmal davon zu erzählen? Du kannst es
dir vielleicht nicht vorstellen, aber es tut ihr gut, immer wieder
davon zu sprechen. Sie zeigt dir auch sicher gern die Fotografien von Herrn Weiland, Ernst Weiland; er arbeitete übrigens als
Ingenieur bei Remys, im Stahlwerk.”
Luise war ganz still geworden und hatte sogar aufgehört,
das Henriettchen in den Armen zu wiegen.
„Meinst du wirklich, Mutter?”
Obwohl sie sonst nicht auf den Mund gefallen war, zweifelte sie daran, dass ihr Mut ausreichen würde, Fräulein Dahm
nach diesem Herrn Weiland zu fragen.
„Warum hat sich Tante Dahm eigentlich nicht darüber gefreut, dass Elses Vater wieder nach Hause kommt?”
Frau Schulte hob den Kopf und ließ die Hände kurz ruhen.
„Ich glaube, sie freut sich schon. Aber sie wird doch immerzu daran erinnert, dass ihr Verlobter gleich im ersten Kriegsjahr, Anfang November 1914, gefallen ist. Warum bittest du sie
Aber dann ergab sich alles von selbst.
Frau Schulte hatte, als die Uhr der evangelischen Kirche
weiter unten an der Straße halb sechs schlug, den fast leeren
Korb und die volle Schüssel ineinander gestellt und nach dem
Strauß aus Rosen und Margeriten gegriffen.
„Passt mir gut auf das Helleken auf”, sagte sie zu Luise und
Karl. „Ida hat im Haus zu tun, und wenn ich wieder komme,
wird gleich gegessen. Deine Hausaufgaben sind doch auch gemacht, Luise? Dann kannst du nachher noch ein bisschen Klavier üben.”
Karl wollte seine Mutter unterbrechen, aber sie schüttelte
den Kopf.
„Ja, ja, ich weiß, Fräulein Bröker. Heute Abend geht’s nicht
mehr, jetzt ist zuerst einmal Frau Landwehr an der Reihe. Wie
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lange hat sie heute Dienst, Luise? Ach, sie wird schon zu Hause
sein.”
Während Frau Schulte mit raschen Schritten durchs Hoftor
ging, bestimmte Luise, dass Mutter und Kind gespielt werden
sollte.
„Du”, sagte sie zu Karl, „lehnst dich mit dem Rücken gegen
die Ziegelsteine; nein, die Plane rühren wir diesmal nicht an,
sonst kriegen wir wieder eins hinter die Ohren. Tu einfach so,
als zögest du deine Decke höher. Du liegst im Sanatorium in
Ambrock, und wir kommen dich besuchen.”
Karl murrte, erstens seien die Steine hart und zweitens
piekste das Gras in seine nackten Beine, aber dann blickte er
Luise doch erwartungsvoll entgegen.
„Wie geht es dir denn heute, Vater?”, erkundigte sie sich.
„Hast du deine Medizin auch brav geschluckt? Und was meint
der gute Doktor Rosenthal?”
Sie verbesserte sich sofort und fiel kurz aus der Rolle.
„Verflixt, Doktor Rosenthal arbeitet ja in irgendsoeinem Lazarett. Also, was meint denn Doktor Knippschild? Der Jüngste
ist er ja selber nicht mehr, aber bei all den Verwundeten wollte
er in dieser schweren Zeit doch auch sein Scherflein beisteuern.”
Karl bemühte sich, laut zu husten und krächzte, er habe es
immer noch auf der Lunge, und vielleicht sei es gar nicht gut,
dass sie die Kinder mitgebracht habe.
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„Chlorgas”, behauptete Luise, „ist zum Glück nicht ansteckend. Das Henriettchen wird übrigens nächstes Jahr zu Ostern
eingeschult, dann kann es dir gewiss bald etwas aus der Zeitung vorlesen.”
In diesem Augenblick trat Fräulein Dahm durch einen Flügel des Lagertors, blieb kurz mit Frau Dennersmann auf der
Rampe stehen und verabschiedete sich dann von ihr. Frau Dennersmann winkte den Kindern zu und rief etwas, aber weder
Karl noch Luise verstanden mehr als Fränzken, denn ihre Worte gingen im Lachen eines der Mädchen unter, die gleichzeitig
mit ihr den Fabrikhof verließen.
Indessen war Fräulein Dahm zu ihnen getreten und suchte
ganz offensichtlich Frau Schulte.
„Die Mutter bringt Frau Landwehr Blumen, weil ihr Mann
wiederkommt”, sagte Karl und erhob sich, wobei er sich den
Rücken und die Oberschenkel rieb.
„Einige Frauen haben eben Glück.”
Fräulein Dahm kniete sich zu Helga auf die Wiese und versuchte, sie auf die Beinchen zu stellen, hob sie dann aber auf
und drückte sie an sich.
„Tante Dahm”, – Luise gab sich einen Ruck –, „wie war
das? Ida wollte es mir nicht sagen, und die Mutter denkt ...”
Sie brauchte nicht einmal richtig zu fragen.
„Dixmude”, begann Fräulein Dahm und wiegte Helga ganz
behutsam, „Dixmude liegt auch in Flandern, wo euer Vater mit
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seiner Krupp-Kanone den Feind beschießt. Da ist mein Ernst
gefallen, am 2. November 1914, Allerseelen.”
Sie schwieg kurz, fuhr dann aber fort, seine Briefe lese sie
immer aufs Neue, wenn er davon auch nicht wieder lebendig
würde.
„Warum schlagen sie sich da oben eigentlich schon so lange?”, fragte Karl.
„Weil außer den Franzosen und den Belgiern auch die Engländer zu unseren Gegnern zählen. Deren Nachschub an Munition und auch die Verpflegung werden natürlich per Schiff über
den Ärmelkanal transportiert, und so wollte unser Generalstab
schon ganz zu Anfang der Feindseligkeiten die beiden Häfen
in deutsche Hand bekommen, wo diese Schiffe entladen werden, Calais nämlich und Dünkirchen. Die Straße nach Dünkirchen führt über Dixmude; das Städtchen ist ein Brückenkopf,
so nennt man das, denn wenn man Dixmude erobert hat, steht
einem der Weg nach Dünkirchen offen.”
Karl nickte.
„Das haben wir gerade durchgenommen. Unser Klassenlehrer hat eine Landkarte mitgebracht und uns gezeigt, wo die Yser
fließt und natürlich die Marne, die von der großen Schlacht mit
den Mietdroschken. Das war wirklich eine Prachtsidee”, fügte
er hinzu, aber Fräulein Dahm erzählte schon weiter.
„Unsere Truppen haben tapfer gekämpft, und an Einfallsreichtum mangelt es ihnen wirklich nicht. Da oben gibt es viele
Entwässerungskanäle; Flandern liegt ja nicht weit vom Meer,
ist flach wie ein Kinder …”, – sie hielt inne – , „also sehr flach,
da wachsen höchstens ein paar Weiden, und Windmühlen gibt
es, eigentlich wie in Norddeutschland, Richtung Emden-Norddeich. Auf jeden Fall sind die deutschen Soldaten auf die Idee
gekommen, dicke Holzplanken vor sich her zu tragen, erstens
als Schild, denn natürlich beschossen die feindlichen Truppen
sie pausenlos, und zweitens, um diese Kanäle überqueren zu
können. Als es dann gar nicht mehr weiter ging, das hat Ernst
mir alles noch schreiben können, hat sich der Generalstab, der
belgische diesmal, daran erinnert, dass sie dem Heer Ludwigs
XIV. von Frankreich schon einmal Einhalt geboten hatten, indem sie einfach die Schleusen öffneten. Da konnte man sich
dann nur noch auf den Deichen vorwärts bewegen, weil alles
andere unter Wasser stand.”
„Die Deiche, die ich kenne, sind aber nicht breit”, warf Luise ein. „Da kann man höchstens zu zweit nebeneinander hergehen.”
„Die da oben sind auch ganz schmal. Wenn die Feinde aufeinander stießen, erstachen sie sich mit ihren Bajonetten oder
gerieten sich sogar ganz einfach in die Haare, als hätten sie
gar keine Gewehre. Mein Ernst hat einmal einem schwarzen
französischen Soldaten gegenüber gestanden; sie haben richtig miteinander gerungen, bis der Feind den Deich hinunter ins
Wasser rollte. Er hat auch Sikhs gesehen, Männer, die keinen
Helm trugen, sondern einen Turban, stellt euch das vor, als ob
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das vor Kopfverletzungen schützte. Die Sikhs kommen aus Indien und dienen in der britischen Armee.”
„Die Franzosen sind doch nicht schwarz!”, rief Karl empört.
„Nein, aber Frankreich besitzt Kolonien in Afrika wie
Deutschland auch, das müsstest du doch schon im Erdkundeunterricht gelernt haben, also den Senegal zum Beispiel.”
Fräulein Dahm warf einen Blick auf Helga, die mit einem
Lächeln auf dem Gesichtchen in ihren Armen schlief, und atmete dann einmal tief ein. Ihre Stimme klang plötzlich ganz
hart.
„Gefallen ist mein Ernst, weil die deutschen Befehlshaber,
unter anderem der Herzog von Württemberg und ein Prinz aus
Bayern, Dixmude erobern und damit den Weg nach Dünkirchen um jeden Preis öffnen wollten. Um jeden Preis, wiederholte sie. Auf unserer Seite bedeutete das zehntausend Tote
allein dort.”
„Und dein Ernst hat wirklich einen richtigen Schwarzen gesehen?”, fragte Karl.
Fräulein Dahm nickte.
„Wo ist er denn begraben? Haben sie dir das geschrieben,
Tante Dahm?”
Luises Gesicht war ganz ernst.
„Ja, das weiß ich genau. Aber nützen tut es nichts. Nach
Flandern fahren jetzt nur Soldaten … und vielleicht noch Krankenschwestern”, fügte sie hinzu. „Zuerst habe ich mit dem Gedanken gespielt, mich auch beim Roten Kreuz ausbilden zu las-
sen; aber eure Mutter hat mich gebeten, ihr zur Seite zu stehen.
Sie kannte sich ja im Geschäft so gut nicht aus, während ich als
Prokuristin ...”
Darauf wusste Luise nichts zu sagen, und sie war erleichtert, als Karl meinte, die Franzosen seien ganz schön dumm, in
ihren roten Hosen und blauen Jacken sähe sie ja jeder Blinde
mit Krückstock; die deutschen Soldaten mit ihren grauen Uniformen hingegen fielen überhaupt nicht auf.
„Getroffen werden sie trotzdem”, meinte Fräulein Dahm,
„zum Beispiel von Schrapnells und Kanonenkugeln.”
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Die Abendsonne schien schräg durchs Esszimmerfenster.
Frau Schulte hatte Helga gerade gestillt, und Luise, die dabei
nicht zusehen mochte, hatte sich, wie immer, kurz vorher ans
Klavier im Wohnzimmer verzogen; für sie musste ihre Mutter Kleider tragen oder doch wenigstens ein Nachthemd. Karl
warf, auch wie immer, verstohlene Blicke auf die Brust seiner
Mutter, steckte dann aber die Nase in das Buch mit den lateinischen Vokabeln und murmelte leise vor sich hin.
In diesem Augenblick trat Ida herein, knickste und fragte,
ob sie das Helleken noch einmal wickeln und dann schlafen legen sollte, und sie wüsste doch auch gern, was es am nächsten
Tag zu essen geben solle.
„Morgen früh kochen wir als Erstes die Erbsen ein. Die
Weckgläser müssen sterilisiert werden, die Ringe vom letzten
Jahr tun’s vielleicht noch einmal.”
Frau Schulte zog die Stirn in Falten.
„Kartoffeln. Ein paar Scheiben Speck. Grüne Bohnen, dass
du mir aber diesmal die Fäden richtig abziehst, Mädchen. Hinterher Vanillepudding, dafür reicht die Milch gerade aus, und
ein Ei war doch auch noch da. Das Mondaminpaket haben wir
kaum angebrochen, nicht wahr?”
Sie schwieg nachdenklich.
„Dann wünsche ich eine gute Nacht”, sagte Ida und knickste, wurde rot und drehte sich in der Tür noch einmal um.
„Ach ja, fast hätt ich’s vergessen. Fräulein Dahm lässt Ihnen
etwas ausrichten von Herrn Mauritz und Frau Dennersmann.
Das Sacher…, also der Süßstoff ist nicht mehr verboten.”
Karl hob erstaunt den Kopf.
Seine Mutter hatte zuerst wie er vor sich hingemurmelt,
aber natürlich keine lateinischen Vokabeln, sondern etwas von
Vanillin, Speisestärke, Milchpulver, gelber Lebensmittelfarbe
und Saccharin, und dann hatte sie sehr laut Puddingpulver zu
niemandem gesagt.
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3. Kapitel: Frühjahr 1917
„Ette”, rief Helga und streckte beide Arme aus.
Luise knöpfte ihre dicke Flanellbluse zu, zog noch einmal
die kratzenden Wollstrümpfe hoch und schüttelte den Kopf.
„Nein, Helleken, du bist noch zu klein. Ich spiele zwar fast
gar nicht mehr mit Puppen, aber Henriette ist wirklich zu schade. Heute Nachmittag, wenn ich Schulaufgaben mache, darfst
du sie vielleicht ein bisschen halten, ja?”
Helga verzog das Gesicht und trottete an Luises Hand in die
Küche.
„Guten Morgen, Ida”, sagte Luise.
„Dada”, sprach Helga nach.
Ida lief zwischen Herd und Tisch hin und her, füllte Luises
Tasse mit Hagebuttentee und legte ein halbes Stück Zucker daneben.
„Streichst du mir heute einmal etwas anderes aufs Pausenbrot als Schmalz?”, fragte Luise und rückte ihren Stuhl zurecht.
„Karl findet auch, auf die Dauer ...”
Ida fiel ihr ins Wort.
„Mein G...”, – sie schluckte – , „also wirklich, Luiseken, sei
doch froh, dass wir noch Schmalz haben. Viele von den Frauen unten in der Fabrik wissen schon gar nicht mehr, was sie
ihren Kindern mitgeben sollen; ich meine, sogar Marmelade
wird knapp, und Honig hat auch kaum noch wer. Und wegen
der Blockade kriegen sie Skor…, halt das, was die Matrosen
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früher auf den Schiffen hatten, wo ihnen die Zähne ausfielen.
Wir haben ja wenigstens Äpfel eingelagert, und im Sommer
gibt es die Beeren aus dem Garten.”
Luise schwieg und trank ihre Tasse in einem Zug leer.
„Das ist schon seltsam”, sagte sie dann und steckte das letzte Stück Brot in den Mund, „selbst wenn man Geld hat, kann
man nichts kaufen.”
„Aber du solltest mal sehen, wie teuer alles geworden ist”,
erwiderte Ida und strich ihre Hände an der Schürze ab. „Ja, und
ohne Bezugsschein kriegt man sowieso gar nichts.”
In diesem Augenblick betrat Karl die Küche. Er rieb sich
die Augen und fragte, wo seine Mutter sei.
„Mommo”, sprach Helga nach.
„Ach, du bist auch schon wach, Helleken.”
Karl ging in die Hocke, öffnete die Arme weit und fing Helga auf.
„Immer langsam mit de jungen Pferde”, lachte er. „Du
brauchst dich doch nicht zu beeilen, du gehst ja noch nicht in
die Schule, du Glückliche.”
„Die gnädige ... deine Mutter ist unten im Betrieb. Morgens
die Erste, abends die Letzte”, fügte Ida noch hinzu. „Und vergiss dein Schulbrot nicht. Ja ja, Luise hat mir ausgerichtet, dass
du was anderes möchtest als Schmalz. Frag doch mal Franz
Dennersmann, was er zu essen kriegt.”
„Franz Dennersmann”, erwiderte Karl etwas bockig, „der
ist doch gar nicht in meiner Klasse, nicht einmal mehr in derselben Schule wie ich, jetzt, wo ich aufs Gymnasium gehe.”
„Du musst dich beeilen”, sagte Ida, „sonst schaffst du’s
nicht rechtzeitig bis zur Bergstraße. Ich glaube, ich muss dich
früher wecken.”
Karl warf einen Blick auf die Küchenuhr.
„Genau das war’s. Ich brauch mal wieder Geld für eine Wochenkarte.”
„Gestern Abend ist dir das nicht eingefallen?”, meinte Ida,
aber dann versetzte sie Karl einen fast schwesterlichen Klaps
auf den Rücken.
„Was Frau Landwehr ist, die lässt dich doch auch einmal
umsonst Elektrische fahren, oder?”
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Es regnete leicht. Frau Schulte stand unter dem Dach über
der Verladerampe, ließ ihre Blicke einmal über den Hof streifen und rieb sich mit beiden Händen den Rücken. In der vergangenen Woche hatte sie die Gemüsebeete umgegraben und
davon nicht einmal mehr Blasen bekommen, vorgestern war
Idas Großvater mit seinem Gespann frühmorgens erschienen
und hatte die Setzlinge gebracht, die sie dann nach und nach
gepflanzt hatte, meist allein, denn Fräulein Dahm steckte gerade jetzt in der Buchhaltung bis über die Ohren in Papieren.
Die Herstellung von Puddingpulver lief seit einem halben
Jahr, aber selbst die Ersatzrohstoffe waren nicht immer ohne
Schwierigkeiten zu beschaffen.
Natürlich hatte Frau Schulte für Idas Großvater, den alten
Bauer Effenkamp, die Flasche mit dem Doppelkorn aus dem
Wohnzimmerschrank geholt, und sie hatte ihm voller Aufmerksamkeit, auch mit Besorgnis zugehört, wie er in einer
Mischung aus Platt und Hochdeutsch das Neueste vom Neuen
erzählte.
„Denen von der Stadt gehen die Pferde ein, langsam, aber
sicher”, meinte er. „Viele hatten sie ja sowieso nicht mehr mal;
die sind auch eingezogen worden”, fügte er hinzu und lachte.
„Auf Ackergäulen reitet da zwar keiner, aber zum Ziehen von
Kanonen taugen sie doch etwas.”
„Ja.”
Frau Schulte nickte.
„Mein Mann hat etwas geschrieben von 77ern, oder waren
es 75er, die auf Eisenbahnschienen befördert werden, natürlich
nur da, wo sich das Gelände dazu anbietet. Kraftfahrzeuge setzen sie auch ein, aber sonst ist ein rheinisch-deutsches Kaltblut
eher am Platz.”
Idas Großvater nippte einmal an seinem Glas, kippte den
Inhalt dann herunter.
„Vorkriegsschnaps?”, erkundigte er sich, wartete aber nicht
auf Antwort.
„Also jedenfalls schmilzt der Futtervorrat wie Schnee an
der Sonne, ich meine, die Perdkes brauchen ja Hafer, und sie
überlegen schon, wer denn dann die Wagen mit den ... also Sie
entschuldigen schon, mit den Fäkalien ziehen soll. Sie reden
von Ochsengespannen, aber bisher haben sie noch keinen gefunden, der damit umgehen kann. Die Kutscher verstehen sich
doch auf so was nicht.”
Er lächelte verschmitzt.
„Vielleicht, auf meine alten Tage, als Angestellter der Stadt
und wenn ordentlich was dabei rausspringt ...”
Frau Schulte lachte und drückte ihm einen Umschlag in die
Hand.
„Wo wir gerade von Geld sprechen; aber zählen Sie doch
besser noch einmal nach.”
Zum Abschied hatte er ihr geraten, das Hoftor abends abzuschließen und sich vielleicht sogar einen Hund anzuschaffen.
„Einen Wachhund, also nicht so einen für Ihre Kleinen zum
Spielen”, sagte er, während er auf den Bock stieg, griff nach
der Peitsche und ließ sie einmal knallen.
„Nur gut, dass Sie da Ziegelsteine unter den Planen gestapelt haben und keine Kohle. Die kriegt nämlich neuerdings
überall Beine.”
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Karl stellte seinen Schulranzen ab, schüttelte seine Jacke
aus, dass die Regentropfen spritzten, und fragte sofort wieder
nach seiner Mutter.
„Sperr die Augen auf”, meinte Ida, verschränkte die Arme
und wartete weiterhin darauf, dass Helga auf dem Topf ihr Ge-
schäft erledigte. „Weit kann sie nicht sein, entweder im Garten
oder im Betrieb unten.”
„Mommo”, sagte Helga und klatschte in die Hände, „Ka.”
„Da gehört hinten noch was dran, aber ich glaube, du kannst
schon besser sprechen als Hildegard.”
Karl wurde auf einmal ganz lebhaft.
„Fritz und ich wollten das sowieso mal rausfinden.”
Ida drohte mit dem Zeigefinger.
„Keine Dummheiten. Sie sind schließlich noch nicht einmal
zwei.”
Karl brummte etwas vor sich hin und rannte die Treppe hinunter.
Seine Mutter, das sah er durch die mannshohen Fenster aus
verdrahtetem Glas, war tatsächlich im Betrieb. Wie alle Mädchen und Frauen, die das Puddingpulver abwogen und in verschieden große Papiertüten oder Gläser abfüllten, trug sie eine
weiße Haube, unter der hinten eine winzige Haarsträhne hervorschaute, und hatte einen Streifen Mull vor Mund und Nase
gebunden. Zuerst war das nicht nur Karl komisch vorgekommen, und er hatte gefragt:
„Warum macht ihr denn das?”
Mit den weißen Hauben war er natürlich von früher vertraut; die mussten sein, damit keine Haare mit den Bonbons in
Berührung kamen – Hygiene nannte man das. Doch wozu diese
Streifen? Den ersten hatte Frau Schulte übrigens aus einer von
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Hellekens Windeln zurechtgeschnitten und einfach hinter dem
Kopf verknotet.
Frau Dennersmann indessen hatte sofort begriffen, die Hände auf die Hüften gestützt und genickt.
„Ja, das ist die Lösung. Zucker, also richtiger Zucker, der
klebt ja nur, an den Schuhen und überhaupt. Aber dieses Pulver,
das fliegt. Ich meine, selbst wenn man nicht mit der Schaufel
herumfuchtelt oder ständig irgendwelche Tüten platzen, weil
da so ein Dusselchen mal mit den Gedanken woanders war,
hängt immer was von dem Zeug in der Luft. Wir waschen’s ja
alle gern raus. Aber dass wir’s nicht mehr einatmen müssen,
das ist schon eine feine Sache.”
Und mit Frau Dennersmann sprach die Mutter gerade.
Da wartete er lieber vor der Tür.
„Na, Karl?”, fragte Frau Schulte, als sie ihren Sohn entdeckte, „wie bist du denn in die Schule gekommen?”
Sie sah aber gar nicht böse aus.
„Ich habe auf die Elektrische mit Frau Landwehr gewartet,
und das letzte Stück bin ich gerannt. Da konnte ich gerade noch
durch die Tür reinwitschen, bevor der Lehrer sich umdrehte.”
„Beim nächsten Mal denkst du aber abends dran.”
Für Frau Schulte war die Sache abgeschlossen, und sie
bewegte sich mit weit ausholenden Schritten aufs Kontor zu,
blieb aber unterwegs stehen.
„Na, was hast du sonst noch auf dem Herzen?”
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„Warum geht eigentlich Franz Dennersmann nicht ins Gymnasium an der Bergstraße? Ich meine, Fritz war ja nicht einmal
in derselben Volksschule wie ich, aber jetzt sitzen wir doch nebeneinander in einer Klasse.”
Karl stotterte ein wenig.
„Ist er … also ist er durch die Aufnahmeprüfung gefallen?”
Frau Schulte seufzte einmal.
„Nein, daran liegt es nicht. Franz hat schon immer gute Noten mit nach Hause gebracht. Woher ich das weiß, mein Bester?”
Sie sah ihren Sohn liebevoll an, aber ihre Stimme klang so,
also wolle sie ihn am Ohr ziehen.
„Wenn es Zeugnisse gibt, drehen sich alle Unterhaltungen
im Betrieb natürlich darum, und einige von den anderen Frauen wollten es Frau Dennersmann nicht glauben, dass ihr Franz
ein so guter Schüler ist. Da hat sie halt das letzte Versetzungszeugnis, das von der 4. in die 5. Klasse, voriges Jahr zu Ostern
mitgebracht und allen gezeigt. Er hätte die Aufnahmeprüfung
mit Glanz und Gloria geschafft.”
Frau Schulte legte Karl die Hände auf die Schultern.
„Wenn man aufs Gymnasium geht, muss man Schulgeld bezahlen. Und das hat Frau Dennersmann nicht. Ihr Mann ist gefallen, sie erhält nur eine kleine Pension, und Franzens kleine
Schwester, die Herta, muss sie auch noch durchbringen.”
Karl senkte den Kopf.
„Aber das will nichts heißen. Dass einer tüchtig ist, merkt
früher oder später immer irgendjemand. Hast du übrigens deine Schulaufgaben schon erledigt? Ich werfe nachher mal einen
Blick darauf. Jetzt muss ich zunächst einmal mit Tante Dahm
eine Lösung dafür finden, wie wir unser Puddingpulver nach
Hohenlimburg und Meschede kriegen.”
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Ida kam mit Helga auf dem Arm die Treppe herunter, und
genau in diesem Augenblick klopfte es an der Haustür. Frau
Schulte öffnete selbst, sah auf dem Bürgersteig gegenüber Pastor Ackermann gehen und wurde mit einem Schlag leichenblass.
Vor ihr stand Frau Rüter vom Lebensmittelamt, mit der sie
schon oft im Rathaus gesprochen hatte, zuletzt wegen der Zuteilung von Süßstoff, Zucker und Speisestärke, obwohl diese
Gänge wegen der damit verbundenen Wartezeit meistens von
Fräulein Dahm übernommen wurden.
Frau Rüter hob sofort beschwichtigend die Hände.
„Nein, nein, Frau Schulte, es ist nicht, was Sie befürchten.
Ihrem Mann ist nichts zugestoßen, er ist weder verwundet noch
…”, sie unterbrach sich. „Ich komme aus einem ganz anderen
Grund.”
Ida atmete einmal laut aus und drückte Helga fest an sich,
während Frau Schulte die Tür richtig öffnete und Frau Rüter
hereinbat. Gemeinsam stiegen sie die Treppe hoch, und als
Frau Rüter im Wohnzimmer Platz genommen hatte, nannte sie
den Grund ihres Besuchs.
„Wie Sie vielleicht aus der Zeitung wissen, hat die Stadt
Hagen beträchtliche Mengen Steckrüben zu Marmelade verkocht, vorsorglich, weil ja längst nicht alle Einwohner über einen Garten verfügen, sei’s auch nur ein Schrebergärtchen mit
ein paar Beerensträuchern und ein oder zwei Obstbäumen. Die
Versorgungslage verschlechtert sich indessen ständig; das ist
Ihnen bestimmt auch bekannt.”
Während Frau Schulte sich langsam beruhigte, trank Frau
Rüter einen Schluck von dem Apfelsaft, den Ida ihr gereicht
hatte.
„Die Steckrübenmarmelade wurde im vorigen Herbst der
Einfachheit halber heiß in große Metallbehälter gefüllt”, fuhr
sie dann fort, „ein Teil davon auch in weithalsige Glasflaschen,
wie man sie für Säure verwendet. Bei der letzten Kontrolle ist
nun mehr oder weniger zufällig festgestellt worden, dass ein
Gärungsprozess eingesetzt hat, das heißt: Es haben sich winzig
kleine Bläschen gebildet. Gestern wurde dann auf der Ratssitzung hin und her überlegt, wie man die Marmelade retten
könnte, und einer von den Eckeseyern schlug vor, doch Ihren
Mann zur Hilfe zu rufen; der verstehe wahrscheinlich am ehesten etwas davon, möglicherweise mehr als ein Chemiker, einmal abgesehen davon, dass kein einschlägiger Betrieb in Hagen
ansässig ist. Kurzum, es wurde gestern Abend zu später Stunde
beschlossen, Ihren Mann vom Dienst an der Waffe freistellen
zu lassen. Wann mit seiner Rückkehr zu rechnen ist, kann ich
Ihnen allerdings nicht sagen.”
Frau Schulte sprang von ihrem Stuhl auf, zog eine Schublade ihres Schreibtischs heraus und griff nach der Karte, die
zuoberst auf einem Stapel von Feldpost lag.
„Sein Regiment kämpft in Nordfrankreich, an der Aisne,
mehr weiß ich …”
Frau Rüter nickte.
„Aber bis man da einmal jemanden findet! Den genauen
Standort dürfen sie ja ohnehin nicht angeben, und außerdem
geht an der Front alles drunter und drüber. Mein Mann, er ist bei
der Infanterie, schrieb uns letztes Jahr zu Weihnachten, manchmal verliefen sich sogar welche von den Franzosen oder auch
diese Engländer aus den Kitchener-Divisionen in den Schützengräben, und dann würden sie gefangen genommen. Können
Sie sich das vorstellen? Sie schlagen sich manchmal um einen
Zwickel Land, bloß, weil die Frontlinie gerade verlaufen soll.”
Frau Schulte schüttelte den Kopf.
„Ich hoffe nur, dass … jede Frau hofft, dass die Männer aus
ihrer Familie heil zurückkehren. Aber alle sehnen bestimmt das
Ende dieses Kriegs herbei.”
Frau Rüter wollte etwas erwidern, schluckte es aber herunter und erhob sich.
„Wir werden Sie auf dem Laufenden halten, sobald wir Näheres wissen. Ach, bevor ich’s vergesse: Ich soll Sie von Pastor
Ackermann grüßen; dem bin ich eben begegnet, er war wieder
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einmal auf dem Weg zu …, aber das wissen Sie ja. Er lässt
Ihnen ausrichten, dass Luise beim Konfirmationsgottesdienst
singen soll, und noch etwas, ja, er huste schon fast so gut wie
Herr Landwehr.”
Karl hatte im Nebenzimmer, wo er über seinen Schulaufgaben hockte, natürlich alles mitbekommen. Sobald unten die
Tür ins Schloss fiel, stand er auf und ging in die Küche. Dort
fand er aber nur Ida und Helga.
„Stell dir vor, Karl”, hob Ida an.
„Hab jedes Wort gehört.”
„Na, begeistert scheinst du gerade nicht zu sein. Wenn mein
Vater morgen nach Hause käme, ich würde vor Freude an die
Decke springen.”
Karl beugte sich zu Helga herab, die an seinen Beinen Halt
suchte, während Ida begann, Zwiebeln in feine Würfel zu
schneiden. Sofort stiegen ihm Tränen in die Augen.
„Komm, Helleken, sagte er, ich mag Zwiebeln ja gern, aber
lieber nicht roh, und außerdem jetzt muss ich dir dringend was
beibringen.”
Er nahm seine kleine Schwester auf den Arm und trug sie
ins Wohnzimmer. Am Schreibtisch der Mutter blieb er stehen
und deutet mit dem Kinn auf das Foto, das darüber in Augenhöhe an der Wand hing.
„Mommo”, sagte Helga und klatschte in die Hände.
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„Ja, das ist die Mutter im Sonntagsstaat, mit dem schönen großen Hut, der ihr so gut steht, mit der Jacke und dem
langen Rock aus schwarzem Tuch und der Spitzenbluse mit
dem hohen Kragen. Schau mal, sie hat einen Regenschirm in
der Hand, obwohl es gar nicht regnet; die Aufnahme hat nämlich ein Fotograf in seinem Atelier gemacht, und die Bäume
im Hintergrund sind nur gemalt, obwohl sie ja wirklich ganz
hübsch echt aussehen.”
Helga steckte Karl ihren Zeigefinger in den Mund, und er
lachte.
„Der Mann daneben in der Uniform mit den Schulterklappen und der Schirmmütze, das ist der Vater als Kanonier. Den
hast du nur einmal gesehen bis jetzt, ich bin aber sicher, dass du
dich nicht an ihn erinnerst, denn da wurdest du gerade getauft.
Er hat einen flotten Schnäuzer, der kitzelt, wenn er einem einen
Gutenachtkuss gibt. Und” – Karl machte eine bedeutungsvolle
Pause – „der Schnäuzer gefällt allen Damen. Nun sag mal ,Vater’.”
„Pap, Papap.”
„Klingt nicht schlecht. Wir werden’s halt üben. Und jetzt
sag mal: ,Karl’.”
„Ach, das Väterken, das Väterlein, der Friedrich-Vater
kommt wieder!”
Luise tanzte mit den Noten der Beethovensonate, die sie gerade spielte, um den Tisch herum, an dem Karl wieder Platz
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genommen und über einer Mathematikaufgabe gebrütet hatte,
als seine Schwester ins Zimmer gestürmt war.
„Du hast gut reden”, brummte er und stützte den Kopf in
die Hände. „In der Schule zählst du ja auch nicht gerade zu den
Besten, aber dafür kannst du singen und Klavier spielen, viel
besser als Fräulein Bröker, finde ich.”
Luise blieb stehen.
„Hast du Angst?”, fragte sie nur.
„Na ja, entweder hat Mutter ihm schon geschrieben, dass
oft nur Genügend unter meinen Mathematikarbeiten steht, und
in Latein … ich meine, sie hat ja immer gesagt, dass sie ihm
eigentlich nichts erzählt, was ihm Sorgen machen könnte; oder
er kriegt’s in null Komma nichts spitz.”
„Er wird doch gar keine Zeit haben, sich um deine Zensuren
zu kümmern”, meinte Luise und versuchte, so viel Überzeugungskraft wie möglich in ihre Worte zu legen. „Sie holen ihn
zurück, damit sie die Steckrübenmarmelade nicht wegzuwerfen brauchen, und da wird ihm etwas einfallen müssen. Frau
Landwehr hat im Depot gehört, also da, wo die Elektrischen
nachts abgestellt werden, sie hätten unwahrscheinliche Mengen eingekocht – wenn man alle Behälter nebeneinander und
übereinander stapelt, so viel wie ein ganzes Haus.”
Karl brütete weiter vor sich hin und malte die Zahlen seiner
Mathematikaufgabe nach, während Luise die Noten auf dem
Klavier ablegte und schon die Türklinke in der Hand hielt, als
sie sich noch einmal umwandte.
„Übrigens, du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen. Vater hat ja selber die Reifeprüfung nicht abgelegt; er ist
schon zu Ende der Quarta abgegangen.”
Karl starrte seine Schwester an.
„Woher weißt du das denn?”
„Ach, einiges hat er mir selber erzählt, ich bin ja schließlich
seine Lieblingstochter, und den Rest … ich hab halt ein wenig
in den Schubladen herumgestöbert.”
Ob Luises Stimme nur geheimnisvoll oder auch ein bisschen patzig klang, vermochte Karl nicht so recht zu entscheiden. Aber er blickte seine Schwester erwartungsvoll an, und sie
fasste auch bereitwillig zusammen, was sie da herausgefunden
hatte.
„Vater und sein Bruder Wilhelm, der war ein paar Jahre
älter, haben zuerst die Oberrealschule besucht. Sie wohnten
damals in Detmold – das hast du nicht vergessen, oder? Dort
hatte ihr Vater einen Kolonialwarenladen und verdiente nicht
schlecht. Deswegen hat er seine beiden Söhne wohl auch auf
diese Oberrealschule schicken können; es kostete ja was, genau wie jetzt.”
Karl senkte den Kopf und schämte sich, weil er das vor ein
paar Stunden noch nicht gewusst hatte.
„Und dann starb er plötzlich. Die Großmutter, die aus Detmold, konnte das Schulgeld nicht weiter bezahlen, und deshalb
wurden Vater und sein älterer Bruder, der ist aber schon lange
tot, in die Lehre gegeben.”
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„Ach, das meinte Tante Dahm neulich, als das neue Lehrmädchen sagte, bei so schönem Wetter würde sie samstags lieber spazieren gehen, und Tante Dahm wies sie zurecht, also
eigentlich hat sie Maria fast angebrüllt, in den Gemischtwarenläden hätten die Lehrlinge abends bis zehn Uhr arbeiten müssen und am Sonntagmorgen auch.”
„Sein Lehrherr muss aber sehr zufrieden mit Vater gewesen
sein, denn ihm wurde das vierte Jahr erlassen. Außerdem hat
er eine Handelsschule besucht. Was man da lernt, hab ich nicht
so genau verstanden; aber vielleicht zeig ich dir mal, wo Vaters
Zeugnisse aufbewahrt werden, und du wirst draus schlau. Auf
jeden Fall hat man da keinen Lateinunterricht, und es gibt ein
Fach, das heißt ,kaufmännisches Rechnen’; wahrscheinlich ist
das etwas anderes als Mathematik.”
„Aber schlecht in der Schule war er eben doch nicht”, meinte Karl, und Luise schlug beide Hände zusammen.
„Dir ist einfach nicht zu helfen. Nun warte doch wenigstens
mal ab.”
„Ach, Helleken”, sagte sie dann fröhlich, „komm mal auf
meinen Schoß; du darfst ein ganz kleines bisschen mit Henriette spielen.”
Karl verzog das Gesicht zu einem Grinsen
„Fritz und ich haben da so eine Idee. Wir wollen einen Wettkampf veranstalten, also wer besser sprechen kann, Hildegard
oder unser Helleken. Ich wette, Helleken gewinnt. Komm, sag
mal ,Vater’.”
Ida steckte den Kopf durch die Tür und bat die Geschwister, kurz auf Helga aufzupassen; sie müsse jetzt den Tisch fürs
Abendbrot decken, denn Teller hätten sie auf jeden Fall noch.
Karl schaute ihr ratlos nach und fragte, was sie denn damit
wohl meine, und Luise nickte wissend, beschränkte sich allerdings darauf, etwas von Lebensmittelknappheit zu murmeln.
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Im rechten Arm trug Helga die Schultüte, ihre linke Hand
lag in der ihres Vaters. Sie war stolz und froh, dass er die Zeit
gefunden hatte, sie zur Einschulung zu begleiten, denn er hatte
immer so viel zu tun, dass sie ihn oft nicht einmal beim Abendessen zu Gesicht bekam. Aber heute – darauf hatte er Wert gelegt und den Tag auf seinem Terminkalender rot eingerahmt
– hatte er mit den anderen Eltern im Schulhof gestanden und
gewartet, bis die Frau Rektor ihre kurze Ansprache beendet
hatte.
Eigentlich stimmte das mit den Eltern nicht, denn außer ihrem Vater hatte sie nur drei Männer gesehen, einen mit ganz
weißen Haaren und einen mit einem Holzbein; der dritte war
ihr Klassenlehrer, Herr Reckefuß, und der ging schon ganz
krumm.
Am ersten Schultag hatten sie noch nichts gelernt. Helga
war ein bisschen enttäuscht, denn sie hatte ihren Schulranzen
– Karl nannte ihn ,Tornister’ – umsonst gepackt. Neu war er
natürlich nicht. Luise hatte ihn so lange verwendet, bis sie aufs
Lyzeum in der Viktoriastraße überwechselte und ihre Bücher in
eine Aktentasche stopfte. Aber den Ranzen der anderen Kinder
sah man auch an, dass sie nach unten weitergereicht worden
waren.
Herr Reckefuß hatte aufgezählt, was sie unbedingt mitbringen müssten, doch das wusste Helga natürlich längst: ihre
Schiefertafel mit einem Schwämmchen, einen Griffel, die Fibel zum Lesenlernen und, wenn sie so etwas zu Hause hätten,
einen Rechenrahmen. Dass sie schon ein wenig lesen konnte,
hatte Helga natürlich für sich behalten, und sie war auch rot
geworden, als Herr Reckefuß ihren Namen aufgerufen hatte.
Vor ihr waren viele andere Kinder aufgestanden, Albers
Ernst August zuerst und dann ein Mädchen, Beckmann Margarete Johanna Elfriede; die meisten hatte sie schon auf der
Straße oder in der Kirche getroffen, und Herta Dennersmann
kannte sie sogar etwas besser. Aber als Herr Reckefuß dann
Schulte Helga Friederike Karoline von dem Buch auf dem Pult
ablas, war sie zusammengeschreckt.
„Ich sehe, du hast am Heiligen Abend Geburtstag”, fügte
Herr Reckefuß noch hinzu, nachdem er gefragt hatte, ob sie
auch wirklich in der Schillerstraße wohne, und sie wäre am
liebsten im Boden versunken, weil sogar die Jungen, die sich
ganz nach hinten gesetzt hatten, plötzlich zu ihr hinstarrten.
Wenn doch wenigstens Hildegard neben ihr stünde – die war
zu Sylvester geboren, und darüber hätte der Lehrer gewiss auch
ein paar Worte verloren.
Der Junge, der Ernst August Albers hieß, flüsterte ihr zu,
ob sie etwas mit den Schultes von der Bonbonfabrik zu tun
hätte. Helga stellte sich taub, aber da zischte jemand schon die
Antwort.
„Au, dann bringst du aber sicher mal Klümpkes mit!”, meinte Ernst August, während sein Nachbar das Gesicht zu einem
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4. Kapitel: Ostern 1922
Grinsen verzog und wisperte, das sei auf jeden Fall besser als
Steckrübenmarmelade. Genau in dem Augenblick erhob sich
Herr Reckefuß von seinem Stuhl, stützte sich mit beiden Händen aufs Pult und blickte sehr streng in die Ecke, wo die beiden
Jungen saßen.
„Bevor ich’s vergesse”, sagte er und griff nach einem Stöckchen, das Helga bislang noch gar nicht bemerkt hatte; es musste aber die ganze Zeit schon in der Querrille mit dem darin eingelassenen Tintenfass gelegen haben. „Hier ist ein Gegenstand,
den ich nie vergesse. In der Schule wird gelernt, und Lernen
kann man nur, wenn man aufpasst. Damit euch das nicht zu
schwer fällt, muss eiserne Ruhe herrschen. Ist das klar? Notfalls sorgt das Stöckchen dafür, dass der Mund zubleibt. In der
Pause könnt ihr euch dann austoben, aber im Klassenzimmer
ist Schweigen Gold.”
Gold gab ich für Eisen, dachte Helga, das hatte der Vater
ihr erklärt, als sie ihn gefragt hatte, was da auf der Kette seiner
Taschenuhr geschrieben stehe. Aber jetzt wollte sie doch lieber
achtgeben und sich die Namen der anderen Kinder einprägen.
„In den nächsten Wochen” – seine Stimme klang eigentlich
so, als drohte er ihnen – „wird sich herausstellen, wohin jeder
von euch wirklich gehört, nach vorn oder nach hinten auf die
Faulenzerbänke.”
Helga war plötzlich froh, dass der Vater draußen im Hof auf
sie wartete.
Von all den Fragen, die in ihrem Kopf durcheinander
schwirrten, sprach sie auf dem Heimweg nur eine aus.
„Vater, warum geht Hildegard nicht in dieselbe Schule wie
ich?”
Sie sprach absichtlich lauter als sonst, weil ihr Vater, wie er
zu sagen pflegte, seit der ,Kanonerei’ schlecht hörte, aber nicht
schlecht genug für ein Hörgerät.
Seine Finger schlossen sich kurz etwas fester um ihre Hand.
„Blankensteins sind nicht evangelisch, auch nicht katholisch, sondern jüdischen Glaubens. Deshalb ist Fritz früher
in die jüdische Volksschule gegangen, so wie Hildegard jetzt.
Wenn ihr beide in ein paar Jahren die Aufnahmeprüfung besteht, werdet ihr den gleichen Schulweg haben, wahrscheinlich
wie Luise zum Lyzeum in der Viktoriastraße, und da könnt ihr
nebeneinander sitzen, soviel ihr wollt.”
Ihr Vater strich sich einmal über den Kopf.
„Du weißt ja, dass Eugen, Onkel Blankenstein, zu meinem
engsten Freundeskreis zählt. Wir kennen uns schon, seitdem
ich damals aus Detmold nach Hagen gezogen bin. Da arbeitete er bereits im Betrieb seines Vaters. Früher stellten sie nur
Werkzeuge her, Schraubenschlüssel und Zangen zum Beispiel,
wie jetzt auch noch; aber inzwischen machen sie zusätzlich
Werkzeugmaschinen. Seid ihr noch nie durch die Fabrikhalle gegangen, Hildegard und du, so ganz heimlich nach Feierabend? Ehrlich nicht?”
Er hielt inne und blieb gleichzeitig stehen.
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„Bin ich doch mal wieder vom Hölzken aufs Stöcksken
gekommen. Eigentlich wollte ich dir erzählen, dass selbst die
besten Freunde nicht alles gemeinsam tun. Onkel Blankenstein
ist zum Beispiel Mitglied im Sauerländischen Gebirgsverein,
während ich nicht zu den leidenschaftlichen Wanderern zähle.
Doch viele Dinge verbinden uns, und so wie ich bei der Beerdigung seines Vaters in Eilpe anwesend war, ist er zu Karls Konfirmation mit in die evangelische Kirche gegangen, übrigens
nicht nur er, Tante Blankenstein auch. Jetzt müssen wir aber
machen, dass wir nach Hause kommen”, sagte er abschließend
und drückte noch einmal Helgas Hand. „Die Mutter und Ida
wollen gewiss hören, wie es dir an deinem ersten Schultag ergangen ist, und heute Nachmittag kannst du mal nachschauen,
ob Hildegard etwas anderes als du in ihrer Schultüte gefunden
hat, nicht wahr, wenn sie nicht inzwischen in Rudolfs Hände
gefallen ist.”
Hildegard und Helga hockten im Kinderzimmer auf dem
Boden, vor sich den Inhalt ihrer Schultüten.
„Nicht, Rudolf! Mutter hat gesagt, dass wir dir keine Bonbons geben sollen, weil du daran ersticken würdest. Hier, nimm
mal den Lutscher, der ist zu groß, den kannst du nicht verschlucken.”
Rudolf ließ sich auf den Boden plumpsen und schleckte so
laut, dass es nicht zu überhören war.
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„Du hast samstags wirklich keine Schule?”, fragte Helga
und konnte sich nicht entscheiden, ob sie nun neidisch sein
sollte oder nicht, denn sie zählte darauf, endlich nicht mehr
,Helleken’ gerufen zu werden, wenn sie lesen und schreiben
könnte, und deswegen wollte sie beides so rasch wie möglich
lernen.
Hildegard schüttelte den Kopf mit den dunklen Locken, die
noch dichter wuchsen als die von Fritz, und steckte eine Karamelle in den Mund.
„Die habt ihr vor dem Krieg schon gemacht, hat mir meine
Mutter erzählt. Das waren ihre Lieblingsbonbons, die mit dem
gelb-roten Streifenpapier. Samstags gehe ich nicht in die Schule, da feiern wir Sabbat, halt wie ihr am Sonntag nicht arbeitet;
aber dafür muss ich manchmal nachmittags hin, genau weiß ich
noch nicht wann, um Hebräisch zu lernen.”
Helga wollte gerade fragen, was das sei, aber Hildegard
machte sich ein bisschen wichtig und erklärte, in der Sprache
seien die Thora, also die fünf Bücher Mose, abgefasst und auch
der Talmud.
„Ihr habt dafür das Alte und das Neue Testament”, fügte sie
hinzu.
„Aber die sind doch auf Deutsch geschrieben”, wandte Helga ein, „da braucht man keine andere Sprache zu lernen!”
In diesem Augenblick stürmte Luise herein, warf einen
Blick auf die Uhr an der Wand und sagte nur: „Raus. Ich muss
üben.”
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Ihr Kopf war knallrot, und Helga kniff die Augen zusammen; es sah so aus, als hätte Luise geweint. Hildegard fegte
mit einer geschickten Bewegung alles, was auf dem Boden lag,
zu einem kleinen Haufen zusammen, während Helga die beiden bunt verzierten Schultüten vom Klavier holte, wo sie vor
Rudolfs klebrigen Fingerchen in Sicherheit gebracht worden
waren.
Helga hatte das Kinderzimmer mit Rudolf an der Hand bereits verlassen, als Hildegard sich in der Türöffnung noch einmal umdrehte und Luise von unten ansah.
„Ich übe auch jeden Tag Geige. Aber so zu brüllen brauchst
du nicht. Wir haben dir nichts getan.”
Das hätte ich mich nie getraut, dachte Helga und wusch Rudolf zunächst einmal die Hände.
Es mochte halb sechs sein, jedenfalls noch nicht Abendessenszeit. Helga saß im Lieblingssessel ihres Vaters mit Rudolf
auf dem Schoß, hielt seine Rechte und strich über die Handfläche: Hier haste ‘nen Taler, geh kauf dir ’ne Kuh, ‘nen Kälbchen
dazu, das Kälbchen hat ein Schwänzchen, macht diddel diddel
diddel dänzchen. Rudolf lachte jedes Mal hell auf und bekam
offensichtlich nicht genug davon. Im Kinderzimmer übte Luise
immer noch ein Stück, das man wohl sehr laut spielen musste,
fortissimo, hatte sie Helga einmal erklärt.
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„Na, hast du deine Schulaufgaben schon gemacht, Hel­
leken?”, erkundigte sich Karl, warf seine Tasche auf den Boden
und stellte gleich die zweite Frage. „Wer ist denn euer Lehrer?”
„Herr Reckefuß.”
Helga blickte ihren Bruder erwartungsvoll an; sie mochte
ihn lieber als Luise, weil er sie zwar manchmal auf den Arm
nahm, wie er es nannte, ihr aber ansonsten geduldig zuhörte,
vor allem, wenn sie wieder einmal einen Rat brauchte. Außerdem schnitt er bei den Vergleichen, die sie zu anderen großen
Brüdern anstellte, wirklich gut ab: Er war dem Vater bereits
über den Kopf gewachsen, trug sein dickes blondes Haar links
gescheitelt und hatte blaue Augen, die er, anders als Fritz
Blankenstein, nicht hinter einer Brille zu verstecken brauchte.
Neuerdings zog er immer häufiger lange Hosen an. Er war ja
auch schon sechzehn Jahre alt. Besonders gefiel ihr, dass er
mit Rudolf rau, aber herzlich umging, ihn jedesmal, wenn er
nach Hause kam, in die Arme nahm und dann in die Luft warf,
bis sein Brüderchen vor Vergnügen quietschte. Luise hingegen
hatte, als Rudolf vor fast zwei Jahren geboren wurde, nur zu
Helga gesagt, jetzt werde sie ja sehen, wie das sei – ein kleiner
Bruder, um den sich alles drehe. Aber es war anders gekommen; Helga liebte Rudolf so sehr, dass sie jedes Mal überrascht
fragte, wovon denn da die Rede sei, wenn jemand die abstehenden Öhrchen ihres Bruders erwähnte. Die gehörten dazu,
ebenso wie seine Anhänglichkeit – Ida nannte ihn oft ,unser
Klettchen’.
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„Reckefuß?”
Karl steckte eine Hand in die Hosentasche, zog sie aber
gleich wieder heraus.
„Ich dachte, der sei längst pensioniert. Als ich in die erste
Klasse kam, war er gerade in den Ruhestand versetzt worden.
Aber ich vermute mal, sie haben ihn zurückgeholt, weil sie
nicht einmal genug ausgebildete Lehrerinnen haben, von Lehrern ganz zu schweigen.”
Er strich eine Haarsträhne aus der Stirn und setzte sich auf
die Tischkante.
„In der Bergstraße haben sie eine Tafel angebracht, auf der
stehen die Namen der Leute, die im Krieg gefallen sind. Dazu
kommen die Vermissten und die Gefangenen. Und außerdem”
– sein Gesicht war sehr ernst geworden – „gibt es Leute wie Dr.
Merkenfeld und Oberstudienrat Meyer; bei dem einen hängt
der linke Ärmel leer herunter, der andere humpelt, weil er mit
einem steifen Bein zurückgekehrt ist. Der Meyer soll ein toller
Sportler gewesen sein, Langstreckenlauf. Deswegen habe ich
auch bei dem Streik 1919 nicht mitgemacht, wo so ein paar
Vollidioten aus der Sekunda und der Prima darauf bestanden,
das Kaiserbild sollte hängen bleiben.”
„War denn der Kaiser an dem Krieg schuld?”, fragte Helga.
Karl schreckte zusammen, als ob ihm erst jetzt klar würde,
dass er mit seiner sechseinhalbjährigen Schwester redete, aber
dann zuckte er mit den Schultern.
„Wir sprechen natürlich im Geschichtsunterricht darüber,
und mit Vater habe ich mich auch schon oft darüber unterhalten. Ich glaube, da ist vieles zusammengekommen. Vater meint
zum Beispiel, alle Soldaten, die Engländer, die Franzosen, die
Deutschen und Österreicher, auch die Russen hätten fest daran
geglaubt, dass sie für die gute Sache kämpften, also dass das
Recht auf ihrer Seite sei. Aber auf jeden Fall ist Deutschland
jetzt eine Republik, und der Kaiser sitzt in Doorn. Apropos Sitzen: Wer ist denn deine Banknachbarin, und kenne ich wen aus
deiner Klasse?”
Er schien wieder etwas in seiner Hosentasche zu suchen,
hörte Helga aber aufmerksam zu.
„Herta Dennersmann … Gerda Schnettler aus der Eichendorfstraße, sagt dir das etwas? Ein Mädchen finde ich noch
ganz nett, Ilse Fandrey heißt sie, ich glaube, sie kommt aus
dem Kaschubenland, und sie spricht nicht so wie wir hier.”
Sie errötete, weil sie sich an das erinnerte, was sich am Vormittag abgespielt hatte.
„Ernst August Albers, kennst du den?”
Karl brach in Lachen aus.
„Und ob. Das ist der kleine Bruder von Johann, der bei
mir in der Klasse war. Unser Lehrer hielt damals sein Stöckchen immer schon griffbereit, wenn Johann sich auch nur nach
rechts oder links beugte. Jetzt macht er eine Lehre bei Plates
in der Federnfabrik und wirkt ganz vernünftig. Ich sehe ihn
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manchmal, und nach dem, was er so erzählt, ist sein kleiner
Bruder ein besonders freches Stück. Hat er dir was getan?”
Helga schüttelte den Kopf und blickte auf ihre Schuhspitzen.
„Hör mal zu, Helleken. Wenn einer dir was will, selbst so
ein Kathole aus der Eckeseyer Straße, dann sagst du’s mir, ja?
Nicht beim Lehrer petzen, das tut man nicht; aber mir kannst
du’s anvertrauen. Überhaupt, petzen …”
Karl führte den Satz nicht zu Ende, und Helga zerbrach sich
den Kopf, was er wohl gemeint haben könnte, als nebenan mit
einem Riesenkrach der Klavierdeckel heruntergeschmettert
wurde und kurz darauf die Haustür ins Schloss fiel.
Durch das geöffnete Fenster hörte Helga das Lachen der
Frauen und Mädchen, die durchs Hoftor auf die Schillerstraße
hinausströmten. Aus den wenigen Arbeiterinnen waren viele
geworden – zu schätzen vermochte Helga die Zahl allerdings
nicht; sie würde Karl fragen oder den Vater. Da, wo sie als ganz
kleines Mädchen noch in den kniehohen Grundmauern Verstecken, auch mal Räuber und Schanditz gespielt hatte – eigentlich: Gendarm, wie sie jetzt wusste –, war in wenigen Monaten
ein zweistöckiges Gebäude aus dem Boden gewachsen, das
sich nach und nach mit riesigen Metallbehältern für Sirup und
Rohzucker, Maschinen und Mischtischen mit Waagen darauf
füllte. Die Bonbonkocherei, deren schwenkbare Kupferkessel
Helga eigentlich am besten gefielen, war vor Kurzem auch in
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den Neubau umgezogen, sodass unten im Haus Platz für ein
weiteres Büro frei geworden war. Wenn die neue Sekretärin,
die Lange hieß und auch lang war, wie Luise schnippisch bemerkt hatte, auf ihrer Schreibmaschine klapperte, hörte man es
bis ins Kinderzimmer.
Aber jetzt hatte Herr Mauritz das Hoftor geschlossen, und
Luise war immer noch nicht zurückgekehrt. Hoffentlich kam
sie rechtzeitig zum Abendessen nach Hause! Helga fühlte sich
unbehaglich wie immer, wenn Spannungen in der Luft lagen.
Ob Luise sich mit der Mutter gestritten hatte? Meistens bekam
sie das ja nicht mit, weil sie viel früher als ihre großen Geschwister zu Bett geschickt wurde, aber Karl erwähnte manchmal, da habe es wieder einmal tüchtig gefunkt.
Jemand klopfte einmal an die Tür und trat fast gleichzeitig
ins Zimmer.
„Entschuldige, Helleken, aber ich suche deine Mutter.”
Fräulein Dahm hatte es offensichtlich sehr eilig, und Helga
fuhr richtig zusammen. So stotterte sie auch nur, sie habe ihre
Mutter seit mindestens zwei Stunden nicht gesehen, aber jetzt
sei Abendbrotzeit, da werde sie wahrscheinlich nach Hause
kommen.
„Sag ihr bitte, sie solle einen Sprung ins Kontor machen,
um den Bewerber für den Vertriebsleiterposten in Augenschein
zu nehmen.”
„Den was, Tante Dahm?”
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„Ich erklär’s dir ein andermal. Ach, da ist sie ja”, sagte
Fräulein Dahm vom Fenster her und verließ das Kinderzimmer
so schnell, wie sie gekommen war.
Noch einmal öffnete sich die Tür, diesmal aber ohne jede
Hast. Ida hielt Rudolf auf dem Arm und bat sie, ihr in die Küche zu folgen.
„Die gnädige … also ich füttere Rudolf, und du isst mit uns
deine Reibekuchen. Sie haben eine Besprechung im Büro, Karl
ist bei Blankensteins eingeladen, und Luise …”
Helga verspürte genau so ein Unbehagen wie vorhin schon.
Aber sie erkundigte sich nicht, was mit Luise war. Vielmehr
ging sie hinter Ida her und fragte, mit wem ihre Eltern und
Fräulein Dahm denn da unten im Kontor säßen.
„Tante Dahm sagte was von einem Vertriebenen, so einem
wie die Ilse Fandrey in meiner Klasse, von noch weiter weg als
Ostpreußen.”
Ida lachte, bestrich Helgas Reibekuchen mit Rübenkraut
und reichte ihr den Teller.
„Ganz genau weiß ich das natürlich auch nicht. So jemanden hatten wir ja noch nie, dein Vater hat bislang alles erledigt,
mit der gnä…, also mit deiner Mutter und mit Fräulein Dahm,
die ist Prokuristin und darf alle Papiere unterschreiben. Im
Krieg haben die Frauen überhaupt alles allein gemacht. Aber
jetzt …” – sie setzte Rudolf kurz auf dem Kachelboden ab und
füllte Helgas Becher voll mit Malventee –, „seit dem letzten
Jahr geht es ja wieder aufwärts; dein Vater, auf den kannst du
wirklich stolz sein, der hat im Lebensmittelamt dafür gesorgt,
dass kein Hagener verhungerte.”
So lange redete Ida eigentlich sonst nie an einem Stück.
„Was ein Reisender ist, weißt du ja inzwischen, oder? Der
zieht mit einem Musterköfferchen durchs Land und zeigt den
Inhabern von Gemischtwarenläden, was unsere Firma herstellt,
Hartkaramellen, Hustenkaubonbons, Gläserware wie Himbeeren und so weiter. Und der Vertriebsleiter, so nennt sich das, der
führt die Aufsicht über die Reisenden und sorgt dafür, dass sie
möglichst viel verkaufen, wenn ich’s recht verstanden habe.”
Sie senkte die Stimme und fügte hinzu, dieser sehe sehr nett
aus, heiße Bär oder Behr und sei wohl der Bruder von Frau
Rosenthal, der Frau vom Doktor, dem sie im Feldlazarett den
Schädel trepa…, ein Loch reingebohrt hätten halt und der mit
nur einem Arm heim gekommen sei.
„Herr Bär oder Behr zieht ein Bein ein bisschen nach”,
meinte sie abschließend. „Aber ein Automobil fahren kann
er damit; lehn dich mal vorsichtig aus dem Fenster, da unten
steht’s.”
Dann hob sie beide Hände vor den Mund und seufzte.
„Am liebsten würde ich aber doch wissen, was mit Luise
ist.”
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Schließlich war Helga doch eingeschlafen. Sie hatte zwar
versucht, wach zu bleiben, wenigstens bis Karl von Blankensteins zurückkehrte, denn meistens schaute er noch kurz zu ihr
und Rudolf herein und sagte irgendetwas Lustiges, aber dann
waren ihr die Augen zugefallen, obwohl sie immerzu an Luise
dachte.
Sie hörte die Stimmen ihrer Eltern auf einmal ganz deutlich. Kurz war sie versucht, aufzustehen und an der Tür zu horchen, aber so etwas tat nur Luise, die ja auch in andrerleuts
Schubladen herumkramte. Außerdem, so stellte sie fest, war
das gar nicht nötig. Ihre Eltern sprachen so laut, besonders die
Mutter schrie sogar manchmal, dass sie fast jedes Wort verstehen konnte. Karl sei beim Rauchen erwischt worden, von
einem Ausschluss solle noch einmal abgesehen werden, falls
die schulischen Leistungen bis Weihnachten sich erheblich,
aber wirklich er-heb-lich besserten. Dann benutzte die Mutter
ein Wort, von dem Helga nur wusste, dass es der Name einer anderen Schule war, weil die von der Bergstraße in einem
Sportwettkampf gegen sie angetreten waren und Karl sie zum
Stadion auf dem Höing mitgenommen hatte.
Plötzlich erinnerte sich Helga daran, wie Karl am Nachmittag mehrmals die Hand in die Hosentasche gesteckt und leer
wieder herausgezogen hatte. Ob er eine Schachtel von diesen
flachen ägyptischen Zigaretten mit sich herumtrug, damit niemand sie in seinem Zimmer finden konnte?
Jetzt hatte sie den Anschluss verpasst, denn sie sprachen
nicht mehr von Karl. Deshalb war die Mutter nicht zu finden
gewesen! Wenn Helga das richtig mitbekommen hatte, war die
Mutter vom Direktor des Oberlyzeums in der Viktoriastraße
zu sich bestellt worden. Aber nun hatte sie sich wirklich verhört, das konnte nicht sein: Luise sollte zu Herrn Dr. Möhle
gegangen sein und ihm erklärt haben, sie wolle die Schule verlassen und nur noch Klavier spielen. Natürlich konnte sie das
gut, Fräulein Bröker hatte ihr einen Platz an der Musikschule
besorgt, und alle Leute fanden, Luise sei ein vielversprechendes Talent.
Helga bemühte sich, ihre Gedanken zusammenzuhalten.
Aber sie konnte sich nicht entscheiden, ob sie zuhören
oder sich die Ohren zuhalten wollte. Die Eltern stritten sich
nämlich, sogar ihr Vater brüllte; ,brotlose Kunst’, das war ihre
Mutter gewesen, ,ihren eigenen Weg’. Dann wurde es etwas
leiser, und ganz deutlich vernahm sie erst wieder, was ihr Vater
erklärte, nämlich: Sie müssten in aller Ruhe mit Luise das Für
und Wider abwägen, mit Luise und nicht in ihrer Abwesenheit.
Es gelte jedoch zunächst, in Erfahrung zu bringen, wo sie überhaupt stecke.
Helgas Herz klopfte stark. Am liebsten wäre sie aufgestanden und hätte Rudolf ein bisschen in den Armen gewiegt. Außerdem hätte sie gern gewusst, wie spät es war; in der Schule hatte sie festgestellt, dass viele der anderen Kinder die Uhr
noch nicht lesen konnten, und sie war ein kleines bisschen
stolz gewesen. Aber dazu hätte sie Licht machen müssen, und
dann wäre ihren Eltern vielleicht aufgefallen, dass sie gar nicht
schlief.
Unten wurde einmal ganz kurz an die Haustür geklopft.
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Helga schlug nun doch vorsichtig und rasch die Bettdecke
zurück und huschte zum Fenster. Unten stand Frau Landwehr,
hinter ihr aufrecht und fest eingehakt Else und Luise.
„Mein Mann und ich mussten ihr gut zureden”, sagte sie
und schob Luise behutsam nach vorn.
Was ihre Eltern erwiderten, konnte Helga nicht verstehen,
weil sie beide gleichzeitig sprachen und sowohl Luise als auch
Else etwas sagten. Aber es klang eigentlich so, als seien alle
erleichtert, und sie kehrte in ihr warmes Bett zurück.
Morgen, dachte sie, und woher die in der Schule das mit der
Steckrübenmarmelade wissen?
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5. Kapitel: Hochsommer 1924
Ende Juni, als Karl seinen 18. Geburtstag feierte, hatte Helga im Krankenhaus gelegen, zum ersten Mal in ihrem Leben.
Kurz nach dem Straßenbahnunglück in Altenhagen war das
gewesen, und Frau Landwehr, die als Schaffnerin zu den Verletzten zählte und auch ins Sankt-Josephs-Hospital eingeliefert
worden war, hatte sie eines Tages sogar im Morgenrock besucht und ihr erzählt, wie die Elektrische auf der abschüssigen
Straße plötzlich aus den Gleisen gesprungen und auf den Güterbahnhof gestürzt war. Da hatte Helga schon längst kein Fieber mehr und wollte nur wissen, wie Else denn die ganze Zeit
allein zurecht gekommen sei, so zwischen ihrer Ausbildung zur
Lehrerin und der Versorgung ihres Vaters. Jetzt war sie wieder
zu Hause, aber sie sollte sich, hatte Dr. Rosenthal betont, weiterhin schonen, und er hatte auch darauf bestanden, dass sie am
1. August nicht mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern nach
Borkum fuhr, sondern sich noch ein wenig in seiner Obhut aufhielt, wie er das nannte.
„Dein Vater besucht sie doch in der zweiten Ferienwoche,
bei der Gelegenheit kann er dich mitnehmen, und ich vermute,
dass die Ergebnisse der Laboruntersuchungen diesmal zufriedenstellend ausfallen, wenn es auch lange gedauert hat, mein
Kind”, hatte Dr. Rosenthal gesagt und sein Stethoskop in die
große schwarze Tasche gesteckt.
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Helga mochte Dr. Rosenthal gern; wenn er neben ihrem Bett
stand und ihr zuzwinkerte, fühlte sie sich gleich besser. Er war
es, der sofort ein Bett für sie gefunden hatte, als sie plötzlich
gar nicht mehr wusste, was mit ihr geschah, und sie, wie Karl
ihr hinterher erzählte, lauter dummes Zeug geredet hatte. „Bei
über vierzig Grad Fieber ist das ja auch kein Wunder”, hatte er
hinzugefügt, „ich dachte immer, da stürbe man schon.”
Dr. Rosenthal, so hatte sie beobachtet, erledigte alles mit
der rechten Hand. Das war manchmal gar nicht so einfach; er
musste zum Beispiel den Schreibblock mit einem Buch beschweren, weil er ihn nicht festhalten konnte – der linke Ärmel
seines Jackets hing nämlich leer herunter, manchmal war er
auch hoch gesteckt.
„Kindchen, ich lese die Frage in deinen Augen”, hatte er
bei seinem ersten Hausbesuch nach ihrer Rückkehr aus dem
Krankenhaus gemeint. „Dein Vater hat dir vielleicht erzählt,
dass ich in verschiedenen Lazaretts eingesetzt worden bin; Lazarett nennt man die Krankenhäuser, in der Regel waren das
Zelte, wo die verwundeten Soldaten zunächst einmal versorgt
wurden, bevor sie gegebenenfalls ins Hinterland, weiter weg
von der Front, transportiert und dort kuriert wurden. Auf die
Dächer dieser Lazarette war immer ein unübersehbares rotes
Kreuz gemalt, was eigentlich bedeutete, dass darauf nicht geschossen werden durfte. Aber erklär das mal einem Artilleristen, der dreißig oder vierzig Kilometer davon entfernt seine
Granaten in die Kanone füttert.”
Er strich einmal mit seiner Hand durch sein dichtes weißes
Haar und richtete sich auf.
„Trotzdem können wir beide von Glück sagen, kleine Helga, dass wir noch einmal davongekommen sind. Ich hätte ja
nicht nur einen Arm, sondern das Leben auf dem Feld der Ehre
...”
Dr. Rosenthal hielt inne, und nach der Pause klang seine
Stimme ganz anders, nicht mehr so scharf, eher fröhlich.
„Kurzum, ich bin nicht auf der Strecke geblieben und du
auch nicht, trotz des harten Winters und der Lungenentzündung, die du vermutlich unter normalen Umständen gar nicht
aufgeschnappt hättest.”
Es schien Helga, als hätte Dr. Rosenthal wieder vergessen,
wo er war. Er starrte nämlich aus dem Fenster und murmelte
vor sich hin, all die Leute in ganz Europa hätten auch nicht an
der Spanischen Grippe sterben müssen, wenn sie vom Krieg
nicht so geschwächt gewesen wären. Das hatte sie ganz genau
gehört, aber was es bedeutete, konnte sie wiederum nur raten.
„Kurzum, mein Kind: Wir beide sind Glückspilze, du natürlich ganz besonders, weil du nach Borkum fahren darfst.”
Auch darunter konnte Helga sich nicht viel vorstellen, obwohl Karl gestern Abend auf ihrem Bett gesessen und ihr vorgeschwärmt hatte, wie schön es dort sei.
„Zuerst kommt die Zugfahrt, die ist ziemlich lang, bis Emden Außenhafen; ich hab vergessen, wieviele Stunden das dauert. Aber immerhin reisen wir zweiter Klasse, nicht dritter oder
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vierter mit dem Federvieh. Dann geht’s weiter mit dem Schiff.
Auf der Insel können wir laufen: Die Villa Irene liegt nicht weit
von der Reede entfernt, und die Koffer holt ein Bursche in einem Karren. Was das ist, eine Reede? So nennt man den Ort,
wo das Schiff anlegt. Sei nicht traurig, in einer Woche kommst
du doch nach.”
Karl musterte sie.
„Ich vermute mal, dass dir Borkum gut tun wird. Warum
du nicht gleich mitfährst, verstehe ich übrigens nicht so ganz;
Leute, die Tuberkulose haben, schicken sie ja in die Alpen, aber
du hattest doch bloß eine Lungenentzündung. So dünn, wie du
geworden bist, und so blass auch … Auf der Insel bläst ein salziger Wind mit viel Jod drin, und Mutter wird wohl darauf bestehen, dass du zuerst im Strandkorb bleibst und dich schonst,
aber dann lässt sich dich bestimmt auch baden, na ja, vielleicht
nicht gleich am ersten Tag. Doch eine Sandburg darfst du sicher bauen und gewiss auch Muscheln sammeln. Luise hat ja
für solche Sachen nichts übrig, aber Rudolf freut sich bestimmt
– und ich mich auch”, fügte er hinzu und erhob sich.
„Ich muss Ida noch fragen, ob sie meine weißen Hosen gebügelt hat. Die brauche ich nämlich unbedingt.”
Er schnitt eine Fratze.
„Du bist zwar erst acht und ein paar kaputte, aber ich … da
gibt es hübsche Mädchen.”
Karl machte eine Pause und beugte sich dann zu Helga hinunter.
„Nicht weitersagen, du weißt ja, das mit dem Petzen. Ich
hab da so eine Idee, als ob Luise sich mit wem aus Köln verabredet hätte.”
Er grinste von einem Ohr zum anderen.
„Was wetten wir, Helleken?”
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Luise hatte heute Morgen ganz früh nur den Kopf durch die
Tür gesteckt.
„Na, wie fühlst du dich? Traurig? Brauchst du nicht zu sein.
Ich würd gern mit dir tauschen. Für jemanden in meinem Alter
ist es furchtbar, mit der Familie zu verreisen. Sie erwarten, dass
man vor Dankbarkeit auf den Knien rutscht, weil letztes Jahr
… Du hast das nicht so recht mitbekommen, weil du zu jung
warst, aber wegen der politischen Unruhen und noch dazu den
französischen Truppen in Vorhalle lief einfach gar nichts. Bei
denen hätte ich übrigens gern mal meine Sprachkenntnisse ausprobiert – ob etwas von der Schule hängen geblieben ist, zum
Beispiel Voulez-vous danser avec moi?”
Sie warf ihrer kleinen Schwester eine Kusshand zu und verschwand lachend.
Wieder war es Karl gewesen, der Helga erzählt hatte, was
sich bei Luises Ankunft abgespielt hatte. Luise studierte ja, oder
wie man das nannte, seit zwei Jahren an der Musikhochschule Köln und wohnte bei einer Großtante väterlicherseits, die
Helga nie zu Gesicht bekommen hatte; aber an das nächtliche
Gespräch, den Krach zwischen ihren Eltern erinnerte sie sich
noch sehr genau. Was Karl ihr brühwarm berichtet hatte, passte
gut dazu: Luise hatte sich nicht nur die wunderschönen dicken
Zöpfe abschneiden lassen und trug jetzt einen Bubikopf, sondern pflegte auch, trotz der Einwände ihrer Verwandten, Einladungen von jungen Männern anzunehmen und sowohl Foxtrott
als auch Onestep zu tanzen.
„Kann sie gut”, hatte Karl hinzugefügt, „also wirklich, das
muss ich ihr lassen, passt aber dazu … Sie spielt ja so gut Klavier, dass die Leute an der Musikhochschule sie sofort aufgenommen haben, und singen kann sie auch noch. Deshalb
hat sie’s gleich gelernt, diesen Tango ebenfalls – kommt aus
Argentinien. Mir fehlt, ganz ehrlich, das geeignete Mädchen
dazu.”
„Ilse Fandrey aus meiner Klasse, sie stammt aus der Kaschubei, kann auch tanzen”, warf Helga ein. „Ich meine, sie
nimmt Ballettunterricht, Spitzentanz und ... ”– sie zögerte ein
wenig –, „die Bewegungen haben alle französische Bezeichnungen, irgendwas mit pa de und eschappee, die hab ich vergessen. Ilse will später Tänzerin werden, so richtig an der Oper,
Schwanensee und Coppelia.”
Helga war ein wenig stolz darauf, sich wenigstens die Namen gemerkt zu haben, und sie freute sich, als Karl nickte.
„Ja”, sagte er, „das mag sein, ist aber etwas ganz anderes.
Foxtrott und Tango tanzt man immer zu zweit, jeweils ein
Mann mit einer Frau, und” – er überlegte kurz – „angezogen ist
man dabei ganz normal, nicht mit einem Tütü. Aber du hättest
mal die Mutter sehen sollen, als Luise mit diesem kurzen Kleid
durch die Tür trat, und dazu noch die Frisur. Vater hat ebenfalls geschluckt, aber dann meinte er, manche von den Krankenschwestern in den Lazaretten hätten das Haar auch kurz
getragen, weil es praktischer war. Meine Frau, also wenn ich
mal heirate, muss langes Haar haben, am liebsten blond und bis
zum Gürtel.”
Helga hatte ihren großen Bruder angeblickt und war ein
bisschen traurig geworden. Sie selber hatte nämlich dunkle
Locken, wenn auch nicht so krause wie ihre beste Freundin
Hildegard Blankenstein.
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Wenigstens brauchte Helga nicht mehr im Bett zu liegen.
Ida hatte ihr das Sofa im Wohnzimmer hergerichtet und außerdem alle Türen offen stehen lassen, sodass sie sich nicht so allein fühlte. Jetzt zog sie gerade den Vorhang des Regals neben
der Standuhr zur Seite und hob behutsam den Stapel mit Schellackplatten heraus. Rudolf hatte neulich eine davon zu Boden
fallen lassen, und sie war in tausend Stücke zersprungen. Das
sollte ihr nicht passieren, denn sie wusste, wie sehr ihr Vater
daran hing.
Sie nahm eine nach der anderen in die Hand. Jede steckte einzeln in einem Packpapierumschlag mit einem herausgestanzten Loch in der Mitte, sodass man mit den Fingern nicht
die Rillen berührte und trotzdem lesen konnte, was auf dem
runden Etikett in der Mitte geschrieben stand, Argonnerwald
zum Beispiel oder Sambre et Meuse, auch die Ouvertüre von
Guillaume Tell. Ihr Vater hatte ihr gestattet, die Platten auf
dem Phonographen abzuspielen. „Ich weiß ja”, hatte er gesagt,
„dass du sorgfältig damit umgehst, mein Helleken.” Wie ein
Lob klang das und gleichzeitig wie eine Ermahnung.
Während die ersten Töne des Liedes, das Argonnerwald
hieß und nur von Männern gesungen wurde, aus dem Trichter drangen, hockte sie sich vor die kleine Kommode zwischen
den beiden Fenstern zur Schillerstraße und holte das Album
mit den Fotos aus dem Krieg hervor. Wenn sie immer wieder
neue Platten hätte auflegen wollen, hätte sie sehr häufig aufstehen müssen. Aber rasch war sie in die Betrachtung der blassgrauen Aufnahmen so versunken, dass sie die Musik vergaß
und auch nicht merkte, wie Ida ins Zimmer trat.
„Es ist mal wieder so weit”, sagte sie, beugte sich zu Helga und steckte ihr einen Löffel Lebertran in den Mund. „Zum
Trost hab dir einen Klarapfel geachtelt, wir haben auf dem Hof
schon welche. Dr. Rosenthal meint, du müsstest viele Vita…,
also dann würdest du wieder richtig gesund. Wie findest du das
denn, dass sie so einfach ohne dich verreisen?”
Helga hielt das geöffnete Album mit beiden Händen und
schaute zu Ida auf.
„Sie hatten die Zimmer in der Pension doch schon lange
reserviert, und außerdem fahre ich ja mit Vater nach; er bleibt
nur Samstag und Sonntag, aber ich immerhin zwei Wochen.”
„Was die Luise ist, die hätte sich das nicht gefallen lassen”,
meinte Ida und stemmte die Hände auf die Hüften.
Helga senkte den Kopf.
„In meiner Klasse fährt kaum jemand weg, Herta Dennersmann nicht, Ilse Fandrey bleibt auch hier, den Ernst August Albers” – sie kicherte nun doch – „hat seine Mutter zu Verwandten geschickt, damit wenigstens sie sich ein bisschen erholt, hat
sie gesagt.
Sie legte die Stirn in Falten.
„Alle anderen Mütter arbeiten ja.”
Ida wiegte den Kopf hin und her.
„Nun hör mal zu, Helleken, deine Mutter arbeitet auch, sogar, seit dein Vater wieder da ist. Sie kriegt dafür keine Lohntüte wie die Frauen und Mädchen im Betrieb und auch kein
Gehalt wie die Sekretärinnen oder Fräulein Dahm zum Beispiel. Aber sie hilft deinem Vater von morgens bis spät in die
Nacht; das bekommst du manchmal sogar mit, wenn sie nach
dem Abendessen noch einmal runter ins Kontor gehen. Was
denkst du, was sie da machen?”
Ida wurde ganz kurz rot, fing sich aber wieder.
„Erinnerst du dich noch, letztes Jahr Ende November ? Da
habe ich dich doch jeden Tag in die Schule gebracht und auch
wieder abgeholt; das wolltest du nicht, weil du ja sonst immer
allein gegangen bist. Aber die Erwerbslosen haben in Hagen
die Geschäfte geplündert, einfach die Schaufensterscheiben
eingeschlagen und alles rausgeholt, was nicht niet- und nagel-
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fest war. Sie hatten keine Arbeit. Bei uns im Betrieb lief jedoch
alles wie sonst, niemand ist entlassen worden, und deine Mutter – hast du gemerkt, dass sie besonders viel unterwegs war?”
Helga schüttelte den Kopf.
„Na ja, du warst ja nicht einmal acht. Aber was Notgeld
ist, wirst du doch wissen? Zuerst haben sie das gedruckt, weil
es kein Kupfer und Nickel für die Pfennige mehr gab, und bei
Remy und Killing & Sohn hatten sie sogar eigenes. Doch dann
waren die Scheine auf einmal nichts mehr wert, das war die
Infla…, und außerdem marschierten ja die Franzosen und die
Belgier bei uns ein, weil die Deutschen die Reparaturen, nein,
Reparationen nicht mehr bezahlen konnten nach dem Vertrag
da in dem Riesenschloss bei Paris. Kurzum, den Leuten ging’s
schlecht. Doch deine Eltern, besonders deine Mutter natürlich,
die hat sich um unsere Arbeiter gekümmert, frag mich nicht
wie. Und außerdem” – Ida richtete sich auf – „hat sie vier Kinder. Du und das Rudolfchen, das geht ja, aber ... ”
Sie führte den Satz nicht zu Ende.
„Mein Bruder Erich, also der, der heil aus dem Feld zurückgekehrt ist, hat sich vor Kurzem bei einer Partei eingeschrieben, der NSABC, glaube ich, die hat der Herr Wachenfeld gegründet. Da steht auf dem Programm, dass alle Leute Arbeit
kriegen sollen.”
Helga rutschte einmal hin und her.
„Ob das wohl stimmt? Der Vater sagt immer, es wird nie
so viel gelogen wie vor den Wahlen und nach der Jagd. Das
stammt von Bismarck, dem mit dem Hering.”
Sie lachten beide, mitten in das Schlagen der Standuhr hinein.
„Ach du mein liebes Lottchen”, meinte Ida und schlug die
Hände zusammen, „jetzt muss ich mich aber beeilen. Der Herr
Schulte zückt sonst wieder seine Taschenuhr, wenn das Mittagessen nicht pünktlich auf dem Tisch steht.”
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Dann saß Helga aber doch allein mit Ida am Küchentisch
und löffelte brav ihren Teller leer.
Kurz vor zwölf hatte ihr Vater eins von den Lehrmädchen
hochgeschickt und ausrichten lassen, er habe eine wichtige Besprechung, Ida möchte doch bitte ein paar belegte Brote herrichten und auch einen Krug Bier dazustellen. Helga hatte ihr
dabei geholfen; sie war, wie immer, für die Dekoration zuständig: Petersilie wuchs in einem Blumenkasten auf dem Balkon,
und eine reife Tomate fand sie auch in der Speisekammer. Sie
hatte neben Ida auf einem Fußbänkchen gestanden und war
ganz stolz gewesen, dass sie wieder eins von diesen scharfen
Schälmessern benutzen durfte.
„Ich will ja nichts sagen”, meinte Ida und strich Leberwurst
auf eine Scheibe Brot, „aber manchmal fällt der Apfel wirklich
weit vom Stamm. So ordentlich, wie deine Mutter ist, so wenig
hat’s deine Schwester mit dem Aufräumen. Weißt du, was ich
Nach dem Mittagessen, darauf bestand Ida, musste Helga
sich hinlegen. Ida zog sogar die Vorhänge zu und meinte, sie
werde gleich noch einmal nachschauen, ob Helga auch nicht
etwa ungehorsam sei.
Aber dann war sie doch wohl eingeschlafen.
Als sie die Augen öffnete, stand ihr Vater vor dem Sofa und
lächelte.
„So ist’s recht. Ida schickt mich mit deiner Honigmilch.”
Helga richtete sich auf.
„Stimmt das, Vater, was Karl immer sagt, also dass die
Franzosen keine Helme hatten?”
„Ich vermute, du hast wieder einmal in meinem Album geblättert? Ja, Helleken, ganz zu Anfang des Kriegs trugen sie
nur eine Art Schirmmütze, képi nannten sie die, aber ihr Generalstab hat rasch gemerkt, dass die Infanteristen, so nennt
man die Fußsoldaten, anders ausgestattet werden mussten. Sie
kamen ja mit dem Feind direkt in Berührung; deswegen waren
auch alle Gewehre mit Bajonetten versehen.”
Er griff schnell nach dem Album, um das Thema zu wechseln, aber Helga nickte. - „Tante Dahm hat gesagt, dass sie sich
damit gegenseitig aufspießten, wenn sie sich auf den Deichen
begegnet sind, da, wo ihr Verlobter gefallen ist.”
Ihr Vater ging nicht darauf ein.
„Für uns von der Artillerie war jedenfalls das, was wir auf
dem Kopf trugen, bestimmt weniger wichtig. Aber Ohrenschützer hätten wir gebrauchen können; du hast ja selbst festgestellt,
dass ich nicht so gut höre wie du, nicht wahr?”
„Ja, aber bei Onkel Blankenstein muss man noch viel lauter
sprechen als bei dir. Hildegard sagt immer, sein Regiment hätte Paris bombardiert; die Kanone hätte Langer Max geheißen,
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vorhin beim Fegen unter ihrem Bett gefunden habe ? Einen angefangenen dunkelblauen Socken, richtig mit vier Nadeln drin.
Aber stricken kann Luise wirklich gut, ich werd manchmal
ganz neidisch. Denk nur an den Pullover mit den Segelschiffen
drin für Rudolf, auf den er ganz stolz ist; so schön gleichmäßig
krieg ich das nicht hin.”
Helga fiel ihr fast ins Wort.
„Unsere Handarbeitslehrerin hat uns auch was von Socken
erzählt. Gleich nach dem Krieg, 1919, glaube ich, hat der Arbeiter- und Soldatenrat unserer Schule 103 Paar Socken und
drei Hemden gespendet, damit die Kinder etwas Warmes anzuziehen hätten. Was sie mit den Hemden gemacht haben, wusste
unsere Lehrerin nicht. Aber die Socken waren auch zu groß,
natürlich, außer vielleicht für die Jungen aus der 8. Klasse, und
so haben die Mädchen sie aufgeribbelt und im Handarbeitsunterricht neue aus der Wolle gestrickt.”
Sie blickte Ida von der Seite erwartungsvoll an.
„Männer”, sagte Ida nur mit ganz tiefer Stimme und sehr
laut.
aber von den Franzosen würde sie Dicke Bertha genannt. Ist
das wahr?”
Ihr Vater nickte.
„Die deutschen Kanonen wurden von der Firma Krupp in
Essen hergestellt, nicht alle, aber doch die meisten, und Frau
Krupp, die Einzelheiten lasse ich weg, trug den Vornamen Bertha.”
Helga beugte sich vor und zeigte auf eine der Aufnahmen.
„Wer hat denn das Bild gemacht?”
Ihr Vater blickte aus dem Fenster.
„Ein Kanonier aus Herdecke, Fritz Müller; er hatte den Apparat von seiner Verlobten zu Weihnachten bekommen – richtig, Weihnachten 1915, als du geboren wurdest. Im Zivilleben
war er nämlich Fotograf und arbeitete nur in seinem Atelier.
Deshalb fehlen bei den Aufnahmen auch die Kontraste, weil er
ja keine Lampen zum Ausleuchten hatte.”
„Und wer ist der Mann neben dir?”
„Ein Mann aus Olpe; den Namen vergisst du doch gleich
wieder.”
„Wo sind die beiden denn jetzt? Der aus Herdecke könnte
uns doch einmal besuchen.”
Ihr Vater schüttelte den Kopf.
„Sie sind beide gefallen, in der Schlacht an der Somme.”
Helga suchte nach Worten.
„Ich dachte immer, bei der Artillerie sei es nicht so gefährlich gewesen”, meinte sie schließlich.
„Nun mach dir nicht nachträglich Sorgen um mich. Ich bin
heil zurückgekommen, und dafür können wir Gott danken.”
Er legte den Arm um seine Tochter.
„Sieh mal, da, wo wir stationiert waren, oberhalb der Somme, diesem Fluss in Nordfrankreich, lagen uns englische Truppen gegenüber. Unser Generalstab, vor allem von Falkenhayn,
aber auch Prinz Rupprecht von Bayern, wusste genau, dass die
Allierten, die Engländer und die Franzosen, dort einen Durchbruch versuchen würden. Ende Juni haben sie unsere Linien
eine Woche lang bombardiert, und sie glaubten, sie hätten unsere Schützengräben sowie alle deutschen Befestigungsanlagen
zerstört. Da hatten sie sich aber geirrt. Als die Engländer ihre
Infanterie am 1.Juli 1916, du warst gerade mal sechs Monate
alt, auf unsere Frontlinie losstürmen ließen, empfingen wir sie
mit Maschinengewehrfeuer. An diesem einen Tag sollen über
19 000 englische Soldaten gefallen sein. Kannst du dir vorstellen, wie viele das sind?”
Helga rechnete angestrengt.
„Wir haben gelernt, dass Hagen fast 100 000 Einwohner
hat; also ungefähr ein Fünftel.”
„Tüchtig, Helleken. Aber es sind auch viele Deutsche getötet oder verwundet worden, besonders südlich der Somme, wo
sie gegen die französischen Truppen zu kämpfen hatten. Die
hatten nämlich ihren Angriff ebenso lange und gut vorbereitet wie wir: Neue Straßen waren gebaut, Aerodrome angelegt,
Telefon- und Telegrafenlinien gelegt worden. Genützt hat all
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dies jedoch niemandem, weder ihnen noch uns, nicht unsere
Geschosse, 150- und sogar 210-mm” – er deutete mit beiden
Händen den Umfang an –, „auch nicht unsere perfekt ausgestatteten Schützengräben und unsere wirklich hervorragenden
Stiefel. Wir konnten unsere Kanonen so fest einzementieren,
wie wir wollten – der Boden zitterte ständig, es roch scheußlich
nach Pulver, von den Dörfern und vor allem von den Bäumen
blieb nichts übrig. Mal rückten die Kitcheners vor, meist unerfahrene Kerle, mal wir.”
Ihr Vater lenkte ein, als er Helgas aufmerksames, ernstes
Gesichtchen sah.
„Weißt du, es war so wie ,Rin in die Kartoffeln, raus aus die
Kartoffeln’. Den Wald von Delville, Longueval, später auch
Ginchy, die eroberten erst wir, dann die Engländer, dann wieder wir, die boches.”
„Bosch, ich dachte, das sei eine Firma, die Fahrradlampen
macht und so etwas.”
„Richtig, Helleken, aber so nannten uns die Franzosen. Übrigens ist das nicht gerade ein Kosename.”
„Und was habt ihr zu ihnen gesagt?”
„Poilus, die Behaarten, so bezeichneten sie sich sogar selber, weil sie sich natürlich in den Schützengräben nicht rasieren konnten.”
„Sprichst du eigentlich Französisch, Vater?”
„Ach, Helleken, ich habe dir doch schon mehrfach erklärt,
wie es mit meiner Schulbildung aussieht. So ein kleines biss-
chen Latein von Sexta bis Quarta und nicht einmal ein Jahr
Englisch, das ist kaum der Rede wert. Deshalb legen deine
Mutter und ich ja auch so großen Wert darauf, dass Karl …
kurzum, nach dem Abitur schicken wir ihn auf jeden Fall ins
Ausland.”
Dass Karl inzwischen das Paedagogium besuchte und dort
auch seine Schulaufgaben unter Aufsicht erledigte, wusste Helga natürlich und fühlte sich unbehaglich. Deshalb blätterte sie
ein paar Seiten weiter und fragte: „Ist das hier im Winter? Ihr
seht so aus, als ob ihr friert.”
„Nein, Helleken, das war im September; da fing es nämlich an zu regnen, pausenlos. Uns von der Artillerie machte das
nur insofern etwas aus, als sich die Kanonen schlecht durch
den Schlamm bewegen ließen, vorwärts oder rückwärts. Doch
was die Soldaten in den Schützengräben zu berichten hatten,
das hörte sich schon schlimm an. Ach ja, und dann kamen die
Panzer – was das ist, weißt du ja, nicht wahr? Ich selber habe
keinen gesehen, aber Oskar Dennersmann, der gefallene Mann
von Marga, hat sie mir bei seinem kurzen Heimaturlaub Ende
1916 geschildert. Er kämpfte nämlich mit seiner Infanterieeinheit bei einem Ort namens Flers, und sie müssen den Schreck
ihres Lebens gekriegt haben. Die Engländer hatten sie ja sorgsam getarnt, und alle dachten, unter den Planen wären Wassertanks verborgen. Zuerst nannte man sie auch noch Willie; das
klingt doch ganz ungefährlich, was meinst du?”
Ihr Vater lächelte, und Helga nickte.
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„Viel genützt haben diese Dinger den Engländern allerdings
nicht, einmal abgesehen von dem Überraschungseffekt, weil
ein großer Teil aus technischen Gründen gar nicht einsatzfähig
war.”
„Wer hat denn die Schlacht an der Somme gewonnen? Ich
meine, dass wir den Krieg verloren haben, weiß ich”, sagte
Helga lebhaft.
„Niemand. Kannst du dir das vorstellen: niemand. Da haben wir von Juni bis November diesen Höllenlärm ausgehalten, rund 650 000 Soldaten verloren; von den Überlebenden
gerieten viele in Gefangenschaft. Außerdem fielen 350 Kanonen und 1500 Maschinengewehre in Feindeshand; von Falkenhayn wurde durch Hindenburg und Ludendorff abgelöst – und
trotz alledem haben wir weder gewonnen noch verloren. Die
Schlacht hörte einfach auf. Wir blieben zwar noch bis zum
Frühjahr in der Gegend, aber an der Aisne war ich schon kaum
noch dabei, weil die Stadt Hagen meine Freistellung beantragt
hatte.”
„Der Ernst August Albers hat mich gefragt, wie du das eigentlich damals gemacht hast mit der Steckrübenmarmelade.”
„Wir haben alles mit einem chemischen Zusatz, er bewirkt
ungefähr das Gegenteil von Hefe, noch einmal aufgekocht und
dann in wesentlich kleinere Gefässe abgefüllt; außerdem ist der
gesamte Vorrat kühl und dunkel gelagert worden, allerdings
nicht für lange. Es gab ja kaum noch etwas anderes zu essen”,
erklärte ihr Vater.
„Mussten die Soldaten denn auch Hunger leiden?”
„Die Versorgung an der Front hatte Vorrang”, sagte ihr Vater, „das war von oben so festgelegt worden. Aber je länger der
Krieg dauerte, desto schlechter sah es natürlich damit aus.”
„Und trotzdem hast du dir die 78-er Platten mit den Liedern
aus dem Krieg gekauft?”, wollte Helga noch wissen.
Ihr Vater richtete sich gerade auf.
„Singen tut man doch gemeinsam”, meinte er, „mit den Kameraden, auf die man genauso zählen kann, wie man selber in
jeder Not und Gefahr für sie gerade stehen würde.
Was mich daran erinnert, Helleken, dass ich mich jetzt umziehen muss, wenn wir gleich gemeinsam zu Abend essen wollen. Hinterher gehe ich nämlich in die Loge.”
„Was macht ihr da eigentlich? Triffst du dich da mit Onkel
Blankenstein? Neulich im Theater, als wir Hänsel und Gretel
von Humperdinck angeschaut haben, saßen wir alle zusammen
in einer Loge, aber Tante Blankenstein hat nur den Kopf geschüttelt und den Finger auf den Mund gelegt, als ich sie gefragt habe.”
Ihr Vater trat einen Schritt zurück.
„Unsere Loge ist eine Art Verein; lassen wir es damit bewenden, ja? Wir tun sehr viel Gutes. Zum Beispiel werden wir
wohl Franz Dennersmann eine Ausbildung bezahlen, die seiner Begabung entspricht. Du weißt ja, dass er bei der NUTAP
jetzt bald seine Gesellenprüfung als Maschinenschlosser ab-
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legt, aber ich war schon immer überzeugt, dass er das Zeug zu
einem studierten Ingenieur hat.”
Helga nickte zustimmend und wiederholte ihre Frage, ob
Onkel Blankenstein auch Mitglied der Loge sei.
„Nein.”
Ihr Vater schüttelte den Kopf.
„Die Hagener Loge nimmt nur Christen auf; katholisch oder
evangelisch muss man sein, nicht nur dem Gebetbuch nach,
sondern auch in seiner Lebensführung. Das ist in den Regeln
so festgesetzt.”
„Da sind Katholen und Evangelen in einem Verein?”
Helga wunderte sich sehr.
„Die gehen ja nicht einmal in dieselbe Volksschule!”
„Aber auf dem Lyzeum sitzen sie dann wieder in einer Klasse”, lachte ihr Vater und wandte sich zur Tür. „Erinnerst du
dich noch an unser Gespräch an deinem ersten Schultag? Man
kann eng miteinander befreundet sein und braucht doch nicht
alles zu teilen.”
Es läutete so stürmisch, dass Helga zusammenfuhr und ihr
Vater beunruhigt einen Blick auf die Standuhr warf, die kurz
vor sechs anzeigte.
„Es wird Mutter und den drei Kindern doch unterwegs
nichts passiert sein?”, rief er.
Aber da betrat Ida auch schon das Wohnzimmer.
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„Herr Blankenstein möchte Sie unbedingt sprechen. Wenn
Sie bitte mit mir kommen würden?”
Helga wollte aufstehen, aber die beiden Erwachsenen
tauschten einen Blick, und dann sagte ihr Vater, Ida werde
gleich zurück sein; es gehe gewiss um etwas Geschäftliches.
So wartete sie kurz, klappte dann das Album zu und spürte,
dass irgendetwas passiert sein musste. Onkel Blankenstein
wäre sonst bestimmt zu ihr gekommen, hätte sie spielerisch am
Ohr gezogen und sich erkundigt, ob sie denn nun endlich wieder gesund sei.
So stellte sie sich ans Fenster und blickte auf die Schillerstraße hinaus, wo die Mädchen und Frauen nach Arbeitsschluss
in alle Richtungen verschwanden. Frau Dennersmann drehte
sich noch einmal um, entdeckte Helga und winkte ihr fröhlich
zu.
Kurz darauf hörte sie Ida hinter sich.
„Ich vermute mal”, sagte Ida und seufzte, „wir beide werden heute auch allein zu Abend essen. Sie haben nämlich den
jüdischen Friedhof in Eilpe verwüstet.”
Helga wollte zuerst einwenden, die Schultes seien doch
evangelisch, aber dann besann sie sich: Onkel Blankenstein
war ja der beste Freund ihres Vaters, und der war Stadtverordneter.
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„Also davon, dass du ständig auf die Uhr schaust, wird es
auch nicht eher halb vier”, sagte Ida, und ihre Stimme klang
ziemlich unwirsch. „Komm, hilf mir lieber ein bisschen, das
bringt dich auf andere Gedanken.”
Sie reichte Helga einen Stapel kleiner Stoffservietten und
zeigte ihr einmal, wie sie zu falten waren.
„Davon legst du jeweils eine mitten auf den Kuchenteller,
ja? Ich koche inzwischen schon mal den Kakao, dann muss er
nachher nur noch warm gemacht werden.”
Nachdem sie die Schokolade in einem großen Kochtopf zunächst in ein wenig Milch aufgelöst hatte, hielt sie in der Bewegung inne und rief zu Helga ins Wohnzimmer hinüber, ob sie
wisse, wann ihre Mutter zurückkehren werde.
„Ich meine, es ist ja schon halb drei”, fügte sie noch hinzu.
Helga hatte nicht richtig zugehört. Einerseits war sie damit
beschäftigt, den Tisch zu Ende zu decken, andererseits war sie
sich gar nicht sicher, ob sie sich nun eigentlich freute oder ob
sie die ganze Sache am liebsten abblasen würde. Wenn sie ganz
ehrlich war, verspürte sie so etwas wie Angst, es könne schief
gehen – ihre Gäste würden sich zum Beispiel streiten oder zu
Tode langweilen. Natürlich war sie schon zu Geburtstagsfeiern
eingeladen gewesen und erinnerte sich zumindest an eine, wo
sie sich am liebsten verdrückt hätte, wie sie Rudolf hinterher
gestand. Und wie konnte sie verhindern, dass es ihren Gästen
ebenso erginge? Noch dazu war heute ja überhaupt nicht ihr
Geburtstag, und das wusste jeder, nicht nur Hildegard, Herta
Dennersmann und Ilse Fandrey, sondern auch Helga Meyer,
das einzige Mädchen aus ihrer neuen Klasse, das sie eingeladen hatte, aber jede hatte sofort eifrig genickt, als Helga ihnen
erklärte, ihre Mutter meine, sonst würde es aus einem Geburtstagsfest nie etwas, denn wenn man am Heiligen Abend geboren
sei, feiere der Rest der Christenheit halt Weihnachten.
In der Küche schepperte es.
Seit einiger Zeit stimmte etwas mit Ida nicht, dachte Helga.
Rudolf und sie hatten abends beim Zähneputzen oft darüber
getuschelt. Es konnte nicht daran liegen, dass sie zu viel oder
zu lange arbeiten musste; ihr kleiner Bruder hatte vor vierzehn
Tagen zufällig mitbekommen, wie die Mutter vorschlug, ein
weiteres Mädchen in den Dienst zu nehmen, das Ida sogar anlernen sollte, und wie Ida daraufhin – er hatte nur mitgehört
und nicht gesehen, was sich im Nebenzimmer abspielte – geradezu heftig protestiert und sogar einmal aufgeschluchzt hatte.
„Es klang ja schon ein bisschen so, als tue sie ihre Arbeit
nicht ordentlich”, sagte Rudolf, und Helga fand, dass er für
einen nicht ganz Sechsjährigen doch schon ziemlich vernünftig sei. Aber gewundert hatte sie sich über den Vorschlag der
Mutter eigentlich nicht, einfach deswegen, weil unten im Betrieb immer mehr Leute eingestellt wurden, meistens Frauen,
die ihren Mann im Krieg verloren hatten und die, das hatte Frau
Dennersmann Helga bei einem ihrer Besuche in der Musterab-
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6. Kapitel: Frühsommer 1926
teilung lachend erzählt, lieber in einer Süßwarenfabrik arbeiteten als zum Beispiel bei Plates, Funckes oder bei Blankensteins, wo Wagenfedern und Werkzeugmaschinen hergestellt
wurden, weil es einfach besser roch und weil man außerdem so
viele Bonbons essen durfte, wie man wollte – was man, wie sie
hinzufügte, allerdings nur in der ersten Zeit auch wirklich tat.
Aber dass man welche kaufen konnte, zu einem Vorzugspreis
wohlgemerkt, das gab oftmals den Ausschlag.
„Nur an Männern hapert’s hier gewaltig”, meinte sie dann
noch und lachte nicht mehr. „Mal abgesehen von den neuen
Bonbonkochern, den beiden Elektrikern, den Fahrern und natürlich Paule, für dich Herrn Beckmann, dem Nachfolger vom
alten Mauritz, ist das Aufkommen an Jagdwild gering. Aber
Männer sind überall knapp, und in den Metallfabriken wird
man darüber hinaus auch noch dreckig.”
Paule, Herr Beckmann, das musste es sein, dachte Helga
und hörte Ida leise vor sich hin schimpfen. Karl hatte einmal
grinsend erklärt, der Hahn im Korb sei Herr Behr, der Vertriebsleiter, mit seinem schicken Auto; hinter dem seien sie alle her,
sogar Tante Dahm, die doch viel älter sein musste als er, auf jeden Fall alle drei Sekretärinnen – und Ida habe sich auch in ihn
verschossen, das sehe ein Blinder mit Krückstock. Aber Helga
war sicher, dass Karl sich täuschte. Wann sollte Ida Herrn Behr
denn treffen? Er war viel unterwegs und hielt sich ansonsten
in seinem Büro unten im Kontor auf. Paule hingegen, Paule
arbeitete im Lager; von der Musterabteilung aus hörte Helga
ihn pfeifen, und sie fand ihn sehr nett. Die anderen Männer,
auch solche, die heil aus dem Krieg zurückgekehrt waren, kamen ihr oft eigenartig vor: Sie fuhren andauernd zusammen
oder verzogen das Gesicht zu befremdlichen Grimassen, und
bei manchen fing alles, aber auch alles mit der Einleitung an,
jemand, der 14/18 nicht erlebt habe, könne dies oder jenes gar
nicht verstehen. Paule hingegen sah eher frech aus, obwohl er
bestimmt viel älter war als Karl und drei Jahre lang an der Ostfront gedient hatte; sein strohblondes, kurz geschnittenes Haar
wuchs in vielen Wirbeln durcheinander, und stark war er auch.
Als er sich um die Stelle des Lagerverwalters bewarb, hatte ihr
Vater zunächst etwas von ,Luftikus’ bemerkt, aber Herr Mauritz hielt große Stücke auf ihn.
Die Standuhr schlug drei.
Das musste es sein. Helga würde Rudolf fragen und natürlich Karl, der in Liebesangelegenheiten viel Erfahrung zu besitzen schien. Nur mit Luise würde sie ihre Vermutungen nicht
teilen, obwohl sie ihre ältere Schwester durchaus bewunderte.
Luise hatte nämlich ihre Ausbildung an der Musikhochschule
Köln abgeschlossen und gab schon einigen Kindern Klavierunterricht. Indessen hatte die Mutter kürzlich mit ungewohnt hartem Gesicht geäußert, zur Pianistin reiche es eben doch nicht,
einmal abgesehen davon, dass eine Künstlerlaufbahn sich auch
nicht so recht schicke. Auf jeden Fall könne es nicht schaden,
wenn ihre älteste Tochter auch etwas von Haushaltsführung
verstünde, worauf Luise nur die Brauen hochgezogen hatte. Sie
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war überhaupt immer so spöttisch, und zudem behielt sie alles,
was sie betraf, für sich.
Helga warf einen Blick auf die Straße und schüttelte sich.
Vor vier Wochen war Herr Direktor Dr. Möhle in ihre Klasse
getreten, hatte alle Sextanerinnen freundlich begrüßt und ihnen
einzeln die Hand gereicht.
„So, hatte er zu ihr gesagt, du bist also die Schwester von
der Luise Schulte, die mir vor ein paar Jahren erklärt hat, sie
wolle abgehen und sich ganz der Musik widmen, ohne ihre Eltern von ihrem Vorhaben unterrichtet zu haben. Ich hoffe, du
ersparst ihnen und mir solche Überraschungen.”
Da zog Helga tausendmal ihre Klassenlehrerin vor, die sich
mit der Feststellung begnügt hatte, man fände sich mit zwei
Schülerinnen namens Helga wieder, und was da zu tun sei.
„Na, ich bin wohl zu früh dran”, hörte sie, „da muss ich
später noch einmal wiederkommen, denn ich will unbedingt
wissen, wer die hübscheste von deinen Freundinnen ist, einmal
abgesehen von der Gastgeberin natürlich.”
Helga blickte überrascht auf. Ihr großer Bruder hatte doch
vorhin sein Mittagessen heruntergeschlungen und als Entschuldigung für seine Hast angegeben, er sei heute als Verteidiger
eingesetzt, die Mannschaft der Höheren Handelsschule Hagen
spiele gegen eine aus Dortmund. Allerdings, das fiel ihr jetzt
auf, hatte er keine Uhrzeit genannt.
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„Sie kommen in einer Viertelstunde, aber du kennst sie doch
alle, bis auf Helga Meyer; die war vorher mit Hildegard in einer Klasse.”
„Ah”, sagte Karl nur.
„Triffst du dich eigentlich noch manchmal mit Fritz?”, fragte Helga und wollte etwas hinzufügen, schluckte es aber herunter.
„Fritz”, meinte Karl und versenkte seine Hände tief in den
Hosentaschen, „Fritz studiert doch im zweiten Jahr an der
Technischen Hochschule in Aachen. Bei den Noten, die er auf
seinem Reifezeugnis stehen hatte, haben sie ihn mit Handkuss
genommen. Ich hingegen” – er grinste und zuckte mit den
Schultern –, „ich bin gerade mal so durchgerutscht, und ohne
die Leute vom Paedagogium, ganz ehrlich, hätte ich nicht nur
eine Ehrenrunde gedreht. Aber mit Latein hab ich’s halt nicht
so, und was uns da an Literatur vorgesetzt wurde, lyrische Gedichte und der Faust zum Beispiel, das lässt mich ziemlich
kühl.”
Sie schwiegen beide.
Helga erinnerte sich noch genau, wie die Eltern von der
Abiturfeier zurückgekehrt waren, kurz vor Ostern war das gewesen, beide festlich gekleidet, der Vater im dunklen Anzug
und Homburg, die Mutter in einem dezent gemusterten Kostüm
mit einem ihrer weniger breitkrempigen Hüte, damit sie den
anderen Gästen nicht die Sicht nahm, wie sie lächelnd erklärt
hatte. Beide schienen erleichtert zu sein, dass Karl es nun doch
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Um zwanzig vor vier traf die andere Helga als Letzte ein.
„Du musst schon entschuldigen”, sagte sie und überreichte
ihr ein bunt eingepacktes Geschenk, „aber ich bin wohl die einzige, die nicht genau weiß, wo du wohnst.”
Helga lachte, sagte, das mache gar nichts und fügte noch
den Satz hinzu, den sie oft von ihrer Mutter gehört hatte, die
Geschichte mit den Hagenern und den Eckeseyern nämlich, die
sich nicht so recht grün seien.
Die fünf Mädchen standen etwas verloren in der Garderobe
herum, wo Ida die Mäntel aufhängte.
„Nun haben wir doch die Eisheiligen schon hinter uns gebracht, und trotzdem ist es kalt”, sagte Ida, „nur gut, dass drinnen gedeckt ist! Spielen könnt ihr ja sowieso in der Wohnung.
Wo nur deine Mutter bleibt? Ist nichts dran zu ändern, unverhofft kommt oft. Sie wird wohl aufgehalten worden sein. Soll
ich gleich den Geburtstagskuchen auftischen?”
Ida schlug schon den Weg zur Küche ein, als ihr auffiel,
dass Helga Meyers Kopf plötzlich ganz rot geworden war.
„Ist dir nicht gut, Kindchen?”, fragte sie besorgt.
Helga Meyer krampfte ihre Hände zusammen, schluckte
und sagte, sie habe sich schon immer gewünscht, einmal eine
Bonbonfabrik von innen zu sehen, und nun wolle sie ganz höflich fragen, ob das möglich sei.
Nach einer kurzen Pause zuckte Ida mit den Schultern und
meinte, verboten hätten es Schultes ja nicht, gearbeitet werde
am Samstagnachmittag auch nicht und demzufolge könnten sie
niemanden stören.
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geschafft hatte, aber die Mutter rief Karl in Helgas Gegenwart
doch noch einmal ins Gedächtnis, was sein ehemaliger Klassenlehrer taktvoll geäußert hatte: dass er sich doch eher praktischen Dingen zuwenden solle, ja ja, die Höhere Handelsschule
sei genau das Richtige.
„Wie findest du denn das, was du jetzt lernst?”, fragte Helga.
„Liegt mir viel mehr, keine Logarithmen, dafür aber Prozente und Zinseszins, dazu viel Englisch, nicht Shakespeare
– du wirst schon selber sehen, wer das ist –, sondern wie man
Briefe schreibt und Bestellungen aufgibt. Das wird mir nützen;
du weißt ja, dass Vater mich so bald wie möglich ins Ausland
schicken will, damit ich mal sehe, wie anderswo die Produktion abläuft.”
Helga war erleichtert. Sie machte sich oft Gedanken über
das Wohlergehen von Karl und auch von Rudolf, vielleicht,
weil beide auch merkten, wenn sie Kummer hatte.
Es klingelte an der Tür.
„Wann beginnt dein Fußballspiel?”
Karl verzog sein Gesicht zu einem vergnügten Grinsen.
„Ich hab eine Idee. Wie wäre es, wenn ich hinterher in meinem Trikot hier auftauchte? Da wären deine Freundinnen doch
sicher beeindruckt. Eine ist wohl gerade im Anmarsch. Ich verspreche dir auch, mich nach dem Spiel zu duschen”, setzte er
hinzu und verließ das Wohnzimmer über den Balkon.
„Ihr müsst mir allerdings hoch und heilig versprechen, dass
ihr an nichts drangeht, also keine Hähne aufdreht, keine Gläser
offen stehen lasst und vor allem nicht mit dem Finger durch
die Becken mit der Nussfüllung fahrt. Es ist ja alles abgedeckt,
doch wenn was passiert, gerate ich in Teufels Küche.”
Sie schloss die Verbindungstür zur Fabrik auf und meinte,
in einer halben Stunde sollten sie aber wieder zurück sein.
Für Helga war es seltsam, alles mit den Augen der anderen Helga zu sehen, die zuerst auf Zehenspitzen ging und ihre
vielen Fragen ganz leise stellte – was das für eigenartige lange
Maschinen seien zum Beispiel.
„An dem Ende mit den drei Walzen führt der Kocher die
Bonbonmasse ein; sie ist noch so heiß, dass er dicke Lederhandschuhe anziehen muss”, versuchte Helga zu erklären. „Die
längs gestellten Walzen drehen sich gegeneinander, und übrig
bleibt ein ganz dünner Strang. Mit der schweren Walze da hinten werden dann die Himbeeren ausgestanzt und von einem
Gebläse auf dem Fließband gekühlt. Zum Schluss wird noch irgendwas darüber gestäubt, damit sie nicht aneinander kleben.”
„Und wie macht man Karamellen?”, erkundigte sich Helga
Meyer.
„Eigentlich genauso, nur aus anderen Zutaten; außerdem
werden sie viereckig geschnitten und müssen auch noch gewickelt werden. Dafür haben wir jetzt sogar Maschinen, die
aus England kommen. Es sieht ganz lustig aus, als ob sie Fin100
ger hätten, ein bisschen wie Zangen, und es geht viel schneller als früher, sagt jedenfalls mein Vater, als die Mädchen alle
Bonbons mit der Hand wickelten. Dieses Gebäude”, fügte sie
hinzu, „ist erst vor einem halben Jahr aufgestockt worden, und
jetzt wird der Zucker direkt von den Lastwagen in die Silos in
der vierten Etage hochgepumpt.”
Auch Helga Meyer gefiel die Kocherei mit den blank gescheuerten Kupferkesseln am besten.
„Ich könnte mich bestimmt darin verstecken”, sagte sie und
winkte gleich ab. „Keine Sorge, ich werd’s nicht versuchen,
sonst kriegst du Ärger.”
„Und hier arbeitet meine Mutter”, meinte Herta Dennersmann auf einmal. Sie waren im Erdgeschoss angelangt und an
vielen fertig gepackten Kartons vorbei in die Musterabteilung
gegangen.
Sowohl Ilse Fandrey als auch die andere Helga schienen
überrascht, weil wohl keine von ihnen gewusst hatte, was Frau
Dennersmann beruflich machte. Helga ging es blitzschnell
durch den Kopf, dass Herta deswegen als Einzige von ihnen
jetzt nicht das Lyzeum in der Viktoriastraße besuchte und zu
Ende der vierten Klasse nicht einmal versucht hatte, die Aufnahmeprüfung zu machen; Ilse Fandreys Mutter sparte sich das
Schulgeld, wie sie immer wieder einmal verlauten ließ, vom
Munde ab, obwohl Ilse ja Primaballerina werden wollte; und
Helga Meyers Vater verdiente in seinem Bekleidungsgeschäft
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an der Elberfelder Straße ziemlich viel Geld, hatte Luise gleich
nach Ostern in die Unterhaltung eingeworfen. Hildegard...
„Also, wenn ich’s mir aussuchen könnte”, verkündete Hildegard laut und fröhlich in das Schweigen hinein, „würde ich
auch gern diese Abteilung leiten. Da kriegt man alle neuen Sorten zu sehen, und ich vermute mal, dass man sie auch probieren
darf, oder? Man braucht nicht zu stehen wie die Mädchen oben
an den Maschinen und an den Mischtischen, und es ist so leise,
dass man sich bestimmt herrlich unterhalten kann.”
Helga warf Hildegard einen dankbaren Blick zu. Ihr wäre
all dies nicht eingefallen. Aber sie brachte es immerhin fertig
zu sagen, Ida warte mit dem Kakao auf sie, und dann wollten sie spielen, Stille Post, Ich sehe was, was du nicht siehst,
Angeln, auch Topfschlagen natürlich, und es gebe sogar etwas
dabei zu gewinnen.
Wie viele Stücke von Idas Kuchen – sie hatte ja nicht nur einen gebacken – gegessen wurden, hätte höchstens Ida selbst zu
sagen vermocht. Sie füllte Kakao nach und blieb auch manchmal ein bisschen am Tisch stehen. Die Unterhaltung jedenfalls
riss nicht ab. Herta erzählte, was Ernst August Albers im neuen
Schuljahr schon alles angestellt hatte, und Ilse bedauerte ausdrücklich, dass in ihrer neuen Klasse, ja überhaupt in der ganzen Schule nur Mädchen unterrichtet würden, wenn auch nicht
nur von Lehrerinnen. Sie beneidete die andere Helga um ihren
kurzen Schulweg, aber die meinte, dafür, dass ihr Haus direkt
an der Volme läge, hätte zu Sylvester das Wasser nicht nur im
Keller gestanden.
Schließlich klatschte Ida einmal in die Hände und meinte,
jetzt sei es aber genug, stundenlang reden könnten sie auch
später noch, als Erwachsene; auf einer Geburtstagsfeier werde
gespielt, und damit sollten sie doch mal anfangen.
„Auf Frau Schulte zählen wir da besser nicht”, meinte sie
noch und stellte die Stühle für die Reise nach Jerusalem auf.
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Karl hatte ihnen gegen halb sieben, als sie gerade Würstchen und Kartoffelsalat aßen, in der Tat einen kleinen Besuch
abgestattet, allerdings nicht im Fußballtrikot und angenehm
nach Kölnisch Wasser duftend. Er hatte auch Herta und Hildegard nach Hause begleitet, weil er bei Blankensteins noch
etwas für Fritz hinterlegen wollte, und Helga zwischen Tür und
Angel zugeflüstert, ihre neue Freundin sehe ja wirklich flott
aus, mit echt roten Haaren und grünen Augen. Helga war von
ihrem Vater mit dem Wagen abgeholt worden, und Ida meinte
anschließend, dieser Horch sei ja eigentlich genauso elegant
wie der Mercedes von Herrn Behr.
„Wo deine Mutter mit dem Rudolfchen wohl bleibt?”, wiederholte Ida mehrfach während des Aufräumens und betonte
dabei, sie wolle das nicht etwa wissen, weil sie eigentlich von
sieben Uhr ab frei habe und … Den Rest murmelte sie jeweils
so leise vor sich hin, dass Helga zuletzt bat, sie möchte doch
lauter sprechen, was Ida aber nicht tat.
Plötzlich wurde unten die Tür aufgerissen. Karl und die
Mutter brüllten abwechselnd. Dann nahm ihr großer Bruder
mehrere Stufen auf einmal und wollte wohl in seinem Zimmer
verschwinden, aber die Mutter schrie: „Hiergeblieben! Das
kannst du mir doch nicht weismachen! Natürlich hast du etwas
gewusst! Ihr steckt doch meistens unter einer Decke!”
Helga wollte gerade den Kopf auf den Flur hinausstrecken,
als Ida Rudolf zu ihr hereinschob und ungewöhnlich bestimmt
anordnete, sie sollten hübsch drinnen bleiben, dafür seien sie
noch zu klein, und sie habe die Erlaubnis, jetzt trotzdem nach
Hause zu gehen.
„Gern lasse ich euch ja nicht allein”, fügte sie noch hinzu.
„Und hab ich’s nicht gesagt: immer die Luise! Aber sie ist ja
seit April volljährig.”
Helga blickte Rudolf fragend an.
„Was ist denn los?”
Ihr kleiner Bruder drückte, wie immer, wenn er nicht so
recht wusste, womit er anfangen sollte, eines seiner abstehenden Ohren fest an den Kopf und ließ es wieder los, setzte dann
aber doch zu einer Erklärung an.
„Du hast ja wohl mitbekommen, dass Mutter zur Schneiderin musste, zu Fräulein Merten in der Kampstraße, wo sie sich
immer ihre Kleider machen lässt. Heute war Anprobe, und sie
hatte mich mitgenommen, weil wir Sandalen kaufen wollten;
die vom letzten Jahr drücken vorne. Ja …”
Rudolf schluckte einmal, und Helga wurde ungeduldig,
vor allem, weil aus dem Wohnzimmer immer noch die beiden
Stimmen herüberschallten, jedoch nicht zu verstehen war, was
da gesagt wurde.
„Ja. Und ganz zu Anfang, Fräulein Merten hatte den ganzen Mund voller Stecknadeln, sagte sie: Übrigens, Ihre Tochter
heiratet heute.”
„Was?”
„Ja. Sie müssen vorher, also bei einer anderen Anprobe,
schon mal darüber gesprochen haben. Und das Hochzeitskleid
hat Fräulein Merten wohl auch genäht.”
„Luise heiratet? Luise hat heute geheiratet? Wen denn? Und
warum sind wir da nicht eingeladen?”
In Helgas Kopf ging alles wild durcheinander. Sie biss sich
seitlich in den Zeigefinger und versuchte, ihre Gedanken zu
ordnen.
„Namen haben sie keine genannt. Ich glaube aber, sie wussten beide Bescheid”, fügte Rudolf noch hinzu und verfiel auch
in Schweigen.
„Das war doch …”, sagte Helga dann. „Karl hat mal was
angedeutet …, dass sie sich in Borkum mit jemandem aus Köln
treffen wollte; den muss sie letztes Jahr oder sogar noch eher
kennen gelernt haben, ich meine, als sie an der Musikhochschule studierte. Außerdem haben Luise und Else Weihnachten
in der Kirche die ganze Zeit miteinander getuschelt, oben auf
der Empore, das konnte man von unten sehen, und Fräulein
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Bröker – bei der hat Luise ja eigentlich einen Stein im Brett
– hat einmal mit dem Finger gedroht, von der Orgel her. Aber
trotzdem …”
Helga hielt plötzlich inne.
„Haben sie denn richtig in der Kirche geheiratet? Das geht
doch gar nicht! Ida hat mir erst ganz vor kurzem erzählt, dass
der Pastor drei Wochen vor der Trauung – oder waren es zwei?
– die Namen der Verlobten von der Kanzel herunter verkündet, Aufgebot nennt man das, und dann hätte ich’s ja gehört,
wenigstens am letzten Sonntag, weil ich da mit Vater in den
Erwachsenengottesdienst gegangen bin.”
Rudolf schüttelte den Kopf.
„Nein, sie sind im Rathaus getraut worden, und ich glaube,
Luises Kleid sah auch nicht so aus wie ein Brautkleid, weiß,
lang und mit so einem Schleier. Fräulein Merten sagte nämlich
was von einem Kostümchen, aber das muss etwas anderes sein
als ein Karnevalskostüm.”
Diesmal fiel die Pause sehr lang aus, und sie konnten beide
hören, was sich im Wohnzimmer abspielte. Das Wort führte
allerdings ausschließlich die Mutter.
„Aber dieser Herr Rellinghaus war doch verheiratet, und
er hat sogar Kinder! Wir haben ihn ja in Borkum einmal getroffen, letzten Sommer. Jetzt verstehe ich auch, warum er so
verlegen war, als ich mich nach seiner Frau erkundigte, aber
im Grunde …” – ihre Stimme wurde lauter und sogar schrill
–, „im Grunde war er längst nicht verlegen genug. Auf jeden
Fall werde ich mir zunächst einmal die Else vornehmen, das
heißt, sie wird selbstverständlich zur Hochzeit eingeladen sein;
eine feine Rolle hat sie da gespielt. Aber ihre Mutter könnte ja
auf dem Laufenden sein, das werden wir doch gleich einmal
feststellen. Hätte ich von einer Frau wie ihr nun aber auch gar
nicht erwartet!
Irgendetwas fiel nebenan krachend zu Boden, eine Tür
knallte, und dann war es auf einmal sehr still.
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„Ihr habt wohl alles mitbekommen?”
Karl hatte einen roten Kopf, und es schien Helga, als zitterten seine Hände. Sie ging zu ihm hin, wie sie es bei ihrer
Mutter gesehen hatte, umfasste seinen Unterarm und meinte,
er solle sich doch erst einmal setzen.
„Tja”, sagte Karl und versuchte zu lächeln, „jetzt brauchen
wir kein Geitebrücker Schützenfest; die Luise hat den Vogel
abgeschossen. Kannst du mir den Rest von dem Kartoffelsalat
holen, Helleken? Rudolf will vielleicht auch welchen; ich vermute mal, dass er nichts zu essen bekommen hat, oder?”
Auf dem Weg zur Küche bewunderte Helga ihren großen
Bruder wieder einmal dafür, dass er sich so rasch gefangen hatte, beschloss aber, ihn trotzdem nach allen Regeln der Kunst
auszufragen.
„Ich weiß längst nicht so viel, wie Mutter sich vorstellt”,
erklärte Karl ihr wenig später und fuchtelte mit der Gabel in
der Luft herum. Seine Hände zitterten immer noch ein wenig.
„Aber Mutter und Fräulein Merten”, warf Rudolf ein, „da
bin ich ganz sicher, die hatten ganz bestimmt schon mehrmals
über Luise und diesen Herrn Rellinghaus geredet. Sonst wäre
Mutter doch noch viel überraschter gewesen. Sie haben etwas
von ,rechtskräftig’ und ,Scheidung’ gesagt, das habe ich mir
gemerkt, obwohl ich nicht genau weiß, was das bedeutet.”
Karl strich seinem kleinen Bruder einmal über den Kopf
und meinte, er solle sein Ohr in Ruhe lassen. Dann erläuterte
er Helga, die sich natürlich auch nicht auskannte, und Rudolf,
dass man sich nicht von einem Tag auf den anderen scheiden
lassen konnte und dass außerdem ein Grund vorliegen müsse.
„Was heißt denn das?”, fragte Helga.
Karl holte tief Luft und machte eine unbestimmte Geste mit
der Hand.
„Man kann nicht so einfach weggehen und sagen, dass man
seine Frau nicht mehr liebt. Das muss man schon beweisen.
Man muss zum Beispiel Ehebruch begehen, also seine Frau mit
einer anderen betrügen.”
„Und die andere war Luise?”, erkundigte sich Helga entsetzt und zugleich neugierig.
„Nein, natürlich nicht”, erwiderte Karl, „den Scheidungsgrund kann man doch nicht heiraten.”
„Wie meinst du das, betrügen?”, fragte nun Rudolf und
machte Karl damit sichtlich verlegen.
„Da gehen ein verheirateter Mann und eine Frau, nicht seine, in ein Hotel, wo sie die Nacht zusammen verbringen. Wenn
man sich scheiden lassen will” – seine Stimme wurde wieder
lebhaft –, „bestellt man vorher einen Detektiv oder so jemanden, der kommt dann dazu und bescheinigt, dass man Ehebruch
begangen hat.”
„Aber was machen sie denn da in dem Hotelzimmer?”,
wollte Rudolf wissen, und seine Augen blitzten. Karl zog die
Stirn in Falten, blickte zu Boden und suchte nach einer Antwort, während Helga, die sich nicht getraut hätte, eine solche
Frage zu stellen, schwieg und offensichtlich scharf nachdachte.
„Wenn er jetzt Luise heiratet und Luise nicht der Scheidungsgrund ist, wer war es dann?”, meinte sie schließlich.
„Wer hilft einem in jeder Notlage?”
Karl seufzte, während Helga ihr Vater und Onkel Blankenstein einfielen.
„Natürlich die Else!”, rief Karl, und Helga verstand auf einmal, warum ihre Mutter zu Frau Landwehr gegangen war.
Sie schluckte.
„Aber Herr Rellinghaus ist doch viel älter als Luise, mindestens… mindestens fünfzehn Jahre!”, sagte sie dann.
„Ich denke mal, fast zwanzig”, meinte Karl. „Ich frage
mich, was Vater sagen wird – ob er vielleicht eher von seiner
Geschäftsreise zurückkommt deswegen.”
Helga indessen hoffte nur, dass ihre Eltern sich nie scheiden
lassen würden.
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Ida stand oben auf einem Schemel, einen zusammengedrückten Bogen Zeitungspapier in der rechten Hand, und blickte zu Helga hinunter, die auf dem Weg zur Wohnungstür bei ihr
vorbeigekommen war und ihr gesagt hatte, sie werde bestimmt
zum Abendessen zurück sein.
„Und der Fritz reist extra zu eurem Schlussball aus Aachen
an, obwohl er doch kurz vor dem Rigo…, also seiner Doktorprüfung steht?”
Helga wurde rot, und Ida lachte.
„Wer nicht gemerkt hat, dass Fritz ein Auge auf dich geworfen hat, der muss schon blind sein, bei all den Briefen, und in
letzter Zeit ruft er ja auch manchmal an, obwohl er in seiner
Studentenbude bestimmt keinen Fernsprechapparat hat, oder?
Sandkastenliebe nennt das meine Mutter”, fügte sie hinzu,
„wenn das auch auf euch nicht ganz zutrifft; er ist doch Karls
Jahrgang, und du bist so alt wie die Hildegard. Wundern tut es
mich allerdings nicht, Helleken, wer so gebaut ist wie du …”
Mit beiden Händen schlug sie von ihrem Halsansatz bis zur
Taille einen Bogen oberhalb ihrer eigenen, ziemlich flachen
Brust und ließ dabei das Zeitungspapier fallen.
„So einen Busen müsste man halt haben”, seufzte sie, und
Helga bückte sich, tief rot, um das zusammengeknüllte Blatt
aufzuheben. Jeder im Haus und in der Fabrik wusste, dass Ida
jetzt wieder hoffte, Paule Beckmann werde sie heiraten, nach-
dem seine Frau im Kindbett gestorben war, Fräulein Lange, die
als Sekretärin unten im Büro gearbeitet hatte. Helga erinnerte
sich natürlich noch an die Hochzeit, wo sie selber mit ihren
Freundinnen ein Seil vor dem Kirchentor gespannt und sich
dann mit den Jungen aus der Eckeseyer Straße um die Pfennige gebalgt hatte, die Paule ihnen zuwarf. Der Werkschor hatte
gesungen, und ihr war sehr feierlich zumute gewesen. Ida war
zu Hause geblieben, und Helga hatte sich hinterher bemüht, so
zu tun, als bemerke sie ihr verweintes Gesicht nicht. Aber jetzt
brauchte Paule eine Mutter für das Päulchen, und es war Helga
nicht entgangen, dass er sich in letzter Zeit häufiger nach Arbeitsschluss unten vor der Haustür oder weiter hinten auf dem
Fabrikhof mit Ida getroffen hatte, obwohl ihre eigenen Gedanken wirklich eher um Fritz kreisten. Sie hatte nicht so recht
gewusst, ob sie empört sein sollte, als Luise vorige Woche rund
heraus erklärt hatte, es werde ja auch Zeit: Ida sei mit ihren
zweiunddreißig Jahren eine alte Jungfer, und die Kiste mit ihrer
Aussteuer quelle bestimmt längst über von all den halbleinenen
Trockentücher und Bettlaken, die sie jedes Jahr von Schultes
zu Weihnachten bekommen hatte. Außerdem sei Paule seit seiner Beförderung zum Lagerverwalter wirklich eine gute Partie.
Helga hatte Luises Bemerkungen herzlos gefunden, ihre Meinung jedoch für sich behalten, einmal geschluckt und sich dann
mit ihrem Patenkind, der zweijährigen Kathrine, beschäftigt.
„Ist ja schon gut”, meinte Ida dann und drehte sich halb um,
um die Fensterscheibe mit dem Zeitungspapier trocken zu po-
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7. Kapitel: Herbst 1932
lieren. „Ich weiß ja, dass du dich genierst, und der Fritz ist ein
netter Kerl, gar nicht so eingebildet wie viele von den Studierten. Aber sag mal” – sie drehte sich noch einmal richtig um
– , „soll denn dein Schlussballkleid nicht von Fräulein Merten
geschneidert werden, vor allem, wo die gnädige …, also deine
Mutter so zufrieden ist mit ihrer letzten Abendgarderobe, der
langen aus dunkelbraunem Samt mit dem Spitzeneinsatz, die
Herta entworfen hat – es war so was wie ihr Gesellenstück,
glaube ich.”
„Wir treffen uns doch nur und sehen uns in den Läden für
Damenoberbekleidung an, was es da gibt. Die andere Helga,
Helga Meyer meine ich, hat in der Schule erzählt, dass ihr Vater einige Modelle vorrätig hat, und die wollen wir uns einmal
anschauen; schaden kann das doch nicht.
Helga lachte, noch immer etwas verlegen, und Ida fiel ein.
„Sie sind ja gut sortiert bei Meyers”, meinte Ida dann. Vielleicht werf ich da auch bald einmal einen Blick rein; billiger
als bei Fräulein Merten sind fertige Sachen ja auf jeden Fall.”
Es kam Helga so vor, als warte Ida auf etwas, aber sie wusste nicht, was sie erwidern sollte.
„Dass Herta eine Schneiderlehre begonnen hat und nicht
zu uns in die Fabrik gekommen ist, war jedenfalls das Beste, das ihr passieren konnte”, sagte sie schließlich und wandte
sich zum Gehen. „Frau Dennersmann hat ja zuerst geschimpft,
weil sie das nicht verstehen konnte, aber dann hat Vater mit ihr
gesprochen. Der Franz studiert doch jetzt sogar Ingenieurwis-
senschaften an einer technischen Universität, du weißt ja, die
Loge, und Herta war schon immer gut in Zeichnen und Handarbeit, hundertmal besser als ich. Auf der evangelischen Volksschule saß sie neben mir, da hab ich’s bei jeder Gelegenheit
feststellen können. Und dass Fräulein Merten sie genommen
hat …”
„Ist ja schon gut, Helleken, nun lauf mal. Ich muss die Fenster fertig haben, bevor deine Mutter zurückkehrt.”
Sie bückte sich, griff nach einem neuen Blatt Zeitungspapier und begann, die Scheibe damit blank zu reiben.
„Wie immer, wenn ich Fenster putze, wird’s anschließend
regnen. Nimm einen Schirm mit.”
Und dann murmelte sie etwas in sich hinein.
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Noch als sie in die Straßenbahn stieg, überlegte sich Helga, ob sie Idas letzten Satz richtig verstanden hatte. War darin
wirklich von einem Hochzeitskleid die Rede gewesen? Zerstreut suchte sie in ihrer Schultertasche nach dem Geldbeutel
und rückte einmal an ihrer Baskenmütze herum.
„Guten Tag, Helga”, hörte sie Frau Landwehrs Stimme,
„wie geht es dir denn? Freut mich, dich zu sehen. Ich hatte mir
schon Sorgen um dich gemacht, weil du doch sonst immer mit
der Bahn in die Schule fährst und plötzlich wie vom Erdboden
verschwunden warst. Aber dann erzählte mir deine Mutter – sie
hat mal kurz bei uns reingeschaut und sich erkundigt, wie es
Hermann, also meinem Mann geht –, deine Klasse verbrächte
vierzehn Tage im Landschulheim der Oberrealschule, hieß der
Ort Weilhof oder Lahnstein, und da war ich beruhigt. Ich denke
ja immer noch an deine böse Lungenentzündung von damals.”
Frau Landwehr machte eine Pause, blieb aber in Helgas
Nähe stehen, weil an der letzten Haltestelle niemand zugestiegen war.
„Windhof in Weilburg an der Lahn”, erwiderte Helga, und
ihre Augen strahlten.
„Muss ja schön gewesen sein.”
Frau Landwehr rückte einmal an ihrer Schaffnermütze,
wechselte das Standbein und sah Helga freundlich an.
„Was habt ihr denn da den ganzen Tag gemacht? Doch wohl
nicht nur gelernt?”
Helga schüttelte den Kopf.
„Natürlich hatten wir auch Unterricht; dafür waren ja drei
Lehrerinnen und unser Klassenlehrer mitgekommen, und da
jeder zwei Fächer geben kann, fiel eigentlich nichts aus. Die
Stunden fanden bei schönem Wetter draußen statt, da wurde
einfach die Tafel auf die Wiese geschoben. Arbeiten mussten
wir glücklicherweise keine schreiben. Aber nachmittags und
abends – nachts ebenfalls”, fügte sie zögernd und leiser hinzu
–, „da hatten wir viel Spaß … Kahnpartien, Völkerball, getanzt
haben wir auch und vor allem gesungen, und ein Theaterstück
haben wir einstudiert, wo ich den Prinzen spielte. Jungen”, ergänzte sie, „hatten wir ja keine dabei, und Vati, unser Klassenlehrer, ist schon ein bisschen zu …”
Die Bahn hielt, zwei Frauen stiegen zu, und Frau Landwehr
ging den Mittelgang hinauf.
„Noch jemand ohne Fahrschein?”, fragte sie mit einer Stimme, die Helga völlig fremd vorkam, bevor sie zu ihr zurückkehrte.
„Ich muss Else einmal fragen, ob sie auch ein Landschulheim besitzen”, meinte Frau Landwehr, die offensichtlich vergessen hatte, worum sich die Unterhaltung vor der Unterbrechung gedreht hatte.
„Was macht sie denn?”, erkundigte Helga sich höflich. Sie
hatte immer noch nicht vergessen, welche Rolle Else bei Luises Heirat zu spielen bereit gewesen war, und obwohl ihre
große Schwester inzwischen Rudolf und ihr mit einer wegwerfenden Handbewegung erklärt hatte, anders sei es halt nicht zu
bewerkstelligen gewesen, und außerdem habe ihr Mann, also
Otto Rellinghaus, ihre Freundin in dem besagten Hotelzimmer
nicht einmal angerührt, fühlte sie jedesmal Unbehagen in sich
aufsteigen, wenn die Rede auf Else kam.
Frau Landwehr streckte ihren Rücken durch, wies nach
unten, lachte einmal auf und meinte, sie spüre mit den Jahren
doch so langsam ihre Füße.
„Ja, hat sich das noch nicht rumgesprochen? Sie wird sich
wohl mit Franz Dennersmann verloben; der ist zwar ein ganz
klein wenig jünger als sie, aber was macht das schon? Else
hat bereits ihre Versetzung nach Braunschweig beantragt; das
ist nicht so einfach, ich meine, von einem Teil Deutschlands
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Von der anderen Straßenseite winkten ihr Hildegard und
Ilse Fandrey zu, bevor sie sie gemeinsam am Gartentor des
Meyerschen Hauses klingelten.
„Ich habe Ilse unterwegs getroffen, sie kam von einer Ballettprobe und ich” – Hildegard wies auf den schwarzen Kasten
in ihrer Hand – „hatte gerade Geigenunterricht. Sie wollte zuerst nicht mitkommen, aber wir kaufen ja ohnehin nichts; nur
mal so schnuppern, nicht wahr?”
Helga schämte sich wieder einmal. Natürlich wusste sie genauso gut wie Hildegard, dass Frau Fandrey neben ihrer Arbeit
als Buchhalterin abends Nachhilfestunden in Mathematik erteilte, vor allem an Mitschüler von Rudolf, um die Ballettstunden und das Schulgeld für ihre Tochter bezahlen zu können.
Für eine Freistelle waren Ilses Leistungen nie gut genug gewesen – kein Wunder, wie Frau Fandrey immer erklärte, wenn
man sich auf die Aufnahmeprüfung ins Corps de Ballet vorbereitete. Den Betrag für den Tanzkurs hatte Ilse von einem
Onkel geschenkt bekommen, über den sie ansonsten nicht reden mochte, und einmal hatte sie sogar angedeutet, am liebsten
hätte sie das Geld gar nicht angenommen. An ein neues Kleid
für den Schlussball war indessen nicht zu denken. Ilse hatte
schon mit Helga und Hildegard vor ihrem Schrank gestanden
und war eigentlich zu der Erkenntnis gelangt, höchstens ihr
Konfirmationskleid würde sich eignen, wenn sich jemand fände, der es ein wenig veränderte. Aufs Nähen verstand sich allerdings leider keine von ihnen, aber Hildegard hatte gemeint,
es blieben ja noch zwei Wochen, und vielleicht gewänne Ilses
Mutter bis dahin in der Lotterie. Helga hatte nicht einmal in
Erwägung gezogen, Ilse zu fragen, ob sie mit ihnen gemeinsam die Auslagen der Damenoberbekleidungsgeschäfte an Elberfelder- und Kampstraße begutachten wolle. Aber sie hatte
doch ein schlechtes Gewissen dabei gehabt und fand jetzt wieder einmal, dass es Hildegard beneidenswert leicht zu fallen
schien, stets das Richtige zu tun.
Ein schwarz gekleidetes Dienstmädchen mit weißem Häubchen und spitzenbesetzter Schürze öffnete ihnen die Tür. Gleich
hinter ihr stand Helga schon fast ausgehbereit und sagte, ihre
Mutter habe angeordnet, dass sie zunächst einmal etwas essen
und trinken sollten.
„Machen wir’s aber kurz, nicht wahr? Ein Glas Saft für jeden und ein Stück Marmorkuchen aus der Hand, damit könnte
ich mich anfreunden. Ich muss nämlich hinterher noch meine
Schulaufgaben erledigen, ihr auch? Hat jemand schon einen
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zum anderen, wo sie doch gerade erst in Dortmund verbeamtet
worden ist.”
Helga war froh, dass sie die Haltestelle in der Nähe des
Volmeufer erreicht hatte, wo sie aussteigen musste, und erhob
sich.
„Da wünsche ich ihr aber alles Gute”, sagte sie und deutete
in ihrer Verlegenheit sogar einen Knicks an, bevor sie an Frau
Landwehr vorbei aus dem Wagen sprang.
Blick auf die französische Übersetzung geworfen? Dieser Matéo Falcone ist ja schon ein seltsamer Kauz. Warum müssen wir
so eine alte Kamelle lesen, die noch dazu in Korsika spielt, wo
ich doch gerade einmal weiß, wo das liegt.”
Helga Meyer war sehr gut in Erdkunde, und außerdem
hatte sie ihre Eltern schon auf Reisen nach Österreich, in die
Schweiz und nach Italien begleiten dürfen. Aber so pflegte sie
sich halt auszudrücken, fishing for compliments, erinnerte sich
Helga und bot ihr an, nachdem sie den letzten Bissen heruntergeschluckt hatte, ihr nachher noch kurz zu helfen.
„Wenn ich in Sprachen bloß so gut wäre wie du!”, seufzte
die andere Helga und schoss eine Kastanie in den Rinnstein.
Das Lob war gerechtfertigt, denn selbst Karl, ihr großer
Bruder Karl, wiederholte bei jeder Gelegenheit, Helga spreche besser Französisch als er, obwohl er doch ein halbes Jahr
in einer lothringischen Firma zugebracht und den ganzen Tag
nichts anderes gehört habe. Aber trotzdem fühlte sie sich jetzt
genötigt, eine abwehrende Handbewegung zu machen und zu
erklären, in der letzten Nacherzählung habe aber nicht sie die
beste Note erzielt, einmal abgesehen von ihren Schwierigkeiten mit Latein und Mathematik.
In diesem Augenblick fuhr ein Maybach vorbei, bremste
kurz, setzte dann aber seinen Weg fort. Sowohl Hildegard als
auch Helga blieben ruckartig stehen, runzelten die Stirn und
schwiegen zunächst. Dann sprachen beide gleichzeitig.
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„Das war doch dein Bruder.”
„Das war ja Karl.”
Ilse und die andere Helga machten neugierige Gesichter.
Natürlich kannten sie beide Karl, waren ihm jedenfalls bei
Schultes schon mehrfach begegnet, und die andere Helga himmelte ihn, den hoch aufgeschossenen, blonden und blauäugigen Sechsundzwanzigjährigen, sogar unübersehbar an.
„Was ist denn los?”, fragte sie schließlich und stützte die
Hände auf die Hüften. „Hat er keinen Führerschein, oder sollte
er zu dieser Zeit eigentlich woanders sein, zum Beispiel in der
Bonbonfabrik?”
Helga schüttelte den Kopf und gab sich einen Ruck.
„Nein, es ist eher das Mädchen, das da neben ihm saß. Meine Eltern sehen es nämlich nicht gern, dass Karl … ich meine,
sie sind jetzt schon ziemlich lange zusammen. Er soll ja noch
einmal ins Ausland gehen, und …”
„Wie heißt sie denn?”, erkundigte sich die andere Helga.
„Vielleicht kenne ich sie ja.”
Helga wusste nicht so recht, ob sie antworten sollte, besann sich aber. Immerhin waren Hildegard, Ilse und die andere
Helga ihre Freundinnen, und außerdem hatte Karl schließlich
nichts Unrechtes getan.
„Sophie Winterhoff”, sagte sie und beschleunigte ihre
Schritte. „Dabei …”
Helga Meyer lachte einmal auf.
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„Klar kenne ich sie, nicht persönlich allerdings. Ihr Vater
ist doch Rechtsanwalt, nicht wahr? Irgendwann, vor gar nicht
so langer Zeit, hat er uns mal vertreten. Aber ich glaube” – sie
zögerte und warf einen fragenden Blick zu Hildegard hinüber
–, „dass er nicht so viele Klienten hat; er ist doch nicht aus
Hagen, oder?”
„Sie kommen aus dem Kölner Raum”, erklärte Helga, steckte beide Hände tief in die Manteltaschen und sah beim Gehen
auf ihre Fußspitzen, „das ginge ja noch. Aber die Winterhoffs
sind katholisch.”
Hildegard und die andere Helga sahen sich ganz kurz an,
und Ilse sagte, sie selber fände das gar nicht schlimm, doch sie
hätten sich zu Hause schon einmal darüber gestritten, als sie
nämlich das Thema im Religionsunterricht behandelt hatten,
und abschließend sei ihre Mutter sehr erregt aufgestanden und
habe fast gebrüllt, eine Mischehe, das komme ja nun gar nicht
in Frage.
„Karl hat mir kürzlich erzählt, dass Sophie bereit wäre, sich
evangelisch trauen zu lassen und auch die Kinder evangelisch
zu erziehen”, meinte Helga und wäre gestolpert, hätte Hildegard nicht nach ihrem Ellbogen gegriffen.
„Die Kinder? Sie ist doch wohl nicht etwa …?”, fragte die
andere Helga halb entzückt, halb entsetzt, und Helga schüttelte
den Kopf, während Hildegard nichts gehört zu haben schien.
„Magst du sie eigentlich ? Ich war ja zufällig anwesend,
meine Eltern übrigens auch, als Karl sie bei euch eingeführt
hat.”
Helgas Stimme klang auf einmal viel lebhafter, und sie
wandte sich Hildegard zu.
„So zufällig war das gar nicht. Karl hat mir hinterher gesagt,
er hätte gewusst, dass ihr bei uns eingeladen wart. Er fand es
leichter, Sophie meinen Eltern vorzustellen, wenn Leute dabei
waren, weil … ja, weil sie dann doch irgendwie die Form wahren mussten, oder?”
„Sie hat jedenfalls ziemlich aufgeschnitten”, meinte Hildegard trocken, „also ich würde nicht gleich bei der allerersten
Begegnung jedem aufs Brot schmieren, dass mein Vater, mein
Urgroßvater und wohl überhaupt alle männlichen Vorfahren
bis zurück zum Neandertaler Jura studiert haben.”
Auf einmal zog ein leicht boshaftes Grinsen über ihr Gesicht.
„Sophies älterer Bruder, Egon heißt er, wenn ich mich recht
entsinne, erledigt seine Sache übrigens besonders gründlich. Er
soll so um die dreißig sein und ist mal gerade Referendar in der
Kanzlei von Berg und Ostwald.”
„Dazu kann diese Sophie doch nichts!”, warf Ilse ein wenig
empört ein. „Manche brauchen halt länger.”
Hildegard legte ihr beschwichtend den Arm um die Schulter.
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Besonders viel Aufmerksamkeit schenkten die Mädchen
den Schaufensterpuppen allerdings nicht, nachdem Ilse mit einem Blick festgestellt hatte, dass zumindest zwei davon Greta
Garbo sehr ähnlich sähen, was sie alle zu entmutigen schien.
Sie gingen ein paar Schritte weiter und unterhielten sich, jetzt
vor Löwensteins Kaufhaus stehend, über den letzten Film der
Schauspielerin sowie über ihre Partner, vor allem die beiden
Barrymores, und wandten sich dann, Karamellen kauend, den
Jungen des Tanzkurses zu. Während die andere Helga an so
ziemlich jedem der Obersekundaner und Unterprimaner vom
Gymnasium an der Bergstraße etwas auszusetzen fand – der
eine hatte Pickel, der andere sollte sich seine Haare öfter waschen, mit dem dritten hatte sie wegen seiner feuchten Hände nicht mehr als einmal getanzt –, erklärte Ilse rund heraus,
ihr habe der Unterricht Spaß gemacht. Manchmal sei sie sogar
nachts aufgewacht von dem Eins und zwei und Wech-sel-schritt
… Nein, nein, mit den Anweisungen ihrer Ballettlehrerin habe
das aber nun auch überhaupt nichts gemeinsam; außerdem hätte der junge Mann, der sie zum Schlussball eingeladen habe,
Riesenfortschritte gemacht.
Hildegard nickte und steckte dabei eine weitere Karamelle
in den Mund.
„So schön wie John Barrymore ist mein Tanzherr ebenfalls
nicht, aber ich will ihn ja auch nicht heiraten.”
Die andere Helga und Ilse kicherten.
„Die Hauptsache ist doch, dass er tanzen kann, und darauf
versteht er sich. Nicht einmal beim Walzer treten wir uns auf die
Füße, und im Gegensatz zu so manchem anderen, liebe Helga
Meyer, verfügt er über ein unfehlbares Gefühl für Rhythmus.”
Die andere Helga wurde rot und biss sich auf die Lippen;
David, ihr Schlussballpartner, sah nämlich aus wie ein junger
Gott, stellte sich aber beim Tanzen nach wie vor ungeschickt
an, und Hildegard war vor Kurzem, als die andere Helga eine
wirklich taktlose Bemerkung über eine ihrer Klassenkamera-
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„Du hast natürlich Recht. Nur: Angeben würdest du doch
am wenigsten, Ilse.”
Die Mädchen hatten die Elberfelder Straße erreicht und
blieben zunächst einmal vor der Meyerschen Auslage stehen.
„Wie sieht sie denn aus?”, wollte die andere Helga noch
wissen.
„Das ist ja das Komische an der Sache. Karl hat immer von
einer Frau mit glattem blondem Haar geschwärmt, möglichst
lang bis zur Taille. Sophies hingegen ist rabenschwarz und zu
einem Bubikopf geschnitten.”
Sie brachen alle in lautes Lachen aus, und dabei fiel Helgas
Blick auf das Schild an der Wand, zwei Häuser neben Meyers. Natürlich, dachte sie, Maßschneiderei Josephine Merten
– nicht Fräulein Merten selber selbstverständlich! Und sie
nahm sich vor, gleich heute Abend Herta zu bitten, das Konfirmationskleid ihrer ehemaligen Klassenkameradin Ilse für den
Schlussball umzuändern.
dinnen hatte fallen lassen, der Satz entrutscht, David sei so
schön wie die Marmorskulptur von Michelangelo und seine
Füße auch genauso schwer.
„Und du”, meinte die andere Helga und suchte gleichzeitig
etwas in ihrer Schultertasche, „du hast uns ja noch gar nicht
… Ach du mein lieber, mein Vater! Es ist ja schon fast fünf,
ich habe meiner Mutter versprochen, dass ich mich mit ihr bei
Metzgerei Rosenkranz treffe. Seid mir bitte nicht böse, aber ich
muss laufen.”
„Und die Französischübersetzung?”, rief Helga ihr nach,
unendlich erleichtert über den Wechsel des Gesprächsthemas.
Sie hatte die ganze Zeit nur gehofft, dass Hildegard nicht verraten würde, wer ihr Schlussballpartner war, denn die andere
Helga, so nett und großzügig sie auch oft sein mochte, zählte
zu den schulbekannten Klatschbasen. Warum Helga ihr Geheimnis zu diesem Zeitpunkt eigentlich mit niemandem teilen
wollte, hätte sie nicht zu sagen vermocht. Es war ja überhaupt
schon ein Wunder, dass kein einziger Bekannter Fritz und sie
bei ihren Spaziergängen am Hengsteysee oder im Funckepark
gesehen hatte.
„Die Übersetzung? Ach, es wird schon gehen. Wenn nicht,
rufe ich … also ich rufe David an; die haben die Geschichte vor
zwei Jahren auch lesen müssen.”
Sie winkte ihnen zu und verschwand zwischen den Passanten.
Hildegard, Ilse und Helga setzten ihren Bummel nun aber
doch fort, betraten sogar einige der Damenoberbekleidungsgeschäfte und ließen sich Preise nennen. Während es Helga
ausgesprochen unangenehm war, einen Laden mit nichts als
einem Dankeschön an die Verkäuferin zu verlassen, meinte
Hildegard, und Helga gab ihr natürlich Recht, wenn man fertige Sachen anbiete, müsse man darauf vorbereitet sein, dass sie
nicht jedem gefielen. Mit einem Schneider bespreche man halt
alles vorher, und dann passe so ein Kleid auch genau. Trotzdem
fühlte sie sich wohler, als sie den Rand der Innenstadt erreicht
hatten und sich auf den Heimweg machten.
„Ist es möglich, dass mir gestern deine Schwester Luise mit
ihren beiden Kindern begegnet ist?”, fragte Ilse und ließ sich
auf die hölzerne Bank der Elektrischen fallen. „Ich kenne sie
ja kaum, aber das kleine Mädchen sah dir wirklich ungeheuer
ähnlich.”
Helga lachte.
„Das sagen alle. Kathrinchen ist mir wirklich aus dem Gesicht geschnitten, und ich wollte immer schon unsere BioLehrerin aushorchen, wie so etwas möglich ist; sie gleicht mir
mehr als ihrer eigenen Mutter.”
„Apropos Mutter”, meinte Hildegard, „herrscht da jetzt
endgültig Frieden?”
„Ja, seit Kathrinchens Geburt haben sich meine Eltern wohl
wirklich beruhigt. Vor allem meine Mutter … aber das ist sicher bis an eure Ohren gedrungen. Sie hat ja mit ihrer Mei-
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nung nirgends hinter dem Berg gehalten, fand das Verhalten
von Herrn Rellinghaus unmöglich, unverantwortlich” – Helga
suchte nach Worten. „Anfangs hat sie sich geweigert, ihn überhaupt zu empfangen. Es störte sie einfach alles an ihm, bis zu
dem Schmiss in seiner linken Backe, obwohl er von seiner Zeit
als Chorstudent so gut wie nie spricht. Als Otto junior auf die
Welt kam, ist sie nicht einmal ins Krankenhaus gegangen, wohin sie Luise in letzter Minute transportiert hatten. Ottochen ist
ja mit einem Kaiserschnitt rausgeholt worden, und Luise wäre
fast auf der Strecke geblieben, so wie die Frau von Paule Beckmann. Und als sich meine Mutter gerade dazu durchgerungen
hatte, einen Strich unter die Sache zu ziehen, da stand auf einmal Christine bei uns vor der Tür.”
Helga seufzte, und Hildegard, die mit ihrem Schal gespielt
hatte, rutschte einmal auf der harten Bank hin und her.
„Davon weiß ich ja gar nichts. Erzähl mal!”
„Muss vor ungefähr zwei Jahren gewesen sein, jedenfalls in
der Weihnachtszeit. Luise erwartete das Kathrinchen; so sollte das Kind nämlich heißen, wenn es ein Mädchen würde. Da
klingelte es unten an der Tür, Ida öffnete und meldete – ich
schlug mich gerade mit einer Mathematikaufgabe herum – jemanden namens Chrischtine, so sprach sie den Namen aus. Sie
war natürlich besser auf dem Laufenden als ich, und ich fragte
ziemlich blöd: Christine? Da stürmte aber auch schon meine
Mutter durchs Zimmer, polterte richtig die Treppe hinunter;
sie muss meinen Vater aus seinem Büro geholt haben, und …
Ganz genau habe ich’s nicht mitgekriegt, aber Christine, sie
ist die Tochter aus der ersten Ehe von Herrn Rellinghaus und
nur ein Jahr jünger als ich, muss wohl gesagt haben, sie wolle ihren Vater abholen; schließlich sei bald Weihnachten, und
das möchte sie doch wie früher mit ihm feiern. Kurz darauf
erschien zuerst Dr. Rosenthal, dann kam mein Schwager und
ganz zum Schluss auch noch seine geschiedene Frau. Die nahm
Christine mit, und eine Woche später, das erzählte Ida dem Rudolf und mir, wurde Christine in eine Heilanstalt eingewiesen,
nicht für lange Zeit, aber immerhin.”
Ilse starrte Helga an.
„Und wo ist sie jetzt?”, erkundigte sie sich.
„Gott sei Dank geht es ihr wieder richtig gut. Sie sind aus
Hagen weggezogen, aber Christine besucht Luise manchmal,
für eine Woche oder so. Ich wollte es zuerst nicht glauben: Sie
haben sich mehr zu sagen als Luise und ich.”
„Kann ich mir gut vorstellen”, brummelte Hildegard vor
sich hin und sprang auf. „Alle Mann aussteigen!”, rief sie und
fügte noch hinzu, zuerst wollten sie Ilse nach Hause begleiten,
und dann solle Helga noch kurz mit zu ihr kommen; sie müsse
ihr etwas geben.
„Von Fritz”, setzte sie flüsternd hinzu, „meine Eltern haben
ihn heute Morgen besucht.”
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Auf der Eckeseyer Straße herrschte eindeutig ein dichterer
Verkehr als sonst gegen kurz vor sechs. Die Mädchen ließen
ohne ihn loszulassen, tat so, als werfe sie einen Blick auf ihre
Armbanduhr, und murmelte, sie müsse sich jetzt aber sputen;
es sei ja schon fast halb sieben. Bevor sie in den Regen hinaustrat, nahm sie gerade noch wahr, wie Hildegard ihre Mutter
fragend anschaute.
Unter einem erleuchteten Vordach blieb sie stehen und riss
mit fliegenden Fingern den Umschlag auf. Ihr Herz klopfte bis
zum Hals.
Schlangen von Lastwagen, Radfahrern und Kraftfahrzeugen
hinter sich, gingen schnellen Schritts von einem Lichtkegel
zum nächsten. Wie Ida eher spöttisch als ernst vorausgesagt
hatte, begann es zu nieseln. Aus der entgegengesetzten Richtung vernahmen sie die Sirene eines Feuerwehrwagens, und
Helga glaubte, in der Ferne das Gefährt der Werksfeuerwehr
gesehen zu haben. Während Ilse ihnen noch einmal zuwinkte,
bevor sie in der Bäckerei an der Ecke Eichendorfstraße verschwand, sprangen Hildegard und Helga die drei Stufen zur
Blankensteinschen Haustür empor.
„Sie hat doch immer Recht, die Ida”, meinte Helga. „In
Amerika könnte sie sicher Geld damit verdienen; da soll es ja
Regenmacher geben.”
Hildegard zog schnell ihren Mantel aus und hängte ihn auf
einen Kleiderbügel.
„Ich hol dir eben den Brief”, sagte sie, schon auf der Treppe.
„Den Brief?”
Helga war viel zu überrascht, um einen klaren Gedanken
fassen zu können. Warum hatte Fritz ihn denn nicht, wie sonst,
mit der Post geschickt, und was machte ein Brief an sie bei
seinen Eltern?
Aber da streckte ihr Hildegard den Umschlag schon entgegen, und im gleichen Augenblick trat Frau Blankenstein aus
dem Esszimmer. Sie sagte gar nichts, sondern schloss Helga
ganz fest in die Arme und strich ihr dann einmal über den Kopf.
Helga steckte den Brief in die leicht feuchte Manteltasche,
Helleken, las sie, Du wunderst Dich sicher, warum ich Dir
auf diesem Weg einen Brief zukommen lasse, zudem wir vorgestern Abend noch miteinander geredet haben, wenn auch nur
über eine Fernsprechleitung. Ich gebe ihn meinen Eltern mit,
die ich morgen früh hier in Aachen sehen werde; Hildegard
erfährt dann von ihnen das, was ich Dir jetzt schweren Herzens
schreibe. Mehrere Bogen sind schon in den Papierkorb gewandert, weil ich fürchte, mit einer gewissen Ich-Bezogenheit jedoch auch hoffe, dass Dir die folgende Neuigkeit nahegehen
wird.
Dass ich mich hier und da um ein Forschungsstipendium
beworben habe, ist Dir ja bekannt.
Nun erhielt ich gestern Morgen eine Zusage aus Amerika,
genauer vom Massachusetts Institute of Technology, unterzeichnet vom dortigen Präsidenten, der übrigens mit Vornamen Karl heißt wie Dein großer Bruder. Sie ist an zwei Bedingungen gekoppelt: erstens, dass ich meine Doktorprüfung mit
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Helga starrte mit dem Bogen in der Hand in den feinen
Regen, faltete den Brief dann mechanisch, aber sorgsam und
steckte ihn zurück in den Umschlag, bevor sie unter dem schützenden Dach hervor auf den Bürgersteig trat. Beide Hände tief
in die Taschen gedrückt, schlug sie mit hoch gezogenen Schul-
tern die Richtung ein, aus der ihr erstaunlich viele Menschen
entgegenströmten; das bemerkte sie, obwohl sie mit ihren Gedanken bei dem war, was Fritz ihr mitgeteilt hatte. Sie öffnete
ihren Schirm wieder und beschloss, nicht auf dem kürzesten
Weg nach Hause zurückzukehren, weil jetzt Tränen über ihre
Wangen liefen und sie es sich eigentlich abgewöhnt hatte, außer Rudolf jemandem aus ihrer Familie Einblick in ihre Gefühle zu gewähren.
Fritz, dachte sie zunächst immerzu, Fritz wird nicht mehr da
sein, Fritz mit seinen behutsamen Händen, der sie beschützte
und gleichzeitig öffnete; das klang zwar widersprüchlich, aber
es war so: Ihm gelang es bei jeder Begegnung mehr, ihr die
Scheu vor ihrem eigenen Körper zu nehmen, vor ihrem Busen
zum Beispiel, den sie als viel zu groß empfand. Von ihm hatte
sie auch all die Auskünfte erhalten, nach denen sie niemand zu
fragen wagte, weder Ida, die mit Anspielungen auf das, was
sich in Schlafzimmern abspielte, geradezu um sich warf, noch
Luise und am allerwenigsten ihre Mutter, die sich, wie Helga einzuräumen bereit war, auf die vollkommenste Weise um
Haushalt, Kinder und sogar ihr zufallende Aufgaben im Betrieb kümmerte, aber irgendwie abgeschottet wirkte, so, als
bleibe da auch nicht die geringste Lücke für eine tastend vorgebrachte Frage oder einen Zweifel. Ohne zu wissen warum,
sah Helga wieder einmal Ida vor sich, wie sie vor dem Herd
stand und erzählte, die Maria, das faule kleine Stück aus der
Musterabteilung, habe es erwischt, sie sei wohl auf jemanden
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magna cum laude oder mindestens cum laude abschließe, zweitens an den Erwerb einer Einreiseerlaubnis, also eines Visums.
Die Leute dort scheinen aber großes Vertrauen in mich zu setzen, denn Mr. Compton oder doch wohl eher seine Mitarbeiter haben bereits begonnen, ihrerseits die nötigen Unterlagen
zusammenzustellen. Wenn alles glatt läuft, könnte ich Anfang
1933 in die Staaten reisen. Selbst zu tragen sind lediglich die
Kosten für die Überfahrt; für alles andere kommt das M.I.T.
auf. Ist das nicht fantastisch?
Wenn ich mich einerseits also freue und auch ein wenig
stolz bin, nicht zuletzt deshalb, weil meine Eltern immer an
mich geglaubt und mir ein langes Studium finanziert haben, so
denke ich andererseits jetzt schon daran, dass Du mir an Leib
und Seele fehlen wirst. So seltsam das auch klingen mag – es
trifft genau das, was ich empfinde. Glücklicherweise verlasse
ich Deutschland ja noch nicht sofort, und ich hoffe, dass Du
Dich für unseren Schlussball nicht verkleidest, sondern mein
liebstes Helleken bleibst.
Rufe mich bitte nicht gleich an. Ich wüsste noch nichts zu
sagen. Immer Dein Fritz. reingefallen, und der wolle sie jetzt nicht heiraten. Etwas von
,unehelichem Balg’ hatte sie triumphierend gesagt und hinzugefügt, so etwas könne Helga ja nicht passieren, nicht wahr,
denn sie sei gewiss in der Schule aufgeklärt worden. Das traf
indessen keinesfalls zu, obwohl sie natürlich in der Obertertia
die Anatomie des Menschen durchgenommen hatten, anhand
von Schaubildern, einem Skelett und sogar einiger in Spiritus
aufbewahrter Embryos. Aber was man sich unter ,Geschlechtsverkehr’ vorzustellen hatte, war umgangen worden, vielleicht
sogar deswegen, weil ihre Biologielehrerin überzeugt war, da
seien alle ihre Schülerinnen auf dem Laufenden.
Fritz hatte sie mit den Fachausdrücken vertraut gemacht,
ihr dabei den Arm um die Schulter gelegt, am Hengsteysee war
das gewesen in diesem Sommer, und war abschließend vor ihr
stehen geblieben. „Jetzt kennst du die nüchterne, wissenschaftliche Seite”, hatte er gemeint. „Doch wenn zwei Menschen
sich lieben, so wirkt dieses Gefühl wie eine Zauberformel,
und von der Nüchternheit bleibt nichts mehr übrig.” Er mit
seinen fast sechsundzwanzig Jahren habe das schon mehrmals
in Erfahrung bringen dürfen, doch wie sie sehe, könne man
sich da auch irren. „Drum prüfe”, hatte er lachend zitiert, als
er in Helgas Gesicht und Gestik eindeutige Zeichen von Eifersucht wahrnahm, „was sich ewig bindet, ob sich nicht noch was
Bess’res findet. ” Wieder ernst hatte er noch ergänzt, manchmal
verwechsle man eine rein physische Anziehung mit dem Einklang von Körper und Geist oder Seele, die er letzten Endes
anstrebe; er suche natürlich nach einer Frau für Kopf, Herz und
Bett, um es auf eine knappe Formel zu bringen. Das bedeute
aber auch, dass man den einen Zügel nie stärker anziehe als
den anderen.
Helga hatte ohne jede Schwierigkeit seinem Gedankengang
bis in die Einzelheiten zu folgen vermocht, und trotz der Unruhe und einer unbestimmten Sehnsucht, die jede seiner Berührungen in ihr auslöste, war sie froh gewesen, dass Fritz sie
noch nicht vor die Entscheidung gestellt hatte, die sie früher
oder später würde treffen müssen. Die Unschuld verlieren, so
hatte es die Biologielehrerin das genannt, was ihr seit Fritzens
sachlicher und dabei sehr liebevoller Einführung als ,Entjungferung’ bekannt war. Luise hingegen hatte kürzlich in einer Bemerkung ziemlich krass von ,Beischlaf’ und von dem Problem
gesprochen, ungewollten Schwangerschaften vorzubeugen.
Nun aber würde Fritz nach Amerika gehen, mindestens
für ein Jahr, wahrscheinlich für länger. Dort würde er ältere
Mädchen kennen lernen, Studentinnen oder erfahrene junge
Frauen, die wie er Forschungsarbeit betrieben und deshalb viel
mehr mit ihm gemeinsam hatten als sie, noch nicht siebzehn
und so schlecht in Latein und Mathematik, dass sie vermutlich
nicht einmal die Reifeprüfung würde ablegen können. In diesem Augenblick empfand sie es keinesfalls als tröstlich, dass
ihr Englisch viel schöner klang als das von Fritz und dass sie
in Deutsch und Französisch zu den besten Schülerinnen zählte;
die kaum noch genügenden Noten in den beiden ,Denkfächern’,
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wie ihr Klassenlehrer sie nannte, gefährdeten jetzt schon ihre
Versetzung. Sie würde Fritz nie ebenbürtig werden können.
„Da bist du ja, Helga, Helleken, wir haben schon gedacht,
dir sei etwas zugestoßen in der Stadt. Komm mit, es ist was
Schlimmes passiert: Der Alte Fritz brennt.”
Ida stand vor ihr und redete pausenlos auf sie ein, umschloss
dabei Helgas Oberarme so fest, dass sie aufschrie, und sah ihr
mit wild blitzenden Augen ins Gesicht. Es schien ihr nicht aufzufallen, wie verstört Helga war.
„Die Sirenen muss man doch auch in der Stadt gehört haben”, rief Ida und schleifte Helga hinter sich her. „Vor einer
halben Stunde haben sie die Werksfeuerwehr angefordert; zum
Glück waren die Männer noch nicht nach Hause gegangen, es
hatte ja gerade Feierabend geläutet. Die gnädige …, also deine
Mutter hat mir erlaubt, dass ich mal nachschaue. Du weißt ja:
Der Paule ist auch dabei.”
Helga erwachte vollständig aus ihrer Starre und bahnte sich
gemeinsam mit Ida einen Weg durch die immer dichter werdende Menschenmenge, die sich auf die brennende Gaststätte
zuschob. Über den Köpfen und den vereinzelten Regenschirmen konnte sie jetzt den Himmel sehen: Flammen loderten
hoch über die Baumkronen hinweg, deren bereits kahle Äste
im Regen glänzten, und Helga dachte, dass die Holzbalken des
Fachwerkhauses dem Feuer bestimmt nicht lange standgehal-
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ten hätten. In den Putz war neben Lehm wohl auch Stroh gemischt, und nur das Schieferdach würde nicht brennen.
Sie hatten die Brandstelle fast erreicht, als ein dumpfer
Knall und gleichzeitig ein Schrei aus vielen Kehlen an ihre
Ohren drangen. Ida blieb kurz stehen, schlug beide Hände vor
ihren weit aufgerissenen Mund und zog Helga dann an einer
Hand hinter sich her, wobei sie mit ihren Ellbogen um sich
stieß und alle, die ihr den Weg verstellten, zur Seite drängte.
Als sie sich bis zum Brandort durchgekämpft hatten, flogen
Idas Blicke zwischen zusammengekniffenen Lidern von den
schwarzen Umrissen der Männer zu den Schläuchen, die sich
über den Boden wanden, hin bis zu den Mauerresten und den
Dachbalken, die gerade mitsamt der Beschieferung herabgestürzt waren.
„Paule”, brüllte sie plötzlich, „Paule!”
Mit einer Kraft, die Helga nie bei ihr vermutet hätte, riss Ida
sich von dem Feuerwehrmann los, der sie zurückhalten wollte,
kniete neben der ausgestreckten Gestalt in der Löschwasserpfütze nieder und versuchte, den verkohlten Balken von Paules
Bein zu wuchten. Helga blieb zunächst regungslos neben ihr
stehen, schaute auf Paules rußgeschwärztes Gesicht und fing
einen Blick aus seinen Augen auf, die sich immerzu öffneten
und schlossen.
Plötzlich drehte sie sich zu der Menschenmenge um.
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„Warum hilft ihm denn keiner?”, schrie sie und bemerkte
gerade noch, wie sich einige Männer aus der vorderen Reihe
lösten.
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8. Kapitel: Advent 1933
„Meine Mutter hatte ja erwähnt, dass du zu Weihnachten
nach Hause kämest, aber dass wir uns so kurz nach deiner Ankunft über den Weg laufen, ist doch nun wirklich ein Zufall”,
sagte Herta Dennersmann und hakte sich bei Helga ein. „Mit
einer Freundin aus BdM-Zeiten habe ich die Mittagspause genützt, die letzten Geschenke zu besorgen – dass in diesem Jahr
der Heilige Abend mit dem 4. Advent zusammenfällt, lässt einem ja wirklich nicht viel Zeit zum Einkaufen, vor allem, weil
wir im Atelier wahnsinnig viel zu tun haben. Wen wundert’s?
Etwas Neues zum Anziehen für die Festtage und besonders für
den Sylvesterball braucht man halt, wenn man zum Kundenkreis von Fräulein Merten gehört. Wie lange bleibst du denn,
und hast du schon etwas vor, oder machst du, wie man so schön
sagt, in Familie?”
Helga lachte.
„Ich habe sie ja alle seit den Sommerferien nicht gesehen,
eigentlich seit der Hochzeit von Karl und Sophie, und da freue
ich mich richtig darauf, einmal in aller Ruhe zum Beispiel mit
Rudolf plaudern zu können. Immer nur Briefe, das ist eigentlich eher eine Notlösung, wenn ich mich natürlich auch riesig
über Post freue. Um vier Uhr hole ich Ilse Fandrey am Stadttheater ab, nach ihrer Ballettprobe. Und am zweiten Feiertag
bin ich bei Blankensteins eingeladen …”
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Helga hatte den Eindruck, als ob Herta eine Frage herunterschluckte, bevor sie eine andere stellte.
„Und Helga Meyer – werdet ihr euch auch treffen?”
Aber dann konnte sie ihre Gedanken doch nicht für sich behalten.
„Sag einmal, so ganz habe ich das damals nicht verstanden,
ich meine, weshalb du Ostern von der Schule abgegangen bist.
Obersekunda, das ist doch nichts Halbes und nicht Ganzes;
entschuldige meine Offenheit. Aber so gescheit wie die andere
Helga bist du allemal.”
Helga vergrub beide Hände tief in den Taschen ihres dicken
Wintermantels und senkte den Kopf so tief, dass unter dem
Hutrand von ihrem Gesicht nichts mehr zu sehen war, während
Herta ihre Schritte dermaßen zügelte, dass die Menschen einen
Bogen um sie machten.
„Ich versuch einmal, mich kurz zu fassen. Im Januar habe
ich einen Blauen Brief bekommen, wegen Mathematik. Das
kann ich einfach nicht. Bis dahin ließ sich die Note indessen
mit einem Gut in Deutsch ausgleichen, und in den Fremdsprachen … Außerdem waren meine Leistungen in Latein im ersten
Halbjahr unter Genügend gesunken, und zwei Fächer – da ist
nichts zu machen. Dr. Möhle hat meinen Eltern vorgeschlagen,
mich auf die Frauenoberschule überwechseln zu lassen; da
kann man zwischen zwei Zweigen wählen, einem technischkünstlerischen und einem, in dem man Hauswirtschaft lernt und
auf Pflegeberufe vorbereitet wird. Mit den wissenschaftlichen
Fächern hätten die Schulteschen Mädchen es wohl nicht, soll
er gesagt haben. Ihm steht wahrscheinlich Luises Auftritt noch
vor Augen. Aber in der FOS lernen sie nur eine Fremdsprache,
und eigentlich macht mir genau das Spaß. Im Luisenhof …”
Herta runzelte die Stirn und fiel Helga ins Wort.
„Meine Mutter … nimm’s mir bitte nicht übel und sag ihr
um Himmelswillen nicht, dass ich was ausgeplaudert habe, ja?
Meine Mutter hat früher manchmal Spekulationen darüber angestellt, wie euer Karl zu seinem Abitur gekommen ist. War
ja schon ein bisschen eigenartig, nicht wahr, dieser Wechsel
zum Paedagogium, wo sie die Schüler doch wohl trimmen, die
reinste Paukerei soll das sein, und kosten tut die Sache auch
einen tüchtigen Batzen Geld. Warum haben sie dir denn nicht
ein paar Privatstunden bei Frau Fandrey spendiert? Die kennt
ihr doch sogar, und außerdem hätten deine Eltern damit ein
gutes Werk getan.”
Helga hob den Kopf nur kurz, weil sie nicht wollte, dass
Herta die Tränen sah, die in ihren Augen standen, senkte ihn
dann wieder und erwiderte, Karl sei ja ein Junge, natürlich inzwischen längst ein Mann.
„Für Rudolf”, fuhr sie nach einer kurzen Pause fort, „werden sie wohl auch Nachhilfe bezahlen. Bis jetzt schlägt er sich,
glaube ich, ganz gut ohne durch, wenn ihm vermutlich auch
bald jemand bei seinen Französischhausaufgaben unter die
Arme greifen muss; im Englischen hapert’s ebenfalls an Grammatikkenntnissen, wie er mir kürzlich schrieb. Wenn alle Stri-
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cke reißen, stecken sie ihn in ein Internat. Aber bei mir haben
sie gemeint, ich würde ja sowieso heiraten.”
Jetzt wischte sie doch mit dem Handschuh über die Augen
und sah deshalb nicht, wie empört Herta war.
„Dass du mal heiratest, ich auch und die Hildegard und Ilse
und unser Schneiderlehrling, ist ja sehr wahrscheinlich, wo es
für Mädchen unserer Generation vermutlich genug Männer
gibt. Aber das ist doch kein Grund dafür, dir nicht das Gleiche
zukommen zu lassen wie deinen Brüdern. Die Luise, mit der
hätten sie das nicht machen können!”
Herta schlug sich auf den Mund, aber auch das sah Helga
nicht. Diesmal presste sie beide Hände auf die Lippen, schüttelte sich und sagte dann so laut, dass sich einige Passanten
umdrehten, der Satz sei ihr nur so herausgerutscht.
„Helleken, bitte bitte, sei mir nicht böse, ich bin eine gedankenlose dumme Kuh. Manchmal höre ich ja so hier und da, was
du machst, aber wenn man sich so selten sieht … Auf jeden
Fall wäre es nicht schlecht gewesen, wenn du im Frühjahr, ich
meine, als du in der Schule so viel um die Ohren hattest, einmal
mit zum BdM gekommen wärest.”
Herta blieb stehen und baute sich vor Helga auf.
„Meine Mutter war ja zuerst auch nicht dafür, und Franz …
Du kannst dir kaum vorstellen, wie er dagegen wettert. Aber
der Lehrling, den Fräulein Merten voriges Jahr zu Ostern eingestellt hat, war ganz begeistert davon. Weißt du, wenn sie von
einer Fahrt zurückgekehrt sind, hat sie in der Nähstube davon
geschwärmt – Lagerfeuer, Lieder zu Gitarrenbegleitung und
eben alles gar nicht teuer. Die Heimabende gefallen ihr wohl
weniger, mir ehrlich gesagt auch nicht so, weil man doch stark
spürt, dass man da von etwas überzeugt werden soll. Franz
nennt das ,Indoktrinierung’, wenn du verstehst, was das bedeutet.”
Helga nickte, schwieg aber.
„Wir sind ja eigentlich auch schon zu alt für den BDM”,
fuhr Herta fort, „mit achtzehn … ja, mit achtzehn gehört man
nirgends mehr richtig hin, ist kein Mädel mehr und noch keine
Frau; in der NS-Frauenschaft nehmen sie einen erst, wenn man
volljährig ist.”
Sie hakte sich wieder bei Helga unter, und gemeinsam zogen sie an den hell erleuchteten Schaufenstern vorbei, ohne
auch nur einen Blick hineinzuwerfen.
„Wie gesagt, Politik interessiert mich nicht so, und bei den
Heimabenden habe ich meist weggehört. Aber was mir gefallen hat, das kannst du gewiss verstehen: Man ist von zu Hause
fort, keine Mutter nörgelt an einem herum, weil man zum Beispiel zu viel Lippenstift aufgetragen hat.”
„Ich dachte, Lippenstift und Wimperntusche seien verpönt;
da gibt es doch einen Satz wie Ein deutsches Mädel schminkt
sich nicht, oder?”
Herta lachte.
„Stimmt schon! Ich hab ein schlechtes Beispiel gewählt,
was aber nichts daran ändert, dass ich mich im BdM wirklich
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freier fühle. Sonst schreibt dir doch immer jemand vor, was du
tun und lassen sollst – sagen wir mal: nicht zu lange aufbleiben,
weil man in der Schule oder am Arbeitsplatz sonst nicht sein
Bestes leisten kann. Natürlich gibt es beim BdM auch Mädelschaftsführerinnen und wie sie sonst noch alle heißen; doch
habe ich das nie als störend empfunden. Man ist mit Mädchen
seines Alters zusammen. Deswegen meinte ich ja, du hättest
einmal mitkommen sollen, weil man da richtig sein Herz ausschütten kann, vor allem bei Wochenendveranstaltungen, wo
man nachts so lange reden darf, wie man will, jedenfalls, wenn
man niemanden damit am Einschlafen hindert.”
Helgas Stimme klang auf einmal um so vieles fröhlicher,
dass Herta erneut stehen blieb und sie anschaute.
„Im Luisenhof – so heißt die Landfrauenschule, in die meine Eltern mich geschickt haben – tun wir das auch. Deshalb
empfinde ich es jetzt auch nicht mehr als so schlimm wie ganz
zu Anfang, das Abitur nicht abzulegen und nicht mehr mit Hildegard in eine Klasse zu gehen. Darunter habe ich am allermeisten gelitten, um ehrlich zu sein. Die Mädchen dort sind
wirklich nett, und mit einigen habe ich mich richtig angefreundet.”
Während sie sprach, kramte sie in ihrer Schultertasche herum, zog schließlich ein Foto heraus und trat unter eine Straßenlaterne.
„Erkennen wirst du nicht besonders viel, nicht einmal im
Lichtkegel. Aber sieh mal, dies ist Brigitte von Albertyll; neben
ihr stehen Carla, Lilo, Anneliese und Gaby.”
Herta hob die Aufnahme näher an ihre Augen.
„Tragt ihr da so eine Art Uniform? Und sogar Kopftücher?”
„Ja, natürlich. Die Kleider werden von einer Firma in Schlesien angefertigt, und jede Maid muss sie bei der Arbeit anlegen; aber ich finde, dass sie ganz passabel aussehen, blau-weiß
gestreift, längs, das macht schlanker. Kopftücher, das kennst
du ja von deiner Mutter: Hygienevorschriften müssen wir natürlich auch einhalten, nicht nur beim Kochen – das berühmte
Haar in der Suppe … Nachmittags zum Unterricht und an Festtagen holen wir die hellblaue mit weißem Einknöpfkragen und
Manschetten aus dem Schrank – die würde selbst dir gefallen,
glaube ich. Eine Schürze gehört übrigens auch dazu, das heißt,
wir haben sogar mehrere verschiedene, je nach der Tätigkeit,
die wir gerade verrichten, im Garten oder …”
Herta lachte.
„Schürzen haben sie beim BdM noch nicht eingeführt, Uniformen freilich schon. Das hat mich anfangs gestört, muss ich
zugeben, wo ich doch als Schneidergesellin jede Kundin nach
ihrem Typ kleide, aber hässlich sind sie eigentlich nicht. Wie
gesagt, mit achtzehn ist Schluss, aber ich denke mal, dass ich
mich mit einigen Mädchen aus meiner Gruppe weiterhin treffen werde.”
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Herta hatte es endlich fertig gebracht, mit ihren behandschuhten Fingern einen Ärmel hoch zu streifen und einen Blick
auf ihre Armbanduhr zu werfen.
„Entschuldige”, rief sie, umarmte Helga rasch, aber sehr
herzlich und meinte, es sei schön, dass sie sich so unerwartet
auf dem Weihnachtsmarkt getroffen hätten, doch jetzt müsse sie dringend zurück ins Modeatelier, und Ilse trete sicher
auch schon ungeduldig auf der Stelle. „Wir sehen uns, nehme
ich einmal an, ja sowieso bei Franzens Hochzeit in der Kirche, oder bist du da schon nicht mehr in Eckesey? Vorher wird
sich’s nicht mehr einrichten lassen. Ich nähe ja Elses Brautkleid, allerdings in meiner Freizeit; das bin ich meinem Bruderherz doch schuldig.”
Sie wandte sich zum Gehen, besann sich jedoch und schlug
Helga vor, sie bis zu Fräulein Merten zu begleiten; bis zu dem
Treffen mit Ilse bleibe ihr ja noch fast eine halbe Stunde. Als
Helga zustimmte, zog Herta sie am Arm und kicherte.
„Das hast du natürlich nicht mitbekommen, aber in in der
Westfälischen Landeszeitung haben sie geschrieben, dass in
diesem Jahr allein zu Weihnachten zwanzigtausend Paare heiraten, alle doch wohl wegen dieser Ehestandsdarlehen. Stell
dir vor: Mit jedem Kind, das sie dem Staat schenken, ermäßigt
sich die Summe, die sie zurückzahlen müssen. Da verlob ich
mich doch auch gleich, mit dem großen Bruder von Ernst August Albers zum Beispiel – erinnerst du dich an den furchtbaren Knaben aus der Volksschule? Der Johann ist ja inzwischen
längst Vorarbeiter bei Plates und bringt ganz schön was nach
Hause. Dabei fällt mir ein …”
Herta zögerte, sprach dann aber doch weiter.
„Am besten frage ich einmal gerade heraus: Schreibt ihr
euch noch, der Fritz und du?”
„Ja”, – Helga schluckte –, „allerdings nicht mehr so oft wie
zu Anfang. Es ist ja schneller gegangen, als er gehofft hatte,
und Mitte Januar, aber das hat dir bestimmt jemand erzählt,
ist er dann von Cherbourg nach New York gefahren, auf der
Europa. Zuerst hat er mir jede Woche einen Brief geschickt,
und es klang auch so, als wolle er nach ein, zwei Jahren wieder
nach Deutschland zurückkehren. Aber dann passierten all diese
Dinge im April, eigentlich Ende März schon, der Boykott der
jüdischen Geschäfte, Plakate überall, die Aufmärsche der SA
mit diesen Uniformen …”
„Scheußlich, nicht wahr? Es mag ja sein, dass unser Führer
die Wirtschaft wieder in Schwung bringt und dieser furchtbaren Arbeitslosigkeit Herr wird mit seinen Autobahnen und was
er sonst noch alles plant. Aber diese braunen Uniformen, die
verletzen doch mein Auge jedesmal. Übrigens – das mit dem
Boykott war ja wohl ein Schlag ins Wasser, jedenfalls hier in
Hagen. Meine Mutter ist extra zu Issers gegangen, wo sie sonst
nie einkauft, und im Lager haben sie sich abgesprochen, sind
alle zu Löwensteins und zu Meyers marschiert, um sich da
die Frühjahrsmode anzuschauen. So voll, sagte meine Mutter
hinterher, sei es da sonst selten gewesen, obwohl da jemand
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am Ausgang stand und die Kunden fotografierte, um sie einzuschüchtern. In der Zeitung nannten sie das dann ,Trotzkäufe’!“
Herta redete ununterbrochen, offensichtlich erleichtert, dass
ihre ehemalige Klassenkameradin ohne langes Hin und Her erzählt hatte, was ihr Kummer bereitete.
Jetzt lächelte Helga sogar.
„Bei einigen Geschäften haben sich die Nationalsozialisten
tüchtig geirrt. Sie hatten sich wohl nicht genau erkundigt und
einen Fritz Berg mit einem anderen verwechselt”, fuhr Herta
fort, und ausnahmsweise fiel ihr diesmal Helga ins Wort.
„Das hat mein Vater in einem seiner Briefe erwähnt. Sogar
den alten Apotheker Berg, dem unsere Firma so viel verdankt
… er hat meinen Vater vor zig Jahren darauf hingewiesen, dass
außer Zucker, Lakritz und ein paar anderen Zutaten unbedingt
Kondensmilch in das Hustenkaubonbonrezept gehört, damit
die Masse geschmeidig bleibt, – selbst dem wollten sie ans Leder! Auch bei Leuten namens Meyer, mit i oder y, ist so einiges
schief gelaufen. Früher hat sich doch niemand, also jedenfalls
kaum jemand, darum geschert, ob jemand Jude oder Christ
war. Da ging es ja viel häufiger um katholisch und evangelisch, erinnerst du dich noch? Fritz …”, – sie senkte den Kopf
kurz, sprach dann aber rasch weiter–, „Fritz hat mir geschrieben, dass diese Boykottaktion überall im Ausland, nicht nur in
Amerika, schlecht aufgenommen wurde, also dass sich viele
Geschäftsleute dort überlegten, ob sie weiterhin Beziehungen
zu Deutschland aufrecht erhalten sollten. Aber seltsam war die
Geschichte schon, ich meine, dass jüdische Vereine wie dieser Frontkämpferbund zum Beispiel sich öffentlich gegen eine
Einmischung des Auslands aussprachen; den Artikel aus der
Hagener Zeitung hat mein Vater mir im April neben den Frühstücksteller gelegt.”
Beide Mädchen legten schweigend ein paar Schritte zurück.
„Was hätten sie denn tun sollen?”, meinte Herta dann. „Sie
sind doch Deutsche, sie wohnen und arbeiten hier seit ewigen
Zeiten. Hätten sie sich wehren sollen? Das wäre nie und nimmer ohne Gewaltanwendung abgegangen. Diese SA-Männer
jagen sogar mir Angst ein; ich gehe ihnen sorgsam aus dem
Weg, wenn sie einen über den Durst getrunken haben.”
Helga nickte.
„Idas Bruder Erich ist bei der SA. Er zählt zu den allerersten
Mitgliedern der NSDAP, und das hat ihm beruflich sogar geschadet, ganz zu Anfang, als sie zwischendurch mal verboten
war, hat Ida mir erzählt. Jetzt steht er natürlich fein da mit seinem Parteibuch. Aber er gehört bestimmt nicht zu denen, die
auf der Straße herumgröhlen. Vielleicht hat das damit etwas
zu tun, dass sein Großvater noch lebt, der alte Bauer Effenkamp. Der hat seine Augen und Ohren einfach überall … und
außerdem eine Nase dafür, was sich am politischen Horizont
so abzeichnet.”
„Ist das dieser uralte Mann mit der Pfeife und dem immer
sauber gebürsteten Anzug, der öfters mal mit Päulchen zusammen die Ida abholt, in einer richtigen Kutsche?”
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„Ja. Niemand wusste, was aus Päulchen werden sollte”, erwiderte Helga. „Die Eltern von Fräulein Lange, Paule Beckmanns erster Frau, sind beide tot, der Vater im Krieg gefallen am
Chemin des Dames, die Mutter an einer Lungenentzündung gestorben”, – sie hielt kurz inne und putzte sich die Nase –, „dann
sein Vater letztes Jahr nach dem Brand vom Alten Fritz … Das
habe ich übrigens aus nächster Nähe mitbekommen. Zuerst
dachten sie ja, also die Ärzte im Sankt-Josefs-Hospital, es sei
nur das Bein abgequetscht worden von dem Balken, aber dann
haben sie doch gemerkt, dass er verblutete. Er musste irgend
eine innere Verletzung erlitten haben, und wenig später starb er.
Du kennst ja unsere Ida und hast auf der Beerdigung gesehen,
wie gefasst sie wirkte. Aber das stimmt alles nicht, der Schein
trügt. Ich glaube, sie hätte sich umgebracht, wenn das Päulchen
nicht gewesen wäre.”
Herta streifte Helgas Gesicht mit einem Blick und sagte
dann zögernd, Paule sei sozusagen ihre letzte Chance gewesen, habe ihre Mutter gemeint, und Päulchen gebe ihrem Leben
jetzt einen Sinn.
„Die Frauen aus der Generation”, fügte sie abschließend
hinzu, „haben wirklich Pech; denk nur an Fräulein Dahm. Die
wenigsten bekommen einen Mann ab, weil sie alle gefallen
sind in diesem blödsinnigen Krieg.”
Helga legte einen Finger auf den Mund.
„Pst! Es wird ja häufig vom ,Versailler Schandfrieden’ geredet, aber an die Frontkämpfer rühr doch besser nicht. Viele von
ihnen, einmal abgesehen von meinem Vater und Onkel …”,
– sie hielt inne –, „Herrn Blankenstein, glauben doch immer
noch felsenfest daran …”
„Auweh”, meinte Herta plötzlich und wies auf den Eingang
des Hauses in der Kampstraße, durch den Helga in Begleitung
ihrer Mutter schon oft zu Fräulein Merten in die erste Etage
gestiegen war. „Da kommt unser Lehrmädchen, und so wie sie
mich anstiert, spute ich mich doch besser ganz gewaltig. Überstunden, vermute ich. Bis bald, ja?”, rief sie und winkte noch
einmal.
Helga sah ihr nach, wie sie in ihrem elegant geschnittenen
dunkelblauen Mantel und dem flotten Hütchen – ein anderer
Ausdruck passte kaum – im Hausflur verschwand und fragte
sich, wie es wohl käme, dass alle ihre ehemaligen Klassenkameradinnen um so vieles besser zu wissen schienen als sie selber, wie ihr Leben weiterzugehen hatte.
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Ilse wartete keinesfalls auf sie, im Gegenteil. Als Helga
zehn Minuten lang vor dem Haupteingang des Stadttheaters
von einem Fuß auf den anderen getreten war, begann es leicht
zu schneien, und bei einem Blick auf ihre Armbanduhr stellte
sie fest, dass sie zu früh gekommen war. Von vier Uhr hatte Ilse
gesprochen und noch hinzugefügt, dann müsse sie sich auch
noch umkleiden. Also machte Helga sich auf die Suche nach
dem Hintereingang und erkundigte sich höflich bei dem Portier, der ihr über seinen Brillenrand hinweg aus einer Kabine
heraus ziemlich mürrisch entgegenblickte, ob schon die eine
oder andere der Tänzerinnen das Gebäude verlassen hätte.
Der Mann schüttelte den Kopf und machte eine Handbewegung die Treppe hinauf.
„Na, nun kommen Sie erst mal rein, Sie sehen ja jetzt schon
aus wie ein Schneemann. Mit wem sind Sie denn verabredet?
So ein bisschen kon-trollieren muss ich schon – dafür werde
ich schließlich bezahlt, verstehen Sie?”
„Mit Ilse Fandrey”, erwiderte Helga und schüttelte die Flocken von ihrem Mantel.
„So, mit der Ilse. Wird noch fünf bis zehn Minuten dauern.
Dann gehen Sie mal den Gang entlang, immer geradeaus.”
Helga meinte zuerst, nicht richtig gehört zu haben, aber
der Pförtner lächelte ihr jetzt erstaunlicherweise zu, und so
machte sie ein paar große, leise Schritte in die Richtung, wo
der Übungssaal liegen musste. Ilse hatte ihr oft davon erzählt:
von den Spiegeln, die bis zur Decke reichten, den Stangen, die
sich manchmal aus den Fassungen lösten, dem Holzboden, der
ständig gespänt und gewachst wurde, von der Pianistin, deren
Namen Helga schon irgendwo gehört hatte, Fräulein Bröker
hieß sie und hatte einen ganz krummen Rücken; vor allem aber
von der Ballettmeisterin – als Maître de Ballet pflegte Ilse sie
zu bezeichnen und manchmal, wenn sie sich trotz der Einlagen
die Zehen in den Spitzenschuhen wund gescheuert hatte, auch
als Dragoner.
Hinter einer Tür klatschte jemand energisch in die Hände,
die Musik setzte ein, wurde unmittelbar darauf durch erneutes
Klatschen unterbrochen, und eine scharfe, tiefe Stimme rief,
die Damen möchten doch endlich alle gleichzeitig den gleichen
Arm im gleichen Winkel hoch heben. Sie wisse wirklich nicht,
wie bis zur Aufführung in zwei Tagen aus diesem chaotischen
Haufen ein richtiges Corps de Ballet werden solle.
Helga hätte furchtbar gern einen Blick auf das geworfen,
was sie durch die geschlossene Tür miterlebte, aber es fiel nicht
einmal Licht heraus. Das Klavier war wieder zu vernehmen,
diesmal nur durch diese französischen Anweisungen unterbrochen, nicht viele allerdings, und etwas später ertönte erneut das
jetzt schon vertraute Händeklatschen. Warum nicht gleich so,
hörte sie, genug für heute, morgen früh noch einmal, neun Uhr
und keine Minute später. Dann raschelte es auf der anderen
Seite, und plötzlich wurde die Tür mit Schwung geöffnet.
„Ach, hat Meier mal wieder Mitleid gehabt”, sagte die Frau
mit der scharfen, tiefen Stimme, musterte Helga von oben bis
unten und fügte hinzu, das Betreten der Saales mit Straßenschuhen und noch dazu einem feuchten Mantel sei strengstens
untersagt, und verschwand im Halbdunkel.
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Als Ilse in Strümpfen auf den Gang trat, hatte Helga sich
bereits wieder ein wenig gefangen.
„Dabei war das heute einer von ihren besseren Tagen”,
meinte Ilse, als sie den Ausgang erreichten, und winkte dem
Pförtner zu. „Es hat fast perfekt geklappt; nur kann sie das aus
irgendeinem Grund nicht zugeben. Vielleicht meint sie, wir
würden uns sonst in Sicherheit wiegen und uns nicht mehr anstrengen.”
Ilse zog die rote, sichtlich selbstgestrickte Wollmütze, die
sie in der Hand getragen hatte, tief über die Ohren und seufzte.
„Aber man lernt was bei ihr. Ich meine, so ziemlich alles,
was ich kann, hat sie mir beigebracht, und ich vermute einmal,
dass sie mir sehr fehlen wird.”
Helga blieb zunächst stehen und versuchte Ordnung in
ihre Gedanken zu bringen; irgendetwas an Ilses letztem Satz
erschien ihr seltsam. Aber da meinte Ilse auch schon, es sei
wirklich sehr lieb von Helga, sich Zeit für sie zu nehmen, wo
sie doch erst gestern eingetroffen und von der langen Zugfahrt
gewiss noch müde sei, einmal abgesehen von dem Vorweihnachtstrubel überall und der Tatsache, dass sie ja wohl auch
ihren Geburtstag vorzubereiten hätte. Helga war so überrascht
von Ilses ungewöhnlicher Redseligkeit, dass sie zunächst einfach zuhörte. Schließlich meinte sie, ihr Geld reiche mit Sicherheit noch für eine Tasse heiße Schokolade und ein Stück
Christstollen oder ihrethalben auch einen Mohrenkopf bei
Café Tigges; Ilse habe sie doch wohl nicht gebeten, sie abzuholen, um ein Loblied auf den sogenannten Dragoner zu singen.
Er oder besser sie erinnere sie übrigens an eine ihrer Lehrerinnen im Luisenhof, Fräulein van Semmern, die ebenso bärbeißig wirke und bei der man auch sehr viel lerne. Ilse schaute sie
von der Seite so an, als ob sie eine Frage dazu stellen wollte,
schluckte und warf den Kopf nach hinten.
„Du hast also wirklich Zeit für mich?”
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Das Café war gut geheizt. Die Tische füllten sich rasch mit
Frauen, an deren Taschen und Häkelnetzen zu ersehen war,
dass sie einen Bummel über den Weihnachtsmarkt in der Elberfelder Straße gemacht hatten. Es duftete nach Kaffee und
auch ein wenig nach Zimt und Nelken. Ilse rieb sich die Hände,
nachdem sie ihren Mantel an einen Garderobenhaken gehängt
hatte. Er war bei weitem nicht so dick wie Helgas und an den
Taschen deutlich abgeschabt.
„Das ist nämlich so”, meinte sie, nachdem die Serviererin, die mit ihrem weißen Spitzenhäubchen so aussah wie das
Dienstmädchen von Meyers, den Kakao, ein Stück Stollen und
den Mohrenkopf für Ilse vor ihnen abgestellt hatte. „Meine
Mutter wird wieder heiraten.”
Helga fiel nichts ein, was sie hätte sagen können, außer der
Bemerkung, dass ihr Bruder Karl auch gerade eine Ehe eingegangen sei, mit der von ihren Eltern nach wie vor nicht so
recht akzeptierten Sophie, aber sie schwieg und blickte Ilse nur
erwartungsvoll an.
„Sie wird meinen sogenannten Onkel heiraten, den, der mir
den Tanzkurs bezahlt hat.”
Ilse hob die Tasse mit der heißen Schokolade mit beiden
Händen zum Mund, trank aber nicht.
„Eigentlich sollte ich mich ja freuen, meinst du vielleicht,
dass meine Mutter mich nicht mehr mit ihrer Liebe erdrückt.
Ja. Aber ihr zukünftiger Mann …”, – Helga schaute jetzt aufmerksam zu ihr hinüber –, „ihr zukünftiger Mann scheint nicht
so genau zu wissen, wen er mit seiner Liebe erdrücken soll.”
In Helgas Kopf ging schon wieder alles durcheinander. Sie
hatte durchaus verstanden, glaubte jedenfalls verstanden zu haben, was Ilse meinte, obwohl sie sich dagegen wehrte, und sie
suchte hilflos nach einer Formulierung, um sich Gewissheit zu
verschaffen.
„Ist er …”, – plötzlich fiel ihr einer von den Ausdrücken
ein, die Fritz manchmal benutzt hatte –, „ist er dir etwa zu nahe
getreten?”
Ilse nickte nur und fügte keine weiteren Erklärungen hinzu.
„Deshalb”, fuhr sie fort, „nachdem sie nun doch einen
Schluck Kakao getrunken hatte, „möchte ich dich um etwas
bitten. Du bist die Einzige, die mir da helfen kann. Also, ich
habe nach Köln geschrieben, an die Oper dort, und mich um
eine Stelle im Corps de Ballet beworben. Die neue Regierung
scheint ja etwas für Kultur übrig zu haben, und einige Tänzerinnen scheiden wohl aus. Auf jeden Fall haben sie mich zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen, nur – ich bin so furchtbar knapp bei Kasse, und meine Mutter wäre doch wohl die
letzte Person, die ich um das Fahrgeld bitten könnte. Helga,
sei so lieb und schieß es mir vor. Ich zahl’s dir bestimmt zurück, sobald ich kann. Wenn’s was wird, brauche ich natürlich
ein Zimmer, und wovon ich meinen Lebensunterhalt bestreiten
soll … Ich meine, ein Gehalt zahlen sie schon, aber Sprünge,
geschweige denn große, kann man damit bestimmt nicht machen.”
„Natürlich gebe ich dir das Geld”, sagte Helga, als sie ihre
Sprache wiedergefunden hatte. „Ich habe zwar so einiges ausgegeben für Weihnachtsgeschenke, aber für eine Rückfahrkarte nach Köln wird’s reichen.”
Während Ilse zunächst auf ihren Teller starrte und dann ihr
Gegenüber doch anzusehen beschloss, zerpflückte Helga den
Stollen.
„Warum wollen sie denn jetzt auf einmal heiraten?”, fragte sie schließlich mit belegter Stimme. „Sie leben doch schon
mehrere Jahre zusammen, selbst, wenn dein … dein Onkel
nicht bei euch wohnt. Etwa auch wegen dieses Ehestandsdarlehens?”
Ilse strich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Der Mann, den ich auf dringenden Wunsch meiner Mutter
Onkel nenne, hat vor, sich selbständig zu machen, weil es jetzt
wirtschaftlich wohl wieder aufwärts gehen soll – das hast du
bestimmt mitbekommen, dieses Gesetz zum Schutz des Einzelhandels. Er will bei Löwensteins kündigen und ein kleines Herrengeschäft eröffnen, Krawatten, Oberhemden, Socken und so
weiter. Einen leer stehenden Laden hat er schon gefunden, an
der Eckeseyer Straße, wo bis vor Kurzem das Schuhgeschäft
untergebracht war, dessen Besitzer nach Holland ausgewandert
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sind, wegen des Boykotts im April; weißt du, wen ich meine?
Spielt ja eigentlich auch keine Rolle. Auf jeden Fall kann meine Mutter abends die Buchführung für ihn erledigen, und hinzu
kommt noch, dass …” – Ilse hielt kurz inne –, „dass es ihnen
nahe gelegt worden ist, ihre Beziehung offiziell zu machen; so
haben die Leute von der Partei das genannt.”
„Ist deine Mutter denn Mitglied?”
„Nein, aber mein Onkel.”
Die Mädchen leerten beide gemeinsam ihre Tassen, Helga
winkte die Servierin herbei und reichte Ilse, nachdem sie bezahlt hatte, rasch einen Geldschein. Während sie in ihre Mäntel
schlüpften, fiel Helga offensichtlich etwas ein, aber sie begann
erst zu sprechen, als sie wieder draußen auf der Straße standen,
wo inzwischen die Glühbirnen in den Tannengirlanden angezündet worden waren.
„Der Weihnachtsbaum”, las Helga halblaut von einem
Transparent ab, „ist das Sinnbild für die nicht zu zerstörende
Lebenskraft des deutschen Volkes. So richtig dunkel wird es bei
dem Schnee gar nicht”, meinte sie dann und schob ihren Arm
durch Ilses. „Aber sag einmal: Gesetzt, es klappt mit der Stelle
in Köln. Du bist doch noch nicht volljährig und kannst gar keinen Mietvertrag unterzeichnen.”
„Ich gehe einmal davon aus”, erwiderte Ilse, „dass es meiner Mutter ganz recht sein wird, wenn ich ausziehe, bevor mein
lieber Onkel einzieht, es sei denn, sie wäre inzwischen erblindet.”
Helga fuhr zusammen; so hatte Ilses Stimme noch nie geklungen. Aber sie dachte, damit sei auch wirklich alles gesagt.
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„Kann ich euch mitnehmen?”, hörte sie, wandte sich um
und blickte in Fräulein Dahms freundliches Gesicht; sie hatte
gar nicht bemerkt, dass ein Wagen neben ihnen angehalten hatte. Seltsamerweise ging ihr der Gedanke durch den Kopf, im
Gegensatz zu allen anderen Leuten habe ihre Prokuristin keine
rot gefrorene Nase.
„Nein danke, ich muss noch etwas erledigen”, meinte Ilse
und warf Helga einen Blick zu. „Ich schaue morgen Abend
kurz bei euch vorbei, ja, und bringe dir … Du bekommst natürlich eine Freikarte für unsere Galavorstellung zu Sylvester.”
Dabei legte sie wie zufällig den Finger auf die Lippen, aber
das war Fräulein Dahm gewiss nicht aufgefallen, denn kaum
hatte Helga auf dem Beifahrersitz Platz genommen, als sie
auch schon mit dem heraussprudelte, was sie beschäftigte. Dabei blickte sie geradeaus, selbst wenn sie eifrig mit einer Hand
gestikulierte, und bediente sowohl die Kupplung als auch die
Gangschaltung sehr viel sanfter als Karl.
„Das war doch wieder einmal eine richtige Entscheidung
deines Vaters, jemanden hinzuschicken und diesen Herren vom
Amt für Leibesübungen darzulegen, was da abläuft”, stieß sie
hervor.
Helga schaute Fräulein Dahm von der Seite an und fand,
dass sie ausgesprochen elegant aussah mit ihrer Persianermüt-
ze und dem dazu passenden Kragen auf dem bordeauxfarbenen
Mantel, obwohl sie, wie Karl ihr bei seiner Hochzeit ins Ohr
geflüstert hatte, nicht weit von der Quadratur des Kreises entfernt war, so rund wie hoch nämlich.
„Oder bist du da nicht auf dem Laufenden?”
Fräulein Dahm hatte nicht bemerkt, wie schweigsam Helga
war.
„Zugegeben, du bist erst gestern aus der Neumark angereist,
aber es hätte ja sein können, dass dein Vater oder Karl die Geschichte in einem Brief …”
Sie schimpfte kurz über einen Fahrer, der offensichtlich
nicht vorschriftsmäßig abgebogen war, lieferte dann aber eine
ausführliche Erklärung, ohne den Blick von der Straße zu wenden.
„Im Sommer war uns bei einer Besprechung die Idee gekommen, doch einmal an den Bürgermeister zu schreiben und
ihm vorzuschlagen, uns das Alleinverkaufsrecht für Süßigkeiten bei all den öffentlichen Veranstaltungen zu überlassen,
die in letzter Zeit anberaumt werden, also seitdem der neue
Reichskanzler die Geschäfte der Nation übernommen hat. Es
tut sich ja wirklich viel mehr als früher! Da finden nicht nur die
Schützenfeste und die sportlichen Wettkämpfe statt, die Kirmes und dieser Großflugtag auf Emst nicht zu vergessen, sondern auch Versammlungen, an denen ganz Hagen teilnimmt,
und was das Wichtigste dabei ist: Man spürt auf einmal die
leitende Hand, ich meine, von der Organisation her klappt alles
ta-del-los. Den Einfall mit dem Alleinverkaufsrecht hatte aber
auch die Firma Grüne, so ziemlich gleichzeitig mit uns, und dir
darf ich’s ja sagen – wir hatten den Eindruck, die von der Stadtverwaltung, genauer: vom Amt für Leibesübungen, in deren
Zuständigkeitsbereich die Stadien liegen, spielten uns gegeneinander aus. Anfangs haben wir Briefe geschrieben, sehr höflich, so richtig mit ,der ergebenst unterzeichnete’ und ,vorzüglicher Hochachtung’; unser erstes Angebot ging in Richtung
einer prozentualen Beteiligung – 15% des Erlöses sollten in
die Stadtkasse fließen. Aber dumm sind die Beamten da nicht,
das muss man ihnen lassen. Irgendein ganz Schlauer hatte sich
wohl ausgerechnet, dass der Umsatz nicht so berauschend sein
könnte, bei all den Arbeitslosen – die bringen sich eher was
von zu Hause mit, nicht wahr?”
Fräulein Dahm hielt an einer Kreuzung und warf einen
Blick zu Helga hinüber.
„Die Firma Grüne hingegen schlug eine Pauschale vor, 60
Reichsmark, und das wurde uns zunächst einmal mitgeteilt. Da
unser Betrieb bedeutend größer ist als der von Grünes, wollten
sie uns wahrscheinlich von Anfang an den Zuschlag erteilen,
aber möglichst viel dabei herausspringen sollte für sie doch
auch. Langer Rede kurzer Sinn: So ist es auch gekommen. Ich
bin allerdings heute dort einmal vorstellig geworden und habe
darum gebeten, dass man die Pauschale für das nächste Jahr
nur um die Hälfte des Betrags erhöht, den sie Anfang Dezember genannt haben.”
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Ein breites Grinsen überzog ihr Gesicht.
„Hat geklappt, Helleken. Die dicke Dahm kriegt so etwas
zustande. Und die Tüte mit den Bonbons, Weihnachtsmischung, haben sie hinterher dankend entgegen genommen, mit
der Betonung auf hin-ter-her, als wir den Vertrag unter Dach
und Fach gebracht hatten. Ganz im Vertrauen gesagt”, fügte
sie noch hinzu, „rechnerisch lohnt sich die Sache bislang nicht,
aber als Reklame ist sie nicht zu unterschätzen.”
Kurz vor der Geitebrücke ging es plötzlich nicht weiter. Der
Schnee fiel in großen weichen Flocken, die jedoch nur am Straßenrand liegen blieben. Fräulein Dahm brummte etwas vor sich
hin von Schipkapass, drehte sich halb zu Helga und meinte,
unübersehbar nervös, so heiße die Brücke halt im Volksmund,
nach einem Balkan-Pass von großer strategischer Bedeutung
im russisch-türkischen Krieg so um 1870-80 herum. „Nach
Eckesey führt ja auch kein anderer …”, setzte sie noch hinzu,
ließ den Satz aber in der Luft hängen, warf einen Blick auf die
Uhr und kurbelte die Scheibe auf ihrer Seite herunter. Irgendwo weiter vorn, vermutete sie, musste ein Fahrzeug sich quer
gestellt haben. Von der Brücke her war ein sehr kräftiges HauRuck zu vernehmen, dann lachten Männer- und Frauenstimmen irgendwo im Halbdunkel, und die Wagenschlange setzte
sich wieder in Bewegung. Fräulein Dahm atmete erleichtert auf
und erkundigte nach einem weiteren Blick auf die Uhr ziem-
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lich vergnügt, wie es Helga denn in dieser Landfrauenschule
gefalle und was sie inzwischen schon alles gelernt hätte.
„Ich war ja immer der Meinung, solide Kenntnisse in Buchführung, Stenografie und Schreibmaschineschreiben könnten
einer jungen Frau von heute nicht schaden; die Fächer stehen
dort aber nicht auf dem Lehrplan, oder? Als ich hörte, dass ihr
Unterricht in Waschen und Bügeln erhaltet, fand ich das schon
ein wenig eigenartig – so etwas und auch Kochen und Backen,
das bringt einem doch die eigene Mutter zu Hause bei. Dafür
braucht man sich nicht ans andere Ende des Deutschen Reiches
zu begeben und Schulgeld zu bezahlen. Schneidern und Handarbeit, meinethalben auch Garten- und Gemüsebau will ich mir
gefallen lassen – ich sehe heute noch deine Mutter vor mir, wie
sie im Weltkrieg, du warst ein ganz winziges Ding damals, fast
alle Blumenbeete bis auf eins mit Rosen darauf umgegraben
und Kohl, Möhren und vor allem Kartoffeln angebaut hat, weil
es einfach nichts mehr zu kaufen gab. Aber Imkerei? Geflügelhaltung? Schweineaufzucht? Molkerei? Als mir der Prospekt von dieser Landfrauenschule rein zufällig, wirklich rein
zufällig in die Hände geriet, habe ich nur den Kopf geschüttelt.
Gutsbesitzerstöchter aus Ostpreußen können so etwas vielleicht
brauchen, aber auch nur vielleicht, weil sie doch mit größter
Wahrscheinlichkeit über Dienstleute in Hülle und Fülle verfügen und selber keinen Finger rühren. Aber du, Helga Schulte
aus Hagen-Eckesey, aufgewachsen in einer Bonbonfabrik, was
willst du mit solchen Kenntnissen anfangen?”
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Helga wusste nicht so recht, was sie erwidern sollte. Als
ihre Mutter ihr im Frühjahr, nicht lange nach dem Eingang
des Blauen Briefes, mitgeteilt hatte, die Töchter mehrerer befreundeter Fabrikanten hätten ein sogenanntes Maidenjahr im
schlesischen Gnadenfrei oder in Wöltingerode verbracht und
seien begeistert zurückgekehrt, hatte sie zunächst ähnliche Einwände erhoben wie jetzt Fräulein Dahm. Aber dann war Ostern
immer näher gerückt, und sie hatte sich vor die Entscheidung
gestellt gesehen, in die Frauenoberschule überzuwechseln oder
abzugehen. Den Ausschlag hatten schließlich ein Gespräch mit
Hildegard und eine Bemerkung von Luise gegeben: Ihre beste
Freundin würde zwar versetzt werden, sich jedoch immer mehr
ihrer Ausbildung in der Musikschule widmen; und Luise hatte
ihr kurz und knapp erklärt, sie, Helle, ,müsse hier mal raus’.
In die Stille hinein erwiderte Helga, man wisse nie, wozu
es gut sein könne, gelernt zu haben, Speisen notfalls auch fast
ohne jeden Fettzusatz schmackhaft zuzubereiten, und außerdem stünden alle möglichen theoretischen Fächer auf ihrem
Stundenplan, Pflanzenkunde, Physik, Chemie, Bürgerkunde,
Gesundheitspflege und sogar die von ihr, Tante Dahm, so hoch
gepriesene Buchführung.
„Übrigens bin ich bei weitem nicht die einzige Maid, die
aus einem Fabrikantenhaushalt stammt. Der Vater von Carla
zum Beispiel stellt Fahrräder her, der von Anneliese Liköre.
Nur der meiner Zimmerkameradin Brigitte von Albertyll besitzt ein Gut in der Mark Brandenburg.”
„So, so, alter preußischer Landadel”, murmelte Fräulein
Dahm, verstummte nun doch und widmete ihre ganze Aufmerksamkeit dem Verkehr und meinte nur noch, wegen des
Staus vorhin auf der Geitebrücke sei sie ziemlich spät dran.
Deshalb solle Helga jetzt rasch nach oben springen. Sie selber
müsse dem Chef noch rasch vom Erfolg ihrer Mission berichten; vermutlich erwarte er sie mit Herrn Behr im Kontor. Dabei
blickte sie nach vorn durch die Windschutzscheibe und winkte
Helga noch einmal zu, so, als sei sie mit ihren Gedanken längst
anderswo.
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Helga zog den Schlüssel aus der Tasche und schob die Tür
auf.
Sie fühlte sich entsetzlich allein.
Ihre Mutter, das wusste sie genau, konnte noch nicht aus
dem evangelischen Kindergarten zurückgekehrt sein, wo sie
heute, begleitet von Müller aus dem Lager, einen Bollerwagen mit Weihnachtsgeschenken ablieferte, eins davon der besagte Wagen, dazu eine sehr stabile Eisenbahn, einen MärklinMetallbaukasten, mehrere Puppen und natürlich Bonbons. Am
Donnerstag war sie, diesmal in Begleitung von Karls Frau
Sophie, zum katholischen Kindergarten am anderen Ende der
Straße gegangen. Die Leiterin dort hatte sich, wie Helga aus
einem Brief ihres Vaters wusste, ein Schaukelgerüst für den
Garten gewünscht, das von Turn-Meyer schon geliefert worden
war, und so hatten Frau Schulte und ihre neue Schwiegertoch-
ter nur die Süßigkeiten für die Weihnachtsfeier getragen. Sophie hatte ihr heute Morgen berichtet, dass es sie gefreut, aber
auch ein wenig beschämt habe, zu erleben, wie sehr die Kinder
beim Anblick der Bonbons jauchzten, die doch seit dem Sommer zu ihrem Alltag gehörten.
Rudolf war bestimmt pünktlich um vier Uhr zum Konfirmandenunterricht gegangen und würde erst kurz nach sechs
wieder erscheinen.
Aber wo steckte Ida ?
Ida und das Päulchen, es gab ihrem Leben einen Sinn, Herta würde sich vielleicht mit Johann Albers verloben, Ilse fuhr
morgen sofort im Anschluss an die Probe nach Köln, und Fritz,
ihr Fritz – wann kehrte er endlich aus Amerika zurück? Warum
war nicht wenigstens Ida zu Hause?
Helga betrat die Küche, ohne Licht zu machen, entdeckte
aber trotzdem einen Zettel mitten auf dem Tisch: ,Bin bei Luise, passe auf das Kathrinchen auf, Luise mit Ottolein bei Dr.
Rosenthal, hat eine Himbeerzunge.’
Scharlach, dachte Helga, höchstwahrscheinlich Scharlach,
und das ausgerechnet zu Weihnachten, zwei Tage vor meinem
Geburtstag auch.
Sie begab sich in ihr Zimmer und machte sich daran, endlich
ihren Koffer auszupacken. Den Käse, an dessen Herstellung
sie selber beteiligt gewesen war, hatte sie natürlich schon am
Vorabend, fest in Ölpapier eingewickelt, auf die Fensterbank
gelegt. Für ihr Patenkind, die dreijährige Kathrine, hatte sie ein
Kittelkleidchen geschneidert und mit Applikationen versehen,
Luise und Otto würde sie selbst gebackenen Christstollen und
etwas von dem Käse schenken, und beiden Eltern sowie Rudolf
hatte sie handgestrickte Schals aus besonders weicher Wolle
zugedacht … Plötzlich vermisste sie den fröhlichen Lärm der
Weihnachtsfeier am 3. Advent, wo die Luisenhofer Lehrerinnen sich als Verkäuferinnen verkleidet hatten, um den Maiden
das feilzubieten, was unter ihrer Anleitung entstanden war. Es
hatte nach Lebkuchen, Glühwein und Früchtepunsch geduftet,
in irgendeiner Ecke war immer musiziert worden, und es hatte eine vergnügte Aufbruchsstimmung geherrscht, mit vielen
Umarmungen und eigentlich überflüssigen Beteuerungen, dass
man sich ja im Neuen Jahr wiedersehen würde.
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Viel Zeit beanspruchte das Aus- und Einräumen nicht, denn
ihre Maidenkleidung hatte Helga natürlich nicht mitgebracht.
So lehnte sie den Kopf an die kühle Fensterscheibe und sah
in den Schnee hinaus. Durch die vollkommene Stille hörte sie
Stimmen – sie musste wirklich sehr in Gedanken versunken
gewesen sein, um vorhin nicht wahrgenommen zu haben, dass
sich da jemand in dem kleinen Salon ganz am anderen Ende
der Wohnung aufhielt.
Vom Innenhof her trat sie in den Lichtkegel, der durch die
offene Tür fiel.
Ihr Vater und Onkel Blankenstein hatten in dem Augenblick,
als sie ihre Anwesenheit bemerkten, ihr Gespräch unterbrochen
und sahen ihr entgegen. Zu ihrer Verwunderung blieb Onkel
Blankenstein sitzen, obwohl er sie doch seit Monaten nicht
gesehen hatte. Bevor sie nach einem Grund dafür zu suchen
vermochte, erkundigte sich ihr Vater, ob ihre Suche erfolgreich
gewesen sei; die meisten Geschenke habe sie ja ohnehin, falls
er das richtig verstanden habe, im Luisenhof selbst angefertigt
oder auf der dortigen Weihnachtsfeier erworben.
Helga wusste nicht so recht, was sie antworten sollte, denn
am liebsten hätte sie sich für die Störung entschuldigt. Mit
unsicherer Stimme meinte sie deshalb, nein, Herz auf Taille
von Erich Kästner hätte sie nirgends bekommen; das wolle sie
Karl schenken, denn eines der Gedichte gefalle ihm besonders
gut. Sie öffnete den Mund, um den Anfang herzusagen, aber
da fragte Onkel Blankenstein und blickte dabei ihren Vater an,
ob ihr denn niemand erklärt habe, warum das Buch nicht mehr
vertrieben werde, einmal abgesehen davon, dass sie vielleicht
selber darauf hätte kommen können.
„Bei Wegener in Bärwalde, halt dort, wo der Luisenhof
liegt, gab’s das Bändchen nicht, und eine der Verkäuferinnen
hier”, sagte Helga noch unsicherer als zu Anfang, „hatte wohl
die Absicht, mir etwas zu erklären, aber dann blickte sie sich
rasch um und wandte sich einer anderen Kundin zu.”
„Siehst du, Friedrich”, – Onkel Blankensteins Stimme klang
ganz eigenartig: triumphierend, sachlich und doch auch wieder
ein wenig verzweifelt, mit so etwas kannte Helga sich aus –,
„siehst du, einen solch tiefen Eindruck hat die Bücherverbren-
nung auf die deutsche Jugend gemacht. Da bauen die braunen
Bataillone mit Freude, jaja, also Freud, und Zweigen, meinethalben Spaß beiseite: Arnold und Stefan Zweig, Tucholsky
auch, dessen Schloss Gripsholm unsere Töchter unter der Bettdecke verschlungen haben, und dem Schöpfer von Emil mitsamt den Detektiven einen ansehnlichen Scheiterhaufen, und
keiner merkt etwas.”
„Aber Erich Kästner ist doch evangelisch”, protestierte Helga und war sich im selben Augenblick bewusst, dass sie etwas
aussprach, das der Erziehung vor allem ihres Vaters zu Toleranz und Offenheit so voll und ganz widersprach, dass sie am
liebsten im Boden versunken wäre.
„Noch einmal: siehst du, Friedrich. Sogar auf dein, unser
Helleken, die beste Freundin meiner Hildegard und mir so
lieb wie eine Tochter, färbt diese Ideologie ab. Helleken meint
nichts von dem, was sie da nachgeplappert hat, und würde für
Hildegard durchs Feuer gehen, gewiss auch diese oberflächliche kleine Meyer gegen unflätige Bemerkungen verteidigen.
Aber das ist es ja. Sie haben’s mit der Legalität seit 1930; die
Methoden sind vorgeschrieben, die Ziele indessen nicht, hat
mein guter Freund A Punkt ausdrücklich erklärt. Das wird dann
Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Staat genannt …”
Ihr Vater unterbrach Onkel Blankenstein.
„… und ist auf vier Jahre begrenzt.”
„Richtig, Friedrich, richtig, auf dem Papier, von 1933 bis
1937. Der Wahlsieg hatte ja auch nichts Überwältigendes,
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und der Herr Reichskanzler regiert nur deshalb, weil ihm die
Deutschnationalen ein helfendes Händchen leihen. Aber was
folgt gleich auf die Amtsübernahme, vier Tage oder fünf, ganz
passend Ende März? Die Notverordnung zum Schutze von Volk
und Staat, unterzeichnet von Feldmarschall a.D. Hindenburg,
derzufolge der braune Herr H – natürlich nicht in Person, wozu
hat man denn seine Abteilungen beziehungsweise Staffeln, A
und S – nach Herzenslust Telefongespräche abhören und das
Briefgeheimnis verletzen darf. Und wiederum unmittelbar daran schließt sich der 1. April an, oh nein, kein Aprilscherz, vielmehr ein lustiger kleiner Boykott aller jüdischen Geschäfte,
Ärzte, Rechtsanwälte und vermutlich auch Straßenkehrer, was
zwar keiner vermutet, aber solche gibt’s.”
Helgas Vater starrte schweigend auf seine Zigarre und sagte schließlich, an der Rede von Gauleiter Vetter in der Stadthalle habe ihn einiges gestört; er meine die abends nach der
Pflanzung der Hitler-Eiche irgendwann im April. Da seien Ausdrücke wie ,Gefahr des internationalen Judentums’ verwendet
worden. Dem weiteren Wortlaut des Satzes, dem mit den Bolschewiken, hätte er damals allerdings durchaus zugestimmt.”
„Aber sieh mal, Friedrich”, – Onkel Blankenstein warf
Helga einen liebevollen Blick zu, und deshalb verließ sie den
Raum nicht, sondern setzte sich auf den Hocker neben der Verbindungstür zum Lichthof – , „was sie mit den Gewerkschaften
gemacht haben! Ich geb ja gern zu, dass ich die Leute vom
Betriebsrat oft zum Teufel gewünscht habe, weil sie zum Teil
nicht einmal verstehen, wo ihre eigenen Interessen liegen, geschweige denn die ihrer Arbeitgeber. Aber da wurden im März
diese Wahlen durchgeführt, und als ihre NSBO – mit so einem
Namen kann man es einfach zu nichts bringen, National-Sozialistische Betriebszellen-Organisation, wer merkt sich denn
so etwas … –, als ihre NSBO dann so furchtbar schlecht abschnitt, haben sie doch einfach alle Gewerkschaften aufgelöst,
zunächst einmal mit Ausnahme der christlichen, die gegen jede
Vernunft dem Irrglauben anhingen, man könne einen netten
kleinen Pakt mit dem Satan schließen. Hätten sie besser mal
Goethe und seinen Faust gelesen. Jetzt verhandeln wir mit der
DAF und schenken unseren Arbeitern zu Weihnachten Sparmarken für KdF. Glaub mir, Friedrich: je mehr Abkürzungen,
desto länger die Umwege zur Wahrheit.”
Helga hatte ihren Vater noch nie so nachdenklich erlebt. Allerdings wohnte sie auch zum ersten Mal einer Unterhaltung
zwischen ihm und Onkel Blankenstein bei, in deren Verlauf
keiner von beiden ihretwegen ein Blatt vor den Mund nahm,
und sie fühlte sich seltsam erwachsen.
„Kraft durch Freude …”, begann ihr Vater langsam und
sprach dann immer schneller, „obwohl ich’s wirklich nicht mit
den Braunhemden habe und finde, dass sie erstens ihre Finger
in viel zu viele Dinge hineinstecken, die sie gar nichts angehen, mein Privatleben und die Erziehung meiner Kinder zum
Beispiel, und zweitens von Wirtschaft so wenig zu verstehen
scheinen, dass sie nicht einmal merken, wie wichtig solche
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Leute wie Löwensteins und Meyers, auch so eine Bank wie
Kaufmann und Strauß, ganz besonders aber Unternehmer wie
du für den wirtschaftlichen Wiederaufbau sind – ich meine,
die schaffen doch neue zusätzlich zu den alten Arbeitsstellen,
machen Umsatz und füllen damit den Steuersäckel. Aber KdF,
ganz ehrlich, das ist keine schlechte Idee. Da können unsere
Arbeiter doch endlich einmal preisgünstig auf Urlaub fahren.
Tun wir ja schon lange – denk nur an Borkum.“
„Zugegeben, manche ihrer Einfälle sind nicht abwegig; das
Winterhilfswerk erscheint mir durchaus annehmbar und Kraft
durch Freude auch, selbst wenn mir die Wortverbindungen
dieser Propagandisten gegen den Strich gehen. Ich habe übrigens einmal nachgeschlagen, was unter dem Begriff ,Arier’
zu verstehen ist. Ob andere Leute, die vielen NSDAP-Wähler,
das auch tun? Und nach der Freiheit – Sire, geben Sie Gedankenfreiheit – steht ihnen der Sinn weniger als nach Schiller.
Warte mal ab, eure Loge werden sie genau so verbieten wie
die Parteien und diese ganz harmlosen Sportvereine, vor allem, wo Herr Erich Ludendorff, ex-Oberste Heeresleitung, und
seine Gemahlin Mathilde so gut wie jedesmal, wenn sie den
Mund aufmachen, Freimaurer und andere ,Internationale’ als
Volksfeinde brandmarken. Kurzum: Arbeiterbewegung oder
geschlossene Gesellschaft, das läuft für meinen Freund, den
eingebürgerten Österreicher, aufs Gleiche hinaus.”
Ihr Vater protestierte nur noch schwach.
„Unser 75-jähriges Jubiläum haben sie uns doch gerade in
aller Feierlichkeit begehen lassen. Außerdem steht in unseren
Regeln geschrieben, dass wir uns dazu verpflichten, das Vaterland mit Gut und Blut zu verteidigen.”
„So genau schauen die ja gar nicht hin. Sie lesen nur Frei-,
wie Freimaurer, und das reicht schon aus.”
„Wenn ich auch nicht ganz so schwarz sehe wie du, Eugen,
kann ich doch nicht umhin zuzugeben, dass da ziemlich dicke
Wolken aufziehen”, meinte ihr Vater und strich langsam über
seinen blanken Kopf. „Helleken, wo du schon einmal hier bist
und von einer Lektion in politischer Wissenschaft profitieren
durftest, sei doch so lieb und hol uns zwei Flaschen Bier …,
ach nein, lieber meinen besten Mosel; der liegt im Weinkeller
ganz rechts. Natürlich brauchen wir auch Gläser, die Römer
aus der Vitrine. Eins darfst du mit uns trinken, wo du doch in
zwei Tagen achtzehn wirst.”
Während Helga durch den Lichthof zurück in die Küche
ging, um den Schlüssel zum Weinkeller zu holen, hörte sie ihren Vater noch fragen, welche Schlussfolgerungen Onkel Blankenstein denn nun aus all dem zu ziehen gedenke.
Sie stieg mehrere Treppen hinab, öffnete die Tür zum Weinkeller und zog eine von den Flaschen, die ihr Vater für besondere Gelegenheiten aufbewahrte, aus dem Regal, löschte das
Licht wieder und spürte, als sie die Römer auf das Tablett stellte und einen Korkenzieher daneben legte, dass ihr Herz bis zum
Halse schlug und sich wieder einmal dieses Schwindelgefühl
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einzustellen drohte. Als sie die Küche gerade verlassen hatte,
hörte sie die Wohnungstür ins Schloss fallen, doch Onkel Blankenstein saß noch ihrem Vater gegenüber, und sie schnappte
einen Satzfetzen auf, bevor sie aus dem Dunkel trat und ihr
Tablett auf dem Rauchtischchen abstellte.
„… um unsere Arbeiter mache ich mir Sorgen, aber vielleicht kommen die bei Otto Brauckmann unter. Für die Maschinen habe ich jedenfalls einen Abnehmer gefunden, einen
Betrieb aus Menden im Kreis Iserlohn, der vor allem Werkzeuge herstellt.”
Helga blieb mit hängenden Armen zwischen den beiden
Männern stehen, während ihr Vater sich erhob, den Korken
aus der Flasche zog und die Gläser sorgsam füllte. Nachdem
er eins Onkel Blankenstein, das andere Helga gereicht hatte,
meinte er mit ganz ernstem Gesicht:
„Auf die Zukunft. Hoffentlich hat Amerika es immer noch
besser.”
Onkel Blankenstein stieß auch mit Helga an und fragte leise, ob sie verstanden habe: Er werde mit seiner Frau und Hildegard in die Staaten auswandern, sobald er die nötigen Unterlagen erhalten habe, diese Unbedenklichkeitsbescheinigung
der hiesigen Behörden und natürlich die Einreisegenehmigung
vom amerikanischen Konsulat.
„Mit Geld”, fügte er sehr ernst hinzu und blickte Helga in
die Augen, „lässt sich da viel machen. Noch, Helleken, noch.
Hildegard weiß bislang nichts davon, wenn sie es wohl auch
ahnt. Falls dein Vater Recht hat, ist in vier Jahren alles vorüber,
und wir kehren in die Eckeseyer Straße zurück. Sollte er sich
hingegen täuschen, so wird wenigstens die Möglichkeit bestehen, dass wir uns alle wiedersehen, in tausend und einem Jahr
hier oder früher in der Neuen Welt. Fritz …”
Onkel Blankenstein legte die Arme ganz fest um sie und zog
irgendwann einmal ein sauberes weißes Tuch aus seiner Hosentasche, überließ es ihr aber selber, ihre Tränen zu trocknen.
Plötzlich stand Ida im kleinen Salon, und ihr Vater begleitete Onkel Blankenstein zur Tür. Eine Weile schwieg sie, räumte mit geübten Bewegungen die Gläser und den Aschenbecher
fort, schüttelte die Kissen der beiden Sessel auf und öffnete
dann das Fenster.
„Zigarren”, sagte Ida mit einem Anflug von Missbilligung
in der Stimme. „Der Rauch hängt so furchtbar in den Vorhängen.”
Nach einer weiteren Pause fügte sie hinzu, im Übrigen habe
der junge Herr Berts schon wieder angerufen, der Sohn des Logenbruders ihres Vaters, mit dem sie auf der Hochzeit von Karl
und Sophie so häufig getanzt habe.
„Herr Herberts”, verbesserte Helga und begann wieder zu
weinen.
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„Spitzenklasse ist deine Spitzentänzerin aber doch wohl
nicht”, meinte Luise, löste die rechte Hand vom Lenkrad und
zog einmal an ihrer Zigarette. „Als wir neulich Freunde in
Köln besuchten, sind wir an einem Plakat für Schwanensee
vorbeigekommen, und da stand ihr Name drauf, aber so klein
gedruckt, dass man ihn mit der Lupe suchen musste.”
Helga, die schräg hinter Luise saß, sagte zunächst gar nichts,
während Rudolf sich auf dem Beifahrersitz ruckartig zu seiner
großen Schwester hindrehte und sie fast anschrie.
„Die Ilse ist doch erst neunzehn, genau wie unsere Helga.
Mit neunzehn, du liebe Güte …”, – Rudolf verhaspelte sich
und betastete sein rechtes Ohr –, „erzähl mir doch mal, was du
mit neunzehn schon alles erreicht hattest!”
Er rutschte auf seinem Sitz herum und starrte durch die
Windschutzscheibe auf die Landstraße und die Bäume, von
denen man noch eher die schwarzen Äste als die hellgrünen
Blätter sah.
Helga gab sich einen Ruck.
„Ganz unrecht hast du sicher nicht, Luise”, murmelte sie
zuerst und fuhr dann lauter fort, Ilse habe selber öfters erwähnt,
zu der Zeit, als sie noch in Eckesey wohnte, ihre Ballettmeisterin sei der Ansicht, zur Primaballerina reiche es bei ihr nicht.
„Aber sieh mal, Luise, versuchen kann sie es doch. Eigentlich hat sie ja in ihrem ganzen Leben nichts anderes getan, von
nichts anderem geträumt, und sie ist ja wirklich erst neunzehn.”
Luise senkte den Kopf, ihr kurz geschnittenes Haar fiel
schräg über ihr Gesicht, und dann nickte sie. Nach einer Pause erklärte sie mit veränderter Stimme, das Herrenoberbekleidungsgeschäft ihres Stiefvaters gehe jedenfalls gut, wenn sie
auch nicht ganz verstehe, was Ilse Mutter an diesem Mann
fand.
Der letzte Satz klang wie eine Frage, doch weder Helga
noch Rudolf erwiderten etwas, warfen sich nur einen verständnisinnigen Blick zu.
„Apropos Theater”, unterbrach Luise die Stille, drückte die
Zigarette aus und lachte. „Beim Aufräumen entdeckte ich vorgestern das Programm des Berliner Stadttheaters, Saison 33/34,
das Geschäftsfreunde von Otto ihm zum Geburtstag mitgeschickt hatten. Ratet mal, was es da gab: Die hundert Tage.”
„Napoleon”, fiel ihr Rudolf ins Wort, „haben wir im Geschichtsunterricht gelernt, als er von Elba geflüchtet und nach
Paris zurückgekehrt ist.”
Luise lachte noch einmal.
„Nicht schlecht, Bruderherz, dafür trage ich dir ein Gut ins
Notenbuch ein. Aber dieses Stück, das hat Benito Mussolini
geschrieben.”
Rudolf schüttelte heftig den Kopf.
„Glaub ich dir nicht.”
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9. Kapitel: Frühsommer 1935
„Stimmt aber. Du schluckst ja sonst alles, oder? Euch
vernebeln sie jetzt den Geist, aber nicht nur den Jungen und
Mädchen. Mit ihren Sprachschleudern beschießen sie Alt und
Jung : HJ, BdM, NSKK, höchstens vier Buchstaben, Entschuldigung, fünf: zum Beispiel NSDAP. Wie sie uns mit diesen Abkürzungen doch das Leben vereinfachen – Herr Dr. Goebbels
vor allem, der ist ein ganz geschickter Bursche. Parteien gibt es
nur noch eine, Gewerkschaften ebenso, falls man die Deutsche
Arbeitsfront überhaupt als Gewerkschaft bezeichnen kann.
Was die Freiheit angeht, so kommt die ebenfalls nicht zu kurz,
die Wehrfreiheit nämlich, was darauf hinausläuft, dass bald die
Achtzehnjährigen eingezogen werden; ich vermute mal, Helle,
dass dein Jahrgang auch betroffen ist. Noch beschränken sie
sich ja auf die Jungen, so jemanden wie den lieben Rudolf, der
bald seinen fünfzehnten Geburtstag feiert.”
Luises Stimme klang auf einmal wieder so scharf und bitter
wie zu Anfang. Nach einer kurzen Unterbrechnung fügte sie
noch hinzu, ihr und Otto sei aufgefallen, dass der Wehrdienst
fast auf den Tag genau ein Jahr nach diesen Verdunklungsübungen vom März 1934 wieder eingeführt worden war.
Rudolf fiel ihr fast ins Wort.
„Das hat Helle gar nicht mitbekommen; sie war zu der Zeit
doch in dieser Landfrauenschule. Hat Vater dir etwas davon
geschrieben? Er wollte ja nicht, dass ich das Haus verließ, weil
in der Zeitung stand, das Betreten der Straßen geschehe auf eigene Gefahr. Aber viele aus meiner Klasse hatten sich verabre-
det, mit Taschenlampen und so. Die hätten wir zuerst eigentlich
gar nicht gebraucht, weil am Himmel lauter Sterne standen.
Sah schon seltsam aus, muss ich sagen, all die Fenster, wo das
Licht höchstens durch die Ritzen drang. Manche Leute hatten
allerdings nur die nach vorn gehenden abgedichtet; einer von
den Luftschutzhauswarten aus der Eichendorfstraße hat bei
Dennersmanns fast die Tür eingeschlagen und mit Frau Dennersmann geschimpft, das konnte man kilometerweit hören …
Zuerst ging es ja noch; da fuhren ein paar Autos mit abgeblendeten Scheinwerfern, und die Laternen warfen ein wenig Licht
nach unten. Man sollte sie ja nur vom Flugzeug aus nicht erkennen können …”
„Nicht man”, warf Luise ein, „der Feind.”
Rudolf fuhr fort, als hätte er nichts gehört.
„Aber bei Grad 2, da mussten wir sogar unsere Taschenlampen ausknipsen. Es war übrigens doch ganz gut, dass wir
welche mitgenommen hatten – oben zwischen den Bäumen sah
man nämlich die Hand vor den Augen nicht. Deshalb bin ich
auf dem Höing Polizeipräsident Hermann in die Arme gelaufen, der was murmelte von Rudolf Schulte, so so, und wissen
deine Eltern das; aber dann war er sehr freundlich und hat mir
alles erklärt – was ,passiver Luftschutz’ bedeutet zum Beispiel
und dass uns die aktiven Möglichkeiten durch den Versailler
Vertrag verboten sind.”
Rudolf hatte sehr schnell gesprochen und zwischendurch
immer wieder einmal kurz gelacht. Er schien enttäuscht, dass
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keine seine Schwestern etwas sagte, und zog die Stirn kraus.
Schließlich meinte Luise, jetzt wollten sie eine Pause einlegen. Sie müsse tanken, und eine Tasse Kaffee könne auch nicht
schaden.
„Was hat sie denn?”
Rudolf ging neben Helga her, während Luise sich mit dem
Tankwart unterhielt, der die Windschutzscheibe von Insekten
befreite.
„Nur gut, dass niemand außer uns etwas gehört hat. In der
Schule ist neulich einer aus der Sekunda zum Direktor zitiert
worden, weil er einen Witz gemacht hat, über Minister Göring
und seine Uniformen. Ich bin gespannt, wann sie mir auf die
Pelle rücken, weil ich immer noch nicht in die Hitlerjugend
eingetreten bin. Kurz nach meiner Konfirmation hat mich der
Mann von Frau Fandrey beiseite genommen und gesagt, Pastor
Ackermann bekäme auch bald Ärger, was ich nicht ganz verstehe. Der ReiBi Müller hat doch mit von Schirach ausgehandelt, dass die evangelischen Hitlerjungen zweimal im Monat
in die Kirche gehen dürfen, und die Eltern meinten damals,
es werde nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird – den
Spruch kennst du ja.”
Helga sah ihn von der Seite an.
„Sag lieber ,Reichsbischof’; mit solchen Ausdrücken
eckst du leicht an. Aber so wie Luise reden viele Leute in der
Schweiz. Ich finde ja manches gut, was die Nationalsozialisten
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eingeführt haben, das Winterhilfswerk zum Beispiel, also dass
die Menschen angehalten werden, nicht immer nur an sich zu
denken, und den Eintopfsonntag auch. Dass sie im vorigen Juni
vielen von der SA den Garaus gemacht haben, ist mir ebenfalls eher recht. Irgendwann habe ich mal mit Herta Dennersmann darüber gesprochen; die hatte genau solche Angst wie
ich, wenn sie denen im betrunkenen Zustand begegnete, ich
meine …”
„Hab schon verstanden, was du sagen willst. Nur gut, dass
Opa Effenkamp auf seinen Enkel Erich aufgepasst hat; Ida hat
mir hinterher erzählt, ihr Großvater hätte seine Ohren ja überall, und deshalb sei ihrem Bruder nichts passiert. Hat dir Herta
übrigens geschrieben, dass sie jetzt mit Johann Albers verlobt
ist?“
Helga schüttelte den Kopf.
„Nein, aber mit dem Gedanken gespielt hat sie schon lange.”
„Ich dachte, ihr wäret ziemlich gut befreundet”, meinte Rudolf und runzelte die Stirn. Helga drehte sich halb von ihm fort,
spiegelte sich in einer Fensterscheibe und rückte ihren kleinen
Hut zurecht.
„Sie wird viel um die Ohren haben”, sagte sie dann leise.
Luise winkte sie herbei, und die beiden bewegten sich langsam auf den Mercedes zu.
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„Sind wir bald da?”, erkundigte Rudolf sich und ließ die
Wagentür hin- und herschwingen.
„Bremen werden wir in einer Viertelstunde erreicht haben,
und bis Bremerhaven ist es dann nicht mehr so weit. Ich muss
sagen, dass die Straßen in einem durchaus passablen Zustand
sind”, meinte Luise und griff nach einer weiteren Zigarette,
während Rudolf sich anschickte, einzusteigen.
„Wenn es dir nichts ausmacht, Helle, würde ich diesmal lieber hinten sitzen. Vielleicht schaffe ich es ja, ein bisschen zu
schlafen. Um fünf Uhr aufstehen, das ist nicht so ganz meine Sache. Nur gut, dass wir nicht gleich zurückdüsen müssen;
wenn ich’s recht verstanden habe, verbringen wir eine Nacht in
einem schicken Hotel. Übrigens wusste ich gar nicht, dass du
so gut fährst, Luise, fast wie der Caracciola.”
Rudolf streckte sich in seiner ganzen Länge auf der Rückbank aus, gähnte und fragte, ob sie ihm nicht ein paar Fahrstunden geben könnte, worauf Luise auflachte und erwiderte, da
solle er sich doch besser an einen der Werkschauffeure wenden.
„Dass sie mir heute den Mercedes anvertraut haben, liegt ja
wohl daran” – sie sprach plötzlich wieder sehr laut und abgehackt –, „dass weder Ottos noch Sophies Anwesenheit bei der
Begrüßung der Eltern erwünscht ist. Otto hat die Entscheidung
gelassen hingenommen; was soll’s, mit seinem Status als Angeheirateter, und noch dazu … ihr wisst ja, kann er leben. Aber
für Sophie war es doch ein Schlag ins Gesicht, vor allem, weil
Karl sich doch nun seit fast drei Monaten in England aufhält,
ohne sie und ohne Diezchen. Ich vermute einmal, dass Mutter
in diesem Fall das Sagen gehabt hat.”
Helga beugte sich zu ihr hinüber und meinte beschwichtigend, Fräulein Dahm wäre auch gern mitgekommen, hatte sogar vorgeschlagen, Sophie in ihrem Wagen mitzunehmen, aber
der Vater hätte ihr klipp und klar zu verstehen gegeben – das
Telegramm habe sie mit eigenen Augen gesehen –, sie werde
im Betrieb gebraucht.
„Du findest immer eine Entschuldigung, Helle”, erklärte
Luise und nahm den Fuß vom Gaspedal, weil der Verkehr deutlich zugenommen hatte. „Meinst du denn wirklich, im Betrieb
wäre alles drunter und drüber gegangen, wenn die Dahm’sche
mal einen Tag nicht jedem auf die Finger geschaut hätte? Vater
und Mutter scheinen doch darauf vertraut zu haben, dass ganze
fünf Wochen lang alles auch ohne sie laufen würde, und es war
ja auch so, mal abgesehen davon, dass Vater das fünfundzwanzigjährige Jubiläum der Höheren Handelsschule verpasst hat,
bei dem er wohl eine Rede hätte halten sollen.”
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Es war nicht zu überhören, dass Rudolf schlief, denn er
schnarchte, und nach einigem Hin- und Herrutschen wurde es
hinten ganz still.
„Nun sag einmal ganz ehrlich, Helle”, meinte Luise leise,
„wie es dir in Lausanne gefällt. Weihnachten, bei Rudolfs Konfirmation und auch an diesem Wochenende waren ja immer irgendwelche Leute dabei, und ich kenne dich gut genug, um
zu wissen, dass du mit der Wahrheit hinter dem Berg hältst,
wenn sie jemanden verletzen könnte. Warum die Eltern dich
sozusagen gleich nach deiner Rückkehr aus dem Luisenhof in
die Schweiz geschickt haben, weiß der Himmel – ich jedenfalls
nicht.”
Helga blickte durch die Windschutzscheibe auf die vorbeifliegenden Bäume und überlegte, bevor sie ihrer Schwester
antwortete. In der Landfrauenschule hatte es ihr wirklich gut
gefallen, und sie hatte auch einige Freundschaften geschlossen,
mit Brigitte von Albertyll zum Beispiel. In den Sommerferien
hatte sie den Eltern indessen deutlich zu verstehen gegeben,
dass sie gern einen Beruf ergreifen würde, nach Möglichkeit
einen, bei dem sie ihre Liebe zu Fremdsprachen nützlich machen könne, und da hatte sich sozusagen als Kompromiss dieser Aufenthalt in Lausanne angeboten, denn mit der Vorstellung, Helga als Korrespondentin für Französisch und Englisch
in einem Büro arbeiten zu sehen, hatten sie sich zunächst nicht
anfreunden können.
„Die ältere Tochter von Vaters Schweizer Geschäftsfreund
Ulrich Stoecklin …”, hob sie schließlich an.
„Ja, darüber bin ich bestens informiert. Wie oft ich die Geschichte inzwischen gehört habe, kann ich dir kaum sagen”,
meinte Luise, „denn natürlich bin ich nicht die Einzige, die sich
Fragen gestellt hat. Aber lassen wir das einmal. Ich vermute,
oder besser, ich hoffe, dass du wenigstens bei Ilse Fandrey
ordentlich ausgepackt hast. Doch immerhin bin ich deine
Schwester, und ich sehe doch, dass du nicht gerade vor Begeisterung an die Decke springst.”
Helle blickte Luise überrascht an. So hatte sie eigentlich
noch nie zu ihr gesprochen. Sonst klang ihre Stimme herausfordernd, patzig, ironisch, wie auch immer, auf keinen Fall jedoch warm und einladend. Deshalb starrte sie zunächst einmal
durch die Windschutzscheibe und schwieg.
„Cyrano ist schön”, sagte sie langsam. „Der Ortsteil von
Lausanne, in dem das Institut der Fräuleins Griesbecque liegt,
heißt so, und der Weg, der am Haus vorbeiführt, auch. Von unserem Zimmerfenster aus kann man auf den Genfer See schauen. Die Küche ist gut, und was wir lernen, interessiert mich. Ab
und zu gehen wir gemeinsam ins Kino. Neulich wurde dieser
Film von Leni Riefenstahl gezeigt, den sie auf dem Parteitag in
Nürnberg gedreht hat, Triumph des Willens heißt er. Der ist in
Hagen sicher schon längst gelaufen, nicht wahr?”
Luise nickte, blickte aber weiter geradeaus.
„Ganz schön beeindruckend”, sagte Helga nachdenklich.
„Aber ich muss gestehen, dass mir irgendwie unheimlich zumute war; genau beschreiben kann ich das Gefühl nicht – am
ehesten fällt mir eine Welle ein, die über einem zusammenschlägt.”
„Da hast du den Nagel auf den Kopf getroffen, Helle. Halte
ordentlich die Augen auf und hör zu, wenn die Schweizer über
Deutschland reden, ja?”
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Luise drehte sich halb zu ihrer Schwester um und lächelte
ihr zu.
„Ich vermute einmal, dass dir Schloss Hubertus mit Luise
Ullrich, Olga Tschechowa und Adolf Wohlbrück besser gefallen hat. So etwas drehen sie ja auch noch, vorausgesetzt,
die Schauspieler sind reine Arier. Aber erzähl mal weiter. Auf
­wieviele höhere Töchter müssen die Damen Griesbecque denn
ein Auge haben?”
„Wir sind achtzehn”, erwiderte Helga. „Die anderen Mädchen kommen aus aller Herren Länder. Ein paar Deutsche
sind darunter, zwei Schwedinnen, vier Südamerikanerinnen,
eine aus Prag, die aber deutsche Eltern hat, dann” – sie dachte
nach – „Pia aus Mailand und Amalie aus Salzburg. Am besten verstehe ich mich mit einer der drei Amerikanerinnen, Felicity Blake. Zuerst fand ich den Vornamen ja komisch, muss
ich gestehen, stell dir vor, Glückseligkeit, aber jetzt habe ich
mich längst daran gewöhnt. Wir haben unsere jeweiligen Zimmergenossinnen gefragt, also weil wir zu Anfang einfach nach
dem Alphabet aufgeteilt worden waren, ob sie bereit wären,
die Plätze zu tauschen, und seitdem wohnen Felicity und ich
zusammen. Übrigens habe ich schon ziemlich viele Aufnahmen gemacht, von der Kathedrale, den verschiedenen Brücken,
die natürlich alle französische Namen tragen, auch von einem
Ausflug nach Montreux zu einem Trachtenfest, aber ich werde
dir Anfang Juli dann auch Fotos von den anderen Mädchen und
den Demoiselles Griesbecque zeigen können. Für diesen Kurzaufenthalt habe ich sie natürlich nicht eingepackt.”
Luise nickte nur.
„Ganz zu Anfang, einen Monat lang oder so, hatte ich
Heimweh, aber das kannte ich ja schon aus der ersten Zeit in
der Neumark”, sagte Helga und blickte immer noch geradeaus.
Ihre Schwester fragte sofort, ob sich denn Stoecklins nicht um
sie kümmerten.
„Ich war dabei, als Vater mit seinem Geschäftsfreund telefonierte und ihm ans Herz legte, dich zu besuchen oder an
einem Wochenende auch einmal einzuladen, und ich habe mitbekommen, weil ich nämlich direkt neben Vater stand, wie er
hoch und heilig versprochen hat, dich als seine Tochter zu betrachten. Basel liegt ja nicht gerade um die Ecke, von Lausanne
aus gesehen, aber da Stoecklins zu Karl während seiner Praktikantenzeit dort wirklich nett waren, hätte ich erwartet …”
Helga drehte Luise jetzt den Rücken zu und drehte die
Scheibe auf der Beifahrerseite ganz herunter. Das, was sie erwiderte, erriet Luise mehr, als sie es richtig verstand.
„Ist dir nicht gut? Soll ich mal anhalten? Kathrine und Otto
junior wird auf längeren Fahrten auch immer schlecht”, meinte
sie besorgt, aber auch etwas überrascht.
Zunächst schüttelte Helga nur den Kopf, dann meinte sie,
es sei alles in Ordnung, und schließlich wandte sie sich wieder
halb zu Luise um.
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„Es war ja alles so neu für mich, angefangen von der Sprache. Dazu kam noch” – Helga warf einen Blick auf Rudolf,
der jedoch mit auf der Brust gekreuzten Armen vor sich hinschnarchte –, „dass ich fast jeden Tag einen Brief von Ernst
Herberts erhielt, weißt du, dem Sohn von Vaters Logenbruder,
den ich auf der Hochzeit von Karl und Sophie kennen gelernt
hatte und den wir im letzten Sommer in Borkum wiedergetroffen haben. Er studiert Betriebswirtschaft und wird später gewiss in die Kanzlei seines Vaters eintreten, braucht sich also
um seine Zukunft keine Sorgen zu machen.”
Helga sprach auf einmal schneller, wenn auch immer noch
mit gedämpfter Stimme, und unterstrich ihre Worte mit lebhaften Handbewegungen.
„Ende April, vor knapp einer Woche, haben wir im Literaturunterricht einen französischen Dichter behandelt, von Geburt
ist er Pole oder so etwas, der sich während einer Zugfahrt in
ein Mädchen verliebte, ihr lauter Briefe schrieb und sich auch
per Brief mit ihr verlobte. Als sie sich dann wieder in Fleisch
und Blut gegenüberstanden, blieb nicht mehr viel von der Liebe übrig, und die Geschichte ging in die Brüche. Bei diesem
Apollinaire muss ich an Ernst Herberts denken. Es stört mich
geradezu, dass er mich so anbetet, denn ich finde ihn nett, aber
nicht mehr.”
Luise schwieg weiterhin, und schließlich platzte es aus Helga heraus, Ernst Herberts habe ihr vorgestern einen Heiratsantrag gemacht, und sie wisse beim besten Willen nicht, wie
sie sich verhalten solle. Vielleicht habe sein Vater ja schon mit
ihrem Vater darüber geredet …
„Nun hör mal genau zu”, sagte Luise mit gedämpfter Stimme, aber sehr deutlich. „Ich mag dir ja wie jemand vorkommen, der mit dem Kopf durch die Wand geht und nur an sich
denkt. Daran ist sicher etwas Wahres. Heute würde ich auch
manches anders machen, meine Eltern zum Beispiel nicht mehr
vor vollendete Tatsachen stellen und einfach so heiraten, ohne
jemanden von der Familie auch nur davon zu unterrichten und
mir sogar noch von Mutters Schneiderin ein Kostüm anfertigen
zu lassen. Aber du, du darfst auf keinen Fall ins andere Extrem
fallen. Man schließt mit jemandem eine Ehe” – sie warf einen
raschen Blick nach hinten und vergewisserte sich, dass Rudolf
immer noch schlief –, „weil man ihn liebt. Darunter verstehe
ich, dass man diesen Mann mit Leib und Seele akzeptiert, ihn
also achtet und übrigens auch von ihm geachtet wird, alles mit
ihm zu teilen gewillt ist – wie man so treffend sagt, unter anderem Tisch und Bett. Ja, Helle, das Bett auch; du brauchst nicht
in deinen Schoß zu starren. Du musst dich danach sehnen, von
diesem Mann berührt und mit ihm eins zu werden. Wenn das
nicht so ist, kommt einem der eheliche Beischlaf wie eine Vergewaltigung vor, glaub es mir. Man geht nicht mit jemandem
eine so enge Verbindung ein – bis dass der Tod euch scheide!–,
weil es zwei alten Freunden nur allzu recht wäre, wenn ihre
Kinder eine Familie gründeten.”
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Luise umfasste das Lenkrad so fest, dass ihre Handknöchel
weiß hervortraten, und erklärte, sie habe nicht den Eindruck,
dass Helle solche Gefühle für Ernst Herberts hege.
„Wenn man sich einsam fühlt, greift man nach jedem Strohhalm. Das Bild passt zwar nicht ganz, aber du verstehst gewiss,
was ich sagen will. Und lass dich nicht davon beeinflussen,
dass Herta Dennersmann demnächst heiratet. Fahr zurück nach
Cyrano, lern tüchtig Französisch und genieße die Zeit dort.”
Helga neigte sich zu Luise hinüber und gab ihr einen Kuss
auf die Wange.
„Danke”, sagte sie, „danke. Eigentlich bin ich ziemlich erleichtert. Aber was sage ich ihm denn? Ich will ihm doch nicht
weh tun.”
Luise lachte.
„Das hängt davon ab, wie groß dein Mut ist. Entweder
bleibst du bei der Wahrheit und erteilst ihm eine endgültige
Absage, so etwas wie ,Dein Antrag ehrt mich sehr, aber ich bin
überzeugt davon, dass ich nicht die richtige Frau für dich bin’,
wobei es natürlich eher zutrifft, dass er nicht der richtige Mann
für dich ist. Oder du greifst auf eine Notlüge zurück, zum Beispiel: ,Ich habe in der Schweiz einen jungen Mann kennen gelernt …’; so einen Satz brauchst du nicht einmal zu Ende zu
führen.”
„Helle hat in der Schweiz einen jungen Mann kennen gelernt? Davon weiß ich ja gar nichts! Gut, dass der Fritz …”
Rudolf richtete sich auf, rieb sich die Augen, gähnte übertrieben laut und fragte in das Schweigen hinein, wie weit es
noch bis Bremerhaven sei.
„Ich drehe mal mein Fenster runter, ob man schon das Meer
riecht.”
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Der Dirigent der Musikkapelle hob den Taktstock; jedoch
war von dem, was die Männer auf ihren blank geputzten Instrumenten bliesen, nicht allzu viel zu hören, weil die anderen
Schiffe zur Begrüßung ihre Sirenen heulen ließen. Luise hatte
wohl gesagt, bei der Ausreise hätten sie Muss i denn zum Städtele hinaus gespielt, aber auch das riet Helga mehr, als sie es
wirklich verstand. Sie suchte unter den Menschen, die sich an
der Reling drängten, ihre Eltern, glaubte den großen Hut ihrer
Mutter erspäht zu haben, zupfte Luise am Arm und wies nach
oben; sie winkten beide. Ihr Vater musste sie auch in der Menge entdeckt haben; ein Strahlen ging über sein Gesicht, das war
aus der Entfernung deutlich zu erkennen, und er deutete mit
den Händen auf die Gangway, die gerade ausgelegt wurde, sowie auf seine Uhr: Es würde noch ein wenig dauern, bis sie die
Europa verlassen konnten. Luise atmete einmal tief durch: Als
sie das Hafengelände erreicht hatten, war der Luxusdampfer
durch ein Gewirr von Masten, Schornsteinen und Lagerhallen
hindurch schon zu sehen gewesen, hatte aber glücklicherweise mit dem Anlegemanöver gerade erst begonnen. So hatte sie
in Ruhe nach einem Parkplatz gesucht, sorgfältig die Wagen-
tür verschlossen und Rudolf zugerufen, er möge aber bitte zur
Stelle sein, wenn die Eltern das Schiff verließen. Rudolf war
sofort losgestoben und schien kurz darauf eine Unterhaltung
mit einem der Dockarbeiter angefangen zu haben.
Aber dann standen die Eltern doch endlich vor ihnen,
schlossen sie in die Arme, zuletzt Rudolf, der sich gerade noch
rechtzeitig einen Weg durch die Menschenmenge gebahnt hatte. Luise richtete Grüße von ihrem Mann, von Sophie, Ida,
Herrn Behr und Fräulein Dahm aus, fügte hinzu, alle Namen
könne sie gar nicht aufzählen, denn natürlich wisse jeder im
Betrieb, dass der Chef aus Amerika zurückkehre, während
ihre Mutter ständig wiederholte, sie sei so froh und erleichtert,
heimatlichen Boden unter den Füßen zu spüren und vor allem
wieder Deutsch sprechen zu können; alle ihre Kinder müssten
unbedingt solide Englischkenntnisse erwerben, denn so allein
und hilflos habe sie sich selten gefühlt. Mitten hinein erkundigte sich der Vater mehrfach und immer lauter, ob sie denn
die Karten von den Niagara-Fällen erhalten hätten – Post sei
ja wohl zehn bis zwölf Tage unterwegs. Rudolf zuckte nur mit
den Schultern, weil seine Fragen im Lärm untergingen, und
Helga gab es ebenfalls auf, ein Wort unterzubringen.
„Um das Gepäck kümmert sich unser Bezirksvertreter; das
hat Behr alles in die Wege geleitet. So fährt der Lieferwagen
ausnahmsweise nicht leer nach Eckesey zurück. Rudolf, du
gehst jetzt einmal zu unserem Stewart und lässt dir den kleinen
Koffer aushändigen, den Mutter für die Übernachtung im Hotel
gepackt hat.
Er zwinkerte Rudolf zu.
„Ich habe ihm gesagt, dass ein baumlanger junger Mann
mit” – er legte die Hände hinter die Ohren – „ihn abholen wird.
Rot zu werden brauchst du nicht”, meinte er dann ziemlich
ernst, „bislang war das immer ein unverwechselbares Erkennungszeichen. Aber Mutter und ich haben beschlossen, wenn
du einverstanden bist natürlich, dass wir Dr. Rosenthals Rat
folgen und sie in einer ganz einfachen Operation anlegen lassen werden, gerade noch rechtzeitig” – er zwinkerte noch einmal –, „bevor du dich ernsthaft für all die hübschen Mädchen
interessierst.”
Während Rudolf losstürmte, folgten die anderen Luise langsam zum Wagen.
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„Mit den Hotels in Amerika lässt sich dieses hier nicht vergleichen, überhaupt keins in ganz Deutschland, nicht einmal
das Adlon in Berlin oder die Vier Jahreszeiten in Hamburg”,
sagte Herr Schulte, als sie um den runden Tisch im Speisesaal
Platz genommen hatten und darauf warteten, dass der Oberkellner ihnen die Karten reichte. „Geführt werden sie wohl mit
der gleichen Sorgfalt – also hervorragend geschultes Personal,
aber was die Größe angeht … Denkt euch nur: zweitausend
Zimmer, alle mit Bad, eintausendachthundert Angestellte, auf
jeder Etage ein Concierge, der die Schlüssel verwaltet und darauf achtet, dass sich niemand Fremdes einschleicht.”
„Das Walldorf Astoria muss dann ja auch ein Wolkenkratzer sein”, sagte Rudolf, und seine Augen leuchteten. „Seid ihr
eigentlich im Empire State Building bis ganz oben gefahren?”
Der Vater nickte.
„Einige der Aufzüge halten in jedem Stockwerk, andere alle
zehn, und mindestens einer saust wie eine Rakete ohne Unterbrechung von 1 bis 86. Fragt mal eure Mutter, wie ihr die
Besichtigung gefallen hat.”
Er warf seiner Frau einen verschmitzten Blick zu.
„Ja, es stimmt, genossen habe ich die Sache nicht”, meinte
sie und schwankte zwischen Ärger und Lachen. „Ich dachte
immer, ich sei schwindelfrei, aber erstens blieb mein Magen
unten, als dieser Lift in die Höhe schoss, und zweitens wirkten
die Fahrzeuge und die Menschen von der Plattform aus so winzig … nur gut, dass sie verglast ist!”
„Mir würde das bestimmt nichts ausmachen”, erklärte Rudolf, während Helga gleichzeitig fragte, ob es denn in New
York auch niedrigere Häuser gäbe.
„Natürlich”, erwiderte ihr Vater, nickte dem Oberkellner
dankend zu und griff nach der Speisekarte, „in Greenwich Village zum Beispiel, und dann natürlich, neben Wolkenkratzern,
in den anderen Städten, die wir besucht haben, also in Pittsburg, Chicago, Detroit, einmal ganz zu schweigen von kleineren Orten, in denen wir nicht angehalten haben. Wisst ihr
übrigens, wo zum Beispiel der Mount Vernon liegt oder die
Stadt, nicht der Staat Washington?”
Rudolf nickte.
„Ich weiß es ganz genau, weil Ida nämlich eine Karte der
Ostküste an die Küchentür gepinnt hat, und darauf haben wir
mit Stecknadeln und rotem Zwirn eure Reiseroute markiert.
Und das mit Washington State ist eine Fangfrage unseres Erdkundelehrers.”
Sein Vater lächelte, warf dem Oberkellner, der schräg hinter ihm wartete, einen Blick zu und erkundigte sich dann bei
Frau und Kindern, auf welche Gerichte ihre Wahl gefallen sei.
Während der Oberkellner sich mit seinem Block zielbewusst
entfernte, strich Herr Schulte mit den Händen einmal über die
samtbezogenen Armstützen und meinte dann, in den Vereinigten Staaten hätten sie auf dem Gebiet, also was Restaurants
anbetraf, schon Erstaunliches erlebt.
Nach einigem Suchen zog er eine Karte aus der Jackentasche und reichte sie Rudolf.
„Habe ich dir mitgebracht – die Unterschrift von Jack
Dempsey.”
„Dem Boxer?”
Rudolf riss die Augen auf.
„Ja, wir haben in seinem Restaurant eine Mahlzeit eingenommen, und ich dachte, du würdest dich über ein Autogramm
freuen.”
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Er setzte das Bierglas an die Lippen, das der Getränkekellner gerade vor ihm auf das gestärkte Tischtuch gestellt hatte.
„Gleich bringt er eine besonders gute Flasche Wein, zur
Feier des Tages. Aber richtig zu Hause fühle ich mich erst mit
einem Dortmunder.”
Dann fuhr er fort, das Essen in Restaurants sei in Amerika
im Vergleich zu Deutschland sehr teuer, man trinke nur Eiswasser dazu, kein Bier und eigentlich auch keinen Wein, der
stark besteuert werde, wie Alkohol ganz allgemein und übrigens auch Tabak. Mit viel weniger Geld käme man in den
Drugstores zurecht, wo zu seinem Erstaunen die meisten Arbeiter sogar schon frühstückten.
„Ach, bevor ich’s vergesse: Herr Bamberger, mein alter Geschäftsfreund aus Münster, hat mich mit in eine Gaststätte genommen, die hier, vermute ich einmal, ziemlich rasch bankrott
gehen würde. Eure Mutter musste draußen bleiben – das heißt,
wir hatten sie in weiser Voraussicht gar nicht mitgenommen –,
aber wirklich: Das Lokal war nur für Männer reserviert. Man
holt sich an einer Theke, was man essen will, erfährt dabei
auch den Preis, ohne eine Rechnung oder einen Zettel zu erhalten; beim Hinausgehen sagt man dem Kassierer dann, was man
bezahlen muss.”
Helga und Rudolf sahen ihren Vater ungläubig an.
„Und niemand mogelt? Das wäre doch ein Kinderspiel.”
„Nein, aber das ist noch nicht alles. Auf den Straßen stehen
überall sogenannte stumme Zeitungsverkäufer, Metallkästen
mit Zeitungen darin und einer Art Spardose, in die man das
Geld steckt. Ich habe einmal eine Viertelstunde oben an einer
Subway-Treppe die Leute beobachtet: Alle entrichteten ihren
Obolus. Der Geschäftsführer von Bohack’s Bakery, das ist eine
Großbäckerei, erzählte mir übrigens, sie lieferten ihre Ware
nachts in Körben vor die Ladentüren, und so gut wie nie werde
etwas gestohlen.”
„Aber die Amerikaner können doch nicht um so vieles ehrlicher sein als wir”, rief Rudolf aus.
„Der Manager, wie man dort sagt, führte das auf die sehr
harten Strafen zurück, die vom Gesetzgeber für Diebstahl festgelegt worden sind”, erklärte sein Vater und meinte dann, eine
ganze Reihe von Kellnern bewege sich in ihre Richtung; er
wolle zunächst einmal in Erfahrung bringen, ob Sauerbraten
mit Klößen immer noch so gut schmecke wie vor fünf Wochen.
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„Nun bin ich mir nicht sicher, ob mein Bericht euch Mädchen im gleichen Maße interessiert wie Rudolf, der ja schließlich gemeinsam mit Karl einmal den Betrieb übernehmen
wird.”
Herr Schulte legte sein Besteck auf dem Teller ab, lehnte
sich ein wenig zurück und blickte seine Töchter an. Luise hatte
sich kerzengerade aufgesetzt, Helga runzelte die Stirn und legte
ihrer Schwester beschwichtigend die Hand auf den Unterarm.
Deshalb holte Luise zunächst einmal tief Luft und sagte dann
eher spöttisch als scharf, er scheine wohl vergessen zu haben,
dass sowohl Helga als auch sie in einer Süßwarenfabrik aufgewachsen seien und es nicht an ihnen liege, wenn sie nicht in
die Fußstapfen ihres Vaters und übrigens auch die ihrer Mutter
treten würden. Er habe ja sicher nicht vergessen, welche Rolle
die Frauen im Weltkrieg gespielt hätten.
„Den Krupps blieb ja keine andere Wahl, mangels männlicher Erben”, fügte sie noch hinzu. „Aber Otto hält mich über
alles, was in seiner Firma geschieht, auf dem Laufenden, und
Mutter kennt sich ja wohl auch ein bisschen aus, nicht wahr?”
Herr Schulte lachte.
„Immer noch die alte Luise. Im Grunde hast du natürlich
Recht. Übrigens beschäftigt besonders Henry Ford viele Frauen in seinem Werk, nicht in leitender Stellung allerdings, und
Blinde auch, was absoluten Seltenheitswert hat. Er geht noch
jeden Tag durch den Betrieb, hat man uns erzählt.”
„Genau wie du”, warf Rudolf ein, während Helga sich erkundigte, welche Firmen sie denn besichtigt hätten.
„Die meisten Namen werden euch nichts sagen, aber Mars,
LifeSavers und Beechnut, davon habt ihr doch schon gehört?
Auf unserem Programm stand so gut wie jeden Tag eine Führung, und ich muss sagen, dass wir sehr viele Anregungen erhalten haben. Nehmen wir einmal Beechnut – sie stellen nur
zwei Produkte her; das sollten wir auch in Erwägung ziehen,
weil es die Herstellung, die Lagerhaltung und auch den Vertrieb vereinfacht: nichts mit Gläserware und Wickelmaschinen
für Kaubonbons, frischer Milch und zig Sorten von Essenzen.
Außerdem verteilen sie kostenlose Schmeckmuster, Kleinstpackungen mit drei Pfefferminzdragees drin; die Idee sollten wir
auch auswerten. Beeindruckt hat mich des Weiteren, dass die
Firma Mars, die ja nur das Weiße vom Ei verwertet, das Eigelb
an die örtlichen Bäckereien verkauft. Weiß und Gelb werden
maschinell getrennt, könnt ihr euch das vorstellen?”
Zwei Kellner traten an ihren Tisch und räumten geräuschlos
die Teller ab.
„Auf dem Gebiet der Hygiene können wir uns ebenfalls ein
Stück abschneiden, obwohl ich ja immer dachte, da seien wir
vorbildlich mit unseren Kitteln und Hauben sowie dem neuen
Waschraum. Die Firma Mars stellt ihrem Personal jeden Tag
frische Kleidung, das heißt, wenn die Arbeiter morgens eintreffen, schlüpfen sie zunächst einmal in eine saubere Montur,
und um die Reinigung brauchen sie sich nicht zu kümmern. In
einem anderen Betrieb gab es sowohl einen Werksarzt als eine
Werksärztin; die müssen ja erst einmal bezahlt werden.”
„Was mich zuerst überrascht hat …”, meinte Frau Schulte,
die bislang nur zugehört hatte, „also ich konnte anfangs nicht
verstehen, warum so wenig Verbundenheit mit der Firma zu
spüren ist; bei Barkers, der amerikanischen Niederlassung der
Verpackungsmaschinenfabrik, in der Karl zur Zeit als Praktikant in England tätig ist, wechselt in jedem Jahr mehr als die
Hälfte der Arbeiter, und das, obwohl der Betrieb immerhin eine
Krankenkasse eingerichtet hat.”
Herr Schulte griff den Gedanken auf.
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„Ja, die Leute werden gut bezahlt, aber was es in den Staaten alles nicht gibt: Invalidenrente, Arbeitslosenversicherung,
Kündigungsschutz, bezahlten Urlaub … vieles davon hat bei
uns doch schon der alte Bismarck eingeführt.”
Der Getränkekellner schenkte Wein nach, und gleichzeitig
wurde die Nachspeise herangetragen. Frau Schulte meinte, es
sei ihr aufgefallen, dass die Amerikaner alles viel stärker süßten, auch die Geleefrüchte. Bei Blankensteins hätte sie übrigens zum ersten Mal Erdnussbutter probiert, sich damit aber
nicht anfreunden können.
Am Tisch wurde es ganz kurz still, aber dann sprachen Herr
Schulte und Helga gleichzeitig.
„Wie geht es Hildegard?”
„Ich soll besonders Helle ganz herzlich grüßen, von Hildegard, von Fritz und natürlich auch von Onkel und Tante Blankenstein. Fangen wir mal mit Hildegard an – sie ist gerade an
der Juilliard School aufgenommen worden, einer berühmten
Musikhochschule. Dort erhält sie weiterhin Geigenunterricht,
allerdings auf einem Niveau, das die Amerikaner post-graduate nennen, das heißt, ihre Grundausbildung ist abgeschlossen,
und sie bereitet sich in Meisterklassen auf eine Solistenlaufbahn vor. Vielleicht, meinte sie selber in ihrer ganzen Bescheidenheit und mit dem ihr eigenen Humor, werde sie auch bloß
die erste Geige spielen, in einem Orchester natürlich.”
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Helga schaute ihren Vater mit großen Augen an, und er fügte sofort hinzu, Hildegard vermisse Deutschland sehr, insbesondere ihre beste Freundin, und sie hoffe von ganzem Herzen,
dass sich bald die Möglichkeit zu einem Wiedersehen eröffnen
werde. Aber, fuhr er dann sehr ernst fort, das erscheine sowohl
Blankensteins als auch ihm selber als nicht gerade leicht zu
bewerkstelligen. Er senkte seine Stimme, so dass alle bis auf
Frau Schulte, die vermutlich Bescheid wusste, sich ein wenig
vorbeugen mussten.
„Ich hole etwas weiter aus, nicht wahr? Wir haben Onkel
und Tante Blankenstein ja sowohl zu Anfang als auch zu Ende
unseres Aufenthalts in New York besucht. Als ich Eugen, also
Onkel Blankenstein, am letzten Abend berichtete – knapp eine
Woche ist das her –, der Geschäftsführer von Beechnut hätte
mich mit in seine Loge genommen, und ich sei doch ziemlich
verwundert gewesen, weil in den Räumen eine Tanzveranstaltung stattfand, was bei uns in Hagen einfach undenkbar wäre,
da hat er gefragt, ob er nicht Recht gehabt hätte mit seiner Vermutung, auch die Freimaurerlogen würden verboten werden.
Ich konnte ihm leider nur zustimmen und ihm erzählen, wie
das gelaufen war, angefangen von der Beschlagnahmung des
Gebäudes durch die SS im Juli ‘34 unter dem Vorwand, sie
brauchten das Haus für Luftschutzzwecke, und vor allem die
Durchsuchung, wo es dann bis zum November dauerte, bevor
die Polizei sie für ungesetzlich erklärte. Das nützte freilich
nichts mehr, denn sie hatten die Archive und unsere Ritual199
gegenstände gleich beim ersten Mal abtransportiert, und wir
haben nie in Erfahrung bringen können, was damit geschehen
ist. Eugen bemühte sich unseretwegen ehrlich, nicht aufzutrumpfen, wollte dann aber wissen, ob die Logenbrüder, insbesondere ich natürlich, Schwierigkeiten gehabt hätten wegen
ihrer Zugehörigkeit zu einem mittlerweile verbotenen Verein;
da konnte ich ihn beruhigen, also jedenfalls halbwegs.”
Rudolf hob leicht die Hand, und Herr Schulte verstummte,
als sich der Oberkellner mit einer höflichen Verbeugung erkundigte, ob die Herrschaften zufrieden gewesen seien, und den
Getränkekellner heranwinkte, der alle Weingläser noch einmal
halb füllte. Sobald die beiden sich entfernt hatten, setzte Herr
Schulte seine Ausführungen halblaut fort.
„Fritz, den wir nicht angetroffen haben, soll von einem ehemaligen Mitdoktoranden aus Aachen erfahren haben, dass sie
dort allen jüdischen Professoren die Lehrerlaubnis entzogen
haben, mit einer Art Gnadenfrist bis 1934 für ehemalige Frontsoldaten, und dass dort mittlerweile ,deutsche Physik’ unterrichtet wird. Darunter konnte er sich freilich nichts vorstellen.”
Helga, die rechts neben ihrem Vater saß, spürte plötzlich
seinen Arm um ihre Schulter.
„Kurzum, es sieht so aus, als ob Blankensteins in Amerika
eine neue Heimat gefunden hätten. Wenn die Devisen nicht so
knapp wären … In diesem Zusammenhang fällt mir noch eine
Geschichte ein.”
Herr Schulte redete etwas lauter und lachte.
„Unterwegs, also genauer: bei unserem Besuch an den berühmten Niagara-Fällen, kamen wir ins Gespräch mit einem
Deutschen, der sich darüber beklagte, dass wir nur so wenige
Dollars mitnehmen durften; er stehe schon fast mit leeren Taschen da. Ich bot an, ihm auszuhelfen –wie ein Betrüger sah er
nicht aus, das fandest du doch auch, Anna –, und er gab mir seine Adresse mit dem Versprechen, den Betrag sofort nach seiner
Rückkehr auf mein Konto zu überweisen.”
„Wie hast du es denn angestellt, dass euch das Geld nicht
ausging?”, fragte Luise, „mit Kreditbriefen und über die Firma
Barker, so ein kleines bisschen am Rande des Erlaubten?”
Ihr Vater erwiderte gar nichts, sondern schmunzelte .
„Auch eine Antwort”, meinte Luise. „Otto hat mir übrigens
erzählt, dass die Einfuhr ausländischer, unter anderem auch
amerikanischer Waren in der letzten Zeit ständig zurückgeht,
eben wegen dieser Devisenknappheit. Wie schätzen die Geschäftsleute, mit denen du dich dort unterhalten hast, denn die
Lage ein?”
Herr Schulte meinte, die meisten hätten die Politik ausgespart und sich auf rein fachliche Themen beschränkt. Aber
Mutter und er seien doch von vielen Seiten darauf angesprochen worden, ob Deutschland sich auf einen Krieg vorbereite,
wegen der Wiedereinführung des Wehrdienstes vor allem.
Luise warf Rudolf einen triumphierenden Blick zu, enthielt
sich aber jeder Bemerkung und wollte wissen, was ihr Vater
denn darauf geantwortet hätte.
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„Welch eine Frage!”, antwortete Herr Schulte zunächst sehr
rasch. Dann rückte er seinen Stuhl ein wenig nach hinten und
schüttelte nachdenklich den Kopf.
„Die Rückgabe des Saargebiets ans Reich sollte der Regierung in Berlin doch genügen. Zudem sieht es so aus, als
ob wir nicht nur wieder über eine Armee, sondern mit britischer Zustimmung auch über eine ansehnliche Flotte werden
verfügen können. Viele unserer jüdischen Mitbürger sind im
Übrigen 1934 schon wieder aus dem Exil zurückgekehrt, weil
die Gesetze und Erlasse unter dem Druck des Auslands und
wegen der Missbilligung vieler anständiger Deutscher doch ihrer Lebensqualität weniger Abbruch tun als ein Dasein in einer
fremden Umgebung. Meyers – ihr wisst schon: die Familie der
anderen Helga – und Dr. Rosenthal haben das Land erst gar
nicht verlassen. Aber Eugen, der auf Bitten von Fritz diese beiden Bücher gelesen hat, die man jetzt bei der Eheschließung
vom Bürgermeister überreicht bekommt, die zwei Bände von
Hitlers Mein Kampf ”– Herr Schulte hatte wieder die Stimme
gesenkt –, „Eugen traut dem Frieden nicht, Olympische Spiele hin oder her. Er hat mir übrigens, im Scherz natürlich, aufgetragen, Franz Dennersmann und seine Frau Else, geborene
Landwehr, tüchtig am Ohr zu ziehen. Sie leben ja bekanntlich
beide in Braunschweig. Nun soll der Herzog – oder besser: sein
Hof – Hitler damals zur deutschen Staatsangehörigkeit verholfen haben, indem sie ihm auf dem Papier irgendeinen Posten
übertrugen; sonst hätte er weder kandidieren können noch …”
Herr Schulte führte den Satz nicht zu Ende, sondern schob
seinen Stuhl ganz zurück und erhob sich.
„Kurz noch zu Amerika, bevor wir uns auf unsere Zimmer
verteilen. Ich bin mir mit mir selbst nicht so recht einig: Automatisierung, also immer mehr Maschinen und auch Fließbandarbeit, senkt die Herstellungskosten und ermöglicht es dem
Fabrikanten, seine Produkte billiger zu verkaufen; andererseits
verlieren dadurch viele Menschen ihre Arbeit, und sie wird so
unpersönlich, dass die Leute in einem Betrieb nur noch daran
denken, wie sie ihren Lohn ausgeben und keinen Sinn mehr
in ihrer Tätigkeit sehen – nichts mehr mit Werkschor, Weihnachtsfeier und Betriebsausflug. Ich weiß wirklich nicht …
Aber dass ich müde bin, das weiß ich genau; ihr sicher auch.
Wann seid ihr denn aufgestanden, um vier, um fünf? Helle, du
kommst noch eben mit zu uns, ich soll dir etwas geben.”
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Während Luise durch eine der dunkelgrün gestrichenen
Türen verschwand, folgte Helga ihren Eltern in deren Zimmer
und rechnete eigentlich damit, lediglich ein Päckchen von Hildegard oder Fritz in die Hand gedrückt zu bekommen. Deshalb
war sie überrascht und erschrocken zugleich, als ihr Vater sie
aufforderte, sich auf den Stuhl am Schreibtisch zu setzen.
„Es wird nicht lange dauern”, meinte er, und seine Worte
klangen warm, aber bestimmt. „Hier, bevor ich’s vergesse –
ein Brief von Hildegard und ein Umschlag von Fritz, den man
nicht knicken darf … auch wegen Luise, ich meine: Was wir
dir zu sagen haben, bleibt unter uns dreien, ja?”
Helgas Herz begann rasend schnell zu schlagen. Sie warf
einen Blick auf ihre Mutter, die ihr halb den Rücken zudrehte
und nacheinander mehrere lange Nadeln aus ihrem Hut zog.
„Mit der Katze und dem heißen Brei habe ich’s noch nie gehalten”, fuhr Herr Schulte fort und ging im Zimmer auf und ab.
„Deshalb komme ich gleich zur Sache. Bei Blankensteins, die
wir als Anlaufadresse angegeben hatten, erreichten uns zwei
Briefe, der eine von Herrn und Frau Stoecklin aus Basel, der
andere von den Fräuleins Griesbecque. Beide enthielten, wenn
auch unterschiedlich abgefasst, die gleiche Information: Jürg
Stoecklin habe wohl Gefallen an dir gefunden, und ihr hättet
euch des Öfteren in Lausanne getroffen. Den beiden Damen
Griesbecque fiel zunächst auf, dass sehr häufig Briefe mit Baseler Poststempel für dich eintrafen. Stutzig gemacht hat sie
der Absender: Eva Stoecklin. Da hätte also Frau Stoecklin, die
nur zweimal über das Haustelefon bei dir angerufen hat, dir
jungem Ding so viel zu erzählen … Hingegen haben sie deine
Zimmergenossin Felicity mehrfach vor der Post warten sehen,
auf dich, wie sie dann feststellten, und bei einer Filmvorführung sollst du auch den Saal zwischendurch für längere Zeit
verlassen haben. Denke nun nicht, Felicity hätte geplaudert –
das war gar nicht nötig, denn die Fräuleins Griesbecque und
ihr Personal verfügen über eine Menge Erfahrung mit jungen
Mädchen deines Alters. Wohlgemerkt, Helle” – ihr Vater blieb
vor ihr stehen, beugte sich zu ihr hinunter und blickte ihr gerade in die Augen –, „das ist alles nicht schlimm; noch ist es
nicht zu spät. Dass Fritz nicht nur nach Amerika gegangen ist,
sondern allen, auch dir ziemlich bald zu verstehen gegeben hat,
dass dort seine Zukunft liegt, war und ist für dich ein sehr harter Schlag. Aber Jürg … Ich deutete ja an, dass auch Stoecklins
uns geschrieben haben. Ihnen ist nicht entgangen, was sich da
zwischen Jürg und dir gleich bei deinem ersten Besuch in Basel
anbahnte, und sie haben sich nur sehr schweren Herzens dazu
entschlossen, uns das mitzuteilen, was Karl während seines
Praktikums in ihrer Firma schon bemerkt und in so manchem
Gespräch hinterher hat durchblicken lassen: Jürg sei ein Tunichtgut und zudem ein Schürzenjäger.”
Helga starrte ihren Vater entgeistert an.
„Ja, Helleken, so leid es mir tut. In ihrem Schreiben drücken
Stoecklins sich verständlicherweise nicht so krass aus; es geht
ja schließlich um ihren Sohn. Aber er hat bereits einen Bankert,
also ein uneheliches Kind, gezeugt und mindestens drei Mädchen die Ehe versprochen, vielleicht sogar noch mehr, aber diese drei sind bei Stoecklins vorstellig geworden. Außerdem ist
er so unstet, dass sein Vater fast die Hoffnung aufgegeben hat,
ihn als seinen Nachfolger im Betrieb zu sehen, denn auch Jürgs
Verhältnis zu Geld ist eindeutig … sagen wir einmal: getrübt.
Ulrich Stoecklin schätzt die Lage als fast aussichtslos ein, und
er hofft, dass zumindest eine seiner Töchter später einmal ei-
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Obwohl Helga nicht wusste, wie sie Luise entgegentreten
sollte, begab sie sich geradewegs zu ihrem gemeinsamen Hotelzimmer, weil sie vermutete, dass ihre Eltern sich in wenigen
Minuten zumindest telefonisch vergewissern würden, dass sie
nicht etwa das Gebäude verlassen hätte.
Zu Helgas Erleichterung hielt sich Luise im Badezimmer
auf, und als es läutete, rief sie ihrer Schwester zu, sie möge
doch bitte an den Apparat gehen, nasse Fusstapfen machten
sich auf dem Teppich nicht gut. So hob Helga den Hörer ab,
antwortete kurz und wünschte ihren Eltern eine gute Nacht, bevor sie sich auf ihr Bett fallen ließ. Seltsamerweise bemerkte
sie erst in diesem Augenblick, dass sie die ganze Zeit lang die
beiden Umschläge fest in der Hand gehalten hatte. Sie öffnete
den mit Hildegards Schriftzügen darauf und bewegte ihre Augen von einer Zeile zur anderen, ohne mehr wahrzunehmen als
das, was ihr Vater ihnen vorhin am Tisch schon erzählt hatte.
Dabei wünschte sie sich inständig, Hildegard möge ihr gegenübersitzen und sie ein wenig spöttisch, vor allem aber offen
ansehen und ihr wie früher zu verstehen geben, dass Helle ihr
absolut vertrauen konnte. Mühselig und beladen, murmelte sie
vor sich hin und dann: Von einem Bankert hat er gesprochen.
Nebenan putzte Luise sich geräuschvoll die Zähne.
Nur gut, dass es wirklich noch nicht zu spät war; hätte ja
sein können. Und Luise hatte schon Recht: Irgendjemandem
musste man sich ja anvertrauen.
War das wirklich erst gestern Abend gewesen, als sie Ilse
nach dem langen 1.-Mai- Wochenende zum Zug nach Köln
begleitet und ihr mit vielen Unterbrechungen zwischen dem
zischenden Dampf der Lokomotiven und den Trillerpfeifen der
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nen einschlägig ausgebildeten oder wenigstens fürs Geschäft
begabten Ehemann nach Hause bringt.”
Herr Schulte blieb hinter dem Sessel stehen, in dem seine
Frau mittlerweile Platz genommen und sich Helga voll zugewendet hatte.
„Vater und ich haben volles Verständnis dafür, dass du dich
zu diesem jungen Mann hingezogen fühlst. Er ist so charmant”– ihre Mutter lächelte und schien wirklich zu meinen,
was sie sagte –, „dass er sogar mich auf der letzten Leipziger
Messe um den Finger gewickelt hat. Aber du wirst jetzt wohl
selber zu dem Schluss gelangen, dass du gut daran tust, ihm
keine Hoffnungen zu machen und selber Abstand zu gewinnen. Wir vertrauen auf dich, Helleken, und verzichten deshalb
darauf, dir Hausarrest auferlegen zu lassen; so werden solche
Situationen von den Fräuleins Griesbecque wohl in der Regel
gemeistert.”
Helga senkte kurz den Kopf und biss sich auf die Lippen.
Dann nickte sie und erhob sich mit einer ruckartigen Bewegung.
„Habe verstanden. Ihr könnt euch auf mich verlassen.”
Ihr Vater machte ein paar Schritte in ihre Richtung, aber sie
hatte die Tür schon hinter sich geschlossen.
Bahnbeamten davon berichtet hatte, immer wieder nach Worten suchend, wie Jürg sie bei seinem ersten kurzen Besuch in
Lausanne gleich zu Anfang so heftig geküsst und ihr die Lippen zerbissen hatte, dass sie darauf angesprochen worden war
und als Erklärung abgegeben hatte, aus Versehen habe sie ein
Stück Kuchen mit Haselnüssen darin gegessen, und darauf reagiere sie so wie einige der anderen Mädchen auf Erdbeeren.
Bei dem Spaziergang am See entlang, im Februar seien ja nicht
viele Leute unterwegs gewesen, habe Jürg sie wenig später hinter einen niedrigen Schuppen gezogen – für Gartengeräte vermutlich, hatte sie hinzugefügt, um Zeit zu gewinnen – , seine
Hände kräftig aneinander gerieben, um sie zu wärmen, ihren
Mantel aufgeknöpft, den Pullover hochgeschoben und dann
ihre Brust berührt.
„Nicht nur das”, hatte sie zögernd ergänzt, „er hat sie mit
Küssen bedeckt und an meinem Schlüpfer herumgenestelt. Aber
dann bellte ein Hund ganz in der Nähe.” Helga hatte gewartet,
bis die Ansage aus dem Lautsprecher verklungen war, einem
Zug nachgeschaut und dabei berichtet, zwei Wochen später sei
es passiert; da hätte Jürg einfach ausprobiert, ob der besagte
Schuppen überhaupt verschlossen sei, und … mit Schmerzen
sei es nicht verbunden gewesen. Jürg habe ja auch mehrfach
betont, auf dem Gebiet fehle es ihm wirklich nicht an Erfahrung, und eigentlich – Helga hatte einmal geschluckt – müsse sie gestehen, als unangenehm habe sie es nicht empfunden,
eigentlich eher das Gegenteil. Sie hätten dann bei Jürgs allen
weiteren Stippvisiten immer gleich den Schuppen aufgesucht
und dort die Zeit zwischen Ankunft und Abfahrt verbracht.
„Ich mochte …, um ehrlich zu sein, ich mag das”, hatte sie
abschließend erklärt.
Ilse hatte zunächst schweigend zugehört, Helga dann aber
zu verstehen gegeben, sie selber verliebe sich immer in verheiratete Männer, die ständig darauf bedacht seien, bei ihren
Ehefrauen kein Misstrauen aufkommen zu lassen, eben lauter
Geschichten ohne Zukunft. Den großen Schritt habe sie deswegen noch nicht gewagt, einmal abgesehen davon, dass man ja
immerzu auf der Hut sein müsse, besonders sie als Tänzerin,
und ihre Stelle wolle sie wegen eines unehelichen Kindes nun
wirklich nicht verlieren. Helga war über und über rot geworden
und hatte nichts mehr gesagt. Als der Zug nach Köln angekündigt wurde, hatte sie Ilse fest in die Arme geschlossen und ganz
rasch hervorgestoßen, verliebt sei sie in Jürg ja schon, aber Liebe, das müsse etwas anderes sein. Dabei hatte sie an Fritz gedacht und gespürt, wie dicke Tränen über ihre Wangen rollten.
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Als Luise mit noch feuchten Haaren im Bademantel ins
Zimmer trat, stand Helga am Fenster und schaute in die Dunkelheit hinaus, wischte jedoch einmal mit der Hand über ihr
Gesicht.
„Ich an deiner Stelle, liebe Helle, würde jetzt einmal nachsehen, was in dem Umschlag steckt, den du da zwischen deinen
Fingern zerknautscht”, meinte Luise und zog ihr Nachthemd
aus dem Köfferchen. „Vorher wirst du bitte das Fenster öffnen und den fast mitternächtlichen Wind hereinlassen. Alles
neu macht der Mai – und er macht auch sorgenfrei. Letzteres
stammt von mir, aber ich wünsche es dir von ganzem Herzen,
so, wie du ausschaust.”
Helga ging ganz kurz durch den Kopf, dass sie jetzt ja wusste, was sie auf den Heiratsantrag von Ernst Herberts erwidern
sollte, und dass in zwei Monaten wieder viele Kilometer zwischen ihr und Jürg Stoecklin liegen würden; nur einen Augenblick lang fragte sie sich, ob sie ihn denn als die Person kennen
gelernt hätte, die sein eigener Vater ihren Eltern geschildert
hatte. Vielleicht würde er sich ja ihr zuliebe ändern. Aber andererseits hatten ihr Vater und ihre Mutter immer das Beste für
sie gewollt.
Sie seufzte einmal tief und faltete Hildegards Brief zusammen, griff dann nach dem Umschlag, auf den Fritz ihren Namen
geschrieben hatte, und zog ein sorgfältig gepresstes, in Zellophan verpacktes und auf weißen Karton aufgeklebtes vierblättriges Kleeblatt heraus, starrte es fassungslos an und lächelte
dann so, dass Luise zu ihr herantrat und sie behutsam an sich
drückte, offensichtlich jedoch zunächst nichts zu sagen wusste.
„Wie wäre es denn, wenn du dem Vorschlag der Familie
Barker zustimmtest, als Austauschpartnerin ihrer Nichte Rosemary Summers für ein halbes Jahr nach England zu gehen?”,
meinte sie schließlich. „Weißt du, dahin, wo Karl sich jetzt gerade aufhält?”
„Ach, Luise”, sagte Helga, „wenn es doch schon so weit
wäre.”
Dann richtete sie sich gerade auf und blickte auf das Kleeblatt.
„Zum Glück wartet in Cyrano Felicity auf mich … und richtig gut Französisch lernen möchte ich trotz allem.”
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„Was Luftpostbriefe nach Amerika kosten, weiß ich nicht.
Wenn ich mich überhaupt einmal zum Schreiben aufraffe, dann
reicht es gerade zu einer Geburtstagskarte an eine von meinen
Schulkameradinnen aus dem Internat, und die wohnen alle in
England. Deshalb bekomme ich natürlich auch längst nicht so
viel Post wie du.”
Rosemary ging neben Helga her, fuhr graziös mit den Armen durch die Luft und fügte dann hinzu, sie sei nicht einmal
sicher, dass Mrs Rowe in der kleinen Dorfpost sich da auskenne.
„Es ist schon erstaunlich, dass man hier überhaupt Briefmarken kaufen kann. Chapel St. Leonards” – Rosemary lachte
– „besteht doch eigentlich nur aus vier, fünf Häusern, wenn
man von denen absieht, die unserer Familie gehören. Außer einem Hotel und dem Tennisplatz daneben, einem Andenkenladen – vielleicht ist seit dem letzten Jahr noch einer dazugekommen – sowie ein paar Bungalows gibt’s doch bloß den Strand
und die Dünen.”
Sie drehte eine Pirouette mitten auf der Straße und wischte
sich dann ihre dunkelbraunen Locken aus dem Gesicht.
„Lass mich mal raten. Von den Leuten, denen du den Brief
schickst, hast du auch die Geschichte mit der seltsamen Abstimmung in den Vereinigten Staaten erfahren, über die du gestern mit meinen Eltern und Onkel Alf gesprochen hast.”
Helga nickte und errötete kaum sichtbar.
„Ja, der Bruder meiner Freundin Hildegard und übrigens
auch Hildegard selbst haben mir davon berichtet, letztes Jahr in
der Weihnachtszeit muss es gewesen sein, dass Avery Brundage, der Präsident des Olympischen Komitees, die Abstimmung
um vierundzwanzig Stunden verschoben hat, weil er sicher
sein wollte, dass sie zugunsten einer Teilnahme an den Olympischen Spielen ausfiele.”
„Du liebe Güte, kannst du einmal kürzere Sätze machen,
Helga? War denn jemand dagegen? Alle Sportler wollen doch
immerzu gewinnen, Medaillen für ihr Land natürlich erst recht,
und warum hätten denn die Amerikaner nicht an den Spielen
teilnehmen sollen?”
Helga atmete einmal tief durch. Dass Rosemary mit ihren
siebzehn Jahren selten einen Blick in die Zeitungen warf, die
Mr Summers bei seinem Morgenspaziergang aus dem Dorf
mitbrachte, war ihr schon in den ersten Tagen ihres Aufenthalts
in Sandy Hills aufgefallen, und so holte sie etwas weiter aus.
„Also: 1931 waren die Winter- und Sommerspiele Deutschland zugesprochen worden. Nach dem Regierungswechsel
zwei Jahre später” – wie ,Machtergreifung’ zu übersetzen wäre,
fiel Helga so rasch nicht ein – „wurde diese Entscheidung von
vielen Seiten infrage gestellt, und in Paris bildete sich sogar
eine Gruppe um Heinrich Mann, das ist ein berühmter deutscher Schriftsteller, die eine Gegenolympiade in Barcelona
durchführen wollten. Aber dann verpflichtete sich Deutschland
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10. Kapitel: Spätsommer 1936
ganz ausdrücklich, die Regeln einzuhalten, nämlich alle Rassen und Konfessionen zuzulassen, und damit war den Gegnern
der Wind aus den Segeln genommen. In den Vereinigten Staaten versuchten jedoch die Gewerkschaften und besonders das
Committee on Fair Play in Sports weiterhin, einen Boykott zu
erwirken, und deshalb hat Avery Brundage halt die endgültige
Abstimmung um einen Tag nach hinten verschoben und alle
Mitglieder telegrafisch herbeizitiert, die für eine Teilnahme
waren. Das Ergebnis fiel dementsprechend knapp aus, 58:56,
wenn ich mich recht entsinne.”
Sie hatten den kleinen Gemischtwarenladen, wo auch Zigaretten und eben Briefmarken zu erhalten waren, erreicht und
blieben davor stehen.
„Wenn die Schwarzen nicht nach Berlin gefahren wären,
hätten sie sich aber ganz schön ins eigene Fleisch geschnitten”, erwiderte Rosemary. „Onkel Alf meint, allein dieser Jesse
Owens wäre mit vier Goldmedaillen in die Staaten zurückgekehrt.”
„Ja, in einigen Disziplinen, beim Hochsprung zum Beispiel
und sowohl beim 100-, 200- als auch beim 400-Meter-Lauf haben sie gleich zwei Medaillen eingeheimst. Aber es waren ja
nicht so sehr die Schwarzamerikaner, die sich für einen Boykott ausgesprochen haben. Die sind mit der festen Absicht nach
Berlin gefahren, den Nationalsozialisten die Unhaltbarkeit ihrer Rassentheorie zu beweisen …”
„Habe ich das richtig verstanden, was Onkel Alf da von
dem Weitsprungduell erzählte, ich meine, dass der deutsche
Athlet Lutz Long hieß, Long wie the long jump? Das ist ja ein
komischer Zufall!”
Rosemary klatschte einmal in die Hände und begrüßte unmittelbar darauf die ältere Frau, die auf das Klingeln der Türglocke hin an die Ladentheke getreten war.
„Hello, Mrs Rowe, wie geht es?”
„Und wie geht es dir, Rosemary, oder muss ich dich jetzt
mit Fräulein Summers anreden?”
Helga legte den Luftpostbrief mit der Adresse nach oben
zwischen der Registrierkasse und den Gläser mit Süßwaren
ab, lächelte, als sie auch eine Schachtel mit Mars-Riegeln entdeckte, und bat Mrs Rowe, ihn zu frankieren. Nachdem die
Frau mit dem geblümten Kittel in einem abgegriffenen Büchlein geblättert und den Umschlag gewogen hatte, suchte sie
aus einer Schatulle Marken heraus, befeuchtete sie mit einem
Schwämmchen und klebte sie sorgfältig in die rechte Ecke.
„Wird nachher noch abgeholt”, sagte sie dann sehr deutlich
und ließ ihren Blick, wie schon zu Anfang, zwischen Rosemary
und Helga hin und her schweifen. Auf Helgas Thank you and
good bye hin nickte sie nur und verschwand wieder durch den
Türrahmen.
Helga machte ein paar Schritte den kleinen Hügel hinauf,
der seltsamerweise pullover hieß, und schwieg, bis sie von
oben das Meer sehen konnte.
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„Habe ich etwas falsch gemacht?”, fragte sie dann und blieb
stehen. „Sie hat mir ja noch nicht einmal Auf Wiedersehen gesagt!”
Rosemary war ganz offensichtlich verlegen und wusste
nicht, was sie erwidern sollte. Dann legte sie eine Hand auf
Helgas Unterarm, schob sie weiter und brachte nach mehreren
Anläufen heraus, dass Helga ja schließlich Deutsche sei. Während sie am Strand nebeneinander hergingen, die Hände in den
Taschen ihrer weitbeinigen Hosen vergraben und ohne sich anzusehen, unternahm Rosemary den Versuch, ihre Äußerung zu
erläutern, was sie ebenso offensichtlich große Anstrengungen
kostete.
„Dein Englisch ist wirklich hervorragend”, meinte sie zuerst eifrig. „Hast du das in der Schule gelernt?”
Helga nickte und fügte hinzu, ihre Unterhaltungen mit Felicity Blake, einer amerikanischen Mitschülerin bei den Fräuleins Griesbecque in Lausanne, wären allerdings auch nicht
immer, wie es die Hausordnung vorschrieb, auf Französisch
erfolgt.
„Hervorragend, aber?”, hakte sie nach.
Rosemary seufzte.
„Von Politik verstehe ich nichts, das hast du ja schon mitbekommen, und dafür, dass dieser Herr Hitler bei euch Premierminister, nein: Reichskanzler ist, kannst du nichts. Du bist ja
nicht einmal jetzt alt genug zum Wählen – das darf man doch
bei euch auch erst mit einundzwanzig, nicht wahr? Und deine
Eltern … Onkel Alf und meine Eltern kennen sie seit langem,
also seit sie unsere Verpackungsmaschinen kaufen. Noch dazu
ist dein Vater Freimaurer, was das auch immer sein mag; auf
jeden Fall hat Herr Hitler die Logen verboten, und das bedeutet
doch wohl, dass er deren Mitglieder als seine Feinde betrachtet.”
Obwohl Helga wirklich auf eine Erklärung für das Verhalten der Frau in dem Krämerladen wartete, ließ sie Rosemary
den Satz kaum zu Ende führen.
„Warum sagen eigentlich alle Engländer immer Herr Hitler
und nicht Mister?”
Rosemary drehte sich zu ihr hin und starrte sie erstaunt an.
„Es ist doch eine Frage der Höflichkeit, jemanden in seiner
Sprache anzureden, oder?”
„Ach so!”
Helga lachte, entschuldigte sich jedoch sofort für die Unterbrechung. Rosemary lachte auch, gab Helga zu verstehen, dass
sie ihre Schuhe auszuziehen gedächte, und kurz darauf marschierten sie beide hintereinander barfuß am Rand der Wellen
entlang.
„Meine Eltern haben nur deshalb ihr Einverständnis gegeben, dich für sechs Monate bei uns aufzunehmen und mich
dann zu euch nach Hagen zu schicken, weil sie davon überzeugt sind, dass deine Eltern nicht zu den Menschen zählen, die
wir im Radio zu allem und jedem begeistert ,Heil Hitler’ brüllen hören. Sogar ich weiß ja längst, wie die Stimme von Herrn
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Hitler klingt oder die von Herrn Goebbels, und deren Ideen
erwecken bei uns in Großbritannien nun einmal Misstrauen.”
Helga senkte den Kopf, aber das merkte Rosemary nicht. Sie
schwenkte ihre Schuhe an den zusammengebundenen Schnürsenkeln hin und her und meinte, Mrs Rowe im Gemischtwarengeschäft hätte natürlich Helgas deutschen Akzent herausgehört
und nicht so recht gewusst, wie sie sich verhalten sollte, denn
schließlich sei sie in Begleitung von ihr, Rosemary Summers,
in ihrem Geschäft aufgetaucht, und das stelle eigentlich eine
Art von Garantie dar.
„Außerdem”, fügte sie hinzu und ging wieder an Helgas
Seite, „meint Onkel Alf, auch auf die Nazis – was für ein Wort,
aber es ist kürzer als ,Nationalsozialisten’ – treffe das alte
Sprichwort zu, nämlich: Es wird nichts so heiß gegessen, wie
es gekocht wird. Ganz zu Anfang, also 1933, hätten sie zwar
viele Gesetze erlassen, zum Beispiel alle Gewerkschaften und
Parteien aufgelöst außer ihrer eigenen natürlich, und …”
„… und solche, die den Juden das Leben in Deutschland
unmöglich machen, sag’s ruhig”, ergänzte Helga, „mit Boykottveranstaltungen und der Einrichtung gesonderter Schulen
sowie Verboten, bestimmte Berufe zu ergreifen, oder, seit September 1935, Nichtjuden zu heiraten.”
Helga atmete einmal tief durch und schluckte.
„Deshalb wanderten und wandern viele jüdische Familien
aus.” „Aber Onkel Alf hat erzählt, dass bei der Sommerolympiade jüdische Sportler sogar für Deutschland angetreten sind,
irgendeine Fechterin und eine Leichtathletin; die Namen habe
ich selbstverständlich vergessen.”
Helga nickte, blickte aber stumm geradeaus, während Rosemary mit ihren großen Zehen Sand in die Luft schleuderte und
die Arme kreisen ließ.
„Onkel Alf nimmt uns nachher übrigens mit zu Butlin’s,
hast du das mitbekommen?”, fragte sie nach einer Pause und
warf Helga einen raschen Blick zu.
Als Helga wieder nur nickte und weiterhin schwieg, sagte
sie vor sich hin, als ob Helga es nicht hören sollte, sie habe
vorhin die Adresse auf dem Briefumschlag gelesen.
„Blankenstein. Rubinstein … Aber Fritz hieß doch sogar einer eurer Könige, und die Franzosen nennen alle Deutschen so,
nicht wahr?”
Als Rosemary auch darauf keine Antwort erhielt, zuckte sie
einmal mit den Schultern und schien erleichtert, als sie wenig
später den Tennisplatz erreichten, wo ihre Eltern gegen zwei
Hotelgäste aus Gainsborough ein gemischtes Doppel spielten.
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„Ihr kommt gerade richtig!”, rief Mr Summers und winkte
sie mit seinem Schläger heran. „Unser Schiedsrichter hat sich
soeben entschuldigt, dringende Familienangelegenheit, was das
auch immer bedeutet. Könnte Helga nicht einspringen? Beim
letzten Mal hat sie ihre Sache gut gemacht, und als Beitrag zur
Zivilisationskunde ist Tennis einfach nicht zu überbieten.”
„Cricket”, meinte der andere Herr, „Cricket hast du vergessen, Hugh. Aber du hast Recht: Gleich danach kommt Tennis
auf einem Rasenplatz mit Linien aus zermahlener Kreide.”
Helga zögerte nicht, sondern stieg, nach einem kurzen
Blickwechsel mit Rosemary, die Metallsprossen zum Schiedsrichterstuhl hinauf und begann zu zählen: fifteen – love. Dabei
rannen ihr ein paar Tränen die Wangen hinunter, die jeder aufmerksame Betrachter auf den Wind zurückgeführt hätte, der
beständig vom Meer über die Dünen blies.
„Warum heißt dieser niedrige Erdwall zwischen Land und
See im Dorf eigentlich pullover?”, erkundigte sich Helga beim
Mittagessen, als sie zu viert an dem runden Mahagonitisch in
der Veranda von Sandy Hills saßen. Unter Pullover versteht
man in Deutschland etwas anzuziehen, ungefähr das, was man
hier sweater nennt.”
Rosemary hatte sie unsicher angeschaut, als Helga in Begleitung von Mr und Mrs Summers vom Tennisplatz zurückgekehrt war, und dann erleichtert gelächelt, denn alle drei waren
tief in eine Unterhaltung über das gerade gewonnene Doppel
verwickelt. Mr Summers strich dabei immer einmal wieder
sein Haarkränzchen glatt, wenn er nicht gerade seine lange
weiße Leinenhose nach oben zog, und meinte verschmitzt, ihre
Gegner seien auch noch nicht so lange verheiratet wie er und
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Mrs Summers, für Helga Auntie Alice. Im Laufe der Jahre lerne
mal halt, jede Bewegung des Partners vorauszusehen, und das
mache die Verminderung des Reaktionsvermögens und vor allem die geringere Laufgeschwindigkeit mit Leichtigkeit wett.
Sie hatten alle laut und vergnügt gelacht, Mrs Summers war
in ihrem Zimmer verschwunden, und Mr Summers hatte Rosemary von ihrem großartigen Sieg berichtet. Vielleicht, hatte er grinsend hinzugefügt, hätten ihre Gegner sie allerdings
auch gewinnen lassen, denn immerhin handele es sich bei dem
Mann um einen Angestellten der Firma, wenn auch einen in
leitender Position.
Und sie hatten noch lauter gelacht.
Während Helga eine mayonnaiseartige Soße aus einer Flasche auf die Salatblätter goss und mit der Gabel, die Zinken
nach unten gerichtet, gepökeltes Büchsenrindfleisch vom Teller zum Mund führte, bevor sie den Nachtisch, eine aus vielen
Schichten bestehenden Süßspeise namens trifle, in sich hinein
löffelte, lieferte ihr Mrs Summers, Auntie Alice, die Erklärung:
Über den besagten kleinen Erdwall müssten die Fischer immer ihre Boote ziehen, um sie vor Sturmfluten in Sicherheit zu
bringen; so einfach sei das. Aber jetzt – sie warf mindestens
zum fünften Mal einen Blick auf die Standuhr neben der Tür –
müssten sich die Mädchen fertig machen, denn Onkel Alf werde gleich erscheinen, um sie abzuholen, und Unpünktlichkeit
könne er nicht ausstehen.
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„Im Übrigen ist es sehr nett von ihm, dass er euch Butlin’s
Holiday Camp zeigt. Da es gerade erst eröffnet worden ist, im
April, glaube ich, und in ein paar Tagen für den Winter schließt,
drängen sich natürlich die Neugierigen. Soweit ich weiß, bedarf
es schon guter Beziehungen, um als Nicht-Gast eingelassen zu
werden”, meinte Mrs Summers, und ihre Stimme klang deutlich belehrender als sonst. Mr Summers brummte zustimmend,
fügte aber hinzu, zwei so hübschen jungen Dingern vermöchte
doch wohl selbst der unerbittlichste Türhüter nicht zu widerstehen, und dabei zwinkerte er den beiden Mädchen zu.
Helga sah noch einmal auf ihre Armbanduhr und zog Rosemary die geschwungene Treppe mit dem hölzernen Treppengeländer hoch, vorbei an den Fenstern mit den in Blei gefassten
Butzenscheiben, und meinte, die Zeit reiche gerade noch, sich
die Hände zu waschen. Als sie kurz darauf die Stufen wieder
hinuntersprang, trug sie indessen eine frische weiße Bluse, einen wadenlangen, engen Rock und eine ziemlich dicke blaue
Wolljacke. Rosemary sah ihr etwas erstaunt entgegen, sagte
aber nichts und öffnete die Tür zur Straße, wo Alfred Barker
gerade aus seinem Jaguar stieg. Auch er schien überrascht zu
sein, breitete dann jedoch lachend seine Arme aus und forderte
die beiden Mädchen zum Einsteigen auf. Als Helga sich anschickte, neben Rosemary auf die Hinterbank zu rutschen, hatte sie den Eindruck, Mr Barker wolle ihr vorschlagen, doch
auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen, aber dann schloss er
schwungvoll die Tür und schob sich hinter das Lenkrad.
Kurz darauf warf er einen Blick in den Rückspiegel, wechselte in einen höheren Gang und erkundigte sich dann – seine
Stimme klang so, als ob er gleich wieder in Lachen ausbrechen
wolle –, ob Helga sich inzwischen durch das Generationengewirr der Familie Barker hindurchgefunden habe.
„Bis Skegness, es sind ja nur wenige Meilen bis zu Butlin’s,
können wir einen Stammbaum erstellen, nehme ich an. Also,
Helga?”
Wenn sie auch nicht wusste, wozu sie sich dieser Übung unterziehen sollte, zählte Helga doch bereitwillig die Mitglieder
der Familie Barker auf und merkte, dass ihr die Sache sogar
Spaß machte.
„Da wäre zunächst Elizabeth, Ihre Mutter. Ihr Vater, der
auch Alfred hieß, lebt schon lange nicht mehr. Hat er nicht die
Firma wiederum von seinem Vater übernommen, dessen Name
auch Alfred war?”
„Gut aufgepasst, kleine Deutsche”, stimmte er zu, wendete
aber den Blick nicht von der Straße ab. „Und weiter?”
„Elizabeth und Alfred bekamen drei Kinder …”
Rosemary wollte wohl etwas einwerfen, unterließ es aber
auf eine Handbewegung ihres Onkels hin.
„…Phyllis, die älteste, heiratete einen Architekten, Mr Alderson; sie war bei der Hochzeit noch sehr jung, siebzehn,
stimmt das? Ihre Kinder Peter, Paul und Mary, sind bereits erwachsen und wohnen nicht mehr in Gainsborough. Peter, hat
Rosemary mir erzählt, ist fast so alt wie Sie und hat schon zwei
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kleine Töchter. Die zweite, Alice, hat Mr Summers, Onkel
Hughie, geheiratet; deren Tochter sitzt neben mir.”
Helga lachte und griff nach Rosemarys Hand.
„Und Sie sind mit Abstand der Jüngste. Sie leiten mit Onkel
Hughie zusammen die Firma Barker Brothers, Verpackungsmaschinen aller Art, von Waschpulver bis Weichkaramellen.”
„Wenn Onkel Alf einmal heiratet”, kicherte Rosemary,
„dann werden seine Kinder die Onkel oder Tanten von Peters
Töchtern sein, die älter sind als sie. Da kann man in der Tat von
seltsamen Familienverhältnissen sprechen.”
Helga beugte sich vor.
„Wieso eigentlich Barker Brothers? Einen Bruder haben
Sie doch gar nicht, Onkel Alf.”
Rosemary, die aus dem Fenster gestarrt hatte, gab die Antwort.
„Der erste Alfred, mein Urgroßvater, hatte aber einen, und
Onkel Alf … eigentlich auch. Der ist jedoch in Flandern gefallen.”
Sie schwiegen alle drei, aber da fuhren sie schon an einer
Art Siedlung mit einem Zaun darum entlang. Auf einem der
Gebäude entzifferte Helga einen Satz, den sie nur mit einigem
Nachdenken zu übersetzen vermochte: Our true intent is all for
your delight.
Als er seinen Wagen auf dem Parkplatz abgestellt hatte, öffnete Onkel Alf erst Rosemary, dann Helga die Tür. Dabei sagte
er zu Helga, so dass auch Rosemary es hören konnte, er sei
eigentlich nicht ihr Onkel und schlage deshalb vor, dass sie ihn
einfach mit seinem Vornamen, Alfred, anreden möge.
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Zielbewusst ging Onkel Alf, Alfred Barker, auf eine der
Türen des Gebäude mit dem beflaggten Turm zu und erklärte
den beiden Mädchen, sie würden in den Genuss einer richtigen
Führung gelangen.
„Diese Ehre verdanken wir der Tatsache, dass Norman
Bradford, einer der Ingenieure, die diese Anlage für Billy Butlin gebaut haben, mit mir zusammen in die Schule gegangen
ist. Ein toller Bursche übrigens, der Norman”, fügte er hinzu
und rieb sich die Hände. „Ganz zu Anfang, das Ferienlager besteht ja erst seit ein paar Monaten, klappte es mit dem Kontakt
unter den campers nicht so recht, und Butlin hatte den Eindruck, dass manche Leute sich sogar langweilten, obwohl sie
hier ja rund um die Uhr unterhalten werden. Aber das wird euch
gleich ein Redcoat erzählen, nehme ich an. Norman selbst kam
auf die Idee, den Gästen nicht nur das Tagesprogramm mündlich zu präsentieren, sondern sie auch miteinander bekannt zu
machen.”
„Sieh mal, Helga”, rief Rosemary, „sie haben hier sogar
eine eigene Post!”
In dem Augenblick trat ein junger Mann in einer weißen
Flanellhose und einer roten Jacke zu ihnen, verbeugte sich und
fragte, ob er das Vergnügen habe, Mr Barker und seinen beiden
Begleiterinnen gegenüber zu stehen. Dann bitte er sie nämlich,
ihm zu folgen.
„Kurz noch die Geschichte zu Ende”, meinte Alfred Barker.
„Norman stand also oben auf der Bühne und forderte die campers auf, sich ihrem Nachbarn zur Rechten vorzustellen. Nachdem die anfängliche Überraschung abgeklungen war – Helga
weiß ja inzwischen auch, dass Engländer nur mühsam dazu zu
bewegen sind, über ein How do you do? hinauszugehen –, folgten sie seiner Bitte und wunderten sich dann schon weniger,
als sie den Vorgang mit ihrem Nachbarn zur Linken wiederholen sollten. Plötzlich war das Eis gebrochen: Die Leute redeten miteinander. Kannten Sie diese Anekdote?”, erkundigte
sich Alfred bei dem jungen Mann, der ihnen schweigend und
umsichtig einen Weg durch die Menschenansammlung in der
Nähe des Eingangs gebahnt hatte.
„Bekanntschaften werden inzwischen übrigens auch in den
Bügelzimmern geschlossen, vor allem natürlich zwischen unseren Gästen weiblichen Geschlechts. Aber darf ich mich zunächst vorstellen? Mein Name ist Tom Payne. Sie wissen so
gut Bescheid, Mr Barker, dass ich Ihnen gewiss nichts Neues
werde erzählen können; aber ich biete Ihnen und den beiden
jungen Damen trotzdem an, Ihnen jede gewünschte Auskunft
zu erteilen.”
Helga war stehen geblieben.
Vor ihnen erstreckten sich bis zu der Dünenkette am Horizont lange Reihen völlig gleich aussehender Holzhäuschen,
blendend weiß gestrichen mit einem Giebeldach, zwei kleinen
Fenstern und einer Tür dazwischen, hier ein wenig Gelb, dort
etwas Blau. Weiter hinten glaubte sie auch einige zweistöckige
Gebäude entdeckt zu haben.
„Die Inneneinrichtung ist natürlich einfach, ein paar Betten, ein Schrank, ein Tisch, Stühle, eine Waschgelegenheit mit
fließendem Wasser”, hörte sie Tom Payne sagen. „Aber was
braucht man mehr, wenn drei Mahlzeiten in einem der Restaurants im Preis inbegriffen sind und man sich ohnehin, jedenfalls
bei schönem Wetter” – er grinste Alfred Barker zu –, „meist
draußen aufhält? Das Schwimmbad mit dem Sprungturm, übrigens auch nach Anbruch der Dunkelheit zu benutzen, weil es
mit einer Scheinwerferbeleuchtung ausgestattet ist, sowie das
Meer laden zum Baden ein, jetzt vielleicht nicht mehr, wir haben ja schon Ende September, und was Butlin’s an sportlichen
Betätigungsmöglichkeiten anbietet, vermag ich Ihnen kaum
alles aufzuzählen: Fußball, Basketball, Tennis natürlich sowie
Tischtennis und selbstverständlich Cricket, vor allem in seiner
vereinfachten Form als beach cricket unten an der See, einmal
abgesehen davon, dass Sie hier auch Schwimmen lernen können …”
„Und wenn es nun ausnahmsweise einmal regnet?”
Alfred Barkers Frage klang eher humorvoll als ironisch.
„Sollten Ihre Neigungen in Richtung Kampfsport gehen, so
würde ich Ihnen Boxen oder Ringen vorschlagen, immer unter
fachkundiger Anleitung natürlich. Eher bietet sich für jeman-
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den wie Sie indessen der Billiardraum an, den ich Ihnen gleich
zeigen werde. Oder spielen Sie gern darts?”
„Darts, was ist das?”, erkundigte sich Helga.
„Man wirft einen Pfeil mit einer Metallspitze auf eine Korkscheibe mit konzentrisch angeordneten Ringen, und je näher
zur Mitte man trifft, desto mehr Punkte erzielt man”, meinte
Rosemary. „Bei uns wirst du allerdings so etwas nicht finden”,
fügte sie hinzu, und Helga beobachtete, dass Alfred Barker seine Nichte leicht strafend ansah.
„Das ist aber noch längst nicht alles.”
Tom Payne wies auf die großen Gebäude rechts und links.
„Wenn Ihnen der Sinn danach steht, können Sie auch Tanzunterricht nehmen, ballroom dancing, also lernen, kunstgerecht einen Walzer, Foxtrott, Tango und so weiter aufs Parkett
zu legen, oder sich beibringen lassen, wie man Whist, Canasta
und Bridge spielt. Damit wären wir schon bei einer weiteren
Besonderheit von Butlin’s Luxury Holiday Camp in Skegness.
Werfen Sie doch bitte einmal einen diskreten Blick auf die beiden Herren dort. Können Sie erkennen, was sie tun?”
Rosemary begann zu raten.
„Es sieht so aus, als wickelten sie etwas ein, aber klein muss
es sein.”
„Sie rollen doch nicht etwa Zigaretten?”, meinte Helga
gleichzeitig, und während Alfred Barker halb komisch, halb
ernst den Kopf schief legte, nickte Tom Payne eifrig und setzte
hinzu, jeden Tag fänden mehrere Wettbewerbe statt, vor allem
natürlich Turniere in den einzelnen Sportarten, aber eben auch
einer, wo es darum gehe, in einer festgesetzten Zeit möglichst
viele Zigaretten zu drehen.
„Wenn Ihre Stärken eher auf intellektuellem Gebiet liegen,
beteiligen Sie sich doch einfach an einem Quiz; freilich müssen Sie darauf gefasst sein, dass nicht alles mit Wissen zu lösen ist, denn Humor nimmt eine wichtige Stellung im Alltag
der campers ein. Hier wird zwar die charmanteste Großmutter
gewählt und auch die Holiday Princess – übrigens haben wir
Ende August das junge Mädchen gekrönt, das unserer Prinzessin Elizabeth am ähnlichsten sieht –, aber Sie können sich auch
um den Preis der schönsten Glatze oder der most knobbly knees
bewerben.”
Sogar Rosemary schüttelte sich vor Lachen, und als sie Helgas fragenden Gesichtsausdruck bemerkte, wies sie auf ihre
Knie und fuhr mit beiden Händen darum herum.
„Richtig, Knie, aber halt welche, die möglichst nicht so
wohlgeformt sind wie unsere.”
„Dabei”, warf Alfred Barker ein und blickte sich um, „fallen
mir meine eigenen ein, die ich als Kind vor allem in kurzen
Hosen, das heißt, im Sommer, ständig aufzuschrammen pflegte. Soweit ich weiß, wird den erholungsbedürftigen Eltern hier
weitgehend die Betreuung ihrer Sprösslinge abgenommen, so
dass man in Ruhe im Pig and Whistle ein Glas Bier trinken
oder sich all diesen höchst interessanten Tätigkeiten widmen
kann.”
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„Oh ja, für Kinder jeden Alters wird gut gesorgt. Das jeweilige Programm ist natürlich auf die Altersstufe abgestimmt,
aber wie Sie sich denken können, stellen Säuglinge nicht die
Gruppe dar, für die wir uns die aufregendsten Spiele einfallen
lassen.”
Tom Payne hatte inzwischen eine riesige Glastür geöffnet
und bat sie, einen Blick ins Innere eines der Speisesäle zu werfen. Die Reihen der mit weiß-blauen Stoffdecken und gelben
Servietten gedeckten Tische verloren sich irgendwo hinten im
Dunkel, und die beiden Mädchen schwiegen beeindruckt.
„Natürlich essen unsere Gäste in Schichten; das gilt für alle
Mahlzeiten. Sie können sich zum Beispiel frei entscheiden,
ob sie schon kurz nach acht oder erst gegen neun frühstücken
möchten – das hängt davon ab, wie sie ihren Tagesablauf gestalten wollen. Die Teilnahme an der Morgenandacht ist übrigens selbstredend freiwillig, obwohl wir immer wieder feststellen, dass großes Interesse daran besteht.”
Helga riss die Augen weit auf, und als ihr Redcoat sie vorbei an einem Gebäude führte, das York House hieß, flüsterte
sie Rosemary zu, so etwas sei in Deutschland unvorstellbar;
ihr Bruder Rudolf habe in seinem letzten Brief geschrieben,
die Mitgliedschaft in der Hitlerjugend werde wohl bald verpflichtend, und wenn man sonntags in die Kirche ginge, werde
man schief angesehen oder sogar tätlich angegriffen. Rosemary hörte indessen nur mit einem halben Ohr zu und meinte, die
tägliche assembly mit Gebet im Internat reiche ihr vollends,
und deshalb schlafe sie in den Ferien normalerweise über die
Gottesdienstzeit hinaus.
Tom Payne warf einen verstohlenen Blick auf seine Uhr und
meinte dann, den Ballsaal müssten sie unbedingt noch in Augenschein nehmen, denn der werde gerade für eine Abendveranstaltung geschmückt.
„Natürlich erscheinen die Gäste nicht in Smoking und
Abendkleid”, meinte er, während Alfred Barker hinter die beiden Mädchen trat und ihnen je eine Hand auf die Schulter legte.
„Aber Sie würden überrascht sein, was unsere campers inzwischen neben Badeanzug und Freizeitkluft in ihre Ferienkoffer
packen.”
Alle drei legten sie die Köpfe in den Nacken und schauten
zu der Balustrade hinauf, von der aus man gewiss das Treiben auf der Tanzfläche herrlich beobachten könnte. In diesem
Augenblick waren dort freilich junge Leute damit beschäftigt,
Girlanden aus Papierblumen von einer Seite zur anderen zu
spannen und einige davon auch unter der Decke anzubringen.
„Hm”, machte Alfred Barker, „hm.”
Plötzlich zog er Helga zu sich herum und wirbelte sie quer
über den Tanzboden, wobei er ziemlich laut und im Allgemeinen richtig den Donauwalzer pfiff. Dann blieb er stehen und
lachte.
„Wenn es Ihnen recht ist”, meinte Tom Payne, den offensichtlich nichts aus der Ruhe zu bringen vermochte, „begleite
ich Sie jetzt in den Teesalon, wo ich mich von Ihnen verab-
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„Onkel Alf musste dringend telefonieren, und so hat er uns
vor seiner Garage abgesetzt”, erwiderte Rosemary auf die Frage ihrer Mutter, ob der Jaguar etwa unterwegs zusammengebrochen sei, weil sie zu Fuß nach Sandy Hills zurückkehrten.
Mrs Summers warf schon wieder einen Blick auf die Uhr –
es war Helga in den vier Wochen ihres Aufenthalts in England
längst aufgefallen, dass Auntie Alice, genau wie ihre Mutter,
einem geregelten Tageslauf sehr viel Bedeutung beimaß, es
aber, anders als diese, selten fertigbrachte, alles dafür Nötige
ruhig und planvoll zu erledigen. In Gainsborough verfügte sie
über eine Haushälterin, die auch in Ausnahmsituationen den
Überblick nicht verlor. Zum Beispiel hatte sie ihnen, also ihren
Eltern und Helga selber, am Tag ihrer Ankunft noch um neun
Uhr abends eine Mahlzeit mit drei Gängen servieren lassen,
obwohl sie eigentlich mehrere Stunden früher hätten eintreffen
sollen. Die Überfahrt war ausgesprochen stürmisch verlaufen,
der boat train nach Victoria Station hatte zwar gewartet, aber
in London King’s Cross hatten sie natürlich den Zug nach Lincoln verpasst und auf dem Bahnhof zunächst einmal nach einer
Möglichkeit suchen müssen, ihre Gastgeber telefonisch zu benachrichtigen. Helga hatte ein wenig herumgestottert, doch die
Dame am anderen Ende war sehr freundlich gewesen und hatte
ihr zu verstehen gegeben, sie werde dafür sorgen, dass einer der
Chauffeure von Barker Brothers sie in Lincoln erwarte; zu erkennen sei er an seiner Uniform … und an seinen roten Haaren,
hatte sie hinzugefügt. In Chapel St. Leonards jedoch kümmerte
sich Mrs Summers um alles selber, abgesehen davon, dass eine
Putzfrau aus dem Dorf die gröbste Hausarbeit erledigte, und es
war ihr anzumerken, dass sie besser mit der Organisation von
Bridgenachmittagen und Wohltätigkeitsbasaren zurecht kam
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schieden werde. Eine meiner Kolleginnen geleitet Sie dann
zum Ausgang zurück. Hoffentlich hat es Ihnen bei uns gefallen. Wenn nicht, so lassen Sie uns wissen, warum; wenn ja, so
empfehlen Sie Ihren Freunden und Bekannten einen Aufenthalt
in Butlin’s Skegness Luxury Holiday Camp.”
Alfred Barker schüttelte dem jungen Mann, wohl zu dessen
Überraschung, die Hand und steckte ihm dabei einen Geldschein zu.
„Nein, nein, rasseln Sie mir jetzt nicht die Regeln der Redcoats herunter, dass Sie von morgens bis abends dienstbereit
sind, ob es nun um Kofferschleppen oder das Beantworten
von mehr oder weniger dummen Fragen geht. Sie brauchen ja
niemandem unter die Nase zu reiben, dass wir uns erkenntlich
gezeigt haben, und diese beiden jungen Damen würden sich
vermutlich lieber mit Ihnen nach Dienstschluss verabreden als
Sie verpetzen”, sagte er mit ganz ruhiger Stimme, nickte Tom
Payne noch einmal zu, wandte sich um und meinte dabei, er
hätte eigentlich auch nichts dagegen, dem Biergarten oder der
amerikanischen Cocktailbar einen Besuch abzustatten, aber
Tee sei nun einmal, selbst um halb vier nachmittags, viel britischer.
als mit Tagen, an denen außer den Mahlzeiten, gelegentlichen
Tennisturnieren und Kinobesuchen in Skegness nichts auf dem
Programm stand. Helga hatte gleich bei ihrem ersten Wochenendaufenthalt in Sandy Hills Vergleiche zum Verhalten ihrer
Mutter während der üblichen drei Ferienwochen auf Borkum
angestellt und sich in Erinnerung gerufen, dass Frau Schulte in
jedem Jahr eine neue Petit-Point-Stickerei in den Koffer packte
und Anfang September ein Hocker oder ein Stuhl mit dem Ergebnis ihrer Bemühungen bezogen wurde.
Wenig später stülpte sich Mrs Summers einen breitkrempigen Hut auf, warf einen hastigen Blick in den Spiegel und rief
den Mädchen beim Hinausstürmen zu, sie führe mit … – der
Name ging im Quietschen eine Diele unter - zum Einkaufen
nach Skegness.
Mit einem Male war nur noch das Rauschen des Meeres
durch das angelehnte Esszimmerfenster zu hören.
Helga ging, ohne wie anfangs zu fragen, zum Geschirrschrank, zog die Sets aus einer Schublade und begann, den
Tisch für die Abendmahlzeit zu decken.
„Das eilt nun wirklich nicht! Wir essen doch erst um sieben”, maulte Rosemary und blieb in der Tür stehen, wobei sie
ihr ungeduldig zusah und Helga, obwohl sie Rosemary absichtlich den Rücken zudrehte, deutlich spürte, dass der Tochter ihrer Gastgeber mehrere Fragen auf den Lippen brannten,
seitdem sie auf dem Parkplatz wieder in den Jaguar gestiegen
waren. Sie war ungeheuer erleichtert, zu hören, dass Rosemary
sich zunächst dafür entschied, die unverfänglichste von allen
zu stellen.
„Sag mir lieber, ob ich das richtig verstanden habe, dass
man nämlich bei Butlin’s auch Schlittschuh laufen kann. Du
weißt doch, oder habe ich das etwa für mich behalten, dass ich
in letztes Jahr mit meinen Eltern in Arosa war und dort Trainerstunden bekommen habe. Solche Sprünge wie Sonia Henie
kann ich natürlich noch längst nicht machen, aber der Trainer
meinte, talentiert sei ich schon, und das wäre doch was, gleich
hier in der Nähe … Hat eigentlich jemand von deiner Familie
bei den Winterspielen zugeschaut? Onkel Alf interessiert sich
ja nur für …”
Helga drehte sich sehr rasch zu Rosemary um, stellte das
letzte Glas auf den Tisch und erklärte, sie sei fertig.
„Das muss ich dir doch schon erzählt haben!”, meinte sie
dann. „Meine große Schwester Luise und ihr Mann hatten Karten für das Finale im Paarlaufen gekauft, und da Herr Rellinghaus, so heißt Luise mit Nachnamen, geschäftlich verhindert
war, durfte ich sie begleiten. Du kannst dir nicht vorstellen, wie
aufregend das alles war. Garmisch-Partenkirchen ist ja eigentlich ein Nest; den Ort gab es sozusagen vor den Olympischen
Spielen gar nicht, und einige der Sportanlagen sind erst Mitte
Januar fertig geworden, wo doch die Eröffnungsfeier am 6. Februar stattfinden sollte. Über eine halbe Million Zuschauer sind
zu den den Wettbewerben angereist, natürlich nicht alle auf
einmal; so viele Leute hätten ja gar nicht untergebracht wer-
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den können. Aber die arme Sonia Henie, das haben Luise und
ich mit eigenen Augen gesehen, musste sogar von der Polizei
beschützt werden; sonst hätten ihre Verehrer sie geradewegs
erdrückt.”
„Als leidenschaftliche Eiskunstläuferin” – Rosemary grinste von einem Ohr zum anderen – „ist mir natürlich bekannt,
dass ihr die Goldmedaille im Paarlauf gewonnen habt. Diese
Maxi Herber … sie ist jünger als ich, und ein bisschen neidisch
werde ich schon, mit dem schicken Ernst Baier ... Aber dafür
haben wir im Eishockey besser abgeschnitten als ihr. Stimmt
das, was Onkel Alf berichtete, also dass euer Spieler Rudi Ball
– den Namen habe ich mir gemerkt, obwohl man da ja mit einer
Hartgummischeibe die Tore schießt – eigentlich schon ausgewandert war und zurückgerufen wurde, genau wie diese jüdische Fechterin, über die wir vorhin sprachen?”
„Ganz ehrlich”, erwiderte Helga, „davon ist mir nichts bekannt, aber es mag natürlich sein. Ich müsste einmal meinen
…”
Sie verstummte und blickte zu Boden, fing sich aber gleich
wieder.
„Du wolltest doch die Marken haben, auch die von den
Briefen aus Deutschland, nicht wahr? Einer ist von Brigitte aus
der Mark Brandenburg, den anderen hat meine Freundin Ilse
geschickt; wahrscheinlich wirst du sie nächstes Jahr kennen
lernen. Sie tanzt zwar seit ungefähr zwei Jahren im Corps de
Ballet der Kölner Oper, doch das Wochenende verbringt sie
manchmal in Hagen. Übrigens hat sie mir gerade geschrieben,
dass ihr Vertrag wohl verlängert wird.”
Rosemary war hinter Helga die Treppe zu den Schlafzimmern hinaufgesprungen und ließ sich in einen mit Chintz bezogenen Sessel unter dem Fenster fallen.
„Ballettunterricht habe ich auch erhalten”, meinte sie und
seufzte. „Aber glaube nun ja nicht, dass meine Eltern es auch
nur in Erwägung ziehen würden, mich so eine Laufbahn einschlagen zu lassen! Als der Trainer in Arosa andeutete, ich sei
wirklich begabt, haben sie beide die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Zum Spaß, alles zum Spaß, Eleganz der
Bewegungen, dazu ein bisschen Malerei und ein bisschen Klavierspielen, aber ansonsten wird unsere Tochter natürlich den
richtigen Mann heiraten, einen, der in Eton, Harrow oder Winchester zur Schule gegangen ist, sich trotzdem noch für Mädchen interessiert – das haben sie natürlich nicht gesagt, aber
du verstehst schon – und der einen Beruf ausübt, der es ihm
erlaubt, in seiner Freizeit Golf zu spielen. Was macht eigentlich
dieser Fritz Blankenstein?”, fuhr sie im selben Atemzug fort.
„Fritz …”, hob Helga an, holte einmal tief Luft und unternahm einen neuen Anlauf, „Fritz ist Physiker. Vor drei Jahren
hat er ein Forschungsstipendium vom Massachussetts Institute
of Technology, kurz M.I.T., erhalten, und dort wird er, wie er
mir vorgestern per Brief mitgeteilt hat, auch weiterhin bleiben.”
Rosemary schien nicht zu bemerken, wie schwer Helga das
Sprechen fiel. Sie wickelte eine ihrer Locken ständig um den
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linken Zeigefinger, sah zum Fenster hinaus und fragte, wie alt
Fritz denn sei.
„Dreißig, wie mein großer Bruder Karl.”
„Aber verheiratet” – Rosemary geriet nun doch ins Stottern
–, „verheiratet ist er nicht?”
Wie um sich zu entschuldigen, fügte sie hinzu, ihr Vater
habe immerhin auch bis achtundzwanzig gewartet.
Helga schüttelte den Kopf.
„Nein”, sagte sie dann plötzlich mit fester Stimme. „Wenn
… falls wir heiraten wollten, und das hatten wir eigentlich immer vor, seit meinem Tanzstundenschlussball, als ich fast siebzehn war, oder sogar noch länger, dann müsste ich ihm nach
Amerika folgen, denn in Deutschland könnten wir nicht leben.
Eheschließungen zwischen Juden und Ariern sind ja seit einem
Jahr verboten. Zudem hat Fritz unsere gemeinsame Heimatstadt schon vor drei Jahren verlassen, und inzwischen … Es ist
wohl besser, wenn ich es jemandem erzähle, sonst ersticke ich
daran: Vor ein paar Wochen hat er eine Jüdin kennengelernt,
die auch ausgewandert ist. Noch dazu arbeitet sie – sie trägt
übrigens den schönen deutschen Vornamen Helene, wie unsere
Prokuristin, Fräulein Dahm – auf derselben Etage wie er.”
Nach einer kurzen Pause fuhr Helga fort und sah Rosemary
gerade in die Augen.
„So anständig wie Fritz ist niemand, musst du wissen. In
seinem Brief”– sie wies auf ihren Nachttisch – „hat er mir geschrieben, dass sie sich verloben werden. Er wollte nicht, dass
ich es von jemand anderem erfahre, zum Beispiel von seiner
Schwester, meiner besten Freundin Hildegard, oder von Bekannten meiner Eltern in New York.”
Es war ganz still in Helgas Schlafzimmer. Rosemary hatte
längst aufgehört, mit ihrer Haarlocke zu spielen, und sie hockte in dem Sessel mit dem Rosenmuster, ohne sich zu rühren.
Schließlich sagte sie in das Schweigen hinein, es tue ihr leid.
„I am ever so sorry for you”, wiederholte sie und erhob sich
langsam. „Deswegen warst du die ganze Zeit so traurig, während der Fahrt von Gainsborough schon und hier auch. Aber ist
es nicht gut” – sie sprach schneller, und ihre Stimme klang fast
wieder so unbesorgt wie meistens –, „dass du bei uns so viel
Neues erlebst und auch neue Leute kennen lernst?”
Unten klingelte jemand an der Tür.
„Wer das wohl ist? Heute erwarten wir doch niemanden
mehr.”
Schon auf dem Treppenansatz angelangt, drehte sich Rosemary noch einmal um und meinte, Helga müsse ihr un-be-dingt
erzählen, was ihr die Wahrsagerin vorhin aus der Hand gelesen
habe.
„Ich sterbe beinahe vor Neugier, und im Auto wollte ich
nicht fragen”, sagte sie, warf den Kopf in den Nacken und öffnete die genau in dem Augenblick die Tür, als es zum zweiten
Mal läutete.
Draußen standen zwei Mädchen und ein junger Mann, ganz
in Weiß gekleidet und mit Tennisschlägern in der Hand.
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„Hallo, Rosy, hoffentlich stören wir nicht.”
Der junge Mann ließ seinen Schläger in Hüfthöhe pendeln
und erkundigte sich, ob Rosemary – er räusperte sich –, also ob
Rosemary ein kleines Doppel mit ihnen zu spielen bereit wäre.
„Aber ich sehe, dass du Besuch hast. Da passt es wohl nicht
so recht”, bemerkte er und schien sich umdrehen zu wollen, als
Helga neben Rosemary in den Türrahmen trat.
„Machen Sie sich meinetwegen keine Gedanken. Ich hatte
ohnehin vor, Briefe zu schreiben und … Wirklich, Rosemary,
ich wünsche euch viel Spaß; zieh dich rasch um. Hab nur Verständnis dafür” – Helga lächelte –, „dass ich nicht zum zweiten
Mal an einem Tag in die Rolle des Schiedsrichters schlüpfe.”
Während Rosemary zwei Treppenstufen auf einmal nahm,
unterbrach eines der beiden Mädchen etwas verlegen die Stille.
„In der Eile hat Rosemary es unterlassen, uns vorzustellen;
darf ich das bitte nachholen? Wir sind die Kinder des Ehepaares, das heute Morgen so kläglich gegen Mr und Mrs Summers verloren hat. Von Ihnen hingegen wissen wir, dass Sie auf
höchst souveräne Art die schwierigsten Entscheidungen getroffen haben; beim Mittagessen drehte sich die Unterhaltung
nämlich um nichts anderes … Du hast deinen eigenen Rekord
gebrochen, Rosy”, grinste sie, als Rosemary nur wenige Minuten später die Treppe wieder herunterpolterte.
„Aufgeschoben ist nicht aufgehoben”, flüsterte sie Helga
zu. „Was dir die Wahrsagerin erzählt hat, möchte ich liebend
gern erfahren. Natürlich erzähl ich dir auch, was sie mir prophezeit hat.”
Dann verschwand sie in Begleitung der drei jungen Leuten
durch das Gartentor.
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Mit Schreibzeug und einigen Briefen in der Hand ging Helga
auf dem Pfad zwischen den Sanddornsträuchern zur beach hut,
einem weiß gestrichenen Holzwürfel mit angeschrägtem Dach,
zwei Fenstern und einer winzigen Terrasse davor, der auf vier
Pfosten halb verborgen in den Dünen stand. Sie setzte sich
auf die ausgebleichten Planken und zog zunächst die beiden
Bögen, die Ilse mit ihrer schlaufenreichen Schrift eng gefüllt
hatte, aus dem Umschlag und begann dann, mit zwei Nummern
der Saturday Evening Post als Unterlage, ihre Antwort zu
schreiben.
Indessen fiel es ihr sehr schwer, sich zu entscheiden, was
sie Ilse überhaupt mitteilen wollte, und so blieb der Bogen zunächst bis auf Anrede und Datum leer.
Sie würde natürlich ihrer Hoffnung Ausdruck geben, dass
Ilse die Vertragsverlängerung inzwischen unterzeichnet hätte,
und sie würde ihr auch dafür danken, dass sie den Zeitungsausschnitt mit der Todesanzeige von Herrn Landwehr beigefügt
hatte, ohne zu erwähnen, dass ihre Mutter deswegen vor einer
Woche in Gainsborough angerufen und sie gebeten hatte, Frau
Landwehr und Else doch möglichst bald schriftlich ihr Beileid
auszusprechen. Auch auf Ilse Klagen darüber, dass ihr Stief-
vater sich bei jedem Besuch in Hagen danach erkundigte, ob
sie denn nun endlich Mitglied der NSDAP geworden sei, weil
das ihrer Karriere doch nur nutzen könnte, würde sie etwas zu
erwidern wissen, nämlich, dass ihr eigener Vater nicht so recht
abzuschätzen vermöge, wie lange sich der Erwerb des Parteibuches noch umgehen lasse. Rudolf jedenfalls sei der Hitlerjugend noch nicht beigetreten, nicht so sehr aus Überzeugung,
wie er ganz ehrlich zugab, sondern weil er gern mit dem Feuer
spielte.
Aus einem unvollständigen Nebensatz hatte Helga herausgelesen, dass der besagte Stiefvater Ilse bei ihren selten gewordenen Besuchen zu Hause nach Möglichkeit aus dem Wege
ging; auf ihre Erleichterung darüber würde Helga ebenfalls nur
anspielen. Selbst Ilses Frage, ob Jürg Stoecklin noch einmal
versucht habe, die Beziehung wieder aufzunehmen, ihr also
trotz des ausdrücklichen Verbotes ihrer Eltern geschrieben oder
sie etwa sogar angerufen habe, ließ sich leicht mit Nein beantworten. Vor allem ihre Mutter hatte ja so häufig und in immer
den gleichen Worten wiederholt, weshalb Jürg mit absoluter
Sicherheit kein geeigneter Umgang für sie sei – das Wort ‘Bankert’ klang ihr noch in den Ohren –, dass Helga sich die Argumente fast zu eigen gemacht hatte, wenn sie sich auch manchmal wünschte, jemand würde ihr auf eine ebenso direkte Weise
zu verstehen geben, dass er sie begehre. Jürg hatte ihr vielleicht
nie die ganze Wahrheit gesagt, aber ein Heuchler war er nicht.
Helga kaute auf ihrem Füller herum und wandte den Kopf
nach links, wo die Nordsee grau-grüne Wellen an den leeren
Strand warf.
Würde sie es über sich bringen, den Inhalt von Fritzens
Brief an Ilse weitergeben?
Sie legte Papier und Schreibzeug auf die Planken der Veranda, öffnete die Tür der Strandhütte – wie alle anderen war
sie nicht zugeschlossen – und suchte aus dem Stapel der Schellackplatten eine von Gracie Fields heraus, Wish Me Luck, legte
sie auf das Grammophon und kurbelte so lange, bis die Winde
Widerstand leistete. Dann setzte sie behutsam die Nadel auf
und hörte zu. Als die letzten Worte verklungen waren, wiederholte sie das Manöver. Wish Me Luck, summte sie mit, setzte
sich hin und griff nach ihrem Füllhalter.
Ohne Beschönigung und ohne zu dramatisieren fasste sie
für Ilse gleich zu Anfang des Briefes zusammen, was Fritz ihr
vor einigen Tagen geschrieben hatte, gab zu, dass sie ihre Gefühle noch nicht in Worte zu kleiden vermöge, und fügte hinzu,
die Tochter ihrer Gastgeber, Rosemary, habe wohl Recht mit
ihrer Bemerkung, die neue Umgebung mache es ihr leichter,
mit dieser Nachricht fertig zu werden.
Sie sind nett zu mir, Mr und Mrs Summers, besonders Mr
Summers, der mit seinem Humor schon so manche heikle Situation überspielt hat. Viele Engländer verstehen nämlich nicht,
wieso er und seine Frau im Jahre 1936 – will sagen: in der gegenwärtigen außenpolitischen Lage – eine junge Deutsche bei
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sich aufnehmen. – Mrs Summers mag ich aber auch gern. Sie
ist ziemlich tüchtig, lässt sich jedoch leicht aus dem Gleichgewicht bringen, wenn etwas ihre Pläne durchkreuzt. Ich schreibe
Dir übrigens aus Chapel St. Leonards, wo alle Mitglieder der
Familie Wochenendhäuser besitzen, insgesamt drei. Wenn Du
irgendwo einen Atlas auftreiben kannst – in der Kölner Oper
wird es wohl keinen geben –, dann schau doch einmal nach, ob
Du das Dörfchen entdeckst. Es liegt in der Nähe von …
Helga hatte Mr Barker, Alfred, nicht kommen hören, und so
hob sie ruckartig den Kopf, als ein Schatten auf ihren Schreibblock fiel.
„Haben Sie mir einen Schrecken eingejagt!”, sagte sie dann
leise.
„Ich hatte gehofft, Sie hier zu treffen.”
Er stand breitbeinig vor ihr, die Hände in den Hosentaschen
vergraben, und lächelte freundlich zu ihr hinunter.
„Es bleibt doch bitte dabei, dass wir uns beim Vornamen
nennen. Sie können sich ja immer noch aussuchen, wie Sie das
you ins Deutsche übersetzen. Im Englischen wird heutzutage
ohnehin nur Gott mit thou, also du, angeredet. You hat sich aus
dem französischen vous entwickelt.”
Das war Helga neu, und so verlor sie etwas von ihrer Befangenheit.
„Warum haben Sie eigentlich vorhin Rosemary so strafend
angeschaut, als sie erklärte, bei ihr zu Hause werde nicht darts
gespielt?”
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„Vermutlich ist Ihnen längst aufgefallen, dass die englische
Gesellschaft sich aus Klassen zusammensetzt, von denen eine
jede sorgsam darauf bedacht ist, sich von den anderen abzuheben, selbst die Cockneys in London. Sind in Ihrer Gegenwart schon einmal Begriffe wie upper upper oder lower middle
gefallen? In welches von diesen Schubfächern jemand passt,
vermag ein Kenner innerhalb von Minuten, selbst mit einem
Blick zu ermitteln: anhand der Schule, die man besucht hat, anhand der Kleidung – sie darf oder muss sogar ein wenig abgeschabt aussehen, denken Sie einmal an Onkel Hughies Tweedjacke mit den Lederflecken auf den Ärmeln –, wo man wohnt,
manchmal bis auf die Straßenseite genau. Nicht zuletzt wird er
aus der Aussprache entscheidende Schlüsse ziehen … Wissen
Sie was? Ich erkundige mich einmal, ob in London irgendwo
Shaws Pygmalion aufgeführt wird. Das Stück bringt Ihnen die
Sache näher als jede noch so fachkundige Ausführung meinerseits. Machen wir doch einfach einen Abstecher ins West End
und hören Eliza Doolittle zu, wie sie bei Professor Higgins
Unterricht in der korrekten Lautbildung ihrer Muttersprache
erhält.”
Alfred hatte sich geradezu in Fahrt geredet und hielt etwas
überrascht inne, als Helga ihn daran erinnerte, dass sie eigentlich gern wissen wollte, was es denn mit dem Pfeilwurfspiel
auf sich habe.
„Richtig: darts. Das betrachten sie als nicht standesgemäß.
Die jungen Leute aus Rosemarys Bekanntenkreis spielen alle
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Tennis, die meisten von ihnen auch Golf, und ebenso viele gehören einem Yachtclub an. Punkt. Eine reichlich verwöhnte
Gesellschaft”, fügte er noch hinzu und schwieg dann, obwohl
es Helga so schien, als wolle er etwas erklären oder eine Frage
stellen.
„Butlin’s”, sagte sie schließlich in die Stille hinein und
rutschte einmal auf den Planken hin und her. „Wenn ich einen
Vergleich ziehen darf, ohne dass Sie mich gleich für … für einen
Nazi halten: Das, was Billy Butlin da in Skegness geschaffen
hat, eine Siedlung nämlich, in der man für wenig Geld Ferien
an der See verbringen kann, hat von der Idee her etwas gemeinsam mit Kraft durch Freude – wie soll ich das übersetzen? –,
power, force oder energy through joy, so ungefähr. Mein Vater,
den Sie ja kennen, zahlt für die Arbeiter seiner Firma zu Weihnachten immer Geld in die KdF-Kasse ein … oder schenkt er
ihnen Sparmarken, die man in ein Buch einkleben muss? Auf
jeden Fall freuen sich unsere Bonbonkocher und die Mädchen
aus der Packabteilung, halt alle, die keine Verwandten auf dem
Lande haben, bei denen sie im Urlaub unterschlüpfen können,
schon Monate vorher darauf. Sogar Frau Dennersmann – der
Name sagt Ihnen nichts, aber sie arbeitet in der Musterabteilung und kennt mich seit ewigen Zeiten – schwärmt jedesmal
davon. Ach, und gesungen wird dort auch. Tom Payne hat uns
vorhin einige der Butlin’s-Lieder vorgesummt, richtige Ohrwürmer. Was die Texte angeht, also We’re going to spend a ho-
liday, we’ve worked and saved all year… Das könnten unsere
Betriebsangehörigen auch von sich sagen.”
Helga stand auf und drückte die Knie fest durch.
„Vom langen Sitzen sind mir fast die Beine eingeschlafen”,
lachte sie etwas verlegen.
„Da sind zwei Leute unabhängig voneinander auf die gleiche Idee gekommen. Nicht alles, was Herr Hitler und seine
Genossen eingeführt haben, ist schlecht, und im Übrigen gibt
es auch anderswo, hier in England zum Beispiel, Antisemiten,
Leute, denen es gar nicht recht wäre, wenn ihre Tochter einen
Juden heiratete.”
Es schien Alfred aufzufallen, dass Helga den Kopf wegdrehte, aber er führte seinen Gedanken fort, sah dabei auf das
Meer hinaus und rieb sich einmal die Hände. Auch Helga spürte, dass die schrägen Sonnenstrahlen kaum noch Wärme spendeten, und war froh, dass sie vorhin die dicke blaue Wolljacke
nicht auf ihrem Bett liegen gelassen hatte.
„Berlin war wirklich ein Erlebnis, und selbst einen so skeptischen Briten mit einer unausrottbaren Neigung zum Ironisieren wie mich hat die Eröffnungsfeier zutiefst beeindruckt.
Anders als bei den Winterspielen, so habe ich mir sagen lassen, hielt sich alles, was nach Militär aussah, diskret im Hintergrund. Aber trotzdem” – er wandte sich zu Helga um, die
mit verschränkten Armen gegen einen der beiden Dachpfosten
des kleinen Verandavorbaus lehnte – „mache ich mir Sorgen;
dieses ständige Reden vom Volk ohne Raum …”
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Er verschwand in der Strandhütte, suchte in den aufgestapelten Zeitschriften herum und reichte ihr dann eine Art Broschüre.
„Ist Ihnen dies schon einmal unter die Augen gekommen?”
Helga warf einen Blick auf das Heft und war offensichtlich
überrascht.
„Die berühmte Sondernummer der Arbeiter Illustrierten
Zeitung vom Juli 1936!”, rief sie aus. „Wie haben Sie es denn
angestellt, ein Exemplar davon zu ergattern? Darf ich einmal
prüfen, ob das, was man mir davon erzählt hat, auch wirklich
stimmt? Die AIZ ist nämlich in Deutschland verboten, und der
Text soll in Prag gedruckt worden sein. Darin seien sämtliche
Straflager, KZs für politische Gegner und auch alle Firmen eingezeichnet, die auf die Wiederaufrüstung Deutschlands hinarbeiten. ,Führer durch das Land der Olympiade’, hier steht’s ja
schwarz auf weiß ! Fritz hat mir …”
Plötzlich warf Helga die Hände vors Gesicht und schluchzte.
Ein paar Sekunden lang verspürte sie nichts als eine ungeheure Erleichterung; dann jedoch begann sie wieder zu denken.
Woran lag es, dass sich an diesem Tag und nicht schon
eher – zum Beispiel, als sie Fritzens Brief erhalten und immer wieder gelesen hatte – ihre Gefühle einen Weg nach außen
bahnten: Verlassenheit, Trauer, auch die Unfähigkeit, etwas an
dem Tatbestand zu ändern, weiterhin Erinnerungen, die zu den
ersten überhaupt gehörten, die sie in ihrem Gedächtnis spei-
cherte; weshalb gerade heute? Es musste damit zusammenhängen, dass sie an diesem Vormittag den Antwortbrief zur Post
getragen und damit bestätigt hatte, die Nachricht sei bei ihr
eingetroffen.
Sie holte tief Luft.
Zu ihrer Überraschung schämte sie sich nicht einmal, ihre
Selbstbeherrschung verloren zu haben. Das mochte von der
überwältigenden Liebenswürdigkeit herrühren, mit der Alfred
Barker ihr von Anfang an begegnet war, von seiner großer Behutsamkeit und Nachsicht sowie einer ihr unvertrauten Art von
Fürsorge.
Er hatte sich nicht von der Stelle bewegt.
„Ich werde nicht fragen, wer der Fritz ist, der Sie zum Weinen bringt”, hörte sie ihn sagen. „Aber ich verspreche Ihnen,
dass ich mein Bestes tun werde, um Sie zu trösten, wenn Sie
mir gestatten, einen Versuch zu unternehmen.”
Helga wischte mit dem Ärmel die Tränenspuren fort, knöpfte etwas zerstreut ihre Jacke zu und stieg sehr langsam von
dem Verandavorbau in den Sand hinab. An Alfreds Seite kehrte
sie nach Sandy Hills zurück und vermochte die Beobachtung
nicht so recht einzuordnen, dass er erst dann den Weg zu seiner
Villa einschlug, als er sicher war, dass Rosemary sie von ihrem
Fenster her zusammen gesehen hatte.
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Kurz vor Helga war Mrs Summers wieder in ihrem Wochenendhaus eingetroffen, und es schien so, als hielte sie sich
in allen Räumen des Erdgeschosses gleichzeitig auf. In der Küche schepperte etwas Metallenes auf den Fliesen, dann fiel die
Tür zum Esszimmer ins Schloss. Mrs Summers rief, es sei doch
sicher Helga gewesen, die da bereits den Tisch gedeckt hätte,
und letztendlich kehrte wieder eine Art von Ruhe ein.
Rosemary hatte durch ihre geöffnete Zimmertür Helga von
oben bis unten gemustert, offensichtlich jedoch nichts Erwähnenswertes bemerkt und sich von ihrem Bett, wo sie in einer
Nummer von Vogue geblättert hatte, mit geschmeidigen Bewegungen erhoben.
Um ihrer Frage zuvorzukommen, erkundigte sich Helga,
wer denn beim Tennis gewonnen habe, worauf Rosemary ihr
beinahe hastig berichtete, sie hätten zwei Sätze gespielt, in unterschiedlicher Zusammensetzung, und jedesmal habe das aus
zwei Mädchen bestehende Team den Sieg davongetragen.
„Aber jetzt wollen wir doch endlich zum Wesentlichen
kommen”, erklärte sie dann. „Wenn’s sein muss, fange ich an.”
Während Rosemary schilderte, wie die Wahrsagerin im Holiday Camp, auf deren Hütte Alfred Barker auf dem Weg zwischen Teesalon und Ausgang gestoßen war, nach ihrer Hand
gegriffen hatte, mit ihrem Zeigefinger über die einzelnen Linie
gefahren war und dabei zunächst vor sich hin gemurmelt, dann
aber vernehmbar erklärt hatte, Rosemary werde zwei Kinder
bekommen und einen Mann heiraten, der … – warum sie da
wiederum so undeutlich gesprochen hatte, war Rosemary nicht
so recht verständlich –, also, der sehr alt werden würde; sie
könne auch sehen, dass dieser Mann mit seiner Ruhe und Ausgeglichenheit hervorragend zu ihr passen würde, als Ergänzung
sozusagen. Vorher, das wolle sie ihr nicht verschweigen, stehe
allerdings so mancher Kummer auf dem Programm, Liebeskummer vor allem, aber zu guter Letzt würde sich schon alles
finden.
„Und du”, meinte sie dann, „was hat sie dir vorausgesagt?”
Helga erinnerte sich an jede Einzelheit: an das rötlich-braun
geschminkte Gesicht der noch jungen Frau, ihr geblümtes
Kopftuch, unter dem eine pechschwarze Haarsträhne hervorschaute, ihre funkelnden, gescheiten Augen und die sorgfältig
gefeilten Fingernägel. Die Wahrsagerin hatte ihre rechte Hand
zu sich herübergezogen, Helga dann gebeten, ihr auch die linke
zu zeigen, und mehrfach vor sich hin gebrummt.
„An solche Dinge, also Übernatürliches wie Horoskope,
Tarotkartenlesen und so weiter, glaube ich eigentlich nicht, obwohl die Bibel eine Menge Prophezeiungen enthält, die sich
später bewahrheitet haben. Wie willst du denn erklären, dass
einige Menschen über die Gabe verfügen, in die Zukunft zu
schauen? Meiner Meinung nach handelt es sich bei Wahrsagerinnen einfach um Leute, die mit einer besonders gut entwickelten Beobachtungsgabe ausgestattet sind. Sie schätzen
dich mit einem Blick ein: Kleidung, Haltung, ob deine Hände
nach Abwaschwasser aussehen oder eher nach Klavierspielen
… wie viele Ringe du trägst und an welchem Finger. Dann dein
Gesicht: Wirkst du traurig oder eher vergnügt? Bei jedem Wort,
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das sie sprechen, beobachten sie dich: Stimmst du zu? Ziehst
du die Stirn kraus? Und die Sache mit dem Liebeskummer –
das trifft doch auf neunundneunzig von hundert Mädchen in
unserem Alter zu.”
Rosemary blickte sie zuerst zweifelnd, dann eher zustimmend an.
„Aber trotzdem”, meinte sie dann, „was hat sie dir nun gesagt? Selbst, wenn nichts dran sein sollte, interessiert es mich.
Ich habe dir doch auch erzählt, was sie aus meinen Handlinien
gelesen hat.”
„Also gut: Von Liebeskummer auf der ganzen Linie hat
sie gesprochen, in der Vergangenheit und auch weiterhin. Gewundert habe ich mich indessen doch ein wenig; sie hat mir
nämlich gesagt, dass zwei meiner Freunde, meiner … engeren
Freunde, im Ausland leben, und das trifft zu.”
Es war Rosemary deutlich anzusehen, dass sie mit sich rang,
ob sie nun fragen sollte, um wen es sich da handelte. Aber sie
erkundigte sich nur, was die Wahrsagerin denn für Helgas Zukunft prophezeit habe.
„Drei Kinder”, lachte Helga, „da schlage ich dich um eine
Nasenlänge, und einen Mann, der in einer Fabrik tätig ist, wo
es nach Schmieröl und Fräsmilch riecht. Du hast richtig gehört.
Ich kannte den Ausdruck nicht, aber sie hat mir erklärt, was das
ist.”
„Und weiter?”
Rosemary, das erriet Helga ohne die geringsten Schwierigkeiten, stellte natürlich eine Verbindung zu dem her, was sie
den ganzen Nachmittag lang mitbekommen hatte.
„Sein Vorname beginnt mit einem h”, fügte Helga deswegen hinzu; mehr wollte sie mir nicht verraten.
Zu ihrer Erleichterung klatschte unten Mrs Summers in die
Hände und rief sie zum Abendessen. Auf Rosemarys Gesicht
war Enttäuschung zu lesen, und Helga überlegte, ob sie ihr irgendwann später einmal beichten würde, dass die Wahrsagerin
zunächst einmal den Buchstaben a genannt hatte.
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11. Kapitel: Frühjahr 1937
„Schwester Grete würde gern wissen, ob es ins Programm
passt, wenn sie mit den Kindern gegen halb elf erscheint”, sagte Helga mit dem Hörer in der Hand zu Luise, die mit raschen
Schritten die Garderobe durchquerte. „Sie haben einen Kanon
einstudiert, Wir kommen all’ und gratulieren, und Schwester
Grete will einige der Schülerinnen aus der 8. Volksschulklasse
zum Aufpassen einspannen.”
Dass Luise diesen Satzes überhaupt mitbekommen hatte,
stellte Helga fest, als ihre große Schwester kaum eine Minute
später mit einer Vase wieder zu ihr trat.
„Halb elf, das ist eine gute Zeit”, meinte Luise, hielt die Vase
unter den Wasserhahn und drehte sich dann zum Gehen. „Die
katholische Kinderschule hat sich für kurz nach zehn angemeldet, und die erwachsenen Gäste werden wohl ab elf eintreffen.
Aber dass sie sich an einen Kanon gewagt haben, überrascht
mich doch ein wenig. Ich vermute einmal, dass die Mädchen
aus der 8. Klasse tüchtig mitsingen werden. Übrigens, wenn du
noch mehr Kleiderbügel brauchst: Ich habe in Vaters Schrank
hinten seinen Anzügen einen ganzen Stapel entdeckt. Hoffentlich sind ein paar Leute so vernünftig, ihren Mantel im Wagen
zu lassen! Meine Jacke und die von Otto junior legst du bitte
auf dein Bett; es könnte ja sein” – Luise verzog ihr Gesicht
zu einer spöttischen Grimasse –, „dass wir auch einmal nach
Hause gehen wollten.”
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Luise rauschte wieder davon, während Helga die Hand von
der Muschel nahm und Schwester Grete mitteilte, der Zeitpunkt sei genau richtig gewählt. Als sie den Hörer aufgelegt
hatte, machte sie sich auf die Suche nach Luise, die sie schließlich im hintersten der drei ineinander übergehenden Salons entdeckte, wo sie gerade Fresien und Narzissen zu einem Gesteck
anordnete.
„Was hältst du davon, wenn ich unsere Vasen, vielleicht
nicht gerade die ganz kleinen, auf den Balkon stelle, gleich
hinter die Tür zu Küche, damit man nicht jedesmal extra zum
Schrank im Lichthof laufen muss? Die Blumenschere legst du
daneben, sobald du mit der Dekoration hier fertig bist.”
Luise blickte auf und meinte, das sei aber nun einmal eine
praktische Idee. Sie hoffe ohnehin, dass die Gäste ihrem Vater
eher etwas anderes schenken würden, Wein, Bildbände …
„Vielleicht auch eine neue goldene Taschenuhr mit Kette”,
sagte sie dann verschmitzt und zwinkerte Helga zu. „Erinnerst
du dich, Helle, Gold gab ich für Eisen? Du liebe Güte, wie
lange liegt das zurück!”
Helga warf einen Blick auf den blauen Samtvorhang im
Nebenzimmer, hinter dem immer noch das Grammophon mit
der Kurbel und die Schellackplatten verborgen waren, die sie
als kleines Mädchen so oft angehört hatte, dass sie die Soldatenlieder aus dem Weltkrieg jetzt noch, ohne zu stottern, hätte
mitsingen können. Aber dann wurde sie wieder geschäftig.
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„Noch etwas, Luise. Hat schon jemand daran gedacht, dass
für die Kinder und auch für Jungen, die Blumen bringen, Bonbons bereit gestellt werden?”, erkundigte sie sich.
„Die Boten sollen ein paar Groschen bekommen”, erwiderte Luise. „Frag Karl einmal, ob er genügend Kleingeld besorgt
hat. Aber du hast Recht, ein Korb mit Süßigkeiten, am besten
in Beuteln abgepackt, sollte für alle Fälle neben der Haustür
stehen. Kümmere du dich doch bitte darum. Wollte Sophie
nicht auch kommen, oder habe ich mich da wieder einmal verhört?”, fügte sie hinzu und rückte die Vase in die Mitte des kleinen Tisches, öffnete eine der Türen des mächtigen Frankfurter
Schranks und holte mehrere Aschenbecher heraus.
„Sie wird in einer halben Stunde hier sein, nehme ich an,
frisch dauergewellt; einen anderen Termin hat der Friseur ihr
nicht geben können, weil halb Eckesey sich die Haare legen
lässt. Sehr nützlich kann sie sich ja ohnehin nicht machen, das
müsstest sogar du einsehen, Luise – schließlich ist sie im siebten Monat schwanger. So”, meinte Helga und wandte sich zur
Tür, „jetzt lege ich noch die Gästehandtücher bereit und sehe
nach, ob wir auch genug Toilettenpapier vorrätig haben. Zerschnittene Zeitungen …” Sie lachte. „Wusstest du übrigens,
dass Alfred Krupp vor rund hundert Jahren auf den Klos der
Werkswohnungen herumspionierte, ob seine Arbeiter etwa den
Vorwärts lasen?”
In diesem Augenblick drangen aus einem der nach hinten
hinaus gelegenen Räume – ob es die Küche oder das Schlafzimmer der Mutter war? – lautes Geklirr und noch lautere
Schreie zu den beiden jungen Frauen herüber.
„Was ist denn jetzt schon wieder los?”, seufzte Luise. „Es
hört sich so nach Rosemary an, und Englisch kannst du nun
einmal besser als ich. Deutsche Sprache, schwere Sprache, den
Satz hat sie sich indessen schon gut eingeprägt!”
Aber dann trieb sie die Neugier doch, Helga zu folgen.
In der geräumigen Küche herrschte ein ungeheures Durcheinander. Bis in die Ecken hinein war alles vollgestellt mit
Meißener Esstellern, Kästen voller Silberbesteck, Stapeln von
matt glänzenden Servietten, Gläserkartons, und trotzdem hatte
Rosemary in der Nähe des Fensters das Bügelbrett aufgebaut
und offensichtlich damit begonnen, den Knautschfalten ihres
schwarzen Satinrocks zuleibe zu rücken. Bügeln, so wusste
mittlerweile jedes weibliche Mitglied des Schulteschen Haushalts, zählte nicht zu Rosemarys Stärken, denn das erledigte in
Gainsborough ein Dienstmädchen. Meistens nahm Ida ihr das
Eisen aus der Hand und sagte, das solle Rosemary ihr überlassen, es ginge schneller so. Aber heute, am Vorabend von Herrn
Schultes 60. Geburtstag, war Ida mit anderen Dingen beschäftigt.
„Nun beruhige dich doch”, sagte Helga und versuchte zu
verstehen, was denn geschehen sein mochte.
„Fisch, Tisch! Fisch, Tisch!”
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Rosemary hüpfte von einem Bein auf das andere und deutete auf das Bügelbrett, auf dessen Bezug zwischen Glasscherben in der Tat ein Goldfisch, Idas Goldfisch, herumzappelte.
Helga überlegte nicht lange, riss eines der Trockentücher
von dem Reck an der Wand, griff damit vorsichtig nach dem
Goldfisch und warf ihn in den Spülstein, setzte den Stöpsel ein
und drehte den Hahn weit auf; zuletzt schöpfte sie mit einem
leeren Gurkenglas Wasser und Fisch aus dem Becken und atmete erleichtert auf.
„So, das hätten wir fürs Erste! Ob wir heute allerdings noch
die Zeit finden werden, ein neues Aquarium zu kaufen, steht in
den Sternen. Wie ist es denn passiert? Mit einem Bügeleisen
fuchtelt man doch normalerweise nicht in der Luft herum.”
Rosemary hatte sich auf einen der Küchenstühle sinken lassen und starrte vor sich hin. Es war ihr anzusehen, dass sie mit
sich rang, was für eine Erklärung sie nun liefern sollte.
„Wo”, meinte Luise plötzlich und runzelte die Stirn, „ist eigentlich Rudolf?”
Rosemarys Gesicht überzog sich schlagartig mit einer tiefen
Röte, aber sie schwieg weiterhin.
„Rudolf”, fuhr Luise fort, „sollte doch die Sektflaschen aus
den Kartons holen, damit wir sie morgen in aller Herrgottsfrühe auf Eis legen können, wenn die Stangen geliefert werden,
und er sollte sich auch darum kümmern, dass die Zinnwannen
aus dem Betrieb auf den Balkon getragen werden. Vermutlich
muss ich meinen großen kleinen Bruder doch einmal wieder
an den Ohren ziehen, selbst, wenn sie jetzt so hübsch am Kopf
anliegen.”
Damit verließ sie die Küche und klapperte etwas lauter als
gewöhnlich mit ihren Absätzen.
„Otto”, hörte Helga sie noch rufen, „Otto, komm mal her.
Ich hoffe, du kannst dein Gedicht inzwischen ganz auswendig!” Helga ging auf Rosemary zu und legte ihr eine Hand auf die
Schulter.
„Ist doch alles nicht so schlimm. Siehst du, der Fisch fühlt
sich in dem Glas ziemlich wohl, wenn es auf die Dauer auch
zu eng für ihn ist. Aber sag einmal – wie hast du das denn angestellt?”
„Rudolf”, meinte Rosemary und wiederholte den Namen
noch einmal, wobei sie sich bemühte, ihn deutsch auszusprechen. Dann suchte sie allerdings nach Worten. Aus ihrem Gestammel schloss Helga, dass ihr Bruder von hinten an Rosemary herangetreten war und ihr mit beiden Händen die Augen
zugehalten hatte; Rosemary, die tief in Gedanken versunken
gewesen war, hatte vor Schreck eine hastige Bewegung mit
dem Bügeleisen gemacht und das Aquarium dabei von der
Fensterbank gestoßen.
„Du darfst aber nicht mit ihm schimpfen”, fügte Rosemary
noch hinzu und sah Helga von unten herauf an. „Er hat es sicher nicht bös gemeint.” Sie erhob sich, strich ihren Rock glatt
und verließ die Küche, um, wie sie Helga zu verstehen gab,
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einen Besen und einen Aufnehmer zu holen, wobei sie stolz darauf zu sein schien, dass sie schon wusste, in welcher der vielen
Abstellkammern auf dem Flur das Putzzeug untergebracht war.
Während Helga, auf den Knien rutschend, die größeren
Scherben vorsichtig aufsammelte, hörte sie, wie Ida die Verbindungstür zum Balkon hinter sich schloss und die Küche
wieder betrat. Sie war mit Idas eher gemessenen Schritten so
vertraut, dass sie nie auf die Idee gekommen wäre, es könne
sich um ihre Mutter oder überhaupt jemand anderen handeln.
„Hab’s mir doch gedacht”, sagte Ida, ohne die Stimme zu
heben, „genau so hat es geklungen, wie dickes Glas. Schneid
dich nicht in die Finger, Helleken, das hätte uns noch gefehlt
an so einem Tag; da ist keine Hand zu viel, wie die gnä…, also
deine Mutter heute Morgen ganz richtig meinte. Wo steckt er
denn, der Lausebengel? Ich will ja nichts sagen; aber eigentlich
habe ich nichts anderes erwartet, so, wie er immer um die Rosemarie herumstreicht. Sie macht ihm allerdings auch schöne
Augen. Ist nichts dagegen einzuwenden, zwei so nette junge
Leute, selbst wenn er noch nicht mit der Schule fertig ist, der
Rudolf. Könntest du mir ein wenig helfen beim Auswischen
der Gläser, oder hast du etwas anderes zu tun? Nein, zuerst
sollten wir einmal die Tische im Zimmer deines Vaters vorbreiten, leer geräumt ist es ja, und die Damasttücher hat … deine
Mutter schon herausgelegt. Dann können wir nämlich die Gläser dort aufbauen, und die Lohnkellner brauchen …”
Es klingelte an der Haustür.
„Ich geh schon”, sagte Helga und stieß im Flur mit Rosemary zusammen, die mit Besen, Handfeger und Schaufel im
Halbdunkel stand. Sie lachte kurz auf, schüttelte den Kopf und
erklärte ihr rasch, sie könne ruhig die Spuren des Zwischenfalls
beseitigen, denn Ida sei gar nicht böse auf sie; der Goldfisch
schwimme ja auch sichtbar zufrieden in seinem Gurkenglas herum. Beim Hinuntergehen hörte sie noch, wie Rosemary sich
entschuldigte und Ida erwiderte, jetzt solle sie doch zuerst einmal ihren Rock zu Ende bügeln.
Durch die Milchglasscheibe erriet Helga, dass da jemand
Blumen brachte. Sie vergewisserte sich, dass in dem Silberschälchen auf dem kleinen Tisch schon einige Münzen lagen,
und öffnete die Tür.
„Wir haben einen Auftrag über Fleurop erhalten”, sagte der
junge Mann, verbeugte sich und fuhr fort, er sei doch wohl
hier richtig, bei Schultes, und er solle diesen Strauß abliefern,
eigentlich erst morgen, aber sein Vorgesetzter meinte, so hätten
sie wenigstens Zeit, ihn ordentlich in eine Vase zu stellen.
Helga lächelte und nickte.
„Da hat Ihr Chef mit Sicherheit Recht. Vielen Dank, und
dies ist für Sie.”
Der junge Mann machte noch einen Diener, steckte das
Geld mit einem anerkennenden Pfiff in die Tasche und sprang
die Stufen zur Straße hinunter, während Helga auf dem Rückweg nach oben die mit einer Stecknadel befestigte Karte vom
Einwickelpapier entfernte und sich daran erinnerte, dass auf
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der Rückseite die Art des Geschenks zu vermerken wäre, bevor
die Karte in einer tiefen Silberschale auf dem Tisch im ersten
der drei Salons abgelegt werden sollte. Dort, hatte ihre Mutter
bestimmt, würden alle Geschenke ihren Platz finden, und hinterher musste genau festgestellt werden können, bei wem der
Vater sich für was zu bedanken hätte.
,Herzlichen Glückwunsch zum 60. Geburtstag, lieber Friedrich’, las Helga, während sie das Papier zusammengeballt in
den Mülleimer warf und nach einer weithalsigen Vase suchte.
,Leider ist es uns nicht möglich, Deiner Einladung Folge zu
leisten und den Ehrentag in Eurer so sehr geschätzten Gesellschaft zu verbringen. Eva schließt sich mir an. Mit herzlichen
Grüßen aus Basel, Dein Ulrich.’
Was Helga zuerst durch den Kopf ging, hatte wenig mit dem
Inhalt der Karte zu tun: Niemand hatte bislang daran gedacht,
einen Stift neben die besagte Silberschale zu legen, mit dem
sie hätte aufschreiben können, dass zu dem Glückwunsch des
Ehepaars Stoecklin ein Frühlingsstrauß gehörte, der so wunderbar duftete, dass Luise aus dem Nebenzimmer fragte, wer
denn ihren Gebinden so wirkungsvoll Konkurrenz mache. Helga erwiderte nur widerwillig, aber das konnte Luise natürlich
nicht sehen, Stoecklins würden morgen nicht kommen, und sie
habe pflichtgemäß alles ordentlich notiert.
„Stoecklins … Ob sie wohl wieder Ärger mit ihrem Sohn
haben? Die älteste Tochter, Carine heißt sie wohl, mit einem c
vorn und einem e hinten, soll hingegen recht gut geraten sein
und einen Mann geheiratet haben, der passenderweise schon
vor der Eheschließung in der Süßwarenbranche tätig war; hast
du sie eigentlich einmal kennen gelernt? Sie ist doch wohl auch
bei den Fräuleins … – wie war der Name doch noch, Griesbrei?”
„Griesbecque”, rief Helga aus dem ersten der drei Salons zu
Luise hinüber, immer noch eher unwillig, aber doch mit einem
Lachen in der Stimme.
„Richtig, Griesbecque. Dieser Jürg soll ja sehr viel Charme
besitzen, aber das hilft ihm weniger, wenn er Männern, vor allem wohl auch Polizisten gegenüber steht. Seid ihr euch eigentlich damals in Basel begegnet, oder war er mal wieder außer
Hauses? Seine Eltern lassen ja wenig unversucht, ihn auf die
rechte Bahn zu bringen, wie ich Vaters gelegentlichen Bemerkungen entnehme.”
Zu Helgas Erleichterung läutete es erneut unten an der
Haustür. Während sie die Treppe hinunterlief, spürte sie Dankbarkeit ihren Eltern gegenüber, weil sie, wie versprochen, ihren
Geschwistern gegenüber nichts über die Geschichte mit Jürg,
damals in Cyrano, hatten verlauten lassen, und stand zu ihrer
Überraschung Herta Dennersmann gegenüber.
„Herta? Guten Morgen. Es freut mich, dich zu sehen.”
Ihre ehemalige Klassenkameradin blickte sie freundlich an
und lachte dann schallend.
„Aus deiner Überraschung schließe ich, dass deine Mutter
dir nichts von der Anprobe erzählt hat – das heißt, um eine An-
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Aus dem Büro der Prokuristin drangen laute Stimmen nach
außen. Deshalb klopfte Helga kräftig an und betrat den Raum
erst, als ,Herein’ gerufen wurde; Herta blieb im Flur stehen.
„Ach, du bist es, Helle.”
Fräulein Dahm füllte den ausladenden Armstuhl hinter
dem Schreibtisch, auf dem wie immer zwei mehr oder weniger überquellende, mit ,Eingang’ und ,Ausgang’ beschriftete
Ablagen sowie ziemlich ordentlich gestapelte Aktenordner zu
sehen waren, völlig aus. Ihr rundes Gesicht unter dem frisch
gewellten, stahlgrauen Haar glühte, und sie atmete deutlich rascher als sonst. In einer Ecke stand Herr Behr und blickte zum
Fenster hinaus.
„Guten Morgen, oder besser guten Tag; ich bitte die Störung
zu entschuldigen.”
Helga konnte nicht umhin zu spüren, dass sie in so etwas
wie eine heftige Auseinandersetzung hineingeplatzt war, ob-
wohl nur der sonst so behäbig wirkenden Prokuristin etwas anzumerken war. So blieb sie in der Türöffnung stehen und fragte
lediglich, ob Fräulein Dahm wisse, wo ihre Mutter sich aufhalte; die Verabredung mit der Schneiderin habe sie doch gewiss trotz all des Trubels nicht vergessen. Während Herr Behr
Helga nach wie vor den Rücken zudrehte, schüttelte Fräulein
Dahm den Kopf und erwiderte, nein, natürlich sei Frau Schulte
das nicht entfallen; Marga Dennersmann habe sie indessen vor
zehn Minuten abgeholt und sei mit ihr in den Aufenthaltsraum
gegangen, wo der Werkschor probe, weil es da wohl etwas zu
regeln gebe. Sie werde bestimmt nicht lange auf sich warten
lassen; natürlich könnten die beiden Mädchen – „Obwohl die
Herta ja jetzt verheiratet ist!”, fügte Fräulein Dahm hinzu und
lächelte nun doch – Frau Schulte aber auch folgen und sich
einmal anhören, was da morgen zu Ehren des Geburtstagskinds
erklingen sollte.
„Ich glaube, Pastor Ackermanns Nachfolger, dieser junge
Hilfsprediger, wird ganz angetan sein, denn soweit ich weiß,
steht Lobet den Herren auf dem Programm, auch Geh aus,
mein Herz, und suche Freud’, ein kleines bisschen umgedichtet
- ,Sommerszeit’ passt nicht so recht; nur gut, dass ,Frühlingszeit’ genauso viele Silben hat. So” – Fräulein Dahm erhob sich,
und Helga fiel ein, was Karl vor vielen Jahren einmal grinsend
erklärt hatte: Sie sei so breit wie hoch –, „jetzt muss ich euch
bitten … Wir haben noch etwas Wichtiges zu besprechen.”
Ihr Lächeln wirkte irgendwie aufgesetzt.
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probe handelt es sich gar nicht, aber ich bringe das Kleid, das
sie morgen tragen wird. Fräulein Merten meinte, es sei vielleicht nicht schlecht …, ich meine, falls hier und da noch eine
winzige Kleinigkeit zu ändern wäre …”
„Wo sie steckt, wüsste ich allerdings nicht zu sagen”, meinte Helga und öffnete die Tür vollständig, sodass Herta mit dem
durch ein weißes Tuch geschützten Kleid das Haus betreten
konnte. „Es wird das Beste sein, wenn ich Tante … Fräulein
Dahm frage; komm mit, du kennst sie ja auch.”
Helga runzelte die Stirn, als sie die Tür hinter sich schloss.
Nach Streit hatte es eigentlich nicht geklungen, eher so, als
ob einer von den beiden, Herr Behr wahrscheinlich, etwas behauptet und Fräulein Dahm dies zurückgewiesen hätte. Um geschäftliche Schwierigkeiten konnte sich die Unterhaltung nicht
gedreht haben, denn allen Gesprächen während des Abendessens im Familienkreis hatte Helga entnommen, dass der Umsatz laufend stieg und dem Vertriebsleiter, Herrn Behr eben,
immer mehr Reisende unterstanden.
„Nun lass mal”, sagte Herta und zog Helga hinter sich her,
wobei sie darauf achtete, dass Frau Schultes Kleid nicht unter
dem weißen Tuch hervorrutschte. „Gehen wir rüber und hören
mal, wie’s klingt, ja? Ein wenig klatschen können wir auch; so
lange bist du ja noch gar nicht zurück aus England, und hier hat
sich inzwischen eine Menge getan.”
Helga fiel ihrer ehemaligen Klassenkameradin fast ins Wort.
„Ja, erzähl mal: Was macht Ernst August? Er ist doch jetzt
dein Schwager. Mein Vater, er schreibt ja in unserer Familie
immer die Briefe, hat mir letztes Jahr vor Weihnachten einen
Zeitungsausschnitt nach Gainsborough geschickt, wo von einem schweren Verkehrsunfall auf der Eckeseyer Straße die
Rede war, und weil in dem Artikel keine Namen genannt wurden, hat er natürlich erwähnt, dass Ernst August sich unter den
vier Wageninsassen befand.”
Es war Herta deutlich anzusehen, dass ihr eigentlich etwas
anderes auf der Zunge lag, aber sie griff das Thema auf und
fasste ziemlich hastig zusammen, woran sie sich erinnerte,
während sie sich bemühte, auf dem Weg quer über den Fabrikhof mit ihren hohen Absätzen nicht in den Ritzen zwischen den
Pflastersteinen hängen zu bleiben.
„Ernst August gehörte ja zu den ersten, die zum Wehrdienst
eingezogen wurden, und in der Kaserne hat er die drei Burschen kennen gelernt, die mit ihm im Automobil saßen; frag
mich bitte nicht nach der Marke. Auf jeden Fall kamen sie aus
Herdecke und hatten es sehr eilig. Übrigens saß Ernst August
nicht etwa hinter dem Lenkrad, möchte ich betonen. Sein Kamerad wollte halt zwei PKWs überholen und stieß dabei mit der
Straßenbahn zusammen. Der Aufprall war so heftig, dass Ernst
August und die beiden anderen Passagiere durch die Frontscheibe geschleudert wurden … Ein glücklicher Zufall wollte
es, dass ein Sanitätswagen in der Nähe war, und die Feuerwehr
kam auch ziemlich schnell. Alle vier wurden ins Josefshospital
gebracht, ja, und jetzt … Der Unfall liegt fast sechs Monate
zurück. Ernst August ist noch einmal davongekommen, beide
Arme mehrfach gebrochen, die Beine auch, zig Narben von
den Schnittwunden im Gesicht, aber Gott sei Dank nichts an
der Wirbelsäule … Frech ist er allerdings immer noch! Plates
haben ihn anständigerweise wieder eingestellt, obwohl er nur
sitzende Tätigkeiten ausüben kann. Und”, fügte Herta nach einer Pause hinzu, mit dem Soldatenleben war’s aus.”
„Ich dachte, der Wehrdienst dauerte ohnehin nur ein Jahr”,
meinte Helga. „Das hat mir Rudolf jedenfalls erzählt. Aber sie
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ziehen jetzt auch Verheiratete mit Kindern ein; Karl zum Beispiel hat einen Gestellungsbescheid erhalten.”
Herta nickte und wollte wohl noch etwas ergänzen, aber in
diesem Augenblick wurde die Tür des Aufenthaltsraums geöffnet, und Frau Schulte trat mit Frau Dennersmann heraus.
„Herta, das ist aber eine Überraschung!”
Während Frau Dennersmann ihre Tochter in die Arme
schloss und offensichtlich bemüht war, das Kleid nicht zu zerknittern, wandte sie sich halb zu Frau Schulte um.
„Ich werde übrigens Großmutter, gleich zweimal!”, erklärte sie stolz und lachte. „Else schrieb mir, sie sei guter Hoffnung, so hat sie sich wirklich ausgedrückt; da trifft es sich gut,
dass sie dem Franz eine Stelle angeboten haben, bei Krupps
in Essen, wo er in der Entwicklungsabteilung arbeiten wird.
Und jetzt die Herta auch noch! Im Spätsommer soll’s kommen.
Aber bislang versteckt sie’s gut, nicht wahr?”
„Gar nichts versteck ich”, brummte Herta, „im vierten Monat sieht man doch bei keiner Frau was. Ich wollt es Helle vorhin schon sagen, aber da hat sie sich nach Ernst August erkundigt, und der war schließlich in unserer Klasse.”
Wer hat dich, du schöner Wald … tönte es plötzlich sehr laut
durch die offen stehende Tür. Helga fuhr ein wenig zusammen,
weil sie mit ihren Gedanken gar nicht beim Geburtstag ihres
Vaters war. Ernst August mit seiner Frage am ersten Schultag,
ob sie denn auch einmal Bömkes mitbringen würde, Herr Reckefuß, der vor einigen Jahren gestorben war, Ilse und natür-
lich Herta, dann aber auch Jürg mit seinem ,Bankert’, Ernst
Herberts zahllose Briefe … all dies ging ihr blitzartig durch
den Kopf, und mitten hinein sagte ihre Mutter gerade, sie hätten sich darauf geeinigt, alle drei Strophen zu singen, auch die
mit dem deutschen Panier, das rauschend wallt, obwohl kaum
jemand verstünde, was das bedeutete.
„Eigentlich hatten sie vor, vier Lieder vorzutragen, aber das
wäre zu lang geworden für die Gäste; drei reichen auch. Ich
muss gestehen, dass ich nicht damit gerechnet hatte, es würde
so gut klingen”, meinte Frau Schulte und legte den Kopf leicht
schief. „Die beiden neuen Fahrer haben prächtige Bass-Stimmen, nicht einmal an Tenören mangelt es, und sogar die Soprane kreischen nicht mehr so fürchterlich, seitdem der Chorleiter
einige davon dem Alt zugeordnet hat.”
Herta grinste etwas verlegen.
„Was ist denn ein Panier ?
„Ein Banner, eine Fahne”, erwiderte Frau Schulte. „Aber
ich habe dich lange genug warten lassen, Herta, gehen wir in
die Wohnung und probieren rasch das Kleid an. Wir sehen uns
später noch, Marga, wenn ich mit Julius Scherney telefoniert
habe.”
Während Frau Dennersmann die Stufen zur Laderampe
hochstieg und zwischen aufgestapelten Kartons verschwand,
erkundigte sich Frau Schulte, ob Herta sich eigentlich nicht
selbständig machen wolle.
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„So sehr ich die Merten’sche schätze …”, meinte sie. „Du
hast viel bei ihr gelernt, und da du so begabt bist wie dein Bruder, auf einem anderen Gebiet natürlich, stehst du ihr kaum
nach; sie bezahlt dich ja auch wohl entsprechend gut. Aber
wenn man in seine eigene Tasche wirtschaftet, füllt sie sich
schneller.”
Inzwischen waren sie in Frau Schultes Zimmer angekommen, das leerer als sonst wirkte, weil Rudolf die Stühle bereits
in die Salons hinübergetragen haben musste. Helga blieb in
der Nähe der Tür stehen, während Frau Schulte nur ihr Korsett
sowie den Unterrock aus altrosa Taft anbehielt und sich von
Herta in das Festkleid helfen ließ. Dann drehte sie sich langsam
vor dem mannshohen Spiegel auf der Innenseite des weißen
Schleiflackschranks; Herta hockte zu ihren Füßen, den Mund
voller Stecknadeln.
Helga starrte ihre Mutter an. Sonst trug sie fast immer etwas Praktisches, in der Regel dunkle, wadenlange und nicht zu
enge Röcke, dazu Blusen aus gemustertem Kattun, im Winter
auch einmal aus Flanell oder einem feinen Wollstoff. Wurde
es kälter, so griff sie zunächst nach ärmellosen, dann langärmligen Strickjacken, von denen sie immer ein halbes Dutzend
besessen hatte, so weit Helga zurückzudenken vermochte,
mit Sicherheit eine dunkelrote, eine dunkelblaue und eine aus
grauer Angorawolle. Im Sommer bevorzugte sie bunte Baumwollkleider, die sich leicht waschen ließen und nach Möglichkeit nicht schwer zu bügeln waren. Und natürlich verfügte sie
über mehrere Ausgehgarnituren für offizielle Anlässe, Kostüme, zu denen immer auch ein Hut gehörte, weitausladende voller künstlicher Blumen oder aus Samt mit einem breiten Rand.
Auf der Seite des Kleiderschranks, die nicht geöffnet werden
konnte, hingen ganz hinten außerdem drei Abendkleider, von
denen eins jedoch nicht mehr passte und die nur selten hervorgeholt wurden.
Das Kleid, das Herta für ihre Mutter genäht hatte, war aus
beigefarbener, in sich strukturierter Seide mit Ärmeln, die sich
von der Schulter zu den Handgelenken hin verjüngten, einem
mit Brüsseler Spitzen verdeckten V-Ausschnitt und einem
Gürtel, der locker die Hüften umschlang. Hinten würde sich
der ziemlich enge Rock bei jedem Schritt ein wenig öffnen.
Es stand Frau Schulte ausgezeichnet, und Helga dachte kurz,
es sei schade, dass ihre Mutter sich erst gestern noch einmal
geweigert hatte, einen Friseur kommen zu lassen, bevor sie ihr
dann doch Anerkennung dafür zollte, dass sie erstens nicht jede
Mode mitmachte, die der Dauerwellen zum Beispiel, und zweitens nur ausnahmsweise Idas Hilfe in Anspruch nahm, wenn
sie nämlich sicher gehen wollte, dass ihr Knoten auch genau in
der Mitte des Hinterkopfes saß und so mit Nadeln fest gesteckt
war, dass er sich auf keinen Fall lösen würde.
„Das mit dem Selbständigmachen hat zwei Seiten, Frau
Schulte”, hörte sie Herta sagen. „Sie haben schon Recht: Es
springt gewiss mehr für einen dabei heraus. Aber andererseits
trägt man auch die ganze Verantwortung, das heißt, man muss
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die Preise kalkulieren und dabei nicht nur die Materialkosten
berücksichtigen, sondern auch so etwas wie Miete und Strom
mit einrechnen, einmal abgesehen davon, dass man vielleicht
zuerst einmal eine Durststrecke durchläuft, ich meine, eine
Zeit, in der man noch nicht genügend Kundinnen hat. Die Hagener Damen flechten doch allzu gern in eine Unterhaltung,
beim Kaffeeklatsch oder so, die Bemerkung ein, sie ließen bei
Josephine Merten arbeiten, stimmt’s?”
Während sie sprach, hatte Herta an einer Seite den Saum
etwas ausgelassen und bat Frau Schulte jetzt, beide Arme in
Schulterhöhe nach vorn zu strecken.
„Es wäre ja zu dumm, wenn Sie sich nicht ungehemmt
bewegen könnten, wo Sie doch zig Leuten die Hand werden
schütteln müssen, und der eine oder andere erwartet bestimmt
eine noch herzlichere Begrüßung. Spannt es irgendwo?”
Als Frau Schulte den Kopf schüttelte, zog Herta ihr behutsam das Kleid über den Kopf und hockte sich auf das breite
Bett, wo sie mit raschen, geschickten Bewegungen den Rock
rundum auf die gleiche Länge brachte.
„Fürs Erste bleibe ich weiterhin bei Fräulein Merten; das
ist eine sichere Beschäftigung, und die brauche ich jetzt, wo
… Sie haben es ja mitbekommen: Johann und ich werden eine
richtige Familie, und zu viele Umstellungen auf einmal, das ist
nicht gut. Aber später einmal … Vielleicht kann ich ja sogar
den Salon übernehmen, wenn die Chefin sich zur Ruhe setzt?
So, das hätten wir”, meinte Herta abschließend, erhob sich und
bat um ein Bügeleisen. Helga konnte ein Kichern nicht unterdrücken, sodass ihre Mutter sie etwas verwundert anschaute.
„Ach, das hast du natürlich nicht mitbekommen”, sagte
Helga und berichtete, was mit Idas Goldfischglas geschehen
war, erwähnte aber Rudolfs Rolle dabei mit keinem Wort. Frau
Schulte fragte auch nicht weiter nach, sondern bat Helga, Herta
in die Küche zu begleiten; sie selber müsse jetzt dringend telefonieren, denn Julius, der ,dicke Scherney’ – aus ihrer Stimme
war deutlich Zuneigung herauszuhören – warte seit mindestens
einer Viertelstunde auf ihren Anruf.
„Er liefert natürlich das kalte Büffet”, erklärte Helga auf
dem Flur. „Heute Morgen haben Mutter und Fräulein Dahm
noch einmal eine Art Überschlagsrechnung angestellt, mit wie
vielen Personen zu rechnen ist. Außer all denen, die unmittelbar mit dem Betrieb zu tun haben, den Vertretern und den höheren Angestellten, ein paar Leuten aus der Fabrik und den Mitgliedern des Werkschors, die natürlich auch ein Glas auf Vaters
Wohl trinken sollen, werden ja unsere nächsten Nachbarn erscheinen, dazu mit Sicherheit die Geschäftsfreunde aus Hagen
und solche, die nicht allzu weit weg wohnen, Brandts von der
Zwiebackfabrik in Haspe zum Beispiel” – Helga schluckte einmal –, „Vaters Logenbrüder …”
„Habe ich nicht irgendwann in der Zeitung gelesen, die
Freimaurerbewegung sei verboten worden?”, fiel ihr Herta ins
Wort.
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„Ja, aber das bedeutet doch nicht, dass sie sich nicht mehr
besuchen dürfen.”
Helga dachte dabei vor allem an Herrn Herberts, den Vater
ihres ehemaligen Verehrers, der ihr vor zwei Jahren sogar einen
Heiratsantrag gemacht hatte; am morgigen Tag würde sie eine
Begegnung mit ihm wohl kaum vermeiden können. Deshalb
nahm sie sich vor, Luise zu fragen, was aus Ernst Herberts in
der Zwischenzeit geworden sei.
„Vaters Logenbrüder also, dann der Direktor der Höheren
Handelsschule, weil Vater da im Beirat sitzt, also jedenfalls
eine nicht unwichtige Rolle spielt, Herren vom Verband der
Zuckerwarenhersteller, und jemand von der Stadt hat sich auch
angesagt, ich glaube, Oberbürgermeister Vetter.”
Dass ebenfalls mit einem Besuch von Alfred Barker zu
rechnen war, der auf dem Rückweg von der Leipziger Messe bei seiner deutschen Partnerfirma in Köln Station machte,
behielt Helga für sich, zumal Herta bislang keine einzige Frage zu ihrem sechsmonatigen Englandaufenthalt gestellt hatte.
Während sie die Küche betraten, meinte Helga nur noch, an die
hundert Gäste, wahrscheinlich sogar mehr und überwiegend
männlichen Geschlechts, würden wohl im Laufe des Vormittags kommen und gehen, abgesehen von denen, die, wie sie
aus Erfahrung wusste, bis in den Nachmittag hinein in den bequemen Armstühlen und Ohrensesseln hängen blieben, zuerst
Sekt, dann Wein und schließlich Kaffee trinken, Schnittchen,
Süßigkeiten und Kuchen essen und zwischendurch immer wie-
der eine Zigarre rauchen würden, die älteren jedenfalls; für die
jüngeren hatte Luise flache ägyptische Zigaretten sowie eine
runde Sorte namens Juno bereit gestellt und dabei selber eine
davon in den Mund gesteckt. Als Ida, von dem Geruch angezogen, Luise mit gerümpfter Nase von der Seite gemustert
und gemurmelt hatte, eine deutsche Frau rauche doch nicht,
war ihre große Schwester einmal nicht aus der Haut gefahren,
sondern hatte eines der vielen Fenster zur Straße geöffnet und
leise, aber deutlich gesagt, der Herr Reichskanzler habe in seiner Wiener Künstlerzeit bis zu vierzig Zigaretten am Tag gequalmt, das wisse sie ganz genau; einer der österreichischen
Freunde ihres Mannes habe da so seine Informationsquellen.
Ausnahmsweise gab Ida sich nicht geschlagen.
„Eine deutsche Frau”, betonte sie.
Luise hatte genickt und Ida gebeten, doch Otto junior zu
ihr zu schicken, falls er ihr über den Weg liefe, bevor sie überprüfte, ob die Schwämmchen in den Zigarrenkisten auch noch
genug Feuchtigkeit abgaben.
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In der Küche bahnte Herta sich einen Weg zwischen den
Tellerstapeln hindurch, wobei Helga feststellte, dass Ida den
größten Teil der Gläser wohl schon auf den drei aneinander gestellten Tischen im Schlafzimmer ihres Vaters aufgebaut haben
musste. Wer ihr wohl geholfen hatte, die riesigen Damasttücher
darauf auszubreiten? Sie blickte ein wenig schuldbewusst in
Idas Richtung, die jetzt damit beschäftigt war, schon vor Tagen
noch einmal gewaschene und gestärkte Servietten zu zählen.
„Was meinst du, Helle, sollen wir jeweils vierundzwanzig
von einer Sorte aufeinander legen? Luises kommen ganz nach
unten, wer weiß, ob wir sie überhaupt brauchen, und ich glaube, die Sophie bringt auch noch welche mit. Hoffentlich sind
sie alle mit einem Molo…, ich meine, erinnerst du dich, ob
Karls mit KS oder SW bestickt sind?”
Helga hätte das nicht zu sagen gewusst, erwiderte aber, Sophie werde doch wohl in der Lage sein, ihre eigenen Servietten
wiederzuerkennen, ob sie nun mit einem Monogramm versehen waren oder nicht, und begann, die Meißener Teller vorsichtig einzeln in dem mit Moltonlappen ausgelegten und mit sehr
heißem Wasser gefüllten Spülbecken abzuwischen und ebenso
behutsam auf einer Schicht von Trockentüchern abtropfen zu
lassen, als Ida kopfschüttelnd zu ihr herantrat und meinte, Helgas Hände seien so hohe Temperaturen nicht gewöhnt; es wäre
doch wohl besser, die Rollen zu tauschen.
Inzwischen hatte Herta das beigefarbene Seidenkleid noch
einmal von links gebügelt und dabei eine Glasscherbe auf dem
Fensterbrett entdeckt. Da Helga die Geschichte mit dem Aquarium ja in ihrer Anwesenheit erzählt hatte, warf sie den Splitter
mit ihrer freien Hand in den Mülleimer, bevor sie in der Tür
zum Flur noch einmal stehen blieb und nach kurzem Zögern
fragte, ob das stimme, was ihre Mutter ihr berichtet hatte, näm-
lich: dass die junge Engländerin bei ihrer Ankunft ein Hermelinjäckchen getragen habe.
„Ich muss gestehen, dass ich so einen Pelz bisher noch nie
aus der Nähe gesehen habe”, fügte sie hinzu.
Helga nickte und erklärte Herta, Rosemary habe keine Geschwister und werde deshalb von ihren Eltern sehr verwöhnt,
aber sie passe sich doch neuen Situationen ziemlich rasch an,
und was ihre Deutschkenntnisse angehe, so mache sie da tagtäglich Fortschritte.
„Daran“, Ida richtete sich kurz auf und hielt den Teller, den
sie gerade gespült hatte, in der Hand, ohne ihn sofort abzulegen, „ist unser Rudolfchen maßgebend beteiligt.”
„Gehe ich recht in der Annahme, dass euer englischer Gast
hübsch ist?”, erwiderte Herta darauf und setzte noch hinzu,
jetzt müsse sie sich aber wirklich sputen. Ihre Schritte entfernten sich in Richtung auf Frau Schultes Schlafzimmer, kamen
rasch wieder näher, und dann steckte Herta den Kopf noch einmal zur Küchentür herein.
„Lass mal, Helle, meinen Mantel finde ich auch allein, vom
Weg einmal ganz zu schweigen. Ihr müsst sehen, dass ihr fertig werdet. Wenn sich’s einrichten lässt, schaue ich morgen für
ein paar Minuten rein; deine Mutter hat’s mir vorgeschlagen.
Vielleicht kann ich dann ja den Hermelin … was meinst du?”
Sie wartete die Antwort jedoch nicht ab, und wenige Augenblicke später fiel unten die Haustür ins Schloss. Gleichzeitig läutete das Telefon, und da Helga der Überzeugung war, es
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müsse sich um den Anruf von Feinkost Scherney handeln, den
ihre Mutter erwartete, trocknete sie weiterhin Teller ab.
„Hm”, machte sie nur, als die Klingel verstummte, ohne
dass der Hörer abgenommen worden war, meinte aber, wenn
die Sache wichtig sei, werde die Person am anderen Ende die
Damen von der Telefonzentrale mit Sicherheit noch einmal bemühen.
„Ottolein, deine Mutter sucht dich”, sagte Helga genau in
dem Augenblick, als Luise von der anderen Seite her die Küche
betrat und schon von der Speisekammer aus fragte, ob es denn
heute Mittag nichts zu essen gäbe. Ida warf entsetzt einen Blick
auf die Uhr, wischte die Hände an ihrer Schürze ab und rannte
auf den Balkon hinaus, kehrte sofort mit einer großen Schüssel zurück und wiederholte mehrmals, es werde nicht lange
dauern; sie habe den Reibekuchenteig in aller Herrgottsfrühe
vorbereitet. Jemand solle bitte rasch den Tisch im Kinderzimmer decken, denn nur dort sei genügend Platz. Helga trug den
Stapel sauberer Teller zu den Gläsern hinüber, damit keine
Fettspritzer ihre Arbeit zunichte machten, und holte dann das
Alltagsgeschirr aus dem Schrank, suchte aus einer Schublade
Messer und Gabeln heraus und verschwand im sogenannten
Kinderzimmer, wo sogar noch Stühle vorhanden waren, sorgte
dafür, dass auch Rübenkraut, Apfelsaft und Selterswasser bereit standen und holte ein paar Scheiben Pumpernickel aus dem
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Brotkasten. Mit halbem Ohr hörte sie abwechselnd Luises und
Ottos Stimmen.
So entrinnen jeder Stunde
fügsam glückliche Geschäfte.
Regen dir…
„Segen dir”, brüllte Luise. „Segen! Was hat denn Regen mit
einem Geburtstag zu tun?”
Otto weinte. Sein Schluchzen drang bis ins Kinderzimmer.
„Die ersten beiden Strophen gehen ja noch. Aber wie wir
das bis morgen richtig hinbekommen sollen … Manchmal denke ich …”
Als Helga gerade eingreifen wollte, vernahm sie Idas Stimme.
„Nun mal ganz ehrlich, Luise, ich versteh Bahnhof. Das mit
den Körnern, die jemand zählen will, geht ja noch, und der
Goethe, der das geschrieben hat, wie du sagst, ist ja bestimmt
ein großer deutscher Dichter. Aber unser Ottochen mit seinen
neun Jahren, der ist einfach noch zu klein für so was. Auf dem
75. Geburtstag von meinem Opa hat das Päulchen auch einen
Vers aufgesagt, der ging so:
Gesundheit und Zufriedenheit
nebst allem, was dich sonst erfreut,
ein langes Leben obendrein
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soll alles dir bescheret sein.
Denkst du nicht, das täte es auch?”
In die Stille hinein putzte sich jemand die Nase, dann ertönte Ottos befreites Lachen. Und während die Reibekuchen in der
Pfanne spritzten, klingelte noch einmal das Telefon. Diesmal
lief Helga sofort in die Garderobe hinüber und nahm den Hörer
ab.
„Fräulein Schulte? Ich habe hier Helga Meyer am Apparat;
sie hat schon einmal versucht, Sie zu erreichen.”
Es ging Helga durch den Kopf, der Zeitpunkt sei schlecht
gewählt, aber natürlich bat sie die Telefonistin, die unten in der
Büroetage mit Kopfhörern vor ihrem Steckbrett saß, sofort die
Verbindung herzustellen.
„Helga? Helle, ich muss dich unbedingt sehen. Ja ja, ich
weiß schon, dein Vater wird morgen sechzig, und ihr habt bestimmt furchtbar viel zu tun. Aber …”
Die Stimme der anderen Helga klang durch die Leitung
fremd, ein wenig metallisch; doch trotz der ziemlich schlechten Verbindung spürte Helga, dass da etwas nicht in Ordnung
war. So dachte sie kurz nach und meinte dann, Helga solle einfach vorbeikommen; sie selber werde ausschließich im Haus
zu tun haben, und irgendjemand werde schon wissen, wo sie
sich gerade aufhalte.
„Was ist denn?”, erkundigte sie sich, ehrlich besorgt.
„Das möchte ich am Telefon lieber nicht …”
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Es hörte sich so an, als ob die andere Helga hinter vorgehaltener Hand spräche und sich nur mit Mühe zusammennähme.
Deshalb sagte Helga ganz besonders deutlich, sie erwarte ihre
Klassenkameradin und werde schon Zeit für sie finden.
Obwohl die Uhr im Kinderzimmer bereits auf halb zwei
zeigte, hatten Frau Schulte, Rudolf, Rosemary, Helga, Luise
und Otto gerade erst die Stühle um den Tisch gerückt, und Helga hatte der erstaunten Rosemary gezeigt, wie man die Reibekuchen mit Rübenkraut bestrich, und dann auf Rudolfs Teller
gewiesen.
„Manche Leute legen noch eine Scheibe Pumpernickel darunter; so heißt dieses schwarze, etwas klebrige und ganz dünn
geschnittene Brot”, ergänzte sie ihre Erklärung. „Otto, sei so
lieb und hol das Schüsselchen mit Apfelmus aus der Speisekammer, ja? So mag ich Reibekuchen nämlich am liebsten.”
Rosemary beäugte die flachen, knusprigen Plätzchen aus
geriebenen Kartoffeln ungläubig.
„Ich habe vorhin deutlich gesehen, wie Ida Salz in die
Schüssel mit dem Teig gegeben hat”, meinte sie dann. „Und
ihr esst diese Art von Pfannkuchen dann mit Sirup und Apfelkompott?”
„Probieren geht über studieren”, sagte Frau Schulte und lächelte. „Nimm doch einmal einen Bissen, vielleicht zuerst am
besten pur, dann wirst du sehen, ob du dich damit anfreunden
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kannst. Die Kalbshaxe mit den Pflaumen und Birnen in der
Tunke und den Klößen dazu hat dir doch auch geschmeckt.”
„Und ich habe immer gedacht, nur die Inder und die Chinesen kochten süß-sauer”, begann Rosemary zunächst auf
Deutsch, fuhr dann aber auf Englisch fort, als Herr Schulte
das Zimmer betrat, wobei sie sich vor allem an Helga und Rudolf wandte. „Meine Eltern haben mich einmal mit in ein indisches Restaurant genommen, als wir in London waren; da gab
es Hühnercurry, also Fleischstücke in einer ziemlich scharfen
gelb-braunen Soße mit Gemüse und Rosinen darin. Obendrauf
streut man geraspelte frische Kokosnuss.”
Entgegen seiner Gewohnheit hatte Herr Schulte geschwiegen und sich nicht einmal sofort zu den anderen an den Tisch
gesetzt, obwohl er doch sonst so großen Wert darauf legte, dass
pünktlich gegessen wurde. Er schritt zwischen Tür und Fenster
auf und ab und blieb erst stehen, als Rosemarys Worte verklungen waren.
„Behr geht”, sagte er nur.
Zu Helgas Überraschung fragte ihre Mutter nicht, ob dem
Vertriebsleiter von einem Konkurrenten ein höheres Gehalt angeboten worden sei oder ob er sich räumlich verändern wolle;
solche Begründungen für das Ausscheiden von Mitarbeitern
waren in Gesprächen der Eltern schon mehrfach genannt worden. Aber dann fiel ihr die Szene ein, in die sie vorhin unten im
Büro hineingeraten war und für die sie jetzt wohl eine Erklärung erhalten würde.
„Er hat alle Papiere beieinander, auch diese Unbedenklichkeitsbescheinung, und es geht nur noch darum, ob Rosenthals
ihn begleiten. Der Doktor ringt ja seit Längerem mit sich; ich
habe ihn übrigens eben deswegen in seiner Praxis aufgesucht.
Er sagt” – Herr Schulte sprach recht leise, aber seine Stimme
klang ungewöhnlich scharf –, „dass er sich um seine Patienten
wohl keine Sorgen zu machen braucht. Dabei hat er mich einen Blick in seine Kartei werfen lassen: zwanzig, wenn’s hoch
kommt dreißig Einträge vielleicht. 1933, gleich nach diesem
Boykott im April, haben sich die ersten einen neuen Hausarzt
gesucht, und mit den Jahren ist sein Patientenkreis immer mehr
geschrumpft.”
Frau Schulte nickte.
„Verstehen kann ich das schon. Die Kassen, sogar die privaten, erstatten ja seit Jahren keine Konsultationen bei jüdischen
Ärzten mehr, und für viele Leute ist das dann eine Geldfrage,
selbst wenn sie’s mit der NSDAP nicht im Sinn haben.”
Es war Rosemary anzusehen, dass sie angestrengt versuchte, der Unterhaltung zu folgen; dann jedoch warf sie Helga einen hilfesuchenden Blick zu. Rudolf flüsterte ihr ins Ohr, er
werde ihr nachher alles erklären, während sein Vater die Hände
vor der Brust zusammenpresste.
„Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass vieles von
dem, was Rosenthal mir da vorhin berichtet hat, in meinem
Gedächtnis nicht hängen geblieben ist, als die entsprechenden
Gesetze und Verordnungen erlassen wurden. Ich hatte einfach
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vergessen, dass ihm die wissenschaftliche und kollegiale Zusammenarbeit mit Nicht-Juden, sprich, mit Ärzten aus Hagen
und Umgebung, die einen Ariernachweis in der Tasche tragen,
schon lange verboten ist. Fortbildungsveranstaltungen im Ausland kann er auch nicht mehr besuchen. Aber über einige von
den neueren Beschränkungen hatte ich mit ihm gesprochen, als
er sich kürzlich Gedanken darüber machte, wer seine Praxis in
ein paar Jahren übernehmen könnte: Jüdische Medizinstudenten dürfen ja keine Examina mehr ablegen, wenn sie überhaupt
zum Studium zugelassen worden sind, und die Approbation
verweigert man ihnen auch. Rosenthal selber … Er darf uns
seit letztem Oktober eigentlich nicht mehr behandeln. Die Entscheidung, ob wir uns daran halten wollen, ist uns nur deshalb
abgenommen worden, weil kein Mitglied unserer Familie auch
nur ein Grippevirus angeschleppt hat.”
Erst nach einer längeren Pause sprach Herr Schulte weiter.
„Kurzum: Die meisten seiner jüdischen Patienten haben
Hagen bereits verlassen – was soll er noch hier?”
Helga starrte ihren Vater an, wie er mit beiden Hände die
Lehne des Stuhls umklammerte, auf dem ihre Mutter saß. Dr.
Rosenthal, dachte sie, doch nicht Dr. Rosenthal, der bei all ihren Kinderkrankheiten und auch der bösen Lungenentzündung
vor dreizehn Jahren immer das Richtige zu tun gewusst hatte,
damit sie rasch wieder gesund wurde, Dr. Rosenthal, der im
Krieg den linken Arm verloren hatte, an dessen Schädel diese
seltsame Operation vorgenommen worden war … und der ei-
nen Orden für Tapferkeit vor dem Feind erhalten hatte, den er
jedoch nie trug.
„Ich nehme an, dass sie alle zusammen nach England auswandern werden, in eine Industriestadt namens Birmingham,
wo andere Mitglieder der Familie Behr bereits Zuflucht gefunden haben. Noch sind sie ja finanziell so gut gestellt, dass
einem Neuanfang dort nichts im Wege steht, obwohl diese
Reichsfluchtsteuer ein ziemlich tiefes Loch in ihren Geldbeutel
gerissen hat, offiziell fünfundzwanzig Prozent und unter dem
Tisch … Unser guter Dr. Rosenthal ist zwar nicht mehr der
Jüngste, aber aus anderen Emigranten könnte er vielleicht sogar noch einmal einen Patientenkreis aufbauen.”
Rosemary hatte ganz offensichtlich zumindest Bruchstücke
von Herrn Schultes Ausführungen verstanden, kräuselte aber
die Stirn.
„Reichs…? Mark Twain, der von Huckleberry Finn, hat
in seinem Buch The Innocents Abroad geschrieben, dass die
Deutschen aus lauter kurzen Wörtern furchtbar lange machen
können. Was ist denn das?”
„Ausnahmsweise keine Erfindung unserer jetzigen Regierung”, erwiderte Luise sofort.
„Das hat sich ein früherer Reichskanzler, Heinrich Brüning,
schon 1931 einfallen lassen, um der Kapitalflucht vorzubeugen
– was das ist, verstehst du?”
Rosemary nickte.
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„Aber diese Verordnung kam den neuen Machthabern mehr
als gelegen, zumal sie genau die Bevölkerungsgruppe trifft, mit
der sie’s nicht so haben, um es einmal unverbindlich auszudrücken.”
Dann verstummte auch Luise und starrte genau wie Frau
Schulte, Helga und Rudolf vor sich hin.
Das hatte also Herr Behr, der immer noch unverheiratete,
elegante Herr Behr mit seinem Mercedes Kabriolett, Fräulein
Dahm vorhin mitgeteilt, und deswegen war sie so erregt gewesen. Früher, erinnerte sich Helga, hatte Ida ihr gegenüber die
Vermutung geäußert, Fräulein Dahm ,hätte es auf ihn abgesehen’, wie sie es nannte, eine Vorstellung, die Helga immer weit
von sich gewiesen hatte, weil die Prokuristin doch mindestens
fünf, wenn nicht zehn Jahre älter sein musste als der Vertriebsleiter; aber dass sie gut miteinander auskamen, daran bestand
kein Zweifel.
„In Birmingham”, sagte Rosemary plötzlich ein wenig zögernd auf Deutsch in die Stille hinein, „war ich schon einmal.
Es ist eigentlich auch nicht viel hässlicher als Eckesey.”
Niemand lachte.
Rudolf fragte fast gleichzeitig, wen seine Eltern denn zum
neuen Hausarzt erkoren hätten, worauf Luise ihren Stuhl so heftig zurückstieß, dass er fast umfiel, und mit beißender Schärfe
in der Stimme verkündete, sie würde allzu gern eine ihrer ehemaligen, mittlerweile promovierten Klassenkameradinnen vorschlagen, wenn die nicht auch seit 1935 eine nach der anderen
ihre Kassenzulassung verlören – Frauen seien ja nicht fähig,
logisch und sachlich zu denken, sondern fänden ihre Erfüllung
in einem Dasein als Hausfrau und Mutter. Ihr Vater starrte sie
ungläubig an, während Frau Schulte gedankenverloren den
Kopf schüttelte und meinte, da würden sie ja am morgigen Tag
nicht nur Geburtstag, sondern auch Abschied feiern.
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„Ist Sophie noch nicht da?”
Karl warf einen Blick auf den Küchentisch, wo Helga gerade dabei war, winzige Salzfässchen aus Kristall zu füllen und
deren silbernen Deckel blank zu putzen.
„Tut mir leid, dass ich nicht helfen kann, aber der Betrieb
muss weiterlaufen, Geburtstag hin oder her. Sie sind ja wohl
eher von der dekorativen Sorte, diese Dinger, zumal sich die
Löcher rasch verstopfen.”
„Deswegen tun wir ja auch immer ein paar Reiskörner hinein”, meinte Ida etwas spitz.
„Vielleicht könnte mir trotzdem jemand Bescheid geben,
wenn Sophie …”
Es läutete an der Haustür.
„Das wird die andere Helga sein”, sagte Helga und sprang
auf.
„Helga Meyer, dieser bildhübsche Rotschopf mit den grünen Augen?”
Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu, allerdings nur mit
Ida als Zuhörerin, er sei der Überzeugung gewesen, Meyers
hätten Hagen längst verlassen; er interessiere sich freilich auch
nur am Rande für Damenoberbekleidung. Dann wartete er, bis
er die beiden Helgas auf dem Flur leise sprechen hörte, und
ging so langsam auf die Verbindungstür zum Betrieb zu, dass
sie ihn trotz des Halbdunkels wahrnehmen mussten.
„Lange nicht gesehen”, sagte Karl, und seine Stimme klang
betont fröhlich. „Wie geht’s, wie steht’s?”
Mit einer raschen Bewegung drehte seine Schwester das
Licht an, und Karl verstummte, als er Helga Meyer dicht vor
sich erblickte. Wie immer trug sie Hut und Handschuhe, aber
sie wirkte so verstört, dass Karl seine Selbstsicherheit als Juniorchef und Familienvater verlor und dann etwas tat, was es
Helga warm ums Herz werden ließ: Er zog ein Taschentuch
aus seinem weißen Kittel und wischte damit ganz behutsam die
Tränen von Helga Meyers Gesicht. Ohne ein Wort öffnete er
die Tür und schloss sie so rasch wieder, dass nur sehr kurz das
Geratter der Bonbonwickelmaschinen in die Wohnung drang.
Helga schoss auf einmal der Gedanke durch den Kopf,
dass ihre ehemalige Klassenkameradin gekommen sei, sich zu
verabschieden. Überrascht hätte sie das nicht, denn als sie in
den ersten Tagen nach ihrer Rückkehr aus England Rosemary
die Innenstadt gezeigt hatte, war ihr aufgefallen, dass von den
Schildern am Konfektionshaus Lampe jetzt sogar der Zusatz
,vormals Löwenstein’ verschwunden war, und in den Zeitungsanzeigen stand auch nichts mehr von ,rein arisch’ zu lesen. Das,
so hatte Luise ihr erklärt, als sie in Begleitung von Rosemary
ihr Patenkind Kathrine nach einer Kuchenschlacht im Café
Tigges wieder zu Hause abgeliefert hatte, sei von Herrn Dr.
Goebbels so verfügt worden. Löwensteins …, hatte Luise noch
hinzugefügt, es sei so, als hätte es sie nie gegeben. Dabei habe
Hermann Löwenstein im Weltkrieg das Eiserne Kreuz erster
Klasse verliehen bekommen und sei später sogar für das Vaterland gestorben. Das Modehaus Meyer war allerdings noch
geöffnet, und so hatte sich Helga um das Schicksal der anderen
Helga keine Sorgen gemacht; sie würde sich schon melden.
„Dass mir ausgerechnet dein Bruder Karl über den Weg
läuft …”, murmelte Helga Meyer gerade.
Helga runzelte die Stirn und war versucht, den Satz so zu
verstehen, wie sie auch Karls Bemerkung vorhin aufgefasst
hatte: Die beiden seien einem Flirt nicht abgeneigt. Als sie
sich bei der anderen Helga dafür entschuldigt hatte, dass sie ihr
nicht einmal einen Stuhl anbieten könne, weil Rudolf alle vorzeigbaren Sitzgelegenheiten in die drei Salons getragen hatte,
und die andere Helga traurig, aber doch immerhin schon ohne
Tränen in den Augen gemeint hatte, es gebe kaum etwas, das
sie weniger störe, wurde sie jedoch eines Besseren belehrt.
„Erinnerst du dich noch?”, sagte die andere Helga vor sich
hin. „Wie lange das her ist, weiß ich nicht, aber die Szene sehe
ich noch so genau vor mir, als ob sie sich heute abspielte. Ilse
Fandrey, Hildegard Blankenstein, du und ich waren auf dem
Weg in die Innenstadt; ein PKW rauschte an uns vorüber, verlangsamte die Fahrt ein wenig, beschleunigte dann wieder, und
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ihr beiden, Hildegard und du, habt gleichzeitig gesagt, dass in
dem Wagen dein Bruder Karl säße mit einem Mädchen namens
Sophie, Sophie Winterhoff damals, und du hast erklärt, deine
Eltern sähen ihre Verbindung zu Karl nicht gern, weil sie katholisch sei. Weißt du noch?”
Helga nickte, ohne auch nur zu ahnen, weshalb ihre Schulfreundin diese Geschichte ausgerechnet jetzt hervorkramte.
„Natürlich”, meinte sie deshalb etwas unsicher und versuchte, einen Bezug zur Gegenwart herzustellen. „Was mich
persönlich mehr gestört hat, war eigentlich, dass Karl … er
wollte ja unbedingt ein Mädchen mit langen, blonden Haaren
heiraten, und die hatte ich nun einmal nicht … Du verstehst
schon: Ich dachte, ich sei ihm nicht recht. Aber” – sie richtete
sich auf und sah die andere Helga an – „Sophie und Karl haben dann doch geheiratet, obwohl meine Eltern sich wohl eine
evangelische Schwiegertochter gewünscht hätten, und als das
Diezchen geboren und von Pastor Ackermann getauft wurde,
haben sie ihre Einstellung doch ziemlich geändert. Meine Mutter kommt mit Sophie sogar ganz gut zurecht … Aber nun sag
einmal … Hast du dich …”
Die andere Helga saß mit ausgestreckten Beinen auf dem
Teppich vor Helgas Bett und verschränkte die Arme vor der
Brust, wobei sie zunächst nichts erwiderte, sondern auf ihre
Fußspitzen starrte. Als vom Balkon her ein Geräusch zu ihnen
hineindrang, aus dem Helga schloss, dass ihr Bruder Rudolf
sich nun doch um die Zinnwannen für das Stangeneis geküm-
mert hatte, hob die andere Helga den Kopf und lieferte nach
und nach die Erklärung für ihren Besuch.
„Ernst ist evangelisch, ich bin Jüdin; deswegen musste ich
an Karl und Sophie denken, obwohl ...” – die andere Helga
sprach etwas lauter, aber schleppend –, „obwohl sich bei ihnen
noch eine Lösung finden ließ.”
Helga hatte eigentlich nur den ersten Teil des Satzes mitbekommen und fuhr leicht zusammen. Da ihr im Laufe des Vormittags mehrfach durch den Kopf gegangen war, dass sie am
nächsten Morgen mit Sicherheit dem Vater von Ernst Herberts
würde gegenübertreten müssen, stellte sich bei der Nennung
des Namens sofort der Gedanke ein, es handle sich um ihren
ehemaligen Verehrer. Während die andere Helga sie abwartend
und etwas überrascht anschaute, schob sie die Idee jedoch beiseite: Ernst hießen so viele Männer, von Fräulein Dahms gefallenem Verlobten über einen ihrer Lieblingsschriftsteller, Ernst
Wiechert, bis zu dem ermordeten SA-Führer Röhm.
„Ach, entschuldige”, sagte die andere Helga dann. „Ich
habe dir, glaube ich, nur einmal etwas angedeutet in einem
Brief nach England. Weihnachten war ich ja mit meinen Eltern
zum Skilaufen auf unserer Hütte in Winterberg; deshalb haben
wir uns bei deinem kurzen Besuch zu Hause nicht sehen können. Ernst ist der Sohn eines der bekanntesten Steuerberater
von Hagen; wenn ich mich nicht sehr irre, kennt dein Vater
seinen Vater aus der Loge – so etwas hat er jedenfalls verlauten lassen. Getroffen haben wir uns, weil ... weil Herr Herberts
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senior sich auf Anhieb bereit erklärt hat, sich um die Angelegenheiten meines Vaters zu kümmern, ohne ... sich herauszureden oder zuerst Ja zu sagen und den Auftrag dann wenig
später von seiner Sekretärin ablehnen zu lassen, so nach der Art
,Arbeitsanfall nicht richtig eingeschätzt, tut uns unendlich leid,
mit tiefstem Bedauern’. Er hat also seinen Sohn geschickt, um
mit meinem Vater und dem Buchhalter die Steuerunterlagen
durchzugehen, und wir sind uns im Kontor begegnet; du weißt
ja, dass ich im Einkauf tätig bin, oder? So einfach war das.”
Während Helga fieberhaft überlegte, ob Ernst Herberts ihrer
ehemaligen Klassenkameradin erzählt hätte, wie weit sie selber vor zwei Jahren in seine Zukunftspläne einbezogen worden
war, spielte die andere Helga mit ihren Handschuhen herum
und meinte schließlich, jetzt wisse sie nicht, was sie tun solle. Nach einer langen Pause fuhr sie fort, Ernst und sie hätten
vor zu heiraten. In Deutschland sei das jedoch nicht möglich,
wie Helga ja sogar in der Schweiz oder in England zu Ohren
gekommen sein werde. Zudem sei Ernst bereits von einigen
Kunden seines Vaters auf seine Beziehung zu einer Jüdin angesprochen worden. Herr Herberts senior reagiere auf solche
Bemerkungen eher humorvoll, sage zum Beispiel, dahinter stecke wohl pure Eifersucht, denn nicht jeder könne ein so apartes
Geschöpf quasi sein Eigen nennen. Aber gestern habe er sie
doch beide in sein Büro gebeten und ihnen nahe gelegt, die
Situation gründlich zu durchdenken. Wenn es ihnen … ernst
sei – die andere Helga lachte ziemlich bitter –, sollten sie sogar
in Erwägung ziehen, Deutschland zu verlassen und die Ehe im
Ausland zu schließen.
„Was soll ich bloß tun?”
Seitdem Helga aus den Worten der anderen Helga herausgehört hatte, dass ihr Name von Ernst Herberts nicht erwähnt
worden war, spürte sie Erleichterung und gleichzeitig die Bereitschaft, ihrer Schulkameradin zu helfen.
„Und deine Eltern – was sagen die dazu?”
„Zuerst haben sie die Sache auf die leichte Schulter genommen ... Ein junger Mann mehr, einer weniger ... Dann waren sie
recht angetan, bis sie merkten, dass all diese Gesetze nicht nur
auf dem Papier stehen. Und jetzt … jetzt überlegen sie hin und
her. Ernsts Eltern haben ihnen vor Kurzem ziemlich deutlich
zu verstehen gegeben, es sei keine schlechte Idee, das Geschäft
hier zu verkaufen, solange man dafür überhaupt noch einen
halbwegs angemessenen Preis erzielen könne, und woanders
neu anzufangen, in Frankreich zum Beispiel. Aber mein Vater will nicht. Dass die großen Kaufhäuser, Löwenstein zum
Beispiel, längst in arische Hände übergegangen sind, stört ihn
nicht. Den kleineren, meint er, wird man nichts tun.”
Helga dachte angestrengt nach und wog verschiedene Möglichkeiten laut gegeneinander ab.
„Ernst und du, ihr könnt natürlich nicht einfach in irgendein
Land auswandern, selbst wenn man euch über die Grenze lässt.
Mit Geld vermag man da immer noch so ziemlich alle Hindernisse aus dem Weg zu räumen ... insbesondere, wenn man nur
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einen normalen Reisekoffer mitnimmt. Aber Ernst muss doch
arbeiten können, ich meine, er hat schließlich Betriebswirtschaft studiert und ist jetzt Steuerberater.”
Sie biss sich auf die Lippen, doch die andere Helga schien
sich nicht darüber zu wundern, dass ihrem Gegenüber bekannt
war, welche Ausbildung Ernst Herberts durchlaufen hatte.
„Ihr könntet es in der Schweiz probieren. Oder wie wäre es
mit Frankreich, gleich hinter der Grenze, im Elsass zum Beispiel, wo die Bewohner größtenteils Deutsch sprechen oder zumindest verstehen?”
Die andere Helga hob den Kopf und lächelte zum ersten
Mal.
„Ja, das wäre etwas ! Ernst hat gleich an Südafrika gedacht
oder auch an Australien. Aber das ... das liegt alles so furchtbar weit weg. Da kennen wir ja niemanden, und selbst, wenn
wir beide uns im Englischen ziemlich sicher fühlen ... Wie soll
ich’s ausdrücken? Es hat etwas zu tun mit Heimat und Muttersprache. Ich werde gleich einmal bei Ernst vorbeischauen!”
Die andere Helga richtete sich auf und atmete einmal tief
ein.
„Und du”, fragte sie dann fast heiter, „wie geht es dir? Wie
war’s in England? Was du dir überhaupt so zusammenreist!”
Helga wollte gerade antworten, als die Tür zu ihrem Zimmer
aufgestoßen wurde und zwei kleine Jungen hereinstürmten.
„Gestatten”, sagte Helga, „Otto Rellinghaus junior, der
Sohn meiner Schwester Luise, und Dietrich Schulte, genannte
Diezchen, der Sohn von Karl und Sophie. Otto, da bin ich sicher, kann inzwischen sein Gedicht auswendig, und Diezchen
braucht noch keins zu lernen; er ist nämlich erst drei Jahre alt.
Aber dir, lieber Otto, hat deine Mutter gewiss längst beigebracht, dass man anklopft?”
In diesem Augenblick steckte Sophie ihren schwarzen, frisch
dauergewellten Bubikopf durch die Öffnung und entschuldigte
sich etwas verlegen für das Verhalten der beiden Kinder.
„Zu Hause benimmt Diezchen sich viel besser”, meinte sie.
„Aber sobald er mit seinem Vetter zusammen ist, gerät er außer
Rand und Band. Freut mich, Sie zu sehen – Sie müssen Helga Meyer sein, nicht wahr? Wir verkehren nicht in denselben
Kreisen – ich meine, Sie sind ja um so vieles jünger als Karl
und ich, aber manchmal fällt Ihr Name doch.”
Helga wurde nicht so recht schlau daraus, was Sophie eigentlich zum Ausdruck bringen wollte: Missbilligung, Eifersucht? Da setzte Sophie jedoch schon hinzu, sie sei Rudolf und
Rosemary unterwegs begegnet; die beiden ließen ihr ausrichten: Stichwort Aquarium, weiter nichts. Während Helga sich
nicht entscheiden konnte, ob sie nun lachen oder sich ärgern
sollte, weil Rudolf doch mit Sicherheit weder die Sektflaschen
ausgepackt noch Wein aus dem Keller nach oben getragen hatte, erzählte sie die Geschichte mit Idas Goldfisch, der auf dem
Bügelbrett gelandet war, noch einmal und bat Sophie dann,
sich auf die Suche nach Karl zu machen, der vor einer Stunde
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nach ihr Ausschau gehalten habe. Sie vermute, es habe etwas
mit seinem Einberufungsbescheid zu tun.
Sobald Sophie den Raum verlassen hatte, holte die andere
Helga noch einmal tief Luft, schluckte das, was sie wohl hatte
sagen wollen, herunter und erhob sich.
„So eine Freundin wie dich ...”, hob sie an, verstummte aber
wieder. „Ich würde dich so gern zu unserer Hochzeit einladen,
wann und wo auch immer sie stattfindet. Aber wenn ich die
Lage richtig einschätze, werden wir jeder für sich Deutschland
den Rücken kehren und uns die Trauzeugen von der Straße
holen müssen ... Und am einfachsten ginge das Ganze wohl
in Gretna Green vonstatten, weißt du, in dieser schottischen
Schmiede.”
Sie waren beide sehr ernst geworden. Helga dachte kurz,
dass sie die andere Helga eigentlich immer für ziemlich oberflächlich gehalten hatte, für einen netten Kerl, wie man so sagte, aber halt jemanden, der sich nie an tiefer gehenden Gesprächen, zum Beispiel an den Diskussionen im Deutschunterricht
und an Wortgefechten politischer Art, beteiligt hatte. Es kam
ihr so vor, als sei da eine grundgehende Veränderung eingetreten, und diese neue Helga hätte sie gern weiterhin in ihrer Nähe
gewusst. Die beiden schlossen sich in die Arme, drückten sich
so fest, dass es schmerzte, und plötzlich schluchzte Helga.
„Du heißt doch Helga wie ich, Meyer noch dazu – dein Familienname kommt in Deutschland mindestens so häufig vor
wie Schulte, und trotzdem ...”
Da zupfte Diezchen hinten an ihrem Rock. Die Jungen! Sie
mussten sich irgendwo im Zimmer versteckt haben, und natürlich hatte Helga ihre Anwesenheit völlig vergessen.
„Nist weinen”, lispelte Diezchen, und Otto murmelte, während er von einem Bein aufs andere trat:
Gesundheit und Zufriedenheit
und alles, was dich sonst erfreut ...
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„Gut, dass du kommst!”, sagte Ida. „Was habt ihr denn ausgerechnet heute so lange bekakeln müssen? Die gnädige ... ist
nämlich eben hier durchgerauscht und hat gefragt, ob wir auch
an Kuchenteller gedacht hätten; sie sagte irgendwas von einer
Riesengeburtstagstorte, die Café Tigges im Laufe des Vormittags liefern soll. Ob denn jemand so lange bleibt? Nun ja, man
kann nie wissen. Bloß gut, dass Scherneys die Kellner mitbringen und noch dazu wen zum Abwaschen!”
Helga hatte, schon während sie wieder in die Wohnung hinaufstieg, hin und her überlegt, was sie Ida vom Besuch der
anderen Helga erzählen sollte. Aber dann gab sie sich einen
Ruck: Früher oder später würde Ida von der Geschichte erfahren, und dass ihr Bruder Erich Mitglied der SA war, hatte auf
sie bisher ganz offensichtlich nicht abgefärbt.
Als sie ein mit goldberandeten Tellerchen beladenes Tablett
vorsichtig auf dem jetzt fast leeren Küchentisch abgesetzt hatte,
meinte sie zu Ida, Helga Meyer habe kurz vorbeigeschaut, um
ihr mitzuteilen, dass sie sich mit Ernst Herberts verlobt hätte.
Ida, die gerade wieder einmal frisches Wasser einlaufen
ließ, kehrte Helga zunächst weiterhin den Rücken zu. Nachdem sie den Hahn zugedreht hatte, setzte sie den ersten Tellerstapel behutsam ins Spülbecken.
„So, der Herr Berts“, meinte sie dann bedächtig und fügte
zu Helgas Überraschung hinzu, das sei ein anständiger Kerl,
aber nicht der richtige Mann für sie, das Helleken.
„Wenn ich das mal so sagen darf: Ein bisschen langweilig
ist er schon. Weißt du noch – der Paule? Wie der unten im Lager pfiff, dass man’s bis hier hoch hörte? Wie er die Mädchen
in den Po zwickte? Trotzdem war er treu wie Gold ...”
Ida starrte auf die Wand, und Helga wartete geduldig darauf, dass sie weitersprach.
„Du brauchst jemanden, der auf dich zugeht, einen Mann
... eher eine Frohnatur, wenn du verstehst, was ich meine. Und
der Herr Berts, bei dem ist es genauso. Zwei stille Wasser, dabei kommt nichts raus; aber das Fräulein Meyer ... Ich seh sie
noch vor mir, auf deinem Geburtstag damals, wie sie den Mut
aufgebracht hat zu fragen, ob sie den Betrieb besichtigen könnte. Hättest du dich das getraut, sei mal ehrlich? Das Fräulein
Meyer wird ihn auf Trab bringen, den Herrn Berts.”
Währenddessen legte Ida Teller um Teller auf dem immer
noch mit Tüchern bedeckten Ablauf des Spülbeckens ab, Helga trocknete sie behutsam und wollte gerade fragen, ob das
Kaffeegeschirr auch auf den zusammengerückten Tischen im
Zimmer ihres Vaters seinen Platz finden solle, als Ida sehr be-
stimmt erklärte, die beiden müssten sich aber beeilen; ihr Opa
... Bevor Helga sich erkundigen konnte, was dem uralten Bauer
Effenkamp denn jetzt wieder zu Ohren gekommen sei, betrat
Luise mit raschen Schritten die Küche, dicht gefolgt von Frau
Schulte.
„Wie wär’s mit einer Kaffeepause? Für Sophie mach ich
Tee, wie der Arzt es ihr wohl empfohlen hat. Wird morgen
schwierig werden für unsere zukünftige Mutter. Die Herren
paffen doch fast alle wie die Schlote, und davor soll der Doktor sie besonders gewarnt haben. Hat einer von euch übrigens
schon mal was von ,passivem Rauchen’ gehört? Ich ja nicht,
aber Otto, genauer: einer von seinen Korpsbrüdern aus Berlin,
hat da so einen Artikel gelesen – wissenschaftlich festgestellt
und nachgewiesen von Forschern in einem deutschen Labor, an
Ratten, glaube ich. Soll äußerst schädlich sein.”
Luise hatte den Wasserkessel aufgesetzt, Kanne und Filter
vorbereitet und sogar schon Löffelchen auf die Untertassen gelegt.
„Wo bloß Otto bleibt? Er wollte mit Kathrine unser gemeinsames Geschenk bei Goldschmieds abholen und das Kind
gegen drei Uhr hier abliefern, bevor er zu einer Sitzung weiterfährt. War das übrigens Helga Meyer, die eben das Haus verlassen hat?”
Luise zog eine Zigarette aus der flachen Schachtel in ihrer
Jackentasche und meinte, hoffentlich habe niemand etwas da-
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gegen, dass sie eine anzünde; sonst werde sie halt kurz auf den
Balkon flüchten.
„Apropos Schwangerschaft: Ich soll euch alle schön von
Else Dennersmann, geborene Landwehr, grüßen. Ihr geht es
bestens, einmal abgesehen davon, dass in ihrer Schule montags
und freitags das Horst-Wessel-Lied gesungen werden muss …
wodurch doch wertvolle Unterrichtszeit verloren geht”, fügte
sie ironisch hinzu. „Das ist aber noch gar nichts. Eine Studienfreundin hat ihr berichtet – ach ja, sie ist an einer katholischen
Privatschule in Menden tätig und fragt sich jedesmal beim Aufstehen, wie lange noch, denn mit einer bestimmten Art von Religion hält’s unsere Regierung ja nicht so –, kurzum, sie müssen
da vor und nach dem Beten ,Heil Hitler’ sagen, was vermutlich
der Gesundheit des Geistes zuträglich sein soll. Nach dem, was
Rudolf erzählt, wird jetzt ja sehr viel mehr Wert als früher auf
die körperliche Ertüchtigung gelegt, sie haben’s in den neuen
Lehrplänen mit in corpore sano oder wie das heißt. Eine positive Nebenwirkung hat das natürlich auch: Die Herren Unteroffiziere in den Kasernen sehen dann nicht mehr lauter schlaffe
Mehlsäcke vor sich.”
Weder Frau Schulte noch Ida gingen auf Luises bissige Äußerungen ein. Nur Helga meinte nach einer Weile, wenn sie es
auch selber nicht bedauere, mit Französisch als erster Fremdsprache begonnen zu haben, so habe sie doch nichts dagegen,
dass nach ebendiesen neuen Richtlinien Englisch ab Sexta
verbindlich sei. Luise blickte ihre jüngere Schwester zu deren
Überraschung sehr liebevoll an.
„Dir gelingt es, auch in der grauesten Asche einen goldenen Funken zu finden, Helle. Aber meinst du nicht, dass unsere
französischen Nachbarn diese Änderung als Affront empfinden?
Natürlich ist Englisch eine Weltsprache, und unser Reichskanzler hofiert Großbritannien ja unverhohlen. Es schmerzt ihn
gewiss in tiefster Brust, dass er nicht an der Krönung des neuen
Königs teilnehmen wird – Georg VI., nicht wahr, obwohl er
eigentlich auf den Namen Albert getauft sein soll. Jedenfalls
kann ich mir nicht vorstellen, dass die Engländer unser Staatsoberhaupt zu den Feierlichkeiten gebeten haben. Ich werde
einmal diesen reizenden ...”
Helga war rot geworden. Bei all den Vorbereitungen durchzuckte sie nämlich immer wieder die Vorfreude darauf, am
nächsten Tag Alfred Barker gegenüber zu stehen. Erinnerungen stellten sich von selber ein, an sein unbeschwertes Lachen,
an die Walzerschritte bei Butlin’s, an die zahllosen Spaziergänge später, bei denen manchmal kaum Worte gewechselt
worden waren. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie sich
beschützt, nicht bevormundet gefühlt. Vor allem eine Szene
würde sie wohl nie vergessen, die sich kurz vor ihrer Rückkehr
nach Deutschland abgespielt hatte. Es war ihr unumgänglich
erschienen, Alfred wissen zu lassen, dass sie keine Jungfrau
mehr sei. Zu ihrer grenzenlosen Erleichterung hatte er mit einem hinreichend ernsten Gesicht erwidert, er selber auch nicht,
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einmal abgesehen davon, dass sein Geburtstag in die ersten
Septembertage falle.
Keiner der Anwesenden schenkte indessen Helgas veränderter Gesichtsfarbe oder ihrem Schweigen Aufmerksamkeit,
denn in diesem Augenblick trippelte Kathrine an der Hand ihres Vaters in die Küche. Beide sahen so aus, als ob sie frören,
und Luise runzelte die Stirn, während sie ihre Zigarette ausdrückte.
„Guten Tag, Schwiegermutter” – er beugte sich zu Frau
Schulte hinunter und deutete einen Handkuss an –, „Helga, Ida.
Hier sind zuerst einmal Uhr und Kette. Seid nun so freundlich
und gebt Kathrine etwas Warmes zu trinken; eine Tasse Schokolade wäre gut. Und ich bitte euch, Luise für ein paar Minuten
zu entschuldigen.”
Dabei führte er seine Frau schon aus der Küche hinaus.
Während Ida sofort Milch in einem kleinen Topf erwärmte,
kniete Helga sich vor ihrem Patenkind auf den Boden und öffnete nacheinander die Mantelknöpfe.
„Tante Helga”, fragte Kathrine nach einer Weile, „was ist
das, ein Judenlümmel?”
In die Stille hinein meinte Ida laut und deutlich: „Hab ich’s
doch gesagt!”
Idas Goldfisch schwamm zwischen Grünpflanzen in dem
neuen Aquarium, das Rosemary und Rudolf in der Stadt besorgt hatten. Der Küchentisch, die ganze Küche wirkte so leer
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wie an normalen Wochentagen, einmal abgesehen von den
Trockentüchern, die Ida für die Spülmädchen aus dem Schrank
herausgeholt hatte. Unter dem Vordach auf dem Balkon standen Weinflaschen, nach Herkunftsort und Jahrgang geordnet;
neben den Zinnwannen hatte Rudolf dann doch noch den Sekt
aufgebaut und versprochen, ihn am nächsten Morgen auf Eis zu
legen, sobald die Stangen geliefert worden wären. Im Zimmer
von Herrn Schulte blitzten Wein- und Sektgläser sowie ein paar
Branntweinschwenker im Licht der Decken- und Stehlampen;
Karl würde die Kellner von Feinkost Scherney einweisen und
ihnen auch die Silbertabletts zeigen, die sie zum Servieren benutzen sollten. Sophie hatte es übernommen, den Aufbau des
Buffets sowie später die Verteilung der Teller und des Bestecks
zu überwachen, weil in diesem Raum, so meinte sie jedenfalls,
doch bestimmt nicht geraucht werden würde. Das Kaffeegeschirr war letztlich doch auf einem Tischchen im hintersten der
drei Salons untergebracht worden, und Ida hatte gemeinsam
mit Frau Schulte und Magda Dennersmann eine Lösung für die
Frage gefunden, wie so viel Kaffee auf einmal gekocht oder zumindest trinkwarm gehalten werden könnte. Die Zuckerdosen
waren gefüllt, Öffner für die Kondensmilch aus einer Schublade herausgesucht und neben die Kännchen gelegt worden, und
es war auch beschlossen worden, dass die Kaffeebohnen, echte
wohlgemerkt, erst am nächsten Morgen von Ida gemahlen werden würden.
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Nach einem letzten Rundgang hatte sich Frau Schulte in einen der Sessel fallen lassen und Rudolf gebeten, doch für sie
alle schon einmal eine Flasche von dem Henkell Trocken zu
öffnen.
„Warm wird er ja nicht gerade sein, bei den Temperaturen,
die uns dieser April bislang beschert hat”, lachte sie. „Ja, Ida,
du trinkst auch ein Glas mit, und wenn du hundertmal darauf
bestehst, sogar an einem solchen Tag pünktlich das Abendessen auf den Tisch zu bringen.”
Es klingelte noch einmal an der Haustür. Alle außer Rosemary, die dicht neben Rudolf auf einem Schemel mit PetitPoint-Stickerei hockte, blickten erstaunt auf irgendeine Uhr.
Die Läden waren um diese Zeit bereits geschlossen; Blumen
konnten also nicht mehr geliefert werden. Helga, die mit Kathrine als letzte den Raum betreten hatte, meinte, das erledige sie
schon, und sprang die Treppe hinunter, von dem kleinen Mädchen gefolgt. Sie hörte gerade noch, dass oben in der Wohnung
das Telefon läutete und ihre Mutter in den Apparat brüllte.
Helga öffnete die Tür einen Spalt breit und musterte die uniformierte Frau, die einen Umschlag in der Hand hielt.
„Schulte … ich bin doch hier richtig bei Schulte?”
Helga nickte.
„Telegramm”, sagte die Frau und streckte ihr den Umschlag
entgegen, worauf Helga lächelte und der Postbotin eine Münze
aus dem Silberschälchen hinter sich reichte.
„Das dürfen Sie doch annehmen, oder hätten Sie lieber Süßigkeiten?”
„Ich habe drei kleine Kinder”, erwiderte die Frau und warf
einen Blick auf Kathrine, die sie neugierig beäugte.
Helga lachte und griff in den Korb mit den abgepackten
Bonbons.
„Die sind für Ihre Kinder, da können sie mit uns feiern.
Mein Vater wird morgen sechzig.”
Sie bedankte sich noch einmal und schloss die Tür, während
die Frau die Münze noch in der Hand drehte. Als Helga und ihr
Patenkind die erste Etage erreichten, legte ihre Mutter gerade
den Hörer auf und schlug den Rückweg in den Salon ein, den
die beiden durch die andere Tür betraten.
„Stellt euch vor”, sagte Frau Schulte ein wenig außer Atem,
„so eine Überraschung aber auch! Das war doch tatsächlich
Eugen Blankenstein aus New York. Er hat das Gespräch schon
seit Tagen angemeldet, weil er sicher sein wollte, dass er auch
durchkäme. Natürlich hoffte er, Vater persönlich gratulieren zu
können. Normalerweise wäre er ja auch um diese Zeit längst
zurück, aber ausgerechnet heute ... Sie sitzen ja seit Stunden
unten im Büro, Helene Dahm, der Vater und Behr.”
Frau Schulte senkte kurz den Kopf und heftete den Blick
dann auf Helga, die ganz offensichtlich ihre Aufmerksamkeit
den Blasen in ihrem Sektglas zuwendete.
„Natürlich soll ich euch alle grüßen, auch von Tante Blankenstein, Hildegard und Fritz.”
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Die Mitteilung, Fritz habe Anfang des Monats geheiratet,
brachte sie rasch und leise vor und fügte langsamer hinzu, Hildegard gebe Mitte Mai ihr erstes Konzert als Solistin, mit einem Orchester aus Cleveland; wenn sie es richtig verstanden
habe, spielten sie das zweite Violinkonzert von Mendelssohn.
„Sie haben sich selbstverständlich erkundigt, was ihr
macht”, lächelte sie dann, „und damit es nicht zu teuer wird,
habe ich Onkel Eugen rasch erzählt, dass Karl zum zweiten
Mal Vater wird und seinen Militärdienst leisten muss, Rudolf
bald sein Abitur ablegen wird, Helga sich für eine Ausbildung
als Schwesternhelferin angemeldet hat und Luise ... Wo steckt
Luise übrigens? Unseren englischen Gast habe ich auch erwähnt und dass es Helga bei den Summers sehr gut gefallen
hat.”
Helga hielt das Telegramm noch immer in der Hand, legte es aber in die Silberschale mit den Glückwunschkarten, als
Luise und Otto Rellinghaus hinter ihr den Raum betraten. Otto
junior und Diezchen nahmen wohl unter Sophies Aufsicht im
Kinderzimmer ihr Abendessen ein; jedenfalls waren ihre Stimmen durch die offenen Türen zu hören, und Ida hantierte wieder in der Küche.
„Kathrine und ich sind vorhin Zeugen eines Zwischenfalls
geworden”, sagte Otto Rellinghaus. „Mit welchem Eigenschaftswort ich ihn bezeichnen könnte, überlege ich mir seitdem vergeblich. Ich schildere ihn kurz: Eine Horde von SAMännern zog die Elberfelder Straße hinunter, wo wir ja bei
Goldschmieds die Uhr für den Schwiegervater abholen wollten.
Ich hielt die Ladentür offen für ein Paar, welches das Geschäft
gerade verließ. Genau in dem Augenblick blieb einer der SAMänner stehen, musterte die junge Frau – sie war so blond und
blauäugig, wie man es nur sein kann –, spuckte ihrem Begleiter
ins Gesicht, brüllte ,Judenlümmel’ und erging sich auch sonst
in unflätigen Bemerkungen. Zu meiner Überraschung zog der
junge Mann einen Reisepass aus der Tasche und wies sich als
Italiener aus.”
Otto Rellinghaus schwieg, holte ein Zigarettenetui aus der
Tasche und gab, nachdem Frau Schulte genickt hatte, Luise
Feuer, bevor er selber einen tiefen Zug nahm.
„Zum Ersten”, meinte er dann. „Jeglichen Kommentar erspare ich uns, nicht wahr? Aber ich erlaube mir, noch eine
zweite Nachricht hinzuzufügen. Einer meiner ältesten Freunde in München ist festgenommen und auf ... äußerst unsanfte
Weise verhört worden, weil er jemandem beim Warten in einer
Kinoschlange einen Witz über die vielen Ersatzstoffe erzählt
hat, die in letzter Zeit von der Forschung anstelle der Originalprodukte entwickelt worden sind. Einzelheiten tun nichts zur
Sache. Aber dass er von einem Unbekannten bei der Geheimen
Staatspolizei angezeigt wurde, das gibt uns doch zu denken.”
Während Rudolf, so gut er es vermochte, Rosemary die
Übersetzung ins Ohr flüsterte und dabei den Arm um sie legte,
setzte Frau Schulte zu einer Antwort an.
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„Dass es so kommen würde, hatte ich, um ehrlich zu sein,
nicht vorausgesehen. Ich war froh, Otto, dass die Arbeitslosen
von den Straßen verschwanden und dass wieder eine Art von
Ordnung im Land einzog. Dafür habe ich solche Dinge wie
die Devisenknappheit in Kauf genommen. Als die Logen vor
zwei Jahren verboten wurden, fand ich das natürlich höchst bedauerlich, weil sie so viel Gutes getan haben, wie du weißt.
Aber über all den Fragen, die jeden Tag beantwortet werden
müssen, vergesse ich, und bestimmt nicht nur ich, häufig die
große Politik. Und außerdem bin ich heilfroh, dass unsere jüdischen Freunde und Bekannten von diesen Gesetzen nicht mehr
betroffen werden; ich denke da vor allem an Blankensteins, die
zu meinem Leben gehören, solange ich mich zurück erinnern
kann. Unser Vertriebsleiter Behr und Dr. Rosenthal, den du ja
auch sehr schätzt, werden morgen zum letzten Mal mit uns feiern ...”
Die siebenjährige Kathrine hatte eine Zeitlang den Kopf in
den Schoß ihrer Patentante gelegt und sich die Haare streicheln
lassen. Dann war sie aufgestanden und durch alle drei Salons
gegangen, neugierig, wie sie wieder war, seitdem sie sich beruhigt hatte. Jetzt baute sie sich vor Helga auf.
„Du, das Telegramm vorhin, das ist gar nicht für den Opa.
Da steht ganz deutlich ,Fräulein Helga Schulte’ drauf.”
Helga schnitt ein ungläubiges Gesicht und folgte Kathrine,
die vor ihr herhüpfte. Dabei bekam sie noch mit, dass ihre Mutter etwas von ,unsagbarem Schaden für die Volkswirtschaft’
sagte und Otto Rellinghaus erwiderte, so sei das halt – sogar
anständige Menschen dächten nur praktisch, sorgten sich lediglich um die Juden, Kommunisten und Mitglieder der Bekennenden Kirche, die sie persönlich kannten; der theoretische
Überbau, wie er sich ausdrückte, kümmere sie dabei herzlich
wenig oder gar nicht. Während Kathrine ihr triumphierend das
Telegramm entgegenhielt, schwoll die Lautstärke im Hintergrund immer stärker an. Helga schlitzte den Umschlag mit dem
Brieföffner auf, den sie vor einigen Stunden selbst neben die
Silberschale gelegt hatte, und las, was in langen Streifen auf
das Formular geklebt worden war.
Alfred Barker würde am Geburtstag ihres Vaters nicht teilnehmen können. Seine Mutter, von der sie bei ihrem ersten Besuch sehr zurückhaltend und skeptisch empfangen worden war,
die sie aber mit jedem Male freundlicher und schließlich mit
Wärme und Herzlichkeit begrüßt hatte, habe einen Schlaganfall erlitten, und er sei mit dem ersten Flugzeug nach London
zurückgekehrt. Wie leid es ihm tue, sie nicht zu sehen, brauche
er wohl nicht zu betonen.
Die letzten beiden Sätze las Helga immer wieder. Sie waren
in deutscher Sprache abgefasst.
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Ich wollte Dich unbedingt wiedersehen; ich will Dich unbedingt wiedersehen. Die Zeitform ist nicht die gleiche, aber
meine Hoffnung ist groß.
Sie hob den Kopf und sah ihren Vater vor sich stehen.
„Ach, Helleken”, sagte er mit hängenden Armen.
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12. Kapitel: Herbst 1938
Helga war so aufgeregt, dass sie bereits um halb acht fertig
angezogen in ihrem Zimmer hin und her ging. Sie hätte den
Wecker nicht auf viertel vor sieben stellen sollen, vor allem
deshalb nicht, weil sie schon am Vorabend ihre Uniform mitsamt dem sorgfältig gestärkten und gebügelten Häubchen zurecht gelegt hatte. Ihre Schuhe blitzten im Licht der Deckenlampe, ihre Strümpfe wiesen keine Löcher auf und waren nicht
einmal an unsichtbaren Stellen gestopft.
Sie blieb am Fenster stehen und sah ins Dunkel hinaus.
Nach der feierlichen Vereidigung vor dem Hagener Rathaus
im September würde sie heute, am 10. November, eine richtige Prüfung ablegen und nachweisen müssen, dass sie all die
Dinge beherrschte, die von einer Schwesternhelferin erwartet
wurden. Da sie bereits vor fünf Jahren im Luisenhof Unterricht
in Erster Hilfe erhalten und ihre Kenntnisse seitdem immer
wieder aufgefrischt hatte, konnte sie sozusagen im Schlaf alle
Arten von Verbänden anlegen, Brand-, Schürf- und Schnittwunden sachgerecht desinfizieren, und sie verstand sich auch
darauf, gebrochene Glieder selbst unter ungewöhnlichen Bedingungen zu schienen, zum Beispiel mit Hilfe eines Lineals
oder einer Holzplanke. Falls kein Dreieckstuch zur Verfügung
stand, ließ sich aus einem in Streifen gerissenen alten Laken
eine Trageschlinge herstellen, und ein Mantel mit fest angenähten Knöpfen eignete sich, wie sie bei Übungen mehrfach
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ausprobiert hatten, durchaus als Bahre für den liegenden Transport von Verletzten.
Einen Augenblick lang vergaß Helga, dass sie in ungefähr
zwei Stunden der Prüfungskommission ihre praktischen und
theoretischen Kenntnisse würde beweisen müssen, und erinnerte sich daran, wie ihnen der Ausbildungssanitäter – es handelte sich um Erste Hilfe am Unfallort – diese Behelfslösung
vorgeführt hatte. Er kniete in seiner DRK-Uniform neben Annemie, der rundlichsten aller Teilnehmerinnen des Kurses, die
sich freiwillig als Versuchskaninchen zur Verfügung gestellt
hatte und zwar bewegungslos, aber mit funkelnden Augen und
vergnügt grinsend auf dem Boden lag, und blickte sie alle der
Reihe nach an. ,Stellt euch vor, dass die Annemie bei einem
Zusammenstoß aus dem Wagen geschleudert wurde. Sie ist bei
vollem Bewusstsein, ihr redet ihr natürlich gut zu und beruhigt sie, habt euch auch versichert, dass sie keine Gehirnerschütterung erlitten hat – wie macht man das?’, unterbrach er
sich und zeigte mit dem Finger auf Helga. Wie aus der Pistole
geschossen erfolgte ihre Antwort: Natürlich könne man in diesem Fall das Opfer nicht auf einem Strich gehen lassen, um
herauszufinden, ob der Gleichgewichtssinn gestört sei; man
müsse vielmehr zum Beispiel drei Finger hoch halten und sich
vergewissern, dass die Person auch deutlich drei sehe. Weitere Anzeichen könnten starke Kopfschmerzen und Erbrechen
sein; falls man eine Taschenlampe zur Hand habe, solle man
nicht vergessen zu prüfen, ob sich beide Pupillen bei Lichtein-
fall auch ordnungsgemäß verengten. Der Ausbildungssanitäter
nickte und erkundigte sich dann, auf welche Weise man sicher
gehen könne, dass keine Rückgratverletzung vorliege. Man
müsse die Extremitäten, also Füße und Hände, abtasten, besser
noch: hineinkneifen, erwiderte Helga, und wenn das Unfallopfer nichts spüre, liege die Vermutung nahe, dass die Reize nicht
durch das Rückenmark ans Gehirn weitergeleitet würden. In
dem Fall müsse selbstverständlich sofort ein Arzt die Versorgung übernehmen. Der Sanitäter nickte zufrieden und meinte, dann könnten sie die Verletzte ja jetzt zum Krankenwagen
tragen. Eine Bahre stehe ihnen aber nicht zur Verfügung. Elli
Weiser meldete sich und meinte, man solle einen der Schaulustigen – daran mangele es ja in der Regel nie – um seinen
Mantel bitten, diesen von oben bis unten zuknöpfen und dann
auf beiden Seiten Stöcke hindurchschieben; im Wald gebe es
immer welche, oder man könne aus einem Haus in der Nähe
zwei Besen holen, je nach Gewicht des Opfers vielleicht auch
vier. Der Sanitäter stimmte freundlich zu, und die Mädchen
machten sich daran, Annemie auf eine solche Bahre, bestehend
aus einem dicken weißen Leinenkittel und zwei kurzen Fahnenstangen, zu hieven, als es laut krachte. Nach anfänglichem,
betretenem Schweigen brachen alle in Lachen aus, und der Sanitäter bemühte sich vergeblich, Ernst zu bewahren. ,Worauf
muss also un-be-dingt geachtet werden?’, brachte er schließlich hervor. ,Dass alle Knöpfe des Mantels fest angenäht sind’,
kicherte Elli.
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Helga malte sich aus, wie die Mitglieder ihrer Gruppe und
die Prüfungskommission sich dann in eines der Krankenzimmer begeben und ihnen auftragen würden, jeweils zu zweit einen Patienten zu waschen, das Nachthemd zu wechseln und
dabei darauf zu achten, ob er sich wund gelegen hatte. Als besonders schwierig empfunden hatte sie es, das Bettzeug auszutauschen, aber das war nicht nur ihr so gegangen, und so hatten
die Mädchen zusätzlich Zeit darauf verwandt, jeden Handgriff
so lange zu üben, bis sie ihn auch im Zustand großer Müdigkeit
mit absoluter Sicherheit auszuführen vermochten.
Aus der Küche hörte sie das Pfeifen des Wasserkessels. Natürlich war auch Ida längst aufgestanden, hatte das Frühstück
für Herrn Schulte zubereitet und vermutlich bereits damit begonnen, die schmutzige Wäsche nach Farben zu sortieren oder
in der Speisekammer die Zutaten fürs Mittagessen zusammenzusuchen. Helga strich mit der Hand einmal über das Deckblatt
des zuoberst auf ihrem Schreibtisch liegenden Schnellhefters
und trat gedankenverloren wieder ans Fenster.
Die beiden Gebäudeflügel waren hell erleuchtet, denn natürlich hatten die Maschinen wie an jedem Werktag um sieben
Uhr zu rattern begonnen. Auf dem Fabrikhof war niemand zu
sehen. Durch die Scheibe drangen nur die Stimmen des Lagerverwalters und eines der Fahrer zu Helga hoch; Paule Beckmanns Nachfolger, Herr Grave, ging mit einer Liste an dem
Lastwagen entlang, der gerade beladen wurde, und las laut
die Anzahl der Kartons sowie die Bezeichnungen der darin
verpackten Ware vor, während der Chauffeur offensichtlich
Fragen zu einigen der zu beliefernden Kunden stellte. ,Fröndenberg, liegt das näher an Unna oder an Iserlohn ?’ – ,Die
bestellen aber wohl Hustenbonbons auf Vorrat. Na ja, Salmiakgeist macht auch die Nase frei, und jetzt im November …’
,Was tun Sie, wenn jemand vor Ihren Augen ohnmächtig
wird?’, ging es Helga dabei durch den Kopf, und sie verzog das
Gesicht wieder zu einem Lächeln. Die Lehrschwester im Allgemeinen Krankenhaus hatte in einer der ersten Unterrichtsstunden Goethes Faust zitiert und gemeint, mit einem Eimer kalten
Wassers werde man wohl höchstens im Sommer jemanden aus
seiner Bewusstlosigkeit wecken; zu anderen Jahreszeiten sei
halt das oft zitierte Fläschchen der Nachbarin durchaus angebracht, selbst, wenn es nur Kölnisch Wasser enthalte und kein
Riechsalz. Auch von Stürzen aufgrund epileptischer Anfälle
war die Rede gewesen, und … Das, woran Helga sich jetzt erinnerte, hätte sie am liebsten von sich fort geschoben wie alles,
was Unbehagen in ihr hervorrief, obwohl sie nicht einmal hätte
sagen können, was sie daran störte. Von Epilepsie, zu Deutsch
Fallsucht, war nämlich auch an einem der Samariterabende die
Rede gewesen, an denen sie wie alle ihre Kameradinnen teilnehmen musste. Es war dabei um Pflege des Erbguts gegangen,
und die vortragende Ärztin hatte abfällige Bemerkungen über
die Bodelschwingh’schen Anstalten bei Bielefeld in ihre Ausführungen eingeflochten. Auch von Sterilisierung hatte sie gesprochen, bevor sie schilderte, wie dieser Eingriff an Männern
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und Frauen vorgenommen wurde. Helga hatte nur einmal den
Kopf gehoben und bemerkt, dass sie durchaus nicht als Einzige
den Blick gesenkt hielt.
Über Sterilisierung konnte sie ebenfalls befragt werden.
Helga rief sich indessen, diesmal ohne jeden Beigeschmack,
die zweite Bedeutung des Begriffs ins Gedächtnis, Keimfreiheit nämlich: Alle bei der Krankenbehandlung verwendeten
Geräte, nicht nur chirurgische Instrumente, sondern zum Beispiel auch Pinzetten zum Entfernen von Splittern und Stacheln,
mussten ausgekocht werden, und das Verbandsmaterial durfte natürlich nicht mit Schmutz in Berührung kommen. Es war
vorgeschrieben, sich gründlich die Hände zu waschen, bevor
man eine offene Wunde versorgte, und gebrauchte Pflaster
durften nirgends abgelegt werden, sondern wanderten gleich in
den Mülleimer. Damit wurde Sepsis verhindert - ,Sepsen in der
Mehrzahl, meine Damen!’ –, und der Übertragung von Krankheitserregern durch Berührung im Rahmen des Möglichen vorgebeugt.
Eine weitere Erinnerung stellte sich ein, die nicht nur für
Helga, sondern auch für die anderen Teilnehmerinnen des betreffenden Samariterabends zu den unangenehmsten überhaupt
zählte: Frau Dr. Freeses Vortrag über Geschlechtskrankheiten.
Zwar hatte Annemie unmittelbar anschließend versucht, sie
aufzuheitern, indem sie zur Melodie von ,Steuermann, halt die
Wacht’ aus dem Fliegenden Holländer ,Wassermann po-sitiv’
sang, aber viel Erfolg hatte sie damit nicht gehabt. Gonorrhoe,
zu Deutsch Tripper, weicher Schanker, Syphilis, auch Lues genannt – diese Begriffe waren ihnen natürlich alle schon einmal
zu Ohren gekommen, und den meisten fiel wieder ein, dass sie
den einen oder anderen bereits auf dem Pausenhof ihrer jeweiligen Volksschule gehört hatten, wenn sie an Gruppen von
Jungen vorbei liefen, die aufschneiderisch und wild aufeinander einschrien, jedoch sofort verstummten, wenn der Aufsicht
führende Lehrer sich auf sie zu bewegte. Helga war bislang
immer der Meinung gewesen, Geschlechtskrankheiten kämen
nur bei Matrosen vor, die sich in Bordellen bei Freudenmädchen ansteckten, weit weg in Hafenstädten wie Hamburg oder
Rostock, aber Frau Dr. Freese hatte den Kreis der Gefährdeten
ausdrücklich auf alle Männer ausgeweitet, die häufig den Partner wechselten. Während die Ärztin genauer auf die einzelnen
Geschlechtskrankheiten einging, die Symptome beschrieb und
auch die Behandlungsmöglichkeiten erklärte, war Helga längst
nicht mehr bei der Sache, obwohl sie auf ihrem Block Ehrlich, Neosalvarsan und Halsband der Venus sowie verläuft in
vier Stadien und führt unbehandelt zum Tode notiert hatte. Sie
dachte nämlich an Jürg, an die Mädchen, denen er nach Aussage seiner eigenen Eltern die Ehe versprochen hatte, und die
anderen, die nicht bei Stoecklins vorstellig geworden waren,
die es aber mit Sicherheit gegeben hatte und zu denen sie selber
auch zählte. Als Frau Dr. Freese erläutert hatte, dass sich mit
Hilfe eines Kondoms aus Latex – ,Schon Casanova soll sich eines solchen English overcoat, damals vermutlich allerdings aus
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Schafsdarm, bedient haben’, hatte sie lächelnd hinzugefügt – bei
richtiger Verwendung die Übertragung von Geschlechtskrankheiten vermeiden lasse, war sie sehr unruhig geworden und
hatte dem Vortrag nur noch wenig Aufmerksamkeit geschenkt.
Wieder war es Annemie gewesen, die auf dem Rückweg nach
Hause, nachdem sie sich umgeschaut hatte, leise kicherte und
meinte, die gute Frau Doktor hätte ihnen aber doch so einiges unterschlagen. Ihr Vater habe ihr nämlich – also eigentlich
nicht ihr, sondern ihrem großen Bruder mit seinen mittlerweile
vier Kindern – einmal anvertraut, schon im Weltkrieg seien die
deutschen Soldaten und wohl auch Engländer und Franzosen,
nicht jedoch die Amerikaner, mit Gummikondomen versorgt
worden, obwohl einer ihrer Landsleute das erste Modell entwickelt hätte. Das mit den Matrosen treffe also nur teilweise
zu. Und außerdem – Annemie flüsterte nur noch – ließen sich
mit einem Kondom ungewollte Schwangerschaften verhüten.
Darauf habe Frau Dr. Freese nicht hingewiesen, was durchaus
verständlich sei, weil der Führer doch Kinder liebe und alles
tue, um die Geburtenziffer anzuheben; aber ihre Schwägerin
hätte bereits das Mutterkreuz in Bronze verliehen bekommen,
und irgendwann wollten die beiden auch einmal aus den Windeln heraus. Sie sei sich allerdings nicht sicher, ob Kondome
überhaupt käuflich erworben werden könnten, und ihren Bruder zu fragen … dazu fehle ihr nun doch der Mut. Sie waren
alle ziemlich verlegen gewesen und hatten befreit gelacht, als
Elli Weiser erzählte, ihre ältere Schwester sei kürzlich auch mit
dem Mutterkreuz ausgezeichnet worden und freue sich, dass
ihr jetzt in der Straßenbahn immer ein Sitzplatz angeboten werde; weniger komisch finde sie diese ständige Grüßerei, denn
die Schirach’schen Knirpse seien ja verpflichtet, jedesmal ,Heil
Hitler’ zu brüllen, wenn sie ihr unterwegs begegneten.
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Jemand klopfte einmal kräftig an ihre Zimmertür. Helga
fuhr zusammen, wandte sich erschrocken um und stieß dabei so heftig an ihren Schreibtisch, dass der obenauf liegende
Leitz-Ordner mit einem Krach zu Boden fiel und noch einige
weitere Papiere mit sich riss.
„Tut mir leid, Helle”, sagte Ida und blieb stehen, „ich wollte
dir nur die Post bringen. Ich glaube, es ist eine Karte von Rudolf dabei; er will dir sicher Glück wünschen.”
Sie streckte Helga die besagte Karte sowie drei Briefe entgegen und meinte dann noch, in spätestens einer Viertelstunde
müsse sie sich aber auf den Weg machen.
„Dir ist das vielleicht entgangen, aber dein Vater hat vorhin ein paar von den Mädchen zur Rede gestellt, weil sie zu
spät zur Arbeit erschienen sind. Einer der Fahrer hat auch von
unterwegs Bescheid sagen lassen, dass er mit seiner Auslieferungsrunde schon jetzt in Verzug geraten ist. Sie sollen die Synagoge in der Potthofstraße in Brand gesetzt haben, und da, wo
Juden wohnen, haben sie die Scheiben eingeschlagen, Schaufenster wohl auch.”
Helga starrte Ida an.
„Wer: ,sie’?”, fragte sie dann.
Ida zuckte die Schultern.
„So genau wusste das auch keiner. Ich muss sowieso Stopfgarn besorgen, da werde ich mich mal erkundigen. Also geh
nicht zu spät los.”
Während Ida mit leicht schleppenden Schritten verschwand,
ohne die Tür hinter sich zu schließen, drehte Helga verwirrt
die Postkarte zwischen den Händen. Sie war in Bad Godesberg
abgestempelt, wo ihr jüngster Bruder hoffentlich im Frühjahr
1939 die Abiturprüfung bestehen würde. Wenn er für ein Wochenende nach Hause kam, eigentlich immer müde, aber recht
vergnügt, gingen sie oft gemeinsam ins Kino und schauten den
neusten Film mit Luis Trenker, Heinz Rühmann oder auch amerikanische wie Saratoga an. Helga vermisste Rudolf sehr, denn
über manche Dinge sprach sie eigentlich nur mit ihm, und er
hatte ihr immer zu verstehen gegeben, dass sie ihm von seinen
Geschwistern am nächsten stünde. Aber seit ihre Eltern für sie
letztlich doch überraschend beschlossen hatten, ihn im April
1937 zu Beginn der Unterprima ins Godesberger Pädagogium
zu stecken, weil seine schulischen Leistungen stark zu wünschen übrig ließen, und um gleichzeitig dem, was ihre Mutter
,die Geschichte’ nannte, ein Ende zu setzen, hatte sich die alte
Vertrautheit nicht so recht wieder einstellen wollen. Als Helga
von der Hochzeit ihrer ehemaligen Mitmaid Brigitte von Albertyll in der Mark Brandenburg nach Eckesey zurückgekehrt
war, hatte sie die völlig verstörte Rosemary trösten müssen, die
weinend in immer anderen Worten erklärt hatte, sie wolle nach
Hause. Andererseits war sie in Helgas kurzer Abwesenheit aber
doch zu dem Schluss gekommen, dass sie ihren Eltern eigentlich nicht so gern den Grund für ihren Wunsch mitteilen würde.
Helga hatte so manchen Abend lang auf dem Bettrand gesessen
und sich angehört, wie sehr Rosemary Rudolf liebte und er sie
auch, dass sie sich doch nur ein wenig geküsst und gestreichelt
hätten und dass sie beide es als ungerecht empfänden, nicht
mehr zusammen sein zu dürfen. Rudolf hatte, so berichtete Sophie, mehrere handfeste Auseinandersetzungen mit den Eltern
geführt und ihnen immerhin das Versprechen abgerungen, nach
dem Abitur werde man weiter sehen.
Ida hatte Rudolfs Karte natürlich gelesen: Er drücke ihr
ganz tüchtig die Daumen, genauer gesagt nur den linken, denn
mit der rechten Hand kritzele er pausenlos hoffentlich richtige
Lösungen in sein Mathematikheft.
Auf einem der Briefumschläge erkannte sie Rosemarys
Handschrift, der zweite kam von Hildegard, war aber in Detroit
abgestempelt, und der letzte enthielt vielleicht die Erklärung
dafür, warum Felicity Blake, ihre Zimmergenossin aus Lausanne, die für den Herbst nicht nur geplante, sondern bereits
gebuchte Besuchsreise von einem Tag auf den anderen abgesagt hatte. Natürlich hätte Helga die Umschläge am liebsten
gleich geöffnet. Nach einem Blick auf die Uhr schlüpfte sie
jedoch in ihren Wintermantel, hängte sich ihre Tasche über die
Schulter und beschloss, die Briefe nicht mitzunehmen, sondern
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Sie sah schon von Weitem, dass Elli in einem Schnellhefter
blätterte.
„Ach, gut, dass du kommst! Ich wollte gerade nachschauen,
wie das mit den verschiedenen Arten von Blasen war. Durch
welche darf man mit einer keimfreien Nadel einen ebenso
keimfreien Faden ziehen, damit die Lymphflüssigkeit ausläuft
– bei Brandblasen ist das nicht zulässig, oder? Und kannst du
mir sagen, wie bei Verbrennungen … ich meine, bei wie viel
Prozent der Körperoberfläche Lebensgefahr besteht?”
In diesem Augenblick hielt die Elektrische vor ihnen, sie
stiegen ein und bahnten sich einen Weg bis in eine Ecke, wo
Helga leise Ellis Fragen beantwortete und sich bei ihrer Kameradin anschließend vergewisserte, dass sie selber das Richtige
tun würde, wenn einer der Prüfer ihr auftrüge, ein Kind vor
dem Ersticken zu bewahren, das eine Murmel verschluckt hatte.
„Größere beugen sich im rechten Winkel nach vorn, und
dann schlägt man einmal kräftig zwischen die Schulterblätter.
In der Regel husten sie dann den Gegenstand, diesen Knicker,
aber auch eine weiße Bohne oder ein Bonbon, von selber her-
aus. Säuglinge und Kleinkinder fasst man an den Fußgelenken
und hält sie mit dem Kopf nach unten. Ist das richtig?”
Elli nickte zustimmend.
„Wenn ich doch nicht so aufgeregt wäre”, meinte sie dann.
„Mir zittern jetzt schon die Hände, und wie ich mich kenne,
werde ich jede, aber auch jede Frage beantworten können, die
sie an eine von euch richten. Bloß, wenn ich selber an der Reihe bin …”
Ihre Worte gingen im Läuten der Straßenbahnglocke unter.
Der Zugführer betätigte sie mehrmals, bevor er die Elektrische
quietschend zum Stehen brachte. Einige Leute erhoben sich,
falteten rasch ihre Zeitungen zusammen und wollten aussteigen, aber der Schaffner rief, die Haltestelle liege weiter vorn.
Hindernisse auf den Schienen stünden einer Weiterfahrt im
Wege; er werde einmal nachsehen, was da los sei.
Wie die Frau neben ihr wischte Helga mit ihrem Ärmel die
leicht beschlagene Scheibe frei. Draußen war es völlig hell,
aber trotzdem konnte sie nicht genau erkennen, was sich alles
auf dem Bürgersteig und auf dem Kopfsteinpflaster angesammelt hatte.
„Da muss ein Möbelwagen umgekippt sein”, meinte sie zu
Elli. „Guck mal, drei Stühle, ein Tisch, ein Teppich … oder sie
haben vergessen, die hintere Tür zu verriegeln, und das Umzugsgut nicht mit diesen breiten Bändern fest gebunden.”
Elli schüttelte ungläubig, aber auch empört den Kopf und
wollte gerade etwas erwidern, als sie und die Frau neben ihnen
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sie später in Ruhe zu lesen. Zuletzt griff sie vorsichtig nach
dem weißen Häubchen, das sie erst im Krankenhaus aufsetzen
wollte. Besser zu früh als zu spät, pflegte ihr Vater zu sagen,
und außerdem hatte sie sich um halb neun mit Elli Weiser an
der Straßenbahnhaltestelle verabredet.
gleichzeitig einen Telefonapparat entdeckten, der mitsamt einem Stück Kabel im Rinnstein lag. Im selben Augenblick flog
aus einem Fenster im ersten Stock des Hauses rechts von ihnen
ein metallener Gegenstand und landete mit einem hellen Klang
auf dem Boden, während ein mindestens ein Meter neunzig
großer Mann in SA-Uniform einen Jungen, der sechzehn oder
siebzehn Jahre alt sein mochte, mit Fausthieben in ihr Blickfeld
trieb.
„Los”, hörten sie durch die offen stehende Wagentür, „los,
mach schon. Wenn du’s nicht tust, tu ich’s, aber es ist ja euer
Leuchter, deshalb darfst du ihn auch zertreten.”
Der Junge versuchte, über den Leuchter zu springen. Auf
der anderen Seite musste aber wohl auch jemand stehen, denn
er wurde heftig zurückgestoßen, stürzte zu Boden und schlug
mit dem Hinterkopf auf den rund geschmiedeten Fuß des
Leuchters.
Lautes Gelächter drang an die Ohren der Fahrgäste, von denen mehrere sich anschickten, nun doch auszusteigen.
„Gut gemacht, Kleiner. Hast dich selbst k.o. geschlagen. Ich
zähl mal bis acht, und wenn du dann nicht von selber dein gemütliches Bett verlässt, greifen wir dir unter die Arme, nicht
wahr, Kameraden? Dein Bruder da oben liefert nämlich laufend
Nachschub, ein bisschen was zu lesen zum Beispiel. Aber was
haben wir denn da? So schreibt man doch in deutschen Landen
nicht. Wo bist du denn zur Schule …” – er hielt ein Buch hoch
in die Luft und ließ die SA-Männer sowie einige der Fahrgäste,
die im Halbkreis um den reglos am Boden liegenden Jungen
herumstanden, einen Blick auf die Titelseite werfen. „Sieh mal
einer an, da kommt ja auch schon der dazugehörige Schrank!
Kräfte hat er, dein Bruder, das muss man ihm lassen. Achtung,
bestes Brennmaterial für den nahenden Winter… Los, du Faulpelz, erheb dich mal und mach Kleinholz draus.”
Der riesige SA-Mann versetzte ihm einen kräftigen Tritt mit
seinem schweren Stiefel, und in der Tat machte der Junge Anstalten aufzustehen. Er taumelte ein wenig, fuhr sich mit der
Hand über den Hinterkopf und wischte sie dann an seiner Hose
ab.
Helga folgte dem Geschehen ebenso wie Elli und die Frau
neben ihnen schweigend und ohne irgendetwas zu begreifen.
Etwa fünf Minuten mussten vergangen sein, vielleicht auch
mehr, und erst jetzt bemerkte sie, dass der Junge lediglich ein
Hemd trug, obwohl sich der Atem des SA-Mannes bei jedem
Wort weiß von der Hauswand abhob. Die Tür eines Kraftwagens wurde geöffnet und schwungvoll wieder zugeworfen, ein
weiteres Mitglied des Kommandos trat zu dem Jungen und
reichte ihm eine Axt.
„So nett sind wir”, sagte er grinsend, „wir denken an alles.
Jetzt mach mal flott, die paar Möbel wirst du doch in null Komma nichts … hopp hopp.”
Er blieb neben dem Jungen stehen und sah zu, wie dieser
seinen Anweisungen tatsächlich Folge leistete.
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„Na also, feixte der zweite Uniformierte, „ich dachte schon,
du verstündest kein Deutsch, aber wir müssen es letzten Monat
wirklich fertig gebracht haben, alle Polacken dahin zurück zu
befördern, wohin sie gehören, obwohl sie dort auch keiner haben will. Herschel heißt du also nicht, oder? Aber Grynszpan,
das wäre doch drin, wie Grün und Span, so jung und schon
ein Mörder. Noch dazu vergreift man sich an einem Legationssekretär, was das auch immer ist, ein hohes Tier auf jeden Fall;
feige ist man, furchtbar feige, traut sich nicht, so eine Schandtat auf deutschem Grund und Boden zu begehen, weil da alles
seine Ordnung hat. Geschnappt haben sie ihn selbstverständlich doch.”
Alle SA-Männer und einige der Umstehenden lachten,
schlugen sich sogar auf die Schenkel, aber durch die frei gewischte Stelle auf der Scheibe sah Helga auch, dass andere
den Kopf schüttelten. Eine Frauenstimme übertönte den Lärm:
Diese Familie – sie trage wie viele jüdische Hagener Bürger
den Namen Löwenstein – wohne schon länger in dieser Straße
als so mancher von der SA, verkündete sie laut. Weder die beiden Jungen noch die Eltern hätten Dreck irgendwelcher Art am
Stecken, was man …
„Wer will noch mal, wer hat noch nicht?”
In die entstandene Stille brüllte der baumlange SA-Mann
seine Frage hinein, ließ seinen Blick rasch vom einen zum anderen springen und wandte sich unmittelbar darauf wieder dem
Jungen zu.
„Also, Bürschchen, spute dich mal, die Leute da in der Straßenbahn wollen zur Arbeit! Mit der Elektrischen fahren keine
Schmarotzer und Parasiten, sondern Volksgenossen. He, du da
oben, komm mal runter und leg mit Hand an …”
Während die Frau – Helga und Elli bemühten sich vergeblich, sie in der Menschenansammlung draußen auszumachen
– sehr deutlich gesprochen hatte, war von dem, was der alle
anderen überragende SA-Mann gesagt hatte, manches im Inneren der Elektrischen nicht genau zu verstehen gewesen. Doch
jetzt fiel es Helga wie Schuppen von den Augen: Schmarotzer, Parasiten, Löwenstein, Herschel Grynszpan … und bei
dem Leuchter mitten auf der Fahrbahn handelte es sich um
eine Menora, wie sie bei Blankensteins gelernt hatte. Ida, ging
ihr blitzartig durch den Kopf, hatte vorhin von zerschlagenen
Fensterscheiben gesprochen und davon, dass die Synagoge in
Brand gesteckt worden war. All dies musste etwas mit dem Anschlag auf diesen Diplomaten in Paris zu tun haben, über den
alle Hagener Zeitungen in den letzten beiden Tagen ausführlich
berichtet hatten. Die Schlagzeilen waren ihr natürlich in die
Augen gesprungen, aber die Artikel hatte sie nicht gelesen, da
sie jede wache Minute auf die Wiederholung des Prüfungsstoffes verwendet hatte.
Helga zupfte Elli am Ärmel.
„Komm, wir gehen”, flüsterte sie. „Ich habe Angst. Zu Fuß
schaffen wir’s leicht; es ist ja nicht einmal halb zehn.”
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Elli wandte sich kurz zu ihr um und nickte kaum merklich.
Dann schlängelten sie sich hintereinander durch die Fahrgäste, von denen nur noch ein alter Mann mit Krücken und eine
hochschwangere Frau ihre Sitzplätze nicht verlassen hatten.
Bevor sie vom Trittbrett auf die Strasse hinabstiegen, erfasste
Helga mit einem Blick die ganze Szene: rechts das Gebäude
mit den eingeworfenen Fensterscheiben in der ersten Etage,
die weit geöffnete Haustür, die zerhackten Mahagoni-Möbel,
einige unversehrte Regalbretter, Matratzen und Bettfedern, die
im kalten Wind aus mehreren aufgeschnittenen Kopfkissen
stoben, Silberbesteck, das gerade von mehreren SA-Männern
aufgesammelt und zu dem Wagen getragen wurde, mit dem sie
gekommen sein mussten – vor allem jedoch die Menora, die
noch unversehrt auf dem Kopfsteinpflaster lag, und die beiden
Jungen, der eben erst von oben herabbefohlene ein oder zwei
Jahre älter als sein Bruder.
Weshalb sie auf den hoch gewachsenen SA-Mann zugegangen war, hätte Helga nicht zu sagen gewusst, und dass sie ihr
frisch gestärktes Häubchen aufgesetzt hatte, vergaß sie schon,
als sie die Hände sinken ließ.
„Wir sind Schwesternhelferinnen und als solche in Erster Hilfe ausgebildet”, sagte sie mit fester Stimme. „In Ihrem
Wagen führen Sie doch gewiss einen Verbandskasten mit. Die
Kopfwunde des jungen Mannes dort sollte unbedingt desinfiziert und mit einem Pflaster versehen werden, und wir würden
auch empfehlen, ihn gegen Wundstarrkrampf behandeln zu las-
sen, falls bei ihm keine Schutzimpfung vorgenommen worden
sein sollte. Er ist ja mit dem Schmutz in Berührung gekommen,
der sich selbst auf einer regelmäßig gereinigten Straßenoberfläche ansammelt.”
Während sie spürte, dass Fahrgäste und Nachbarn sie verlegen oder überrascht, aber auch entrüstet mit einem kurzen
Blick streiften und einer der SA-Männer sie ungläubig anstarrte, brach ihr Gegenüber in dröhnendes Gelächter aus und
schwenkte seine Mütze durch die Luft.
„BdM, ich sag’s ja immer, Glaube und Schönheit oder wie
sich das schimpft, auf die sollte man nichts kommen lassen.
Deine Hilfsbereitschaft in allen Ehren, aber der hier … sein
Blut soll ruhig rinnen, glaub’s mir. Für den ist unser Verbandszeug zu schade.”
Dann er lachte noch einmal so, wie Helga noch nie jemanden hatte lachen hören. Sie wandte sich zu Elli um, und gemeinsam durchquerten sie den Kreis der Umstehenden, hinter
denen mittlerweile drei Straßenbahnen darauf warteten, ihre
Fahrt fortsetzen zu können.
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Selbst Annemie, die doch sonst nicht auf den Mund gefallen
war, zog in der Garderobe schweigend ihren dicken Wintermantel aus und wartete, bis ihr Elli den Platz vor dem Spiegel
überließ, damit sie sich ihr Häubchen aufsetzen konnte. Annemie hatte es vorsichtig aus einer Papiertüte gezogen und war
bis zu den Ohren errötet, hatte wohl auch beabsichtigt, eine Er-
klärung abzugeben, aber mehr als ,Meine Großmutter meinte
…’ brachte sie nicht heraus. Fast alle Prüflinge waren vor Elli
und Helga eingetroffen und hatten mitbekommen, wie Helga
plötzlich stehen blieb, die Hand vor den Mund hob und ihren
Weg erst fortsetzte, als Elli ihr mit einer Geste zu verstehen
gab, sie habe das Häubchen bereits in ihrem Haar festgesteckt.
Keine von ihnen hatte sich erkundigt, ob ihre Kameradin denn
nicht befürchte, mit ihrer nicht mehr ganz blütenfrischen Kopfbedeckung einer eingehenden Musterung nicht standhalten zu
können. Entgegen aller Gewohnheit waren keine spöttischen
oder komischen Bemerkungen hin und her geflogen. Natürlich
waren die Mädchen aufgeregt, aber sie hatten auch gespürt,
dass Helga und Elli etwas erlebt hatten, das sich nicht ohne
weiteres in Worte fassen ließ.
So waren sie seltsamerweise eher erleichtert, als eine der
Lehrschwestern die Tür der Garderobe öffnete und sie bat, ihr
zu folgen. Wenige Minuten später standen sie im Halbkreis
mehreren Personen in weißen Kitteln gegenüber, die ihnen völlig unbekannt waren. Eine davon, ein schlanker, grauhaariger
Mann, der sich auffallend gerade hielt, verschränkte seine Hände ineinander und ließ mit ernstem Gesicht seine Augen von
einer zur anderen wandern, bevor er sich als Professor Martins
vorstellte. Auch die Schwestern rechts und links von ihm lächelten nicht. Trotzdem wurde Helga ruhig, und sie war auf
einmal sicher, dass nichts sie würde ablenken können. Nach-
dem sie einmal tief durchgeatmet hatte, hörte sie nur noch aufmerksam zu.
„Ihre Prüfung zur Schwesternhelferin”, sagte Professor
Martins gerade, „fällt auf einen Tag, der in den Jahrbüchern
der Geschichte verzeichnet bleiben wird. Es ist Ihnen natürlich bekannt, dass am 7. November ein deutsch-polnischer
Jude einen Anschlag auf das Leben des Legationssekretärs an
der Botschaft des Deutschen Reiches in Paris verübt hat. Gestern, am Nachmittag des 9. November, erlag Ernst vom Rath
seinen Verletzungen. Unmittelbar nach dem Bekanntwerden
seines Ablebens entlud sich der Volkszorn über die Juden, ob
er sich nun gegen ihre Wohnungen, ihre Geschäfte oder ihre
Synagogen wandte. Auch in Hagen werden Sie auf Spuren gestoßen sein. Die zuständigen Instanzen haben aber bereits verfügt, dass diese von den Betroffenen selber sofort zu beseitigen
sind, und es ist zu hoffen, dass rasch wieder Ruhe und Ordnung
herrschen. Wie wir mit Freude feststellen konnten, haben diese
Vorkommnisse Sie nicht daran gehindert, pünktlich zur Prüfung zu erscheinen, und deshalb wollen wir jetzt damit beginnen. Es bietet sich wohl an, dass eine von Ihnen zunächst ihre
Kenntnisse bezüglich der Reinhaltung des Erbguts vorträgt.”
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Als die Mädchen durch den Vordereingang des Allgemeinen Krankenhauses ins Freie traten, war alle Spannung von
ihnen gewichen, denn sowohl Professor Martins als auch die
übrigen Mitglieder der Kommission hatten jeder von ihnen
die Hand geschüttelt, dabei ein breites Lächeln aufgesetzt und
Glückwünsche ausgesprochen. Nachdem sie den Lehrschwestern für ihre erfolgsträchtige Arbeit gedankt und mit einem
Augenzwinkern zu so tüchtigen, ,appetitlich’ anzuschauenden
Schülerinnen gratuliert hatten, waren sie im Büro des Direktors
verschwunden. Daraufhin hatten die Mädchen sich umarmt,
in ihrem Überschwang auch die Lehrschwestern mit in ihren
Freudentanz einbezogen und waren dann singend den Flur hinuntergehüpft, wobei sie kurz in das eine oder andere Krankenzimmer geschaut hatten, um ,ihren’ Patienten mitzuteilen, dass
sie alle, wirklich alle die Prüfung bestanden hatten.
Dann standen die Mädchen draußen auf der Treppe, traten
von einem Bein aufs andere und klappten ihre Kragen hoch.
Die Fröhlichkeit war mit einem Schlag verflogen, und von dem
gelösten Durcheinander der Stimmen blieb nichts übrig.
„Es ist halt immer noch … November”, sagte Helga schließlich.
Im gleichen Augenblick hielt ein DKW etwas älteren Datums vor ihnen am Straßenrand, die Scheibe wurde heruntergekurbelt, und der junge Mann am Steuer winkte ihnen zu.
„Na endlich”, rief Annemie und strahlte auf einmal, „ich
dachte schon, du kommst nicht mehr. Darf ich vorstellen: mein
Verlobter. Können wir jemanden unterwegs absetzen? Und
vergesst nicht: heute Abend um acht im Krankenhaus, diesmal
zum Feiern und in Zivil. Wer vergessen hat, was er mitbringen
soll, kann mich anrufen, aber nicht zu spät – ich muss mich
schön machen, so schön wie’s geht halt. Es bleibt doch dabei,
dass deine Eltern uns Klümpkes spenden, nicht wahr, Helga?”
Annemie wartete die Antwort nicht ab, denn zweifelsohne
stellte das Automobil ihres Verlobten ein Verkehrshindernis
dar, und so schob sie rasch zwei ihrer Kameradinnen auf die
Hinterbank, sprang selbst auf den Beifahrersitz und machte
gleichzeitig eine beschwichtigende Geste zu den beiden Wagen
hin, deren Hupen schon einmal ausdauernd betätigt worden
waren. Aufs Anfahren schien sich Annemies Verlobter nicht
so recht zu verstehen, denn der reichlich verschrammte DKW
sprang nach vorn, bevor er zwischen den Häusern verschwand.
„Fünf Mark die Woche musst du sparen, willst du im eigenen Wagen fahren”, sagte ein Mann, der sich anschickte, eine
alte Frau im Rollstuhl über die Straße zu schieben; der Spott
in seiner Stimme war nicht zu überhören. „Wir hätten aber lieber einen schönen neuen als so eine alte Kutsche, nicht wahr,
Oma, einen von denen, die auch für unsereins erschwinglich
sind. Richtig, bei Porsche entwickeln sie die im Auftrag des
Führers.”
Keines der Mädchen lachte.
Offensichtlich betrachteten sie Annemies Verschwinden als
Zeichen zum Aufbruch, und so verabschiedete man sich noch
einmal. Jeder von ihnen schien die Frage auf den Lippen zu
liegen, was Helga und Elli auf dem Hinweg zum Krankenhaus
erlebt hatten, aber keine stellte sie. Vielmehr schüttelten die
frischgebackenen Schwesternhelferinnen den beiden unge-
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wöhnlich lange die Hand, ohne etwas zu sagen, anstatt ihnen,
wie sonst üblich, einen leichten Klaps auf die Schulter zu versetzen und noch einmal ,Bis heute Abend dann’ zu rufen.
Aus Gewohnheit schlugen Elli und Helga den Weg zur Straßenbahnhaltestelle an der Volme ein. Sie gingen stumm nebeneinander her, bis Elli leise erklärte, sie habe Helga heute Morgen sehr bewundert.
„Den Mut hätte ich nicht gehabt”, fügte sie hinzu. „Dieser Sturmführer mit seinem makellosen Gebiss … ich meine,
ist dir aufgefallen, wie weiß seine Zähne waren? Ich musste
immerzu an ein Tier denken, das sein Opfer reißt, aber nicht”
– sie suchte nach Worten–, „nicht, weil es unbedingt Nahrung
für sich und seine Jungen braucht, sondern zum Vergnügen.
Er strotzte vor Selbstbewusstsein, so wie jemand, dem keiner
etwas anhaben kann. Die anderen … richtig schlimm waren
sie nicht, außer dem, der den kleinen Juden so heftig gestoßen
hat, dass er mit dem Hinterkopf auf diesen Leuchter gefallen
ist. Zwei von der Truppe haben geklaut, hast du das gemerkt?
Silberbesteck haben sie einkassiert und einen Fotoapparat – ich
glaube, es war eine Leica in einem ganz stabilen Lederetui; die
gehen ja nicht so leicht kaputt. Aber reich waren diese Juden
bestimmt nicht.”
Helga blickte Elli von der Seite an.
„Mutig bin ich eigentlich überhaupt nicht. Ich hab dir doch
gesagt, wir sollten aussteigen, weil ich Angst bekommen hatte.
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SA-Männern gehe ich seit ewigen Zeiten aus dem Weg, nicht
nur ich, auch meine ehemalige Klassenkameradin Herta und
viele andere. Wenn die einen über den Durst getrunken haben oder zu mehreren auftreten … einer allein, das geht – der
braucht sich ja vor niemandem aufzuspielen. Aber wir haben
uns doch verpflichtet, Kranken und Verwundeten zu helfen!”
Sie blieb stehen.
„Als ich dann noch vom Trittbrett aus die Menora sah – falls
du das nicht weißt: So heißt der siebenarmige Leuchter, den der
Junge zertreten sollte –, als ich die Menora sah, fiel mir meine
Freundin Hildegard ein. Bei ihr zu Hause stand auch eine, und
sie haben sie mitgenommen, als sie nach New York auswanderten, Anfang 1934 schon. Bis zu ihrer Abreise hatten wir so gut
wie alles in unserem Leben geteilt.”
Bevor Helga weitersprechen konnte, meinte Elli nachdenklich, sie kenne gar keine Juden, aber so wie die in ihrem
Lehrbuch hätten die beiden Jungen heute Vormittag keinesfalls
ausgesehen. Sie habe sich übrigens an der Straßenecke noch
einmal umgedreht; zwei der SA-Männer hätten schon wieder
hinten in ihrem Wagen gesessen und der dritte habe bereits
den Motor warm laufen lassen; aus dem Auspuff seien nämlich
Dampfwolken gestiegen. Der Sturmführer habe bloß noch mit
einem Mann in Zivil geredet.
„Höchstwahrscheinlich sind sie kurz nach uns weggefahren, und niemand hat ernsthaft Schaden erlitten”, fügte sie ab-
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schließend hinzu, und es hörte sich so an, als sei eine Last von
ihr genommen.
„Was hast du denn?”, erkundigte sie sich wenig später, als
Helga kurz vor der Haltestelle stehen blieb und die Augen zu
einem Spalt zusammenkniff.
„Kennst du Frau Meyer?”
Elli kicherte.
„Du hast aber heute schon schlauere Dinge von dir gegeben.
Natürlich kenne ich Frau Meyer – fragt sich nur welche: die
aus meinem Haus – schreibt sich mit e i; die von nebenan, ditto, oder die Mutter mit sechs Kindern, a y diesmal. Meier heißt
doch so ungefähr halb Deutschland!”
Helga murmelte, sie meine die vom Damenoberbekleidungsgeschäft in der Innenstadt, schüttelte ratlos den Kopf und
ging weiter auf die Haltestelle zu. Die Frau, die eine starke
Ähnlichkeit mit der Mutter ihrer ehemaligen Klassenkameradin Helga aufwies, benahm sich wirklich seltsam: Sie machte
ein paar Schritte in ihre Richtung, hielt inne, warf einen Blick
hinter sich, drehte sich dann um und schlug den Rückweg ein,
blieb aber nach wenigen Metern erneut stehen. Trotz der Kälte
hatte sie ihren Mantel nicht zugeknöpft, und Helga fiel auf, dass
sie nicht nur keinen Hut trug, sondern sich auch nicht frisiert
zu haben schien. Die Frau Meyer, die Helga bei ihren wenigen Besuchen in deren Villa am Volmeufer stets nur flüchtig zu
Gesicht bekommen hatte, weil immer ein Dienstmädchen mit
spitzenbesetztem Häubchen und brettsteif gestärkter Schürze
sowohl die Tür geöffnet als auch die Freundinnen bewirtet hatte, war ihr als die Eleganz in Person erschienen, hochnäsig und
kühl, aber unbestritten geschmackvoll gekleidet. So wartete
Helga, bis die Frau schließlich auch die Straßenbahnhaltestelle
erreicht hatte, und sprach sie dann an.
„Frau Meyer? Sind Sie die Mutter von Helga Meyer? Verzeihen Sie, dass ich …”
Durch die Seitenscheibe der Elektrischen, die in diesem
Augenblick vor ihnen bremste, glaubte sie Frau Landwehr zu
erkennen, winkte ihr einmal zu und schob Elli auf das Trittbrett
zu.
„Steig ein”, sagte sie leise, „wir sehen uns heute Abend, und
mach’s gut.”
Elli schien nicht so recht zu wissen, ob sie ihre Kameradin
tatsächlich mit dieser eindeutig verstörten Person allein lassen
sollte, aber Helga nickte ihr zu und sagte noch, sie möge die
Schaffnerin von ihr grüßen, das sei ihre Nachbarin, Landwehr
mit Namen. Sichtbar erleichtert verschwand Elli im Wageninnern und rief Helga durch die sich schließende Tür noch zu,
dann werde sie der Schaffnerin aber auch von der glänzend
bestandenen Prüfung berichten.
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Helga hatte sich nach einigem Zögern dazu entschlossen,
Frau Meyer den Weg zu versperren.
„Sie kennen mich doch, Helga Schulte aus Eckesey”, wiederholte sie, „ich bin die Freundin Ihrer Tochter Helga, die mit
ihrem Mann in Frankreich wohnt. Wir haben gemeinsam das
Lyzeum und auch noch die Obersekunda des Oberlyzeums besucht. Die Verbindung zwischen uns ist nie abgebrochen. Letzte Woche noch habe ich einen Brief …”
Frau Meyer legte einen Finger auf die Lippen.
„Pst”, flüsterte sie, „sprechen Sie doch nicht so laut!”
Dabei blickte sie sich um. Die Straße war menschenleer,
und die nächste Elektrische würde frühestens in einer Viertelstunde auftauchen.
„Sie frieren ja”, sagte Helga. „Kommen Sie, ich bringe Sie
nach Haus. In fünf Minuten sitzen Sie in Ihrem warmen Salon,
und eins der Dienstmädchen bringt Ihnen eine Tasse heißen
Tee.”
Sie griff nach Frau Meyers Arm und geleitete sie zur Villa
hin.
Zu Helgas Überraschung standen sowohl das kleine Gartentor als auch das hohe Eisengitter, hinter dem ein gepflasterter Weg zur Garage führte, sperrangelweit offen. Nach anfänglichem Zögern setzte sie trotzdem einen Fuß auf die erste
der Platten, die in regelmäßigen Abständen über den sommers
wie winters kurz geschorenen Rasen bis zur Vordertreppe hin
verlegt waren, blieb dann jedoch betroffen stehen: Von dem
Gras war kaum etwas übrig geblieben, viele verschiedene Reifen hatten sich kreuz und quer hineingegraben und auch die
mit Astern bepflanzte Blumenrabatte längs der Auffahrt niedergewalzt. Von den Sträuchern mit den weißen Beeren, die
sie als Zehnjährige mit viel Gelächter knallend zwischen den
Fingern zerdrückt hatten, stand nur noch einer, und als Helga
ihren Blick auf die Blutbuche richtete, die ihre fast kahlen Äste
über Teile des Wintergartens breitete, stellte sie fest, dass der
Boden darunter, auf dem ,einfach nichts wachsen wollte’, wie
Helga Meyer immer ihren Vater zitiert hatte, mit Glasscherben
gespickt war. Auf der breiten Treppe, die zur Haustür hinaufführte, schob Helga mit der Schuhspitze eine zersplitterte Flasche sowie den Sockel einer Glühbirne zur Seite, schaute zum
Vordach empor und zog Frau Meyer rasch zurück, weil sie befürchtete, das trotz seiner Dicke gesprungene Glas könne sich
jeden Moment aus den stark verbogenen Metallstreben über
ihren Köpfen lösen. Aus dem Fenster neben der Haustür flatterten ihnen weiße Voilegardinen entgegen, obwohl der Rahmen
von innen verriegelt war, und plötzlich hörte Helga, wie Frau
Meyer äußerst bestimmt erklärte, da müsse sofort der Glaser
gerufen werden, die Hunde würden sich doch sonst die Pfoten
zerschneiden.
Helga war fassungslos. Den Gedanken, Frau Meyer könne
den Verstand verloren haben, verwarf sie jedoch, als sie beobachtete, wie die Mutter ihrer Freundin nur ganz kurz nach dem
Hausschlüssel suchte, dann mit altvertrauter Arroganz erklärte, dafür habe man ja Personal, und, sichtlich darum bemüht,
mit ihren hohen Absätzen keine Löcher in unbeschädigte Rasenflecken zu bohren, auf den Lieferanteneingang hinter dem
Haus zustrebte. Dort klopfte sie mehrmals kräftig an die Tür
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und wartete, knöpfte endlich ihren Mantel zu und strich mit gespreizten Fingern mehrfach durch ihr gewelltes, dunkles Haar.
Als Helga gerade vorschlagen wollte, durch das Fenster mit
der zertrümmerten Scheibe vorn einzusteigen und die Tür von
innen zu öffnen, bemerkte sie, dass Tränen über Frau Meyers
Gesicht liefen und dass sie von Kopf bis Fuß zitterte. Nervenzusammenbruch, dachte sie mechanisch und fragte ganz ruhig,
ob Frau Meyer denn sicher sei, dass jemand sich im Haus aufhalte. Es wirke eigentlich eher verlassen.
„Doch … ja… weder mir noch Rebekka haben sie etwas
getan, nur …”, brachte Frau Meyer stockend, aber verständlich
hervor, und noch während sie sprach, öffnete sich die Hintertür einen Spaltbreit. Ein vielleicht achtzehnjähriges Mädchen
steckte den Kopf heraus und seufzte erleichtert, sie habe Frau
Meyers Stimme erkannt und sei so froh, nicht mehr allein das
Haus hüten zu müssen. Sie hätte sich nämlich nicht auf die
Straße getraut und gehofft, einer ihrer Brüder würde sie abholen oder …
Diesmal wunderte sich Helga schon nicht mehr, als Frau
Meyer Rebekka auftrug, das Teetablett vorzubereiten und es
dann in den Salon zu tragen. Ihre Stimme klang wieder genau
wie sonst. Das junge Mädchen wand etwas verlegen die Hände
umeinander und meinte schließlich, im Salon werde es wohl
zu kalt sein, wegen der in tausend Stücke zerfallenen Fensterscheibe. Einen anderen Vorschlag zu machen, wagte sie offensichtlich nicht.
„Zwei Tassen – nehmen Sie Zitrone oder Milch, Fräulein
Schulte? – und ein Schälchen mit Gebäck”, sagte Frau Meyer,
als habe sie Rebekkas Einwand nicht gehört. „Und schließ die
Verbindungstür zum Musikzimmer. Dann werden wir es uns
eben dort gemütlich machen.”
Während Rebekka die beiden Mäntel auf Bügel hängte und
dann in der Küche verschwand, redete Frau Meyer unentwegt.
Sie beklagte sich darüber, dass ihr nicht mehr so viel Personal
wie früher zur Verfügung stehe; vor allem die Köchin fehle ihr
sehr, aber … Auch einen neuen Gärtner hätten sie noch nicht
gefunden. Es sei jammerschade um den Rasen, und außerdem
gelte es doch bald Tulpenzwiebeln zu setzen fürs nächste Frühjahr. Ihre Tochter Helga habe sie übrigens telefonisch nicht erreichen können, die Leitung sei wohl gestört.
Als Rebekka nach höflichem Anklopfen mit einem Tablett
an das runde Intarsientischchen trat, auf dem die Mädchen früher nie ihre Gläser hatten abstellen dürfen, sah Frau Meyer sie
tadelnd an.
„Warum hast du nicht die silberne Teekanne genommen?
Und … nein wirklich, diese Zuckerdose und die Milchkanne
hatte ich doch längst ausrangiert! Du musst sie aus dem allerhintersten Schrankwinkel hervorgekramt haben.”
Rebekka errötete bis in die Haarwurzeln hinein.
„Aber gnädige Frau … Die Männer vorhin …”
Dann beugte sie sich vor, setzte das Tablett ab und fügte
hinzu, ohne Frau Meyer oder Helga anzusehen, die hätten doch
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auch die Rahmen mit den Fotos und ein paar von den Gemälden im Treppenaufgang mitgenommen. Nur den Schmuck – sie
schluckte hörbar – hätten sie nicht gefunden, denn der sei ja gut
versteckt.
Frau Meyer starrte vor sich hin, fing wieder zu zittern an
und zerrte mit den Fingern an einem Spitzentaschentuch herum, bevor sie sich damit so heftig die Tränen von den Wangen
wischte, dass ihre sorgsam gefeilten Nägel Kratzspuren hinterließen.
Helga blickte zu Frau Meyer hinüber, wandte sich aber an
Rebekka und erhob sich.
„Ich rufe jetzt sofort Herrn Meyer im Geschäft an. Die
Nummer kennen Sie doch gewiss auswendig. Steht das Telefon
immer noch vorn in der Diele, rechts neben der Eingangstür?”
Das junge Mädchen hatte sich nicht von der Stelle gerührt,
begann jedoch mit den Armen in der Luft herumzurudern.
„Ja, hat Ihnen Frau Meyer das denn nicht erzählt? Das ist
es doch! Sie haben ihn abgeholt, heute Morgen, gerade, als der
Chauffeur ihn ins Geschäft bringen wollte. Sie sind mit mehreren Wagen gekommen; ich glaube, da saßen auch schon ein
paar Leute drin, die sie ebenfalls festgenommen hatten, gewöhnliche Männer, halt keine Uniformierten. Einer von dem
Kommando – hundertprozentig kenn ich mich da nicht aus,
aber wahrscheinlich war das ein Offizier von der Staatspolizei
–, der ging ja noch, er hat sich ziemlich anständig benommen,
weder Hiebe noch Fußtritte ausgeteilt, aber die anderen … mit
Samthandschuhen sind die nicht gerade vorgegangen. Aber gesagt hat er nichts, als sie anfingen, die Leuchter und was da
sonst an Wertsachen in Reichweite stand, in die Taschen zu
stecken. Er hat nur eingegriffen, als einer das Wasser aus einer
Kristallvase mit silbernem Henkel einfach in den Flügel goss.”
Rebekka ließ die Hände sinken und sah Helga an, als erwarte sie eine Antwort. Dann begannen ihre Zähne zu klappern,
sie taumelte und sank in einen Sessel, während Frau Meyer
vor sich hin plapperte, ständig wiederholte, sie heiße doch gar
nicht Else Sara, sondern lediglich Else und ihr Mann Herbert,
mit zweitem Vornamen Karl, nicht Israel; zwischendurch stieß
sie immer einmal wieder einen Seufzer aus. Helga versuchte,
sich zusammenzureißen, schaute sich hastig um und entdeckte
zu ihrer Erleichterung im Musikzimmer selber ein Plaid, mit
dem sie die Mutter ihrer Freundin zudeckte. Im Salon, so erinnerte sie sich, war früher ein mit hellgrüner Seide bezogenes
Sofa häufig unter einer dicken Molton-Schutzhülle verborgen
gewesen; die holte sie jetzt und wickelte Rebekka darin ein.
Ohne ein Wort zu sagen, begab sich sich zum Telefon und blätterte mit fliegenden Fingern in dem daneben liegenden handschriftlichen Verzeichnis nach, bis sie mehrere Eintragungen
ausfindig gemacht hatte, die vermuten ließen, es handele sich
um Mediziner. Als sie den Hörer ans Ohr presste, blieb die Leitung jedoch stumm. Auf dem obersten Blatt des Blocks gleich
neben dem Apparat notierte sie mit dem dazu gehörigen Bleistift zur Sicherheit die Namen und Rufnummern aller Personen
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mit Doktortitel, faltete den Zettel zusammen und kehrte ins
Musikzimmer zurück. Ein Arzt würde ja wohl darunter sein.
„Ihre Leitung ist in der Tat gestört”, erklärte sie Frau Meyer
und hockte sich vor ihr auf den Boden. „Ich werde jetzt mit
der nächsten Elektrischen nach Hause fahren und von dort aus
anrufen. Vielleicht können Sie mir noch rasch sagen, wie Ihr
Hausarzt heißt.”
Frau Meyer lächelte vor sich hin und spielte mit ihren Fingern.
„Dr. Goldmann.”
„Aber Frau Meyer, der ist doch vor einem halben Jahr ausgewandert”, wandte Rebekka ein und zog die Moltonhülle fester um sich.
„Dr. Goldmann”, wiederholte Frau Meyer und lächelte immer noch.
Da Rebekka sich wenigstens soweit gefangen zu haben
schien, dass sie Auskunft geben konnte, kniete Helga neben
ihrem Sessel nieder und las ihr leise die Liste der Namen vor,
die sie vor wenigen Minuten aufgeschrieben hatte.
„Versuchen Sie Dr. Ripp … wenn sie den nicht auch … und
Frau Dr. Rose, aber die ist eigentlich …”
„Hab schon verstanden”, sagte Helga mit betont forscher
Stimme. „Wenn du’s … wenn Sie’s schaffen, Rebekka, verhindern Sie, dass Frau Meyer das Haus noch einmal verlässt.
Ich schließe jetzt den Lieferanteneingang hinten und auch die
Haustür von innen zu, obwohl das wegen der eingeschlagenen
Fensterscheibe eigentlich nichts nützt. Da werde ich übrigens
rausklettern. Aber wenn von dort kein Licht nach außen fällt,
merkt das vielleicht keiner. Die Stehlampe hier in der Ecke
schalte ich gleich einmal ein, sonst kriegen Sie ja noch das
arme Dier. Ich beeile mich, und verlassen Sie sich darauf: Ich
schicke Ihnen einen Arzt, der Frau Meyer eine Beruhigungsspritze gibt. Wenn sich’s irgend einrichten lässt, schaue ich
später noch einmal rein; heute Abend um acht feiern wir nämlich …”
Helga drehte sich ruckartig um und schlug sich auf den
Mund, entsetzt über sich selber. Dann rannte sie von einer Tür
zu anderen, drehte die Schlüssel zweimal herum und zog die
beiden Voilegardinen neben der Eingangstür durch jeweils eine
Stuhllehne, sodass sie nicht nach draußen flattern konnten, bevor sie das Gartentor zuschmetterte.
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„Mein Gott, Helleken”, rief Ida ihr entgegen, „haben wir uns
Sorgen um dich gemacht! Wo hast du denn so lange gesteckt?
Du … du bist doch nicht etwa durch die Prüfung gefallen?”
Ida hatte die Arme in die Hüften gestemmt und war auf den
Flur hinausgetreten, als Helga die Treppe heraufgesprungen
kam, immer zwei Stufen auf einmal.
„Und wie du aussiehst! Du musstest doch hoffentlich nicht
den ganzen Weg zurück laufen? Im Kurzwarenladen, wo ich
das Stopfgarn gekauft habe, hat eine Frau erzählt, die Elektri-
schen kämen kaum durch, vielerorts läge was auf den Gleisen
– stimmt das?”
Sie folgte Helga mit einem Trockentuch in der Hand bis in
die Garderobe.
„Wenn die Frau Landwehr Dienstschluss hat, geh ich mal
rüber und frag sie; als Schaffnerin muss sie das ja mitgekriegt
haben. Die Frau Reiser aus der Eichendorfstraße hat gesagt,
sie hätten auch die Fenster der jüdischen Schule eingeworfen,
aber da wären schon wieder neue eingesetzt worden. Darauf
hat die Frau Müller die Geschichte mit der Handarbeitslehrerin
erzählt. Der Herr Abt – ich glaub, der ist seit ewigen Zeiten
Rektor – hatte beim Hagener Schulamt eine angefordert, weil
die alte wohl ins Ausland gegangen war. Sie haben nur eine
arische gefunden, und die hat sich dann geweigert, jüdischen
Kinder Häkeln und Stricken beizubringen. Jetzt haben sie wohl
eine neue, aber … Nun sag mal, wen musst du denn so dringend anrufen, bevor du auch nur einen Bissen zu dir nimmst?
Und übrigens, das Telefonfräulein unten in der Zentrale wollte
schon zwei Gespräche aus England für dich durchstellen.”
Ida sah Helga missbilligend zu, wie sie die Wählscheibe
drehte und sich nach einigen vergeblichen Versuchen einmal
über die Augen wischte.
„Frau Dr. Rose?”, fragte Helga schließlich und atmete erleichtert auf. „Hier ist Helga Schulte … ja, ganz richtig, aber
das tut jetzt nichts … Sie müssen bitte sofort Frau Meyer helfen, ihr Hausarzt ist nicht zu erreichen. Sie hat einen Nerven-
zusammenbruch erlitten. Ihr Dienstmädchen hält sich gerade
noch über Wasser, aber Sie nehmen besser Medikamente für
beide mit … Weil ich sie in der Nähe ihrer Villa auf der Straße getroffen habe, als ich heute Mittag nach meiner Schwesternhelferinnenprüfung im Allgemeinen Krankenhaus an der
Volme entlang ging. Ach ja, klopfen Sie an der Hintertür, und
wenn niemand öffnet, steigen Sie durch das Fenster rechts von
der Außentreppe ein. Bitte machen Sie sich sofort auf den Weg.
Ich hab’s der Rebekka versprochen … Nein, das ist nicht ihre
Tochter, sondern das Dienstmädchen. Wohnen Sie denn weit
weg? … Gut!”
Nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte, folgte sie Ida in die
Küche und trug aus der Speisekammer etwas Käse, ein Stück
Apfelkuchen und einen Rest Möhrensalat zu dem großen Tisch
hin, wo Ida inzwischen einen Teller, Besteck und ein Glas bereit gestellt hatte.
„Elli Weiser und ich … aber das hast du ja mitbekommen.
Herr Meyer ist heute Morgen festgenommen worden, und Frau
Meyer braucht ganz dringend ärztliche Hilfe. Im Rahmen unseres Schwesterhelferinnenlehrgangs haben wir natürlich auch
… Ich bin jedenfalls sicher, dass sie einen Nervenzusammenbruch erlitten hat, so wie sie sich verhielt.”
Ida fragte, ob sie denn geschrien oder sich auf dem Boden
gewälzt hätte. Aus ihrer Stimme war keinesfalls Besorgnis,
sondern eher Neugierde herauszuhören.
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„Nein, das nicht. Ich muss ehrlich zugeben, dass so etwas
mir lieber gewesen wäre; mit einem hysterischen Anfall kann
ich fertig werden. Du hast Frau Meyer nie zu Gesicht bekommen, oder?”
„Doch”, erwiderte Ida, „einmal, in der Stadt, als ich Frau
Müller, die vom Kurzwarengeschäft, auf der Elberfelder Straße, getroffen hab. Die kannte sie nämlich und hat nur gemeint,
so was von eingebildet gäb es selten. Aber die Helga, die mochte ich ganz gern.”
„Helga, ach du liebe Güte! Ich habe doch versprochen, ihr
sofort Bescheid zu geben!”
„Nun iss erst einmal zu Ende. Auf die fünf Minuten kommt
es auch nicht an, und außerdem – ob sich da so ohne weiteres
eine Verbindung herstellen lässt … Dein Vater hat heute seine
Mittagessen auch bloß so runtergeschlungen. Ich nehme mal
an, dass es überall drunter und drüber geht.”
Während Helga kaute und immer wieder mit einem Schluck
Saft nachspülte, berichtete Ida, sie habe beim Staubwischen
den Volksempfänger im Salon eingeschaltet, aber da sei fast
nie Musik gesendet worden, sondern sie hätten kaum etwas anderes als Nachrichten gebracht, einmal auch eine Rede.
Mitten in Idas Schilderung hinein wurde mehrfach hintereinander und sehr energisch an der Haustür geläutet.
„Immer langsam mit de jungen Pferde”, meinte Ida, „wo
brennt’s denn?”
Helga meldete von der Garderobe aus ein Gespräch nach
Neuf-Brisach im Elsass an, schlug den Rückweg zur Küche ein
und rief Ida schon vom Flur aus zu, sie habe Recht gehabt – es
sei mit einer Wartezeit von ein bis zwei Stunden zu rechnen.
Plötzlich sah sie sich einem Mann in SA-Uniform gegenüber. Sie fuhr zusammen und wich einen Schritt zurück, als
Ida fragte, ob sie denn Erich, ihren Bruder Erich, nicht mehr
erkenne. Helga schöpfte einmal tief Luft und nahm langsam
wieder am Tisch Platz, um die letzten Reste des Apfelkuchens
in den Mund zu stecken.
Zu Helgas Überraschung war es Erich, der das Schweigen
unterbrach und sowohl ruhig als auch höflich erklärte, er sei
gekommen, um seine Schwester abzuholen. Er bitte um Verständnis dafür, dass sie wohl frühestens am nächsten Tag ihren
Dienst wieder aufnehmen werde. Sein Großvater habe nämlich
mit seinem Gespann einen Unfall erlitten, genauer gesagt, die
beiden Pferde seien durchgegangen, und dabei sei er aus der
Kutsche geschleudert worden. Der Arzt habe mehrere Knochenbrüche festgestellt, aber am meisten Sorge bereite ihm und
natürlich seiner Familie doch, dass der Großvater das Bewusstsein noch nicht wieder erlangt habe.
Helga entschloss sich, Erich nun doch anzuschauen, und
während Ida in ihrer Kammer ein Stockwerk höher das Nötigste zusammensuchte, erkundigte sie sich, wie das denn hätte
passieren können – sie kenne niemanden, der besser mit Pferd
und Wagen umzugehen verstehe als Opa Effenkamp.
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„Die Synagoge”, erwiderte Erich, „er ist an der Synagoge
vorbei gefahren, als die Flammen aus den Fenstern schlugen
und die Fensterscheiben wegen der Hitze zersprangen.”
Es hätte Helga durchaus interessiert, was den uralten Bauer
Effenkamp nach Einbruch der Dunkelheit mit seinem Pferdegespann in die Potthofstraße geführt hatte, aber danach fragen
wollte sie nicht, und das, was Erich nun vorbrachte, klang wie
auswendig gelernt und hatte ihrer Meinung nach mit dem Unfall seines Großvaters höchstens mittelbar etwas zu tun. Helga
nahm sich vor, Ida nach ihrer Rückkehr vom Bauernhof ein
wenig auszuhorchen.
„Von oben war die Weisung ergangen, Synagogen nur in
Brand zu setzen, wenn keine Gefahr für die umliegenden Gebäude bestand. Wohnungen und Geschäfte, die Juden gehören,
sollten bloß zerstört, aber nicht geplündert werden. Was da an
Übergriffen, auch an Gewalttätigkeit gegenüber Juden stattgefunden hat, war eigentlich untersagt, jedenfalls nicht vorgesehen, aber dem berechtigten Volkszorn Einhalt zu gebieten,
dafür reichten die zur Verfügung stehenden Beamten einfach
nicht aus, also die Leute von der Ordnungs- oder Sicherheitspolizei, die SS und selbstverständlich wir von der …”
Erich unterbrach sich, als Ida in Mantel und Kopftuch mit
einer Tasche die Küche wieder betrat.
„Weißt du, Erich”, sagte sie und hängte noch rasch das Trockentuch auf, „dass sie heute Morgen den Herrn Meyer vom
Damenoberbekleidungsgeschäft festgenommen haben? Er ist
nämlich der Vater von Helles Freundin Helga, die wir immer
,die andere Helga’ nennen und die jetzt mit ihrem Mann im
Elsass wohnt.”
„Da hat sie genau das getan, was die da oben sich zum Ziel
gesetzt haben: Deutschland judenfrei zu machen. In Wien gibt
es doch eine Zentralstelle für jüdische Auswanderung, und ich
hätte gar nichts dagegen, wenn sie hier auch so etwas einrichteten. Da dürfen die Juden selber alles in die Wege leiten, damit
sie woanders aufgenommen werden, also sich um die Papiere
kümmern und die erforderlichen Bescheinigungen beibringen.
Die Amerikaner und ein paar andere Länder verlangen zum
Beispiel ein Affidavit …”
„Affidavit, was bedeutet das?”
Helga wollte eigentlich so wenig Worte wie möglich mit
Erich wechseln, um ihm zu zeigen, dass sie die SA verabscheute, aber er schien sich auszukennen. Der Begriff kam nämlich
in dem Gedicht vor, das Helga Herberts’ letztem Brief beigefügt war und den sie wegen der Prüfungsvorbereitungen bislang nicht im Lexikon nachgeschlagen hatte. Erich richtete sich
gerade auf und erläuterte, ein Affidavit sei eine Art Bürgschaft.
Jemand, der bereits in dem aufnehmenden Land ansässig sei,
verpflichte sich eidesstattlich, für den Unterhalt der um eine
Einwanderungsgenehmigung ersuchenden Person aufzukommen. Er selber, das wolle er noch einmal betonen, habe gegen
Juden gar nichts. Über Dr. Rosenthal habe er nur Gutes gehört,
nicht zuletzt von Ida, die ja wie der ganze Schulte’sche Haus-
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halt zu seinen Patienten gezählt habe. Blankensteins genössen unter ihren ehemaligen Arbeitern, von denen die meisten
längst der Partei und einige der SA beigetreten seien, immer
noch einen ausgezeichneten Ruf. Aber er halte es mit dem alten
Sprichwort ,Gleich und gleich gesellt sich gern’, und deshalb
fände er es gut, wenn sie alle Deutschland verließen.
„Dem Herrn Meyer, dem wird wohl nichts passieren”, fügte
Erich so sachlich hinzu, als löse er eine Rechenaufgabe. „Sie
werden ihn vermutlich ein bisschen einsperren und dann gegen die Zahlung einer bestimmten Summe wieder freilassen,
sozusagen eine Strafe für Störung der öffentlichen Ordnung –
Scherben auf dem Gehweg und sogar auf der Fahrbahn … etwas in dieser Richtung. Von einer Geldbuße war heute früh bei
Dienstantritt die Rede. Aber jetzt hast du hoffentlich alles, Ida.
Warum Frauen bloß immer so herumtrödeln!”
Helga wusste nicht, was sie sagen sollte. Opa Effenkamp
mochte sie gern und hatte ihn, seitdem sie zu den Erwachsenen
gehörte, immer um seine Bauernschläue beneidet. Zudem war
ihr jemand wie Erich, aus dessen Worten sich weder Hass noch
irgendein anderes Gefühl heraushören ließ, eigentlich noch nie
begegnet. So begnügte sie sich damit, Ida zu versichern, sie
werde ihre Eltern davon verständigen, was geschehen sei, und
später ein einfaches Abendessen für die beiden vorbereiten, bevor sie das Haus wieder verlasse. Dann setzte sie noch rasch
hinzu, sie werde ein kleines Gebet für Opa Effenkamp spre-
chen. Ida solle auf jeden Fall anrufen, falls Schultes etwas für
sie tun könnten.
In der Tür drehte Ida sich noch einmal um und schlug die
Hände über dem Kopf zusammen.
„Und die Prüfung? Die haben wir ja ganz vergessen!”
„Mit Auszeichnung bestanden”, sagte Helga und wartete
darauf, endlich allein zu sein.
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Ida hatte natürlich auch in Helgas Zimmer aufgeräumt.
Der Leitzordner, der kurz vor ihrem hastigen Aufbruch heute
Morgen zu Boden gedonnert war, thronte wieder oben auf dem
Stapel, und die drei Briefumschläge lagen gefächert mitten auf
dem Schreibtisch. Mit einem Blick auf ihre Armbanduhr stellte
Helga fest, dass es halb vier war und ihr genug Zeit blieb, nicht
nur in aller Ruhe ihre Post zu lesen, sondern auch ihren Vater
zu suchen, der sich irgendwo im Betrieb aufhalten musste, um
ihm Bericht zu erstatten. Kurz zog sie in Erwägung, über die
Hausleitung in seinem Büro anzuläuten, verwarf jedoch diese Lösung sofort wieder, weil sie befürchtete, genau in dem
Augenblick könnte die Telefonistin in der Werkszentrale versuchen, das angemeldete Gespräch mit Helga Herberts durchzustellen. Irgendwann zwischen vier und sechs würde sie die
Nachspeise für die Feier heute Abend zubereiten und … ja, ob
ihre Mutter an die versprochene Drei-Kilo-Tüte Bonbons gedacht hatte? Wie an jedem zweiten Donnerstagnachmittag traf
sie sich nämlich mit den Damen ihres Kränzchens, und vor sie-
ben Uhr würde sie nicht wieder in der Schillerstraße eintreffen.
Aufbrechen müsste sie selber allerdings erst …
Das Telefon läutete, und gleichzeitig fiel eine Etage tiefer
die Haustür ins Schloss. Helga hob den Hörer ab. Die freundliche, klare Stimme des Telefonfräuleins kündigte an, sie werde
jetzt die Verbindung mit Neuf-Brisach, Frankreich, herstellen,
und unmittelbar darauf wiederholte die andere Helga, wobei es
in der Muschel einmal mehr, einmal weniger rauschte, ihren
Namen.
„Helga? Helga Schulte in Hagen-Eckesey? Bist du’s, Helle?”
„Wie geht es dir? Wie geht es euch beiden? Deinem letzten
Brief entnehme ich, dass ihr dort gut Fuß gefasst habt und dass
Ernst in seiner Steuerberatungspraxis mit deiner Hilfe schon
über zehn Kunden betreut.”
„Genau elf”, meinte die andere Helga und lachte, „aber immerhin. Die meisten gehören übrigens dem gleichen Personenkreis an wie Ernst und ich – du verstehst schon, was ich meine.
Aber deswegen rufst du doch nicht an.”
Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang plötzlich
sehr besorgt, so, als ahne Helga Herberts, was an Nachrichten
auf sie zukam. Bevor Helga ihren Entschluss in die Tat umsetzen konnte, ohne jede Beschönigung das, was sie in Erfahrung hatte bringen können, zusammenzufassen, hörte sie die
andere Helga leise und deutlich sagen, sie versuche seit sieben
Uhr früh vergeblich, sowohl in der Villa als auch im Geschäft
jemanden zu erreichen. Nicht nur im Elsass, sondern in ganz
Frankreich sei man über die Ereignisse der vergangenen Nacht
natürlich unterrichtet. Seit dem Mordanschlag auf den Legationssekretär habe sie kaum ein Auge zugetan, aber da es sich bei
dem Attentäter um einen Polen und nicht um einen Deutschen
handle, habe sie bis zu den ersten Rundfunkmeldungen gestern
Abend eigentlich darauf vertraut, bis nach Hagen werde die
Geschichte keine Kreise ziehen.
„Dein Vater ist heute Vormittag festgenommen worden,
wahrscheinlich von der Staatspolizei. Der befehlshabende Offizier soll sich anständig verhalten haben; verletzt ist dein Vater
jedenfalls nicht. Erich Effenkamp, Idas Bruder, meinte dazu,
die zuständigen Dienststellen seien angewiesen worden, sie
– also vermutlich jüdische Geschäftsleute und Freiberufler –
einzusperren und gegen ein entsprechendes Lösegeld ziemlich
rasch wieder freizulassen. Erich ist kein typisches Mitglied der
SA, und ich hatte den Eindruck, dass er genau das wiedergab,
was ihnen bei Dienstantritt vorgelesen worden war, weil er sich
auf ein Blitz-Fernschreiben von SS-Gruppenführer Heydrich
bezog. Vielleicht hat er alles ja auch nur zufällig mitgehört.
Wie dem auch sei – er schien die Sache nicht besonders ernst
zu nehmen. Deine Mutter habe ich auf der Straße getroffen und
nach Hause begleitet. Sie hat einen Schock erlitten und brauchte dringend ärztliche Hilfe. Frau Dr. Rose … ja, ich weiß, dass
sie eigentlich Frauenärztin ist, aber Dr. Goldmann ist ausgewandert, und Dr. Ripp war nicht zu erreichen. Frau Dr. Rose hat
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sich sofort nach meinem Anruf auf den Weg gemacht; glücklicherweise liegt ihre Praxis nicht einmal eine Viertelstunde
von eurer Villa entfernt. Rebekka leistet deiner Mutter Gesellschaft, obwohl Frau Dr. Rose sich auch um sie wird kümmern
müssen. Nein, viel Schaden haben sie nicht angerichtet; wie
gesagt, der Offizier hat sich wohl strikt an die Anweisungen gehalten. Die kleineren der Gemälde im Treppenhaus hätten sie
mitgenommen, sagte Rebekka … Nolde? Aber der zählt doch
zu den ,entarteten’ Künstlern! Ich kann mir nicht vorstellen,
dass … Ja und nochmals ja, Helga – du hast schon Recht mit
deiner Bemerkung, dass die SA gestern Abend und heute Nacht
aus einer Art Versenkung wieder aufgetaucht ist und dass ihnen
wohl die brutalsten Übergriffe zuzuschreiben sind. Aber – hör
bitte zu, Helga! – an dem, was Erich Effenkamp eben so ruhig
vorgetragen hat, als läse er den Seewetterbericht im Rundfunk,
daran zweifle ich nicht. Es klang nicht so, als hätte er es erfunden … Richtig, wir werden ja sehen. Ich halte dich auf dem
Laufenden. Bei euch in der Villa haben sie höchstwahrscheinlich die Telefonleitung gekappt … Ach ja, außer den Bildern
und etwas Silber haben sie nichts gesucht und gefunden. Hast
du verstanden?”
Helga legte auf und starrte vor sich hin.
„Nur gut, dass ich Kathrine bei Marga Dennersmann im
Lager abgegeben habe!”, hörte sie Luise sagen und spürte
unmittelbar darauf die Hand ihrer großen Schwester auf ih356
rer Schulter. „Sie hilft – jedenfalls bildet sie sich ein, dass sie
sich nützlich erweist –, Gläserware für die Musterkoffer in die
Röhrchen mit den Silberpapierstreifen zu schieben. Komm, gehen wir in dein Zimmer. Ich traue Telefonapparaten seit einiger
Zeit nicht mehr.”
„Dass Gespräche mitgehört und vielleicht sogar aufgezeichnet werden mit Hilfe dieses seltsamen Geräts von AEG, Magnetophon heißt es, glaube ich, hat mir … hat mir Fritz Blankenstein aus Cambridge geschrieben, Cambridge Massachusetts
natürlich. Er ist übrigens auch der festen Überzeugung, dass
bei uns Briefe, besonders welche aus dem Ausland, über Wasserdampf geöffnet und gelesen werden. Sie geben sich zwar
Mühe mit dem Wiederzukleben, aber wenn man den Umschlag
ganz genau untersucht, sieht man halt doch, dass sich das Papier an einigen Stellen leicht wellt.”
Während Helga sprach, hatte Luise aus dem Fenster geschaut. Jetzt wandte sie sich mit einem Ruck um, und ihr Gesicht wirkte zu Helgas Überraschung beinahe so verstört wie
das von Frau Meyer heute Morgen.
„Ich wollte dich um etwas bitten. Würdet ihr, also Ida und
du, auf Kathrine aufpassen, und können die Kinder notfalls
hier schlafen? Otto wird nach seiner HJ-Veranstaltung auch in
die Schillerstraße kommen, das heißt, wenn er nicht aus lauter Gewohnheit den Heimweg einschlägt und dann vor unserer
verschlossenen Wohnungstür steht.”
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Sie zog ein silbernes Etui aus ihrer Handtasche, steckte eine
Zigarette in die Spitze aus Schildpatt und atmete den Rauch
tief ein.
„Otto, sein Vater natürlich, ist nämlich von der Gestapo zu
einem Verhör abgeholt worden.”
„Warum denn das?”, fragte Helga entsetzt.
Ganz kurz zog ein Lächeln über Luises Gesicht; dann wurde
sie wieder ernst.
„Ach, Helle, in letzter Zeit ist es für jemanden wie Otto
nicht schwer, gegen das eine oder andere Gesetz zu verstoßen.
Sie könnten zum Beispiel auf irgendeine Weise entdeckt haben, dass einige Offiziere sowie hochgestellte Mitarbeiter der
Abwehrabteilung im Reichsinnenministerium, unter anderem
Canaris und Oster, mit dem Gedanken an einen Putsch gegen
Hitler mehr als nur gespielt hatten, bevor durch das Münchner Abkommen der Frieden noch einmal gewahrt wurde. Aus
meiner Sicht ist das allerdings nicht sehr wahrscheinlich, weil
erstens Canaris und Oster nach wie vor bei der Abwehr tätig
sind und zweitens kaum jemandem zu Ohren gekommen sein
wird, dass Hitler eigentlich einen tiefen Groll gegen Göring
und Mussolini hegt, die ihn daran gehindert haben, einen Krieg
zu beginnen.”
„Das glaube ich dir nicht”, verkündete Helga überzeugt.
„Das Volk ist dem Führer unendlich dankbar dafür, dass der
Konflikt dank seines unermüdlichen Einsatzes ohne den Griff
nach der Waffe beigelegt werden konnte.”
Luise grinste.
„Schrieb die deutsche Presse, ja, Helle. Aber hat dich denn
niemand, weder einer der Blankensteins noch dein liebenswürdiger englischer Anbeter, wenn auch verschlüsselt darüber
aufgeklärt, wie die Sache wirklich gelaufen ist? Kurzum: Jetzt
weißt du’s, und ich bitte dich inständig, diese Informationen
für dich zu behalten. Aber zurück zu den Gründen, die zu Ottos
Verhaftung geführt haben könnten – unwahrscheinliche Möglichkeit Nummer eins: Mit Hans Oster hat Otto des Öfteren
Ferngespräche geführt, und ich vermute einmal, dass unsere
Nummer auch in dessen Telefonregister verzeichnet ist, ganz
einfach deshalb, weil Otto von Hans Osters Vater in Dresden
konfirmiert worden ist und weil sie sich von Schulweg kannten, wenn sie auch nicht in dieselbe Klasse gegangen sind. Was
die Politik anbetrifft … Dir wird nicht entgangen sein, dass
Otto nicht unbedingt die Parteilinie einhält, freilich aus anderen Gründen als Oster, der in Ottos Augen etwas zu konservativ denkt. Aber kritisch dem Regime gegenüber sind sie beide
eingestellt.”
Helga hatte mit gerunzelter Stirn zugehört und wollte gerade eine Frage stellen, als Luise ihr das Wort abschnitt.
„Schon wahrscheinlicherer möglicher Grund Nummer
zwei: ein Witz.”
„Ein was?”
„Ein Witz … oder jedenfalls eine ausgesprochen gelungene Formulierung. Zu den Münchener Verhandlungen über
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das Schicksal der Deutschböhmen, sprich: Sudetendeutschen,
zwischen Chamberlain, Daladier, Mussolini und Hitler war
Herr Benesch, der Staatspräsident der Tschechoslowakei und
damit Hauptbetroffener, nicht geladen, und so zirkulierte der
Ausspruch Über uns, ohne uns bald überall. Aber was wahr
ist, darf man in deutschen Landen zurzeit nicht unbedingt laut
sagen, und vielleicht hat Otto das in einer Kino-Warteschlange
seinem Begleiter … Du erinnerst dich doch daran? Am Vortag
von Vaters 60. Geburtstag hat er schon von einer Verhaftung
aus einem solchen Grund berichtet.”
Luise warf einen Blick auf die Uhr und meinte, jetzt könne
der Bote aber allmählich eintreffen ; es sei ja schon halb fünf.
Dann zuckte sie die Schultern und fügte hinzu, natürlich habe
sie sich auch noch nie damit beschäftigt, die Anzahl der Hagener Polizeidienststellen zu zählen.
„Bote?”, warf Helga ein, „welcher Bote?”
Aber Luise ging auf die Zwischenfrage ihrer Schwester
nicht ein.
„Des Weiteren würde ich es Otto durchaus zutrauen, dass er
gegen dieses Gesetz verstoßen hat, das sie im Zusammenhang
der Arisierung von Läden und Betrieben erlassen haben. Es besagt, dass kein Arier als Strohmann für Nicht-Arier Geschäfte
abwickeln darf. Unsere jüdischen Bekannten sind, genau wie
Blankensteins und die gesamte Familie Rosenthal, längst ins
Ausland geflüchtet, aber es kann ja sein, dass einer von Ottos
Geschäftsfreunden ihn gebeten hat, ihn zu decken, damit er einen annehmbaren Preis für seinen Betrieb erzielt.”
Helga nickte und schien ein wenig stolz darauf zu sein, zu
der ziemlich einseitigen Unterhaltung etwas beitragen zu können.
„Deswegen war ja ich so erleichtert heute Mittag bei Meyers. Das neue Dienstmädchen, die Rebekka – Arierinnen dürfen
nicht mehr bei ihnen arbeiten –, hat mir gegenüber ausdrücklich erwähnt, dass die Männer von der Sicherheitspolizei – oder
wer das auch immer war – den Schmuck nicht gefunden haben.
Den können Meyers verkaufen, sobald Herr Meyer frei gelassen worden ist, und damit die Reichsfluchtsteuer begleichen;
das hoffe ich wenigstens. Ob sie zu Helga ins Elsass übersiedeln dürfen oder ob die Franzosen ihre Grenzen inzwischen
auch dicht gemacht haben, weiß ich freilich nicht. Helga hat
mir schon letztes Jahr, kurz nach der Heirat mit Ernst Herberts
und und als sie dort eine neue Heimat gefunden hatten, so ein
Gedicht geschickt … Ich hab es wohl verklüngelt”, fügte sie
hinzu und kratzte sich einmal verlegen, fügte dann aber noch
hinzu, da sei auch von der Dominikanischen Republik die Rede
gewesen. Freilich müsse sie gestehen, dass sie gar nicht wisse,
wo dieser Staat liege.
„Ach, es wird um die Konferenz von Evian gehen”, meinte
Luise. „Da haben sich auf Einladung von Präsident Roosevelt
im Juli die Vertreter von zweiunddreißig Ländern getroffen und
sich alle darum gerissen, jüdische Flüchtlinge aufzunehmen …
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Natürlich spaße ich. Außer deiner Dominikanischen Republik
hat sich nur Costa Rica bereit erklärt, deutsche Juden, die ihnen
selbstverständlich nicht auf der Tasche liegen, sondern diese
eher füllen würden, einwandern zu lassen.”
Helga schwieg betroffen, bestand dann aber darauf, endlich
zu erfahren, unter welchen Umständen ihr Schwager denn festgenommen worden sei. Sie wunderte sich schon die ganze Zeit
lang darüber, wie ruhig Luise wirkte, einmal abgesehen davon,
dass sie eine Zigarette nach der anderen rauchte.
„Sie sind wohl im Betrieb erschienen und haben ihn aufgefordert mitzukommen, ohne ihm Handschellen anzulegen
oder sonst Gewalt anzuwenden. Er durfte sogar seinen Mantel
anziehen und seinen Hut aufsetzen. Die Chefsekretärin hat sofort jemanden zu uns in die Wohnung geschickt und mich auch
wissen lassen, dass sie mit einer Stenotypistin aus dem Polizeihauptquartier befreundet ist, bei der sie gleich einmal Erkundigungen einziehen wollte. Wohlgemerkt: Die Chefsekretärin ist
Parteimitglied, irgendetwas Hohes in der NS-Frauenschaft, und
einen Orden hat sie auch irgendwann einmal erhalten. Aber auf
Otto lässt sie nichts kommen. Sobald sie herausgefunden hat,
wohin sie Otto gebracht haben, sendet sie einen Boten hierher,
und auf den warte ich jetzt.”
Helga gingen so viele Dinge auf einmal durch den Kopf,
dass sie gar nicht wusste, womit sie anfangen sollte. So erklärte
sie Luise zuerst einmal, Ida sei von ihrem Bruder Erich abgeholt worden und werde frühestens am nächsten Morgen wieder
zurückkehren, denn Bauer Effenkamp habe einen schweren
Unfall erlitten. Luise nickte, meinte nur, Helga oder ihre Mutter könne ja die beiden Kinder genauso gut versorgen, lehnte sich gegen die Fensterbank und überlegte genau wie Helga
eine Stunde früher, was einen so alten Mann dazu getrieben
haben mochte, in der Dunkelheit mit einem Pferdegespann seinen Hof zu verlassen und ausgerechnet an der Synagoge vorbei
zu fahren.
„Um eine solche Frage beantworten zu können, wenn er
mit seinem westfälischen Dickschädel überhaupt dazu bereit
ist, muss er zunächst einmal das Bewusstsein wiedererlangen”,
sagte Helga , bevor Luise erneut die Wortführung übernahm.
„Übrigens: Erich hat seiner Schwester und dir vorhin die
Wahrheit gesagt. Das kann ich deswegen bestätigen, weil die
gerade erwähnte Chefsekretärin Otto vor ein paar Wochen gefragt hat, ob seine jüdischen Freunde und Bekannten bereits
alle Deutschland verlassen hätten. Von behördlicher Seite – genauere Angaben wollte sie nicht machen, und das ist ja auch
nicht nötig – würden Listen gesunder, vermögender Juden mittleren Alters aufgestellt, und sie hielt es nicht für ausgeschlossen, dass man diese Männer für kurze Zeit in Konzentrationslager stecke, wo Kommunisten und Feinde des Regimes ganz
allgemein gefangen gehalten werden. Die Geschichte mit dem
Lösegeld hat also durchaus Hand und Fuß. Eins von diesen
Lagern liegt ganz in der Nähe von Berlin, ein weiteres, glaube
ich, nicht weit von Weimar entfernt. Aber es ist mit Sicherheit
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besser, dass Helga Meyer” – Helga Herberts, verbesserte Luise sich –, „und auch ihre Mutter zumindest ein paar Tage in
dem Glauben verbringen können, dass ihr Vater und Ehemann
lediglich in einer Ausnüchterungszelle auf einem Hagener Polizeirevier festgehalten wird.”
Luise hob den Kopf, als hätte sie ein Geräusch gehört, starrte dann aber auf ihre Füße, während Helga einmal auf ihrem
Bett herumrutschte.
„Das mit der Münchener Konferenz und dem geplanten
Umsturzversuch habe ich nicht verstanden, Luise. Warum hätte
denn irgendein Land einen Krieg beginnen sollen, wo doch die
Sudetendeutschen genau so begeistert für eine Eingliederung
ins Reich gestimmt haben wie die Österreicher vor ihnen? Sie
sprechen Deutsch wie wir, und auf der Friedenskonferenz 1919
hat der damalige amerikanische Präsident Wilson das Recht auf
Selbstbestimmung der Völker ausdrücklich hervorgehoben.”
„Es ist aber ebenso ausdrücklich festgelegt worden, dass
Deutschland und Österreich keiner gemeinsamen Regierung
unterstehen dürfen”, warf Luise dazwischen, aber Helga fuhr
fort, als hätte sie den Einwand nicht gehört.
„Die Saarländer durften sich als erste entscheiden; damals
war ich noch zu klein, um etwas davon zu verstehen. Aber die
Volksabstimmung am 10. April dieses Jahres habe ich selbst
miterlebt – erinnerst du dich? Ich hatte Wahldienst als RoteKreuz-Helferin, um die Leute zu betreuen, die im Rollstuhl
gebracht wurden, auch die Kriegsversehrten mit Krücken und
Prothesen – ihnen Sitzgelegenheiten anzubieten zum Beispiel
oder auch etwas zu trinken, das war uns eine Ehre.”
Helga unterbrach sich kurz, um Luise zu fragen, ob der
Bote gleich klingeln oder vorher anrufen würde. Luises Stimme klang fast ein wenig mitleidig, als sie ihre Schwester daran
erinnerte, was Fritz ihr geschrieben hatte.
„Feind hört mit”, sagte sie leise und nicht ohne Ironie, „fragt
sich nur, wer der Feind ist. Aber es wundert mich eigentlich
kaum, dass du die Ereignisse der letzten Monate nur von der
positiven Seite siehst. Erinnerst du dich an diese Wochenschau,
die sie ungefähr zehn Tage nach dem Anschluss gezeigt haben, welchselbiger wohlgemerkt schon im März, also vor der
Volksabstimmung stattgefunden hat – mit welchem Film lief
sie noch ? Otto, Rudolf, du und ich haben ihn gemeinsam angesehen … ach ja, Verklungene Melodie mit Brigitte Horney und
Willy Birgel. Da wurde gezeigt, wie die Österreicher ihre Häuser mit grünen Zweigen und Fahnen geschmückt hatten und in
jedem Schaufenster ein Bild des Führers ausgestellt war. Sogar
die Flotte der oft zitierten Donaudampfschifffahrtsgesellschaft
hatten sie festlich dekoriert. Anstatt wie sonst Werbesprüche
schrieben Flugzeuge Ja an den Himmel, und eine von den
Zündholzschachteln, auf der genau gezeigt wurde, wo man sein
Kreuz zu setzen hatte, liegt bei uns zu Hause bestimmt noch in
irgendeiner Schublade. Wie du so zutreffend sagst” – Luises
Stimme klang plötzlich wieder recht scharf –, „haben alle zuständigen Stellen nichts, aber auch gar nichts unterlassen, um
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den Wahlausgang sicher zu stellen. Alle, die ihrer Glieder nicht
mächtig waren, wurden von den wohlerzogenen jungen Männern des NSKK per Kraftwagen abgeholt und wieder bis zur
Wohnungstür zurückbegleitet. Die flinken Bürschlein von der
HJ spannten sie zum Wahlmahndienst ein; sie durften Bürger,
die es verabsäumt hatten, ihre Pflicht zu erfüllen, per Zettel
auffordern, dies sofort nachzuholen, denn natürlich wussten
sie genau, wieviele Personen in jedem Wohnblock ihr Stimmrecht wahrzunehmen hatten. Freilich war in Rundfunkberichten ausländischer Sender zu hören, dass es vielerorts nicht für
nötig erachtet wurde, den Umweg über die Urne zu nehmen;
da durfte man, um Zeit zu sparen, seinen Stimmzettel gleich
dem Aufsicht führenden Vorsteher des Wahllokals in die Hand
drücken. Und abends haben sie es doch wirklich gewagt, das
Niederländische Dankgebet zu singen. Worauf sich das wohl
bezog, Im Streite zur Seite ist Gott uns gestanden. Er wollte, es
sollte das Recht siegreich sein oder Er lässt von den Schlechten
die Guten nicht knechten?”
Helga starrte Luise an und erwiderte vorsichtig, nach alldem, was sie in der vergangenen Stunde erfahren habe, getraue
sie sich nicht auszuschließen, dass Unregelmäßigkeiten hier
und da vorgekommen seien. Aber im Allgemeinen habe doch
alles seinen rechten Lauf genommen – da, wo sie als RoteKreuz-Helferin eingesetzt gewesen sei, mit absoluter Sicherheit.
„Eigentlich hätte der Führer diese Volksabstimmung doch
gar nicht durchzuführen brauchen”, meinte sie, und aus ihrer
Stimme klang eine gewisse Verärgerung. „Wenn man in einer
Wochenschau auch nur das zeigen kann, was einem sozusagen in den Kram passt, winkende Menschen mit strahlenden
Gesichtern zum Beispiel, so haben die Zeitungen doch die
Erklärungen dieses Kardinals – Innitzer heißt er, glaube ich –
nicht erfunden. Ich erinnere mich auch noch genau daran, wie
Schauspieler vom Burgtheater den Anschluss begrüßten, welche von den Hörbigers und Paula Wessely ebenfalls. Heim ins
Reich, das war in aller Munde. Hitler hat die Volksabstimmung
ja auch nur angesetzt, weil er ein besserer Demokrat ist als viele seiner Kritiker; das hat er in einer Rede in Königsberg selber
gesagt.”
Luise musterte ihre Schwester nachdenklich.
„Bist du eigentlich der Partei beigetreten?”
„Nein”, erwiderte Helga. „Das werde ich rausschieben, so
lange es geht. Sie haben meine beste Freundin vertrieben und
den Mann … den Mann, mit dem ich jetzt längst verheiratet
wäre; Dr. Rosenthal auch, der mir vielleicht das Leben gerettet hat damals, als ich diese schwere Lungenentzündung hatte,
ebenso Issers und die Juden in der Eckeseyer Straße, in deren
Ladenlokal der Stiefvater von Ilse Fandrey sein Herrenausstattungsgeschäft einrichten konnte, weil sie gleich nach dem Boykott im April 1933 Deutschland verlassen haben. Helga Meyer
war die letzte, die mir richtig nahe stand, aber das, was ich heu-
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te miterlebt habe …” Helga wusste nicht recht, ob sie Luise die
Szene mit den beiden Jungen und den SA-Männern schildern
sollte. „Und jetzt noch die Verhaftung von Otto.”
„All das andere, diese Marschiererei und die Fahnen überall, das stört dich nicht?”, fragte Luise. „Ist es dir gleichgültig,
dass seit der Machtergreifung unser Leben von vorn bis hinten, von morgens bis abends nach Plan abläuft? – wohlgemerkt
nicht nach einem, den wir selber erstellt hätten.”
Luise warf wieder einmal einen Blick auf ihre Armbanduhr
und seufzte.
„Jetzt könnte er wirklich kommen, dieser Bote! Aber wenn
ich das, was du mir von Herrn Meyer erzählt hast, mit dem zusammenrechne, was Rundfunk und Tageszeitungen an Nachrichten über die Nacht vom 9. auf den 10. November verbreiten, muss auf den Polizeidienststellen ja so einiges los sein.
Außerdem verfügt die Gestapo, soweit ich weiß, über ihre eigenen Räumlichkeiten, hübsch abgeschieden und mit Sicherheit schalldicht. So etwas nimmst du auch einfach hin – die
Existenz einer Polizei, die sich selbst als geheim bezeichnet?”
Während Luise sich immer mehr ereiferte, versuchte Helga,
ihre Gedanken zu ordnen.
„Nicht richtig finde ich zum Beispiel, dass sie Menschen von
zu Hause oder von ihrem Arbeitsplatz abholen, einfach, weil
sie zum Beispiel Kommunisten sind oder nicht Reichsbischof
Müllers Deutschen Christen beitreten wollen. Du erinnerst dich
gewiss daran, dass sie 1934 oder ‘35 Pastor Ackermann verhaf-
tet und nicht sehr lange danach wieder freigelassen haben. Als
er in den Ruhestand versetzt wurde und die Gemeinde zu seiner
Verabschiedung eine Feier veranstaltete, hat Vater ihn in meinem Beisein nach dem Grund dafür gefragt. Nachdem Pastor
Ackermann sich so umgeschaut hatte, wie viele Leute sich das
angewöhnt haben, hat er nur erwidert, er sei noch einmal davon
gekommen. Aber sein Nachfolger, der werde wohl das Maul
nicht so weit aufreißen wie er. Von Gewissenskonflikten hat er
etwas gesagt und vom Löwenmut der ersten Christen.”
„Verflixt”, meinte Luise und zerdrückte die leere Packung
zwischen den Fingern, „jetzt sind mir doch tatsächlich die Zigaretten ausgegangen! Glaubst du, dass Mutter in irgendeiner
Schublade welche für Gäste versteckt hat?”
Helga lachte, ohne dass ihr eigentlich danach zumute war,
erhob sich und sagte, sie könnten es ja einmal in den drei Salons
versuchen. Auf dem Weg dorthin erklärte sie Luise noch, kaum
jemand in ihrer Umgebung scheine etwas gegen diese ständige
Geschäftigkeit einzuwenden zu haben. Man stehe morgens auf,
gehe seiner Arbeit nach und wisse ganz genau, dass man einoder zweimal pro Woche fürs Winterhilfswerk sammeln, an
den Treffen der Frauenschaft teilnehmen oder mit irgendeinem
der zahllosen anderen Verbände etwas in der Regel Sinnvolles
auf die Beine stellen werde. Langweilig sei ja außer den Vorträgen im Grunde nichts, und selbst bei solchen Veranstaltungen
könne man ab und zu etwas lernen. Kurzum: Die jungen Leute
seien, wie sie Hern Grave vom Versand kürzlich hatte sagen
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hören, von der Straße weg, man rede miteinander, und niemand
beklage sich mehr darüber, er sei ja so furchtbar allein. Abschließend stellte Helga nun doch noch die Frage, die ihr seit
mindestens einer halben Stunde auf der Zunge lag.
„Wenn du so viel gegen diese Vereinsmeierei einzuwenden
hast, wieso schickst du eigentlich Otto junior zur HJ? Da ist er
doch ...”
Die beiden hatten gerade begonnen, die Schubladen der
Beistelltischchen und Kommoden herauszuziehen, als das Telefon in der Garderobe läutete. Luise nickte Helga zu.
„Melde dich ganz normal. Wenn’s für mich ist, merk dir
genau, was er sagt. Es ist besser, wenn niemand weiß, dass ich
mich hier aufhalte.”
Helgas Herz klopfte stark, als sie den Hörer ans Ohr drückte. Sie hatte sich sich so sehr darauf eingestellt, eine unbekannte Männerstimme zu vernehmen, dass sie nur stotternd auf die
Mitteilung der Werkstelefonistin reagierte, sie werde – dritter
Versuch an diesem Donnerstag – nun doch noch vor Dienstschluss das Gespräch aus England durchstellen können. Rosemary, ging es Helga blitzschnell durch den Kopf, und sie dachte an den Brief, der seit heute Morgen ungeöffnet auf ihrem
Schreibtisch lag. Deshalb fuhr sie richtiggehend zusammen,
als aus der Muschel Alfred Barkers Stimme durch das Rauschen dröhnte.
„Thank God, Helga darling, ich hatte schon befürchtet, dir
sei etwas zugestoßen. Ist bei euch alles in Ordnung? Die BBC
sendet einen Bericht nach dem anderen über die Vorkommnisse der letzten Nacht ...”
Die Leitung war fast eine halbe Minute so gestört, dass
Helga nicht einmal erraten konnte, was Alfred ihr mitzuteilen
versuchte. Als das Knattern und Pfeifen aussetzte, redete er so
schnell, dass sich seine Worte fast überstürzten.
„Du musst da raus. Wir haben ja auf der letzten Messe in
Leipzig und auch während meiner Aufenthalte bei unserem gemeinsamen Geschäftsfreund Thees in Köln schon darüber gesprochen, auf welche Weise das geschehen könnte. Die Times
kann meinethalben den Anschluss Österreichs mit dem gleichsetzen, was vor zweihundert Jahren den Schotten passiert ist.
Aber jetzt wachsen meine Sorgen um dich ins Unendliche.
Am liebsten würde ich kommen und dich sofort zu mir holen,
aber” – Helga fühlte, wie sich etwas von ihrer Spannung löste,
als Alfred Barker jetzt einmal warm lachte – „wo kein Krieg
herrscht, herrscht Papierkrieg. Thees meinte, es werde nach
den gestrigen Ereignissen mit Sicherheit immer schwieriger
werden, die zur Ausreise nötigen Unterlagen zusammen zu bekommen, selbst wenn in unserem Fall die finanzielle Seite als
geregelt betrachtet werden kann. Er wird bei deinen Eltern ...”
Es knackte mehrfach in der Leitung, bevor die Verbindung
vollends abbrach.
Helga starrte Luise an und brachte kein Wort heraus.
„Ich will nichts Dummes sagen – dumm wäre es schon
allein deshalb, weil Fantasie nicht gerade zu meinen Stärken
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zählt. Das war dieser nette Engländer von der Fabrik, die Wickelmaschinen herstellt, nicht wahr? ,Thees’ habe ich auch verstanden, ihm und seiner Frau sind Otto und ich einmal ...”
Diesmal ging die Türglocke unten. Luise griff nach ihrem
Mantel, streckte Helga grinsend eine Schachtel Zigaretten entgegen, die sie in einer der Kommoden oder Schrankfächer der
Salons entdeckt haben musste, wurde wieder ernst und stieg
vor ihrer Schwester die Treppe hinunter.
„Erinnerst du dich noch an das, was ich dir auf der Fahrt
nach Bremerhaven geraten habe, als wir die Eltern abholten
und Rudolf den Schlaf des Gerechten schlief? Vergiss es nicht.
Mit dem erhobenen Zeigefinger hab ich’s nicht; das steht mir ja
auch wahrhaftig nicht zu. Lass dir alles gut durch den Kopf gehen. Und sprich ein kleines Gebet für uns, geh zu den Katholen
rüber und zünd ein Kerze an vor der heiligen Rita. Ja, du hast
mich richtig verstanden. Sie ist zuständig für schwierige bis
hoffnungslose Fälle”, fügte Luise noch hinzu, löschte das Licht
im Treppenhaus und überließ es Helga, die Haustür zu öffnen.
„Fräulein Schulte? Ich habe eine Nachricht zu überbringen.
Sie lautet: Um Punkt sechs im Café Rüggeberg. Dann wünsche
ich Ihnen einen schönen Abend.”
Bevor Helga auch nur irgendetwas erwidern oder fragen
konnte, hatte der junge Mann sich auf sein Fahrrad geschwungen und war in der Dämmerung verschwunden.
Luise schlüpfte in ihren Mantel, umarmte Helga einmal und
meinte, hoffentlich erwische sie gleich eine Elektrische, denn
pünktlich wolle sie unbedingt sein. Dann lachte sie.
„Die Amerikaner nennen so etwas blind date, glaube ich –
mit wem ich da verabredet bin, kann ich nicht einmal raten:
vielleicht schon mit Otto, aber das ist unwahrscheinlich. Wenn
sie ihn freigelassen hätten, wäre er gewiss gleich nach Hause
gegangen oder hätte mich hier gesucht. Aber lassen wir das.
Ich ruf dich auf jeden Fall an, vielleicht noch aus dem Café.”
„Ja, tu das bitte. Eigentlich müsste ich um acht im Krankenhaus mit den anderen Schwesternhelferinnen die bestandene
Prüfung feiern, aber danach steht mir der Sinn jetzt wirklich
nicht: zuerst der Zwischenfall heute Morgen, dann die Geschichte mit Frau Meyer ...”
Luise war eindeutig auf dem Sprung, blickte ihre Schwester
aber trotzdem fragend an. Helga schüttelte den Kopf.
„Das erzähl ich dir ein andermal. Fahr los, viel Glück.”
Luise wandte sich noch einmal um und umfasste Helgas
Schultern mit beiden Händen.
„Natürlich gehst du zu der Feier. Wir schicken Otto doch
auch in die HJ. Sei da mutig, wo es sich lohnt. Und jetzt befreie
bitte die Damen in der Musterabteilung von Kathrine.”
Helga ließ die Arme sinken und blickte Luise nach, bevor
sie den Weg zu Frau Dennersmann einschlug.
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Mit ihrer Nichte an der Hand hatte Helga sich auf die Suche
nach ihrem Vater gemacht und ihn, nachdem Fräulein Dahm
ihr empfohlen hatte, doch einmal in der Bonbonkocherei nachzusehen, dort auch gefunden. Er war in ein Gespräch mit dem
Meister vertieft, ging aber trotzdem leicht in die Hocke, um
Kathrine in die Arme zu schließen.
„Hage und ich haben noch einige wichtige Fragen zu klären,
min Deernken”, sagte er und richtete sich ein wenig mühsam
wieder auf. „Wir sind nämlich dabei, eine neue Sorte zu entwickeln, von der ich sicher bin, dass du sie auch mögen, wirst,
Kaubonbons mit Pfefferminzgeschmack für den Sommer, denn
Husten hat da ja im allgemeinen keiner, oder was meinst du,
Kathrine? Geh du mal schön mit Tante Helga in die Küche und
lass dir eine Tasse Schokolade kochen.”
Herr Schulte erkundigte sich noch, wie die Prüfung am Vormittag gelaufen sei, und nickte zufrieden, als er das Ergebnis
erfuhr. Doch Helga sah ihm deutlich an, dass seine Gedanken
weiterhin um Essenzen sowie das ideale Verhältnis der einzelnen Zutaten dieses neuen Kaubonbons kreisten. Deshalb zog
sie Kathrine zu sich her und schickte sich an, den Rückweg
einzuschlagen.
„Ida ist vorhin von ihrem Bruder Erich abgeholt worden
und wird frühestens morgen wiederkommen. Ihr Großvater hat
einen schweren Unfall erlitten und sich so einiges gebrochen.
Am meisten Sorgen bereitet es dem Arzt wohl, dass Bauer Effenkamp seit gestern Abend immer noch nicht das Bewusstsein
wiedererlangt hat”, erklärte Helga. „Du musst also vielleicht
morgen mit meinen Kochkünsten vorlieb nehmen ...”
Herr Schulte schien diesen Zusatz komisch zu finden, denn
er verzog sein Gesicht zu einem breiten Lächeln.
„Seitdem du vom Luisenhof zurückgekehrt bist, kann ich
mich da wirklich nicht beklagen. Du verstehst dich ja sogar
darauf, aus einer von Rudolf fast völlig ausgeräuberten Sonntagabend-Speisekammer noch eine köstliche Mahlzeit zu zaubern, wenn du dich auch zu Anfang in den Mengen ... sagen wir
einmal: ein klitzekleines bisschen ... verschätzt hast.”
Er wurde wieder ernst und meinte, jetzt müsse er aber wirklich die noch ausstehenden Punkte mit Hage klären, sonst kämen sie ja ewig nicht weiter.
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„Schon fünf Uhr”, sagte Helga zu Kathrine, „da müssen wir
endlich daran gehen, die Süßspeise zuzubereiten. Willst du mir
helfen?”
Das kleine Mädchen nickte begeistert und erkundigte sich,
für welches Rezept sich ihre Tante denn entschieden hätte.
„Trifle, das kennst du schon, glaube ich. Die Mutter von
Rosemary Summers hat mir gezeigt, wie das gemacht wird. Erinnerst du dich an das englische Mädchen mit den dunklen Locken und der Hermelinjacke, oder warst du da noch zu klein?”
Kathrine erwiderte nichts und hatte ganz offensichtlich nur
bis zum Ende des ersten Satzes zugehört. So bat Helga sie, die
Milch vom Balkon zu holen.
„Zucker, Mondamin, ein wenig Vanillin und ein Ei”, erklärte
sie dann, „zuerst kochen wir einen Vanillepudding. Den lassen
wir abkühlen; das wird schnell gehen, so kalt, wie es draußen
ist! Den Boden dieser Glasschale tapezieren wir mit einem Rest
Biskuit. Halt – steig mal auf den Hocker und reich mir noch ein
Kümpchen, für Otto und dich. Übrig bleiben wird nämlich im
Krankenhaus bestimmt nichts. Ach ja, der Wackelpeter! Sei so
nett und such mal das Schüsselchen mit dem Obstsalat in der
Speisekammer; du darfst jetzt mit ein paar Löffeln des Safts
den Boden tränken – schön vorsichtig, nicht zu viel! Und jetzt
schneiden wir die Apfel- und Birnenschnitze und auch die eingemachten Zwetschgen in ganz kleine Würfel. Den Wackelpeter hätte ich natürlich schon früher zubereiten sollen … Aber
wenn wir Glück haben, wird er in anderthalb Stunden wenigstens so hart, dass der Vanillepudding nicht einsinkt, wenn wir
ihn kurz vor sieben daraufschichten. Dann brauchen wir alles
nur noch mit Schlagsahne aus der Spritztüte und bunten Zuckerstreuseln zu verzieren, und fertig!”
Helga trug die große, Kathrine die kleine Schüssel zum
Fliegenschrank auf dem Balkon, wobei das Mädchen zu kichern begann.
„Ich finde, dass wir aussehen wie die heiligen zwei Könige.”
Ihre Patentante prustete einmal amüsiert durch die Nase und
meinte, wenn sie jetzt noch rasch gemeinsam den Abendbrottisch für Oma, Opa, Otto und Kathrine selbst deckten, wären
sie mit der Arbeit fertig und könnten Mensch ärgere dich nicht
oder Mühle spielen. Kathrine schüttelte den Kopf.
„Bei Mühle schlägst du mich, und zu zweit macht Mensch
ärgere dich nicht keinen Spaß. Können wir nicht Fotoalben
angucken? Wenn du willst, Tante Helga, helfe ich dir sogar
beim Einkleben. Letzte Woche hast du doch gesagt, in deiner
Schreibtischschublade lägen mindestens fünf Tüten; du kämest
einfach zu nichts.”
Helga strich Kathrine einmal über den Kopf und lächelte,
während sie gemeinsam den Weg zu ihrem Zimmer einschlugen.
„Das sagen Erwachsene oft; in Wirklichkeit verstehen sie es
nur nicht, ihre Zeit richtig einzuteilen.”
Sie zog die Umschläge mit den Fotos heraus, griff nach einem halbvollen Album in dem Regal neben ihrem Bett und entdeckte fast ohne Suchen den Topf mit der weißen Klebepaste.
„Zunächst müssen wir sie einmal sortieren. Auf jeder Tüte
steht, bei welcher Gelegenheit die Aufnahmen entstanden sind.
Die ersten wurden, glaube ich, im Sommer 1937 gemacht, und
die letzten stammen von der Kirmes im September dieses Jahres – es sind auch welche von Otto und dir dabei. Ich überfliege nur rasch die Briefe, die seit heute Morgen auf meinem
Schreibtisch liegen, ja?”
Kathrine hatte sich bereits im Schneidersitz auf den Teppich
mitten im Zimmer gehockt und die dicken Tüten zu sich heran-
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gezogen, warf aber noch einen Blick auf den obersten der drei
Umschläge in Helgas Hand.
„Darf ich die Marke haben? So eine hast du mir schon einmal geschenkt, aber ich kann sie gut zum Tauschen gebrauchen.”
Helga nickte und meinte, die beiden anderen Briefe kämen
sogar aus den Vereinigten Staaten, seien also bestimmt mit
noch selteneren Marken frankiert, bevor sie zwei mit Rosemarys fast nur aus u-förmigen Buchstaben bestehender Schrift gefüllte Bögen entzifferte.
Da sie darin mehr Übung erworben hatte als zum Beispiel
Rudolf, der sie schon öfters etwas widerwillig, aber notgedrungen um Hilfe gebeten hatte, wusste sie zwei Minuten später,
dass Rosemary einen jungen Mann namens James P. Saunders kennengelernt hatte, Inhaber eines in Oxford erworbenen honours degree in englischer Literatur, der Golf und Tennis spielte und in mindestens jedem zweiten Satz mit einem
neuen schmeichelhaften Eigenschaftswort geschildert wurde.
Er stamme aus York, habe jedoch glücklicherweise den dort
üblichen furchtbar hässlichen Dialekt nicht angenommen, sei
von ihren Eltern wohlwollend empfangen worden und würde
Helga mit Sicherheit auch gefallen – er habe leicht gewelltes,
hellbraunes Haar, wunderschöne blaue Augen und ein ausgeglichenes Wesen. In einem Postskriptum fügte sie noch kaum
lesbar hinzu, natürlich denke sie jeden Tag an Rudolf, und sie
hoffe, ihn bald wiederzusehen. Womit James P. Saunders sei-
nen Lebensunterhalt verdiente und wie alt er war, erwähnte
Rosemary nicht, und Helga fiel ein, dass Alfred Barker in dem
Gespräch an der Strandhütte vor etwas mehr als zwei Jahren
seine Nichte und deren Freundeskreis als eine ,reichlich verwöhnte Gesellschaft’ bezeichnet hatte.
Während Helga nach einem Blick auf Kathrine, die bereits die Fotos aus der ersten Tüte betrachtete, Felicity Blakes
Brief öffnete, dachte sie an Alfred Barker, die Tage mit ihm
auf der jeweiligen Leipziger Frühjahrsmesse, wo er jede freie
Minute mit ihr verbracht hatte, seine Besuche in Hagen, die
er bei Geschäftsreisen nach Köln stets einplante, die Stunden
auf den Landstraßen zwischen Hagen und Köln im Mercedes
ihres Vaters, der sonst immer von einem Chauffeur gefahren
wurde, den sie aber benutzen durfte, um Alfred zu Herrn Thees
zurückzubringen; nicht zuletzt waren da die Briefe, die eine
halbe Schublade füllten, und die Ferngespräche. Alfreds Stimme, sein lautes, vergnügtes Lachen, das nichts, aber auch gar
nichts mit dem des SA-Mannes von heute Morgen gemeinsam
hatte, klangen ihr noch in den Ohren, als sie mit einem eng
beschriebenen Bogen Luftpostpapier unter der Deckenlampe
stehen blieb.
Wie Helga gehofft hatte, enthielt der Brief die Erklärung
dafür, weshalb Felicity und ihre Mutter beschlossen hatten, die
geplante Europareise plötzlich abzublasen. Hätte ihre amerikanische Freundin aus Lausanner Zeiten den Grund dafür in
ihrem Telegramm angegeben, wäre … ja, was wäre gesche-
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hen? Hätte man es ihr gar nicht erst zugestellt, oder wären kurz
darauf diese Herren in Hut und langem Mantel von der Gestapo
in der Schillerstraße aufgetaucht? Helga hielt den Umschlag
direkt unter die Glühbirne, stellte aber fest, dass er nicht geöffnet worden war, anders als der von Hildegard, wo sie mit den
Fingerspitzen nur einmal über die Rückseite hatte zu streichen
brauchen.
Ich hätte Dich so furchtbar gern wiedergesehen, Helga, und
es gibt auch sehr viel zu erzählen, zumal es etwas anderes ist,
sich vor seinen Schreibtisch zu hocken und alles sorgsam in
Worte zu fassen oder sich gegenüberzusitzen, einfach loszureden und aus dem Gesichtsausdruck, aus der Körperhaltung
Dinge herauszulesen, die über Aussprechbares hinausgehen.
Meine Mutter und ich sind mit großem Bedauern und nach
einer schlaflosen Woche voller Hin und Her den Ratschlägen
unserer besten Freunde, letztlich auch unserem eigenen Instinkt gefolgt und haben alle Buchungen annulliert. Wie Du
weißt, sind viele meiner Professoren und Dozenten in Wellesley
nicht nur europäischer, sondern auch jüdischer Herkunft, was
ja bei Psychologen und Psychiatern – Freud, Adler usw. – niemanden überraschen wird. Abgesehen davon sollte in Universitätsstädten ein besserer Informationsstand als zum Beispiel
in kleinen Ortschaften des Mittleren Westens vorausgesetzt
werden können. Kurzum: Man ist hier der festen Überzeugung,
dass in Europa früher oder später ein Krieg ausbrechen wird.
So mancher gibt seiner Überraschung darüber Ausdruck, dass
die Engländer, die Franzosen und selbst die Russen nicht nur
den Anschluss Österreichs, sondern auch die Eingemeindung
des Sudetenlands kampflos hingenommen haben. Der eine oder
andere behauptete übrigens, der deutsche Reichskanzler arbeite seit einiger Zeit auf einen Krieg hin.
Deshalb muss es zunächst bei einem Briefwechsel bleiben,
so leid es mir auch tut. Schicke mir doch ein paar neuere Bilder von Dir, darunter eins in Krankenschwesterntracht; die
Prüfung hast Du sicher mit Glanz und Gloria bestanden. Und
wenn wir alle Glück haben, täuschen sich selbst kluge Leute
in ihren düsteren Prophezeiungen und wir stehen uns nächstes
Jahr um diese Zeit in Fleisch und Blut gegenüber – vorher wird
es auf keinen Fall möglich sein, weil ich mich jetzt in die Arbeit
stürzen werde bzw. muss.
Ganz herzliche Grüße, Deine Felicity.
P. S. Ruhe an der Schweizer Front, hoffe ich?
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„Tante Helga”, hörte sie Kathrine sagen, „ich habe jetzt die
Bilder aus der ersten Tüte ein bisschen geordnet. Zuerst kleben wir die aus Winterberg ein, dann die vom Karnevalszug
mit dem offenen Lastwagen, wo obendrauf die Mädchen in den
blau-weiß-roten Hustenbonbonkostümen stehen und Klümpkes unter die Zuschauer werfen. Guck, das hier bin ich! War
das kalt! Dabei hatte Mutti mir doch zwei Pullover und zwei
Strumpfhosen angezogen. Am schönsten fand ich die Schleife
auf dem Kopf; damit sah man wirklich so aus wie ein eingewickeltes Bonbon.”
Helga lächelte und meinte, sie sei gleich mit dem Lesen fertig.
„Als nächstes kommen die von der Verheiratung dran”,
nickte Kathrine eifrig.
„Nein, meine Süße. Die stammen vom Vorjahr, und eigentlich hätten sie vor den Bildern aus Borkum eingeklebt werden
müssen. Zuerst Brigittes Hochzeit, dann die vom Skilaufen und
vom Rosenmontag 1938, ja?”
Hildegards Brief klang besorgt und zugleich ironisch. Dass
er von der Person, die ihn geöffnet und doch wohl auch gelesen
hatte, an ihre Adresse weitergeleitet worden war, fand Helga
im ersten Augenblick nur verwunderlich; dann überlegte sie,
ob sie in Zukunft vorsichtiger sein müssten.
Von hier gibt es viel zu berichten, aber ich mach’s kurz und
schreibe zu Deinem Geburtstag ausführlicher, ja?
Fritz und seine Frau haben eine kleine Tochter bekommen.
Sie heißt Ruth nach ihren beiden Großmüttern, Helene nach
ihrer Mutter und Helga nach Dir.
Meine Eltern sind endgültig nach New Jersey umgezogen,
wo die neue Firma meines Vaters inzwischen einen ganz ordentlichen Profit abwirft.
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Ich selber gebe heute Abend ein Konzert in Detroit, Beethovens Violinkonzert, wieder mit dem Symphonieorchester aus
Cleveland.
Wie sagt man auf Deutsch doch so schön: Glück in der Liebe, Unglück im Spiel. Ich habe eindeutig Glück im (Geigen-)
Spiel.
Hingegen vermag ich nicht zu glauben, dass die Glückssträhne von Herrn H. anhält. Von zwei guten Dingen lässt sich
ohnehin nicht reden. Indessen denke ich, dass es bei drei knallt.
Wann wir uns wohl wiedersehen? Manchmal frage ich mich
sogar, ob wir uns überhaupt wiedersehen werden.
Immer Deine Hildegard. „Bist du traurig, Tante Helga?”
Während sie noch überlegte, was sie auf Kathrines Frage
antworten sollte, streckte ihr das kleine Mädchen schon mehrere Fotos entgegen.
„Da siehst du aber schön aus! So ziehst du dich sonst nie
an.”
Helga lächelte.
„Natürlich nicht, mein Schatz. Die Aufnahmen hat ein Berufsfotograf auf der Hochzeit meiner Freundin Brigitte von Albertyll gemacht. Er ist extra damit beauftragt worden, alle Gäste und natürlich auch das Brautpaar zu knipsen, und deshalb
sind die Bilder auch so gut gelungen. Es war zwar ziemlich
kühl an dem Tag, aber wenigstens hat die Sonne geschienen,
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und so brauchten wir keine Mäntel über unseren langen Kleidern zu tragen.”
„Wer ist denn der Mann da?”
„Er heißt Helmut Röding und wohnt gar nicht so weit weg
von uns, in Menden nämlich. An sich ist das erstaunlich, denn
die Hochzeit fand in der Mark Brandenburg statt, auf dem Gut
von Brigittes Eltern, und das liegt schrecklich weit von Hagen
entfernt. Doch Herr Röding und Brigittes Ehemann haben zusammen an der Technischen Universität Berlin studiert und sogar zeitweilig mit noch jemandem – der müsste auch auf mehreren Bildern zu sehen sein – eine Wohnung geteilt.”
„Er sieht genauso schick aus wie du, mit seinem Zylinder
auf dem Kopf!”
Kathrine kicherte und blickte von schräg unten zu Helga
hoch.
„Ich glaube, der mag dich, so wie er strahlt! Und auf diesem
Foto … sieh mal!”
„Herr Röding war Brautführer, ich eine der beiden Brautjungfern – so nennt man das. Und diese kleinen Mädchen in
den Organdykleidern sind Brigittes Nichten; ihre Aufgabe bestand eigentlich darin, Blumen vor die Füße des Hochzeitspaares zu streuen. Wir mussten uns sehr zusammennehmen, nicht
loszulachen, denn die eine war so klein, dass sie nicht verstand,
was sie eigentlich tun sollte, und deshalb hat sie die Blüten
ihrer Cousine eifrig wieder in ihr Körbchen gesammelt. Zwei
Jungen in Samtanzügen, sie waren ungefähr so alt wie du, haben den Schleier getragen.”
„Wenn du mal heiratest, Tante Helga, darf ich dann Blumen
…”
Das Telefon klingelte, Helga rannte in die Garderobe und
nahm den Hörer ab.
„Fräulein Schulte? Hier ist Frau Dr. Rose. Ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass es Ihren beiden Patientinnen von heute
Morgen gut geht. Der große Bruder des Dienstmädchens übernachtet im Haus, die Scheiben sind ersetzt worden. Es ist wohl
vorgesehen, den Ehemann der Patientin mit anderen Hagenern
in ein Lager zu transportieren. Konnten Sie die Tochter erreichen?”
Helga schluckte und erwiderte dann, die Verbindung habe
hergestellt werden können, und die Ärztin möge bei ihrem
nächsten Krankenbesuch anregen, dass sofort die für einen
Umzug nötigen Schritte in die Wege geleitet würden.
Während sie in ihr Zimmer zurückkehrte, wurde sie von
dem Gefühl überrascht, dies alles sei nicht wahr: Luises Mann
sei nicht festgenommen worden, niemand habe Herrn Meyer
abgeholt, und sie habe geträumt, dass eine Menora aus dem
zweiten Stock eines ganz normalen Hagener Wohnhauses auf
die Straße geworfen worden sei. Vor allem habe sie die Unterhaltung mit Frau Dr. Rose nicht so geführt, als höre jemand mit
und zeichne vielleicht sogar jedes ihrer Worte auf. Das alles
konnte gar nicht geschehen sein. Sie hatte doch mit Elli und
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den anderen ihre Prüfung abgelegt und würde in nicht allzu
langer Zeit aufbrechen, um das Ergebnis im Krankenhaus zu
feiern. Sie waren zum Skilaufen nach Winterberg und für drei
Wochen ans Meer gefahren wie in jedem Jahr …
Kathrine kam ihr entgegen.
„Wo bleibst du denn, Tante Helga? Wenn Otto gleich auftaucht, ist es aus mit der Ruhe, das kann ich dir sagen. Er will
dann nur noch erzählen, was sie gemacht haben bei ihrem
Heimnachmittag, und ich vermute mal, dass er einen Riesenhunger mitbringt. Lass uns wenigstens die Fotos von der Hochzeit zu Ende einkleben!”
Helga griff nach einem der Schwarz-Weiß-Abzüge und
reichte ihn ihrem Patenkind.
„Hier siehst du mich mit dem Brautstrauß. Nach der Trauung, draußen vor der Kirche, hat Brigitte sich umgedreht und
die Blumen nach hinten geworfen. Wer sie auffängt, heiratet
als nächste.”
Sie nahm zwar wahr, dass Kathrine wieder einmal eine
Frage stellte, ging jedoch nicht darauf ein, sondern dachte an
Helmut Röding und wunderte sich darüber, dass er so völlig
aus ihrem Blickfeld verschwunden war. Dabei hatten sie sich,
nachdem die anfängliche Verlegenheit durch Höflichkeitsfloskeln aus dem Wege geräumt worden war, schon auf dem Polterabend und dann den ganzen Hochzeitstag über bestens verstanden. Nie war ihnen der Gesprächsstoff ausgegangen, auch
nicht während des ewig langen Mittagsmahls, wo sie beide,
Helga mit einigen Luisenhofer Altmaiden, ihr Tischherr Helmut Röding und der Kommilitone aus Berlin, zum Programm
zwischen den Gängen beigetragen hatten. Er hatte ihr deutlich
zu verstehen gegeben, dass sie ihm sehr gefiel, und nicht an
Komplimenten gespart, ohne sich abgegriffener Formulierungen zu bedienen, und sein trockener Humor sowie sein häufig
verschmitztes Lächeln waren Helga im Gedächtnis haften geblieben. Besonders an eine Geschichte erinnerte sie sich und
beschloss, sie Kathrine zu erzählen.
„Herr Röding hat mit Sicherheit auch Dummheiten im
Kopf. Beim Essen, das sich über mindestens vier Stunden hinzog, hat er mir geschildert, wie er einmal seinen Eltern und seiner alten Tante einen Streich gespielt hat. Da war er aber schon
längst erwachsen. Das Dienstmädchen hatte die Suppe bereits
serviert, bevor die besagte Tante, sein Vater und seine Mutter
das Speisezimmer betraten, und da hat er rasch auf den einen
Teller eine Prise Salz, auf den anderen ein bisschen Zucker gestreut und mit seinem Löffel umgerührt. Kurz darauf sagte sein
Vater, die Köchin habe heute aber etwas zu tief ins Salzfass
gegriffen, worauf die Tante mit ihrer hohen Stimme erwiderte,
im Gegenteil, sie fände die Suppe zu süß. ,Ich weiß gar nicht,
was ihr habt’, hätte die Mutter daraufhin bemerkt, ,die Suppe
schmeckt doch wie immer.’”
Kathrine lachte so heftig, dass ihr die Tränen die Wangen
herunterliefen, und meinte, das werde sie unbedingt zu Hause nachmachen, während Helga sich eines Besseren besann –
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„Ach, da seid ihr!”
Otto stand in seiner Hitlerjungenuniform breitbeinig vor ihnen, seine Knie leicht blau gefroren, und grinste.
„Gibt’s hier was zu essen? Herr Grave hat mich über die
Verladerampe reingelassen. Ich soll dir etwas vom Opa ausrichten, selbst wenn ich überhaupt nichts kapiere: ,Bei Café
Rüggeberg ist alles in Ordnung.’ Ich denke, ihr geht sonst immer zu Tigges. Opa kommt übrigens auch gleich. Es gab wohl
noch etwas mit der flotten Telefonistin zu besprechen. Ich hab
genau hingeschaut – nach Schäkern sah das nicht aus, kein Anlass zur Eifersucht für die liebe Oma.”
Er schaltete für Helga und seine Schwester die Flurbeleuchtung und dann die Hängelampe in der Küche an, öffnete die
Tür zum Balkon und holte eine angebrochene Flasche Apfelsaft aus dem Fliegenschrank.
„Was sehen meine trüben Augen? Sollten Tante und
Schwester für Neffen und Bruder Otto diese seinem Hunger
angemessene Portion einer allerdings fremdländischen Nachspeise zubereitet haben?”
Helga und Kathrine bogen sich vor Lachen.
„Du bekommst schon etwas ab. Die große Schale nehme ich
allerdings gleich mit ins Krankenhaus, wo wir unsere bestandene Schwesternhelferinnenprüfung feiern. Begnüge dich zunächst einmal mit diesem Rest Kartoffelsalat, und dann mach
dich nützlich. Während ich den Vanillepudding auf dem Wackelpeter mit den Obststückchen verteile, darfst du die Sahne
schlagen und anschließend den Topf ausschlecken. Wasch dir
aber doch besser vorher die Hände, ja?”
Das Telefon läutete noch einmal, verstummte jedoch, bevor
Helga die Garderobe erreicht hatte. Unter ihrer Anleitung legte
Kathrine Besteck und Serviettenringe auf ein Tablett, angelte
Trinkbecher und zwei Biergläser aus einem der Hängeschränke und äffte immer wieder einmal ihren Bruder nach, der wie
erwartet von ihrem Heimnachmittag berichtete.
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ihre achtjährige Nichte würde kein Interesse daran zeigen, dass
Helmut Röding ein Diplom als Ingenieur in der Tasche trug,
häufig und gern Cello spielte sowie auf dem Gebiet der klassischen Musik höchst bewandert schien, dass sowohl Skifahren
als auch Tennis zu den Sportarten zählten, die er regelmäßig
ausübte, und dass er nie um ein passendes Zitat von Wilhelm
Busch verlegen war. Außerdem hatte er sie trotz seiner erklärten Abneigung gegen Salontänze immer dann aufs Parkett geführt, wenn er nicht gerade die Pflichttänze mit Müttern und
Schwestern des Brautpaares absolvierte. Beim allgemeinen
Aufbruch hatten sie sich freundlich, sogar herzlich voneinander verabschiedet, und Herr Röding hatte ihr zugesichert, er
werde sich melden, zumal sie ja fast Nachbarn seien. Warum
also … Helga dachte den Gedanken nicht zu Ende, kam indessen zu dem Schluss, von sich aus werde sie natürlich nichts unternehmen, weder Nachforschungen anstellen noch versuchen,
etwa die Anschrift herauszufinden. So etwas konnte nur Luise.
„Natürlich haben wir nicht die ganze Zeit über drinnen gehockt, sondern sind mehrere Kilometer gelaufen.”
„Mehrere Kilometer? Bei dem Wetter? Von wo bis wo
denn?”, erkundigte sich Kathrine ungläubig und fügte noch
etwas spöttisch hinzu, mit dem Schätzen habe Otto es nicht
so, eher schon mit Schätzen an sich, mit dem Geld in seiner
Spardose zum Beispiel. Die beiden machten eine Verfolgungsjagd zur Küchentür hinaus, sodass Helga den trifle ungestört
fertigstellen und in Sicherheit bringen konnte. Sie hörte Getrappel und Lachen im Flur, kurz im Treppenhaus, dann wieder
in den Salons zur Straße hin und begab sich, nachdem sie auch
noch die Platte mit Aufschnitt und Käse angerichtet sowie den
Brotkorb gefüllt hatte, in ihr Zimmer, um sich für die Feier
umzuziehen.
Sie wusch sich rasch, stäubte ein wenig Puder in die Achselhöhlen, schlüpfte in einen wadenlangen, engen Rock und
zog ihren schwarzen Lieblingspullover über den Kopf, bevor
sie sich im Spiegel betrachtete, ihr Gesicht mit einem feuchten
Tuch abwischte und dann leicht einkremte; abschließend legte
sie etwas Rouge auf und zog die Lippen dezent nach. Als sie
nach der Haarbürste griff, tauchte ihr Vater in der Türöffnung
auf.
„Hier sind zunächst einmal die Bonbons für heute Abend,
Helle. Zur bestandenen Prüfung gratuliere ich dir ganz herzlich” – er schloss sie fest in die Arme –, „und ich hoffe, dass
eure Feier heute Abend trotz der Ereignisse harmonisch ver-
läuft. Hat Otto dir Luises Botschaft ausgerichtet? Da stand
auf einmal so ein junger Mann bei Grave im Lager, sagte sein
Sprüchlein auf, wiederholte es zur Sicherheit noch einmal,
schwang sich auf sein Rad und ward nicht mehr gesehen. Grave ist gleich rüber in die Telefonzentrale gekommen; ich hatte
ihm im Vorübergehen gesagt, heute würden wir wohl alle später Feierabend machen, nicht zuletzt deshalb, weil mehrere von
unseren Fahrern unterwegs aufgehalten worden sind.”
Helga war mit der Haarbürste in der Hand vor ihrem Vater
stehen geblieben. Jetzt nickte er ihr zu und meinte, sie solle
sich ruhig fertig herrichten. Er habe ihr zwar etwas Wichtiges
mitzuteilen, jedoch schließe das eine das andere nicht aus. Damit setzte er sich auf den Stuhl an ihrem Schreibtisch, mit dem
Rücken zur Lampe, aber so weit von der Beleuchtung über dem
Spiegel entfernt, dass sein Gesicht im Halbdunkel lag.
„Vorhin haben in halbstündigem Abstand Barker aus Gainsborough und sein deutscher Geschäftsfreund Thees angerufen.
Die Telefonistin war gerade dabei, das Gespräch aus England
in die Wohnung durchzustellen, als ich die Zentrale betrat. Sie
meinte, Barker habe schon einmal mit dir gesprochen, nicht
lange allerdings; viele Leitungen seien ganz offensichtlich gestört. So war es dann auch. Über den Namen und ein einziges
Läuten ging’s nicht hinaus.”
Herr Schulte schwieg kurz, lehnte sich vor und faltete die
Hände über seinen Knien.
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„Thees aus Köln hatte mehr Glück. Er wollte außerdem mit
mir sprechen, sodass die Durchstellerei wegfiel. Er bat mich
mit der ihm eigenen Höflichkeit, ihm einen mir genehmen Termin zu nennen – Barker habe ihn nämlich gebeten, als Brautwerber für ihn zu fungieren und bei deiner Mutter und mir um
deine Hand anzuhalten. Barker mache sich seit dem Frühjahr
Sorgen um dein Wohlergehen; nichts liege ihm mehr am Herzen, als dich bei ihm in Sicherheit zu wissen, denn er befürchte,
es werde Krieg geben.”
Helga fuhr mit der Bürste immer wieder durch ihr Haar,
ohne sich der Geste bewusst zu sein.
„Ich sage es einmal ganz unumwunden, Helle: Wir teilen
Barkers Analyse der innen- und außenpolitischen Lage voll und
ganz. Unsere Besorgnis wird aus mehreren Quellen gespeist.
Da wäre zunächst Eugen Blankenstein zu nennen, dem es trotz
der Briefzensur immer wieder gelingt, diesen oder jenen Hinweis in unverfänglichen Formulierungen zu verstecken. Meine
ehemaligen Logenbrüder treffe ich ja nach wie vor. Indessen ist
Otto Rellinghaus mit seinem Netz ehemaliger Korpsstudenten
eindeutig am besten unterrichtet – irgendwie bringt er immer
in Erfahrung, wo sich gerade was tut. Du hast ja mit Luise gesprochen, nicht wahr?”
Ihr Vater beugte sich noch weiter vor, blickte kurz zu Boden
und hob dann den Kopf.
„Deine Mutter und ich schätzen Barker sehr, nicht nur als
langjährigen Geschäftsfreund, sondern auch als Menschen. Er
hält mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg, ist ein aufmerksamer Zuhörer und hat uns seit zwei Jahren nicht im Unklaren
darüber gelassen, dass seine Absichten ernst sind, was dich
anbetrifft. Ich gehe wohl nicht fehl in der Annahme, dass ihr
regelmäßig Briefe wechselt, und wenn ich dich auch nie geradeheraus gefragt habe, ob du seine Neigung erwiderst – das ist
vielleicht eine Generationssache, aber so etwas liegt mir nicht
–, so vermute ich doch, dass es sich so verhält. Weder deine
Mutter noch ich würden unter normalen Umständen irgendwelche Einwände erheben, ganz im Gegenteil. Aber die Zeiten sind
nicht normal, Helle. Wir werden uns die Sache gründlich durch
den Kopf gehen lassen, bevor wir Thees empfangen. Doch ist
mir die Vorstellung unerträglich, dich als gebürtige Deutsche
in einem englischen Internierungs- oder Konzentrationslager
zu wissen. In solchen Einrichtungen haben die Briten um die
Jahrhundertwende die Buren unter Verschluss gehalten, und
dass in Deutschland unliebsame Personen in Buchenwald oder
Sachsenhausen verschwinden, ist dir mit Sicherheit zu Ohren
gekommen. Pastor Ackermann hat mir, quasi unter dem Siegel der Verschwiegenheit, damals anvertraut, welche Zustände
dort herrschen; wenn man nicht gefoltert wird – Einzelheiten
will ich dir ersparen, Helle –, läuft man Gefahr, hungers zu
sterben. Wie gesagt” – Herr Schulte schob den Stuhl zurück
und erhob sich –, „wir werden uns alles gründlich durch den
Kopf gehen lassen. Dass wir dein Bestes wollen, daran darfst
du keinen Augenblick zweifeln.”
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Helga stand immer noch vor dem Spiegel, nahm aber erst
jetzt wieder ihr Gesicht wahr. Es sah nicht anders aus als vorher.
Indessen fiel ihr nicht ein, was sie hätte erwidern können, weil
sich ihre Gedanken in alle Richtungen zu verlieren schienen,
und so fühlte sie sich zunächst erleichtert, als sie gleichzeitig
die energischen Schritte ihrer Mutter und die hellen Stimmen
der beiden Kinder auf dem Flur herannahen hörte.
Als Frau Schulte im Türrahmen auftauchte, ging ihr Vater
auf sie zu; die beiden tauschten nur einen Blick, sagten aber
nichts. Otto und Kathrine schlüpften zwischen den Erwachsenen hindurch, und Otto meinte, jetzt müsse ihre Tante sich aber
langsam auf den Weg machen, und ob sie denn nicht lieber die
kleine Nachtischschüssel zur Feier mitnehmen wolle – sie sei
doch leichter zu tragen, und außerdem mache trifle dick. Frau
Schulte und Kathrine lachten, Otto drückte den Rücken durch,
stolz auf seine witzige Bemerkung, während Herr Schulte Helga beide Hände auf die Schultern legte und ihr noch einmal
zunickte, bevor alle vier den Flur hinunter verschwanden. Eine
Minute später erschien Kathrine mit einem flachen Korb und
der Glasschale darin, über die sie ein sauberes Trockentuch gebreitet hatte, stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte ihrer
Tante einen Kuss auf die Wange.
„Viel Spaß, und bis nachher. Wenn ich noch wach bin,
kommst du dann und erzählst mir, wie es war? Du siehst wieder fast so schön aus wie auf den Bildern mit Herrn Röding.”
Helga wandte sich ab, schlüpfte in ihren Mantel und streckte die Hand nach dem Korb aus, lächelte Kathrine einmal zu
und gab ihr mit einer Geste zu verstehen, dass die Oma mit
dem Essen nicht gern warte und sie sich sputen solle. Fast wäre
sie auf dem Zettel ausgeglitten, der aus dem Leitz-Ordner herausgefallen sein musste. Sie bückte sich und warf einen Blick
darauf.
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Hört, ihr Leute!
Purim, das bedeutet Freude,
Purim, das bedeutet Kuchenessen
und den Haman nicht vergessen.
Dieser Spruch aus Kindertagen
kann uns heute nichts mehr sagen.
Das war gestern, was wird morgen?
Heute haben wir andere Sorgen:
Visum, Affidavit, Konsulat,
Brasilien, Kuba, Dominikanischer Staat,
Bolivien, Haiti, Paraguay,
Alexandrette, Palästina oder Shanghai,
Rhodesien, Australien, Südafrika,
die letzte Rettung sind doch die USA.
Da möcht’ ich hin, da könnte man lachen,
doch keine Verwandtschaft drüben, wie soll man das machen?
Da war es ja, das Gedicht, das Helga Herberts ihr im Frühjahr geschickt hatte, mit dem ,Affidavit’ darin, dessen Bedeutung sie seit Erichs Effenkamps Erklärung vorhin verstand,
und den Haman-Taschen, diesem dreieckigen Gebäck, das sie
bei Blankensteins in jedem Jahr hatte kosten dürfen. Von all
den Staaten schienen nur zwei übrig geblieben zu sein, ging
es ihr durch den Kopf. Sie wusste immer noch nicht, warum
ihr Schwager Otto verhaftet worden war, was Erichs Großvater
mit seinem Gespann in die Potthofstraße geführt und warum
Helmut Röding sich seit Brigittes Hochzeit nicht mehr gemeldet hatte. Was Alfred Barker anbetraf, vermochte sie keinen
klaren Gedanken zu fassen.
Aber heute Morgen war sie mit Sicherheit da mutig gewesen, wo es sich lohnte.
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13. Kapitel: Frühsommer 1939
Helga lehnte sich wohlig zurück, obwohl die Bank in der 2.
Klasse nicht besonders bequem war. Mit halb geöffneten Augen schaute sie auf die Landschaft hinaus, die am Fenster vorbeiflog – immer mehr Kiefern mit ihren rotbraunen Stämmen
und dunkelgrünen Nadelbüscheln, ab und zu Wiesen, selten
Ortschaften, und über allem dieser aquamarin-blaue Himmel,
der noch nicht ganz nach Sommer aussah. Immer einmal wieder berührte sie mit den Fingern die Brosche, die sie auf dem
linken Aufschlag ihres perlgrauen Kostüms festgeheftet hatte,
und lächelte.
Auf dem Bahnhof in Berlin hatte sie einige junge und auch
ältere Frauen bemerkt, von denen sie vermutete, dass sie ebenfalls nach Bärwalde fuhren, wie sie selber in gut geschnittenen
Jackenkleidern und dazu passenden, meist kleinen Hüten. Manche warteten eindeutig auf jemanden, warfen suchende Blicke
um sich oder kniffen auch die Augen ein wenig zusammen. Es
mochte ja durchaus sein, dass sie sich sehr lange nicht gesehen hatten und daran zweifelten, ob sie ihre ehemaligen Mitmaiden wiedererkennen würden. Vom ersten Jahrgang, 14/15,
so hatte Helga von Brigitte erfahren, deren jüngste Schwester
Gisela seit Ostern im Luisenhof ihr Maidenjahr ablegte, hätten sich zum Beispiel vier angesagt, von denen eine, Frau von
Grothe, geborene von Baerenfeld, für die Altmaiden sprechen
würde. Fräulein Dahm, die immer gern den Ausdruck ,alter
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preußischer Landadel’ im Mund führte, hatte sich nämlich etwas spöttisch danach erkundigt, was denn so an Festreden vorgesehen sei, und auf Helgas Antwort hin nur gemeint, gleich
und gleich geselle sich halt immer noch gern; sie als einfaches
Fräulein Schulte müsse sich doch wohl freuen, dass sie in einer
so illustren Gesellschaft überhaupt erscheinen dürfe.
Sie war eine halbe Stunde zu früh auf dem Schlesischen
Bahnhof eingetroffen, obwohl sie eine ziemlich kurze Nacht
hinter sich hatte. Hagemanns, Otto und Luises Berliner Freunde, denen sie zum ersten Mal auf der Hochzeit von Christine
Rellinghaus mit Otto Brauckmann junior begegnet war, hatten
sich nicht nur um ein Hotelzimmer für sie gekümmert, sondern
sie auch in die Staatsoper Unter den Linden eingeladen und
sie gebeten, ein zu dem Anlass passendes langes Kleid einzupacken; auf dem Luisenhof würde sie so etwas natürlich nicht
brauchen. Ganz kurz war Helga vorgestern Abend der Gedanke
durch den Kopf gegangen, alles abzublasen, bei Hagemanns
anzurufen und zu sagen, es sei etwas sehr Wichtiges dazwischen gekommen, sie könne Eckesey zur Zeit nicht verlassen,
und gleich anschließend zu versuchen, Brigitte in der Mark
Brandenburg zu erreichen, ihr die Neuigkeit mitzuteilen und
sie zu bitten, ihre Entschuldigung an alle weiterzugeben. Aber
eine Minute später hatte Helga die Idee verworfen: Sie würde
ja nur von Freitag bis Montag abwesend sein, und sie freute
sich unendlich darauf, nicht nur Brigitte, sondern auch Carla,
Lilo und Gaby einmal richtig zu überraschen.
Von den neun Altmaiden des Jahrgangs 33/34, die sich zum
25. Jubiläum angemeldet hatten, waren nur Bärbel und sie selber noch nicht verheiratet.
Des Weiteren glaubte sie Rosemarys letztem Brief entnommen zu haben, dass ihre englische Freundin ernsthaft mit dem
Gedanken spielte, ihren Verehrer James P. Saunders nun doch
nicht länger abzuweisen, obwohl sie sich über eine halbe Seite
hinweg nach Rudolf erkundigt hatte.
Helga schloss die Augen und strich zärtlich über die Brosche. Dann schlug sie die Beine übereinander, summte leise
vor sich hin und wippte dazu mit dem Fuß. Ausgerechnet Die
verkaufte Braut musste auf dem Programm stehen. Natürlich
kannte sie die Oper. Sie hatte Arien daraus im Radio gehört und
Ilse sogar einmal zu einer Aufführung in Köln begleitet. Aber
die Sänger, die sie damals mit ihrer Freundin bewundert hatte,
konnten natürlich Jarmila Novotna und Marcel Wittrisch das
Wasser nicht reichen. Ilse …
Eines stand fest: Sie vermochte sich nicht zu konzentrieren.
Natürlich hatte sie Ilse jedesmal einen Besuch abgestattet,
wenn sie Alfred Barker in Köln bei seinem deutschen Geschäftspartner Herrn Thees und dessen Frau getroffen oder ihn
auch dorthin im Mercedes ihrer Eltern zurückgefahren hatte.
Als Helga ihm unterwegs einmal von ihrer ehemaligen Schulkameradin erzählt hatte, deren Vertrag als Tänzerin im Corps de
Ballet gerade wieder einmal verlängert worden war, hatte Al­
fred vorgeschlagen, sie doch zum Essen einzuladen, und dabei
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war ihm nicht entgangen, dass Ilse an allen Ecken und Enden
sparte, angefangen von ihren offensichtlich bereits mehrfach
neu besohlten Schuhen bis zu der Art, wie sie die Speisekarte
abgesucht und sich dann für das billigste Gericht entschieden
hatte. Ilse war erschrocken zusammengefahren, als Alfred daraufhin in Lachen ausgebrochen war und ihr mit der Wärme in
der Stimme, die Helga so sehr liebte, erklärt hatte, hier bezahle
der gute Onkel aus Gainsborough, und was ihr Herz denn begehre, Sauerkraut mit Eisbein oder Sauerbraten mit Klößen.
Seitdem hatte Alfred, wie er selber bei jeder Gelegenheit mit
übertrieben englischem Akzent und fröhlich grinsend erklärte,
bei Ilse ,einen Stein im Brett’, und deshalb war Helga nicht
sonderlich erstaunt gewesen, als ihre Freundin vorhin am Telefon zunächst betroffen geschwiegen und auch dann zunächst
nur gefragt hatte, ob Helga denn ganz sicher sei, sich richtig
entschieden zu haben. Bei Ilses letztem, etwas längeren Besuch in Eckesey zu Weihnachten 1938 hatte Helga ihr nämlich
auf einem gemeinsamen Spaziergang durch den tief verschneiten Höing schluchzend berichtet, wie Herr Thees Anfang Dezember in der Schillerstraße mit seinem großen Horch vorgefahren war und mit ihren Eltern hinter verschlossenen Türen
ein langes Gespräch geführt hatte, dem sie nicht beiwohnen
durfte. Sie wusste natürlich, dass Alfred von Gainsborough aus
Herrn Thees als Brautwerber geschickt hatte, was in England
durchaus üblich war, und außerdem hatte ihr Vater selber sie
am Abend des 10. November über seine Sicht der Dinge nicht
im Unklaren gelassen. Es war auch ihr Vater gewesen, der ihr
dann, diesmal in Anwesenheit ihrer Mutter, mitgeteilt hatte,
Herr Thees nehme eine abschlägige Antwort mit nach Köln zurück; die Gründe brauche er gewiss nicht zu wiederholen.
Helga rutschte einmal auf der Sitzbank herum und öffnete
kurz die Augen. Der Zug ruckelte vor sich hin, irgendwie gemütlich und … konkurrenzlos, auf jeden Fall anders als gestern
früh im Ruhrgebiet, wo sich viele Schienenstränge kreuzten.
Sie erinnerte sich genau daran, wie Ilse ihr Mut gemacht
hatte. Die Wangen gerötet von der pfeifenden Kälte, war sie
vor Helga stehen geblieben und hatte beinahe gebrüllt, das solle Helga sich nicht gefallen lassen. Zwar ließen sich die Argumente ihres Vaters nicht einfach vom Tisch wischen, aber immerhin sei sie volljährig, und – Ilse hatte den Kopf gesenkt und
den Satz nicht sofort weitergeführt–, und außerdem … Sie wage
es ja kaum, aber es sei doch wohl richtig, Helga ins Gedächtnis
zu rufen, dass ihre Eltern schon einmal … die Geschichte mit
diesem Schweizer … Zu Hause hatte Helga dann auch nichts
unversucht gelassen, ihre Eltern umzustimmen. Während Karl,
der seinen Militärdienst hinter sich gebracht hatte und alles
daran setzte, sich so rasch wie möglich wieder an den Tagesrhythmus im Betrieb sowie das Leben mit Sophie und seinen
beiden Kindern zu gewöhnen, keine Stellung bezog, erfuhr sie
von Rudolf jedesmal lautstarke und unermüdliche Unterstützung, wenn er aus seinem Arbeitsdienstlager in Winterberg
für ein sehr kurzes Wochenende nach Hause kam. Auch Luise
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war in der Zeit nach dem Besuch von Herrn Thees bis in den
späten Frühling hinein sowohl an ihren Vater als auch an ihre
Mutter bei jeder Gelegenheit teils mit den alten, teils mit neuen Argumenten herangetreten, hatte die Lage einmal aus der
Sicht ihrer Eltern dargestellt und dann wieder Helgas Standpunkt verteidigt. Bis vorgestern war Helga unverständlich geblieben, warum Luise Anfang Juni plötzlich nicht gerade die
Seiten gewechselt, aber sich kaum noch an den Wortgefechten
zwischen den beiden Parteien beteiligt hatte. Zunächst stirnrunzelnd, dann enttäuscht hatte Helga Luises spöttische oder
auch scharfe Einwürfe vermisst, die zusammen mit Rudolfs
spontanen Gefühlskundgebungen jedesmal dazu geführt hatten, dass die Hoffnung in Helga nicht ganz erlosch. Immerhin,
hatte ihr Vater bei einer dieser Auseinandersetzungen geseufzt,
scheine Helga ja im Gegensatz zu ihrer älteren Schwester auf
die Zustimmung ihrer Eltern Wert zu legen, wie übrigens Al­
fred Barker auch, und ganz offensichtlich ziehe niemand seine
berechtigte Sorge um seine Tochter in Zweifel.
Onkel Eugen Blankenstein, dachte Helga im Halbschlaf,
Onkel Eugen würde mit Sicherheit … Wenn Rudolf nicht in
Winterberg seit April unter Anleitung eines Försters in Schonungen winzige Tannen setzte – keine fedrigen Kiefern natürlich wie hier in der Neumark, sondern Pflänzlinge, aus denen
einmal die dunklen Wälder des Hochsauerlands empor wachsen sollten – , kleine Bäumchen, die später an anderer Stelle
und mit größeren Zwischenräumen ihren endgültigen Standort
finden würden, oder aber mit seinen Kameraden vom Arbeitsdienst nicht gerade das Unterholz auslichtete, vielleicht auch
Wege baute … Mit ihm würde sie wetten, dass Onkel Eugen
einen seiner Lieblingssprüche aus der Tasche ziehen würde,
nämlich: ,Die Welt ist doch wirklich klein!’ Dass Christine Rellinghaus Otto Brauckmanns Sohn geheiratet hatte, war ja noch
nicht allzu verwunderlich. Immerhin zählten sowohl ihr als
auch sein Vater zu den bekannteren Hagener Fabrikanten, und
bei irgendeinem Fest lief man sich da früher oder später über
den Weg, in der Concordia auf dem Karnevalsball oder bei den
Schützen. Aber dass Otto Brauckmann junior wiederum seinen Militärdienst bei der Kavallerie in Münster zusammen mit
Helmut Röding abgelegt hatte, mit ebendem Helmut Röding,
der als Brautführer auf Brigittes Hochzeit ihr Tischherr gewesen war und von dem sie seitdem nichts mehr gehört hatte, das
ließ sich schon eher als Zufall bezeichnen. Höchstens in den
Sternen konnte gestanden haben, dass Christine und Otto am 3.
Juni sowohl ebendiesen Helmut Röding als auch eine Art von
Tante namens Helga zur Erdbeerbowle einladen würden.
Apropos Sterne … Helga setzte sich mit einem Ruck gerade auf. Was hatte ihr die Zigeunerin in Butlin’s Holiday Camp
noch vor rund drei Jahren aus der Hand gelesen? Als Helga
sich schon erheben wollte, hatte die schwarzhaarige Frau mit
den sprühenden Augen ihr verraten, ein Mann, dessen Vorname
mit einem h beginne und der mit Schmieröl sowie Fräsmilch
zu tun habe, werde eine wichtige Rolle in ihrem Leben spielen.
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Wie Rosemary hatte sie allerdings insgeheim bis vor kurzem
damit gerechnet, die Wahrsagerin würde mit dem Buchstaben,
den sie dann verworfen hatte, Recht behalten: dem a nämlich.
Natürlich müsste Alfred Barker davon erfahren.
Helga fühlte Unbehagen in sich aufsteigen. Er hatte so lange auf sie gewartet, nichts unversucht gelassen, ihren Vater und
ihre Mutter umzustimmen, und Rosemary hatte in jedem ihrer
Briefe nicht nur Grüße von ihren Eltern, sondern auch von ihrer
Granny Elizabeth, Alfreds Mutter, ausgerichtet, deren anfängliche Ablehnung Helga im Laufe ihres Aufenthalts zu überwinden verstanden hatte. Am anständigsten wäre es, wenn Helga
Alfred anriefe und ihm selber die Neuigkeit mitteilte. Aber allein bei der Vorstellung, ein Gespräch nach England anmelden
und dann möglicherweise mehrere Stunden warten zu müssen,
klopfte ihr Herz so stark, dass sie ihre Stirn gegen die kühle
Scheibe presste und die Hände im Schoß verkrampfte. Natürlich hatte sie Alfred nicht vergessen, und bis vor Kurzem hatte
sie geglaubt, niemand vermöge in ihrem Herzen mehr Raum
einzunehmen als er. Dann atmete sie mehrmals tief durch, und
als sie wieder einen klaren Gedanken zu fassen vermochte,
beschloss sie, auf jeden Fall nach ihrer Rückkehr mit Luise,
vielleicht aber auch schon heute Nacht mit Brigitte nach einer
Lösung zu suchen. Brigitte von Leskow, geborene von Albertyll, und sie würden ja wie schon vor sechs Jahren ein Zimmer
miteinander teilen.
Ob sich wohl viel verändert hatte auf dem Luisenhof ?
Wie unkompliziert ihr Leben doch damals gewesen war:
ein beruhigend starrer Tagesplan mit Wecken, einem kurzen
Geländelauf, Waschen, der Morgenandacht mit dem Verlesen
eines Bibelspruchs und ein paar Worten dazu, dem ersten und
später einem zweiten Frühstück; wochenweise wechselnde,
praktische Arbeit in der Küche, im Garten, auf dem Geflügelhof oder auch in der Nähstube, Mittagessen, Unterricht in wissenschaftlichen Fächern und Abendessen, dazwischen immer
einmal eine Radtour an die Oder, Gymnastik und vor allem viel
Musik. In Bärwalde, wo jeder jeden kannte, hatten sie kleinere
Einkäufe erledigt; größere Städte lagen nicht in der Nähe. Alles war überschaubar gewesen, und kaum etwas hatte diesen
Rahmen gesprengt. Gewiss, nicht nur das Grundig-Radio im
Wohnzimmer, sondern auch Briefe und gelegentliche Anrufe
von Eltern und Freunden hatten Neuigkeiten aus der großen
weiten Welt sowie aus Familie und Bekanntenkreis zu ihnen hineingetragen. Aber Helga hatte sich dort so sicher gefühlt wie
eigentlich sonst nur zu Hause in ihrer Kleinmädchenzeit, als
noch niemand Entscheidungen und Meinungsäußerungen von
ihr verlangte.
Helga griff wieder einmal nach der Brosche. Sie hätte nicht
zu sagen gewusst, warum das Berühren dieses Schmuckstücks
nicht nur Freude und Zufriedenheit in ihr hervorrief, sondern
sie auch beruhigte. Frau Hagemann hatte sie übrigens sofort
darauf angesprochen, als sie ihr am Freitagnachmittag auf dem
Lehrter Bahnhof den Koffer aus der Hand genommen und sie
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zunächst einmal kurz in die Arme geschlossen hatte. Sie werde Helga ins Hotel begleiten und sie mit ihrem Mann gegen
sieben auch dort abholen. Die bezaubernde Brosche müsse sie
aber unbedingt an ihre Abendgarderobe stecken, damit Heinrich, also ihr Herr Gemahl – wie ironisch, aber durchaus nicht
lieblos ihre Stimme dabei geklungen hatte! –, sie auch in Augenschein nehmen könne. Als Helga gerade zu einer Erklärung
ansetzte, war Frau Hagemann schon dem Kofferträger zum
Ausgang gefolgt und hatte sich dabei erkundigt, wie es denn
um die Gesundheit von Luise und Otto Rellinghaus bestellt sei,
hatte sich einmal zu Helga umgewandt, einen Blick mit ihr getauscht und auch während der Fahrt im Mietwagen nur über das
Wetter geredet, zur Kenntnis genommen, dass Otto junior mittlerweile schon das Gymnasium besuchte, wohingegen Helgas
Patentochter Kathrine noch zur Volksschule ging, und es begrüßt, dass Christines Mutter offensichtlich von Brauckmanns
ebenso herzlich aufgenommen wurde wie Luise. Erst, als sie
die Formalitäten im Hotel erledigt und die Tür zu Helgas Zimmer hinter sich geschlossen hatten, war Frau Hagemann ernst
geworden. Während Helga den steifen dunkelgrünen Taftrock
sowie die weiße Spitzenbluse mit dem Stehkragen auf einen
Bügel hängte und ihre Toilettenartikel in dem kleinen Badezimmer verstaute, hatte sie leise, aber sehr deutlich erklärt, sie
und ihr Mann seien vor allem äußerst erleichtert darüber, dass
Otto Rellinghaus im November 1938 so rasch wieder frei gelassen worden sei und dass seine kurze Inhaftierung doch wohl
keine Folgen gezeitigt habe. Sie schließe daraus, er habe endlich eingesehen, dass man vorsichtig sein müsse. Helga hatte
sich des Eindrucks nicht erwehren können, dass die feingliedrige, fast weißblonde Frau durch den grobmaschigen Schleier
ihres blauen Hütchen hindurch herauszufinden versucht hatte,
ob ihr Gegenüber von Luise über die Gründe für die Festnahme unterrichtet worden war. Helga hatte genickt und ihrerseits
erklärt, Otto habe die Leute von der Gestapo davon überzeugen
können, dass er seit vielen Jahren stiller Teilhaber der Wiener
Firma Golde & Funkelstein gewesen sei. Wenn er Ende Februar 1938, unmittelbar vor dem ,Anschluss’, für die Veräußerung des gesamten Betriebs zu einem möglichst günstigen
Preis gesorgt und alle dahingehenden Verhandlungen geführt
habe, so könne ihm niemand einen Vorwurf daraus machen;
er wolle sich zwar nicht dümmer stellen, als er sei, aber über
eine hellseherische Begabung verfüge er nun wirklich nicht.
Otto selber betone im engsten Kreise immer wieder, er sei noch
einmal davongekommen, und wenn er auch weiterhin seinen
Überzeugungen gemäß lebe, so geschehe das sozusagen hinter vorgehaltener Hand, weil er vor allem seine Kinder nicht
gefährden wolle. Was Luise anbetreffe, so wisse Frau Hagemann ja aus eigener Erfahrung, dass sie bereit sei, mit Otto
durch dick und dünn zu gehen, wenngleich selbst ihre furchtlos
wirkende Schwester durchaus Kompromisse mit dem System
schließe, indem sie sowohl Otto junior als auch Kathrine in die
Hitlerjugend schicke. Frau Hagemann hatte ihr aufmerksam
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zugehört und sich dann erhoben, sich verabschiedet und sich
mit der Türklinke in der Hand noch einmal zu Helga umgedreht. Wenn man zu deutlich seine Kritik am Regime durchblicken ließe, beraube man sich jeder Möglichkeit, Auswüchsen
entgegenzuwirken. Viele in ihrem Bekanntenkreis fühlten sich
wie Seiltänzer. Aber – und sie lächelte Helga zu – nicht jeder
müsse sich für eine Zirkuslaufbahn entscheiden.
Indessen hatte Helga nicht der Sinn danach gestanden, die
wenigen Stunden in Berlin damit zuzubringen, sich über Politik Gedanken zu machen, und so war sie denn kurz nach Frau
Hagemanns Aufbruch durch die Drehtür des Fürstenhofs hinaus auf die Straße getreten und zuerst mit raschen, dann immer
gemächlicheren Schritten an den Schaufenstern entlang gezogen, hatte in einem der Cafés vergnügt einen Eisbecher gegessen und war gegen sechs Uhr ins Hotel zurückgekehrt, weil
sie sich natürlich in Ruhe den Reisestaub abwaschen und dann
ankleiden wollte. Auch jetzt, während der Zug an diesem Junisamstag seinem Ziel entgegenrollte, schob sie die Erinnerung
an Frau Hagemanns letzte Bemerkung in den Hintergrund.
Irgendwann im Laufe des Abends bei Christine und Otto
Brauckmann hatte Helmut Röding mit einem verschmitzten
Grinsen in die Unterhaltung eingeworfen, er sei letztendlich
dem Nationalsozialistischen Kraftfahrzeugkorps beigetreten,
weil man ja irgendwo Mitglied sein müsse; da ginge es herzlich
wenig um Politik und viel um Autos, selbst wenn das NSKK
jetzt den Auftrag erhalten habe, Fahrer für die Armee auszu-
bilden. Nein, ein Parteibuch trage er nicht in der Tasche; allerdings lasse man Leute, die in seiner Sparte tätig seien, auch
vergleichsweise in Ruhe – von königlich könne man ja nicht
mehr sprechen.
Helga lächelte vor sich hin, weil auf einmal der Bogen zu
Onkel Eugen und dem letzten der Zufälle wieder geschlagen
war: Die Firma Röding in Menden, Kreis Iserlohn, hatte Ende
1933 oder Anfang 1934 tatsächlich einen großen Teil der Werkzeugmaschinen aus dem Blankenstein’schen Betrieb zu Preisen erworben, die nur geringfügig unterhalb des tatsächlichen
Marktwertes lagen. Brauckmanns, so entsann sie sich, hatten
wohl die meisten Arbeiter übernommen. Wenn sie die Augen
schloss, vermochte sie das Gespräch in ihrem Eckeseyer Salon,
dessen Zeuge sie zunächst unbeabsichtigt geworden war, von
Anfang bis zu Idas Rückkehr in Wort und Bild abspulen zu
lassen.
Fritz, dachte sie dann.
Von Fritz und auch von Hildegard trafen in unregelmäßigen
Abständen Luftpostbriefe in Eckesey ein, die allerdings immer weniger Bemerkungen zu dem enthielten, was sich auf der
politischen Bühne abspielte. Deswegen, so vermutete Helga,
wurden sie zwar von der Zensur geöffnet, dann aber doch an
den Adressaten weitergeleitet. Ab und zu glaubte sie zwischen
den Zeilen lesen zu können, dass Fritz sich Sorgen um seinen
Freund und Altersgenossen Karl machte, wenn er sich nämlich
erkundigte, bei welcher Waffengattung er seinen Militärdienst
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abgeleistet hätte; auch nach Rudolf hatte er einmal gefragt,
aber nicht weiter nachgehakt, als Helga ihm berichtete, ihr jüngerer Bruder sei gleich nach dem Abitur zunächst einmal zum
Arbeitsdienst verpflichtet worden.
Ihre Gedanken schweiften wieder zu der Abendeinladung
bei Brauckmanns ab.
,Kavallerie?’, hatte sie ungläubig hervorgebracht, als Helmut Röding ihr augenzwinkernd erzählt hatte, er habe seinen
Militärdienst in der Tat gemeinsam mit seinem Freund Otto in
einem Kavallerieregiment in Münster absolviert. ,Gibt es das
denn noch?’ Sie hatte sich an die langen Gespräche mit ihrem
Vater erinnert, an die meist kontrastlosen, weißlich-grauen
Aufnahmen aus dem Weltkrieg auch und an das Lied vom Argonnerwald: Da hatten Pferde, Kaltblüter allerdings, die Kanonen gezogen, und berittene Truppen waren wohl durchaus
eingesetzt worden. Aber schon damals hatten Taxameter in der
Marneschlacht eine wichtige Rolle gespielt, und heute, wo die
Vielzahl der Last- und Privatwagen häufig den Verkehr zum
Erliegen brachte und man längst Ampeln eingeführt hatte, um
den Fluss der Fahrzeuge zu regeln – wozu brauchte man da
eine Kavallerie? Helmut Rödings Äußerungen hatte sie entnommen, dass es sich um eine sehr traditionsverbundene Einheit handele, etwas von Elite hatte er gemurmelt und dann
lauter hinzugefügt, vielleicht sei er auch zu der Schwadron
eingezogen worden, weil sie im Betrieb Beschläge für Pferde
herstellten – Zaumzeug, Trensen und Steigbügel. Außerdem,
hatte er dann erklärt, produzierten sie Schrauben, Muttern, Karabinerhaken sowie Werkzeuge, und deswegen hätten sie die
Maschinen bei der Auflösung des Blankenstein’schen Betriebs
auch damals erworben.
Hildegards letzter Brief war übrigens nicht geöffnet worden.
Ob die Leute von der Zensur immer nur Stichproben machten
oder ob sie darüber Buch führten, wer an wen Briefe verfänglichen Inhalts schrieb, wusste Helga natürlich nicht, aber Hildegard hatte, zumindest in den letzten drei Jahren, stets nur in
lakonischen Sätzen von ihrer Laufbahn als Geigerin berichtet
und Helga über größere und kleine Geschehnisse im Leben ihrer Familie auf dem Laufenden gehalten: den Oberschenkelhalsbruch ihrer Mutter, die ersten Schritte von Fritzens Tochter
Ruth Helene Helga und die in ihren Augen erstaunliche Beobachtung, dass ihr Vater in seinem Garten mehrere Apfelbäumchen gepflanzt hatte. Helga war sich allerdings ziemlich sicher,
dass die Zensur Hildegards Bemerkung über den kürzlich eingeführten weiblichen Pflichtarbeitsdienst nicht hätte durchgehen lassen. Zwischen ihre üblichen Einzelsätze hatte Hildegard
eingeflochten, ihr sei zu Ohren gekommen, dass die Mädchen
von der Landhilfe auf jeder Hand einen Stempel trügen: links
BdM, was ,Bin da, Mutti’ bedeute, und rechts NSV, ,Nun such
Vati’, wobei Helga sich wieder einmal darüber gewundert hatte, dass ihre immerhin schon 1934 ausgewanderte Freundin sogar über die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt und deren
Mutter-und-Kind-Hilfswerk Bescheid wusste. Beim Lesen die-
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ses Satzes hatte Helga sich übrigens des Lachens nicht erwehren können, obwohl ihr manchmal noch Tränen in die Augen
stiegen, wenn sie Post von ihrer Jugendfreundin erhielt – ein
Besuch in den USA schien in immer weitere Ferne zu rücken.
Dabei hatte Helga erst vor Kurzem wieder mit dem Gedanken
gespielt, ihre Eltern zu fragen, ob sie nicht einen Aufenthalt bei
Hildegard mit einem Abstecher zu Felicity Blake, ihrer Zimmergenossin aus Lausanner Zeiten, verbinden könne; an den
Devisenbeschränkungen, so meinte sie, würden ihre Pläne sicher nicht scheitern. Aber jetzt … Dabei fielen Helga die Worte
von Frau Fandrey wieder ein, die sie vor ein paar Tagen auf der
Straße getroffen hatte: Ilse als fest angestellte Tänzerin werde
doch hoffentlich das Pflichtjahr nicht ablegen müssen, obwohl
sie noch nicht ganz fünfundzwanzig und, ebenso wie Helga,
nicht verheiratet sei. Und ein Einsatz in der Landwirtschaft
käme natürlich kei-nes-falls in Frage!
Solche Überlegungen erübrigten sich seit vorgestern.
Vielleicht könnte sie wenigstens der Einladung von Helga
Herberts ins Elsass Folge leisten. Sie fühlte sich zwar eigenartig berührt von der Vorstellung, ihrem ehemaligen Verehrer,
jetzt Helgas Mann, gegenüberzustehen, aber sie würde ja selbst
bald … Zudem schloss sie aus allem, was ihr die andere Helga
schrieb oder, sehr selten, fernmündlich berichtete, Ernst habe
nie erwähnt, dass sein Heiratsantrag von ihr abschlägig beschieden worden war.
Ob Frau Meyer wohl den Schock vom November 1938
überwunden hatte? Helga sah sie vor sich, wie sie im Sessel ihres Musiksalons an der Volmestraße immerzu den Namen eines
Arztes vor sich hin sagte, der Deutschland längst verlassen hatte. Herr Meyer war ja, wie Erich Effenkamp richtig vermutet
hatte, nur kurz, weniger als einen Monat lang, in einem Konzentrationslager namens Buchenwald gefangen gehalten worden und hatte dann, nach Entrichtung von Reichsfluchtsteuer
und Judenvermögensabgabe, Deutschland verlassen können,
nicht zuletzt dank der Tatsache, dass sowohl er als auch seine
Frau über gültige Pässe verfügten. In einem ihrer Briefe hatte
die andere Helga durchblicken lassen, dass ihre Eltern außer
etwas Schmuck, den Rebekka geschickt unter Knöpfe und in
Schulterpolstern eingenäht sowie in Absätzen versteckt hatte,
so gut wie nichts hatten mitnehmen können.
Sie betastete die Brosche – zwei mit Diamantsplittern besetzte, ineinander liegende Runde, als Verbindung die rubinbestückten Querverstrebungen und die Perle in der Mitte – aufs
Neue. Helmut Röding hatte sie aus dem dunkelblau bezogenen Schächtelchen genommen, ihr beim Anstecken in die Augen geschaut und sich deshalb heftig in den Finger gestochen,
sodass sie beide in Lachen ausgebrochen waren. Dass er sich
gemerkt hatte, wie sehr ihr das Schmuckstück gefiel, und es
sogar gekauft hatte, bevor er ihrer Antwort sicher sein konnte, hatte eigentlich am Donnerstagabend den letzten Ausschlag
gegeben.
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Erst, als die Bremsen quietschten und im Nebenabteil ein
schwerer Gegenstand krachend auf dem Boden landete, wurde
Helga bewusst, dass der Zug in wenigen Augenblicken Küstrin
erreichen würde, wo sie umsteigen musste, um dann in Gesellschaft von Carla und Lilo die Fahrt fortzusetzen. Brigitte würde, so hatte sie geschrieben und heute Morgen am Telefon noch
einmal bestätigt, mit dem Wagen aus Brandenburg anreisen.
Helga sprang auf, hob ihr Köfferchen aus dem Gepäcknetz,
warf einen Blick in den Spiegel oberhalb der Sitzbank und zog
noch rasch ihre Lippen nach, als die Lokomotive nach einigem
Geruckel auch schon endgültig anhielt.
Kurz darauf stand Helga auf dem Bahnsteig und schaute
sich suchend um. Natürlich hatte sie Recht gehabt mit ihrer
Vermutung vorhin in Berlin: Aus mehreren Abteilen hangelten sich Damen, um ihre Absätze besorgt, über die Trittbretter
nach unten, wobei sie sich gegenseitig Hilfestellung leisteten.
Ob Carla und Lilo wohl schon eingetroffen waren? Verabredet hatten sie sich in der Bahnhofsgaststätte, und Helga dachte,
eine Tasse Kaffee könne jetzt nicht schaden. Mit klopfendem
Herzen strebte sie auf die Tür zu und warf dabei einen Blick
auf die Normaluhr.
„Helga! Hier sind wir!”
Carla war von ihrem Stuhl am Fenster aufgesprungen und
winkte ihr zu, während Lilo, die schon immer zu den ,Stillen
im Lande’ gezählt hatte, Helga nur wort- und gestenlos ent414
gegenstrahlte. Mit ein paar weit ausholenden Schritten hatte
Carla sie erreicht, griff nach ihrem Arm und zog sie ins Licht.
„Gut siehst du aus, Helga, eigentlich gar nicht nach Indus­
triestadt und Nachtwachen in Lungenheilstätten! Und was hast
du denn da Hübsches? Das kenn ich ja noch gar nicht. Ein
Weihnachtsgeschenk?”
„Nun lass sie doch zuerst einmal verschnaufen”, warf Lilo
sanft ein, reichte Helga die Hand und meinte, der Kaffee sei
gar nicht schlecht hier, vermutlich sogar besser als der Tee. Sie
sollte aber sofort bestellen, denn der Zug nach Bärwalde fahre
in zwanzig Minuten.
Während die Kellnerin durch die Küchentür verschwand
und kurz danach die Tasse auf dem Tisch zwischen ihnen absetzte, tat Helga zunächst so, als hätte sie Carlas Frage in dem
allgemeinen Gemurmel nicht gehört und erkundigte sich, wie
es denn ihren beiden Kindern gehe. Carla griff das Thema sofort auf.
„Ach, sie sind in dem Alter, wo sie alle und jede Krankheit
aufschnappen, Windpocken, Ziegenpeter, Masern … Nur von
Keuchhusten sind wir bis jetzt verschont geblieben. Eckbert,
er ist mittlerweile drei Jahre alt, steckt sich bei Spielkameraden an, und Renate bleibt natürlich von nichts verschont. Dabei
ist sie ein eher zartes Kind, und für eine Zweijährige kann ja
manches gefährlich werden, was so ein zäher Bursche wie ihr
Bruder ohne weiteres verkraftet.”
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Carla zog die Stirn in Falten und lehnte sich dann, schelmisch grinsend, zu Lilo hinüber.
„Ist dir nichts aufgefallen, Helga? Schau dir unsere Lilo einmal genau an.”
„Bist du … bist du guter Hoffnung, ich meine, erwartest du
ein Kind?”, fragte Helga, und als Lilo lächelnd nickte, gratulierte sie ihr und wollte noch wissen, wann es denn so weit sein
würde.
„Habt ihr euch schon einen Namen überlegt?”, fügte sie
noch hinzu und beschloss gleichzeitig, Helmut Röding zu fragen, ob er damit einverstanden sei, ihren ersten Sohn … Fritz
zu nennen.
„Wir bleiben bei dem, was in unserer jeweiligen Familie
üblich ist”, erwiderte Lilo und blickte Helga aufmerksam an.
„Wird es ein Junge, so lassen wir ihn nach seinen beiden Großvätern taufen, Justus Eberhard; ein Mädchen würde Emilie
Clara heißen.”
Carla schwieg zunächst, meinte dann noch recht vernehmlich, sie hätten sich für etwas moderne Vornamen entschieden,
bevor sie kaum hörbar hinzufügte, aber da gebe es eindeutige
Grenzen. Mit der Nibelungensage hielten sie es nicht. Dann
rief sie mit Blicken die Kellnerin herbei, bezahlte für alle drei
und schüttelte den Kopf, als Helga aus ihrer Tasche ihren Geldbeutel hervorkramte.
„Du darfst dich aber gern revanchieren und uns im Zug
nach Bärwalde ein paar von den letzten Eckeseyer Köstlichkei-
ten anbieten. Ich gehe doch recht in der Annahme, dass du den
Maiden, die ihre Zimmer für uns räumen und im Schützenhaus
auf Stroh schlafen, eine Tüte Bonbons mitgebracht hast?”
Helga lächelte.
„Ja, Brigitte hat mir natürlich davon erzählt. Ihre kleine
Schwester Gisela legt doch zur Zeit ihr Maidenjahr ab und berichtet ihr alles brühwarm, bis in die kleinsten Einzelheiten.”
„Apropos Brigitte”, unterbrach Carla sie und eilte auf die
Ausgangstür des Restaurants zu, während Lilo etwas langsamer folgte. „Wann habt ihr euch zum letzten Mal gesehen?”„Auf ihrer Hochzeit im April 1937”, erwiderte Helga. „Wie
oft sie mir geschrieben oder auch fernmündlich versprochen
hat, dass sie mich in Westfalen besuchen würde, lässt sich nicht
einmal an zehn Fingern abzählen. Immer ist etwas dazwischen
gekommen, die Krankheit eines Familienmitglieds …”
Carla lachte auf.
„Sowohl bei den Albertylls als auch bei den Leskows verstehen sie darunter ja die ganze Sippe, bis hin zu Großtanten
und Vettern, die sich völlig unverständlicherweise in Bayern
niedergelassen haben.”
„Wie dem auch sei”, nahm Helga den Faden wieder auf und
half Lilo dabei die Stufen zum Abteil hoch. „Und ihr? Habt ihr
sie getroffen?”
Die Lokomotive stieß ein paar Dampfwolken in den blauen
Himmel, ein schriller Pfiff zerriss die Stille, und der kleine Zug
setzte sich stoßweise in Bewegung.
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„Na, wenn sich das Wetter nur hält”, meinte Carla und zog
die Stirn wieder kraus. „Da hinten sieht es ziemlich grau aus.
Aber zurück zum Thema: Lilo und ich haben vorhin schon begonnen, unsere Erinnerungen auszutauschen. Unsere Verbindungen zu den Mitmaiden sind hauptsächlich auf dem Postweg
aufrecht erhalten worden, genau wie deine. Zu Gabys Hochzeit
bin ich letztes Jahr gefahren, zu Lilos natürlich ebenfalls. Du
warst doch auch eingeladen – warum hast du abgesagt?”
Lilo kam Helga zuvor.
„Aber Carla, hast du denn vergessen, dass Helga eine richtiggehende Ausbildung zur Schwesternhelferin absolviert hat?
Da kann man nicht so einfach mal ein paar Tage fehlen und
mehr als halb Deutschland durchqueren.”
Helga nickte.
„Als Brigitte heiratete, hatte der Kurs noch nicht angefangen.”
Plötzlich schwiegen alle drei. Carla senkte den Kopf und
drehte an ihrem Ehering, Lilo faltete die Hände in ihrem Schoß.
„Bärbel hat sich auch angemeldet”, meinte Carla schließlich, verstummte noch einmal für einen Augenblick und sagte dann, Helga habe ihre Frage nach dem Schmuckstück noch
nicht beantwortet.
Womit sollte sie anfangen? Schließlich antwortete Helga,
demnächst werde Bärbel wohl die einzige Junggesellin in ihrem Kreise sein; ,Jungfer’, das klinge so altmodisch.
Lilo und Carla verstanden nicht sofort, was sie mit dieser
Feststellung zum Ausdruck bringen wollte, aber dann griff
Carla nach Helgas linker Hand.
„Nein” – Helga lächelte –, „zu einem Ring hat die Zeit nicht
gereicht. Wir sind uns erst am Donnerstagabend einig geworden, und wie ihr wisst, ging mein Zug nach Berlin am nächsten
Morgen ziemlich früh.”
„Und das hast du uns nicht gleich gesagt?”, brüllte Carla und tanzte ausgesprochen undamenhaft um Helga herum.
„Eine halbe Stunde lang hast du uns im Dunkeln gelassen! Da
erkundigt sich dieses Mädchen nach meinen Kindern, anstatt
gleich mit einer so interessanten Neuigkeit herauszurücken!”
Lilo blickte versonnen vor sich hin und versuchte mehrfach,
auch einmal zu Worte zu kommen. Schließlich fragte sie in eine
Atempause Carlas hinein, wer denn der Glückliche sei. Einen
guten Geschmack besitze er auf jeden Fall, denn sie vermute
doch wohl richtig, dass er Helga die wunderhübsche Brosche
verehrt habe.
„Brigitte kennt ihn”, hob Helga an, während sowohl Carla
als auch Lilo die Augen nicht von ihr ließen. „Genauer gesagt:
Wir haben uns sogar auf ihrer Hochzeit kennen gelernt. Helmut
Röding, so heißt er, war nämlich damals mein Tischherr. Eingeladen war er, weil er mit Hartmut, Brigittes Mann, gemeinsam studiert und eine Wohnung geteilt hat – in Berlin.”
„Aber die Hochzeit liegt doch mehr als zwei Jahre zurück”,
unterbrach Carla sie. „Es gibt ja durchaus Spätzünder …”
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Diesmal fiel ihr Lilo ins Wort. Sehr bestimmt bestand sie
darauf, Helga in Ruhe erzählen zu lassen.
„Wir hatten uns wirklich gut unterhalten”, fuhr Helga also
fort, „und mir zuliebe hatte er sogar seine Abneigung gegen
das Tanzen überwunden. Am nächsten Tag, beim allgemeinen
Aufbruch, tauschten wir dann unsere Adressen aus, und Herr
Röding – entschuldigt, aber ich muss mich erst noch daran gewöhnen, von ,meinem Verlobten’ oder einfach ,Helmut’ zu sprechen –, also … Helmut drückte mir immerzu fest beide Hände
und wiederholte mehrfach, er werde mir schreiben. Deswegen
war ich zuerst enttäuscht, als kein Brief eintraf, nicht einmal
eine Karte. Ich muss allerdings gestehen, dass mit der Zeit …”
Helga zögerte. Sie wusste nicht so recht, ob sie Alfred Barker und die Rolle, die er in ihrem Leben gespielt hatte, erwähnen sollte. Indessen nahm Carla ihr die Entscheidung ab.
„Aus den Augen, aus dem Sinn”, meinte sie. „Aber sag einmal: Auf die Idee, dass du ihm hättest schreiben können, bist du
wohl gar nicht gekommen?”
Lilo schüttelte den Kopf.
„Du kennst doch unsere Helga. So etwas entspricht ihrem
Wesen gar nicht. Ich selber ziehe es ebenfalls vor, dass der
Mann den ersten Schritt tut.”
„Ja, und dann haben wir uns Anfang Juni wiedergetroffen,
vor rund vierzehn Tagen erst. Meine große Schwester Luise
ist mit einem Mann verheiratet, der aus erster Ehe eine Tochter namens Christine hat. Diese Christine hat im Februar 1938
einen Hagener Fabrikanten geheiratet; Otto Brauckmann heißt
er. Brauckmanns wiederum haben am 3. Juni Freunde zu einer
Erdbeerbowle eingeladen, und unter den Gästen war Helmut
Röding, der gleichzeitig mit Otto seinen Militärdienst in Münster abgelegt hat.”
Carla starrte Helga mit halb geöffnetem Mund an.
„Plötzlich standet ihr euch also gegenüber. Ja, und dann?”
„Ich bin rot geworden”, murmelte Helga. „Helmut Röding
wusste auch nicht, wie er sich verhalten sollte. Er dachte nämlich, ich wolle ihm aus dem Weg gehen.”
„Warum denn das?”
Jetzt war sogar Lilo überrascht.
„Christine und ihr Mann konnten ja nicht ahnen, dass wir
uns schon einmal getroffen hatten und … ziemlich gut miteinander ausgekommen waren. Deshalb wunderten sie sich nicht
besonders über unsere Verlegenheit, und außerdem trafen mehrere Gäste gleichzeitig ein, sodass sie sich nicht weiter um uns
kümmerten. Helmut Rö… Helmut holte ein Glas Bowle für
mich, drehte seins so lange in der Hand herum, bis ich schon
versucht war, ihm zu sagen, bald wäre Erdbeersuppe daraus
geworden, und erkundigte sich schließlich, ob ich denn seine
Karte und vor allem seinen Brief nicht erhalten hätte. Als ich
verneinte, erklärte er, er habe mir aus Münster geschrieben und
viel später aus Sumatra. Nun gut, dass eine Postkarte vom anderen Ende der Welt verloren geht, das wollte ich ja noch glauben – aber ein Brief aus Münster in Westfalen? Trotzdem muss
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es so gewesen sein; nicht nur ein, sondern zwei Zufälle … Auf
jeden Fall hat Helmut seine ganze Überzeugungskunst anwenden müssen. Dabei ist er sonst eher zurückhaltend.”
Lilo fragte, was denn in dem Brief gestanden hätte.
„Das ist es ja!”, rief Helga. „Er wollte mich unbedingt wiedersehen und schlug vor, mich zu einem Konzert in Münster
einzuladen, mit Furtwängler als Dirigent und Wilhelm Kempff
am Flügel. Ihr erinnert euch doch sicher, wie oft ich euch von
Furt – so nannte ich ihn immer – vorgeschwärmt habe. Helmut
wollte mich in Hagen abholen und auch wieder nach Hause begleiten. Auf Brigittes Hochzeit hatten wir uns lange über Musik unterhalten und sogar ein wenig gestritten – Helmut spielt
nämlich Cello und macht regelmäßig Kammermusik, während
ich ja für Brahms und große Orchester schwärme, aber nicht
ausschließlich. Deshalb hatte er überhaupt nicht daran gezweifelt, dass ich begeistert zusagen würde, und auch schon zwei
Karten gekauft, ziemlich teure, damit wir auch wirklich gute
Plätze hätten. Bei Brauckmanns hat er mir gestanden, wie enttäuscht er war, als eine Woche verstrich und keine Antwort
eintraf. Anrufen wollte er nicht, weil er zu der Überzeugung
gelangt war, er hätte sich falsche Hoffnungen gemacht; natürlich hat er auch seinen Stolz. Auf den Gedanken, der Brief sei
verloren gegangen, ist er nicht gekommen. So häufig geschieht
das ja nicht – noch dazu bei einem so harmlosen Inhalt!”
„Was hat er denn mit der Eintrittskarte gemacht, die für dich
bestimmt war?”, wollte Carla wissen.
„Er hat Otto Brauckmann mitgenommen, der klassischer
Musik allerdings nicht viel Geschmack abgewinnen kann.”
Helga hatte den Eindruck, dass ihre beiden Mitfahrerinnen
ihren Gedanken nachhingen, doch dann meinte Lilo leise, ohne
diesem Otto zu nahe treten zu wollen, müsse sie doch sagen, da
habe man Perlen vor die Säue geworfen. Aber was es denn nun
mit der ebenfalls verloren gegangenen Postkarte aus Sumatra
auf sich habe?
„Da muss ich ein kleines bisschen weiter ausholen”, erwiderte Helga, rutschte einmal auf der Bank hin und her und
zog ihren Rock gerade. „Dass Helmut mit Hartmut von Les­
kow in Berlin studiert hat, erwähnte ich schon, nicht wahr?
Gleich nach seiner Diplomprüfung – er ist übrigens Ingenieur
mit Maschinenbau als Hauptfach – hat er seinen Militärdienst
abgeleistet und ist dann mit der Höchst, einem kombinierten
Fracht- und Personendampfer, als Schiffsingenieur zur Insulinde gefahren, in den Malaiischen Archipel, wenn euch das
mehr sagt. Sein Vater bestand nämlich darauf, dass er sich den
Wind um die Nase wehen ließ, bevor er im Betrieb eine leitende Stelle antrat. So ist Helmut nicht nur während des Studiums
in Amerika gewesen, sondern hat nach dem Examen praktische
Erfahrungen auf See erworben.”
Helga lachte, erhob sich und kramte mit einigen Verrenkungen mehrere Tüten Bonbons und eine flache Schachtel aus ihrem Köfferchen oben im Gepäcknetz zwischen den Kleidungsstücken hervor.
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„Diese haben mein Vater und mein großer Bruder Karl als
Sommerware entwickelt”, erläuterte sie und warf ein paar von
den weiß gewickelten Pfefferminzkaubonbons mit dem roten
Schriftzug auf den freien Platz an der Abteiltür. „Aber vielleicht zieht ihr ja diese vor – die altvertrauten Sahnekaramellen,
die wir schon seit ewigen Zeiten herstellen und die sich immer
noch hervorragend verkaufen. Lilo, du mochtest die Lakritztaler gern, oder? Seit seiner Geschäftsreise durch die Oststaaten
der USA trägt sich mein Vater übrigens mit dem Gedanken,
das Sortiment zu verkleinern, aber verwirklicht hat er seinen
Vorsatz bislang noch nicht. Jedes Mal, wenn er vorschlägt, dieses oder jenes Bonbon aus dem Angebot zu streichen, brüllt
jemand im Betrieb oder einer von den Reisenden, das könne er
doch nicht tun.”
Lilo griff nach einer der Geleefrüchte, die Helga mit wesentlich mehr Behutsamkeit vor ihnen aufgestellt hatte.
„Lakritz darf ich nicht essen. Mein Arzt vertritt die Ansicht,
während der Schwangerschaft solle man Salzhaltiges meiden,
und eure Negertaler gehören wohl dazu. Aber erzähl weiter.
Sonst erreichen wir Bärwalde, bevor wir genau Bescheid wissen, und von vier Uhr an wird’s ja aus sein mit dem gemütlichen Plaudern.”
„Wenn ich es richtig verstanden habe, hat Helmut auf der
Höchst eine ganze Menge gelernt”, fuhr Helga also fort und
nahm wieder Platz.
Sie lachte noch einmal.
„Und ich habe beim Zuhören etwas Wichtiges in Erfahrung
gebracht: dass er nämlich über einen ausgeprägten Sinn für
Humor verfügt. So erzählte er, immer noch an dem besagten
Erdbeerbowlenabend vor zwei Wochen, dass sie natürlich auch
in Stürme geraten seien. Da habe das Schiff so geschaukelt,
dass die Gäste am Kapitänstisch einer nach dem anderen aufgestanden seien und sich kreidebleich in ihre Kabinen gerettet
hätten. Die köstlichen Speisen, die der Koch für die Passagiere
zubereitet hatte, seien unberührt in die Kombüse zurückgetragen worden … wo die seefeste Besatzung alles leicht Verderbliche mit Genuss verzehrt habe, er selber natürlich auch.”
Lilo leckte den Zucker von einer weiteren Geleefrucht ab
und biss dann hinein.
„Auf jeden Fall hat er etwas von der Welt gesehen … Dass
auf dem Weg um die halbe Erde eine Postkarte verloren geht,
kann ich mir gut vorstellen. Etwas allzu Bedeutungsvolles wird
ja ohnehin nicht darauf gestanden haben, wo doch jeder bis hin
zum Postboten den Text lesen kann”, fügte sie noch hinzu.
„Richtig”, stimmte Carla eifrig zu. „Aber Helga hätte doch
das Lebenszeichen erhalten, auf das sie anfangs gewartet hat,
und außerdem hätte sie dann endlich eine Erklärung dafür erhalten, warum sich der junge Mann nicht meldete. Du dachtest
doch, er sei die ganze Zeit über im väterlichen Betrieb tätig
gewesen. Wie weit ist eigentlich sein Heimatort von Hagen
entfernt? Die Leskows …”
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„Nein, er wohnt nicht in Brandenburg – sonst hätte er vermutlich seinen Militärdienst … Kurzum, er stammt aus Menden im Kreis Iserlohn. Diese kleine Stadt liegt rund dreißig
Kilometer von Hagen entfernt.”
Carla klatschte in die Hände, Lilo schüttelte ungläubig den
Kopf, und Helga rechnete eigentlich damit, eine von beiden
werde jetzt Onkel Blankensteins Lieblingsspruch zitieren. Aber
Carla erkundigte sich nach einer Pause nur, ob Helmut Röding
schon bei ihren Eltern um ihre Hand angehalten habe, während
Lilo gleichzeitig wissen wollte, wie es denn nach der besagten
Erdbeerbowle weitergegangen sei. Helga gestand sich ein, dass
sie es sehr genoss, im Mittelpunkt zu stehen, und lächelte.
„Die Abendeinladung bei Brauckmanns hat sich bis in die
frühen Morgenstunden hingezogen. Meine Schwester Luise
und ihr Mann schlugen so gegen sechs vor, dass die Gäste, die
den Weg nach Hause noch nicht gefunden hatten, mit zu ihnen
zum Frühstück kämen – sie wohnen nämlich sozusagen um die
Ecke. Die Bäckereien hatten ja schon geöffnet, und so gab’s
frische Brötchen, einen ganz ordentlichen Kaffee und hausgemachte Marmelade …”
„Aber natürlich Margarine”, warf Carla ein wenig besserwisserisch ein, „bloß auf dem Lande bekommt man nach wie
vor Butter.”
Helga wollte zunächst erwidern, solchen Nebensächlichkeiten hätten weder sie noch Helmut Röding auch nur die geringste Bedeutung beigemessen, aber dann schluckte sie die Bemer-
kung herunter und berichtete, es sei furchtbar nett gewesen, und
sogar Luise habe durch ihre übliche spöttische Haltung immerhin eine Andeutung von Herzlichkeit hindurchscheinen lassen.
Dann habe Helmut Röding aber doch aufbrechen müssen – die
Arbeit rufe sogar den Sohn des Chefs, habe er gemurmelt und
dabei eine alberne Art von Heiterkeit erregt, denn nüchtern sei
natürlich keiner von ihnen gewesen; selbst der starke Kaffee
habe da nicht vollständig Abhilfe schaffen können. Er habe sie
in seinem Wagen bis vor die Haustür gefahren und ihr beim
Abschied erklärt, leider müsse er für ein paar Tage nach Thüringen fahren, wo sie in einem kleinen Ort namens Immelborn
einen Zweigbetrieb besäßen. Aber gleich nach seiner Rückkehr
wolle er ihren Eltern einen Besuch abstatten, wenn das in ihrem Sinne sei.
Lilo und Carla, das spürte Helga deutlich, hingen an ihren
Lippen.
„Und dann?”, fragten beide gleichzeitig.
Helga erinnerte sich, wie verwirrt sie gewesen war, hin- und
hergerissen eigentlich zwischen Zustimmung und Unsicherheit, Gedanken an Alfred und andererseits dem Gefühl, Helmut
Röding entspreche dem Bild, das Ida irgendwann einmal von
dem Mann entworfen hatte, der ihrer Meinung nach am besten
zu Helga passen würde: gescheit, humorvoll und tatkräftig, halt
jemand, der Entscheidungen zu treffen vermochte.
„Nun ja”, meinte sie etwas verlegen, „den Rest könnt ihr
euch doch denken. Sonst hätte er mir doch am Donnerstag-
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abend die Brosche nicht geschenkt, als Vorschuss auf den Verlobungsring, wie er das selbst nannte.”
„Meine Frage ist damit aber noch nicht beantwortet”, sagte
Carla. „Hat er nun bei deinen Eltern um deine Hand angehalten?”
„Offiziell noch nicht”, erwiderte Helga, „vom zeitlichen
Ablauf war das nicht möglich. Er hat ihnen jedoch einen Besuch abgestattet, mit Voranmeldung, Visitenkarte und so weiter. Noch von Thüringen aus hat er meinen Vater angerufen,
und am 11. Juni ist er dann erschienen. Mir war fast schlecht
vor Aufregung. Wenn man so eine Situation zum ersten Mal
erlebt … Jedenfalls ist alles gut abgelaufen, und meine Eltern
schienen ganz angetan von Helmut zu sein. Direkte Fragen haben sie eigentlich nicht gestellt. Ich habe mich sogar ein bisschen darüber gewundert, wie geschickt sie herausbekommen
haben, dass er evangelisch ist – das ist ihnen nämlich ausgesprochen wichtig.”
Helga verzog das Gesicht zu einem Grinsen.
„Mein Vater fing so an: Menden liege doch im ehemaligen
Erzbistum Köln. Damit unterstellte er natürlich, alle Leute dort
seien katholisch. Das durchschaute Helmut aber sofort, wie er
mir am nächsten Tag verschmitzt erklärte, denn er hielt genau
die richtige Antwort parat: dass sein Vater aus Iserlohn zugewandert sei; die Stadt gehöre zur evangelischen Grafschaft
Mark. Seine Familie habe den Betrieb in Menden gegründet,
weil dort hinreichend viele Arbeitskräfte vorhanden seien.”
„Da hast du Glück gehabt”, sagte Lilo langsam und nickte. „Hat Gaby dir geschrieben, Helga, was sie durchmachen
musste, bevor sie ihren Herbert ehelichen durfte? Von ,dürfen’
konnte ja eigentlich keine Rede sein, nicht wahr, Carla? Bis
zum letzten Augenblick haben sich ihre Eltern gegen die Heirat gesträubt, und erst, als Gaby und Herbert sich schon vor
dem Standesbeamten das Ja-Wort gaben, öffnete sich die Tür
des Saales im Rathaus einen Spaltbreit, um wenigstens Gabys Mutter durchzulassen. Auf eine kirchliche Hochzeit haben
sie ganz verzichtet, zum absoluten Entsetzen auch der Eltern
des Bräutigams. Die Feier war dann aber trotzdem ein voller
Erfolg, unter anderem, weil wir Altmaiden tüchtig zum Programm beigetragen haben. So ein Zirkus! Falls sie ihre Kinder
taufen lassen, geht wahrscheinlich alles von vorne los!”
Die Frage hatten Franz und Else Dennersmann sich nicht
gestellt – Sophie, Karls ursprünglich katholische Frau, hatte
deren Tochter Gudrun, die jetzt zwei Jahre alt sein musste, über
das Taufbecken einer evangelischen Kirche in Essen gehalten.
Bei Franzens Schwester, ihrer ehemaligen Klassenkameradin
Herta, war die Entscheidung dagegen ausgefallen, nach Aussage der Großmutter Marga deshalb, weil Pfarrer Ackermann
in den Ruhestand getreten war und das junge Ehepaar Albers
mit dem Hilfsprediger nichts anfangen konnte, wie Herta ihr
kürzlich versichert hatte. Johann Albers spielte allerdings inzwischen als Luftschutzhauswart in der Ortsabteilung der Partei eine gewisse Rolle, und vielleicht …
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Helga schaute aus dem Fenster und beugte sich vor, um die
restlichen Bonbons von dem freien Sitzplatz wieder einzusammeln.
„Wenn mich nicht alles täuscht, sind wir bald da. Kommt
euch dieses Wäldchen nicht auch bekannt vor?”, fragte sie, hörte aber bei der Antwort gar nicht zu. Ihre Gedanken wanderten
hin und her zwischen Brigitte, der sie in nicht allzu langer Zeit
gegenüber stehen würde, und dem Vortrag im Frauenwerk, zu
dem sie sich zwei Tage nach dem Wiedersehen mit Helmut
Röding pflichtbewusst, wenn auch immer noch etwas unausgeschlafen, hinbegeben hatte. Ausgerechnet um das ,britische
Weltreich und sein Gefüge’ war es da gegangen, und sie hatte
sich bemüht, meist erfolglos übrigens, dem Vortrag Aufmerksamkeit zu schenken – immer wieder, wenn von London die
Rede war oder das Wort ,England’ fiel, hatte sie Alfreds Gesicht
vor sich gesehen und sein Lachen vernommen. Zu allem Überfluss war ihr Blick nach ihrer Rückkehr in die Schillerstraße
auch noch an dem Becher haften geblieben – Rosemary sprach
immer von mug –, den Alfred ihr bei einem Besuch in Hagen
mitgebracht hatte, einem Andenken von der Krönung Georgs
VI. im Mai 1937. Sogar Ida, die noch einmal aus ihrer Kammer
in die Küche hinabgestiegen war, weil sie ein Geräusch gehört hatte und Helgas Eltern bei dem Ehepaar Herberts senior
eingeladen waren, war aufgefallen, dass etwas geschehen sein
musste. Nach anfänglichem Zögern hatte sie Ida von dem überraschenden Wiedersehen mit dem jungen Mann erzählt, der auf
der Hochzeit ihrer Freundin Brigitte in der Mark Brandenburg
ihr Tischherr gewesen war. Ida hatte zunächst nur genickt, vor
sich hin gebrummt und dann verständlicher geäußert, das würde die Sache ja vereinfachen. Helga hatte sofort verstanden,
was Ida damit sagen wollte, zumal sie mehrfach hatte durchblicken lassen, es sei für sie nicht schön, mit all diesen Engländern – damit meinte sie Rosemary und Alfred – nicht so richtig
reden zu können, selbst wenn die sich ein Bein ausrissen und
auf Deutsch radebrechten. Ida hatte, beruhigt, dass sie nicht
auf einen Einbrecher gestoßen war, den Weg nach oben wieder angetreten und beim Verlassen der Küche etwas von Paule
Beckmann und ihrem Opa gemurmelt, die das ja nun alles nicht
mehr miterleben würden.
Seit dem Tode ihres Großvater schien es Ida noch schwerer
als früher zu fallen, ihre Füße zu heben. Ob sie tatsächlich ein
ganzes Jahr lang Trauer tragen würde, überlegte Helga, oder
ob sie wenigstens zu ihrer Hochzeit … Nur das Päulchen, mittlerweile ein richtiger Paul und elf Jahre alt wie ihr Neffe Otto,
vermochte ein Lächeln auf Idas Gesicht zu zaubern. Ihren Äußerungen war zu entnehmen, dass sie sich in ihrem Kopf eine
Erklärung dafür zurecht gelegt hatte, was der uralte Mann mit
seinem Pferdegespann am 9. November ausgerechnet in der
Potthofstraße zu suchen – oder besser: wen er gesucht – hatte,
seinen Enkel Erich nämlich, um wie immer zu verhindern, ihn
in das verwickelt zu sehen, was ihr Opa in dem Satz Dat cheit
nich lang chut zusammenzufassen pflegte. Sie lastete den Un-
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fall deshalb Erich an und ging ihm sogar bei Besuchen auf dem
Bauernhof nach Möglichkeit aus dem Weg. Dabei war Erich
ihr einziger …
„Wir sind da!”
Helga schrak ein wenig zusammen. In der Tat hatte der Zug
seine Fahrt verlangsamt; Carla war auf die Bank gestiegen und
wartete offensichtlich darauf, dass Helga ihr die drei kleinen
Koffer abnahm.
„Wie weit weiß Brigitte eigentlich Bescheid?”, erkundigte
sie sich und grinste von einem Ohr zum anderen. „Da sie deine
Busenfreundin ist, vermute ich einmal, dass wir sie kaum überraschen können?”
Während sie einen Blick in den kleinen Spiegel oberhalb
der Sitze warf und ihren Hut zurechtrückte, erwiderte Helga,
Brigitte sei keinesfalls auf dem Laufenden. Sie habe zwar in
einem Brief auf Helmut Röding angespielt – natürlich, sie entsann sich genau: In dem dicken Umschlag mit den Hochzeitsfotos hatte er gesteckt – und außerdem darauf hingewiesen,
dass Helga ja ihren Brautstrauß gefangen habe, aber im Weiteren hatte sie eigentlich immer nur berichtet, wie sie und Hartmut nach und nach auf dem Leskow’schen Gut Fuß fassten. In
der letzten Zeit – das behielt Helga indessen für sich – hatte
sie jedes Mal durchblicken lassen, wie sehr sie sich ein Kind
wünschte; sie ziehe sogar in Erwägung, eine Kur in einem von
diesen Bädern im Sudetenland zu machen.
Carla trippelte ungeduldig auf der Stelle, Lilo lächelte vor
sich hin.
„Vielleicht holt sie uns ja ab mit ihrem Wagen”, meinte Carla. „Ich habe ihr unsere Ankunftszeit fernmündlich durchgegeben. Sie hat ihre Zusage allerdings davon abhängig gemacht,
wie gut sie durchkommt. Für Lilo wäre es bestimmt angenehm
…”
„Nun übertreib mal nicht”, wandte Lilo ein. „Erstens bin ich
erst im fünften Monat schwanger, und zweitens haben sie vom
Luisenhof doch sicher jemanden geschickt, der wie früher das
Gepäck auf seinem Karren bis vor die Haustür befördert. Noch
regnet es ja nicht, obwohl … und es wird mir ausgesprochen
gut tun, ein wenig zu Fuß zu gehen. Ob es noch immer nach
Kiefernnadel und Landwirtschaft riecht? Ihr dürft nicht vergessen, dass ich seit Jahren in einer Großstadt wohne.”
Helga stimmte Lilo zu und meinte lachend, ein wohlwollender Mensch habe im Zusammenhang mit dem Hagener Stadtteil Eckesey von ,trostloser Hässlichkeit’ gesprochen – ob sie
als Stuttgarterin da mithalten könne?
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All die Frauen, die mit Helga gemeinsam in Küstrin umgestiegen waren, sowie noch einige weitere Reisende weiblichen
Geschlechts ergossen sich aus den Abteilen auf den Bahnsteig,
blieben in kleinen Gruppen stehen und schauten sich suchend
um. In der Tat erboten sich mehrere kurz behoste Jungen, die
Koffer zum Luisenhof zu transportieren, und so bewegte sich
bald ein Zug überwiegend hell gekleideter, sich mehr oder
minder lebhaft unterhaltender Damen die Landstraße entlang
auf den Luisenhof zu. Carla war mit einem Freudenschrei auf
Frieke, Mieze und Gaby zugestürmt, die den Zug nach Bärwalde beim Umsteigen in Küstrin fast verpasst hatten deshalb in
ein Abteil mit Altmaiden eines anderen Jahrganges geklettert
waren. Zu sechst, mit schwingenden Handtaschen, gingen sie
nebeneinander her, musterten sich immer wieder von der Seite
und redeten häufig alle durcheinander. Bärbel und Anneliese
kämen zusammen mit dem Wagen, teilte Gaby ihnen mit und
gesellte sich dann zu Helga, die noch einmal ihrem Bedauern
darüber zum Ausdruck brachte, dass sie nicht an Gabys Hochzeit hatte teilnehmen können. Kurz darauf waren sie in eine
Unterhaltung über standesamtliche Trauungen vertieft. Wenn
Helga Gaby richtig verstanden hatte, musste man der Partei
beitreten, bevor das Aufgebot ausgehängt wurde. Aber vielleicht hatte sie sich auch verhört, denn Carla brüllte auf einmal,
man sehe ja das Haus vor lauter Bäumen nicht mehr, und alle
wandten ihre Aufmerksamkeit dem zu, was sich da vor ihren
Augen abzeichnete.
In der Tat waren die Kastanien entlang der Auffahrt ein gutes Stück in die Höhe geschossen. Die weitausladenden Äste
verdeckten alles bis auf die Bögen der Eingangsterrasse und die
drei hohen Fenster des mittleren Gebäudes, das sich hell von
den Schieferziegeln des Daches abhob. Rechts und links davon
blinkten die Scheiben der Maidenzimmer in der Sonne, und das
Rot von Geranien leuchtete durch die Blätter. Ein hellblau gekleidetes Mädchen mit steif gestärkter weißer Schürze lief ihnen entgegen und wies sie ziemlich aufgeregt darauf hin, dass
die offizielle Begrüßung erst in einer halben Stunde stattfinden
würde, bat sie jedoch ins Haus, wo einige weitere Jungmaiden
ihre Köpfe über eine Liste beugten, darauf nach den Namen
suchten, die ihnen genannt worden waren, und dann mit den
Gästen in einem der Flure verschwanden. Helga winkte Carla,
Lilo und Gaby zu, bevor sie selber die Tür hinter sich schloss.
Sie würde ja, genau wie früher, mit Brigitte ein Zimmer teilen.
Wie still es in diesem Raum war! Vom Hof und vom Flur
drangen die Geräusche nur gedämpft herein: Schritte, Stimmen, Gelächter auch; wenn sie die Ohren spitzte, vermochte
sie Hühner gackern, Kühe muhen zu hören, und genau wie früher wurde irgendwo gesungen, Freude, schöner Götterfunken
– da probte gewiss der Chor für die Feier am morgigen Sonntag. Gisela, Brigittes jüngste Schwester, hatte versprochen, ihnen nachher Einzelheiten des Programms zu verraten. Rasch
packte Helga das aus ihrem Koffer aus, was sie hier brauchen
würde, füllte Wasser aus dem Krug in die Waschschüssel und
säuberte sich vom Staub der Landstraße, bürstete ihr ohrlang
geschnittenes, leicht gewelltes Haar und setzte den kleinen Hut
wieder auf, wischte auch ihre Schuhe blank und trat dann ans
Fenster.
Jemand klopfte ziemlich forsch, öffnete die Tür einen Spalt
breit.
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„Danke, hier ist’s richtig”, vernahm Helga, und da standen
auch schon Anneliese und Bärbel vor ihr.
„Wie geht’s, wie steht’s? Wir sind bereits vor einer Stunde
eingetroffen. Eigentlich hätten wir ja brav warten sollen, aber
dank unserer Beziehungen – du weißt ja, Gisela von Albertyll –
haben sie uns schon reingelassen. Nur bestehen sie darauf, dass
wir uns gleich in die offizielle Autoparade einreihen. Geparkt
wird übrigens auf unserem alten Wäschebleichplatz. Erinnerst
du dich, wie oft wir da die fast trockenen Laken vor dem Regen
gerettet haben? Da, wo ich jetzt wohne, ist es allerdings mit
dem Bleichen nichts – was bei uns so alles an Russ in der Luft
herumtreibt …”
Helga war Anneliese eigentlich dankbar dafür, dass sie so
pausenlos redete und damit auch ihre Verlegenheit überspielte. Bärbel hingegen hatte sich mit verschränkten Armen an die
Wand gleich neben der Tür gelehnt und lächelte nur. Irgendwie, fand Helga, sah sie streng aus, ein wenig wie Fräulein
van Semmern, obwohl sie nicht dunkler gekleidet war als die
anderen.
„Komm mit”, meinte Anneliese. „Wir gehen besser hinten
raus, denn unten bauen sich die Honoratioren schon auf. Fräulein von Bescherer hat eine strategische Position links auf der
obersten Stufe der Treppe zur Terrasse bezogen. Willst du mit
uns im Wagen fahren oder reihst du dich lieber in die Warteschlange der Infanteristen ein?”
Helga lachte vergnügt, wurde dann aber nachdenklich und
ging mit den beiden den blitzblank gebohnerten Flur hinunter.
„Ich versuche gerade herauszufinden, ob ich in den Jahren
zwischen der Abschlussfeier 1934 und heute einer Frau einen
Handkuss gegeben habe”, sagte sie mit gekrauster Stirn.
Bärbel blickte sie von der Seite an, schwieg aber, während
Anneliese kurz stehen blieb.
„Ach natürlich, das hab ich ja ganz vergessen! Gut, dass du
mich daran erinnerst. Wird gemacht, gnä’ Frau! Also: Wie ist’s
mit meiner Staatskutsche?”
Helga schüttelte den Kopf.
„Bis gleich dann”, rief Anneliese und strebte schon mit Bärbel dem Wäschebleichplatz zu.
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Als Helga um das Gebäude herumgegangen war und die
Auffahrt wieder überblicken konnte, rollten gerade die ersten
Wagen durch ein Spalier von Maiden auf die Terrasse zu, bevor
sie dann abbogen. Auf der Treppe hatte sich bereits eine Ansammlung von Frauen gebildet, aus der sich jeweils eine löste
und zumeist vor der Dame in der Mitte in einen Hofknicks versank. Helga blieb jedoch ein wenig abseits stehen und suchte
in den Grüppchen, die sich vom Parkplatz her auf die Terrasse
zubewegten, nach Brigitte. Genau in dem Augenblick, als sie
ihre Freundin entdeckt hatte, traten Gaby, Carla und Lilo von
hinten an sie heran, und zu viert rannten sie, unbeachtet ihrer
Absätze, Brigitte entgegen.
Sie fielen sich in die Arme und redeten alle durcheinander.
Dann bewegten sie sich auf die Treppe zu und reihten sich in
die Schlange ein, die sich langsam zur obersten Stufe zog. Ihre
alte Oberin wechselte mit jeder Altmaid ein paar Worte. Helga
fragte sich, ob sich Fräulein von Bescherer wirklich an jede
von ihnen erinnerte, aber da stand sie ihr auch schon gegenüber, machte einen Hofknicks, streifte die runzlige Hand mit
den Lippen und murmelte ihren Namen.
„Die Süßwarenfabrikantentochter aus Westfalen”, hörte sie,
„eifrig, ehrlich, ernst, nicht wahr, Helga?”
Von hinten drängten die Wartenden, Helga tauschte ein Lächeln mit der Dame im bodenlangen, dezent gemusterten Kleid
und überließ ihren Platz Brigitte, bevor sie sich kurz darauf
in einer Ecke der Terrasse zusammenfanden und Gisela von
Albertyll zu ihnen herantrat, um sie zu einem ,fliegenden Tee’
zu bitten.
„Fliegender Tee”, lachte Gaby, „ich hatte vergessen, dass
man ,Selbstbedienung’ hier so nennt.”
Mit Tassen in der einen Hand und einem Stück Gebäck in
der anderen suchten sie ein ruhige Ecke, als Carla sich vor Brigitte aufbaute.
„Nun rat mal, was es Neues gibt!”, sagte sie so laut, dass
sich einige der Altmaiden anderer Jahrgänge umdrehten und
Lilo eine beschwichtigende Geste machte.
Brigitte ließ ihre Augen von einer zur anderen wandern.
„Bärbel hat eine feste Anstellung erhalten”, meinte sie zuerst.
Bärbel, die ihr genau gegenüber stand, nickte und deutete
ein Lächeln an.
„Seit Anfang des Schuljahres unterrichte ich in der Landfrauenschule Wittgenstein, mit Hauptfach Geflügelzucht.”
Die anderen beeilten sich, ihr zu gratulieren, aber Carla
wandte sich Brigitte wieder zu.
„Noch etwas.”
Helga, die unmittelbar neben ihrer Freundin stand, fühlte
deren Blicke auf sich ruhen.
„Sie hat sich vorgestern verlobt”, platzte Carla heraus. „Mit
wem wohl?”
Brigitte dachte nach. Dann hellte sich ihr Gesicht auf.
„Mit … mit Helmut Röding?”
„Du bist doch wirklich ein schlaues Kind”, meinte Carla
zufrieden. „Wie hast du das rausbekommen?”
In diesem Augenblick übertönte die energische Stimme
von Fräulein van Semmern die allgemeine Unterhaltung. Entdecken konnte Helga sie nicht, aber ihre Ansage war nicht
zu überhören. Auch sie wolle es nicht versäumen, alle Gäste
herzlich willkommen zu heißen und sie dazu anzuhalten, sich
ordentlich für das Programm zu stärken, das für diesen Samstag angesetzt sei: gleich anschließend die Besichtigung des
Luisenhofs – insbesondere die älteren Jahrgänge sollten sich
da auf mannigfaltige Veränderungen gefasst machen –, später
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das gemeinsame Abendessen mit ein paar musischen Einlagen,
vorbereitet von zwei Ehemaligen sowie den Jungmaiden, und
dann natürlich Bettruhe; der morgige Tag werde so gut ausgefüllt sein, dass es nicht schaden könne, die Lichter ziemlich
früh zu löschen.
Brigitte und Helga sahen sich an.
„Dann möchte ich aber doch vorher rasch mein Gepäck aufs
Zimmer bringen”, meinte Brigitte, „und eine Katzenwäsche
könnte auch nicht schaden.”
Carla grinste.
„Nun geht schon; wir haben verstanden. Außerdem brauchen Lilo und ich dann die ganze Geschichte nicht noch einmal
…”
Das Stimmengewirr wurde zu Gemurmel, während die beiden Freundinnen sich in ihr gemeinsames Zimmer begaben.
„Stimmt es wirklich”, fragte Helga und schloss die Tür hinter sich, „dass die Jungmaiden auf Stroh schlafen und sich in
der Waschküche und im Plättraum ankleiden müssen, unseretwegen?”
Brigitte nickte.
„Meine Schwester findet das aber gar nicht schlimm. Sie
hat mir gleich bei meiner Ankunft begeistert erzählt, wie viel
Spaß sie heute Nacht gehabt haben. Übrigens ist dies ihr Zimmer; sie teilt es mit einem Mädchen namens Irmgard aus dem
Hannoverschen.”
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Helga fiel ihr fast ins Wort.
„Wie bist du denn gleich darauf gekommen, dass es sich um
Helmut Röding handelt? Du hättest doch genau so gut auf …
auf Alfred Barker tippen können. Wenn ich’s mir recht überlege, müssen meine Briefe voll von ihm gewesen sein. Er ist ja
auch wirklich …”
Sie hielt inne und wandte sich Brigitte zu.
„Ich bin so froh, dass du da bist! Du musst mir einfach helfen. Zum Schluss ist alles ja so schnell gegangen, ich meine,
zwischen dem 3. Juni und vorgestern, und jetzt weiß ich einfach nicht, wie ich Alfred mitteilen soll, dass ich…”
Brigitte trocknete sich die Hände ab und lächelte Helga an.
„Lass mir ein wenig Zeit, ja? Zwei Köpfe finden mehr als
einer. Uns wird schon etwas einfallen.”
Dann überzog ein breites Grinsen ihr Gesicht.
„Um an Helmut Röding zu denken, brauchte ich in diesem
ganz besonderen Fall weder Sherlock Holmes zu sein noch
über hellseherische Kräfte zu verfügen. Du hast ihm doch am
14., bei eurem ersten Abendessen zu zweit, erzählt, dass du in
die Neumark fährst und mich dort treffen wirst, nicht wahr?
Am nächsten Morgen in aller Herrgottsfrühe klingelte bei uns
das Telefon, und Hartmut hat mir beim Frühstück berichtet, da
stünde eine Verlobung ins Haus. Natürlich haben wir uns gefreut und waren sogar ein bisschen stolz: Immerhin seid ihr
euch ja auf unserer Hochzeit zum ersten Mal begegnet.”
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Brigitte hatte sich mittlerweile frisiert und schien zu überlegen, ob sie ihr Hütchen wieder aufsetzen sollte.
„Übrigens habe ich nicht ganz verstanden, weshalb Hartmut
deine Schwester Luise erwähnte. Er brachte nämlich vor Lachen keinen anständigen Satz mehr heraus, und ich wollte nicht
warten, bis er sich wieder fing; es gab ja so viel zu erledigen
vor meiner Abfahrt!”
Helga überlegte kurz.
„Ich glaube zu wissen, was da so komisch war. Ziemlich
spät, es war so gegen halb elf, haben wir noch bei Rellinghausens vorbeigeschaut. Das hatte meine Schwester selbst vorgeschlagen, als ich ihr erzählte, ich sei von Helmut auf die Hohensyburg zum Essen eingeladen worden. Sie hat sogar eine
Flasche Sekt mit uns geleert. Ja, und als ich sie daran erinnerte,
dass ich am übernächsten Morgen nach einer Stippvisite bei
ihren Berliner Freunden nach Bärwalde führe, kicherte sie und
meinte, dagegen habe sie gar nichts, denn es schmeichle ihrer
Eitelkeit sehr, dass eine richtige Landfrauenschule nach ihr benannt sei.”
„Ach so”, meinte Brigitte mit einem Anklang von Spott in
der Stimme. „Wie ich dich kenne, wirst du das gleich richtiggestellt haben … ein kleiner Hinweis auf die Preußenkönigin
Luise, oder etwa nicht?”
Helga schüttelte ein wenig empört den Kopf und wollte
noch hinzufügen, zum Abschied habe Luise dann auf Helmut
gezeigt und betont deutlich ,deshalb’ gesagt; auf die Weise sei
ihr selber endlich klar geworden, warum Luise seit der Erdbeerbowle nicht mehr versucht habe, ihren Eltern die Zustimmung zu einer Ehe mit Alfred Barker abzuringen. Doch erkundigte sich Brigitte sofort übergangslos, ob sie denn Helmuts
Familie schon einen Besuch abgestattet habe.
„Nein, das steht mir noch bevor, und ich muss ehrlich sagen,
dass mir allein schon bei dem Gedanken ein wenig schwummerig zumute ist. Helmut hat mir seine Eltern geschildert, und
wenn er auch keine Aufnahmen mitgebracht hatte, so kann
ich sie mir doch einigermaßen gut vorstellen. Sein Vater heißt
Gustav Adolf, nach dem Schwedenkönig, seine Mutter Emilie.
Aus Helmuts Worten schließe ich, dass es bei Rödings sehr
viel förmlicher zugeht als bei uns. Sie haben nicht nur mehrere
Dienstmädchen, sondern auch einen Gärtner. Außerdem wohnen eine verwitwete und eine unverheiratete Schwester des
Vaters bei ihnen. Das Haus – Helmut spricht immer von der
Villa – muss riesig sein, und es liegt an der Röding-Allee. Um
ehrlich zu sein, macht mir das Angst – ich meine, sogar eine
Straße ist nach der Familie benannt.”
Brigitte hatte inzwischen das Fenster geöffnet und wandte
sich zu Helga um.
„Lass uns gehen. Unten sammeln sich die anderen schon
zur Führung, und ich bin wirklich gespannt darauf, was sich
da so alles verändert hat. Gisela deutete Weihnachten an, sie
hätten jetzt drei Pferde und sechshundert Legehennen. Stell dir
vor: sechshundert!”
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Dabei zog sie Helga auf den Flur und meinte nur noch leise,
ihr sei vor Lampenfieber fast schlecht geworden, als Hartmut
von Leskow sie zum ersten Mal mit auf den Gutshof seiner
Familie genommen und bei seinen Eltern eingeführt habe, aber
letztlich sei es so schlimm doch nicht gewesen, und man müsse
einfach durch.
„Im Übrigen”, fügte sie hinzu, drehte sich halb zu Helga hin
und grinste, „sind die Männer viel schlechter dran: Es obliegt
ihnen doch, um die Hand ihrer Angebeteten anzuhalten. Als
Frau braucht man nur zu antworten, wobei ich zu der Überzeugung gelangt bin, dass es einfacher ist, Ja zu sagen als Nein.”
Sie lachten beide und schlossen sich der kleinen Gruppe an,
die sich um Carla gebildet hatte. Gerade bekamen sie noch mit,
wie Gisela den Altmaiden erklärte, im Haus sei ein richtiger
Geburtstagstisch für den Luisenhof aufgebaut worden, worauf
Carla zufrieden nickte. Sie hatte es ja in die Hand genommen,
bei den Schülerinnen des Jahrgangs 33/34 das Geld für die
Schüsseln und Soßengießer aus Chromargan einzusammeln,
die im Rahmen des Festakts am Sonntag überreicht werden
würden.
„Ihr habt euch wirklich viel Mühe gegeben”, meinte sie
noch anerkennend, als sich der Zug in Bewegung setzte. „Besonders die Girlande aus Kornblumen im Treppenhaus gefällt
mir sehr.”
Obwohl Helgas Gedanken immer wieder einmal zu den
Geschehnissen am Donnerstagabend abwanderten und sie sich
vornahm, Brigitte – vielleicht auch Lilo und Carla – später daran teilhaben zu lassen, entging ihr kaum etwas von dem, was
vorn an Erklärungen abgegeben wurde. Zwei Zuchtsauen seien
angeschafft worden, und sie betreuten auf dem nach den neusten Erkenntnissen der Wissenschaft eingerichteten Geflügelhof
in der Tat sechshundert Legehennen. Auch in der Haltung von
Gänsen und Enten würden die Schülerinnen unterwiesen. Was
den Gartenbau betreffe, so erteile eine Inspektorin den einschlägigen Unterricht: Die Maiden lernten unter anderem, in
zwei Gewächshäusern und hundert Frühbeeten Setzlinge heranzuziehen und später im Freien anzupflanzen. Die so erworbenen Kenntnisse wendeten sie auf dem Wirtschaftshof an, wo
es sieben Kühe zu melken gelte. Ja, Käse werde nach wie vor
auf dem Luisenhof hergestellt, und nicht nur das – auch Butter
produzierten sie in der Lehrmolkerei und in der Imkerei gleich
den dazu passenden Honig. Die Nähstube sowie die Waschküche und der Plättraum seien ihnen allen ja bekannt.
Helga seufzte.
„Das Zuschneiden von Wäsche und Kleidung ging ja noch.
Für mein Patenkind habe ich damals ein niedliches Hängerchen mit Applikationen zu Weihnachten angefertigt, aus dem
sie jetzt natürlich längst herausgewachsen ist. Aber Stopfen
und Flicken – das mochte ich wirklich nicht besonders.”
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Während sowohl Carla als auch Brigitte zustimmend nickten, bekam Helga gerade noch mit, dass sich für die älteren
Jahrgänge ein aufmerksamer Blick in die Weberei lohne, wo
unter anderem Trachtenstoffe entstünden. Solch eine Werkstatt
habe es ja zu ihrer Zeit noch nicht gegeben.
„Gesponnen wird übrigens auch”, erklärte die Führerin, und
alle brachen in Lachen aus.
Carla stieß Helga an und meinte leise, wenn sie ganz ehrlich
sein solle, so finde sie, das gehe ein wenig zu weit; dermaßen
autark brauche man nun doch nicht zu sein, oder?
„Im Übrigen vertreten wir jetzt den Standpunkt, alle Arbeiten sollten mit möglichst wenig Kraftaufwand verrichtet werden, weil es ja nun wirklich genug zu tun gibt, nicht nur auf
einem Bauernhof, sondern auch in einem normalen Haushalt,
wo längst nicht mehr jede von uns über eine Hilfe verfügt. Das
bedeutet: Was sich sitzend erledigen lässt, erledige ich nicht
stehend – Bügeln zum Beispiel, Gemüse Zubereiten und Kochen. Gestatten Sie mir den Hinweis, dass Letzteres seit längerem auf Kohle-, Gas- und Elektroherden gelehrt wird.”
Die Altmaiden bewegten sich in Gruppen von einem Raum
zum anderen und standen schließlich wieder vor dem Hauptgebäude.
„Findet der theoretische Unterricht bei schönem Wetter wie
früher im Garten statt?”, erkundigte sich Lilo bei Gisela, während Helga sie gleichzeitig fragte, ob sie immer noch das gleiche Lehrbuch für Psychologie verwendeten. Brigittes Schwes-
ter nickte zunächst und wies auf eine Sitzgruppe, von der nur
zwei Stühle nicht hinter einer Hecke verborgen waren, und
wandte sich dann etwas ratlos Helga zu, bevor sie den Kopf
schüttelte und erwiderte, das Fach werde nicht mehr angeboten; dafür stünden jedoch Rassenkunde, Erbgesundheitspflege
und Vererbungslehre auf dem Programm. Ob sie die entsprechenden Textsammlungen einmal sehen wolle? Helga lehnte
mit dem Hinweis auf ihre Ausbildung zur Schwesternhelferin
ab und lächelte Gisela zu, als ob sie sich entschuldigen müsste.
Daraufhin erwiderte das junge Mädchen lebhaft, Kranken- und
Säuglingspflege stünden übrigens auch auf ihrem Lehrplan,
gesellte sich aber zu den anderen Jungmaiden, als ihre große
Schwester auftauchte und Helga am Arm ein wenig beiseite
zog.
„Mir ist eingefallen, dass Hartmut und ich Helmut Rödings
Schwester einmal in Berlin getroffen haben, genauer gesagt:
in Potsdam. Sie ist mit einem Architekten verheiratet, einem
Regierungsbaurat namens Osdorp oder so ähnlich, der ziemlich schöne Häuser entwirft. Irgendwoher kennen sie Wilhelm
Kempff, der jedes Mal bei ihnen wohnt, wenn er in der Gegend
ein Konzert gibt, und da wir beide ihn sehr verehren, hat Helmut uns im Anschluss an einen Beethovenabend einfach in seinen Wagen geladen und bei seinen Verwandten eingeschleust.
Nach anfänglicher Überraschung waren sie ausgesprochen nett
zu uns, und wir haben uns natürlich riesig gefreut, mit diesem
weltberühmten Pianisten ein paar Worte wechseln zu können.
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Hat dir Helmut überhaupt schon etwas über seine Geschwister
erzählt?”
Helga schüttelte den Kopf.
„Es ist ja alles so schnell gegangen! Mittwoch das Abendessen mit dem Abstecher zu Luise … Beim Abschied hatten wir
nur ausgemacht, dass Helmut gleich nach meiner Rückkehr aus
Bärwalde, also übermorgen Abend, bei uns anrufen würde. Am
Donnerstagnachmittag musste Helmut nämlich seinen Vater zu
einem wichtigen Geschäftsbesuch in Remscheid begleiten, und
ich will ehrlich gestehen, dass in meinem Kopf ein absolutes
Durcheinander herrschte, nicht zuletzt wegen …”
„Na, seid ihr beim letzten Akt angelangt?”, erkundigte sich
Carla und gesellte sich mit Lilo und Gaby zu ihnen. „Du wirst
doch deinem treuen Publikum nicht das glückliche Ende vorenthalten wollen, liebste Helga?”
Während Bärbel und Anneliese mit Mieze und Frieke genau wie viele der anderen Gäste bereits die Stufen zur Terrasse hochstiegen und im Inneren des Gebäudes verschwanden,
meinte Brigitte, bis zum Abendessen bleibe noch genug Zeit
für eine Fahrt zum Margarethensee, wenn sie jetzt rasch in ihren Wagen sprängen. Sie würde sich zu gern mit mit eigenen
Augen vergewissern, dass dort alles beim Alten geblieben sei.
Mit dem Fahrrad hätten sie früher ungefähr eine Viertelstunde gebraucht; im Automobil lasse sich die Strecke bestimmt
in fünf Minuten zurücklegen. Dann fügte sie noch mit einem
leichten Grinsen hinzu, Helga sei gerade dabei, zu schildern,
was sich an dem entscheidenden Donnerstag abgespielt habe.
Nachdem Lilo vorn neben Brigitte Platz genommen hatte
und die drei anderen auf die Hinterbank gerutscht war, holte
Helga einmal tief Luft.
„Kurzum, ich erledigte am Spätnachmittag in der Stadt einige Besorgungen und versuchte Ordnung in meine Gedanken
zu bringen.”
Sie legte eine kurze Pause ein und stellte fest, dass alle – außer Brigitte natürlich – an ihren Lippen hingen. „Da stand auf
einmal Helmut Röding vor mir. Er hatte gleich nach dem Termin in Remscheid seinen Vater zurück nach Menden gebracht
und sich sofort auf den Weg nach Eckesey gemacht, denn …
was ich nicht wissen konnte: Die besagte geschäftliche Unterredung war auf auf elf Uhr vorgezogen worden. Bei Schwerte
blieb indessen sein Horch stehen: Benzinpanne. Aber er hatte
Glück im Unglück. Einer ihrer Werksfahrer kam zufällig vorbei und schleppte ihn bis zur nächsten Tankstelle ab. In der
Schillerstraße traf er nur Ida an, die ihm mitteilte, ich hätte die
Elektrische in Richtung Hagen Mitte genommen. Nun kann
meine Heimatstadt nicht mit Hamburg oder Stuttgart mithalten, aber klein ist sie auch nicht, und einkaufen kann man in
vielen Läden. Außerdem hätte es ja durchaus sein können, dass
ich auf jemand Bekanntes gestoßen wäre und wir in einem der
Cafés etwas zu uns genommen hätten. Ich bin zwar mit solchen
Begriffen wie ,Fügung’ und auch …”
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„Nun sag’s schon. Aus deinem Mund klingt’s ja anders”,
warf Gaby ein.
„Also gut: ,Vorsehung’ … Aber dass wir uns am Donnerstag
getroffen haben, könnte man durchaus so nennen.”
Helga blickte versonnen nach draußen, und Brigitte bremste
schon. Beim Aussteigen rief Carla so laut, dass alle anderen zusammenschreckten, wie das denn nun mit der Brosche gewesen
sei. Die habe der junge Mann doch wohl nicht aufs Geratewohl
erworben oder etwa sogar zu Hause in der Schublade liegen gehabt, seit ihm eine frühere Angebetete eine Abfuhr erteilt hätte.
Während sie auf den See zugingen, erklärte Helga also, am
Mittwochabend hätten sie sich vor dem Abendessen auf der
Hohensyburg in der Stadt verabredet, weil sie ihrer Mutter angeboten hatte, mehrere Stoffmuster im Modeatelier Josephine
Merten für sie abzugeben. Auf dem Weg zu Helmuts Wagen
seien sie zuerst vor ein paar Kleidergeschäften und dann vor
dem Schaufenster des bekanntesten Hagener Juweliers stehen
geblieben und hätten sich über Schmuck unterhalten, die Perlenketten begutachtet und auch ihre Meinung über die dort ausgestellten Ringe und Broschen ausgetauscht.
„Ach so!”, meinte Carla. „Den Rest kann ich mir denken.
Aber wann … Nein, lass mich raten: Auf seiner Suche nach dir
hat er an jenem schicksalsträchtigen Donnerstag einen Sprung
in den besagten Laden gemacht und die Brosche gekauft. Da
musstest du ja einfach Ja sagen.”
Brigitte blieb stehen und wandte sich voll zu Helga hin.
„Wenn ich dir in unser aller Namen ganz herzlich gratulieren, so greife ich gewiss niemandem vor.”
Carla, Lilo und Gaby umringten Helga, drückten ihr die
Hand und schlossen sie in die Arme.
„Du lädst uns doch zur Hochzeit ein?”, erkundigte sich Carla noch. Helga nickte, meinte freilich, so tief in die Einzelheiten seien sie sie natürlich noch nicht gegangen, und außerdem
hätten da ihre jeweiligen Eltern auch ein Wörtchen mitzureden.
Dann machte sie ein paar Schritte auf den See zu, kniete am
Ufer nieder und strich mit gespreizten Fingern durch das Wasser.
„Jetzt haben wir aber wirklich lange genug von mir geredet.
Erzählt ihr einmal was!”
Gaby und Lilo lachten laut auf, während Carla und Brigitte
sich nur anschauten.
„Wir als gestandene Ehefrauen haben kaum so hochinteressante Dinge zu berichten”, erwiderte Gaby. „Ja, als ich mich in
deiner Lage befand, da hätte ich eine genauso spannende Geschichte erzählen können, über den Religionskrieg zwischen
zwei ehrbaren Familien in den Spätdreißigern des 20. Jahrhunderts! Und Lilo … Aber deine Schwangerschaft scheint völlig
problemlos zu verlaufen, oder?”
Brigitte legte den Kopf in den Nacken, blickte durch die
Kiefernzweige in den Himmel und warf dann einen Blick auf
ihre Armbanduhr.
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„Wir müssen”, sagte sie nur, und die fünf jungen Frauen
bewegten sich zum Wagen zurück.
„Sollten wir uns umziehen?”, wollte Gaby noch wissen.
„Ich habe vergessen, nach der Kleiderordnung zu fragen.”
Brigitte nahm wieder hinter dem Steuer Platz, bat sie, zu
überprüfen, ob alle Türen fest geschlossen seien, und ließ den
Motor an.
„So genau wird niemand hinsehen. Der wichtige Tag ist
doch ohnehin der Sonntag. Wenn ich Gisela richtig verstanden
habe, findet zunächst die Morgenfeier statt – das, was zu unserer Zeit gerade noch ,Andacht’ hieß. Meine Schwester meinte
freilich, sie laufe noch genauso ab, mit Bibelspruch und ein
paar Worten dazu. Aber vorher findet die Fahnenehrung statt
– ihr habt ja selber bemerkt, dass an mehreren Stellen geflaggt
ist.”
„Irgendwo habe ich vorhin gelesen, dass diese heiligen Hallen vor fünfundzwanzig Jahren unter das Motto Zur Ehre Gottes, zum Besten des Vaterlandes, zum Wohle des Volkes gestellt
wurden”, sagte Gaby. „Da wird halt mal der eine, mal der andere Teil dieser Devise besonders betont.”
Carla runzelte die Stirn.
„Der Luisenhof geht selbstverständlich mit der Zeit. Unsere
Lehrerinnen sind doch damals auch alle geschlossen der NS
Frauenschaft beigetreten, und eine BdM-Gruppe wurde ebenfalls gegründet. Wenn ich das vorhin richtig mitbekommen
habe, arbeiten sie mit den politischen Stellen eng zusammen
und bilden unter anderem Führerinnen für den Reichsarbeitsdienst aus …”
„Jeder sehe, wo er bleibe, und wer steht, dass er nicht falle”, murmelte Brigitte und warf dann vernehmlicher ein, so
manches sei eine Überlebensfrage, gleiche einem Balanceakt,
wie es Gaby eben so zutreffend formuliert habe.
Carla schien nicht hingehört zu haben, denn sie ging auf
Brigittes Bemerkung mit keinem Wort ein, sondern meinte nur,
als komisch empfände sie es indessen, dass alle Lehrerinnen
immerzu vom ,Reichsnährstand’ sprächen, dem sie seit 1934
unterstellt seien.
Nicht nur Brigitte grinste.
„Früher nannte man so etwas doch einfach ,Landwirtschaftsministerium’, nicht wahr?”, fuhr Carla fort. „Nun gut.
Jedenfalls wird wohl der zuständige Regierungspräsident
Glückwünsche von oben überbringen, im Rahmen des Festakts
morgen Nachmittag, glaube ich.”
Brigitte lenkte ihren Wagen wieder auf den Wäschebleichplatz, stellte den Motor aus und scheuchte ihre ehemaligen
Mitmaiden vor sich her.
„Beim Abendessen setzen wir uns aber alle zusammen in
eine Ecke, nicht wahr?”, meinte Lilo noch. „Meine Beziehung
zu Mieze und Frieke war damals zwar nicht besonders eng,
aber immerhin … Unser Jahrgang ist übrigens wirklich gut vertreten; wir liegen auf Platz 3, hinter 1937/38 und 1935/36!”
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Die Ähnlichkeit im Ton war schon verblüffend, dachte
Helga, als Fräulein van Semmern sich von ihrem Platz erhob,
kräftig in die Hände klatschte und die Altmaiden bat, kurz
den Raum zu verlassen. Mit genau der gleichen Mischung aus
Schärfe und Verbindlichkeit hatte die Dame, die von Ilse abwechselnd als Maître de Ballet und ,Dragoner’ bezeichnet worden war, Helga vor Jahren in den Kulissen des Hagener Stadttheaters zu verstehen gegeben, dass mit Schuhen das Betreten
eines bestimmten Saales verboten sei. Sie ließ sich einfach
von den anderen mitziehen, wobei ihr der Gedanke durch den
Kopf ging, manchmal sei es ausgesprochen angenehm, nur Erinnerungen auszutauschen und dabei zu vergessen, auf welch
schwierige Fragen es eigentlich möglichst rasch eine Antwort
zu finden galt.
„Die Raucherinnen unter Ihnen sind doch bitte so freundlich, die Aschenbecher zu benutzen”, hörte Helga, als sie gerade Carlas Angebot einer Zigarette dankend abgelehnt hatte.
Eine deutsche Frau rauche ja an sich nicht, meinte Gaby und
schnippte die Asche mit einer eleganten Bewegung ab, doch
sie habe damit angefangen, als ihre Heiratsabsichten auf immer
mehr Widerstand gestoßen seien. Während Frieke, die bei ihrer
Hochzeit ein fast abgeschlossenes Medizinstudium abgebrochen hatte, Lilo ihre Frage nach den Auswirkungen des Rauchens auf das ungeborene Kind beantwortete, trat Gisela, die
eine frische Schürze vorgebunden hatte, mit geröteten Wangen
zu ihnen, stieß einen erleichterten Seufzer aus und meinte, jetzt
könne es weitergehen – sie hätten die Reste des Abendessens
abgeräumt und die Stühle für das Vorprogramm aufgestellt.
Daran könne sie selber leider nicht teilnehmen, denn …
„Nun rück schon mit der Sprache raus”, meinte Carla und
versetzte dem jungen Mädchen einen Puff in die Seite. „Brigitte hat angedeutet, dass du bei dem Theaterstück morgen Nachmittag eine der Hauptrollen spielst.”
Gisela schüttelte etwas verlegen den Kopf.
„Oh nein! Ich hüte doch bloß die Gänse. Das ist zwar nicht
gerade eine leichte Aufgabe, weil das verflixte Federvieh … sie
tun halt lieber, wonach ihnen der Sinn steht, und wenn der Ort
der Handlung hinters Haus vom Teich weg verlegt wird, habe
ich schon meine Mühe damit, sie beisammen zu halten.”
Mieze, von der Helga beim Abendessen erfahren hatte, dass
sie an einem der Hamburger Theater für die Requisiten zuständig war, spitzte die Ohren und erkundigte sich, ob sie das richtig mitbekommen habe – während der Aufführung bewegten
sich Schauspieler und demzufolge doch wohl auch das Publikum von einem Ort zum anderen? Das sei aber nun wirklich
eine originelle Idee!
Gisela nickte.
„Wer darauf gekommen ist, daran erinnert sich niemand
mehr. Wir waren uns nur von vornherein alle einig, dass die
Aufführung nicht drinnen stattfinden sollte. Fragt sich nur, ob
das so eine gute Entscheidung war!”
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Ein halb vergnügtes, halb besorgtes Grinsen überzog ihr gerötetes Gesicht.
„Die meisten von uns haben schon Genickstarre, weil wir
andauernd die Wolken zählen. Als ob man damit schönes, also
wenigstens trockenes Wetter für morgen heraufbeschwören
könnte!”
„Die Gänsemagd …”, meinte Mieze versonnen. „Kommt
da nicht dieser Spruch vor von Fallada, der du hangest?”
„Ich kann mir denken, was Sie wissen möchten”, sagte Gisela eifrig. „Für den Anfang des Stückes nehmen wir natürlich
ein richtiges Pferd. Aber dann … In der Tat haben wir uns das
Hirn zermartert, wie wir das mit dem abgeschlagenen Kopf
hinkriegen. Aber ein paar schlaue Leute haben sich etwas einfallen lassen – seien Sie mir nicht böse: was, das verrate ich
nun wirklich nicht!”
Irgendwo pfiff jemand auf den Fingern. Gisela entschuldigte sich sofort und erklärte, sie werde drinnen gebraucht und riet
ihrer Schwester, sich doch langsam auf die Eingangstür zuzubewegen. Es ginge nämlich gleich weiter, und auf die Weise
könnten sie die besten Plätze belegen. Sie selber müsse noch
einmal das Servieren für morgen Mittag üben. Auf die erstaunten Blicke hin fügte sie hinzu, bevor sie endgültig um die Haus­
ecke verschwand, die Jungmaiden würden jeweils zu zweit in
einer Art Prozession mit Braten- und Gemüseschüsseln sowie
natürlich den Soßengießern an die Tische schreiten und alle
Gäste ziemlich gleichzeitig bedienen, damit die Speisen warm
blieben, denn – sie legte den Kopf in den Nacken und wies
nach oben – es werde im Freien gedeckt.
Nach einer Weile hatten alle Gäste und auch die Lehrerinnen sich auf den Stühlen niedergelassen, und das Getuschel,
immer wieder einmal unterbrochen von Lachen, verstummte
ganz, als eine Altmaid – „Jahrgang 14/15, sie wird morgen
auch für uns sprechen”, flüsterte Brigitte – auf dem Schemel
am Flügel Platz nahm, während eine weitere sich mit einem
Notenheft in der Hand davor aufstellte.
Helga hätte nicht zu sagen vermocht, welche Lieder Ingrid
Brebeck – den Namen hatte sie noch mitbekommen – vortrug.
Kaum waren die ersten Noten erklungen, wanderten ihre Gedanken auch schon ab. Von Berlin aus würde sie auf der Rückfahrt Helmut anrufen und ihm mitteilen, wann ihr Zug in Köln
einträfe, denn dort wollte er sie mit dem Wagen abholen. Helga
sah sich am Steuer des elterlichen Mercedes’ sitzen, und Alfreds lautes, fröhliches Lachen klang ihr in den Ohren. Wie
oft hatte sie die Strecke zwischen Köln und Hagen mit ihm
als Beifahrer zurückgelegt! Ob sie den Mut aufbringen würde,
Helmut von Alfred zu erzählen? Wenn sie es nicht selbst täte,
würde er mit Sicherheit von jemandem auf ihren englischen
Verehrer angesprochen werden; Ilse zum Beispiel könnte eine
Bemerkung fallen lassen, Rudolf vielleicht auch, im Zusammenhang mit Rosemary.
Lilo musste sie aus Versehen angestoßen haben. Helga
schenkte ihrer Nachbarin zur Linken ein zerstreutes Lächeln,
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ohne auch nur zu versuchen, der Musik ihre Aufmerksamkeit
zuzuwenden.
An einem Tag der nächsten Woche würde Helmut sie seinen Eltern vorstellen. Er hatte auch bereits angedeutet, dass
Antrittsbesuche bei allen möglichen Verwandten zu machen
seien. Die Verlobungsringe würden sie gemeinsam besorgen –
es ging Helga zu ihrer eigenen Überraschung durch den Sinn,
dass der ihrige vor der Hochzeit gedehnt werden müsste, weil
die Finger ihrer Rechten stärker ausgebildet waren als die der
Linken. Helmuts sehnige Hände mit den langen, schmalen Fingern hatten übrigens schon bei der ersten Begegnung ihr Gefallen erregt, wie sie sich auch sofort von seinen Bewegungen
angezogen gefühlt hatte, nicht zuletzt von seiner Art, sich zu
verbeugen. Am Telefon hatte sie Ilse erklärt, daraus lasse sich
einerseits auf die Achtung vor den Gepflogenheiten seiner Gesellschaftsschicht, andererseits aber auf eine gewisse Distanz
zu den dort üblichen Regeln schließen – so habe sie es jedenfalls empfunden. Kurz gesagt: Es werde ihr in Helmuts Gegenwart immer viel leichter ums Herz.
Lebhaftes Klatschen und Bravo-Rufe rissen Helga aus ihren
Gedanken. Brigitte neigte sich zu ihr und meinte, Frau Brebeck
trete wohl mit Frau von Grothe als Begleiterin auch öffentlich
auf, aber ganz sicher sei sie sich nicht. Sie wollte noch etwas
ergänzen, als vorn auch schon mit wenigen Handgriffen aus
zwei Tischen, einer Stehlampe, drei Stühlen und einem Paravent etwas aufgebaut wurde, das die Anwesenden sofort mehr
oder weniger laut als Maidenzimmer bezeichneten. Von hinten
rief jemand, da fehlten aber Waschkrug und Schüssel, und alle
brachen auf den Einwurf hin, zu ihrer Zeit habe kaum je eine
so mustergültige Ordnung geherrscht, in lautes Gelächter aus.
Die Unruhe legte sich zunächst, als drei Jungmaiden begannen,
Szenen aus Vergangenheit und Gegenwart des Luisenhofs aufzuführen, aber vieles vom gereimten Text ging im Gekicher der
Gäste unter, die es trotz einiger strafender Blicke nicht lassen
konnten, sich gegenseitig zuzurufen, genauso sei es gewesen.
Gisela, die neben dem Stuhl ihrer großen Schwester an der
Wand lehnte, verzog unwillig das Gesicht und meinte leise,
dabei hätte es solche Mühe bereitet, all das, was gezeigt werden sollte, in Verse zu fassen. Hoffentlich hätten die Bärwalder
Bürger am nächsten Tag mehr Glück – es wäre doch jammerschade, wenn diese albernen …
Helga, die sich zu ihr umgedreht hatte, sah deutlich, wie das
junge Mädchen schluckte.
„Kennen wir noch jemanden von den Bärwaldern?”, erkundigte sie sich leise, während um sie herum Stühle gerückt
wurden und die ersten Zuschauerinnen sich von ihren Plätzen
erhoben.
„Ich nehm’s doch an”, erwiderte Gisela schon etwas versöhnlicher. „Der Bäcker kommt, der Metzger, die Frau Klempner, Buchhändler Wegener, Herr Schmidt von der Kurzwarenhandlung und natürlich unser aller Liebling, der Malergeselle;
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der ist viel jünger als die anderen und sieht aus wie … wie vom
Film!
Helga lächelte nur und nickte.
Erst bei diesem Besuch war ihr bewusst geworden, dass die
Maiden, sie früher und Giselas Generation kaum anders, ein
Jahr in einer fast männerlosen Gesellschaft verbrachten. Den
Chor leitete jetzt dieser Herr Götsch, von dem Gisela vorhin
geschwärmt hatte, und bei der Besichtigung des Wirtschaftshofs glaubte sie zumindest einen Stallburschen gesehen zu haben. Aber sonst? Wenn sie sich im Zug zwischen Berlin und
Küstrin rückblickend das Leben auf dem Luisenhof als frei
von ernsten Schwierigkeiten in Erinnerung gerufen hatte, so
hing das gewiss auch mit fehlender Reibung zusammen: keine Brüder, keine Väter und vor allem keine jungen Männer,
nach denen man sich die Augen ausweinte oder die einem mit
unerwünschten Bezeugungen ihrer Zuneigung Entscheidungen
abverlangten. Beziehungen, die auf Gegenseitigkeit beruhten,
verliefen ja von der Sache her in gesetzteren Bahnen … Auf
dem Luisenhof wurde viel gelernt, und sowohl die Leitung als
auch die Lehrerschaft legten bei aller Freundlichkeit Wert auf
Ordnung und Respekt. Natürlich herrschten nicht immer eitel
Glück und Sonnenschein; es hatte durchaus Eifersüchteleien
gegeben, und so manches scharfzüngige Wortgefecht war bei
der Arbeit und auch auf den Fluren ausgetragen worden. Aber
sie hatten doch viel häufiger gelacht.
Während es um sie herum immer leerer wurde, stellte sich
bei Helga plötzlich das Gefühl ein, die sprichwörtlichen Schuppen fielen ihr von den Augen, und sie fand es ausgesprochen
komisch, dass sich ihre Gedanken von hinten aufrollten.
,Ich habe mehr mit Luise gemeinsam als mit Rudolf zum
Beispiel. Luise mag hundertmal völlig anders veranlagt sein
und deshalb auch nicht das gleiche Verhalten wie ich an den
Tag legen; sie hat des Öfteren die Form gesprengt, in die ich
mich meist habe pressen lassen. Trotzdem verstehen wir uns
sozusagen unterschwellig – das Gespräch über Ernst Herberts
auf der Fahrt nach Bremerhaven mit dem schlafenden Rudolf
auf der Hinterbank, ihre Bemerkung nach dem Anruf von Al­
fred im letzten November und jetzt wieder dieses ,deshalb’ sind
nur Beispiele dafür. Kurzum: Es muss zwischen Schwestern
und Freundinnen, überhaupt zwischen Personen desselben Geschlechts eine Art von Verständnis geben, das ohne Worte auskommt. Ich glaube ja über ein gut ausgebildetes Einfühlungsvermögen zu verfügen, aber sogar bei Rudolf, mit dem ich,
seit er sprechen kann, über alles und jedes rede, schieße ich
doch des Öfteren gewaltig daneben. Ob mir das bei Helmut …?
Hier jedenfalls haben sich Streitigkeiten immer verhältnismäßig leicht schlichten lassen, abseits vom Kampf zwischen den
Geschlechtern.’
Offensichlich war niemandem aufgefallen, dass sich Helga noch im Esszimmer aufhielt, denn die Deckenlampen erloschen, während aus dem Treppenhaus Gesang erklang. Durch
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die hohen Glastüren zur Terrasse fielen Reste von Tageslicht
herein; so erreichte Helga, ohne irgendwo anzustoßen, den
Ausgang zur Halle und lehnte sich dort an die Wand.
Die Jungmaiden – ob sie sich noch ein weiteres Mal eine
frische Schürze vorgebunden hatten? – standen auf den Stufen und schmetterten so, als hätten sie nicht gerade erst Geschirr gespült und überhaupt seit Pfingsten kaum etwas anderes
getan, als dieses Stiftungsfest vorzubereiten, Mozarts Kanon
Bona nox! Bist ein rechter Ochs, Ade nun zur guten Nacht und
Nun ruhen alle Wälder. Die meisten Gäste hörten einfach zu,
einige summten mit, aber fast alle lächelten vor sich hin. Dann
bahnten sich die jungen Mädchen in ihren hellblauen Kleidern
einen Weg nach draußen und forderten nur mit Gesten die Altmaiden auf, ihnen auf den Platz vor dem Gebäude zu folgen,
bevor sie sich an den Händen fassten und mit allen Anwesenden – es waren immerhin rund hundertundfünfzig Gäste angereist – nach einigem Hin und Her einen riesigen Kreis bildeten.
Helga entdeckte die Maiden ihres Jahrgangs nur deshalb in
der Menge, weil die ohnehin hochgewachsene Carla ihr Halstuch schwenkte und die eher rundliche Brigitte gleichzeitig auf
der Stelle hüpfte und ihr zuwinkte. So reihte sie sich zwischen
die beiden ein und atmete einmal tief durch. Da stimmte der
inzwischen allen bekannte Herr Götsch auch schon Schließt
die Runde, reicht die Hände an, und alle fielen ein. Helga und
Brigitte warfen sich einen amüsierten Blick zu, weil Anneliese
nach wie vor den Ton nicht halten konnte und in sich hinein
brummte. Aber dann wurden auch sie ernst, und als die letzten Noten verklangen, herrschte ein paar Minuten lang eine
feierliche Stille, bevor Fräulein von Bescherer in das Schweigen hinein verkündete, das heutige Programm sei beendet. Sie
empfehle allen, für den morgigen Tag Kräfte zu sammeln und
sich auf ihre Zimmer zurückziehen, und wünsche ihnen eine
gute Nacht.
Bärbel und Anneliese entschuldigten sich sofort – sie seien
von der langen Autofahrt müde, und man werde sich ja ohnehin
morgen spätestens beim Frühstück wieder treffen. Auch Mieze
und Frieke, die schon während des Maidenjahrs immer nebeneinander gesessen und stets einer Arbeitsgruppe angehört hatten, verschwanden einen der Flure hinunter. Lilo erklärte sich
bereit, ihre Zimmergenossinnen Gaby und Carla noch einmal
auf die Terrasse hinaus zu begleiten, wo sie eine letzte Zigarette rauchen wollten, und nach einem Blicktausch meinte Brigitte, in dem Fall würden Helga und sie sich ebenfalls in ihre
Gemächer zurückziehen; es sei doch ein wenig kühl geworden.
Kichernd fügte sie noch hinzu, Gisela habe sie ausdrücklich
gebeten, den Altmaiden des Jahrgangs 33/34 auszurichten, der
Morgenlauf – vor Fahnenehrung und Frühstück wohlgemerkt
– stehe auch ihnen offen. Alle lachten, und Lilo wies auf ihren
kaum gerundeten Bauch.
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Von Ruhe konnte keine Rede sein. Während Helga und Brigitte sich zum Schlafengehen zurechtmachten, wurden über
und neben ihnen Türen behutsam, aber doch hörbar geöffnet
oder geschlossen, bestrumpfte Füße huschten den Gang hinunter, und manchmal drang ein etwas lauteres Wort zu ihnen, obwohl die meisten Altmaiden, aus Erfahrung klug geworden, die
Fenster wegen der Stechmücken am Ententeich gar nicht erst
geöffnet hatten, solange das Licht im Zimmer noch brannte.
„Mit Äußerungen zur Politik halten wir uns wohl beide
zurück, wenn wir Menschen lange nicht gesehen haben, nicht
wahr?”, meinte Brigitte und ließ sich auf ihr Bett fallen.
Helga war gerade damit beschäftigt, mit ihrer Nagelbürste
den Staub von ihrem Hütchen zu entfernen.
„Du hast mir aus der Seele gesprochen mit deinem Zitat
vorhin”, erwiderte sie. „Seltsam übrigens: In Berlin hat eine
gute Bekannte meiner Schwester Luise fast das gleiche Bild
gebraucht wie du – sie sprach nämlich von Seiltänzern. Natürlich hätte die Partei so eine Einrichtung wie den Luisenhof
längst geschlossen, wenn … Über zig Ecken habe ich erfahren,
dass katholische Privatschulen … Damit will ich sagen, dass
sie ohne eine … Anpassung an die Umstände gar nichts mehr
von dem verwirklichen könnten, was die Gründerin sich als
Ziel gesetzt hatte.”
Zögernd fügte Helga noch hinzu, selbst ihre Schwester Luise und deren Mann, die beide ihre kritische Einstellung dem
Regime gegenüber anfangs deutlich zum Ausdruck gebracht
hätten, vermieden es, ihre Vorbehalte verlauten zu lassen, außer natürlich in Gegenwart von Gleichgesinnten. Ihr Vater, der
sich immer noch als Freimaurer betrachte, obwohl die Bewegung ja seit langem verboten sei, mache immer gerade genug
mit, um nicht aufzufallen und seinen Betrieb erfolgreich weiterführen zu können.
„Und du?”, fragte Brigitte, worauf Helga erwiderte, wenn
sie ganz ehrlich sein solle, so müsse sie gestehen, dass ihr so
etwas wie praktische Nächstenliebe wichtiger sei als Politik.
Brigitte nickte, erhob sich und suchte ihre Zahnbürste aus
ihrem Kulturbeutel heraus.
„Das geht vielen so.”
„Ich tröste mich damit, dass ich anderen helfe”, brach es
aus Helga heraus. Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen die
Fensterbank und ballte die Hände zu Fäusten. „Ihretwegen ist
mein Freund Fritz in Amerika geblieben und hat eine andere
geheiratet, ihretwegen haben seine Schwester Hildegard, mit
der ich groß geworden bin, und ihre Eltern … aber das weißt du
ja längst. Im November ‘38 habe ich dann mit angesehen, wie
die Mutter einer jüdischen Schulfreundin beinahe den Verstand
verlor, als die Gestapo bei ihnen eingedrang und ihren Mann
verhaftete. Glücklicherweise ist er ziemlich rasch wieder freigelassen worden.”
„Einige Männer aus meiner weiteren Familie sitzen in Konzentrationslagern, nicht, weil sie Juden sind, sondern aus politischen Gründen. Dem Adel gegenüber, besonders wenn er
eine Uniform trägt und der Armee angehört, hegt das Regime
ja ausgesprochenes Misstrauen. Aber verschwindet jemand,
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aus welchem Grund auch immer, so stört das die meisten Leute
herzlich wenig – man schaut weg und zieht oft sogar Nutzen
daraus”, sagte Brigitte und hielt immer noch den Zahnputzbecher in der Hand. Sie spülte sich den Mund aus, trug die
Waschschüssel auf den Flur hinaus, entleerte sie in den Ausguss und schloss dann mit dem Fuß die Tür wieder hinter sich.
„Was mir einfach nicht aus dem Sinn geht, seit Helmut Rödings Anruf bei uns eigentlich … Entschuldige bitte, dass ich
dich so auf den Kopf zu frage: Hast du nur deshalb Ja gesagt,
weil deine Eltern sich einer Ehe mit diesem netten Engländer,
ich meine natürlich Alfred Barker, widersetzen?”
Wenn Helga den Kopf gehoben hätte, wäre ihr nicht verborgen geblieben, dass Brigitte sich im Nachhinein keinesfalls
sicher zu sein schien, ob sie solch eine Vermutung hätte äußern sollen. Sie wrang ihren Waschlappen aus, hängte ihn an
einen Haken, nahm ihn wieder in die Hand und legte ihn auf
den Rand der Schüssel, wobei sie mehrfach verstohlen zu ihrer
Freundin hinüber blickte. Aber Helga starrte nur auf ihre Fußspitzen und überlegte, was sie darauf erwidern könnte.
„Wir passen so gut zueinander”, meinte sie schließlich.
„Gleich bei unserer ersten Begegnung … Bemerkt haben wirst
du es nicht; auf deiner Hochzeit hattest du ja andere Dinge im
Kopf. Helmut hat mir sofort zu verstehen gegeben – nicht unbedingt mit Worten, das kam erst Anfang Juni –, ich sei die
Frau, auf die er immer gewartet habe. Ich sei natürlich nicht die
erste – er war ja schließlich fast dreißig Jahre alt im April 1937
–, aber die letzte. Den Altersunterschied zwischen uns finde ich
gerade richtig. Wir haben so viel gemeinsam, vom Skilaufen
angefangen bis zum Tennisspielen. Der Betrieb seines Vaters
stellt zwar Werkzeuge, Schrauben und Pferdegeschirr her, während in unserem Süßwaren produziert werden, aber Fabrik ist
Fabrik, denke ich einmal … Was mir am besten gefällt: Helmut
weiß so erfreulich genau, was er will. Wenn er sich einmal entschieden hat, setzt er Himmel und Hölle in Bewegung – nein,
die Hölle wohl nicht – um sein Ziel zu erreichen.”
Brigitte schwieg eine Zeitlang, und als sie wieder zu sprechen anhob, griff sie keine von Helgas Äußerungen auf.
„Wenn ich meiner Schwiegermutter begegne oder auch anderen Verwandten und Bekannten, so spüre ich in letzter Zeit,
dass ihr Blick immer zuerst meinen Bauch streift. Sie versuchen herauszufinden, ob ich endlich schwanger bin; zu fragen
trauen sie sich natürlich nicht.”
Helga begrifft sofort, dass ein Zusammenhang zwischen
dieser Beobachtung und den Gründen bestand, die sie als Antwort auf Brigittes Frage teils rasch, teils stockend angeführt
hatte. Indessen meinte sie, man dürfe sich weder von der Familie noch von Freunden unter Druck setzen lassen. Damit beließ
sie es, griff noch einmal nach ihrer Brosche und löste sich vom
Fensterbrett.
Nach einer Pause fügte sie hinzu, sie habe beschlossen, Alfred von zu Hause aus anzurufen und ihm selber mitzuteilen,
dass sie sich verlobt habe.
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„Ich weiß zwar nicht, wie ich die Zeit zwischen dem Anmelden des Gesprächs und der Herstellung der Verbindung
überstehen soll – manchmal dauert es ja Stunden –, aber anders
geht es nicht. Meine Schwester Luise hat einmal gesagt, in einem anderen Zusammenhang allerdings, man solle sich seinen
Mut für wichtige Dinge aufbewahren. Feige will ich nicht sein.
Das schulde ich Alfred.”
Helga war unter der Deckenlampe stehen geblieben, und
vielleicht wirkte deshalb ihr Gesicht so verschattet und blass.
Auf jeden Fall trat Brigitte zu ihr heran, schloss sie in die Arme
und drückte sie an sich.
„Ich mach dir einen Vorschlag”, sagte sie dann und strahlte Helga an. „Um sechs, spätestens sieben Uhr wird das Programm morgen beendet sein. Dann fährst du mit mir im Wagen
nach Berlin; ich bin dort am Montagnachmittag zu einer ärztlichen Untersuchung angemeldet. Meine Cousine hat mit Sicherheit noch irgendein Bett für dich frei, und notfalls schläfst du
auf einem Sofa. Montag früh rufst du von dort aus bei Alfred
Barker an, und ich verspreche dir, dass ich mit dir gemeinsam
warte, bis er am Apparat ist. Wenn du darauf bestehst, kannst
du meiner Cousine das Gespräch ja bezahlen – so hat es doch
Helga Schulte aus Hagen Eckesey bislang immer gehalten,
nicht wahr?”
Helga atmete tief ein und stieß die Luft dann kräftig aus.
Anschließend nickte sie, löschte die Deckenbeleuchtung und
trat noch einmal ans Fenster. Gegen den Nachthimmel hoben
sich die noch schwärzeren Zweige der Kastanien ab. Im gegenüberliegenden Flügel des Gebäudes brannte hier und da noch
Licht. Aber es war still geworden.
,Schließt die Runde, reicht die Hände’, dachte Helga und
freute sich ganz unbändig.
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PERSONEN
Anna Henriette Schulte ∞ Friedrich Johann Schulte
Luise ∞ Otto Rellinghaus
Otto
Kathrine
Karl ∞ Sophie Winterhoff
Dietrich (Diez)
Gert
(Ilse †)
Helga ∞ Helmut Röding
Rudolf
Gustav Adolf Röding ∞ Emilie Röding
Christian Albrecht ∞ Helga
Gernot
Isild
Giselher
Ottilie ∞ Walther Osdorp
Walther
Wolfram
Wilfried
Wernher
Gustav
Friedrich Wilhelm †
Helmut ∞ Helga Schulte
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DEUTSCHLAND
Hagen
Eugen Blankenstein Ruth, seine Frau
Fritz, sein Sohn
Hildegard, seine Tochter
Marga Dennersmann Franz, ihr Sohn
Herta, ihre Tochter
Johann Albers
Gudrun
Freund von Friedrich Schulte und Fabrikant
in Hagen
Helgas beste Freundin
Leiterin der Musterabteil der Süßwarenfabrik
Schulfreundin von Helga
Herthas Mann
ihre Tochter
Frau Fandrey (Brecke)
Ilse, ihre Tochter
Schulfreundin von Helga
Herbert Meyer
Helga, seine Tochter
Inhaber eines Bekleidungsgeschäfts in Hagen
Schulfreundin von Helga
Ernst Herberts
Ida Effenkamp
Erich
Bauer Effenkamp
,Päulchen‘ Beckmann
Paul Beckmann
Helene Dahm
Dr. Rosenthal
Herr Behr
Sohn eines Logenbruders von
Friedrich Schulte
Dienstmädchen bei Schultes
ihr Bruder
ihr Großvater
Idas Pflegesohn
dessen Vater und Leiter der Versandabteilung
Prokuristin in der Süßwarenfabrik
Hausarzt der Familie Schulte
Vertriebsleiter der Firma Schulte
Christine Otto Brauckmann
Tochter von Otto Rellinghaus aus 1. Ehe
ihr Mann und Freund von Helmut Röding
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Luisenhof
Brigitte von Albertyll
Gisela, ihre Schwester
Carla
Lilo
Bärbel
Gaby
Mieze
Frieke
Anneliese
Freundin von Helga, verheiratet mit
Hartmut von Leskow
Mit-Maiden von Helga
ENGLAND
Elizabeth Barker
Alfred Barker, ihr Sohn
Inhaber der Firma Barker Brothers
Alice Summers, ihre Tochter
Hugh Summers
Rosemary Summers
Austauschpartnerin von Helga
Phyllis Alderson, ihre Tochter
Peter, Paul und Mary, ihre Kinder
AMERIKA
Felicity Blake
Freundin aus ,Cyrano‘, Institut in Lausanne
Die anderen Personen erscheinen unter ihrem wirklichen Namen.
Bei der Süßwarenfabrik handelt es sich um VILLOSA.
472
QUELLEN
1. Kapitel: Weihnachten 1915
Hagen einst und jetzt, Band III: Altenhagen•Eckesey•Vorhalle, hrsg. vom
Hagener Heimatbund, Hagen 1977
Hagener Heimatkalender 1964
„Villosa“. Festschrift zum 60. Geschäftsjubiläum 1956
Pastor Herbert Szcukowski, Ev. Melanchthon-Kirchengemeinde, Hagen
thkoehler.de: ewiger Kalender
kaethekrusepuppe.de
metallbaukasten.de
Peter Cornelius, Weihnachtslieder, op.8, Nr. 3
Conrad Ferdinand Meyer, „Friede auf Erden“, zitiert nach:
Kinderweihnacht, Ravensburg 1991
2. Kapitel : Spätsommer 1916
La Vie privée des hommes au temps de la Grande Guerre, Hachette
Jeunesse, 1986
quid.fr: Première Guerre Mondiale. Déroulement
infos.aus-germanien.de: Schlacht an der Somme / Flandernschlacht
chtimiste.com: La Bataille de la Somme. La deuxième phase
(20 juillet à fin août) / La Bataille des Flandres (18 octobre – fin 1914)
membres.lycos.fr: Ypérite (gaz moutarde) © Jean François Patenaude M.
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br-online.de: Kalenderblatt 05. 08. 2004 – „05.08.1910: Konstantin
Fahlberg, Erfinder des Saccharin, stirbt“ / Penatencreme
mondamin.de
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de.wikipedia.org: Vanillin / Molybdän
seilnacht.com: Molybdän
473
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pferdezeitung.com: Kaltblüter
1914-1918.net: Kitchener
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wilhelm-kempff.de: Biografie
Artikel aus der Hagener Zeitung, Westfälischen Landeszeitung Rote Erde
und Jurismappen, alle im Stadtarchiv Hagen
Frau Irmgard Moeller, Luisenhof 1939, Herrn Dietz und Herrn Korthals
vom Hagener Stadtarchiv sowie meinen „Vorleserinnen“ Helga Becker,
Elisabeth Hoberg-Dufaut und besonders Marita Sakote ganz herzlichen
Dank!
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