- Familien mit Zukunft
Transcription
- Familien mit Zukunft
www.familien-mit-zukunft.de Mechthild Küpper Drei Wochen auf der Insel - nicht zum Spaß "Nervöser Erschöpfungszustand" ist die häufigste Diagnose, die zu einer Kur im Müttergenesungswerk berechtigt. Der altmodisch klingende Name täuscht: Nie waren die seit 1950 bestehenden Einrichtungen so notwendig wie heute. Frauen können herrlich direkt sein. Nach dem Ernährungsvortrag mit Film spricht eine Mutter über die Essprobleme ihrer Kinder und sagt, bei ihr dürfe es nicht einmal Butter zu den Nudeln geben. Dreht sich eine andere um und sagt, ganz ohne Häme: "Vielleicht machst du mal 'n Kochkurs?" Situationen wie diese hat eine Frau wohl im Sinn, die sagt, in den Kuren des Müttergenesungswerks therapierten sich die Frauen gegenseitig. Ganz so funktioniert das Konzept des Müttergenesungswerks (MGW) nicht, auch wenn das Gespräch unter Müttern als wichtiges Element der Kur gilt. Beim Müttergenesungswerk ist man stolz darauf, von Anfang an auf eine ganzheitliche und frauenspezifische Medizin gesetzt zu haben, die psychosozial und psychosomatisch orientiert ist. Die "therapeutische Kette" vom ersten Gespräch in einer der 1400 Beratungsstellen bis zur Nachsorge nach den drei Wochen Kur hat sich bewährt. Nicht alle Mütter, auch nicht alle berufstätigen, werden krank. Diejenigen aber, die ihr Alltag regelrecht zermürbt, haben viel gemeinsam. Eine Kur bietet Müttern nicht nur in der Ernährungs- und Erziehungsberatung, sondern auch in der medizinischen Rehabilitation und Vorsorge gehaltvolle Kost. Schließlich seien sie es, die beim Einkaufen entscheiden, was ins Haus kommt, erklärt die Referentin in der Mutter-Kind-Kureinrichtung "Haus Daheim" in Bad Harzburg. "Gutes Essen" brauche eine Mutter nur einzukaufen und keineswegs als "gesund" anzupreisen, das erzeuge womöglich erst Abwehrreaktionen. Aber ungesundes Essen, also Fast Food, solle man Kindern nicht ausgerechnet als Belohnung geben. Tischgemeinschaft zu üben, einen Wochenspeiseplan aufzustellen und sich regelmäßig zu den Mahlzeiten zusammenzusetzen, das sei für Eltern und Kinder gut. "Während ich hier bin, gibt es zu Hause sicher nur Döner, Bratwurst und Pizza!", sagt eine der Frauen, die die Herbstferien zur Kur mit ihren Kindern nutzen. Das Müttergenesungswerk umweht der Hauch des Altmodischen. "Gibt es das noch?", staunen Großstadt-Singles. Ja, das gibt es noch, sogar als Erfolgsgeschichte. Mehr als vier Millionen Mütter und Kinder haben bisher davon profitiert, dass Elly Heuss-Knapp 1950 eine Stiftung gründete, der bis heute die Ehefrauen der Bundespräsidenten als Schirmherrinnen dienen. Die Stiftung ist eine Lobby geworden. Sie hat über die Jahrzehnte hinweg ihr Konzept einer wirksamen Hilfe für Mütter den sich wandelnden Bedürfnissen angepasst und durchgesetzt. Jetzt dürfen zum Beispiel auch Väter kuren, wenn sie es sind, die sich hauptsächlich um die Kinder kümmern. Der Familienpolitik ist ihr altmodisches Flair ohnehin abhandengekommen. Ihr gibt die Ministerin von der Leyen das zeitgenössische Gesicht: gut ausgebildet, kinderreich, erfolgreich im öffentlichen Leben stehend. Mechthild Küpper: Drei Wochen auf der Insel - nicht zum Spaß S. 2/5 Schlecht scheint der Satz von der "Not der Mütter" aus der Frühzeit des Müttergenesungswerks zum Image der modernen Frau zu passen, die absolut keine Lust zur Opferrolle hat. Wer aber einige der Wege geschildert bekommt, die Mütter heute in eine der 85 Kurkliniken führen, dem kommt der Begriff der Not überhaupt nicht übertrieben vor. Der Mann von Agnes B. zum Beispiel zog "aus heiterem Himmel" aus. Sie liebt ihn noch, wie sie in ihrer dritten und letzten Woche im "Haus Daheim" erzählt. Er zahlt Unterhalt für die zwei Kinder, er ist großzügig und lässt seiner Familie das Haus, er hat sogar mit seiner Frau eine Therapie besucht - der Kinder wegen. Er benimmt sich anständig. Ihr aber hat es den Boden unter den Füßen weggezogen. Es hat ihr Selbstwertgefühl zerstört. Den Alltag hat sie bewältigt, sie hat funktioniert. Aber sie war gereizt und ungerecht zu den Kindern und hatte an nichts mehr Freude. Und als sie schließlich bei der Hausärztin landete, hieß deren Order: Kur oder Therapie! Agnes B. macht beides. Als sie den ellenlangen Antrag auf eine Mutter-Kind-Kur sah, habe sie erschrocken gerufen: "O Gott, bin ich das wirklich?" Sie ist Flugbegleiterin, arbeitet in Teilzeit, Eltern und Schwiegereltern halten zu ihr und helfen. Es gibt schlimmere Schicksale als ihres. Aber es hat Agnes B. regelrecht überwältigt, plötzlich als Alleinerziehende im Leben zu stehen. Die harten Monate sieht man ihr nicht an. "Hier ist es wie auf einer Insel", sagt sie, "bloß ist keine zum Spaß hier." Die Not ist nicht offensichtlich. In der Vorsorge-Reha-Klinik "Haus Daheim", die auf Kuren für Frauen mit Krebserkrankungen oder multipler Sklerose spezialisiert ist, herrscht ein freundlicher Ton. Die Kinder, die in den Ferien mit im "Daheim" sind, sehen die Mütter erst am Nachmittag; sie haben ihr eigenes Programm. Der kleine Essensverweigerer zum Beispiel isst fast alles, was auf den Tisch kommt, wenn er unter seinesgleichen ist. Beim "Nordic Walking" durch den nahen Wald oder bei der Gymnastik mit dem Ball herrscht sogar Ausgelassenheit unter den Frauen. Nach mehr als zwei Wochen kennen sie einander und wissen, wie und wann Scherze angebracht sind. Die 46 Jahre alte Frau B. aus Ostfriesland ist zum zweiten Mal im "Haus Daheim". Überraschend starb vor einigen Jahren ihr Mann, rasch wurde ihr die Mutter-KindKur genehmigt. Nach drei Wochen "ohne die Frauen", erzählt sie, sei sie aber in "ein tiefes Loch gefallen". Dann habe sie ihren Brief gelesen und habe ihr Leben umgekrempelt. Alle Frauen schreiben in der Kur einen Brief an sich selbst, den die Klinik sechs Wochen nach der Abreise verschickt. Sie sei erschrocken darüber, sagt Frau B., wie schnell sie wieder in den alten Trott zurückgefallen sei. Dann aber habe sie ihre Ernährungsgewohnheiten radikal umgestellt, Sport getrieben, habe prompt kiloweise Gewicht verloren und habe das, was sie in der Kur schon gelernt hatte, fest in den Alltag eingebaut: sich bei ihrer Arbeit im Kühlhaus eines Auslieferungslagers richtig zu bücken, im Haushalt mal was liegenzulassen oder die Kinder zu vertrösten, mit dem jähzornigen Sohn den Supermarkt sofort zu verlassen, sobald er ihr eine Szene mache. Den Sohn hat sie dieses Mal bei ihrem neuen Lebensgefährten gelassen. Ihre Tochter ist mit ihr in der Kur. Nach einem Kochkurs für Kinder in der Lehrküche berichtete sie begeistert: Sie könne jetzt eine Pizza backen, die keine Kalorienbombe ist! Mechthild Küpper: Drei Wochen auf der Insel - nicht zum Spaß S. 3/5 Die "Insel" Müttergenesungswerk haben im vergangenen Jahr 43 000 Mütter mit 63 000 Kindern aufgesucht. Die Kurhäuser werden von den fünf Verbänden der freien Wohlfahrtspflege betrieben, das Konzept stammt vom MGW. Es arbeitet in Berlin für verbesserte politische Rahmenbedingungen und macht die Idee der Müttergenesung publik. Und es liefert das Qualitätsmanagement der Kuren. Mütter, denen ein Arzt das umfangreiche Attest für eine Kur ausstellt, genießen seit 2007 einen Rechtsanspruch gegenüber ihrer Krankenkasse. Es sind nicht alle Kassen gleich kooperativ, manchmal müssen die Frauen auch Widersprüche zu einer Ablehnung schreiben, aber der Grundsatz gilt: Eine kranke Mutter hat ein Recht auf eine Kur. Die Kur von Frau B. hat dreieinhalb Jahre "vorgehalten". Ähnlich schätzen auch andere die "Nachhaltigkeit" ein. Die 47 Jahre alte Fleischereiverkäuferin Heiderose K. ist schon das dritte Mal zur Müttergenesungskur. In diesem Herbst kam sie mit ihren drei Kindern - das jüngste leidet unter Down-Syndrom - ins Haus "Tannengrund" in Hahnenklee bei Goslar. Dort ist man eigentlich auf Mütter spezialisiert, die mit kleinen Kindern kommen. In allen Ferien aber kommen die Schulkinder. Sie hätte sich nicht träumen lassen, mal Alleinerziehende zu sein, sagt Frau K., aber ihr Mann habe sie plötzlich verlassen. Sie will unbedingt bis zum nächsten Jahr durchhalten, dann hat sie ihre drückenden Schulden abgearbeitet. Alle vier Jahre eine Kur zu verschreiben, fände Steffi K. angemessen. Zu oft rieben sich Mütter an ihrem Anspruch auf: "Ich schaff's allein", erzählt eine andere Mutter, die vom Vater ihres Kindes verlassen wurde. Der Ehrgeiz, allein klarzukommen, habe sie krank gemacht. Auch Steffi K. hat ihren Partner verloren, er starb jung, und sie war allein mit der Tochter. Sie funktionierte äußerlich, versorgte die Tochter, ging arbeiten. Doch fiel sie in eine tiefe Depression. Den Baum, an dem sie sich totfahren wollte, hatte sie sich schon ausgesucht, erzählt sie. Eine Mutter-Kind-Kur hat man sich vorzustellen als Mischung aus Klinik und Internat. Klinik, weil die Tage dicht von Terminen getaktet werden, vom "kalten Guss" nach Pfarrer Kneipp vor dem Frühstück bis zum Vortrag abends um halb neun, wenn die Kinder schlafen. Internat, weil die Gespräche - mit den Psychologen, in der Gruppentherapie und untereinander - Teil der Kur und, wenn sie gelingen, Trost und ein großer Spaß sein können. Fernsehgeräte dagegen sind im "Haus Daheim" wie im "Tannenhof" selten. In den Häusern wird nicht geraucht und kein Alkohol ausgeschenkt. Es wird aber viel geboten. Nicht alles ist für jede Frau geeignet. Alles, was in einer MGW-Kur gezeigt und trainiert wird, soll leicht zugänglich und billig sein. Ohne Hilfsmittel und Terminemachen können Mütter, die oft unter chronischen Rückenschmerzen, Allergien und Schlafstörungen leiden, lernen, den Gymnastikball in den Alltag einzubauen. Verschiedene Entspannungstechniken werden gelehrt, jede kann eine passende finden. Wenn nicht autogenes Training, dann progressive Muskelentspannung. Wenn die Erziehungstipps nicht einleuchten, passiert vielleicht bei der Mutter-Kind-Interaktion mit Musik etwas Erfreuliches. Vor allem für die Seele werden Massagen und Fangopackungen verabreicht - Handauflegen gehört schließlich zu den bewährten Heilpraktiken. Für einen Hauch von Luxus sind Frauen, die ihr Selbstwertgefühl eingebüßt haben, äußerst empfänglich. Die 53 Jahre alte Petra R. sieht überhaupt nicht aus wie eine von ihrem stressigen Alltag überwältigte Mutter. Und doch hat ihr der Arzt bei der Eingangsuntersuchung Mechthild Küpper: Drei Wochen auf der Insel - nicht zum Spaß S. 4/5 gesagt, bis zur Rente werde sie es vielleicht schaffen, aber mit zerrütteter Gesundheit, wenn sie nicht augenblicklich lerne, jeden Tag eine Pause zu machen. Frau R. leitet ein Altenheim, vor zehn Jahren trennte sie sich von einem alkoholkranken Mann. Ihre drei erwachsenen Kinder erwarten von ihr ein offenes Ohr, mit ihrem zweiten Mann hat sie einen neunjährigen Sohn. Sie kommt abends vollkommen ausgepowert heim. Sie müsse lernen, "etwas liegenzulassen", sagt sie. Hilfe im Haushalt hat sie nur einmal in der Woche, sie wäscht und bügelt selbst. Im "Daheim" lernt sie autogenes Training. Sie, die sonst immer Entscheidungen zu treffen hat, genießt es, während der Kur "mal in der Masse verschwinden zu können". Anders als Petra R. sind die meisten Frauen beruflich nicht überfordert. Berufstätige, berichtet Antje Krause, die Leiterin von "Haus Daheim", zählten in der Regel sogar zu den Zufriedeneren. Arbeitslosigkeit, am schlimmsten die des Partners, ist ihrem Eindruck nach das größere Problem. Die Zahl der Frauen, denen das Müttergenesungswerk ein Taschengeld gibt, damit sie während der Kur an Ausflügen teilnehmen oder das erforderliche Material für die Bastelkurse kaufen können, sei in den vergangenen Jahren gestiegen, berichtet auch Ivonne Timme, die Leiterin des "Tannenhofs" in Goslar-Hahnenklee. Alles kostet Geld. Aber im Verhältnis von Müttern und Kindern hängt nicht alles am Geld. Im "Haus Daheim" etwa basteln Mütter und Kinder. Es tut ihnen gut, gemeinsam etwas herzustellen, und wenn es eine Halloween-Maske ist. Im "Tannenhof" wird Musik für die Interaktion zwischen Müttern und Kindern genutzt. Singen ist, das merkt man, im Leben mit Kindern nicht mehr selbstverständlich, es dauert eine Weile, bis Lieder gefunden werden, die Mütter und Kinder kennen. Siglinde Fiebig, die Leiterin der Hauswirtschaft im "Tannenhof", berichtet, früher habe sie den jungen Müttern beigebracht, den Kleinen rasch einen guten Brei aus Karotten oder püriertem Fleisch zuzubereiten. Die Mühe brauche sie sich nicht mehr zu machen: Etwas anderes als das, was es "im Gläschen" gibt, wollten die Frauen ihren Kindern nicht mehr geben. Mit manchen Müttern muss sie lange diskutieren, bis sie einsehen, warum es im "Tannenhof" nicht jeden Morgen Nutella gibt. Unter gutmütigem Spott über die "Grünkernklopse" gewöhnen sich Mütter und Kinder im Laufe ihrer Kur daran, dass Essen bei der Müttergenesung sowohl frugal als auch luxuriös ist - es wird immer frisch zubereitet. "Wir machen Mütter stark" heißt der moderne Slogan des Müttergenesungswerks. Frau B. stimmt zu: "Wenn man von hier kommt, ist man stärker." Nach einer 2007 erstellten Studie für das Familienministerium kommen trotz der verbesserten Zugangsmöglichkeiten längst nicht alle Mütter und Väter, die Anspruch darauf hätten, in den Genuss der Kuren. Zwanzig Prozent der für die Kindererziehung hauptverantwortlichen Mütter und elf Prozent der Väter leiden unter einschlägigen Gesundheitsstörungen. 2,3 Millionen Erziehungsberechtigte wären kurberechtigt. "An der Frau hängt eben alles", sagt Dr. Birnbaum, der Arzt im "Tannenhof", Scheidungen, Langzeitarbeitslosigkeit, Schlafentzug, Rückenbelastungen, Verspannungen, Partnerprobleme - die klassische Diagnose für eine Kur lautet: "nervöser Erschöpfungszustand". Wenn der Hausarzt sage: "Sie müssen mal raus", sei das Müttergenesungswerk die richtige Adresse. Und selbst für die Ausländerinnen, die schlecht Deutsch sprechen, ist eine Kur seiner Beobachtung Mechthild Küpper: Drei Wochen auf der Insel - nicht zum Spaß S. 5/5 nach oft der erste eigenständige Integrationsschritt für die Frauen. In seinen Sprechstunden erfährt Dr. Birnbaum, wie oft "Frauen im Stich gelassen werden" und nicht etwa nur von ihren Männern, wie er sagt. 2007 bemühte sich das Müttergenesungswerk um besseren Kontakt zu Ausländerinnen mit Kindern. Seither, berichtet Annette Schellin von der CaritasBeratungsstelle in Berlin-Kreuzberg, kämen nicht nur die gut informierten Architektinnen aus den ausgebauten Dachetagen des Stadtteils, sondern auch türkische, arabische, russische und polnische Mütter. Bis zur "interkulturellen Öffnung" zählte das Müttergenesungswerk nur 3,7 Prozent ausländische Kurteilnehmerinnen, während der Ausländeranteil in der deutschen Bevölkerung insgesamt bei 11,4 Prozent liegt. Im "Haus Daheim" fielen die jungen Russinnen nur deswegen auf, weil sie zwischen den Terminen beisammensaßen und Russisch sprachen. Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.12.2008, Nr. 286, S. 3 © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt