Liebe Predigthörerinnen, liebe Predigthörer. Wer

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Liebe Predigthörerinnen, liebe Predigthörer. Wer
Römer 11,33–36
Trinitatis
30.05.10
KAUFMANNSKIRCHE AM ANGER
Liebe Predigthörerinnen, liebe Predigthörer.
Wer Wetten dass..? sagt, muss auch Thomas Gottschalk sagen. Oder das Quiz mit Jörg Pilawa. Und Dieter
Bohlens Sprüche als Juror bei Deutschland sucht den Superstar. Das ist Unterhaltung. Professionell und mit
Kompetenz zur besten Sendezeit. Das hat seinen Preis. Und Quote. Unbestritten.
Unbestritten klagt in unseren Kirchen jede Generation über Langeweile der Gottesdienste und fordert Abhilfe.
So wird aus der Kantate im evangelischen Gottesdienst der Kantatengottesdienst. Aus der Sprache im Gottesdienst der „Gottesdienst in Leichter Sprache“. Der Gottesdienst wird der „lebendige“ Gottesdienst, der sich
als Arrangement methodischer Kunstgriffe erweist. Wird der Gottesdienst Unterhaltung? Der Missbrauch
spricht gegen den Brauch liturgischer und theologischer Kompetenz. Aber Gottesdienst mit dem fremden liturgischen Gotteslob und dem fremden Bibeltext wird zum Prüfstein für Gemeindeaufbau und Kirche der
Zukunft.
Doch wer nimmt uns die Binde von den Augen? Wer öffnet Theologie zum Dialog? Wie von Gott erzählen im
Kontext der kulturellen Tradition und Lebensbedingungen? Wie von Gott reden in interkulturellen und interreligiösen Begegnungen? Wie unseren Wohlstand nicht verleugnen und Verlustängste, die „Angst verlorenzugehen“, benennen? Wie dem Lebenshunger, der Sehnsucht nach erfülltem Leben, und dem Scheitern und Misslingen Sprache geben? Der Heidelberger Theologe Wilfried Härle formuliert dazu: „eine ... verstehende Haltung macht es Kirche möglich, ihren Dienst in der Lebenswelt auszuüben und den christlichen Glauben im
Kontext der gegenwärtigen Lebenswelt angemessen wahrzunehmen“.1
Das „angemessen wahrzunehmen und zur Geltung kommen zu lassen“ verdanke ich meinen theologischen
Lehrern: Hans-Jochen Genthe mit der kontextdifferenzierten Exegese des Neuen Testaments.
Jürgen Moltmann der seine „Theologie der Hoffnung“ im
Dialog mit Ernst Blochs „Prinzip Hoffnung“ formuliert. Der mich aber mit seiner frühen Schrift „Mensch“, eine
christliche Anthropologie in den Konflikten der Gegenwart, zu Aurelius Augustinus führt: „Unser Herz ist unruhig in uns – bis es Ruhe findet in dir“.2
Henning Luther, der den Blick dafür weitet: „Der Glaube ist nie Antwortsicherheit, sondern fragende Existenz“3
und „Nur als Fragment vermittelt Predigt eine Ahnung von jenem Sinnganzen, das verschwiegen wird, wenn
die einzelne Predigt sich selbst als dieses endgültige Sinnganze präsentieren würde.“
Und der Basler Albrecht Grözinger, der in seiner homiletischen Geländeerkundung schreibt von „sprachlicher
Anmutung“ und Offenheit der Predigt: „Wir können in dieses Sprachbild mit unserer eigenen Erfahrung, mit
unserer eigenen Lebensgeschichte eintreten.“4
Lukas Vischer, einer der bedeutendsten Reformierten und Ökumeniker des 20. Jahrhunderts, der in kontextuelle Theologie einführt – das erscheint in den vier Sprachkulturen, Griechisch, Hebräisch, Syrisch und Latein,
der verba testamenti in der Predella des reformatorischen Renaissancealtars hier in der Kaufmannskirche.
Und Christoph Hinz in den Pastoralkollegs der Evangelischen Kirche in der Kirchenprovinz Sachsen zu Juden
und Christen, der unangepasst den theologischen Blick weitet für die älteren Geschwister im Glauben und
damit nach Auschwitz differenziert auf den Weg führt zur angemessenen erneuerten theologischen Verhältnisbestimmung von Kirche und Israel. Zu der schmerzvollen Verhältnisbestimmung, die Paulus in dem frühesten Brief aus dem zweiten Testament unserer Bibel, dem Brief an christliche Hausgemeinden in der antiken
Metropole Rom, vornimmt, wenn er schreibt:
„Ich sage die Wahrheit in Christus und lüge nicht, wie mir mein Gewissen bezeugt im heiligen Geist,
dass ich große Traurigkeit und Schmerzen ohne Unterlass in meinem Herzen habe.“5
Der christliche Theologe Paulus thematisiert den jüdischen
Schriftgelehrten Paulus. Paulus thematisiert das Rätsel seines Zuspätkommens als Zuspätkommen Israels
angesichts der bleibenden Zuwendung Gottes und eröffnet Israel messianische Wegbereitung und eschatologische Rettung. Mit Herz-Schmerz eröffnet Paulus sein Traktat für Israel und schließt ihn mit einem Hymnus.
Paulus sucht Spuren des Gottes, der sich in der Kontinuität erweist, „die Wort und Wirken verbindet und darin
die Abgründe der Geschichte zu überbrücken vermag“6 . Israel und Kirche stehen mit leeren Händen, sind
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Wilfried Härle, Dogmatik, Berlin 2007, S. 190
Jürgen Moltmann, Mensch, Stuttgart 1971, S. 29
Henning Luther, Religion im Alltag, Stuttgart 1992, S.23, 181
Albrecht Grözinger, Toleranz und Leidenschaft, Gütersloh 2004, S. 43
Rö 9, 1.2
Claus Westermann, Das Buch Jesaja, Kap. 40–66, ATD 19, S. 18
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angewiesen auf Erbarmen des göttlichen Du. Das „Faszinosum et Tremendum“ , das Faszinierende und
Erschütternde, das Staunen, dass „das, was ist, nicht alles ist“8 im Hymnus:
„O welch eine Tiefe des Reichtums9, ... , der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich
sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege!10
Denn11 »wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer12 ist sein Ratgeber gewesen?«13
Oder »wer hat ihm etwas zuvor gegeben, dass Gott es ihm vergelten müsste?«14
Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.“15
Der protestantische Landpfarrhaussohn Jean Paul erzählt in seiner „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei“ einen Traum: auf dem Gottesacker tun sich die Gräber auf. „Jetzo sank eine hohe edle Gestalt mit einem unvergänglichen Schmerz aus der Höhe auf den Altar hernieder, und alle Toten
riefen: ‚Christus, ist kein Gott?’ Er antwortete: ‚Es ist keiner.’ ... Da kamen, schrecklich für das Herz, die gestorbenen Kinder, die im Gottesacker erwacht waren, in den Tempel und warfen sich vor die hohe Gestalt am
Altare und sagten: ‚Jesus, haben wir keinen Vater?’ – und er antwortete mit strömenden Tränen: ‚Wir sind alle
Waisen, ich und ihr, wir sind ohne Vater’.“ Jean Paul schreibt vom Erwachen aus diesem bösen Traum: „Meine Seele weinte vor Freude, dass sie wieder Gott anbeten konnte – und die Freude und das Weinen und der
Glaube an ihn waren das Gebet“16. Jean Paul wollte sich mit dieser Rede selbst „erschüttern“, um nicht seine
„Gefühle“ für das „Dasein Gottes“ bei Unglück zu verlieren.
Ist Jean Paul in die Schule des Paulus gegangen? Paulus entfaltet im Rückgriff auf die Panformel des Marc
Aurel17 - „Von dir kommt alles. In dir ist alles. Auf dich zu ist alles“ – wenn er als Schriftgelehrter und Theologe
schreibt „von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge“.18 Ursprung, Weg und Ziel sind nicht in oder aus
sich, sondern sind „von ihm“ „durch ihn“. In diesem Ursprung liegt die Kraft zum Glauben, zum Lieben und
zum Hoffen. Im „zu ihm“ hat Paulus das im „von ihm“ vorweggenommene Ziel vor Augen. Findet die Heimholung als Jude für Paulus statt im liturgischen Ritus, als Anrufung, als Gebet?
Die (alt-)kirchliche Lehre von der Trinität hat die entscheidend hermeneutische Funktion Gottes Freiheit zu
bezeichnen und „die Einzeichnung des christologischen Geheimnisses in den Gottesbegriff“19 zu eröffnen.
„Der Glaube, der sich der am Tode Jesu bewährten Gewissheit dieses lebendigen Gottes verdankt, verkündigt
und erzählt die das Sein Gottes selbst bestimmende Spannung zwischen ewigem Leben und zeitlichem Tod
als Geschichte Jesu Christi. Und er denkt und bekennt diese Geschichte im Begriff des dreieinigen Gottes“.20
Bevor der Mensch seine Geschichte zu deuten vermag, muss Raum sein für die Erzählung der Geschichte
Gottes. Sie erzählt in Christus die Menschheitsgeschichte jeweils mit. Ausschließlich und einschließlich deutet
sie des Menschen „Angst verlorenzugehen“ und des Menschen Hoffnung in der liebevollen Beziehung zwischen Vater und Sohn, dass Menschen diese Erzählung zur Einladung zum Gebet wird: „Veni, Creator Spiritus! In seinem Kommen, in seiner Bewegung von unten nach oben und von oben nach unten schafft ja der
eine Heilige Geist die Eröffnung Gottes für den Menschen und des Menschen Eröffnung für Gott“.21
In den Lebensläufen sehen und erleiden wir Abbruch. Erleben Scheitern. Gott aber bleibt darin der Lebendige, wo er Abbruch und Scheitern in Kontinuität der Barmherzigkeit begegnet. Dreieinigkeit wird Ausdehnung der Liebe Gottes und Einbindung in Gemeinschaft gegenseitigen Andersseins. Treten mit der Bedeutung des Gebets, mit Anrufung und Lobpreis im Gottesdienst Personen und Programme für den Gemeinde- und Kirchenaufbau in den Hintergrund? Wird daraus für Juden und
Christen weniger Ich und mehr Du?
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Gert Otto
Theodor Adorno
9
Jes 45,15: Fürwahr, du bist ein verborgener Gott, du Gott Israels, der Heiland.
10
Jes 55,8-9: Denn meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der
HERR, sondern soviel der Himmel höher ist als die Erde, so sind auch meine Wege höher als eure Wege und meine
Gedanken als eure Gedanken.
11
1. Kor 2,16: Denn »wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer will ihn unterweisen« (Jesaja 40,13)? Wir aber
haben Christi Sinn.
12
Jer 23,18: Aber wer hat im Rat des HERRN gestanden, dass er sein Wort gesehen und gehört hätte? Wer hat sein
Wort vernommen und gehört?
13
Jesaja 40,13
14
Hiob 41,3
15
Lobpreis der Wunderwege Gottes (Überschrift in der Lutherbibel)
16
G. Bezzenberger (Hg.), Visionen der Christenheit. Texte von Jean Paul, Fedor M. Dostojewskij, Wladimir S.
Solowjow und aus dem NT, 1981, S. 12f.16
17
Marc Aurel, Selbstgespräche IV/23
18
„Eis auton weil ex autou, weil di autou“ (Karl Barth, KD III/3, S. 178)
19
Joachim Iwand; zit. nach Kreck S. 117
20
Jüngel S. 471)
21
Karl Barth, Einführung S. 186
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Zuletzt. Le banquet céleste, „Das himmlische Abendmahl“ Der erste Akkord dieses Kommunionstücks für
Orgel von Olivier Messiaen dauert etwa sieben Sekunden, was eine Statik erzeugt, die das Verhältnis zum
traditionellen Zeitempfinden verändert. Messiaen gebraucht den Begriff der „physiologischen und psychologischen Zeit“. Zeit wird in ihrer kaum fassbaren Dauer als Raum empfunden, Ewigkeit wird evoziert. Ebenso
treibt Paulus die Barmherzigkeit Gottes auf einen Punkt zu, der den Völkern Gemeinschaft mit den Juden ermöglicht. Wo die Barmherzigkeit Gottes so im Lobpreis erklingt, wird sie zum Geländer, zur Brücke, zum Weg.
Johann Albrecht Bengel übersetzt das „Amen“, mit dem Paulus den Lobpreis - „von ihm und durch ihn und
zu ihm sind alle Dinge“ - beschließt: „Es bleibt dabei!“
Die Jüdin und Lyrikerin Nelly Sachs bringt das Vorangegangene angemessener und prägnanter zur Sprache:
O du weinendes Herz der Welt!
Auch du wirst auffahren
wenn die Zeit erfüllt ist.
Denn nicht häuslich darf die Sehnsucht belieben
die brückenbauende
von Stern zu Stern!
Der Friede Gottes bewahre unsere Herzen und Sinne und die Herzen und Sinne der Völker in Christus Jesus
unserem Herrn. Amen.
© Thomas M. Austel 2010
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Olivier Messiaen 1908-1992
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